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German Pages [433] Year 2004
Erik Petry Ländliche Kolonisation in Palästina
Reihe Jüdische Moderne Herausgegeben von Jacques Picard und Alfred Bodenheimer Band 2
Erik Petry
Ländliche Kolonisation in Palästina Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts
§ 2004 BÜHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Irene Bollag-Herzheimer-Stiftung, Basel
D 7 Göttinger Philosophische Dissertation
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Nahum Gutmann, Goatherd (Vor dem Sturm), 1926, Öl auf Leinwand, Israel Museum, Jerusalem © 2004 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Druckerei Runge GmbH, Cloppenburg Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-18703-8
Inhalt
Vorwort Forschungs- und Quellenstand I.
II.
Die Lage der Juden bis zum Beginn der Ersten Alija
IX XV 1
1. Die sozio-ökonomische Situation der Juden in Deutschland bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts 2. Die deutschen Juden zwischen Identitätssuche und Antisemitismus 3. Die Juden in Osteuropa 4. Palästina - ein vergessener Ort? 5. Das europäische Interesse an Palästina im 19. Jahrhundert.... 6. Die jüdische Bevölkerung in Palästina
9 16 19 23 24
Die Zionsfreunde in Osteuropa
29
1. Perez Smolenskin und die ersten zionistischen Gruppen 2. Die Vertreter der „Russifikation" 3. Chowewe Zion und Narodniki - Gemeinsamkeiten und Unterschiede
29 32
III. Palästina und die deutschen Juden - mythische Sehnsucht versus Realität 1. 2. 3. 4.
Die Zionssehnsucht Die orthodoxen Vorläufer Moses Hess - ein zionistischer Sozialist? Josef Natonek und Hile Wechsler - Palästina als einzige Rettung 5. Heinrich Graetz 6. Isaak Rülf 7. Der alte Jischuw und die deutschen Juden - Philanthropie und Wissensstand
1
34
37 37 39 43 45 52 56 60
VI
IV.
V.
VI.
Inhalt
Erste ländliche Besiedlungsversuche in Palästina bis 1880
68
1. Moses Montefiore und James Finn - Hilfe zur Selbsthilfe 2. Mikweh Israel 3. Gai-Oni und Petach Tikwa - Zwei weitere Versuche zur Gründung einer ländlichen Siedlung
74
Die Pogrome - Die Reaktionen in Osteuropa und in Deutschland
80
1. Die Pogrome 1881-1884 2. Die Reaktionen außerhalb Osteuropas 3. Leon Pinskers „Autoemancipation" 4. Die Kattowitzer Konferenz 1884 und ihre Folgen
81 83 89 96
Die erste Kolonisationsphase 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
68 69
102
Die Auswanderung nach Palästina 102 Die Bilu-Gruppe 106 Die Gründung von Rischon le-Zion 110 Edmond de Rothschild 114 Die Rothschild-Verwaltung in Rischon le-Zion 118 Der Beginn des Weinanbaus 124 Die anderen Siedlungen und die Motive der Einwanderer .... 130 Analyse des ersten Gründungsabschnitts 132
VII. Die zweite Kolonisationsphase 1. Das Exekutivkomitee in Jaffa 2. Die Koloniegründungen der zweiten Phase 3. Die Rothschild-Ära - Versuch einer Deutung
139 140 144 146
VIII. Deutsche Kultur und deutsche Sprache in den Kolonien
153
1. Begriffsklärung und erste Spurensuche 2. Die deutsche Sprache in den Kolonien
153 165
VII
Inhalt
3. Moses David Schub, Baruch Papiermeister, Eliahu Lewin-Epstein - drei herausragende Persönlichkeiten des Neuen Jischuws 4. Deutsche Kultur und deutscher Einfluß in den Kolonien IX. Die Chibbat Zion und das Bemühen um die deutschen Juden Anfang der 1880er Jahre
X.
171 177
181
1. JosefFeinberg 2. Die weiteren Bemühungen um die deutschen Juden bis 1887
181
Hilfe für die Kolonien ab 1882
196
1. 2. 3. 4.
197 203 213 223
Emil Lachmann - Der Gutsbesitzer Leopold Hamburger - Der Kaufmann Sigismund Simmel - Der Politiker Adolf Salvendi - Der Spendensammler
XI. Drei Zeitschriften zur Propagierung der Kolonisation in den 1880er Jahren 1. Der Emigrant 2. Der Colonist 3. Serubabel XII. Die deutschen Kolonisationsvereine 1. Der „Bnei Brith - Verein zur Colonisirung der verfolgten russ. Israeliten" 2. Die frühen Gründungen „Zion" und „Ahawaß Zijon" 3. Der Verein „Esra" 4. Max Bodenheimers Arbeit für die Kolonisationsvereine 5. Die Bedeutung der Kolonisationsvereine
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232 232 234 239 244
244 246 249 258 265
VIII
Inhalt
XIII. Willy Bambus und Heinrich Loewe 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die frühen Jahre Die Palästinareise 1895 Die Palästina-Ausstellung Auseinandersetzung mit Theodor Herzl Der Eklat auf dem Zweiten Zionistenkongreß Neuorientierung und alte Konflikte
XIV. Der politische Zionismus und die Erste Alija 1. 2. 3. 4. 5.
Die Zionsfreunde und der politische Zionismus Die Zionistische Vereinigung für Deutschland Herzls Kampf gegen die „Infiltration" Herzls Palästinareise 1898 - eine Zäsur Der politische Zionismus nach Herzl und die Erste Alija
269 270 283 286 292 306 310 316 316 318 324 339 347
XV. Zusammenfassung und Ausblick
352
Verzeichnis der Quellen und Literatur
365
Signaturenverzeichnis ZZA
365
Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek Givat Ram/Israel 368 Zeitschriften
368
Literaturverzeichnis
369
Statistik der 1898 existierenden Kolonien
391
Index
394
Vorwort
Im März 1992 fand ich im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem während der Materialsuche zur Ersten Alija (1882-1904)1 ein hebräisches Jubiläumsbuch über die Kolonie Rischon le-Zion. Aus Anlaß ihres 25jährigen Bestehens 1907 hatte der aus Warschau stammende Mordechai Freimann, einer der ersten Siedler, die Geschichte der Kolonie in einer Art Tagebuch aufgezeichnet.2 Beim Durchblättern stieß ich auf das Testament eines weiteren Siedlers, das der Autor in vollem Wortlaut veröffentlicht hatte. Das Besondere war, daß dieses Testament in deutscher Sprache verfaßt und auch abgedruckt war. Warum hatte Freimann es in Deutsch veröffentlicht? Warum wurde es überhaupt in deutscher Sprache geschrieben? Schnell stieß ich bei meiner Suche nach weiteren Belegen über mögliche Beziehungen zwischen deutschsprachigen Juden und den Kolonisten in Palästina auf Quellen, die auf ein interessantes, bisher aber in der Forschung noch völlig vernachlässigtes Themenfeld schließen ließen. Es fanden sich Schriftstücke eines Emissärs aus Rischon le-Zion, Josef Feinberg, der, mit hervorragenden Deutschkenntnissen ausgestattet, Hilfe für die Kolonien in Deutschland suchte, bevor er sich nach Paris begab, um dort Edmond de Rothschild für die Kolonien zu gewinnen; das Tagebuch des Bilu-Pioniers Chaim Chissin beschrieb die großen Hoffnungen, die man an den Besuch eines deutschen Juden in der Kolonie Rischon le-Zion knüpfte; im erwähnten Buch von Freimann fanden sich Eintragungen über den Besuch eines weiteren deutschen Juden namens Leopold Hamburger in Rischon le-Zion; in den Unterlagen über Petach Tikwa war als einer der Grundstückseigentümer der Berliner Jude Emil Lachmann eingetragen, und in einer Abhandlung über die Rolle Deutschlands in Vorderasien vertrat der Verfasser, Hans Rohde, 1916 die Meinung, die jüdischen Kolonien in Palästina seien eigentlich ein ureigenes deutsches Werk. Diese Fakten und Meinungen passen nicht in das historiographisch tradierte Bild der Ersten Alija und werfen Fragen au£ deren Beantwortung
1
2
„Alija", hebr.: Aufstieg, Steigen. Hebräischer Ausdruck für die Einwanderung nach Erez Israel, der diese als Erhöhung der Existenz darstellt. Das Hinaufgehen zum Vorlesen der Tora wird ebenfalls Alija genannt. Der Ausdruck für Einwanderung bekommt dadurch einen hohen spirituellen Charakter. Aharon Mordechai Freimann, Sefer ha-Jowel le-Korot ha-Moschawa Rischon leZion, Jerusalem 1907.
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Vorwort
eine detaillierte Untersuchung der Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Ersten Alija und den deutschen Juden erforderlich macht. Die zentrale Problemstellung der Arbeit ist daher die Frage nach den praktischen Bemühungen deutscher Juden um die Kolonien einerseits und den Versuchen der Kolonisten andererseits, deutsche Juden für die Kolonisation zu begeistern. Diesem Schwerpunkt der Arbeit sind zwei einfuhrende Bereiche vorangestellt, die sich mit dem jeweiligen historischen Hintergrund befassen. Der erste Bereich beschreibt die Lage der Juden bis zum Beginn der Ersten Alija und die Anfänge der Zionsliebe in Ost- und Westeuropa, der zweite thematisiert die Situation in Palästina 1880-1900, die Gründung der Kolonien und deren wechselvolle Geschichte. Das Wissen über die Geschichte dieser ersten Kolonien in Palästina ist in der deutschen Historiographie ein Desiderat, zum Verständnis des Schwerpunkts der Arbeit aber unerläßlich. Da allerdings eine Beschreibung aller Kolonien den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, habe ich mich fur eine detailliertere Analyse der Kolonie Rischon le-Zion entschieden, die als Muster für die Entwicklung des Siedlungswesens in Palästina gelten kann und anhand derer die ganze Problematik der Ersten Alija deutlich wird. Für eine schematische Darstellung der Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt 17 bestehenden Siedlungen in Palästina sei explizit auf die im Anhang abgedruckte „Statistik der 1898 existierenden Kolonien" hingewiesen. Die Ergründung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den aus Osteuropa stammenden Kolonisten und deutschen Juden, eingebettet in das jeweilige sozio-ökonomische Umfeld, muß in verschiedene Einzelaspekte aufgegliedert werden, da sich die Bewegung der Zionsfreunde in Deutschland als uneinheitlich und ambivalent darstellt, und nicht als eine klar strukturierte, zentral gesteuerte Bewegung. Dies impliziert, daß die zentrale Fragestellung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird: In welchem Umfang und auf welchen Ebenen hatte es Kontakte zwischen deutschen Juden und den Kolonisten gegeben? Wie standen deutsche Juden zu der Idee einer Kolonisation Palästinas? Wie beurteilten sie diese Kolonisation, und haben sie versucht, Einfluß zu nehmen? Welches Bild hatten die Kolonisten von den deutschen Juden? Welche Erwartungen knüpften sich an dieses Bild, und wurden sie erfüllt? Welchen Einfluß hatte die Erste Alija auf die deutschen Juden, gab es überhaupt einen meßbaren Einfluß? Hatten - umgekehrt - deutsche Juden Einfluß auf die Siedler oder Eingriffsmöglichkeiten in die Entwicklung der Kolonien? Die Antworten auf diese Fragen und der daraus resultierende zusammenfassende Blick auf die Bewegung der Zionsfreunde liefern einen Beitrag zur Geschichte der Juden in Palästina am Ende des 19. Jahrhunderts,
Vorwort
XI
gestatten aber auch einen Blick in die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Für die deutschen Juden fallt in diese Zeit der Beginn der Auseinandersetzung zum einen mit dem Antisemitismus, zum anderen mit dem aufkommenden „Nationaljudentum", das als Bedrohung für die Akzeptanz als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens betrachtet und damit als möglicher Vorwand für antisemitische Kampagnen gefurchtet wird. Die Geschichte Palästinas erlebt mit dem Beginn der 1880er Jahre ebenfalls eine einschneidende Zäsur. Zunächst übersteigt die Zahl der einwandernden Juden das bisherige Maß um ein vielfaches. Die Städte sind in ihrer Infrastruktur dieser Zunahme kaum gewachsen. Dann erhält die Einwanderung durch die Gründung jüdischer ländlicher Siedlungen eine neue Qualität. Zu dem völlig unzureichenden türkischen Katastersystem und der schwelenden Auseinandersetzung zwischen Fellachen und Großgrundbesitzern um Landbesitz und Eigentumsrechte kommt mit den jüdischen Kolonien ein dritter Faktor hinzu. In der vorliegenden Arbeit wird allerdings auf diesen Punkt nur so weit eingegangen, wie es zum Verständnis der Besiedlungsgeschichte bis 1900 erforderlich ist. Bewußt ausgespart bleibt auch der jüdisch-arabische Konflikt, abgesehen von den notwendigen Schilderungen im Zusammenhang mit der Besiedlungsgeschichte (Kap. VI und VII). Das nähere Eingehen auf dieses Thema hätte den Umfang der Arbeit erheblich und für den Leser in nicht zumutbarer Weise erweitert. Auch war dieser Konflikt während der Ersten Alija vor allem für die deutschen Juden in ihrer Beurteilung und Einschätzung der Lage noch kein zentraler Problempunkt, er wird daher neben der Besiedlungsgeschichte nur an Stellen berücksichtigt, wo er zum Verstehen der Ereignisse und des historischen Kontextes unabdingbar ist.3 Zwei Gründe haben mich bewogen, die Untersuchung nur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu fuhren, wobei aus sachlichen Erfordernissen 3
Hingewiesen sei zur Einführung in dieses Problemfeld auf die Werke von George Antonius, The Arab Awakening, Beirut 1938 (Reprint 1969); Heinz Wagner, Der Arabisch-Israelische Konflikt im Völkerrecht, Berlin 1971; Neville Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, Berkeley 1976; Helmut Mejcher und Alexander Schölch, Die Palästina-Frage 1917-1948, Paderborn 1981; Abdallah Frangi, PLO und Palästina, Frankfurt/M. 1982; Arieh Avneri, The Claims of Dispossession. Jewish Settlements and the Arabs 1878-1940, Tel Aviv 1982; Judith Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas 1917-1938, Frankfiirt/M. 1982; Shmuel Almog, The Zionist Movement and the Arabs, Jerusalem 1983; Viktoria Waltz und Joachim Zschiesche, Die Erde habt ihr uns genommen, Berlin 1986 und Yosef Gorni, Zionism and the Arabs 1882-1948, Oxford 1987.
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Vorwort
dieser zeitliche Rahmen nicht immer exakt eingehalten werden konnte: zum einen die Verwaltungsübergabe der von Rothschild unterstützten Kolonien an die Jewish Colonization Association" im Jahr 1900, zum anderen die 1896 von Theodor Herzl veröffendichte Broschüre „Der Judenstaat", die als Beginn einer neuen, modernen zionistischen Bewegung angesehen wird. Beide Ereignisse beinflussen gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Europa, vor allem aber in Palästina auf eine Weise, daß mit Recht von einem neuen Abschnitt im 20. Jahrhundert gesprochen werden kann. Diesen neuen Entwicklungen kann nur mit einer eigenen Darstellung Rechnung getragen werden. Die Formulierung politischer Ideen im Zionismus sowie der Aufbau einer zunächst deutschen, dann weltweiten zionistischen Organisation und die Beziehungen dieser zu den Kolonien in Palästina werden im Kapitel über den politischen Zionismus (Kap. XIV) überblicksartig behandelt. Ein näheres Eingehen auf diesen Themenbereich erfordert ebenfalls eine eigene Untersuchung und bleibt daher in der vorliegenden Arbeit auf die Fragestellung beschränkt, inwieweit die Erste Alija und ihre Mitglieder - bewußt oder unbewußt - Einfluß auf die Entwicklung des politischen Zionismus in Deutschland genommen haben. Bedanken möchte ich mich bei allen, die zur Realisierung dieser Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle ist hierbei mein langjähriger Lehrer und Mentor Prof Dr. Friedrich Lotter zu nennen, der mir durch seine kritisch-konstruktiven Anmerkungen in jeder Phase der Arbeit stets weitergeholfen hat. Ebenso danke ich Frau Dr. Trude Maurer und Herrn Prof. Dr. Manfred Hildermeier, die mir vor allem im Bereich der Geschichte der Ostjuden eine unschätzbare Hilfe waren. Die ausfuhrliche Quellensuche und das entsprechend detaillierte Quellenstudium wurden durch einen sechsmonatigen Aufenthalt in Israel 1992 möglich, fur dessen Finanzierung ich ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) bekam, wofür ich mich noch einmal bedanken möchte. In Israel waren es vor allem die Gespräche und die Unterstützung von Jakob Guggenheim und den Professoren Evyatar Friesel, Joseph Eaton, Alex Carmel (s.A.), dem ich flir seine außergewöhnliche Freundschaft danke, und Israel Bar-Tal, die mir wichtige Hinweise flir meine Arbeit gaben. Prof. Eaton verschaffte mir außerdem die Möglichkeit, mit den in Israel lebenden Nachkommen Leopold Hamburgers Gespräche zu fuhren, wofür ich ihm sowie den Familien Wechsler (Jerusalem) und Mansbach (Rechowot) sehr verbunden bin. Besonderer Dank gilt dem Zionistischen Zentralarchiv, dessen Mitarbeiter mir nicht nur einen unerschöpflichen Fundus an Quellenmaterial zugänglich machten, sondern vor allem auch während mei-
Vorwort
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nes sechsmonatigen Aufenthaltes die soziale Eingliederung in Jerusalem so leicht wie möglich machten, hier möchte ich mich vor allem bei Pinchas Seelinger (s.A.) bedanken, ohne den die Arbeit vielleicht nicht zustande gekommen wäre. Des weiteren sind zu nennen der damalige Direktor Yoram Mayorek und sein Vorgänger Dr. Michael Heymann sowie Sara Palmor, Anat Banin, Batia Leshem, Adwa und Ophir Levi, Nechama Ophir und Awraham Maor (s.A.). Schließlich bedanke ich mich bei Bat-Sheva Moyal und ihrer Familie, die mich ein halbes Jahr wie einen Freund aufgenommen haben und mir bis heute einen Platz in ihrer Familie reservieren. Für Anregungen, wissenschaftliche Hinweise und auch moralische Unterstützung danke ich vor allem Stefan Roepell, ohne den es nie einen kritischen Blick auf die Historiographie gegeben hätte, Kristin Bamberg, Dr. Anatol Schenker, Prof Dr. Heiko Haumann, Rochelle Rubinstein, Dr. Rebekka Ehret-König sowie Ada, Edna und Shalom Herlinger. Frank Zeise danke ich für seinen stetigen Einsatz und seine unschätzbare Hilfe im Bereich der Computertechnik sowie für das Lernen eines ruhigen Umgangs mit Soft- und Hardwareproblemen. Die Arbeit wurde von Elke Möller Korrektur gelesen, die mir bei der Endfassung in jeder Hinsicht, sprachlich, stilistisch und sachlich, eine große Hilfe war, wofür ich ihr herzlich danke.
Forschungs- und Quellenstand
Die Erste Alija, die Kontakte der Kolonisten mit deutschsprachigen Juden und das Interesse deutscher Juden an den Kolonien sind in der israelischen wie in der europäischen Geschichtsforschung lange Zeit ein vernachlässigtes Thema gewesen. Zu sehr war man auf die Geschichte Palästinas im 20. Jahrhundert fixiert, die ersten Kibbuzgründungen, die auch in der heutigen Zeit noch als typisch israelisches Phänomen gesehen werden, sowie auf die Jahre der Auseinandersetzungen mit den europäischen Staaten und den arabischen Nachbarn um einen jüdischen Staat. In meinen Gesprächen im März 1992 mit Jakob Guggenheim und Prof Israel Bar-Tal (beide Hebräische Universität, Jerusalem) wurde diese Haltung der israelischen Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung erörtert, die sich aus dem überwältigenden Eindruck der Geschichte Palästinas und seinen bestimmenden Personen auf jüdischer Seite im 20. Jahrhundert erklärt. Daher war man offenbar wenig geneigt, die Erste Alija als grundlegende Zeit auch fiir diese Geschichte zu betrachten. Selbst ein renommierter Historiker wie der langjährige Direktor des Zionistischen Zentralarchivs, Alex Bein, gab 1952 in seiner wichtigen Darstellung über die Geschichte der jüdischen Einwanderung „Return to the Soil" der Ersten Alija nur wenig Raum. Die vorliegende Arbeit hingegen wird nicht nur nachweisen, wie wichtig die Erste Alija für die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina war, sondern sie wird auch die Bedeutung der Ersten Alija für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und die Entwicklung des Zionismus zeigen. Obwohl die Reaktionen der deutschen Juden nicht den Vorstellungen und Hoffnungen der Mitglieder der Ersten Alija entsprachen, hat sich die Erste Alija mittelbar doch als Basis für das Nationaljudentum und den Herzl'schen Zionismus erwiesen. In der Historiographie in Europa widmet man sich der Ersten Alija bis heute häufig nur im Rahmen einer Behandlung des Zionismus. Viele Autoren neigen dabei zur Simplifizierung oder Mythisierung, die bis zu der schon fast tradierten, obwohl schon mehrfach deutlich zurückgewiesenen Ansicht reichen, die Erste Alija sei eine von sozialistischen Studenten initiierte Bewegung gewesen, sozusagen ein Vorläufer der Kibbuzbewegung
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Forschungs- und Quellenstand
des 20. Jahrhunderts,4 und eben diese Studenten hätten die Siedlung Rischon le-Zion gegründet.5 Im Bereich der Arbeiten, die sich explizit dem frühen Zionismus, dem Thema der vorliegenden Untersuchung folgend also die Zeit zwischen 1882 und 1900, widmen, ragen zwei Darstellungen heraus. Zunächst ist das Buch von Yehuda Eloni „Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914" (Gerlingen 1987) zu nennen. Es schildert detailliert auch die vorherzlianische Zeit und ist in Quellenreichtum und Sachkenntnis bis heute unübertroffen. Eine Untersuchung, die sich mehr dem theoretischen Hintergrund des Frühzionismus vor Herzl beleuchtet, ist Thomas Rahes Dissertation „Frühzionismus und Judentum" (Frankfurt/M. 1988). In einem ersten Teil beschäftigt sich Rahe mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Emanzipation, Assimilation und der jüdischen Identität, die zum Zionismus führten, stellt dabei aber keine Zwangsläufigkeit fest. Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich den frühen Programmatikern des Zionismus von Jehuda Alkalay bis einschließlich Theodor Herzl. Eine in der Zionismusforschung häufig zitierte Veröffentlichung ist Richard Lichtheims „Die Geschichte des deutschen Zionismus". 1951 in hebräisch, 1954 auf deutsch publiziert, sind dies die Einsichten und Ansichten eines Zeitzeugen, denn Lichtheim, geboren 1885 in Berlin, war seit seiner Studentenzeit in Freiburg ein Anhänger und später ein führender Funktionär der zionistischen Bewegung. Dies ist die Stärke, aber gleichzeitig auch die Schwäche der Darstellung, die manchmal unter der sehr persönlichen Sichtweise leidet. Stephen M. Poppeis bereits 1977 erschienes Buch „Zionism in Germany 1897-1933" bietet für die frühe Zeit nur wenig Material, versteht sich auch sonst als ein Überblickswerk, das diesem Anspruch aber vollauf gerecht wird. Eine wichtige und meines Wissens bis heute einzige Quellensammlung zum Thema legte Jehuda Reinharz vor. Seine „Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus: 1882-1933" (Tübingen 1981) beinhalten 215 Quellentexte, die in ihrer Zusammenstellung einen einzigartigen Uberlick über 50 Jahre deutschen Zionismus ermöglichen. Dankenswerterweise hat Reinharz alle Dokumente mit einem
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Belege hierfür finden sich z.B. in der Reisebeschreibung von Arthur Holitscher, Reise durch das jüdische Palästina, Berlin 1922, S. 8 u. 71; des weiteren in den Darstellungen von Morris Jastrow, Zionism and the Future of Palestine, New York 1919, S. 8 und S. Landmann, The Jewish Colonies in Palestine, in: Paul Goodman and Arthur Lewi (Edt.), Zionism. Problems and Views, London 1916, S. 157. Als Beispiel neueren Datums hierfür sei genannt: Shlomo Na'aman, Marxismus und Zionismus, Gerlingen 1997, S. 148.
Forschungs- und Quellenstand
XVII
ausfuhrlichen Anmerkungsapparat versehen, der die Arbeit und das Einordnen in den historischen Kontext sehr erleichtert. Allen oben genannten Darstellungen ist allerdings gemeinsam, daß sie die Arbeit der deutschen Zionisten vor 1897 fur die Kolonien fast gänzlich ignorieren oder nur in kürzeren Abschnitten, so z.B. Eloni, behandeln. Es scheint sich hier ein Desiderat in der neueren Forschungsliteratur aufzutun. Die einzigen umfassenden Darstellungen der Ersten Alija als wichtiges historisches Phänomen sind im deutschen Sprachraum die Arbeiten von Curt Nawratzki „Die jüdische Kolonisation Palästinas" (1914) und von Adolf Böhm „Die zionistische Bewegung" (1935). Nawratzki versucht, die volkswirtschaftlichen Grundlagen der Kolonisation darzulegen, beschreibt die ökonomischen Bedingungen für die Juden in Europa, die „Landesverhältnisse" in Palästina und geht dann ausführlich auf die Geschichte der Kolonisationsbewegung ein. Jeder Kolonie ist ein einzelner Abschnitt gewidmet, anschließend analysiert Nawratzki die Arbeit der in Palästina tätigen Kolonisationsorganisationen und läßt dies in einem Gesamtergebnis ausklingen. Für seine Darstellung greift er auf die vorhandene Literatur und seine persönlichen Studien während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Palästina zurück. Trotz der Betonung ökonomischer Faktoren müht sich Nawratzki auch um eine Beschreibung der kulturellen Entwicklung in Palästina. Doch bleibt der Versuch, eine objektive, auf wirtschaftlichen Tatsachen beruhende Darstellung zu liefern, im ganzen Buch spürbar dominant und wird im Vorwort auch explizit als Ziel genannt.6 Adolf Böhm hingegen läßt die Geschichte der Erste Alija im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung über den Zionismus in sein Buch miteinfließen, dies jedoch sehr kenntnisreich. Böhm betont, er habe keine historische, d.h. für ihn „objektive" Darstellung schreiben wollen, dazu sei er zu sehr mit dem Thema verwachsen, er habe vielmehr systematisch die innere Entwicklung, die innere Dynamik des Zionismus zeigen wollen.7 Sein Buch lebt daher auch von seinen persönlichen Erfahrungen und den Begegnungen mit den Zionisten, über die er schreibt. 1957 erschien in Paris eine umfangreiche Untersuchung des Engagements Edmond de Rothschilds in Palästina, Israel Margaliths „Le Baron Edmond de Rothschild et la colonisation juive en palestine 1882-1899". Hier wird der Versuch unternommen, die Kolonisation vor allem in ihrer Beziehung zu der Arbeit Rothschilds in Palästina darzulegen. Margalith 6 7
Vgl. Curt Nawratzki, Die jüdische Kolonisation Palästinas, München 1914, S. 1-4. Vgl. Adolf Böhm, Die zionistische Bewegung, Tel Aviv 1935, zweite erweiterte Auflage, S. 7-12.
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Forschungs- und Quellenstand
verwendet dafür bis 1957 unbekanntes Quellenmaterial, das vor allem einen Blick auf die Sichtweise Rothschilds und seiner Administration gestattet. Die Darstellungen von Nawratzki und Margalith sind detaillierte Untersuchungen über die Erste Alija, die bis in die heutige Zeit durch ihre Detailkenntnis bestechen und immer noch einen fundierten Einstieg in die wissenschaftliche Forschungsarbeit über die Erste Alija ermöglichen. In der israelischen Historiographie wird die Erste Alija seit den siebziger Jahren vor allem durch die Zeitschrift „Cathedra" näher beleuchtet, die sich allerdings ganz allgemein der Geschichte Erez-Israels und des Jischuws (Le-Toldot Erez-Israel we-Jischuwa) widmet. Dies umfaßt Themen der Geschichte des Landes, die vom Altertum bis in die Zeitgeschichte reichen. Dabei findet auch die Erste Alija ihren Platz. In ausgesprochen anspruchsvollen Aufsätzen werden Bereiche der Siedlingsgeschichte behandelt, die auch für die vorliegende Arbeit den Hintergund bildeten. Verwiesen sei dabei besonders auf die Nummer 9 vom Oktober 1978, die sich explizit der Geschichte der Ersten Alija widmet. Richtungsweisend für die weiteren Arbeiten auf diesem Gebiet auch in Kombination mit den deutschen Juden waren die Forschungen Mordechai Eliavs. 1970 veröffentlichte er zunächst seine Pionierstudie über die Kontakte deutscher Juden zu den in den Städten Palästinas lebenden Juden und die Zionsliebe im deutschen Judentum „Ahawat Zion we-Anschei Hod" (Die Zionsliebe und die Männer der Chalukka-Organisation für Holland und Deutschland). Die 1981 erfolgte Veröffentlichung des zweibändigen Werkes „Ha-Alija ha-rischonah" (Die Erste Alija) wirkte dann bahnbrechend für die Arbeit über die Erste Alija. Der erste Band enthält 21 Aufsätze verschiedener Autoren zur Ersten Alija, die ein weites Spektrum abdecken. Von einer Analyse der verschiedenen Phasen der Ersten Alija, über die geographischen Aspekte, die Reaktionen der Osmanischen Regierung, die Geschichte der Bilu-Bewegung, bis zur ökonomischen Entwicklung der Kolonien, zum Selbstbild der Siedler und zu den kulturellen Bestrebungen während der Ersten Alija reichen die Themen der Aufsätze, die alle von führenden Vertretern der jeweiligen Fachrichtung verfaßt wurden. Zu nennen sind beispielsweise Israel Bartal, Ran Aaronsohn, Yehoshua Ben-Aryeh, Alex Carmel, Yaacov Ro'i und Shulamit Laskov, die ebenfalls 1981 ein wichtiges Werk über die Bilu-Bewegung (Ha-Biluim, Jerusalem 1981) veröffentlicht hat und damit den Mythen und Legenden, die sich um diese Gruppe ranken, entgegengetreten ist. Im zweiten Band von „Ha-Alija ha-rischonah" findet sich eine umfangreiche Dokumentensammlung zur Ersten Alija, die sich zwar zu einem
Forschlings- und Quellenstand
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großen Teil aus bereits veröffentlichen Quellen bzw. Zeitungsartikeln und nur zu einem kleineren Teil aus bisher unveröffentlichem Archivmaterial zusammensetzt, die aber in ihrer Zusammenstellung von unschätzbarem Wert für die historische Forschnung ist. Das Bild dieser zwei Bände runden 55 Kurzbiographien der wichtigsten Personen der Ersten Alija ab. Als biographisches Nachschlagewerk über Kolonisten, alteingesessene Familien, Gelehrte, Ökonomen u.a. in Palästina ab den 1880er Jahren ist das 19 Bände umfassende Lexikon „Enziklopedia le-Chaluzei ha-Jischuw we-Bonaw" (Enzyklopädie der Pioniere des Jischuws und seiner Erbauer), herausgegeben von David Tidhar, zu nennen. Tidhar, eigentlich Verkehrspolizist in Tel Aviv, der sich aber auch dem Schreiben widmete, hat in den Jahren 1947 bis 1969 Biographien gesammelt,8 die z.T. umfassende Informationen über die behandelten Personen bieten. Allerdings sind diese auch mit einer gewissen Zurückhaltung zu betrachten, da die Artikel von Familienangehörigen geschrieben wurden, was manchmal zu übermäßig subjektiven Darstellungen geführt hat. In jüngster Zeit gibt es verschiedene Arbeiten über die Erste Alija von israelischen Forschern, hier ist vor allem Ran Aaronsohns „Ha-Baron we-haMoshawot" (Der Baron und die Kolonien), Jerusalem 1990, hervorzuheben, das sich mit den ersten acht Jahren der Rothschild-Verwaltung in Palästina befaßt. Weiter erschien ebenfalls 1990 „Toldot ha-Jischuw haJehudi be-Erez-Israel meas ha-Alija ha-rischona" (Geschichte des jüdischen Jischuws im Land Israel seit der Ersten Alija) von Israel Kolatt. Jedoch sind diese Arbeiten in hebräischer Sprache verfaßt, und nur selten werden herausragende hebräische Forschungsarbeiten in englischen Ubersetzungen angeboten, wie z.B. 1985 Chaim Gvatis „A Hundred Years of Settlement", das 1981 im hebräischen Orginal erschien, sowie Yossi BenArtzis „Early Jewish Settlement Patterns in Palestine, 1882-1914", 1997 in Jerusalem in englischer Sprache erschienen.' Gvatis Schilderung besticht durch große Detailkenntnis, allerdings nennt der Autor - ganz bewußt, wie er im Vorwort betont - seine Quellen nicht, was die seriöse wissenschaftliche Verwendung des Buches zumindest erschwert. Für den an einer Thematik aus dem Bereich „Zionismus und Geschichte Palästinas" interessierten Historiker stellt sich die Quellenlage als gut und in einigen Aspekten sogar als äußerst ergiebig dar, jedoch findet sich dieses Material nicht in Europa, sondern fast ausnahmslos in israelischen Ar8 9
Zur Biographie Tidhars vgl. Artikel „Tidhar, David" in EJ, 15:1136£ Ben-Artzis Buch ist leider zu spät erschienen, um im Rahmen der vorliegenden Untersuchung noch Berücksichtigung zu finden.
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Forschungs- und Quellenstand
chiven. Hier ist an erster Stelle das Zionistische Zentralarchiv (ZZA) in Jerusalem als der Ort zu nennen, der die umfassendste Dokumenten- und Quellensammlung zur Geschichte des Zionismus bereithält. Für die vorliegende Arbeit wurden aus dem ZZA 92 Personenarchive, acht Archive zionistischer Organisationen, sieben Archive mit Dokumentensammlungen aus Palästina, das Archiv des Zionistischen Zentralbüros Wien sowie die Archive mit „gedrucktem Material" (DD = Divrei Dfus, d.h. Flugblätter, Prosepekte, Ankündigungen, kleinere Broschüren, Programme etc.) aus Deutschland, von den Chibbat Zion und von den Kongressen der Zionistischen Weltorganisation ausgewertet. Daneben findet sich Material über die Geschichte der Juden in Europa und Palästina im Institut „Yad Ben-Zvi" (Jerusalem), in der Nationalbibliothek in Givat Ram (Jerusalem), in den „Central Archives for the History of the Jewish People" (Givat Ram, Jerusalem) und auch in einigen Archiven in den Kolonien selbst. Ein großes Problem bei der Arbeit über Themen der jüdischen Geschichte stellt die Transkription der hebräischen Schrift dar. Sie unterscheidet sich nicht nur von Land zu Land, sondern zum Teil auch von Buch zu Buch. In der vorliegenden Dissertation folgt die Schreibweise der hebräischen Namen und Bezeichnungen dem Vorgehen in dem Nachschlagewerk „Neues Lexikon des Judentums", hrsgb. v. Julius H. Schoeps, Gütersloh/München 1992. Im Laufe der Arbeit wird bis einschließlich Kapitel XII („Die deutschen Kolonisationsvereine") der Ausdruck „Zionismus" nur für die von Theodor Herzl ab 1896 initiierte moderne politische Bewegung gebraucht. Die sich für die Kolonisation Palästinas einsetzenden Personen werden je nach Sinnzusammenhang „Zionsfreunde", „Palästinafreunde" oder „Chowewe Zion" genannt, ihre Organisationen werden entweder mit dem Vereinsnamen, wie z.B. „Esra", bezeichnet oder mit dem übergreifenden Ausdruck „Chibbat Zion". Theorien vor 1896, die einen mehr nationalstaatlichen Schwerpunkt hatten, werden in Anlehnung an die Herzl'sche Bewegung „Frühzionismus" genannt. Der Ausdruck „Zionismus" kommt 1890 durch Nathan Birnbaum in die Literatur und wird dann vor allem von den Zionsfreunden um Heinrich Loewe bereits vor Herzl explizit gebraucht Daher wird im Kapitel XIV „Willy Bambus und Heinrich Loewe" der Ausdruck „Zionismus" synonym zu dem älteren Begriff des „Nationaljudentums" verwendet. Die Begriffe „Kolonie" und „Siedlung" werden im Zusammenhang mit der Ersten Alija ebenfalls synonym gebraucht. Die in der bis 1900 innerhalb des Osmanischen Reiches übliche Bodengrößenangabe in Dunam wurde nach dem Schema 10 Dunam gleich
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1 Hektar umgerechnet. Da der französische Franc zu dieser Zeit eine im Orient vorherrschende Währung darstellte, wurden die in Palästina eingesetzten Geldbeträge, sofern sie nicht von vornherein in französischer Währung angegeben wurden, in französische Franc umgerechnet. Zu dieser Umrechnung wurden die Artikel und Tabellen über die Münzsysteme aus folgenden Lexika herangezogen: „Meyer's Konversationslexikon, Leipzig und Wien 18965 sowie „Brockhaus Konversationslexikon, 14. vollst. u.b. Auflage, Leipzig-Berlin-Wien 1903". Folgende Abkürzungen wurden im Text verwendet: AIU EJ JCA O.K.
= Alliance Israelite Universelle = Encyclopaedia Judaica = Jewish Colonization Association = Odessaer Komitee
I. Die Lage der Juden bis zum Beginn der Ersten Alija
Die Veränderungen, die mit der Aufklärung und der Französischen Revolution in politischen und gesellschaftlichen Bereichen ihren Anfang nahmen, führten auch in Deutschland zu einem Uberdenken der Position des Staates gegenüber den im Land wohnenden Juden. Diese Position hatte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als eine höchst ambivalente dargestellt, fragil und immer wieder von diskriminierenden bis destruktiven Elementen durchsetzt.
1. Die sozio-ökonomische Situation der Juden in Deutschland bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts In den jüdischen Gemeinden selbst begann als Teil der europäischen Aufklärungsepoche die „Haskala" (hebr.: „Aufklärung, Bildung") zu wirken.1 Ihr zugrunde lag eine rational-philosophische Idee, nach der die Juden zu Europäern mit mosaischem Glauben werden sollten. Damit verlor nach Meinung der „Maskilim" (hebr.: „Aufklärer") die Religion ihre zentrale Bedeutung für die Juden, ein Umstand, der innerhalb der Haskala-Anhänger heftige Diskussionen über das Wesen des Judentums, jüdische Identität und eine Reform der Religion auslöste. Erster Vertreter dieser Aufklärung war Moses Mendelssohn (17291786). Er setzte große Hoffnungen nicht nur in die deutsche Kultur und den aufgeklärten Geist der Deutschen, sondern auch in die Akkulturationsfahigkeit und Assimilationsbereitschaft2 der Juden. Seine Anhänger bemühten sich, die Idee der gegenseitigen Annäherung umzusetzten, die sichtbaren und unsichtbaren Mauern der Ghettos niederzureißen. Sie traten für Integration in die deutsche Gesellschaft ein, denen aber die Emanzipation vorausgehen müsse.
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Zum Problem der Haskala in Europa vgl. Artikel „Haskalah" in: Encyclopedia Judaica, Jerusalem 1971/72, Band 7, Spalte 1433ff Im weiteren mit „EJ" und z.B. 7:1433ff. abgekürzt. Die Begriffe Akkulturation und Assimilation, wie sie in der vorliegenen Arbeit gebraucht werden, werden im Verlaufe dieses Abschnitts noch genauer beleuchtet.
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Zustimmung und unerwartete Hilfe erfuhren die Juden 1781 durch eine denkwürdige Schrift des Berliner Geheimen Archivars Christian Wilhelm Dohm (1751-1820). In seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" nannte Dohm zum ersten Mal explizit die Politik der Fürsten in Deutschland den Haupthinderungsgrund für eine Assimilation der Juden in der deutschen Gesellschaft. Aber auch Dohm wollte den Juden nicht eine sofortige, umfassende Emanzipation zugestehen, sondern sie zuerst einem Erziehungsprozeß unterziehen, der sie langsam einer „bürgerlichen Verbesserung" zufuhren würde. Allerdings setzte Dohm fur die Eingliederung der Juden nicht die Annahme des Christentums voraus. Gerade dies wurde aber im Diskurs über die Emanzipation der Juden ab dem Ende des 18. Jahrhunderts offenbar wieder besonders wichtig, denn häufig verband man die Vorstellung von der notwendigen Erziehung der Juden zu vollwertigen Bürgern mit der Forderung nach Aufgabe der jüdischen Religion und Annahme des Christentums.3 Es wurde auf einen Erziehungsprozeß gesetzt, der jedoch recht einseitig orientiert war. Zwar sollten aus den Juden „gute deutsche Staatsbürger" werden, unklar blieb jedoch, wie das eigentlich geschehen sollte und was denn überhaupt unter einem „guten deutschen Staatsbürger" zu verstehen war. Bei näherem Hinsehen lief es wohl doch auf den christlichen Staatsbürger hinaus. Aus dem Paradox eines Erziehungsprozesses, dessen Erfolg nur nach einer Emanzipation hätte überprüft werden können, die wiederum nur nach erfolgreicher Erziehung gewährt werden sollte, konnte nur eine mutige Gesetzgebung ausbrechen, die den Juden die volle rechtliche Freiheit gewährte. 1812 wurde ansatzweise ein solcher Versuch in Preußen unternommen. Unter der Regierungsverantwortung von Karl August Hardenberg (1750-1822) wurde ein Emanzipationsedikt erlassen, das zwar noch einige Schwächen aufwies, u.a. galt es nur für einen Teil des zu diesem Zeitpunkt zu Preußen gehörenden Gebiets und beschränkte den Zugang zum Staatsdienst, den Juden aber wirtschaftliche Freiheiten garantierte und sie zu preußischen Staatsbürgern machte. Das Ziel einer de jure-Emanzipation schien erreicht, der Weg zu einer Assimilation weit offen. Aber schon 1815, nach dem Wiener Kongreß, schränkte die Regierung das Edikt wieder ein, wie auch die Judengesetze" in den anderen deutschen Staaten restriktiv ausgelegt wurden. An die Phase der Emanzipation Schloß sich eine Zeit der Restriktion und Reaktion an, und bis zur vollständigen Gewährung aller Bürgerrechte mußten die Juden noch bis 1869/71 warten. 3
Zu Dohm und der Kritik an seiner Schrift auch von jüdischer Seite vgl. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland, München 1994, S. 18.
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Vor allem die politischen Aktivitäten in den Jahren nach 1815 und nach 1848 müssen als Versuch einer Umkehr vom Weg der Emanzipation angesehen werden, der gleichzeitig die Basis dafür schuf, daß wieder die Hydra des Judenhasses ihr Haupt erheben konnte. Diesmal in der Form dessen, was man in der Forschung „Antisemitismus"4 nennt, im Unterschied zum theologisch begründeten Antijudaismus. Wie stellte sich die sozio-ökonomische Situation nach der Gewährung der Gleichberechtigung fur die Juden im Deutschen Kaiserreich dar? Ihr Bevölkerungsanteil betrug rund 1% und überschritt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die halbe Millionengrenze, 1871 lebten in Deutschland 512.200 Juden, davon 326.400 in Preußen, 1910 waren es von 615.000 Juden 416.500.5 Die Berufsstruktur veränderte sich nicht so, wie von den Gesetzgebern erwartet, hatte man doch gehofft, die Juden nach der Emanzipation auch in den bisher vernachlässigten Berufen der Landwirtschaft und des Handwerks zu finden. Zwar profitierten die Juden in großem Umfang von der Liberalisierung der Wirtschaft seit der Gründung des zweiten Kaiserreichs, doch blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihre alte Berufsstruktur, die alle Formen der Handels- und Geldwirtschaft umfaßte, in hohem Maße erhalten. Dies war aber auch nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß Handwerk und Landwirtschaft ihre überragende Bedeutung fur die Wirtschaft verloren hatten, die Beschäftigungszahlen zurückgingen und es daher keinen Anreiz für „Neueinsteiger" gab, in diesen Bereichen tätig zu werden. Am Ende dieser Periode waren immer noch mehr als 50% der jüdischen Beschäftigten in der Handels- und Geldwirtschaft tätig. Daneben strebten sie vor allem in die akademischen und freien Berufe, sie wurden führend im Presse- und Verlagswesen, wurden Schriftsteller, Journalisten,
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Zur Genese des Wortes „Antisemitismus" vgl. Alex Bein, Die Judenfrage, 2 Bde., Stuttgart 1980, 1. Bd., S. 217£ u. 2. Bd., S. 163-168. Zur Geschichte des Antisemitismus vgl. u.a. Bein, 1980; David Berger (Edt.), History and Hate - The Dimension of Anti-Semitism, Philadelphia 1986; Detlev Claussen, Vom Judenhaß zum Antisemitismus, Darmstadt-Neuwied 1987; Jacob Katz, From Prejudice to Destruction: Antisemitism 1700-1933, Cambridge 1982; Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, 8 Bde., Worms 1977-1988; Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975; Herbert A. Strauss u. Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus, Bonn 1985; Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990 u. Robert Wistrich, Der antisemitische Wahn, Rastatt 1987. Statistische Angaben nach Evyatar Friesel, Adas of Modern Jewish History, New York-Oxford 1990, S. 102.
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Ärzte, Rechtsanwälte, obwohl es gerade im akademischen Bereich immer noch de facto-Schranken gab, die den Aufstieg z.B. in die Professorenschaft äußerst erschwerten. Ebenso erschwert wurde der Zugang zur staatlichen Verwaltung und zu den Offiziersrängen im Militär, das als tragende Säule der Gesellschaft angesehen und von dem ausgeschlossen zu sein schon als ehrenrührig betrachtet wurde. Innovativ wirkten die jüdischen Geschäftsleute in ihrem Engagement fur neue Handels- und Industriezweige wie die Bekleidungsindustrie, hier war es vor allem die Entwicklung der Konfektionsware und der Aufbau der ersten Warenhäuser, die Elektroindustrie, die mit der Gründung der „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft" (AEG) durch Emil Rathenau ihren prominentesten Vertreter fand, sowie die chemische Industrie.6 Ganz allgemein war fur das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts ein stetiger sozialer Aufstieg der Juden festzustellen, der sie schließlich fast überall eine gesicherte Mittelschicht bilden ließ und dazu führte, daß am Ende dieser Epoche die jüdische Gemeinde in Deutschland zu den wohlhabendsten in Europa zählte.7 Es ist angebracht, an dieser Stelle einen Exkurs einzufügen, der sich mit dem Begriff der Assimilation auseinandersetzt. Assimilation meint in der Historiographie im weitesten Sinne die Angleichung einer Gruppe an eine andere, in den meisten Fällen, daß sich eine Minderheit der Mehrheit unterordnet. Im Zusammenhang der vorliegenen Untersuchung bezeichnet Assimilation den Versuch der Juden in Deutschland vom ausgehenden 18. bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens anerkannt zu werden. Da die Definition des Begriffes Assimilation in der Literatur nicht eindeutig ist - verschiedene Autoren verwenden verschiedene Definitionen, die zudem nicht selten unterschwellig ideologisch besetzt sind, oder definieren den Begriff gar nicht -, erscheint eine Neudeutung seit langem dringend erforderlich. Um den Begriff der Assimilation von einer ihm in der Diskussion über das jüdisch-deutsche Verhältnis eigenen negativen Konnonation zu befreien -
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Vgl. Arthur Prinz, Juden im Deutschen Wirtschaftsleben. Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel 1850-1914. Bearbeitet und herausgegeben von Avraham Barkai, Tübingen 1984, S. 151-186. Vgl. für eine Diskussion über die Literatur, die sich mit den sozio-ökonomischen Verhältnissen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigt, Volkov, 1994, S. 113-117, die von der Feststellung ausgeht, daß eine umfassende moderne Sozialund Wirtschaftsgeschichte der deutschen Juden während der gesamten Epoche erst noch geschrieben werden müsse.
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bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er fast als eine Art Kampfbegriff von den Zionisten zur Brandmarkung des „Centrai-Vereins" verwendet -, kamen weitere Begriffe in die Debatte, so unter anderem die Bezeichnungen Symbiose und Akkulturation. Auf die Problematik, die mit der Bezeichnung Assimilation, aber auch der Symbiose verbunden ist, wird in der Geschichtsforschung seit einiger Zeit explizit aufmerksam gemacht und der Begriff Akkulturation anstelle von Assimilation und mit einer davon auch abgegrenzten Bedeutung eingesetzt.8 Daß die alleinige Verwendung des Begriffs Akkulturation aber nicht nur ein definitorisches, sondern auch ein hermeneutisches Problem ist, weist der Soziologe Friedrich Heckmann in seiner 1992 erschienenen Studie nach.' Die Ethnologie bietet in dieser verwirrenden Begriffsvielfalt einen Definitionsvorschlag, der eine sinvolle Ergänzung der gegenwärtigen Debatte darstellt. Nach der 1996 erschienen „Encyclopedia of Cultural Anthropology" handelt es sich bei Akkulturation und Assimilation um zwei verschiedene Vorgänge, die sich auf verschiedenen Ebenen, aber nacheinander abspielen. Akkulturation meint „(...) the process by which indiviuals (...) of minority cultures learn the language, habits, and values of the standard or dominant culture in which they reside."10 Dieser Prozeß der Akkulturierung ist als eine Voraussetzung der Assimilation zu betrachten, unter der wiederum verstanden wird „(...) the process by which individuals (...) of a minority culture enter the social positions of the standard or dominant culture in which they reside"".11 Akkulturation ist demnach ein kultureller Prozess, der auch nicht nur unilateral funktioniert, sondern dem wechselseitige Beeinflussungen immanent sein können. Heckmann schreibt dazu: „Akkulturation heißt also wechselseitige, aber nicht gleichgewichtige Beeinflussung und Veränderung, bedeutet Annäherung der Minderheit an die Mehrheit, die aber auch bestimmte Elemente der Minderheitenkultur aufnimmt."12
8 Vgl. Trade Maurer, Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780-1933), Tübingen 1992, vor allem Kap. 11, Die jüdische Minderheit: Akkulturation und Selbstbewahrung, S. 167-179. 9 Vgl. Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, Stuttgart 1992, vor allem Kap. 8. Akkulturation, Assimilierung, ethnische Identität, S. 162209. 10 David Levinson and Melvin Ember (Edt.), Encyclopedia of Cultural Anthropology, New York 1996, 4 Vol., Article „Assimilation", S. 112. 11 Levinson, 1996, S. 112. 12 Heckmann, 1992, S. 169.
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Assimilation hingegen, folgt man der Definition der „Encyclopedia of Cultural Anthropology", ist ein sozialer Prozess, der in seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzen ist, denn nur so wird aus einer Form der Duldung, aufgrund einer Akkulturation, eine Akzeptanz, d.h. eine Aufnahme in den Kreis der Mehrheitsgesellschaft, was nicht ausschließt, daß die Minderheitenkultur eigenständige Lebensformen und Religionsformen beibehält. Nur werden diese aus dem Blickwinkel der Mehrheitsgesellschaft dann nicht mehr als ausgrenzend empfunden, sondern mindestens akzeptiert, wenn nicht sogar als bereichernd angesehen. Daß ich für die Definition die US-Amerikanische „Encyclopedia of Cultural Anthropology" herangezogen habe, erklärt sich zu einen aus dem hohen Forschungsstand zu diesem Thema in den USA, zum andern aus dem Versuch, Akkulturation und Assimilation der Juden auch aus dem Blickwinkel der christlich-deutschen Mehrheit anzuschauen. Und dieser Blick unterscheidet sich nicht so sehr vom Blick der Nordamerikaner auf die Einwanderer aus Mittel- und Südamerika oder auf die Afro-Amerikaner. Die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft schaute, generalisierend gesprochen, auf die Juden und Jüdinnen, und nicht nur auf die Immigranten aus Osteuropa, wie auf fremde Einwanderer, auch wenn diese schon hunderte von Jahren in Deutschland lebten. Aus diesem Grund scheint mir die „Encyclopedia of Cultural Anthropology" ein geeigentes Hilfsmittel, um Akkulturation und Assimilation auch für die jüdisch-deutsche Geschichte zu definieren. Hierzu bedarf es allerdings noch zweier Ergänzungen, um die Verwendung dieser Definiton für den Bereich der jüdisch-deutschen Geschichte verständlich zu machen. Akkulturation ist ein aktiver Prozeß, zwar wird er von der Mehrheitskultur, hier der deutsch-christlichen Gesellschaft, gefordert, doch sind persönlicher Einsatz und das Streben nach Akkulturation den Mitgliedern der Minderheitenkultur selbst überlassen. Im Falle der deutschen Juden kann ohne Zweifel von einem höchst aktiven, schon fast sprichwörtlichen Akkulturierungsprozeß gesprochen werden, der letztlich seinen Niederschlag in der Entwicklung einer jüdisch-deutschen Kultur fand. Hierfür verwendet Trade Mauer den Begriff einer „deutschjüdischen Subkultur",13 der meiner Ansicht vor allem dazu dient, zu zeigen, wie sehr Juden und Jüdinnen in Deutschland integriert waren, nämlich so sehr, daß es sogar zu einer Art „dritten Kultur" kam, neben einer deutschen und einer jüdischen Kultur. Daß es zu einer „deutschjüdischen Subkultur", wobei der Begriff Subkultur auch nicht frei von negativen Konnotationen ist, gekommen ist, wird nicht bestritten. Allerdings erscheint es doch etwas ge13 Vgl. Maurer, 1992, S. 175fE
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wagt, aus einer deutschjüdischen Subkultur auf eine gelungene Akkulturation und Assimilation, im Sinne der oben angeführten Definitionen, zu schließen. Es zeigt nur, daß möglichwerweise im Prozeß kultureller Entwicklung etwas Neues, dialektisch vielleicht aus mehreren Vorgaben hervorgegangen ist. Den „Lackmustest" mußte diese deutschjüdische Subkultur aber erst noch bestehen. Zur weiteren Diskussion verweise ich auf den übernächsten Abschnitt. Der Prozeß der Assimilation, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, ist hingegen aus der Sicht der Minderheitenkultur ein passiver Prozeß. Zwar wird eine Akkulturation als Voraussetzung für die Assimilation betrachtet, doch impliziert Akkulturation nicht automatisch eine Assimilation. Hier ist die Bereitschaft der Mehrheitskultur, nämlich eine „offene Mehrheitsgesellschaft"14, gefordert, die Assimilation zuzulassen, akkulturierte Mitglieder als gleichberechtigt anzusehen und ihnen die gleichen Chancen in der Gesellschaft einzuräumen. Grundkondition ist selbstredend eine rechtliche Emanzipation aller Mitglieder der Gesellschaft. Aus akkulturierten Mitgliedern der Gesellschaft werden dann assimilierte und damit gleichberechtigte Mitglieder, die sich von genuinen Mitgliedern der Mehrheitskultur im Prozeß sozial-kultureller Akzeptanz nicht mehr unterscheiden. Wenn also im Folgenden von Akkulturation und Assimilation gesprochen wird, so ist dies im hier aufgeführten Sinne zu verstehen. Bezogen auf das deutsch-jüdische Verhältnis ist nun aber die Frage zu stellen, inwieweit die Mehrheitskultur, nämlich die deutsch-christliche Gesellschaft, tatsächlich eine Assimilierung uneingeschränkt zugelassen hat, womit auch die Frage aus dem vorvorherigen Abschnitt aufgenommen wird, ob die ohne Zweifel vorhandene und sich immer weiter entwickelnde „deutschjüdische Subkultur" ein Zeichen und Garant für die Integration der Juden und Jüdinnen in Deutschland war. Als Testfall können de-facto Restriktionen im sozio-ökonomischen Bereich, aber vor allem das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft in einer krisenhaften Situation gelten, wobei hierunter ökonomische Krisen, Auseinandersetzungen im familiär-nachbarschaftlichen und beruflichen Bereich sowie größere Auseinandersetzungen, d.h. Aufstände und Kriege, zu verstehen sind. Erst in solchen Situationen zeigt sich, ob gesellschaftliche Voraussetzungen, gesellschaftliche Übereinkünfte, Wertvorstellungen und Grundhaltungen stabil sind. In der Geschichte der Juden in Deutschland von 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs finden sich zahlreiche Beispiele, die zeigen, daß sich eine offene Mehrheitsgesellschaft in Deutschland nicht entwickelt hatte, respektive die Of14 Heckmann, 1992, S. 186.
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fenheit nur sehr eingeschränkt zu Tage trat, oft administrativ behindert wurde - eine Behinderung, die von weiten Teilen der Bevölkerung offenbar akzeptiert wurde - und die in Krisensituationen sofort ihre Instabilität durch verstärkten Antisemitismus bezeugte. Als illustrierende Beispiele seien nur die Gründerkrise, die in den jüdischen Börsenhändlern die Schuldigen für die Krise suchte, und die sogenannte Judenzählung" des Ersten Weltkriegs15 genannt. Ein letzte Bemerkung sei dazu noch gestattet. Die Beschäftigung mit jüdisch-deutscher Geschichte ringt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit, inwieweit sich die Betrachtung und Beurteilung einer fast eintausendsiebenhundertjährigen Geschichte von den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 und von der Schoah leiten lassen kann. Bestimmt die Schoah den Blick der Historiographie? Sicher ist es für die Historiker und Historikerinnen möglich, einen bestimmten Zeitabschnitt in sich zu betrachten und diesen auch einer Bewertung zu unterziehen. Gleichzeitig ist es aber auch die Aufgabe der Historiker und Historikerinnen, so wie ich sie verstehe, einen Blick auf größere Zeiträume und Ereigniszusammenhänge zu werfen. Das hat nichts mit rückwärts gewandter Prophetie und Besserwisserei zu tun, sondern mit Analysen, auch schmerzhaften, vor allem im Bereich der deutschen Geschichte. Diese Perspektive läßt allein in den Jahren 1871 bis 1918 sehr viele positive Entwicklungen in der jüdisch-deutschen Geschichte erkennen, läßt aber auch nach Tendenzen fragen, die die Basis für spätere Entwicklungen legen können. Eine davon ist die bereits angesprochene Judenzählung des Jahres 1916. Jüdische Geschichte als reine Opfergeschichte zu betrachten, ist ohne Zweifel verfehlt und schlicht falsch, Jüdische Geschichte nach 1945 ohne Blick auf die Shoah zu betreiben, ist zynisch und verweigert dem singulären Ereignis die Bedeutung, glättet es, negiert das Erkennen von Entwicklungen, die zur Shoah gefuhrt haben, und stellt sich in gefahrlich naher Weise an die Seite der Vertreter einer Entschuldungsthese.
15 Der Erlaß zur Zählung der jüdischen Frontsoldaten, um den Vorwurf zu widerlegen/beweisen, die Juden würden sich vor dem Fronteinsatz drücken, führte bei den jüdischen Soldaten zu tiefer Resignation. Vgl. Volker Ullrich, „Dazu hält man für sein Land den Schädel hin", in: Die Zeit, Nr. 42, 11.10.1996 und Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, vor allem S. 527ff
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2. Die deutschen Juden zwischen Identitätssuche und Antisemitismus Im Zuge der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts begann sich die traditionelle Form der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde unter dem Einfluß von Akkulturations- und Emanzipationsbemühungen aufzulösen.16 Die Sicherheit einer in Jahrhunderten gewachsenen jüdischen Gemeinschaft verschwand. Individualität wurde das Ziel, einhergehend mit dem Wunsch, eigene Entscheidungen für das eigene, individuelle Leben zu treffen. Das Bildungsideal der aufgeklärten Gesellschaft wurde auch und besonders von den Juden aufgenommen. Ein innerlicher Entwicklungsprozeß wurde als Ideal angestrebt, bei dem persönliche Bildung als erstrebenswerter Besitz galt. Die Juden gerieten fortan unter zweifachen Druck. Zunächst war da die Forderung nach Akkulturation an die deutsche Gesellschaft, eine von christlichen Denkweisen und Traditionen geprägte Gesellschaft, und diese forderte dann für ihre Bereitschaft zur Assimilation der Juden den hohen Preis einer Aufgabe elementarer Teile des Judentums. Mit den veränderten Bedingungen des 19. Jahrhunderts und dem Versuch, den Forderungen der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen, stellte sich im deutschen Judentum die für das ganze 19. Jahrhundert entscheidende Frage nach der jüdischen Identität, nach einer Verbindung von Moderne und Halacha oder den Verzicht auf einen der beiden Bereiche.17 Vereinfachend dargelegt, gibt es zwei Definitionen für Identität, eine endogene und eine exogene. Für die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinden der Voraufklärung bedeutete dies, daß sie sich endogen in ihrem Selbstverständnis als Religionsgemeinschaft mit einem detaillierten Regelkodex, im weiteren Sinn aber auch als Volk Israel, als von Gott auserwähltes Volk definierten. Man betrachtete sich als eine abgeschlossene Gruppe, die ihren Mitgliedern Schutz in ihrer Mitte bot, war aber auch be-
16 Für das Folgende vgl. als Anregung: George L. Mosse, Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus, Frankfurt/M. 1992 u. ders., Confronting the Nation. Jewish and Western Nationalism, Hanover-London 1993. 17 „Halacha" (hebr.: „Gehen, Wandeln") meint das System der religionsgesetzlichen Bestimmungen. Zum Problem des jüdischen Volkes im 19. Jahrhundert aus dem Blickwinkel der Halacha vgl. Jeshajahu Leibowitz, Gespräche über Gott und die Welt, hrsg. v. Michael Shashar, Frankfürt/Main 1990, S. 82f. Leibowitz stellt seine Ausführungen unter die Frage, ob das jüdische Volk vom halachischen Standpunkt aus überhaupt noch existiere. Dieses sei ein erst im 19. Jahrhundert aufgekommenes Problem.
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reit, sich anderen Gruppen in bestimmten Fragen zu öfinen. Jude-Sein" erfuhr so eine positive Definition, der es an Klarheit nicht fehlte. Aber Identitäten von Gruppen und ihren Mitgliedern werden auch exogen, d.h. von außen definiert, und dies war im Falle der Juden weit weniger positiv, dafiir aber von einer erschreckenden Konsequenz. Die christliche deutsche Gesellschaft der Voraufklärung hatte die Juden ihrerseits zu Fremden, zu Außenseitern erklärt, gegründet auf einen klerikalen Antijudaismus, der die Juden letztendlich als Gottesmörder ansah, sie gemeinsam mit der säkularen Macht besonderen Judenrechten" unterwarf um ihnen dann das Agieren im Rahmen eben dieser Judenrechte" wieder zum Vorwurf zu machen. Dies war die jahrhundertealte Crux des christlich-jüdischen Verhältnisses, und diese Crux sollte nun im Zuge der Aufklärung aufgelöst werden. Die deutsche Gesellschaft verlangte daher die Aufgabe der endogenen Definition, verlangte die Auflösung des Kollektivs, eigentlich die Aufgabe des jüdischen Glaubens. Gleichzeitig behielt sie aber die in diesem Fall negative exogene Definition bei. Innere Identität sollte als Preis für Emanzipation und Assimilation aufgegeben werden, die neue Identität stand aber unter dem Stigma der noch nicht aufgegebenen negativen äußerlichen Identität, die eine Verschmelzung mit der deutschen Gesellschaft erschwerte. Aber die Mehrheit der deutschen Juden war zu großen Zugeständnissen bereit, auch weil sie hoffte, dadurch die negative exogene Definition vergessen zu machen. Das Judentum erlebte so eine Zerreißprobe zwischen Tradition, Identität und Sehnsucht nach Assimilation. Da gab es die völlig säkularisierten Juden und die sog. „Drei-Tage-Juden", die nur an den drei hohen Feiertagen in die Synagoge gingen. Es bildeten sich verschiedene religiöse Richtungen heraus. Liberale und Reformgemeinden mühten sich, das Judentum für die deutsche Gesellschaft und für sich in ihrem Verständnis von Assimilation akzeptabel zu machen, was von der Einführung deutscher Gebetbücher und der Orgel in manchen Gemeinden sogar bis zu einer Verlegung des Schabbats vom Samstag auf den Sonntag in der Berliner Reformgemeinde führte.18 Die Neo-Orthodoxie bekämpfte diese Strömungen auf das heftigste, widerstand dem Versuch einer identitätsaufgebenden Akkulturation aber auch nicht völlig. Schleichend veränderte sich die jüdi-
18 Zur Geschichte des Reformjudentums vgl. Michael A. Meyer, Response to Modernity, New York 1988; Jakob Josef Petuchowski, Prayerbook Reform in Europe, New York 1968; Caesar Seligmann, Geschichte der jüdischen Reformbewegung, Frankfürt/M. 1922 u. Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933.
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sehe Identität, wobei es zunächst nicht eindeutig war, wohin sie sich entwickeln würde, die Selbstdefinition als jüdisches Volk allerdings verlor ihre einst überragende Bedeutung. Die Juden begannen, nach einer neuen Identität zu suchen, und in dieser wollten sie nichts anderes als deutsche Staatsbürger sein, allenfalls noch deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Deutsch-Sein und JudeSein war in der Uberzeugung der Juden in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts kein Widerspruch, es war ihre Identität. Aber die Juden wurden sich nicht der Entwicklung bewußt, die das Deutsch-Sein zu einer exklusiven Angelegenheit erklärte, denn die deutsche Gesellschaft verstand sich weitgehend als eine christliche Nation. Gab es nach dieser Definition fiir Juden überhaupt einen Platz in der deutschen Gesellschaft, im deutschen Nationalismus? Nach der Reichsgründung, aber besonders nach der bereits erwähnten ersten schweren Wirtschaftskrise des Kaiserreichs Mitte der 1870er Jahre, der „Gründerkrise", manifestierte sich in Teilen der Bevölkerung eine neue Form der Judenfeindschaft, der Antisemitismus. Dieser erwies sich im Vergleich zum Antijudaismus des Mittelalters als noch bedrohlicher, da er seine Begründung in der angeblichen jüdischen Fremdheit durch abstruse Rassentheorien fand, die diese als naturhaft angelegt erklärten," und eine solche naturhafte Fremdheit konnte auch durch die Taufe nicht aufgehoben werden. Damit war im Umgang zwischen Christen und Juden ein neue „Qualität" erreicht. Die angebliche Verstockheit der Juden, ihre „Andersartigkeit", wurde nun in bestimmten Kreisen der deutschen Bevölkerung nicht mehr religiösen Motiven zugeschoben, die sich auch als unwirksam und wenig zugkräftig erwiesen hatten. Es wurde auch nicht mehr über die Möglichkeit eines Erziehungsprozesses gesprochen, mit dem man „Fehlentwicklungen" im jüdischen Verhalten korrigieren konnte. Die Antisemiten begannen vielmehr, sich in entsprechenden Vereinen und Parteien zu organisieren, um auf diese Weise auch politisch ihre Vorstellungen durchzusetzen.30
19 Über die Entwicklung der antisemitischen Rassentheorie und ihrer Protagonisten vgl. Bein, 1980, Bd. 1, S. 218-239. 20 Eine Aufstellung der antisemitischen Parteien und Organisationen in Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und Rußland im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert findet sich bei Friesel, 1990, S. 59.
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Einige Beispiele mögen diese Entwicklung verdeutlichen. Wilhelm Marr, allgemein als Schöpfer des Begriffs „Antisemitismus" angesehen, ersann 1879 die „Antisemiten-Liga", eine jedoch nur temporäre Vereinigung. Marrs Antisemitismus stand auf einer eindeutig rassistisch definierten Grundlage. Religiöse Differenzen zwischen Judentum und Christentum betrachtete er als nichtig, hingegen sah er Judentum und „Germanentum" (der Titel seiner programmatischen Schrift 1879 lautete „Der Sieg des Judentums über das Germanentum") als zwei gegensätzliche Pole an, die sich in einer Auseinandersetzung befanden, wobei er das Judentum als die welterobernde Rasse ansah, während das Germanentum am Boden liege. Seine Gedanken fanden Anklang, auch wenn seine tatsächlichen Schriften vor allem in gebildeteren Kreisen nicht zitiert wurden.21 Bedeutender fur die Verbreitung antisemitischen Gedankenguts war der Hofprediger Adolf Stoecker mit seiner 1878 gegründeten „Christlich-sozialen Partei", dem es um antisemitische Agitation, aber auch darum ging, die sozialistisch eingestellten Arbeiter wieder für Staat und Kirche zu gewinnen. Eingang in gebildetere Kreise fand der Antisemitismus dann durch Heinrich von Treitschke (1834-1896), Geschichtsprofessor in Berlin und ein führender Vertreter seiner Zunft. 1879 sah er sich veranlaßt, auf die immer stärker werdende Bewegung des Antisemitismus einzugehen und sie einer vermeintlich kritischen Analyse zu unterziehen. Zunächst mühte er sich in seinem Aufsatz „Unsere Aussichten",23 den er 1879 in den von ihm herausgegebenen „Preußischen Jahrbüchern" veröffentlichte, um eine neutrale Position und ließ keinen Zweifel daran, daß er einen „Pöbelantisemitismus" ablehnte. Auch wollte er die Emanzipation nicht rückgängig machen, da dies nicht den Rechtsnormen des deutschen Staates entspräche. Dann aber sah er doch den „sittlichen Halt" und die gedeihliche Entwicklung in Deutschland durch „unleugbare Schwächen" des jüdischen Charakters, des „Semitentums", gefährdet, und all dies vor allem durch die aus Osteuropa nach Deutschland einwandernden Juden. Diesem Aufsatz entstammt auch der bekannte Ausspruch „Die Juden sind unser Unglück!", den er als vermeintlich authentische Meinungsäußerung der gebildeten Klassen in Deutschland weitergab. Der Text richtete sich in seinem Grundtenor gegen alle Entwicklungen der modernen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, explizit gegen 21 Vgl. zu Wilhelm Marr: Moshe Zimmermann, Wilhelm Marr: the Patriarch of antiSemitism, New York-Oxford 1986. 22 Zitiert wird im Folgenden nach dem Abdruck des vollständigen Textes in: Claussen, 1987, S. 110-116.
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den Liberalismus und die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Für diese offensichtlich schädlichen, da dem deutschen Nationalgefühl zuwiderlaufenden Entwicklungen machte Treitschke die Juden als einzige Schuldige aus und bewies ungewollt, wie sehr der Antisemitismus in dieser Epoche eine einende Kraft verschiedenster Strömungen sein konnte, wie sehr er aber auch für unterschiedliche Interessen genutzt wurde. Denn Treitschkes Antisemitismus unterschied sich in der Anlage deudich von den Ideen Marrs und Stoeckers. Für ihn ging es nicht um religiöse oder rassistische Kategorien, für ihn war das Judentum eine Bedrohung des Deutschtums, eine Bedrohung des nationalen Selbst in Deutschland. Antisemitismus wird bei ihm daher fast zu einer Form nationalen Bewußtseins. Dies vielfältige „Anwendbarkeit" kennzeichnet den Antisemitismus in charakteristischer Weise - und das nicht nur am Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist hier nicht der Ort, Treitschkes Artikel und seine nachfolgenden Äußerungen detailliert zu untersuchen, festzuhalten bleibt aber, daß auch Treitschke den Juden empfahl: „Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen." Die Schrift „Unsere Aussichten" löste einen Sturm der Entrüstung auf jüdischer Seite und bei nicht antisemitisch eingestellten Christen aus. Zwei prominente Streiter im sogenannten „Berliner Antisemitismustreit"23 wider Treitschkes Artikel waren Theodor Mommsen (1817-1903), ebenfalls Geschichtsprofessor in Berlin, und der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817-1891). Beide versuchten in wohlgesetzten Worten, den Artikel zu widerlegen. Mommsen ging mit Treitschke dabei scharf ins Gericht, Punkt für Punkt widerlegte er die Ansichten seines Kollegen, um am Ende die völlige Integration der Juden in Deutschland zu fordern, was allerdings nach seiner Meinung unter anderem auch die Aufgabe spezifisch jüdischer Vereine erfordere.24 Heinrich Graetz, von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird, betrachtete die Argumente Treitschkes sehr viel spöttischer, dem Kollegen historische Schnitzer nachweisend.25 Angemerkt sei hier, daß sich anhand der Reaktion auf die TreitschkeAusführungen Handlungsmuster erkennen lassen, die sich durch die ganze
23 Zu dem Komplex dieser Auseinandersetzung vgl. Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965, Textsammlung und Nachwort S. 237263. 24 Vgl. Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum (verfaßt 1880), in: Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 410-426. 25 Vgl. Heinrich Graetz, abgedruckt in: Michael Wolffsohn u. Uwe Puschner, Geschichte der Juden in Deutschland, München 1992, S. 82f.
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Geschichte des Kampfes gegen den Antisemitismus ziehen. Während die Antisemiten Fakten hin und her wenden, sie so verfalschen, wie sie gebraucht werden, kein Argument als zu lächerlich befinden, um es gegen die Juden einzusetzen, die ganze antisemitische Agitation also auf einer irrationalen Ebene ansetzt, die Tatsachen, Emotionen und archaische Ängste zu einem Brei vermischt, der für jede Diskussion unangreifbar, weil unfaßbar wird, versuchen die Gegner der Antisemiten stets mit rationalen Argumenten die Vorwürfe zu widerlegen. Sie ziehen Statistiken zu Rate, kehren die Vorwürfe in das Gegenteil um, zitieren, beweisen, debattieren und gehen doch am Kern des Problems vorbei, denn irrationale Motivationen lassen sich nicht mit rationalen Argumenten auflösen. Im Sommer 1881 organisierten antisemitische Aktivisten die „Berliner Bewegung", die schließlich 1882 eine von fast einer viertel Million Unterschriften getragene Petition einbrachten, in der die Regierung aufgefordert wurde, die Bürgerrechte der Juden wieder aufzuheben. Gegen diese Berliner Bewegung veröffentlichten namhafte Forscher wie Rudolf Virchow, Johann Droysen und auch wieder Theodor Mommsen die „NotabelnErkärung", in der sie sich explizit gegen das Wiederaufleben des „alten Wahns" der Judenfeindschaft aussprachen. Der Fortgang der Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses zeigt, daß es nicht so sehr die Artikel der Antisemiten und ihre Organisationen waren, die sich verheerend für die Juden in Deutschland auswirken sollten, sondern vielmehr, daß über hoch angesehene Lehrer wie Treitschke der Antisemitismus als Teil der antiliberalen Bewegung an die Universitäten kam. Er wurde dadurch nicht nur salon-, sondern auch lehrfahig. Die antisemitischen Parteien und Organisationen bis zum Ersten Weltkrieg waren oft nur kurzlebig und nicht sehr erfolgreich, aber ihr Gedankengut sickerte in das Bewußtsein, tradierte sich und wurde für viele Deutsche Teil der politisch-gesellschaftlichen Einstellung. Wie reagierten die deutschen Juden auf den Antisemitismus? Betrachteten sie ihn als Bedrohung ihrer Position? Sahen sie die erreichte Emanzipation als gefährdet an? Die deutschen Juden waren nicht blind für die Entwicklungen, die mit dem Antisemitismus einhergingen. Aber nur wenige sahen dies als eine wirkliche Gefahrdung, eher machte sich eine gewisse Enttäuschung darüber breit, daß es noch einmal zu solchen Ausschreitungen und Agitationen kommen konnte. Einige machten sich auch einen übersteigerten Patriotismus zu eigen. Allerorten rief man zu Geduld und Toleranz auf, da sich die positive Entwicklung nicht aufhalten lassen würde. Die große Mehrheit der Juden aber bagatellisierte, verharmloste den Antisemitismus.
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Denn trotz eines oft unverhohlen geäußerten Antisemitismus und diskriminierender Einschränkungen bot das Leben im Kaiserreich fur die Juden vielversprechende Aussichten. Der schon erwähnte wirtschaftliche Aufstieg ist ein Aspekt, ein anderer die gewonnene Rechtssicherheit. Verfolgungen und Pogrome erschienen nicht mehr möglich. Um aber die antisemitischen Agitationen und Verleumdungen nicht widerspruchslos hinnehmen zu müssen, wurden Vereine gebildet, die sich dem Kampf gegen die Judenfeindschaft verschrieben. Bereits Mitte der 1880er Jahre wurde die erste jüdische Studentenverbindung gegründet, als Antwort auf den Antisemitismus an den Universitäten. 1890 fanden sich im überkonfessionellen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" liberale Politiker zusammen, und 1893 schließlich wurde in Berlin der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) ins Leben gerufen. Wie diese Beispiele belegen, gab es in Deutschland also eine breite Abwehrfront, die sich auf verschiedenen Ebenen und überkonfessionell organisierte. Aber es blieben doch Zweifel. Gershom Scholems Diktum vom niemals stattgefundenen jüdisch-christlichen Dialog26 wird von George Mosse zwar als eine gegenseitige Beeinflussung uminterpretiert,27 doch im Kern bleibt das Dilemma der Juden in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts erhalten: Sie waren zu sehr Juden, um assimiliert zu sein, und zu wenig Juden, um isoliert zu sein.28 Aber in diesem Dreieck aus Ablehnung, Anerkennung und Identitätskrise versuchten die Juden die schon von Moses Mendelssohn geforderte Verbindung von jüdischer Tradition und deutscher Kultur zu erreichen in einer sich modernisierenden Gesellschaft, die von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen erhebliche Transferleistungen verlangte. Aus jüdischer Sicht gelang dies, aber von Teilen der deutschen Gesellschaft wurden die Juden in letzter Konsequenz nicht als Deutsche angenommen. Die Judenfrage" war auch in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts noch virulent - innerhalb und außerhalb des Judentums. Konnte hier nicht die Bewegung der Palästinafreunde und die ab 1882 in Erez Israel (hebr.: „Land Israel") gegründeten Kolonien einen Weg aus diesem Dilemma weisen? Konnte nicht der Zionismus den Juden eine neue Identität geben? Aber wurde eine solche identitätsstiftende Bewe-
26 Brief von Gershom Scholem an Manfred Schlösser, 18.12.1962, abgedruckt in: Gershom Scholem, Judaica II, Frankfurt/M. 1970. 27 Hierzu vgl. Mosse, 1992, S. 19£ 28 Vgl. Heckmann, 1992, S. 179.
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gung von jüdischer Seite überhaupt gefordert? Zumindest boten Zionsfreunde, auch wenn sie zu dieser Zeit noch nicht so genannt wurden, vereinzelt schon ab 1860, verstärkt dann ab 1882, eine solche Lösung an. Im weiteren wird sich zeigen, wie die deutschen Juden auf diese Herausforderung reagiert haben und welche Faktoren für die wechselvolle Geschichte der Chibbat Zion-Bewegung in Deutschland ausschlaggebend waren.
3. Die Juden in Osteuropa Die Judenverfolgungen des Spätmittelalters in Westeuropa sowie eine sich manifestierende antijüdische Einstellung der Bevölkerung, aber auch der Herrschenden, zwangen aschkenasische Juden in wachsendem Maße zur Emigration in das polnisch-litauische Reich. Im Lauf einer wechselvollen Geschichte, die sich im Extrem zwischen privilegierter Position als Wirtschaftshelfer der polnischen Herrscher und des Adels sowie pogromartigen Verfolgungen darstellte, entwickelte sich Polen-Litauen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zum zahlenmäßigen Zentrum der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa. In ökonomischer Hinsicht waren die Juden gleichberechtigt, daher findet sich bei ihnen eine weit gefacherte Berufsstruktur. Es gab Landbesitzer und Großhändler - doch der größte Teil der Kaufleute waren mittlere und kleinere Ladenbesitzer, die oft am Rande des Existenzminimums lebten. Es gab freie Bauern, Pächter und Landwirtschaft als Nebenerwerb ebenso wie fast alle Formen des Handwerks. Die Juden bauten das Kreditwesen auf und waren dadurch und durch ihre Position als Händler in der Rolle des Mitders zwischen Stadt- und Landbevölkerung.29 Diese Funktion wurde zunächst als sehr positiv bewertet, doch die Kirche und antijüdische Ressentiments der christlichen Bevölkerung, verbunden mit ökonomischen Ängsten, machten aus der für eine sich entwickelnde Wirtschaft wichtigen Position eine argwöhnisch betrachtete Sonderstellung, die die Juden im 19. Jahrhundert vor große Probleme stellen sollte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten in Osteuropa insgesamt 1,7 Millionen Juden von einer geschätzten jüdischen Weltbevölkerung von 2,5 Millionen. Diese Relation blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konstant, 1880 wurde die jüdische Weltbevölkerung auf 7,75 Millionen geschätzt,
29 Zur Berufsstruktur vgl. Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990, S. 19,23-25 u. 33-35.
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hiervon lebten 5,81 Millionen in Osteuropa.30 1900 zählte man 10,6 Millionenjuden, von denen 7,36 Millionen in Osteuropa lebten.31 Auf dem Gebiet des russischen Reiches fanden sich Mitte des 18. Jahrhunderts, bedingt durch wirtschaftliche und geographische Gegebenheiten sowie durch Ausweisungen in der ersten Häfte des 18. Jahrhunderts, nur ca. 2000 Juden in der Ukraine.32 Mit den drei polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 kamen aber viele Gebiete Polens mit einem hohen Anteil jüdischer Einwohner unter zaristische Herrschaft, Galizien wurde Osterreich angegliedert, und das dritte Zentrum jüdischer Besiedlung, die Fürstentümer Moldau und Walachei, wurde schließlich 1878 unter dem Namen Rumänien selbständig. Die Herrscher Rußlands mühten sich nach den drei polnischen Teilungen zunächst, die jüdische Bevölkerung in das ständische Gesellschaftsund Verwaltungssystem einzugliedern.33 Dabei spielten die Versuche zur Erziehung der jüdischen Bevölkerung eine große Rolle, denn die Gewährung rechdicher Gleichheit wurde an die Fortschritte in der Akkulturation geknüpft. Doch die getroffenen Maßnahmen verfehlten nicht nur ihre Intention, sie wurden im Gegenteil zu restriktiven Gesetzen, die die jüdische Bevölkerung immer mehr ins gesellschaftliche Abseits trieben. Die zaristische Gesetzgebung schien bei all ihren Versuchen einen entscheidenden Punkt übersehen oder falsch eingeschätzt zu haben, nämlich den, daß die jüdische Bevölkerung bereits unter polnischer Herrschaft eine außerhalb der ständischen Ordnung stehende Gruppe gewesen war, die aber auch nur aufgrund dieser geduldeten Außenseiterrolle als fest gefugte Einheit überlebte.
30 Zahlenangaben nach Paul R. Mendes-Flohr und Jehuda Reinharz (Hrsg.), The Jew in the Modern World, New York/Oxford 1980, S. 526£ 31 Zahlenangabe nach Arthur Ruppin, Soziologie der Juden, 2 Bände, Berlin 1930, S. 89. 32 Vgl. hierzu Matthias Rest, Die russische Judengesetzgebung von der ersten polnischen Teilung bis zum „Polozenie dlja Evreev" 1804, Wiesbaden 1975, S. 9-12. 33 Zu dem Komplex der versuchten Eingliederung in das Zarenreich vgl. Manfred Hildermeier, Die jüdische Frage im Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32, 1984, S. 321-357 u. ders., Die rechdiche Lage der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich und in Polen: Einige vergleichende Aspekte, in: Gotthold Rhode (Hrsg.), Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, Marburg/Lahn 1989.
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Eine solche Position ließ sich nicht einfach durch einige legislative Verordnungen umkehren.34 Einige Beispiele mögen dies verdeudichen. Die Beschränkung der Freizügigkeit der Juden auf bestimmte russische und ehemals polnische Gouvernements im Süden und Westen Rußlands in den Jahren 1791 bis 1818 schuf einen Ansiedlungsrayon, der zum Problem wurde, als sich fur die übrige Bevölkerung die Freizügigkeit durchsetzte. In dem ca. 1 Mill, qkm umfassenden Gebiet lebten schließlich über 90% der russischen Juden. Gedacht nur als Schutz der Moskauer Kaufleute vor unliebsamer jüdischer Konkurrenz, wurde der Ansiedlungsrayon zum Symbol der antijüdischen zaristischen Unterdrückungspolitik. Als weiteres Beispiel einer verfehlten Gesetzgebung ist eine Verordnung der Zarin Katharina II. (1729-1796) zu nennen, die 1782 die Juden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit den Stadtbürgern zuordnete. Doch lebte ein großer Teil der Juden auf dem Land, und diese Zuordnung schuf die Möglichkeit zur Vertreibung der Juden vom Land, denn der Stadtbürger hatte qua Gesetz auch in der Stadt zu wohnen.35 Damit war den Juden der Weg zu einer Tätigkeit in der Landwirtschaft versperrt, ihre Arbeit konzentrierte sich auf den Handel, das Transportgeschäft und die beginnende Industriewirtschaft.36 Das für die Entstehung des Rayons und der ökonomischen Entwicklung der Juden zentrale Statut von 180437 ermöglichte ihnen als Ausgleich für die Einschränkungen im ökonomischen Bereich eine landwirtschaftliche Kolonisierung mit staatlicher Hilfe im Bereich Neurußlands. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es verschiedene Ansätze zu einer solchen Kolonisierung, die aber im Rückblick als gescheitert angesehen werden muß. Es gelang nicht, Juden dauerhaft als Landwirte anzusiedeln, wozu nicht unmaßgeblich die mangelnde Organisation dieser Versuche von seiten des Staates mit beitrug.38 Der erzieherische Aspekt, der noch zu Zeiten Katharinas II. den Gesetzen die Juden betreffend zugrunde lag, wurde unter ihren Nachfolgern 34 Zum Leben der Juden Osteuropas in dem sog. „Schtetl" vgl. Mark Zborowski and Elizabeth Herzog, Life is with People - The Jewish Little Town of Eastern Europe, New York 1952. Dt.: Das Schtetl: Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden, München 19912. 35 Vgl. Haumann, 1990, S. 77£ 36 Vgl. Nathan Weinstock, Das Ende Israels?, Berlin 1975, S. 35. 37 Vgl. Rest, 1975. 38 Vgl. Haumann, 1990, S. 80 u. zum Komplex der Landwirtschaft: Bernard D. Weinryb, Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Rußland und Polen, zweite überarbeitete und erweiterte Auflage Hildesheim-New York 1972, S. 193-218.
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immer deutlicher vom Versuch der Diskriminierung und Ausgrenzung abgelöst.39 Erst unter der Herrschaft Alexanders II. von 1855 bis 1881 trat wieder eine gewisse Liberalisierung ein. Auf vielen Gebieten gab es, wenn auch schwerfällig, Erleichterungen, so z.B. im Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit auf dem Land, in der Gewährung größerer Freizügigkeit in der Wohnortwahl auch außerhalb des Rayons und im Bereich der Bildungseinrichtungen.40 Für die Juden schien sich der langgehegte Wunsch nach der Emanzipation zu verwirklichen, und in Alexanders Herrschaft wurden die größten Hoffnungen gesetzt.41 Doch seine Ermordung am 1.3.1881 beendete nicht nur alle Träume von einem emanzipierten und integrierten Dasein in der russischen Gesellschaft, sondern war auch der Beginn blutiger Pogrome und neuer antijüdischer Gesetze. Ökonomische Unsicherheit, die rasch fortschreitende Proletarisierung in den Städten und ab 1881 die Angst vor weiteren Pogromen waren schließlich zentrale Motive für die allerdings schon in den 1870er Jahren beginnende Auswanderung der Juden aus Rußland. Bis 1914 verließen ca. 2,5 Mill. Juden Rußland, von denen ca. 2 Mill, in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierten.42 Eine Lösung der jüdischen Probleme in Osteuropa brachte die Auswanderung nicht, denn der natürliche Bevölkerungszuwachs überstieg die Emigrationsquote.43
4. Palästina - ein vergessener Ort? Palästina gehörte seit 1517 zum Osmanischen Reich, bildete aber keine eigene Provinz, sondern war nach einer Verwaltungsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts44 in die Sandschaks (Regierungsbezirke) von Beirut, Akko und Nablus, die zum Wilajet (Provinz) Beirut gehörten, sowie in den nur
39 Vgl. Haumann, 1990, S. 80. Zur Rolle der russisch-orthodoxen Kirche und der Religionstoleranz in Rußland vgl. Peter Waldron, Religious Toleration in Late Imperial Russia, in: Olga Crisp and Linda Edmondson (Edt.), Civil Rights in Imperial Russia, Oxford 1989. 40 Vgl. Hildermeier, 1984, S. 339ff u. Haumann, 1990, S. 82£ 41 Zur Entwicklung der Emanzipation in Rußland vgl. John D. Klier, Jewish Emancipation, in: Crisp, 1989, S. 124-144. 42 Zahlenangabe nach Josephine Bacon, Illustrated Atlas of Jewish Civilization, London 1990, S. 110. 43 Vgl. Nawratzki, 1914, S. 50. 44 Vgl. Werner Richter, Israel und seine Nachbarräume, Wiesbaden 1979, S. 9.
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der Zentralregierung unterstellten unabhängigen Sandschak von Jerusalem administrativ aufgeteilt.45 Das Land durchlebte verschiedene Phasen ökonomischen Aufschwungs und Niedergangs,46 auch weil geologische Vorgänge, hierbei ist vor allem die Versumpfung der Küstenebene und der wassernahen Landstriche Obergaliläas zu nennen, einer positiven Entwicklung der Landwirtschaft entgegenstanden. Die Sümpfe minderten nicht nur die Bodenqualität und reduzierten die Größe der möglichen Anbaufläche, sondern bildeten die Brutstätten der Anophelesmücke, der Malaria-Überträgerin, wodurch weitere große Teile der wassernahen Ebenen wüst fielen. Von 1780 bis 1830 fiel das Land in eine tiefe Depression, die Bevölkerungszahl erreichte mit 300.000 Menschen den niedrigsten Stand.47 Die ökonomischen Krisen wirkten sich auf die Lage der Fellachen (arab. Bezeichnung fur die arabischen Bauern in Palästina) deprimierend aus, hinzu kam die ständige Gefahr durch Beduinenüberfalle.48 Folge dieses Zusammenspiels ökonomischer Depression und existentieller Unsicherheit war eine in zwei Richtungen gehende Landflucht. Die Fellachen versuchten entweder in die Städte zu ziehen oder besiedelten die leicht zu verteidigenden Bergländer. Viele Dörfer in den fruchtbaren Tälern und Ebenen wurden verlassen, dagegen erreichten die Bergländer Galiläas, Samarias und Judäas die höchste Siedlungsdichte Palästinas.49 Eine zwischenzeitliche Besetzung Palästinas 1831 bis 1840 unter dem ägyptischen Vizekönig Muhammad Ali konnte ihre Reformen nicht über den Besatzungszeitraum hinaus tragen.50 Palästina blieb nach diesem vorüber-
45 Vgl. Raphael Patai (Edt.), Encyclopedia of Zionism and Israel, 2 Vol., New York 1971, S. 560. u. Hubert Auhagen, Beiträge zur Kenntnis der Landesnatur und der Landwirtschaft Syriens, Berlin 1907, S. 31. Für detailliertere Angaben zur Administration vgl. Nawratzki, 1914, S. 83-86. Für eine genaue Auflistung der Wilajets, Sandschaks und Kazas (Kreise) sowie der in den Wilajets und Sandschaks tätigen Beamten vgl. G. Hölscher, Die administrative Einteilung des heutigen Syriens, in: Mittheilungen und Nachrichten des deutschen Palästina-Vereins, Jg. 13, Leipzig 1907, S. 4-57. 46 47 48 49 50
Vgl. Richter, 1979, S. 26. Vgl. Alfred Bonne, Palästina - Land und Wirtschaft, Leipzig 1932, S. 30f. Vgl. Mosche Aumann, Grundbesitz in Palästina 1880-1948, Jerusalem 1977, S. 6. Vgl. Richter, 1979, S. 31f Die Verwaltungseinrichtung der ägyptischen Besatzung beschreibt Yitzhak Hofman, The Administration of Syria and Palestine under Egyptian Rule (1831-1840), in: Moshe Ma'oz, Studies on Palestine during the Ottoman Period, Jerusalem 1975, S. 311-333.
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gehenden Aufschwung ein von den Türken eher vernachlässigter Teil ihres Reiches.51 Erst ab den 1860er Jahren kann eine langsame Besserung der sozioökonomischen Lage der Landbevölkerung konstatiert werden. Die Gefahr durch Beduinenüberfalle konnte zurückgedrängt werden, und die in die Bergländer geflüchteten Bauern begannen, die fruchtbaren Ebenen und Täler wieder zu besiedeln. Die Bevölkerung wuchs bis 1880 um 50% auf 450.000, von denen 24.000 Juden waren.53 Für das Verständnis der ökonomischen Situation in Palästina am Ende des 19. Jahrhunderts ist ein Blick auf das Steuerrecht und die Grundeigentumsverhältnisse notwendig. Das Osmanische Reich erblickte in der Landwirtschaft die wichtigste Einnahmequelle, entsprechend wurde diese mit hohen Steuern belegt. Das Recht der Steuereinziehung verpachteten die türkischen Behörden an zahlungskräftige Interessenten,53 eine höchst problematische Praxis, denn sie ersparte vordergründig dem Staat zwar Verwaltungsaufwand, ließ aber einer auch nur ansatzweise prosperierenden Volkswirtschaft keine Entwicklungschance. Das System war auch nicht auf lange Sicht hin angelegt, sondern auf schnellen finanziellen Gewinn. Eine weitere Besonderheit bei dem Versuch einer Beurteilung der Landwirtschaft in Palästina war das sog. „Musha-System", d.h. der im Gemeindebesitz befindliche Boden wird alle zwei Jahre neu unter den Dorfbewohnern per Los verteilt,54 auch dies verhinderte jedwede Melioration. Diese Besitzform kam hauptsächlich in den Küstengebieten und in den Ebenen vor. Am bedrohlichsten für die Landbevölkerung aber waren die außerordentliche Steuerbelastung und der sich ausweitende Großgrundbesitz, letzterer vor allem durch die Bodenreform 1858, die Kollektiveigentum bzw. Stammeseigentum zu separieren suchte. Diese Eigentumsform war in den dicht besiedelten Bergregionen vorherrschend.55
51 Dies beweist auch, daß die Bauern das Gros der Steuern aufbrachten, die Investitionen im ländlichen Bereich aber marginal waren. Vgl. Alexander Schölch, Palästina im Umbruch 1856-1882, Stuttgart 1986, S. 242. Zur Behandlung Palästinas durch die Türken vgl. Salman Rubaschow, Vierhundert Jahre türkisches Palästina, in: Der Jude, II.Jg., Berlin/Wien 1917/18, S. 702ff. 52 Vgl. Richter, 1979, S. 30. 53 Für das Steuerrecht im Osmanischen Reich vgl. Leon Schulmann, Zur türkischen Agrarfrage, Weimar 1916, S. 95-108; Auhagen, 1907, S. 31-35; Wilhelm Albrecht, Grundriß des osmanischen Staatsrechtes, Berlin 1905, S. 72£; Nawratzki, 1914, S. 75-77 u. Bonne, 1932, S. 47. 54 Vgl. Schulmann, 1916, S. 63 u. Auhagen, 1907, S. 49£ 55 Vgl. Waltz, 1986, S. 49.
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Das Ziel der Reform, bei der jeder Eigentümer seinen Besitz in ein Grundbuch eintragen lassen sollte, war die Erhöhung des Steueraufkommens. Die Fellachen ließen sich allerdings nicht registrieren, was schließlich zum Ausverkauf der nun vermeintlich freien Flächen führte und zur Abschaffung der sog. Gewohnheitsrechte.56 Verschiedene andere Faktoren führten weiter zu einer derart hohen Verschuldung, daß viele kleine und mittlere Landbesitzer ihr Land den Großgrundbesitzern verkauften, um damit des Steuerdrucks ledig zu sein.57 Diese „freiwillige Versklavung"58 bot zunächst den Fellachen den Vorteil, ihr Land als Pächter weiter bearbeiten zu können. Erst als mit der verstärkten Nachfrage nach Boden dieser zum Wirtschafts- und Spekulationsobjekt wurde, erwuchs aus dem vormaligen Vorteil ein existenzbedrohender Nachteil. Die Beurteilung der palästinensischen Ökonomie und des Leistungsniveaus der Landwirtschaft fallt in der Literatur recht unterschiedlich aus. Einig sind sich die verschiedenen Autoren über den technischen Stand der Agrarwirtschaft. Technische Innovationen fanden ebenso wenig statt wie das Einführen neuer Produkte. Daher funktionierte eine Expansion nur über die Ausdehnung der Nutzflächen, da selbst die Möglichkeit des Düngens fast unbekannt war. Die äußerst kontroverse Beurteilung der Produktivität der Landwirtschaft und der Ökonomie in Palästina60 läßt für diese Uberblicksdarstellung nur das Fazit zu, daß Palästina ohne Zweifel einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung ab den 1870er Jahren erlebte. Tatsache ist aber auch, daß die ökonomische Verbesserung nicht den produzierenden Fellachen, sondern Kaufleuten, Mittelsmännern, Großgrundbesitzern und Steuerpächtern zugute kam.61 Zudem darf die konstatierte
56 Zum Problem der Steuerbelastung vgl. Weinstock, 1975, S. 73; Schulman, 1916, S. 102-104 u. Schölch, 1986, S. 103. 57 Vgl. Schulman, 1916, S. 49. 58 Schulman, 1916, S. 53. 59 Vgl. Schölch, 1986, S. 156; Richter, 1979, S. 90 u. Auhagen, 1907, S. 53, der die Landwirtschaft ein „lebendes Altersmuseum" nennt. 60 Schölch, 1986, S. 155 und 264£ konstatiert für Palästina einen deutlichen Aufschwung, der bis zu Aktivitäten im Exporthandel fuhrt. Richter, 1976, S. 89-91 bezeichnet die Ernten der Fellachen als gering und die Ernährungslage als äußerst kritisch; er sieht nur in den Landwirtschaften der „Städte und größeren Orte" eine Möglichkeit, Uberschüsse für den Export zu produzieren. Abraham Granott, The Land System in Palestine, London 1952, S. 34 beschreibt Palästina als ein Land mit einer unterentwickelten, unproduktiven Landwirtschaft und einem Handel, der, wenn überhaupt vorhanden, nur lokalen Charakter hat. 61 Schölch, 1986, S. 98.
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Verbesserung nicht zu hoch bewertet werden. Die ökonomische Lage, der Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung und die Bedrohung ihrer traditionellen Existenz aus den oben geschilderten Gründen ließ ihre Situation weiter gefährdet erscheinen.
5. Das europäische Interesse an Palästina im 19. Jahrhundert Palästina rückte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder stärker in das Blickfeld der europäischen Großmächte. Das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus", schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen, und es galt fiir die europäischen Mächte, sich Einflußsphären zu sichern. Palästina gehörte hierbei zu den bevorzugten Territorien. Das wachsende politische Interesse und die Versuche zur Einflußnahme dieser Staaten äußerten sich zunächst in Schutzerklärungen der Regierungen für bestimmte religiöse Gruppen im Lande, z.B. der russischen Regierung fiir die orthodoxen Christen und der preußischen Regierung für die Protestanten. Die französische Regierung fühlte sich für die katholischen Christen verantwortlich, während die englische Regierung, die als erste der europäischen Mächte 1838 ein Konsulat in Jerusalem und gemeinsam mit Preußen 1841 einen anglo-preußischen Bischofssitz einrichtete, neben den Protestanten auch die Juden unter ihren Schutz stellte.62 Daneben handelten die Europäer mit der türkischen Regierung sogenannte Kapitulationen aus. Mit Hilfe dieser Kapitulationen konnten die Europäer massiv in die Souveränität der osmanischen Regierung eingreifen. Die im ganzen Osmanischen Reich Gültigkeit besitzenden vertraglichen Regelungen sollten ihrem Ursprungsgedanken nach den Ausländern individuelle, ökonomische und religiöse Freiheit garantieren.63 Aus dieser liberalen Regelung entwickelte sich jedoch schnell eine komplexe Privile-
62 Vgl. Friedrich Heyer, Kirchengeschichte des Heiligen Landes, Stuttgart-BerlinKöln-Mainz 1984. Zu den Aktivitäten der europäischen Mächte in Palästina vgl. Alexander Schölch, Europa und Palästina 1838-1917, in: Helmut Mejcher und Alexander Schölch (Hrsg.), Die Palästina-Frage 1917-1948, Paderborn 1981, S. 1146 u. Ma'oz, 1975, Part Four - Foreign Activities, S. 385-482. 63 Nach Albrecht hatte die Türkei mit folgenden Staaten Kapitulationen abgeschlossen: Deutschland, Osterreich, Belgien, England, Dänemark, Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Portugal, Rußland, Schweden, den USA und Persien. Vgl. Albrecht, 1905, S. 52.
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gienordnung für den Handel und das Fiskalsystem, denn außer von der Grundstückssteuer waren Kapitulationsberechtigte von allen anderen Steuern befreit. Es entstand eine Zweiklassengesellschaft, auf der einen Seite türkische Staatsbürger, abhängig von Gnade und Willkür ihrer Behörden, auf der anderen Seite privilegierte Ausländer, protegiert von ihren Konsulaten.64 Ab 1864, nach einer britischen Intervention, galten diese Kapitulationen auch für ausländische Juden im Osmanischen Reich. Die konsularischen Vertreter wachten streng über die Einhaltung der Kapitulationen. Bei jedem Versuch der osmanischen Regierung, hieran legislative Änderungen vorzunehmen, nutzten sie das ihnen gegebene Vetorecht Dadurch wurde jede ihren Wirtschaftsinteressen nicht genehme Regelung zu Fall gebracht - ein für jede Volkswirtschaft äußerst problematischer Vorgang. Die Nichtbesteuerung der Ausländer führte bei steigendem Etat des Osmanischen Reiches zwangsläufig zu einer höheren Besteuerung der einheimischen ländlichen Bevölkerung und damit zu wachsenden Existenzproblemen dieser Gruppe. Die im Osmanischen Reich lebenden und ökonomisch tätigen Ausländer fanden dagegen fast ideale Bedingungen für ihre Aktivitäten vor.65
6. Die jüdische Bevölkerung in Palästina In Palästina existierten auch nach der Zerstörung des zweiten Tempels 70 n.d.Z. und den Vertreibungen im Zuge des niedergeschlagenen Bar Kochba-Aufstandes 132-135 permanent jüdische Gemeinden, vor allem im Galil. Zwar war deren Zahl gering, doch bildeten die in der Zeit bis zum
64 Vgl. Chaim Gvati, A Hundred Years of Settlement, Jerusalem 1985, S. 5. Das Buch enthält eine detaillierte Schilderung der Siedlungsgeschichte in Palästina, doch finden sich keine Quellen- und Literaturangaben. Gvati, 1901 geboren und 1924 nach Palästina ausgewandert, kam aus der Kibbuzbewegung und war nach der Gründung des Staates Israel in mehreren landwirtschaftlichen Verwaltungen tätig; u.a. arbeitete er als Leiter des landwirtschaftlichen Zentrums der Histadrut und füngierte von 1964 an zehn Jahre als Landwirtschaftsminister. Im Vorwort zu seinem Buch schreibt Gvati, daß er die angegebenen Daten aus der Fülle des ihm zur Verfugung stehenden Materials geschöpft und wiederholt überprüft habe. Auf Quellen und Anmerkungen habe er bewußt verzichtet, da er kein wissenschaftliches, sondern ein unterhaltendes Buch schreiben wollte. Die Angaben können daher nur ungeprüft übernommen werden. 65 Zu der Kapitulationsproblematik vgl. Schulman, 1916, S. 95-98 u. Albrecht, 1905, S. 52.
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7. Jahrhundert in Palästina existierenden Schulen, zusammen mit den Schulen in Babylon, religiöse Mittelpunkte des Judentums. Diese Schulen schufen die Voraussetzungen, dem Judentum die Form zu geben, die man bis in das 20. Jahrhundert verfolgen kann. So wurde um 500 der Jerusalemer Talmud, um 600 der Babylonische Talmud abgeschlossen. Die Bedeutung der babylonischen und galiläischen Schulen als richtungsweisend in religiösen Fragen schwand ab dem 7. Jahrhundert und wechselte um die Jahrtausendwende in die Länder der westlichen Diaspora.66 Um ihre Identifikation mit Erez Israel und dem jüdischen Glauben zu zeigen, unterstützen die Juden in der Diaspora wahrscheinlich schon seit den Perioden der Mischna und des Talmud diese in Palästina lebenden Juden mit Subventionszahlungen (hebr.: Chalukka).67 Eine wichtige Rolle bei der Verbindung der Diasporajuden zum Heiligen Land spielten dabei die „Schadarim" (hebr. Akronym für „Abgesandte der Rabbanim"), die als Spendensammler aus Palästina die entlegensten jüdischen Gemeinden erreichten. Sie schufen eine auch persönliche Verbindung der in der Diaspora lebenden Juden zu Erez Israel.68 Nach den Verfolgungen und weiteren Dezimierungen der jüdischen Bevölkerung durch die Kreuzfahrer erlebten die Juden Palästinas eine kurze Phase der Blüte, als Safed nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 durch die Immigration zu einem bedeutenden religiösen und wissenschaftlichen Zentrum wurde.69 Zu weiteren Masseneinwanderungen kam es nach der sefardischen Immigration zunächst nicht. Die ab dem 16. Jahrhundert einwandernden Juden waren Anhänger orthodoxer Glaubensauslegung, denen das Talmud- und Torastudium im Lande der Väter sowie eine Grabstätte in Erez Israel als heilige Pflicht galten.70 Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich in Osteuropa der Chassidismus, eine volkstümlich fromme Strömung, die sich, beeinflußt von den mystischen Schriften der Kabbala, bewußt von dem ihrer Meinung nach unfle-
66 Vgl. Georg Fohrer, Geschichte Israels, Heidelberg 1977 (enthält ausfuhrliche Hinweise auf weiterführende Literatur). 67 Vgl. Artikel „Halukkah" in: EJ, 7:1207ff 68 Ebd. EJ, 7:1207fF u. Moshe Burstein, Selfgovernment of the Jews in Palestine, Tel Aviv 1934, S. 24. 69 Vgl. u.a. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Haupströmungen, Frankfürt/Main 19883, Kapitel: Isaac Luria und seine Schule, S. 267-314 u. Richter, 1979, S. 27. 70 Zur Grabstätte in Erez Israel vgl. Babylonischer Talmud, Ketubbot Fol l i l a . Talmudstelle zitiert nach: Lazarus Goldschmidt, Der Talmud, 4. Band, Leipzig 1922.
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xiblen rabbinischen Judentum absetzen wollte.71 Chassidische Führer lösten zum Ende des 18. Jahrhunderts eine größere Auswanderung nach Erez Israel aus und reorganisierten die Subventionszahlungen der Diasporajuden an die sich dem Talmudstudium widmenden, zum größten Teil aber ökonomisch unproduktiven Juden in Palästina. Im Laufe des 19. Jahrhundert wurde die Spaltung des Jischuw (hebr. Bezeichnung fur die gesamte jüdische Gemeinde in Palästina) in sefardische und aschkenasische Gemeinden zu einem Problem. Um 1800, als die Zahl der Juden nur ca. 6.700 betragen hatte,72 was einem Gesamtbevölkerungsanteil von ca. 2,4% entsprach, war die Mehrzahl der Juden Sefardim. Im Zuge einer allgemeinen Entwicklung des Landes und besonders durch eine verstärkte Einwanderung aschkenasischer Juden vergrößerte sich der Jischuw und zählte 1880 24.000 Mitglieder.73 Die Anzahl aschkenasischer und sefardischer Juden hielt sich zu diesem Zeitpunkt die Waage.74 Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung war auf 5,3% gestiegen. Die streng religiösen aschkenasischen Einwanderer siedelten hauptsächlich in den vier heiligen Städten Jerusalem - hier lebte stets mehr als die Hälfte des gesamten Jischuws75 - Tiberias, Safed und Hebron. Dazu kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts kleinere Gemeinden in Akko, Nablus, Jaffa und Haifa76 Die moslemische Bevölkerungsmehrheit akzeptierte die neuen Bewohner nicht und bekämpfte sie zum Teil mit gewalttätigen Maßnahmen, schreckten auch vor Mord nicht zurück. Die sefardischen Juden, die sich in Sprache und Kultur den Moslems in gewissem Maße angeglichen hatten, wurden von ihnen hingegen toleriert. Als Staatsangehörige oder sogenannte Schutzgenossen europäischer Länder bemühten die Aschkenasim ihre Konsulate, und diese zwangen die Türken durch die seit 1864 auch
71 Über den Beginn und die Geschichte des Chassidismus vgl. Simon Dubnow, Geschichte des Chassidismus, 2 Bde., Berlin 1931/32; Scholem, 1988, S. 356-385; Harry M. Rabinowicz, Hasidism, London 1988 u. Johann Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Berlin/New York 1972, S. 505-522. 72 Vgl. Roberto Bachi, The Population of Israel, Jerusalem 1974, S. 31. Bachi nennt seine Zahlen für 1800 „very rough estimate". 73 Zahlen nach Haim Hillel Ben-Sasson (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Volkes, ΠΙ: Band, Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Die Neuzeit, München 1980, S. 237-239. 74 Vgl. Arthur Ruppin, Der Aufbau des Landes Israel, Berlin 1919, S. 11. 75 Vgl. Bachi, 1974, S. 373. Zur Entwicklung Jerusalems im 19. Jahrhundert vgl. Yehoshua Ben-Arieh, Jerusalem in the 19th Century, The Old City, Jerusalem 1984 u. ders., Jerusalem in the 19th Century, Emergence of the New City, Jerusalem 1986. 76 Vgl. Ben-Sasson, 1980, S. 240.
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für Juden geltenden Kapitulationen, arabische Feindseligkeiten zu unterbinden. Daher konnten die aschkenasischen Gemeinden unter konsularischem Schutz weiter wachsen.77 Die Ausübung einer Tätigkeit in Handel oder Gewerbe als Beitrag zur ökonomischen Versorgung wurde von vielen Juden im Jischuw abgelehnt, manche Schätzungen sprechen von 85% der jüdischen Bevölkerung, die von den Chalukkazahlungen abhängig waren. Festzustellen ist aber, daß die sefardischen Juden in weit geringerem Maße auf die Subventionen angewiesen waren als die Aschkenasim. Die mit der Sprache und den Lebensbedingungen des Landes vertrauten Sefardim betätigten sich häufig im Handwerk und im Handel, während den Aschkenasim diese Erfahrungen fehlten, was ihre Chalukkaabhängigkeit verstärkte. Auch aus diesen genannten Gründen konnten die Sefardim ihren gemeindlichen Zusammenhalt beibehalten, sie verteilten die Spendengelder ohne Ansehen der Bildung und ökonomischen Situation an ihre Mitglieder. Dagegen spaltete sich die aschkenasische Gemeinde zu Beginn des 19. Jahrhunderts in landsmannschaftliche Gruppen (hebr.: Kolelim), damit die jüdischen Spender in Europa sicher sein konnten, diejenigen Juden zu unterstützen, die aus ihrem Land kamen.78 Die negativen Folgen der Chalukka waren offensichtlich, die Juden im Heiligen Land wurden zu Almosenempfangern. Ein anderer Aspekt der Spendentätigkeit hingegen war die ständige Erinnnerung der in der Diaspora lebenden Juden an das Land der Vorväter. Betroffen von der fast völligen Diaspora-Abhängigkeit der Juden in Palästina - in Verbindung mit einer bedrohlichen sozio-ökonomischen Lage und dem katastrophalen hygienischen Zustand der Städte, bemühten sich immer wieder philanthropisch gesinnte Palästina-Besucher, die Lage der jüdischen Gemeinden zu verbessern.
77 Vgl. Howard M. Sachar, A History of Israel, New York 1985, S. 23. 78 Vgl. Ben-Sasson, 1980, S. 239 f u. Artikel „Halukkah" in: EJ, 7:1207ff Eine ausfuhrliche Darstellung findet sich im Zionistischen Zentralarchiv, Jerusalem, Archiv Henrietta Szold, A 125/117: Ina Britschgi-Schimmer, Beiträge zur Geschichte der Chalukka und der Kolelim, (1938). Die Arbeit ist Henrietta Szold gewidmet. Im weiteren werden Quellen aus dem Zionistischen Zentral Archiv mit „ZZA" und der dazugehörigen Registrierungsnummer genannt, z.B.: ZZA, A125/117. Eine Aufstellung der benutzten Archive mit Registrierungsnummern findet sich im Literaturverzeichnis. Weitere Literatur zur Chalukka: Eugen Mayer, Sendboten aus dem heiligen Land. Zur Geschichte der Chalukah in Deutschland, in: Bulletin des LeoBaeck-Instituts, 9. Jg., Nr. 34, 1966, S. 101-118 u. Otto Eberhard, Chalukah und Chalukahreform, in: Mitteilungen und Nachrichten des Deutschen PalästinaVereins, Leipzig 1908,14. Jg., S. 17-29.
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Der durch sein Eintreten für verfolgte Juden in der ganzen Welt bekannte englische Jude Moses Montefiore versuchte ab 1838, im Anschluß an seine zweite Reise nach Palästina, die Juden zur Landwirtschaft und zum Handwerk anzuhalten. Er ließ Häuser bauen, bemühte sich um die Gründung einer landwirtschaftlichen Kolonie und initiierte eine industrielle Produktion.7' 1854 kam der Schriftsteller August Ludwig Frankl nach Jerusalem und gründete eine Schule, die auch weltliche Fächer vorsah.80 Ab den 1870er Jahren wurde die Alliance Israelite Universelle (AIU)81 in den Städten aktiv. Sie errichtete Schulen mit französischer Unterrichtssprache ebenso wie eine Handwerkerschule in Jerusalem.82 Allerdings akzeptierten die orthodoxen Juden und ihre Rabbiner philanthropische Hilfe nur dann, wenn sie nicht in die traditionelle Lebensweise eingriff83 Die auf weltliche Bildung ausgerichteten oben genannten Projekte überschritten die Toleranzgrenze der Orthodoxen. Sie opponierten heftig gegen die Bestrebungen, das Tora- und Talmudstudium durch andere Bildungswege zu ersetzen. Traditionalisten aus allen Gemeinden sahen keine Veranlassung, vom überlieferten Lehr- und Sozialsystem abzugehen. Das waren die Bedingungen in Palästina, die die Einwanderer der Ersten Alija vorfanden. Doch fehlte ihnen jede Vorkenntnis über diese Bedingungen, was die Situation, wie sie sich ab 1881 entwickelte, nicht vereinfachte.
79 Vgl. Artikel „Montefiore, Sir Moses" in: EJ, 12:270ff 80 Es handelt sich um die Lämelschule. Frankl veröffentiichte 1858 in Leipzig seinen ausfuhrlichen Reisebericht mit dem Titel „Nach Jerusalem!". 81 Die AIU wurde 1860 von emanzipierten und assimilierten Juden in Paris ins Leben gerufen, jedoch nicht als Zeichen eines wiedererwachten Nationalbewußtseins, sondern jüdischer Solidarität und Gemeinschaftshilfe, um überall auf der Welt Juden zu unterstützen, die aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses Verfolgungen ausgesetzt waren. Die Organisation wurde auf der diplomatischen Bühne aktiv, half bei Emigrationen und baute ein weltumfassendes Schulsystem auf Vgl. Artikel Alliance Israelite Universelle in: EJ, 2:648ff. Vgl. auch die Lebenserinnerungen eines der Gründer der AIU, Narcisse Leven (1833-1915), z.T. posthum veröffentlicht: Narcisse Leven, Cinquante ans d'histiore, Tome I, Paris 1911, Tome II, Paris 1920. 82 Für diese und weitere philanthropische Aktivitäten vgl. Ruppin, 1919, S. 12. 83 Vgl. Artikel „Israel, State of (Historical Survey)" in: EJ, 9:324ffi
II. Die Zionsfreunde in Osteuropa
Neben den von außen in die jüdischen Gemeinden Osteuropas getragenen Problemen kam es auch innerhalb der jüdischen Gesellschaft zu einschneidenden Veränderungen.1 Allerdings erschwerte den in Rußland wirkenden Maskilim die zum Teil katastrophale rechtliche, soziale und ökonomische Lage der jüdischen Bevölkerung sowie ein latenter Antijudaismus der russisch-christlichen Einwohner ihre Bemühungen. Hinzu trat die immer noch sehr starke Bindung der Juden an die Religion und damit der große Einfluß der Rabbiner auf das Leben der Gemeinden.2 Daher stießen die Maskilim in Osteuropa auf großen Widerstand, denn das orthodoxe Judentum opponierte heftig gegen die Bestrebungen der Maskilim, Mißstände in den Städten und Schtetln Osteuropas durch die Realisierung modemer Vorstellungen zu beseitigen und das Judentum einem Säkularisierungsprozeß zu unterwerfen. Gegen interne Widerstände mühten sich die Aufklärer darum, den Anschluß der jüdischen Bevölkerung an die russsiche Gesellschaft herzustellen, um damit die Fähigkeit zur Akkulturation und dadurch die Berechtigung zur Emanzipation nachzuweisen. Neben ihren Bemühungen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen der Juden Osteuropas zu verbessern und ihnen eine säkulare Bildung zu ermöglichen, gaben die Maskilim den Anstoß dazu, der hebräischen Sprache ihre abgehobene Stellung als reine Kultussprache zu nehmen und sie, da die Haskalaliteraten das Jiddische als Ghettosprache ablehnten, wieder als Literatursprache zu verwenden. Dem widerspricht nicht, daß viele Schriftsteller zunächst auch in Jiddisch veröffentlichten, um den Massen ihre Werke zugänglich zu machen.
1. Perez Smolenskin und die ersten zionistischen Gruppen Parallel zu den Emanzipations- und Akkulturationsbemühungen der Maskilim bildeten sich in den späten 1870er Jahren in hunderten von Städten
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Als hervorragende Quelle für das Leben der Juden in Rußland sei genannt: Pauline Wengeroöi Memoiren einer Großmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Rußlands im 19. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin 1908-1910. Zur Auseinandersetzung der Maskilim mit der Orthodoxie vgl. Ehud Luz, When Parallels Meet, Phüadelphia 1988, S. 1-21.
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und Dörfern des Ansiedlungsrayons zionistische Zirkel. Diese waren in hohem Maße von den Gedanken eines der führenden Haskalavertreters, Perez Smolenskin (1840/42-1885), beeinflußt. Geboren in Weißrußland, kam Smolenskin bereits während seiner Zeit in der Jeschiwa mit den Ideen der Haskala in Berührung. Er mußte aufgrund der Beschäftigung mit säkularen Büchern die chassidischen Zentren verlassen, lebte vorübergehend in Odessa und kam dann 1868, nach einer Reise durch Rumänien, Böhmen und Deutschland, nach Wien. Hier gründete er die hebräische Zeitschrift „Ha-Schachar" (Die Morgenröte), die er bis zu seinem Tod als Redakteur, Herausgeber und Finanzier betreute. Ha-Schachar wurde das wichtigste Journal der späten Haskala und der beginnenden jüdischen Nationalbewegung.3 Was Smolenskin aus der Masse der Maskilim heraushob, war nicht nur seine Zeitschrift oder sein schriftstellerisches Talent, es war vor allem seine innovative Verknüpfung der Haskala mit nationalen jüdischen Motiven. Smolenskin war überzeugt, nur das nationale Gefühl schaffe die Einheit im jüdischen Volk. Und dieser jüdische Nationalismus stellte für ihn keinen reaktionären Rückschritt dar, sondern eine fortschrittliche Notwendigkeit auf dem Weg zu einer auch geistigen Einheit des Judentums. Die aus Deutschland importierten Tendenzen der Haskala lehnte er entschieden ab, sie degradierten das Judentum zu einer gewöhnlichen Religion ohne jede Kraft zur Einheitsstiftung für das jüdische Volk, und sie förderten daher die uneingeschränkte Akkulturation. Nach Smolenskins Meinung war die Tora die Garantie des Zusammenhalts des jüdischen Volkes in den vergangenen Jahrhunderten gewesen, doch inzwischen habe der Glaube viel von seiner Kraft verloren und müsse mit einem nationalen Gefühl wieder gestärkt werden. Um seine Pläne zu realisieren, wollte Smolenskin geistig-kulturelle Mittel einsetzen, z.B. die Erneuerung der hebräischen Sprache und die Wiederaufrichtung des messianischen Ideals. Den Versuchen der Juden, innerhalb der russischen Gesellschaft einen gleichberechtigten Platz zu bekommen, gab er keine großen Erfolgsaussichten. Im Gegensatz zu diesen formulierte er als Antithese schon in den 1870er Jahren seine Angst vor dem Ausbruch antijüdischer Pogrome.4 3
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Zur Biographie Smolenskins, seinen Thesen sowie zu seiner Arbeit fur die Zeitung und als Schriftsteller vgl. Artikel „Smolenskin, Perez" in: EJ, 15:7-11 u. Luz, 1988, S. 21-23 Vgl. Böhm, 1935, S. 92-95 u. Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, Wien 1975, S. 83.
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Bis 1881 jedoch glaubte Smolenskin noch an die Möglichkeit, in der Diaspora eine nationale Erneuerung erreichen zu können. Bei einer Beurteilung dieser Ansicht darf nicht vergessen werden, daß Smolenskin in Wien lebte und schrieb, was ihn vielleicht andere Perspektiven fiir ein Leben der Juden in der Diaspora, i.e. einer westeuropäischen Diaspora, entwickeln ließ. Aber nach dem ersten Pogrom im April 1881 in der Ukraine verfaßte er für die Sommerausgabe der Ha-Schachar einen Artikel, in dem er sich nun explizit fiir eine jüdische Kolonisation Palästinas als ersten Schritt zur Wiedergewinnung Erez Israels aussprach.5 Obwohl schon von schwerer Krankheit gezeichnet, Smolenskin starb 1885 an Tuberkulose, versuchte er in der jüdischen Gesellschaft Wiens seine nationalen Vorstellungen umzusetzen. Er unterstützte die Gründung des ersten jüdischen nationalen Studentenvereins, dem er den hebräischen Namen „Kadima" gab, was sowohl „vorwärts" als auch „ostwärts" - nach Palästina - bedeutet. Smolenskin wurde von einem Befürworter der Haskala zum führenden Vertreter der nationalen Erneuerung, die er sich schließlich nach den Pogromen auch nur noch in Palästina vorstellen konnte, damit war er für die frühen Zionisten einer ihrer ideologischen Vordenker, den jedoch seine Erkrankung hinderte, sich auch als aktiver Vorkämpfer zu betätigen. Die zionistischen Zirkel in Rußland glaubten schon vor 1881 nicht mehr an die Möglichkeit einer Emanzipationsgesetzgebung und lehnten daher jedwede Akkulturation mit dem Ziel der Assimilation ab. Die Anhänger dieser Zirkel, die sich zumeist aus von der Haskala enttäuschten Juden zusammensetzten, sahen die Lösung ihrer Probleme in einer erneuten Nationbildung in Erez Israel.6 Um die Idee zu popularisieren und Anhänger aus allen Schichten zu gewinnen, begannen sie die unterschiedlichsten Aktivitäten. Es wurden u.a. Turn- und Chorgruppen gegründet, aber auch Kurse für Geschichte und zum Erlemen der hebräischen Sprache eingerichtet. Diese Zirkel gaben sich ganz unterschiedliche Namen, wurden aber in der jüdischen Öffentlichkeit als „Chibbat Zion" (hebr.: „Liebe zu Zion") und ihre Anhänger als „Chowewe Zion" (hebr.: „Zionsfreunde") bekannt. Trotz eines gemeinsamen Zieles agierten diese Gruppen autonom, und das Fehlen einer zentralen Leitung schwächte die Möglichkeit der Popularisierung erheblich.
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Vgl. Jonathan Frankel, Prophecy and Politics - Socialism, Nationalism and the Russian Jews 1862-1917, Cambridge 1981, S. 62-64. Vgl. Barbara Linner, Die Entwicklung der frühen nationalen Theorien im osteuropäischen Judentum des 19. Jahrhunderts, Frankfürt/M. 1984, S. 82-85.
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Die fuhrenden Verfechter der Ideen der Chibbat Zion kamen, wie erwähnt, zum Teil aus der Haskala, wie z.B. Smolenskin, Moses Leib Lilienblum (1843-1910) und David Gordon (1831-1886), zum Teil waren sie Vertreter der Orthodoxie, wie Samuel Mohilewer (1824-1898) und Mordechai Eliasberg (1817-1889), oder sie kamen aus dem Kreis der Assimilation, wie Lev Levanda (1835-1888).7 Plattform zur Verbreitung ihrer Ideen boten den Vordenkern der Chibbat Zion die Journale „Ha-Schachar", „HaMaggid" (Der Bote/Verkünder)8 - dessen Herausgeber David Gordon bereits im Jahr 1870 eine Reihe von Artikeln verfaßt hatte, die die Kolonisation Palästinas als Basis zur Regeneration der jüdischen Nationalität zum Thema hatten9 - „Ha-Meliz" (Der Vermittler/Fürsprecher)10 und die in russischer Sprache erscheinende „Razsvet" (Morgendämmerung).11
2. Die Vertreter der „Russifikation" Die Anhänger der Assimilation hatten ebenfalls Vereinigungen zur Verbreitung ihrer Vorstellungen gegründet, z.B. 1863 die in St. Petersburg ansässige „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Rußlands".13 Doch so klar wie der Titel klingt, stellte sich diese Gesellschaft nicht dar. Sie rang während der ganzen Zeit ihres Bestehens um die eindeutige Formulierung ihrer Ziele, denn sie wollte allgemeine Bildung, worunter säkulare Lehrfacher verstanden wurden, nicht auf Kosten jüdischer Bildung durchsetzen. In ihrer Gründungszeit drehten sich die Diskussionen schon allein ganz praktisch darum, in welcher Sprache die „Verbreitung der Auf7 Vgl. Nahum Sokolow, Hibbath Zion, Jerusalem 1934, Introduction, S. XXIX. 8 Das Journal erschien seit 1856 in Lyck/Ostpreußen, ab 1858 herausgegeben von David Gordon; Ha-Maggid war die erste Zeitung, die sich in den Dienst der Idee der ländlichen Besiedlung Palästinas stellte. 9 Vgl. Pesach Goldring, Zur Vorgeschichte des Zionismus, Frankfurt/Main 1925, S. 26. 10 Dies war die erste hebräische Zeitung in Rußland, gegründet und herausgegeben von Alexander Zederbaum. 11 „Razsvet" erschien 1879-1883 in St. Petersburg mit dem Ziel, die „aufgeklärten" Juden wieder für die nationalen Werte des Judentums zu begeistern. Für die Geschichte der vier verschiedenen Journale mit dem Namen „Razsvet" vgl. Artikel „Razsvet" in: EJ, 13:1595-1598. 12 Zu dieser Gesellschaft vgl. Artikel „Society for the Promotion of Culture among the Jews of Russia" in: EJ, 15:58-62; Laqueur, 1975, S. 87 u. allgemein zum Hintergrund John Doyle Klier, Imperial Russia's Jewish Question, 1855-1881, Cambridge 1995, S. 245-262.
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kärung" denn geschehen solle, in Hebräisch, Deutsch oder Russisch? Man entschied sich letztlich für Russisch, da es die Gewähr zu bieten schien, die Juden an die russische Gesellschaft heranzufuhren. 1867 wurde der Gesellschaft von seiten der zaristischen Regierung gestattet, einen Zweigverein in Odessa zu gründen. Der Odessaer Zweig der Gesellschaft galt als besonders radikal in der Frage der „Russifikation", wie diese Form der Akkulturation auch in der Literatur manchmal leicht abschätzig genannt wird, obwohl die Mehrheit seiner Mitglieder der deutschsprachigen Kultur entstammte und zugetan war.13 Ein Mitglied dieses Odessaer Vereins war Leon Pinsker, der noch eine äußerst wichtige Rolle für die jüdische Geemeinschaft in Ost-, aber auch in Westeuropa spielen sollte Ein Zeitzeuge formulierte das Identitätsproblem der „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Rußlands" und deren Streben nach Akkulturation wie folgt: „Denn alle diese feurigen Russifikatoren waren gestern noch Anhänger der deutschen Kultur gewesen, die sie so rasch verließen, weil sie von der Sprache und Kultur des russischen Wachtmeisters mehr Heil auf dem Gebiete der Gleichberechtigung erwarteten (...)". Und weiter: „Und diesem elenden Götzen der Gleichberechtigung waren die „fortgeschrittenen" Juden immer bereit, nicht allein alle fremden, sondern vor allem die eigene Kultur und selbst die eigene Seele zum Opfer darzubringen."14 Unverhohlen schwingt in diesem Zitat eine deutliche Kritik an der Russifikation mit als einem nicht nur fremden, sondern selbstverleugnenden Verhalten der Juden. Trotz dieser besonders auch von Smolenskin formulierten Ablehnung konnten sich hingegen die Ideen der Chibbat Zion in der russisch-jüdischen Gesellschaft noch nicht durchsetzen. Zu sehr war man auf die Emanzipation und Assimilation fixiert, zu wenig beachtete man die Warnungen vor Pogromen und vor einer möglichen Abkehr der zaristischen Regierung vom liberalen Kurs.
13 Über die Schwierigkeiten mit dem Begriff „deutschsprachige Kultur" vgl. Kap. VIII. 14 Ben-Ami, Erinnerungen an Leo Pinsker, in: Der Jude, I. Jg., Berlin/Wien 1916/17, Neudruck Vaduz 1979, S. 584-585. Die Angabe „Neudruck Vaduz" entfällt bei weiterer Zitierung, da alle acht Bände der Zeitschrift 1979 in Vaduz neu aufgelegt wurden. Daher wird nur das ursprüngliche Erscheinungsjahr genannt. Zu beachten ist, daß der Artikel erst nach den Pogromen 1881-84 und 1903/04 geschrieben wurde. Mordechai (Rabinowicz) Ben-Ami (1854-1932) war ein Verfechter der Haskala, der als Schriftsteller versuchte, Einfluß auf seine Glaubensgenossen zu gewinnen. Er engagierte sich für die Opfer der 1881er Pogrome und gehörte ab 1890 zu den Chowewe Zion in Odessa, vgl. EJ, 4:461f.
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3. Chowewe Zion und Narodniki - Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bei der Betrachtung der Chibbat Zion stellt sich die Frage, inwieweit diese Zirkel in Verbindung mit den verschiedenen revolutionären Bewegungen im Zarenreich,15 die seit den 1860er Jahren immer mehr Einfluß bei der russischen Jugend gewannen, gebracht werden können und ob die Chibbat Zion direkt oder indirekt in ihren Ideen, Organisationsformen oder Vorgehensweisen von diesen beeinflußt wurden. Ideengeschichtlich können zwischen den Narodniki und den Chowewe Zion zwei Verbindungslinien gezogen werden, und zwar bei der Betonung der Agrarreform und dem sogenannten „ins Volk gehen". Die Bedeutung der Landwirtschaft, respektive ihre Reform, speiste sich fur beide Gruppen allerdings aus höchst unterschiedlichen Quellen. Während fiir die Narodniki eine Art bäuerlicher Sozialismus - Rußland war immer noch eine Agrargesellschaft - Grundlage einer neuen Ordnung sein sollte, war fiir die Chowewe Zion die Rückkehr zur Landwirtschaft eine Erfüllung religiöser Gebote. Dabei ergab sich die Wichtigkeit der Landwirtschaft nicht aus einer rückständigen Wirtschaftsordnung, sondern war ein freiwilliger Weg heraus aus der Stadt, weg von den städtischen Berufen, um damit aber auch eine Reform der jüdischen Gesellschaft zu erreichen. Eine Vorgehensweise, die die jüdischen Intellektuellen der Chibbat Zion tatsächlich von den Narodniki übernahmen, war das „ins Volk gehen". Vor allem im Frühjahr 1874 war die Jugend aus den Universitätsstädten aufgebrochen, um „ins Volk" zu gehen, d.h. sie wollten den Bauern ihre revolutionären Ideen näherbringen. Die Absicht war, damit eine Verbindung zwischen der bäuerlichen Bevölkerung und den intellektuellen Schichten der Städte zu schaffen, jedoch scheiterte das Konzept zum einen am Mißtrauen der Bauern, zum anderen am Einschreiten der Polizei, die das Verbreiten staatsfeindlicher Ideen mit der Verhaftung hunderter von
15 Im Folgenden wird zur Vereinfachung für diese revolutionären Bewegungen der Oberbegriff „Narodniki" (Narod, russ.: Volk) verwendet, auch wenn dieser Begriff inhaltlich nicht auf alle Bewegungen zutrifft. Dies ist aber nicht der Ort, umfassend die Geschichte der russischen revolutionären Bewegungen darzustellen. Hierfür sei auf die Fachliteratur verwiesen. Zur Einfuhrung vgl. Goehrke u.a., 1973, S. 227-234. Uber die Verbindungen zu den Juden in Rußland vgl vor allem Frankel, 1981; Henry J. Tobias, The Jewish Bund in Russia. From its Origins to 1905, Stanford 1972 u. Leonard Shapiro, The Role of the Jews in the Russian Revolutionary Movement, in: The Slavonic and East European Review, Vol. XL, Nr. 94, Dec. 1961, S. 148167.
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Studenten zu unterbinden suchte. Für die Chowewe Zion war mit diesem Konzept der Weg vorgezeichnet, auf die jüdischen Massen zuzugehen, sie erkannten, daß die Aktivitäten von ihnen ausgehen mußten, wenn sie etwas erreichen wollten. Dadurch machten sie sich von ihren Vorbehalten gegenüber der Orthodoxie frei und konnten sich den orthodoxen Kreisen annähern.16 In der Frage der Organisationsform lassen sich ebenfalls Übereinstimmungen zumindest für die Anfangszeit der Chibbat Zion feststellen, denn beide Bewegungen wählten die kleinen, voneinander unabhängigen Zirkel als Grundlage der Organisationsform, dies jedoch nicht ganz freiwillig, da Polizei und Zensurbehörden im Russischen Reich Bewegungen, die in irgendeiner Weise dem Staat verdächtig erschienen, keine andere Wahl ließen. Kleine Gruppen waren sehr viel schwieriger zu zerschlagen als eine große Dachorganisation. Die Methoden des Terrors gegen den Staat jedoch, Hauptziel wurde ein Attentat auf den Zaren, die vor allem die Gruppe „Narodnaja Volja" (Volksfreiheit/Volkswille) einsetzte, wurden von den Chowewe Zion nicht als probates Mittel angesehen, zumal sich ihre Aktivitäten nicht gegen den russischen Staat mit dem Ziel einer Veränderung dieses Staates richteten, sondern in erster Linie an die jüdische Bevölkerung, um diese von den Ideen der Chibbat Zion zu überzeugen. Die Gemeinsamkeiten beantworten noch nicht die Frage nach einer direkten Beeinflussung der Zionsfreunde durch die Narodniki. Fest steht, daß zwischen beiden Gruppen keine größeren Kontakte bestanden und von einem Überwechseln jüdischer Narodniki zu den Chowewe Zion nichts bekannt ist. Es finden sich aber zum Beispiel für den ideologischen Kopf der Kulturzionisten, Achad Haam, Belege, daß er von den Schriften des nichtjüdischen Revolutionärs Peter Lavrov stark beeinflußt wurde.17 Resümierend kann daher die oben genannte Frage dahingehend beantwortet werden, daß man von einer indirekten Beeinflussung ausgehen kann, eine direkte Einflußnahme ist aber weder vor noch nach den Pogromen nachzuweisen. Es läßt sich auch nur schwer bestimmen, inwieweit die Chowewe Zion mit den Ideen der Narodniki und der ihnen verwandten Gruppen sympathisierten. Wenn sie es taten, erlitt diese Sympathie im Sommer 1881, nach den ersten Pogromen, einen heftigen Rückschlag. Denn entgegen den freiheitlichen Ideen und dem vorausgesetzten Verständnis für die Si16 Vgl. Luz, 1988, S. 32. 17 Vgl. Steven J. Zipperstein, Elusive Prophet Ahad Ha'am and the Origins of Zionism, Berkeley-Los Angeles 1993, S. XXV u. 46.
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tuation und Position der Masse der jüdischen Bevölkerung in Rußland sprach sich vor allem Narodnaja Volja fiir die Pogrome aus, da die Menschen in der Ukraine unverhältnismäßig stark unter den Juden zu leiden hätten. Ein Vorwurf der sich in seiner Überspitzung nicht scheute, in doppeldeutiger Weise zu dem Ritualmordvorwurf zurückzukehren, und polemisch formulierte, die Juden würden die Ukrainer verfluchen, betrügen und ihr Blut trinken.18 Damit war jede auch noch so fragile Verbindung zwischen Narodniki und Chowewe Zion zerbrochen, obwohl sich die Revolutionäre später von diesen antisemitischen Aussagen distanzierten. Russifizierung und Chowewe Zion, das waren zwei höchst gegensätzliche Pole der russisch-jüdischen Gesellschaft, aus der ein Teil der Kolonisten stammte, das war die ideengeschichtliche Situation am Vorabend der Pogrome in Rußland.
18 Eine englische Übersetzung einiger Teile des Pamphlets findet sich bei Frankel, 1981, S. 98.
III. Palästina und die deutschen Juden mythische Sehnsucht versus Realität
Das Verhältnis der deutschen Juden am Ende des 19. Jahrhunderts zu Palästina war ein höchst ambivalentes und von verschiedenen Faktoren bestimmt. Diese Faktoren umfassen die Zionssehnsucht, die theoretischen Vorläufer der Zionsliebe, die Informationsmöglichkeiten über das Land, die Einstellung einzelner Personen zu Palästina und das Engagement für den Alten Jischuw.1 Sie schaffen eine Basis zum Verständnis der Haltung der meisten deutschen Juden gegenüber Palästina in den Jahren 1882 bis 1904.
1. DieZionssehnsucht Nicht erst mit dem Entstehen des modernen politischen Zionismus nach 1897 wurde in den jüdischen Gemeinden der Welt die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Heimat der Vorväter wieder wach, nicht erst seit dem Auftreten Theodor Herzls erinnerten sich die Juden Palästinas auch als ihrer ursprünglichen geographischen Heimat. Die Zionssehnsucht war dem jüdischen Glauben seit dem Verlust der Staatlichkeit und dem Beginn der Diaspora immanent und fand ihren Ausdruck in verschiedenen Formen, so z.B. in den sich auf die biblische Geschichte in Erez Israel beziehenden Gebeten und Feiertagen.2 Im Talmud finden sich viele Stellen, die von Erez Israel handeln, die die gegenwärtige und zukünftige Fruchtbarkeit beschreiben,3 die das Wohnen in Erez Israel als heilige Pflicht ansehen4 und die darlegen, daß sich die religiösen Gebote in ihrer Vollständigkeit nur in Erez Israel erfüllen lassen.5 Es bestand aber keine Einigkeit darüber, wie eine Rückkehr nach Zion für den Einzelnen und für das Volk aussehen könnte. Zwei Konzepte wur1
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Die Bezeichnung „Alter Jischuw" meint die jüdische Gemeinde in Palästina und die Neueinwanderer ab 1881, die in den Städten leben, im Gegensatz zum „Neuen Jischuw", der sich in den Kolonien ab 1881 bildete. Vgl. u.a. Leo Trepp, Die Juden, Hamburg 1987, Abschnitt „Das Land", S. 14£ Vgl. Ketubbot, Fol. 112 a und Ketubbot Fol. 111 b. Talmudstellen zitiert nach: Goldschmidt, 4. Band, 1922. Vgl. Bawa batra, Fol. 91 a, Goldschmidt, 6. Band, 1906. Vgl. Sota, Fol. 14 a, Goldschmidt, 5. Band, 1912.
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den in der Diaspora entwickelt.6 Auf der einen Seite stand das geduldige Erwarten einer messianischen Erlösung in der Diaspora. Die Anziehungskraft dieses Messianismus läßt sich an der Neigung der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora ablesen, besonders in und nach Krisen- und Pogromepochen den sogenannten Pseudomessiassen zu folgen, die ihnen die Heimkehr nach Palästina versprachen.7 Dargestellt in der hier gebotenen Kürze, handelt es sich bei dem Messianismus um ein in die Zukunft gerichtetes Streben nach dem messianischen Zeitalter. Endzeitlicher Heilsbringer ist der Messias, er wandelt die Endzeit in die ideale Urzeit; eine Zeit ohne materielle und spirituelle Not, ohne Verfolgung und ohne Bedrängung.8 Für die jüdische Religion ist das Konzept des Messianismus ein zentraler Pfeiler des Glaubens. Seine Bedeutung als Heilserwartung und Erlösung läßt sich an den zum Teil euphorischen Reaktionen der Juden Europas während der Zeit des Sabbatai Zwi (1626-1676) ablesen. Das zweite Konzept war die Forderung nach aktiver Vorbereitung und Durchführung der Rückkehr nach Palästina. Dies fand im 18. und 19. Jahrhundert vielfältigen literarischen Ausdruck, doch ernsthaft befaßten sich zunächst vor allem christliche Schriftsteller mit der Idee einer Wiederbesiedlung Palästinas durch die Juden. In der jüdischen Presse wurden diese Pläne zwar als ehrenwert angesehen, aber ob ihrer Undurchfuhrbarkeit abgelehnt.9 Obwohl z.B. die Ritualmordbeschuldigung gegen die jüdische Gemeinde in Damaskus 1840, die damit einhergehenden Verfolgungen und der schleppende, teilweise regressive Gang der angestrebten Emanzipation in Europa zeigten, daß die Juden noch immer als Minderheit ausgegrenzt waren, begann sich in der europäischen Judenheit ein jüdisches Nationalbewußtsein in Verbindung mit der Idee der Rückkehr nach Palästina erst sehr langsam zu regen. Zu groß waren die Hoffnungen auf eine vollständige Emanzipation und Assimilation, als daß man diese
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Die Konflikte zwischen diesen beiden Vorstellungen schildert Ma. A. Roth, Der Zionismus vom Standpunkt der jüdischen Orthodoxie, Nagytapolcsany 1904. Roth war Oberrabbiner in Papa, Ungarn, und nahm am VI. Zionisten-Kongreß teil. Die vielleicht bekannteste pseudomessianische Bewegung der Neuzeit ist der Sabbatianismus vgl. Scholem, 19883, Kapitel: Sabbatianismus und mystische Häresie, S. 315-355; ders.,Sabbatai Sevi, the mystical Messiah, London 1973. Zu dem äußerst vielschichtigen Bereich des Messianismus vgl. Reinhold Mayer (Hrsg.), Der Talmud, München 1980, S. 607-610 (einleitendes Kapitel) u. Artikel „Messiah" in: EJ, ll:1407ffi Vgl. Laqueur, 1975, S. 57-63.
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aufgrund einiger als nicht richtungsweisend eingestufter Ereignisse aufgegeben hätte.
2. Die orthodoxen Vorläufer Die konkrete Ausformulierung der Idee einer Wiederbesiedlung Palästinas in Verbindung mit einem neuen jüdischen Bewußtsein kam nicht unerwartet aus einem kleinen Kreis der Orthodoxie, denn die Maskilim hatten sich nur wenig mit der Zionssehnsucht beschäftigt. Ihr Ideal war die Integration, der jede Form eines wie auch immer gearteten jüdischen Nationalismus oder Nationalbewußtseins als fortschrittshemmender Separatismus erscheinen mußte. Aus dem Kreis der Orthodoxie sind zunächst die Rabbiner Jehuda Alkalai (1798-1878) aus Semlin bei Belgrad und Hirsch Kalischer (1795-1874) aus Thorn in Westpreußen zu nennen.10 Jehuda Alkalai11 veröffentlichte ab 1839 Schriften, zunächst in Ladino, dann in Hebräisch, die sich mit dem Problem der Rückkehr nach Palästina befaßten. Seiner Meinung nach war diese Rückkehr ein Schritt zur Erlösung der Juden, die nur erreicht werden konnte, wenn die Juden aktiv mitarbeiteten und nicht devot auf ein Wunder warteten. Die Erlösung liege also in den Händen der Menschheit, und der Boden Palästinas spiele dabei eine wichtige Rolle. In einem 1871 an den Gründer der landwirtschaftlichen Schule „Mikweh Israel", Charles Netter, gerichteten Brief schreibt Alkalai daher über die in Palästina zum Kauf angebotenen Grundstücke, dies müsse „für jeden wahrhaften Juden von größtem Interesse sein".12 Alkalai belegte seine Thesen mit Zitaten aus dem Talmud sowie den Schriften der Kabbala und mischte diese mit seinen eigenen mystischen Ansichten. Um seine Pläne zu propagieren, bereiste er ab 1852 Westeuropa. Die Gründung der AIU (1860) wurde von ihm zunächst begrüßt, doch die Er-
10 Für den Komplex des sog. Frühzionismus vgl. Thomas Rahe, Frühzionismus und Judentum, Frankfiirt/M./Bern/New York/Paris 1987. 11 Für eine detailliertere Biographie Alkalais und besonders seiner Aktivitäten fur Palästina vgl. Shlomo Avineri, The Making of modern Zionism. The intellectual Origins of the Jewish State, London 1981, S. 47-55; S.L. Zitron, Zur Geschichte der Zionsliebe, III. Rabbi Jehuda Alkalay, in: Der Jude, ΠΙ. Jg., Berlin/Wien 1918/19, S. 116121 u. Artikel „Alkalai, Judah" in: EJ, 2:638ff 12 Alkalai an Netter, 18.9.1871, ZZA, J41/4. Mikweh Israel ist die 1870 von der AIU unter der Führung von Charles Netter in der Nähe von Jaffa gegründete Landwirtschaftsschule. Vgl. Kap. IV, Abschnitt „Mikweh Israel".
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richtung der Schule Mikweh Israel (1870) lehnte er als wirkungslos für die Wiederbesiedlung ab. Enttäuscht von den geringen europäischen Aktivitäten und dem Widerstand der überwiegenden Mehrheit der Orthodoxie reiste Alkalai 1871 nach Jerusalem - der Stadt, in der er aufgewachsen war -, um hier seine Ideen zu realisieren. Spenden allein schienen ihm ein ungeeignetes Mittel, den Plan einer Rückkehr umzusetzen, da der spendenabhängigen Philanthropie jede Form eines professionellen und erfolgversprechenden Unternehmens fehle. Daher gründete er in Jerusalem eine Gesellschaft zur Besiedlung Palästinas, aber wie schon in Europa opponierten auch in Palästina die orthodoxen Rabbiner gegen seine Pläne. Alkalai bemühte sich, alles in seinem Sinn selbst zu regeln, doch nachdem er Palästina wieder verlassen hatte, löste sich die Gesellschaft unter dem Druck der Orthodoxie auf13 Trotz seiner mannigfaltigen Bemühungen war es Alkalai nicht gelungen, seine Vorschläge zu einem populären Anliegen der jüdischen Massen zu machen. Hirsch Kalischer14 begründete ebenso wie Alkalai die Notwendigkeit der Rückkehr nach Palästina damit, daß nur durch die Bemühungen der Juden, Erez Israel zu besiedeln, der Messias erscheinen könne,15 denn dieser komme nicht einfach durch ein Wunder in die Welt. Bereits seit den 1830er Jahren trat Kalischer öffentlich für seine Erlösungsvorstellung ein. 1860 berief er eine Rabbiner- und Notabeln-Versammlung nach Thorn, um die Frage der Wiederbesiedlung zu diskutieren und seine Vorstellungen zu erläutern. Seine bekannteste Schrift „Drischat Zion" (hebr.: „Verlangen nach Zion") erschien 1861 in hebräischer Sprache, wurde aber in verschiedene andere europäische Sprachen übersetzt. In dieser Schrift spricht sich Kalischer ohne Vorbehalte fur die landwirtschaftliche Besiedlung Palästinas aus. Das Buch war viele Jahre die literarische Basis, orthodoxen Gruppen die Idee der Rückkehr nach Palästina im traditionellen Verständnis zu erklären.16
13 Vgl. Kap. I, Abschnitt „Die jüdische Bevölkerung in Palästina". 14 Uber Hirsch Kalischer, seine Biographie und seine Arbeit für Erez Israel vgL Avineri, 1981, S. 47-55; S.L. Zitron, Zur Geschichte der Zionsliebe, Rabbi Elijahu Gutmacher, in: Der Jude, II. Jg., Berlin/Wien 1917/18, S. 352 u. Artikel „Kalischer, Zevi Hirsch", in: EJ, 10:708fl. 15 Vgl. J. Tur, Die Vorläufer der modernen Zionsfreunde, in: Serubabel, Nr. 4, Berlin 1888, S. 27. 16 Vgl, „Kalischer" in: EJ, 10:707.
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Nach der Veröffentlichung seines Buches bemühte sich Kalischer, jüdische Gruppen in Westeuropa fur seine Pläne zu gewinnen.17 Er propagierte die agrarische Besiedlung im großen Umfang als einzige praktikable Hilfe für den Jischuw und für die in Europa bedrängten und verfolgten Juden. So forderte er in einem Brief 1868 an Charles Netter, der eine Reise nach Jerusalem vorbereitete, dieser möge seine Reisebeschreibung zwecks Popularisierung seiner Ideen in verschiedenen deutschen Blättern veröffentlichen. Ganz besonderes Interesse zeigte Kalischer hierbei an den Bedingungen, die für eine landwirtschaftliche Kolonisation nötig waren, z.B. Boden, Arbeitskräfte und Sicherheitsfragen.18 Kalischers Anregung war es mit zu verdanken, daß die AIU ihr Augenmerk auch auf Palästina richtete und dort die landwirtschaftliche Schule Mikweh Israel gründete.19 Sein Sohn Wolff Kalischer agierte im Sinne seines Vaters in Palästina, er bemühte sich, Land zu kaufen, und schrieb zu diesem Zweck zwischen 1868 und 1872 mehrere Briefe an Netter und Isaac Adolphe Cremieux,20 der seit 1864 Präsident der AIU war.21 Diese Bemühungen schienen 1873 von Erfolg gekrönt zu sein, doch ein Schreiben des Chakam Baschi (Oberrabbiner) von Jerusalem an Hirsch Kalischer aus demselben Jahr zeigte die Probleme beim Landkauf und letztlich die Gründe für das Scheitern, die vor allem finanzieller Natur waren, da es nicht gelungen war, die falligen Ratenzahlungen einzuhalten.22 Kalischers Begeisterung für Palästina aber war ungebrochen, und noch im hohen Alter hegte er Pläne, sich als Rabbiner in Mikweh Israel zu bewerben.23 Erst zwei Jahre nach dem Tod Kalischers gelang es, Land zu kaufen, doch es war nur einen Morgen groß, und dieser Kauf konnte nicht das „Verlangen nach Zion" entfachen.24
17 Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch seine Kontakte zu Chaim Loije und dessen Besiedlungsgesellschaft, die noch Gegenstand dieses Kapitel sein wird. 18 Vgl. Kalischer an Netter, 1868, ZZA, J41/4. In diesem Brief erwähnt Kalischer, daß sein Sohn Wolff Kalischer jetzt in Jerusalem wohne. 19 Vgl. Laqueur, 1975, S. 72. 20 Vgl. ZZAJ41/4. 21 Vgl. Artikel „Cremieux, Isaac Adolphe", in: EJ, 5:1074ff. 22 Der Brief ist abgedruckt in: Tur, 1888, S. 27f. Diesem Schreiben zufolge gab es bereits eine Gruppe in Nikorest (Rumänien), die nach Palästina auswandern wollte, um dort Ackerbau zu betreiben. 23 Vgl. Mordechai Eliav, Rabbiner Esriel Hildesheimer - Briefe, Jerusalem 1965, S. 149, Anm. 41. Im weiteren zitiert als „Eliav - Briefe, 1965". 24 Ebd. S. 28 u. Mordechai Eliav, Die Juden in der deutschen Politik - Dokumente aus dem Archiv des deutschen Konsulats in Jerusalem 1842-1914, Tel Aviv 1973, Dok. 58, 65, 66, 68, 95 und 96 aus den Jahren 1874-1880.
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Die erste Gesellschaft zur Besiedlung Palästinas wurde bereits 1860 in Frankfurt/Oder gegründet.25 Initiator war Chaim Loge (1821-1878), Doktor der Philosophie und Leiter eines Internats. Loge, der mystischen Schwärmereien sehr zugeneigt war, gelangte in seinen Kabbalastudien über die Messiaszeit zu der Meinung, der Messias werde erst erscheinen, wenn alle Juden vom Verlangen beherrscht würden, nach Palästina zurückzukehren. Mit großem Eifer ging Loije an die Erfüllung der Prophetie. In den Statuten des Vereins war aber weniger von Prophetie die Rede als vielmehr von sehr konkreten Vorstellungen und deren Umsetzung. Oberstes Ziel war es, eine .jüdische Ackerbau-Colonie in Palästina zu gründen". Die Statuten regelten die vorgesehene Finanzierung des Landkaufs, den Eigenbeitrag der Kolonisten und die Höhe der Mitgliedsbeiträge.26 Loge sammelte angesehene Mitglieder der Frankfurter jüdischen Gemeinde um sich und gründete den ersten Kolonisationsverein der Juden in der Diaspora. Da seine Ideen der Erlösung den Vorstellungen Kalischers sehr glichen, nahm Loqe Kontakt zum Thorner Rabbiner auf und veröffentlichte dessen Werk „Drischat Zion". Loijes Enthusiasmus ließ den Frankfurter Verein schnell wachsen und einige prominente Mitglieder gewinnen. Neben Hirsch Kalischer waren dies die Rabbiner Jehudah Alkalai und Elijahu Gutmacher sowie der Sozialist Moses Hess. Es entstanden Zweigvereine in verschiedenen Städten, doch mit ihnen traten auch Gegner der Erlösungsidee auf den Plan. Im Umgang mit diesen Gegnern erwies sich Loqe als aggressiv, undiplomatisch und entwickelte einen immer stärkeren Hang zur Egozentrik. Seine Verbündeten sagten sich schließlich von ihm los, nachdem er in ekstatischem Eifer sich selbst als Propheten der Palästina-Idee zu sehen begann. Auch eine Verlegung der Vereinsleitung nach Berlin 1864 konnte
25 Für eine detaillierte Darstellung des Vereins und Loijes Persönlichkeit vgl. S.L. Zitron, Zur Geschichte der „Zionsliebe", II. Doktor Haijm Lorje, in: Der Jude, Π. Jg., Berlin/Wien 1917/18, S. 670-677. Vgl. ebenso Yehuda Eloni, Zionismus in Deutschland - Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987, S. 23-29. Der Einfluß des Vereins auf spätere Besiedlungsversuche kann nicht mit letzter Gewißheit bestimmt werden. 26 Vgl. Alter Druyanow, Ketawim le-Toldot Chibat-Zion we-Jischuw Erez Israel, Vol. I, (Odessa) 1919, S. 392. Druyanow hat in dieser insgesamt dreibändigen Quellensammlung Briefe, Flugschriften und Statuten in der jeweiligen Originalsprache veröffentlicht, so daß sich eine eindrucksvolle Zusammenstellung hebräischer, jiddischer, russischer, französischer und deutscher Quellen über die Chibbat Zion ergibt. Die weiteren Bände sind 1925 und 1932 in Tel Aviv erschienen. Im Folgenden werden diese Bände mit römisch I bis III bezeichnet.
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die Gesellschaft nicht mehr vor der Auflösung retten. Obwohl in diesem Verein die um 1860 wohl bekanntesten und wortgewaltigsten Verfechter der Palästina-Idee zusammenkamen, scheiterte der erste Kolonisationsverein, noch ehe man in Palästina gemeinsam aktiv werden konnte.
3. Moses Hess - ein zionistischer Sozialist? Trotz der verschiedenen Bemühungen, die Idee der Rückkehr nach Palästina noch vor der messianischen Zeit als gesetzeskonform zu erklären, reagierte die westeuropäische Judenheit darauf ebenso wenig wie auf die Begründung dieser Idee durch den Sozialisten Moses Hess (1812—1875).27 In orthodoxer Tradition aufgewachsen, zog es den jungen Hess schon früh zur Philosophie. Als Hauptvertreter eines philosophischen Sozialismus war er eine Zeit lang Weggefährte von Karl Marx und Friedrich Engels. Während der Damaskusaffare 1840 zeigte er sich zwar von den Leiden der verfolgten Juden sehr berührt, doch hielt diese Stimmung nicht lange an. Hess betrachtete die historische Mission der Juden als erfüllt, wandte sich vom Judentum ab und empfahl als Handlungsmuster die Akkulturation. Um so überraschter reagierten die Zeitgenossen 1862 auf die Veröffentlichung seines Buches „Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage". Beeinflußt von der Lösung der italienischen Nationalfrage und Kalischers „Drischat Zion", legte Hess damit ein erstes Dokument des frühen politischen Zionismus vor. In zwölf Briefen an eine imaginäre Dame entwarf er darin sein Bild des Judentums, das er eine „Geschichtsreligion, Geschichtskultus"28 nannte, woraus sich für ihn die zwar verdrängte, aber nie untergegangene Idee einer jüdischen Nation ableitete, die es zu erwecken galt. An den Anfang seines Werkes stellte Hess eine pessimistische Analyse des in Deutschland erstarkten Judenhasses, der sich seiner Ansicht nach auf den von den Judenfeinden angeführten „Unterschied zwischen der jüdischen und der germanischen Rasse"29 gründe, somit also aus dem Antijudaismus heraustrete und im aufkommenden Antisemitismus wurzele. Dies sei
27 Zur Biographie vgl. Artikel „Hess, Moses", in: EJ, 8:43Iff Zur Rolle Hess' in der marxistischen Bewegung vgl. vor allem Zwi Rosen, Moses Hess und Karl Marx. Ein Beitrag zur Entstehung der Marx'schen Theorie, Hamburg 1983. 28 Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage, zitiert hier nach der Ausgabe Wien und Berlin 1919, S. 166. 29 Hess, 1919, S. 12.
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der Grund, warum den Juden in Deutschland „trotz aller Bemühungen, sich zu germanisieren"30, die politische und soziale Gleichstellung verweigert werde. Hess setzte seine Hoffnungen daher nicht mehr darauf daß der vernunftbegabte Mensch im anderen Menschen zwar den Anderen, aber doch auch sich selbst erblickt und ihm daher zugesteht, was er sich selbst zugesteht. Die schien ihm gescheitert. Er setzte - fast möchte man sagen, gemäß seines Denkens als politischer Philosoph: selbstverständlich - auf den Umgang der Völker, der Nationen miteinander, bei dem ein Volk die Freiheit des anderen Volkes anerkennen wird. Für die jüdische Gemeinschaft, so Hess, sei bei diesem Prozeß des Wiedererwachens der jüdischen Nation die jüdische Religion von größter Bedeutung. Die Juden müßten sich zu ihrer Nation bekennen, um die „Wiedergeburt Israels",31 die gerechtfertigt und notwendig erscheint, überhaupt zu ermöglichen. Hierbei seien alle Juden zur Mitarbeit aufgerufen. Hess erstrebte einen von den europäischen Großmächten, hier bevorzugte er eindeutig Frankreich, protegierten jüdischen Staat, war sich aber über die Bedeutung des Bodens, des heimadichen Bodens, völlig im Klaren: „Bei den Juden weit mehr noch, als bei Nationen, die auf ihrem eigenen Boden unterdrückt sind, muß die nationale Selbständigkeit jedem politisch sozialen Fortschritt voran gehen. Ein gemeinsamer heimatlicher Boden ist für sie erste Bedingung gesunder Arbeitsverhältnisse."32 Nach diesen Worten verwundert es nicht, daß sich Hess Kalischers Besiedlungsprogramm anschloß, ihn auch in seinem Text ausfuhrlich zitierte und über die praktische Arbeit in Palästina schrieb: „Die Erwerbung eines gemeinschaftlichen vaterländischen Bodens, das Hinarbeiten auf gesetzliche Zustände, unter deren Schutz die Arbeit gedeihen kann, die Gründung von jüdischen Gesellschaften für Ackerbau, Industrie und Handel nach mosaischen d.h. sozialistischen Grundsätzen, das sind die Grundlagen, auf welchen das Judentum im Orient sich wieder erheben, (...) durch welche das Judentum neu belebt werden wird."33 Mit „Rom und Jerusalem" versuchte Hess, sozialistische Anschauungen praktisch anzuwenden. Doch seine Vorstellungen riefen heftigen Widerstand ebenso in säkularen wie orthodoxen Kreisen hervor. Im Vertrauen auf die Kraft des geschriebenen Wortes harrte er der von ihm erhofften
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Ebd. Ebd. und S. 148. Ebd., S. 146. Ebd., S. 154.
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Revolution innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Doch das Erhoffte blieb aus.34 Moses Hess und sein Werk wurden nicht mehr beachtet.35
4. Josef Natonek und Hile Wechsler - Palästina als einzige Rettung Aber die Idee einer Rückkehr nach Palästina, einer Rückkehr als freie Bauern, verschwand nicht, wurde allerdings zunächst nur in den orthodoxen Kreisen weitergetragen. So erschien 1872 in Pest das Journal „Das einige Israel", das sich als Pro-Palästina-Organ verstand. Herausgeber war der ungarische Rabbiner Josef Natonek (1813-1892).36 Schon 1860 zählte er zu den Befürwortern einer Rückkehr nach Palästina und hielt fur den von Chaim Loge gegründeten Kolonisationsverein Vorträge in ganz Europa.37 Die Emanzipation lehnte er als Abkehr von der wahren Heimat der Juden entschieden ab, tat dies auch öffentlich kund und bekam daraufhin Schwierigkeiten mit den ungarischen Behörden.38 Zwei Jahre später erschien Hess' „Rom und Jerusalem" und wurde von Natonek enthusiastisch begrüßt. Aus einem Brief an Hess geht hervor, daß der ungarische Rabbiner bereits zu diesem Zeitpunkt eine Zeitschrift plante,
34 Über die Gründe des Scheiterns vgl. Böhm, 1935, S. 87f u. Eloni, 1987, S. 33-35. 35 Dies gilt auch für seine Arbeiten auf dem Gebiet des philosophischen Sozialismus. Moses Hess hat dem ihm gebührenden Platz in der deutschen Ideengeschichte noch nicht erhalten. 36 Zur Biographie vgl. Artikel „Natonek, Joseph", in: EJ, 12:886 u. Heinrich Loewe, Sichronoth, Natonek, ZZA, A146/6/14. Unter dem Titel "Sichronoth" hat der deutsche Zionist Heinrich Loewe seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben, die als maschinenschriftliches Exemplar im ZZA vorhanden sind. 37 Vgl. Mordechai Frankel, Ha-Iton ha-Zioni ha-Medini ha-Rischon, in: Qesher, No. 16, November 1994, S. 93. 38 Vgl. Brief der k.u.k. Bezirksregierung an Natonek, 30.6.1860, ZZA, A97/4-5. In dem Brief heißt es, Natonek habe im Tempel die Gemeinde aufgefordert, „zu Gott zu beten, daß die Juden ja nicht emanzipiert werden, da ihre Heimath und Vaterland nicht hier sondern in Jerusalem ist." 1861 veröffentlichte Natonek ein Buch mit dem Titel „Der Messias oder Abhandlung über die jüdische Emanzipation" (ungarisch), in dem er unter dem Pseudonym Abir Amieli die nationale Selbständigkeit der Juden forderte. Dieses Buch wurde von den ungarischen Behörden verboten und galt lange als verschollen. Vgl. Peter Haber, Josef Natonek - ein Vorläufer Herzls aus Ungarn, in: Heiko Haumann (Hrsg.), Der Erste Zionistenkongress von 1897 - Ursachen, Bedeutung, Aktualität, Basel 1997, S. 32f
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die die „Wiedergeburt Israels" zum Thema haben sollte.39 Aber Hess erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen offensichtlich nicht, und Natonek suchte nach neuen Verbündeten, um seine Pläne zu realisieren. Zu Beginn des Jahres 1867 nahm er zum zweiten Mal Kontakt mit der türkischen Regierung auf,40 um Verhandlungen über Landkauf in Palästina, jüdische Einwanderung und Ubertritt der jüdischen Einwanderer in den türkischen Untertanenverband zu führen.41 Die Verhandlungen scheiterten, Natonek kehrte mit einer schweren Krankheit, die ihm jegliche körperliche Belastung verbot,42 nach Ungarn zurück. Dann wandte er sich mit seinen Vorstellungen über Landkauf sowie Masseneinwanderung in Palästina an die AIU, die seine Vorschläge mit der Bemerkung zurückwies, dies wäre ein gefahrliches Unternehmen, da es die Judenfeindschaft der Massen, aber auch „gewisser Regieningen" fördere.43 Natonek gab seine praktischen Bemühungen um Palästina noch nicht auf und bewarb sich 1869 als Rabbiner für die von der AIU geplante Landwirtschaftsschule in Jaffa. Aber auch dieses Ansinnen wurde abgelehnt.44 Das von ihm daraufhin ins Leben gerufene Journal „Das einige Israel" sollte „eine gegenseitige Verständigung der zahlreichen Anhänger des Kolonisations-Vereines vermitteln".45 Zunächst analysierte Natonek die Lage der Juden in Rumänien sowie die ökonomischen Gegebenheiten und Veränderungen, die einen Zustand hervorgerufen hatten, den er als „völlig unhaltbar"46 bezeichnete. Die Juden lebten in einer Paria-Existenz, die nun ihren negativen Höhepunkt erreicht habe. Da der jüdischen Bevölkerung selbst der ihnen von der rumänischen Regierung gestattete Betrieb von Handels- und Geldgeschäften noch erheblich erschwert werde - die Rumänen fürchteten allenthalben die Konkurrenz der Juden -, bleibe ihnen
39 Hess an Natonek, 1.8.1862, ZZA, A97/6. 40 Vgl. Loewe, Sichronoth, Natonek, ZZA, A146/6/14. Loewe zufolge war Natonek bereits 1859 das erste Mal nach Konstantinopel gereist, um Verhandlungen über einejüdische Besiedlung Palästinas zu fuhren. 41 Vgl. „Das einige Israel", Nr. 4, Pest 6.6.1872, S. 55-56 Fußnote. Der Brief ist datiert 13.3.1867. 42 Vgl. Frankel, 1994, S. 93. 43 AIU an Natonek, 24.4.1867, ZZA, A97/17. Mit „gewissen Regierungen" war zweifellos die zaristische gemeint. 44 Vgl. AIU an Natonek, 28.4.1869, ZZA, A97/18. 45 „Das einige Israel", Nr. 1. Pest 16.5.1872, S. 12. Mit den „Anhängern des Kolonisationsvereines" meinte Natonek die ehemaligen Mitglieder und Freunde des von Chaim Loije gegründeten Vereins. 46 Ebd, Nr. 2, Pest, 23.5.1872, S. 20.
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oft nur der Weg in die Illegalität, um das Existenzminimum zu sichern. Mögliche diplomatische Interventionen von europäischer Seite zur Verbesserung der Situation konnten nach Natoneks Ansicht nur temporäre Wirkung erzielen.47 Ihm schwebte ein anderer Ausweg fiir die Juden Rumäniens vor, ganz in der Tradition Kalischers, Alkalais und Hess': „Nun die Lösung ergibt sich wie mit einem Zauberschlage durch die einfache Formel: Kolonisation unserer Glaubensgenossen in Palästina". Die Errichtung der Ackerbauschule Mikweh Israel 1870 sah er als einen ersten Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft an.48 Spöttisch bezeichnete er die Gegner seiner Lösung als die „Hyperklugen" und die „bis an's Herz kühlen Klughammer.49 Die Kolonisation bedeutete für Natonek nicht nur eine schnelle Rettung der Juden Rumäniens und Rußlands, sondern auch einen ersten Schritt zu einer neuen Einigung im Judentum überhaupt, einen Schritt auf dem Weg zur Beendigung der Diaspora.50 Die Schuld für die katastrophale Lage des Judentums nicht nur in Rumänien suchte Natonek dann auch hauptsächlich im inneren Zerfall, ausgelöst von „demfreiwilligenAufgeben, der ungerechtfertigten völligen Entsagung der nationalen Idee des Judenthumes, der Entfremdung vom Boden und seiner Kultur überhaupt".51 Die Juden seien ausgeschlossen von den Städten, auf dem Lande nur in wenigen Tätigkeiten geduldet, als Kleinhändler dem Pauperismus hilflos ausgeliefert sowie ständig im inneren Zwiespalt zwischen der Liebe zum jeweiligen Mutterland und den auf die ursprüngliche Heimat zurückweisenden Vorschriften ihrer Religion, daher erringe der Indifferentismus eine hervorragende Stellung im Judentum. Dieser Indifferentismus sei dann die Voraussetzung für eine Flucht in die Assimilation.52 Das Judentum beginne sich selbst zu verleugnen, einzig um der Anerkennung durch die anderen Völker willen. Doch diese Anerkennung bleibe den Juden verwehrt, ihr loyaler Einsatz für ihr jeweiliges Heimatland werde negativ gedeutet.53 Für Natonek war all dies ein Teufelskreis, aus dem es nur ein Entrinnen gab: die Kolonisation Palästinas. Alle Argumente, die gegen einen Er-
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Ebd., S. 21. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. „Das einige Israel", Nr. 3, Pest, 30.5.1872, S. 39. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 40.
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folg der Kolonisation sprechen konnten, entkräftete Natonek. Weder ließ er das Argument einer vermeintlichen Abneigung der Juden gegen die Landwirtschaft gelten, noch ließ er am volkswirtschaftlichen Nutzen einer landwirtschaftlichen Tätigkeit der Juden irgendeinen Zweifel.54 Schließlich druckte Natonek sein 1867 vom türkischen Botschafter in Wien erhaltenes Empfehlungsschreiben ab, mit dem er die prinzipiell zustimmende Haltung der Hohen Pforte zu seinen Plänen dokumentieren wollte.55 Natoneks Agitation gipfelte in der Aufforderung an die ungarischen Juden, einen Kolonisationsverein zu gründen, um damit als Beispiel für ganz ÖsterreichUngarn zu füngieren und den „Anstoß (...) zur Erlösung"56 zu geben. Es ist deutlich, daß Natonek nicht nur eine rein materielle Verbesserung der Lebenssituation der Juden vorschwebte. Sein Anprangern der Gleichgültigkeit und des inneren Zerfalls des Judentums zeigt ihn als Verfechter einer dringend notwendigen Reform des zu seiner Zeit praktizierten Judentums in West- und Osteuropa. Seine Vorstellung einer Erlösung in Palästina in Verbindung mit landwirtschaftlicher Kolonisation läßt ihn als Schüler der Rabbiner Kalischer und Alkalai erscheinen. Joseph Natonek war jedoch, ebenso wie seinen Vorgängern, kein Erfolg beschieden. Ein Brief des Bad Dürkheimer Bezirksrabbiners Adolf Salvendi (1837— 1914),57 der ebenfalls ein enthusiastischer Verfechter der Palästina-Idee war, aus dem Jahre 1880 an Natonek58 und die Schilderungen Heinrich Loewes über ihn zeigen, daß Natonek zwar in den Kreisen der Palästinafreunde bekannt war, seine Pro-Palästina-Aspirationen aber bereits ein Relikt aus der Vergangenheit waren, ohne Einfluß auf die Arbeit der Chowewe Zion. Im Gegensatz zu Moses Hess, der spätestens mit der Neuauflage seines Buches „Rom und Jerusalem" 1899 durch den deutschen Zionisten Max Bodenheimer eine literarische Wiederentdeckung erlebte, gerieten Josef Natonek und seine Analyse der inneren und äußeren Situation des Judentums in Vergessenheit. Doch die Situation der jüdischen Bevölkerung wurde zusehends kritischer. Auch in Westeuropa, und hier besonders in Deutschland, flammte die Judenfeindlichkeit wieder auf Beunruhigt von der Stimmung in Deutschland und der Reaktion der Juden schrieb daher 1879 der orthodoxe Rabbiner Hile Wechsler eine Broschüre mit dem Titel .Jaschern milo De-
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„Das einige Israel", Nr. 4, Pest 6.6.1872, S. 53. Ebd., S. 55-56, Fußnote. Ebd., S. 56. Über Salvendi vgl. Kap. X, Abschnitt „Adolf Salvendi - Der Spendensammler". Vgl. Salvendi an Natonek, 2.6.1880, ZZA, A97/55.
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bor". Als Nachkomme der in Süddeutschland ansässigen Rabbinerfamile Rosenbaum wurde Wechsler 1843 in Schwabach geboren. Seine traditionelle jüdische Erziehung ließ an seiner Lebensaufgabe keinen Zweifel, zeit seines Lebens widmete er sich dem Studium des Talmud und der Kabbala.59 Aus einer tiefen Religiosität und einem hohen Verantwortungsgefühl dem Judentum gegenüber analysierte Wechsler 1879 die Situation in Deutschland. Die Judenfeindlichkeit hatte in erschreckendem Maße zugenommen, die Suche nach einem Heilmittel konnte als gescheitert bezeichnet werden. Doch es war nicht mehr der religiös begründete Haß, der Wechsler zu einer Niederschrift seiner Gedanken veranlaßte, es war vor allem der neue Antisemitismus, der Rassenhaß, dessen vergiftendem Gedankengut die Juden nicht würden entkommen können. Wechsler erkannte klar die tödliche Gefahr für die Juden, und er sah in der deutschen Gesellschaft keinen Ausweg. Bevor er sich aber einer Lösung zuwandte, suchte er nach Gründen für diese Zustände. Allen monokausalen Erklärungsversuchen abgeneigt, nannte er zunächst eine „unzählige Reihe" von sozio-ökonomischen Umständen, ohne diese näher auszuführen oder zu gewichten. Denn der bedeutendste Grund blieb für Wechsler der Abfall der Juden vom Glauben: „Warum wollen wir uns der Einsicht verschließen, daß wir die Zuchtruthe in der Hand unsrer Peiniger gelegt sehen (...)" und: „(...) wenn nicht durch religiösen Abfall in ganz anderen Dingen sich Israel gegen Gott verschuldet hätte (...)".61 Die Akkulturationsversuche auf Seiten der Reformkreise und die nur noch geheuchelten und zum Teil nicht mehr stattfindenen Synagogenbesuche selbst der orthoxen Juden führten Wechsler zu der Ansicht: „Wir wollen uns aber nicht Vorwürfe einander machen, jeder hat stark gefehlt, die goldenen Götzen unserer Zeit sind von den Anhängern der Reform und der Orthodoxie im Judenthum nicht hinreichend gemie-
59 Für die umfassende Biographie der Familie Rosenbaum vgl. Berthold Strauss, The Rosenbaums of Zell. Α Study of a Family, London 1962. Für die Biographie Hile Wechslers vgl. S. 36-42. Eigentlicher Vorname Wechslers war Elchanan, seine Eltern nannten ihn daher nach der gebräuchlichen Abkürzung Eli. Wechslers Bescheidenheit und tiefe Religiosität ließen es nicht zu, daß er den Namen Gottes führte, und er nannte sich selbst „Ile", indem er seinen Rufnamen rückwärts las. In der Umgangssprache wurde dann aus „Ile" der Name „Hile". 60 Für das Nachfolgende vgl. Hile Wechsler, Jaschern milo debor, Würzburg 5640/1880, abgedruckt in: Strauss, 1962. Strauss druckt die Schrift mit der Originalseitenzählung ab, die daher bei den weiteren Fußnoten verwendet wird. 61 Ebd., S. 8£
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den worden (...)".62 Wechslers Anklagen gegen das deutsche Judentum gipfelten in dem Vorwurf: „Die drei schwersten Verbrechen nach jüdischer Auffassung, Götzendienst, Blutschande und Mord kommen in moderner, verfeinerter Form gar nicht so selten vor."63 Die Lösung der Judenfrage"64 und die Umkehr innerhalb des Judentums sah Wechsler nur in einer Rückkehr nach Palästina gewährleistet, die er als Erfüllung messianischer Prophetie deutete: „(...) daß wir den großen Weltfrieden und das glückliche Zeitalter der Menschheit nicht von dem Waffensieg der einen Nation über die andere erkennen, sondern in der Verwirklichung der alten jüdischen Prophezeiungen in ihrem buchstäblichen Wortsinne. Diese Zeit aber zu beschleunigen, dient als geeignetes Mittel, dadurch unsere Liebe und Anhänglichkeit an Gottes Wort und sein geliebtes heiliges Land zu bekunden, wenn wir, natürlich nicht mit Gewalt, sondern mit erlaubten Mitteln uns in dem Besitze des heiligen Bodens so viel als möglich zu setzen bemühen und seinen Anbau nach Kräften fördern."65 Wechslers programmatische Hoffnung und Forderung brachte eine neue Qualität in die theoretische Legitimation der Idee der Rückkehr nach Palästina, nämlich die Forderung nach Erfüllung des jüdischen Universalismus, der die Erlösung der Menschheit mit dem messianischen Ideal des Judentums verbindet. Dieser Universalismus besagt, daß erst durch die Heimkehr der Juden nach Palästina der Welt die Möglichkeit zur Erlösung gegeben wird, die Juden haben daher eine besondere Stellung und Aufgabe in diesem Prozeß. Die Durchführung verlange verantwortliches Handeln und setze die Fähigkeit zur Bildung einer echten Gemeinschaft voraus, in der auch die Heiden und Nichtfrommen Anteil an der Seligkeit haben ι
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werden. Daß er nicht nur in mystischen Kategorien verhaftet war, zeigte Wechsler durch die Erläuterung seines Planes, wie er sich die finanzielle und organisatorische Durchführung der Kolonisation vorstellte. Vorgeschlagen wurde die Bildung eines fünf Mitglieder umfassenden Komitees, 62 63 64 65 66
Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 12. Ebd., S. 38. Zum jüdischen Universalismus vgl. Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Berlin 19254, Sonderausgabe Wiesbaden 19853, S. 64-81; Isidore Epstein, Judaism, London 1959, S. 62; Martin Buber, Werke, Erster Band: Schriften zur Philosophie, München-Heidelberg 1962; Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln 1963.
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das die Statuten entwerfen sowie die Einnahme und Weitergabe der Spenden überwachen sollte.67 Nicht unerwartet schlug Wechsler fur das Komitee fünf der deutschen Orthodoxie angehörende Männer vor, da er sich von diesem Komitee auch eine Art religiöser Kontrolle der Kolonisation versprach.68 Was bewegte Wechsler, der kein Mann der journalistischen Publikationen war, dazu, seine Vorstellungen und Ansichten zu veröffentlichen? Hile Wechsler bezeichnete sich selbst als einen Mann „sehr kalter Denkungsart",69 der auf Träumereien nichts gab. Und doch waren es gerade seine Traumvisionen, denen etwas so Ungewöhnliches anhaftete, daß sich der Rabbiner ernsthaft überlegte, in die Offendichkeit zu gehen. Eine seiner Visionen befaßte sich mit dem Leid der rumänischen Juden und ihrer Emigration: „Vor ungefähr 5 Jahren sah ich mich im Traume auf einem hohen Berg in Rumänien stehen und die dortigen Juden bereden, daß sie sich keiner eitlen Hoffnung hingeben sollten, daß sie durch Vermittlung der Alliance Israelite oder durch Vermittlung der europäischen Mächte Gleichstellung erlangen; sie sollten lieber nach Palästina übersiedeln und dort Landbau treiben, was auch ein großer Theil befolgte."70 Ein weiterer Traum ließ sich als Ankündigung schwerster Pogrome im Zuge des Antisemitismus in den europäischen Staaten deuten, wobei Wechsler mehrfach seine eher rationale Denkweise betonte, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er sei im wahrsten Sinne des Wortes ein Träumer.71 Vor der möglichen Publizierung seiner bereits geschriebenen Broschüre holte sich Wechsler Rat bei guten Freunden, die ihm entschieden von einer Veröffentlichung abrieten. Sie hielten die Veröffentlichung von Visionen für nicht mehr zeitgemäß, auf der anderen Seite fürchteten sie das erneute Aufflammen des Antisemitismus. Eine, wie bereits dargelegt, häufig anzutreffende Einstellung bei vielen deutschen Juden. Wechsler überlegte ein Jahr und veröffentlichte seine Broschüre dann mit einem Anhang, in dem er die Bedenken seiner Freunde zu zerstreuen suchte und einen detaillierten Abriß über die im Talmud niedergelegte Meinung zu Träumen 67 Vgl. Wechsler, 1880, S. 39. 68 Es sind dies die Rabbiner Dr. S. R. Hirsch (Frankfurt/M.), Dr. E. Hildesheimer (Berlin) und Dr. Lehmann (Mainz) sowie die Herren Benjamin Hirsch (Halberstadt) und E.R. Rosenbaum (Zell bei Würzburg). Vgl. Wechsler, 1880, S. 39. 69 Wechsler, 1880, S. 20. 70 Wechsler, 1880, S. 22. 71 Zu Traum und Traumdeutung im Judentum vgl. Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition - Α Study in Folk Religion, Cleveland-New York-Philadelphia 1961 (First Edition 1939), Chapter 15 „Dreams", S. 230-248.
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und Traumdeutungen beifügte. Zentrales Motiv war dabei, daß im Talmud die Bedeutung des Traums und die Traumdeutung nicht als dem jüdischen Gesetz widersprechend bezeichnet wird. Hatte Wechsler Einfluß auf die Bewegung der Zionsfreunde? Wurde seine Schrift als theoretischer Beitrag zur Uberzeugung der Orthodoxie interpretiert? Die Antwort ist negativ, der Schrift ,Jaschern milo debor" erging es ähnlich wie ihren Vorgängern, sie wurde sowohl im Kreis der Orthodoxie als auch von den säkularen Juden abgelehnt, Wechsler geriet in Vergessenheit.72 Für Jahrzehnte war das Buch dann verschollen und ist erst in den 1960er Jahren in Haifa wieder aufgetaucht.73
5. Heinrich Graetz Der Historiker Heinrich Graetz (1817-1891),74 einer der prominentesten Gelehrten in Deutschland, wird in der zionistischen Literatur häufig als einer der Vorläufer der Nationalbewegung beschrieben.75 Dies gründete sich auf den vermeintlich nationaljüdischen Tenor der Graetz'schen Schriften, über den Loewe schrieb, Graetz habe „(...) bewusst eine nationale Ge-
72 Der einzige Eintrag in der EJ befäßt sich mit Wechslers kabbalistischen Vorahnungen des Holocaust, wobei in diesem Eintrag der Name „Hile" zu „Hillel" verändert wird. Vgl. Artikel „Kabbalah", in: EJ: 10:555. 73 Informationen hierzu bekam ich in einem Gespräch mit Izchak Wechsler, einem in Jerusalem lebenden Nachkommen Hile Wechslers, am 12.6.1992. Für die Vermittlung dieses Gesprächs und die vielen Informationen über die Familien Wechsler und Hamburger danke ich Herrn Prof Joseph Eaton, USA, ganz herzlich. 74 Graetz, geboren in Xions (Posen), hatte zunächst den Wunsch, Rabbiner zu werden, doch bereits während seiner rabbinischen Studien arbeitete er autodidaktisch in säkularen Fächern, was ihn in eine tiefe Krise führte, aus der ihn der Kontakt mit dem Vordenker der Neuorthodoxie, Samson Raphael Hirsch (1808-1888), befreite. Graetz blieb dann auch zeit seines Lebens ein eher konservativer Jude. 1841 bis 1845 studierte er semitische Philologie und Philosophie. 1845 wurde er Lehrer am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, 1869 Honorarprofessor an der dortigen Universität. Seine elfbändige „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart" (1853-1875), war der erste Versuch, eine Geschichte der Juden als Geschichte eines lebenden Volkes aus der Sicht dieses Volkes zu schreiben. Vgl. Artikel „Graetz, Heinrich", in: EJ, 7:845-850. 75 Als Beispiel seien hierfür Heinrich Loewe und Richard Lichtheim genannt. Vgl. Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 6, ZZA, A146/6/6 u. Richard Lichtheim, Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954, S. 49.
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schichte der Juden geschrieben (,..)".76 Ein weiterer Punkt ist die enge Verbindung zwischen Graetz und Moses Hess, dessen Manuskript von „Rom und Jerusalem" Graetz bereits 1861 gelesen hatte. Begeistert von Hess' Ausführungen, half Graetz ihm, einen Verleger zu finden, und blieb auch in den folgenden Jahren mit ihm in engem Kontakt.77 Hess wiederum lobte Graetz ausdrücklich im Vorwort zu „Rom und Jerusalem".78 Der Beweis oder die Widerlegung eines Graetz'schen Nationaljudentums ist nicht Gegenstand dieser Arbeit, wohl aber soll sein Verhältnis zu Palästina und zum Jischuw beleuchtet werden, um Graetz' Rolle nach 1882 besser einordnen zu können. Bereits 1864 plante Graetz eine Reise nach Palästina für das folgende Jahr, zu diesem Zeitpunkt war auch noch Moses Hess als Reisegefährte vorgesehen.79 Die Reise mußte allerdings verschoben werden. 1865 offenbarte Hess Graetz seine Pläne einer jüdischen Kolonisation am Suez unter französischem Schutz. Graetz antwortete ihm enthusiastisch: „Ehre Mitteilung in Betreff der Colonisation am Suez hat mich sehr freudig überrascht. Es ist ein sehr wichtiger Ansatz wo Realismus und Idealismus sich vereinigen können. Es kann ein Vorposten für Palästina werden."80 Graetz erklärte sich daher zur Mitarbeit bereit und wollte sich um jüdische Landwirte in Ungarn und Polen bemühen, die in diesen Kolonien angesiedelt werden sollten. Im Zusammenhang mit den Ereignissen ab 1882 ist diese Begeisterung Mitte der 1860er Jahre für eine Kolonisation möglicherweise auch in Palästina doch sehr bemerkenswert. Letztlich scheiterte dieser Plan, den Hess eng mit dem Bestand der französischen Kaiserkrone verknüpft hatte, am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.81 Die Palästinareise kam schließlich aus verschiedenen Gründen erst im März 1872 zustande. Begleitet wurde Graetz von Moses Gottschalk-Lewy
76 Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 6, ZZA, A146/6/6. 77 Die enge Verbindung zwischen Graetz und Hess war den Zionisten bekannt und wurde als Indiz fur den Graetz'schen Nationalismus gedeutet. Vgl. Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 6, ZZA, A146/6/6. 78 Zu der Verbindung Graetz-Hess vgl. Reuwen Michael, Graetz and Hess, in: Leo Baeck Institute Year Book, Vol. IX, 1964, S. 91-121. 79 Vgl. Graetz an Gottschalk-Lewy, 30.11.1864, zitiert nach: Josef Meisl, Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstag, Berlin 1917, S. 158. 80 Graetz an Hess, Dezember 1865, zitiert nach: Reuwen, 1964, S. 113. 81 Vgl. Reuwen, 1964, S. 113.
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und dessen Cousin Ascher Levy.82 Resultat der Reiseeindrücke war zum einen eine Denkschrift, die sich mit den Zuständen des Jischuws beschäftigte, zum anderen die Gründung des „Vereins fur Erziehung jüdischer Waisen in Palästina".83 Die Denkschrift84 griff die Zustände im Jischuw massiv an, und besonders die Chalukka wurde als Grund fast allen Übels gebrandmarkt. Zwar waren die Reisenden nicht mit der Absicht nach Palästina gekommen, die dortigen Zustände zu untersuchen respektive zu kritisieren, doch dem angetroffenen „materiellen und geistigen Elend"85 konnten sie sich nach eigenen Aussagen nicht verschließen. Der Analyse der Armut, der Demoralisation und des Müßiggangs im Jischuw folgten verschiedene Lösungsvorschläge, die sich hauptsächlich mit der Verteilungspraxis der Spenden, den Schulen und den dringend notwendigen Waisenhäusern befaßten. Nicht unerwartet stießen diese Vorschläge bei den orthodoxen Kreisen in Palästina86 wie auch in Deutschland87 auf wenig Zustimmung.88 Ohne die Denkschrift einer näheren kritischen Analyse zu unterziehen, fallt auf daß eine mögliche ländliche Kolonisation von Graetz mit keinem Wort angesprochen wurde, was im Gegensatz zu seiner enthusiastischen Betrachtung eines solchen Planes 1865 steht. Sein öffentliches Engagement lag einzig im Bereich der Waisenhäuser. Allerdings hatte der Besuch in Palästina auch zu einem Treffen mit Charles Netter in Mikweh Israel gefuhrt. Positiv überrascht von der landwirtschaftlichen Schule, schickte Graetz einen Bericht über Mikweh Israel an die AIU und versprach Netter, für fi-
82 Gottschalk-Lewy (1815-1893) war ein aus Pommern stammender Getreidehändler, der 1867 nach Berlin übergesiedelt war, um als „Rentier" in der Stadt zu leben. Er und auch sein ebenfalls aus Pommern stammender Cousin waren bereits 1865 als Reisegefährten, neben Moses Hess, von Graetz vorgesehen. Vgl. Graetz an Gottschalk-Lewy, 5.2.1865, in: Meisl, 1917. S. 159; Eliav, 1965, S. 288 Anm. 53 u. Heinrich Loewe (Hrsg.), A.H. Heymann. Lebenserinnerungen, Berlin 1909, S. 424. Heymann (1803-1880) war Vorsteher der jüdischen Gemeinde Berlin. 83 Vgl. Eliav, 1965, S. 288 u. Loewe, 1909, S. 424. 84 Die Schrift wurde im Mai 1872 verfaßt und von Graetz, Gottschalk-Lewy und Levy unterzeichnet. Abgedruckt in: Meisl, 1917, S. 142-151. 85 Denkschrift, in: Meisl, 1917, S. 142. 86 Vgl. den Protest der Spitzen der jüdischen Gemeinde in Jerusalem, hebr., abgedruckt in: Meisl, 1917, S. 152-156. 87 Vgl. Eliav, 1965, S. 287-290. 88 Deutlich ist, daß Graetz an die Probleme der Juden in Palästina und deren Lösungen zu sehr mit der Ratio des aufgeklärten, im humanistischen Bildungsideal erzogenen Gelehrten heranging und den Gegebenheiten des Jischuws zu wenig Aufmerksamkeit schenkte.
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nanzielle Hilfen zu sorgen.89 Graetz schien also weiter an Palästina als Ort einer möglichen ländlichen Kolonisation interessiert zu sein. 1875 beschäftigte Graetz noch einmal das Thema Landwirtschaft in Palästina, denn in einem Brief an Gottschalk-Lewy empfahl er den Anbau von „Ethrogim"90 in Palästina, da diese bereits in früheren Jahren dort in großen Mengen vorhanden gewesen seien und weil dieser Anbau mehr Ertrag erbringen würde als die Wirtschaft in Mikweh Israel.91 1877 schließlich wurde Graetz Obmann des „Local-Comites" der AIU zu Breslau, und sein Einfluß war bereits so groß, daß er fur den vakanten Posten des Direktors in Mikweh Israel einen Vorschlag machen konnte, der in Paris akzeptiert wurde.92 Alle angeführten Fakten zeigen eine tendenziell positive Haltung Graetz' gegenüber einer Kolonisation in Palästina. Ob Graetz' Einstellung der jüdischen Öffentlichkeit bewußt war, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Da er aber als einer der ersten Ansprechpartner in Deutschland für die Chowewe Zion galt, kann seine Einstellung in den entsprechenden Kreisen als bekannt angenommen werden. Schon vor 1881 gab es also eine Reihe deutschsprachiger Autoren, die sich um die Verbreitung frühzionistischer Ideen in Deutschland bemühten.
89 Über Graetz' Besuch in Mikweh Israel, seinen Bericht an die AIU und den Einfluß, den dieser Bericht hatte, vgl. Meisl, 1917, S. 105. 90 Ethrogim sind zitrusähnliche Früchte, die während des Sukkotfestes in den Feststrauß als einer der vier Bestandteile mit eingebunden werden. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Ethrog in Palästina nicht mehr angebaut, sondern aus anderen Ländern importiert, so z.B. aus Zypern. Der Ethroganbau wird bei der Betrachtung der an Palästina interessierten Juden in Deutschland noch eine wichtige Rolle spielen. Vgl. Kap. X. 91 Vgl. Graetz an Gottschalk-Lewy, (nach Rosch ha-Schana) 1875, in: Meisl. 1917, S. 165f 92 Vgl. Graetz an die AIU, 10.4.1877, abgedruckt in: Reuwen Michael (Hrsg.), Heinrich Graetz: Tagebuch und Briefe, Tübingen 1977, S. 338f Graetz empfahl den Schriftsteller und Pädagogen Wilhelm Herzberg (1827-1897), der dann von 1877 bis 1879 Direktor in Mikweh Israel war und anschließend Direktor des jüdischen Waisenhauses in Jerusalem. Vgl. Bulletin de l'Alliance Israelite Universelle, Paris, 1. Sem. 1877, S. 45 u. 1. und 2. Sem. 1879, S. 22. Graetz' Position in der Breslauer Sektion der AIU aufnehmend, wäre es möglicherweise lohnend, die Arbeit der deutschen Mitglieder der Alliance zu betrachten und ihre Haltung zu Palästina herauszuarbeiten. Allerdings war die AIU explizit nicht an den Kolonien in Palästina interessiert, ihr Engagement beschränkte sich auf Schulen und die Landwirtschaftsschule Mikweh Israel, der im folgenden Kapitel ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Daher wird die deutsche Sektion der AIU in der vorliegenden Arbeit nicht näher betrachtet.
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Diese Autoren boten vom sozialistischen bis zum konservativ-religiösen Spektrum eine große Auswahlmöglichkeit für die Begründung der Rückkehr nach Palästina, in einem Punkt herrschte allerdings große Einigkeit, die Rückkehr sei zwingend notwendig. Für Jehuda Alkalai, Hirsch Kalischer, Chaim Loge, Joseph Natonek, Hille Wechsler und auch Heinrich Graetz stand dabei ganz eindeutig die ländliche Besiedlung Palästinas im Vordergrund. Gedankengut, das als Vorläufer des politischen Zionismus gedeutet werden könnte, findet sich hingegen nur bei Moses Hess. Der Einigkeit in der Begründung stand die Einigkeit der Masse der deutschen Juden in ihrer Ignorierung oder strikten Ablehnung dieser Ideen gegenüber. Die Werke dieser ersten Zionsfreunde und auch sie selbst wurden vergessen. Eine Ausnahme stellte dabei nur Heinrich Graetz dar, dessen ambivalente Position aber bereits aufgezeigt wurde. Hier ist es möglicherweise auch der prominente Name, der die späteren Zionsfreunde und politischen Zionisten bewog, seine Schriften explizit unter dem Aspekt des Zionismus anzuschauen und ihn dann zu einem Vorläufer des Zionismus zu ernennen. Dies erscheint zumindest im Ansatz stark konstruiert und lässt sich in den Schriften Graetz' nicht stringent nachweisen.93 Die letzte in dieser Reihe vorzustellende Person symbolisiert den Ubergang von der ersten Generation der Zionsfreunde zur zweiten, zu den Chowewe Zion in Osteuropa und Westeuropa, die sich weniger auf eine literarische Abhandlung gründete, obwohl auch die vorlag, als vielmehr auf die Aktivitäten und das Engagement. Die Rede ist von Isaak Rülf.
6. Isaak Rülf Ein bereits weit vor 1881 in Deutschland und Osteuropa bekannter engagierter Helfer der Juden in Osteuropa war der Memeler Rabbiner Dr. Isaak Rülf (1831-1902), dessen Biographie den möglichen Brückenschlag zwischen Chowewe Zion, Nationaljudentum und Zionismus auf der einen Seite und religiösem Judentum auf der anderen Seite zeigt. Rülf wurde in Rauisch-Holzhausen, einem kleinen Dorf in der Nähe von Marburg (Hessen), geboren. Seine grosse intellektuelle Begabung ermöglichte es ihm, sich autodidaktisch auf die Lehrerprüfung vorzubereiten und, nach be-
93 Der vermeintliche oder reale Zionismus' Heinrich Graetz', der mit einer ausfuhrlichen Analyse seines Werkes „Geschichte der Juden" beginnen müßte, wäre eine eigene Untersuchung wert, die ihm Rahmen der vorliegenden nicht geleistet werden kann.
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standener Prüfung, zwischen 1849 und 1854 als Lehrer im nordhessischen Gudensberg zu arbeiten. Ab 1854 studierte er an der Marburger Universität, legte 1857 zusätzlich die Rabbinatsprüfung ab und arbeite dann als Religionslehrer und Rabbinatsgehilfe unter anderem in Schwerin. 1865 reichte er seine Dissertation an der Rostocker Universität ein und wurde im gleichen Jahr als Rabbiner nach Memel berufen.94 Rülf war in seiner Rabbinertätigkeit kein Anhänger des Reformjudentums, lehnte aber zumindest eine strikt orthodoxe Auslegung ab,95 Loewe nannte ihn daher treffend einen „aufgeklärten hessischen Juden".'6 Seine Zeitgenossen schildern ihn als außergewöhnlichen Menschen, der sich zunächst, wie erwähnt, auf autodidaktischer Basis die notwendige Bildung für die Lehrerprüfung angeeignet und diesen Ehrgeiz auch mit in das Universitätsstudium und die Rabbinerausbildung genommen habe. Beseelt von „unermüdlichem Fleisse"97 blieb er auch während seiner Rabbinertätigkeit und der Arbeit als Herausgeber und verantwortlicher Redakteur des „Memeler Dampfbootes", einer Tageszeitung, die er 1872 gegründet hatte, weiter wissenschaftlich tätig, veröffentlichte mehrere Abhandlung über philosophische Fragen und eine Untersuchung zur Geschichte des Antisemitismus in Hessen.'8 Daneben war er offensichtlich ein begeisterter Sportler. Die Rabbinerstelle in Memel, sicherlich zu dieser Zeit nicht das Zentrum wissenschaftlicher Gelehrsamkeit oder jüdischen Lebens und auf den ersten Blick nicht geeignet für einen Mann von solchem Ehrgeiz, schien ihm aber entgegen gekommen zu sein, zumindest können Loewes Analysen so verstanden werden, daß der nie seinen hesssischen Dialekt ablegende Rülf der auch Zeit seines Lebens kein Freund der Großstadt wurde, hier genau das Milieu fand, in dem er in verschiedensten Bereichen produktiv tätig werden konnte. Lange bevor das Ostjudentum in Deutschland als wirkungsmächtiger Faktor wahrgenommen wurde, dabei zum einen als Nahrung fur den Anti-
94 Zur Biographie vgl. Reuwen Michael, Israels Heilung, in: Bulletin des Leo-BaeckInstituts, 6. Jg., Nr. 22, 1963, S. 128; Loewe, Sichronoth, Alliance-Reise, S. 3-5, ZZA, A146/6/6, Heinrich Loewe, Der Zionismus in Trauer, in: Israelitische Rundschau, 26.9.1902, VII. Jahrgang u. Artikel „Rueli Isaac", in: EJ, 14:383f. 95 Breuer zitiert ihn als einen „absolute Toleranz" predigenden Rabbiner, der sich in seinen Äußerungen zum Teil ein ganzes Stück vom überlieferten Judentum entfernte. Vgl. Breuer, 1986, S. 224. 96 Loewe, Sichronoth, Alliance-Reise, S. 3, ZZA, A146/6/6. 97 Heinrich Loewe, Der Zionismus in Trauer, in: Israelitische Rundschau, 26.9.1902, VII. Jahrgang. 98 Isaak Rülf] Entstehung und Bedeutung des Antisemitismus in Hessen, Mainz 1890.
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semitismus und die Angst vor Verlust der Akkulturation diente, zum andern glorifiziert und mit einer romantischen Sichtweise auf der Suche nach dem „wahren Judentum" belegt wurde, kam Isaak Rülf mit dem Ostjudentum in Kontakt, denn in Memel existierte neben der deutschjüdischen Gemeinde auch eine russischjüdische Gemeinde, die im Jahre 1880 80% der jüdischen Einwohner stellte. Beide Gemeinden hatten ihre eigenen Synagogen und sozialen Einrichtungen, die offizielle Leitung der Gemeinde lag aber in der Hand der deutschjüdischen Gemeinde." Daß Isaak Rülf als Rabbiner der Gemeinde in Memel also mit russischen Juden zu tun hatte, war daher selbstverständlich, nicht selbstverständlich hingegen war sein Einsatz fur jüdische Gemeinden in Rußland selbst. Dies begann während der Hungersnot Ende der 1860er Jahre mit Spendensammlungen. Rülf wollte aber nicht nur Geld sammeln, sondern auch selbst sehen, wie die Situation in Rußland war. So fuhr er Ende der 1860er Jahre nach Rußland und verfaßte darüber anschließend einen Reisebericht.100 Das Jahr 1881 brachte dann die erste große Flüchtlingswelle aus Osteuropa, und Rülf setzte sich vehement für das Wohl dieser Emigranten ein; eine Hilfe, die sich bis zur Gründung von Kranken- und Waisenhäusern erstreckte.101 Wie schon Ende der 1860er Jahre entschied er sich auch 1881, die Situation in Rußland persönlich anzuschauen, und schrieb über diesen Besuch ebenfalls einen Reisebericht.102 Für seinen Einsatz für die russischen Juden erhielt Rülf schließlich den Ehrennamen „Dr. Hilf.103 Auch wenn im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Engagement für die jüdischen Gemeinden in Osteuropa nicht selbstverständlich war, erklärt dies nicht per se Rülfs spätere hochgeachtete Stellung in der zionistischen Bewegung,104 aber zunächst den Fakt, daß Rülf bereits ab 1881 ein wichtiger Ansprechpartner für die Chowewe Zion wurde. Der Briefwechsel mit Leon Pinsker ab 1882 zeigt, daß Pinsker sehr daran gelegen war,
99 Zu Memel vgl. Artikel „Memel", in: EJ, 11:1297£ 100 „Meine Reise nach Kowno" (Memel 1869). 101 Er hatte bereits am 6.5.1881 von Dr. Mandelstamm aus Kiew einen ausführlichen Bericht über die elende Lage der Juden in Rußland und die Spendentätigkeit für Elisabetgrad erhalten. Mandelstamm an Rülf; 7. Iyyar (6.5.) 1882, ZZA, Al/VI/1/19. 102 „Drei Tage im jüdischen Rußland" (Frankfiirt/M. 1882). 103 Vgl. Loewe, Sichronoth, Alliance-Reise, S. 3-5, ZZA, A146/6/6, Heinrich Loewe, Der Zionismus in Trauer, in: Israelitische Rundschau, 26.9.1902, VII. Jahrgang. 104 Vgl. z.B. Martin Buber an Rülf, 1.1.1899: „Ihr Name ist hier unter den deutschen Zionisten der weitaus populärste (...)." ZZA, A l / V I / 1 / 1 .
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den Memeler Rabbiner fiir die Sache der Chowewe Zion zu gewinnen.105 Diese Kontakte und vor allem Leon Pinskers 1882 erschienene Schrift „Auto-Emancipation", die im Verlauf der Arbeit noch eine zentrale Rolle spielen wird, bewegten Rülf seine Gedanken ebenfalls schriftlich niederzulegen, und so erschien 1883 in Frankfurt/M. „Aruchas Bas-Ammi. Israels Heilung. Ein ernstes Wort an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen".106 Seine Schrift teilte Rülf in vier Teile, Golus, Rischus, Awdus und Cherus, und ging darin mit den Juden, aber auch mit der nichtjüdischen Gesellschaft hart ins Gericht. Er sah einen steten Antisemitismus, der dazu gefuhrt habe, daß die „Geschichte des israelitischen Volkes von der Zerstörungjerusalems bis auf den heutigen Tag"107 ein einziges großes „Martyrologium"108 sei. Schuld dran sei, daß die Juden kein Heimatland hätten, damit stünden sie im Gegensatz zu allen anderen Völkern, würden nicht ernst genommen. Die Emanzipationsdebatte hielt Rülf fur eine schwere Beleidigung, denn die Juden wären nicht derart außerhalb der Gesellschaft angesiedelt, daß man sie erst einmal legalisieren müsse. Aber auch eine vollumfangliche Assimilation lehnte er ab, denn dies bedeute die Aufgabe des Charakters des Judentums, des jüdischen Volkes. Zumal die bisherigen Assimilationsversuche die Juden als eine Karikatur dessen, was sie zu erreichen versuchten, zurückgelassen hätten. Für Rülf hatten die Juden die Selbstachtung vollständig verloren, und wer könne Achtung von anderen verlangen, wenn er sich selbst nicht achte? Daß die Schrift von Pinskers „Auto-Emancipation" angeregt wurde, ist deutlich zu spüren. Was Pinsker Selbstemanzipation nennt, klingt bei Rülf in einer Art zusammenfassender Sicht so: „Sei ein Jude mit Leib und Seele, mit Gut und Blut, mit Kopf und Herz, mit Nationalstolz und Streben nach Wiederherstellung des eigenen Staates in dem Lande der Väter".109 Rülf war sich in „Aruchas Bas-Ammi" nicht nur klar darüber, wo die Wiederherstellung des jüdischen Staates vor sich gehen solle, sondern auch wie,
105 Vgl. Briefe von Leon Pinsker an Isaak Rülf ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 106 Isaak Rülf Aruchas Bas-Ammi. Israels Heilung. Ein ernstes Wort an Glaubensund Nichtglaubensgenossen, Frankfurt/M. 1883. Aruchas Bas-Ammi (hebr.): Die Heilung der Tocher meines Volkes (Jeremia 8:22). Rülf bezog „Nichtglaubensgenossen" nicht auf nichtjüdische Leser, sondern auf Juden, die sich vom Glauben abgewandt hatten. Eine exzellente Untersuchung der Schrift Rülfs im Vergleich mit der Schrift von Pinsker hat Reuwen Michael vorgelegt Reuwen Michael, Israels Heilung, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Nr. 22, 6. Jg., 1963, S. 126-147. 107 Rülf 1883, S. 23. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 67.
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nämlich mit sofortiger Kolonisation. Wie schon einige vor ihm, zum Beispiel Hess, hoffte auch Rülf übrigens auf die Unterstützung der „anderen Nationen der Welt".110 Er machte sich aber keine allzugroßen Hoffnungen auf einen Erfolg der Idee der Wiederherstellung des jüdischen Staates bei den Juden selbst, denn von denen sei der größte Widerstand zu erwarten. Rülfs Schrift ist ganz im Tenor nationalstaatlichen Denkens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehalten, es geht um Selbstbestimmung, um das Werden einer Nation aus dem Wissen über das eigene Volk heraus. Wie seine bereits mehrfach erwähnten Vorläufer sieht Rülf das Judentum in einer schwierigen Lage. Aber auch er sucht nicht nach einer einseitigen Schuldzuweisung, sondern sieht die wachsende Judenfeindschaft als einen Grund, das Aufgeben der jüdischen Identität, was fur ihn Selbstachtung und Nationalstolz beinhaltet, als einen zweiten. „Aruchas bas-Ammi" stellt Rülf in eine Reihe mit Alkalai, Kalischer, Hess, Wechsler, nicht nur was ihre Hauptthesen angeht, sondern auch ihre nur mangelnde Wirkungsmächtigkeit. Rülfs Schrift wurde offensichtlich nicht Gegenstand längerer Diskussionen, vielleicht aber hatten doch einige der späteren Zionisten sein Büchlein gelesen und sich daher auch ihn gewandt. Isaak Rülf blieb zeit seines Lebens ein Ansprechpartner für die Zionisten, wie seine Korrespondenz zu Genüge beweist.111 Er schloß sich später mit großer Begeisterung Theodor Herzl an und blieb, auch wenn er nicht in der ersten Reihe der Zionisten stand, ein wichtiges Bindeglied zwischen Chowewe Zion und den Zionisten, zwischen Westjuden und Ostjuden.
7. Der Alte Jischuw und die deutschen Juden Philanthropie und Wissensstand Den unterschiedlichen theoretischen Schriften der Periode bis 1880 ist eins gemeinsam, zwar ließen sie die Idee der praktischen Arbeit für die Rückkehr nach Palästina nicht in Vergessenheit geraten, aber das Interesse an einer solchen praktischen Arbeit konnten sie nicht befördern. Hierzu bedurfte es offensichtlich eines anderen Anstoßes. Bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kamen die jüdischen Immigranten in Palästina vornehmlich aus Osteuropa sowie den sefardischen Gemeinden Nordafrikas, des Nahen Ostens und der Türkei. 1830 aber be-
110 Ebd., S. 69. 111 Vgl. ZZA, Personenarchiv Isaak Rülf, Al.
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gannen auch aus Deutschland Juden nach Palästina auszuwandern. Sie ließen sich hauptsächlich in Jerusalem nieder und wurden Mitglieder des von den Chalukka-Spenden unterstützten Alten Jischuws.112 Diese Einwanderung weckte die Aufmerksamkeit eines Teils der Juden in Deutschland für Palästina und ließ sie im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem bestimmenden Faktor in der Entwicklung des Alten Jischuws werden. Welche Teile des deutschen Judentums aber interessierten sich fur Palästina, für die Realität in Palästina, nicht für einen entrückten, mythischen Ort? Woher bekamen die Interessierten ihre Informationen über Palästina? Mit welcher Einstellung zu Palästina verfolgten sie die Entwicklung des Landes? Ein Blick in die Zeitungslandschaft und die Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diese Fragen zu klären helfen und den Hintergrund für das Verständnis der Haltung eines großen Teils der deutschen Juden gegenüber den Kolonien ab 1882 schaffen. Größten Anteil an den Fortschritten im Alten Jischuw hatten die orthodoxen Kreise in Deutschland,113 deren Gemeindemitglieder die von den Reformern zur Erleichterung der Assimilation geforderte Abkehr von Erez Israel nicht vollzogen hatten. Sie lehnten selbstverständlich Vorschläge wie die Streichung der Gebete für die baldige Rückkehr in das Land der Väter ab und setzten sich im Gegenteil für die jüdische Bevölkerung Palästinas ein.114 Allerdings galt dieses Engagement vornehmlich philanthropischen Bereichen. Vorstellungen aber, denen ein nationaler Gedanke zugrunde lag, wurden von den orthodoxen Juden in Deutschland abgelehnt. Zu sehr war man um Emanzipation und Akkulturation bemüht - und vom Erfolg dieser Bemühungen überzeugt -, als daß sich eine Stimmung zugunsten einer politischen Idee zur Realisierung in Palästina hätte entwikkeln können.
112 Über die deutschen Juden im Alten Jischuw und den 1837 zur Verteilung der Chalukka gegründeten „Kolel Hod" („Kolel" hebr.: allumfassend; hier: Bezeichnung für Juden im Alten Jischuw aus dem gleichen Herkunftsland. „Hod" setzt sich aus den Anfangsbuchstaben „Holland und Deutschland" zusammen.) vgl. Ben Arieh, 1984, S. 293£; Fritz Meir Fraenkel, Deutsche Juden im Alten Jischuw. Zur Geschichte des Kolel Holland und Deutschland. Sonderdruck aus der Zeitschrift „Nachalath Z'wi", VIII. Jg., Frankfurt/M. 1936 u. Britschgi-Schimmer, 1938, in: ZZA, A125/117. Am detailliertesten berichtet Mordechai Eliav, Ahawat Zion we-Anschi Hod, Tel Aviv 1970. Hierin auch das Gründungsdatum des Hod 1837, vgl. Eliav, 1970, S. 441. 113 Vgl. Mordechai Eliav, Der „Israelit" und Erez Israel im 19. Jahrhundert, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Nr. 32, 8. Jg., 1965, S. 274. 114 Vgl. Mordechai Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918, Frankfurt/Main 1986, S. 4-7.
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Eine philanthropische Tätigkeit fiir den Alten Jischuw war dagegen im Selbstverständnis der deutschen Juden leicht zu rechtfertigen. Schließlich war es eine notwendige Hilfe für die notleidenden Glaubensbrüder im Heiligen Land, denen diese Unterstützung schon traditionell zugute kam. Eine philanthropische Hilfe für den Jischuw stellte daher keine Gefahr für die Assimilation dar, zumal die Juden nicht aus nationalen Motiven nach Palästina eingewandert waren, sondern aus religiösen Beweggründen, und eine Unterstützung dieser Juden wieder eine religiöse Pflichterfüllung (hebr. „Mizwa") war. Man konnte daher die Jahrhunderte alte Tradition der Spenden für Erez Israel weiterführen, ohne in den Verdacht zu geraten, ein unpatriotischer Jude zu sein. Ein ostentatives Beispiel aus der deutsch-jüdischen Presselandschaft für diese Haltung war der „Israelii", die führende Zeitung des orthodoxen Judentums in Deutschland, gegründet 1860 von dem Rabbiner und Schriftsteller Markus Meir Lehmann (1831-1890). Lehmann, geboren in Verden, studierte unter anderem bei Esriel Hildesheimer (1831-1899), der sich zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Palästinaforderer innerhalb der Orthodoxie entwickeln sollte (s.u.). 1854 wurde Lehmann Rabbiner einer orthodoxen Gemeinde in Mainz, gründete zwei Jahre später dort eine Schule und 1860 den „Israelit". In seiner Zeitung polemisierte er heftig gegen die Reformbewegung und errang in seinen Kreisen hohes Ansehen. Seine schriftstellerischen Arbeiten bewegten sich im Rahmen religiöser und pädagogischer Erbauungsliteratur. Von höherer Qualität waren seine Ubersetzungsarbeiten verschiedener jüdischer Stoffe, einiger Abschnitte der Tora und des Talmud.115 Der „Israelit", konzipiert als Gegengewicht zu Reformbestrebungen und Reformzeitungen wie der „Allgemeinen Zeitung des Judentums", blieb zwar „reichlich provinziell",116 gleichzeitig kam ihm aber bei der Meinungsbildung innerhalb der Orthodoxie in Deutschland entscheidende Bedeutung zu, denn diese orthodoxen Juden „(...) nahmen das was der „Israelit" schrieb, als gute Ware an."117 Ohne auf die verschiedenen Phasen in Lehmanns Einstellung zu Palästina eingehen zu können, bleibt festzuhalten, daß er den Jischuw bis zum Beginn der 1880er Jahre unterstützte, dies aber aus ganz eindeutig philanthropisch-religiösen Motiven.118 Jedwede Annäherung an Tendenzen, die Juden als eine Nation zu betrachten und 115 116 117 118
Vgl. Eliav, 1965, S. 275 u. Artikel „Lehmann, Marcus" in: EJ, 10:1582f. Breuer, 1986, S. 155. Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 5, ZZA, A146/6/6. Vgl. Eliav, 1965, S. 278.
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daraus politische Forderungen oder Aktivitäten in Palästina abzuleiten, lehnte Lehmann scharf ab. So war Lehmann z.B. 1860 nur bereit, den von Chaim Loge gegründeten Kolonisationsverein zu unterstützen, wenn auf alle nationalen Hinweise in den Statuten verzichtet würde. Eliav zitiert ihn mit dem für viele deutschen Juden Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnenden Satz, die Juden Deutschlands seien mit Herz und Seele Deutsche. Zwar blicke jeder Jude sehnsuchtsvoll zum Land der Väter, Vaterland aber sei und bleibe Deutschland.1" Heinrich Loewe, den keine Sympathie mit dem „Israelii" verband, geht in seinen Erinnerungen sogar noch einen Schritt weiter und wirft Lehmann vor, im Jahr 1880, als sich unter den frommen Juden Jerusalems die Idee einer landwirtschaftlichen Tätigkeit verbreitete, die Erwerbung profanen Wissens durch einen zur geistigen Arbeit geeigneten Juden abgelehnt zu haben.120 Der Stein des Anstoßes für die Gründung des „Israelii" war die 1837 von Ludwig Philippson (1811-1889) gegründete „Allgemeine Zeitung des Judentums" (Abk.: AZJ). Geboren in Dessau, studierte Philippson zunächst in Berlin und trat nach seiner Promotion 1833 eine Predigerstelle in Magdeburg an. Seine liberalen Positionen ließen ihn zwischen Orthodoxie und radikale Reform geraten. Philippson lehnte eine nationale Sonderexistenz der Juden ab, trat aber gleichzeitig für die Tradierung jüdischer Kultur ein. Trotz vieler Rückschläge war sein Hauptanliegen die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Am Beginn seiner journalistischen Arbeit zeigte sich Philippson sehr an Palästina interessiert. Als entschiedener Gegner des Chalukkasystems förderte er Projekte, die ihm im Sinne einer produktiven Entwicklung des Jischuws nützlich erschienen. Doch ab Mitte der 1860er Jahre ließ sein Interesse an Palästina merklich nach, da seine Reformbestrebungen nicht, wie erhofft, angenommen worden waren.121 Ein eher religiös-konservatives Blatt stellte die „Israelitische Wochenschrift" (Abk.: IW) dar. Sie erschien von 1870-1894 und wurde ab 1879 von dem Magdeburger Rabbiner Moritz Rahmer122 im „gemässigt konser-
119 Vgl. Eliav, 1965, S. 277f. 120 Vgl. Loewe, Sichronoth, (ohne Titel) ZZA, A146/6/15. 121 Vgl. Mordechai Eliav, Ludwig Philippson's Allgemeine Zeitung des Judentums und Erez Israel, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Nr. 46/47,12. Jg., 1969, S. 156. 122 Vgl. Itta Shedletzky, Die Reaktion der jüdischen Presse in Deutschland auf die Judenpogrome in Rußland 1881-82, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Nr. 59, 24. Jg., 1981, S. 9.
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vativen"123 Sinn geleitet Sie stand dem „Breslauer Kreis" nahe, einer Gruppe, die sich um das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau gebildet hatte und eine Mittelstellung zwischen Orthodoxie und liberalem Reformjudentum einnahm.124 Die wichtigste Person der deutschen Orthodoxie fur die Entwicklung des Jischuws aber war ohne Zweifel Esriel Hildesheimer (1820-1899). Hildesheimer wurde in Halberstadt geboren als Sohn einer Gelehrtenfamilie. Seine erste Ausbildung erhielt er in der jüdischen Schule in Halberstadt, die erste in Deutschland, die auch säkulare Fächer in ihrem Lehrplan hatte. Weitere Talmudstudien in Altona folgten. An der Universität Berlin studierte Hildesheimer Semitistik, Philosophie, Geschichte sowie Naturwissenschaften und promovierte an der Universität Halle über Bibel125
exegese. Hildesheimers Bedeutung für Deutschland beginnt 1851 mit der Annahme des Rabbinerpostens in der zu Ungarn gehörenden Stadt Eisenstadt. Hier baute Hildesheimer eine Jeschiwa auf die zu einem Zentrum orthodoxer Tradition wurde. Aus ganz Europa kamen Studenten, um bei Hildesheimer seine Form einer modernen Orthodoxie zu studieren. In Ungarn selbst blieb Hildesheimer bei seinen Rabbinerkollegen aber heftig umstritten, was ihm 1869 einen Wechsel nach Berlin erleichterte. Hier nahm er die Rabbinerstelle der in diesem Jahr gegründeten Gemeinde „Adass Jisroel"126 an. Bereits 1870 wurde auf Veranlassung Hildesheimers die .Jüdische Presse" (Abk.: JP) gegründet, drei Jahre später ein Rabbinerseminar. Durch diese zwei Einrichtungen übte Hildesheimer großen Einfluß auf die Entwicklung der Orthodoxie nicht nur in Deutschland aus. Palästina und der Jischuw spielten für Hildesheimer zeit seines Lebens eine bedeutende Rolle. Bereits in Eisenstadt hatte er große Summen für die Jerusalemer Juden gesammelt. 1872 gründete er dann in Berlin einen Palästina-Verein mit dem Ziel, die Erziehungs- und Berufsstruktur des Jischuws zu verbessern. Aber Hildesheimer wollte auch die Berliner Orthodoxie wieder stärker auf Palästina lenken, denn das Interesse an Palästina
123 Loewe, Sichronoth, Judentum in Magdeburg, S, 7, ZZA, A146/6/2. 124 Vgl. Breuer, 1986, S. 25£ 125 Zur Biographie Hildesheimers vgl. Eliav - Briefe, 1965 u. Artikel „Hildesheimer, Azriel", in: EJ, 8:476£ 126 „Adass Jisroel" (hebr. Gemeinde Israels) wurde von orthodoxen Juden gegründet, die sich aus religiösen Gründen von der Berliner Gemeinde getrennt hatten. 1885 wurde ihr die Rechte einer Synagogengemeinde verliehen.
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war, wie er bei seiner Ankunft feststellte, „auf null reducirt".127 Die JP räumte daher der Berichterstattung über Palästina nicht nur breiten Raum ein,128 sondern war auch die einzige Zeitung, die eine Einwanderung deutscher Juden nach Palästina vorbehaltlos bejahte und unterstützte.129 Hildesheimer sollte einer der wenigen orthodoxen Rabbiner bleiben, deren Engagement für Palästina in den Augen der Zionisten der 1890er Jahre positiv beurteilt wurde.130 Doch nicht nur über Zeitungen konnte der Palästinainteressierte Informationen über das Land bekommen. Pilger, Forscher und vermeintliche Reisespezialisten schrieben Bücher über das Heilige Land, deren Anzahl für den Leser des 19. Jahrhunderts eine schier unerschöpfliche Quelle bot.131 Schölch schließt aus dieser Menge an Material, „(...) daß man sich in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl über kein außereuropäisches Gebiet so detailliert informieren konnte wie über Palästina (.,.)".132 Dem entgegen stehen allerdings einige Fakten und Aussagen, die das Wissen in Europa über Palästina als eher gering erscheinen lassen. Als Beispiel sind hierfür zunächst einmal die aus Osteuropa stammenden Siedler in den ab 1882 gegründeten Kolonien zu nennen. Ihr Wissen über Palästina, besonders was die Geographie, die natürlichen Voraussetzungen und die Bodenbeschaffenheit betraf war eher gering und von idealisierten Vorstellungen geprägt, die das Projekt fast zum Scheitern ge-
127 Esriel Hildesheimer, Denkschrift über palästinensische Angelegenheiten, (1872), in: Eliav - Briefe, 1965, S. 89. 128 Vgl. Breuer, 1986, S. 156. 129 Vgl. Artikel „Hildesheimer, Azriel", in: EJ, 8:477. 130 „Unter den sogenannten „orthodoxen" Rabbinern gab es einige, die ein Verständnis für Palästina und für die jüdisch-nationalen Forderungen hatten, darunter waren an erster Stelle Rabbiner Dr. Israel (Asriel) Hildesheimer (...)." Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 4, ZZA, A146/6/6. Vgl. auch Loewe, Sichronoth, Der „Dibbuk", S. 1, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 6 . 131 Als illustrierendes Beispiel seien das bibliographische Werk von Peter Thomson und die Literaturliste bei Polkehn genannt. Polkehn führt für die Zeit bis 1880 51 Titel über Palästina an, von denen 28 in deutscher, 21 in englischer und 2 in französischer Sprache verfaßt sind. Vgl. Klaus Polkehn, Palästina. Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1986, S. 208-211. Thomsens Werk umfaßt nahezu alle Titel von Büchern und Aufsätzen aus den Jahren 1878 bis 1894. Vgl. Peter Thomsen, Systematische Bibliographie der Palästina-Literatur, Band „A", 18781894, Leipzig 1908. 132 Schölch, 1986, S. 59.
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bracht hätten.133 Galt diese Informationsfülle vielleicht nur für Mittel- und Westeuropa? Aber auch in Deutschland scheint trotz der Menge an Material das Wissen über Palästina, ein Wissen, das mehr umfaßte als nur die Aufzählung heiliger Stätten, bei den Palästinafreunden und später bei den Zionisten nicht sehr groß gewesen zu sein. So schreibt beispielsweise Aharon Sandler (1879-1954) Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Kenntnisse über Palästina und über seine Landesnatur bis herab zur primitivsten Geographie waren selbst unter den Zionisten sehr dürftig."134 Interessant ist Sandlers Einschätzung des damaligen Standardwerks für Palästinareisen, des „Baedeker": „Das mit Recht hochgeschätzte von Baedeker zeichnet sich durch wissenschaftliche Exaktheit und Zuverlässigkeit aus, ist aber für alles Jüdische ohne Verständnis oder ohne Willen zum Verständnis."135 Heinrich Loewe bemerkte nach der Rückkehr von seiner ersten Palästinareise 1895 über die Reaktion in Deutschland: „Es war den Leuten, als wären wir als Entdecker in einer ganz fremden Welt gewesen, die in Deutschland viel ferner und fremder empfunden wurde als Amerika oder Australien. Man wollte von uns wissen, eigentlich ob das Land wirklich existiere und nicht bloss ein Märchenland wäre."136 Willy Bambus, der zusammen mit Heinrich Loewe 1895 Palästina bereiste, schrieb in seinem 1898 erschienenen Palästinabuch über die Vorstellungen, die Ende des 19. Jahrhunderts über eine Reise nach Palästina und damit auch über Palästina selbst in Deutschland herrschten: „War man doch in Berlin, selbst in den Kreisen, die es hätten wissen müssen, noch der Ansicht, dass eine Reise nach Palästia ein ordendiches Wagstück sei, in ein Land, wo es keine Hotels und keine Eisenbahnen, ja kaum Wege gäbe, wo die wilden Beduinen hausen, das Klima gefahrlich und kein rettender Arzt zur Hand sei." Bambus wußte aber aus Briefen in Palästina lebender Juden: „(...) dass derartige Fabeln eben Reste alten Vorurteils sind (-)"·137 Wie sind diese Aussagen nun in Einklang mit den vermeintlich so großen Informationsmöglichkeiten zu bringen? Gerade Bambus und Loewe 133 Vgl. Kap. VI u. VII. 134 Aharon Sandler, Aus meinen persönlichen Erinnerungen über den Zionismus, maschinenschriftl., o.D. (nach 1933), ZZA, A69/1, S. 13. Sandler wurde in Inowrazlaw (Posen) als Sohn eines begüterten Kaufmanns geboren. 1897 begann er ein Universitätsstudium in Berlin und kam dort mit dem Zionismus in Kontakt. Vgl. Selbstbiographie, in: ZZA, A69/1, S. 3ff 135 Sandler, (nach 1933), S. 21. 136 Loewe, Sichronoth, Richards Erwerbung, S. 1, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 . 137 Willy Bambus, Palästina. Land und Leute. Reiseschilderungen, Berlin 1898, S. 2.
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können durch ihre Tätigkeit für Palästina als Spezialisten auf diesem Gebiet gelten. Wenn sie also über die Unwissenheit ihrer Glaubensgenossen berichten, kann diese Unwissenheit als Tatsache angenommen werden.138 Zum Problem der Palästinaliteratur bietet ein Aufsatz aus dem Jahre 1926 einen Erklärungsansatz. Der Arabist und Sekretär des „Centraivereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" Alfred Wiener (1885-1964)13' kritisierte die Literatur über den Orient und speziell über Palästina als unfähig, sich in die dem Europäer völlig fremde Kultur des Orients hineinzudenken. In Palästina komme noch die Schwierigkeit hinzu, daß der Reisende sich mehr als Pilger fühle und von einer Fülle der Eindrücke überfordert werde. Die Literatur über Palästina sei daher zwar quantitativ reichhaltig, umfasse aber nicht allzu viele Bücher von bleibendem Wert.140 Damit relativiert sich die vermeintliche Informationsfiille für die deutschen Juden vor 1882, die meisten Bücher und Aufsätze waren eher Pilgerbücher und zur exakten Information nur wenig geeignet. Der den Koloniegründungen folgende Streit über die Besiedlungsfahigkeit des Heiligen Landes141 bestätigt diese Annahme. Exakte Aussagen über den Zustand und die Entwicklungsmöglichkeit des Landes gab es doch nur sehr eingeschränkt, der Spekulation und Mythenbildung waren Tür und Tor geöffnet, sehr zum Schaden der Kolonien. Während in Deutschland die frühzionistischen Vorstellungen und ihre Protagonisten gleichgültig betrachtet wurden und die meisten in Vergessenheit gerieten, gleichzeitig in den Presseorganen und in der Literatur Palästina zwar ein Thema wurde, aber, wie gezeigt, eher durch Unkenntnis Mythen schuf denn Fakten benannte, gab es in Palästina bereits erste Ansätze für eine ländliche Kolonisation.
138 Um dieser Unkenntnis abzuhelfen, organisierten sie 1896 eine „Palästina-Ausstellung". Vgl. Kap. ΧΙΠ, Abschnitt „Die Palästina-Ausstellung". 139 Wiener gehörte dem „Pro Palästina"-Flügel des Centraivereins an. Er gründete in Amsterdam 1933 das „Zentrale Jüdische Informationsbüro", das später als „Wiener Library" in London und schließlich in Tel Aviv weiter fortbestand. 140 Alfred Wiener, Das unbekannte Palästina, zuerst erschienen in der C.V.-Zeitung Nr. 2, 8.1.1926, hier zitiert nach Alfred Wiener, Kritische Reise durch Palästina, Berlin 1927, S. 126, Anlage 2. 141 Vgl. hierzu als frühes Beispiel den Streit über den Brief Charles Netters, der Palästina als Einwanderungsland völlig abqualifizierte. Vgl. Kapitel V, Abschnitt „Die Reaktionen außerhalb Osteuropas".
IV. Erste ländliche Besiedlungsversuche in Palästina bis 1880
Der Plan zur Wiederbesiedlung des Heiligen Landes, durchgeführt als innovative Verbindung traditioneller jüdischer Werte mit einer ländlichen Kolonisation, erhielt seine Anziehungskraft auch durch das Fehlen eines jüdischen Bauernstandes in Palästina. Von den um das Jahr 1800 in Palästina lebenden Juden waren nur ca. 100 auf dem Land ansässig, und die bloße Wohnortbezeichnung „rural sector"1 läßt noch nicht den Schluß zu, diese seien auch alle in der Landwirtschaft tätig gewesen. Explizit aufgeführt werden jüdische Bauern in den galiläischen Dörfern Pekiin, Kefar Yasif und Schefaram.2 Allerdings fallt die geringe Zahl der Bauern bei der Betrachtung der sozialen Zusammensetzung der jüdischen Gemeinde Palästinas nicht ins Gewicht, es muß daher von einer Urbanen Struktur gesprochen werden.
1. Moses Montefiore und James Finn - Hilfe zur Selbsthilfe Im Gegensatz zur konservativen Haltung der palästinensischen Rabbiner in der Frage der ökonomischen Selbstversorgung entwickelten sich in Teilen der aschkenasischen Gemeinden Tendenzen zur Abkehr von der Almosenabhängigkeit. Moses Montefiore3 erkannte und unterstützte diese Entwicklung. Bereits 1838, während seiner zweiten von insgesamt sieben Palästinareisen, bemühte er sich, Land zur landwirtschaftlichen Bebauung für die von einem Erdbeben heimgesuchten Juden in Safed zu kaufen, zunächst vergeblich. Auf seiner vierten Reise nach Palästina 1855 gelang es Montefiore, einen fünf Hektar großen Garten zu erwerben, der als Zitrusplantage genutzt werden sollte.4 Doch scheinen fehlende Qualifikation
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Vgl. Bachi, 1974, S. 31. Vgl. Gvati, 1974, S. 3. Die Angaben bei Gvati werden durch die Artikel der EJ über diese drei Dörfer bestätigt. Zu Leben und Tätigkeit Montefiores vgl. Sonia and V.D. Lipman, The Century of Moses Montefiore, Oxford 1985. Friedmann bezeichnet Montefiore als „the first Englishman to whom such permission was granted." Isaiah Friedman, Germany, Turkey and Zionism 1897-1918, Oxford 1977, S. 36. Es bleibt unklar, ob Montefiore der erste nichttürkische Landkäufer
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der jüdischen Arbeiter wie auch der Leitung den ökonomischen Ruin verursacht zu haben, denn im Bericht der AIU für 1875 wird ausgeführt: „Le jardin fonde par Moses Montefiore ne rapporte pas ses frais."5 Der nächste Besiedlungsversuch kam aus der palästinensischen Judenschaft selbst und ging von dem in Jerusalem geborenen Joschua Jellin (1843-1924) aus. 1860 kaufte er zusammen mit seinem Vater unter der Schirmherrschaft des britischen Konsuls James Finn ein Terrain westlich von Jerusalem am Ort des späteren Moza.6 James Finn (1806-1872), selbst kein Jude, war zu dieser Zeit eine der wichtigsten Persönlichkeiten für die jüdische Gemeinde in Palästina. Von 1845 bis 1862 Konsul in Jerusalem, schützte er die Juden vor osmanischer Willkür und förderte viele Projekte, die die Initiierung einer jüdischen Landwirtschaft zum Ziel hatten. Er verlor sein Privatvermögen, als sein letztes Projekt 1864 in Bethlehem scheiterte. Finns Demission als Konsul bereits zwei Jahre zuvor betrachteten die Juden als einen unersetzlichen Verlust.7 Jellin wollte sich auf dem erwähnten Grundstück als Landwirt niederlassen, um seinen Glaubensbrüdern ein Beispiel für die Rückkehr nach Zion zu geben. Zur Bepflanzung kaufte Jellin verschiedene Frucht- und Ethrogbäume sowie Weinstöcke, doch der Ertrag konnte die Kosten nicht decken, die Verschuldung stieg, und das Projekt mußte wieder aufgegeben werden.8
2. Mikweh Israel Derweil sich diese Versuche, eine jüdische Landwirtschaft zu errichten, zerschlugen, arbeiteten zionistische Idealisten, unter ihnen Josef Natonek und Moses Hess, an der Realisierung eines weiteren Projekts. Sie benutzten ihren Einfluß, um die AIU auf Palästina zu lenken und sie dort zur
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überhaupt war. Unter der Signatur A153/127/1 findet sich im ZZA eine englische Abschrift des Kaufvertrages. Bulletin de l'Alliance Israelite Universelle, Paris, 1. Sem. 1875, S. 72. Vgl. Artikel „Yellin", in: EJ, 16:735-738. Vgl. Artikel „Finn james", in: EJ, 6:1300. Informationen über das Grundstück, die Bebauung und das Scheitern finden sich in einem Brief Joschua Jellins an Edmond de Rothschild vom 4.5.1887, in dem Jellin um Hilfe bei der Begleichung seiner Schulden bittet, damit er sein Projekt wieder aufnehmen könne. ZZA, A153/134.
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Gründung einer landwirtschaftlichen Schule zu veranlassen.' Auf einer Sitzung des Zentral-Komitees der AIU wurde bereits am 3.12.1866 beschlossen: „(...)de remedir ä la misere des Israelites de la Palestine par l'agriculture et de favoriser la creation des ecoles ä Jerusalem et dans les autres villes de la Palestine."10 Jerusalemer Juden wandten sich Anfang 1867 an die AIU mit der Bitte um Boden fur landwirtschaftliche Bearbeitung,11 daher entschied die AIU 1868, Charles Netter nach Palästina zu senden mit dem Auftrag, herauszufinden, wo die Bedürfnisse und Leiden der jüdischen Bevölkerung lagen. Netter (1826-1882), einer der Gründer der AIU, hatte sich bereits 1867 mit der Frage der Emigration persischer Juden nach Palästina befaßt, fur die er ländliche Siedlungen errichten wollte." Die Ergebnisse seiner Reise nach Palästina 1868 faßte er in einem Bericht an die AIU zusammen und empfahl die Errichtung einer landwirtschaftlichen Schule als Grundstein zur ökonomischen Selbstversorgung des Jischuws.13 Im August 1869 fuhr Netter nach Konstantinopel, und mit der offiziellen Absichtserklärung der AIU, den Bau und Betrieb einer landwirtschaftlichen Schule zu unterstützen, bekam er von den türkischen Regierungsbehörden die Erlaubnis, ca. 240 ha Land östlich von Jaffa zu pachten und dort eine Schule zu errichten. Die ersten zehn Jahre ihres Bestehens sollte der Schule die Pacht erlassen sein, anschließend sah der Firman eine jährliche Pacht von 7.500 Piaster (1.700 frs) vor.14 Netter konnte in Jaffa mit dem Bau der Landwirtschaftsschule beginnen, die dann bereits 1870 eröffnet wurde und von ihrem Gründer und ersten Direktor „Mikweh Israel" (hebr. „Hoffnung Israels", Jeremias 17:13) genannt wurde. Die Juden waren nicht die einzige Gruppe, die begonnen hatte, Pläne zur ländlichen Besiedlung Palästinas in das Stadium der Realisierung zu fuhren. Die ehemals in Württemberg ansässige protestantische Sekte der Templer15 9 Vgl. Theodor Zlocisti, Briefe zur Vorgeschichte der Chibbat Zion, in: Der Jude, V. Jg., Berlin 1920/21, S. 327-339. 10 Beschluß des Zentralkomitees zitiert bei Leven, 1920, S. 296. 11 Vgl. Leven, 1920, S. 269. 12 Vgl. Artikel „Netter, Charles", in: EJ, 12:1001£ 13 Rapport vom 11.1.1869. Vgl. Leven, 1920, S. 297-299. 14 „Firman Imperiale de S.M. le Sultan", 5.4.1870, abgedruckt in Leven, 1920, S. 302£ Zu den später tatsächlich erfolgten Zahlungen vgl. Berichte der Alliance Israelite Universelle, Paris 1884-1898. 15 Die Geschichte der Templer stellt ausfuhrlich dar: Alex Carmel, Die Siedlungen der württembergischen Templer in Palästina 1868-1918, Stuttgart 1973. Vgl. auch Paul Sauer, Uns rief das Heilige Land - Die Tempelgesellschaft im Wandel der Zeit, Stuttgart 1985.
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gründete von 1869 bis 1878 unter der Leitung ihres ideologischen Vordenkers Christoph Hoffmann drei Kolonien in der Scharonebene sowie eine in der unmittelbaren Nähe von Jerusalem. Trotz interner Differenzen und Schwierigkeiten mit den türkischen Behörden konsolidierten sich die vier Kolonien, und besonders der Agrarsektor entwickelte eine kaum für möglich gehaltene Eigendynamik. Die Einführung verschiedener Neuerungen auf dem Gebiet der Bodenbearbeitung und der Viehzucht sowie die daraus resultierenden wirtschaftlichen Erfolge machten die Templerkolonien zu Mustersiedlungen mit Vorbildcharakter für die umliegenden Dörfer. Am Ende des 19. Jahrhunderts stieg die württembergische Einwanderung noch einmal an, und es wurden vier weitere Siedlungen in der Scharonebene gegründet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in acht Siedlungen 2.200 Templer.16 Obwohl die Templer noch in Württemberg von einer stark antijüdischen Einstellung geprägt waren, entwickelten sie in Palästina eine liberalere Haltung gegenüber den Juden, die auch Kontakte mit diesen nicht ausschloß.17 Als im Jahr 1878 mit Petach Tikwa die erste jüdische landwirtschaftliche Kolonie gegründet wurde, zeigten sich die Templer hoffnungsvoll, daß es mit der Zeit eine gute Zusammenarbeit zu beiderseitigem Vorteil geben könne. Mit dem Anwachsen der Einwanderung und der Gründung weiterer jüdischer landwirtschaftlicher Kolonien ab 1882 begann die Haltung der Templer aber sehr zu schwanken. Auf der einen Seite gab es enge wirtschaftliche Kontakte, so kauften z.B. die jüdischen Siedler bei den Templern ein und bauten Templer die Häuser der Schwesterkolonie von Sichron Jakov, Bat Schlomo, andererseits fürchteten die Templer die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden. Immer, wenn die Einwanderung besonders stark war, also in den Jahren 1882-1884 und 1891-1892, wurden diese Befürchtungen explizit in der Zeitschrift der Templer, der „Warte", geäußert. Aber nicht nur Konkurrenz war ein Thema, sondern auch die durch die Nachfrage der eingewanderten Juden gestiegenen Grundstückspreise, die für die Templer nicht mehr zu bezahlen waren, daher einen weiteren Ausbau oder gar die Neugründung von Templerkolonien verhinderten.
16 Vgl. Richter, 1979, S. 41-43. 17 Alex Carmel (1931-2002) war der herausragende Kenner der Geschichte der Templer. Seine bahnbrechenden Arbeiten auf diesem Gebiet haben das Wissen über die Templer in Palästina und ihre Beziehungen zu den andern Bevölkerungsgruppen auf eine völlig neue Basis gestellt. Daher sei für diesen Abschnitt hingewiesen auf Carmel, 1973, S. 260-294.
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Carmel stellt für die Zeit bis zum Ersten Zionistenkongreß 1897 fest, daß die hauptsächliche Ursache für die Feindschaft zwischen Templern und Juden (und hier vor allem der jüdischen Siedler) im Bereich der wirtschaftlichen Auseinandersetzung zu suchen ist. Diese Feindschaft war mal stärker, mal schwächer, je nach ökonomischer Situation und dem Empfinden dieser Situation durch die Templer. Erst nach dem Ersten Zionistenkongreß ändert sich der Charakter der Auseinandersetzung, jetzt kamen schleichend und immer häufiger auch nationalistische Motive mit hinein, die aber erst nach dem Ersten Weltkrieg manifest werden. Die Gründung von Mikweh Israel wurde von dem mit Netter befreundeten Hoffmann und seiner Templergemeinschaft begrüßt und unterstützt, wie die Planung der gesamten Anlage durch den Templer-Architekten Theodor Sandel (1845-1902) zeigt.18 Es gab weiterhin eine nicht mehr genau zu spezifizierende Zusammenarbeit, sicher ist, daß einige deutsche Siedler Grundstücke in Mikweh Israel pachteten und beim Aufbau der Schule halfen.19 Daß die Verbindung auch später nicht abgerissen ist, beweisen Briefe und Rechnungen der Templer über Handwerksarbeiten aus den 1880er Jahren an die jeweiligen Leiter der Schule.20 Die orthodoxen Führer des Jischuws traten sofort in eine scharfe Opposition zu der säkulare Fächer lehrenden Landwirtschaftsschule Mikweh Israel. Ihrem Einfluß war es zuzuschreiben, daß Netter Probleme hatte, überhaupt Schüler für sein Vorhaben zu finden. Der für eine solche Schule notwendige Farmbetrieb wurde von arabischen Arbeitern ausgeführt,21 da die Schule zu Beginn nicht mehr als zwanzig Schüler aufnehmen konnte.22 Zu diesen Schwierigkeiten kam das Problem, qualifizierte Fachkräfte zu finden. Da es in Palästina Lehrer für außerreligiöse Fächer nicht gab, sah sich die AIU gezwungen, Agronomielehrer aus Frankreich nach Mikweh Israel zu schicken. Ohne jede Begeisterung für die Idee der jüdischen Kolonisation gaben die Agronomen ihr freilich nicht auf Palästina spezialisiertes Wissen weiter.23
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Vgl. Alex Carmel, Impressionen aus Palästina, in: Haumann 1997, S. 50. Ebenda, S. 262. Vgl. ZZA.J41/422 undJ41/201. Vgl. Gvati, 1985, S. 4. Vgl. Die Allgemeine Israelitische Allianz, Bericht des Central-Comites über die ersten 25 Jahre 1860-1885, Berlin 1885, S. 50. 23 Vgl. Arthur Ruppin, Die landwirtschaftliche Kolonisation der zionistischen Organisation in Palästina, Berlin 1925, S. 49.
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Unterrichtssprache war wie in allen Schulen der AIU Französisch, da die Vereinigung bestrebt war, auch die orientalischen Kulturen mit französischer Sprache und Bildung zu durchdringen. Hier war ohne Zweifel bereits der Keim des ideologischen Scheiterns der Schule enthalten, denn hinter diesem Projekt standen weitergehende Motive als nur die Gründung einer landwirtschaftlichen Schule. Es ging Netter um Hilfe zur Selbsthilfe fur denjischuw, es ging auch um das Erhalten des Jischuws in seiner jüdischen Kultur und nicht um die Installierung französischer Kulturzentren in Palästina. Netter bemühte sich als erster Leiter der Schule, sein idealistisches Vorhaben in die Tat umzusetzen, wobei die AIU ihn und seine Nachfolger mit 50-60.000 frs jährlich unterstützte.24 Obwohl der Präsident der AIU S.-H. Goldschmidt bei seinem Besuch 1873 noch konstatiert hatte: „En resume les impressions que j'ai rapportees de Mikweh Israel sont vraiment favorables.",25 scheint sich die Schule bis 1882 nicht sehr günstig im Sinne ihres Gründers entwickelt zu haben. Der 1882 nach Mikweh Israel gekommene Chaim Chissin notierte in seinem Tagebuch, daß die Schule neben der Farm nur zum Schein bestünde und alle Arbeit von Arabern durchgeführt würde.26 Das auf französischer Kulturtradition aufbauende Unterrichtssystem in Mikweh Israel hatte zur Folge, daß sich bis zur Jahrhundertwende nur wenige Absolventen der Schule in Palästina als Landwirte niederließen,27 obwohl die Zahl der Schüler stetig anstieg und 1898 mit 180 ihren Höhepunkt erreichte. Viele Absolventen verließen Palästina, um sich in Frank-
24 Vgl. Curt Nawratzki, Das neue jüdische Palästina, Berlin 1919, S. 112. Netter verließ nach vier Jahren aus gesundheitlichen Gründen das Land, er hatte Malaria. Leiter der Schule wurde bis 1877 sein Gehilfe Schamasch, dann bis 1879 Wilhelm Herzberg. Bis 1891 amtierte Samuel Hirsch, der von Josef Niego abgelöst wurde. Vgl. ZZA, KatalogJ41. 25 Zitiert bei Leven, 1920, S. 307. Bei Leven findet sich der vollständige Rapport Goldschmidts. 26 Vgl. Chaim Chissin, A Palestine Diary, New York 1976, S. 66, Tagebucheintragung (im weitern „Tb" abgekürzt) vom 21.8.1882. Chissin kam als Mitglied der Biluim nach Palästina und lebte bis 1887 in Mikweh Israel sowie in den Kolonien Rischon le-Zion und Gedera. Sein Tagebuch aus dieser Zeit ist ursprünglich in russischer Sprache verfaßt. Vgl. Kap. VI, Abschnitt „Die Bilu-Gruppe". 27 Vgl. Ruppin, 1925, S. 49f Aus dem Bericht der AIU für 1884 geht beispielsweise hervor, daß in diesem Jahr von 21 die Schule verlassenden Schülern nur einer in Palästina, in Petach Tikwa, geblieben ist. Vgl. Bericht der AIU, Paris 1884, S. 41.
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reich weiterzubilden, dies Schloß eine Rückkehr häufig aus, andere wurden nach 1882 als Aufseher in den jüdischen Kolonien eingesetzt.28
3. Gai-Oni und Petach Tikwa - Zwei weitere Versuche zur Gründung ländlicher Siedlungen Der Wille eines Teils der palästinensischen Judenheit, sich von der Chalukka zu befreien, äußerte sich in zwei weiteren Versuchen, ländliche Siedlungen zu etablieren. 1838 noch hatten politische Schwierigkeiten die Pläne einiger Juden aus Safed und Moses Montefiores zerstört, Boden zur landwirtschaftlichen Bebauung zu erwerben. 1878 erwarb dann eine Gruppe orthodoxer Safeder Juden ein 4200 Dunam großes Stück Land nordöstlich der Stadt und besiedelte es mit 17 Familien, um ihren Plan einer ökonomischen Selbstversorgung dort zu realisieren. Sie nannten den Ort symbolisch „Gai-Oni" (hebr.: „Tal meiner Stärke"). Doch befand sich unter den Siedlern niemand mit landwirtschaftlicher Erfahrung, auch fehlte der Gruppe das fur ein solches Vorhaben zwingend notwendige Startkapital. Zu diesen wirtschaftlichen Problemen kam die permanente existentielle Bedrohung durch Angriffe ihrer arabischen Nachbarn hinzu, denen die Siedler nicht gewachsen waren. Bereits nach dem ersten sehr schwierigen Jahr entschied sich die Gruppe, einen Delegierten, Eleazar Rokach, nach Rumänien zu schicken, um dort im Sinne der Chalukka finanzielle Hilfe zu erbitten.29 Eleazar Rokach (1854-1914) war eine der schillernden Persönlichkeiten des Jischuw. Geboren in Jerusalem, zog er nach seiner Heirat nach Safed, betätigte sich dort als Journalist und gründete eine „Gesellschaft zur Produktivitätssteigerung der Juden".30 Schwierigkeiten mit den Führern der
28 Vgl. Berichte der AIU, 1884-1898. Insgesamt lebten am Ende des 19. Jahrhunderts 225 Personen in Mikweh Israel. Betrachtet man die Schülerzahl von 180, stellt sich die Frage nach den übrigen 45 Personen. Ob es sich um Lehrpersonal, arabische Arbeitskräfte oder Pächter handelte, läßt sich aus den Berichten der AIU nicht entnehmen. 29 Vgl. Artikel „Rosh Pinnah", in: EJ, 14:311£ u. Israel Klausner, Chibbat Zion beRumaniah, Jerusalem 1958, (Perak Dalet: Jesod ha-Kefar Gai-Oni), S. 34-39. 30 Vgl. Mordechai Eliav, Sefer ha-Aliyah ha-Rischonah, Jerusalem 1981 (hebr.), Vol. II, S. 425 . Diese Dokumentation besteht aus zwei Bänden. Band I enthält Aufsätze verschiedener Autoren zu Themen der Ersten Alija, Band Π enthält 400 Dokumente in hebräischer Sprache (z.T. Übersetzungen) aus der Zeit 1879-1905 sowie 55 Biographien.
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Chalukka zwangen ihn, Safed vorübergehend zu verlassen. Er ging nach Beirut, kam aber 1879 nach Gai-Oni und willigte schließlich ein, als Delegierter nach Rumänien zu gehen.31 Sein Erfolg als Spendensammler für die Kolonie war offensichtlich nicht sehr groß, denn die desillusionierten Siedler gaben noch 1880 ihren Versuch auf und verließen Gai-Oni, Rokachs Wirkung in der Verbreitung der zionistischen Idee in Rumänien und später auch in Galizien war dagegen ungleich höher.32 In den Kreisen der Chibbat Zion wurde Rokach ein berühmter Mann, Gai-Oni aber fiel zunächst wüst. Joschua Jellin berichtet in seinen „Recollections of a Son of Jerusalem" über einen ersten Versuch Jerusalemer Juden, bereits 5632 (1871/72) Land zu kaufen. Das Land war von der Regierung zum Verkauf freigegeben worden, und es hatten sich einige „sons of Zion in whose midst burned the fire of their love and affection to the soil of the land of their fathers"33 zusammengefunden, um auf diesem Land zu siedeln. Die türkischen Behörden verweigerten letztendlich ihre Erlaubnis zum Kauf da im Grundbuch ausländische Schutzgenossen als Besitzer erscheinen sollten. Doch ist in diesem Zusammenhang weniger das Scheitern als vielmehr die Tatsache interessant, daß sich in dieser Gruppe bereits einige der späteren Petach Tikwa-Gründer befanden, u.a. Joel Moses Salomon (1838-1912) und David Gutman (1827-1894).34 Auch der Name Petach Tikwa (hebr. „Tor der Hoflnung", Hosea 2:17) soll bereits von dieser ersten Gruppe fur ihre Kolonie ausgesucht worden sein.35 Von dieser Gruppe ging 1876 ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Errichtung einer jüdischen Landwirtschaft aus. Unter der Leitung David Gutmanns wurde eine „Gesellschaft zur Kultivierung des Bodens und Erlösung des Landes" gegründet",36 in der sich schließlich Salomon, Gutmann und Jehoshua Stampfer (1852-1908) zusammenfanden, um Land
31 Vgl.Carol Iancu, Une lettre inedite d'Eleazar Rokeach sur les Debuts du Movement Jischuw Erez Israel (1880), in: Revue des etudes juives, tome CXXXV, jan-sep 1976, fasc. 1-3, S. 177-183. 32 Vgl. Klausner, 1958. 33 Josua Jellin, Recollections of a Son of Jerusalem. 5594-5678 (1833-1918), Chapter VII (maschinenschriftliches Exemplar, englische Fassung), ZZA, A200/5/2. 34 Vgl. Jellin, „Recollections", S. 4£ 35 Ebenda, S. 10. 36 Vgl. Mordechai Eliav, Chevlei-Breschit schel Petach-Tikwa (hebr.), in: Cathedra, Vol. 9, Oct 1978, S. 7-9. Für die detaillierte Entstehungsgeschichte von Petach Tikwa vgl. Eliav, 1978, S. 3-25.
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zur Besiedlung zu erwerben. In ihrer Herkunft unterschieden sich diese drei Männer erheblich. Salomon entstammte einer alten in Jerusalem ansässigen aschkenasischen Rabbinerfamilie. Er lernte die Kunst des Lithographierens im preußischen Königsberg und gehörte zu den Mitarbeitern der sich ab 1863 formierenden jüdischen Presse in Palästina.37 Daneben war er 1869 als Mitinitiator bei der Errichtung Nachalat Schiwas tätig, des ersten selbständigen und eigenfinanzierten Stadtviertels für orthodoxe Juden außerhalb der Stadtmauern Jerusalems.38 David Gutmann, 1876 aus Ungarn gekommen, war zweifellos der wohlhabendste der drei Männer und bereit, sein ganzes Vermögen fur die ökonomische Aktivierung des Jischuws einzusetzen.3' Die Wirren in seiner ungarischen Heimat ließen auch in Jehoshua Stampfer den Wunsch wachsen, nach Palästina zu emigrieren. Da er sich eine Schiffspassage nach Jaffa nicht leisten konnte, kam er 1869 zu Fuß nach Palästina.40 Dort vollendete er seine in Ungarn bei Esriel Hildesheimer begonnene Jeschiwa-Ausbildung. Zwischen 1876 und 1879 schrieb er dazu in einer Nebentätigkeit als Korrespondent für den Jewish Chronicle" 15 Artikel über den Jischuw.41 Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft waren sich Salomon, Gutmann und Stampfer in ihren Zielen für die Kolonie einig. Zwar verfügten sie über keinerlei landwirtschaftliche Erfahrung, doch dies war für sie nur ein Nebenaspekt. Ziel war es zunächst, sich selbst von der Chalukka zu befreien, Palästina zu besiedeln und den Boden von der Unfruchtbarkeit zu „erlösen", indem man die Erde bearbeiten und eine autarke Versorgung erreichen wollte, um so die Juden in der Diaspora zu retten.42 Einzeln betrachtet, waren dies keine neuen Gedanken, innovativ war die Verbindung dieser zionistischen Vorstellungen zu einer neuen komplexen Philosophie, der es um die Erhaltung des Judentums in seinen Traditionen ging. Ideologischer Schwerpunkt hierbei war die Bearbeitung des Landes als heilige religiöse Pflicht, die die Voraussetzung für das Erscheinen des Messias schaffen sollte. Diese Vorstellungen knüpften nahtlos an
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Vgl. Artikel „Salomon, Joel Moshe", in: EJ, 14:696. Vgl. Ben-Arieh, 1986, S. 103-107. Vgl. Eliav, 1981, Vol. II, S. 411 u. Artikel „Gutmann, David Meir", in: EJ, 7:988£ Vgl. Artikel „Stampfer, Jehoshua", in: EJ, 15:329 u. Eliav, 1981, Vol. II, S. 427. Vgl. Mordechai Naor, Meet Katawnu be-Yeruschalaim we-Petach Tikwa (hebr.), in: Cathedra, Vol. 9, Oct. 1978, S. 70-94. 42 Vgl. D. Weintraub, M. Lissak and Y. Azmon, Moshava, Kibbuz and Moshav, Ithaca/London 1969, S. 32£
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die Gedankenwelt Hirsch Kalischers und Jehuda Alkalais an.43 Um die Ziele festzuschreiben, wurden praktische Vorschriften für die Arbeit und das Zusammenleben in der Kolonie entworfen. Man regelte Größe und Rechtsverhältnisse des Landbesitzes, befaßte sich mit der exakten Planung der Siedlung, um sie vor etwaigen arabischen Angriffen zu schützen, und nannte die Erziehung der Kinder im Sinne dieser Ziele eine zwingende Notwendigkeit. Für eventuell auftretende ökonomische Probleme der Siedler schuf man ein System genossenschaftlicher Hilfe, die jedoch, da sie eine freiwillige philanthropische Einrichtung war, im Gedankengut der Chalukka verhaftet blieb.44 Die Bemühungen, geeignetes Land zur Besiedlung zu kaufen, hatten 1878 Erfolg. Die christlichen Araber Antoin Tayar und Selim Qassar boten der Gruppe Land in der Nähe des Flusses Jarkon 18 km nordöstlich von Jaffa an.45 Salomon inspizierte das Land, zog einen Arzt zu Rate und erkannte, daß es sich zwar um ein fruchtbares, aber malariaverseuchtes Gebiet handelte. Ein rationales Betrachten dieser Bedingungen hinsichtlich der eigenen landwirtschaftlichen Erfahrungen hätte eigentlich zur Ablehnung des Kaufangebotes fuhren müssen. Doch Enthusiasmus, religiöser Eifer und die Angst, kein anderes geeigneteres Gelände zu finden, ließen Salomon und seine Mitstreiter den Handel abschließen. Sie kauften für 21.500 frs zunächst 337,5 ha Boden, der nicht unmittelbar an den Fluß grenzte.46 Den größten Teil der Kaufsumme brachte David Gutmann auf der Rest wurde unter den acht anderen Geldgebern der Siedler aufgeteilt.47 Der Petach Tikwa genannten Siedlung fehlte jeder Anschluß an eine Infrastruktur, was eine Versorgung mit Lebensmitteln u.ä. erheblich erschwerte. Trotz der diversen Nachteile kannte die Freude bei den frommen Kolonisten keine Grenzen,48 und so begann 1878 ein neuer Versuch der Juden, in der Landwirtschaft Fuß zu fassen.
43 Nach Zitron waren die Gründer Petach Tikwas Anhänger Alkalais und von dessen Ideen direkt beeinflußt, vgl. Zitron, 1918/19, S. 121. Zur Verbindung der Religion mit der Bearbeitung des Bodens vgl. M. Ascher, Landwirtschaft und Thora, Wien 1935. 44 Vgl. Weintraub, 1969, S. 34f 45 Vgl. Avneri, 1982, S. 80. 46 Vgl. Gvati, 1985, S. 8. 47 Vgl. David Ben-Gurion, Israel - Geschichte eines Staates, Frankiürt/Main 1973, S. 47. 48 Vgl. Weintraub, 1969, S. 36.
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Die neun Gründungsmitglieder,49 die Familien blieben zunächst in Jaffa, begannen Häuser auf einer Anhöhe zu bauen, einen Brunnen zu graben und auszusäen.50 Zu Beginn der Kolonisation richteten die Siedler im Sinne der Chalukkatradition Bittgesuche um finanzielle Unterstützung an die Juden in der Diaspora, diese sollten durch ihre Almosen am Segen der Bearbeitung von Erez Israel teilhaben. Doch sagten sich die orthodoxen Kolonisten bald von diesem System los und beschlossen, ihre Siedlung selbst zu finanzieren.51 Alle in der Anfangszeit anfallenden Arbeiten wurden von den Siedlern gemeinschaftlich erledigt, da die schwierigen Bedingungen keine Einzelinitiativen zuließen, ein Überleben daher nur in der Gemeinschaft möglich war.52 Allen ökonomischen Widrigkeiten zum Trotz gab es 1879 die erste Ernte in Petach Tikwa, die in der jüdischen Bevölkerung Jerusalems eine große Euphorie auslöste.53 Die Kolonie wurde als der richtige Weg zum Erlangen der ökonomischen Selbständigkeit angesehen. Konsequenz dieser Begeisterung war eine zweite „Einwanderungswelle" Jerusalemer Juden nach Petach Tikwa. Eine Kolonisationsgesellschaft wurde gegründet, die 1000 ha zum Preis von 60.000 frs dort kaufte, darunter auch Gebiete, die direkt am Jarkon lagen.54 Aus Kapitalmangel wurden die Häuser auf diesem flußnahen Land errichtet, was sich als verheerender Fehler erweisen sollte, denn im Sommer 1880 kam es zu einer viele Todesopfer fordernden Malariaseuche, der Winter brachte die Siedlung überschwemmende Regenfalle, und im folgenden Sommer griff die Seuche auch auf die alte Siedlung über. Das Jahr 5642 (1881/82) war dazu noch ein „SchmittaJahr",55 es konnte also nichts angebaut werden, was schließlich dazu führte, daß die Siedler die Kolonie verließen,56 Petach Tikwa fiel 1881 zunächst wüst.
49 Vgl. Hannah Barnett Trager, Pioneers in Palestine, London 1923, S. 6. Hannah Trager, geboren 1875, ist die Tochter von Zorach Barnett, einem der Gründer von Petach Tikwa. 50 Zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen vgl. Weintraub, 1969, 36-38; Eliav, 1978; Trager, 1923, S. 1-22 u. Jehudah Raab, Ha-Telem ha-Rischonah, Sichronut 18621930Jerusalem 1988, S. 55-83. 51 Vgl. Weintraub, 1969, S. 37. 52 Ebenda, S. 37. 53 Vgl. Gvati, 1985, S. 8. 54 Vgl. Nawratzki, 1914, S. 170f. 55 Nach den Geboten der Tora soll jedes siebte Jahr das Land brach liegen (Ex 23:1011, Lev 25:1-7, Deut 15:1-11), und die Schulden sollen erlassen werden. 56 Vgl. Eliav, 1978, S. 21.
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Die Einstellung der Juden in Deutschland und die gescheiterten Versuche, ländliche Kolonien in Palästina zu errichten, ließen keine großen Hoffnungen auf eine Verwirklichung dieser Idee. Aber ein unerwartetes Ereignis veränderte die Situation in Osteuropa, in Westeuropa und in Palästina grundlegend, die 1881 ausbrechenden Pogrome im südlichen Rußland.
V. Die Pogrome - Die Reaktionen in Osteuropa und in Deutschland
Entgegen den Bestrebungen der sich um Assimilation bemühenden Teile der russischen Juden, aber auch entgegen den Ideen der liberalen Herrschaft Alexanders II. fand der Antisemitismus schon in den 1870er Jahren quer durch alle Bevölkerungsschichten zunehmend Anhänger. Zwar waren antijüdische Einstellungen seit dem 17. Jahrhundert in der polnischen und russischen Bevölkerung immer wieder auf offene Ohren gestoßen, doch das erneute Aufflammen kam auch für viele sich dieses Problems bewußte Juden überraschend. Die Gründe für den Ausbruch der Pogrome sind zu einem Teil in der wirtschaftlichen Notlage zu suchen, in der sich die russische Bevölkerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts befand und an der den Juden falschlich die Schuld gegeben wurde. Mißernten und Viehsterben, dazu die Verteuerung der Brotpreise durch amerikanische Konkurrenz auf dem Weltmarkt, zwangen in einigen Gouvernements Bauern und Arbeiter zur Emigration in die südwestlichen Gebiete, da hier das beste Land zur Verfügung stand und die höchsten Arbeitslöhne gezahlt wurden.1 Doch diese verarmten Massen waren zuviel für den Südwesten, der immer tiefer in die ökonomische Krise geriet, auch weil sich der Konflikt zwischen den ukrainischen Bauern und den Juden stetig verschärfte. Die Regierung Alexanders II. ließ sich zwar bis 1881 trotz aller Konflikte nicht von ihren liberalen Reformbestrebungen abbringen, aber die Ermordung des Zaren am 1.3.1881, die daraufhin einsetzende Pressehetze gegen die Juden und die zeitliche Nähe zu Ostern begünstigten die antijüdische Agitation.2 Eine direkte Beteiligung eines jüdischen Revolutionärs an dem Attentat konnte nicht nachgewiesen werden. Propagandistisch aufgebauscht wurde die Freundschaft der Jüdin Helfman zu einem der Täter. Die antisemitische Presse erweckte dazu den Eindruck, die Juden seien
1
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Zur wirtschaftlichen Lage vor den Pogromen und der Bedeutung der ökonomischen Situation für den Ausbruch der Pogrome vgl. Mina Goldberg, Die Jahre 1881-1882 in der Geschichte der russischen Juden, Berlin 1934, S. 8-24 u. Stephen M. Berk, Year of Crisis, Year of Hope - Russian Jewry and the Pogroms of 18811882, Westport 1985 (inkl. ausfuhrlicher Literatur zu den Pogromen). Vgl. Berk, 1985, S. 55.
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in jedem Falle für den Mord verantwortlich, und man dulde von Seiten der neuen Regierung Ausschreitungen gegen die Juden.3 Der neue Zar, Alexander DL, versammelte um sich Berater und Minister, die dem reaktionären konservativen Flügel zuzurechnen waren, der Rückzug von der liberalen Position seines Vorgängers war vorgezeichnet. Latent vorhandene antijüdische Klischees und Vorurteile brauchten von den Lokalbehörden in ihren Handlungen nun nicht mehr zurückgehalten zu werden.
1. Die Pogrome 1881-1884 Resultat dieser Entwicklungen waren Pogrome, wie sie in diesem Ausmaß nicht erwartet worden waren. Beginnend am 15. April 1881 in der ukrainischen Stadt Elisawetgrad, wurden die jüdischen Gemeinden bis 1884 von mehreren Pogromwellen unterschiedlicher Stärke und Ausbreitung heimgesucht, wobei besonders heftige Ausschreitungen im Frühjahr und Sommer 1881 sowie im Frühjahr 1882 stattfanden.4 Der auch in der jüdischen Literatur fur diese Zeit des Schreckens verwendete euphemistische Ausdruck „Stürme im Süden"5 bezeichnete die Gebiete, in denen die Pogrome kulminierten. Es waren die südwestlichen Gouvernements innerhalb des Ansiedlungsrayons. In Städten und Dörfern, die aus verschiedenen Gründen von den Pogromen direkt nicht betroffen waren oder gegen Pogromanstifter juristisch schärfer vorgegangen waren, wurden besonders in den Jahren 1881 und 1882 sogenannte „Kolossalbrände" in den jüdischen Vierteln festgestellt.6 Dies war eine so häufige Erscheinung, daß mit Recht von Brandstiftung gesprochen werden konnte. Vgl. Goldberg, 1934, S. 21f.; Ben-Sasson, 1980, ΙΠ. Band, S. 196 u. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 7, Zwischen Assimilation und jüdischer Weltverschwörung", Frankfürt/Main 1988, S. HOf 4 Für eine detaillierte Beschreibung des Ablaufs der Pogrome vgl. Ben-Sasson, 1980, ΠΙ. Band, S. 195-197; Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Dritter Band 1789-1914, Jerusalem 19712, S. 471-482; Goldberg, 1934, S. 24-41; Die Judenpogrome in Rußland, hrsg. im Auftrag des zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, 2 Bände, KölnLeipzig 1910. An der Entstehung dieses Buches war der Zionist Leo Mozkin entscheidend beteiligt, doch blieb seine Mitwirkung anonym. Das Werk ist aber in manchen Literaturverzeichnissen unter Mozkins Schriften aufgeführt. Vgl. auch John D. Klier and Shlomo Lambroza, Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern History, Cambridge 1992. 5 Ben-Sasson, 1980, ΠΙ. Band, S. 195. 6 Vgl. Die Judenpogrome in Rußland, 1910, S. 23. 3
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In Anbetracht der antijüdischen Einstellung der neuen Regierung stellt sich die Frage, ob nicht die Regierenden selbst die Pogrome initiiert oder zumindest gesteuert haben. Die Schnelligkeit der Pogromausbreitung und das oft gleichzeitige Auftreten in weit voneinander entfernt liegenden Orten spricht zwar für eine zentrale Leitung, doch fand sich kein Quellendokument, das eine direkte Beteiligung der zaristischen Zentralbehörden nachweist. Von einer billigenden Hinnahme der Pogrome im allgemeinen kann aber ausgegangen werden. Die jeweiligen lokalen Administrationen, Polizei und Militär übten im Gegensatz zur Petersburger Führung keine Zurückhaltung. Sie unterstützten die Pogrome durch Passivität, denn sie griffen in vielen Orten erst nach Tagen ein, wenn die Welle der Gewalt schon wieder abflaute, und sie verhinderten, dies wiederum sehr aktiv, die wenigen Ansätze einer jüdischen Selbstverteidigung.7 Die russischen Juden reagierten auf die Pogrome mit Entsetzen, waren doch in Osteuropa Verfolgungen dieser Art das letzte Mal in der Ukraine 1648 im Zuge der Kosakenaufstände und in Polen 1768 vorgekommen. Kleinere Ausschreitungen, wie z.B. 1871 in Odessa,8 wurden mit lokalen Animositäten erklärt, aber keinesfalls als Ausdruck einer gewalttätigen Judenfeindschaft gedeutet. Die Juden in Rußland, aber auch in anderen Ländern Osteuropas hatten Pogrome und Pogromangst fast vergessen und hofften auf Emanzipation und Assimilierung. Das Jahr 1881 zerstörte diese Hoffnung, ein vor dieser Zeit bei den russischen Juden vorhandenes Gefühl der Sicherheit ging verloren9 und markierte einen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte. Doch sind die Pogrome nicht als Ursache der nun eintretenden Veränderungen zu sehen, sie waren vielmehr der Katalysator, der viele Entwicklungen deudich zutage treten ließ.10 Äußeres Zeichen war die beginnende Massenauswanderung. Schon im Sommer 1881 trafen in der russisch-österreichischen Grenzstadt
7 Zu der Frage der Beteiligung der Regierung und des Verhaltens der lokalen Repräsentanten vgl. Goldberg, 1934, S. 24-41; Ben-Sasson, 1980, III. Band S. 196, Dubnow, 19712, S. 469-475 u. Die Judenpogrome in Rußland, 1910, S. 24-43. 8 Für die Geschichte der Juden in Odessa als Fallbeispiel einer Stadt im Rayon mit einer jüdischen Bevölkerung zwischen 25% und 34% vgl. Steven J. Zipperstein, The Jews of Odessa - A Cultural History, 1794-1881, Stanford 1985. 9 Vgl. Die Judenpogrome in Rußland, 1910, S. 15. 10 Die Pogrome als Katalysator vor allem der nationalen Bewegung interpretieren bereits die Autoren des Buches „Die Judenpogrome in Rußland", 1910, S. 96. Eine weitere detaillierte Darstellung bei Jonathan Frankel, The Crisis of 1881-82 as a turning Point in modern Jewish History, in: David Berger, The Legacy of Jewish Migration: 1881 and its Impact, New York 1983, S. 11-20.
Die Pogrome - Die Reaktionen in Osteuropa und in Deutschland
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Brody ca. 10.000 jüdische Flüchtlinge ein, deren Entbehrungen und Leiden die Welt aufschreckten.11
2. Die Reaktionen außerhalb Osteuropas Die ersten Nachrichten über die Pogrome in den südrussischen Gouvernements lösten außerhalb Rußlands einen Sturm der Entrüstung aus. Unvorstellbar fur die West- und Mitteleuropäer, daß in Zeiten der rechtlichen Emanzipation, der vermeintlich erreichten Assimilation sich überhaupt noch Pogrome ereignen konnten. Getragen von dieser Stimmungfielenauch die Reaktionen aus, als sich im Frühsommer 1881 in der galizischen Grenzstadt Brody die jüdischen Flüchtlinge sammelten. Hilfskomitees wurden gegründet, Spendensammlungen veranstaltet, und Vertreter der ARJ begaben sich nach Brody, um entweder die Rückführung in die Gouvernements oder die Weiterreise nach Amerika zu organisieren. Der aufmerksame Beobachter konnte jedoch hier schon erste Anzeichen einer Demaskierung westlicher Philanthropie erkennen, denn in Europa wollte man die jüdischen Flüchdinge eigentlich so schnell wie möglich wieder loswerden, oder zumindest nicht in großen Mengen aufnehmen. Eine Lösung schien die Weiterreise nach Amerika zu bieten. Doch auch in Amerika formierte sich Widerstand gegen eine derartige Masseneinwanderung. Es zeigte sich in krasser Deutlichkeit eine Scheidewand zwischen den sogenannten Ostjuden und den Westjuden, denn letztere sahen sich von den aus dem Osten kommenden Einwanderern in ihren Bemühungen um eine de facto Assimilation auf das heftigste bedroht.12 Nicht anders sind die
11 Vgl. Böhm, 1935, S. 105. 12 Daß selbst bei den orthodoxen Juden, die grundsätzlich bereit waren, Flüchtlinge aus dem Osten aufzunehmen, sich dieses Problem zeigte, wird explizit von Breuer ausgeführt. Auch in diesen Gemeinden findet das Schlagwort von der „Angst vor den Ostjuden" seine Anhänger. Vgl. Breuer, 1986, S. 277f Zum Problem der Ostjuden in Deutschland vgl. Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciuosness 1800-1923, Madison 1982; Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland, 1918-1933, Hamburg 1986; dies. Ostjuden und deutsche Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Ergebnisse der Forschung und weitere Fragen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterrricht, 1988/9, S. 523-542; David Vital, The Origins of Zionism, Oxford 1975, S. 60 u. Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York 1987.
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Versuche zu erklären, den Emigranten zwar zu helfen, sie aber auch möglichst nicht im eigenen Land oder der eigenen Stadt aufzunehmen. Daher sind Meinungen wie die im folgenden zitierte unter der jüdischen Bevölkerung keine Seltenheit: „Nicht nur Amerika und Australien winken den zum Wanderstab Genöthigten, sondern auch in Europa gibt es Länder, wo Juden Aufnahme und Nahrung finden können, so in Frankreich, England, Italien, Spanien und Holland, nur diejenigen Länder sind zu meiden, wo bereits viele Juden wohnen."13 Der Euphemismus der verwendeten Sprache kann die latente Angst vor den Flüchtlingen nicht verdecken. Hinzu kommt die unausgesprochene Übernahme eines von den Antisemiten propagierten Arguments, dort wo Juden sich in größerer Zahl aufhielten, komme es zwangsläufig zu Ausschreitungen der christlichen Bevölkerung.14 Dies alles mußte den aus Rußland Fliehenden wie blanker Zynismus erscheinen. Aber es war die von stereotypen Ängsten geprägte Haltung vieler Juden in Deutschland. Der Kaftan des Ostjuden vertrug sich nach Meinung der Westjuden nicht mit dem Gehrock des akkulturierten Westjuden, im Gegenteil, die Einwanderung konnte nur den Antisemiten nutzen, ihnen neue Argumente gegen Emanzipation und Assimilation liefern. Neben all den erwarteten Schwierigkeiten mit den Ostjuden tauchte fur die Westjuden ein weiteres, sie aber unverhofft treffendes Problem auf nämlich die Auswanderung eines Teils der Flüchtlinge nach Palästina. Ab 1881 handelte es sich nicht mehr um einige wenige orthodoxe Juden, denen dann im Rahmen der Chalukka geholfen werden konnte, oder an deren Schicksal einer unterentwickelten Ökonomie man im Rahmen generöser westlicher Aufbauhilfe eine Mizwa erfüllen konnte. Zum Erstaunen der Westjuden fand eine alte Idee in den 1880er Jahren ihre Realisierung, denn ein Teil der Flüchtlinge dachte nicht an eine Auswanderung nach Amerika, sondern wollte in Palästina Kolonien gründen, die als autarke Landwirtschaften im Land der Väter die Rückkehr nach Zion vorbereiten sollten, und dies barg unzweifelhaft die Vorstufe eines jüdischen Nationalismus in sich. Diese provokativen Tendenzen galt es von Seiten der deutschen Juden zu vermeiden, schließlich konnte ein jüdischer Nationalismus von den An-
13 Heinrich Ellenberger, Budapest, 21.3.1882, in einer Beilage zu der Zeitschrift „Eintracht", Nr. 7. 14 Dieses Argument findet sich aber auch in den Ausführungen Markus Lehmanns, Herausgeber des „Israelit", zum Problem der jüdischen Bevölkerung in Rußland. Vgl. „Israelit", Separatabdruck aus Nr. 28; abgedruckt in: Druyanow I, S. 42-45.
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tisemiten wieder gegen die um Assimilation als deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens ringenden Juden gedeutet werden und zu neuerlichen Repressalien fuhren. Bis 1880 hatten sich die deutschen Juden erfolgreich gegen jedwede Idee einer jüdischen Nation, auch gegen die Idee eines jüdischen Volkes gewehrt, indem alle Bestrebungen dieser Art, kamen sie aus dem Westen oder dem Osten, schlicht ignoriert wurden. So verhielt sich die jüdische Öffentlichkeit auch 1881/82 gegenüber Palästina indifferent, fast ablehnend, und nur wenige Zeugnisse sind fur eine Unterstützung der neuen Einwanderung zu finden. Die deutsch-jüdischen Presseorgane zeigten sich in ihrer Haltung gespalten. Die AZJ und die IW hielten Amerika fur das geeignete Immigrationsland, während die JP und der „Israelii" Palästina bevorzugten, allerdings aus rein religiösen Motiven, wie sie unablässig betonten.15 Uberraschend erschien im März 1882, vielleicht auch durch die in diesem Monat massiv angestiegene Einwanderung in Palästina motiviert, ein Brief im Jewish Chronicle",16 der eine Einwanderung russischer Juden nach Palästina strikt ablehnte und hierfür vermeintlich wissenschaftlichhistorisch gesicherte Tatsachen als Argumente anführte. Das Uberraschende hieran war nicht, daß sich jemand gegen Palästina aussprach, das war fast schon eine Alltäglichkeit, überraschend war, daß es sich bei dem Autor um Charles Netter, den Gründer und ersten Direktor der landwirtschaftlichen Schule in Palästina, Mikweh Israel, handelte. Netters Brief wurde am 24.3.1882 veröffentlicht und sprach sich eindeutig gegen eine Einwanderung nach Palästina aus, die er als „hazardous attempt"17 bezeichnete. Nachdem er die Siedlungsversuche vor 1882 für gescheitert erklärt hatte, nannte er als Gründe vor allem die Unfruchtbarkeit des verfügbaren Landes, das ungewohnte Klima, die Konkurrenz der Araber, das türkische Steuersystem und die Schwierigkeiten, als Landwirte die Gebote der jüdischen Religion zu befolgen, die auch einen weiteren Versuch nicht wünschenswert erscheinen ließen. Die Auswanderung nach 15 Zur Einstellung der Zeitungen vgl. Shedletzky, 1981, S. 3-28. 16 Der Jewish Chronicle" erschien wöchentlich seit 1841 in London und war eine der wichtigsten Zeitungen in der jüdischen Welt. Er setzte sich für die Rechte der Juden in aller Welt ein, und namhafte Publizisten veröffentlichen im „Chronicle", denn er bot die Möglichkeit der europaweiten Verbreitung. Über die Geschichte des „Chronicle" vgl. David Cesarani, The Jewish Chronicle and Anglo-Jewry 18411991, Cambridge 1994. 17 Der Briei geschrieben am 15.3.1882 in Paris und abgedruckt im Jewish Chronicle" No. 678, 24.3.1882, hier zitiert nach ZZA, A9/176/12. Unter dieser Signatur finden sich im ZZA der Brief und die Reaktionen, gesammelt von A. Druyanow.
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Amerika betrachtete er sehr viel wohlwollender, schon allein aus Gründen einer in Amerika, angeblich, nicht vorhandenen Arbeitslosigkeit. Ob Netter hier die offizielle Meinung der AIU vertrat, ist im historischen Kontext nicht von entscheidender Bedeutung, wichtiger ist, daß diese Aussage die Diskussionen um Palästina nicht nur in Ost-, sondern auch in Westeuropa neu entfachte. Die Schärfe der sich anschließenden Auseinandersetzung zeigte deutlich die hohe Bedeutung, die der Frage nach einer Besiedlung Palästinas aus Motiven der Zionsliebe in der jüdischen Welt beigemessen wurde. Netters Betrachtungen erfuhren daher nicht nur Zustimmung. So widerlegte ein Leserbriefschreiber den Mikweh IsraelGründer, indem er aus dessen eigenem, sehr hoflhungsvollem Bericht über Mikweh Israel für die „Anglo-Jewish Association" aus dem Jahre 1879 zi, · . 18 tierte. Noch heftigeren Widerspruch gab es für Netter von profunder Seite aus Palästina. Wilhelm Herzberg (1827-1897), ein aus Stettin stammender Schriftsteller, der von 1877-79 Direktor von Mikweh Israel war und seit 1879 Leiter des Jerusalemer Waisenhauses, griff Netters Argumentation scharf an. Er verwies die These vom Scheitern der Siedlungsversuche in den Bereich der Geschichtsfalschung und begründete dann die Wichtigkeit einer Rückkehr nach Palästina für das jüdische Volk. Anklagend und verbittert über Netter schrieb Herzberg: „Vielleicht haben Sie recht - der Sie ein Philanthrop sein wollen aber nicht ein nationaler Jude - nur vergessen Sie nicht, daß Ihre Gesellschaft damit der Führerschaft in Jüdischen Angelegenheiten entsagt, denn die Grundidee des Judenthums ist die unauflösliche Verbindung von Nationalität und Religion."19 Dies war ein klares Bekenntnis zu den Ideen der Chibbat Zion. Herzberg weiter: „Die Geschichte wird einst Rechenschaft von Ihnen fordern, wenn diese große Gelegenheit ein Jüdisches Gemeinwesen zu gründen unbenutzt vorüber gehen sollte (...) Sie selbst aber werden den Ruhm verloren haben, zu dem Ihre Vergangenheit Sie zu berechtigen schien."20
18 Jewish Chronicle" No. 679, 31.3.1882, zitiert nach ZZA, A9/176/12. 19 Offener Brief an Herrn Charles Netter, in: Der Israelit, No. 24, XXIII. Jg., 14.6.5642 (1882), S. 589. 20 Ebd., S. 589. Einige Briefe Netters an die AIU zeigen jedoch, daß er nicht ein solcher Palästinagegner gewesen ist, wie dieser Brief vermuten läßt, vielmehr hatte er konkrete Vorstellungen, wie die Infrastruktur des Landes zu verbessern sei, damit dann die Massen der russischen Flüchtlinge aufgenommen werden können. Dieser Brief sollte wahrscheinlich vor allem die türkischen Machthaber in Palästina beruhigen. Information dazu in einem Gespräch mit dem Direktor des ZZA, Yoram
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Markus Lehmann, der Herausgeber des „Israelii", setzte sich trotz dieser Debatte, oder vielleicht gerade deswegen, zunächst weiter vehement für Kolonisationsbemühungen in Palästina ein. Er verfolgte die Tätigkeiten der Landkäufer in Palästina und berichtete hierüber in seiner Zeitung.21 Im Sommer 1882 kam der Rabbiner Arieh Leib Frumkin (1845-1916)22 aus Lettland nach Deutschland, um dort über das Schicksal der russischen Juden Verhandlungen zu führen, und mit ihm organisierte Lehmann im Juli 1882 eine Konferenz über Palästinakolonisation. Den teilnehmenden Rabbinern und Kaufleuten aus Süddeutschland23 eröffnete Lehmann seinen Plan, „(...) uns zunächst mit einem kleine Anfange (zu) begnügen und fürs Erste nur fünfzig Familien, und zwar solche, die von Jugend auf mit dem Ackerbau vertraut sind, im heiligen Lande an(zu)siedeln (...)."24 Geplant war diese Siedlung als eine eigenständige Kolonie, mit dem Ziel autarker Ökonomie.25 Die Versammlung diskutierte dann äußerst kontrovers über die Eignung Palästinas als Kolonisationsland. Schließlich erläuterte ein kurz zuvor aus Palästina zurückgekehrter Nichtjude den Teilnehmern, es gebe ohne Zweifel genügend Ackerland, das Problem sei aber die türkische Verwaltung und hier besonders die Frage nach der türkischen Staatsbürgerschaft.26
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Mayorek, der über Charles Netter und die AIU arbeitet, am 30.1.1996. Netter starb im Herbst 1882 und konnte daher seine Ideen nicht mehr ausführen. Vgl. Eliav, 1965, S. 295. Geboren in Litauen und dort zum Rabbiner ausgebildet, kam Frumkin 1867 und 1871 nach Jerusalem, um dort für ein Buch über die Rabbiner und Gelehrten Jerusalems zu forschen. Rabbiner wurde er schließlich in einer lettischen Stadt, von der er im Frühjahr 1881 nach Deutschland aufbrach. Vgl. Artikel „Frumkin, Areyh Leib", in: EJ, 7:209. Daß Lehmann vor allem Rabbiner und Kaufleute aus Süddeutschland eingeladen hatte, verwundert nicht, denn aus den süddeutschen Gemeinden kamen ca. 90% des Spendenaufkommens für Palästina. Vgl. Hildesheimer an Pinsker, Dezember 1884, in: Eliav-Briefe, 1965, S. 200ff Für Lehmann war es daher keine Frage, daß er zur Realisierung seiner Pläne auf die finanzielle Unterstützung der süddeutschen Gemeinden zurückgreifen mußte. Lehmann, in: Separatabdruck aus Nr. 28 des „Israelit", in: Druyanow I, S. 43. Daß die Versammlung nicht von vornherein als konkrete Hilfe für eine Kolonie in Palästina konzipiert werden konnte, erklärt sich dadurch, daß der Besiedlungsbeginn der Kolonien Rischon le-Zion und Rosch Pina erst Ende Juli bzw. Mitte September 1882 lag. Der Apotheker Dr. Mann wurde von der Versammlung als Spezialist und „unparteiischer Beurteiler", da er kein Jude sei, eingeladen. Vgl. „Israelit", Nr. 28, zitiert nach: Druyanow I, S. 44.
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Mit diesen Informationen versehen, hatte die Versammlung die Gelegenheit, in Deutschland nicht nur praktisch etwas fiir die Kolonisation des Heiligen Landes zu tun, sondern auch ein Zeichen fur das weitere Verhalten der Juden gegenüber den Siedlungen zu setzen. Doch hierfür hätte es konkreter Maßnahmen bedurft, exakter Pläne, wie die strittigen Fragen zu klären und das Vorhaben zu realisieren sei. Aber die Konferenz erging sich am Ende in Allgemeinheiten und Platitüden: „Die Versammlung beschloss, sich in Bezug auf alle angeregten Fragen auf das Genaueste zu instruieren, das vorgesteckte Ziel sorgfaltig im Auge zu behalten, aber erst dann der Realisierung näher zu treten, wenn sie die Überzeugung erlangt haben wird, daß die politischen, socialen und localen Verhältnisse eine Aussicht auf guten Erfolg nicht unmöglich macht."27 Die weiteren Ereignisse bestätigten den Eindruck dieser Zeilen, denn es blieb bei Unverbindlichkeiten, die Chance wurde nicht genutzt, und das gegründete „Provisorische Comite zur Ansiedelung ackerbautreibender, russischer Juden im Orient"28 stellte sich als eine Chimäre ohne jede Wirkung oder Einfluß dar. Warum dies so war, läßt sich nicht eindeutig klären. Vielleicht war es doch die Angst, mit einem solchen Projekt, dessen Erfolgschancen sich nur schwer abschätzen ließen, an die Öffentlichkeit zu treten und sich damit Angriffen von verschiedenen Seiten auszusetzen. Die Mitglieder des Komitees schienen dazu offenbar nicht bereit. Da aber auch keinerlei Aktivitäten „im Hintergrund" außerhalb der Öffentlichkeit stattfanden, liegt der Schluß nahe, es habe sich bei diesem Komitee doch nur um ein Lippenbekenntnis gehandelt. Lehmann selbst wurde aber aktiv und erwarb zusammen mit Esriel Hildesheimer und dem Berliner Kaufmann Emil Lachmann ein Grundstück in Petach Tikwa, das von Frumkin dann verwaltet wurde.29 Welche Chance die Gründer des Komitees vertan hatten, zeigte sich, als ab August 1882 die ersten Spenden für die Kolonie Rischon le-Zion aus Deutschland eingingen.
27 „Israelit", Nr. 28, in: Druyanow I, S. 45. 28 Ebd., S. 45 29 Hierzu vgl. Kapitel X, Abschnitt „Emil Lachmann - Der Gutsbesitzer". Lehmann selbst geriet im Laufe der Jahre mehr und mehr unter den Einfluß der von Samson Raphael Hirsch vertretenen Orthodoxie, die sich zum Gegner der Kolonisation entwickelte. Er zog sich folgerichtig aus der Arbeit für die Kolonien zurück. Vgl. Eliav, 1965, S. 299-301. 30 Rabbiner Hirsch, Frankfurt/M., an S.D. Levontin, 27.8.1882. Hirsch sendet eine Spende von 30 Mark für Rischon le-Zion, ZZA, A34/30. Isidor Loeb (Sekretär der ATU) an Hirsch (Direktor in Mikwe Israel), 7.11.1882. Loeb sendet u.a. die Spende von 100 frs „au nom des Israelites de Nürnberg" fur Rischon le-Zion, ZZA, J41/27.
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Von diesem Komitee in organisierte Bahnen geleitet, hätten diese Spenden der Beginn einer kontinuierlichen, sich nicht nur in einem marginalen Rahmen bewegenden Unterstützung fur die Kolonien sein können. Wieso es aber nicht zu dieser Unterstützung kam, erscheint aus dem bisher Dargelegten über die deutschen Juden und ihrem Ringen um Assimilation nur allzu verständlich.
3. Leon Pinskers „Autoemancipation" Nicht nur die osteuropäischen Chowewe Zion wurden von den Pogromem überrascht. Entsetzt wandten sich auch viele Akkulturationsanhänger von ihren früheren Idealen ab.31 Für den Teil der jüdischen Bevölkerung, der Erniedrigung und Existenzvernichtung nicht in fatalistischer Demut ertragen wollte, boten sich zwei Handlungsalternativen.32 Einige widmeten sich verstärkt der Arbeit in den revolutionären Gruppen Rußlands,33 ungeachtet der Position dieser Gruppen gegenüber Juden.34 Der weitaus größte Teil aber reagierte mit dem Wunsch nach sofortiger Emigration.35 Die Frage, ob denn eine jüdische Nation existiere, stand plötzlich wieder im Vordergrund der Diskussion, denn die Beantwortung dieser Frage bestimmte die Zielländer der Emigration. Diejenigen Juden, für die eine jüdische Nation nicht existierte, entschieden sich aus vitalen ökonomischen Gründen für Amerika als neue Heimat. Man rief in Odessa die Gesellschaft „Am Olam" (Ewiges Volk) ins Leben, die sich die Gründung von Ackerbaukolonien in Amerika zum Ziel setzte.36 Von der Seite der Amerikabefurworter gab es eine starke Propaganda gegen Palästina als Einwanderungsland, die aber zum größten Teil aus Vorurteilen und unzuverlässigen Informationen bestand.37 Kenntnisse aus eigener Anschauung hatten zumeist weder die Palästinafreunde noch
31 Vgl. Sachar, 1985, S. 13£ 32 Zu diesem Komplex vgl. Frankel, 1981. 33 Vgl. Ben Halpern, The Idea of the Jewish State, Cambridge 1961, S. 63. Für die Anzahl der Juden in der revolutionären Bewegung vgl. Goldberg, 1934, S. 21. 34 Vgl. Frankel, 1981, S. 97-107. 35 Für die Frage nach der Legalität einer Auswanderung und der Einstelllung der zaristischen Behörden vgl. Michael Aronson, The Attitudes of Russian Officials in the 1880's toward Jewish Assimilation and Emigration, in: Slavic Review, Vol. 34, 1975, S. 1-18. 36 Zur Geschichte der „Am Olam" vgl. Artikel „Am Olam" in: EJ, 2:861£ 37 Vgl. Die Judenpogrome in Rußland, 1910, S. 88.
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ihre Gegner.38 Auch die philanthropischen westeuropäischen Organisationen sprachen sich gegen eine Palästinabesiedlung aus. Hier stand besonders das Argument der ökonomischen Untauglichkeit Palästinas als Einwanderungsland im Vordergrund.39 Die Pogrome in Rußland wirkten nachhaltig auch auf die 300.000 rumänischen Juden,40 die sich angesichts dieser Ausschreitungen und ihrer eigenen Gefahrdung ebenfalls mit dem Gedanken einer Emigration befaßten.41 Wie einer der fuhrenden Vertreter der Komitees fur die Auswanderung nach Palästina, Karpel Lippe (1830-1915), in seinen Erinnerungen mitteilte, fiel die 1880 durch den Jerusalemer Eleazar Rokach begonnene Agitation in Rumänien fur Palästina auf fruchtbaren Boden.42 Im April 188143 fand eine erste Generalversammlung in Fokschany statt, auf der bereits 65 Komitees vertreten waren. Im Januar 1882 folgte eine zweite Generalversammlung, bei der ein Zentralkomitee mit Sitz in Galatz gewählt 1
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wurde. Die Reaktionen der Zionsfreunde im Ausland auf die Gründung dieses Komitees waren sehr positiv und erwartungsvoll. So schrieb der Herausgeber des „Ha-Maggid", David Gordon, im April 1882 an Samuel Pineles (1843-1928), den Vorsitzenden des Zentralkomitees in Galatz: „Wenn das Comite auf diesem Wege fortschreitet, ist es ohne Zweifel bestimmt, für die große, erhabene Idee (die ländliche Kolonisation, E.P.) das zu werden,
38 Israel Beikind, einer der Pioniere der Kolonisation Palästinas, schreibt, daß alle Juden in jener Zeit nur sehr wenig konkret über Palästina gewußt hätten. Vgl. Israel Beikind, Die erschte Schrit fon Jischuw Erez Israel (jidd.), (New York) 1917, S. 131. 39 Die Herausgeber des Buches „Die Judenpogrome in Rußland" übermitteln eine Antwort der AIU an eine Gruppe ausreisewilliger Juden: „Das Heilige Land ist so verarmt, daß auch die dortigen Juden Hunger leiden. Eine Ubersiedlung dorthin dürfte nur die Vermehrung der dortigen Bedürftigen zur Folge haben." Die Judenpogrome in Rußland, 1910, S. 88. 40 Zahl nach Haumann, 1990, S. 151. Er nennt diese Zahl allerdings für den Beginn des 20. Jahrhunderts. 41 Vgl. Brief von Samuel Pineles an Theodor Herzl, 14.1.1897, abgedruckt in: Klausner, 1958, S. 360-366 u. Brief von Karpel Lippe an Isaak Rülf, 15.1.1883, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 , Lippe beschreibt die unerträglichen Zustände in Rumänien und erklärt, daß Hunderte von Familien zur Emigration bereit seien, man warte nur auf den Erfolg der beiden rumänischen Kolonien in Palästina. 42 Vgl. Karpel Lippe, Meine funfiindzwanzigjährige zionistische Agitation, Jassy 1902. Vgl. Kap. IV, Abschnitt „Gai-Oni und Petach Tikwa - Zwei weitere Versuche zur Gründung ländlicher Siedlungen". 43 Vgl. Sokolow, 1934, S. 275. 44 Vgl. Artikel „Zionism", in: EJ, 16:1039.
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was man vergebens von der „Alliance" gehofft." Gordons Brief war auch von der Enttäuschung über Netters Ablehnung der Kolonisation Palästinas im Jewish Chronicle" getragen. Seiner Meinung nach sprach Netter im Namen der AIU, und er forderte daher: „Wir müssen den Kampf gegen sie aufnehmen."45 Dem entschlossenen Engagement der rumänischen Chowewe Zion ist es zu verdanken, daß die ersten ländlichen Kolonien in Palästina rumänische Gründungen waren.46 Für die fehlende praktische und ideologische Zentralleitung der Chibbat Zion-Vereine wirkten die Pogrome 1881 als einender Katalysator, denn sie beeinflußten die Niederschrift und Veröffentlichung der fur die weitere Entwicklung und Einigung der Chibbat Zion revolutionären Broschüre „Autoemancipation". Der Autor, Leon Pinsker, wurde 1821 in Polen geboren, als Sohn des bekannten Sprachgelehrten Simcha Pinsker (1801-1864).47 Als einer der ersten Juden studierte er an der Universität seines damaligen Wohnortes Odessa. Da ihm aber als Jude eine Anwaltslaufbahn versagt blieb, wechselte Pinsker an die Universität von Moskau und studierte Medizin. 1849 ließ er sich als Arzt in Odessa nieder, und sein selbstloser Einsatz in der Verwundeten- und Krankenpflege am Ende des Krimkrieges (1854-1856) brachte ihm Dank und Auszeichnung der zaristischen Regierung.48 Pinsker wurde ein bekannter Mann in Odessa, der besonders in den bessergestellten Schichten verkehrte und praktizierte,49 dazu ein eifriger Verfechter der Akkulturation. So war er an der Herausgabe zweier Zeitschriften beteiligt, die sich diesem Thema widmeten.50 Aus dieser Einstellung heraus resultierte auch Pinskers Mitgliedschaft in dem Odessaer Zweig der „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den russischen Juden". Das Odessaer Pogrom 187151 führte nicht nur zur vorläufi-
45 David Gordon an Samuel Pineles, 9.4.1882, ZZA, A 1 4 4 / 4 / 3 . 46 Ein Umstand, der in der Historiographie des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts anscheinend häufig übersehen wurde, denn Lippe beklagt sich in seinen Erinnerungen über das Ignorieren der rumänischen Kolonien als ersten Kolonien in Palästina. Vgl. Lippe, 1902, S. 5f 47 Zur Biographie Leon Pinskers vgl. Artikel „Pinsker, Leon" in: EJ, 13:545-548. Zur Biographie Simcha Pinskers vgl. Artikel „Pinsker, Simcha" in: EJ, 13:548-549. 48 Vgl. Nahum Sokolow, History of Zionism 1600-1918, New York 1969 (Neuauflage), S. 217. 49 Vgl. Ben-Ami, 1916/17, S. 584. 50 Es handelte sich um das Journal „Razsvet" (erschien 1860-61) und die Nachfolgerin „Sion". 51 Vgl. Zipperstein, 1985, Chapter Five: The 1871 Pogrom, S. 114-128.
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gen Auflösung dieser Gesellschaft, sondern legte in Pinsker auch den Keim des Zweifels an der Richtigkeit seiner Akkulturationsbestrebungen. 1878 wurde die Gesellschaft neu gegründet und wählte Pinsker in ihr Komitee. Noch einmal engagierte er sich für die Ziele der Gesellschaft, doch bereits die erste Pogromwelle im April 1881 führte zu einem vollständigen Gesinnungswandel. Im Sommer trat Pinsker aus der Gesellschaft mit der Begründung aus, die Assimilation sei mißlungen. Aufmerksam verfolgte Pinsker nun die zionistischen Debatten in den jüdischen Publikationen. 1882 zwang ihn eine Herzerkrankung zu einem Kuraufenthalt in Italien, den er zu ausgedehnten Reisen nach Wien, Berlin, Paris und London nutzte, um in diesen Städten mit führenden jüdischen Persönlichkeiten über seine neu gewonnene Vorstellung des Aufbaus eines nationalen jüdischen Zentrums zur Befreiung der Juden aus der Diaspora zu sprechen.52 Aber die westeuropäischen Juden schienen die weitreichende Bedeutung der Pogrome für das jüdische Volk noch nicht erfaßt zu haben. Ihre Führer wiesen Pinskers Vorstellungen zurück. So machte beispielsweise die AIU deutlich, daß sie nur eine Amerikaemigration zu fördern gewillt sei.53 Auch der Wiener Rabbiner Adolf Jellinek (1820/21-1893), ohne Zweifel ein Mann, dessen Wort Gewicht in der jüdischen Welt hatte, lehnte eine jüdische Nationalbewegung strikt ab.54 „Volles Verständnis" fand Pinsker nach eigener Aussage nur in London bei Arthur Cohen, seines Zeichens Parlamentsmitglied und Vorsitzender des „Board of Deputies of British Jews", der Gesamtvertretung der englischen Juden. Pinsker wollte die Judenfrage zu einer internationalen Angelegenheit machen, und Cohen unterstützte ihn in diesem Vorhaben. Nach der Ablehnung seiner Ideen durch die AIU hatte Pinsker zwar noch Bedenken, aber Cohen ermunterte ihn, seine Gedanken in einer Broschüre zu veröffentlichen.55 Im September 1882 erschien in Berlin anonym „Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden".56 In dieser kaum 30 Seiten umfassenden Broschüre setzte sich Pinsker mit den Beziehungen der Juden zu den anderen Völkern auseinander und kam zu der These: „Die Juden bilden im Schöße der Völker, unter denen sie leben,
52 Vgl. Brief Pinsker an Isaak Rülf, 27.9.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 53 Vgl. Artikel „Pinsker, Leon" in: EJ, 13:546. 54 Nach Laqueur, 1975, S. 91, empfahl Jellinek Pinsker, erst einmal auszuspannen, um seine „offensichtlich zerrütteten Nerven zu beruhigen." 55 Brief Pinsker an Rüli 27.9.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 56 Zitiert wird hier die Ausgabe Berlin 1932. Anhand einer Ausgabe von 1882 habe ich die Texte verglichen und zitiere, wenn nötig, den Originaltext.
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tatsächlich ein heterogenes Element, welches von keiner Nation assimiliert zu werden vermag, demgemäß auch von keiner Nation gut vertragen werden kannf7 Dies begründend schrieb Pinsker weiter, daß die Juden kein Vaterland hätten, daß sie nicht als gleichberechtigte Eingeborene anerkannt würden und daß ihr Bestreben, sich den Völkern anzugleichen, zwar zum Uberleben des Individuums, aber zum Verlust der Nationalität gefuhrt habe. Das Urteil der Völker über die Juden sei geprägt von Aberglauben und .Judenphobie",58 sie blieben daher überall Fremdlinge. Hoffnungen, diesen Zustand durch das Erreichen einer Gleichstellung abzuändern, lehnte Pinsker als unrealistisch und entwürdigend ab: „Wer gestellt werden muß, steht bekanntlich auf schwachen Füßen."59 Zudem erkannte Pinsker die Gefahr und Verblendung, die auch noch von einer gesetzlichen Emanzipation ausgehen konnte: „Aber diese gesetzliche Emanzipation ist nicht die gesellschaftliche (...)".60 Um die fuhrungslos sich in ihr Schicksal ergebenden Juden zu retten, bedürfe es des Willens der Juden zur Nationbildung, denn ohne Nation blieben die Juden „die unheimliche Gestalt eines Toten, der unter den Lebenden wandelt." Größtes Hindernis hierfür sei, daß die Juden „nach einer solchen Existenz kein Bedürfnis fühlen."61 Zur Nationbildung sei ein geeignetes Territorium notwendig, wobei es sich nur dann um Palästina handeln könne, wenn eine Expertise das Land für ökonomisch geeignet erkläre.62 Am Schluß seiner Schrift ging Pinsker auf die seiner Meinung nach notwendigen Schritte zur Realisierung seiner Vorstellungen ein. Für Pinsker selbst am wichtigsten war der Teil seiner Schrift, über dem als Prämisse zur Änderung der deprimierenden Situation der Juden das Schlagwort von der Autoemanzipation stand. Diese Idee ist so alt wie das Judentum selbst und hatte sich zu einem zentralen Thema des soziopolitischen Agierens der Juden untereinander und in den Beziehungen zu anderen Völkern entwickelt. Aber die Autoemanzipation, die Selbstbefreiung und Selbsthilfe, war im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten,
57 Pinsker, 1932, S. 5. Der kursiv gesetzte Text fehlt in der Ausgabe von 1932. Ohne Zweifel wäre es aus Sicht einer Ideengeschichte interessant zu untersuchen, welche Textpassagen wann verändert wurden und warum dies geschah. Dies soll aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. 58 Pinsker, 1932, S. 8. 59 Ebd., S. 15. 60 Vgl. Ebd., S. 11. Im Original ersetzt „legale" den Begriff „gesetzliche". 61 Ebd., S. 7f 62 Vgl. Ebd., S. 27.
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Pinsker rief den Juden dieses zentrale jüdische Motiv wieder ins Bewußtsein zurück.63 Anklagend gegen die Völker der Welt, aber auch gegen die Untätigkeit der Juden, kulminiert seine Forderung nach Autoemanzipation in dem Satz: „Was uns fehlt ist nicht Genialität, sondern das Selbstgefühl und das Bewußtsein der Menschenwürde, das ihr uns raubt."64 „Autoemancipation!" war ursprünglich für die westeuropäischen Juden geschrieben, an die sich Pinsker explizit wenden wollte, besonders nachdem er von der AIU so enttäuscht worden war.65 Daraus erklärt sich zum einen die Veröffentlichung in deutscher Sprache in Berlin, zum anderen konnte Pinsker sein Werk nur in deutscher Sprache veröffendichen, da er Russisch nur mittelmäßig, Hebräisch aber gar nicht beherrschte und Jiddisch als Jargonsprache" ablehnte.66 Die westeuropäischen Juden, und besonders die Juden in Deutschland, sollten die Führung in der nationalen Erneuerungsbewegung übernehmen. Seinen osteuropäischen Glaubensbrüdern traute Pinsker eine solche Führungsrolle nicht zu, zumal seine Schrift in Rußland noch von der Zensur beanstandet wurde67 und es ungewiß war, wann sie dort erscheinen würde. Doch zu seiner Enttäuschung fand sein Werk im Westen nur geringen Widerhall: „(...) die deutschen Juden regen sich nicht."68 Einen Erklärungsversuch für die Ablehnung der Schrift findet sich in einem Brief eines in Berlin lebenden Juden, der 1883 an Isaak Rülf schreibt, daß „Autoemancipation" „(...) für den deutschen Geschmack zu materialistisch gehalten und wohl auch zu wenig religiös durchglüht"69 sei. Um so begeisterter war die Aufnahme in Osteuropa. Obwohl das Werk erst 1884 in Hebräisch70 und noch später im für die Juden Osteuropas wichtigeren Jiddisch erschien, daher nur in den Zeitungen besprochen und durch Mundpropaganda ver-
63 Vgl. Sokolow, 1969, S. 218-222. 64 Pinsker, 1932, S. 15. 65 Pinsker schreibt am 6.10.1882 an Rülf den er für seine Ideen gewonnen hat und als Verbündeten sehr schätzt: „Erheben Sie Ihre Stimme, und wenn die Alliance keine Ohren hat um zu hören, so rechnen Sie auf die öffentliche Meinung, die für uns sein wird." ZZA, A l / V l / 1 / 2 4 . 66 Vgl. Ben-Ami, 1916/17, S. 585. 67 Vgl. Pinsker an Rüli 18./25.10.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 68 Pinsker an Rülf, 24.10.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 69 M. Friedeberg an Rülf 9.8.1883, ZZA, A l / V I / 1 / 2 8 . 70 Vgl. Vital, 1975, S. 138.
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breitet werden konnte,71 wurde Pinsker bereits 1882 zur Symbolfigur fiir die nationale Erneuerungsbewegung in Osteuropa.72 Die von Pinsker persönlich an den ihm bekannten Haskala-Verfechter Lilienblum geschickte Schrift73 begeisterte diesen so, daß er, nachdem er mit einem Versuch, die Besiedlung Palästinas durch wohlhabende Juden zu organisieren, gescheitert war,74 sich bemühte, Pinsker zur Leitung einer zentralen Chibbat Zion-Gesellschaft zu bewegen. Diese Gesellschaft sollte tatkräftig die Kolonisation in Palästina vorantreiben.75 Doch Pinsker zögerte, da ihn das Desinteresse des Westens wie auch die Euphorie im Osten irritierten. Allerdings läßt sich aus einem Brief, wiederum an Isaak Rülfj herauslesen, daß sich Pinsker schon früh darüber im klaren war, eine entscheidende Rolle für die Chibbat Zion zu spielen, denn er schreibt im Oktober 1882: „Ich stehe noch ganz allein in der Presse." Und weiter: „In Ihnen habe ich einen Gönner und Verbündeten gefunden."76 Warum sollte ihn seine isolierte Position in der Presse beschäftigen, und wozu brauchte er Verbündete, wenn für ihn die Angelegenheit mit dem Erscheinen der „Autoemancipation" abgeschlossen gewesen wäre? Mit Unterstützung des Kiever Augenarztes Emmanuel Mandelstamm (1839-1912) und des in Heidelberg lehrenden Mathematikers Hermann Schapira (1840-1898),77 beide engagierte Chowewe Zion und zu Gesprächen mit Pinsker nach Odessa gereist, gelang es Lilienblum, Pinsker von der Notwendigkeit seiner persönlichen Führung und der Konzentrierung auf Palästina zu überzeugen. Die vier Zionsfreunde gründeten im September 1883 ein Zentralkomitee, das als Dachorganisation der Chibbat ZionVereine dienen sollte.78 Nach Mandelstamms und Schapiras Abreise grün-
71 Pinsker schreibt, daß er bereits aus Rumänien Bestellungen für seine Broschüre bekommen habe. Vgl. Pinsker an Rülf, 24.10.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 72 Vgl. hierzu die Sammlung der Briefe, die Pinsker in den 1880er Jahren während seiner Präsidentschaft der Chibbat Zion-Vereine schrieb und bekam. Vgl. Druyanow, Ι-ΙΠ. 73 Vgl. Vital, 1975, S. 139. 74 Ebenda, S. 141. Lilienblum beurteilte die Chancen einer Kolonisation im kleinen Rahmen als sehr gering. Es bedurfte seiner Meinung nach einer zentralen Leitung, um die Emigrantenströme erfolgversprechend steuern zu können. Über Lilienblum vgl. Avineri, 1981, S. 65-72. 75 76 77 78
Vgl. Artikel „Pinsker, Leon" in: EJ, 13:547. Pinsker an Rülf 18./25.10.1882, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . Vgl. Kap. ΧΠ, Abschnitt „Die frühen Gründungen „Zion" und „Ahawaß Zijon". Vgl. Josef Meisl, Aus der Vorgeschichte des Zionismus, in: Der Jude, VI. Jg., Berlin 1921/22, S. 450.
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dete Pinsker eine ständige Chibbat Zion-Vertretung in Odessa79 als ersten Schritt für einen Zusammenschluß der bisher autonom agierenden Gesellschaften. Solche Gesellschaften waren nicht nur in den jüdischen Zentren des Ansiedlungsrayons entstanden, zum Beispiel die in ihrer Bedeutung Odessa am nächsten kommende Gesellschaft in Warschau, sondern auch in Städten außerhalb des Rayons wie St. Petersburg und Moskau. Für Mitte 1884 sind 29 solcher Vereine in Rußland bekannt, wobei sich allein von 1883 bis 1884 17 neue Gesellschaften konstituierten.80 Alle diese Aktivitäten konnten jedoch nicht öffentlich stattfinden, sondern mußten mit der notwendigen Geheimhaltung durchgeführt werden, denn das Zarenregime sah die Gründung solcher Vereine als konspirativ und illegal an.81 Man mußte die neuen zionistischen Ansichten vor den Behörden verbergen, es bestand permanent die Gefahr der Zerschlagung der im Entstehen begriffenen Organisation, auch wenn es sich nicht um eine explizit antizaristische Bewegung handelte.
4. Die Kattowitzer Konferenz 1884 und ihre Folgen Die Gründüng der ersten Kolonien in Palästina82 und die stetige Zunahme der Chibbat Zion-Vereine machte es notwendig, eine Konferenz dieser Vereine abzuhalten, um die Aktivitäten auf dem Gebiet der Kolonisation zu koordinieren und zu kanalisieren. Zunächst konnte man sich nicht auf einen Tagungsort einigen, fest stand nur, daß er außerhalb Rußlands liegen 79 Vgl. Vital, 1975, S. 142f 80 Ebd., S. 155. 81 Vgl. Pinsker an Rülf, 2./14.9.1883, ZZA, Al/VI/1/24. Pinsker berichtet von der Vereinbarung zur „strengen Discretion" und „Anonymität" der Organisation, zum einen, um die Sache nicht von Innen heraus zu gefährden, zum anderen aber sicher auch aus Angst vor der Zerschlagung durch den Staat. 82 Die Kattowitzer Konferenz hat zwei Vor- und zwei Wirkungsgeschichten. Sie baut zum einen auf die Geschichte der Chibbat Zion in Osteuropa, zum anderen auf die Gründung der ersten Kolonien in Palästina auf Die Wirkungsgeschichte der Konferenz strahlt auf die Entwicklung der Kolonien in Palästina, aber auch auf die Entwicklung der Chibbat Zion-Vereine in Osteuropa und in Deutschland aus. Obwohl die Geschichte der Kolonien und die Entwicklung der Chibbat Zion-Vereine in Deutschland erst in späteren Teilen der Arbeit beleuchtet wird, habe ich mich entschieden, die Kattowitzer Konferenz, die eng mit Leon Pinsker verbunden ist, bereits an dieser Stelle aus chronologischen und hermeneutischen Gründen einzufügen.
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mußte. Vorgeschlagen wurden Kattowitz und Konstantinopel.83 Für Konstantinopel sprach die Möglichkeit, mit der türkischen Regierung sogleich in Kontakt über die Kolonisation treten zu können.84 Kattowitz, an der preußisch-russischen Grenze gelegen, schien aufgrund infrastruktureller und sicherheitstechnischer Überlegungen geeignet. Zudem war in Kattowitz bereits am 11.5.1882 ein „Verein zur Colonisierung der verfolgten russischen Israeliten" gegründet worden,85 die Chibbat Zion-Idee schien in dieser Stadt also schon früh Anhänger gefunden zu haben. Pinsker entschied letztlich für Kattowitz, wobei Gelber die Gründe für diese Entscheidung als „unbekannt"86 bezeichnet. Die Ausführungen zu Person und Werk Pinskers haben aber hinlänglich bewiesen, daß es ihm zuvorderst um die Gewinnung des westeuropäischen, und hier vor allem des deutschen Judentums ging. Unter dieser Voraussetzung machte es für Pinsker nur wenig Sinn, eine Konferenz mit dem Ziel, auch die westeuropäischen Juden vom Chibbat Zion-Gedanken zu begeistern, in Konstantinopel abzuhalten.87 Die Berichte, Artikel und Deutungsversuche über die vom 6.-10.11.1884 in Kattowitz stattgefundene Konferenz sind Legion. Der Streit über Bedeutung und Wirksamkeit ebenso. Interessant ist hierbei zunächst ein Blick auf die Sprache, in der auf der Konferenz verhandelt wurde. Es wurden zwei Protokolle angefertigt, Hebräisch und Deutsch, doch nach Teilneh83 Konstantinopel wurde von den Chowewe Zion aus Odessa vorgeschlagen. Pinsker war zunächst einverstanden. Vgl. Nathan Michael Gelber, Die Kattowitzer Konferenz, Wien 1919, S. VII-IX. Wer Kattowitz vorschlug, ist aus dem zur Verfugung stehenden Material nicht zu entscheiden. Während Gelber die „Warschauer Chowewe Zion mit S.P. Rabbinowitsch an der Spitze" benennt, Gelber, 1919, S. VIII, schreibt Israel Klausner in der EJ, der Vorschlag stamme von David Gordon, vgl. Artikel „Kattowitz Conference", in: EJ, 10:820. 84 Vgl. Gelber, 1919, S. VII-IX. 85 Gründungsflugblatt des Vereins, ZZA, A142/29. Zur Geschichte des Vereins vgl. Kap. XII. Die deutschen Kolonisationsvereine. 86 Gelber, 1919, S. IX. 87 Organisatorisch vorbereitet wurde die Konferenz von vier deutschen Juden aus der Gemeinde Kattowitz, die alle Mitglieder des Kolonisationsvereins waren und auch der dortigen 1883 gegründeten Bnei Brith-Loge angehörten. Es waren dies der Lehrer S. Freuthal sowie die Kaufleute M. Moses, S. Friedländer und A. Löbinger. Vgl. Georg Herlitz, 70 Jahre nach der Kattowitzer Konferenz, (1954, maschinenschriftliches Exemplar), ZZA, A198/20/4. Zur Organisation durch Bnei BrithMitglieder schreibt Herlitz weiter, der Orden Bnei Brith in Deutschland sei dann aber 1897 in München dafür verantwortlich gewesen, daß der Erste Zionistenkongreß nicht, wie von Herzl ursprünglich geplant, in München stattfinden konnte: „Ironie der Geschichte". Herlitz, wie oben zitiert.
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meraussagen „wurde meist in einem Gemisch von Deutsch und Jiddisch gesprochen",88 nicht in Russisch, aber auch nicht in Hebräisch. Eröffnet wurde die Versammlung von Leon Pinsker, der nach seiner Wahl durch die Teilnehmer89 zum Vorsitzenden der Konferenz eine programmatische Eröffnungsrede hielt, in der er die Rückführung der Juden zum Ackerbau zur Hauptaufgabe eines zu gründenden Verbandes postulierte. Palästina wurde als „unser altes Mütterchen", was allerdings stark an den Ausdruck „Mütterchen Rußland" erinnerte, bezeichnet, zu dem es gelte, zurückzukehren.90 Die Betonung der Selbstemanzipation vermißt man jedoch in dieser Rede ebenso wie den Wunsch nach Wiedererweckung des nationalen Geistes im jüdischen Volk, beides hatte Pinsker noch 1882 zum wichtigsten Ziel seiner Erneuerungsbewegung erklärt.91 Als Reverenz an Moses Montefiore erhielt der Verband den Namen „Montefiore-Verband zur Förderung des Ackerbaus unter den Juden, resp. zur Unterstützung der jüdischen Kolonien in Palästina". Es wurden Unterstützungsgelder für die Kolonisten in Petach Tikwa und Jessod Hamaala sowie eine Zuwendung für die Biluim92 genehmigt. Beschlossen wurde weiterhin die Entsendung eines Delegierten nach Konstantinopel, zu Verhandlungen mit dem Sultan, und nach Palästina, um den Zustand der Kolonien zu prüfen.93 Besonderes Interesse bei den Teilnehmern schien die 88 Hans Kohn, Die Kattowitzer Konferenz, in: Der Jude, V. Jg., Berlin 1920/21, S. 614. 89 Nach Kohn nahmen 36 Chowewe Zion an der Konferenz teil. In der Literatur wird häufig nur von 32 Teilnehmern gesprochen, z.B. in EJ, 10:820. Kohn erklärt die Zahl damit, daß sich unter den 36 Delegierten 4 Studenten befanden, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht ins Protokoll aufgenommen wurden, vgl. Kohn, 1920/21, S. 615. Die Zahl 36 findet sich auch in dem bei Gelber, 1919, abgedruckten Protokoll. 90 Vgl. Gelber, 1919, S. 6. Gelber druckt das deutsche Protokoll in seinem Buch ungekürzt ab. 91 Noch am 30.1.1884 hatte er an Rülf geschrieben: „Das größte Gewicht legte ich dort, und noch jetzt auf die Erweckung unseres nationalen Bewußtseins". ZZA, Al/VI/1/24. 92 Die Biluim waren eine Gruppe aus Rußland nach Palästina eingewanderter Studenten, denen ihr sozialistisches Denken in der jüdischen Welt viele Probleme bereitete. Zur detaillierten Darstellung der Biluim und ihrer Rolle in der Ersten Alija vgl. Kap VI, Abschnitt „Die Bilu-Gruppe". Auf die Auswirkungen der die Kolonien in Palästina betreffenden Beschlüsse wird in den Kapiteln, die sich direkt mit der Kolonisation befassen, näher eingegangen. 93 Dieser Delegierte sollte sich auch um die Eigentumsübertragung eines Grundstücks kümmern, das der Sohn Hirsch Kalischers, Louis Kalischer, der an der Konferenz teilnahm, dem Zentralkomitee gespendet hatte. Es handelte sich um das von Hirsch Kalischer 1874/75 gekaufte Stück Land in der Nähe von Bethlehem.
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Wahl des Zentralkomitees zu finden, denn hierfür weist das Protokoll die längste und kontroverseste Diskussion aus. Der Vorschlag, dieses Zentralkomitee in Berlin zu gründen, war ein weiteres Signal an die westeuropäischen Juden, sich im Sinne der Chibbat Zion zu engagieren.'4 Am Ende der Konferenz wurde dem Chibbat Zion-Verein in Warschau die Verantwortung für die Korrespondenz des Montefiore-Verbandes mit Palästina übertragen, allerdings mit der Auflage: „(...) in jeder wichtigen Frage (...) die Zustimmung Pinskers einzuholen".95 Wie ist die Konferenz im historischen Kontext zu beurteilen? Konnte man mehr erwarten als die Gründung eines Verbandes und eine erste Bereitstellung von Spendengeldern für die Kolonien? Die Aktivitäten der folgenden Monate zeigten zunächst, daß Pinsker sein größtes Ziel, die Chibbat Zion-Idee nach Westeuropa zu tragen, nicht erreicht hatte. Er selbst hatte dies bereits kurz nach dem Ende der Konferenz einsehen müssen und zeigte sich entsprechend pessimistisch hinsichtlich der weiteren Arbeit.96 Aber auch unter den osteuropäischen Chowewe Zion gab es keine Einigkeit. Karpel Lippe, einer der führenden Chowewe Zion aus Rumänien, äußerte sich nach der Konferenz sehr negativ über die polnischen und ausgesprochen zynisch über die russischen Zionsfreunde: „Die Warschauer Delegierten haben auf mich keinen angenehmen Eindruck gemacht. Ich traue ihnen nicht (...) Die Russen haben 19.000 Rubel, und damit wollen sie Kolonien gründen und rufen Kongresse zusammen."97 Unzweifelhaft bleibt, daß die Kattowitzer Konferenz der erste Schritt auf dem Weg zu einer internationalen Organisation für die Verbreitung der Chibbat ZionIdee und für die Förderung der Kolonisation Palästinas war. In diesem eher theoretisch-organisatorischen Anstoß, denn im Forcieren der praktischen Arbeit in und für Palästina liegt die eigentliche Leistung der Konferenz. Das Zentralkomitee nahm seine Arbeit auf, aber die westeuropäischen Juden sahen keine Notwendigkeit zur Mitarbeit in der Organisation, und die Last der Verantwortung, das gemeinsame Ziel aller Chowewe Zion zu erreichen, verblieb damit in Osteuropa. Doch um die geplanten Unterstützungen für die Kolonisten in eine regelmäßige Subventionierung überge-
94 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird darauf noch genauer eingegangen. An dieser Stelle sei nur soviel gesagt, daß die Pläne schließlich scheiterten. 95 Protokoll vom 10.11.1884, Gelber, 1919, S. 32. 96 Vgl. Pinsker an Rüli 16./28.11.1884, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 97 Lippe an Rüli 27.11.1884, A l / V I / 1 / 1 5 .
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hen zu lassen, fehlten dem Zentralkomitee schnell die finanziellen Mittel.98 Zu diesem Problem kamen die internen Differenzen und ständigen Richtungsstreitigkeiten, die den Verband in seiner Handlungsfähigkeit stark einschränkten. Diese Richtungsstreitigkeiten spalteten ihn schließlich in drei Parteien, in die rein nationale von Pinsker und Lilienblum, in die orthodoxe von Rabbiner Samuel Mohilewer sowie in die geistig-kulturelle Partei, die von dem Schriftsteller Ascher Ginzberg (1856-1927) alias „Achad Haam" (hebr. „einer aus dem Volk") gefuhrt wurde." Die Kattowitzer Konferenz erlebte zwei Nachfolgekonferenzen, 1887 und 1889, beide mehr angefüllt mit dogmatischen Disputen als mit praktischen Arbeitsvorschlägen. Auf der Konferenz 1889 in Wilna erklärte Pinsker seinen Rücktritt von der Leitung aus gesundheitlichen Gründen100 und zog ein persönliches Fazit seiner zionistischen Arbeit, an dessen Schluß er sich das Scheitern seiner Pläne eingestehen mußte. Der Verband hatte sich weder zu einer großen jüdischen Volksbewegung in Ost- und Westeuropa entwickelt noch war es ihm gelungen, zu einem finanzkräftigen Förderer der Kolonien aufzusteigen. 1890 gab es noch einmal Hoffnung. Die zaristische Regierung hatte eine aus dem Kreis der Chibbat Zion hervorgegangene „Gesellschaft zur Unterstützung jüdischer Ackerbauern und Handwerker in Palästina und Syrien" offiziell legalisiert. Im April 1890 fand die konstituierende Sitzung der Gesellschaft in Odessa statt, die als Vorsitzenden erneut Leon Pinsker wählte. Die Gesellschaft wurde fiirderhin unter dem Namen „Odessaer Komitee"101 (im weiteren O.K. abgekürzt) bekannt. Die begonnene Arbeit des Montefioreverbandes fand in diesem Komitee ihre Fortsetzung, doch eine wesentliche Intensivierung der Tätigkeit in Rußland selbst gelang nicht,102 da das O.K. auch das lähmende Erbe des Parteienzwists übernommen hatte. Das Komitee trat mit dem reichen Philanthropen Baron Moritz von Hirsch (1831-1896) und der AIU in Verhandlungen ein, um auf diese Weise großzügige Geldgeber fur die Kolonien zu gewinnen, doch scheiterte dies an den unerfüllbaren finanziellen Vorbedingungen des Barons, der
98 Vgl. Vital, 1975, S. 158. 99 Vgl. Böhm, 1935, S. 115. 100 Vgl. Vital, 1975, S. 174. Die Kur 1882 in Italien zeigt, daß Pinsker bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Aktivitäten im Sinne der Chibbat Zion nicht mehr bei voller Gesundheit gewesen ist. 101 Vgl. Artikel „Odessa Committee", in: EJ, 12:1328£ 102 Vgl. Laqueur, 1975, S. 98.
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sich dann der Kolonisation in Argentinien widmete.103 Die Vertreibung der Juden aus Moskau 1890 führte zu umfangreichen Aktivitäten des O.K. in Rußland und in Palästina, aber das Einwanderungsverbot fur russische Juden nach Palästina ließ die meisten Pläne scheitern.104 Erst mit dem Auftreten Herzls wurde das Komitee als einzige legale russische zionistische Organisation wieder aktiver und entwickelte sich zu einem Förderer der Landwirtschaft sowie der Bildung und Erziehung in Palästina. Pinsker starb 1891, bis zuletzt zweifelnd, ob Palästina für eine Masseneinwanderung geeignet sei oder ob ein anderes Territorium bessere Kolonisationsmöglichkeiten geboten hätte.105 Diese Zweifel wurden auch durch die Entwicklung der Kolonien in Palästina genährt, die nicht geeignet waren, Pinsker von Palästina zu überzeugen. Wo diese Probleme lagen und warum die Entwicklung einen für die Chowewe Zion so enttäuschenden Verlauf nahm, zeigen die folgenden zwei Kapitel.
103 Vgl. Abraham Robinsohn, Priester ohne Volk, in: Der Jude, I. Jg., Berlin/Wien 1916/17, S. 382. 104 Vgl. Artikel „Odessa Committee", in EJ, 12:1328. 105 Vgl. Böhm, 1935, S. 115.
VI. Die erste Kolonisationsphase
In den osteuropäischen Chibbat Zion-Vereinen hatten sich schon vor 1881 zwei Vorstellungen über den Sinn der Auswanderung nach Palästina entwickelt. Die eher den Maskilim zugehörigen Juden sprachen von einer notwendigen Reform des Judentums, die den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft ermöglichen werde, und dies könne nur in Palästina geschehen. Dagegen standen die Anhänger einer strikt religiösen Auslegung des Chibbat Zion-Gedankens, die vor allem die Vergrößerung des orthodoxen Jischuws in Palästina als Ziel sahen.1 Die Pogrome beendeten die theoretischen Auseinandersetzungen und zwangen die Chowewe Zion, ihre Ideale in die Tat umzusetzen.
1. Die Auswanderung nach Palästina Ab 1881 begann der jüdische Flüchtlingsstrom aus Osteuropa nicht mehr abzureißen, aber nur ein kleiner Teil der Emigranten wählte Palästina als Einwanderungsland; sie waren die Träger der Ersten Alija (1882-1903). Die Forschung spricht für diese Zeit von 20-30.000 einwandernden Juden nach Palästina,2 wobei die größten Immigrationschübe in den Jahren 1882-84 und 1890/91 zu verzeichnen sind. Die Juden kamen entweder allein oder als Mitglieder einer der 1881/82 in Osteuropa ins Leben gerufenen Siedlungsgesellschaften zunächst in die Stadt Jaffa, die auf einen solchen Ansturm in keiner Weise vorbereitet war und deren Infra- und Sozialstruktur innerhalb kürzester Zeit die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit überschritt.3 Von den Einwanderern blieben daher nur ca. 10.000 in Palästina, die anderen verließen Palästina wieder, häufig bereits nach sehr kurzer Zeit, aus Enttäuschung über die vorgefundenen Bedingungen. Von den 10.000 verbleibenden Immigranten entschieden sich bis 1904 5.500, in den Städten Palästinas zu leben. Dies ist bis 1882 der traditionelle
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Vgl. Luz, 1988, S. 58. Vgl. z.B. Sachar, 1985, S. 26 u. Bachi, 1974, S. 79. Vgl. Beikind, 1917, S. 29 u. Brief des „Rats der Pioniere" (Waad ha-Chaluzei Jesod ha-Maala) an Baron de Rothschild, 22.6.1882, ZZA, J41/21.
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Weg der Einwanderang gewesen.4 Auch die neuen Stadtbewohner gehören im weitesten Sinne zur Ersten Alija. Angesichts der Ideen- und Wirkungsgeschichte dieser 22 Jahre wird der Begriff aber gewöhnlich nur auf die 4.500 Juden bezogen, die sich in den ländlichen Kolonien ansiedelten, denn sie kamen mit Ideen nach Palästina, die explizit in den Chibbat ZionVereinen entwickelt wurden. Eine Gewichtung der unterschiedlichen Vorstellungen soll zunächst zurückgestellt und erst am Ende dieses Kapitels vorgenommen werden. Der Besiedlung des Landes lag die Idee zugrunde, daß die ländliche Kolonisation als einzige Rettung vor dem nie überwundenen Antijudaismus und dem immer gewalttätigeren Antisemitismus in Europa zu betrachten sei. Daher wollten die Einwanderer autarke Landwirtschaften gründen, in denen auf der Basis einer gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung das jüdische Leben neu organisiert werden sollte. Ein Beweis hierfür, ohne den weiteren Schilderungen vorgreifen zu wollen, war der Versuch, genossenschaftliche Systeme in den Kolonien aufzubauen.5 Keine Kolonisation läßt sich ohne finanzielle Mittel verwirklichen, und es stellt sich daher die Frage nach der Kapitalkraft der Einwanderer. Die Entstehungsgeschichten der Kolonien zeigen, daß ein Teil der Einwanderer mit eigenem Startkapital nach Palästina gekommen war,6 unabhängig davon, ob sie privat oder als Gruppe kamen. Explizit wird dies vor allem fur rumänische Einwanderer aus Galatz genannt, denen aufgrund ihres Vermögens und den daraus resultierenden Steuereinbußen fiir den rumänischen Staat erhebliche Schwierigkeiten bei der Ausreise aus Rumänien gemacht wurden.7 Der Hauptanteil der Einwanderer während der Ersten Alija bestand allerdings aus nicht vermögenden Juden, die sich, wie die Quellen darlegen, in Palästina kaum eine erträgliche Existenz sichern konn-
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Auch der Alte Jischuw wuchs zwischen 1882 und 1904 um ca. 15.000 Menschen an, wozu eine natürliche Bevölkerungszunahme sowie Einwanderungen auch aus Asien und Afrika beitrugen. Ende des 19. Jahrhunderts lebten 50.000 Juden in Palästina. Vgl. Arthur Ruppin, Die Juden der Gegenwart, Berlin 19183, S. 283. Dies geschah in den Kolonien Rischon le-Zion und Rosch Pina. Vgl. Avraham Yaari, The goodly Heritage. Memoirs describing the life of the Jewish community of Eretz Yisrael from the seventeenth to the twentieth century, Jerusalem 1958, S. 115 u. 151. Vgl. hierzu auch Gvati, 1985, S. 15f Vgl. „Monatsbericht des Vereins Bnei Brith", Kattowitz, 1.9.1882, S. 4 u. „Spendenverzeichnis", Nr. 46, 17.9.1882, S. 4.
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ten.8 Da auch die Chibbat Zion-Vereine nicht über unbeschränkte Geldmittel verfugten, war damit schon der Keim gelegt für die sich in kürzester Zeit zu einem existenzbedrohenden Faktor entwickelnde Finanzfrage. Die Realisierung der hehren Kolonisationspläne stellte die Einwanderer aber noch vor andere unerwartete Probleme. Die Türken registrierten die steigenden Aktivitäten der Juden in Palästina mit Mißfallen. Das osmanische Vielvölkerreich hatte zu diesem Zeitpunkt mit einigen Souveränitätsbestrebungen nationaler Minderheiten zu kämpfen, und ein weiteres Problem dieser Art, das ihrer Meinung nach bei einer fortschreitenden Einwanderung der Juden nach Palästina zwangsläufig entstehen würde, wollten die Verantwortlichen auf jeden Fall vermeiden. Schon seit November 1881 existierte daher ein Einwanderungsverbot für Juden nach Palästina,9 doch erlitt der Zustrom jüdischer Einwanderer durch das Verbot „keine merkliche Unterbrechung".10 Die geringe Wirksamkeit der Bestimmung hatte verschiedene Gründe. Zunächst beachteten die türkischen Behörden in Haifa und Jaffa das Gesetz nur zeitweise.11 Abgewiesene Juden reisten oft weiter nach Beirut oder Port Said und kamen über den Landweg nach Palästina.12 Zudem erwiesen sich die türkischen Behörden als äußerst empfanglich für Bestechungsgel-
8 Vgl. Conrad Schick, Der gegenwärtige Stand der Colonisationsversuche in Palästina, in: „Österreichische Monatsschrift", Februar 1883, S. 26. Schick lebte seit 1848 als Baurat in Jerusalem und kann als intimer Kenner Palästinas gelten. Uber Conrad Schick vgl. August Strobel, Conrad Schick - Ein Leben für Jerusalem, Fürth 1988. Über die Armut der Einwanderer zu Beginn der 1880er Jahre schreibt auch ein Dr. Schwarz 1902 in einem „Offenen Brief aus Konstantinopel: „Schon bei ihrer Ankunft in Constantinopel konnten sie sich nicht einmal ein Brod kaufen und so sah man im Handumdrehen Hunderte von bleichen, ausgehungerten und in Lumpen gehüllte Menschen, die ihr Nachtquartier mit den Strassenhunden theilten." Schwarz, 1902, S. 3f, ZZA, Kll/186/3. Die in der Literatur häufig zu findende Vorstellung über die Einwanderer, die von Beginn an völlig mittellos gewesen seien, erklärt sich durch den fast totalen Kapitalverlust der vermögenden Siedler innerhalb weniger Monate. Vgl. Achad Haam, Nicht dies ist der Weg - Zweiter Aufsatz, 13.5.1889, in: ders., Am Scheideweg - Gesammelte Aufsätze, Erster Band, Berlin 1923, S. 58. 9 Vgl. Mandel, 1976, S. 2-5. 10 „Orientpost" vom 8.8.1882, abgedruckt in: Alex Carmel, Palästina-Chronik 18531882, Ulm 1978, S. 363. Das Buch enthält Presseartikel dieser Zeit aus verschiedenen Publikationen Palästina betreffend. 11 Vgl. Mandel, 1976, S. 18. 12 Vgl. Yaari, 1958, S. 149f
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der.13 Manchmal konnten die zurückgewiesenen Juden gegen entsprechende Bezahlung zumindest als Pilger einreisen, was einen kurzen Aufenthalt im Land implizierte und von den Behörden gestattet war.14 Nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis wandten sie sich dann entweder an ihre Konsulate oder versuchten, wieder über Bestechung, eine Ausweisung zu umgehen.15 Auch der Versuch, über das Bodenerwerbsverbot und die Genehmigungspflicht beim Häuserbau die jüdische Einwanderung zu verhindern oder zumindest eine schnelle Abreise der Juden zu erreichen,16 erwies sich als untauglich. In diesem Bereich war es vor allem die Möglichkeit, Boden auf den Namen eines angesehenen, im Osmanischen Reich lebenden europäischen Juden oder auf den Namen eines Juden mit türkischer Staatsbügerschaft registrieren zu lassen.17 Für die Landkäufe, die Koloniegründungen und die ersten Jahre der Siedlungen läßt sich anhand der Quellen ein Schema herausarbeiten, an dem die Probleme und die fast unvermeidlich zur ökonomischen Katastrophe fuhrenden internen und externen Bedingungen der Kolonisation deutlich werden.18 Beim Landkauf, der zum Teil durch Privatpersonen oder auch Beauftragte der Siedlungsgesellschaften erfolgte, konnten die
13 Vgl. Bambus, 1896, S. 17; Ben-Sasson, 1980, S. 241; Mandel, 1976, S. 19 u. Chissin, 1976, S. 56, T b v. 9.8.1882. 14 Vgl. Yaari, 1958, S. 157£ 15 Die Methode, sich an die Konsulate zu wenden, war nur erfolgreich fur Juden, die nicht aus Rußland kamen. Die europäischen Mächte hatten, ausgenommen Rußland in den 1880er Jahren, das Einwanderungsverbot nicht anerkannt. Hilfe war den Juden von dieser Seite fast sicher. Vgl. Mandel, 1976, S. 19. 16 Vgl. Friedman, 1977, S. 39f. 17 Vgl. Mandel, 1976, S. 19. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Türkei 1882 ein Niederlassungsgesetz publizierte, in dem die Rechtsverhältnisse aus fremden Ländern stammender Kolonisten in der asiatischen Türkei geregelt wurden. Die wichtigsten Punkte waren der Zwang zur Annahme der osmanischen Staatsbürgerschaft, die völlige Religionsfreiheit, die unentgeltliche Ubergabe von Regierungsland an die Kolonisten und die zwöl§ährige Befreiung von allen Steuern. Schachtel schreibt dazu, daß dieses Gesetz zunächst in den Provinzen Adana, Aleppo und Mesopotamien Anwendung finden sollte. Die zionistischen Kolonisationsvereine hätten aber aus verschiedenen Gründen von einer Besiedlung dieser Provinzen abgeraten. Vgl. Hugo Schachtel, Das Niederlassungsgesetz in der asiatischen Türkei, in: „Altneuland", Berlin 1906, S. 3 3 3 - 3 3 5 . 18 Vgl. an gedrucktem Quellenmaterial und Literatur v.a. Ran Aaronsohn, Ha-Baron we-ha-Moshawot, Jerusalem 1990; Yossi Ben-Artzi, Early Jewish Settlement Pattems in Palestine, 1882-1914, Jerusalem 1997; Eliav 1973 u. 1981; Gvati, 1985; Yaari, 1958 u. die im Anhang der vorliegenden Arbeit abgedruckte „Statistik der 1898 existierenden Kolonien".
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Einwanderer nicht sehr wählerisch sein und mußten fast immer mit qualitativ minderwertigem Boden vorlieb nehmen, da zum einen finanzielle Mittel nicht in unbeschränkter Menge zur Verfügung standen und im Zuge des Landkaufs sowie der Einrichtung der Kolonie sehr rasch aufgebraucht waren. Zum anderen erwies sich als größtes Hindernis für den Kauf landwirtschaftlich geeigneten Bodens und den Aufbau einer Agrarwirtschaft, daß die Einwanderer über keinerlei landwirtschaftliche Erfahrungen verfügten, sie konnten also weder die Qualität des Bodens beurteilen noch für welchen Anbau er geeignet war noch hatten sie überhaupt eine Vorstellung von erfolgversprechend anzubauenden landwirtschaftlichen Prodiakten in Palästina. Auch das Klima machte den meisten Einwanderern schwer zu schaffen, vor allem in Verbindung mit ihnen unbekannten Krankheiten, unter denen die lebensgefahrliche epidemische Malaria den größten Schrecken verbreitete. Entgegen den Vorstellungen einer jüdischen Kultursuperiorität, eingeführt durch die Kolonisten, unter der die arabische Kultur aufblühen würde, wollten sich die Fellachen und die Stadtbewohner den Neuankömmlingen nicht unterordnen, wobei es während der Ersten Alija weniger um die grundsätzliche Frage nach dem Besitzer des Landes ging, als vielmehr um ganz praktische Auswirkungen der Kolonisation. Vorurteile und Mißverständnisse auf beiden Seiten sowie eine von den Einwanderern aus Europa importierte Ignoranz der arabischen Kultur gegenüber" führten häufig zu Schwierigkeiten, die alle Bereiche des täglichen Lebens betrafen, von der gemeinsamen Nutzung einer Wasserstelle, über den Kauf und Verkauf landwirtschaftlicher Produkte, bis hin zur Bewachung der Kolonien, die in den Anfangsjahren von arabischen Wächtern durchgeführt wurde.20
2. Die B i l u - G r u p p e Eine Ausnahme in dem Einwandererschema bildeten die Mitglieder der Bilu-Gruppe. Zur Erklärung bedarf es eines Blickes auf die Geschichte der Bilu-Bewegung. Die Ereignisse des Jahres 1881 führten auch in der jüdischen Schüler- und Studentenschaft Rußlands zu heftigen Diskussionen. Die Studenten, ebenso wie andere Gruppen um Akkulturation bemüht,
19 Zu diesem Komplex sei auf die Forschungen zum „Orientalismus" hingewiesen. Stellvertretend erwähnt sei die Studie von Edward Said, Orientalism, London 1978. 20 Vgl. hierzu Eliyahu Golomb, The History ofjewish Defence, Tel Aviv (1946).
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hatten sich nicht als russische Bürger mosaischen Glaubens, sondern als Russen betrachtet.21 Doch das Schreckensjahr 1881 ließ viele an ihren früheren Idealen zweifeln. Man fühlte sich zurückgeworfen auf ein Judentum, von dem man sich bereits stark entfremdet hatte. Emigration wurde ein Lösungsversuch. Einige schlossen sich der Am Olam-Bewegung an,22 anderen erschien die Auswanderung nach Amerika nur als Wechsel von einer Diaspora in die nächste. Sie suchten eine Synthese zwischen der Rettung des bedrohten osteuropäischen Judentums und dem Wunsch nach wirtschaftlicher und existentieller Sicherheit. Der Grundstein, diesen Gedanken Form und Organisation zu geben, wurde in Charkov gelegt. In der 500 km östlich von Kiew außerhalb des Ansiedlungsrayons gelegenen Stadt waren Juden aufgrund ihrer Bedeutung für den Handel zugelassen. Es war ihnen auch erlaubt, die Universität zu besuchen.23 Am 21. Januar 1882 traf sich bei Israel Beikind (1861-1929) eine Gruppe von 30 Charkover Studenten, die die für den nationalen Erneuerungsprozeß entscheidende Frage diskutierten, ob die Juden ein Volk oder nur eine Glaubensgemeinschaft seien.24 Die national-jüdisch eingestellten Studenten mit dem Ziel der Auswanderung nach Palästina gründeten unter Beikinds Führung zunächst die Gruppe „Dabiu" (hebr. Akronym für „Sprich zu den Kindern Israels, daß sie vorwärts gehen sollen", Ex 14:15), aus der dann die Vereinigung „Bilu" (hebr. Akronym fur „Komm Haus Jakob, laß uns gehen", Jes 2:5) hervorging. Von den wohlhabenderen russischen Juden erwartete die Gruppe, die zu Anfang 14 Personen umfaßte,25 keine Unterstützung. Um ihre Vorstellungen aber bei der jüdischen Bevölkerung zu verbreiten, griffen die Biluim eine Idee der russischen „Narodniki" aus den 1870er Jahren auf, bei der russische Studenten zur Propagierung revolutionärer Ideen auf das Land
21 Hierzu z.B. Chissin und Meerowitz, die ganz explizit diesen russischen Nationalismus betonen. Vgl. Chissin, 1976, S. 33, Tb v. 2.3.1882 u. Menasche Meerowitz, Souvenirs du „Dernier des Premiers", Rischon le Zion 1914 (maschinenschriftl.), ZZA, A32/26. Für Meerowitz (1860-1949, gehörte zu den ersten Biluim in Palästina) finden sich auch die Schreibweisen Meerowitch, Meierowitch, Meirovitz u. Merowitz. 22 Vgl. Kap. V, S. 87 und Frankel, 1981, S. 94f 23 Vgl. Simchah Ben Zion, Die Bilu auf dem Weg, Jerusalem 1935, S. 16. Ben Zion hat die Geschichte der Bilu in zwei Bänden beschrieben, deren deutsche Übersetzungen 1935 erschienen. Zur Unterscheidung werden die Bände mit römischen Zahlen gekennzeichnet. 24 Vgl. Beikind, 1917, S. 130 u. Ben Zion, 1935/1, S. 17. 25 Vgl. Ben Zion, 1935/1, S. 28.
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„ins Volk" gegangen waren.26 Im Frühjahr 1882 zogen daher die Biluim durch die russisch-jüdischen Gemeinden und gewannen innerhalb eines Monats ca. 500 neue Mitglieder.27 Eine der vielen neuen Gruppen wurde in Moskau unter der Leitung der späteren zionistischen Führer Jechiel Tschlenow (1863-1918) und Abraham Menachem Ussischkin (18631941) gegründet.28 Dieser Gruppe schloß sich auch Chaim Chissin an. In Petersburg fand der Student Seev Tiomkin zu einer Bilu-Gruppe,29 er sollte in den 1890er Jahren eine bedeutende Rolle für die Kolonisation in Palästina spielen. Die Biluim verlegten ihre Zentrale zunächst von Charkov nach Odessa.30 Im Juni reisten schließlich 17 Biluim nach Konstantinopel,31 da sie direkte Verhandlungen mit den türkischen Behörden anstrebten,32 was allerdings scheiterte. Während der Zeit in Konstantinopel erweiterten die Biluim ihre Vorstellungen von jüdischer Landwirtschaft; und neuer jüdischer Staatlichkeit. Das Ziel aller Bemühungen wurde nun die Erlangung der politischen Unabhängigkeit in Palästina. Und dieses politische Ansinnen legten sie in einem Manifest nieder. In diesem beschrieben sie die Sinnlosigkeit der Akkulturationsbemühungen im Exil und nannten als Lösung der jüdischen Probleme simplifizierend die erneute Staatsbildung in dem ihnen von Gott gegebenen Erez Israel.33 Die Grundlage für einen sol26 Vgl. Goehrke 1973, S. 231 u. Kap. II, Abschnitt „Chowewe Zion und Narodniki Gemeinsamkeiten und Unterschiede". 27 Vgl. Ben Zion, 1935/1, S. 29f. Es ist nicht ganz klar, wie die Zahl 500 in die Literatur gekommen ist. Explizit nennt diese nur Chissin („525"), Meerowitz nennt „wenige hundert", schreibt aber, daß man sich in Konstantinopel um Genehmigungen für 500 Studenten bemühte, die als Landwirte in Palästina leben wollten. Beikind führt hingegen aus, daß er von 500 Mitgliedern ausgehe, die benötigt würden, um die Gruppe handlungsfähig zu machen. Vgl. Chissin, 1976, S. 33, Tb v. 25.4.1882; Menasche Meerowitz, Ich war ein Bilu, in: „Die Stimme", Wien 12.12.1937, S. 5. (im weiteren als „Meerowitz, 1937" zitiert) u. Beikind, 1917, S. 145. 28 Vgl. Chissin, 1975, S. 33, Tb v. 25.4.1882. Die Gruppe umfaßte 25 Mitglieder 29 Vgl. Beikind, 1917, S. 144. 30 Vgl. Joseph Salomon, Tnuat ha-Biluim, in: Eliav, 1981, Vol. I, S. 121. 31 Vgl. Salomon, 1981, S. 122. 32 Vgl. Meerowitz, 1937 u. Ben Zion, 1935/1, S. 31. Ansprechpartner war der türkische Kriegsminister Osman Nun Pascha (1837F-1900), der 1878 nach dem Ende des russisch-türkischen Krieges einige Zeit in Charkov interniert war, mit der Freiheit, die dortige Universität besuchen zu dürfen. Die Biluim bekamen die erhoffte Audienz, doch machte der Minister in bezug auf Siedlungskonzessionen keine bindenden Zusagen.Vgl. Ben Zion, 1935/1, S. 33f u. Chissin, 1976, Biographical Glossary, S. 278£ 33 Vgl. Sokolow, 1969, Appendices S. 332£ Diese erste Satzung wurde in deutscher Sprache verfaßt. Vgl. Luz, 1988, S. 70.
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chen Staat sollte eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit sein,34 die auf landwirtschaftlichen Kolonien und in Kollektivbesitz stehenden Musterfarmen basiert.35 Das Manifest der Biluim befaßte sich aber nur mit den politischen Ambitionen, die geplante agrikulturelle Basis wurde nicht explizit genannt, und auch in religiösen Fragen erklärten sie sich neutral.36 Doch betrachteten sie ihre Religion nicht als antiquierte Erscheinung, sondern glaubten an eine große Zukunft des Judentums, in der es noch historische Ziele zu erreichen gelte.37 Da die Biluim ihre Mission in Konstantinopel für gescheitert hielten, sahen sie nur noch in der Emigration nach Palästina eine sinnvolle Fortsetzung ihrer Arbeit. So erreichten am 6.7.1882 zunächst 14 Biluim38 und am 21.8. noch einmal sieben Biluim Jaffa. Der Weg der Bilu-Gruppe führte sie über Mikweh Israel nach Rischon le-Zion, wo sich die Gruppe wegen interner Meinungsverschiedenheiten trennte. Die Mitglieder, die sich den Bilu-Idealen weiter verpflichtet fühlten, konnten schließlich im Dezember 1884 eine eigene Kolonie gründen, was jedoch nur durch die massive Hilfe von Jechiel Michael Pines (18431913) möglich war. In Rußland geboren als Sohn einer begüterten Kaufmanns- und Rabbinerfamilie, hatte Pines eine traditionelle jüdische Ausbildung erhalten, sich selbst aber auch mit säkularen Wissenschaften beschäftigt. Überzeugt von der Notwendigkeit einer Reform des jüdischen Lebens unter Beibehaltung der traditionellen Werte, wurde er ein früher Verfechter des religiösen Zionismus. 1878 siedelte Pines im Auftrag des „Montefiore Testimonial Fund London" nach Jerusalem über, um hier verschiedene Untersuchungen zu kulturellen und ökonomischen Problemen der jüdischen Bevölkerung in Palästina durchzufuhren sowie Projekte industrieller und handwerklicher Art anzuregen und zu fördern. Im Rahmen seiner kulturellen Aktivitäten gründete Pines zusammen mit Elieser BenJehuda (1857-1922), dem Erneuerer der hebräischen Sprache, eine Gesellschaft zur Verbreitung der hebräischen Sprache.39
34 35 36 37 38
Vgl. Ben Zion, 1935/1, S. 36. Für die Musterferm vgl. Chissin, 1976, S. 34, Tb v. 25.4.1882 u. Beikind, 1917, S. 133. Zur Neutralität in religiösen Fragen vgl. Luz, 1988, S. 70. Vgl. Chissin, 1976, S. 33, Tb v. 2.3.1882. Vgl. Beikind, 1917, S. 149; Otto Eberhard, Fünfiinddreißig Jahre Bilu, in: „Volk und Land", 1919, 1. Jg., Sp. 323; Meerowitz, 1937; Ben Zion, 1935/1, S. 36; Artikel „Bilu", in: EJ, 4:1000 u. Salomon 1981, S. 122. 39 Zu Pines' Arbeit für den „Montefiore Testimonial Fund London" vgl. Ben-Arieh, 1986, S. 154, 392, 400, 402£ Zur Biographie vgl. Artikel „Pines, Yehiel Michael", in: EJ, 13:535f.
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Pines lernte die Bilu-Gruppe 1883 kennen und zeigte sich von ihren Idealen und ihrer Beharrlichkeit beeindruckt. Seine Versuche, die Chibbat Zion-Vereine in Rußland zur Unterstützung der Gruppe zu bewegen, scheiterten zunächst. Trotzdem wählten die Biluim Pines zu ihrem Leiter. Im Frühjahr 1884 kaufte Pines Land in der Shefelaebene, und im Dezember 1884 begann die Besiedlung der Kolonie, die von den verbliebenen neun Biluim „Gedera" (hebr.: „umzäuntes Gelände", Hosea 2,8) genannt wurde. Pines teilte das Land in 25 Parzellen und schickte einen Emissär nach Rußland, um das Land einzelnen Personen der Organisationen zum Kauf anzubieten. Die Käufer stellten das Land dann den Biluim zur Verfugung, die ihre Schuld auf Ratenbasis abtragen sollten. Bis zur Jahrhundertwende konnte die Kolonie auf wirtschaftlichem Gebiet knapp an der Existenzgrenze arbeiten, und nur die Zuschüsse aus Paris sowie vom Montefiore-Verband bewahrten die Kolonie vor dem schnellen Ruin. Neben den wirtschaftlichen Problemen hatten die Biluim vor allem Differenzen mit der orthodoxen Rabbinerschaft in Jerusalem, die die als indifferente Atheisten abgestempelten Siedler zutiefst ablehnten und immer wieder verbal angriffen. Einzig die Persönlichkeit Pines und sein Einfluß in Jerusalem schützten die Biluim vor existenzgefahrdenden Maßnahmen der Rabbiner. Die Gründung Gederas hatte keinen Modellcharakter fur Palästina. Um das in den anderen Kolonien zu beobachtende Muster detailliert herauszuarbeiten, was zum Verständnis der Ersten Alija unerläßlich ist, wird im Folgenden die Kolonie Rischon le-Zion vorgestellt, die aufgrund ihrer Geschichte als beispielhaft gelten kann.
3. Die Gründung von Rischon le-Zion In Rußland wurden, ähnlich wie in Rumänien, Komitees zur Besiedlung Palästinas gegründet und von diesen Emissäre beauftragt, in Palästina Land zu kaufen.40 Einer der ersten Abgesandten, der Bankangestellte Salman David Levontin (1856-1940), kam im Februar 1882 nach Jaffa.41 Als Sohn einer chassidischen Familie, aber auch in säkularen Fächern unterrichtet, hatte er sich schon früh für die Ideen der Chibbat Zion begeistert. Unter dem Eindruck der Pogrome 1881 wurden von ihm Siedlungsgesell40 Im Gegensatz zu den rumänischen Komitees gelang es den russischen Chowewe Zion aber nicht vor 1884, sich einen Zentralverband zu schaffen. 41 Vgl. Chissin, 1976, S. 92, Tb v. 25.11.1882.
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Schäften in Charkov, dort traf er auch die Charkover Biluim, und Krementschug gegründet, in deren Auftrag er als Landkäufer schließlich nach Palästina reiste.42 Der Ruf eines wohlbegüterten Landkäufers war Levontin vorausgeeilt, seine Ankunft wurde daher in Jaffa ungeduldig erwartet.43 Levontin erkannte schnell die Probleme der Einwanderer. Der Landessprache und der Gepflogenheiten in Palästina unkundig, benötigten sie, wie auch die Emissäre aus Osteuropa, tatkräftige Hilfe in allen rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Fragen. Die Sorgen und Wünsche des Alten Jischuws interessierten Levontin hingegen nur wenig, auf sie blickte er geringschätzig herab.44 Am 18.3.1882 gründete Levontin den Rat der Pioniere „Waad Chaluzei Jesod ha-Maala".45 Ehrenpräsident wurde Chaim Amzalak (1824-1916), der sich als britischer Vizekonsul schon seit Beginn der Ersten Alija in höchstmöglichem Maße fur die einwandernden Juden engagierte und ihnen aufgrund seiner Reputation bei den türkischen Behörden von großem Nutzen war.46 Trotz der Arbeit des Waad spitzte sich die Lage der Emigranten in Jaffa im Frühsommer 1882 derart zu, daß sich der Rat am 7.6. mit einem Telegramm an Baron de Rothschild wandte, um Hilfe fur die hungernden und obdachlosen Einwanderer zu erbitten. Dieselbe Bitte wiederholte der Rat in einem Brief an „Baron de Rothschild zu Wien" vom 22.6.1882.47 Doch die Versuche, Geldspenden aus Europa zu erhalten, blieben zunächst ebenso erfolglos wie die Bemühungen, Land in Palästina zu kaufen.48 Bei einem Treffen während dieser Zeit mit dem Führer der Templerbewegung, Christoph Hoffmann, überzeugten Levontin dessen Erfolge davon, daß auch die Juden durch Idealismus zum kolonisatorischen Erfolg
42 Zu den biographischen Angaben vgl. Artikel „Levontin, Zalman David", in: EJ, 11:153£ 43 Vgl. Chissin, 1976, S. 92, Tb. v. 25.11.1882. 44 Vgl. Mark Wischnitzer, To dwell in Safety, Philadelphia 1948, S. 57 u. Chissin, 1976, S. 92-94, Tb v. 25.11.1882. 45 Datum nach Eliav, 1981, Vol II, Dok. 7, S. 24. Über die Arbeit des „Waad" vgl. Beikind, 1917, S. 34£ 46 Amzalak wurde in Gibraltar geboren und kam mit seinen Eltern 1830 nach Jerusalem. Er war im Getreidehandel und im Bankgeschäft tätig, übersiedelte nach Jaffa und wurde britischer Vizekonsul dieser Stadt. Vgl. Artikel „Amzalak, Hayyim", in: EJ, 2:915 u. Beikind, 1917, S. 27. 47 Es ist mit dem vorhandenen Material nicht zu klären, ob sich das Gesuch an den Wiener Rothschild richtete oder schon an Edmond de Rothschild. Vgl. Waad haChaluzei Jesod ha-Maala an Baron de Rothschild zu Wien, 22.6.1882, J41/21. 48 Vgl. Beikind, 1917, S. 27.
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kommen könnten.4' Unterstützung bei seiner Arbeit für die Einwanderer und Landkäufer bekam er vor allem von dem im Frühjahr 1882 aus Rußland nach Palästina gekommenen Josef Feinberg (1855-1902), der sich ihm angeschlossen hatte.50 Levontin gelang es, seinen ebenfalls nach Palästina gekommenen Onkel Zvi Levontin (1832-1897) und Feinberg zu bewegen, ihre finanziellen Mittel ihm zur Verfugung zu stellen.51 Im Sommer kaufte Levontin 334 ha Land 12,5 km südöstlich von Jaffa,52 nachdem ein Agent eines Jerusalemer Bankhauses ihn auf dieses Grundstück aufmerksam gemacht hatte. Um mögliche Probleme mit den türkischen Behörden bei der Registrierung des Bodens zu umgehen, wurde das Land zunächst auf Chaim Amzalak registriert, der es dann Zvi Levontin überschrieb.53 34 ha übergab Zvi Levontin an sechs mittellose Familien, damit sie sich in der Kolonie niederlassen konnten.54 Die verbliebenen 300 ha teilte er je zur Hälfte unter sich und seinen Teilhabern auf55 Am 31.7.1882 ließen sich 17 Familien56 auf dem Gelände nieder und nannten es „Rischon le-Zion" (hebr.: „Erster in Zion", Jesaia 41:27).
49 Vgl. Carmel, 1973, S. 263. Carmel berichtet in diesem Zusammenhang von einigen Chibbat Zion-Führern, die in der Templerkolonie bei Hofimann zu Gast waren. Doch entwickelte sich zwischen den Chowewe Zion-Anhängern und den Templervorstehern keine „warme Beziehung". Carmel, 1973, S. 264. Wie in Kapitel IV beschrieben, ist dies wohl auf die schon früh geäußerte Befürchtung der Templer zurückzufuhren, die Juden würden eine große wirtschaftliche Konkurrenz darstellen. Hinzu kam auch, daß die einwandernden Juden die Idee der Templer, die diese schon ab den 1850er Jahren explizit äußerten, bedrohten, das heilige Land zu erlösen. Vgl. Carmel, 1973, S. 260. 50 Zur Biographie Feinbergs, der von Beruf Chemiker war und einer begüterten Familie entstammte, sowie dessen Rolle in Palästina vgl. Kap. IX, Abschnitt Josef Feinberg". 51 Vgl. Chissin, 1976, Biographical Glossary, „Feinberg, Joseph", S. 274 u. S. 98, Tb v. 25.11.1882. 52 Vgl. Avneri, 1982, S. 83. 53 Vgl. Chissin, 1976, S. 99, Tb v. 25.11.1882. 54 Vgl. Beikind, 1917, S. 38. 55 Vgl. Chissin, 1976, S. 99, Tb v. 25.11.1882. 56 Vgl. Eliav, 1981, Vol. II, Doc. 14, S. 33£ siehe hierzu auch Doc 16, S. 35-38 (Statuten der Siedlung), dieses Dokument wurde von 17 Personen unterzeichnet. Gvati spricht von 16 Familien, denen sich sechs mittellose Familien angeschlossen hätten. Vgl. Gvati, 1985, S. 12. Die Zahl 22 bestätigt Josef Feinberg in einem Expose über Rischon le-Zion an das Zentralkomitee der AIU, anläßlich seines Aufenthaltes in Paris im Oktober 1882. Vgl. Feinberg an AIU, ZZA, J41/21. Beikind spricht von 17 Kolonisten, zusätzlich den sechs „armen Familien", vgl. Beikind, 1917, S. 38.
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S.D. Levontin wollte von Beginn an Unstimmigkeiten unter den Siedlern aufgrund unterschiedlicher finanzieller Voraussetzungen vermeiden und organisierte daher alle anfallenden Arbeiten auf kollektiver Basis. Der Boden wurde gemeinsam bearbeitet, und die Landbesitzer zahlten einen der Größe ihres Landes entsprechenden Beitrag in eine Gemeinschaftskasse, aus der dann alle Arbeiter den gleichen Tageslohn erhielten.57 Die lebensnotwendige Versorgung der Siedlung mit Wasser erwies sich als sehr großes Problem. Erste Versuche, einen Brunnen zu graben, waren fehlgeschlagen, und das Wasser mußte von einer außerhalb der Kolonie liegenden Quelle herbeigeschafft werden.58 Es wurden daher weitere Versuche unternommen, einen Brunnen an anderer Stelle zu graben. Aufgrund des fehlenden Wassers hatten die Siedler es zunächst nicht gewagt, mit dem Häuserbau zu beginnen. Sie lebten in Zelten in Rischon le-Zion oder weiter in Jaffa. Erst das Beispiel Juda Leib Chankins, der ungeachtet dieser Probleme ein Haus baute, gab den Impuls für die anderen Siedler, ebenfalls damit zu beginnen.59 Zwar hatten sie keine offizielle Genehmigung von Seiten der türkischen Behörden, doch schien es klar zu sein, daß einer Siedlung, deren Boden auf den Namen Amzalaks registriert war, keine Schwierigkeiten gemacht würden.60 Als ökonomische Basis planten die Siedler den Getreideanbau. Da sich unter ihnen aber niemand mit landwirtschaftlicher Erfahrung befand, erkannten sie nicht, daß sich der Sandboden61 der Kolonie nicht für den Getreideanbau eignete.62 Der Häuserbau, das Herrichten der Ackerböden und die Brunnenbohrungen forderten weit größere finanzielle Mittel als Levontin im Rahmen seiner Genossenschaft vorgesehen hatte. Die reicheren Siedler waren daher bald nicht mehr bereit, die ärmeren durch ihre Gelder zu unterstüt-
57 Vgl. Eliav, 1981, Vol. II, Doc. 16, S. 35-38, „Sefer ha-Takanot le-Moschawa" (Statuten der Siedlung) u. Beikind, 1917, S. 38. 58 Chissin spricht von einer einen halben Kilometer entfernten Quelle, vgl. Chissin, 1976, S. 101, Tb v. 18.12.1882. Yaari zitiert Levontin, der eine Quelle in halbstündiger Entfernung nennt, vgl. Yaari, 1958, S. 114. Beikind schreibt, die Quelle habe sich in Mikweh Israel befunden, vgl. Beikind, 1917, S. 41. 59 Vgl. Chissin, 1976, S. 106, Tb v. 18.12.1882 u. Beikind, 1917, S. 46. 60 Vgl. Yaari, 1958, S. 114. Es stellt sich dann jedoch die Frage, wann Amzalak den Boden Levontin überschrieben hat, zum Zeitpunkt des Häuserbaus scheint das Land also noch auf Amzalak registriert gewesen zu sein. 61 Vgl. „Der Nutzen der jüdischen Kolonisation für das türkische Reich", in: Palästina, 1911, S. 219. 62 Vgl. Gvati, 1985, S. 12.
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zen.63 Als Folge wurden das Terrain und die Kosten unter den einzelnen Siedlern exakt aufgeteilt, doch diese Beschwichtigung hatte nur aufschiebende Wirkung.
4. Edmond de Rothschild Die Kosten für die weiteren Brunnenbohrungen und das Schicksal der sechs ärmeren Familien führten zu dem Entschluß der Kolonisten, einen Abgeordneten nach Europa zu schicken.64 Anfang August traf Charles Netter in Palästina ein, machte sich ein Bild von dem kritischen Zustand der Kolonie und übergab dem Emissär der Kolonie, Joseph Feinberg, ein Empfehlungsschreiben an den Oberrabbiner von Paris, Zadoc Kahn (18391905) ,65 das ihm in seinen Bemühungen, Geldgeber zu finden, hilfreich sein sollte.66 Am 13.8.1882 verließ Joseph Feinberg Palästina, um in Europa finanzielle Hilfe zu erbitten. Nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland traf er im Oktober 1882 in Paris ein.67 Doch war der Kolonist aus Rischon le-Zion nicht der einzige Bittsteller, der sich im Herbst 1882 auf den Weg nach Paris gemacht hatte. Zur gleichen Zeit kam auch Rabbiner Samuel Mohilewer aus Brody nach Paris, um Baron de Rothschild für die Kolonisation zu begeistern. Er hatte ebenfalls von Netter Empfehlungsschreiben für Zadoc Kahn und Michel Erlanger (1828-1892) bekommen. Der als Sohn eines Rabbiners im Elsaß geborene Erlanger hatte sich nach Abschluß einer traditionellen Erziehung dem Problem der jüdischen Gemeinschaft allgemein gewidmet. In Paris gehörte er verschiedenen jüdischen Organisationen an, 63 Vgl. Simon Schama, Two Rothschilds and the Land of Israel, London 1978, S. 63. 64 Vgl. Beikind, 1917, S. 48f u. Chissin, 1976, S. 104, Tb v. 18.12.1882. Chissin schreibt, daß die Siedler in Europa um einen Kredit von 25.000 frs nachsuchen wollten. 65 Geboren im Elsaß, wurde Zadoc Kahn nach Abschluß einer Rabbinerschule 1866 Assistent des Oberrabbiners von Paris und 1868 dessen Nachfolger. Seine Versuche, auch in säkularen Bereichen der jüdischen Gemeinden in Frankreich eine fuhrende Rolle zu spielen, scheiterten an dem Widerstand der Gemeindevorsteher. Von Anbeginn unterstützte Zadoc Kahn die Chibbat Zion-Bewegung und brachte die Führer in Kontakt mit Edmond de Rothschild. Aber auch an der praktischen Seite der Kolonisation in Palästina zeigte er großes Interesse. Zur Biographie vgl. Artikel „Kahn, Zadoc", in: EJ, 10:692£ 66 Vgl. Schama, 1978, S. 62. 67 Uber die Reise Feinbergs durch Europa, warum gerade er für diese Mission ausgewählt wurde und was er in Deutschland erreichen konnte, dazu vgl. Kap. IX, Abschnitt Josef Feinberg".
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war einer der Mitbegründer der AIU und beriet Edmond de Rothschild in allen philanthropischen Unternehmungen.68 Edmond de Rothschild war ein Enkel des Frankfurter RothschildStammhausgründers Mayer Amschel Rothschild (1743-1812),69 der seine fünf später in den Adelsstand erhobenen Söhne in die europäischen Metropolen schickte, damit sie dort seine Finanzgeschäfte ausbauten. Edmonds Vater, James Mayer Rothschild (1792-1868), errichtete in Paris ein in vielen Bereichen wirkendes Finanzimperium, zeichnete sich aber auch durch philanthropische Aktivitäten aus, u.a. gründete er in Jerusalem 1855 ein Hospital für mittellose Juden.70 Edmond war das jüngste von fünf Kindern James Mayers und seiner Frau Betty de Rothschild (1805-1886). 1845 in Paris geboren, erhielt er eine religiöse,71 aber auch französisch-patriotische Erziehung. Sein Interesse an der Finanzwelt war nicht sehr ausgeprägt, er widmete sich lieber den Künsten, besonders der Bildhauerei.72 Aber seine traditionelle Erziehung, sein Hauslehrer war der im Auftrag seines Vaters mehrfach nach Palästina gereiste Albert Cohn (1814-1877),73 machte ihm die Probleme der Juden in aller Welt immer wieder bewußt.74 Hierzu trug auch ein Kreis Intellektueller bei, der sich um Edmond sam-
68 Zur Biographie vgl. Artikel „Erlanger, Michel", in: EJ, 6:843£ 69 Für einen Uberblick über die Geschichte der Familie Rothschild vgl. Georg Heuberger (Hrsg.), Die Rothschilds. Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie Essayband anläßlich der Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt/Main, Frankfurt/Main, 1994; Frederic Morton, Die Rothschilds, München/Zürich 1962 u. Artikel „Rothschild", in: EJ, 14:334-342. 70 Vgl. Schama, 1978, S. 64. 71 Vgl. Israel Margalith, Le Baron Edmond de Rothschild et la colonisation juive en Palestine 1882-1899, Paris 1957,S. 64. 72 Vgl. Schama, 1978, S. 14 u. 49. 73 Albert Cohn wurde in Preßburg geboren und studierte an der Wiener Universität Philosophie sowie orientalische Sprachen. 1836 kam er nach Paris und wurde verantwortlich fiir die philanthropischen Aktivitäten James de Rothschilds. Zwischen 1854 und 1869 reiste er viermal nach Palästina, zum Teil in Begleitung von Michel Erlanger. Vgl. Schama, 1978, S. 52; Artikel „Cohn, Albert", in: EJ, 5:687£ u. Margalith, 1957, S. 64f 74 Margalith vermutet, daß Rothschild bereits 1873 mit zionistischen Gedanken in Kontakt gekommen ist. In diesem Jahr wurde das Drama „La femme du Claude" von Alexandre Dumas d.J. (1824-1895) in Paris uraufgeführt. Dumas läßt seinen Helden den Wunsch der Juden nach einer Nation, nach einem Territorium aussprechen. Es existiert dazu ein Brief von Dumas an seinen Freund Rothschild, in dem er explizit die Assimilation als „irrealisable" bezeichnet. Vielleicht ist Rothschild schon durch die Ideen Dumas' in seinem späteren Wirken fur Palästina beeinflußt worden. Vgl. Margalith, 1957, S. 67-69.
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melte, zu dem Persönlichkeiten wie Zadoc Kahn, der AIU-Mitbegründer Adolphe Cremieux und Michel Erlanger gehörten.75 Unzweifelhaft ist, daß Edmond bereits vor den Treffen mit Mohilewer und Feinberg über die beginnende Kolonisationsbewegung informiert war und im Frühjahr 1881 Mikweh Israel finanzielle Hilfe zukommen ließ.76 Der Rabbiner und der Kolonist trafen daher in Paris nicht auf einen dem Judentum entfremdeten, nur an Börsenberichten interessierten Großbankier, sondern auf einen Philanthropen, dem die Sorgen des jüdischen Volkes durchaus bewußt waren.77 Bei den zwei Treffen Mohilewers mit Rothschild Ende September und Anfang Oktober78 bemühte sich der zionistische Rabbiner, den Baron von seiner Idee zu überzeugen, jüdische Bauern aus Rußland in Palästina anzusiedeln. Dies erschien Rothschild unterstützenswert, und er sagte Mohilewer seine Hilfe zu.79 Mohilewer fuhr nach Rußland zurück, um geeignete Siedler zu finden. Tatsächlich hatte es im 19. Jahrhundert in Rußland Versuche gegeben, die Juden als Bauern zwangsweise zu kolonisieren, doch betrug der Anteil der auf dem Lande lebenden Juden nur 1,5% der jüdischen Gesamtbevölkerung.80 Feinberg sprach Mitte Oktober bei Rothschild vor81 und bat explizit um finanzielle Hilfe für die vor dem Ruin stehende Kolonie Rischon leZion. Vor seinem Besuch bei dem Baron hatte Feinberg schon bei der AIU erfolgreich um Unterstützung nachgefragt.82 Beeindruckt vom eloquenten Auftreten des Kolonisten, sagte der Baron auch diesem Emissär seine Hilfe zu.83
75 Vgl. Schama, 1978, S. 52. 76 Vgl. Margalith, 1957, S. 70 u. Aaronsohn, 1990, S. 10£ 77 Obwohl Mohilewer und Feinberg zur selben Zeit die französische Metropole besuchten, hatten sie weder Kontakt noch traten sie bei Rothschild gemeinsam in Erscheinung. Vgl. Schama, 1978, S. 62. 78 28.9. und 3.10. 1882. Zu den Gesprächsinhalten und den sich um diese Unterredungen rankenden Legenden vgl. Schama, 1978, S. 54 u. 56. 79 Vgl. Margalith, 1957, S. 77£, u. Schama, 1978, S. 54. 80 Vgl. Ruppin, 19183, S. 246. 81 Das genaue Datum ist nicht zu ermitteln. Da Feinberg am 18.10. ein Telegramm aus Paris an Amzalak schickt, worin er über die Ernennung Samuel Hirschs zum Aufseher und Kassierer von Rischon le-Zion durch eine „Persönlichkeit" berichtet, ist ein Besuch Feinbergs bei Rothschild Mitte Oktober anzunehmen. Vgl. Feinberg an Amzalak, Paris 18.10.1882, ZZA, A34/31. 82 Vgl. Brief des Sekretärs des Zentralkomitees der AIU, Isidor Loeb, an Hirsch in Mikweh Israel, 13.10.1882, ZZA, J41/27. 83 Vgl. Schama, 1978, S. 56.
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Beide Hilfsprogramme genehmigte Rothschild, nicht ohne jedoch an ihre Ausführung gewisse Bedingungen zu knüpfen. Er wollte seine persönliche Anonymität gewahrt wissen84 und verlangte EingrifFsmöglichkeiten in administrative und ökonomische Belange der von ihm subventionierten Gruppen,85 denn Feinbergs Bericht hatte dem Baron gezeigt, daß die Probleme der Kolonie eindeutig im ökonomisch-technischen Bereich lagen. Der Wunsch, hier Verbesserungen zu erreichen, führte nicht nur zu einer sofortigen Spende von 25.00086 frs, sondern auch zur Delegierung des Gartenbauspezialisten Justin Dugourd87 nach Rischon le-Zion. Dugourd, ein Christ, der bis zum Herbst 1882 in Mikweh Israel gearbeitet hatte, untersuchte im Auftrag Rothschilds die Bodenbedingungen in Judäa, die er in seinem Bericht vom Dezember 1882 als hervorragend für den Weinbau geeignet bezeichnete.88 Die Finanzverwaltung für die Kolonie89 und die zu erwartende Mohilewer-Gruppe übertrug Rothschild Samuel Hirsch, dem damaligen Leiter von Mikweh Israel.90
84 Ein Punkt, der auch auf seine traditionelle jüdische Erziehung hinweist, denn in der jüdischen Tradition hat der unbekannte Spender eine besonders angesehene Position. Es ist nicht wichtig, daß jeder in der Gemeinde den Spender kennt, noch daß der Spender seine Taten allgemein bekannt gibt. Wohltätigkeit ist eine Gebotserfullung, eine Mizwa, und wird daher von Gott belohnt. Vgl. Zborowski, 1952, Part ΠΙ, 1. Charity saves from Death, S. 191-213, hier vor allem S. 196f Dieses Verhalten trug ihm in Palästina den Namen „Ha-Nadiw ha-Jadua" (hebr. „der wohlbekannte Gönner") ein. 85 Vgl. Schama, 1978, S. 63. 86 Die Höhe dieser ersten Subvention scheint strittig. Chissin schreibt, daß die Siedler auf einen Kredit von 25.000 frs gehofft hatten, Rothschild die Kolonie aber mit 30.000 frs subventioniert habe, vgl. Chissin, 1976, S. 104 u. 106, Tb v. 18.12.1882. Margalith nennt die Summe von 25.000 frs und erklärt die falsche Angabe von 30.000 frs mit einem Fehler von S.D. Levontin, der diese Summe irrtümlich in einem Brief genannt hatte. Vgl. Margalith, 1957, S. 80, Fußnote 11. Diese falsche Angabe hätten dann einige Autoren übernommen, wodurch die zwei Angaben in der Literatur aufgetaucht seien. Beikind nennt ebenfalls 25.000 frs, vgl. Beikind, 1917, S. 51. 87 Es finden sich auch die Schreibweisen „Degour" und „Dugour". „Dugourd" ist die Schreibweise, die er selbst in seinen Briefen verwendete. 88 Vgl. Schama, 1978, S. 63 u. Beikind, 1917, S. 51. 89 In seinem Telegramm vom 18.10.1882 nennt Feinberg Hirsch den Aufseher und Kassierer. Vgl. Feinberg an Amzalak, Paris, 18.10.1882, ZZA, A34/31. 90 Die Entscheidung für Hirsch wurde sicher durch Berichte Netters über Mikweh Israel beeinflußt. Bereits am 20.10.1882 teilte der Sekretär des Zentralkomitees der AIU Hirsch in einem Brief mit daß die AIU nichts gegen seine zusätzliche Tätigkeit für den Baron einzuwenden habe. Vgl. Sekretär des Zentralkomitee der AIU an Hirsch in Mikweh Israel, 20.10.1882,ZZA, J41/27.
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Der Oktober 1882 ist als der eigentliche Beginn der Rothschild-Ära in Palästina zu betrachten, auch wenn der Baron gewisse Subventionen schon lange vor den Besuchen Mohilewers und Feinbergs geplant hatte.91 Im Oktober 1882 dachte Rothschild aber sicher noch nicht an eine komplette Übernahme des Siedlungswerkes in Palästina,92 doch das Bekanntwerden seines Engagements führte zu weiteren Anfragen aus den anderen Kolonien, denen sich der Baron nicht verschließen wollte.
5. Die Rothschild-Verwaltung in Rischon le-Zion Die vordringlichste Aufgabe der Kolonisten in Rischon le-Zion im ersten Winter war die Aussaat des Getreides. Mangelnde landwirtschaftliche Kenntnisse ließen die Siedler intuitiv entscheiden, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt auszuführen waren. Die benachbarten Fellachen wiesen die Juden wiederholt auf ihre Fehleinschätzungen hin, doch eine gewisse okzidentale Arroganz gegenüber den Bewohnern des Orients ließ die Siedler diese Hilfsangebote ausschlagen. Hinzu kam, daß anscheinend auch Dugourd nicht über das notwendige landwirtschaftliche Wissen verfügte.93 Das Ergebnis der Ernte war daher äußerst mager und die Kolonie dadurch nicht auf dem Weg der ökonomischen Besserung, obwohl eine erfolgreiche Brunnenbohrung im Februar 1883 zumindest die Wasserversorgung sichergestellt hatte.94 Schwierig gestalteten sich auch die Beziehungen zu den Beduinen, deren Angriffe nur durch den energischen Widerstand der Kolonisten abgewehrt werden konnten, wodurch sich die
91 Vgl. Edmond de Rothschild an David Druck, 6.7.1928, abgedruckt in: David Idelovitch, Rischon le-Zion, Rischon le-Zion 1941, S. 45f u. Isaac Naiditch, Edmond de Rothschild, Washington 1945, S. 22. 92 Vgl. Schama, 1978, S. 64. 93 Vgl. Chissin, 1976, S. 112f., Tb v. März 1883. Chissin beschreibt diese ersten Fehlversuche explizit nur fur die Biluim, doch kann angenommen werden, daß die anderen Siedler ähnlich verfahren sind. Hätten sie über bessere Kenntnisse verfugt, hätten sie die Biluim sicherlich auf ihre Fehler aufmerksam gemacht. Uberraschend in diesem Zusammenhang ist aber vor allem, daß anscheinend keinerlei Hilfe aus Mikweh Israel kam. Genügte die Erfährung von 12 Jahren Landwirtschaft nicht um die Siedler auf die Besonderheiten und Unterschiedlichkeit des Bodens in Palästina hinzuweisen? 94 Vgl. Chissin, 1976, S. 121-126, Tb v. 20.4.1883; Beikind, 1917, S. 56 u. Aaronsohn, 1990, S. 30.
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Siedler eine relativ sichere Existenz und einen guten Ruf bei ihren arabischen Nachbarn erwarben.95 Die Ankündigung Rothschilds, Rischon le-Zion finanziell helfen zu wollen, brachte nur für kurze Zeit Ruhe in die Kolonie. Denn sehr schnell wurde den Kolonisten deutlich, was die theoretischen Bedingungen Rothschilds, in die Praxis umgesetzt, fur sie bedeuteten. Dugourd, der als Gärtner und erster Leiter der Kolonie im November 1882 nach Rischon leZion gekommen war,'6 bekam erhebliche Probleme mit den Siedlern, nicht nur durch seine unverhohlene Antipathie ihnen gegenüber, sondern auch durch seine Unfähigkeit, sich in russischer oder deutscher Sprache zu verständigen.97 Geht man von der Ausbildung und Vorerfahrung aus, wäre Samuel Hirsch ohne Zweifel ein geeigneterer Verwalter als Dugourd für Rischon le-Zion gewesen, doch auch Hirsch war kein Freund der zionistischen Ideen der Siedler. Beide betrachteten die Rothschild-Administration als Verwaltung eines pragmatischen Versuchs zur landwirtschaftlichen Bearbeitung des palästinensischen Bodens. Eine solche Verwaltung ließ keinen Raum für Utopien, für Ideale. Es galt, der Leitung zu gehorchen. Diese Einstellung führte zu einem langen Kampf der Kolonisten um eine zumindest teilweise Unabhängigkeit.98 Das Frühjahr 1883 brachte zunächst einen entscheidenden Schritt in die Abhängigkeit von Rothschild. Durch die Brunnenbohrungen war die erste Subvention von 25.000 frs aufgebraucht. Rothschild genehmigte im April eine Budgeterhöhung von 50.000 frs99 und schickte im Mai Michel Erlanger nach Palästina, damit er die Kolonie inspiziere. Während dieses Aufenthaltes ließ Erlanger den gesamten Besitz der Kolonie auf seinen Namen überschreiben, ausgenommen die Besitzungen von Mordechai Freimann und Feiwel Hausmann,100 entschädigte Zvi Levontin für das Überlassen des Landes an die mittellosen Familien, bezahlte alle Schulden der Kolonie, ordnete verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung der ökono-
95 Vgl. Chissin, 1976, S. 115-117, Tb v. März 1883; S. 141f„ Tb v. 2.5.1884 u. Ben Zion, 1936 I, S. 70 u. Beikind, 1917, S. 39. 96 Vgl. Aaronsohn, 1990, S. 102. 97 Vgl. Chissin, 1976, S. 76, Anmerkung 45 u. Beikind, 1917, S. 69. Hier stellt sich die Frage nach der Sprache in Rischon le-Zion. Verstanden die Siedler französisch? Sprach Dugourd vielleicht sogar hebräisch? Interessant im Blick auf den zweiten Teil der Arbeit ist die bereits hier angedeutete Wichtigkeit der deutschen Sprache. Vgl. Kap. Vni. 98 Vgl. Gvati, 1985, S. 13. 99 Vgl. Margalith, 1957, S. 83. 100 Vgl. Beikind, 1917, S. 60.
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mischen Lage an und versprach, weitere Vorschläge in Paris vorzutragen.101 Rischon le-Zion war ab dem Frühsommer 1883 de facto und de jure vollständig an Edmond de Rothschild gebunden.102 Der erste offene Konflikt mit der Administration brach schließlich im Herbst 1883 aus. Während des Sommers hatten die Kolonisten versucht, die Anweisungen Erlangers zum Häuserbau auszuführen. Nach den Aufzeichnungen von Chissin und Beikind machte Dugourds Willkürherrschaft jedoch eine förderliche Zusammenarbeit unmöglich. Die Kolonisten warfen Dugourd vor, er kaufe nicht die für die Landwirtschaft notwendigen Geräte,13 führe die Anweisungen Erlangers nicht aus, halte alle Siedler für faul und bestrafe sie dafür mit verspäteten Lohnzahlungen.104 Am 4.9.1883 schrieb das Komitee der Siedler an Hirsch, um sich über die unhaltbaren Zustände zu beschweren: „Die Lage der Colonie ist folgende: Hunger, Kälte, bei noch nicht beendeten Bauten, Keine Sammen, zur höchsten wo der Bauer schon im Felde arbeiten sollte." Sie beklagten sich über „Zwistigkeiten, die von Autoriteter Seite, fort möchten wir sagen, befördert und auf die man von der anderen Seite, als Unterdrückte, ja nicht mit Schweigen u. Verbeugen immer beantworten kann." Obwohl der Name nicht genannt wurde, erscheint es unzweifelhaft, daß Dugourd als deijenige bezeichnet wird, der die Zwistigkeiten förderte. Doch die Vorwürfe gegen den Leiter gingen noch weiter, denn die Kolonisten berichteten Hirsch, daß beim russischen Konsulat „eine Klage wegen Ehrenbeleidigung seitens des Herrn Dugourds eingereicht sei, in derselben zeigt einen unserer Colonisten an."105 Die Bitte um Hilfe an Hirsch hatte keinen Erfolg.106 Mitte September wählte sich die Kolonie daher ein weiteres Komitee, das sich direkt an Edmond de Rothschild wenden sollte. Man schickte ein Telegramm nach Paris und bat um die notwendigen Mittel für die Aussaat. Ein Wunsch, der umgehend erfüllt wurde. Zwei weitere Briefe der Siedler an Erlanger und Zadoc Kahn, die die Bedingungen in der Kolonie aus Sicht der Kolonisten
101 Vgl. Chissin, 1976, S. 129, Tb v. July 1883. Ein von den Kolonisten vorgeschlagener Autarkieplan für die Siedlung wurde abgelehnt. Vgl. Beikind, 1917, S. 59f 102 Vgl. Margalith, 1957, S. 84. 103 Vgl. Beikind, 1917, S. 68. 104 Vgl. Chissin, 1976, S. 133-135, Tb v. 22.4.1884. Margalith nennt die Unfähigkeit Dugourds „n'avait pas trouve de langue commune avec les colons" als eine Hauptursache fur den Konflikt. Margalith, 1957, S. 93. 105 Brief des Komitees an S. Hirsch, 4.9.1883, ZZA, J41/21. 106 Vgl. Beikind, 1917, S. 68.
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schilderten,107 wurden in Paris allerdings als Rebellion aufgefaßt. Rothschild war nicht bereit, eine Kolonie zu unterstützen, über die er nicht die uneingeschränkte Kontrolle ausübte.108 So strich er zunächst per Telegramm die Subventionen, womit die Kolonisten nicht gerechnet hatten. Schließlich schickte Rothschild einen Brief an die Kolonie, in dem er die vollständige Streichung zurücknahm, die Subventionen aber um die Hälfte des Ausgangsbetrages kürzte. Unter Androhung seines vollständigen Rückzugs forderte Rothschild den Autor der Briefe und vermeintlichen Rädelsführer, Israel Beikind, zum Verlassen der Siedlung auf10' Für die Siedler aber war neben den Kürzungen und der Forderung nach Beikinds Ausschluß vor allem der Ton der Briefe sehr verletzend,110 aber auch bezeichnend für die weitere Entwicklung der Kolonie unter der Pariser Verwaltung. Die Kolonisten, die sich als Pioniere einer „Wiedergeburt Erez Israels" fühlten, mußten erkennen, daß Rothschild sie in dieser Konfliktsituation als undankbare Bettler betrachtete und der Traum von einer unabhängigen Siedlung oder vielleicht einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit der Verwaltung zu Ende war.111 Der Konflikt um Beikind spitzte sich dahingehend zu, daß die Siedler zunächst hinter Beikind standen und die Rothschild'sche Forderung nicht erfüllen wollten.112 Doch die demonstrierte Einheit in der Kolonie zerbrach schnell, Rothschilds finanzielle Möglichkeiten und seine Bereitschaft zur weiteren Unterstützung wollte man nicht verlieren.113 Beikind erkannte die Aussichtslosigkeit seines Widerstandes und verließ die Kolonie.114 Die Siedler hatten ihren ersten Kampf gegen die Rothschildadministration verloren, weitere sollten folgen, doch die Richtung, in die sich Rischon le-Zion in den nächsten Jahren entwickelte, zeichnete sich schon zu diesem Zeitpunkt klar ab. Rothschild und seine Verwalter ließen sich die Leitung der Kolonie nicht mehr aus der Hand nehmen. Einziger Erfolg
107 Vgl. Chissin, 1976, S. 136, Tb v. 22.4.1884 u. Beikind, 1917, S. 71. 108 Vgl. Schama, 1978, S. 67f. 109 Vgl. Beikind, 1917, S. 74. Beikind gehörte zwar dem Komitee an, doch die Briefe hatte er nicht als Anführer einer Rebellion geschrieben, sondern weil er die französische Sprache beherrschte. 110 Vgl. Beikind, 1917, S. 73. 111 Vgl. Chissin, 1976, S. 137, Tb v. 22.4.1884. 112 Vgl. Beikind, 1917, S. 74. 113 Vgl. Chissin, 1976, S. 139, Tb v. 22.4.1884. 114 Vgl. Beikind, 1917, S. 74.
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der Revolte war, daß Dugourd nöch Ende 1883 abgelöst wurde.115 Zum neuen Verwalter bestimmte Rothschild Jehoschua Ossowetzky. Dieser war im Januar 1882 aus Brody nach Palästina gekommen, um im Auftrag Charles Netters in Mikweh Israel zu unterrichten.116 Wichtiger für die Entwicklung der Kolonien aber war die Maßnahme des Barons, den Historiker Elie Scheid (1841-1922) Ende 1883 zum Leiter des gesamten Rothschild'schen Siedlungswerkes in Palästina zu bestimmen.117 Seine Aufgaben waren zunächst nicht klar fixiert, so hieß es lapidar in seinen gleichlautenden Einfuhrungsschreiben bei verschiedenen Persönlichkeiten in Palästina: „(...) d'une mission de confiance pour la colonisation juive (,..)".118 Scheid kümmerte sich daher fast um alles, was mit dem Siedlungswerk in Verbindung stand. Als Generalbevollmächtigter des Barons für Konstantinopel führte er die Verhandlungen mit der Hohen Pforte, er kaufte Land, agierte in der Funktion eines Oberrichters in den Kolonien119 und war ohne Zweifel eine der wichtigsten Persönlichkeiten fur die Kolonisationsbewegung während der Ersten Alija. Alle seine Aktivitäten waren von pragmatischen Nützlichkeitserwägungen geprägt, die Idee einer Erneuerung Erez Israels aber war ihm fremd.120
115 Dugourd wurde von Rotschild als Verwalter nach Samarin beordert, siehe hierzu die Abschnitte über die rumänischen Kolonien unter der Rothschildverwaltung, und kurzfristig von Jakow Benschimol abgelöst, einem seit 1879 in Mikweh Israel arbeitenden Lehrer. Vgl. Aaronsohn, 1990, S. 103, Dan Giladi, Rischon le-Zion beChasot ha-Baron Rothschild, in: Cathedra, Nr. 9, Oktober 1978, S. 134 u. 136 u. Beikind, 1917, S. 73 u. 77. 116 Vgl. Aaronsohn, 1990, S. 104. Netter hatte in Brody unter den Flüchtlingen Kandidaten für die Lehrtätigkeit in Mikweh Israel gesucht; Vorbedingung: sie mußten Französisch und Hebräisch beherrschen. Vgl. Margalith, 1957, S. 110. 117 Scheid wurde im Elsaß geboren und im traditionellen jüdischen Sinn erzogen. Zunächst strebte er das Rabbineramt an, wandte sich dann aber historischen Studien über die Juden im Elsaß zu. 1883 lud ihn Rothschild nach Paris ein, um hier das „Comite de Bienfaisance Israelite de Paris" zu organisieren. Zur Biographie Scheids vgl. Artikel „Scheid, Elie", in: EJ, 14:952 u. Aaronsohn, 1990, S. 104f. 118 Vgl. E.F. Veneziani an Hirsch in Mikweh Israel, 1.10.1883, ZZA, J41/55. Gleichlautendes Schreiben z.B. auch an Joseph Navon, Jerusalem, 1.10.1883, ZZA, A152/9/7. Ebenfalls zu den verschiedensten Aufgaben vgl. auch Schama, 1978, S. 82. 119 Vgl. Schama, 1978, S. 82. 120 Ebenda, S. 84 u. Margalith, 1957, S. 92. Scheid arbeitete bis 1899 für Rothschild in Palästina und hat ausfuhrliche Memoiren hinterlassen: Elie Scheid, Memoires sur les Colonies Juives et les Voyages en Palestine et en Syrie 1883-1899, Paris 1901. Diese Aufzeichnungen existieren nach Auskunft des Direktors des ZZA, Yoram Majorek, in zwei Ausfertigungen. Eine war fur Rothschild gedacht, die andere war
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Die Vorbedingungen für eine Zusammenarbeit zwischen Siedlern und Verwaltung mit dem neuen Leiter waren günstiger als bei Dugourd, Ossowetzky scheint zumindest am Beginn seiner Tätigkeit in Palästina mit großem Verständnis den Kolonisten gegenüber getreten zu sein.121 Dennoch verlief auch dessen Administration nicht ohne Differenzen. Besondere Schwierigkeiten bereitete ihm der Umgang mit den sehr kritischen ehemaligen Biluim122 und den wohlhabenderen Siedlern. Ossowetzky mühte sich daher, jeden ihm nicht devot ergebenen Siedler zum Verlassen der Kolonie zu bewegen.12 Die ökonomische Entwicklung blieb weit hinter den Erwartungen zurück, die Ernte im Herbst 1884 brachte wiederum nur magere Resultate, und die Siedlung geriet in eine tiefe ökonomische Krise. Selbst die wohlhabenderen Kolonisten mußten auf die Finanzkraft des Barons zur Verbesserung ihrer Lage zurückgreifen, sie verkauften Teile des sich noch in ihrem Besitz befindlichen Landes an Rothschild.124 Zu dieser Zeit brach der erste offene Streit mit Ossowetzky über die Verteilung einer MontefioreSpende für die sechs mittellosen Familien aus.125 Während der Auseinandersetzungen zeigte auch Ossowetzky deutlich, daß er seine Position in Rischon le-Zion in der eines allmächtigen Verwalters einer ihm zur Ergebenheit verpflichteten Kolonie sah. Beikind nannte das System eine despotische Monarchie mit dem Direktor als König an der Spitze.2 Die Siedler hatten schnell verstanden, daß es ohne fundiertes landwirtschaftliches Wissen keinen Weg aus der Krise geben konnte, doch die Versuche, sich dieses Wissen anzueignen, erwiesen sich als schwierig, da für Fragen der Agronomie Anfang der 1880er Jahre noch kein kompeten-
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eine etwas freiere Darstellung, die nicht Rothschild „huldigen" sollte. Für meine Auswertung stand mir leider nur die „Rothschild-Version" zur Verfugung. ZZA, J15/7245-7247. Vgl. Margalith, 1957, S. 110. Beikind schreibt, daß dieses Verhalten ihn sehr gewundert habe, da doch Ossowetzky bei seiner Ankunft in Palästina sehr gern ein Bilu geworden wäre. Vgl. Beikind, 1917, S. 78. Chissin schreibt weiter, daß jeder dieser Siedler Geld für das Verlassen der Kolonie bekam. Dadurch hätte Rischon le-Zion nach und nach seine besten Kräfte verloren. Vgl. Chissin, 1976, S. 148, Tb v. 28.4.1884 u. Beikind, 1917, S. 85. Vgl. Chissin, 1976, S. 142f Tb v. 28.9.1884. Ebenda, S. 149-154, Tb v. 28.9.1884. Chissin schreibt, daß die Spende zwar ausdrücklich fur die sechs mittellosen Familien bestimmt war, doch befanden sich in der Kolonie inzwischen bis auf wenige Ausnahmen alle Familien am Rande des Ruins. Vgl. Beikind, 1917, 98.
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ter Ansprechpartner existierte. Mikweh Israel, 1870 als Hilfe fur die Juden Palästinas konzipiert, konnte den zu dieser Zeit noch als Getreidebauern tätigen Siedlern weder als agrikulturelles noch als ökonomisch-autarkes Modell dienen, da dort hauptsächlich Wein- und Zitronenanbau betrieben wurde und die Schule zudem völlig von den Subventionenen der AIU abhängig war.127 Versuche der Rischon le-Zion-Siedler, in der Rinder- und Geflügelzucht Fuß zu fassen, wurden zwar von der Administration durch Kredite unterstützt, scheiterten aber letztlich.128
6. Der Beginn des Weinanbaus Da sich der Boden der Kolonie als ungeeignet fur den intensiven Getreideanbau erwiesen hatte, gab es nur zwei Möglichkeiten, um die Siedlung ökonomisch zu retten, nämlich Erweiterung der Anbaufläche oder die Spezialisierung der Wirtschaft auf Weinbau.129 Die Möglichkeit des Weinanbaus hatten die Siedler noch nicht in Erwägung gezogen, vielleicht weil ihnen der Weinanbau aus Rußland nicht vertraut war.130 Ossowetzky stellte die Siedler im Winter 1884/85 vor die Wahl, und diese entschieden sich für den Weinbau. Aufgrund der Bodenanalysen und des Votums der Siedler entschloß sich daraufhin Rothschild, diesen landwirtschaftlichen Zweig in Rischon le-Zion zu kultivieren.131 Dies ist ein bemerkenswerter Vorgang, denn entgegen der landläufigen Meinung, Rothschild habe von Beginn an den Weinbau rigoros eingeführt, zeigt sich, daß die Kolonisten selbst für den Weinbau votierten, in der Hoffnung, dadurch die ökonomischen Probleme schnell und dauerhaft zu lösen. Für die Siedler in Rischon le-Zion begann eine neue Ära, ein großer Stab von Technikern und landwirtschaftlichen Experten übernahm die Organisation, und Rothschild unterstützte den Aufbau der Weinwirt-
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Vgl. Berichte der Alliance Israelite Universelle, Paris, 2. Semester 1884, S. 41-45. Vgl. Chissin, 1976, S. 145£, Tb v. 28.9.1884. Vgl. Yaari, 1958, S. 120E Zumindest nennt Yaari dies als Grund, warum der Weinanbau nie eine Rolle in der Planung der Kolonisten gespielt habe. Vgl. Yaari, 1958, S. 121. 131 Vgl. Chissin, 1976, S. 159, Tb v. 15.2.1885 u. Yaari, 1958, S. 121. Auch die weiteren von Rothschild unterstützten Kolonien betrieben zum größten Teil Weinbau. Der Bau der Weinkellerei wurde übrigens von dem Templer Gotdieb Schumacher durchgeführt, der zu dieser Zeit in der deutschen Kolonie in Haifa lebte. Vgl. Carmel, 1973, S. 266.
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schaft mit erheblichen finanziellen Mitteln.132 Die Entscheidung fiir den Weinbau und die Subventionen aus Paris lösten allerdings eine Kettenreaktion aus, an deren Ende auch die anderen Kolonien zum Weinbau übergegangen waren, vor allem weil ihnen umfangreiche Finanzhilfen geboten wurden, die sich damit aber in eine Abhängigkeit von Rothschild begaben, dem seine später so heftig kritisierte „Beherrschung" des Siedlungswerkes dadurch erst möglich gemacht wurde. Rischon le-Zion entwickelte sich dank der Subventionen ab Mitte der 1880er Jahre zu einer der Hauptweinkolonien in Palästina. Planmäßig wurde die Kolonie erweitert. 1886 kaufte Rothschild 300 ha Land hinzu und verdoppelte so den Grundbesitz.133 Für die auf diesem Gelände anzusiedelnden neuen Kolonisten erwirkten Ossowetzky und Scheid im Mai 1886 eine Häuserbaugenehmigung unter der Bedingung, daß 10 Einwohner von Rischon le-Zion die osmanische Staatsbürgerschaft annehmen .. ι
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wurden. Die Koloniegründungen in Verbindung mit einer signifikanten Einwanderang der Juden veranlaßten die lokalen türkischen Behörden 1887 zu einem erneuten Eingreifen. Zunächst wurde im Frühjahr 1887 den Juden, die nicht zu Pilgerzwecken kamen, jede Einreise verweigert. Als Grund für dieses Verbot vermutete der britische Konsul Moore, daß sich die türkischen Behörden vor einem wachsenden Einfluß der Juden in Palästina fürchteten, obwohl die meisten Einwanderer sehr arm waren, nach Moores Ansicht also keine Bedrohung darstellten.135 Im September desselben Jahres bestätigte der Konsul noch einmal das „Decree prohibiting foreign Jews from residing in Palestine beyond a period of one month."136 Die Kapitulationen ermöglichten den europäischen Mächten auch in diesem 132 Vgl. Beikind, 1917, S. 86. 133 Vgl. Gvati, 1986, S. 13. 134 Vgl. Chissin, 1976, S. 193£, Tb v. 14.6.1886. Es ist anzunehmen, daß nicht nur die 10 Siedler die osmanische Staatsbürgerschaft annahmen, sondern noch weitere Kolonisten diesen W e g gingen. Dies ist zum einen aus der Tatsache zu schließen, daß hiernach nicht mehr über Schwierigkeiten mit Hausbaugenehmigungen und beim Bau der Weinkellereien berichtet wird, zum anderen existiert eine Liste „Les Sujets ottomans" der Kolonien, aus der der hohe Anteil osmanischer Staatsbürger deutlich wird. Vgl. ZZA, J15/6093. Die Listen sind ohne Datumsangabe. Aus ihrer Einordnung im Bereich J15 läßt sich aber auf ein Datum Ende der 1890er Jahre schließen. 135 Vgl. Noel Temple Moore an Sir W.A. White, 5.3.1887, in: Albert M. Hyamson, The British Consulate in Jerusalem in Relation to the Jews of Palestine 1838-1914, Π Vol., London 1939-1941, S. 429. 136 N.T. Moore an Sir W.A. White, 23.9.1887, in: Hyamson, 1939/41, S. 439.
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Bereich ein Einspruchsrecht, was schließlich ein Jahr später zu einer Beschränkung des Verbots „in cases where such immigration should take place en masse"137 führte. Die Investitionen machten sich in Rischon le-Zion schnell bemerkbar. Große Weinberge wurden angelegt, und die Kolonie entwickelte ein reges öffentliches Leben. Eine Apotheke und ein Gesundheitskomitee wurden eingerichtet, ebenso ein Markt, dazu ließ sich ein Schlachter in der Kolonie nieder. Kulturelle Veranstaltungen wurden eine feste Einrichtung, und es gab einen täglichen Kutschenservice zwischen Rischon le-Zion und Jaffa.138 Die Annahme der Subventionen für den Weinanbau und ein großzügiger Schuldenausgleich Rothschilds für die Kolonisten13' zementierten jedoch die Abhängigkeit. Die Idee einer Erneuerung Erez Israels durch eine autarke Landwirtschaft verschwand, eine subventionsabhängige Weinwirtschaft, geleitet von einer harschen Administration, begann sich zu entwikkeln. Die Siedler erkannten ihre problematische und schwache Position gegenüber der Administration und suchten diese durch die Gründung einer Gemeinschaft für „Friedenssucher" (hebr.: Rodfeh Schalom) 1886 zu verbessern. Ziel der Gemeinschaft war ein Zusammenschluß unter dem Panier einer friedlichen Lösung der Konflikte und der Anerkennung der absoluten Gleichheit aller Kolonisten.140 Ossowetzky sah sich in seiner Stellung als Verwalter durch diese Gemeinschaft bedroht und ließ seine Anhänger, die es offensichtlich auch gab, aber es bleibt unklar, wer dies genau war, eine ihm ergebene Gemeinschaft gründen, die „Brüderschaft" (hebr.: Agudat Reim).141 Ebenfalls 1886 wurde in Rischon le-Zion die erste Gewerkschaft für jüdische Arbeiter gegründet, deren Ziele die Rodfeh Schalom nachdrücklich unterstützte.142
137 Sir William White an N.T. Moore, 6.10.1888, in: Hyamson, 1939/41, S. 446. 138 Vgl. Chissin, 1976, S. 215£, Tb v. 18.10.1886. 139 Chissin schreibt in seinem Tagebuch, daß die Entwicklung der Kolonie Rothschild so sehr zugesagt habe, daß er die Schulden aller Kolonisten übernommen habe. Vgl. Chissin, 1976, S. 216f„ Tb v. 18.10.1886. 140 Vgl. Chissin, 1976, S. 219, Tb v. 18.10.1886 u. Beikind, 1917, S. 98. 141 Vgl. Beikind, 1917, S. 99 u. Margalith, 1957, S. 111. 142 Auf dem in diesem Jahr hinzugekauften Land durften nur Siedler sich niederlassen, die hauptsächlich jüdische Arbeiter einstellten. So waren in Rischon le-Zion die Bedingungen fur eine Vertretung der Arbeiter schnell gegeben. Vgl. Chissin, 1976, S. 226£, Tb v. 21.3.1887.
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Die Spannungen innerhalb der Kolonie entluden sich im Frühjahr 1887 in einer erneuten Revolte gegen die Administration.143 Der exakte Verlauf ist hier nicht von Interesse,144 aber einige wesendiche Details, die ein deutliches Licht auf die Situation in Rischon le-Zion am Ende der 1880er Jahre werfen, müssen genannt werden. Ungefähr die Hafte der Kolonisten beteiligte sich an dem Aufruhr,145 denen es nicht in erster Linie um einen Aufstand gegen Ossowetzky ging,146 sondern vielmehr um einen Protest gegen das Verwaltungssystem im allgemeinen.147 Den Vertretern Rothschilds hingegen waren die Motive der Kolonisten und die Frage nach einer gewissen Berechtigung des Aufstandes im Endeffekt nicht wichtig, fur sie stand nur die Verweigerung des Gehorsams im Vordergrund. Erlanger schrieb an Pinsker, daß Hirsch bei seinem Erscheinen in der Kolonie nur eine Frage gestellt habe, „(...) nämlich ob sie den Willen des Hrn. Baron vollziehen wollen?"148 Erlangers eigene Ansichten gingen in dieselbe Richtung: „Es ist nicht die Frage, ob die Colonisten recht oder unrecht haben, mit Ossov. zufrieden oder unzufrieden zu sein: es handelt sich zu wissen, ob man annehmen kann, dass solche mit Gewalt ihrem Wohltäter ihren Willen aufdringen dürfen, welchen Willen sie vorher noch nicht ausgedrückt."149 Die Zitate belegen klar, daß weder Hirsch noch Erlanger an einer eigenständigen Kolonie, an selbständigen Kolonisten interessiert waren. Sie betrachte-
143 Auslöser war der Hinauswurf eines Arbeiters, der im Haus des Vorsitzenden der Gewerkschaft einen Raum gemietet hatte. Dazu Erlanger in einem Brief an Pinsker, 8.4.1887: „Ob Ossov. recht hatte einen Fremden auszutreiben will ich nicht sagen, das Recht hatte er aber. Die Häuser gehören den Colonisten nicht, Sie haben kein Recht weiter zu vermiethen." Abgedruckt in: Druyanow, II, Sp. 146149. 144 Eine detaillierte Schilderung der Ereignisse kann nachgelesen werden bei Chissin, 1976, S. 225-239, Tb v. 21.3.1887; Erlanger an Pinsker, 27.3.1887; 28.4.1887, in: Druyanow, II, Sp. 124-126 u. 155-157 u. Beikind, 1917, S. 83-126. 145 Vgl. Erlanger an Pinsker, 27.3.1887, in: Druyanow, II, Sp. 124-126. Hinzu kamen Siedler aus den anderen judäischen Kolonien. Gedera stand auf Seiten der Revolte, Wadi Chanin ebenfalls, Ekron beteiligte sich nicht, und auch Petach Tikwa blieb aus Angst vor Restriktionen fern. Vgl. Beikind, 1917, S. 108£ 146 Ossowetzky sah sich schließlich so sehr bedroht, daß er die türkische Polizei zu seinem Schutz nach Rischon le-Zion rief Dies wurde von den Kolonisten als ungeheure Provokation empfunden. Vgl. Chissin, 1976, S. 235f, Tb v. 21.3.1887 u. Beikind, 1917, S. 102-107. 147 Vgl. Chissin, 1976, S. 228. Tb v. 21.3.1887. 148 Erlanger an Pinsker, 27.3.1887, in: Druyanow, II, Sp. 126. 149 Erlanger an Pinsker, 8.4.1887, in: Druyanow, II, Sp. 149.
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ten die Verpflichtung der Kolonisten gegenüber dem Baron als erste Prämisse der Kolonisation, ungeachtet einer vielleicht ökonomisch schädlichen oder die Siedler unterjochenden Verwaltung. Im Mai 1887 kam Edmond de Rothschild zum ersten Mal nach Palästina, um sich das Kolonisationswerk anzusehen. Er geriet in die Aufstandswirren und zeigte sich nur schwer versöhnbar. Hirsch und auch Ossowetzky überzeugten Rothschild schließlich, Rischon le-Zion nicht alle Subventionen zu entziehen.150 Der Baron ließ verlauten, „(...) dass aber jede neue Empörung ihn unerbittlich finden wird."151 Als Reaktion auf die Revolte wurde in Paris ein erweiterter Regelkodex erlassen.152 Drei Kolonisten wehrten sich gegen die Unterzeichnung dieser neuen Regelungen, sie mußten die Kolonie schließlich verlassen.153 Ergebnis dieser Revolte war auch, daß Josef Feinberg nur noch kurze Zeit in der Kolonie blieb.154 Damit hatten die drei Gründungsväter von Rischon le-Zion, Levontin, Beikind und Feinberg, die Siedlung verlassen, was es den Administratoren aber auch ein wenig leichter machte, ihr System durchzusetzen.155 Nach dem Anlegen großer Weinberge wurde 1889156 mit dem Bau einer selbst für europäische Verhältnisse großen Weinkellerei begonnen, die mit den modernsten Errungenschaften der Maschinentechnik ausgerüstet 150 Vgl. S. Hirsch an Pinsker, 20.5.1887, in: Druyanow, II, Sp. 163£, u. Erlanger an Pinsker, 25.4.1887, in: Druyanow, II, Sp. 165£ 151 Erlanger an Pinsker, 25.5.1887, in: Druyanow, Π, Sp. 166. In diesem Brief erklärt Erlanger auch, daß Ossowetzky den Baron um seine Demissionierung gebeten habe, dieser habe aber nicht zugestimmt. 152 Alle Vereinigungen, gleich welcher Art, müssen von Erlanger genehmigt werden, ohne schriftliche Genehmigung der Administration darf kein Fremder länger als 48 Stunden in der Kolonie bleiben, und die Einstellung eines Arbeiters bedarf ebenfalls der schriftlichen Administration. Vgl. Originalkontrakt in französischer und hebräischer Sprache, ZZA, J15/5005. 153 Vgl. Beikind, 1917, S. 118-122. Es waren dies Jehuda Leib Chankin, Levi Izchak Eisenband und Schimschon Beikind, der Bruder von Israel Beikind. 154 Rothschild hatte ihn zwar nicht direkt zum Verlassen gezwungen, doch die von Feinberg als Bevormundungssystem empfundene Administration ließ ihm keine Wahl. Hierzu vgl. Schama, 1978, S. 94f 155 Die veränderten Ansichten der Siedler gegenüber Rothschild zeigen sich in einem Brief aus dem Jahre 1892. Die Kolonisten von Rischon le-Zion schreiben an den Baron, um sich in überschwenglicher und äußerst devoter Form für seine Taten in Palästina zu bedanken. Vgl. ZZA, A9/155/17. Beikind nennt das Verhalten der Chibbat Zion gegenüber den Kolonisten äußerst paradox, zunächst hätten sie die Kolonisten ob ihres Ungehorsams angeklagt, später dann wegen ihrer offensichtlichen Demut gegenüber der Administration. Vgl. Beikind, 1917, S. 124. 156 Vgl. Artikel Rishon le-Zion", in: EJ, 14:194.
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wurde. Die Entscheidung Rothschilds zur Einfuhrung der Weinwirtschaft in seinen Kolonien, und nicht nur in Rischon le-Zion, führte zu einer Massenproduktion, deren Absatz auf dem Weltmarkt nicht gelang. Um die Kolonisten nicht in den ökonomischen Ruin zu treiben, indem er niedrige, aber marktrelevante Preise für die Trauben zahlte, mußte Rothschild den Kolonisten ihre Ernten zu festgesetzten Preisen abnehmen,157 was sie von jeglichem Kontakt zu realen Marktbedingungen abschnitt und auch in diesem Bereich vollständig an Rothschild band. Bis zum Beginn der 1890er Jahre vergrößerte Rischon le-Zion seinen Landbesitz um mehr als das Doppelte, 1892 wurde der Grundbesitz mit 6.600 Dunam gleich 660 ha angegeben.158 Der Vergrößerung der Gesamtbodenfläche entsprach eine ebensolche Zunahme der Bevölkerung. Aus den ehemals 16 Gründerfamilien wurden bis 1902 70 Kolonistenfamilien, zusätzlich lebten noch 84 weitere Familien in Rischon le-Zion.159 Auch im sozio-kulturellen Bereich wies die Kolonie verschiedene Einrichtungen auf nämlich eine „Knaben- und Mädchenschule, Krankenhaus, Volkshaus mit Bibliothek und Orchesterraum"160 sowie eine Synagoge.161 Zudem war Rischon le-Zion die erste Kolonie, deren Gemeinde eine Selbstverwaltung erhielt.162 Bis 1900 blieb Rischon le-Zion völlig auf den Weinbau spezialisiert, 80% der gesamten Fläche wurden hierfür genutzt, andere Anpflan-
157 Vgl. Nawratzki, 1914, S. 113-115 u. 327f. Diese Maßnahme trug mit dazu bei, daß die Kolonien nur schwer oder gar keine ökonomisch stabile Landwirtschaften entwickeln konnten. 158 Vgl. Statistik Jewish Colonies in Palestine 1892", ZZA, A2/132. Ein Blick in die Literatur zeigt die offensichtliche Schwierigkeit, in diesem Bereich exakte Angaben zu machen. 1886 wurde nach den Angaben Chissins 370 ha und nach den Angaben bei Gvati 300 ha hinzugekauft. Nawratzkis Ausführungen folgend, kaufte man bereits 1885 350 ha und 1887 noch einmal 150 ha hinzu, was dann einen Grundbesitz von 834 ha ergibt. Luncz hingegen nennt 1902 682 ha Gesamtbodenfläche. Diese Daten finden sich bei: Chissin, 1976, S. 213, Tb v. 13.10.1886; Gvati, 1985, S. 13; Nawratzki, 1914, S. 123 u. Abraham Moses Luncz, Die jüdischen Colonien Palästinas, Jerusalem 1902, S. 1-4. Vgl. hierzu auch die bei Aaronsohn abgedruckte Gegenüberstellung: Aaronsohn, 1990, S. 288. 159 Vgl. Luncz, 1902, S. 3. 160 Abraham Moses Luncz, Literarischer Palästina-Almanach für das Jahr 5662 (1901/ 02), VII. Jg., Jerusalem 1901, auszugsweise zitiert in: „Die Welt" vom 13.9.1901 und 20.9.1901. Im weiteren zitiert unter Luncz, in: „Die Welt" vom 13.9. oder 20.9.1901. Für Rischon le-Zion vgl. Luncz, in: „Die Welt" vom 13.9.1901. „Die Welt" war das Zentralorgan der 1897 von Theodor Herzl ins Leben gerufenen zionistischen Bewegung und erschien von 1897 bis 1914. 161 Vgl. Jewish Colonies in Palestine 1902", ZZA, A2/132. 162 Vgl. Luncz, 1902, S. 4.
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zungen wie Oliven, Mandeln, Orangen u.a. hatten nur sehr viel kleinere Flächen zur Verfügung.163 Die Einnahmen der Kolonie betrugen im Jahre 1900 289.000 frs, von denen allein 285.000 frs aus dem Trauben- und Weinhandel stammten.164
7. Die anderen Siedlungen und die Motive der Einwanderer Die Gründung von Rischon le-Zion motivierte auch die ehemaligen Petach Tikwa-Siedler unter der organisatorischen Verantwortung von J. M. Pines, die wüst gefallene Kolonie wieder zu besiedeln. Neben Rischon leZion und Petach Tikwa gab es bis 1884 noch sechs weitere Koloniegründungen. Im Sommer 1882 gründeten rumänische Juden die Kolonie Rosch Pina, im Dezember folgte Samarin, später Sichron Jakow genannt. Auf die Initiative des in Odessa lebenden Kaufmanns Ruven Lehrer geht die Gründung von Wadi Chanin Ende 1882 zurück, der sein Grundstück in Odessa gegen Land in Palästina eintauschte, um dort seinen Traum vom Leben in Palästina zu verwirklichen. Die Arbeit Samuel Mohilewers für die Ansiedlung russisch-jüdischer Bauern in Palästina wurde im November 1883, nach erheblichen Problemen bei der Landbeschaflung, mit der Gründung der Kolonie Ekron abgeschlossen. Eine polnische Siedlungsgesellschaft: aus Mezritch (Miedzyrzec Podlaski) erwarb schließlich 1884 Land südlich des Hulesees und gründete dort die Kolonie Jessod Hamaala. Ebenfalls 1884 wurde die bereits erwähnte Bilu-Kolonie Gedera eingerichtet. Vor Beginn des zweiten Einwanderungshöhepunkts 1890/91 lebten in den acht Kolonien 2.600 Juden, der Landbesitz umfaßte 5.000 ha. Es stellt sich die Frage nach der Gewichtung religiöser und nationaler Motivationen der Kolonisten. Leicht einzuordnen in diesen Fragenkomplex sind die Biluim. Sie wollten die Erneuerung der jüdischen Nation durch das Einbetten dieser Nation in ein neues, gerechteres sozio-ökonomisches System erreichen.165 In religiösen Fragen wahrten die Biluim eine neutrale Position, was sie nicht vor der Feindschaft der orthodoxen Rabbiner in Rußland und Palästina schützte. Die Biluim waren aber nur eine kleine Gruppe innerhalb der ersten Alija, das Gros der Einwanderer hin-
163 Zahlen nach Luncz, in: „Die Welt" vom 13.9.1901. 164 Vgl. Nawratzki, 1914, S. 126. 165 Vgl. „Bilu-Manifest" in: Sokolow, 1969, Appendices, S. 332£ u. „Code de la Societe Bylu" 1883, ZZA, Kll/36.
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gegen wurde von orthodoxen Juden bestimmt.166 So prägte auch in den ländlichen Siedlungen, mit Ausnahme von Gedera, orthodoxes Denken und Handeln das tägliche Leben.167 Daher sprachen sich, nicht überraschend, die Einwohner von Rischon le-Zion vehement gegen eine Ansiedlung der Biluim aus, die in ihren Augen als gottlos und nihilistisch galten.168 Die Gründer von Petach Tikwa entstammten der strenggläubigen Bevölkerung Jerusalems, und die Kolonie blieb dieser Linie treu.169 Ekron, Jessod Hamaala und Rosch Pina galten ebenfalls als ein Hort der Orthodoxie.170 Auch der Gründer von Wadi Chanin muß zu den strenggläubgen Kolonisten gezählt werden, denn sein Streben in Wadi Chanin war vor allem in der Anfangszeit darauf ausgerichtet, einen Minjan171 zusammenzubringen. Zwar konnten nicht alle Kolonisten zur Orthodoxie gerechnet werden, aber die säkulare Minderheit mußte sich der Umgebung anpassen.172 Hinweise auf eine Auswanderung nach Palästina mit dem Vorsatz einer Staatsgründung lassen sich fur die Siedler der ersten Alija, mit Ausnahme der Bilu-Gruppe, nicht finden. Zwar waren die Kolonisten „national" eingestellt, doch dies betraf ihre Sicht des jüdischen Volkes, die sich in orthodoxer Religiosität, verbunden mit der Idee der Arbeit auf dem Land, manifestierte. An politischen Aktivitäten schienen die Mitglieder der Siedlungen jedenfalls kein Interesse gehabt zu haben. Von den Organisatoren
166 Orthodox meint in diesem Zusammenhang nicht die Anhänger des Chassidismus, sondern die auf Erhaltung der traditionellen Kultur bedachten Juden. 167 Elie Scheid schrieb über diese Zeit: „Les Juifs qui viennent de la Russie et de la Roumanie (...) etre plus religieux qu'on ne Test, generalement, en Europe." Scheid, 1901, S. 400. Dazu vgl. Luz, 1988, S. 66. 168 Vgl. Chissin, 1976, Tb v. 18.12.1882, S. 107£ 169 Joseph Lurie schrieb über Petach Tikwa: „In geistiger Hinsicht sind die Kolonisten kleinstädtisch, fromm und fanatisch. Die Frommen haben die Führung und suchen jede freie Regung zu unterdrücken." Joseph Lurie, Petach Tikwah, in: „Palästina" 1909, S. 167. Lurie (1871-1937) wurde in Litauen geboren, studierte in Berlin, war Mitglied des Bnei Mosche, nahm am ersten Zionistenkongreß teil und füngierte als Herausgeber verschiedener Zeitschriften. 1907 emigrierte er nach Palästina, um dort als Lehrer zu arbeiten. 170 Vgl. Golomb, (1946), S. 30. 171 Vgl. Moses David Schub, Geschichte und Beschreibung der Jüdischen Colonien in Palästina, Krakau 1895, (jiddisch), S. 11. Ein Minjan meint die vorgeschriebene Zahl von 10 männlichen Betern im Alter von mindestens 13 Jahren, die für einen Gottesdienst notwendig sind. 172 Vgl. Luz, 1988, S. 66.
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der Auswanderung in Osteuropa wurde ein solches Interesse auch nicht gewünscht, Bestrebungen in diese Richtung sogar energisch dementiert. Deutlich wird dies aus einem Rundschreiben des Central-Comites in Galatz vom Dezember 1882. Hier heißt es über die Intentionen der Kolonisation: „Die Mittel, die wir angewendet, und die Wege, die wir eingeschlagen, sprechen zu deutlich und beweisen ganz klar, wie fern wir von irgendwelcher politischer Tendenz sind. (...) Wir erklären also hiermit feierlich vor aller Welt, dass, wer diesem Unternehmen der Colonisation Palästina^ eine politische Richtung, eine nationale Färbung oder gar messianische Tendenzen zu geben sich untersteht, nichts mit uns und unserer Mission gemein hat («.)."173 Im März 1883 schrieb das Central-Comite an die AIU über die Siedler in Samarin, sie wären: „(...) hommes simples et sans pretensions, qui n'onts pas encore mange de l'„etz ha-daat" (hebr. Baum der Erkenntnis, E.P.). Leur devise est: Religion et Travail!"174 Bei diesen Aussagen ist aber zu bedenken, daß sie in einer Situation innerer und äußerer Bedrohung gemacht wurden. Der rumänische Staat bedrohte die jüdische Existenz im Land massiv, und politisch subversive Meinungen konnten schnell gegen die jüdische Gemeinde Verwendung finden. Auf der anderen Seite waren die finanziellen Mittel des CentralComites Ende 1882 erschöpft, so daß in Europa nach Geldgebern gesucht werden mußte, hierbei waren politisch aktive Siedler nicht erwünscht und konnten gerade bei der AIU zur Ablehnung des Hilfsgesuchs fuhren. Tatsächlich ist die unpolitische Tendenz der Kolonisten nicht zu leugnen. Dies zeigt sich ganz praktisch in Palästina in der apolitischen Ausrichtung des ersten kurzlebigen Arbeitervereins in den Kolonien.175
8. Analyse des ersten Gründungsabschnitts Dieser erste Gründungsabschnitt ist für die Entwicklung der Ersten Alija und für das Bild, das spätere Beobachter von der Einwanderung bekamen, 173 „Rundschreiben des Central-Comites in Galatz im Monat Tebeth 5643", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 54,17.1.1883. 174 Pineles und Abeles an die AIU, 11.3.1883, ZZA, A144/12. 175 Bereits 1887 wurde in Rischon le-Zion ein Arbeiterverein gegründet („Agudat Hapoalim"), der sich aber weniger mit politischer Arbeit beschäftigte, als vielmehr mit den Problemen der Arbeitssuche. Vgl. David Ben-Gurion, Die Arbeiter der Ersten Alija (1932), in: Jisrael, Volk und Land, Jüdische Anthologie. Hrsgb. v. Hechaluz, Deutscher Landesverband, Berlin 1935, S. 162 u. Chissin, 1976, Tb v. 21.3.1887, S. 226.
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von großer Bedeutung. Daher wird die Situation in den Kolonien noch etwas näher analysiert. Die Jahre 1882 bis 1889 waren gekennzeichnet durch die fast vollständige Abhängigkeit der Siedlungen von Rothschild, die Durchsetzung seines Wirtschaftssystems und die sich dadurch entwikkelnde Fundierung der Ökonomie auf Weinbau. Die zweite in Palästina für die Kolonisation tätige Organisation waren die Chibbat Zion-Vereine, deren Einfluß in der ersten Dekade der Besiedlung nach der Übernahme des Siedlungwerkes durch Rothschild als äußerst gering beurteilt werden muß. Ihnen fehlten die finanziellen Mittel, um eine ihren Vorstellungen entsprechende Kolonisation durchzufuhren. Gezwungenermaßen beschränkten sie sich auf punktuelle Unterstützungen. Hinzu trat die Schwierigkeit der Chibbat Zion, die zionistischen Ideen in ihrem osteuropäischen Einzugsgebiet zu verbreiten, da jede den Machthabern suspekt erscheinende Vereinigung starken Repressalien ausgesetzt war. Die daher nur geringe Mitgliederzahl der Vereine implizierte ein entsprechend geringes Finanzaufkommen. Auch der Plan, von Osteuropa aus die Idee der Palästinabesiedlung unter den vermögenden westeuropäischen Juden populär zu machen, schlug fehl.176 In der ersten Dekade bemühte sich die Vereinigung um Hilfe für neun Familien in Petach Tikwa und die Unterstützung der Siedlung Gedera. Rothschild selbst hatte zwar nur Ekron gegründet, doch wurden die vier Siedlungsgesellschaftsgründungen Rischon le-Zion, Rosch Pina, Sichron Jakow und Jessod Hamaala vollständig seiner Verwaltung unterstellt. Ruven Lehrers Wadi Chanin177 und die Bilu-Kolonie Gedera178 erhielten in dieser Periode zwar unregelmäßige, aber nicht ganz unbedeutende Zuschüsse aus Paris. In Petach Tikwa subventionierte Rothschild ab 1887 die Hälfte der dort siedelnden Familien179 und bestimmte aufgrund seiner großen finanziellen Möglichkeiten auch in dieser Kolonie die ökonomische Entwicklung. Außer der Siedlung Jessod Hamaala, die bedingt durch ihren zum Weinbau ungeeigneten Boden wirtschaftlich auf einen nur magere Ernten erbringenden Getreidebau angewiesen war, betrieben die verbleibenden sieben Siedlungen den von Rothschild geforderten Weinbau. Es kann angenommen werden, daß diese Siedlungen ihre gesamte Trauben-
176 Vgl. Kap. V, Abschnitt „Die Kattowitzer Konferenz 1884 und ihre Folgen". 177 Vgl. Simchah Ben Zion, Nes-Zionah, Jerusalem 1931, S. 19. Dieses Buch enthält eine detaillierte Schilderung der Kolonie, jedoch ohne exakte Quellennachweise. 178 Vgl. Erlanger an Pinsker, 14.6.1887, 21.5.1888 u. 14.6.1888, in: Druyanow II, Sp. 175, 523£, 540-542. 179 Vgl. Schub, 1895, S. 28 u. Beikind, 1917, S. 201.
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ernte an die Kellereien des Barons verkauften, da in den Quellen Hinweise auf Verkäufe an andere Abnehmer fehlen. Die Kolonisten und die Rothschild-Verwalter gerieten sehr schnell in heftigen Streit, ausgelöst durch ihre unterschiedlichen Vorstellungen über eine Kolonisation in Palästina Den Anspruch der Kolonisten, Siedlungen mit nationalem, selbstbestimmten Charakter zu etablieren, lehnten die Verwalter ab. Sie verstanden sich als Administratoren eines Wirtschaftsunternehmens, das den Anweisungen aus Paris zu folgen hatte. Warum sollten sie die Siedler auch anders behandeln als der Baron selbst, der sie für eine Gesellschaft unmündiger Bettler hielt180 Die Kolonisten, als die eigentlichen Initiatoren des Siedlungswerkes, gerieten in die Rolle ausführender Organe ohne jede eigene Entscheidungsbefugnis, was sich in einer Äußerung Elie Scheids widerspiegelt, der in seinen Memoiren schreibt: „Pour moi, les colons devaient etre, et l'etaient, en realite, tous, mes enfants, et je les traitai en pere qui aime sa famille. Cela me faisait mal au coeur, quand j'etais oblige de punir Tun d'eux."181 Scheids fürsorglich klingende Bemerkungen erscheinen in einem anderen Licht, wenn man die scharfe Kritik heranzieht, die er von seiten der Kolonisten erfuhr. Ihm wurde eine ausgedehnte Mätressenwirtschaft nachgesagt.182 Helene Papiermeister, Frau des Kolonisten Baruch Papiermeister, schreibt Ende des 19. Jahrhunderts, Scheid sei „(...) ein Mensch, der niedrigen Leidenschaften fröhnt, benannt bei uns einfach „Auswurf der Natur"."183 Zunächst stand aber an erster Stelle der Kritik die von Israel Beikind angeprangerte maßlose Geldverschwendung und die riskanten wirtschaftlichen Unternehmungen der Verwaltung.184 Noch 1891 kritisierte Achad Haam das bloße „Experimentieren" der Rothschild'schen Gärtner in den Weinbergen, das auf absehbare Zeit nicht zu einer konsolidierten Wirt180 Vgl. Yoram Mayorek, Zwischen Ost und West: Edmond de Rothschild und Palästina, in: Heuberger, 1994, S. 1368". 181 Scheid, 1901, S. 91. 182 Vgl. „Lettre d'un colon independant de Palestine", Octobre 1896, ZZA, A408/169. 183 Helene Papiermeister an Israel Zangwill (entnommen der Kopie des Briefes in einem Schreiben an Theodor Herzl, o.D., verfaßt wahrscheinlich nach Herzls Englandreise im November 1895, S. 2), ZZA, Η VIII 630. Über die Rolle der Frauen in der Ersten Alija vgl. Margalit Shilo, The Transformation of the Role of the Women in the First Aliyah, 1882-1903, in: Jewish Social Studies, N.S., Vol. 2, No. 2, Winter 1996. 184 Vgl. Belkind, 1917, S. 95f u. Jacobus Henricus Kann, Erez Israel, Köln-Leipzig 1909, S. 105£ Kann (1872-1945), Bankier und Gründer der zionistischen Organisation in den Niederlanden, war im Frühjahr 1907 drei Monate in Palästina, um Material für sein Buch zu sammeln.
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schaft fuhren könne, wobei die Rothschild-Gärtner hier als negatives Vorbild fungierten, denn: „Alle Kolonien, alte und neue, folgen blindlings dem Vorgehen der Gärtner des Barons."185 Rothschilds kolonisatorisches Engagement fur seine Siedler war ebenfalls Gegenstand harter Kritik der Siedler: „Unsere Lage ist unerträglich, Rothschild colonisiert Administratoren, das Maß unserer Leiden ist übervoll, wann wird es ein Ende nehmen?"186 Der ökonomischen Kritik folgte dann schnell das Anzweifeln persönlicher Integrität. Nicht zu Unrecht, glaubt man Beikind, der seiner Kritik noch den Vorwurf folgen läßt, die Verwalter hätten nur für den Reichtum der Kaufleute und Händler in Palästina gesorgt, nicht aber für die Konsolidierung der Kolonien.187 Im Gefühl einer auf der Macht des Geldes basierenden autokratischen Herrschaftsform in den Kolonien griffen die Verwalter immer stärker auch in den sozialen Bereich der Kolonisten ein. Neben dem Wunsch nach wirtschaftlicher Selbständigkeit wurde den Siedlern so auch die persönliche Freiheit eingeschränkt, und gerade solche Einschränkungen hatten sie doch aus Rußland nach Palästina gefuhrt. Die Aufstände in Rischon le-Zion 1884 und 1887 waren signifikante Zeichen für den Widerstand zum einen gegen tyrannische Verwalter, zum anderen aber auch gegen das drohende Scheitern aller idealistischen Pläne, aller Chibbat Zion-Vorstellungen.188 Das sich manifestierende Problem des Selbstbewußtseins, des Selbstverständnisses der Siedler hatte sich bereits in den ersten Jahren der Rothschild-Verwaltung angedeutet. Die Siedlungen existierten nur dank der Pariser Subventionen,189 und ein Gefühl der Erniedrigung überkam die Kolonisten.190 Zwar hatte das Geld des Barons die Kolonisation gerettet, aber, wie Mozkin 1898 äußerte, „(...) das Menschliche, das Schöne, das Grosse des Kampfes für Selbständigkeit, für Menschenwürde und Selbsthilfe war mit einem Schlag vernichtet."191 185 Achad Haam, Die Wahrheit aus Palästina, 29.5.1891, zitiert nach: A m Scheideweg, 1. Bd., 1923, S. 91. 186 H. Papiermeister an Zangwill, o.D., ZZA, Η VIII 630. 187 Vgl. Beikind, 1917, S. 95£ 188 Beikind schreibt, daß es kleinere Aufstände auch in Sichron Jakow, Rosch Pina und Ekron gegeben habe, da die Probleme in allen Kolonien dieselben seien. Nach dem Scheitern des ersten Aufstandes aber hätten sich die anderen Kolonien aus Angst vor der Administration zum Schweigen entschlossen. Vgl. Beikind, 1917, S. 67£ 189 Ebenda, S. 98. 190 Ebenda, S. 95. 191 L e o Mozkin, Eine Fahrt nach Galiläa (Aus Tagebuchblättern), 24.7.1898, ZZA, A 1 2 6 / 2 2 . Mozkin besuchte 1898 im Auftrag Herzls Palästina, um sich einen Überblick über die Situation der Kolonien zu verschaffen und seine Eindrücke auf dem Zweiten Zionistenkongreß 1898 vorzutragen.
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Nach den Aufständen gab es augenscheinlich keine Besserung im Verhältnis der Kolonisten zu den Verwaltern, von „Despotismus" ist häufig die Rede.192 Doch war die Kraft der Siedler gebrochen, man begann sich anzupassen und entwickelte eine Gesellschaftsordnung, die am Ende des 19. Jahrhunderts von Seiten der zionistisch gesinnten Juden zu heftiger Kritik Anlaß gab. Grundtenor war, daß die wohltätige Unterstützung der Kolonisten diese völlig entmündigt und ihnen jede Selbstinitiative geraubt habe. Schlimmer noch, die „(...) Wohltätigkeitscolonisation (...) hat die Charaktera verdorben und in jeder Hinsicht geschadet.""3 Resultat war zunächst eine bereits von Achad Haam 1891 konstatierte Tendenz zur Abkehr von den einstigen Idealen und eine Hinwendung zur bloßen Bereicherung. Wenig Arbeit, möglichst in einer Tätigkeit als Aufseher, sollte großen Verdienst bringen.194 Achad Haam formulierte überspitzt die neue Ideologie der Siedler: „Reichtum oder Tod!"195 Die Kritik an den nur an bequemer Arbeit unter der Oberaufsicht einer suspekten Verwaltung interessierten Kolonisten findet sich dann besonders ab 1896 in den jüdischen Kreisen Palästinas, die sich als Anhänger des Herzl'schen Zionismus verstehen.196 Die mangelnde Selbstinitiative und die Unmündigkeit wurden den Kritikern der Rothschild'schen Kolonien im Laufe der Zeit wichtiger als die rein ökonomische Kritik. Angetreten unter der Prämisse, eine neue Heimat im Land der Vorväter aufzubauen, gegründet auf traditionelle jüdische Motive, vermochten sich die Kolonisten nicht gegen den materiellen Pragmatismus der Administration durchzusetzen. Herzl schrieb auf seiner Palästina-Reise 1898 fast mitleidig über die Probleme der Kolonisten mit der Verwaltung des Barons: „Uber allem schwebt die Furcht vor dem Herrn Baron. Die Kolonisten haben eine Angst mit der anderen ver-
192 Vgl. Beikind, 1917, S. 98 u. Helene Papiermeister an T. Herzl, 26.3.1897, S. 2, ZZA, Η VIII 630. 193 Η. Papiermeister an Herzl, 26.3.1897, S. 2, ZZA, Η VIII 630. 194 Vgl. Achad Haam, Die Wahrheit aus Palästina, 29.5.1891, zitiert nach: A m Scheideweg, 1. Bd., 1923, S. 93. 195 Ebenda, S. 93. 196 „Die Partei der Zionisten (...) macht den Rothschild'schen Kolonien den Vorwurf dass, abgesehen von einer demoralisierten und demoralisierenden Verwaltung (...) dort anstrengende Arbeit sehr vernachlässigt würde und fast ausschliesslich der wenig körperliche Arbeit erfordernde Weinbau eingeführt wurde, welche fast nur von gemieteten Fellachen besorgt werde, während sich die jüdischen Kolonisten damit begnügten Aufseher zu sein." Konsul Tischendorf an Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfurst, Jerusalem, 19.6.1897, in: Eliav, 1973, Dok. 163, S. 236.
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tauscht."197 Diese Angst und die erlittene Niederlage im Kampf um ihre Selbständigkeit ließ J.B. Sapir 1903, am Vorabend der Zweiten Alija, die Kolonisten als „(...) eine Heerde bevormundeter Schafe"198 bezeichnen. Am Ende dieser Kritik steht die Feststellung, daß die Kolonisten dem ersten Anschein nach zweimal vor eine Wahl gestellt wurden, bei der sie über ihr weiteres Schicksal selbst entscheiden konnten. Dies war 1882 zunächst die Suche nach einem externen Subventionsgeber sowie 1883/84 die Frage, ob Wein oder Getreide angebaut werden solle. Die ökonomische Lage im Herbst 1882 ließ den Kolonisten keine andere Möglichkeit, als externe Hilfe zu suchen. Der französische Einfluß in Palästina - über Mikweh Israel respektive die AIU ausgeübt - erleichterte die Kontakte nach Frankreich. Doch zunächst wandten sich die Kolonisten nach Deutschland, und als dies scheiterte, nach Frankreich. In Paris wurde zuerst die AIU um Hilfe gebeten, und erst nach deren Zusage sprach Feinberg bei Edmond de Rothschild vor. Wußten die Kolonisten, auf was sie sich einließen, wenn sie Rothschild in das Werk einbrachten? Glaubten sie ernsthaft, Edmond de Rothschild würde die Siedlungen subventionieren, ohne sich selbst eine Form der Kontrollmöglichkeit und eines administrativen Eingriffs vorzubehalten? Dies ist schwer zu beantworten und läßt sich aus den Quellen nicht genau entnehmen. Vielleicht verstellte den Kolonisten die großzügige Spende, verbunden mit der Zusage weiterer Hilfe, den Blick auf die Konsequenzen einer Rothschild'schen Förderung. Vielleicht überschätzten sie auch den Eindruck, den die Chibbat ZionIdeen auf den Baron machen würden. Wenn die Kolonisten denn tatsächlich im Herbst 1882 an eine reine Spendentätigkeit Rothschilds geglaubt hatten, müssen sie zwar als naiv bezeichnet werden, jedoch legten sie diese Naivität noch zu Ende des Jahres ab, wie die Geschichte Rischon le-Zions eindrucksvoll zeigt. Eine andere Frage ist, inwieweit Feinberg in Paris überhaupt in der Position gewesen ist, Forderungen gleich welcher Provenienz zu stellen. Die Kolonien waren zu diesem Zeitpunkt ökonomisch so schwach, daß schnelle pragmatische Hilfe nötig war und weniger Bewunderung oder Festschreibung ideeller Motive. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Wahlmöglichkeit der externen Subvention also nur als eine
197 Theodor Herzl, Tagebucheintrag 27.10.1898, zitiert nach: Theodor Herzls Tagebücher, 1895-1904, Zweiter Band, Berlin 1923, S. 206. 198 J.B. Sapir, Der Zionismus, Brünn 1903, S. 75. Sapir (1869-1935), einer der populärsten zionistischen Führer in Odessa, war Mitglied in der Palästinakommission und des Actions-Comites der Zionistischen Organisation.
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Scheinwahl, die Kolonisten mußten die ökonomische Hilfe nehmen, die sich ihnen bot, ohne jede Rücksicht auf spätere zu erwartende Folgen für ihr Gemeinwesen. Daß sich aus der ersten 25.000 Francs-Spende Rothschilds schließlich der „Vater des Jischuws", die Phase der sogenannten „Rothschild-Kolonisation" entwickeln würde, konnte im Herbst 1882 niemand vorhersagen. Die zweite Wahl betraf die Frage nach dem Fruchtsortenanbau im Winter 1883/84. Die Möglichkeit, über einen subventionierten Weinbau die Ökonomie auf sichere Basis zu stellen, eine Möglichkeit, die von den Kolonisten vorher nicht erwogen wurde, schien alle Ideen einer autarken Landwirtschaft vergessen zu machen. Es stellt sich wieder die Frage, hatten die Siedler eine andere Wahl und konnten sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung abschätzen? Eine andere Wahl hatten sie den Schilderungen Chissins zufolge schon, doch erscheint es zweifelhaft, ob die Rothschildverwaltung die Entscheidung für den Getreidebau, der mit erheblichen Landkäufen verbunden gewesen wäre, auch tatsächlich mitgetragen hätte. Wie schon bei der Frage nach dem Engagement Rothschilds ist man geneigt, auch bei dieser Entscheidung die Siedler von zu großer Verantwortung fur die weitere Entwicklung in den Kolonien, die in ihren Augen eher negativ war, freizusprechen. Aber zwischen dem Herbst 1882 und dem Winter 1883/84 lag mehr als ein Jahr Erfahrung mit der Rothschild-Verwaltung. Die Folgen eines Monokulturanbaus, verbunden mit der völligen Abhängigkeit von den Rothschild'schen Subventionen, hätte den Kolonisten bewußt sein müssen. Daß sich 1883/84 noch nicht die spätere apathische „Nehmerhaltung" in den Kolonien durchgesetzt hatte, die schon zu diesem frühen Zeitpunkt anzunehmen, der Entscheidung für den Weinbau allerdings eine andere Qualität geben würde, beweisen die Aufstände hinlänglich. Doch da war es schon zu spät. Nach der Entscheidung im Winter 1883/84 gab es keine Umkehr mehr, und dies wußten auch die Kolonisten. Rischon leZion wurde fast folgerichtig, zusammen mit Sichron Jakow, die typische Vertreterin einer Rothschild-Kolonie. Trotz aller Kritik bleibt unbestritten, daß die ländlichen Siedlungen die Anfangsjahre nur durch die massive finanzielle Hilfe Rothschilds überstanden. Eine in den ersten Jahren von derartigen ökonomischen Fehleinschätzungen und Fehlschlägen begleitete Kolonisation hätte ohne den „wohlbekannten Gönner" mit großer Wahrscheinlichkeit die Mitte der 1880er Jahre nicht überstanden, und es wäre möglicherweise nicht zu einer zweiten Einwanderungswelle gekommen, wie sie 1890/91 stattfand.
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In der den ersten Pogromen folgenden Dekade bis zum Tod Alexanders III. 1894 wurden die liberalen Reformansätze für die jüdische Bevölkerung Rußlands durch rigide Restriktionen zersetzt. Neue Bestimmungen über Wohnrecht, Berufswahl und Militärdienst demütigten die Juden und führten zu einer weiteren Entrechtung.1 Wie sehr sich die jüdische Bevölkerung bedroht fühlte, zeigt ein Brief des Bibliographen William Zeitlin (1850-1921) aus Kiew an Nathan Birnbaum vom Januar 1886. Zeitlin schildert die Lage der Juden in drastischen Worten und schließt mit dem Fazit: „Man geht darauf mit Entschiedenheit aus, das Judenthum in Russland gänzlich zu vernichten."2 1890 begann die zaristische Regierung sich mit der legalen Auswanderung der jüdischen Bevölkerung zu befassen, die bisher als strafwürdiges Vergehen gegolten hatte.3 Sie legalisierte eine jüdische Auswanderungsgesellschaft, um die gewünschte Emigration auch von dieser Seite zu beschleunigen. Das daraufhin im April desselben Jahres gegründete „Odessaer Komitee" (O.K.) bemühte sich, die Arbeit der Chibbat Zion fortzusetzen und etablierte in Jaffa ein eigenes Exekutivkomitee.4 Negativer Höhepunkt der antisemitischen Politik Rußlands war die im März 1891 begonnene Ausweisung von 20.000 jüdischen Handwerkern und Gewerbetreibenden aus Moskau.5 Diese Ereignisse veranlaßten Baron Maurice (Moritz) de Hirsch (18311896), in London die Jewish Coloniziation Association 0CA) zu gründen,6 1
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Bereits im Mai 1882 hatte die Regierung das sog. „Provisorische Reglement" erlassen, das die freie Wohnortwahl erheblich einschränkte. Diese „provisorisch" genannte Regelung hatte dann bis 1917 Gültigkeit. Vgl. Dubnow, 1971, S. 482-490 u. Ben-Sasson, 1980, S. 198-200. Zeitlin an Birnbaum, 15.1.1886, ZZA, A188/5/5. Vgl. Hans Rogger, Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, London 1986, S. 177. Vgl. Artikel „Odessa Committee", in: EJ, 16:964f u. Kap. V, Abschnitt „Die Kattowitzer Konferenz 1884 und ihre Folgen". Moskau lag nicht im Ansiedlungsrayon, die dort lebenden Handwerker waren aber auf Geheiß Alexanders II. nach Moskau gekommen und lebten somit legal in dieser Stadt. Vgl. Dubnow, 1971, S. 492 u. Ben-Sasson, 1980, S. 201. Zur Geschichte der Juden im Zarenreich und der Vertreibung 1891/92 aus Moskau vgl. auch als zeitgenössische Darstellung: Harold Frederic, The New Exodus, London 1892. Für die Geschichte der JCA vgl. Theodore Norman, An outstretched Arm. A History of the Jewish Colonization Association, London 1985.
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an der auch Edmond de Rothschild als Aktionär beteiligt war.7 Ziel dieser Organisation sollte es zum einen sein, verfolgten Juden zur Emigration zu verhelfen, wobei Hirsch nur die Emigration nach Nord- oder Südamerika zu unterstützen gewillt war, zum anderen Wirtschaftshilfen zu gewähren. Schwerpunkt der Arbeit der JCA war aber eindeutig die Emigration. Hierzu trat sie sogar mit der zaristischen Regierung in direkten Kontakt und unterbreitete ihre Pläne einer Südamerika-Kolonisation.8 Die Auswanderungszahlen wurden durch die antisemitische Politik des zaristischen Rußlands unmittelbar beeinflußt. Allein die Zahl der nach Amerika auswandernden Juden stieg im Jahresdurchschnitt von 12.856 in den Jahren 1881-86 auf 44.829 für 1891-95.' Im Jahre 1891 stieg die Auswanderung kurzfristig sogar auf 100.000 an,10 von denen allein bis Juli dieses Jahres ca. 3.000 Juden nach Palästina gingen und dort den zweiten Einwanderungshöhepunkt der Ersten Alija bildeten.11
1. Das Exekutivkomitee in Jaffa Die verstärkte Einwanderung aus Osteuropa und die Möglichkeit, von Rußland aus mit einer legalen Organisation im zionistischen Sinne agieren zu können, sorgte für neue Impulse und Aktivitäten in Palästina. Schon über das Jahr 1890 heißt es in einem Report der Jaffaer Loge „Schaar Zion" (Tor Zions) vom 1.12.1890: „Um jene Zeit, wo die unglückliche, aus Rußland vertriebene Emigrantenmasse einem Strome gleich sich namentlich über Jaffa ergoss, war die Frage nach Arbeit eine sehr starke. Während man hier Arbeit suchte u. nicht fand, bedurfte man dringend der Arbeiter in den jüdischen Colonien. Die Emigranten, wildfremde Leute, konnten sich nicht so leicht orientieren u. erfuhren von der guten Gelegenheit
7 Die anderen Aktionäre waren J. Goldsmid, Sir Ernest Joseph Cassel, F.D. Mocatta, Benjamin S. Cohen, S.H. Goldsmidt und Salomon Reinach. Vgl. Artikel Jewish Colonization Association", in: EJ, 10:44. 1893 wurde Rothschilds Aktienkapital auf die jüdischen Gemeinden von Brüssel, Frankfurt und Berlin verteilt. 8 Der Plan scheiterte schließlich an den für die JCA unerfüllbaren Forderungen der russischen Regierung. Vgl. Norman, 1985, S. 45-53 u. Rogger, 1986, S. 180. 9 Zahlen nach Rogger, 1986, S. 178. 10 Zahl nach Dubnow, 1971, S. 494. 11 Zahl nach Sachar, 1985, S. 32.
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möglichst gar nichts."12 Die Schilderung zeigt die veränderten Bedingungen und neuen Aufgaben in Palästina. Das O.K. schickte fiir diesen Zweck Seev Wladimir Tiomkin (18611927) im November 1890 nach Palästina.13 Zusammen mit seinem Mitarbeiter J. Chankin bemühte sich Tiomkin, Arbeit für die Neueinwanderer zu beschaffen, vor allem aber Boden im Namen des O.K. zu kaufen. Nach einigen raschen Anfangserfolgen setzten die Einwanderer große Hoffnungen auf Tiomkin und übergaben ihm ihr Kapital. Doch Tiomkin gelang es nicht, das durch unkontrollierte Bodenkäufe ausgelöste Spekulantenwesen einzudämmen. Der einmal in Gang gesetzte inflationäre Kreislauf ließ sich nicht mehr stoppen, und der Preis für Land stieg in astronomische Höhen. Zu den Problemen in Palästina kam, daß Tiomkin über seine Aktivitäten und die ständige Budgetüberschreitung nur unzureichend nach Odessa berichtete.14 Das O.K. sandte daraufhin im Frühjahr 1891 eine Kommission mit dem Schriftsteller Achad Haam (1856-1927)15 an der Spitze nach Palästina, um die dortigen Verhältnisse zu untersuchen. Bereits 1889 hatte Achad Haam eine scharfe Kritik an der Kolonisation veröffentlicht, in der er den Materialismus und die mangelnde Eignung der Kolonisten anpran-
12 Generalbericht der Loge „Schaar Zion" No. 409 zu Jaffa, Jerusalem 1894, S. 7. ZZA, A109/113. Die Loge wurde am 21.4.1890 in Jaffa mit dem Ziel gegründet, die Erziehung der Jugend und die Bildung des Volkes zu fördern sowie das allgemeine Elend zu lindern. 13 Tiomkin, geboren in Elisawetgrad als Sohn einer assimilierten Familie, studierte an der Petersburger Technologischen Hochschule (Abschluß 1886), nahm an den ersten revolutionären Bewegungen in Rußland teil und Schloß sich nach den Pogromen 1881 der Chibbat Zion an. Er besuchte als Delegierter die Kattowitzer Nachfolgekonferenzen in Druskieniki (1887) und Wilna (1889). Vom O.K. wurde er ausgewählt, in Jaffa ein Exekutivkomitee zu errichten. Zur Biographie vgl. Eliav, 1981, Vol II, S. 415£ u. Artikel „Tiomkin, Ze'ev Vladimir", in: EJ, 15:1148£ 14 Vgl. Yaari, 1958, S. 215. 15 Achad Haam (hebr.: einer aus dem Volk) ist das Pseudonym des Schriftstellers Ascher Hirsch Ginzberg. Er erhielt eine traditionelle jüdische Erziehung, eignete sich aber auch autodidaktisch Kenntnisse in verschiedenen europäischen Sprachen an sowie über Philosophie und Wissenschaft. 1884 kam er aus seinem Heimatort in der Kiever Provinz nach Odessa, dem Zentrum für hebräische Literatur und Zionismus. Er wurde Mitglied der Chibbat Zion, blieb aber zeit seines Lebens ein Kritiker der Kolonisationspraktiken der Chibbat Zion und des später von Herzl repräsentierten politischen Zionismus. Achad Haam sah die Basis für eine erfolgreiche Siedlung in der verbesserten jüdischen Erziehung der Jugend und gilt daher als Wegbereiter des Kulturzionismus, der in Palästina vor allem eine geistige Heimat des Judentums errichtet sehen wollte. Zur Biographie und Ideengeschichte bei Achad Haam vgl. Zipperstein, 1993.
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gerte.16 Nach dreimonatigem Aufenthalt 1891 in Palästina schrieb Achad Haam einen Artikel über die Situation in den Siedlungen, der schonungslos die Schwachstellen der Kolonisation aufdeckte und damit eine wichtige Quelle darstellt, um ein Bild über die Situation 1891 zu erhalten.17 Diese Schwachstellen, schrieb Achad Haam, lägen nicht im möglicherweise schlechten Boden, das Gegenteil sei der Fall, die Probleme lägen in der Art und Weise, wie die Kolonisation durchgeführt werde. An erster Stelle kritisierte Achad Haam die Informationen aus Palästina, die grundsätzlich euphemistischer Natur seien. Daher herrsche in Europa immer noch eine große Unkenntnis über Palästina, obwohl die Zahl der Bücher und Artikel über das Land Legion seien. Die Kolonisten würden nicht nach Kriterien ausgesucht, die sie für eine Arbeit in den Kolonien befähigten, sondern nach rein materiellen Gesichtspunkten. Daher nehme es auch nicht Wunder, daß eben diese Kolonisten in Palästina nur den schnellen Reichtum suchten. Das Spekulantenwesen habe überhandgenommen und werde möglicherweise die türkische Regierung dahingehend beeinflussen, ihre Einwanderungsgesetze wieder zu verschärfen. Seine Kritik ließ Achad Haam in der Forderung nach einer Zentralisierung aller Bemühungen in Palästina münden. Einen ersten Schritt hierzu sah er in der Gründung des JafFaer Komitees, doch sei dessen Macht noch zu sehr begrenzt, um Ordnung in das palästinensische Chaos zu bringen.18 Bis zum Sommer 1891 stieg die Einwanderungsquote stetig an: „Der Drang nach Palästina unser hier niedergedrückten Brüder ist zu sehr groß, als daß Mangel an Kraft, Mittel und Ortskenntniß viele davon zurückhalten könnte",19 schrieb Grigory Syrkin aus Minsk an Samuel Hirsch. Von Januar bis Juli 1891 kamen nach Schätzungen ca. 3.000 Juden nach Palästina.20 Viele dieser Einwanderer waren mittellos21 und verstärkten die Ar16 Vgl. Achad Haam, Nicht dies ist der Weg! 4.3. u. 13.5.1889, zitiert nach: Am Scheideweg, 1. Bd, 1923, S. 41-64. 17 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Achad Haam, Die Wahrheit aus Palästina, 29.5.1891, zitiert nach: Am Scheideweg, 1. Bd, 1923, S. 84-112. 18 Die letzte Bemerkung steht im Gegensatz zu der Analyse bei Yaari, der schreibt, daß Achad Haam in seinem Essay die Arbeit Tiomkins mißbilligt und damit seine Position geschwächt habe. Vgl. Yaari, 1958, S. 215. 19 Grigory Syrkin an Samuel Hirsch, 12724.1.1891, ZZA, J41/85. Syrkin (1838-1922) war Vorsitzender der Auswanderungsgesellschaft „Dorsche Zion" in Minsk und wandte sich an Hirsch mit der Bitte um Hilfe beim Landkauf. 20 Vgl. S.S. Murad an den Kaiserlichen Konsul Dr. von Tischendorf, Jerusalem, 10.8.1891, in: Eliav, 1973, S. 210. 21 Vgl. John Dickson an Edmund Fane, Jerusalem, 16.7.1891, in: Hyamson, 1939-41, S. 462.
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mut in der überfüllten Stadt Jaffa Ungeduldig warteten die Emigranten auf die Möglichkeit, im Land zu siedeln. Die türkischen Behörden hatten die wieder gestiegenen jüdischen Aktivitäten in Palästina besorgt bebachtet.22 Die bereits seit 1881/82 bestehenden Befürchtungen der Türken hatten sich nicht gelegt, sie sahen sich zu neuen restriktiven Maßnahmen veranlaßt, wie es Achad Haam bereits vorhergesehen hatte, und verboten „(...) das Ansiedeln der Israeliten in Palästina und Syrien, sowie überhaupt das Erwerben von Grund und Boden (...)".23 Eine offizielle Begründung fanden diese Maßnahmen in einer Quarantänefunktion, da in diesem Jahr eine Choleraepidemie im Orient grassierte.24 Die Einwanderungsbeschränkung wurde von den türkischen Behörden nach kurzer Zeit modifiziert und bezog sich dann nur noch auf das Verbot von Masseneinwanderungen. Der Erwerb von Grund und Boden blieb den Juden untersagt,25 und genau das bereitete den Kolonien in den 1890er Jahren erhebliche Probleme. Die Situation 1891 verschärfte sich durch die Einfuhrung der neuen Bestimmungen allerdings erheblich, begüterte Juden forderten ihr Geld von Tiomkin zurück und verließen fluchtartig das Land,26 während sich die immer noch eintreffenden mittellosen Einwanderer mit Bitten um finanzielle Hilfe an ihn wandten.27 Doch die einsetzende Massenflucht vor allem der begüterten Juden und der damit einhergehende finanzielle Verlust28 ließen sich nicht auffangen, ein letzter Versuch zur Rettung des Begonnenen schlug fehl,29 und Tiomkin wurde von der Chibbat Zion noch
22 Vgl. Yaari, 1958, S. 216. 23 S.S. Murad an den kaiserlichen Konsul Dr. von Tischendorf Jerusalem, 10.8.1891, in: Eliav, 1973, S. 211. Murad schreibt weiter, daß die neue Regelung nur Anwendung auf russische und griechische Juden finde, jedoch treffe noch wöchentlich eine beträchtliche Anzahl Juden ein. Inwieweit daher diese Regelung erfolgreich durchgeführt werden könne, entziehe sich seiner Kenntnis. 24 Vgl. Willy Bambus, Die jüdischen Dörfer in Palästina, Berlin 1896, S. 21 u. Brief von Dr. Kraus aus Bulgarien an den Direktor von Mikweh Israel, 2.11.1891, ZZA, J41/202. Kraus erkundigt sich in diesem Brief ob die Berichte über eine Choleraepidemie stimmten und daher die Schiffe injafiä nicht mehr anlegen könnten. 25 Zur Modifizierung der Einwanderungsbestimmung und zum Fortbestehen des Erwerbsverbots vgl. Brief von Schmidt, Kaiserliches Konsulat in Jaffa, an W. Bambus, 23.8.1898, in: Eliav, 1973, S. 241f 26 Vgl. Moshe Smilansky, Erlöser des Bodens, Jerusalem 1949, S. 28 u. 31. 27 Vgl. Yaari, 1958, S. 215f 28 Vgl. Smilansky, 1949, S. 28 u. 31. 29 Vgl. Yaari, 1958, S. 216.
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1891, kaum ein Jahr nach seiner Ankunft, nach Odessa zurückgerufen.30 Tiomkins Engagement hatte große Hoffnungen geweckt, sein Scheitern wirkte sich verheerend auf die Chibbat Zion- und die Kolonisationsbewegung aus.
2. Die Koloniegründungen der zweiten Phase Trotz Tiomkins Scheiterns kam es bis 1896 zu neun weiteren Koloniegründungen, die sich in zwei Phasen teilen lassen. Die erste Gründungsperiode 1890 bis 1893 umfaßte fünf Siedlungseinrichtungen. Drei dieser Siedlungen, Rechowot, Hadera und Ain Seitim, waren Gründungen osteuropäischer Siedlungsgesellschaften, die versuchten, sich und damit ihre Kolonien durch die Mitgliedschaft wohlhabender Juden von philanthropischen Unterstützungen unabhängig zu machen. Mischmar Hajarden war eine Gründung bereits in Palästina arbeitender Juden, und Moza wurde vom Jerusalemer Zweig der Bnei Brit-Loge etabliert. Ain Seitim und Moza erhielten Subventionen von ihren Gründern, Mischmar Hajarden dagegen war durch seine abgelegene Lage im Norden gezwungen, die Ernte zu Billigstpreisen an arabische Händler zu verkaufen, erhielt aber vom O.K. finanzielle Unterstützung.31 Die Mittel des O.K. waren aber nicht ausreichend, um die finanziellen Probleme der Chibbat Zion in Palästina zu lösen. Rechowot und Hadera wiederum waren durch eine immer größer werdende Rothschild-Abhängigkeit gekennzeichnet. Rechowot wurde zwar als eigenständige Kolonie gegründet, doch bereits bei der Häuserbaugenehmigung war sie auf die Hilfe Rothschilds angewiesen.32 Die Konzentration auf den Weinbau und das Scheitern des Versuchs, den Traubenverkauf selbständig zu organisie-
30 Tiomkins Nachfolger wurde Jehuda Leib Bienstok (1836-1894), ein russischer Schriftsteller und Mitarbeiter der „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung". In seiner kurzen Amtsperiode unterstützte er Schulgründungen und die Errichtung einer Bibliothek in Jaffa. Zur Biographie vgl. Eliav, 1981, Vol Π, S. 408 u. Artikel „Bienstok, Judah Leib", in: EJ, 4:984. 31 Vgl. Gvati, 1985, S. 20. 32 Vgl. Eliahu Wolf Lewin-Epstein, Entstehungsgeschichte von Rechoboth, 31.7.1898, S. 3. ZZA, A126/22. Im weiteren zitiert als Lewin-Epstein, ZZA, A126/22. Hierbei handelt es sich um eine sieben Seiten umfassende handschriftliche Aufzeichnung Lewin-Epsteins fur Leo Mozkin, der sich 1898 in Palästina befand und Material über die Kolonien sammelte. Lewin-Epstein (1863-1932) war der erste Verwalter der Kolonie Rechowot.
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ren, führten ab 1894 auch in dieser Kolonie zur Abgabe der Traubenernte an Rothschild,33 dessen überhöhte, nicht marktangepaßte Preise Subventionen gleichkamen. Hadera war in den ersten Jahren durch die latente Malariagefahr in seiner Entwicklung zu stark eingeschränkt, um eine funktionierende Ökonomie aufbauen zu können. 1895 war das Experiment einer selbständigen Kolonie zu Ende, Rothschild übernahm die kostspielige und zeitaufwendige Trockenlegung der Sümpfe, die bis 1900 keine wirtschaftliche Gesundung erlaubte.34 Die erste Periode beinhaltete die, gemessen an ihrem Anspruch, gescheiterten Versuche, von Rothschild unabhängige, ökonomisch gesunde und prosperierende Kolonien auf Weinbaubasis zu etablieren. In dieser Zeitspanne wurden zwar auch wieder Versuche zur Errichtung von Gemischtwirtschaften unternommen, trotzdem blieb der Weinbau noch die bedeutendste Erwerbsquelle. Die zweite Periode von 1896 bis 1898 umfaßte die Gründung von vier noch über die Jahrhundertwende hinaus existierenden Siedlungen, die zwar die Abkehr vom Weinbau gemein hatten, sich in ihren Entstehungsgeschichten aber erheblich unterschieden. Artuf und Machnaim wurden von osteuropäischen Siedlungsgesellschaften gegründet, Beer Tobia und Metulla hingegen waren eigenständige Gründungen der Chibbat Zion bzw. Rothschilds. Das Vorhaben, mit diesen zwei Siedlungen das Landarbeiterproblem in Palästina zu lösen, muß aber zumindest bis 1900 als gescheitert angesehen werden.35 Alle vier Siedlungen litten unter einer geringen wirtschaftlichen Entwicklung, die ihre Existenz bis zur Jahrhundertwende latent in Frage stellte. Die Arbeit der Chibbat Zion erlebte 1890 durch die Legalisierung des O.K. einen neuerlichen Aufschwung. Doch die Versuche, über das 1890 gegründete Jaffaer Komitee und die Errichtung einer Musterfarm für Landarbeiter Lösungsvorschläge für das Siedlungswerk zu schaffen, schlugen fehl. Es gelang zudem nicht, Genehmigungen für weitere Kolonien von den türkischen Behörden zu bekommen. Auch scheiterte das Bemühen, angesichts der sich zuspitzenden Situation der Kolonien ab 1891 mit Hilfe der in Westeuropa lebenden Juden das Kolonisationswerk auszuweiten. Zu diesem Zweck war eigens eine dreiköpfige Delegation nach Paris zu Verhandlungen mit der AIU und Baron Hirsch gereist, doch dessen unerfüllbare Forderung - die russischen Juden müßten erst einmal selbst 33 Vgl. Schub, 1895, S. 15 u. Lewin-Epstein, ZZA, A126/22, S. 5. 34 Vgl. Gvati, 1985, S. 19 u. Mandel, 1976, S. 133. 35 Vgl. Ben Gurion, 1935, S. 165£
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50.000 Rubel aufbringen36 - ließen die Pläne scheitern. Am Ende des W.Jahrhunderts unterstützte das O.K. nur einige Siedler in Petach Tikwa, bemühte sich um die Konsolidierung Gederas, subventionierte in geringem Maße Mischmar Hajarden und zeichnete fur die Gründung und Erhaltung Beer Tobias verantwortlich. Das O.K. sank zu einer Subventionsgesellschaft philanthropischer Prägung ähnlich der Rothschild'schen ab, allerdings mit sehr viel geringeren Mitteln. Der Kapitaleinsatz aller Chibbat ZionGesellschaften während der Jahre 1882 bis 1899 betrug den Angaben bei Gvati folgend 217.500 frs,37 kaum 5 % der Summe, die Rothschild investiert hatte. Die Rothschild-Ära ging offiziell im Jahre 1900 mit der Übertragung der Verwaltung an die JCA zu Ende. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Rothschild die Kolonien mit insgesamt 4,5 Mill, frs aus seinem Vermögen subventioniert. 8 Die Ubergabe an die JCA versah er mit einer weiteren Spende in Höhe von 1,5 Mill, frs,3' zweckgebunden zur Verwendung in dem palästinensischen Siedlungswerk.
3. Die Rothschild-Ära - Versuch einer Deutung Angesichts der von heftigen Auseinandersetzungen und ökonomischen Mißerfolgen geprägten Jahre 1882 bis 1899 stellt sich die Frage, was Edmond de Rothschild dazu bewegte, die ländliche Kolonisation derart umfassend zu unterstützen, daß schließlich von der Rothschild-Kolonisation gesprochen wurde. Weiter ist zu fragen, ob dem Baron die aufgezeigten Probleme im ökonomischen und sozialen Bereich bewußt waren, ob er diese überhaupt als Problem betrachtete, und wenn er dies tat, warum er nicht korrigierend eingriff. Eine Antwort scheint die jüdisch-traditionelle Erziehung des jungen Edmond zu bieten. Sie ließ den Baron früh die Not seiner Glaubensbrüder erkennen, doch der Rothschild'schen Tradition gehorchend hätte er als Philanthrop in West- und Osteuropa eingreifen
36 Vgl. Robinsohn, 1916/17, S. 382. 37 Vgl. Gvati, 1985, S. 24. Dieser Zahl entgegen stehen die Angaben, die auf dem Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel gemacht wurden, dort nannte man allein fur den Zeitraum 1895 bis 1897 876.309 frs, die die russischen Chibbat Zion-Vereine ausgegeben haben sollen. Vgl. „Die Welt", Nr. 15,10.9.1897. 38 Vgl. Gvati, 1985, S. 24 u. Weinstock, 1975, S. 82. 39 Vgl. Sachar, 1985, S. 34 u. Gvati, 1985, S. 26.
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können, ohne sich Palästina zuwenden zu müssen. Aber ein Philanthrop war Rothschild nach der Beurteilung Margaliths eben nicht.40 Oder war er vielleicht doch ein „gerissener Kapitalist",41 der die Siedlungen nur zur Profitschöpfung mißbrauchen wollte? In Anbetracht der jahrelangen Unterstützung und der gleichzeitigen unrentablen Wirtschaft der Kolonien ist diese Erklärung abzulehnen. Rothschild hätte sich bei einer solchen Interessenlage sehr viel früher von diesem Zuschußprojekt zurückgezogen. Chaim Weizmann sah in Rothschild einen Mann mit denselben politischen Interessen, wie sie die Zionisten vertraten, allerdings mit Fehleinschätzungen in der Ausführung, die sich mit dem Vorwurf decken, die Rothschild'sche Kolonisation habe die Siedler zu unmündigen Befehlsempfängern degradiert: „But he was a nationalist with a distrust of the national movement, and of the people. He did not understand that it was not enough to give money, and not enough to settle Jews in Palestine. They had to be encouraged in the development of independence, initiative and inner growth."42 Doch alle diese Erklärungsversuche werden der ambivalenten Person des Barons nicht gerecht. Für zutreffender bei der Suche nach einer komplexeren Erklärung halte ich daher die These, daß es Rothschild nicht um den in Not geratenen Juden als Individuum gegangen ist, sondern um den prinzpiellen Nachweis einer Eignung der Juden zur Landwirtschaft und damit um die Schaffung einer Basis zur Realisierung eines Ideals, in welchem das Individuum, aber auch die Kommune an Wichtigkeit verlieren. Erst in dem Versuch eines „Spiritus rector" zur Verwirklichung des angestrebten Ziels wird der Mensch nützlich. Diese pragmatisch-teleologische Ausrichtung jedweden Handelns läßt Rücksicht auf individuelle Not und Wünsche der Ausführenden nur sehr eingeschränkt und nur aus philanthropischen Motiven gelten. Abweichler, die den Weg zum Ziel erschweren oder versuchen, andere ebenfalls von dem vorgeschriebenen Weg abzubringen, können in einem solchen Prozeß keinen Platz finden. Dies erklärt die heftigen Reaktionen Rothschilds gegenüber vermeintlichen Unruhestiftern in den Kolonien, ebenso wie die rigi-
40 Vgl. Margalith, 1957, S. 171. 41 Vgl. Weinstock, 1975, S. 82. 42 Chaim Weizmann, Trial and Error, London 1949, S. 178.
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den Verwaltungsbestimmungen in den Kolonien.43 Zwei Aussagen Rothschilds lassen diese These noch wahrscheinlicher erscheinen. Gegenüber S.D. Levontin äußerte er 1884: J e ne suis pas un philanthrope! J'ai commence l'entreprise en Palestine parce que j'ai voulu voir s'il etait possible d'installer des Juifs comme colons sur la terre de la Palestine." 1899 während eines Palästinabesuchs begründete Rothschild sein Engagement vor Siedlern in Rischon le-Zion: J e ne suis pas venu ä votre aide ä cause de voire pauvrete et de vos souflrances, car il y a beaucoup de detresses semblables dans le monde. J'ai fait ce que j'ai fait parce que j'ai trouve en vous les realisateurs de la renaissance d'Israel et de l'ideal eher ä nous tous, l'ideal sacre du retour d'Israel ä son ancienne patrie."44 Rothschild schuf durch sein finanzielles Engagement eine Basis für die nachfolgende Einwanderung, doch war es nur eine materielle, dazu ökonomisch schlecht gesicherte Basis. Die Arbeit Rothschilds und seiner Verwaltungsorgane errichtete in Palästina keine ideologischen, keine intellektuellen und keine genossenschaftlichen Grundlagen, auf denen folgende Generationen den Plan zur Gründung eines jüdischen Gemeinwesens hätten verwirklichen können.45 Die Tatsache, daß ein solcher Aufbau unterblieb, sicher auch aus Angst vor möglichen Folgen, nämlich einer genossenschaftlichen oder sozialistischen Entwicklung, kann Rothschild im Verständnis seiner Position nicht zum Vorwurf gemacht werden. Der Umstand aber, daß seine Verwalter in das Gemeinschaftsleben der Siedler rigide eingriffen und sich mit ihrem Verhalten in den Augen der Siedler außerhalb jeder moralischen und ökonomischen Vernunft stellten, muß kritisiert werden. Nawratzki bezweifelt, daß Rothschild von allen einzelnen Vorgängen genaue Kenntnis hatte. Er nimmt vielmehr an, daß Rothschild von seinen Verwaltern oft bewußt falsch informiert worden war.46 Dies erscheint allerdings unwahrscheinlich, zieht man die Palästinabesuche des Barons und das große Interesse in Betracht, das Rothschild an
43 Jeder Siedler verpflichtet sich, nach besten Kräften zu arbeiten und der Verwaltung zu gehorchen." Zitiert nach Weintraub, 1975, S. 82. Ebenso vgl. Beikind, 1917, S. 113-122. 44 Beide Zitate nach Margalith, 1957, S. 171. 45 Dies geschah erst mit der verstärkten Einwanderung sozialistisch eingestellter Juden während der Zweiten Alija (1904-1914). 46 Nawratzki, 1914, S. 115. Diese bewußten Falschinformationen würden die These stützen, manche der Verwalter wären nur darauf aus gewesen, Rothschild zu bestehlen, um selbst in möglichst kurzer Zeit finanziellen Profit zu erschwindeln. Vgl. Kann, 1909, S. 104. Vgl. auch Margalith, 1957, S. 173,174, 176.
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seinen Kolonien zeigte.47 Böhm spricht, der Argumentation Nawratzkis folgend, von den persönlichen Fehlern der Administratoren, die dadurch das ganze System so negativ erscheinen lassen.48 Doch kann diesem Versuch einer Freisprechung des gesamten Rothschild'schen Verwaltungssystems nicht zugestimmt werden. Neben den, und dies wird nicht bestritten, ungeeigneten Verwaltern lag der Hauptfehler im System selbst, und dieser war nicht der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, wie Margalith beschreibt.49 Denn Rothschild versuchte, seine Ideen einer Kolonisation, die eindeutig paternalistisch-kapitalistischer Struktur waren, auf eine Gruppe anzuwenden, die nun gerade ob größerer sozialer und ökonomischer Freiheiten nach Palästina gekommen war. Hier trafen zwei Vorstellungen aufeinander, die in den ersten Jahren der Kolonien um die Vorherrschaft in Palästina kämpften. Die Behauptung des Rothschildschen Verwaltungssystems gegenüber den in vielen Dingen des sozialen Lebens und der Ökonomie zugegebenermaßen auch noch nicht ausformulierten und daher recht diffusen Vorstellungen der Siedler verwundert nicht, angesichts der Machtmittel, die dem Baron zur Verfugung standen. Sein Einfluß in Europa und selbst in Konstantinopel, seine Subventionen und finanziellen Eingriffe ließen den Kolonisten keine Möglichkeit auf Verwirklichung ihrer Ideale.50 Die Gründe für den Rückzug Rothschilds aus der aktiven Arbeit im palästinensischen Siedlungswerk sind nicht zweifelsfrei zu ermitteln. Möglicherweise hatte die immer stärker werdende Kritik an der philanthropischen Unternehmung Rothschild zur Aufgabe veranlaßt. Vielleicht hatte er aber auch zu erkennen geglaubt, daß die ihm vorschwebenden Ziele mit seinen Methoden nicht zu erreichen waren.51 Sehr wahrscheinlich erscheint dies aber nicht, denn ein sich resignierend zurückziehender Förderer hätte vielleicht nicht mehr die Summe von 1,5 Mill, frs für Palästina zur Verfugung gestellt. Möglich ist auch ein offizielles Zurückziehen aus der Arbeit, um den Kritikern ihren Hauptangriffspunkt zu nehmen, dann aber im Hintergrund in nichtoffizieller Position weiter an der Verwirklichung 47 48 49 50
Vgl. Margalith, 1957, S. 173 u. Mayorek, 1994, S. 137£ Vgl. Böhm, 1935, S. 236. Vgl. Margalith, 1957, S. 177. Hierbei möchte ich nicht mißverstanden werden. Eine Kolonisation nach den Vorstellungen der Siedler bot keine Gewähr für besseres Gelingen. Wohl aber hätten größere Freiheiten die Siedler zu mehr Eigenständigkeit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung fuhren können, deren Fehlen als ein Hauptproblem in der Entwicklung der Kolonien genannt wurde. 51 Vgl. Gvati, 1985, S. 26 u. Weizmann, 1949, S. 178.
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persönlicher Vorstellungen zu arbeiten. Einen ganz konkreten Grund für das Delegieren der Verwaltung an die JCA nennt Schama, der schreibt, der Baron sei so schwer erkrankt gewesen, daß er sein Ableben befürchtet hätte und aus diesem Grund sein palästinensisches Werk nicht ungeordnet ohne Leitung hinterlassen wollte.52 Quintessenz bleibt trotz aller Kritik die materielle Erhaltung der Kolonien durch Rothschild. Seinen ihm von den Siedlern verliehenen Ehrentitel „Vater des Jischuw" trägt er daher doch mit einer gewissen Berechtigung. Die Besiedlungsphase von 1882 bis 1904 war auch harscher Kritik von den Anhängern des modernen Zionismus ab 1896 ausgesetzt. Diese Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Apologeten des politischen Zionismus, die anfanglich eine „Kleinkolonisation" in Palästina ablehnten, sondern auch von Vertretern anderer Richtungen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.53 Der Ökonom und Soziologe Arthur Ruppin, der seit 1908 durch seine Arbeit im Zionistischen Palästina-Amt in Jaffa den weiteren Weg der Besiedlung entscheidend mitprägen sollte, kritisierte die Rothschild-Ära ebenso wie der Schriftsteller und Philosoph Achad Haam, der bereits in den 1890er Jahren, nach seinen Besuchen in Palästina, zu einem höchst negativen Urteil über den Zustand der Kolonien und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten kam. Während sich Ruppins Kritik an den unhaltbaren ökonomischen Zuständen in Palästina entzündete,54 war Achad Haams negatives Urteil vor dem Hintergrund seiner Ablehnung einer Massenkolonisation zu sehen. Der Schriftsteller glaubte, daß die Zukunft des Judentums und damit des jüdischen Volkes nur durch die Errichtung eines geistig-religiösen Zentrums in Palästina gewährleistet werden könne. Diese Haltung sollte unter dem Namen „Kulturzionismus" ein fester Bestandteil des Zionismus ab 1896 werden. Die Reihe der Kritiker ließe sich fortsetzen, Ruppin und Achad Haam stehen nur als Beispiel zweier von verschiedenen Ansätzen ausgehenen Meinungen, deren übereinstimmendes Fazit die negative Bewertung der Rothschild-Phase und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in den Kolonien lebenden Juden war, ein Urteil, das in dieser Form von den politischen Zionisten unterstützt wurde. 52 Vgl. Schama, 1978, S. 134f. 53 Uber das Verhältnis von Theodor Herzl zu den Kolonien vgl. Kap. XIV, Abschnitte „Herzls Kampf gegen die Infiltration" u. „Herzls Palästinareise 1898 - eine Zäsur". 54 Vgl. Ruppin, 1919, S. 34-59. Die ökonomische Kritik Ruppins war der jüdischen Öffentlichkeit bekannt, kaum aber, daß er im gleichen Abschnitt des Buches die Erste Alija auch aus einem sehr viel ideelleren Blickwinkel betrachtete und zu einem weitaus milderen Urteil über diese Zeit kam.
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In Anbetracht der Entwicklung der Siedlungen und Palästinas im 20. Jahrhundert kommt man zum Abschluß der Darstellung über die Erste Alija zu der Schlußfolgerung, daß die Einwanderer der Zweiten Alija, obwohl es viel Kritik an der Ersten Alija gegeben hat, gerade das Beispiel der Ersten Alija brauchten, weniger allerdings als materielle Basis, obwohl dies in den ersten Jahren nicht zu unterschätzen war. Wichtiger war der Eindruck, den die Einwanderer von der Kolonisation bekamen, die in 22 Jahren geschaffen worden war. Hier konnten sie ihre Vorstellungen einbringen, die im scharfen Gegensatz zu der Situation standen, die sie ab dem Jahre 1904 in den Siedlungen vorfanden. Aber sie konnten diese Kolonisationsperiode auch nicht ignorieren und mußten daher aus ihren Vorstellungen und den vorgefundenen Gegebenheiten eine neue Stufe der ländlichen Kolonisation in Palästina entwickeln. Sie setzten ihre Ideale als Antithese gegen die Wirklichkeit Palästinas des Jahres 1904 und versuchten diese in Abgrenzung zu den Rothschildkolonien zu entwickeln. Herausragendes Ergebnis dieses Versuchs ist die Kibbuzbewegung. Aber mit der Gründung der ersten Moschawim, einer halb privatwirtschaftlich, halb genossenschaftlich organisierten Siedlungsform 1921, entwickelte sich aus These und Antithese auch eine Synthese, die wie die Kibbuzbewegung über einen längeren Zeitraum bestehen konnte. Ohne die Rothschild-Subventionen war die Entwicklung in Palästina nur schwer vorstellbar, ob eine gedeihlichere Entwicklung möglich gewesen wäre, wenn sich Rothschild und seine Verwalter nicht so rigide gezeigt hätten, sei dahingestellt. Zumindest bemühten sich die Kolonisten auch um andere Förderer, von denen sie sich ähnliche materielle, aber ungleich bessere moralische Unterstützung versprachen. An erster Stelle sind hier die deutschen Juden zu nennen. Mit diesen Versuchen und den Reaktionen in Deutschland beschäftigen sich die folgenden Kapitel.
VIII. Deutsche Kultur und deutsche Sprache in den Kolonien
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sah das 1842 eingerichtete preußische Konsulat, ab 1868 Generalkonsulat des Norddeutschen Bundes und ab 1871 Konsulat des Deutschen Reiches, in einer wichtigen Position unter den europäischen Vertretungen für die Förderung des Jischuws in Palästina.1 Vor allem über den von 1869 bis 1873 in Jerusalem verantwortlichen Konsul Karl Viktor von Alten (1800-1879) ist bekannt, daß er seine Kontakte zu Esriel Hildesheimer nutzte, um Belange der Juden im Sinne des „Deutschtums" zu beeinflussen.2 Aber auch von Altens Nachfolger betrieben weiter eine aggressive „Verdeutschungspolitik" des Jischuws,3 die konkrete machtpolitische Hintergründe hatte, denn das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus", stand nach Meinung der europäischen Mächte kurz vor dem Zusammenbruch, und es galt nun, sich für etwaige anstehende Gebietsabtretungen günstige Ausgangspositionen zu schaffen. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina konnte einer dieser Ausgangspunkte sein, zumal ab den 1830er Jahren die Einwanderung deutscher Juden immer stärker anstieg und dieser aus Deutschland stammende Teil des Jischuws, mit den Chalukkageldern und der deutschen Orthodoxie im Hintergrund, zu einem bestimmenden Faktor in der Entwicklung sozial-urbaner Strukturen wurde.4
1. Begriffsklärung und erste Spurensuche Mit den Ereignissen des Jahres 1881 veränderte sich die Situation in Palästina allerdings grundlegend, die Pogrome in Osteuropa zwangen Tausende Juden zur Auswanderung, und von der kleinen Gruppe nach Palästina emigrierender Juden ließ sich nur etwa die Hälfte in den Städten, dem alten Jischuw, nieder, so daß sich der Blick der jüdischen Öffentlichkeit ver-
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Vgl. Mordechai Eliav, German Interests and the Jewish Community in NineteenthCentury Palestine, in: Ma'oz, 1975, S. 423. Vgl. Erwin Roth, Preußens Gloria im Heiligen Land. Die Deutschen und Jerusalem, München 1973, S. 134. Vgl. Eliav, 1975, S. 430. Vgl. Fraenkel, 1937.
VIII. Deutsche Kultur und deutsche Sprache in den Kolonien
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sah das 1842 eingerichtete preußische Konsulat, ab 1868 Generalkonsulat des Norddeutschen Bundes und ab 1871 Konsulat des Deutschen Reiches, in einer wichtigen Position unter den europäischen Vertretungen für die Förderung des Jischuws in Palästina.1 Vor allem über den von 1869 bis 1873 in Jerusalem verantwortlichen Konsul Karl Viktor von Alten (1800-1879) ist bekannt, daß er seine Kontakte zu Esriel Hildesheimer nutzte, um Belange der Juden im Sinne des „Deutschtums" zu beeinflussen.2 Aber auch von Altens Nachfolger betrieben weiter eine aggressive „Verdeutschungspolitik" des Jischuws,3 die konkrete machtpolitische Hintergründe hatte, denn das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus", stand nach Meinung der europäischen Mächte kurz vor dem Zusammenbruch, und es galt nun, sich für etwaige anstehende Gebietsabtretungen günstige Ausgangspositionen zu schaffen. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina konnte einer dieser Ausgangspunkte sein, zumal ab den 1830er Jahren die Einwanderung deutscher Juden immer stärker anstieg und dieser aus Deutschland stammende Teil des Jischuws, mit den Chalukkageldern und der deutschen Orthodoxie im Hintergrund, zu einem bestimmenden Faktor in der Entwicklung sozial-urbaner Strukturen wurde.4
1. Begriffsklärung und erste Spurensuche Mit den Ereignissen des Jahres 1881 veränderte sich die Situation in Palästina allerdings grundlegend, die Pogrome in Osteuropa zwangen Tausende Juden zur Auswanderung, und von der kleinen Gruppe nach Palästina emigrierender Juden ließ sich nur etwa die Hälfte in den Städten, dem alten Jischuw, nieder, so daß sich der Blick der jüdischen Öffentlichkeit ver-
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Vgl. Mordechai Eliav, German Interests and the Jewish Community in NineteenthCentury Palestine, in: Ma'oz, 1975, S. 423. Vgl. Erwin Roth, Preußens Gloria im Heiligen Land. Die Deutschen und Jerusalem, München 1973, S. 134. Vgl. Eliav, 1975, S. 430. Vgl. Fraenkel, 1937.
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stärkt auf die neu gegründeten ländlichen Kolonien richtete. Wie wurden diese Kolonien von deutscher Seite her beurteilt? Wurde auch hier eine Beeinflussung im Sinne des bereits angesprochenen „Deutschtums" versucht? Sah man die Kolonien vielleicht sogar in einer deutschen Tradition stehend? Einige Beurteilungen vom Ende des 19. Jahrhunderts und dem beginnenden 20. Jahrhundert scheinen diese Frage affirmativ zu beantworten. So schrieb im Dezember 1899 der Leiter des Deutsch-Jüdischen Waisenhauses, Dr. Eleazar Grünhut, an Konsul Rosen in Jerusalem als Fazit über die jüdischen Kolonien: „Zum Schlüsse sei noch hervorgehoben, dass das Deutschtum vorherrschend zu werden beginnt in den jüdischen Kolonien. Die Konversation in den besseren Familien ist durchaus deutsch."5 Auf den ganzen Jischuw bezog sich Otto Eberhard in seiner Analyse 1908, in der er feststellte, die Antwort auf die Frage nach der ersten europäischen Fremdsprache neben dem Hebräischen „(...) ist längst durch die sogen. Deutschsprachigkeit von 70 000 in Palästina ansässigen aschkenasischen Juden und durch die deutsch-jüdische Interessengemeinschaft im Lande (...) gegeben."6 Auch der moderne Zionismus wurde von deutscher Seite ohne größeres Zögern in diesem Sinne beurteilt: „Die Zionisten stehen auch, wie alle Ostjuden, der deutschen Kultur am nächsten. Deutsche Philosophen, deutsche Schriftsteller und Dichter werden von ihnen am meisten gelesen und ins hebräische übersetzt."7 Diese Analyse enthielt zweifellos einiges an Wahrheit, trug aber sicher auch mit dazu bei, Aussagen wie die folgende erst zu ermöglichen: Juden in Palästina verdienen besondere Beachtung (...) weil das jüdische Element in Syrien starke deutsche Tendenzen hat, die im weiteren Zunehmen begriffen sind. (...) Neben dem Hebräischen 5
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Dr. Grünhut an Dr. F. Rosen, 12.12.1899, in: Eliav, 1973, Dokument 171, S. 251. Grünhut (1850-1913) wurde in Ungarn geboren, durchlief die traditionelle Rabbinerausbildung und erhielt einen Posten in der ungarischen Stadt Temesvär. 1890 verließ er Ungarn und kam, fasziniert von der Haskala, nach Berlin. Er besuchte die Universität und das Hildesheimer-Seminar, dessen Einfluß er sich nicht entziehen konnte. Zwei Jahre später emigrierte Grünhut nach Palästina und übernahm die Leitung des Deutsch-Jüdischen Waisenhauses. Seine zionistischen Ansichten, verbunden mit der Forderung nach säkularen Studien, ließen ihn zu einem Feind der Jerusalemer Orthodoxie werden. Vgl. Artikel „Gruenhut, Eleazar" in: EJ, 7:947. Otto Eberhard, Der Zionsgedanke als Weltidee und als politische Gegenwartsfrage, in: Pro Palästina - Schriftenreihe des Deutschen Komitees zur Förderung der jüdischen Palästina-Siedlung, Berlin 1918, S. 23. Dr. Loytved Hardegg an Reichskanzler Bethmann Hollweg (Abschrift für das kaiserliche Konsulat), Haifa 9.5.1913, in: Eliav, 1973, Dokument 213, S. 327.
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Deutsche Kultur und deutsche Sprache in den Kolonien
(...) wird von dem weit größten Teil Deutsch als Fremdsprache geübt. (...) Deutschland hat mit dem jüdischen Element in Palästina zweifellos ein Mittel, seine sonstigen starken Interessen durch diese noch zu vergrößern."8 Selbst Kolonien wurden zum Gegenstand deutschen Stolzes. 1916 schrieb Hans Rohde, für den die Sprachenfrage ebenfalls im Sinne der deutschen Sprache als erste Fremdsprache geklärt war, über die jüdischen ländlichen Siedlungen: „Wir Deutschen haben allen Grund, auf dieses Werk stolz zu sein. Nicht nur sind es im wesentlichen deutsche Mittel und deutsche Kräfte, die es geschaffen haben, sondern vor allen Dingen ist es deutsche Kultur und deutsche Sprache, die dadurch ihre Verbreitung und Pflege in einem weiten Kreise des Orients gefunden haben."9 Wie sind derartige Aussagen für den Zeitraum der Ersten Alija zu beurteilen? Handelte es sich um visionäre Großmachtträume einiger Deutschnationaler? Oder hatte diese Betonung der deutschen Sprache und deutschen Kultur, obwohl undifferenziert und schematisierend, doch einen fundierten Hintergrund? Dies läßt sich nur durch eine Untersuchung klären, die der Frage nachgeht, inwieweit deutsche Sprache, deutsche Kultur und ein daraus möglicherweise resultierender deutscher Einfluß in den Siedlungen signifikant vorhanden waren, die dann im historischen Kontext beurteilt werden können. Um es vorwegzunehmen, dieses Kapitel unternimmt nicht den Versuch, auch in den jüdischen Kolonien Palästinas das deutsche Wesen zu suchen, an dem vermeintlich die Welt genesen soll.10 Die Bedeutung der französischen Sprache im Osmanischen Reich und selbstredend die Renaissance des Hebräischen von der Kultussprache zur Umgangssprache soll nicht negiert werden. Das Kapitel will aber Spuren zeigen, Hintergründe beleuchten und damit die stetige Suche nach deutscher Hilfe während der Ersten Alija erklären. Am Anfang einer solchen Untersuchung steht die Frage nach dem zu behandelnden Gegenstand. Ein soziologischer Begriff wie „deutsche Kul8 Kommando der Mittelmeerdivision an Kaiser Wilhelm II. aus Anlaß der Syrienreise des deutschen Kriegsschiffes „Groeben", 31.5.1913, in: Acten Die Juden in der Türkei, Κ 176431 - Κ 176432, S. 11£ 9 Hans Rohde, Deutschland in Vorderasien, Berlin 1916, S. 89. Rohde war Oberleutnant im Infanterie-Regiment v. Horn (3. Rheinisches) Nr. 29. 10 Die korrekte Textzeile lautet „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen." Diese bis heute bekannte Zeile ist dem Gedicht „Deutschlands Beruf des Dichters Emanuel Geibel (1815-1884) entnommen. Das Gedicht wurde 1861 verfasst.
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tur" läßt sich nur schwer in Kategorien einteilen und damit auch nur schwer quantitativ wie qualitativ festmachen." Das gleiche gilt für den Begriff „deutscher Einfluß". Hier bedarf es des genauen Blicks auf das Ereignis und der historischen Analyse. Etwas einfacher gestaltet sich die Suche nach der deutschen Sprache in den Kolonien, diese läßt sich über Briefe, Dokumente und Memoiren unproblematisch nachweisen. Der Untersuchungsgang geht daher von der Suche nach der deutschen Sprache in den Kolonien aus, an die sich die Bereiche „deutsche Kultur", wobei der Kulturbegriff stets durch Unscharfen und Ungenauigkeiten beeinflußt ist, und daran wiederum „deutscher Einfluß" anschließen. Alle drei Bereiche sind aber nicht voneinander losgelöst zu betrachten, sie bilden vielmehr ein Konglomerat, ein sich gegenseitig bedingendes System. Diese Konditionen gestalten die Suche und Analyse schwierig, zwingen auch zunächst zu einer reinen Materialsammlung über die deutsche Sprache in den Kolonien, lassen aber gleichzeitig Raum fiir die Interpretation der vorhandenen Quellen und Neubewertung bereits bekannter Fakten. Schließlich obliegt es der Schlußbetrachtung dieses Kapitels zu bestimmen und zu beurteilen, inwieweit die deutschen Spuren ein einheitliches Bild ergeben, die oben genannten Äußerungen von deutscher Seite also den Tatsachen entsprachen, oder ob es sich nur um Einzelfalle gehandelt hat, ohne Einfluß auf die Entwicklung des Ganzen. Der erste Hinweis auf die deutsche Sprache findet sich bereits in der ersten Kolonie, Petach Tikwa. Einer der Gründer, Joel Moses Salomon, gehörte zu den jüdischen Untertanen des Deutschen Reiches in Palästina.12 Und durch Salomon wurden auch die offiziellen Stellen des Deutschen Reiches in Palästina erstmals mit den Problemen der Kolonisation konfrontiert. Die türkischen Behörden machten den Siedlern in Petach Tikwa erhebliche Schwierigkeiten, vor allem da die Bebauung des Grundstücks ohne vorherige Baugenehmigung erfolgt war. Dieser Vorgang war allerdings zur Normalität geworden bei Grundstücken, die nach türkischem
11 Ohne sich auf eine längere Diskussion der Begriffsdefinition „Kultur" einzulassen, sei als Orientierung die im „Goßen Brockhaus" angegebene Erläuterung angeführt: „Die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, bes. der Werteinstellungen. Kulturelle Erscheinungen sind raumgebunden." Brockhaus Enzyklopädie (20 Bde.), 10. Band Kat-KZ, S. 733, Wiesbaden 1970, 17. völlig neu bearbeitete Auflage. 12 Vgl. Eliav, 1973, Brief vom 5.3.1877. In den Dokumenten von und über Salomon wird explizit von „Untertan" oder „Staatsangehöriger" gesprochen. Er war demnach nicht ein „Schutzgenosse", wie die vom Deutschen Reich unter seinen Schutz gestellten Juden, zumeist Einwanderer aus Osteuropa, bezeichnet wurden.
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Deutsche Kultur und deutsche Sprache in den Kolonien
Recht legal erworben wurden, und daher konnten die Beschuldigungen der Behörden nach Salomons Ansicht nicht formaljuristisch motiviert sein, sondern waren eindeutig gegen die jüdischen Siedlungen per se gerichtet. Daher wandte er sich 1883/84 mit mehreren Briefen und Eingaben an das deutsche Konsulat13 und zwang den zu dieser Zeit tätigen Konsul Dr. Julius Reitz, fur die Kolonie einzutreten.14 Reitz hatte Erfolg, und der von den türkischen Behörden erwirkte Gerichtsbeschluß zum Abriß der Gebäude in Petach Tikwa wurde nicht durchgeführt.15 Es ist bei diesem ganzen Vorgang nicht nur bemerkenswert, daß Salomons Eingaben erfolgreich waren, dies lag ohne Zweifel an der Sorge der Deutschen um ihre Position in Palästina, sondern daß Salomon nach den eigentlich enttäuschenden Erfahrungen Feinbergs in Deutschland nicht zögerte, sich an offizielle deutsche Stellen zu wenden.16 Offensichtlich war das Vertrauen in die deutschen Behörden ungebrochen, während das Bild vom deutschen Judentum durch die indifferente Haltung seit 1882 möglicherweise erste Risse bekommen hatte. Daß die Kenntnis der deutschen Sprache in der Diaspora nicht zwangsläufig nach Palästina übertragen und dort auch angewandt wurde, zeigt das Beispiel Jehuda Raabs. Die in den westlichen Teilen Ungarns lebenden Juden sprachen im 19. Jahrhundert entweder Deutsch oder einen Westdialekt des Jiddischen. Aus dieser Gegend stammte Jehuda Raab (1858-1948),17 der bereits 1876 mit seiner Familie nach Palästina kam. Jehuda Raabs Vater, Eleasar Raab (1828-1900),18 sprach Deutsch19 und legte großen Wert darauf auch seinen Sohn diese Sprache erlernen zu lassen, wofür er eigens einen Lehrer einstellte.20 Die Verbindungen der Familie zu Palästina und die Kontakte Eleasar Raabs zu Hirsch Kalischer,21 der auf die
13 Vgl. Eliav, 1973, Dokumente Nr. 123,125 und 126. 14 Für den Vorgang vgl. auch den Brief von J.M. Pines, abgedruckt in: Eliav-Briefe, 1965, S. 193f 15 Vgl. Eliav, 1975, S. 436. Eliav schreibt, Reitz habe sogar mit einer Intervention Bismarcks gedroht, wenn die Repressalien gegenüber den Kolonisten nicht aufhörten. 16 Vgl. Kap. IX, Abschnitt Josef Feinberg". 17 Zur Biographie vgl. Artikel „Raabjudah", in: EJ, 13:1438 u. Tidar, 1947, S. 119-121. 18 Zur Biographie vgl. David Tidar, Enziklopedia le-Chaluzei ha-Jischuw we-Bonaw, 18 Vol., Tel Aviv 1947-1969, Vol. 1, S. 55. Eleasar Raab war mit Benjamin Stampfer verschwägert, dem Vater von Jehoschua Stampfer, einem weiteren Petach TikwaPionier. 19 Vgl. Raab, 1988, S. 20. 20 Ebd., S. 25. 21 Ebd., S. 23.
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Haltung der Familie zu Palästina sicher nicht ohne Einfluß geblieben ist, ließen eine Auswanderung bereits fünfJahre vor den Pogromen in Osteuropa zur Realität werden. Jehuda Raab wurde in Palästina einer der wichtigsten Vertreter der Kolonisationsbewegung. Zunächst gehörte er zu den ersten Siedlern in Petach Tikwa 1878, ging 1882 für kurze Zeit nach Rischon le-Zion, um dann 1883 als Vorarbeiter für die Neueinwanderer aus Bialystok wieder in Petach Tikwa zu wirken. Raab wäre dank seiner Vorbildung sehr geeignet gewesen, die deutsche Sprache in die Kolonien zu tragen. Doch in diesem Bereich wurde er niemals aktiv, zu sehr war er mit dem Aufbau der landwirtschaftlichen Strukturen in Petach Tikwa beschäftigt, zu sehr auch war er ein Verfechter der hebräischen Sprache und damit einer neuen hebräischen Kultur in Palästina. Seine Tochter Esther Raab wurde schließlich eine bekannte hebräische Lyrikerin in Palästina bzw. Israel. Die Spuren der deutschen Sprache fuhren dann 1882 etwas überraschend nach Konstantinopel. Hier agierte noch eine kleine Gruppe der Biluim, die sich um Einwanderungsgenehmigungen bemühen sollte, während der Großteil der Biluim bereits nach Palästina abgereist war. Diese Konstantinopeler Gruppe erstellte eine Verordnung, die sich unter anderem mit der Neutralität der Biluim in religiösen Fragen beschäftigte und bestimmte, daß die Bücher des Centrai-Büros, neben Hebräisch, Russisch und Französisch, auch in Deutsch zu fuhren seien.22 Es ist unklar, warum diese Verordnung ausgerechnet in deutscher Sprache verfaßt wurde, vielleicht, um sie in Deutschland vorlegen zu können und damit eine Grundlage für Subventionen zu haben. Tatsächlich suchte die Gruppe bereits kurze Zeit später den direkten Kontakt mit Deutschland. Am 12.12.1882 schickte sie einen von fünf Biluim unterzeichneten Brief an Isaak Rülf in dem sie aber nicht auf die Verordnung und etwaige deutsche Hilfe einging, sondern ihre politischen Bemühungen in der türkischen Hauptstadt schilderte. Dieser Brief ist zudem in hebräischer Sprache verfaßt.23 Weitere Kontakte der Biluim zu Deutschland finden sich zunächst nicht. Zwei Jahre später wurde der Berliner Rabbiner Esriel Hildesheimer bei der Gründung der Kolonie Gedera herangezogen, jedoch nur in einer formalrechtlichen Frage. Jechiel Michael Pines, der Leiter der Biluim, hatte für diese Land gekauft, konnte es aber nicht auf seinen Namen eintragen lassen, da es russischen Juden im Osmanischen Reich nicht gestattet war, 22 Vgl. Luz, 1988, S. 70 u. Druyanow I, Dok. 30, S. 73. 23 Vgl. Waad ha-Biluim be-Koschto al ha-Rav Dr. Jizchak Rül£ 30.11./12.12.1882 (hebr.), ZZA, A l / V I / 2 / 1 .
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Boden zu besitzen. Daher bat Pines Hildesheimer, das Land auf seinen Namen registrieren zu lassen.24 Ein Wunsch, dem der Berliner Rabbiner nachkam, der aber auch einige Fragen aufwirft. So bleibt unklar, woher sich Hildesheimer und Pines so gut kannten, daß Hildesheimer ihn im Januar 1884 in einem Brief an das Auswärtige Amt einen „mir persönlich bekannten, höchst zuverlässigen Freunde aus Jerusalem"25 nennen konnte, falls es sich dabei nicht um eine reine Höflichkeitsfloskel oder Formalität handelte. Uber eine Reise Pines' nach Deutschland ist nichts bekannt, ebenso ist es unstrittig, daß Hildesheimer nie Palästina besuchte. Pines selbst hatte allerdings während seiner Tätigkeit fiir den Montefiore-Fund und auch als Leiter der Bilu-Gruppe stets Kontakte nach Deutschland, d.h. es wurde ihm von Deutschland aus geschrieben, bzw. Korrespondenz mit ihm wurde in Deutsch geführt. So erreichte Pines bereits 1879 eine Anfrage aus Deutschland über den Charakter der AIU,26 die Briefe seines Onkels Salomon Wolf Cohn aus Odessa und auch die Schreiben eines Freundes aus Bialystok sind in deutscher Sprache verfaßt,27 daneben gab es offizielle Kontakte mit einem deutschen Bankhaus in Karlsruhe, das über Pines die Geldspenden Salvendis nach Palästina sandte,28 und sogar das deutsche Konsulat in Jerusalem wandte sich mit Fragen zur jüdischen Gemeinschaft in Palästina an Pines.29 Auch Emmanuel Mandelstamm, ein Freund Pinskers und führender Zionsfreund in Kiew, übergab Pines seine Geldspenden für die Kolonien zusammen mit Anschreiben in deutscher Sprache.30 Aus diesen Dokumenten kann auf eine umfassende Kenntnis der deutschen Sprache geschlossen werden, die ihn befähigte, auch in den offiziellen Kreisen in Deutsch zu kommunizieren und korrespondieren.31 Pines wird aber in der zionistischen Literatur
24 Vgl. Chissin, 1976, S. 161, Tb v. 15.2.1885. 25 E. Hildesheimer an das Auswärtige Amt, Berlin, 8.1.1884, in: Eliav-Briefe, 1965, S. 192. 26 B. Hirsch (Halberstadt) an Pines, 26.PP.1879, ZZA, A109/141. 27 Vgl. z.B. Cohn an Pines, 11./23.5.1882, ZZA, A109/140 u. Moses Marcus an Pines, 1/13.11.1882, ZZA, A109/77. 28 Vgl. Bankhaus Straus & Comp, an Pines, Januar bis November 1884, ZZA, A109/72. 29 Vgl. Consulat des Deutschen Reichsjerusalem, an Pines, 12.5.1887, ZZA, A109/125. 30 Vgl. Mandelstamm an Pines, September u. November 1884, ZZA, A109/142. 31 Vgl. Pines an „Das Hochlöbliche Kaiserliche Consulat zu Jerusalem", (o.D., aber nicht später als 1890), ZZA A109/81.
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und auch in den Erinnerungen Heinrich Loewes32 nicht explizit als deutschsprachig bezeichnet, er war vielmehr einer der engagierten Förderer der hebräischen Sprache im Jischuw. Die Kontakte zwischen den Biluim und Hildesheimer waren also in der Tat rein formaler Natur. Hildesheimer selbst nannte in einem „Revers" bereits im Januar 1885 sein Engagement in Gedera „nur der Form halber"33 und übertrug im August 1885 auf Wunsch von Leon Pinsker alle Vollmacht für das Land auf den neuen Verwalter Abraham Mujal.34 Hildesheimers Beziehungen zu den Kolonien konzentrierten sich auf sein noch zu beschreibendes Engagement in Petach Tikwa.35 Im Umkreis der Biluim findet sich mit David Idelovitch (1863—1953)36 aber noch ein weiterer Einwanderer, dessen nachgelassene Dokumente Beziehungen zur deutschen Sprache nachweisen. Er war aus seiner Heimatstadt Jassy im Juli 1882 nach Palästina gekommen, hatte auf der Überfahrt die erste Gruppe der Biluim getroffen und sich ihre Ideen zu eigen gemacht.37 In Palästina ging Idelovitch zunächst nach Samarin, schloß sich 1883 der Handwerkergruppe der Biluim in Jerusalem an38 und kam 1884 schließlich nach Rischon le-Zion.39 1886 verließ er Palästina wieder in Richtung Paris, um dort seine Handwerksausbildung fortzuführen. Doch bereits 1887 wurde er als Schuldirektor nach Rischon le-Zion berufen und einer der engagiertesten Vorkämpfer für die hebräische Sprache im Neuen Jischuw. 32 Heinrich Loewe listet in seinen Erinnerungen detaillert auf wen er in Palästina getroffen und in welcher Sprache er mit denjenigen gesprochen hatte. Loewes Schilderungen sind also für den Gegenstand dieses Kapitels von hoher Bedeutung. 33 Vgl. „Revers", 6.1.1885, abgedruckt in: Eliav, 1970, S. 105. 34 Vgl. Hildesheimer an Pinsker, 16.8.1885, in: Druyanow III, Dok. 1269, S. 778. 35 Vgl. Kap X, Abschnitt „Emil Lachmann - Der Gutsbesitzer". 36 Die Schreibweise des Namens in der hebräischen Schrift läßt auch die Aussprache Judilowitz" zu, der auch häufig in der Literatur benutzt wird. Seine Briefe in deutscher, englischer oder französischer Sprache unterzeichnete er aber stets mit „David Idelovitch". 37 Vgl. Ben Zion, 1935 I, S. 38 u. Artikel „Idelovitch, David", in: EJ, 8:1223. 38 Hier arbeitet er unter anderem auch in einer Werkstatt zur Herstellung von Messern und Schwertern, die einem Deutschen namens Gottlieb gehörte. Vgl. Tidar, Vol. 2,1947, S. 570. 39 Vgl. Ran Aaronsohn, Raschimit ha-Pekidim, in: Cathedra, Vol. 74, Dec. 1994, S. 170. Idelovitchs Anwesenheit in Rischon le-Zion wird von Aaronsohn nicht als völlig sicher angenommen. Ein Brief von Idelovitch an einen Frankfurter Autor gibt als Adresse Rischon le-Zion an. Der undatierte Brief ist im Archiv „A34" chronologisch zwischen 1882 und 1884 eingeordnet. Vgl. Idelovitch an Carl Jügel, o.D., ZZA, A3 4/31.
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Idelovitchs nachgelassene Briefe, die sich im ZZA befinden, lassen darauf schließen, daß er die deutsche Sprache nicht nur in einer rudimentären Form beherrschte. Zunächst findet sich der bereits erwähnte Brief nach Frankfurt/Main, in dem Idelovitch den Autor einer französischen Grammatik um die Ubersendung dieses Buches bat.40 Auch aus Paris, während der kurzen Fortbildungszeit 1886, schrieb Idelovitch an einen Mitarbeiter der Rothschildverwaltung über seine Berufung zum Hebräischlehrer in Rischon le-Zion in Deutsch.41 Dies setzte sich nach seiner Ubersiedlung nach Palästina fort, denn Idelovitchs Briefe an Elie Scheid, aber auch an Michel Erlanger waren stets in deutscher Sprache verfaßt.42 Ebenso in Deutsch gehalten waren die Geschäftsbriefe, die der ehemalige Bilu Jakob Herzenstein an Idelovitch richtete.43 Aber auch im privaten Bereich blieb die deutsche Sprache ein wichtiges Kommunikationsmittel, vor allem da Idelovitch Verwandte in Deutschland hatte. Ein Cousin und eine Cousine väterlicherseits lebten in Köln, und man hielt einen lockeren Kontakt.44 Idelovitch besuchte im Jahre 1893 wieder Paris und schrieb von dort seiner noch in Jassy lebenden Schwester Rachel.45 Es existieren auch Briefe einer Frau aus Samarin, Jetti Grad, aus dem Jahre 1887,46 die in einem Brief schreibt, daß Idelovitch an sie auch in Deutsch schreiben solle, da diese Sprache die fur sie leichteste sei.47 Dazu finden sich die Mitteilungen eines Schulfreundes aus Jassy48 und 40 Vgl. Idelovitch an Carljügel, o.D., ZZA, A34/31. 41 Es ist unklar, an wen sich dieser Brief richtet. Aus dem textlichen Zusammenhang ist zu entnehmen, daß es sich um einen Angestellten der Rothschildverwaltung handelt, möglicherweise um Samuel Hirsch oder Elie Scheid. Interessant ist, daß Idelovitch mit seiner Berufung nach Rischon le-Zion eigentlich nicht einverstanden ist, da er lieber in einer der rumänischen Kolonien gearbeitet hätte. Vgl. Idelovitch an „Hochwürdiger Herr", 22. Iyar 5646 (27.5.1886), ZZA, A192/1210. 42 Vgl. ZZA, A192/234. 43 Vgl. Herzenstein an Idelovitch, 21.8.1887, ZZA, A192/1210; 30.3.1890, ZZA, A192/1211 u. ein undatierter Brief (geschrieben wahrscheinlich zwischen September und Oktober 1900), ZZA, A192/1224. 44 Vgl. Sigmund und Anna Trommer an Idelovitch, 18.6.1891, ZZA, A192/1220. 45 Vgl. Idelovitch an „Meine liebe theure Rachel", 22. Teveth 5653 (10.1.1893), ZZA, A192/234. Der Schluß, daß es sich bei der angesprochenen „Rachel" um Idelovitchs Schwester handelt, läßt sich aus dem Textzusammenhang ziehen. 46 Vgl. Jetti Grad an Idelovitch, 19.1.1887, 7.2.1887 u. 10.2.1887, ZZA, A192/1210. 47 Vgl. Jetti Grad an Idelovitch, (Datum nur schwer bestimmbar: im Brief ist 1884 vermerkt, auf dem Umschlag dagegen 1887), ZZA, A192/1217. Über Jetti Grad ist den Quellen und Unterlagen sowie auch aus den Publikationen über die Erste Alija keine weitere Angabe zu entnehmen 48 Vgl. Salomon Gropper an Idelovitch, 13.9.1888, ZZA, A 192/1211.
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die Briefe Paul Rosens, der Idelovitch aus Beer Tobia schreibt und mit ihm Fragen der Hilfe fur in Not geratene jüdische Familien diskutiert.49 Bemerkenswert in dieser Sammlung deutschsprachiger Dokumente sind zweifellos zunächst die privaten Briefe, die noch einmal auf die bekannte Verbreitung der deutschen Sprache in Osteuropa hinweisen. Für den weiteren Verlauf des Untersuchungsgangs bleibt aber vor allem festzuhalten, daß sich auch offizielle Korrespondenz zwischen den Angestellten der Rothschildverwaltung in deutscher Sprache findet. Wie erklärt sich dies? Zunächst finden sich bei dieser Korrespondenz Briefwechsel mit den in Palästina lebenden württembergischen Templern, die ihre Angebote, Rechnungen und auch allgemeine Korrespondenzen selbstverständlich in deutscher Sprache verfaßten.50 Die Zusammenarbeit ging so weit, daß Kinder der Kolonisten in den Handwerksbetrieben der Templer eine Ausbildung erhielten, deren nähere Modalitäten durch Kontrakte in deutscher Sprache festgehalten wurden51 und die zudem die Deutschsprachigkeit bei den Lehrlingen aus den jüdischen Kolonien annehmen lassen. Auch die deutschsprachigen Händler und Kaufleute in Europa und in Palästina schickten ihre Angebote in Deutsch, in dem sicheren Wissen, daß dies dort verstanden würde.52 Einigen der Rothschild-Verwalter war die deutsche Sprache neben der französischen aber auch eine sehr vertraute, da sie gebürtige Elsässer waren, was ein Aufwachsen in der Zweisprachigkeit implizierte. Aus dem Elsaß kamen Elie Scheid, Emil Ettinger, Alphonse Bloch und Jehuda Wormser.53 Allerdings war Deutsch nicht die Hauptumgangssprache der Verwaltung, dies war selbstredend Französisch. Aber wenn es notwendig war, wurde Deutsch verwendet. So z.B. im Falle des Schriftstellers Seev Wolff Jawitz
49 Vgl. Paul Rosen an Idelovitch, 29.7.1889, ZZA, A192/1211 und zwei Briefe ohne Datumsangabe, ZZA, A192/1218. 50 Vgl. z.B. A. Dück an Ben-Schimol (Sichron Jakow), 8.11.1890, ZZA, J15/5970 u. J. Dück an J. Wormser (Rosch Pina), 27.2.1899, ZZA, J15/5938. 51 Vgl. Jakob Haar an Scheid, 5.2.1884 u. „Lehrvertrag" für Samuel Grai 1.4.1884, ZZA, J41/6081 52 Vgl. z.B. A. Harkawe (Jaffa) an Duguord (Samarin), 19.2.1885, ZZA, J15/5970. 53 Ettinger war von 1885 bis 1896, Bloch von 1887 bis 1894 und Wormser von 1884 bis 1888 als Administrator in verschiedenen von Rothschild verwalteten Kolonien tätig. Vgl. Aaronsohn, 1994, S. 162f. Wormser schrieb z.B. auch an Leon Pinsker in Deutsch, vgl. Wormser an Pinsker, 20.1.1886, in: Druyanow III, Dok. 1288, S. 828f, während Bloch 1888 Bitt- und Protestbriefe bessarabischer Kolonisten in deutscher Sprache erhielt. Vgl. Bessarabische Colonisten an Bloch, 27.11.1888 u. 30.11.1888, ZZA, A192/Alef233.
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(1847-1924).54 Geboren in Kolno als Sohn einer reichen und sehr angesehenen Familie, die es ihm ermöglichte, sich als Schriftsteller und Gelehrter zu betätigen, kam Jawitz 1888 nach Palästina und nahm eine Stelle in Sichron Jakow an. Während in den Biographien stets von einer Lehrerstelle gesprochen wird, bezeichnete sich Jawitz selbst auch als Rabbiner und schickte seine „deutschen Predigten" an Nathan Birnbaum zur Veröffentlichung in dessen Journal „Selbst-Emancipation".55 Um Jawitz seine Entlassung als „Rabbiner und Lehrer in Sichron Jakow" mitzuteilen, schrieb ihm Scheid in deutscher Sprache, der einzigen, in der er sich mit Jawitz verständigen konnte. Daß auch Jawitz selbst das Deutsche im Schriftverkehr verwendete, geht aus einem Werbebrief für seine Zeitschrift „Ha-Arez" (hebr. das Land) hervor, den er an den Präsidenten der Bnei Brith-Loge in Palästina richtete.57 Jawitz' Kenntnis der deutschen Sprache überrascht nur wenig, wenn in Betracht gezogen wird, daß er ein großer Anhänger der Frankfurter Orthodoxie war. Von daher erklärt sich möglicherweise, neben den jiddischen Wurzeln in Polen, seine Deutschsprachigkeit.58 Daß Deutsch nicht nur zum Verschicken von Angeboten genutzt wurde, sondern auch für den offiziellen Administrationsbereich verwendet wurde, zeigte der Entlassungsbrief an Jawitz deutlich. In den Unterlagen der PICA,59 die im ZZA aufbewahrt werden, finden sich darüberhinaus elf Kontrakte über Landtransaktionen aus den Jahren 1889 bis 1898, die alle in Deutsch verfaßt wurden. Es handelte sich um Landverkäufe und Besitzüberschreibungen. Da dies stets Böden in den Rothschildkolonien betraf
54 Zur Biographie vgl. Artikel Jawitz, Ze'ev", in: EJ, 9:1303£ u. Eliav, 1981, Vol. II, S. 416. 55 Vgl. Jawitz an Birnbaum, (5651) u. 8. Tamus 5651 (17.7.1891), ZZA, A188/17/35. Es läßt sich anhand des Materials nicht feststellen, ob er seine Predigten möglicherweise sogar in deutscher Sprache gehalten hat. 56 Vgl. Scheid an Jawitz, 27.6.1890, ZZAJ15/5962. 57 Es geht aus dem Brief nicht hervor, an welche der zwei in Palästina bestehenden Logen das Schreiben gerichtet war. Vgl. Jawitz an „Hochverehrter Herr Präsident", 5. Adar II 5651, (15.3.1891), ZZAJ97/14. 58 Jawitz verließ Palästina 1894, lebte einige Zeit in Deutschland und emigrierte dann nach London. 59 Akronym für „The Palestine Jewish Colonization Association". Gesellschaft zur Unterstützung der jüdischen Kolonisation, gegründet 1923 von Baron Edmond de Rothschild, der damit eine Vereinigung zur Durchsetzung seiner Ideale schaffen wollte. Die PICA war von 1924 bis 1957 aktiv.
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oder Verwalter daran direkt beteiligt waren, wurden diese Verträge den jeweiligen Administratoren zur Kenntnisnahme vorgelegt.60 Neben den Verwaltern findet sich aber auch beim Blick auf die Biographien der Ärzteschaft in den Rothschildkolonien bei drei von zweiundzwanzig Medizinern eine Spur nach Deutschland, was bei diesen bedeutet, daß sie an einer deutschen Universität studiert hatten. Dr. Jehuda Goldberg, der aber nur von Februar bis Juli 1888 in Sichron Jakow tätig war, hatte seine Studien in Berlin und Heidelberg absolviert.61 Die neben Hillel Joffe und Jizchak D'Arbella vielleicht bekanntesten Ärzte dieser Zeit waren Dr. Aharon Meir Masie (1858-1930)62 und Dr. Menachem Stein (18551916),63 die beide zunächst fur Rothschild gearbeitet hatten, dann aber selbständig in Palästina praktizierten. Masie war aus seiner Geburtsstadt Mohilew zunächst in eine Jeschiwa in der Stadt Mir geschickt worden, dann aber nach Berlin gekommen, hatte im Hildesheimer-Seminar studiert und sich einer Gruppe jüdischer Sozialisten angeschlossen. Dies trug ihm 1879 eine Gefängnisstrafe ein, nach deren Verbüßen Masie nach Zürich ging. Die 1881er Pogrome ließen ihn zu einem Anhänger der Chowewe Zion werden und den Entschluß fassen, Medizin zu studieren, um so einen für den Aufbau Palästinas wichtigen Beruf zu erlernen. Über Paris, wo er sich auf die Augenheilkunde spezialisierte, kam er 1888 nach Palästina, blieb bis 1900 Arzt der Rothschildkolonien und praktizierte dann bis 1916 im Jerusalemer Krankenhaus „Bikur Cholim". Menachem Stein, geboren in Bialystok, hatte eine säkulare Erziehung erfahren, die ihn schließlich zum Studium der Medizin nach Leipzig und Wien führte. Nach Abschluß seines Studiums Schloß er sich den Biluim an und kam 1883 nach Palästina. Zunächst arbeitete er als Landarbeiter in Mikweh Israel, wurde aber 1884 Arzt in Rischon le-Zion. Ab 1887 leitete er Privatpraxen in verschiedenen Städten Palästinas.64
60 Vgl. ZZA, J15/7080, J15/6093 u. J15/6094. Auffallend ist die häufige Erwähnung der Familie Papiermeister. Ihr ist im Verlauf dieses Kapitels noch ein Abschnitt gewidmet 61 Vgl. Aaronsohn, 1994, S. 172. 62 Zur Biographie vgl. Aaronsohn, 1994, S. 172; Eliav, 1981, Vol. II, S. 420 u. Artikel „Masie, Aaron Meir", in: EJ, 11:1095. 63 Zur Biographie vgl. Aaronsohn, 1994, S. 173; Eliav, 1981, Vol. II, S. 426 u. Tidar, Vol.1, S. 115f 64 Heinrich Loewe berichtet in seinen Erinnerungen noch über einen weiteren Rothschild-Arzt, der in Deutschland studiert habe. Es handele sich um Dr. Joseph Cohn, geboren in Jerusalem, den Loewe aus seiner eigenen Studienzeit in Berlin kenne und der nun in Sichron Jakow arbeite. Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 61, Z Z A A146/6/8. Aaronsohn in seiner umfassenden Liste aller Angestellten der Rothschild-
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An die Suche nach der Verwendung und Wichtigkeit der deutschen Sprache bei den offiziellen Vertretern der Rothschildkolonien schließt sich die Frage an, inwieweit sie in der von der AIU unterhaltenen Landwirtschaftsschule Mikweh Israel eine Rolle gespielt hat, inwieweit sie zu den Korrespondenzsprachen gehörte. Charles Netter, geboren in Straßburg (Elsaß), Gründer und erster Direktor der Schule, führte während seiner gesamten Tätigkeit fur Mikweh Israel Korrespondenzen in deutscher Sprache, vor allem mit den Repräsentanten des Alten Jischuws.65 Auchjehuda Alkalai, einer der ersten Befürworter einer Palästinakolonisation aus dem Kreis der europäischen Orthodoxie, wandte sich bereits 1871 in deutscher Sprache an Netter.66 Weitere in deutscher Sprache verfaßte Briefe an Mikweh Israel aus Palästina resultierten, wie auch bei den Rothschildkolonien, aus den wirtschaftlichen Kontakten zu den Templern.67 Deutsche Korrespondenz aus Europa und dem Osmanischen Reich betraf zum größten Teil ebenfalls ökonomische Dinge, es handelte sich vor allem um Warenangebote und Anfragen zum Export von Wein oder Orangen.68 Dazu kamen einige Aufnahmegesuche, die, auch wenn sie nicht aus Deutschland stammten, häufig in deutscher Sprache abgefaßt waren.69
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Verwaltung fuhrt einen Dr. Cohn nicht auf in einem Beschwerdebriefeines Kolonisten aus Sichron Jakow wird aber ein „Dr. Kohn" erwähnt Vgl. ZZA, Zl/289/2. Vgl. z.B. Abraham Licht (Deutsche Synagoge in Jerusalem) an Netter, 18. Tewet 5632 (30.12.1871), ZZA, J41/4; „Talmud Tora u. Jeschibat Ez Chaim Anstalt" an Netter, 1. Nissan 5638 (4.4.1878), ZZA, J41/8 u. Selig Hausdorf an Netter, 3. Nissan 5641, (2.4.1881), ZZA, J41/201. Diese Briefe hatten im übrigen nicht die Schule und den Widerstand der Jerusalemer Orthodoxie zum Gegenstand, sondern waren durchweg „Bittbriefe" um finanzielle Hilfen. Vgl. Alkalai an Netter, 18.9.1871, ZZA, J41/4. Vgl. z.B. die Rechnungen des Maurermeisters Johannes Wennagel für Mikweh Israel vom 22.5.1881 und 28.5.1881, ZZA, J41/201. Allerdings waren die Kontakte entweder stärker ausgeprägt als bei den Rothschildkolonien, oder die Templer versuchten, ihre Position den Juden deutlich zu machen, denn in den Unterlagen Mikweh Israels findet sich der „Entwurf eines Gemeindestatuts fur die Templerkolonien in Palästina" vom 19.1.1879 Vgl. ZZA, J41/422. Vgl. z.B. (F. Holzmann aus Beirut) an Niego, 7.11.1893 (Holzangebot); Paul Minden (Hamburg) an Niego, 29.6.1892 (Weinexport) u. Bracia Kempner (Warschau) an Niego, 2.7.1893 (Weinexport). Alle drei in Z Z A J41/205. Philippe Türkei (Beirut) an Niego, 8.1.1900 (Weinexport), ZZA, J41/231. „Ungarische Import-Actiengesellschaft" an Niego, 2.8.1897 (Orangenexport), ZZA, J41/217. Vgl. z.B. Dr. Krause (Tirnovo/Bulgarien) an Niego, 9.9.1891 (bittet um die Aufnahme seines Bruders) ZZA, J41/202; Isidor Eisenstein (Smiatyn/Galizien), 3.9.1897 (möchte selbst in Mikweh Israel aufgenommen werden), ZZA, J41/217. Es gab auch Anfragen aus Deutschland, einige bereits 1881: Wolfsohn an Erlanger,
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Ein weiteres wichtiges Dokument auf der Suche nach der deutschen Sprache, der deutschen Kultur und einem daraus möglicherweise resultierenden Einfluß in den Kolonien stellen die Protokolle der Sitzungen des „Executiv-Comites" der Chowewe Zion in Mikweh Israel dar. Aus dem Jahr 1886 liegen zwei Protokolle vor, die in Deutsch verfaßt sind. Sie sind nicht als Übersetzung gekennzeichnet, es scheint also bei diesen Sitzungen ein deutsches Protokoll gefuhrt und an die Vertreter der Chibbat Zion in Europa geschickt worden zu sein, denn das Dokument findet sich im Archiv von Moritz Moses.™ Über diese Sitzungen schreibt Israel Beikind, der selbst als Vertreter Gederas teilnahm, die Konferenzsprache sei Französisch gewesen, nur wenn über Petach Tikwa verhandelt worden sei, habe man Deutsch geredet.71 Möglicherweise sogar reden müssen, denn die engen Kontakte der Petach Tikwa-Gründer zur deutschen Sprache sind bereits geschildert worden, offensichtlich verstanden die Petach TikwaVertreter nicht Französisch.
2. Die deutsche Sprache in den Kolonien
Die Protokolle leiten von der Beschäftigung mit den offiziellen Repräsentanten zu einem weiteren Abschnitt über, der sich nun mit der deutschen Sprache in den Kolonien selbst befaßt, wobei unterschieden werden muß, ob es sich um Jiddisch oder Deutsch handelt. Diese Unterscheidung fallt nicht immer ganz leicht. Ist ein Brief in lateinischen Buchstaben geschrieben, kann man oft nur sehr vage bestimmen, ob es sich um ein „gebrochenes" Deutsch oder ein in lateinischen Buchstaben geschriebenes Jiddisch handelt, da die Beherrschung der jiddischen Sprache den Schritt zur deutschen als nicht so schwer erscheinen läßt.72 Und Jiddisch hatte in den Kolonien während der Ersten Alija erwiesenermaßen eine große Bedeutung. Über Petach Tikwa und Rechowot wird ganz explizit ausgesagt, daß hier
25.5.1881 (möchte selbst aufgenommen werden); A.T. Chodowski an Hirsch, 4.11.1881 (möchte selbst aufgenommen werden); Abraham Ernst von Manstein (Würzburg) an Niego, 19. Iyar 5657 (20.5.1897) (möchte selbst aufgenommen werden, ZZA, J41/216 u. J. Silberberg (Leipzig) an Niego, 18.8.1897 (möchte seinen Sohn in Mikweh Israel unterbringen), ZZA, J41/217. 70 Vgl. Sitzungsprotokolle vom 4.4. und 11.4.1886, ZZA, Kl 1/54. 71 Vgl. Beikind, 1917, S. 82. 72 Vgl. IX, Abschnitt „Die weiteren Bemühungen um die deutschen Juden bis 1887".
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die Umgangssprache Jiddisch war und nicht Hebräisch oder Russisch.73 1895 stellte Heinrich Loewe auf seiner ersten Palästinareise überrascht fest, wie viele Araber Jiddisch sprachen,74 womit die Bedeutung des Jiddischen als Kommunikationsmittel auch zwischen Juden und Arabern belegt ist. Petach Tikwa war aber nicht nur ein Zentrum des Jiddischen, denn Hannah Trager berichtet in ihren Erinnerungen über die Frauen in der Kolonie während der 1880er Jahre, daß „(...) several of the girls had also attended a high school in Russia, but had been shut out from the Universities by the Russian „percentage" and had managed (...) to go to Switzerland, Paris, or Berlin, and complete their studies."75 Weiteres deutschsprachiges Material findet sich fur die Kolonien Sichron Jakow, Rosch Pina und Ekron.76 Aus der Kolonie Sichron Jakow (vormals Samarin) existiert die Liste über die 1883 erfolgten Geldspenden von Laurence Oliphant fur die notleidenden Siedler, die in deutscher Sprache verfaßt ist und auch eine Art „Quittungsteil" am Schluß anfuhrt, den die „Comissäre der Colonie Samarin" unterschrieben hatten.77 Die Kolonisten in Rosch Pina waren im Sommer 1883 in eine so bedrohliche Situation geraten, daß sie sich mit einem deutschen Telegramm an Samuel Hirsch in Jaffa wandten.78 Die medizinische Versorgung und die Beteiligung der Kolonie an der Anstellung eines Arztes in Rischon le-Zion ist 1891 Thema eines Schreibens der Kolonisten aus Ekron an einen Herrn Lewy, da das „Klima unserer Colonie" eine solche Maßnahme erforderlich mache.7' 73 Über Rechowot schreibt dies der Verwalter Lewin-Epstein, fur Petach Tikwa ist es einer Schilderung aus dem Jahre 1909 zu entnehmen. Vgl. Lewin-Epstein, ZZA, A126/22 u. Ernst Müller (Jaffa), Das jüdische Kolonisationsgebiet Judäas, in: „Palästina", 1909, S. 18. 74 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 22, ZZA, A146/6/6. 75 Trager, 1923, S. 67f 76 Während meiner Aufenthalte in Israel war es mir aus Zeitgründen nicht möglich, neben dem ZZA und den Unterlagen in der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem sowie im Leo-Baeck-Institut auch andere Archive einzusehen. In einigen der Kolonien existieren derartige Archive, und es wäre zweifellos lohnenswert, im Rahmen einer weiteren Forschungsarbeit in diesen Archiven nach weiterem Material zu suchen. 77 Vgl. „Liste über die von Hrn. Oliphant empfangenen 244fr",22.8.1883, ZZA, A109/92. 78 Vgl. „Komite Rosch Pina" an Direktor Hirsch, 17.8.1883, ZZA, J41/21. Die nur in Stichworten gehaltene Nachricht läßt keinen Schluß zu, ob es sich um eine lateinische Transkription des Jiddischen handelt. 79 Vgl. Commission Ecron an Herrn Lewy, 3.11.1891, ZZA, J15/7128. Es ist nicht ganz klar, um wen es sich bei dem angeschriebenen Herrn Lewy handelt. Möglicherweise ist es Meir Lewy, Sekretär der Zweigstelle Haifa der AIU. Vgl. Eliav, 1981, Vol. II, S. 64, Anm. 1.
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Bei allen Dokumenten ist zu fragen, ob sie in deutscher Sprache verfaßt wurden, weil man annahm, daß dies die Adressaten am ehesten verständen, oder weil die Verfasser der Schreiben die deutsche Sprache am besten von den europäischen beherrschten. Die Spendenliste aus Samarin war für Y.M. Pines bestimmt, und dies bietet zumindest einen Erklärungsansatz für die Ausfertigung in deutscher Sprache. Für die Rosch Pina-Kolonisten war offensichtlich Deutsch die einzige Sprache, in der sie sich mit dem Elsässer Samuel Hirsch verständigen konnten, denn die Kolonisten sprachen nicht Französisch, Hirsch zweifellos nicht Rumänisch. Der Brief der Ekroner Kommission an Lewy läßt sich nach den vorliegenden Quellen und Informationen über Lewy möglicherweise mit dem gleichen Schema erklären wie der Brief an Hirsch. Offenbar war Deutsch die Sprache, die als Kommunikationsinstrument zwischen Siedlern und ARJ-Sekretär gefunden und benutzt wurde. Im Vergleich zu den wenigen Dokumenten aus den bisher genannten Kolonien bietet Rischon le-Zion etwas umfangreicheres Material in deutscher Sprache. So findet sich in den Unterlagen der Kolonie ein deutschsprachiger undatierter Kontrakt zwischen den Siedlern Abraham Markowitz und Haim Israel Schapiro.80 Ebenso wie die Kolonisten in Rosch Pina wandten sich auch die Siedler in Rischon le-Zion Ende 1883 an Samuel Hirsch mit einem Brief in deutscher Sprache, in dem sie auf ihre bedrohliche Situation aufmerksam machten und Hirsch um Hilfe baten.81 Daß sich die Kolonisten auch weiter des Deutschen bedienten, wenn es um für sie wichtige Belange oder Adressaten ging, zeigen zwei weitere Briefe aus den Jahren 1892 und 1898. Das erste Schreiben ist eine Art „Huldigungsbrief an Baron Rothschild, worin diesem in überschwenglicher Form für seine Taten in Rischon le-Zion gedankt wird.82 Die Abfassung eines Briefes an 80 Vgl. ZZA.J15/7080. 81 Vgl. „Comite der Colonie Rischon lezion" an Hirsch. Das Datum dieses Briefes ist nicht eindeutig zu bestimmen. Unterzeichnet ist er mit „4.XI.83", die Vermerke der Mikweh Israel-Verwaltung über den Eingang des Briefes lauten dagegen „4.9.83". ZZA, J41/21. Der Brief spricht von „Hunger, Kälte, bei noch nicht beendeten bauten", was eher auf ein Datum im November schließen läßt. 82 Vgl. ZZA, A9/155/17. Der oder die Autoren bemühen sich, den Brief in eine poetisch-religiöse Form zu bringen, um dadurch die dramatische Situation vor dem Eingreifen Rothschilds und seine segenbringenden Taten zu würdigen, denn ihre Hoflhung hätte nur noch auf Gott geruht, der sie erhörte und gleichsam als Heilsboten den Baron schickte. Der Brief in seiner schon fast ins Absurde abgleitenden devoten Haltung paßt in die ab den 1890er Jahren zu konstatierende veränderte Einstellung der Kolonisten in Rischon le-Zion, nichts ist mehr zu spüren von zionistischen Idealen, von Aufständen und Versuchen, die eigenen Pläne auch gegen den
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Rothschild in deutscher Sprache erscheint allerdings in Anbetracht der französischen Provenienz des Barons widersinnig, wobei aus dem Dokument nicht hervorgeht, ob es tatsächlich an Rothschild in dieser Form geschickt worden ist, oder ob es sich möglicherweise um eine Vorlage für eine französische Ubersetzung handelt. Der zweite Brief ist von einem Kolonisten verfaßt, der als Verantwortlicher für den Maschinenraum der Weinkellerei in Rischon le-Zion angestellt war.83 Er hatte erhebliche Probleme mit dem Verwalter Jakow Papo (1860-1915), der ihn der Nachlässigkeit beschuldigte. Um sich zu rechtfertigen und die seiner Meinung nach unbegründeten Vorwürfe zurückzuweisen, wandte er sich an Jizchak Starkmeth (1858-1915), zu dieser Zeit Ingenieur und stellvertretender Direktor in Sichron Jakow.84 Starkmeth wurde zwar in Odessa geboren, einem Zentrum jüdischer Kultur, aber auch eines polyglotten Kosmopolitismus, was seine Ingenieursausbildung auch an einer deutschen Universität implizieren könnte. Dies erklärt aber noch nicht, daß sich der Kolonist an ihn in deutscher Sprache wandte, gleichzeitig läßt sich der Name des Kolonisten nicht ermitteln, daher sind weitere Nachforschungen in dieser Richtung nicht möglich. Das Material läßt den Schluß zu, daß Deutsch eine der Korrespondenzsprachen in Rischon le-Zion gewesen ist, wofür auch die von Israel Beikind geschilderte Tatsache spricht, Adelaide Baronin de Rothschild, die Frau Edmond de Rothschilds, habe bei ihrem ersten Besuch in Palästina 1887 in Rischon le-Zion mit den Damen der Kolonie Deutsch gesprochen.85 Diese Verwendung der deutschen Sprache könnte die Kolonisten möglicherweise inspiriert haben, ihren Brief im Jahre 1892 in deutscher Sprache zu verfassen. Wie bereits geschildert, sollten die Kolonien nicht nur ein Ort der landwirtschaftlichen Arbeit sein, sie sollten auch Teil des Aufbaus einer neuen jüdischen Kultur in Palästina sein, und hierzu waren Bibliotheken als ein Mittel des Versuchs einer neuen Identitätsfindung sehr geeignet. Die Bestände dieser Bibliotheken spiegeln den Anteil der Sprachen und Einflußsphären verschiedener europäischer Länder wider. Leider liegen
Widerstand der Administration zu verwirklichen, es herrscht nur noch Anpassung, die Ökonomie hat den Idealismus besiegt, die Vorstellungen des Barons lassen die hehren Ideale vom autarken Chowew Zion in Palästina in den Hintergrund treten. 83 Vgl. (??; Rischon le-Zion) an Starkmeth, 28.7.1898, ZZA, J15/5983. 84 Vgl. Aaronsohn, 1994, S. 163. 85 Ubersetzung der entsprechenden Passage aus dem Jiddischen: „(...) Rischon leZioner Damen, welche mit ihr deutsch geredet haben (...)". Beikind, 1917, S. 97.
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keine Bücherlisten aus allen Kolonie-Bibliotheken vor, aber für Rischon leZion gibt es zumindest Aufzeichnungen über den Zeitschriftenbestand.86 1895 schreibt Moses David Schub, die Kolonie besitze eine große Bibliothek mit allen hebräischen Zeitschriften plus Zeitschriften in Russisch, Deutsch und Französisch.87 Das Jubiläumsbuch 1907" nennt den Bestand detaillierter. Danach gab es vierzehn französische, elfjiddische, zehn deutsche, neun hebräische, fünf spanische und zwei englische Zeitschriften in der Bibliothek.88 Das große Angebot an französischen Zeitungen überrascht nicht, angesichts einer derart dominierenden französischen Verwaltung. Daß sich Deutsch zusammen mit Jiddisch und Hebräisch an zweiter Stelle der Liste findet, ist ein weiterer Beweis für die Bedeutung und Aktualität auch der deutschen Sprache in der Kolonie, denn eine Zeitschriftenbibliothek wird nur die Journale führen, die von den Benutzern auch gewünscht und vor allem verstanden werden. Diese Kenntnis der deutschen Sprache wird durch eine Schilderung des Schriftstellers Heinrich York-Steiner (1859-1934) eindrucksvoll bestätigt. Während seiner Palästinareise 1899 wurde er vom Rat der Kolonie Rischon le-Zion aufgefordert, eine Lesung abzuhalten. York-Steiner äußerte daraufhin die Besorgnis, man werde ihn, der er in deutscher Sprache schreibe und lese, nicht verstehen, wurde aber vom zahlreich versammelten Publikum nicht nur eines Besseren belehrt - „(...) sie verstanden nicht nur Satz und Wort, sondern auch all das, was an Leid und Empfindungen in diesen Schilderungen verborgen liegt."89 -, sondern gibt mit diesem emphatischen Bericht auch einen Einblick in die polyglotte Gesellschaft Ri-
86 Außer in Rischon le-Zion gab es bis 1901 noch Bibliotheken in Rechowot, Petach Tikwa, Sichron Jakow und Rosch Pina. Vgl. Luncz, in: „Die Welt" vom 13.9.1901, S. 5f 87 Vgl. Schub, 1895, S. 10. 88 Die deutschsprachigen Zeitschriften waren: Ost und West, Die Welt Neue Freie Presse, Apotheker Zeitung, Zahntechnische Zeitung, Deutsche New Yorker Zeitung, Jüdische Presse Berlin, Berliner Abend-Zeitung, Uber Land und Meer, Die Wache. Vgl. Aharon Mordechai Freimann, Rischon le-Zion, Jerusalem 1907, 160. Im Vergleich zu Schubs Schilderung fallt das Fehlen der russischen Zeitungen auf Ob es tatsächlich 1907 keine russischen Zeitungen mehr in Rischon le-Zion gegeben hat oder ob Freimann sie schlichtweg vergessen hat, ist nicht zu entscheiden. Richtig ist aber zweifellos, daß Russisch und das Zarenreich im Vergleich zu den mittel- und westeuropäischen Staaten keine für die Juden in Palästina bestimmende Rolle mehr gespielt hat. 89 Heinrich York-Steiner, Mein Debut in Palästina, in: „Die Welt", Nr. 26, 30.6.1899, S. 8.
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schon le-Zions, in der auch die deutsche Sprache ihren Raum hat: „Man spricht russisch, hebräisch, französisch und deutsch und man achtet darauf dass jeder Sprache ihr Recht werde."90 Aber nicht nur bei den Kolonisten war die deutsche Sprache verbreitet, auch einige der in Europa bekannten führenden Persönlichkeiten des neuen Jischuws sprachen Deutsch. Dem bereits mehrfach zitierten Israel Beikind bescheinigte Heinrich Loewe, er spreche „(...) ziemlich einwandfrei und sehr geläufig deutsch."'1 Der in Rumänien geborene, aber bereits 1882 mit seinen Eltern nach Palästina emigrierte Aaron Aaronsohn (1876-1919), ältester Sohn des Mitbegründers von Sichron Jakow, Efraim Fischel Aaronsohn,92 machte sich einen Namen in der wissenschaftlichen Fachwelt durch seine Arbeit auf dem Gebiet der Landwirtschaft, wobei seine innovativ-progressive Tätigkeit in der palästinensischen Landwirtschaft gleichberechtigt neben seiner Erforschung der agronomen Vergangenheit Palästinas steht. Ihm wurde neben seiner außergewöhnlichen wissenschaftlichen Begabung auch ein großes Sprachentalent konstatiert, seine Muttersprache Jiddisch ließ ihn auf einfache Weise auch den Weg zur deutschen Sprache finden, so daß er sie nicht nur im Umgang mit Besuchern aus Deutschland sprach,93 sondern auch seine wissenschaftlichen Arbeiten in deutscher Sprache veröffentlichte.94 Nathan Kaisermann (1863-1945)95 ist ein Beispiel für die „importierte" Deutschsprachigkeit eines nicht im deutschen Sprachraum geborenen Pioniers, denn Kaisermann wurde in Odessa geboren, studierte Landwirtschaft in der Schweiz und kam 1891 als landwirtschaftlicher Sachverständiger des O.K. nach Palästina. Seine deutschen Sprachkenntnisse wollte Kaisermann auch in Palästina nicht aufgeben, so forderte er Heinrich Loewe bei ihren Zusammentreffen auf die Unterhaltung auf Deutsch zu
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Ebd. Vgl. Loewe, Sichronoth, Sprache und Sprechen, S. 8, ZZA, A146/6/10. Zur Geschichte der Familie Aaronsohn vgl. Artikel „Aaronsohn", in: EJ, 2:24ff Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina II, S. 56, ZZA, A146/6/8. Vgl Loewe, Sichronoth, Aron Aronsohn, eine Jugenderinnerung, S. 2, ZZA A146/6/6. In den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte die Familie aber nicht nur durch ihre Arbeit als Pioniere in Palästina, sondern auch durch die Tätigkeit der Geschwister Sarah (1890-1917), Alexander (1888-1948) und Aaron als Leiter der pro-englischen Spionageorganisation „Nili" (hebr. Akronym fur „Nezach Israel Lojeschaker" - Der Gott Israels lügt nicht), die von 1915 bis 1917 in Syrien und Palästina tätig war. Vgl. Artikel „Nili", in: EJ, 12:1162-1165. 95 Zur Biographie vgl. Tidar, Vol. 1, S. 42ff u. Loewe, Sichronoth, Palästina Π, S. 22, ZZA, A146/6/8.
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fuhren, was er nach Aussage Loewes auch „tadellos" beherrschte.96 Dies wird bestätigt durch einen längeren Artikel Kaisermanns über die Kolonie Mischmar Hajarden in deutscher Sprache für die Zeitschrift „Zion", der 1896 erschien,97 ebenso wie durch seine brieflichen Kontakte mit Willy Bambus.98
3. Moses David Schub, Baruch Papiermeister, Eliahu Lewin-Epstein - drei herausragende Persönlichkeiten des Neuen Jischuws Eine der schillerndsten Figuren des neuen Jischuws war der Mitbegründer von Rosch Pina und Mischmar Hajarden Moses David Schub,99 der in seiner rumänischen Heimat bereits 1877 eine Gruppe ausreisewilliger Juden zusammengebracht hatte, mit denen er nach Palästina gehen wollte, letztlich aber durch den Ausbruch des russisch-türkischen Krieges daran gehindert wurde.100 Schub versuchte während seiner Tätigkeit fur die Kolonien stets, den Kontakt nach Europa herzustellen, um auf diese Weise Unterstützungen fur den Neuen Jischuw zu bekommen. Im Herbst 1883, dem Höhepunkt der Krise in Rosch Pina, wurden zwei Emissäre ausgewählt, als Spendensammler nach Europa zu gehen. Schub war einer von ihnen, allerdings endete diese erste Mission bereits in Ägypten, da sich inzwischen Edmond de Rothschild bereit erklärt hatte, auch Rosch Pina in sein Siedlungswerk zu übernehmen.101 Die Suche nach Hilfe für die neuen Kolonien führte ihn dann aber 1895 doch nach Europa, und dabei auch nach Deutschland, wobei Schub besondere Hoffnungen auf die Bnei Brit-Logen setzte. Über seine Erfolge
96 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina II, S. 35, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 8 . 97 Vgl. Nathan Kaisermann, Einiges über die Kolonie Mischmar Hajarden, in: „Zion", 2. Jg. 1896, S. 46-58. Allerdings ist zu bedenken, daß dieser Artikel auch eine Übersetzung der Redaktion des „Zion" sein könnte. 98 Vgl. z.B. Kaisermann an Bambus, 24.8.1898, Z Z A J 4 1 / 2 1 . 99 Schub hieß eigentlich Mosche David Jankelewicz. Den Namen „Schub", der ein hebräisches Akronym seiner Berufsbezeichung „Schochet u-Bodek" (Schächter und Prüfer von koscherem Fleisch) ist, nahm er in Palästina an. Vgl. für die Information über den Namen Jankelewicz": Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 53, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 6 . 100 Vgl. Moshe David Schub, Sichronot le-Beit David (hebr.), Jerusalem 5697 (1937), S. 54-57. 101 Vgl. Schub, 1895, S. 35.
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für die Kolonien ist bedauerlicherweise nur wenig bekannt, die Berichte über seine Gespräche in Deutschland implizieren aber, daß er die Verhandlungen in Deutsch führte. Den Angaben Loewes zufolge hatte Schub seine Deutschkenntnisse aus der jiddischen Sprache abgeleitet,102 die es ihm schließlich ermöglichten, in Deutsch zu kommunizieren und korrespondieren. Aus diesen Gesprächen entstand eine Freundschaft mit Heinrich Loewe und Willy Bambus, die Schub 1896 noch einmal nach Deutschland führen sollte, diesmal als Leiter der Palästina-Abteilung der Berliner Gewerbe·Ausstellung.103 Schubs Verbindungen nach Deutschland führten dazu, daß er viele Artikel auch für deutsche Zeitschriften verfaßte,104 zudem pflegte er mit Willy Bambus von 1898 bis zu dessen Tod 1904 einen ausführlichen Briefwechsel, wobei die aktuellen Ereignisse und die Geschichte der Kolonisation im Vordergrund standen.105 Schub traf auch mit Theodor Herzl zusammen und begleitete diesen auf seiner Palästinareise 1898. Ein beachtenswertes, wenn auch kurioses Detail der Verbindung Schubs zur deutschen Sprache und Kultur findet sich in seinen Hebräisch verfaßten Memoiren. Um die Namensgebung der Kolonie Mischmar Hajarden zu erläutern, vergleicht er den Namen mit der „Wacht am Rhein" und schreibt dies auch in lateinischen Buchstaben.106 In Palästina war Schub jedoch kein Verfechter der deutschen Sprache, er forderte vielmehr Bambus 1898 auf, sich für den Fortschritt der hebräischen Sprache einzusetzen.107 Während sich Schub seine Deutschkenntnisse noch aus der jiddischen Sprache ableiten mußte, hatte ein anderer Pionier der Ersten Alija nicht nur die Sprache in Deutschland erlernt, sondern sogar ein Architekturstudium an der Berliner Universität abgeschlossen. Baruch Papiermeister (1840/42-1925)108 wurde in der litauischen Stadt Tukum geboren. Zu102 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 53, ZZA, A146/6/6. 103 Vgl. Schub, 1895, S. 1-4; Schub, 5697, S. 152-156; Loewe, Sichronoth, PalästinaReise, S. 53f, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 6 u. Kunst und Künstler, S. 7, ZZA, A146/6/2. Die Ausstellung wird im Kapitel über Willy Bambus und Heinrich Loewe ausführlich behandelt, da sie einen wichtigen Punkt im deutschen Frühzionismus und der Beschäftigung mit der palästinensischen Realität darstellt. 104 Vgl. Artikel „Schub, Moshe David", in: EJ, 14:1003. 105 Vgl. ZZA.J41/21. 106 Vgl. Schub, 5697, S. 133£ 107 Vgl. Schub an Bambus, 12.5.1898, ZZA, J41/21. 108 Die Lebensdaten und z.T. auch die Biographie Baruch Papiermeisters enthalten viele Ungenauigkeiten. So gibt Idelovitch das Geburtsjahr 1842 an, während Tidar und Eliav 1840 nennen. Da sich Tidars Enzyklopädie stark auf private Informationen aus den jeweiligen Familien stützt, wäre das Jahr 1840 als wahrscheinlich an-
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nächst erfuhr er eine traditionell jüdische Ausbildung an einer Jeschiwa, ging aber dann nach Berlin. Dort knüpfte er, nach eigener Aussage, enge Kontakte zu der Berliner Familie Heymann, die sich sehr um die jüdischen Studenten aus Rußland bemühte und ihnen ein offenes Haus für ihre .jüdischen Interessen"10' geboten hätte. Nach dem Abschluß seines Studiums arbeitete er sowohl in Deutschland als auch in Rußland und plante schließlich Mitte der 1880er Jahre, nach Australien zu gehen. Auf der Reise dorthin besuchte er seinen Bruder Aharon Papiermeister (1837-1912)110 in Rischon le-Zion, änderte seine Pläne und blieb in Palästina. Baruch Papiermeister wurde einer der führenden Pioniere in der Kolonie, nicht nur als Landwirt und in seinem erlernten Beruf als Architekt - er plante u.a. eine große Synagoge für die Kolonie -, sondern auch im Bestreben der ganzen Familie Papiermeister, von der Rothschildadministration unabhängig zu sein.111 Der deutschen Sprache blieb Baruch Papiermeister eng verbunden, wie viele Dokumente aus der Zeit bis 1898 zeigen. Zwei Jahre nach seiner Emigration fuhr er nach Europa, und knüpfte hier Kontakte zu den führenden Chowewe Zion in Osteuropa, zu Lilienblum und Pinsker,112 aber vor allem zu Isaak Goldberg, mit dem sich ein Briefkontakt herstellte, der
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zunehmen. Eliav schreibt dann aber, daß Papiermeister bereits 1882 nach Palästina gekommen sei, was nicht den Tatsachen entspricht. Vgl. Idelovitch, 1942, S. 418; Tidar, Vol. 1, S. 909 u. Eliav, 1981, Vol II, S. 213, Anm. 2. Papiermeister jeweils zitiert nach Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 29, ZZA, A146/6/8. Gemeint war die Familie Aron Hirsch Heymanns (1803-1880), der ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde Berlins war und lange Zeit als ihr Vorsteher füngierte. Vielleicht auch durch Papiermeister angeregt, gab Heinrich Loewe 1909 im Auftrag der Kinder Heymanns dessen Memoiren heraus. Vgl. Loewe, 1909. Aharon Papiermeister wurde wie sein Bruder in Tukum (Litauen) geboren, war aber schon vor ihm nach Palästina gekommen und hatte in Rischon le-Zion 1.000 Dunam Land für seine Familie gekauft. Die Papiermeisters waren die größten Weinbauern in Rischon le-Zion, verkauften aber ihre Trauben zunächst nicht an die Rothschildverwaltung, da sie mit den Administratoren in heftige Konflikte geraten waren. Zu billigen Preisen wurden die Trauben von den Templern aufgekauft, dann versuchten sie sich mit einer Bierbrauerei und dem Brennen von Cognac die Unabhängigkeit zu erhalten. Aber die ökonomische Macht der Administration war zu übermächtig, und der ungleiche Kampf endete mit der Aufgabe der Brüder, die dann ihre Trauben ebenfalls Rothschild verkauften. Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 30f., ZZA, A146/6/8. Vgl. Papiermeister (z.Zt. in Odessa) an Goldberg, 8.10.1887, ZZA, A6/141.
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durchweg auf Deutsch geführt wurde.113 Anfang des Jahres 1889 bestätigte Baruch Papiermeister die Richtigkeit eines in deutscher Sprache verfaßten Testaments des Kolonisten Niemzowitsch, das dieser in Meran verfaßt hatte, bevor er während eines Kuraufenthaltes dort gestorben war.114 In seinen Erinnerungen an die Palästinabesuche 1895 und 1896/97 bezeichnete Heinrich Loewe die Gebrüder Papiermeister ganz explizit als deutschsprachig, mit denen sich dann eine langjährige Freundschaft entwickelte.115 Helene Papiermeister, Baruch Papiermeisters Ehefrau,116 beherrschte die deutsche Sprache ebenfalls in Vollendung, was sie ab 1896 zu mehreren Briefen an Theodor Herzl117 und ab 1899 an Max Nordau118 nutzte, um die Geschichte der Kolonien aus ihrer Sicht darzustellen, die Rothschildadministration für den moralischen Verfall der Siedler verantwortlich zu machen, „Fluch der Wohltätigkeit",119 und gleichzeitig aber auch Vorschläge für eine Verbesserung des herrschenden Subventionssystems zu machen. Wie wichtig die deutsche Sprache fur Baruch und Aharon Papiermeister nicht nur als Umgangssprache war, sondern auch als Sprache, in der offizielle Dokumente verfaßt wurden, zeigten die Landtransaktionen aus den Jahren 1896 und 1898, bei denen alle Verträge und Uberschreibungsunterlagen detailliert in deutscher Sprache abgefaßt sind.120 Als Theodor Herzl im Oktober 1898 Palästina und dabei auch die Kolonie Rischon leZion besuchte, hielt „Herr Papiermeister"121 eine Rede zu Ehren des Ga113 Vgl. z.B. Papiermeister an Goldberg, 30.1.1890, ZZA, A6/59. Der Inhalt dieses Briefes läßt den Schluß zu, daß Papiermeister und Goldberg in ständigem Briefkontakt standen. 114 Vgl. Freimann, 1907, S. 23. Dies ist das im Vorwort erwähnte Testament. 115 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 19, ZZA, A146/6/6 u. Kap. Palästina, S. 29-32, ZZA, A146/6/8. 116 Helene Papiermeister, geb. Perlis, wurde in einer Stadt im Gouvernement Kowno geboren. Sie war sehr viel jünger als ihr Ehemann, hatte konkrete Vorstellungen über ihr Leben und trennte sich schließlich von ihrem Mann, um in Amerika für ihr Auskommen zu sorgen. Genaue Daten über Helene Papiermeister waren nicht zu ermitteln. 117 Vgl. ZZA, Η VIII630. 118 Vgl. ZZA, A119/134a u. A119/183. 119 H. Papiermeister an Herzl, 29.3.1897, ZZA, Η VIII 630. 120 Diese Unterlagen, drei Schriftstücke aus dem Jahr 1896 und eins aus dem Jahr 1898, finden sich im ZZA.J15/7080. 121 Es ist nicht eindeutig zu ermitteln, ob es Baruch oder Aharon Papiermeister gewesen ist, der die Rede hielt. Herzl selbst nennt in seinem Tagebuch den Namen des Kolonisten nicht. Der Augenzeuge Moses David Schub spricht in einem Brief an Bambus nur von „Herr Papiermeister". Eliav druckt Schubs Brief in hebräischer
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stes, auf Deutsch, wie vorausgesetzt werden kann, da hierfür kein geeigneterer Redner als einer der Gebrüder Papiermeister gefunden werden konnte. „Aufgrund ihrer Memeler Erziehung und der Zugehörigkeit zur deutschen Sprache rechnete sie sich zu den deutschen Juden." Auch ihr Mann „(...) war deutsch gebildet".122 Die Rede ist hier von Judith Lewin-Epstein und ihrem Mann Eliahu, dem ersten Administrator in Rechowot,123 die als Resultat der angesprochenen deutschen Bildung in ihrem Haus in Rechowot Deutsch als Umgangssprache benutzten.124 Als Verwalter hatte LewinEpstein Kontakte zu den Angestellten der Rothschildkolonien in Palästina, ebenso wie zu den JCA-Verwaltern in Paris und auch zu den Vertretern des Vereins Esra. Aus den Jahren 1895 bis 1900 liegen umfangreiche Briefsammlungen vor, die darlegen, daß Lewin-Epstein seine Korrespondenzen in deutscher Sprache geführt hat. So z.B. mit Elie Scheid über seine Loyalität zu Edmond de Rothschild und die Weingeschäfte.125 Aber auch mit den Verwaltern der Kolonien, z.B. Nathan Kaisermann126 und Chaim Chasan,127 der von 1893 bis 1900 in
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Übersetzung in seiner Dokumentensammlung ab und gibt im Index nur „Baruch Papiermeister" an. Vgl. Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher in sieben Bänden, hrsg. v. Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Schaerf Julius H. Schoeps, Johannes Wachten, Frankfurt/M./Berlin 1983, Tb v.27.10.1898, S. 676. Im Folgenden werden die Bände mit ihrem jeweiligen Erscheinungsjahr zitiert, eine Aufschlüsselung findet sich im Literaturverzeichnis. Vgl. weiter Schub an Bambus, 17.11.1898, ZZA, A28/6/7 u.Eliav, 1981, Vol II, S. 324, bzw. 453. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 24, ZZA, A146/6/8. Lewin-Epstein wurde in der litauischen Stadt Vilkaviskis geboren, sein Vater war ein wohlhabender Buchhändler, der ihm zunächst eine traditionell jüdische Jeschiwa- und Talmud-Tora-Ausbildung ermöglichte. Nach den Pogromen 1881 schloß sich Lewin-Epstein den Chowewe Zion an und gehörte zu den Gründern der Bnei Moshe in Warschau. Zusammen mit Seev Gluskin rief er die Gesellschaft „Menucha we-Nachala" (Ruhe und Besitz) ins Leben, die das Land für die Kolonie Rechowot erwarb und Lewin-Epstein dort als Verwalter einsetzte. Zur Biographie vgl. Artikel „Lewin-Epstein, Eliahu Ze'ev", in: EJ, 11:173; Tidar, Vol. 1, S. 78f u. Eliav, 1981, Vol II, S. 418. Judith Lewin-Epstein schreibt ihre Briefe an deutschsprachige Adressaten in Frakturschrift, was ein Zeichen dafür ist, daß sie die deutsche Sprache in Deutschland erlernt hatte. Vgl. J. Lewin-Epstein an Gluskin, 7. Tischri 5656, ZZA, A118/2. Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 22, ZZA, A146/6/6. Vgl. Briefe von Lewin-Epstein an Scheid, 1898-1900, ZZA, A216/2, A216/aleß u. A216/3. Vgl. Lewin-Epstein an Kaisermann, 3.2.1898 u. 24. Adar 5658, (18.3.1898) ZZA, A216/2; 11.3.1900, ZZA, A208/3. Vgl. Lewin-Epstein an Chasan, Briefe aus den Jahren 1899-1900, ZZA, A216/ alef2, A216/2 u. A208/3.
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Rischon le-Zion tätig war, gab es deutsche Korrespondenz über ökonomische Fragen oder den Handel zwischen den Kolonien. Mit Emile Meyerson, dem zu dieser Zeit fiir die Verwaltung der JCA verantwortlichen Mann in Paris, gab es ab 1895 Briefwechsel, die sich hauptsächlich mit der Unterstützung der Kolonie durch das Central-Comite in Paris beschäftigten.128 Die Esra-Vertreter Moritz Dom und Willy Bambus verwickelte Lewin-Epstein vor allem in Diskussionen über die Höhe der Subventionen aus Berlin, die er stets als unzureichend betrachtete.129 Mit der Gründung der Zionistischen Weltorganisation und dem Ersten Zionistenkongreß in Basel 1897 entschied sich auch Lewin-Epstein für den Zionismus, was sich in seiner Tätigkeit als Schekelsammler130 für Palästina und einem Briefwechsel mit Oser Kokesch (1860-1905), einem engen Vertrauten Herzls und Befürworter der Kolonien in Palästina, niederschlug.131 Es zeigt sich also, daß sich in den ländlichen Kolonien Palästinas während der Zeit der Ersten Alija einige Ansatzpunkte für die deutsche Sprache fanden. Auf sehr verschiedenen Gebieten zeigen die Quellen eine Verwendung des Deutschen, die sich von der familieninternen Umgangssprache (Lewin-Epstein) bis zu offiziellen Schreiben erstreckte (Scheid/ Jawitz). Gleichzeitig ist deutlich, daß der Weg zur deutschen Sprache häufig über das Jiddische führte. Aber wie sind die anderen Sprachen in Relation zum Deutschen zu gewichten? Unzweifelhaft war das Französische die erste offizielle Verwaltungssprache. Bei den Kolonisten, selbst bei denen, die sich schließlich ganz in ihr Schicksal des fremdbestimmten Lebens, im Gegensatz zu den Autarkie- und jüdisch-nationalen Bestrebungen der Frühzeit, ergaben, erreichte die französische Sprache zwar eine gewisse Bedeutung, und für viele administrative Vorgänge war sie einfach notwendig. Aber parallel dazu bauten sich die Kolonisten, motiviert vom Idealismus der ersten Jahre, eine hebräische Umgangssprache, eine hebräische Kultur auf getragen von den
128 Vgl. Meyerson an Lewin-Epstein, 12.8.1895 u. 14.9.1896, ZZA, A216/16b; LewinEpstein an Meyerson, 31.8.1897, ZZA, A408/169, 24.12.1899 u. 12.3.1900, ZZA, A208/3. 129 Vgl. Dorn an Lewin-Epstein, 1.11.1898 u. Lewin-Epstein an Dorn, 8.1.1899, ZZA, A216/16a. Bambus an Lewin-Epstein, 1896-1899, ZZA, A216/16a. 130 Der „Schekel" war der Beitrag jedes Mitgliedes für die zionistische Organisation, wodurch das Recht auf Beteiligung an der Wahl eines Kongreßdelegierten erworben wurde. 131 Vgl. Lewin-Epstein an Kokesch, 1897-1899, ZZA, A216/2. Vgl. Lewin-Epstein an das „Bureau des Zionistenkongresses", 1898-1899, ZZA, A216/2 u. A216/alef2.
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Ideen der Chowewe Zion in Osteuropa und gefördert von engagierten Vorkämpfern wie Ben-Jehuda in Palästina. Französisch war für die Kolonisten - sie kamen, wie dargestellt, ausnahmslos aus Osteuropa - eine fremde Sprache, zudem die Sprache der doch latent als Unterdrücker empfundenen Administration. Sichron Jakow, die Kolonie, in der die Absorption des französischen Systems am deutlichsten war, wurde nicht etwa bewundert, sondern spöttisch, fast verärgert betrachtet, und die Bezeichnung „Klein-Paris" ist nur ein euphemistischer Ausdruck, hinter dem aber der ganz konkrete Vorwurf des Verrats an den früheren Idealen stand. Die Sprachen der osteuropäischen Herkunftsländer der Kolonisten, Russisch, Rumänisch oder Polnisch, spielten für sie keine große Rolle mehr, zwar gab es Briefwechsel, doch der Entwicklungsprozeß in Palästina fand ohne ihren Einfluß statt.132 So benutzten die der neuen hebräischen Kultur anhängenden Kolonisten und Verwalter der von Rothschild unabhängigen Siedlungen das Ivrit, das Neu-Hebräisch, bereits in den 1880er Jahren sehr häufig, die Quellenlage zeigt dies in eindrucksvoller Weise. Für die Siedler der Ersten Alija war Ivrit die Verbindung der sakralen Retrospektive mit dem Blick in die Zukunft, eine nationale, selbstbestimmte jüdische Zukunft. Dies erklärt auch, warum Jiddisch seine Bedeutung in Osteuropa nicht nach Palästina transportieren konnte. Zu sehr verknüpfte man damit eine Ghettosprache, zu sehr verband man mit ihr Unterdrükkung und Unfreiheit. Gleichzeitig aber ebnete die Kenntnis des Jiddischen den Weg zu der für die Juden Osteuropas wichtigsten Fremdsprache ihres Lebensbereiches, zur deutschen Sprache.
4. Deutsche Kultur und deutscher Einfluß in den Kolonien Die Suche nach einer „deutschen Kultur" über den Weg der deutschen Sprache in den Kolonien muß hinsichtlich der Brockhaus-Definition für Kultur betrachtet werden. Zu unterschiedlich waren die Konditionen in Palästina, zu ungewohnt die Anforderungen, als daß auf bekannte, oder vielleicht auch nur als Zerrbild in den Köpfen der Kolonisten existierende Vorstellungen einer Kultur für die Lösung der anstehenden Aufgaben zu-
132 Die bekannteste Ausnahme ist das bereits vielfach zitierte Tagebuch von Chaim Chissin, das zuerst in russischer Sprache verfaßt wurde. Andere europäische Sprachen fristeten nur ein marginales Dasein in Palästina, können für den Untersuchungsgang daher unberücksichtigt bleiben.
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räckgegriffen werden konnte. Kultur als raumgebundene Erscheinung läßt sich nicht transportieren, ohne daß eben eine neue Kultur in der neuen Umgebung entsteht. Zudem war den meisten Kolonisten das, was gemeinhin als „deutsche Kultur" bezeichnet wird, nicht aus eigener Anschauung bekannt. Das Interesse für die deutsche Kultur, das auch einen Kontakt zum deutschsprachigen Raum einschloß, wurde in die Heimat der Vorfahren übernommen, wie die Reaktionen auf den Besuch YorkSteiners in Rischon le-Zion zeigten. Lesungen oder ähnliche Kulturveranstaltungen in französischer Sprache hat es dagegen in den Kolonien offensichtlich nicht gegeben. Sprache ist Teil einer Kultur, damit auch Ausdruck eben dieser. Daß deutsche Literatur und deutsche Zeitungen gelesen wurden, ist ein wichtiger Hinweis auf mögliche Ansatzpunkte, ob damit aber auch eine deutsche Kulturvorstellung übernommen wurde, muß in Frage gestellt werden. Wenn außer der Sprache die direkte Erfahrung mit einer Kultur fehlt, sucht man zwangsläufig nach Vorbildern. Der städtische Jischuw war zwar zum Teil von deutschen Juden geprägt, aber ihre Orthodoxie, noch stärker ihre Feindschaft den Siedlern gegenüber, ließen sie in keiner Phase der Ersten Alija als Beispiel oder Hilfestellung fungieren. Sie stellten eher einen dialektischen Gegensatz als notwendige Antithese zu den Vorstellungen der Siedler dar, aus der sich als Synthese das Bild der Ersten Alija entwikkeln sollte, wie es sich den Mitgliedern der zweiten Einwanderungswelle ab 1904 darbot. Erwiesenermaßen fungierten die Templer hingegen häufig als Vorbild einer gelungenen Ökonomie in Palästina, aber eben nur als ökonomisches Vorbild, nicht als ein Vorbild und nachahmenswertes Beispiel deutscher Kultur, dazu waren die Differenzen zwischen protestantischen Templern und jüdischen Siedlern doch zu groß, wie immer wieder auftretende Feindseligkeiten bewiesen. Zwar bauten z.B. Templer Häuser in jüdischen Kolonien, kauften jüdische Kolonisten Waren in den Geschäften der Templer, gab es sogar einen Gedankenaustausch über landwirtschaftliche Fragen wie die Schädlingsbekämpfung in den Weinbergen, aber all dies blieb auf einer geschäftlichen Ebene, die, von beiden Seiten, jederzeit durch Animositäten und Auseinandersetzungen wieder zerstört werden konnte.133 Wie aber das Bild Deutschlands, der deutschen Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen im Ausland gesehen wurde, wie es in Palästina als konträres Beispiel zur Lebensweise der Araber und Juden gesetzt werden 133 Vgl. zu diesem Komplex Carmel, 1973, S. 260-294.
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konnte, macht Jean Fischer in seinem Reisebericht aus Palästina 1907 nur allzu deutlich: „Wir kommen durch die deutsche Kolonie. Der Name genügt wieder, um anzudeuten, dass es hier anständig aussieht."134 Doch trotz aller Vorbehalte, die Sprache schuf Verbindungen zum Land der Sprache, zumal das deutsche Judentum in den Augen der osteuropäischen Juden immer noch eine außergewöhnliche Position besaß, der Respekt und die Achtung vor einer vermeintlichen Omnipotenz der deutschen Juden ist in dieser Arbeit hinlänglich besprochen worden, die Sprache dieser vermeintlich omnipotenten Gruppe hatten die Siedler mit nach Palästina genommen und damit auch die Hoflnung auf Hilfe. Die Frage nach einem möglichen Einfluß aus Deutschland auf die Kolonien muß zweigeteilt beantwortet werden. Zunächst sind die offiziellen deutschen Stellen zu betrachten, die sich, wie die von Mordechai Eliav 1973 veröffentlichte Dokumentensammlung „Die Juden Palästinas in der deutschen Politik" nachweist, zwar sehr um die Juden bemühten, die Kolonien spielten hierbei aber nur eine untergeordnete Rolle. Diese Haltung ist verständlich, waren doch die Siedlungen in ihren Anfangen nur unscheinbare Versuche, die zudem in ihrer richtungsweisenden Bedeutung für die ganze Region, unterbewertet wurden. Außerdem waren diese Kolonien zu einem großen Teil unter französischer Verwaltung, nicht durch offizielle Stellen, aber doch derart fest, daß nur noch der Versuch über die Erteilung des „Schutzgenossenstatus" versucht wurde, diese Kolonien im Sinne einer deutschen Großmachtpolitik im Nahen Osten zu nutzen. Über die Einflußmöglichkeiten der deutschen Juden wird in den folgenden Kapiteln noch ausfuhrlich zu sprechen sein. Ohne vorzugreifen, sei aber gesagt, daß sich hier für die deutschen Juden ein sehr großes Betätigungsfeld aufgetan hatte. Doch wie paralysiert sahen viele von ihnen nur die von diesen Siedlungen ausgehenden Gefahren für ihre eigene Assimilation, sie wichen dieser Angst polemisch aus, stellten sich ihr aber nicht. Im Versuch, die in der Einleitung zu diesem Kapitel gestellten Fragen zu beantworten, kann aus der Untersuchung auf ein signifikantes Vorhandensein der deutschen Sprache geschlossen werden. Dieses bildete zunächst eine Basis, auf der weiter aufgebaut werden konnte, wenn es denn gewünscht worden wäre. Inwieweit sich die deutsche Sprache im Jischuw festgesetzt hatte, inwieweit sie aber auch in ihrer Rolle als Fremdsprache nicht erkannt und im Vergleich mit der hebräischen Sprache überschätzt wurde, zeigte der sogenannte „Sprachenkampf am Haifaer Technikum 134 Jean Fischer, Das heutige Palästina. Ein Reisebericht aus dem Frühjahr 1907, (Antwerpen 1908), S. 49.
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1913.135 Auch sind die Einlassungen eines Hans Rohde, stellvertretend für andere, zurückzuweisen. Deutschland wurde zwar ab 1908 in der Person Arthur Ruppins eine bestimmende Figur im Neuen Jischuw, von einem Werk deutscher Kultur zu reden, war jedoch äußerst vermessen, und den Aufbau der sozialistischen Kibbuzim als ureigenes deutsches Werk zu reklamieren, negiert in verfälschender Weise die Bedeutung der osteuropäischen Pioniere der zweiten Einwanderungswelle. Uber die hier beschriebenen Hintergründe werden die nächsten Kapitel verständlich, die zum einen die Versuche der Kolonisten zeigen, die deutschen Juden zu einer Hilfe zu bewegen, zum anderen sich mit den Aktivitäten der deutschen Zionsfreunde befassen, die das selbe Ziel hatten.
135 Das vom „Hilfsverein der deutschen Juden" 1913 in Haifa gegründete Technikum sollte das Schulwerk des Hilfsvereins in Palästina krönen. Doch vor der Eröffnung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Unterrichtssprache in den technischen Fächern. Von Seiten des Hilfsvereinsgründers Paul Nathan wurde das Deutsche vorgeschlagen, die zionistisch eingestellten Mitglieder des Kuratoriums wollten die hebräische Sprache durchsetzen. Während dieses Konflikt kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die bis zu Streiks in den anderen Hilfsvereinsschulen in Palästina fiihrten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verdrängte das Problem, und das Technikum wurde erst 1925 eröffiiet. Vgl. Eloni, 1987, S. 313-356; Ernst Feder, Paul Nathan - Politiker und Philanthrop, in: Robert Weltsch (Hrsg.), Deutsches Judentum. Aufstieg und Krise, Stuttgart 1963 u. Isaiah Friedman, The Hilfsverein der deutschen Juden, the German Foreign Ministry and the Controversy with the Zionists, 1901-1918, in: Leo Baeck Institue Year Book, Vol. XXIV, 1979, S. 291-319.
IX. Die Chibbat Zion und das Bemühen um die deutschen Juden Anfang der 1880er Jahre
Die vorangegangenen Kapitel haben deutlich gezeigt, daß die deutschen Juden für die Kolonisten ganz selbstverständlich ein wichtiger Ansprechpartner waren. Ihr philanthropisches Engagement war bekannt, besonders auch das Bemühen der Orthodoxie um den Alten Jischuw. Man rechnete daher, nicht zu Unrecht, mit einer Unterstützung aus Deutschland. Es galt nur noch, jemanden zu finden, der die Ideen der Kolonisten eloquent und überzeugend in Deutschland vertreten konnte.
1. Josef Feinberg Bereits zwei Monate nach ihrer Gründung war die Kolonie Rischon leZion in finanzielle Schwierigkeiten geraten, und es wurde beschlossen, einen Emissär nach Europa zu schicken, der Spenden für die Kolonie sammeln sollte. Bei der Suche nach einem geeigneten Botschafter ihrer Sache wurden die Kolonisten schnell fündig. Sie ernannten Joseph Feinberg zu ihrem Delegierten, und seine Wahl kann als richtungsweisend für die Einstellung der Kolonisten zu Deutschland und zur Erwartung an die deutschen Juden betrachtet werden. Joseph Feinberg wurde als Sohn sehr wohlhabender und angesehener Eltern 1855 in Simferopol (Krim) geboren. Er studierte Chemie in Heidelberg und München, ging aber zum Abschluß seines Studiums wieder zurück nach Rußland. Dort arbeitete er für die Saizew-Zucker-Gesellschaft in Kiew.1 Im Frühjahr 18822 kam er nach
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Für die Biographie Feinbergs vgl. Idelovitch, 1942, S. 41 und Tidar, Vol. 1, S. 347. Der Zeitpunkt seiner Ankunft in Palästina lag vor dem 22.3.1882, denn unter diesem Datum schreibt er aus Jaffa an Dr. Schwarz in Konstantinopel. In dem Brief äußert sich Feinberg u.a. auch sehr kritisch über den „Waad Chaluzei", dem er zunächst die Mitarbeit verweigern wird. Allerdings nennt er Schwarz keine Gründe für sein Verhalten. Dr. Schwarz scheint aber ein wichtiger Vertrauensmann der ersten Landkäufer und Kolonisten gewesen zu sein, denn ihm werden die Statuten des „Waad" zur Begutachtung zugeschickt, auf sein Urteil legen Feinberg und auch Levontin offensichtlich großen Wert. Vgl. ZZA, Kl 1/186/15. Schwarz hatte später auch Kontakt mit Pinsker und schrieb diesem seine Einschätzung der Situation in Palästina und Konstantinopel. Vgl. Schwarz an Pinsker, 30.4.1885, in: Druyanow III, Dok. 1249, S. 727ff
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Palästina, wurde Mitglied des „Waad Chaluzei Jessod Hamaala" und gehörte zu den Gründern Rischon le-Zions. Seine wohlhabenden Eltern hatten ihm ermöglicht, mit einem nicht unbeträchtlichen Geldbetrag nach Palästina zu reisen, den er dort fur die Beteiligung am Landkauf Levontins verwendete.3 Feinberg erfüllte alle Kriterien, die die Kolonisten an einen Botschafter stellten: Übereinstimmend wird er in den Quellen als gebildeter Mann geschildert, der über großes rhetorisches Talent verfugt habe und zudem auch eine äußerlich würdige Erscheinung gewesen sei.4 Besonderer Nachdruck aber wird auf seine Fähigkeit gelegt, die deutsche Sprache zu sprechen,5 was einen deudichen Hinweis auf das zunächst wichtigste Reiseziel seiner Mission gibt, denn Feinberg verließ am 15.8.18826 Palästina in Richtung Deutschland. Welche Städte er besuchte, ist aus den Quellen nicht eindeutig zu ermitteln. Anhand seiner Telegramme läßt sich nur der Aufenthalt in Mainz im September 1882 nachweisen.7 Alle anderen Angaben sind mit Skepsis zu betrachten,8 auch wenn Wien übereinstimmend als Reiseziel genannt wird. Detaillierte Mitteilungen über seine möglichen Gesprächspartner in Wien gibt es aber nicht, zwar ist von einem „Wohltäter Israels"' die Rede, doch waren seine Bemühungen, wenn er denn tatsächlich in Wien war, offensichtlich erfolglos. In Mainz traf Feinberg mit Markus Lehmann zusammen und konnte ihn nicht nur zu einer Spende für die Kolonie Rischon le-Zion bewegen, sondern auch zur Veröffentlichung eines Aufrufes an das deutsche Juden-
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Vgl. Kap. VI, Abschnitt „Die Gründung von Rischon le-Zion". Vgl. Beikind, 1917, S. 49; Idelovitch, 1942, S. 44f u. Tidar, Vol. 1, S. 348. Vgl. Beikind, 1917, S. 49 u. Idelovitch, 1942, S. 44. Datum nach Idelovitch, 1942, S. 44. Angegeben ist dort der 30. Aw 5642, dies entspricht dem 15.8.1882. Vgl. Telegramm vom 8.9.1882 aus Mainz, ZZA, A34/30. So finden sich bei Tidar die Angaben Wien und Deutschland als Reisestationen, Freimann nennt Wien, Mainz und Frankfurt/Main, Beikind zufolge machte Feinberg in Wien und München Station. Margalith fuhrt als Reiseziele Wien, Mainz und Heidelberg an. Vgl. Tidar, Vol. 1, S. 348; Freimann, 1907, S. 12; Beikind, 1917, S. 49 u. Margalith, 1957, S. 51. „Nadiwi Israel", vgl. Tidar, Vol. 1, S. 348. Vielleicht gab es doch das Bemühen, den in Wien lebenden Salomon Albert Rothschild (1844-1911), der als Philanthrop bekannt war, zu gewinnen. Vgl hierzu Waad ha-Chaluzei Jesod ha-Maala an Baron Rothschild zu Wien, 22.6.1882, ZZA, J 4 1 / 2 1 u. Kap. VI, Abschnitt "Die Gründung von Rischon le-Zion".
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tum im „Israelit", der zur Hilfe für die Kolonie ermuntern sollte.10 Sein Erfolg bei Lehmann war nicht unerwartet, hatte doch der Herausgeber des „Israelit" bereits im Juli 1882 durch die Gründung eines Komitees zumindest sein Interesse an der Kolonisation gezeigt und dies auch durch die Beteiligung am Landkauf in Petach Tikwa bestätigt." Einem Telegramm aus Mainz und dem Aufruf vom September 1882 sind die materiellen Erfolge seines Deutschlandbesuches zu entnehmen. Sie beliefen sich bis zu dem Aufruf im September 1882 auf 600 Mark,12 viel zu wenig angesichts der Finanznot in Rischon le-Zion. Wichtiger war nach Feinbergs Einschätzung die ideelle Unterstützung, die er in Deutschland erfuhr: „In Deutschland habe ich sehr viel Sympathie für meine Bitte gefunden und die bestehenden Comite's zur Unterstützung der bedrängten russischen Israeliten sind bereit die Gemeinde „Rischon-le-Zion" zu unterstützen (...).u13 Dies klang verheißungsvoll, denn wenn es Feinberg gelungen wäre, die genannten Komitees zur Hilfe für die Kolonie zu bewegen, wäre diesen die Befürchtung genommen worden, mit ihren bisherigen Subventionen eine eigentlich nicht gewünschte Einwanderung von osteuropäischen Juden nach Deutschland zu fördern. Doch die Bereitschaft zur Hilfe war an Bedingungen geknüpft: „(...) aber sie halten es für nöthig das Gutachten in dieser Beziehung von der Alliance Israelite zu haben."14 Um ein solches Gutachten und auch finanzielle Hilfe zu erhalten, fuhr Feinberg nach seinem Aufenthalt in Deutschland weiter nach Frankreich. Aus Deutschland brachte er ein Gutachten von Markus Lehmann sowie eine Empfehlung von Samson Raphael Hirsch15 mit nach Paris, die seiner Bitte Berechtigung und Nachdruck verleihen sollten. Die AIU schien nach einer Unterredung mit Feinberg einer Unterstützung für die Kolonisten nicht abgeneigt zu sein, doch schrieb Isidor Loeb, der Generalsekretär der AIU, umgehend an den Direktor von Mikweh Israel, Samuel Hirsch, und beauftragte ihn, durch eine persönliche Besichti-
10 Vgl. Joseph Feinberg, Die Gemeinde der ersten hebr. Colonie im heil. Lande an das Judenthum, in: „Der Israelit", Nr. 37,13.9.1882. 11 Vgl. Kapitel X, Abschnitt „Emil Lachmann - Der Gutsbesitzer". 12 Vgl. Telegramm vom 8.9.1882 aus Mainz, ZZA, A 3 4 / 3 0 u. Joseph Feinberg, Die Gemeinde der ersten hebr. Colonie im heil. Lande an das Judenthum, in: „Der Israelit", Nr. 37,13.9.1882. 13 Vgl. Joseph Feinberg, An das Hochgeehrte Central Comite der Alliance Israelite Universelle, in Paris, (o.D., geschrieben nach dem 2.10.1882, dem Todestag Netters in Palästina, denn der T o d Netters wird von Feinberg erwähnt). ZZA, J 4 1 / 2 1 . 14 Ebd. 15 Ebd.
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gung die Erfolgschancen der Kolonie zu beurteilen.16 Feinberg beließ es in Paris bekanntlich nicht bei einem Gesuch an die AIU. Seine Kontakte mit Zadoc Kahn und Michel Erlanger ermöglichten ihm schließlich einen Besuch bei Edmond de Rothschild.17 Diese Kontakte wurden von der AIU sehr begrüßt, denn sie forderten Hirsch umgehend auf, mit Rothschild über Rischon le-Zion zu korrespondieren und ihm jede gewünschte Information und Unterstützung zukommen zu lassen.18 Hirsch verfaßte noch im Oktober den von der AIU gewünschten Bericht und schickte ihn nach Paris.19 Hierin beschrieb er die Situation in Rischon le-Zion als ökonomisch äußerst bedenklich. Ausgehend von dem unfruchtbaren Boden, über das fehlende Wasser, bis hin zu der teilweise schlechten Finanzlage der Kolonisten entwarf Hirsch das Bild einer Kolonie, die seiner Ansicht nach am Abgrund stand.20 Dieser Bericht wurde von der AIU nicht nur an Baron Rotschild geschickt, sondern ging auch nach Deutschland an ein „Comite de Francfort",21 wobei nicht eindeutig geklärt werden kann, welches Komitee gemeint war. Legt man aber Feinbergs Ausführungen in seinem Schreiben an die AIU zugrunde, handelte es sich offensichtlich um eines zur Unterstützung der „bedrängten rassischen Israeliten".22 Der negative Bericht
16 Vgl. Loeb an Hirsch, 13.10.1882, ZZA, J41/27. 17 Als Exkurs sei hier auf zwei Dinge eingegangen, die über den Besuch Feinbergs bei Rothschild Eingang in die Literatur gefunden haben. Simon Schama schreibt, daß Feinberg auch deswegen bei Rothschild Unterstützung gefunden hätte, weil er noch in Palästina vor seiner Abreise ein Einfuhrungsschreiben bei Zadoc Kahn von Charles Netter bekommen hätte und zudem fließend französisch gesprochen hätte. Vgl. Schama, 1978, S. 62. Nach der Angabe bei Chissin ist nun aber Netter erst am 30.8.1882 nach Palästina gekommen. Zu diesem Zeitpunkt war Feinberg bereits auf dem Weg nach Europa. Vgl. Chissin, 1976, S. 75, Tb v. 3.9.1882 u. Aaronsohn, 1990, S. 11 u. 23. Inwieweit Feinberg auch über französische Sprachkenntnisse verfugte, wird in den Quellen nicht erwähnt, zumindest wird es nicht als Argument fur seine Bestimmung zum Delegierten der Kolonie angeführt. Es findet sich in einer Quelle eher die gegenteilige Behauptung, denn Beikind berichtet aus der Zeit in Rischon le-Zion, als auch Feinberg noch in der Kolonie wohnte, daß er, Beikind, der einzige gewesen sei, der die französische Sprache beherrscht habe. Vgl. Beikind, 1917, S. 70. 18 Vgl. Loeb an Hirsch, 20.10.1882, ZZA, J41/27. 19 Vgl. Loeb an Hirsch, 7.11.1882, ZZA, J41/27. 20 Der Bericht wird bei Margalith im französischen Original in Auszügen zitiert. Vgl. Margalith, 1957, S. 52. 21 Vgl. Loeb an Hirsch, 8.12.1882, ZZA, J41/27. 22 Vgl. Feinberg, An das Hochgeehrte Central Comite der Alliance Israelite Universelle, in Paris, o.D., ZZA, J41/21.
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verfehlte seine Wirkung in Deutschland offensichtlich nicht, denn weder von diesem Komitee in Frankfurt noch von anderen ähnlichen Komitees in Deutschland kam in der Folgezeit finanzielle Hilfe fiir Rischon le-Zion." Die Kriterien fiir Feinbergs Wahl zum Delegierten, die Wichtigkeit der deutschen Sprachkenntnisse hierbei, seine Reise zuerst nach Deutschland und seine Eindrücke und Hoffnungen, die er mit diesen Besuch verknüpfte, lassen den Schluß zu, daß es sich nicht um das Zusammentreffen etwaiger Zufälle, sondern um eine geplante Aktion handelte: Die Juden in Deutschland wollte Feinberg aufrütteln, denn von ihnen versprach er sich die notwendige Hilfe fiir seine Kolonie und auch für weiter noch zu gründende Siedlungen. Die Vertreter der AIU und auch Edmond de Rothschild waren für Feinberg in seinen Planungen sicher interessante mögliche Gesprächspartner, das Hauptaugenmerk lag aber zunächst auf Deutschland. An diese Feststellung schließt sich die Frage an, warum Feinberg gerade auf das deutsche Judentum so große Hoffnungen setzte, war doch die ambivalente Haltung der deutschen Juden zu Palästina, zur Kolonisation und zu nationaljüdischen Tendenzen nicht zu leugnen. Waren Feinberg und seinen Mitstreitern in Palästina diese Dinge nicht bekannt? Hatten sie vielleicht nur eine unklare, stark idealisierte Vorstellung vom deutschen Judentum, die der Wirklichkeit nicht standhalten konnte? Wie wurde das deutsche Judentum im Ausland, vor allem in Osteuropa, beurteilt? Mit der Beantwortung dieser Fragen werden sich die folgenden Abschnitte beschäftigen.
2. Die weiteren Bemühungen um die deutschen Juden bis 1887 Feinbergs Reise nach Deutschland war der erste Versuch in einer langen Reihe weiterer Bemühungen, die deutschen Juden für die Ideen der Chowewe Zion und für Palästina zu begeistern.24 Um dieses stetige Bemühen zu verstehen, ist ein Blick nach Osteuropa notwendig. Die Geschichte der jüdischen Gemeinden, ursprünglich entstanden aus Emigranten deutschsprachiger Länder, und hierbei besonders die Genese der jiddischen Spra-
23 Ausgeklammert bleiben hier zunächst die von Adolf Salvendi initiierten Spenden und die Arbeit von Leopold Hamburger, denen das folgende Kapitel gewidmet ist. 24 Der Besuch des Rabbiners Frumkin im Sommer 1882 in Deutschland gehörte zwar auch zu diesen Bemühungen, doch kam Frumkin nicht aus Palästina, sondern aus Lettland nach Deutschland, und er kam nicht im Auftrag der Chibbat Zion.
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che als Entwicklung aus dem Mittelhochdeutschen" und das damit verbundene Festhalten an der deutschen Kultur,26 bildete einen wichtigen Punkt im Bewußtsein und in der Selbstwahrnehmung der osteuropäischen Juden. Die jiddische Sprache wurde ihr Vermitder zwischen Ost und West. Deutsche Literatur, deutsche Kultur generell erschien in der Retrospektive als verklärtes Sinnbild einer vermeintlich besseren Zeit, die ihren Höhepunkt in der allgemeinen Schillerverehrung fand.27 Deutschland war aber nicht nur Gegenstand verklärter Literaturverehrung, sondern auch die Heimat der Sprache, in der sich zahlreiche bildungshungrige Juden in Osteuropa autodidaktisch der säkularen Welt näherten.28 Und wem es möglich war zu studieren, bzw. unmöglich, dies in Rußland oder Polen zu tun, der flüchtete über die Grenze nach Westen und besuchte eine Universität in Deutschland.29 Trotz dieser sehr verkürzten und generalisierenden Darstellung lassen sich die Gründe für eine latente Verklärung Deutschlands leicht erkennen. Diese Idealisierung führte schließlich dazu, daß man meinte zu erkennen, das deutsche Judentum strebe die Führungsrolle in der Weltjudenheit an.30 Und diese angestrebte Führungsrolle wurde mit dem allgemeinen Glauben an die Allmacht des westlichen Judentums verbunden.31 Mit diesem vermeintlichen Wissen und vor dem Hintergrund der Deutschland idealisierenden Einstellung war es nur selbstverständlich, Hilfe für alle möglichen
25 Zur jiddischen Sprache in Verbindung mit ihren mittelhochdeutschen Wurzeln vgl. Otto F. Best, Mameloschen: Jiddisch, eine Sprache und ihre Literatur, Frankfurt/M. 1973; Saida Landmann, Jiddisch. Abenteuer einer Sprache, München 1964, S. 1941; Ronald Lötzsch, Jiddisches Wörterbuch, Mannheim 1992, S. 5-17; Heinrich Loewe Die jüdisch-deutsche Sprache der Ostjuden, Berlin 1915 u. Heinrich Loewe, Die Sprache der Juden, Köln 1911. 26 Heinrich Loewe faßt diesen Vorgang plakativ mit dem Satz zusammen: „Die ganz konkrete Welt blieb deutsch." Loewe, 1915, S. 3. 27 Zum Phänomen der Schillerverehrung vgl. Wengerofl; 1908, S. 128 u. 1910, S. 30; Leo Herzberg-Fränkl: Die Juden, in: Die österreichische-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Galizien. Wien 1898, S. 478 u. Maurer, 1986, S. 126. 28 Vgl. Herzberg-Fränkl, 1898, S. 478. 29 Vgl. Wengerofli 1908, S. 127. Hinzu kam, daß z.B. die Berliner Universität keine besonderen Forderungen an ausländische Studenten stellte. Vgl. auch Jehuda Reinharz, Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, Tübingen 1981, S. 19 (Fußnote) u. Jack Wertheimer, Between Tsar and Kaiser - The Radicalisation of Russian-Jewish University Students in Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book, Vol. XXVIII, 1983, S. 329-349. 30 Vgl. Shmarya Levin, Jugend in Aufruhr, Berlin 1935, S. 252. 31 Vgl. Frankel, 1983, S. 14.
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jüdischen Projekte in Deutschland zu suchen bzw. von den deutschen Juden Unterstützung zu erwarten. Die Geschichte des Kolel Hod zeigt,32 daß zumindest in diesem Fall die Hoffnungen nicht unberechtigt waren. Ob sich das deutsche Judentum in den 1880er Jahren von einer Hilfe fur die Kolonien in Palästina und für die Chibbat Zion-Vereine ebenso leicht überzeugen ließ, soll im folgenden beantwortet werden. Leon Pinsker hatte sich bereits im September 1882 mit seiner „AutoEmancipation" direkt an seine „westeuropäischen Glaubensgenossen", das hieß für Pinsker, an die deutschen Glaubensgenossen, gewandt. Für ihn waren die osteuropäischen Juden nicht in der Lage, selbst die Initiative zu ergreifen, und damit war weder materielle noch ideelle Hilfe von dieser Seite zu erwarten. Pinsker suchte daher Verbündete in Deutschland, dem Land, dem er einzig die erfolgversprechende Förderung der Chowewe Zion-Ideen zutraute.33 Einen solchen ersten Verbündeten schien er in Isaak Rülf bereits im September 1882 gefunden zu haben.34 Obwohl sich Pinsker zunächst als einzigen Vorkämpfer für die Chibbat Zion empfand35 und Erfolge noch nicht zu erkennen waren, blieb er bei seiner Auflassung, daß bei der Verbreitung der Ideen der Chowewe Zion besonderer Wert auf Deutschland gelegt werden solle.36 Pinsker war aber nicht der einzige, der sich von Deutschland Hilfe versprach, bzw. sich mit Aufhafen an die deutschen Juden wandte. In einem am 21.1.1883 in den „Spendenverzeichnissen" abgedruckten Schreiben des Galatzer Central-Comites wurde explizit auf die finanziellen Möglichkeiten in Deutschland hingewiesen und Hilfe von dieser Seite für die Kolonien gefordert.37 Zwischen den Zeilen dieses Briefes steht die Verwunderung über das bisherige Verhalten der deutschen Juden, denn es hatte von ihnen bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Unterstützung gegeben. Adolf Salvendi, der Herausgeber der „Spendenverzeichnisse", versuchte daher in einer Fußnote zu diesem Brief, die Fragen der Galatzer zu beantworten. Seiner Ansicht nach fehlte es zwar nicht an der positiven Einstellung zu einer
32 Vgl. Kap. I, Abschnitt „Die jüdische Bevölkerung in Palästina". 33 Vgl. Pinsker an Rülf, 13./25. 10.1882, ZZA, Al/VI/1/24. 34 Vgl. Briefwechsel zwischen Pinsker und Rülf vom 25.9.1882 bis zum 7./19.1.1885, ZZA, Al/VI/1/24. Diese Briefe sind beredtes Zeugnis fur Pinskers Bemühen um Deutschland, aber auch für die Sorge und Selbstzweifel, die ihm seine Arbeit für die Chibbat Zion bereitete. 35 Vgl. Pinsker an Rülf, 13./25.10.1882, ZZA, Al/VI/1/24. 36 Vgl. Pinsker an Rüli 25.9.1883, ZZA, Al/VI/1/24. 37 Vgl. Schreiben des Central-Comites in Galatz, in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 56, 21.1.1883.
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Kolonisation Palästinas, doch hielten die einflußreichen Juden Deutschlands die Angelegenheit einfach noch nicht für „spruchreif*.38 Es deutete sich hier ein Problem an, mit dem die Chowewe Zion noch häufig zu kämpfen hatten. Für die deutschen Juden mußte eine Sache, in der sie sich engagieren sollten, zuvorderst gut durchdacht und eigentlich mit Erfolgsgarantie versehen sein,39 was bei einer Kolonisation selbstredend nicht möglich war. Dies war die pragmatische Seite des Arguments, doch hinter dem Warten auf etwas „Spruchreifes" verbarg sich die Angst vor einer Unternehmung, die eine vermeintlich erreichte Assimilation wieder gefährden könnte. Fürchtete man doch, bei einem zu starken Engagement für die Ideen der Chowewe Zion, die so mühsam erkämpfte Achtung als deutsche Patrioten wieder zu verlieren. Dieser Standpunkt war für die rumänischen Chowewe Zion kein Grund, auf weitere Bittgesuche an die deutschen Juden zu verzichten. Im Februar 1883 bat das Moinester Local-Comite direkt um Hilfe für ihre Kolonie Rosch Pina,40 allerdings ohne Erfolg, wie die Übernahme der Kolonie durch Rothschild im November des Jahres bewies. Im April versuchten die Galatzer an das Ehrgefühl und den jüdischen wie deutschen Patriotismus der Juden in Deutschland zu appellieren: „Wie nun in den letzten zwei Jahrzehnten die Deutschen der Welt bewiesen, dass sie auch Geschichte m a c h e n (gesperrt i. O.) können, so hoffen wir, dass unsere deutschen Glaubensbrüder das Gleiche in Betreff der Colonisation des heiligen Landes beweisen werden."41 In diesem Aufruf schwang schon eine gewisse Bitterkeit mit, die die rumänischen Juden angesichts der Tatenlosigkeit ihrer deutschen Glaubensbrüder empfanden. Aber nicht nur um finanzielle Hilfe wurde gebeten, auch auf organisatorischer Ebene sollten die deutschen Juden bereits frühzeitig beteiligt werden. So schrieb Karpel Lippe an Samuel Pineles, vor dem Hintergrund eines allgemeinen Mißtrauens gegenüber der AIU, über die Ergebnisse seiner Beratungen mit den Spitzen der Kattowitzer Chowewe Zion, an er38 „Spendenverzeichnisse", Nr. 56. 21.1.1883. 39 Diese Einstellung wurde 1883 von Heinrich Graetz bestätigt, der an die AIU schrieb, die Kolonisation Palästinas dürfe nur unterstützt werden, wenn sie „auf sicherer Basis beruht". Graetz an AIU, 15.3.1883, abgedruckt in: Michael, 1977, S. 381f. Graetz verkannte, daß die Schaffung einer solchen Basis eine Aufgabe der deutschen Juden hätte sein können. 40 Vgl. Schreiben des Local-Comites zu Moinesti an Salvendi, abgedruckt in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 57, 7.3.1883. 41 Schreiben des Central-Comites in Galatz, 19.4.1883, abgedruckt in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 62, 16.5.1883.
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ster Stelle stehe dabei die dringend notwendige Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Rußland und Polen zum Wohle der Kolonisation und zum Zwecke der Neugründungen von Kolonien in Palästina.42 Doch auch diese Beschlüsse führten nicht zum Aufbau einer großen Bewegung in Deutschland im Sinne der Chowewe Zion. Gelegenheit hierfür erblickten die Vertreter der Chibbat Zion-Vereine, und vor allem Leon Pinsker, dann in der Kattowitzer Konferenz 188443. Schon die Wahl des an der deutsch-russischen Grenze gelegenen Tagungsortes war ein deutliches Signal fur die Intention der Konferenz.44 Und die Versuche, die deutschen Juden in die Arbeit des zu gründenden Montefiore-Verbandes einzubinden, zogen sich wie ein roter Faden durch die Versammlungen im November 1884: Als ständiger Sitz des Zentralkomitees wurde Berlin vorgeschlagen,45 Danksagungen und die Aufforderung zur Zusammenarbeit gingen hauptsächlich an deutsche Juden, die als mögliche Mitarbeiter in Frage kamen.46 Bei der Wahl zum Zentralkomitee wurde mit dem deutschen Juden Sigismund Simmel47 sogar jemand gewählt, von dem man sich zwar offensichtlich sehr viel versprach, der aber an der Konferenz gar nicht teilnahm. Schließlich wurden noch die ebenfalls nicht anwesenden Esriel Hildesheimer und Adolf Salvendi zu Ehrenmitgliedern des Zentralkomitees ernannt.48 Die Konferenz hätte der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen osteuropäischen und deutschen Chowewe Zion sein können, wenn es denn von Seiten der deutschen Juden gewünscht worden wäre.
42 Vgl. Lippe an Pineles, 18./30.9.1883, ZZA, A 1 4 4 / 4 / 6 . 43 Pinsker hatte in dieser Zeit sogar auf die Hilfe der Preußischen Staatsregierung bei der Anerkennung eines zu gründenden Chibbat Zion-Vereins gehofft, wie aus einem Brief Sigismund Simmeis an Pinsker hervorgeht. Vgl. Simmel an Pinsker, 21.11.1884, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1207, S. 623ff. 44 Für die genaue Planung, die Beteiligung des Bnei Brith-Ordens und den Verlauf der Konferenz vgl. Kap. V, Abschnitt „Die Kattowitzer Konferenz 1884 und ihre Folgen". 45 Vgl. Gelber, 1919, S. 18. Im Protokoll wurde Berlin nicht als einzige Möglichkeit für den Sitz des Zentralkomitees genannt. Wörtlich hieß es: „(...) Sitz in Berlin oder in einem anderen Ort, je nach der sich ergebenden Notwendigkeit." Gelber, 1919, S. 18. Die weiteren Bemühungen nach der Konferenz um Berlin als Sitz des Zentralkomitees zeigen aber, daß Berlin in den Augen der Chowewe Zion erste Wahl war. 46 Dies waren Dr. Bernstein, Dr. Rülf Adolf Salvendi, Esriel Hildesheimer und Sigismund Simmel. Vgl. Gelber, 1919, S. 19, 20 u. 27. 47 Uber Sigismund Simmel vgl. Kap. X, Abschnitt „Sigismund Simmel - Der Politiker". 48 Vgl. Gelber, 1919, S. 28, 32 u. 38.
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Doch bereits die Vorbereitung der Konferenz offenbarte einen elementaren Unterschied in der Beurteilung der Chowewe Zion-Bewegung durch die Beteiligten, der von Georg Herlitz zum 50. Jahrestag der Konferenz wie folgt beurteilt wurde: „(...) dass die Mehrzahl der deutschen Juden, die die Kattowitzer Konferenz vorbereiteten, in der Chowewe-Zion-Bewegung nur eine philanthropische oder religiöse Aufgabe sahen. (...) dass die Teilnehmer der Tagung, die aus Russland und dem russischen Polen kamen, bereits die Konzeption einer politischen Bewegung hatten."49 Wenn es sich bei der Chowewe Zion-Bewegung sogar schon in den Augen der deutschen Organisatoren nur um eine philanthropische Bewegung handelte, wie sollte dann den deutschen Juden vermittelt werden, daß es sich bei dieser Unternehmung in Verbindung mit den Kolonien um eine für das jüdische Selbstbewußtsein elementar wichtige Angelegenheit handelte und nicht um ein, überspitzt gesagt, Zuschußprojekt zur Ansiedlung einiger Idealisten, die ihre diffusen Träume von Erez Israel auf dem Rücken der deutschen Juden realisieren wollten? Während einer der Organisatoren, Moritz Moses (1848-1903),50 nach der Konferenz noch voller Hoffnung über den Arbeitsbeginn eines Zentralkomitees in Berlin war,51 sah Pinsker die Resultate der Konferenz in Deutschland eher pessimistisch. Sein Brief an Isaak Rülf bestätigte dann die oben genannte These Herlitz', denn er führte als Grund für die Zurückhaltung der Berliner Juden an, daß diese das „nationale Gefühl" für Phantasie hielten.52 Pinsker hatte auch bei M. Gottschalk Lewy, der Heinricht Graetz auf seiner Palästinareise 1872 begleitet hatte, wegen einer Mitarbeit im Montefiore-Verband angefragt, was dieser ablehnte. Berlin als Zentrale zur Hilfe für die Kolonien nannte er dabei schlicht „nicht geeigx « 53
net . Vielleicht wäre Isaak Rülf der richtige Mann für die Verbreitung der Ideen der Chowewe Zion in Deutschland gewesen. Zumindest hatte er 49 Herlitz, (1954, masch. Exemplar), ZZA, A198/20/4, S. 8. 50 Der Vorname des Kaufiiianns aus Kattowitz wird verschiedentlich mit „Moses", „Mosis", „Mosche" oder „Moritz" angegeben. Moses gehörte zu den Gründern der Chowewe Zion-Bewegung und wurde später ein Bewunderer Theodor Herzls. In den 1880er Jahren war er eine wichtige Kontaktperson für Pinsker zum deutschen Judentum. Sein Engagement fur Berlin als Sitz eines Zentralkomitees wies ihn als Anhänger der Pinsker'schen Vorstellung von der Allmacht des deutschen Judentums aus. 51 Vgl. Moses an Pinsker, 23.11.1884, ZZA, A 9 / 1 0 / 2 . 52 Vgl. Pinsker an Rülf; 16./28.11.1884, ZZA, A l / V I / 1 / 2 4 . 53 Vgl. Gottschalk Lewy an Pinsker, 7.12.1884, in: Druyanow ffl, Dok. 1215, S. 633ff.
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1883 in seinem Buch „Aruchas Bas-Ammi" eine Analyse der Situation der Juden in der Weltgemeinschaft vorgelegt, die in einem engagierten Appell für die Kolonisation des Heiligen Landes gipfelte.54 Wie ernst es Rülf mit der Förderung der Kolonisation aber anscheinend wirklich war, zeigte er in einem Brief an Pinsker im Dezember 1884, in dem er zwar die Aufrüttelung der gleichgültigen Juden in Deutschland als sein Hauptziel angab, gleichzeitig aber auch schrieb: „(...) und ich erkläre dir nochmals, daß es mir um die Kolonisation Palästinas niemals zu thun gewesen (,..)".55 Aber nur nationale Gefühle wachrütteln, war in der Situation, in der sich die Kolonien in Palästina befanden, nicht genug. Doch was war von den so hochgeschätzten Berliner Juden zu erwarten? Ende 1884 offensichtlich nur sehr wenig, denn Pinsker war selbst nach Berlin gekommen, um Mitstreiter zu finden,56 doch weder seitens des Vorstands der Gemeinde noch der Mitglieder gab es Anzeichen einer Bereitschaft zur Mitarbeit.57 Pinskers Sorgen nahmen 1885 nicht ab. Die Bildung eines Zentralkomitees in Deutschland rückte in immer weitere Ferne.58 Auch Heinrich Graetz war überzeugt, ein solches Zentralkomitee lasse sich in Berlin nicht gründen, er ging sogar noch einen Schritt weiter: „Das Comite soll überhaupt die deutschen Juden gar nicht in den Calcul ziehen, weil da wenig Interesse für diese Sache vorhanden ist, (...)".5' Der kurz nach der Konferenz noch so zuversichtliche M. Moses reiste Anfang januar 1885 ebenfalls nach Berlin und gewann zunächst einen positiven Eindruck von den Möglichkeiten der dortigen Gemeinde.60 Doch wurde auch er schon sehr bald von Zweifeln erfaßt,61 denn die Berliner blieben trotz allem untätig, und die
54 Vgl. Isaak Rülf Aruchas Bas-Ammi. Ein ernstes Wort an die Glaubens- und Nichtglaubensgenossen, Frankfurt/Main 1883. Zur Forderung nach der Kolonisation vgl. besonders Kap. IV „Cherus". Im Vorwort schreibt Rülf, daß er von Pinskers „AutoEmancipation" zu seinem Buch angeregt worden sei. Vgl. Kap. III, Isaak Rülf. 55 Rülf an Pinsker, 16.12.1884, abgedruckt in: Reinharz, 1981, S. 12. 56 Vgl. Moses an Pinsker, 13.11.1884, in: Druyanow I, S. 323f 57 Vgl. Simmel an Pinsker, 24.12.1884, in: Druyanow III, Dok. 1222, S. 65Iff 58 Vgl. Pinsker an Rülf, 7./19.1.1885, ZZA, Al/VI/1/24. 59 Graetz an Pinsker, 7.2.1885, abgedruckt in: Michael, 1977, S. 404. 60 Vgl. Moses an Pinsker, 22.1.1885, in: Druyanow ΠΙ, Dok. 1236, S. 686ffi 61 Vgl. Moses an Saul Phinehas Rabbinowitz, 10.2.1885, ZZA, A9/43. Rabbinowitz (1845-1910), besser bekannt unter seinem hebr. Akronym „Schefer", war ein an Haskala und den Chowewe Zion sehr interessierter Schriftsteller und Historiker. Er berichtete unter anderem über die 1881er russischen Pogrome nach Europa und übersetzte Graetz' „Geschichte der Juden" in die hebräische Sprache. Er gehörte in den 1890er Jahren zu den Anhängern von Achad Haam und nahm am Ersten Zionistenkongreß in Basel 1897 teil. Durch seine schriftstellerische Arbeit übte er einen
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Skepsis auf Seiten der osteuropäischen Chowewe Zion wurde größer. Anfang August 1885 schließlich veröffentlichte Salvendi in seinen Spendenverzeichnissen einen Artikel aus dem Jewish Chronicle", der den Zorn der osteuropäischen Chowewe Zion deutlich zum Ausdruck brachte. Es wurde sogar schon der Schluß gezogen, für den Erfolg des Chibbat ZionVerbandes seien die Pläne für ein Hauptquartier in Deutschland gänzlich aufzugeben.62 Mit dem Hintergedanken einer Provokation seiner Landsleute durch den Artikel erreichte Salvendi zumindest bei Moses eine neue Initiative, denn dieser suchte nun eine Lösung in der Verlegung der geplanten Zentrale von Berlin nach Breslau. Dort hatten sich Interessenten gefunden, die sich dem Montefiore-Verband anschließen wollten. Sie stellten eine Legalisierung des Verbandes in Deutschland in Aussicht, dazu die Gründung einer „offenen Handelsgesellschaft", die dann legal Land in Palästina erwerben könne, denn es wäre eine unter dem Schutz des Deutschen Reiches stehende Gesellschaft, der der Bodenerwerb in Palästina nicht verweigert werden könne. Einzige Bedingung sei, daß die zukünftigen Bewohner der zu gründenden Kolonien im streng religiös-orthodoxen Sinne zu leben hätten. Die Verlegung, meinte Moses, würde daher dem Montefiore-Verband alle Vorteile sichern, die ein deutsches Engagement in dieser Sache auch im Orient mit sich brächte.63 Dies klang vielverprechend, zumal die Breslauer im Oktober einen Brief an Israel Isidor Jasinowski, ein Mitglied des Zentralkomitees der Chibbat Zion,64 schrieben, in dem sie sich zufrieden darüber zeigten, daß ihren Vorstellungen über die religiöse Lebensweise der
großen Einfluß auf das osteuropäische Judentum aus. Vgl. Artikel „Rabbinowitz, Saul Phinehas", in: EJ, 13:1467£ 62 In dem Artikel hieß es u.a., daß von den 60.000 Juden in Berlin sich nur drei gefunden hätten, die Interesse für die Sache gezeigt hätten. Vgl. „Spendenverzeichnis", Nr. 119, 6.8.1885, S. 159. Diese Meinung wurde durchaus nicht von allen Chowewe Zion geteilt. So schrieb z.B. Armand Kaminka (1866-1950) - ein in Rußland geborener, aber in Deutschland den Rabbinerberuf erlernender Zionsfreund - im September 1885 aus St. Petersburg an Pinsker, die nationale Begeisterung der russischen Juden hätte er sich von Deutschland aus größer vorgestellt; alle seine Hoffnungen ruhten nun auf Deutschland und Österreich. Vgl. Kaminka an Pinsker, 1./13.9.1885, ZZA, A 9 / 1 0 / 2 . 63 Vgl. Moses an Jassinowsky, 25.8.1885, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1272, S. 78Iff Hinzu kam, dass es für Moses leichter war, von Kattowitz nach Breslau zu reisen als nach Berlin. 64 Zur Biographie Jasinowskis (1842-1917) vgl. Artikel Jasinowski, Israel Isidore", in: EJ 9:1290.
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Kolonisten auf Zustimmung gestoßen seien, und in dem sie weiter detailliert ausführten, wie sie sich den Sitz und die Tätigkeit der Zentralleitung in Breslau vorstellten.65 Doch der Plan scheiterte, trotz aller Bemühungen. Die Gründe können anhand der fehlenden Quellen nicht mehr nachvollzogen werden. In Deutschland schien keine Basis für einen übergreifenden Chibbat Zion-Verband zu bestehen. Dies wird auch durch einen Blick in das Verzeichnis der Lokalvereine des Montefioreverbandes vom März 1885 bestätigt. Von den 55 Vereinen befanden sich nur zwei in Deutschland, einer in Kattowitz und einer in Heidelberg,66 zu wenig, um eine zentrale Position aufzubauen. Moses flüchtete sich schließlich in mehr als zweifelhafte Erklärungsversuche, warum aus Deutschland kein Geld kommen könne: „Ganz natürlich, es ist hier erstens viel zu wenig Propaganda, zweitens Mangel an Vertrauen zu der Verwaltungs-Fähigkeit und Tüchtigkeit uns. russ. Glaubensbrüder."67 Doch das Argument einer zu geringen Propaganda greift nicht, denn im Laufe der Darstellung über das deutsche Judentum und die Einstellung zu den Ideen der Chowewe Zion und Palästina ist deutlich geworden, daß jedwede Unterstützung jüdisch-nationaler Vorstellungen abgelehnt wurde, unabhängig von einer mehr oder minder umfangreichen Propaganda. Die Akkulturationsbereitschaft, fast ist man geneigt, von einer Akkulturationssucht zu sprechen, ließ solche Strömungen wohl erst gar nicht aufkommen. Eine herablassende Haltung gegenüber den osteuropäischen Juden, um Moses' zweites Argument aufzugreifen, war im deutschen Judentum jedoch eindeutig zu konstatieren. Gezeigt hatte sich dies bereits bei den Reaktionen auf die Flüchtlingswellen nach den 1881er Pogromen, wurde aber auch für die folgenden Jahre von osteuropäischen Juden immer wie-
65 Vgl. Jany anjasinowski, 16.10.1885, in: Dryanow III, Dok. 1276, S. 789ff Dem Brief ist zu entnehmen, daß es eine Anfrage von Seiten des Chibbat Zion-Verbandes gegeben hatte, die allerdings nicht mehr vorliegt. 66 Vgl. „Verzeichniss der Localvereine des „Montefioreverbandes" mit statistischen Angaben", ZZA, A9/145/1. Die Jahreszahl ergibt sich aus den beigefügten Einnahmen- und Ausgabenverzeichnissen fur „l./13.März 645". Die Angabe „645" ist eine in der hebräischen Sprache übliche Abbreviation. Sie meint das Jahr 5645, dies entspricht zusammen mit der Angabe „März" dem Jahr 1885 der christlichen Zeitrechnung. 67 Vgl. Moses an Pinsker, 7.11.1885, in: Druyanow ΠΙ, Dok. 1281 „alef, S. 807f.
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der geschildert.68 Hier hätte es besserer Aufklärung bedurft, hier hätte eine Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Chowewe Zion Vorurteile abbauen können. Dies fand nicht statt und führte folgerichtig ab 1896 in der Phase des Herzl'schen Zionismus zu Irritationen, Fehleinschätzungen und heftigen Vorwürfen von beiden Seiten Moses suchte weiter nach Entschuldigungen für das von ihm allerdings selbst als „unwürdig"69 bezeichnete Verhalten der deutschen Juden. Und er fand diese Entschuldigung nun in den seiner Meinung nach eingeschränkten Finanzmitteln der deutschen Juden: „Denn dass ist uns klar, wir deutsche Juden allein können nichts leisten, wo grosse (Unterstreichung i. O.) Geldmittel erfordert werden; in solcher Sache sind wir stets auf uns. russ. Glaubensbrüder angewiesen."70 Dieses Zitat darf aber nicht ohne den Sinnund Sachzusammenhang gesehen werden. Moses hatte in einem Memorandum eine Kommanditgesellschaft vorgeschlagen, die sich der finanziellen Schwierigkeiten der Kolonien annehmen sollte,71 ein der Grundidee nach erfolgversprechender Ansatz, der aber trotzdem nicht ausgeführt wurde. Auch wenn das Scheitern dieser Gesellschaft in Betracht gezogen wird, war das Fazit über die geringen finanziellen Mittel der deutschen Juden doch sehr gewagt. Allein eine Betrachtung der philanthropischen Hilfen der deutschen Juden zu verschiedenen wohltätigen Zwecken entkräftet dieses Argument entschieden. Versuchte Moses seine Landsleute in Schutz zu nehmen? Vielleicht aber gestand er sich selbst schon ein Jahr nach der Kattowitzer Konferenz das Scheitern der großen Pläne mit den deutschen Juden ein. Trotz aller Rückschläge verloren die Führer der Chowewe Zion in Osteuropa nicht ihren idealistischen Blick auf das Judentum in Deutschland und seine Möglichkeiten. So reiste Anfang 1887 Samuel Mohilewer nach Deutschland, um hier Geld für die Kolonien zu sammeln.72 Ausgestattet nur mit dem festen Glauben, neben Edmond de Rothschild, noch andere Gönner in Deutschland zu finden, wurde Mohilewer von diesem schroff über die Spendenfreudigkeit des Hauses Rothschild für die Kolonien 68 So z.B. von Levin, der meinte, daß die deutschen Juden auf die Ostjuden nur von oben herab sehen würden. Vgl. Levin, 1935, S. 252. Chaim Weizmann formulierte es in seinen Memoiren noch krasser. Die deutschen Juden würden auf die russischjüdischen Studenten herabblicken „(...) as wild men from the uncivilized East." Weizmann, 1949, S. 58. 69 Moses an Pinsker, 25.11.1885, ZZA, A9/10/2. 70 Ebd. 71 Vgl. Memorandum Μ. Moses, 7.11.1885, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1281 „bet", S. 808ff 72 Vgl. Erlanger an Pinsker, 3.2.1887, in: Druyanow II, Dok. 539, S. 89£
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belehrt: „Ich thue das Meinige, und die Anderen haben keinen Sinn dafür."73 Mohilewer suchte nichtsdestoweniger nach weiteren Gönnern für die Kolonien, aber ein Erfolg im Sinne eines Durchbruchs im deutschen Judentum gelang auch ihm nicht. Die Spenden und auch das Engagement der deutschen Juden blieben weit hinter den Erwartungen zurück, sie waren „bei der Colonisation des heiligen Landes (...) teilnahmslose Zuschauer".74 Bereits im Juli 1887 schrieb daher Josef Pinsker an seinen Bruder Leon Pinsker, nun müsse er doch endlich einsehen, daß alle Bemühungen um die deutschen Juden vergebens seien.75 Die Geschichte der Bemühungen osteuropäischer Chowewe Zion um die Gunst der deutschen Juden war eine Geschichte der Enttäuschungen, des Scheiterns und der ablehnenden Gleichgültigkeit gegenüber frühen zionistischen Ideen zur Hilfe fur die bedrängten Juden in Ost und West. Allerdings gab es neben der Masse der Indifferenten und Abweisenden, die das Bild prägten, auch andere Meinungen, und aus diesen entwickelten sich Aktivitäten deutscher Juden, die nicht warteten, bis alle Unsicherheiten ausgeräumt waren, sondern die anfingen, sich für die Kolonien einzusetzen und materielle Hilfe zu organisieren. Mit diesen Personen und der Organisation Esra werden sich die nächsten Kapitel beschäftigen.
73 Ebd. 74 „Serubabel", Nr. 10, 1887, S. 78. Das Zitat findet sich in Zusammenhang mit einem Sendschreiben bekannter Rabbiner, das dem deutschen Judentum als Mahnung dienen sollte, nicht länger untätig zu sein. 75 Vgl. Josef Pinsker an L. Pinsker, 3.7.(1887), in: Druyanow II, Dok. 613, S. 236£
X. Hilfe für die Kolonien ab 1882
Anfang 1882 war Jaffa überfüllt mit jüdischen Emigranten aus Osteuropa, und die Situation verschlimmerte sich durch einen nochmaligen Anstieg der Einwanderung ab März 1882. Landkäufer zogen durch Palästina, um entweder als Privatpersonen oder im Auftrag osteuropäischer Siedlungsgesellschaften Boden zu erwerben. Die Gruppe der Biluim verlegte ihr Zentralbüro von Charkov nach Odessa und plante von dort ihre Auswanderung nach Palästina. Im März 1882 erschien Netters polemischer Artikel gegen die Kolonisation Palästinas im Jewish Chronicle", der der Diskussion über Palästina eine neue Schärfe verlieh und damit einen objektiven Blick auf die tatsächliche Lage im Heiligen Land verstellte. Dies war die Situation, wie sie sich im Frühjahr und Frühsommer 1882 dem europäischen Beobachter darbot - für die in ihren Unternehmungen nach Sicherheit strebenden deutschen Juden, die auf keinen Fall ihre Akkulturationsbereitschaft und damit ihre Assilmilationsfahigkeit in Frage gestellt wissen wollten, untragbar. Resultat der polemischen Diskussionen und der unsicheren Lage in Palästina war eine merkliche Zurückhaltung der deutschen Juden bei der Unterstützung der Flüchdinge in Palästina und ihren Bemühungen, Kolonien zu gründen. Nur wenige deutsche Juden zeigten sich von den idealistischen Kolonisationsunternehmungen der Emigranten beeindruckt und bemühten sich, zu helfen. Mit diesen Bemühungen beschäftigt sich das folgende Kapitel. Am Anfang steht aber die Frage, nach welchen Kriterien eine solche Hilfe im historischen Kontext zu beurteilen ist und wie ein Engagement der deutschen Juden hätte aussehen können oder müssen, um die Ansprüche der Chowewe Zion in Osteuropa respektive Palästina zu erfüllen. Die zwei Schlagworte „Wirksamkeit" und „öffentliche Meinung" erscheinen am besten geeignet, diese Kriterien zu benennen. „Wirksamkeit" würde meinen, daß in den Kolonien deutsche Hilfe zur Verbesserung der ökonomischen Situation beitrüge, man also von Wirkung und Einfluß deutscher Juden sprechen könnte. In Deutschland wiederum müßte eine „öffentliche Meinung", eine Stimmung zugunsten der Chowewe Zion und der ländlichen Kolonien in Palästina spürbar sein. Beide Kriterien gehen Hand in Hand, eins ist nur schwer ohne das andere vorstellbar, und beide gilt es zu fördern, da sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig beeinflussen.
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1. E m i l L a c h m a n n - D e r G u t s b e s i t z e r W e n n man sich die Erwartungshaltung der russischen und rumänischen C h o w e w e Zion gerade an die Berliner Jüdische Gemeinde in Erinnerung ruft und auch die Arbeit des Rabbiners Esriel Hildesheimer in Berlin fiir Palästina mit einbezieht, überrascht es nur wenig, daß der erste Förderer des sich bildenden N e u e n Jischuws eben aus dieser Berliner Gemeinde kam. Emil Obadia Lachmann 1 war 1882 29 Jahre alt und schon ein vermögender Kaufmann. 2 Seinen religiösen Ansichten nach galt er als orthodox 3 und war Mitglied der Berliner Gemeinde Adass Jisroel. 4 Er nahm im April 1882 an der Berliner Konferenz über die Hilfsmöglichkeiten für die russischen Juden teil, die verschiedene Maßnahmen zur Koordinierung der europäischen Hilfskomitees beschloß und die Weiterfahrt der Flüchdinge nach Amerika organisierte. 5 Im Frühsommer 1882 besuchte Arieh Leib Frumkin, wie bereits geschildert, Berlin, u m hier Hilfe für die russischen Palästina-Flüchtlinge zu erwirken. Er traf mit Hildesheimer zusammen, und dieser machte ihn
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Lachmann wurde 1853 geboren und starb 1912. Er galt als sehr vermögend und strikter Anhänger einer orthodoxen Praxis des Judentums. Uber sein Privatleben ist nur sehr wenig bekannt. Dies fährte bei einigen Zeitgenossen zu Verwirrungen: Sie gaben seinen Wohnort einmal mit Berlin und einmal mit Hamburg an, wobei z.B. Willy Bambus 1895 noch von „Emil Lachmann aus Berlin" spricht, 1898 aber Lachmann einen „Philanthropen in Hamburg" nennt. Vgl. Willy Bambus, My Journey toPalestine, 20. Oct. 1895, in: Chovevei Zion Quarterly, No. 18. December 1896, S. 12 u. Bambus 1898, S. 86. Woher diese Unterschiede kommen, läßt sich anhand des Quellenmaterials nicht klären. Lachmanns vorliegende Privatbriefe aus den Jahren 1897 und 1898 sind in Berlin verfaßt, sie sind mit einer Adressenangabe versehen, die sich auch in der Mitgliederliste der Jüdischen Gemeinde findet. Allerdings existiert ein Brief Lachmanns aus dem Jahre 1884 an Joseph Navon, Jerusalem, den er in Hamburg auf Briefpapier eines Pariser Hotels geschrieben hat. Vgl. Lachmann an Navon, 15.8.1884, ZZA, A152/9/10. Möglicherweise hat Lachmann zwischenzeitlich in Hamburg gewohnt, vielleicht aber auch nur ein paar Tage in der Hansestadt zugebracht. Als erster Wohnsitz kann aber aufgrund der Quellenund Literaturhinweise Berlin angenommen werden.
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Vgl. Eliav, 1970, S. 115. Vgl. Breuer, 1986, S. 202. Anhand des vorliegenden Quellenmaterials läßt sich nicht ermitteln, wann Lachmann Mitglied dieser Gemeinde geworden ist. Sicher ist seine Mitgliedschaft im Jahr 1896. Vgl. Mitgliederverzeichnis der Gemeinde Adass Jisroel fur das Jahr 1896, abgedruckt in: Mario OfFenberg, Adass Jisroel. Die jüdische Gemeinde in Berlin (1869-1942). Vernichtet und Vergessen. Berlin 1986, S. 82. Vgl. Jewish Chronicle", 28.4.1882.
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höchstwahrscheinlich mit Emil Lachmann bekannt.6 Frumkin war auf der Suche nach Geldgebern, und der junge Kaufmann entsprach auch in seinen religiösen Ansichten den Vorstellungen Frumkins. Für Lachmann war die Unterstützung der Kolonisation in Palästina die Erfüllung einer Mizwa, eines religiösen Gebots, für das er umgehend 10.000 Mark als LandkaufBudget spendete.7 Wie bereits im vorigen Kapitel beschrieben, reiste Frumkin von Berlin nach Mainz, traf dort Markus Lehmann und initiierte mit diesem die bekannte Konferenz am 9.7.1882. Frumkin verließ nach der letztlich gescheiterten Konferenz Deutschland in Richtung Palästina, wo er Ende September 1882® ankam. Dort erwarb er ein Grundstück in Petach Tikwa in der Größe von ca. 80 ha.' Eingetragen wurde das Land auf den Namen der drei Geldgeber aus Deutschland.10 Ganz im Sinne ihrer auch religiösen Intentionen sollte dieses Grundstück nicht nur als Ackerland genutzt werden, sondern es sollte auch, wie von Frumkin vorgeschlagen, auf diesem Land eine Talmud-Tora-Schule für die Kolonisten errichtet werden. Hildesheimer und Lehmann zeichneten als Rabbiner für die Unterhaltung der Talmud-Tora-Schule verantwortlich,11 Lachmann hingegen übernahm die Finanzierung der landwirtschaftlichen Siedlung,12 die er zum Andenken an seinen Vater „Nachlat Zwi" (Zum Gedenken an Zwi) nannte.13 Die Entwicklung der Talmud-Tora-Schule verlief ganz im Sinne Hildesheimers, der sich über die guten Resultate, die fortschritdichen Unterrichtsmethoden, den Einbau säkularer Fächer in den Lehrplan und die gute Arbeit des Direktors Frumkin stets positiv äußerte.14 Selbst der Rückzug Markus Lehmanns aus der praktischen Arbeit für Palästina15 war für Hildesheimer kein Grund, seine Tätigkeit zu überdenken, er blieb im Gegenteil Frumkin weiter sehr gewogen. 6 Die Quellen sagen nichts über das erste Treffen Frumkins mit Lachmann aus. Aber da Lachmann vielleicht schon zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Adass Jisroel gewesen ist, ist eine Vermitdung Hildesheimers sehr wahrscheinlich. 7 Vgl. Eliav, 1970, S. 102. Hildesheimer und Lehmann hatten noch zusätzlich 2.800 Mark gespendet. 8 Ebd. S. 102. 9 Vgl. Bambus, 1898, S. 86; Scheid, 1901, S. 413 u. Schub, 1895, S. 29. 10 Vgl. Pines an „Das Hochlöbliche Kaiserliche Deutsche Consulat zu Jerusalem" (o.D., aber nicht später als 1890), ZZA, A109/81. 11 Vgl. Eliav - Briefe, 1965, S. 266, Anm. 138. 12 Vgl. Eliav, 1970, S. 102. 13 Ebd., 1970, S. 115. 14 Ebd. S. 103. 15 Vgl. Hildesheimer an Lehmann, 10.6.1885, in: Eliav - Briefe, 1965, S. 205f.
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Probleme gab es jedoch zwischen Lachmann und Frumkin. Hierbei spielten unterschiedliche Vorstellungen über die Verwaltung des Gutes die Hauptrolle. Mordechai Eliav beschreibt Frumkin als einen Menschen, der unter tiefen Minderwertigkeitsgefühlen litt, die ihn nach Kompensation suchen ließen. Seine Intentionen als Pionier waren zweifellos von hohem Idealismus geprägt, sein Umgang mit den Kolonisten in Petach Tikwa dagegen erwies sich als problematisch, und ständige Streitereien waren die Folge. Hinzu kam eine Uberbelastung durch die gleichzeitige Tätigkeit als Leiter der Schule und Verwalter des Gutes.16 Während Frumkin für die erste Tätigkeit durch seine Ausbildung zum Rabbiner noch eine gewisse Vorkenntnis besaß, war er für die Arbeit als Administrator einer Landwirtschaft sehr viel weniger geeignet. Auseinandersetzungen über die Wirtschaftlichkeit des Gutes und über Frumkins Ausgabenpolitik wurden in den nächsten Jahren fast ein Dauerzustand. Emil Lachmann war ohne Zweifel erfreut über die gute Entwicklung der Schule. Die seiner Ansicht nach negative ökonomische Situation des Gutes veranlaßte ihn aber im Jahr 1886, das gesamte Land auf seinen Namen überschreiben zu lassen. Damit wurde er alleiniger Besitzer des Gutes und war auch de jure der einzige Ansprechpartner für Frumkin. Doch die Probleme wurden nicht geringer. Die Wirtschaftsführung gab weiter Anlaß zu heftigen Meinungsverschiedenheiten, und Frumkin sah sich 1888 gezwungen, erneut nach Deutschland zu reisen, um weitere Geldgeber zu finden und sich damit aus der Abhängigkeit von Lachmann zu befreien. Diese Mission endete erfolglos.17 Was aber erwartete Emil Lachmann von seinem Gut und von seinem Verwalter? Eine Antwort findet sich in zwei Briefen Frumkins an Lachmann Ende 1890, in denen er auf Vorwürfe sowie weitere Pläne Lachmans mit dem Gut einging.18 Lachmann war zu diesem Zeitpunkt höchst unzufrieden mit Frumkin und plante möglicherweise bereits dessen Entlassung, der dieser zuvorkommen wollte, indem er selbst um eine Entpflichtung von seinen Aufgaben bat, da er schwer erkrankt sei. Auch war ein Verkauf des Grundstücks schon ein Diskussionsthema, und es taucht das erste Mal
16 Vgl. Eliav, 1970, S. 102£ 17 Ebd. S. 103f 18 Die zwei Briefe finden sich in der Nationalbibliothek der Universität Jerusalem, Handschriftenabteilung, Signatur: V951/17. Die Datumsangabe auf den Briefen ist nur sehr schwer zu entziffern. Aus dem lesbaren Teil und den Angaben in den Briefen lassen sie sich auf Ende 1890 datieren. Im Folgenden wird der erste Brief mit „I", der zweite mit „II" gekennzeichnet. Die Briefe sind in jiddischer Sprache verfaßt.
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der Name Meir Schlomo Liebrecht auf," der im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Lachmann und seinem Verwalter noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Der Gedanke an einen Verkauf beschäftigte Lachmann schon länger, wie der Brief bestätigt, nur hatte er Frumkin davon noch nicht in Kenntnis gesetzt. Frumkin riet Lachmann nun von einem Verkauf ab, denn er werde ohne Zweifel einen vertrauenswürdigen Verwalter finden, zudem sei das Gut wirtschaftlich in guter Verfassung.20 Im zweiten vorliegenden Brief sprach Frumkin noch einmal sein mögliches Ausscheiden an, das von ihm nun nicht mehr bedingungslos akzeptiert wurde, wie noch im ersten Brief. Er berief sich auf die Arbeit, die er auf dem Gut geleistet habe: „Meine Hände die alles gebaut und gepflanzt haben." Und für eben diese Arbeit wolle er nun auch gut entlohnt werden, denn „(...) die Sache soll ein Ende nehmen."21 Der Tenor der Briefe läßt nun einige Rückschlüsse auf Lachmanns Einstellung zu. Ihm war es anscheinend weniger um die Verwirklichung orthodoxer Ideale zu tun als vielmehr um die Realisierung eines ökonomisch erfolgreichen Landwirtschaftsprojekts. Aktivitäten außerhalb der Diskussionen über Wirtschaftlichkeit und Frumkins Wirtschaftsführung werden von Lachmann nicht berichtet. Auch waren Lachmann und seine Gutswirtschaft weder Thema bei der Kattowitzer Konferenz noch findet sich irgendein Hinweis auf Versuche, Lachmann zu weiterer Unterstützung der Kolonien zu bewegen. Entgegen dem pessimistischen und scheinbar endgültigen Charakter der 1890er Briefe ließ Lachmann Frumkin noch drei weitere Jahre als Verwalter auf seinem Gut arbeiten.22 Dann allerdings wurden die Differenzen unüberbrückbar, und auch Hildesheimer vermochte nicht mehr zu vermitteln. Anlaß der Entlassung war ein Unfall während der Bohrarbeiten für einen Brunnen auf dem Grundstück, bei dem zwei arabische Arbeiter umgekommmen waren.23 Lachmann suchte nun einen neuen Verwalter und fand ihn in Meir Schlomo Liebrecht (1861-1915), eine Berufung, die sich mit einem Blick auf Liebrechts Biographie leicht erklärt. Liebrecht wurde in Jerusalem als Sohn des Rabbiners Schlomo Liebrecht (1824-
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Vgl. Frumkin an Lachmann, V951/171. Ebd. Frumkin an Lachmann, V951/17 II. Ubersetzung aus dem Jiddischen. In einer von dem Kolonisten Daniel Lifschitz 1893 angefertigten Statistik über Petach Tikwa wird Frumkin noch als Verwalter des Lachmann-Gutes gefuhrt. 23 Vgl. Eliav, 1970, S. 104.
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1898)24 geboren, einem der ersten Mitglieder des Kolel Hod. Von seinem Vater lernte Meir Schlomo die deutsche Sprache und ging 1885 für zwei Jahre nach Berlin, um dort ein Geschäft für Weine aus dem Heiligen Land zu führen.25 Es ist anzunehmen, daß sich der so sehr an Palästina interessierte Emil Lachmann und der aus Jerusalem stammende Kaufmann, der zudem noch die deutsche Sprache beherrschte, in Berlin kennenlernten und sich ein schließlich zur Einstellung Liebrechts führender Kontakt entwickelte. Aufgrund der Quellenlage ist es nicht möglich, sich ein genaues Bild von dem Lachmann'schen Gut unter der Leitung Frumkins zu machen. Aus der Zeit bis 1893 liegen nur sehr spärliche Informationen vor, doch kann angenommen werden, daß die wirtschaftliche Entwicklung hinter den Erwartungen zurückblieb. Es ist aber gleichzeitig zu bedenken, daß es sich bei Nachlat Zwi, wie bei allen Kolonien in Palästina, um eine Neugründung handelte, geleitet von einem Verwalter, dem jede landwirtschaftliche Kenntnis fehlte. So unterlag auch Nachlat Zwi den gleichen schwierigen Bedingungen wie die anderen Kolonien, und auch ihnen konnte nur durch großzügige Spenden geholfen werden. Die Entwicklung des Gutes unter Liebrechts Leitung wird von den Zeitzeugen dagegen einhellig als positiv beurteilt, häufig auch im Vergleich zum Zustand der anderen Teile der Kolonie Petach Tikwa. So schrieb Willy Bambus 1895 nach seinem Besuch in Palästina, das Gut: „(...) makes a much better impression than that of the administration."26 Heinrich Loewe empfing von Petach Tikwa, ebenfalls 1895, keinen günstigen Eindruck, nur das Lachmann'sche Gut rage etwas heraus.27 Wie sah das Gut aus? Was wurde angebaut? Ein Versuch, das Gut und die landwirtschaftliche Tätigkeit zu beschreiben, muß sich zwangsläufig auf Quellen aus der Liebrecht'schen Verwaltungszeit stützen. Zu dieser Zeit wurde auf dem Gut Getreide- und Weinbau betrieben.28 Letzterer führte sogar zum Bau eines eigenen Weinkellers.29 Dazu gab es eine Plantage, auf der hauptsächlich Orangen und Ethrogim angebaut wurden.30 Für 24 Die Lebensdaten sind umgerechnet, sie liegen in den Quellen in jüdischer Zeitrechnung und ohne Monatsangabe vor: 5584-5658. Vgl. Eliav, 1970, S. 255. 25 Vgl. Tidar, Vol. 13, S. 1102. 26 Bambus, 1895 - Chovevei Zion, S. 13. ^Administration" meint den Teil der Kolonie, der unter Rothschild-Verwaltung steht. 27 Loewe, Sichronoth, Erste Palästina-Reise, S. 39. ZZA, A146/6/6. 28 Vgl. Bambus, 1898, S. 88 u. Schub, 1895, S. 29. 29 Vgl. Luncz, 1902, S. 18. 30 Vgl. Bambus, 1898, S. 88 u. Schub, 1895, S. 29.
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Moses David Schub war es besonders bemerkenswert, daß auf dem Gut nur jüdische Arbeiter beschäftigt wurden,31 eine Maßnahme, die sehr im Sinne der Chowewe Zion war. Für seine Verwalter und die Arbeiter hatte Lachmann zudem auf dem Gut ein Administrationsgebäude errichten las32
sen. Emil Lachmann schätzte die ökonomische Lage des Gutes im Vergleich zu den zitierten Besuchern Mitte der 1890er Jahre sehr viel kritischer ein. So schrieb er im August 1897 an den damaligen Direktor von Mikweh Israel, Josef Niego, und bat ihn um ein Gutachten über sein Grundstück, welches ihm „(...) schon sehr große Kosten verursacht." Daher wolle er wissen, „(...) ob es überhaupt sich noch lohnen wird, weitere Kosten darauf zu verwenden."33 Bereits im November 1897 schickte Niego den gewünschten Bericht an Lachmann,34 der aber nicht überliefert ist. Sicher ist aber, daß Lachmann das Gut weder 1898 noch zu einem späteren Zeitpunkt verkauft hat. Aus einem Schreiben von Arthur Ruppin an den „Kaiserlichen Deutschen Vize-Konsul in Jaffa" 1913 geht hervor, daß Lachmann bis zu seinem Tod 1912 als Besitzer des Grundstücks galt und dieses dann erst von seinen Erben verkauft wurde.35 Bedenkt man Lachmanns Reaktionen auf die Uneffektivität des Gutes in der Anfangszeit und die Arbeit seines ersten Verwalters, kann angenommen werden, daß der Bericht zumindest einige ökonomische Perspektiven eröffnete, die ihn von einem Verkauf abbrachten. Eine endgültige Beurteilung der Bedeutung Emil Lachmanns für die Kolonisationsbewegung in Palästina und ihrer Unterstützung aus Deutschland fallt angesichts der wenigen Quellen sehr schwer. War er nur ein weiterer reicher Philanthrop, der sich ein Landgut hielt, diesmal in Palästina? Oder motivierte ihn sein Glaube an die Besiedlung Palästinas als Erfüllung einer Mizwa? Wenn dem so war, warum hatte er sich dann nicht stärker in Palästina engagiert? Warum trat er nicht in den für den Zionismus so wichtigen 1890er Jahren noch einmal in Erscheinung? Während bei-
31 Vgl. Schub, 1895, S. 29. 32 Vgl. Die Kolonien (dt./hebr.), o.O., o.J. ohne Seitenangabe, vgl. Kap. „PethachTikwah". 33 Lachmann an Niego, 6.8.1897, ZZA, J41/217. 34 Lachmann schreibt im Januar 1898 an Niego und bedankt sich für den ausfuhrlichen Bericht vom November 1897. Über den Inhalt des Berichts läßt Lachmann nichts verlauten. 35 Vgl. Ruppin an den „Kaiserlichen Deutschen Vize-Konsul in Jaffa", 3.4.1913, zitiert in: Eliav, 1973.
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spielsweise Esriel Hildesheimer auch in den 1890er Jahren eine bekannte Persönlichkeit bei den Chowewe Zion war und schließlich auch bei den Zionisten ein ähnlich hohes Ansehen genoß, blieb Emil Lachmann eine Person, die in der zionistischen Bewegung nie Beachtung fand. Seine finanziellen Möglichkeiten hätten sicherlich ausgereicht, auch anderen Kolonien zu helfen, seine geschäftlichen Kontakte hätten den Kolonisten möglicherweise den Weg zu weiteren Gönnern geöffnet. Nichts dergleichen geschah. Es ist schwer zu entscheiden, wer hier eine Chance vertan hat, die Chowewe Zion oder Lachmann selbst, der durch seinen Einfluß im Neuen Jischuw viel hätte erreichen können, wenn es in seinem Sinne gewesen wäre.
2. Leopold Hamburger - Der Kaufmann „Weshalb wird für die Lage der Kolonisten durch die leicht auszuführende Begünstigung des Absatzes jüdischer Etrogim nichts gethan?" Obwohl doch allgemein bekannt sei, daß „(...) nur die jüdischen Pflanzungen allein koscher sind."36 Diese Frage stellte ein Kolonist und Ethrogimpflanzer aus Rischon le-Zion am 5.8.1903 in gleichlautenden Briefen an Theodor Herzl und Max Nordau. Gab es keine ökonomische Hilfe für die Kolonien? War der Anbau und Vertrieb der Ethrogim nicht eine einfach auszuführende und ökonomisch erfolgversprechende Maßnahme für die jüdischen Kolonien in Palästina? Und wenn dies so erfolgversprechend war, warum wurde die Idee nicht bereits früher, vielleicht schon zu Beginn der 1880er Jahre realisiert, als die Kolonisten auf der Suche nach wirtschaftlich lohnenden Projekten waren, die sich auch mit ihrer Idee eines wiederbelebten Judentums in Einklang bringen ließen? Ein Blick in die Quellen führt zu der Erkenntnis, daß es ein solches Projekt bereits Anfang der 1880er Jahre gegeben hatte und die Idee des Ethrogimanbaus und Vertriebs nach Europa nicht ein Produkt des beginnenden 20. Jahrhunderts war oder gar durch den Herzl'schen Zionismus ausgelöst wurde. Das Projekt trägt vielmehr den Namen des Frankfurter Juden Leopold Hamburger, der in den ersten Jahren der Kolonisation versuchte, ökonomische Bedingungen in Palästina und die Vorstellungen der Kolonisten zusammenzubringen. Gelang dies nicht? Warum mußte 1903 ein Kolonist erneut auf die Notwendigkeit von Ethrogimpflanzungen hinweisen? Was hatte das Hamburger'sche Projekt erreicht? 36 (B. Feyny) an Herzl und Nordau, 5.8.1903, ZZA, A119/134b.
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Leopold Hamburger entstammte einer sephardischen Familie, die aus Portugal über Hamburg, daher der gezwungenermaßen angenommene Name, nach Südhessen gekommen war.37 Am 1.6.1836 wurde er in Hanau geboren, in ein Elternhaus, das den Informationen seines Enkels zufolge „nicht sehr orthodox"38 war. 1850 verließ Hamburger seine Geburtsstadt und begann eine fast zehnjährige Tätigkeit in einem Münchner Bankhaus. In der bayerischen Metropole wurde er auch in Bereiche eingeführt, die der „Israelit" die Jüdische Wissenschaft"39 nannte. Im Zusammenhang mit seinen späteren Aktivitäten für Palästina sind neben der Ausbildung im Bankgewerbe gerade die Kontakte mit den Vertretern der süddeutschen Orthodoxie in München fast noch wichtiger, weil prägender für seine spätere Haltung den Kolonien gegenüber. Zum Verständnis der Entwicklung Leopold Hamburgers muß man bedenken, daß Süddeutschland nicht nur Zentrum einer eher reformfeindlichen Orthodoxie war,40 sondern auch den größten Anteil an Spenden für die Chalukka stellte.41 Die Liebe zu Palästina war also schon ein Kulminationspunkt orthodoxen Lebens in Süddeutschland, wenn auch das Bild vom Land Palästina weniger realen als vielmehr mystisch verklärten Vorstellungen entsprach. Dem Einfluß seiner neuen Umgebung vermochte sich Leopold Hamburger nicht zu entziehen: Er blieb zeit seines Lebens in tiefer Liebe dem orthodoxen Judentum verbunden, „(...) dessen Gesetze er auch auf allen seinen weiten Reisen auf das genaueste beobachtete."42 Auf beruflichem
37 Interview mit Shimon Mansbach, einem Enkel Hamburgers, am 12.8.1992 in Rechowot/Israel. Im Folgenden mit „Information S. Mansbach" zitiert. 38 Information S. Mansbach. 39 Vgl. „Israelit", Nr. 14, 1902, S. 321, Artikel zum Tod Leopold Hamburgers. Ein gleichlautender Artikel findet sich auch in der Jüdischen Presse", Nr. 8,1902, S. 75f. 40 Vgl. Breuer, 1986, Erstes Kapitel. Jedoch waren es vor allem die Landgemeinden, die jeder Reform, sei sie modern oder neo-orthodox, abhold waren. Vgl. Ebd, S. 48. Heinrich Loewe hatte vom Wissensstand der süddeutschen Juden ganz allgemeineine schlechte Meinung und warf ihnen gleichzeitig leichte Beeinflußbarkeit vor: „Aber im allgemeinen waren die Juden in Deutschland besonders auch in Süddeutschland, auch wenn sie orthodox waren, meist recht unwissend. Sie waren daher leicht von der (...) Wochenschrift „Der Israelit" zu leiten. Sie nahmen das was der „Israelit" schrieb, als gute Ware an." Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 5, ZZA, A146/6/6. 41 Esriel Hildesheimer spricht 1884 von 9/10 der Chalukkagelder, die aus Süddeutschland kommen. Vgl. Hildesheimer an Pinsker, Dezember 1884, in: Eliav-Briefe, 1965, S. 201. 42 „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321.
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Gebiet errang Hamburger schnell große Sachkenntnis, spezialisierte sich schließlich auf das Münzgeschäft und errichtete 1864 in Frankfurt/Main ein „Numismatisches Etablissement",43 das ihm im Laufe der Jahre ein sehr großes Vermögen einbringen sollte.44 Vor allem in den 1890er Jahren fiel Hamburger der deutschen Öffentlichkeit durch sein Wirken auf dem Gebiet der numismatischen Forschung auf seine Arbeiten über Münzprägungsstätten Israels fanden große Beachtung. Kernstück seiner Tätigkeit wurde eine Sammlung jüdischer Münzen, die zu der umfassendsten und vollständigsten der Welt gehörte.45 Aus den Quellen läßt sich nicht herauslesen, wann Leopold Hamburger sein Interesse für das Land Palästina entdeckte. In Nachrufen wird aber ganz explizit von einer „Sehnsucht" nach dem Heiligen Land gesprochen, einer Sehnsucht, die 1881/82 einen entscheidenden Anstoß erfuhr. Die Pogromwelle in Osteuropa, die jüdischen Flüchtlinge in Westeuropa und die Versuche, in Palästina Kolonien zu gründen, machten auf Hamburger großen Eindruck, und er suchte nach Wegen, in Palästina tätig zu werden. Aber was konnte er tun? Wie und wem konnte er helfen? Um diese Fragen für sich zu klären, fuhr Leopold Hamburger im Frühjahr 1883 selbst nach Palästina.46 Allerdings erst nach gründlicher Vorbereitung, denn aus seinen Briefen geht hervor, daß er noch vor seiner Abreise in Frankfurt eine Art Darlehensgesellschaft, die „Chewer ha-Jehudim" (hebr. „Organisation/Liga der Juden"), ins Leben gerufen hatte, die für Kredite in Palästina zuständig sein sollte.47 In Palästina war Hamburger dann sehr aktiv, er besuchte das Heilige Land nicht als interessierter Tourist mit philanthropischen Ideen, sondern er begann sofort mit der praktischen Hilfe. Mehrere Treffen mit den Ver43 Vgl. „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. 44 Information S. Mansbach. 45 Vgl. „Israelit", Nr. 14, 1902, S. 322. Die Sammlung ist heute im Britischen Museum, London, zu sehen. Hamburger hatte sie dem Museum geschenkt. Information S. Mansbach. 46 Die genauen Reisedaten lassen sich nicht mehr ermitteln. Seine Briefe, die er in Palästina an Samuel Hirsch schrieb, umfassen den Zeitraum vom 24.4.-10.5.1883. Hinzu kommen Informationen aus den Briefen, die eine Anwesenheit von Anfang April bis Ende Mai als sicher 1883 annehmen lasse. Vgl. ZZA, J41/52. Vgl. auch Anm. 51. Sicher ist, daß er im Juli 1883 wieder in Frankfurt war. Vgl. Jewish Chronicle", 3.8.1883. 47 Vgl. Hamburger an Hirsch, Jerusalem 24.4.1884, ZZA.J41/52. Alle Briefe Hamburgers mit der Signatur J41/52 sind an den Direktor der Landwirtschaftsschule Mikweh Israel gerichtet. Leider sind den Quellen keine weiterführenden Informationen über diese Kreditorganisation zu entnehmen.
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tretern des Neuen Jischuws sowie Besuche in Rischon le-Zion48 und Mikweh Israel49 wurden für ihn arrangiert, die offensichtlich seine Liebe zum Land so sehr entfachten, daß er sogar daran dachte, Boden in Palästina zu kaufen.50 Trotz des Einflusses der süddeutschen „Chalukka-Orthodoxie" auf seinefrühenJahre, blieb Hamburger in Palästina nicht auf der Stufe des philanthropischen Geldgebers stehen, sondern stellte seine Hilfe unter das Motto: „Arbeit, nicht Almosen."51 Dies war schon ein großer Fortschritt im Vergleich zum System der Chalukkasubventionen. Hamburgers Engagement für den Neuen Jischuw läßt sich in zwei Abschnitte gliedern. Zunächst sprach aus seinen Briefen nur der Bankfachmann, der Darlehen und Finanzierungen ermöglichte. So verschaffte er z.B. dem Kolonisten Lewi Jizchak Eisenband einen bis 1887 laufenden Kredit, den die oben genannte Organisation „Chewer ha-Jehudim" gewährte.52 Hamburger hat aber auch für die persönlichen Probleme der Kolonisten Interesse gezeigt und zusammen mit dem Vertreter Baron Hirschs in Palästina, E. F. Veneziani, einen Fonds zur Hilfe für „les pauvres families" ins Leben gerufen. Während seiner Rückreise nach Deutschland aus Port Said schrieb er einen 18 Seiten langen Brief in dem er genaue Instruktionen für das weitere Verfahren mit den gewährten Darlehen gab sowie seine Absicht kund tat, vor allem den mittellosen Familien in Rischon le-Zion weiter zu helfen.53 Zurück in Frankfurt, schien Hamburger nicht viel Verständnis für sein Engagement in Palästina zu finden, denn schon im August 1883 beklagte er sich bei Hirsch, daß in Deutschland niemand Interesse an einer auch
48 Über den Besuch in Rischon le-Zion vgl. Jewish Chronicle", 3.8.1883 u. Freimann, 1907, S. 13. Freimann nennt aber als Besuchszeit in Rischon le-Zion „Sof Kislev 5643". Dies entspricht „Anfang Dezember 1882" der christlichen Zeitrechnung und kann den anderen Quellen zufolge nicht stimmen. 49 Vgl. Hamburger an Salvendi, abgedruckt in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 85,24.4.1884, S. 104£ 50 Vgl. Hamburger an Hirsch, 10.5.1883 u. 23.10.1884, ZZA, J41/52. Leider ließ sich aus dem vorhandenen Quellenmaterial nicht entnehmen, ob es zu einem solchen Landkauf gekommen war. 51 Vgl. „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. 52 Vgl. Hamburger an Hirsch, 24.4.1883, 25.4.1883 (beide in Jerusalem geschrieben) und 25.5.1883 (Port Said), ZZA, J41/52. Daß ein solcher Kredit nicht auch in anderen Quellen Erwähnung findet, liegt am Stillschweigen über dieses Darlehen, das Hamburger und Hirsch vereinbarten. Vgl. Hamburger an Hirsch, 24.4.1883, ZZA, J41/52. 53 Vgl. Hamburger an Hirsch, 25.5.1883 (Port Said), ZZA, J41/52.
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nur wohltätigen Hilfe habe.54 Selbst seine Familie unterstützte ihn nur wenig, nannte seine Aktivitäten „halbmeschugge".55 Um sein Engagement für Palästina effektiver und erfolgversprechender zu gestalten, entwarf Hamburger daher ein Projekt, das in den nächsten Jahren sein Hauptwirkungsfeld für Palästina werden sollte. Dieser zweite Abschnitt beinhaltete einen gewissen Rückzug aus den reinen Bankgeschäften, versuchte dafür aber den Ausbau des Handels mit Waren aus Palästina in Deutschland voranzutreiben, hier vor allem den Handel mit Ethrogim, und eine allgemeine Produktivitätssteigerung der Wirtschaft des Jischuws. Mit der ihm eigenen „ungewöhnlichen Arbeitskraft"56 ging Hamburger an die Realisierung seines Pojektes und wurde in Deutschland zu einem der ersten Importeure jüdischer Waren aus Palästina.57 Diese mehr auf „sichtbare Wirkung" gerichtete Tätigkeit erfüllte ihn mit großer Hoffnung auf die Hilfe deutscher Juden für den Neuen Jischuw, und er wünschte sich mehr Besucher aus Deutschland in Palästina, die dann sein Projekt hätten unterstützen können.58 Um diese Wirkung noch zu erhöhen, wandte sich Leopold Hamburger an die deutsch-jüdische Öffentlichkeit, wählte als Bühne die „Spendenverzeichnisse"59 und setzte bei seiner Argumentation auf eine Mischung von ökonomischen Fakten und Emotionen. In seinem im April 1884 veröffentlichten Brief an Salvendi stellte er die Ende 1883 gegründete Kolonie Ekron in den Mittelpunkt, beschrieb die wirtschaftlichen und materiellen Voraussetzungen als äußerst hoffnungsvoll und riet den Ansiedlern, in Frieden und treuer Erfüllung der jüdischen Gebote in Palästina zu leben.60 Hamburger hatte die Probleme des deutschen Judentums mit den Kolonien in Palästina erkannt, er wußte, daß die deutschen Juden in unsicher erscheinende Projekte niemals investieren würden, daher setzte er alle Hoffnungen auf ein Gelingen Ekrons als Anstoß für weitere Hilfe: „(...) gelingt
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Vgl. Hamburger an Hirsch, 6.8.1883, ZZA, J41/52. Information S. Mansbach. „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. Vgl. „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. Vgl. Hamburger an Hirsch, 5.11.1883, ZZA, J41/52. Hamburger veröffentlichte aber nicht nur in den „Spendenverzeichnissen". Aus einem Brief an Hirsch im August 1883 geht zum Beispiel hervor, daß er über die Frage der Ethrogimpflanzung im „Israelit", in zwei weiteren deutschen Zeitungen und im Jewish Chronicle" Artikel veröffentlicht hatte. Vgl. Hamburger an Hirsch, 6.8.1883, ZZA.J41/52. 60 Vgl. Hamburger an Salvendi, geschrieben im Dezember 1883, abgedruckt in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 85,24.4.1884
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sie, so werden die Augen und die - Börsen unserer Grossen für viele, viele Andere unserer arbeitstüchtigen Brüder sich sicher öffnen (...) während ein Misslingen dieser Probeansiedlung auf viele Jahre hinaus von weiteren Versuchen abschrecken würde."61 Im Juli 1884 berichtete Hamburger über die Landwirtschaftsschule Mikweh Israel und pries ihre Errungenschaften in höchsten Tönen, doch gebe es das Problem der „begabtesten Schüler", die für höhere Aufgaben berufen seien, denen aber z.B. das Kapital für den Landkauf fehle. Eine Lösung sah Hamburger in der Aufnahme einiger dieser Schüler in Deutschland durch landbesitzende Juden, vor allem - nota bene - in Süddeutschland. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, stellte sich Hamburger als Vermitder und Koordinator einer solchen Aktion zur Verfugung.62 Sein Projekt eines Warenvertriebs palästinensischer Produkte in Deutschland stellte er in zwei weiteren Artikeln vor. Zunächst ging es um einen verstärkten Vertrieb des Mohnöls und des Mohnkuchens nach Europa. Mohn wurde von den jüdischen Kolonisten bereits angebaut und konnte nach Meinung Hamburgers „(...) mit demjenigen anderer Länder ganz gut concurrieren."63 Wichtiger noch, und für die jüdischen Kolonien ein lohnenderer Wirtschaftszweig, sei aber der Vertrieb von Olivenöl nach Europa. Hierfür bedürfe es zwar noch einer zu errichtenden Fabrik, dann aber wäre der Olivenanbau, die Verarbeitung zu Olivenöl und der daraus resultierende Absatz nach Europa „(...) für das Land von grossem Nutzen."64 Im zweiten Artikel beschäftigte sich Hamburger ausführlich mit den Vorteilen des Ethrogimanbaus in Palästina und der religiösen Verpflichtung der Juden, Ethrogim aus Palästina zu importieren. Bis vor einigen Jahrzehnten sei es aus verschiedenen Gründen unmöglich gewesen, Ethrogim von dort zu importieren, dies gab er unumwunden zu, jetzt sei es aber an der Zeit, stellte er polemisch fest, nicht länger von den „halbwilden Corsikanern", den „uns stets unsympathischen Neapolitanern" und den judenfeindlichen Griechen"65 abhängig zu sein. Es gebe in Palästina und in Deutschand auch genügend Handelshäuser, die den Vertrieb der Ethrogim übernehmen könnten. Schließlich sei es eine Mizwa, Ethrogim aus Palästina zu kaufen, da allein diese koscher seien. 61 Ebd., S. 106. 62 Vgl. „An die jüdischen Gutsbesitzer und Landwirthe", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 90, 3.7.1884, S. 146£ 63 „Mohnöl und Olivenöl", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 94, 4.9.1884, S. 168. 64 Ebd. 65 „Zum herannahenden Sukot-Feste", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 95, 17.9.1884, S. 186.
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Hamburger nannte vier Vorteile des Ethrogimimports aus Palästina, und dies zeigt, in welchen Kategorien er dachte, welchen Vorstellungen er anhing und wie er sich die Verbesserung der Lage jüdischer Kolonien dachte. Zunächst erhöhe ein Ethrog aus Palästina die Liebe zum Lande der Väter, schrieb er, dann werde diese Frucht den Zweifelnden beweisen, daß es sich um ein fruchtbares Land handele. Für die Besitzer der Ethrogimpflanzungen in Palästina erhöhe sich der Wert ihrer Anlagen durch den vermehrten Vertrieb beträchtlich, und letztendlich ermutige ein solcher gesteigerter Vertrieb mit der Aussicht auf weitere Steigerungen in den nächsten Jahren die bestehenden jüdischen Ackerbaukolonien moralisch und materiell.66 Hamburgers Konzept war klar strukturiert, und dieser Artikel kann als Credo seines Projektes angesehen werden. Appelliert wird an eine jüdische Tradition, die in ihrer halachisch67 korrekten Ausführung einen zweifachen Effekt hat: Es wird eine Mizwa erfüllt und gleichzeitig den ländlichen Kolonien in wirtschaftlicher Hinsicht geholfen. Dies mag zwar eine etwas naive Ansicht über das Interesse des deutschen Judentums an der Traditionserhaltung und der Verbindung dieser Traditionen mit volkswirtschaftlichen Erkenntnissen sein, doch Leopold Hamburger wußte, worüber er schrieb. Seine Ausbildung im Bankgewerbe und der Erfolg seines eigenen Unternehmens verliehen ihm in wirtschaftlichen Fragen Kompetenz. Den jüdischen Traditionen stand er positiv gegenüber, hatte er doch in München und dann in seinem späteren Wohnort Frankfurt genügend Gelegenheit, die unterschiedlichen Ausformungen jüdischen Glaubens in Deutschland kennenzulernen und seine orthodoxe Auffassung zu verteidigen.68 Aus seinen volkswirtschaftlichen Kenntnissen und dem Wissen um die Traditionen erarbeitete Hamburger einen Plan zur Hilfe fiir den Jischuw und setzte alle Tatkraft daran, diesen Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Er schickte Buch- und Zeitungsdruckmaschinen nach Palästina mit der Absicht, die Chalukkajuden zu produktiver Arbeit anzuhalten.6' Er schätzte das Arbeitspotential der Jerusalemer Handwerker in Bereichen der Olivenholzverarbeitung sehr hoch ein und hoffte auch für sie auf einen Auf-
66 Vgl. Ebd., S. 187. 67 „Halacha" ist die hebräische Bezeichnung für das jüdische Religionsgesetz. 68 Dies tat er unter anderem mit der 1889 erschienen Streitschrift „Herr Otto Hartmann und sein Kampf gegen die Schlachtweise der Israeliten". Hamburger unterzog die Angriffe auf das orthodoxe Schächten einer „geradezu vernichtenden Kritik". „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. 69 Information S. Mansbach.
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schwung durch europäische Importeure.70 Vor allem aber bezog Hamburger Ethrogim, Wein und Orangen aus Palästina und suchte hierfür auf seinen zahlreichen Reisen nach Absatzmärkten.71 Den Ethrogimhandel versuchte er bis nach Paris zu tragen und den dortigen Oberrabbiner Zadoc Kahn von der Qualität der palästinensischen Früchte zu überzeugen.72 Daneben saß Hamburger im Verwaltungsrat des „Vereins zur Erziehungjüdischer Waisen",73 der in Jerusalem ein Waisenhaus unterhielt, und unterstützte diese Einrichtung ständig mit finanziellen Mitteln.74 Hamburger wurde in seiner Arbeit auch mit den schon bekannten verschrobenen Vorstellungen der Juden in Palästina über die Europäer konfrontiert, die annahmen „(...) que chaque Europien est Millionaire et peut faire ce qu'il veut."75 Dies mußte ihn um so mehr verärgern, als er sich für die Juden in Palästina um Hilfe zur Selbsthilfe und nicht um einen Beweis der finanziellen Möglichkeiten europäischer Philanthropie bemühte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet Palästina nicht nur in den Blickwinkel der Politiker Europas, es wurde auch in seiner Bedeutung als Handelsort von dem Stigma der völligen Unrentabilität und Vergessenheit befreit. Leopold Hamburger war aber nicht der einzige Kaufmann, der sich um Handel mit Produkten aus Palästina bemühte. Doch glaubt man den Ausführungen J.M. Pines,76 eines ohne Zweifel kompetenten Mitglieds des Jischuws, betrachteten die europäischen Kaufleute Palästina weniger als ein Land mit guten Entwicklungschancen auf dem Weltmarkt, vielmehr sahen sie es als einen Ort, an dem sie mit den Methoden eines unbeschränkten „Manchester-Kapitalismus" herrschen konnten. Ausnahmen in diesem Reigen, der sich im schlimmsten Falle aus „betrügerischen Unterhändlern" und Rechnungsbetrügern zusammensetze, gebe es nur
70 71 72 73 74
Vgl. „Mohnöl und Olivenöl", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 94, 4.9.1884, S. 168. Vgl. „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321. Vgl. Hamburger an Hirsch, 27. Tamus 5645 (10.7.1885), ZZAJ41/52. Vgl. „Spendenverzeichnisse", Nr. 104, 22.1.1885. Z.B. vgl. „Spendenverzeichnisse", Nr. 55, 31.1.1883, Nr. 106, 19.2.1885; Hamburger an Hirsch, 17.1.1884 u. 4.7.1884, ZZA, J41/52. Die freundschaftlich enge Verbindung zum Direktor dieses Waisenhauses, Wilhelm Herzberg, wurde auch durch dessen Umzug nach Brüssel nicht getrübt. Selbst nach Herzbergs Tod besuchte Hamburger die Familie Herzbergs in Brüssel, worüber ein Brief Sophie Herzbergs an David Jellin berichtet. Vgl. S. Herzberg an D. Jellin, 17.12.1902, ZZA, A153/225/7. 75 Hamburger an Hirsch, 18. Elul 5644 (8.9.1884), ZZA, J41/52. 76 Vgl. J.M. Pines, Der Handel Palästinas, in: „Spendenverzeichnisse" Nr. 120, 13.8.1885, S. 176 (Ubersetzung eines hebräischen Artikels aus der „Ha-Zwi").
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sehr wenige, Leopold Hamburger gehörte dazu. Er, „(...) der seit seiner Reise nach Jerusalem sich die größte Mühe gibt, fiir die Waaren Jerusalems und des heiligen Landes ein Absatzgebiet zu schaffen, besonders für Wein, fur Olivenholzwaaren, fiir Sifrei Tora, Teßlim und Mesusot (i.O. in hebräischen Buchstaben), die in Jerusalem gefertigt sind. Er schickte sogar schon eine neue Traubenpresse und zwei besondere Webstühle hierher."77 In relativ kurzer Zeit hatte sich Hamburger in den jüdischen Kreisen Palästinas den Ruf eines integren, vertrauenswürdigen Geschäftsmannes erworben. Seine Briefe bis 1887 an Hirsch zeugen denn auch von den verschiedensten Aktivitäten. So bemühte er sich um eine Ausweitung des Weinexports nach Deutschland, versuchte auch andere landwirtschaftliche Produkte, neben Ethrogim und Orangen, nach Deutschland zu holen und war stets auf der Suche nach zusätzlichen Geldgebern, die den Kolonien helfen konnten.78 Doch die Briefe nach Palästina werden schon ab 1886 seltener. Den Angaben bei Eliav zufolge, besuchte Hamburger Palästina zwar noch einmal im Jahre 1887,79 über diesen Besuch finden sich aber keine Artikel mehr in den Zeitungen, die von Euphorie durchzogen sind, wie jene nach dem Besuch 1883. War Hamburgers Interesse für die jüdischen Kolonien bereits erlahmt? Fest steht, daß sein Projekt einer Wirtschaftsförderung für die Kolonien ihren Intentionen nach in Deutschland gescheitert war, denn der Nachruf 1902 sagte über den Import palästinensischer Produkte deutlich, daß Hamburger „(...) statt eines nicht erhofften Gewinnes die Spesen aus eigener Tasche zu decken hatte."80 Es war also ein Zuschußprojekt, Hamburger hatte entgegen seinen Hoffnungen nicht genügend gesicherte Absatzmärkte gefunden. Zwar hatte er dem „Israelii" zufolge für sich selbst auch nicht mit Gewinn gerechnet, doch stellt sich die Frage, ob der Export der Produkte den jüdischen Kolonisten geholfen hat, ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn es fehlen Angaben über Quantität und Vertragsbedingungen für die Importe.
77 Pines zitiert nach „Spendenverzeichnisse", Nr. 120, 13.8.1885,176. Die hebräischen Ausdrücke bezeichnen Bibeln, Gebetsriemen und Kästchen, in denen eine Pergamentrolle mit Zitaten aus der hebräischen Bibel enthalten ist und die an den Türpfosten befestigt werden. 78 Für sein Bemühen um Finanzhilfen für die Kolonien vgl. Hamburger an Hirsch, Schewat 5647 (Mitte Februar 1887) u. 25. Aw 5647 (15.8.1887), ZZAJ41/52. 79 Vgl. Eliav, 1970, S. 319. 80 „Israelit", Nr. 14,1902, S. 321.
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Daher muß die Antwort über die Bewertung anderer Kriterien gesucht werden. Die Konzentrierung der Einfuhren vor allem ab Ende 188481 auf Wein läßt dabei nicht unbedingt auf eine Verbesserung der Situation der Kolonisten schließen, denn der Weinanbau, die Weinkelterei und auch der Vertrieb waren vollständig in der Hand der Rothschildadministration, und deren Wirtschaftspolitik in den Siedlungen hatte nur wenig mit volkswirtschaftlichen Aspekten gemein, sie war reine Philanthropie. Auf der Suche nach Zeugnissen direkt aus den Kolonien über den in Deutschland offensichtlich als Palästina-Wohltäter bekannten Hamburger stößt man auf ein etwas überraschendes Schweigen. So findet er weder bei Israel Beikind noch bei Chaim Chissin oder Moses David Schub Erwähnung. Es ist nur schwer vorstellbar, daß gerade diese drei Chronisten Hamburger, wenn er für die Kolonien ein bedeutender Förderer gewesen wäre, schlicht nicht erwähnt hätten. Denn Beikind, Chissin und auch Schub legten in ihren Büchern großen Wert auf Propagierung der Kolonisationsidee, und hierbei wäre jede Förderung, gerade auch von deutscher Seite, von besonderer Bedeutung gewesen.82 Einzig bei J. M. Pines gibt es in dem bereits erwähnten Artikel aus dem Jahr 1885 einen Hinweis. Hier wurde Hamburger zwar als ehrenwerter Kaufmann beschrieben, der tatsächliche Einfluß des Frankfurters auf die Ökonomie bieb aber im unklaren. Es war von Bemühungen die Rede, nicht von Resultaten. Festzuhalten bleibt, daß Hamburgers Bedeutung und Einfluß in den Kolonien offensichtlich nicht dem in der deutsch-jüdischen Presse 1902 entworfenen Bild entsprach. Zu dem Problem der Wirkung Hamburgers in den Kolonien tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu, den er mit Emil Lachmann teilt. Beide waren ab 1882 sehr aktiv für die Kolonien in Palästina, Hamburger ohne Zweifel noch aktiver als Lachmann, aber beide standen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zumindest nicht so in der Öffentlichkeit oder waren nicht so bekannt für ihr Engagement, als daß sie von den Zionisten dieser Zeit erwähnt worden wären, obwohl diese doch eigentlich großes Interesse an der praktischen Hilfe für Palästina hatten. Besonders Willy Bambus
81 Hamburger erwähnt z.B. ein großes Weindepot in Frankfürt/Main fur Weine aus dem Heiligen Land, vgl. Hamburger an Hirsch, 18. Elul 5644 (8.9.1884), ZZA, J41/52. 82 Zum Vergleich ist der im nächsten Abschnitt behandelte Sigismund Simmel zu nennen, der auf ökonomischem Gebiet dem Anschein nach viel weniger bewirkte, aber trotzdem in verschiedenen Quellen entsprechend seinen Intentionen gewürdigt wird. Vgl. Abschnitt „Sigismund Simmel - Der Politiker".
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war ein glühender Verteidiger der Kolonien, und auch bei ihm findet sich weder in seinen Büchern noch in den Briefen ein Hinweis auf das Wirken Leopold Hamburgers. Daß sich Hamburger selbst nicht völlig von der Idee einer Kolonisation in Palästina getrennt hatte, beweist allerdings seine Anwesenheit während der Eröffnung einer „Palästina-Ausstellung" im Februar 1899 in Frankfurt/Main.83 Trotz der Zweifel an seinem direkten Einfluß auf die Verbesserung der ökonomischen Situation der Kolonisten muß Hamburger als der Initiator des Imports palästinensischer Produkte in einem Umfang gelten, wie es ihn vorher nicht gegeben hatte. Andererseits war es aber auch ihm nicht gelungen, das Interesse der deutschen Juden auf die Kolonien zu lenken, so daß diesen vielleicht der Schritt in die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Rothschildadministration hätte erspart bleiben können oder sich in Deutschland ein ausgleichender Faktor zur französischen Verwaltung hätte entwickeln können.
3. Sigismund Simmei - Der Politiker Emil Lachmanns Wirken für Petach Tikwa wurde von den Kolonisten zwar registriert, aber anscheinend nicht als besonders hervorhebenswert empfunden. Die Arbeit Leopold Hamburgers für eine ökonomische Konsolidierung des Jischuws wurde, geht man von der vorliegenden Quellenlage aus, gar nicht wahrgenommen. Demgegenüber rief das Auftreten Sigismund Simmeis, Inhaber eines mittelständischen Ledergeschäfts, größte Hoffnungen bei den Kolonisten hervor; Hoffnungen, vielleicht doch noch die erwartete Hilfe aus Deutschland zu bekommen. So schrieb Chaim Chissin 1887 in seinem Tagebuch, daß die Kolonisten auf einen günstigen Bericht Simmeis über die Kolonien hofften, der ihnen dann finanzielle Mittel aus Deutschland zugänglich machen würde.84 Warum konzentrierten sich die Hoffnungen nicht auf den Kaufmann Lachmann, der zweifellos über erhebliche finanzielle Möglichkeiten verfugte, oder auf den Münzhändler Hamburger, der sich zumindest um die Ökonomie in Palästina bemühte? Warum gerade auf Sigismund Simmei, einen Leder-Juchten-Händler aus Berlin, der seinem Vermögen und Ansehen nach in der jüdischen Gemeinde Berlins nicht zu den fuhrenden Per83 Vgl. „Zion", 1899, S. 43. Über die in Deutschland ab 1896 stattfindenden PalästinaAusstellungen vgl. Kap. XIII, Abschnitt „Die Palästina-Ausstellung". 84 Vgl. Chissin, 1976, S. 237£ Tb v. 21.3.1887.
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sönlichkeiten gehörte?85 Möglicherweise läßt sich dieses überraschende Phänomen mit einem Blick auf Simmeis aktive Zeit für den MontefioreVerband 1884 bis 1887 näher ergründen.86 Das erste öffentliche Auftreten Simmeis liegt schon zwei Jahre früher, in der Zeit der großen Flüchtlingsströme aus Rußland, die auch in Berlin Zuflucht suchten. Simmel erwies sich für Aufgaben in einem der Komitees für die Flüchdinge als geradezu prädestiniert, denn er war „mit Sprache und Gewohnheiten der russischen Juden bekannt."87 Seine „großen Verdienste"88 beim Einsatz für die Flüchtlinge verschafften seinem Namen in der jüdischen Gemeinde Berlins „einen guten Klang."8' Dieses Engagement für die Flüchtlinge, das auch nach Abklingen der ersten großen Flüchtlingsströme 1882 nicht abnahm,90 führte dazu, daß auch Esriel Hildesheimer auf ihn aufmerksam wurde" und ihn, da er der traditionellen Richtung des Judentums angehörte,92 für seine PalästinaPläne zu gewinnen suchte. Über Hildesheimer kam Simmel schließlich in Kontakt mit Leon Pinsker,'3 und dieser muß einen äußerst positiven Eindruck von ihm gewonnen haben, denn obwohl Simmel weder in Berlin noch in den Kreisen der osteuropäischen Chowewe Zion als Zionsfreund bekannt war, setzte Pinsker alle Hoffnungen zur Gewinnung des deutschen Judentums auf ihn. Hierfür sprach vor allem die Wahl Simmeis in das Zentralkomitee des Montefiore-Verbandes 1884 in Kattowitz - trotz Abwesenheit.94 Simmel erklärte sich bereit, das gewünschte Zentralkomitee in Berlin zu errichten,95 auch wenn er nicht verhehlen konnte, daß alle ihm von Pinsker zur Kooperation vorgeschlagenen Berliner Juden seiner Ansicht
85 Über Simmeis berufliche Tätigkeit und seine Position in der Gemeinde vgl. Moses an Jassinowski, 19.1.1885, in: Druyanow I, Dok. 188, S. 3 8 8 u. Simmel an Pinsker, 26.11.1884, ZZA, A 9 / 1 0 . 86 Über Simmeis Biographie vor 1882 läßt sich mit Bestimmtheit nur sagen, daß er 1843 in Neumark geboren wurde. Vgl. Eliav, 1970, S. 370. Über sein Elternhaus, die Jugendzeit, Schulabschlüsse und Ausbildung ist den Quellen nichts zu entnehmen. 87 Louis Maretzki, Geschichte des Ordens Bnei Briss, Berlin 1907, S. 43. 88 Moses an Jassinowski, 19.1.1885, in: Druyanow I, Dok 188, S. 388. 89 Maretzki, 1907, S. 43. 90 Vgl. Jewish Chronicle", 26.11.1886. 91 Vgl. Eliav, 1970, S. 370. 92 Vgl. Maretzki, 1907, S. 43. 93 Vgl. Vital, 1975, S. 170. 94 Vgl. Gelber, 1919, S. 28. 95 Ein Besuch Adolf Zederbaums hatte ihn offensichtlich überzeugt. Vgl. Zederbaum an Pinsker, 10.11.1884, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1206, S. 622.
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nach hierfür gänzlich ungeeignet seien." Um zu sehen, ob überhaupt ein gewisses Interesse an der Sache bestand, verschickte er das Protokoll der Kattowitzer Konferenz an prominente und ihm zur Mitarbeit gewillt erscheinende Juden in Deutschland.'7 Schon zu diesem frühen Zeitpunkt hatte er sich aber auch eine Meinung zur Kolonisation Palästinas gebildet und verwahrte sich in einem Brief an Pinsker entschieden gegen jedwede Bestrebung, neue Kolonien zu gründen, denn „(...) erst muß den anwesenden Colonisten so geholfen werden, dass sie vollends auf eignen Füssen stehen."98 Nach Simmeis Meinung mußte alles Erdenkliche zur Konsolidierung der bestehenden Kolonien getan werden, und dies habe in absoluter Stille zu geschehen, um die türkische Regierung nicht erneut zu Repressalien gegen die Kolonisten zu verleiten." Doch galt Simmeis Hauptinteresse in den Monaten November 1884 bis Mai 1885 nicht den Kolonien, er konzentrierte sich zunächst zum einen auf die Gewinnung von Mitarbeitern aus dem deutschen Judentum für den Montefiore-Verband, zum anderen aber sah er es als unumgänglich an, die AIU von der Notwendigkeit und Seriosität des Verbandes zu überzeugen, wenn man erfolgreich für die Idee der Chowewe Zion und die Kolonien arbeiten wolle.100 Die Briefe Simmeis und die an ihn gerichteten Schreiben geben ein aufschlußreiches Bild über seine Aktivitäten in diesen sieben Monaten, sie dokumentieren eindrucksvoll seine Erfolge, aber auch seine Niederlagen. Simmel bemühte sich ab November 1884 unablässig, Mitarbeiter für den Verband in Deutschland zu gewinnen, um mit diesen dann das Zentralkomitee einzurichten. Aber was er auch tat, alles war vergeblich. Graetz, den Simmel zweimal in Angelegenheiten der Chowewe Zion besucht hatte,101 schrieb schon im Januar 1885 an Pinsker, daß in Deutschland nur auf sehr wenig Sympathie zu rechnen sei und auch er für eine Mitarbeit im Komitee nicht zur Verfügung stehe.102 Anfang Januar war Moritz Moses
96 Vgl. Simmel an Pinsker, 21.11.1884, in: Druyanow III, Dok. 1207, S. 623ff 97 Vgl. Simmel an Pinsker, 26.11.1884, ZZA, A9/10 u. Simmel an Pinsker, 17.12.1884, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1220, S. 644ff. 98 Simmel an Pinsker, 10.12.1884, in: Druyanow III, Dok. 1219, S. 643. 99 Simmel war äußerst verärgert über das Auftreten des Delegierten Wissotzky in Palästina, der dadurch die Duldung der Kolonien seitens der türkischen Regierung stark gefährdet habe. Vgl. Simmel an Pinsker, 29.4.1885, in: Druyanow III, Dok. 1247, S. 723ffi 100 Vgl. Simmel an Pinsker, 10.12.1884, in: Druyanow III, Dok. 1219, S. 643£ 101 Vgl. Simmel an Pinsker, 19.1.1885, in: Druyanow III, Dok. 1234, S. 681ff 102 Vgl. Graetz an Pinsker, 23.1.1885, in: Michael, 1977, S. 402.
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selbst nach Berlin gekommen, nicht zuletzt um Simmeis Integrität und seinen Eifer bei der Gründung des Berliner Zentralkomitees zu prüfen. Simmel konnte Moses zunächst von der baldigen Gründung eines solchen Komitees überzeugen.103 Allerdings hielt diese Überzeugung nicht sehr lange an, bereits im Februar wurde sich Moses darüber klar, daß von Berlin ein entscheidender Impuls nicht mehr zu erwarten sei.104 Und in dieser Einschätzung behielt er recht, denn Sigismund Simmel scheiterte schließlich mit dem Versuch, ein Zentralkomitee in Berlin zu gründen.105 Es war ihm nicht gelungen, Mitstreiter für die Sache der Chowewe Zion zu finden, wie konnte man da eine allgemeine Unterstützung des Zionsgedanken durch die jüdische Öffentlichkeit in Deutschland erwarten? Sehr viel erfolgreicher war Simmel mit seinen Bemühungen außerhalb Deutschlands. Während sich im Januar und Februar 1885 das Scheitern einer Zentralkomiteegründung in Berlin bereits abzeichnete, fuhr Simmel nach Paris106 und London,107 um für die Sache des Montefiore-Verbandes zu wirken. Seine anscheinend guten Kontakte zur AIU ermöglichten ihm in Paris nicht nur Treffen mit Erlanger und Scheid,108 sondern auch eine
103 Moses hatte nur zu beanstanden, daß Simmel sich zu sehr auf die höchsten Kreise der Berliner Gemeinde einlasse, die ihn wiederum nicht akzeptieren würden. Simmel konnte diesen Einwand mit dem Hinweis auf die finanziellen Möglichkeiten der reichen Berliner Juden entkräften, es sei überlebensnotwendig für den Verband, im Falle eines Defizits reiche Gönner zu haben. Vgl. Moses an Pinsker, 22.1.1885, in: Druyanow III, Dok. 1236, S. 686ff 104 Vgl. Simmel an Rabbinowitz (Schefer), 10.2.1885, ZZA, A9/43. 105 Vgl. „Serubabel", No. 1, 29.9.1886, S. 7. 106 Ende Februar 1885 feierte die AIU ihr 25jähriges Bestehen, und Simmel nutzte diese Gelegenheit zur Fahrt nach Paris. Vgl. Simmel an Pinsker, 7.1.1885, in: Druyanow ΠΙ, Dok. 1228, S. 667ff. Simmel war bei der AIU kein Unbekannter, zumindest war er als Gönner der Gesellschaft bekannt und tauchte in den „Bulletin de ΓAlliance Israelite Universelle, Paris" der Jahre 1883 bis 1885 regelmäßig in den Spendenlisten fur die Bibliothek auf. 107 Simmel hatte in seinem Brief vom 7.1.1885 an Pinsker (vgl. Anm. 113) auch London als wichtiges Reiseziel genannt. Druyanow schreibt in einer Fußnote, daß Simmel im Februar 1885 in London gewesen sei. Vgl. Druyanow III, S. 721, Fußnote 1. Uber diesen Besuch und Simmeis mögliche Gesprächspartner ist aus den Quellen nichts zu erfahren. 108 Vgl. Hildesheimer an Pinsker, 27.2.1885, ZZA A9/10. Hildesheimer schreibt in diesem Brief über die große Wertschätzung, die Simmel seitens der AIU erfahre. Er habe in Paris unter anderem an einer Sitzung des Central-Comites der AIU teilgenommen, und „(...) der Secretär der Alliance überschüttet ihn mit Aufmerksamkeiten."
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Zusammenkunft mit Edmond de Rothschild.109 Hierbei handelte es sich nicht um eine Audienzgewährung des Barons für einen verdienten AIUAnhänger, denn Simmel erörterte im Namen des Montefiore-Verbandes mit dem Baron die zukünftige Arbeit des Verbandes in Palästina und versprach ihm, daß alle Aktivitäten ohne viel Aufhebens geschehen würden.110 Diese Treffen in Paris hätten ohne Zweifel der Beginn einer Zusammenarbeit zwischen Montefiore-Verband und AIU oder auch mit Rothschild selbst sein können. Und Simmel hätte möglicherweise als Vermittler oder in einer ähnlichen Funktion tätig sein können, doch nichts dergleichen geschah, sondern das Gegenteil trat ein. Im Mai 1885 brach der Briefwechsel zwischen Pinsker und Simmel ab, und es stellt sich die Frage nach dem Grund dafür. Was bewegte Simmel, diese intensiven beiderseitigen Kontakte so abrupt abzubrechen? Auf der Suche nach monokausalen Erklärungen muß man zwangsläufig scheitern, denn die Quellen berichten nicht über ein entscheidende Ereignis, das Simmel und die Chowewe Zion entzweite. Aber es gibt viele kleine Anzeichen, die Simmeis Rückzug erklären könnten. Da war zunächst die mangelnde Anerkennung durch die russischen Chowewe Zion; sie kannten Simmel nicht, und sie trauten ihm die schwierige Arbeit für den Verband nicht zu, weder die notwendige Legalisierung des Verbandes in Rußland noch die Verhandlungen mit den türkischen Behörden.111 Aber auch in Deutschland wurde zunächst an Simmeis Fähigkeiten gezweifelt, wenn auch diese Kritik nur in euphemistisch verkleideten Anspielungen zwischen den Zeilen zu lesen war: „(...) aber dass er selbständig die erwähnten Angelegenheiten ordne, und dass solche zu günstigem Erfolge fuhren, müsse erst erprobt werden."112 Im Januar 1885, als es Simmel immer noch nicht gelungen war, ein Zentralkomitee zu bilden, entzündete sich an seinen vermeintlichen Alleingängen heftige Kritik, die sogar von Pinsker vorgebracht wurde. Simmel reagierte hierauf sehr verstimmt und bot seinen sofortigen Rückzug an, wenn sich denn „befähigtere Herren"113 finden würden. Das Mißtrauen 109 Vgl. Hildesheimer an Pinsker, 27.2.1885, ZZA, A9/10 u. Simmel an Pinsker, 29.4.1885, in: Druyanow III, Dok. 1247, S. 723ff 110 Vgl. Simmel an Pinsker, 29.4.1885, in: Druyanow III, Dok. 1247, S. 723ff. 111 Vgl. Vital, 1975, S. 171. 112 M. Gottschalk-Lewy an Pinsker, 7.12.1884, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1215, S. 633ff 113 Simmel an Pinsker, 7.1.1885, in: Druyanow m, Dok. 1228, S. 668. Am 19.1.1885 schreibt Simmel an Pinsker, daß er sich gerne anderen Herren anschließen würde, damit es nicht den Anschein habe, „(...) als wenn ich keinen zweiten neben mir möchte, als wenn ich allein wirtschaften wollte." Pinsker hatte Simmel verschiedene
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zwischen den russischen Chowewe Zion und Simmel kam einige Zeit später noch einmal zum Ausbruch, denn Simmel beschwerte sich in massivster Form über Einmischungen in seine Arbeit von jeder ihm inkompetent erscheinenden Seite,114 wie auch über das eigenmächtige Handeln des Delegierten Wissotzky in Palästina, wodurch Simmel das in Paris Erreichte in Gefahr sah.115 Für sich genommen sind diese Differenzen selbstredend nicht ein Problem, das zum Rückzug Simmeis hätte fuhren müssen, zusammengesehen und verbunden mit dem Scheitern seiner Bemühungen in Deutschland, konnten sie Simmel schon die Undurchführbarkeit seiner Pläne deutlich werden lassen. Resultat war schließlich, daß Simmel seine Aktivitäten auf ein anderes Feld verlagerte.116 Ab 1886 konzentrierte er sich auf die Arbeit fur die Loge Bnei Brith und gründete Logen in verschiedenen Städten Deutschlands.117 Seine Tätigkeit war so erfolgreich, daß der Chronist des Ordens ihn den „ersten Bahnbrecher"118 nannte. Es ist aus den Quellen nicht ersichtlich, ob sich Simmel ganz aus seiner Arbeit für die Chowewe Zion zurückgezogen oder die Idee einer Rückkehr nach Zion aufgegeben hatte. Zumindest finden sich keine weiteren Belege über eine Tätigkeit für den Verband oder für die Kolonien. Seine Würdigung in der Zeitschrift „Serubabel" 1886119 ist aber ein Beweis dafür, daß sein Bemühen in Deutschland in den Pro-Palästina-Kreisen Anerkennung gefunden hatte. In das Blickfeld der Zionsfreunde rückte Simmel dann wieder zu Beginn des Jahres 1887, denn von Mitte Februar bis Mitte März 1887 besuchte er Palästina. Was seine genauen Motive für diesen Besuch waren,
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Herren vorgeschlagen, die ihn unterstützen könnten. Vgl. Simmel an Pinsker, 19.1.1885, in: Druyanow III, Dok. 1234, S. 681. Leider ist der Brief mit den Vorschlägen nicht aufzufinden. Die weitere Entwicklung in Berlin zeigt aber, daß wohl auch diese Herren nicht zur Mitarbeit bereit waren. Vgl. Simmel an Pinsker, 27.3.1885, in: Druyanow III, Dok. 1246, S. 720ff Vgl. Simmel an Pinsker, 29.4.1885, in: Druyanow III, Dok. 1247, S. 723ff. Ein Nachweis, daß Simmel seine Tätigkeit für den Verband eingestellt oder zumindest nicht mehr mit dem vorher gekannten Engagement betrieb, findet sich in einem Brief von Moses an Jassinowsky vom August 1885, in dem er sich massiv über Simmeis Untätigkeit beklagte. Der Tenor des Briefes läßt einen bereits stattgefundenen Rückzug Simmeis annehmen. Vgl. Moses an Jassinowsky, 25.8.1885, in: Druyanow ΙΠ, Dok. 1272, S. 78Iff So z.B. in Halberstadt, Frankfürt/Main und Kassel. Vgl. Maretzki, 1907, S. 45, 46 u. 48. Maretzki, 1907, S. 43. Vgl. „Serubabel", No. 1,29.9.1886, S. 7.
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läßt sich aus den Quellen zunächst nicht entnehmen, denn vier Zeitzeugen nennen vier Beweggründe: Hurwitz meint, daß sich Simmel bei Rothschild durch einen Palästinabesuch „lieb Kind machen"120 wollte. Freimann sieht Simmel zwar auch in einer Verbindung zu Rothschild, aber eher als eine Art Inspekteur, der im Auftrag des Barons die Kolonien inspiziert.121 Daß sich Simmel über die Kolonien aus erster Hand informieren wollte, nennt auch Chissin als Grund des Besuchs, etwaige Verbindungen zu Rothschild werden von ihm aber nicht erwähnt.122 Beikind schließlich stellt die Arbeit Simmeis für die Bnei Brith in den Mittelpunkt, er habe erst Logen in Kairo und Jerusalem gegründet123 und sei dann mit einem Empfehlungsschreiben Rothschilds in die Kolonien gereist.124 Drei der vier Quellen bringen also Simmel in Verbindung mit Baron Rothschild. In Anbetracht der Gespräche, die Simmel bereits 1885 mit Rothschild geführt hatte, erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß er von dem Baron tatsächlich eine Art Empfehlungsschreiben bekommen hatte. Eher zweifelhaft ist die Annahme einer offiziellen Inspektionsreise im Auftrage des Barons. Rothschild war sicher nicht abgeneigt, Informationen über seine Kolonien auch von anderer Seite als der seiner Administration zu bekommen, aber für die Aufgabe einer offiziellen Inspektion hatte er in Paris genügend Mitarbeiter, die er nach Palästina senden konnte, dazu benötigte er nicht einen Leder-Händler aus Berlin. Hinzu kam, daß er mit Elie Scheid bereits einen Mann seines Vertrauens in der Position des Oberadministrators eingesetzt hatte. Rothschild erweckte nicht den Eindruck, daß er sich auf unabhängige Inspekteure verlassen wollte. Sein Verhalten deutete eher auf uneingeschränktes Vertrauen in die von ihm eingerichtete Verwaltung hin. Ein letzter Fakt, der gegen die Entsendung Simmeis als Rothschild-Inspekteur sprach, war, daß Rothschild im April 1887 selbst nach Palästina kam, um seine Kolonien zu besuchen. Brauchte er da einen „Vorinspekteur"? Verständlich ist der bei den Kolonisten entstandene Eindruck von der offiziellen Mission, denn Simmel erschien nachweislich in Rischon le-Zion 120 Übersetzung des hebräischen „le-hitchawew al", vgl. Zwi Hurwitz, Isch Bilu weGedera (maschinenschriftl. hebräische chronologische Aufzeichnung, ohne Datum, unveröffentlicht), S. 56, ZZA, A164/16/1. 121 Vgl. Freimann, 1907, S. 19. 122 Vgl. Chissin, 1976, S. 237, Tb v. 21.3.1887. 123 Diese Gründungen werden auch von Maretzki erwähnt. Vgl. Maretzki 1907, S. 76. 124 Vgl. Beikind, 1917, S. 107£ Diese Version wird auch durch eine Notiz im Jewish Chronicle" gestützt, die fur die Reise Simmeis von einer „twofold mission" spricht. Jewish Chronicle", 31.12.1886.
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in Begleitung des Rothschüdadministrators Ossowetzky und erweckte daher nicht den Eindruck eines unabhängigen Besuchers. Wichtig ist aber festzuhalten, daß die einzige Quelle, die noch während oder kurz nach dem Besuch geschrieben wurde, das Tagebuch von Chissin, eine Verbindung Simmeis zu Rothschild nicht im mindesten andeutete. Die anderen Texte sind zwar von Zeitzeugen verfaßt worden, aber erst einige Jahre nach dem Besuch Simmeis in Palästina. Für Simmeis Motivation läßt sich daher aus der quellenkritischen Analyse der Texte schließen, daß er den Besuch im Nahen Osten mit seiner Tätigkeit für den Orden Bnei Brith verband, sich aber nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollte, die Kolonien zu besichtigen, für deren Erhalt er in den Jahren 1884/85 so engagiert gearbeitete hatte. Eine etwaige Empfehlung Rothschilds konnte in diesem Zusammenhang nur von Nutzen sein, denn dessen Administration beherrschte die Siedlungen. Wichtiger als die Motivation für den Besuch ist ein Blick auf den Ruf, der Simmel vorauseilte, und den Eindruck, den sein Aufenthalt in den Kolonien hinterließ. Hierfür eignen sich die Texte von Chissin und Beikind, denn Freimann listet den Besuch nur in seiner Chronologie der Siedlung Rischon le-Zion auf, und Hurwitz erstellt ein Itinerar.125 Beikind beschreibt den Besuch in seinen Erinnerungen sehr ausführlich, denn Simmel kam nach Rischon le-Zion mitten in den Wirren eines Aufstandes der Kolonisten gegen den Verwalter Ossowetzky.126 Simmel galt in den Augen Beikinds als prominente Persönlichkeit und daher als bedeutender Gast.127 Es ist also nicht verwunderlich, daß die Kolonisten nicht nur großen Respekt vor ihm hatten, sondern ihm auch Vertrauen entgegenbrachten. Dies zeigte sich, als Simmel zusammen mit Ossowetzky und Hirsch Rischon leZion besuchen wollte, der Wagen mit den drei Männern aber nicht in die Kolonie gelassen wurde. Die Kolonisten wollten nur Simmel und Hirsch hereinlassen und ließen sich erst auf Intervention Simmeis umstimmen, dem sie das Versprechen abnahmen, wenn er die Kolonie wieder verlasse, 125 Vgl. Freimann, 1907, S. 19. Hurwitz schreibt, daß Simmel am 18.2.1887 in Palästina angekommen sei, am 28.2. die Kolonie Rischon le-Zion, am 1.3. die Kolonie Ekron und Gedera sowie am 2.3. die Kolonie Petach Tikwa besucht habe. Schließlich hätten am 17.3. die Bauern von Rischon le-Zion Simmel noch einmal besucht. Vgl. Hurwitz, o.D., S. 56f , ZZA, A164/16/1. 126 Auf eine detaillierte Schilderung der Geschehnisse wird in dieser Betrachtung verzichtet, da nur auf Simmeis Wirken Wert gelegt wird. Vgl. hierzu Beikind, 1917, S. 107-110. 127 Im jiddischen Original: „groißer Gast", wobei „groiß" hier in der Bedeutung von „wichtig, bedeutend" gebraucht ist. Beikind, 1917, S. 107.
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Ossowetzky mitzunehmen. Simmel nahm dann an einer Versammlung der Kolonisten aus Rischon le-Zion, Gedera, Petach-Tikwa und Wadi Chanin teil, in der sie sich heftig über ihre Lage beklagten. Leider sind Simmeis Reaktionen oder mögliche Hilfsangebote an die Siedler nicht überliefert.128 Für Chaim Chissin war der Besuch Simmels vor allem mit der Hoffnung verbunden, durch ihn finanzkräftige deutsche Juden für die Kolonisation zu begeistern und so die Krise der Siedlung zu überwinden.12' Simmel traute er also großen Einfluß in Deutschland zu, allein sein positiver Bericht würde den Kolonisten neue Geldmittel erschließen. Die Reaktionen der Kolonisten vor und während Simmels Besuch in Palästina zeigen deutlich, welcher Wertschätzung er sich in den Kolonien erfreute.130 Die Hoffnungen, die in ihn gesetzt wurden, waren die Hoffnungen auf die Hilfe aus Deutschland. 1882 bereits war Josef Feinberg mit dieser Erwartung nach Deutschland gegangen und wurde bitter enttäuscht. Fünf jahre später hatte sich daran nichts geändert. Noch immer hielten die Kolonisten am Bild der finanzkräftigen Juden aus Deutschland fest, die eigentlich nur einen positiven Bericht über die Kolonien benötigten, um dann mit allen ihren Möglichkeiten in den Kolonien tätig zu werden. Dies wurde 1887 sicherlich auch durch die Konflikte mit der harschen französischen Verwaltung genährt, der es nicht gelungen war, den Idealimus der Kolonisten mit den Interessen Rothschilds in Einklang zu bringen. Das Resultat waren Aufstände wie der im Jahr 1887, in den Simmel hineinge-
128 Beikind nennt aus der Versammlung nur ein eher anekdotisch anmutendes Ereignis: Da auch einige Frauen an der Versammlung teilnahmen, und dies Simmel sehr überraschte, rief er ihnen zu: „Frauen in die Küche" (Ubersetzung aus dem Jiddischen).Vgl. Beikind, 1917, S. 110. 129 In der englischen Ubersetzung des Tagebuchs heißt es wörtlich: „Rumours abounded that if his report were favorable many wealthy German Jews would contribute large sums to Jewish settlements." Vgl. Chissin, 1976, S. 238, Tb v. 21.3.1887. Chissins Schilderung der Ereignisse deckt sich im übrigen in einigen Passagen nicht mit dem Bericht Beikinds. Der gravierendste Unterschied ist, daß Chissin schreibt, Simmel habe Rischon le-Zion nie betreten, da er zu sehr von dem Aufbegehren der Siedler geschockt gewesen sei. Vgl. Chissin, 1976, S. 238f, Tb v. 21.3.1887. Diese Angabe findet sich aber nur bei Chissin; Freimann und Hurwitz dagegen erwähnen dies nicht. 130 Welcher Wertschätzung sich Simmel bei den Kolonisten erfreute, läßt sich auch an zwei Besuchern im Mai 1887 in Berlin ablesen. Auf ihrer Rückreise von Paris nach Palästina machten die Rischon le-Zion Siedler Nimzowitsch und Papiermeister in Berlin Station und suchten Simmel aufj um auch mit ihm die Probleme der Kolonie zu besprechen. Vgl. Simmel an Hirsch, 6.5.1887, ZZA, J41/56.
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riet. Die Hoffnungen waren also die gleichen geblieben, das Ergebnis allerdings auch, denn die erwartete Hilfe aus Deutschland blieb aus. Nach eigenem Bekunden trat Simmel nach seinem Besuch der Siedlungen verstärkt für die Kolonisation Palästinas ein,131 so rief er nach seiner Reise jedes Mitglied des Bnei Brith in Deutschland dazu auf, einen Beitrag von 20 Pfennigen für Palästina zu spenden.132 Doch vielleicht hatten ihn die Ereignisse 1887 in Rischon le-Zion stärker beeinflußt, als es zunächst den Anschein hatte. Simmel blieb zwar interessiert, aktiv wurde er aber nicht mehr für den Montefiore-Verband, sondern trat in den 1888 unter der Ägide von Esriel Hildesheimer gegründeten Verein „Lemaan Zion" (hebr. „Für Zion") ein, der sich um die Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Juden Palästinas bemühte. Doch tat der Verein dies hauptsächlich für die Handwerker in den Städten und war außerdem im Bereich der medizinischen Versorgung aktiv.133 Simmeis Arbeit für den Verein ist aus den vorliegenden Quellen nicht exakt zu spezifizieren, er wird aber nach seinem Tod 1893 in einem Artikel über den „Lemaan Zion" als einer der „most energetic supporters"134 des Vereins bezeichnet. Für die Jahre 1888 bis 1893 gibt es nur sehr spärliche Hinweise über Simmeis Aktivitäten. Seine Tätigkeit im „Lemaan Zion" war eine davon. Die Kontakte mit Max Bodenheimer zeigen zumindest sein noch vorhandenes Interesse an den Ideen der-Chowewe Zion.135 Daneben hatte Simmel aber auch noch Verbindungen nach Rußland, so ist ein Besuch in Kowno im Jahre 1891 bezeugt, bei dem er auch mit Rabbinowitz zusammentraf136 Außer diesen Hinweisen bleiben seine Aktivitäten aber verborgen, aus dem enthusiastischen Arbeiter für den Montefiore-Verband schien in seinen letzten Lebensjahren ein stiller Förderer des „Lemaan Zion" geworden zu sein. Sigismund Simmel starb am 8.2.1893, seine Arbeit für die rus131 Vgl. Simmel an Max Bodenheimer, 21.8.1891, ZZA, A15/II 4. 132 Vgl. Jewish Chronicle", 30.12.1887. 133 Der Verein hatte zunächst einige Erfolge in Palästina, so z.B. in Ramie und Gaza Doch das Beitragsaufkommen verringerte sich im Laufe der Jahre und ließ schließlich 1914 nur noch den Betrieb einer Apotheke in Jerusalem zu. Vgl. Reinharz, 1981, (Statuten des Vereins „Lemaan Zion"), S. 17£ u. Eliav, 1970, 311-316. 134 „Chovevei Zion Quarterly", London, No. 6, Dezember 1893. 135 Die 1890er Jahre brachten ein neues Interesse an den Ideen der Chowewe Zion und damit auch neue Protagonisten. Leider verlieren sich Simmeis Spuren im Oktober 1891 bereits wieder. Vgl. Simmel an Bodenheimer, 14.10.1891 u. 28.10.1891, ZZA, A 1 5 / I I 4 . 136 Vgl. Rabbinowitz an Lois Unger, 21.6.1891, A 7 1 1 8 / 1 / 2 . In diesem Brief schreibt Rabbinowitz, daß er während des Besuchs Simmeis in Kowno mit diesem gesprochen und dabei von Ungers Interesse an Palästina gehört habe.
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sischen Flüchtlinge und fur den Orden Bnei Brith waren von großen Erfolgen gekrönt, seine Ideen für den Montefiore-Verband und die Kolonisation ließen sich im Deutschland der 1880er Jahre aber nicht verwirklichen.
4. Adolf Salvendi - Der Spendensammler Allen drei in diesem Kapitel bisher beschriebenen Personen war ein Phänomen gemeinsam. So sehr sie sich auch um Offentlicheit bemühten oder ihren Projekten Publizität verschaffen wollten, es gelang ihnen nicht, für eine längere Zeit die jüdisch-deutsche Gleichgültigkeit zu überwinden. Im Gegenteil, bereits in den 1890er Jahren waren diese Pioniere fast vergessen oder wurden von den neuen Verfechtern des Zionismus nicht als kompetent angesehen. Ganz anders verhielt es sich mit dem letzten der frühen Palästinapioniere, der hier vorgestellt wird, Rabbiner Dr. Adolf Salvendi. Er gehörte nicht nur zu den ersten Förderern der Kolonisation Palästinas ab 1882, sondern blieb auch in den 1890er Jahren eine hoch angesehene Persönlichkeit, deren Lebenswerk von seiten der Zionisten mit äußerstem Respekt begegnet wurde. Salvendi widmete sein Leben der Spendensammlung für notleidende Juden, für Institutionen der jüdischen Erziehung und Bildung sowie für die jüdischen Gemeinden in Palästina. Wohltätigkeit und Spendensammlung für Bedürftige ist in der jüdischen Religion eine fest verankerte Mizwa, Rabbiner Salvendi tat also eigentlich nichts Außergewöhnliches. Zwei Punkte waren jedoch bemerkenswert, die schließlich auch dazu führten, daß seine Tätigkeit weit über das Maß einer „normalen" Sammlung hinausging und ihm große Popularität in unterschiedlichsten Kreisen sicherte. Zunächst war es die Sammeltätigkeit für die jüdischen Kolonien in Palästina, und nicht nur für den Jischuw in den Städten. In den streng orthodoxen Kreisen, denen Salvendi sich zugehörig fühlte, war das durchaus keine Selbstverständlichkeit. Der zweite Punkt betraf die Publizierung der Sammeltätigkeit in einer speziell hierfür gegründeten Zeitungsbeilage. Die „Spendenverzeichnisse" wurden in kürzester Zeit in Deutschland zum Inbegriff der Geldsammlungen für jüdische Zwecke, und ihr Initiator, eigentlich in seiner Position eines Bezirksrabbiners nicht zwangsläufig zu den führenden Köpfen des deutschen Judentums gehörend, kam so mit den Spitzen verschiedener jüdischer Organisationen in Kontakt. Was führte Salvendi dazu, eine solche Sammeltätigkeit aufzunehmen, und wie entstand sein Engagement für Palästina?
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Adolf Salvendi (1837-1913), geboren im ungarischen Städtchen Vaguhely als 12. Sohn einer angesehenen Familie, wurde von seinen Eltern schon früh fur die Rabbinerlaufbahn bestimmt.137 Seine Studien Schloß er 1863 mit dem Rabbinerdiplom und dem Doktorgrad der philosophischen Fakultät an der Universität Breslau ab. Seine erste Rabbinerstelle führte ihn in die westpreußische Gemeinde Berent. Ab 1867 fungierte er als Bezirksrabbiner in Bad Dürkheim (Baden), wo ihm 38 Gemeinden unterstanden. Diese Position bekleidete er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1909. Salvendi galt als streng orthodoxer Rabbiner, der sich vehement gegen den Einfluß eines extremen Reformjudentums zur Wehr setzte, was ihm wiederum die lebenslange Feindschaft der Reformkräfte einbrachte.138 Als Schlüsseljahr für Salvendis weitere Tätigkeit kann 1868 angesehen werden. In diesem Jahr kam es zu einer Hungersnot in Ostpreußen, und Salvendi rief in seinem Dürkheimer Bezirk zu Spenden für die Hungernden auf!13' Aus dieser Zeit rührte aller Wahrscheinlichkeit nach die Bekanntschaft mit Isaak Rülfj den Salvendi 1884 als „Freund und Lehrmeister seit fast 20 Jahren" anredete.140 Auch Isaak Rülf setzte sich für die Opfer der Hungersnot in Ostpreußen und den Gebieten jenseits der russischen Grenze ein, und er schien mit seinem erfolgreichen Konzept einer über die Grenzen seiner Heimatgemeinde hinausgehenden Spenden- und Hilfstätigkeit für notleidende Juden auf seinen sechs Jahre jüngeren Rabbinerkollegen nicht ohne Einfluß geblieben zu sein, denn 1872 wandte sich Salvendi aufgrund einer Hungersnot in Persien nicht nur an die Gemeinden seines Bezirks, sondern verschickte ebenfalls Spendenaufrufe an jüdische Gemeinden in ganz Deutschland.141 Diese Aufrufe waren dann auch wesendich erfolgreicher als der nur lokal gefaßte Aufruf vier Jahre zuvor, was Salvendi dazu bewegte, angesichts einer Hungersnot in Palästina 1877 wieder auf die Methode eines landesweiten Spendenaufrufs zurückzugreifen.142
137 Zur Biographie vgl. Artikel „Salvendi, Adolf, in: EJ, 14:716 u. Hugo Salvendi, Rabbiner Dr. Adolf Salvendi, in: „Spendenverzeichnisse", No. 1099, 22.1.1914. Hugo Salvendi, Sohn des Rabbiners, berichtete in diesem Nachruf über eine Ermahnung seines Urgroßvaters mütterlicherseits, eines berühmten Kabbalisten, an seine Großeltern, ihren Sohn Adolf im „Zelt der Thora" zu halten, was diese als prophetischen Wunsch deuteten, ihren Sohn den Rabbinerberuf erlernen zu lassen. 138 Vgl. Breuer, 1986, S. 220; EJ, 14:716 u. Eliav, 1970, S. 73. 139 Vgl. H. Salvendi, in: „Spendenverzeichnisse", No. 1099, 22.1.1914. 140 Vgl. Salvendi an Rülf 11.2.1884, ZZA, Al/VI/1/22. 141 Vgl. H. Salvendi, in: „Spendenverzeichnisse", No. 1099,22.1.1914. 142 Ebd. Daß sich Salvendi aber nicht nur für die Bekämpfung von Hungersnöten einsetzte, zeigt ein Brief an Rülf aus dem Jahre 1874, in dem sich Salvendi fur drei
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Die Gelder gingen so zahlreich ein, ein deutliches Zeugnis fiir die philanthropische Hilfsbereitschaft der deutschen Juden, daß sich der Rabbiner veranlaßt sah, eine Art Verzeichnis über die erhaltenen Spenden zu veröffentlichen. Am 31.7.1877 erschien die erste Ausgabe des Verzeichnisses unter dem Titel „Erster Rechenschaftsbericht über die zur Linderung der Hungersnot in Palästina eingegangenen Spenden". Es blieb nicht bei dieser einen Ausgabe, und die in „Spendenverzeichnisse" umbenannte Beilage entwickelte sich schnell zur regelmäßig erscheinenden Publikation.143 Sie wurde verschiedenen jüdischen Zeitungen in Deutschland kostenlos beigelegt, u.a. dem „Israelii", der .Jüdischen Presse" und der „Israelitischen Wochenschrift".144 Mit den Pogromen 1881 in Rußland und den ersten Koloniegründungen in Palästina gewannen die „Spendenverzeichnisse" eine neue Qualität und verlagerten ihren Schwerpunkt. Denn Salvendi begann sich in seinem ganzen Engagement der Kolonisationsidee zuzuwenden,145 vielleicht wieder beeinflußt von Isaak Rülf und erweiterte seine Verzeichnisse über Rechtfertigung und öffendiche Darlegung der bei ihm eingegangenen Gelder hinaus in ein Verbreitungsorgan der Palästinabesiedlung in dem Bewußtsein: „(...) daß meine Blätter die einzigen in Deutschland sind, die, weil sie allen (Unterstreichung i.O.) gelesenen Zeitungen beiliegen, der Idee der Colonisation am meißten förderlich sein können."146 Seinen Freund Rülf forderte er auf die „Spendenverzeichnisse" „(...) zum Organ Ihrer Publicationen, die Colonisation Palästinas betreffend, machen zu wollen!"147 Um seinem Anspruch gerecht zu werden, veröffentlichte Salvendi fortlaufend Artikel, die sich in irgendeiner Weise mit der Kolonisation beschäftigten. Er publizierte Übersetzungen aus den verschiedenen hebräi-
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Waisenkinder verwendet und Rülf um Mithilfe in dieser speziellen Sache bittet. Vgl. Salvendi an Rülf 9.3.1874, ZZA, A l / W l / 2 2 . Ihr Erscheinungsrythmus schwankte zwischen 1877 und 1913 erheblich. So erschienen die Verzeichnisse z.B. im September 1882 in einem dreitägigen Rythmus, während es in anderen Jahren bis zu vierwöchige Unterbrechungen gab. Der technische Ablauf wie er sich im Laufe der Jahre schließlich eingespielt hatte, wird von Loewe beschrieben: „Die Verzeichnisse wurden in großen Paketen den Redaktionen, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Höhe ihrer Auflage mitteilten, zugeschickt und von ihnen ihren Nummern beigelegt." Loewe, Sichronoth, Im Verein „Esra", S. 18, ZZA A146/6/5. „Mein ganzes Herz hängt an der Colonisation." Salvendi an Pineles, 9.10.1882, ZZA, A144/11/7. Salvendi an Pineles, 7.3.1882, ZZA, A144/11/7. Salvendi an Rülf (o.D., einzuordnen zwischen Februar und Mai 1882), ZZA, Al/VI/1/22.
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sehen Zeitungen, forderte immer wieder von den entsprechenden Organisationen Berichte über ihre Arbeit für und in Palästina an, brachte Nachrichten aus den Kolonien, schuf durch die Verzeichnisse ein Forum für die Mitteilungen des Central-Comites in Galatz, ließ Palästinareisende ihre Erfahrungen und Ratschläge in Artikelform veröffentlichen und warb unermüdlich um Spenden für die Kolonien in Palästina. Besonders die verschiedenen Artikel und Aufsätze über Kolonisationsvorhaben und das Schicksal der bereits bestehenden Kolonien machten die „Spendenverzeichnisse" in kürzester Zeit zu einer der wichtigsten Informationsquellen für Palästinaangelegenheiten.148 Diese Stellung behielt die Beilage auch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bei. Im Zuge seiner Tätigkeit für die „Spendenverzeichnisse" wurde auch Salvendi selbst zu einem wichtigen Ansprechpartner fur die Kolonisationsvereine und Chowewe Zion in Osteuropa. So wußte das Galatzer Central-Comite bereits 1883 Salvendis Einsatz zu würdigen und erkannte, daß auch in ihm als Person ein starker Fürsprecher zu finden war. Salvendi war Mitglied der AIU und versprach, in dieser Funktion ebenfalls den rumänischen Juden zu helfen. Die Galatzer sandten schließlich Karpel Lippe, Mitglied des Central-Comites, nach Bad Dürkheim, um sich der weiteren Unterstützung Salvendis zu versichern, was ihnen zumindest im Bereich der Pressepublikationen auch gelang, denn die „Spendenverzeichnisse" fungierten weiter fast als eine Art Sprachrohr für die rumänischen Chowewe Zion. Die vollständige Unterstützung der rumänischen Kolonie durch die AIU konnte Salvendi allerdings nicht erreichen.149 Die Teilnehmer der Kattowitzer Konferenz 1884 sahen in Salvendi ebenfalls eine wichtige Person für die Verbreitung ihrer Ideen in Deutschland. Sie dankten ihm brieflich für seine bisher geleistete Arbeit, forderten ihn zur Mitarbeit im Montefiore-Verband auf und ernannten ihn noch auf der letzten Sitzung in Kattowitz zum Ehrenmitglied des Zentralkomitees.150 Doch Salvendis Ideen und seine Arbeit stießen nicht nur auf Zustimmung. Sein Vorschlag, bereits 1884 mit der Gründung weiterer Kolonien zu beginnen, wurde von Sigismund Simmel rigoros abgelehnt: „(...) dies hieße, wenn man ein Haus bauen wolle, zuerst die Fenster einsetzen (...)
148 Auch Heinrich Loewe zog seine ersten Informationen und Anregungen über Palästina nach eigener Aussage zu einem großen Teil aus den Spendenverzeichnissen. Vgl. Loewe, Sichronoth, Judentum in Magdeburg, S. 19, ZZA, A146/6/2. 149 Vgl. Galatzer Central-Comite, September 1883, S. 17£ 150 Vgl. Gelber, 1919, S. 20 u.32.
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dann schütten wir das Kind mit dem Bade aus."151 Für Simmel war es nicht verwunderlich, daß ein solcher Vorschlag von einem Rabbiner kam, die er im allgemeinen für äußerst unerfahren in praktischen Dingen hielt. So tat er auch Salvendi als reinen Theoretiker ab, auf dessen Vorschläge nicht eingegangen werden solle, da sie nur Schaden für die Kolonisation brächten.152 Diese Auseinandersetzung bewegte sich aber noch im Rahmen einer Suche nach der bestmöglichen Lösung für die jüdischen Kolonien, für die nach Palästina eingewanderten Juden sowie die einwanderungswilligen Juden aus Osteuropa. Sehr viel schärfere und unberechtigtere Kritik erfuhr Salvendi 1887 von der Zeitschrift „Serubabel", die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die „Palästinafrage ihrer Lösung näher zu bringen."153 Salvendis Anspruch, für alle Zweige der jüdischen Wohltätigkeit sich einzusetzen und seine „Spendenverzeichnisse" zur Verfugung zu stellen, hatten ihn auch mit den Chalukkasammlern in Amsterdam in Kontakt gebracht. Für diese sammelte er ebenfalls Gelder und veröffentlichte die Namen der Spender in seinen Verzeichnissen. Die Einzigartigkeit der Verzeichnisse und Salvendis unermüdliches Bemühen um jüdische Wohltätigkeit hatten ihm auch dabei eine exponierte Stellung erreichen lassen.154 1887 griff nun der „Serubabel" Salvendi in seiner Position als Sammler der Chalukkagelder massiv an. Zwar wurde ihm sein Bemühen um die jüdische Wohltätigkeit zugute gehalten, doch diese Chalukkagelder seien eben nicht für produktive Zwecke in Palästina gedacht und würden daher die Juden in Palästina nicht vom Status der „ewigen Almosenempfanger"155 befreien. Salvendi wurde als Sinnbild der unproduktiven Wohltätigkeit scharf kritisiert. Einerseits sei er loyal und vertrauenswürdig, andererseits werde er aber doch als Schutzschild deijenigen mißbraucht, die mit den Chalukkaspenden eine Mizwa erfüllen wollten, die sie von allen weiteren Gedanken über die jüdische Bevölkerung in Palästina und auch speziell über den sich neu entwickelnden Jischuw befreie. Der Artikel kulminierte in dem Aufruf, Spenden für Kolonisationszwecke an einen der neuen Ko151 Simmel an Pinsker, 10.12.1884, in: Druyanow III, Dok. 1219, S. 643. Aus den Quellen läßt sich nicht entnehmen, ob Salvendi diesen Vorschlag in einem Zeitungsartikel oder anderweitig gemacht hat. Ein persönliches Gespräch zwischen Simmel und Salvendi erscheint aber ausgeschlossen. 152 Vgl. Simmel an Pinsker, 10.12.1884, Druyanow III, Dok. 1219, S. 643. 153 „Serubabel" Werbebroschüre inkl. Zielsetzung der Zeitschrift, September 1886, ZZA, 4520. Vgl. Kap. XI, Abschnitt „Serubabel". 154 Vgl. Britschgi-Schimmer, (1938), S. 16f„ ZZA, A125/117. 155 „Serubabel", Nr. 11,1887, S. 87.
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lonisationsvereine, z.B. den Esra, zu senden,156 was nicht verwundert, waren doch die Herausgeber des Serubabel führende Mitglieder des Esra. Die Kritik läßt sich nun in zwei Bereiche gliedern. Zum einen sind es die Chalukkagelder, die völlig zu Recht als in hohem Maße unproduktiv angegriffen werden. Zum anderen ist es aber auch die Kritik an Salvendi, der hier nach Einschätzung der bisher dargestellten Quellenlage unberechtigt negativ beurteilt und als Sinnbild des eigentlich verantwortungslosen Chalukkasammlers angeprangert wird. Die Reduzierung seiner Arbeit auf den Bereich der Chalukka ist ein Verkennen seiner Absichten und auch ein, vielleicht bewußtes, Falschlesen seiner „Spendenverzeichnisse". Ohne Zweifel ist es richtig, daß es auch Salvendi bis 1887 nicht gelungen war, das deutsche Judentum für die Kolonisation zu begeistern und hier eine ideelle sowie materielle Grundlage für die Siedlungen zu schaffen. Doch ist das nicht Salvendis Arbeit für die Chalukka anzulasten, vielmehr erklärt der „Serubabel" diese Erscheinung selbst, freilich in sehr polemischer Weise, mit Gleichgültigkeit und fehlendem persönlichem Engagement der deutschen Juden in der Frage der Kolonisation in Palästina.157 Im Übrigen wird die These, Salvendi habe sich nur auf die Chalukkasammlungen konzentriert, durch sein Engagement für die Kolonie Gedera widerlegt. Dabei stellt sich die Frage, wieso sein Bemühen ausgerechnet Gedera galt, einer Kolonie, die von den Biluim gegründet wurde und eigentlich aufgrund sozialistischen Anspruchs nicht in das orthodoxe Konzept Salvendis passen konnte. Ein Blick in die „Spendenverzeichnisse" zeigt aber, daß dort bereits am 21.3 1883 der Brief eines Mitglieds der Biluim veröffentlicht wurde.158 Wie bereits beschrieben,159 war J.M. Pines Ende 1883/Anfang 1884 für die Biluim in Palästina eingetreten und hatte sich um Unterstützung der Gruppe, aber auch um Landkauf für die Gründung einer Kolonie bemüht. Bei der finanziellen Förderung seiner Bemühungen
156 Ebd., S. 87f 157 „Weshalb denken die deutschen Juden so wenig an den jüdischen Ackerbau und ermüden nimmer, ihre Spenden in den unersättlichen Schlund der Chalukah zu werfen? Die Antwort ist sehr einfach. Die meisten Leute denken überhaupt sehr wenig. Sie geben nicht etwa, um Resultate dadurch zu erzielen, sondern um dem Bedürfnisse, Wohltätigkeit zu üben, genüge zu thun (...)". „Serubabel", Nr. 11, 1887, S. 87. 158 Es handelte sich um einen Brief A.L. Kornfelds, der ursprünglich an den „Emigrant" geschrieben hatte, um rumänische Juden fur die Kolonisation zu werben. Vgl. „Spendenverzeichnisse", No. 58, 21.3.1883, S. 102f 159 Vgl. Kap. VI, Abschnitt „Die Bilu-Gruppe".
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tat sich der Warschauer Chowewe Zion-Verein besonders hervor.160 Dieser Verein hatte zu Beginn des Jahres 1884 einen Vertrauensmann in Deutschland gesucht, der die Spenden und Beiträge einsammeln und nach Palästina, u.a. also auch an Pines, weiterleiten sollte.161 Salvendi wurde schließlich dieser Vertrauensmann und knüpfte so engere Kontakte zu Pines, der ihm mit seiner ebenfalls orthodoxen Einstellung zweifellos entgegenkam.162 Erstes offensichtliches Resultat dieser Kontakte war die Aufnahme des Vereins „Bilu" in die Spendenrubriken der Verzeichnisse am 3.7.1884.163 Salvendi beließ es aber nicht bei der Tätigkeit als Vertrauensmann der Warschauer Chowewe Zion und der Einrichtung einer Spendenrubrik. 1888 veröffentlichte er eine 20 Seiten umfassende Broschüre mit dem Titel „Zur Geschichte der Kolonie Gedera", die detailliert Gründung und Ereignisse der ersten Jahre in der Kolonie schilderte.164 Aus dem Titelblatt der Broschüre geht aber nicht eindeutig hervor, ob Salvendi selbst als Autor verantwortlich zeichnete oder ob sie jemand in Palästina verfaßt hatte.165 Den vorliegenden Quellen zufolge war Salvendi selbst nie nach Palästina gereist, was also eine Untersuchung der Geschichte der Kolonie vor Ort ausschließt. Die Broschüre bestätigt aber zumindest Salvendis Einsatz für die Kolonie. Das Ziel der Veröffentlichung war es, die Geschichte der Kolonie im deutschen Sprachraum detailliert und positiv darzustellen, um damit die Bereitschaft zu Spenden speziell für die Kolonien zu wecken. Ein Ansin-
160 Dies bleibt auch nach der Gründung der Kolonie Gedera der Fall, wie ein Bericht aus der Kolonie zeigt: „(...) noch sind unsere Vorräte nicht erschöpft und schon werden wir aufs Neue von unseren Warschauer Glaubensbrüdern unterstützt." Vgl. „Spendenverzeichnisse", No. 118, 30.7.1885. 161 Das geht aus einem Brief Salvendis an Isaak Rülf hervor, in dem sich er sich fvir die „gütige Auskunft" über ihn nach Warschau bedankt. Vgl. Salvendi an Rülfj 13.3.1884, ZZA, Al/VI/1/22. 162 In den „Spendenverzeichnissen" finden sich die Auflistungen der eingegangenen Gelder aus Warschau und der Geldsendungen an Pines. Zum Beispiel „Spendenverzeichnisse", No. 101, 11.12.1884, S. 44 u. „Der Colonist", Nr. 23, 6.6.1884, Rubrik: „Vereinsnachrichten". 163 Vgl. „Spendenverzeichnisse", No. 90, 3.7.1884. 164 Zur Untermauerung der wahrheitsgetreuen Darstellung wurden am Ende der Broschüre zwei Gutachten beigefugt, die die Richtigkeit der Angaben bestätigten. Unterschrieben waren sie von Samuel Hirsch, Direktor in Mikweh Israel, und Pines als Vorsteher der Kolonie. 165 Der Text des Titelblattes lautet: „Zur Geschichte der Kolonie Gedera. SeparatAbdruck aus dem XIII. Jahrgang der „Spendenverzeichnisse", herausgegeben von Dr. Adolf Salvendi, Bezirksrabbiner in Dürckheim a.d.H. Mainz (...) 1888."
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nen, das nicht realisiert werden konnte, dem es nicht anders erging als den vorangegangenen Bemühungen auf diesem Gebiet. Die deutschen Juden waren an der Kolonisation kaum interessiert. Um es mit der Zeitschrift „Serubaber zu sagen, die meisten dachten zu wenig.166 Briefe verschiedener Autoren aus Palästina und Deutschland weisen ein Engagement Salvendis für Gedera gesichert noch bis in das Jahr 1895 nach.167 Bereits 1888 wurde er außerdem Mitglied im Verein „Lemaan Zion", ein weiteres Zeichen fur seine Verbundenheit mit Palästina, nicht nur auf dem Gebiet einer chalukkaabhängigen, unproduktiven Philanthropie. Seine Arbeit für Palästina hatte sich Mitte der 1890er Jahre bis in die Kreise der frühen Zionisten in Deutschland herumgesprochen. So wurde Salvendi 1897 von Max Bodenheimer zu dem im Juli in Bingen stattfindenden Delegiertentag der „National-Jüdischen Vereinigung" eingeladen.168 Der Dürkheimer Rabbiner folgte der Einladung zwar nicht, unterstrich aber seine Sympathie für die jungen Zionisten mit einer „zustimmenden Zuschrift."169 Trotzdem blieb aber auch Salvendi das Schicksal seiner Zeitgenossen Lachmann, Hamburger und Simmel nicht erspart. Zwar war sein Erfolg auf populär-publizistischer Ebene in der Öffentlichkeit weitaus größer als der der drei anderen Palästinafreunde, eine breite Basis für die Siedler der Ersten Alija konnte aber auch er im deutschen Judentum nicht schaffen, wenn er auch gewisse materielle Erfolge zu verzeichnen hatte. Seine „Spendenverzeichnisse" blieben bis zu seinem Tod 1913 eine ungewöhnliche Art des journalistischen Umgangs mit der Forderung nach Wohltätigkeit, die mit Sachinformationen und der Popularisierung der Chowewe Zion Ideen verknüpft wurde. Betrachtet man die Biographien und Wirkungsbereiche der vier Palästinaförderer, fallt zunächst auf daß alle dem orthodoxen Milieu entstammten. Sie waren also nicht Anhänger einer wie auch immer ausgerichteten Reformbewegung, auch jedwede Annäherung an sozialistisches Gedankengut war ihnen fremd. Außerdem gehörten sie nicht zu den Vertretern eines neuen säkularen Nationalismus, die Tradition orthodoxer „Frühzionisten" setzte sich hier fort. Dann allerdings enden die Gemeinsamkeiten. Alle vier versuchten auf höchst unterschiedliche Weise, den
166 Vgl. „Serubabel", Nr. 11,1887, S. 87 und Fußnote 157. 167 Z.B. vgl. Pines an Niego, 16.2.1892, ZZA, J41/204 u. Salvendi an Nathan Birnbaum, 12.8.1895, ZZA, A188/9/10. 168 Vgl. Bodenheimer an Salvendi, 5.7.1897, ZZA, A15/I8a. 169 Vgl. Correspondenz No. 3 der National-Jüdischen Vereinigung fiir Deutschland.
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Ideen der Chowewe Zion und damit der Kolonisation Palästinas zu dienen. Emil Lachmann kaufte ein Grundstück in einer Kolonie und wollte dort ökonomische Fortschritte erzielen. Leopold Hamburger arbeitete hauptsächlich im Bereich des Handels, den er für Waren aus den Kolonien zu öffiien versuchte. Sigismund Simmel hingegen war der „Politiker" dieser Chowewe Zion, sein Bestreben war die Errichtung einer Zentrale des Montefiore-Verbandes in Berlin, um so die deutschen Juden zur Hilfe für die Kolonien bewegen zu können. Adolf Salvendi, der Rabbiner unter ihnen, schließlich sammelte Spenden für die Kolonien und mühte sich publizistisch um Verbreitung des Chowewe Zion-Gedankens. Trotz des orthodoxen Hintergrundes der vier Personen, ein Hintergrund, der im deutschen Judentum nicht den Anschein von Obskurität oder suspekten Interessen erweckte - oder war gerade dies das Problem der liberalen Juden? -, blieben alle Versuche, legt man die am Beginn dieses Kapitels aufgestellten Kriterien der „Wirksamkeit" und „öffentlichen Meinung" zugrunde, letztlich erfolglos. Den deutschen Juden wurden vier gänzlich unterschiedliche Möglichkeiten angeboten, sich in Palästina zu engagieren, sie hatten die Wahl, ob sie z.B. eher dem ökonomisch-pragmatischen Weg des Leopold Hamburgers folgen wollten oder sich zuerst in einem mehr politisch-organistorischen Verband, repräsentiert durch Sigismund Simmel, einzubringen gedachten. Die Bandbreite des Angebots war groß, die Ablehnung trotzdem deutlich. Assimilation gab es, nach Meinung der meisten deutschen Juden, eben doch nur, wenn im Zuge der Akkulturation gewisse jüdische Traditionen beibehalten, auf alle Gedanken an ein jüdisches Volk aber verzichtet wurde. Kolonien in Palästina waren nun gerade kein Projekt, das der Assimilation nützlich sein konnte, zu sehr stand es im Verdacht nationalstaatlicher Bestrebungen, zu sehr fürchtete man die Reaktion der Antisemiten. Aber die Arbeit der Herren Lachmann, Hamburger, Simmel und Salvendi sollte schließlich doch nicht völlig vergebens gewesen sein, wie die Entwicklung in den nächsten Jahren in Deutschland zeigen sollte. Zunächst wird dazu ein Blick auf die deutsch-jüdische Presselandschaft geworfen. In den 1880er Jahren wurden drei Zeitungen gegründet, die sich explizit mit der Kolonisation befaßten. Konnte dies, betrachtete man die „Spendenverzeichnisse", nicht ein erfolgversprechender Ansatz sein? Sollte man nicht versuchen, über Zeitungen die Kolonisationsidee der Masse der deutschen Juden bekannt zu machen und nahezubringen?
XI. Drei Zeitschriften zur Propagierung der Kolonisation in den 1880er Jahren
Um die jüdische Welt über die Ereignisse in Palästina zu informieren und gleichzeitig die Situation in Osteuropa darzustellen, wurden im Laufe der 1880er Jahre verschiedene Zeitschriften gegründet. Sie richteten sich zum einen an die Juden in Osteuropa, zum anderen, und dies war aufgrund der materiellen Nöte der Kolonien noch wichtiger, an die westeuropäischen Juden. Entsprechend ihren jeweiligen Zielgruppen wurden diese Zeitschriften entweder in hebräischer, jiddischer, russischer oder deutscher Sprache verlegt. Eines dieser Journale waren die „Spendenverzeichnisse" des Rabbiners Adolf Salvendi, die bereits vorgestellt wurden. Im Folgenden werden nun drei weitere Zeitschriften herausgegriffen, die besonders das deutsche Judentum erreichen sollten. Es sind dies „Der Emigrant", „Der Colonist"1 und „Serubabel".
1. Der Emigrant Mit der Arbeit Eleazar Rokachs in Rumänien erlebten die dortigen Chowewe Zion einen ungeahnten Aufschwung.2 Rokach gründete in Rumänien zur Fundierung seiner Tätigkeit für die Kolonisation drei Zeitungen, die hebräische „Emek Israel" 1882 in Jassy, die jiddische „Die Hoffnung" 1882 in Piatra - beide existierten nur kurze Zeit - und das jiddische Journal „Der Emigrant".3 „Der Emigrant" wurde als Nachfolger der „Hoffnung" gestaltet
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Es muß darauf hingewiesen werden, daß zu Beginn der 1880er Jahre in Rumänien noch eine andere Zeitung mit dem Titel „Der Kolonist" erschien, die aber mit der hier behandelten Zeitschrift nur den Titel gemeinsam hat Vgl. Klausner, 1958, S. 64; Lippe an Pineles, 5.12.1881, ZZA, A144/4/6 u. Lippe an Pineles, 18/30.9.1883, ZZA, A144/4/6. Zur Biographie Rokachs vgl. Kap. IV, Abschnitt „Gai Oni und Petach Tikwa Zwei weitere Versuche zur Gründung ländlicher Kolonien"; Klausner, 1958, Index „Rokach" u. „Serubabel", Nr. 3,1886, S. 27. Trotz aller Bemühungen ist es nicht gelungen, ein Originalexemplar der Zeitschrift zu finden. Nach Auskunft von Sara Palmor (Bibliothekarin im ZZA) scheinen auch in Rumänien keine Ausgaben mehr zu existieren. Informationen über den „Emigrant" sind daher dem Buch von Klausner, 1958, entnommen und den übersetzten Artikeln in den „Spendenverzeichnissen".
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und erschien das erste Mal am 29. April 1882 in Galatz. Was Rokach mit dem „Emigrant" erreichen wollte, ließ sich am vollständigen Titel ablesen: „Der Emigrant, Organ fur Jischuw Erez Israel, befördert jüdische Interessen. Unter Kontrolle des Zentral Komitees".4 Die Zeitung mußte, um von der jüdischen Bevölkerung in Rumänien gelesen und angenommen zu werden, selbstverständlich in der Sprache erscheinen, die den rumänischen Juden am vertrautesten war, in Jiddisch. Sie verbreitete die Mitteilungen des Zentralkomitees, nahm dazu allgemeine Nachrichten aus der jüdischen Welt auf, sah aber ihre Hauptaufgabe in der Propagierung der Kolonisation. „Der Emigrant" erwarb sich schnell den Ruf eines zuverlässigen Organs und einer wichtigen Informationsquelle über die Ereignisse in den rumänischen Chibbat Zion-Vereinen. Andere Publikationen außerhalb Rumäniens, die sich ebenfalls diesem Themenkreis widmeten, übernahmen daher Artikel aus dem „Emigrant", z.B. die hebräischen Zeitschriften „Ha-Maggid" und „Chavzelet" sowie der russische „Razvet".5 Seinen Weg nach Deutschland fand der „Emigrant" dann durch Adolf Salvendi, der fast in jeder Ausgabe der „Spendenverzeichnisse" vom 13.7.1882 bis zum 21.3.1883 Mitteilungen des Galatzer Zentralkomitees, Artikel über die Tätigkeit der Chowewe Zion in Rumänien und vor allem Berichte aus Palästina bzw. über die jüdischen Kolonien veröffentlichte, die sämtlich Übersetzungen aus dem „Emigrant" waren. Darunter befanden sich eine Besprechung des Niederlassungsgesetzes in der Türkei (veröffentlicht in: „Spendenverzeichnisse" Nr. 43, 10.8.1882), Berichte über die Landkäufe, (Nr. 45, 14.9.1882), der Brief eines Kolonisten aus der Kolonie Samarin (Nr. 53, 3.1.1883) und das Schreiben des Bilu-Mitglieds Kornfeld (Nr. 58, 21.3.1883), der über den „Emigrant" versuchte, rumänische Juden für die Kolonien zu werben. Für Salvendis Absicht, mit den „Spendenverzeichnissen" neben der Darlegung der Spendenlisten auch Werbung für die Kolonien zu betreiben, wurde der „Emigrant" ein unverzichtbares Medium. Rokachs Journal war, schließt man von den in den „Spendenverzeichnissen" veröffentlichten Artikeln auf den Tenor der ganzen Zeitschrift, in einem positiven, optimistischen Ton gehalten. Die ländliche Kolonisation in Palästina wurde als einzige Problemlösung für die Juden Rumäniens gepriesen, und dies in einer unkritischen Weise, wie sie nur in Situationen zu
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Klausner, 1958, S. 163 (Übersetzung aus dem Jiddischen). Vgl. ebd., 1958, S. 163.
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beobachten ist, die man schlagwortartig als „Aufbruchstimmung" bezeichnen kann. Und eine solche Stimmung herrschte zweifellos, denn die Kolonien symbolisierten den Aufbruch in eine bessere Zeit, und dies übertrug Rokach auf sein Journal. Solche Gefühle oder Ansichten über die Kolonien standen aber im krassen Gegensatz zur rational kalkulierenden Einstellung der meisten Juden in Deutschland. Sie waren auf ein solches Unterfangen nicht vorbereitet, und vor allem nicht bereit, etwas von dieser großen Sympathie fur Palästina als konkretes Ereignis und nicht nur als mythisch verklärten Ort zu übernehmen. Salvendi bot sich mit den Artikeln aus Rumänien nun die Möglichkeit, in seinen „Spendenverzeichnissen" ein Gegengewicht zu den rein ökonomischen Fragestellungen und Diskussionen zu schaffen. Die Übernahme der Artikel aus dem „Emigrant" sollte auch in Deutschland eine ähnliche Begeisterung schaffen, wie sie augenscheinlich in Rumänien herrschte. Um nun aber in Deutschland auf diese Stimmung und Atmosphäre im Judentum nachhaltig einwirken zu können, war die Zeitschrift zu kurzlebig. Rokach war ein unsteter Idealist, ihn hielt es nicht lange in Galatz. Schon zu Beginn des Jahres 1883 verließ er Rumänien und zog weiter nach Galizien.6 „Der Emigrant" verlor damit seinen Herausgeber und Spiritus rector und stellte sein Erscheinen ein. Obwohl die Zeitung eine wichtige Aufgabe erfüllt hatte, indem sie eine Art „Emigrantenzeitung" mit allen für diesen Bereich wichtigen Informationen schuf, blieb sie ohne direkten Nachfolger in Osteuropa.
2. Der Colonist Die Idee einer Zeitschrift mit Informationen über Palästinakolonisation wurde außer von Rokach in Rumänien fast zeitgleich auch in Kattowitz aufgegriffen. Die gleichen Männer, die den Kolonisationsverein 1882 ins Leben gerufen hatten und im November 1884 für die Organisation der Kattowitzer Konferenz verantwortlich zeichnen sollten, Moritz Moses und Seelig Freuthal (1841-1922), erkannten bereits im Jahr der Gründung des Vereins die Notwendigkeit einer journalistischen Bearbeitung des Projekts der Palästinakolonisation.7 Aber die bestehenden Zeitschriften genügten
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Vgl. ebd., 1958, S, 164. Freuthal hatte bereits vor seiner aktiven Arbeit fur den Kolonisationsverein versucht, die jüdische Jugend über die Herausgabe einer Jugendzeitschrift mit dem
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den Ansprüchen offensichtlich nicht, denn Moses, zu dieser Zeit der Vorsitzende des Kattowitzer Vereins, machte seinen Unmut über die deutschjüdischen Blätter bereits im März 1882 in einem Brief an Samuel Pineles in Galatz deutlich: „Unsere Deutsch-israelitischen Zeitungen bringen wohl ab und zu einige Nachrichten über dieses Project (die Kolonisation in Palästina, E.P.), aber Alles so unklar und nicht genügend präcisiert (...)."8 Um diesem Zustand abzuhelfen, wurde zunächst ein monatliches Vereinsjournal, die „Monats-Berichte", im September 1882 gegründet.' Die Ausrichtung dieses Journals wurde in der ersten Ausgabe im Leitartikel von Ruben Bierer in einem Satz zusammengefaßt: „(...) das Licht kommt von Zion."10 Verantwortlicher Reakteur für die „Monats-Berichte" war Seelig Freuthal, dessen Intentionen mit dieser Zeitschrift auf zwei Ebenen lagen. Zunächst wollte er den moralisch-ideologischen Unterbau für die Rechtmäßigkeit der Kolonisation auch nach halachischen Grundsätzen schaffen, um dann mit konkreten Fakten und Informationen zur Propagierung der Kolonisationsprojekte beizutragen. Diesen Vorstellungen entsprechend enthielten die „Monats-Berichte" Aufsätze u.a. über das Vorurteil, die Juden seien zur Landarbeit nicht geeignet. Dazu gab es Berichte aus den .Jischuw Erez Israel"-Vereinen, was in den Monats-Berichten Kolonisationsvereine meinte. Hauptsächlich aber publizierte Freuthal Informationen über die Auswanderungsbewegung und seine persönliche Ansicht über den hohen moralischen Wert der Kolonisation in Palästina, „Seelenadel"11 nannte er die Kolonisten. Aber nicht nur den verfolgten Juden sollte geholfen werden, sondern „(...) wir wollen nicht diesen allein, sondern dem Judenthum überhaupt eine Zufluchtstätte, einen wirklichen
Namen Joseph" zu erreichen und, wie er 1883 an Rülf schrieb, „(...) national zu erziehen". Freuthal fand nach eigener Aussage keine Unterstützung und wurde vor allem von den Rabbinern völlig ignoriert. Zwei Jahre setzte er sein Werk fort, dann mußte er aufgeben. Vgl. Freuthal an Rülf 4.11.1883, ZZA, A l / V I / 1 / 2 5 ; Loewe, Sichronoth, Jung-Israel, S. 8, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 u. Jüdische Presse im 19. Jahrhundert, Ausstellungskatalog aus dem internationalen Zeitungsmuseum der Stadt Aachen, Aachen 1967, S. 76-78. 8 Moses an Pineles, 6.3.1882, ZZA, A 1 4 4 / 4 / 7 . 9 Vgl. „Monats-Berichte", 1.9.1882, S.7. 10 „Monats-Berichte", 1.9.1882, S. 1. Ruben Bierer (1835-1931), geboren in Lemberg und von Beruf Arzt, gehörte zu den ersten und aktivsten Förderern der Idee der Palästinakolonisation. In fast allen deutsch-jüdischen Zeitschriften schrieb Bierer über Palästina, er war einer der Gründer der Jüdischen Studentenorganisation „Kadima" 1882 in Wien und wurde später ein enger Vertrauter Herzls. Vgl. Artikel „Bierer, Rubin", in: EJ, 4:984. 11 „Monats-Berichte", 1.9.1882, S. 4.
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Stützpunkt schaffen."12 Freuthal stellte sich auch ganz eindeutig auf die Seite Leon Pinskers, dessen „Auto-Emancipation" in den „Monats-Berichten" gegen jedwede Angriffe verteidigt wurde.13 Anhand des vorhandenen Materials läßt es sich nicht mehr eruieren, wieviele Ausgaben der „Monats-Berichte" erschienen sind. Aber sie hatten nach Freuthals Auffassung ihren Zweck offenbar nicht erfüllt, denn Ende des Jahres 1882 gründeten die Kattowitzer eine neue Zeitschrift, die nun auch im Titel Anspruch und Zielrichtung deutlich aussprach: „Der Colonist - Zeitschrift fur Beförderung der Emigration unterdrückter Juden", mit dem Zusatz in der Titelzeile, der Ertrag sei zur Unterstützung jüdischer Ackerbau-Colonien bestimmt.14 Freuthal selbst sprach sich noch fur weitergehende Ziele aus, denn die Zeitschrift sollte „(...) die Idee der nationalen Zukunft Israels verbreiten."15 Es wurde bereits dargestellt, daß die Erwähnung nationaler Ambitionen oder Gefühle in den Publikationen aus Osteuropa fast ängstlich gemieden wurde.16 „Der Colonist" erschien aber im preußischen Kattowitz, hier gab es keine mit der russischen Pressezensur vergleichbare Einrichtung, hier konnte sehr viel offener über nationale Gefühle und in letzter Konsequenz auch über die Wiedererweckung der jüdischen Staatsidee nachgedacht und geschrieben werden. Durch dieses nationale Ansinnen
12 „Monats-Berichte", 1.11.1882, S. 1. Das Ziel einer Zufluchtsstätte in Palästina für das Judentum, also der spirituelle Mittelpunkt, wird knapp 15 Jahre später von Achad Haam vehement gegen den politischen Zionismus Herzl'scher Couleur verwendet. 13 Vgl. „Monats-Berichte", 1.11.1882, S. 4. 14 Untertitel und Zusatz wechselten allerdings häufig. Hiess es in der Probenummer vom 1.12.1882 noch „Zeitschrift für Beförderung der Emigration der Juden aus den Ländern, in denen ihre Menschenrechte nicht geschützt sind" und der Zusatz fehlte, wechselte der Untertitel im Laufe der Erscheinungsjahre von „Zeitschrift für Beförderung der Emigration unterdrückter Juden - Organ der Vereine Jischuw Erez Israel" (in hebräischen Buchstaben geschrieben, E.P.), Nr 1, 4.1.1884, zu „Organ der Vereine Jischuw Erez Israel" (in hebräischen Buchstaben geschrieben, E.P.)", Nr. 23. 6.6.1894. Auch der Zusatz in der Titelzeile wechselte von „Der Ertrag fliesst in die Vereinskase", Nr. 1, 4.1.1884, zu „Der Ertrag ist zur Unterstützung jüdischer Ackerbau-Colonien bestimmt", Nr. 23, 6.6.1884. Die Worte wurden verändert, getauscht, die Zielrichtung blieb dessen ungeachtet gleich. 15 Freuthal an Rülf 4.11.1883, ZZA, A l / V I / 1 / 2 5 . 16 Als illustrierendes Beispiel kann hierfür das Central-Comite in Galatz gelten. Das Comite ließ in einer Erklärung zu Beginn des Jahres 1883 keinen Zweifel an der apolitischen Tendenz ihres Kolonisationsprojekts. Vgl. „Rundschreiben des CentralComites in Galatz im Monat Tebeth 5643", in: „Spendenverzeichnisse", Nr. 54, 17.1.1883.
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wurde der „Colonist" jedoch ein Opfer der russischen Zensurbestimmungen, die eine offene Einfuhr der Zeitschrift nicht erlaubten. Sie mußte stets im geschlossenen Kuvert geschickt werden, was eine Verteuerung des Abonnements für Leser in Rußland mit sich brachte.17 In Aufbau und Gliederung waren sich die „Monats-Berichte" und „Der Colonist" sehr ähnlich. Dem Leitartikel folgte im „Colonist" die Rubrik „Nachrichten über Jischuw Erez Israel", dazu die „Vereinsnachrichten" und eine „Rundschau". Manchmal gab es noch einen „Briefkasten" und einen literarischen Teil, in dem Novellen jüdischer Schriftsteller, Essays zu Themen der jüdischen Welt, Gedichte und auch Predigten abgedruckt wurden. Die Zeitschrift umfaßte vier DIN-A-4 Seiten und erschien zunächst wöchentlich jeden Freitag. In seiner Zielrichtung war „Der Colonist" zum einen eine Zeitschrift für die deutschen Juden, denen mit einer Mischung aus sachlichen Informationen, pro-Palästina Artikeln und „erbaulicher" Literatur die Idee der Kolonisation näher gebracht werden sollte. Zum anderen wollte sich Freuthal aber auch an diejenigen Juden wenden, die Anfang 1883 das Gros der Emigranten stellten, und dies waren die Juden in Osteuropa. Daher nahm er schon kurz nach Erscheinen der ersten Nummer des „Colonist"18 Kontakt zu Isaak Leib Goldberg (1860-1935) auf der als führendes Mitglied der Chibbat Zion galt und den „Colonist" bereits abonniert hatte. Diesen bat er nun, seiner Zeitschrift weitere Abonnenten und damit größere Popularität auch in Rußland zu verschaffen.19 Naheliegend war auch Freuthals Versuch, Leon Pinsker als Mitarbeiter für die Zeitschrift zu ge20
Winnen.
Den Weg zum orthodoxen deutschen Judentum suchte Freuthal über Isaak Rülf. Auch für die Kattowitzer, wie auch schon für Leon Pinsker, war Rülf der wichtigste Ansprechpartner in Deutschland in bezug auf die Orthodoxie. Sein „Aruchas Bas-Ammi" wurde als nationale Schrift gedeutet 17 Vgl. Freuthal an Goldberg, 1.2.1883. 18 Leider liegt mir die Zeitschrift erst ab Nr. 49 vor, aber aus dieser Angabe kann geschlossen werden, daß „Der Colonist" im Januar 1883 zum ersten Mal erschienen ist. Vgl. Jewish Chronicle", 5.1.1883. Hierfür spricht auch, daß im Dezember 1882 eine Probenummer aufgelegt wurde. Vgl. Jüdische Presse, 1967, S. 78. 19 Vgl. Freuthal an Goldberg, 1.2.1883. 20 Vgl. Freuthal an Pinsker, o.D., ZZA, A9/4. Das Datum des Briefes läßt sich nicht mehr eruieren. Anhand des Brieftextes ist ein Datum nach dem September 1883 aber als sicher anzunehmen, da Freuthal Pinsker fragt, ob er das Buch „Aruchas Bas-Ammi" kenne, das im September 1883 erschienen ist. Über Erfolg oder Mißerfolg der Anfrage lassen die Quellen keine gesicherten Schlüsse zu.
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und Rülf damit zum „ersten Rabbbiner, (...) der sich der Idee des nationalen Judenthums anschließt."21 Daher wandten sich die Kattowitzer mit vier Bitten an Rülf, die deutlich zeigten, in welche Richtung sie den „Colonist" zu entwickeln gedachten. Rülf wurde zur aktiven Tätigkeit in dem Verein Jischuw Erez Israel", zur Gründung von Zweigvereinen und zur Mitarbeit für die Zeitschrift aufgefordert. Besonders wichtig aber war die vierte Bitte, Rülf möge doch auf die Rabbiner einwirken, damit eine Zusammenarbeit mit den Kattowitzern ermöglicht würde.22 Auffallend ist, daß Freuthal erneut die Bedeutung der Rabbiner betont, denn schon sein erstes Projekt, die Jugendzeitschrift Joseph", war seinen eigenen Angaben zufolge an der Ignoranz und dem Widerstand der Rabbiner gescheitert.23 Auch „Der Colonist" entsprach nicht den Vorstellungen orthodoxer Glaubenswächter, da vor allem das aktive Eintreten für die sofortige Emigration nach Palästina bei gleichzeitiger Negierung der Erfolgschancen einer Akkulturation dem Konzept einer geduldigen Erwartung des Messias widersprach. Für Freuthal und seine Kattowitzer Freunde war es daher von eminenter Wichtigkeit, die Rechtfertigung für die Emigration und die Kolonisation durch eine rabbinische Autorität in ihrer Zeitschrift publizieren zu können. Auf diese Weise sollten neben den säkularen auch die orthodoxen Juden für das Projekt der Palästinakolonisation gewonnen werden, denn die große Bedeutung der Religion für die Kolonisation wurde von Freuthal nicht geleugnet. Er sah dieses Projekt nicht als ein rein ökonomisch oder national zu begründendes und durchzuführendes Unternehmen an, sondern befand im Januar 1884: „Die seit zwei Jahren entstandenen Colonien werden jetzt blühen und gedeihen - bis hierher hat der Herr geholfen."24 Insgesamt zwei Jahre mühte sich Freuthal, den „Colonist", der ab dem 27.6.1884 nur noch vierzehntägig erschien und am Schluß 1.200 Abonnenten erreichte,25 zu einer Bedeutung und Popularität zu verhelfen, die dem im Titel ausgesprochenen Anspruch genügte, und dazu sein persönliches Credo und das des Kolonisationsvereins zu propagieren, daß die Lebens21 Freuthal an Rülf, 4.11.1883, ZZA, Al/VI/1/25. 22 Vgl. ebd. Inwieweit Rülf auf diese Anfrage eingegangen ist und ob sich eine Zusammenarbeit ergeben hat, läßt sich aus dem vorliegenden Material nicht entnehmen. 23 Vgl. Freuthal an Rülf, 4.11.1883, ZZA, Al/VI/1/25. 24 „Der Colonist", Nr. 1, 4.1.1884, S. 1. 25 Vgl. Moses an Klee, 17.1.(1900), ZZA A142/55/6. Es fanden sich keine Abonnentenlisten im ZZA, aus denen man ersehen könnte, wer den „Colonist" abonniert hatte.
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kraft fur das jüdische Volk nur noch aus der Kolonisierung des Heiligen Landes zu ziehen sei.26 Im Juni 1884 wurde noch einmal das Ziel der Zeitschrift exakt formuliert: „Der „Colonist" hat es sich zum Ziele gesetzt, auf die unwürdige und unglückliche Lage der Israeliten in Osteuropa die Aufmerksamkeit des Westens zu lenken und die nun nicht mehr zu leugnenden noch zu bekämpfenden Bestrebungen fur die Colonisation des hl. Landes zu unterstützen."27 Aber die Zeitschrift konnte sich entgegen den Erwartungen nicht als zionistisches Massenorgan durchsetzen, obwohl sie den jungen Zionsfreunden zumindest bekannt war, was ein Brief aus dem Jahr 1885 von Ferdinand Wolff, Mitglied eines zionistischen Vereins in Hamburg und späterer Mitherausgeber des „Serubabel", an Armand Kaminka beweist.28 Zu dem offensichtlichen Mißerfolg kam hinzu, daß Freuthal in seinem Engagement bis an die Grenze der physischen Belastbarkeit gehen mußte, was schließlich seine Gesundheit angriff und ihn auch in seinem Familienleben erheblich beeinträchtigte.29 Anläßlich der Kattowitzer Konferenz nahm er daher die Gelegenheit wahr, den „Colonist" einzustellen, allerdings unter der Prämisse „(...) um einem größeren Verbands-Organe, das in mehreren Sprachen zugleich geschrieben ist, Raum zu geben."30 Doch ein solches Organ wurde nie gegründet, noch wurden auf der Konferenz Pläne für einen Nachfolger des „Colonist" erörtert. Mit der Einstellung der Zeitung durch Freuthal wurde der Platz eines deutschsprachigen Organs für die Emigration und Kolonisation vakant und blieb es bis 1886.
3. Serubabel Die Idee aber, mit einer Zeitschrift über die Kolonisation in Palästina die deutschen Juden zu erreichen, blieb in den Kreisen der deutschen Zionsfreunde lebendig. Mitte der 1880er Jahre waren es nun die jungen Zions26 27 28 29 30
Vgl. „Der Colonist", Nr. 24,13.6.1884, S. 1. „Der Colonist", Nr. 23, 6.6.1884, S. 1. Vgl. Wolffan Kaminka, 31.8.1885, S. 6, ZZA, A147/23/2. Vgl. Freuthal an Birnbaum, 29.12.1884, ZZA, A188/5/5. Erklärung der Redaktion und Expedition des Colonist, in: „Der Colonist", Nr. 42, 17.11.1884, S. 1. Eliav nennt noch eine weiteren, sehr viel profaneren Grund für das Einstellen des „Colonist": Freuthal habe sich über seine Nichtwahl in das Zentralkomitee des „Montefiore-Verbandes" auf der Kattowitzer Konferenz so sehr geärgert, daß er daraufhin die Zeitschrift eingestellt habe. Vgl. Eliav, 1969, Zur Vorgeschichte, S. 295, Anm. 44.
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freunde, die sich dieser Idee annahmen. Sie gehörten zu dem Kreis um den Verein Esra, der 1884 in Berlin gegründet worden war.31 Bereits 1885 gab es eine weitere deutschsprachige Zeitschrift mit zionistischem Hintergrund. Dieses „Selbst-Emancipation" genannte Journal wurde in Wien von Nathan Birnbaum (1864-1937) herausgegeben. Birnbaum war einer der Vordenker moderner zionistischer Theorien, ein charismatischer Schriftsteller, der 1882 als Student zu den Gründern der jüdischen Studentenorganisation „Kadima" (hebr.: „Vorwärts") in Wien gehört hatte.32 Das Scheitern der Zeitschrift aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nach nur kurzer Zeit33 ließ einige Berliner Zionsfreunde den Plan zu einem Projekt entwerfen, die „Selbst-Emancipation" durch eine eigene Zeitschrift zu ersetzen.34 Am 29.9.1886 erschien in Berlin dann die erste Nummer der Zeitschrift „Serubabel".35 In einer brieflichen Vorankündigung hatten die Herausgeber Willy Bambus, Albert Katz, Isaak Turoff und Ferdinand Wolff - alle vier auch im Esra aktiv - die Intentionen der Zeitschrift unzweideutig abgesteckt. Es war ihnen um die „Hebung des jüdischen Volksbewußtseins und die Förderung von Jischuw Erez Israel im weitesten Sinne"36 zu tun. Ebenso klar wurde die Zielgruppe definiert und ihre Auswahl begründet, woraus sich dann auch die Wahl der Sprache der Zeitschrift selbstredend ergab: „Die zahlreiche (...) jüdische Bevölkerung Deutschlands, ihre Wohlhabenheit und Mildthätigkeit, ihre höhere Intelligenz, endlich ihre durch langjährige Erfahrung im Vereinswesen erworbene organisatorische Fähigkeit weisen den deutschen Juden in der neuen Bewegung eine unge-
31 „Esra" ist Gegenstand des nächsten Kapitels. Zum Verständnis dieses Teils ist es aber erforderlich zu wissen, daß der Verein primär zum Zweck der Geldsammlung für die Kolonien in Palästina gegründet wurde. 32 Birnbaum wurde in Wien geboren, seine Eltern kamen aus Galizien und Ungarn. Zunächst ein strenger Verfechter des säkularen Zionismus (Birnbaum schrieb mehrere Artikel, gab Zeitschriften heraus, kreierte 1890 das Wort „Zionismus" und war bis 1898 auch ein Vertrauter Herzls), wandte er sich dann dem orthodoxen Judentum zu. Aber auch hier, wie schon vorher in den zionistischen Kreisen, bekam Birnbaum Schwierigkeiten durch seine freidenkerischen Ansichten. Nach dem Ersten Weltkrieg Schloß er sich der antizionistischen „Agudat Israel" an. 33 Vgl. Birnbaum an Pinsker, 11.3.1886, in: Druyanow III, D o k 1295, S. 836f. 34 Vgl. Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 8, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 6 . Das erste Werbungsschreiben für die Zeitschrift ist datiert auf den 20.3.1886. Vgl. Expedition des „Serubabel" (Handschrift Bambus) an Ussischkin, 20.3.1886, ZZA, A 2 4 / 1 / 1 . 35 Serubabel ist der Name des letzten jüdischen Herrschers aus dem Hause David. Eine von Serubabel verfaßte Apokalypse gilt als Höhepunkt der traditionellen jüdischen Messianologie. 36 Ankündigungsbrief „Serubabel", September 1886, ZZA, 4520 „Ain".
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mein wichtige Rolle zu und drängen jedem Einsichtsvollen die Ueberzeugung auf, dass ohne ihren Beistand der Colonisation des heiligen Landes stets die nöthige gesunde Basis fehlen, und dass erst mit deren Beitritt die Bewegung zu einer soliden Macht heranwachsen wird."37 In der Reihe der vorgestellten Zeitschriften zur Unterstützung und Förderung der Kolonisation in Palästina ist mit „Serubabel" ein gewisser End-, aber auch Höhepunkt einer Entwicklung erreicht, die sich darauf konzentrierte, die deutschen Juden in den 1880er Jahren für die Ideen der Chibbat Zion zu gewinnen. „Serubabel" steht daher in seinem Anspruch und seiner Zielsetzung ganz in der Tradition der frühen Zionsfreunde Lachmann, Hamburger, Simmel und Salvendi. Es war in den vorangegangenen vier Jahren nicht gelungen, die deutschen Juden zu einer mehr als marginalen Hilfe für die Kolonien zu bewegen, und „Serubabel" stellte nun einen letzten publizistischen Versuch in den 1880er Jahren dar, dies doch noch zu erreichen. Aus den gescheiterten Bemühungen ihrer Vorläufer hofften die Herausgeber des „Serubabel", die richtigen Schlüsse für einen Erfolg gezogen zu haben: „Wir versprechen uns sehr viel Erfolg, weil wir mit Wissenschaftlichkeit und Gründlichkeit an die Sache gehen und die deutschen Juden so viel von ihren Landesgenossen angenommen haben, dass sie nur auf diesem Wege, nicht mit Leitartikel, sondern mit Zahlen zu gewinnen sind."38 Diesen richtungsweisenden Zielsetzungen entsprechend gab es in „Serubabel" vor allem Artikel, die sich mit den Kolonien in Palästina, aber auch mit dem Land ganz allgemein beschäftigten. Diese beanspruchten den weitaus größten Raum. Auch wenn sich der durchweg positive, fast werbende Tenor in der Berichterstattung nicht leugnen läßt, war ebenso der Versuch zu erkennen, sachlich-pragmatisch über die Siedlungen zu informieren. Hinzu kamen Berichte aus den verschiedenen Chibbat Zion-Vereinen und dem Verein Esra, Nachrichten aus der jüdischen Welt sowie ein Feuilleton- und Literaturteil. Die Zeitschrift erschien monatlich und umfaßte acht DIN-A-4 Seiten. Uber den ideologischen Hintergrund der Zeitschrift gibt es in der Literatur verschiedene Ansichten. Heinrich Loewe sieht den „Serubabel" noch ganz in der philanthropischen Tradition, der „(...) aber doch zuweilen sei-
37 Ebd. 38 Bambus an Pinsker, 12.9.1886, in: Druyanow ΠΙ, Dok. 1315, S. 865.
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ne Fühler nach wirklichem National-Judentum ausstreckte."39 Richard Lichtheim geht einen Schritt weiter und wirft den Herausgebern vor, ihre Idee einer „nationalen Renaissance" habe „in luftiger Höhe" geschwebt, „(...) und es war nicht zu erkennen, wie er auf Erden Wurzeln schlagen sollte."40 Man hatte augenscheinlich große Bedenken, „(...) vor der deutschen Öffentlichkeit mit einem jüdisch-politischen Programm aufzutreten."41 Lichtheim beruft sich bei seiner Analyse auf ein Werbeschreiben des Herausgebers Albert Katz.42 Yehuda Eloni widerspricht Lichtheim teilweise und fuhrt einen Artikel des „Serubabel" aus dem Jahr 1888 als Beweis einer durchdachten Behandlung der Judenfrage und ihrer Lösung an.43 Die von Lichtheim benutzten Ausführungen stehen auch in einem gewissen Gegensatz zu dem Werbeschreiben vom September 1886, das von allen vier Herausgebern unterzeichnet ist. In diesem Brief ist von „nationaler Renaissance" explizit nicht die Rede. Auch im Leitartikel der ersten Nummer vom 29.9.1886 wird der nationale Gedanke nicht in Verbindung mit einem eigenen Staat gesehen, sondern als sichere „Heimathstätte" und „Culturcentrum" unter der „milden Regierung der Türken" definiert.44 Eine vorsichtige Formulierung, die wohl auch jede Provokation des Osmanischen Reiches vermeiden sollte. Als Hauptanliegen der Herausgeber wird hingegen die Förderung der Kolonisation in Palästina ganz direkt genannt. Es zeigt sich in dem vorliegenden Werbeschreiben, daß die Herausgeber tatsächlich von den Erfahrungen der frühen Zionsfreunde gelernt hatten. Sie wollten nicht das deutsche Judentum durch nationale Forderungen von den im Kern ihrer Meinung nach zunächst einmal unpolitischen Siedlungen ablenken. Hinter diesem Konzept steht die Vorstellung, über Statistiken, Fakten und ökonomische Analysen die deutschen Juden von der Konsolidierung der Siedlungen und den Uberlebensmöglichkeiten in Palästina zu überzeugen. Ein Engagement der deutschen Juden gehe nach Meinung der „Serubabel"-Herausgeber dann einher mit der Hebung des jüdischen Volksbewußtseins. Und erst der dritte Schritt in dieser Reihe ist 39 Loewe, Sichronoth, Letzte Vorläufer der Zionistischen Vereinigung, S. 1, ZZA, A146/6/6. 40 Lichtheim, 1954, S. 102. 41 Ebd., S. 103. 42 Vgl. Lichtheim, 1954, S. 102. Leider ist es mir nicht gelungen, dieses Schreiben im ZZA zu finden. Lichtheims Angaben müssen daher ungeprüft übernommen werden. 43 Vgl. Eloni, 1987, S. 52. 44 „An unsere Leser", in: „Serubabel", Nr. 1, 29.9.1886, S. 1.
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das Konzept eines erneuerten Nationaljudentums. Diese Reihe ist in sich logisch nach den Interessen und Ansichten der Juden in Deutschland aufgebaut, die einzelnen Punkte sind in ihrer Reihenfolge nicht veränderbar. Lichtheims Kritik greift also zu kurz und vernachlässigt die Denkmuster eines großen Teils der deutschen Juden im ausgehenden 19. Jahrhundert. Es ist nicht mehr genau nachzuvollziehen, wie lange der „Serubabel" existierte. Die letzte im ZZA vorhandene Ausgabe ist als Nr. 6 im Jahr 1888 erschienen.45 Als Grund für die Einstellung ist, wie so häufig bei derartigen Projekten im ausgehenden 19. Jahrhundert, akuter Geldmangel anzunehmen,46 woraus gleichzeitig zu schließen ist, daß auch dem „Serubabel" im deutschen Judentum weder ein ideeller noch ein kommerzieller Erfolg beschieden gewesen ist. Die Wirkungsgeschichte der drei Zeitschriften ist mit Blick auf die weitere Entwicklung des Zionismus in Deutschland sehr unterschiedlich zu beurteilen. Während „Der Emigrant" und „Der Colonist" kaum Spuren hinterließen, war der „Serubabel" der erste publizistische Versuch einer neuen Generation von Zionsfireunden, die sich ab dem Ende der 1880er Jahre die Gedanken der Chibbat Zion zu eigen machte und versuchte, das Nationaljudentum mit der Palästinakolonisation zu vereinen - wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der Kolonisation lag - und in Deutschland populär zu machen. Diese jungen Zionisten gründeten den Verein Esra, der entsprechend die Geldsammlung für die Kolonien als seine Hauptaufgabe betrachtete, weniger die Agitation für das Nationaljudentum. Aus den Reihen des Esra gingen die in den 1890er Jahren dann sehr prominenten Zionsfreunde Willy Bambus und Heinrich Loewe hervor. Zunächst sind aber die Kolonisationsvereine, von denen der Esra der größte war, Gegenstand des nächsten Kapitels.
45 Auch in der EJ, 14:1119 wird der July 1888 als letztes Erscheinungsdatum genannt. Hingegen nennen Eloni und das Jüdische Lexikon das Jahr 1889. Vgl. Eloni, 1987, S. 38 u. Jüdisches Lexikon, Berlin 1927, Bd. 4, Artikel „Presse". 46 Vgl. Reinharz, 1981, S. 25.
XII. Die deutschen Kolonisationsvereine
Die Gründung von Kolonisationsvereinen war ein weiterer Versuch, die deutschen Juden für die Siedlungen in Palästina zu interessieren, gleichzeitig aber auch die Aktivitäten der Zionsfreunde zu bündeln und dadurch effektiver zu machen. Noch vor der Gründung der ersten Siedlungen in Palästina im Sommer 1882 wurde in Kattowitz im Mai 1882 der schon mehrfach erwähnte Kolonisationsverein ins Leben gerufen, der als erster Verein dieser Art eine wichtige Rolle in der Chibbat Zion-Bewegung in den Jahren 1881 bis 1884 spielen sollte.
1. Der „Bnei Brith - Verein zur Colonisirung der verfolgten russ. Israeliten" Die nach 1881 einsetzende Flüchdingswelle und die Arbeit vor allem des Central-Comitees in Galatz (Rumänien) schienen die Zionsfreunde in Kattowitz bewegt zu haben, über einen eigenen Verein nachzudenken. Kattowitz gehörte zu dieser Zeit zu Preußen, hatte 1888 14.000 Einwohner, wovon ca. 10% jüdisch waren.1 Das Ergebnis dieses Nachdenken war die Gründung eines eigenen Vereins, den der „provisorische Vorstand des Vereins Bnei Brith" am 11. Mai 1882 in einem Brief an die „Glaubensbrüder" in Kattowitz ankündigte. Unter Bezugnahme auf andere schon bestehende Vereine, genannt werden in Europa Mainz, Wien und Warschau, aber vor allem auf das Central-Comitee in Galatz wurde dazu aufgerufen, dem Verein beizutreten, der sich nicht den durchreisenden Flüchtlingen widmen wollte, dafür gäbe es schon genügend Vereine, sondern der sich deijenigen annehmen wollte, „die in das heilige Land auswandern, um sich daselbst den Bestimmungen des russisch-rumänischen Central-Comitees zu Galatz entsprechend dem Ackerbau zu widmen." Dem Aufruf waren auch die Statuten des Vereins beigefügt, die noch einmal deudich machten, daß die Gründung von Colonien „geistig und materiell" unterstützen werden sollte.2
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Vgl. Artikel „Kattowice", in: EJ, 10:817f Alle Zitate im Gründungsflugblatt, 11.5.1882, ZZA, A142/29. Vgl. zur Geschichte des Vereins auch Eloni, 1987, S. 39-41.
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Der Name Bnei Brith scheint dem Verein von Seelig Freuthal geben worden zu sein, der, den Angaben Eliavs zufolge, bei einem USA-Aufenthalt den Orden Bnei Brith kennen gelernt habe, beigetreten sei und den Namen später auch dem Kolonisationsverein gegeben habe.3 Die Namensgleichheit führte in der Historiographie zu Mißverständnissen, denn im Juni 1883 gehörten Freuthal und Moses auch zu den Gründern der Bnei Brith Loge „Concordia" in Kattowitz. Die Personalunion der leitenden Persönlichkeiten des Kolonisationsvereins und der Loge schlug sich unter anderem darin nieder, daß in der Zeitung des Kolonisationsvereins „Der Colonist" regelmäßig die Treffen der Loge angekündigt wurden und über besondere Anlässe in der Loge berichtet wurde, so z.B. über das Stiftungsfest zum einjährigen Bestehen der Concordia.4 Der Kolonisationsverein schien sich recht gut zu entwickeln, auch wenn in der Literatur die Angaben über die Mitgliederzahlen zwischen 505 und 5006 schwanken. Wenn man bedenkt, daß um 1880 die jüdische Bevölkerung in Kattowitz ca. 1400 Menschen zählte, erscheint die Zahl von 500 Mitgliedern sehr zweifelhaft, allerdings wird in den Monats-Berichten im September 1882 geschrieben, es sei trotz aller Schwierigkeiten gelungen, den „größten Theil der hiesigen Gemeinde" für den Verein zu gewinnen und auch Mitglieder in andern Städten anzuwerben.7 Mit großem Engagement ging der Verein daran, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dies zeigt sich schon allein in der Gründung von zwei Zeitschriften, den „Monats-Berichten" und dem „Colonist". Doch auch die Sammlung von Geldern für die Kolonien scheint erfolgreich gewesen zu sein. Eliav schreibt, dem Verein sei es in kürzester Zeit gelungen, sich soweit zu konsolidieren, daß erste materielle Hilfe für die Kolonien Rosch Pina und Sichron Jakov geleistet werden konnte.8 Es ist schwer zu beurteilen, ob der Verein tatsächlich so erfolgreich im Einwerben finanzieller Mittel gewesen ist, da hierfür alle Unterlagen fehlen. Sicher ist aber, daß vor allem Moses und Freuthal die Kontakte zu anderen Kolonisationsvereinen und Zionsfreunden, so z.B. Isaak Rülf herstellten und mit diesem 3 4 5
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Vgl. Mordechai Eliav, Zur Vorgeschichte der Jüdischen Nationalbewegung in Deutschland, in: Bulletin des Leo Baeck-Instituts, 12. Jg., Nr. 48,1969, S. 286. Vgl. Der Colonist, Nr. 26, 27.6.1884. Jehuda Reinharz, Ideology and Structure in German Zionism, 1882-1933, in: Jehuda Reinharz and Anita Shapira (Edts.), Essential Papers on Zionism, London 1996, S. 271. Vgl. Eliav, 1969, S. 287. Vgl. Monats-Berichte, 1.9.1882, S. 5. Vgl. Eliav, 1969, S. 287. Diese Angabe muß ungeprüft übernommen werden.
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Einfluß dafür verantwortlich waren, die Konferenz der Chowewe Zion 1884 nach Kattowitz zu holen. Diese Konferenz war ein Höhepunkt in der 1884 noch jungen Geschichte der Kolonisationsvereine, vielleicht aber hatten sich die Kattowitzer Bnei Brith damit auch übernommen, denn der Verein verlor nach der Konferenz seine Rolle als Antriebskraft der Kolonisationsbewegung. Nicht nur der „Colonist" wurde eingestellt und nicht, obwohl angekündigt, durch ein neues Organ ersetzt, auch der Verein selbst verschwand in der Versenkung. Die „zionistischen Wege" von Freuthal und Moses trennten sich ebenfalls. Während Freuthal in den Korrespondenzen der Chowewe Zion und der späteren Zionisten nicht mehr auftauchte, wurde Moses ein Anhänger Theodor Herzls und nahm schließlich auch am Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel teil. Der Verein Bnei Brith hatte ohne Zweifel große Bedeutung in der Geschichte der Chowewe Zion-Bewegung und der Kolonisationsvereine, aber weniger aufgrund seiner Tätigkeit als Kolonisationsverein, also in der Unterstützung der Kolonien in Palästina, als vielmehr in der Organisation der Kattowitzer Konferenz und dem ersten Versuch, ein Netzwerk der Zionsfreunde zu knüpfen.
2. Die frühen Gründungen „Zion" und „Ahawaß Zijon" Ein weitere Impuls für die Förderung der Kolonisation über Vereinsgründungen ging von Hermann Schapira (1840-1898)' aus. Schapira wurde in Litauen geboren und hatte eine traditionelle Rabbinerausbildung durchlaufen, bis er sich ab 1866 linguistischen und naturwissenschaftlichen Studien zuwandte. Im Zuge dieser Studien - und das ist der Grund für Schapiras Eignung, im deutschen Judentum vielleicht die Meinung zugunsten Palästinas beeinflussen zu können - kam er zweimal nach Deutschland und blieb 1878 in Heidelberg. Hier widmete er sich dem Studium der Mathematik, hielt dann ab 1883 Vorlesungen an der dortigen Universität und genoß hohes Ansehen. Bereits 1881 hatte sich Schapira der Chibbat Zion-Bewegung angeschlossen und ab 1882 Artikel für hebräische Zeitungen über die ländliche Kolonisation Palästinas verfaßt. Um nun aber auch in das deutsche Judentum den Gedanken der Kolonisation zu tragen, gründete er 1884 den Verein „Zion", der sich in seinen Statuten ganz explizit für die „Verwirkli-
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Zur Biographie Schapiras vgl. Artikel „Schapira, Hermann", in: Ef, 14:941£
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chung der Jdee der Colonisation Palästinas durch Juden"10 aussprach. Für die Realisierung dieser Idee wurden in den Statuten konkrete Anweisungen gegeben, der Verein sollte Geldsammlungen unter seinen Mitgliedern veranstalten, mit dem Geld Land in Palästina und das zur Ansiedlung notwendige Inventar kaufen sowie die Kolonisten nach einem besonderen Vorschlagssystem auswählen." Trotz Schapiras Reputation und des Versuchs, über detaillierte Handlungsvorgaben die deutschen Juden für die Kolonisation zu gewinnen, blieb der Verein in den Ansätzen stecken und erzielte weder im Bereich der Meinungsbildung noch in Palästina selbst nachweisbare Wirkungen.12 Ein zweiter Verein, gegründet zum Zweck der Unterstützung jüdischer Kolonien in Palästina, war der am 3.5.1885 in Hamburg konstituierte „Ahawaß Zijon" (hebr. Liebe zu Zion), der sich auf den Montefioreverband berief und daher als dessen Zweigverein definierte. Anders als in Heidelberg wurden in Hamburg aber schon in den Statuten Gründe genannt, warum die Unterstützung der Kolonien bisher so wenig Anklang gefunden habe, denn man plante, sich der „Bewegung zu Gunsten der Colonisation Palästina" (Fettdruck i.O.) durch Juden nach Kräften anzuschließen, und sowohl durch pekuniäre Unterstützung der Colonien, als durch lokale Bestrebungen zur Hebung des national-jüdischen Geistes, durch Förderung der hebräischen Sprache und Literatur zur Verbreitung 10 Statuten des Vereins „Zion", deutsche Fassung 1884, Paragraph l.IIL, ZZA, A9/156/5. Diese Fassung ist eine Ubersetzung des hebräischen Originaltextes, der den Bestimmungen des Vereins nach in Zweifelsfällen der maßgebende sein sollte. Weitere Ziele waren die Wiederherstellung der „Einigkeit" im Judentum und die Vermitdung der „Kenntnis der hebräischen Geschichte". Vgl. ebd. Paragraph 1.1.-Π. Schapira war bis zu seinem Tod 1898 in die zionistische Bewegung um Theodor Herzl stark involviert, gehörte zu den geisteigen Vätern des Jüdischen Nationalfonds und schlug schon auf dem Ersten Zionistenkongreß 1897 vor, eine Universität in Jerusalem zu gründen. Diese Idee findet sich bereits in den Statuten des „Zion", in denen die „Schaffung eines einheitlichen Mittelpunktes fur alle auf geistige Ausbildung gerichteten Bestrebungen in den zu gründenden palästinensischen Kolonien durch Errichtung einer Hochschule für religiöse und praktische Wissenschaften" gefordert wird. Ebd., Paragraph 1, IV. 11 Vgl. Statuten des Vereins „Zion", Paragraph 3. 12 Inwieweit der Verein „Zion" mit dem Heidelberger „Localverein" des Montefioreverbandes identisch ist, läßt sich aus den Quellen nicht mit letzter Sicherheit entnehmen, da im Verzeichnis dieser Vereine für Heidelberg keine Angaben über die Mitgliederzahl, den jährlichen Beitrag und den Vorsitzenden gemacht werden. Vgl. „Verzeichniss der Localvereine des „Montefioreverbandes" mit statistischen Angaben", März 1885, ZZA, A9/145/1. Zur Geschichte des Vereins „Zion" vgl. auch Eloni, 1987, S. 41-43.
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der jüdische Solidaritäts-Jdee im Kampfe gegen die Decentralisation und den Jndifferentismus zu wirken."13 Über den genauen Weg, wie vor allem die Unterstützung der Kolonien gelingen konnte, war man sich innerhalb des Vereins nicht einig. Daher schrieb einer der fuhrenden Köpfe des Vereins, Ferdinand Wolff, schon kurz nach der Gründung an Isaak Rülf und bat ihn um Ratschläge.14 Wolff beließ es aber nicht nur bei dem Brief an Rülf sondern er setzte sich mit dem zu dieser Zeit in Hamburg lebenden Schriftsteller Leon Horowitz (1847-1926)15 in Verbindung. Es ist etwas verwunderlich, daß sich Wolff gerade an Horowitz wandte, einen ausgesprochenen Befürworter der Amerika-Immigration. Aber Horowitz' Meinung erschien Wolff durchdacht und vor allem geeignet, die deutschen Juden zum Nationaljudentum zu fuhren, so daß er die Ratschläge gerne aufnahm und weiterleitete. Quintessenz der Horowitz'schen Gedanken war, daß der Verein zunächst nur sehr vorsichtig im kleinen Kreis agieren solle und schon viel erreicht wäre, wenn durch den Verein einige wenige neue Anhänger der Kolonisationsidee gewonnen würden. Diese Ansichten vertrat Wolff dann auch in den Mitgliederversamlungen des Vereins und erreichte nach eigener Aussage große Zustimmung.16 Weitere Kontakte knüpfte Wolff nach Warschau zu Rabbinowitsch, mit dem er ebenfalls in einen Briefwechsel über die Kolonisation trat,17 und zu dem Heidelberger Verein „Zion".18 Aber so sehr sich Wolff auch mühte, der Verein kam über ein marginales Dasein nicht hinaus. Da kam es fur Wolff gerade zur rechten Zeit, daß im Jahre 1886 mit dem Esra ein weiterer Verein gegründet wurde, der ähnliche Ziele vertrat und dem sich Wolff und der „Ahawaß Zijon" anschließen
13 „Verein „Ahawaß Zijon" in Hamburg", 3.5.1885, ZZA, A147/23/2. 14 Vgl. Wolff an Rülf 10.5.1885, ZZA, A l / V I / 2 / 2 . Über die Biographie Ferdinand Wolffs sind mir keine detaillierteren Informationen bekannt. 15 Horowitz wurde in Minsk geboren und ging nach dem Besuch einer Jeschiwa nach Westeuropa, um dort zu studieren. 1870 ließ er sich in New York nieder, von wo aus er für die hebräische Presse arbeitete. Horowitz setzte sich schon damals fur eine jüdische Einwanderung nach Amerika ein, reiste nach Rumänien, um dort für die Auswanderung arbeiten zu können und veröffentlichte schließlich 1874 ein Buch über die jüdischen Gemeinden in Rumänien und Amerika. Horowitz lebte dann bis zu seinem Tod in Hamburg. Zur Biographie vgl. Artikel „Horowitz, Aaron Judah Loeb (Leon)", in: EJ, 8:984f 16 Vgl. Wolffan Kaminka, 21.8.1885, ZZA, A147/23/2. Kaminka gehörte ebenfalls zu den Gründern des Hamburger Vereins. 17 Vgl. Wolffan Kaminka, 21.8.1885, ZZA, A147/23/2. 18 Vgl. Wolffan Kaminka, 14.9.1885, ZZA, A147/23/2.
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konnten, in der Hoffnung, durch den Esra ganz Deutschland zu erreichen.19
3. Der Verein „Esra" Mit einem Verein ganz Deutschland erreichen zu wollen, war eine große Hoffnung und ein ambitionierter Anspruch. Wer waren die Gründer dieses „Esra" (hebr. Hilfe) genannten Hoffnungsträgers, und wurde Wolffs Vorstellung Realität? Die sich abzeichnende Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Ablehnung jedweder Kolonisationsbestrebungen in Palästina durch große Teile des deutschen Judentums veranlaßte eine Gruppe junger Palästinafreunde in Berlin, Konzepte zu erarbeiten, hinter denen die Idee eines zu erneuernden Judentums stand. Dies sollte über die Verbreitung der „Kenntnis jüdischer Geschichte und Literatur unter den Juden"20 vorbereitet werden. In den Diskussionen zur praktischen Realisierung dieser Ziele kristallisierte sich aber die Erkenntnis heraus, daß zunächst die bereits existierenden Kolonien in Palästina dringender Hilfe bedurften. Daher gründeten sieben Mitglieder dieser Gruppe am 26.1.1884 den Verein „Esra, Sammelbüchse für Palästina".21 Oberstes Ziel war es, „die jüdischen Colonien in Palästina zu unterstützen (...)".22 Dies geschah über den Mitgliedsbeitrag, der mit zunächst
19 Vgl. Reinharz, 1981, S. 13. Wolff war 1886 dann einer der Herausgeber des „Serubabel" und Vertreter des Esra in Hamburg. Vgl. Jahres-Bericht des Vereins „Esra" pro 1888". Vgl. ZZA, DD-Germania 1. 20 Aus der Zeitschrift „Esra, Sammelbüchse fur Palästina", vom 24.3.1884, maschinenschriftliche Kopien des Artikels in zwei Fassungen, die jedoch nahezu identisch sind. ZZA, A12/31, S. 11. Im weiteren wird die Archivsignatur für Belege aus diesem Text verwendet. 21 Dies waren Behrmann, J. Cohn, Dr. Hirschfeld, Max Karfunkel, H. Norwitzky, Isaak Turoffund Weinreich. Vgl. ZZA, A12/31, S. 12. 22 Paragraph 1 der Statuten des Esra, ZZA, A9/154/8. Als zweites Ziel wurde in den Statuten die Bekämpfung der Mission in Palästina genannt. Reinharz hält dieses Ziel nur fur vorgeschoben, um sich damit der einmütigen Zustimmung der deutschen Juden zu versichern. Vgl. Reinharz, 1981, S. 8, Anm. 2. Die Bekämpfung einer zweifellos vorhandenen Missionstätigkeit unter den Juden in Palästina fand in den Berichten über die Arbeit sowie den Erinnerungen einiger Esra-Mitglieder keine Erwähnung, was die These Reinharz' bestätigt.
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50 Pfennig, später einer Mark, ausgesprochen niedrig lag, und über freiwillige Spenden. Der Name des Vereins, „Sammelbüchse", war Programm, denn der in den Statuten ausgeführte Schwerpunkt lag auf einer Sammeltätigkeit, ohne daß eine engere ideologiezentrierte Verbindung zu nationalen Bestrebungen hergestellt wurde. Es gab im Gegenteil direkt die Auflistung der Leistungen, die zu erbringen waren, um mit einem Ehrentitel und entsprechender Anstecknadel ausgezeichnet zu werden. Für zehn geworbene Mitglieder gab es den Titel „Büchsengabbe" (Gabbe, hebr.: Kassierer) und einen silbernen Davidstern, fur hundert neu geworbene Mitglieder den Titel „Oberbüchsengabbe" und einen goldenen Davidstern.24 Entgegen der sich schon bald an der rein philanthropischen Ausrichtung des Vereins entzündenden heftigen Kritik25 findet sich in einem Brief des Gründungsmitglieds Max Karfunkel an Isaak Rülf im Juni 1884 eine bemerkenswerte Analyse der Denk- und Verhaltensmuster des deutschen Judentums mit Betonung der Angst vor dem Aufkommen eines jüdischen „Nationalbewußtseins". Karfunkel wehrte sich in diesem Brief gegen die rein pekuniäre Wohltätigkeit der deutschen Juden, die glaubten, damit „dem augenblicklichen Elend abzuhelfen, aber die Wurzel des Übels zu fassen (...)" dabei versäumten.26
23 Dieser günstige Beitrag sollte es allen gesellschaftlichen Schichten ermöglichen, Mitglied zu werden. Loewe bezeichnet ihn allerdings als „Ueberrest der Reichsfechtschule" und mithin als ein Relikt, weniger ein Zeichen demokratischer Gesinnung. Vgl. Loewe, Sichronoth, Im Verein „Esra", S. 4, ZZA, A146/6/5. Dieses Kapitel will nicht die ganze Geschichte des Vereins aufrollen, hierfür sei auf zwei ausfuhrliche Darstellungen hingewiesen: Zum einen auf Yehuda Elonis „Zur Geschichte des Vereins Esra", in Eloni, 1987, 48-53, zum anderen auf Yehuda Reinharz, The Esra Verein and the Jewish Colonisation in Palestine, in: Leo Baeck Institute Year Book, Vol. XXTV, 1979, S. 261-289. Als Quellenlektüre seien die Jahresberichte und die Darstellung der Vereinsgeschichte unter A12/31 im ZZA sowie die Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Esra (Berlin 1909) empfohlen. 24 Vgl. Esra-Statut, ZZA A/154/8; Reinharz, 1979, S. 265 u. Eloni, 1987, S. 48. Die Verleihung derartiger Titel in Verbindung mit Abzeichen gehört in den Bereich einer sich entwickelnden zionistischen Kultur der Symbole und Allegorien, die nach 1897 zum Erfolg des Herzl'schen Zionismus viel beitragen wird. Vgl. hierzu die herausragende Untersuchung von Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993. 25 So z.B. von Heinrich Loewe, der sich in zahlreichen Bemerkungen in seinen Erinnerungen „Sichronoth" über den Esra äußert. 26 Karfunkel an Rüli 12.6.1884, ZZA, Al/VI/1/31.
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Diese Analyse ließ die Schlußfolgerung zu, daß Esra sich auch dem „Nationaljudentum", wie der spätere politische Zionismus zu dieser Zeit genannt wurde, in seiner Agitation widmen würde. Allerdings ist es dazu nicht gekommen, denn Pläne fur ein Handeln im nationaljüdischen Sinn wurden unter den Mitgliedern nicht mehrheitsfahig und daher nur von wenigen vertreten und publiziert.27 Zu sehr war man in der Sammeltätigkeit verhaftet, die politische Handlungen als Fortsetzung der Esra-Arbeit nicht zuließ. Auch die Esra-Mitglieder konnten offensichtlich die Assimilationssehnsucht nicht verleugnen, daher verwundert es nicht, daß sich der Verein am Ende der 1890er Jahre schließlich zu einem Gegner des politischen Zionismus entwickelte.28 Die Struktur des Esra sah zunächst nur einen in Berlin ansässigen Verein vor, doch die schnell auf ganz Deutschland ausgeweitete Agitation erforderte schon 1886 eine Neuorganisation2' und die Errichtung von Zweigvereinen in und außerhalb Deutschlands, von denen sich aber nur das Berliner Lokal-Komitee zum eigenständigen Verein entwickelte, während die anderen Zweigvereine - bis 1898 gab es Esra-Vereine in 265 deutschen Gemeinden30 - reine Geldsammelstellen blieben, ohne eigene Initiativen. Von diesen Zweigvereinen wurde dann die zentrale Leitung gewählt, die ihren Sitz weiterhin in Berlin hatte.31 Die Zahl der Mitglieder des Vereins betrug nach einem Jahr 2.000,32 war aber dann bis zum Ende der 1890er Jahre großen Schwankungen unterworfen und konnte erst ab 1891 stabilisiert und gesteigert werden.33 Die
27 Vgl. Loewe, Sichronoth, Im Verein Esra, ZZA, A146/6/5. 28 Hierbei spielte dann Willy Bambus eine maßgebliche Rolle, vgl. Kap. XIII. 29 Im Jahresbericht für 1886 wird explizit von der „unpraktischen Organisation im ersten Jahre" gesprochen, die zudem einen „empfindlichen Verlust an Mitgliedern" gebracht habe. Zu Beginn des Jahres 1886 habe das Central-Comite daher „die ganze Arbeit von vorn beginnen müssen", ein Prozeß, der aber bereits im Juli 1886 als abgeschlossen betrachtet wurde. Vgl. Jahres-Bericht des Vereins „Esra" pro 1886, ZZA, DD-Germania 1. 30 Vgl. Reinharz, 1979, S. 276. 31 Vgl. Loewe, Sichronoth, Im Verein Esra, S. 2, ZZA, A146/6/5; A12/31, S. 13f u.I. Turoff, Die Zionsfreunde in Deutschland, in: „Serubabel", Beilage zu No. 2,1886. 32 Vgl. A/12/31, S. 12. 33 Vgl. Reinharz, 1979, S. 276. Höhepunkt war das Jahr 1898 mit 4.000 Mitgliedern. Um einen Eindruck von der Klientel zu bekommen, die sich dem Esra anschloß, und daraus mögliche Rückschlüsse auf den Kreis der Palästinaunterstützer zu ziehen, wäre ein Blick in die soziale Zusammensetzung der Mitgliederschaft nötig. Leider bieten für diesen Bereich nur Loewes Erinnerungen Material an, und dies ist in der Beschreibung der Mitglieder unsystematisch und zufallig, daher ohne Aussa-
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Entwicklung der Einnahmen zeigte eine stetige Steigerung, nur die Jahre 1885 und 1889 brachten einen gewissen Rückschlag. Ansonsten wurde das Niveau von 1331 Mark 1884 auf2437 Mark im Jahr 1890 gehoben.34 Mit den Geldern begann der Verein ab 1886 direkt Kolonien in Palästina zu unterstützen, nachdem die erste Geldspende von 300 Mark noch an einen Verein zur Förderung der jüdischen Handwerker in Palästina gegangen war.35 Zunächst war es die Siedlung Jessod Hamaala, die bis 1889 eine jährliche Unterstützung erhielt, deren Höhe sich zwischen 1.000 und 1.600 Mark bewegte und insgesamt 5.100 Mark für die 20 Kolonisten umfaßte. 1889 wurde einmalig auch die Kolonie Ekron mit 350 Mark in das Spendenprogramm aufgenommen. Die Konsolidierung Jessod Hamaalas ließ den Verein seine Subventionsbemühungen 1890 auf die älteste der Siedlungen, Petach Tikwa, konzentrieren, die mit 1.600 Mark unterstützt wurde.36 1891 traten signifikante Veränderungen im Esra ein. Zunächst modifizierte die Generalversammlung den Namen, und aus „Esra, Sammelbüchse für Palästina" wurde „Esra, Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien". Als Grund für diese Änderung wurde angegeben, man wolle sich den übrigen europäischen Chowewe Zion angleichen.37 Wichtiger für die weitere Arbeit des Esra in Palästina aber war ein Beschluß der Generalversammlung, auch die Statuten zu ändern, um dann gemeinsam mit anderen europäischen Chibbat Zion-Vereinen eigene Kolonien gründen zu können. Während der Paragraph 1 des Statuts aus dem Jahre 1884 die Unterstützung jüdischer Kolonien als Ziel nannte, was nur die Subvention bereits bestehender Siedlungen implizierte, bezeichnete das neue Statut als Zweck des Vereins „die jüdische Kolonisation in Palästia zu unterstützen", und dies wiederum beinhaltete die eigene Gründung neuer Kolonien.38
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gekraft fur eine Analyse der sozialen Zusammensetzung des Vereins. Vgl. Loewe, Sichronoth, Im Verein Esra, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 . Zahlen nach A12/31 S. 12-14. Vgl. Reinharz, 1979, S. 266. Die Sendung des Geldes nach Palästina wurde über Adolf Salvendi abgewickelt. Es ist möglich, daß es sich hierbei um den von Pines gegründeten Verein handelt, vgl. Kap. VI, Abschnitt „Die Bilu-Gruppe". Vgl. A12/31, S. 14 u. Jahresberichte des Vereins „Esra" pro 1886, 1887, 1888 u. 1889-90, ZZA, DD-Germania 1. Vgl. Reinharz, 1979, S. 269. Zur Änderung des Paragraph 1 des Statuts vgl. „Bericht fur die Jahre 1892 und 1893", ZZA, A2/113. Für die neuen Statuten vgl. „Statut des Vereins Esra", ZZA, A12/31.
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Ab 1891 wuchs die Zahl der Mitglieder kontinuierlich an, von 1.200 189139 auf 4.000 sieben Jahre später.40 Noch größer war die Steigerung bei den Einnahmen, 1891 hatten sie mit 3940 Mark41 bereits einen großen Zuwachs gegenüber den vorangegangenen Jahren erfahren, bis 1899 sollten sie noch bis auf 16.000 Mark jährlich42 anwachsen. Allgemein wird in der Historiographie dieser Zuwachs sowohl bei den Mitgliedern als auch bei den Einnahmen mit einem gesteigerten Interesse an den Ideen des Zionismus erklärt. Genannt werden muß dabei aber ein wichtiger Auslöser für dieses Interesse, denn am 28.3.1891 begann mit einem Gesetz zur Abschaffiing des Wohnrechts jüdischer Handwerker in Moskau die bis zum Winter 1892 andauernde Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt. Die Vertreibung löste in Palästina einen zweiten Einwanderungshöhepunkt aus, führte zur Gründung neuer Kolonien und rief in Europa die Angst vor Vertreibung und Pogrom erneut wach. Dieses neue Bewußtsein und der Wunsch, den Emigranten zu helfen, läßt sich nun an dem gesteigerten Interessse auch für den Esra ablesen. Aber der Esra bemühte sich ab 1891 nicht nur um eine Angleichung an die anderen europäischen Chibbat Zion-Vereine, sondern vor allem um die Gründung einer Dachorganisation dieser Vereine, da man die Schwäche der in Palästina allein agierenden Einzelvereine erkannt hatte und bei einem Zusammenschluß große Hoffnungen in eine konzentrierte und damit erfolgversprechende Subvention setzte. 1894 kam es auf Initiative des Esra schließlich zu einem solchen Zusammenschluß in Paris.43 Erster Erfolg dieses Dachverbandes war die Gründung der Landarbeiterkolonie Beer Tobia 1896. Zu diesem Gemeinschaftsprojekt der Chibbat ZionVereine steuerte Esra insgesamt 19.000 Mark bei.44 Durch die gesteigerten Einnahmen war der Esra aber auch als Einzelverein in der Lage, sich längerfristigen Kolonisationsprojekten zuzuwen-
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Vgl. „Bericht für die Jahre 1892 und 1893", S. 1, ZZA, A2/113. Vgl. Reinharz, 1979, S. 276. Vgl. „Bericht für die Jahre 1892 und 1893", S. 1, ZZA, A2/113. Vgl. Reinharz, 1979, S. 269. Vgl. „Bericht für die Jahre 1892 und 1893", S. 3, ZZA, A2/113; Reinharz, 1979, S. 270 u. Eloni, 1987, S. 50. Die sich zusammenschließenden Vereine waren der Esra, die „Chowewe Zion" in London, der Landesverband „Zion" in Wien und die „Chowewe Zion" in Odessa. Vgl. Loewe, Sichronoth, Uebersiedlung nach Palästina, S. 1, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 8 . 44 Vgl. ZZA, A12/31, S. 15f Reinharz zitiert die Festschrift aus dem Jahr 1909, in der allerdings nur von 16.000 Mark die Rede ist. Vgl. Reinharz, 1979, S. 270.
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den, wie den Kolonien Rechowot und Mischmar Hajarden.45 Rechowot war die erste Kolonie, in der sich aus Deutschland subventionierte Kolonisten niederließen, und anhand des Quellenmaterials lassen sich die Entscheidungsabläufe detailliert dokumentieren. Im August 1895 schrieb Emile Meyerson, Mitglied des Zentralkomitees der Chowewe Zion in Paris, an Eliahu Zeev Lewin-Epstein,46 Administrator in Rechowot, daß bereits Verhandlungen mit dem Haupteigentümer in Rechowot, der Warschauer Gesellschaft Menucha we-Nachala, über den Verkauf eines Grundstücks anberaumt worden waren,47 die Ende 1896 ihren Abschluß fanden. Esra erwarb von den Warschauern 50 Dunam, die in fünf Teile parzelliert wurden, um dort fünf Kolonistenfamilien anzusiedeln.48 Während der Landkauf sowie die Errichtung der Häuser und Stallungen offenbar keine Schwierigkeiten bereitete, schon im März 1897 war alles bezugsfertig,4' gab es bei der Frage, welche Kolonisten anzusiedeln seien, erhebliche Differenzen. Lewin-Epstein hatte von Bambus die Zusage erhalten, die Auswahl der Kolonisten würde allein dem Kolonievorstand überlassen. Und dies sah er nun nicht mehr gewährleistet.50 Gleichzeitig hatte er sich aber auch selbst über diese Bedingung hinweggesetzt und eigenmächtig bereits drei Kolonisten die Ansiedlung zugesagt. Hierüber verärgert, wandte sich der Kolonievorstand an den Esra in Berlin, um eine de-
45 Die Siedlung Mischmar Hajarden, die bis 1907 mit insgesamt 9.528 Mark gefördert wurde, wird im Kapitel über Willy Bambus näher beleuchtet, da sich Bambus persönlich sehr fur diese Kolonie einsetzte, sie daher einen wichtigen Punkt in seiner Biographie darstellt. Zahlenangabe nach A12/31 (zweite Fassung), S. 13. 46 Uber Lewin-Epstein vgl. Kap. VIII, Abschnitt „Moses David Schub, Baruch Papiermeister, Eliahu Lewin-Epstein - Drei herausragende Persönlichkeiten des Neuen Jischuws." 47 Vgl. Meyerson an Lewin-Epstein, 12.8.1895, ZZA, A216/16b. Das Interesse an Rechowot wurde zweifellos auch von Bambus gefordert, der sich im Herbst 1895 zusammen mit Loewe das erste Mal in Palästina aufhielt, dabei auch Rechowot besuchte und sich sehr beeindruckt zeigte. Seine detaillierten persönlichen Pläne in Rechowot, er dachte zeitweilig sogar an eine Ubersiedlung, werden Gegenstand des Kapitels über Bambus und Loewe sein. 48 Vgl. Lewin-Epstein, ZZA, A126/22. 49 Vgl. Selig Soskin an Bambus, (2.)4.1897, ZZA, A31/2. 50 Vgl. Lewin-Epstein an Moritz Dorn (Vorsitzender des Esra), o.D., ZZA, A216/16a. Aus dem inhaltlichen Zusammenhang und der chronologischen Einordnung des Briefes in den Akten des ZZA kann ein Datum zwischen Ende 1896 und Frühjahr 1897 als sicher angenommen werden. Vgl. auch Bambus an Lewin-Epstein, 18.1.1897, ZZA, A216/16a. In diesem Brief bestätigt Bambus, daß man „den Herren in Jaffa" in jedem Falle „völlig freie Hand" lasse.
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finitive Entscheidung über die Zuständigkeiten in Rechowot zu erbitten.51 Der Streit scheint dann aber doch keine größeren Differenzen zwischen Lewin-Epstein, dem Kolonievorstand und dem Esra ausgelöst zu haben, denn in den folgenden Briefen war von Auseinandersetzungen nicht mehr die Rede, die Ansiedlung der fünf Kolonistenfamilien52 verlief reibungslos, wobei die Lösung der Streitfrage jedoch verborgen bleibt. Die fünf Grundstücke der neuen Kolonisten lagen an der gleichen Straße, wodurch diese Ansiedlung den Namen „Esra-Straße" erhielt und unter diesem Namen in Palästina auch bekannt wurde.53 Doch das Geld aus Berlin genügte nicht zur vollständigen Kolonisierung, bereits 1898 schrieben die Esra-Kolonisten an den Vorsitzenden Dorn und baten um finanzielle Unterstützung für notwendige Ergänzungen ihrer Siedlung.54 Dorn befragte Lewin-Epstein ob der Berechtigung dieser Anfrage und bekam daraufhin von diesem eine detaillierte Liste der noch auszuführenden Arbeiten. Diese Liste gewährt einen Einblick, welche Maßnahmen zur Installierung der Siedlung vorgenommen wurden, sie zeigt aber auch, welche elementaren Dinge noch fehlten. Es wurden dringend in den Häusern Fußböden und in jedem Haus ein zusätzliches Fenster nach Osten benötigt, weiter mußte der Boden für die geplanten Gemüsegärten urbar gemacht sowie Kühe für die Milchwirtschaft gekauft und Geflügelhäuser gebaut werden.55 Lewin-Epsteins Aufstellung zwingt zu dem Schluß, daß der Verein Esra in einigen Dingen wieder in die Fehler der Anfangszeit der Kolonisation 1882 zurückgefallen war. Zwar wurde der Landkauf nicht in großer Eile oder unter besonderem Druck getätigt, aber die materielle Ausstattung der Kolonisten, die damit eine eigenständige Wirtschaft aufbauen sollten, muß, an ihrem Anspruch gemessen, als nicht ausreichend bezeichnet werden.
51 Vgl. Soskin an Bambus, (2.)4.1897, ZZA, A31/2. 52 1898 lebten in der Esra-Straße 25 Personen. Vgl. „Rechowoth Statistik, Nissan 1898", in: Lewin-Epstein an Bambus, 6.6.1898, ZZA, A216/2. 53 Vgl. Lewin-Epstein, ZZA, A126/22. 54 Vgl. Dorn an Lewin-Epstein, 1.11.1898, ZZA, A216/16a. 55 Vgl. Lewin-Epstein an Dorn, 8.1.1899, ZZA, A216/16a. Die weiteren Ergänzungen bezogen sich auf bauliche Maßnahmen wie Umzäunungen und Überdachungen. Diese Aufstellung wirft allerdings einige Fragen au£ denn in einem Brief an Bambus hatte Lewin-Epstein bereits im Juni 1898 eine Rechnung und eine Statistik vorgelegt, aus denen hervorgeht, daß der Boden für die Gemüsegärten bereits bestellt ist sowie für die Familien zehn Milchkühe gekauft wurden. Der Widerspruch läßt sich nicht aufklösen, da es keine Nachfrage von Bambus über die Rechnung gibt. Vgl. Lewin-Epstein an Bambus, 6.6.1898, ZZA, A216/2.
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Der Brief der fünf Kolonisten an Dorn war also nur allzu berechtigt. Lewin-Epstein bezifferte die Kosten auf 5.625 frs., und es ist davon auszugehen, daß diese Ergänzungsarbeiten auch ausgeführt wurden, da in den weiteren Briefwechseln zwischen der Kolonie und den Vertretern des Esra dieses Thema nicht mehr diskutiert wird.56 Die Situation für die Kolonisten verbesserte sich nach diesen Maßnahmen erheblich, wie einem Brief des Esra-Gründungsmitglieds Isaak Turoff aus dem Jahre 1906 zu entnehmen ist. Turoff bereiste in diesem Jahr Palästina, besuchte die Kolonie und verfaßte einen Bericht über die ökonomische Lage. Diese stellte sich so positiv dar, daß mit den Kolonisten die Vereinbarung getroffen werden konnte, ab 1908 mit der Rückzahlung der Subventionen zu beginnen.57 Esra war aber in Rechowot nicht nur mit der Einrichtung seiner fünf Kolonisten befaßt. Lewin-Epstein nutzte seine guten Kontakte zu Bambus, um von ihm auch Hilfe für die Schule in Rechowot zu erbitten. Bambus sagte im Dezember 1896 seine Unterstützung für dieses Projekt zu58 und erreichte schließlich 1898, daß der Verein die Schule mit jährlich 500 Mark förderte.5' Der Verein Esra bestand noch bis 1932. In dieser Zeit förderte er verschiedene Projekte in Palästina, die sich mit Kolonisation, Erziehung, Kultur und Gesundheitsversorgung beschäftigten. In den Jahren 1884-1891 wurden 9.077 Mark nach Palästina gesandt, 1892-1899 waren es bereits 42.230 Mark.60 Die Gesamtsumme der eingesetzten Gelder betrug mehr als 300.000 Mark.61 Ohne Zweifel kann der Verein Esra bis 1895 als in Ansätzen erfolgreich bezeichnet werden, da durch ihn eine effektive Tätigkeit begonnen wurde, die zunächst in einem kleinen Rahmen einige Vorstellungen der Chowewe Zion zu realisieren half 56 Mit dem Einsatz eines zweiten Kapitalschubs würde sich auch der Unterschied von 3.000 Mark zwischen den Angaben aus der Esra-Mitteilung des Jahres 1897 und den Angaben in A12/31 erklären. 57 Vgl. Isaak Turofii Über meine Reise nach Palästina, Bericht vom 23.3.1906, ZZA, A12/31. 58 Vgl. Bambus an Lewin-Epstein, 20.12.1896, ZZA, A216/16a. 59 Vgl. Lewin-Epstein an Bambus, 6.6.1898, ZZA, A216/2. 60 Vgl. „Bericht des „Esra", Verein zur Unterstützung ackerbautreibender Juden in Palästina und Syrien pro 1900, 1901, 1902 und 1903." Zitiert in „Altneuland", 1904, S. 186. Aus den 1880er und 1890er Jahren liegen Einladungen des Esra zu verschiedenen kulturellen Veranstaltungen vor, die zeigen, daß der Verein immer wieder Gala-Abende und vor allem Bälle veranstaltet hat, die aber stets mit Vorträgen über Palästina verbunden und mit den jüdischen Feiertagen gekoppelt waren. Vgl. u.a. die Chanukahfeiern 1894 u. 1895, ZZA, DD-Germania 4. 61 Vgl. Reinharz, 1979, S. 280.
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Bei der Frage nach der Umsetzung der Ziele des Esra und der daraus resultierenden Bewertung durch die Zeitgenossen und die Historiographie muß ein wichtiger Faktor beachtet werden. Der Verein wurde mit dem Auftreten Herzls in eine heftige Auseinandersetzung hineingezogen, die zwischen den beiden Protagonisten Willy Bambus und Heinrich Loewe ausgetragen wurde. Loewe, dessen Memoiren auch ausfuhrliche Schilderungen des Esra enthalten, erwies sich dabei als konsequenter Verfechter dessen, was er Nationaljudentum nannte und woran er alle Handlungen des Vereins maß. Bambus hingegen sah in der „Kleinkolonisation" in Palästina den einzigen Weg, dem jüdischen Volk Hilfe und Neuorientierung zu geben. Vor diesem Hintergrund erklären sich die zahlreichen, äußerst polemischen Äußerungen Loewes über den Esra, den er einen „ziemlich inhaltslosen Kolonisationsverein"62 nannte und ihm nur ein „Scheindasein"63 zugestand. Spöttisch spricht er oft von „Esra-Männern" und meint damit philanthropische Arbeit ohne jeden zionistischen Hintergrund. Es ist aber für eine Bewertung auch zu bedenken, daß der Verein in einer äußerst schwierigen Zeit seine Ziele definieren mußte und ihm schließlich zur Umsetzung nur geringer Spielraum blieb. Die Jahre 1884 bis 1891 brachten den Chowewe Zion in Deutschland nur wenig Erfolge, ihre Arbeit wurde kaum beachtet und weiterreichende Ziele als zunächst eine Geldsammlung für die Kolonien in Palästina zu initiieren, konnten, realistisch betrachtet, nicht umgesetzt werden. Die steigende Zahl der Mitglieder und das Volumen der Einnahmen belegen die Richtigkeit des Konzepts. Als sich der Verein eine sichere finanzielle Basis erarbeitet hatte und sich die Gedanken der Chowewe Zion im deutschen Judentum seit Mitte der 1890er Jahre langsam zu einem diskutablen Faktor entwickelten, begann der Esra seine aktive Arbeit in Palästina für die Kolonien auf ein längerfristiges Fundament zu stellen und wurde gleichzeitig in Deutschland von der Bewegung des Herzl'schen Zionismus überholt, fast möchte man sagen überrollt. Plötzlich war in der zionistischen Gesellschaft für einen Verein wie Esra nur noch eine Nische frei, obwohl die Vereinsvertreter doch mit einer ganz zentralen Position in der jüdischen Gesellschaft gerechnet hatten. Dieses „Nischendasein" spiegelt sich auch in der zionistischen Historiographie wider, denn in den Standardwerken von Böhm und Laqueur wird der Verein nicht einmal namentlich erwähnt, bei Lichtheim dagegen finden sich grobe Simplifizierungen neben faktisch falschen Angaben über 62 Vgl. Loewe, Sichronoth, David Wolffsohn, S. 1, ZZA, A146/6/2. 63 Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Grundarbeit, S. 7, ZZA, A146/6/5.
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den Esra.64 Aber trotzdem hatte der Verein in der Zeit vor Herzl doch eine wichtige Aufgabe erfüllt, die schließlich auch Loewe anerkannte, denn er schreibt über die Esra-Männer: „Sie haben geholfen, dem Zionismus, dem sie nicht angehörten, doch den Weg zu bereiten."65
4. Max Bodenheimers Arbeit für die Kolonisationsvereine Das Jahr 1891 war aber nicht nur fur die wachsende Popularität des Vereins Esra von größter Bedeutung. Ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichte der Kölner Rechtsanwalt Max Isidor Bodenheimer (1865-1940)66 seine ersten Aufsätze über den Zionismus, die für ihn der Beginn seiner Entwicklung zu einem der bekanntesten und wichtigsten Zionisten in Deutschland waren. Zwar hatte er bereits 1890 eine sogenannte „große zionistische Dichtung" mit dem Namen „Vision" verfaßt, weiteren Kreisen aber wurde Bodenheimer erst mit der Schrift „Wohin mit den russischen Juden? Syrien ein Zufluchtsort der russischen Juden" vom Juni 1891 bekannt.67 In dieser Schrift verzichtete Bodenheimer bewußt auf eine exakte wissenschaftliche Ausarbeitung des Ansiedlungsvorgangs in Syrien und rief in einer allgemein gehaltenen Weise die verschiedenen Gruppen der jüdi-
64 Vgl. Lichtheim, 1954, S. 101. Zum Problem der Bewertung des Vereins vgl. Eloni, 1987, S. 52. 65 Vgl. Loewe, Sichronoth, „Esra-Männer", S. 1. ZZA, A146/6/2. 66 Bodenheimer wurde 1865 in Stuttgart geboren. Von 1890 bis 1933 praktizierte er als Anwalt in Köln und siedelte 1935 nach Palästina über. Obwohl er einem völlig assimilierten Elternhaus entstammte und auch eine dementsprechende Erziehung erfahren hatte, Schloß sich der junge Bodenheimer bereits 1890 der Chibbat ZionBewegung an. Sein Engagement fur den Zionismus ließ ihn zu einem der engsten Vertrauten Herzls werden. Bodenheimer war maßgeblich an der Gründung der Zionistischen Weltorganisation beteiligt, gehörte dem „Großen Actions-Comite" bis 1921 an und war ebenfalls bis 1921 Direktor des Jüdischen Nationalfonds". Vgl. MaxJ. Bodenheimer, So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Hg. v. Henriette Hannah Bodenheimer, Frankfurt/M. 1958 u. Henriette Hannah Bodenheimer, Im Anfang der zionistischen Bewegung. Eine Dokumentation auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Theodor Herzl und Max Bodenheimer von 1896 bis 1905, Frankfurt/M. 1965. 67 Loewe beschreibt in seinen Erinnerungen, wie sehr die Bodenheimer'sche Schrift auf ihn und seine Zionsfreunde gewirkt habe. Vor allem zeigten sie sich davon beeindruckt, daß sich ein deutscher Jude, noch dazu ein Akademiker, der Sache der Kolonisation und des Zionismus angenommmen hatte. Vgl. Loewe, Sichronoth, Die rassische Judenfrage, S. 4, ZZA, A146/6/5.
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sehen Bevölkerung zur Hilfe für die Kolonisation in Syrien auf. Es gelte den russischen Juden schnell zu helfen, für langes Prüfen und Abwägen gebe es keine Zeit, alle Kreise des Judentums müßten mitarbeiten, und die finanzielle Seite sei durch die Spenden der reichen Juden ohne Zweifel problemlos zu regeln. Praktisch dachte Bodenheimer vor allem an den Bau von Eisenbahnstrecken, an denen die jüdischen Siedlungen liegen sollten. Die Organisation des Unternehmens plante er, in die Hand einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu legen.68 Allerdings vermied es Bodenheimer in seiner Broschüre, explizit von „Palästina" zu reden, er sprach stets von Syrien, und auch der nationale Gedanke wurde nicht erwähnt, von den Zionisten aber umgehend hineininterpretiert.69 Diese in 55.000 Exemplaren erscheinende Schrift brachte dem Autor erste Kontakte mit Leon Pinsker und Nathan Birnbaum und führte zu einer weiteren Ausarbeitung, die sich schon detailliert mit der Realisierung einer Kolonisation befaßte. Verschiedene Seiten hatten an ihn den Wunsch herangetragen, seine Vorstellungen zu konkretisieren,70 daher schrieb Bodenheimer im August 1891 den „Provisorischen Entwurf für eine Kolonisation des südlichen Galiläas oder der Bekaa durch eine Agrarund Industriebank."71 Inwieweit diese Schrift eine Wirkung auf die zur Einrichtung einer solchen Bank notwendigen Personen ausgeübt hatte, läßt sich aus dem Quellenmaterial nicht mehr rekonstruieren, die Schrift wird
68 MaxJ. Bodenheimer, Wohin mit den russischen Juden? Syrien ein Zufluchtsort der russischen Juden, Hamburg (Juni) 1891, zitiert nach Reinharz, 1981, S. 20-22. Bezeichnenderweise erschien „Wohin mit den russischen Juden" im Verlag des Deutsch-Israelitischen Familienblattes „Die Menorah", die in der Kolonisation Palästinas die Lösung fur die verfolgten Juden sah. Vgl. Zielsetzung der „Menorah", zitiert in: Loewe, Sichronoth, Die russische Judenfrage, S. 4, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 . 69 Vgl. Loewe, Sichronoth, Die russische Judenfrage, S. 4, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 . Wobei „Syrien" auch im arabischen Verständnis Palästina miteinschließt, vgl. Antonius, 1969. 70 Nach H.H. Bodenheimer war dies unter anderem Baron Hirsch. Vgl. H.H. Bodenheimer, 1965, S. 14. Bodenheimer selbst nennt seine Auftraggeber nicht explizit. 71 Handschriftliches Exemplar in ZZA, A15/II1. U m sich die für das Anfertigen einer solchen Schrift notwendigen Informationen zu beschaffen, hatte er sich auch an das Bankgeschäft Siegmund Fischer in Hamburg gewandt, das in Beirut eine Filiale unterhielt und bereits mit der Finanzierung der jüdischen Kolonisten vertraut war. Fischer hatte ihm daraufhin ein einjähriges Praktikum zum Studium der palästinensischen Verhältnisse in seiner Filiale empfohlen. Vgl. zu den Kontakten Fischers mit den Kolonien ZZA, J15/5969 u. J15/5972. Zu dem Angebot an Bodenheimer vgl. Fischer an Bodenheimer, 7.7.1891, ZZA, A 1 5 / II 11.
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jedenfalls weder in den späteren Briefwechseln noch in der zionistischen Literatur erwähnt. Im Laufe des Jahres 1891 schrieb Bodenheimer noch weitere Aufsätze über die zionistische Bewegung, jedoch mit dem Schwerpunkt auf der ideologischen Konzentration der Zionisten und weniger mit einem Bezug zu Palästina.72 Bis 1894 widmete er sich intensiv der Verbreitung der zionistischen Ideen und traf dabei mit Willy Bambus, Heinrich Loewe, Hirsch Hildesheimer - Sohn des Rabbiners Esriel Hildesheimer - und Armand Kaminka zusammen.73 Schon 1892 hatte Bodenheimer in Köln einen andern Zionsfreund kennengelernt, der für die Geschichte des Zionismus große Bedeutung erlangen sollte, David Wolffsohn (1856-1914). Einem religiösen, osteuropäischen Elternhaus entstammend, hatte Wolffsohn die Talmud-Toraschule des Rabbiners Isaak Rülf besucht, der in ihm früh die Begeisterung für zionistische Ideen weckte. Nach verschiedenen beruflichen Versuchen lebte er schließlich ab 1888 als Holzgroßhändler in Köln, wo er mit Max Bodenheimer zusammentraf74 Resultat dieser Arbeit Bodenheimers war die Gründung zweier Vereine, die bemerkenswerterweise bereits die Trennung zwischen politischem und praktischem Zionismus, wie sie dann ab 1897 von Herzl herbeigeführt werden sollte, vorwegnahmen. Für den politischen Zionismus rief Bodenheimer die „National-Jüdische Vereinigung" ins Leben, aus der sich die
72 Vgl. die chronologische Aufzählung der Schriften in H.H. Bodenheimer, 1965, S. 14. Hervorgehoben sei der Aufsatz „Zionisten aller Länder vereinigt euch", in dem er die Zersplitterung und Uneinigkeit der Zionsvereine als Grund dafür nannte, daß die Situation in Palästina un die Lage der osteuropäischen Juden sich nicht bessern würde, da nur eine gemeinsame Leitung alle anstehenden Aufgaben bewältigen könne. Vgl. Max Bodenheimer, Zionisten aller Länder vereinigt euch, in: Die Menorah, September 1891, zitiert nach einer maschinenschriftlichen Abschrift des Artikels. Die Forderung nach einer gemeinsamen Leitung wurde 6 Jahre nach diesem Artikel durch die Gründung der Zionistischen Weltorganisation auf dem Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel erfüllt. 73 Vgl. H.H. Bodenheimer, 1965, S. 14f 74 Zur Biographie Wolffsohns vgl. Emil Bernhard Cohn, David Wolffsohn, Amsterdam 1939 u. Abraham Robinsohn, David Wolffsohn, Berlin 1921. Es ist bezeichnend, daß es über David Wolffsohn nur zwei ältere Biographien gibt. Er gehört wohl zu den am meisten verkannten und unertschätzten Figuren des Zionismus und wird in den meist auf seine Rolle als Nachfolger Herzls in der Leitung der Zionistischen Weltorganisation reduziert. Seine eigene Arbeit, zum Beispiel fur den Aufbau einer Jüdischen Kolonialbank, geraten dabei schnell in Vergessenheit. Vgl. dazu: Erik Petry, David Wolffsohn, in: Haumann, 1997, S. 166.
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„Zionistische Vereinigung für Deutschland" entwickeln sollte.75 Der andere Verein, und im Zusammenhang dieser Arbeit weit interessantere, war der „Verein behufs Förderung der jüdischen Ackerbaukolonien in Syrien und Palästina".76 Bevor auf den Kolonisationsverein näher eingegangen wird, sei ein retrospektiver Exkurs gestattet. Entgegen dem Bild, das der Zionismus ab 1897 bot, und in dem er sich selbst als eine Bewegung darstellte, die sich hauptsächlich aus nichtorthodoxen, aber national gesinnten Juden zusammensetzte, muß noch einmal wiederholt werden, daß die frühen Zionisten, die Verfechter einer Kolonisation Palästinas, die Ideengeber fur eine mögliche Wiederherstellung staadicher Strukturen im Lande der Väter, fast ausnahmslos aus dem Kreis der Orthodoxie kamen. Seien es Hirsch Kalischer und Jehuda Alkalai, Hile Wechsler und Josef Natonek oder Emil Lachmann, Leopold Hamburger, Adolf Salvendi und Sigismund Simmel. Eine Ausnahme bildete Moses Hess, dessen Werk „Rom und Jerusalem" in den zionistischen Kreisen aber auch keine Rolle spielte, bis eine Neuausgabe 1899 durch Max Bodenheimer Hess der Vergessenheit entriß. Daß Orthodoxie und Zionismus im Bewußtsein auch z.B. eines eher reformorientierten Rabbiners eine Synthese bilden, zeigt die Gründungsversammlung des Kölner Kolonisationsvereins. Ende Oktober 1894 fanden sich 17 Herren zum Zwecke der Vereinsgründung zusammen. Das Protokoll verzeichnete weniger die Diskussion um Statuten, Zielsetzungen oder dergleichen als vielmehr die Auseinandersetzung in der Versammlung um den geplanten Einfuhrungsvortrag von Hirsch Hildesheimer, Sohn des Rabbiners Esriel Hildesheimer, aus Berlin über die Tätigkeit der Kolonisationsvereine. Das Protokoll zitiert Rabbiner Frank aus Köln mit den bezeichnenden Sätzen: „Herr Dr. Hildesheimer sei ein Vertreter der Orthodoxie und beguenstige die zionistischen Tendenzen, (...) und er werde nicht dulden, dass diese Anschauungen in seiner Gemeinde vorgetragen
75 Da sich diese Arbeit der praktischen Tätigkeit der Zionisten widmet, wird auf die ZVfD nicht näher eingegangen, da sie sich in ihrer Gründungszeit, die den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit umfaßt, explizit als Vertreterin des politischen, von Herzl geprägten Zionismus verstand. Die Probleme, die dabei mit den „praktischen" Zionisten auftraten, werden im Kapitel über Willy Bambus thematisiert. Als weiterführende Lektüre sei empfohlen: Eloni, 1987. 76 Beide Zusammenschlüsse hatten mit dem „Verein für jüdische Geschichte und Literatur" in Köln einen gemeinsamen Vorläufer. Vgl. Fritz Schatten, Max Bodenheimer, der Deutsche unter den Zionisten der Ersten Stunde, 1987, ZZA, A 1 5 / N 13.
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werden."77 Und etwas später weitete Frank, gemäß den Aufzeichnungen des Protokolls, seinen Vorwurf aus: „Die Orthodoxie habe immer etwas nationaljuedisches an sich."78 Trotz dieser Streitigkeiten wurde der Verein konstituiert.79 Die Äußerungen machen deutlich, daß drei Jahre vor dem Baseler Kongreß - eine ihren Organisatoren nach säkulare Veranstaltung - das beginnende Engagement der akkulturierten, nichtorthodoxen Juden für Palästina im Bewußtsein der deutschen Juden noch keine Spuren hinterlassen hatte. Die ersten erbitterten Feinde des Herzl'schen Zionismus sollten dann aber große Teile der Orthodoxie sein, die sich zum einen vom völlig areligiösen Charakter des Herzl'schen Zionismus abgestoßen fühlten, zum andern vielleicht auch ihr ureigenes Anliegen, die Rückkehr nach Palästina, durch Herzls säkulare Haltung verraten sahen. Die Kölner focht dies selbstverständlich noch nicht an, sie sahen ihr Ziel zunächst in Geldsammlungen für die bereits bestehenden Kolonien und suchten schon 1895 nach Vertrauenspersonen in Palästina, die die Verteilung der Subventionen im Lande übernehmen konnten.80 Der im
77 Protokoll der „Sitzung des Comitees zur Gruendung eines Vereins behufs Foerderung der juedischen Ackerbaukolonien in Syrien und Palaestina", Oktober 1894, S. 2, ZZA, A15/7 N. Bei dem nur mit „Rabbiner Frank" bezeichneten Teilnehmer der Sitzung handelte es sich um Abraham Frank (1839-1917), der seit 1876 Rabbiner in Köln war. Er hatte an der Universität Breslau und am dortigen Theologischen Seminar studiert, u.a. bei Frankel und Graetz. Jahrzehntelang führte er den „Verein für jüdische Geschichte und Literatur" in Köln und amtierte auch einige Jahre zusammen mit Gustav Karpeles als Präsident der Organisation für ganz Deutschland. Vgl. Zvi Asaria, Die Juden in Köln. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Köln 1959, S. 202£ u. Adolf Kober, History of the Jews in Cologne, Philadelphia 1940, S. 233-238. 78 Protokoll der „Sitzung des Comitees zur Gruendung eines Vereins behufs Foerderung der juedischen Ackerbaukolonien in Syrien und Palaestina", Oktober 1894, S. 2, ZZA, A15/7 N. 79 Allerdings stieß die Vereinsgründung in Köln nicht nur auf Zustimmung. In einem 1896 bei einer Vereinsversammlung gehaltenen Vortrag sprach David Wolffsohn über die vorgebrachten Bedenken. Zunächst sei es das Vorurteil gewesen, die russischen Juden wollten nicht arbeiten. Des weiteren gebe es für einen Kolonisationsverein nicht genügend Geld in der Kölner Gemeinde. Angesichts der politischen Weltlage müsse auch eine Invasion der Türkei durch Rußland befürchtet werden. Schließlich sei jede Beschäftigung mit dem Zionismus nur zum allergrößten Schaden für die deutschen Juden. Wolffsohn entkräftete alle Argumente und bezeichnete besonders die angeblich fehlenden finanziellem Mittel schlicht als Unwahrheit. Vgl. Vortrag David Wolffsohn, 1896, ZZA, W36. 80 Vgl. Rundschreiben des Vereins 1895, ZZA, A15/II 5.
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Herbst 1895 von seiner ersten Palästinareise zurückgekehrte Willy Bambus machte die Protagonisten des Vereins, Bodenheimer und Wolffsohn, schließlich auf die Bnei Brith-Kolonie Moza aufmerksam, die noch größerer Subventionen bedürfe, da sie erst 1894 wieder besiedelt worden sei. Im März 1896 schrieben daraufhin Bodenheimer und Wolffsohn an den Vertreter des Bnei Brith in Jerusalem und erklärten, der Kölner Verein erwäge „(...) die Kolonie Moza bei Jerusalem unter unser Protektorat zu nehmen bzw. ganz zu erwerben."8' Der Kauf der Kolonie kam zwar nicht zustande, aber die angebotene Subvention wurde dankbar angenommen und belief sich auf 1.200 frs jährlich.82 Nach dem Esra war dies der zweite Versuch eines deutsch-jüdischen Kolonisationsvereins, den Siedlungen in Palästina konkret zu helfen. Die Kolonie blieb bis zur Jahrhundertwende zwar nur eine kleine Ansiedlung mit ökonomischen Problemen, erwies sich aber als stabil, so daß man schon 1901 an eine Vergrößerung dachte, zu der die Kölner um zusätzliche Hilfe gebeten wurden.83 Bereits 1903 befand Adolf Friedemann auf seiner Reise durch Palästina über den Zuschuß aus Köln: „(...) aber sie bedürfen jetzt desselben nicht mehr, wollen sogar anfangen, ihre Schulden abzuzahlen."84 Dies war offensichtlich eine zu positive Einschätzung der Lage, denn bis 1905 war mit den Rückzahlungen noch nicht begonnen
81 Vgl. Bodenheimer und Wolffsohn an Ephraim Kohn, 25.3.1896, ZZAJ97/13. Der Adressat des Briefes war Ephraim Cohn-Reiss (1863-1943), der als Lehrer in seiner Heimatstadt Jerusalem der Lämel-Schule vorstand und später auch für den „Hilfsverein der deutschen Juden" aktiv war. Cohn-Reiss hatte seine Ausbildung an einem Lehrerseminar in Hannover erhalten. 82 Vgl. die in den Bnei Brith-Akten vorhandenen Quittungen über die Zahlungen aus Köln ab dem Jahr 1897, ZZA, J97/11. Vgl. auch Luncz, 1902, S. 23 u. Konsul Rosen an Reichskanzler Hohenlohe, 9.5.1900, in: Acte „Die Juden in der Türkei", Anlage I, Κ 175986. Wann genau die Subventionen einsetzten, ist aus den Unterlagen nicht zu ersehen. Der erste Begleitbrief zu diesen Unterstützungen liegt für den September 1896 vor, aus dem jedoch nicht hervorgeht, ob es die erste Zahlung dieser Art war. Der Inhalt des Briefes läßt aber darauf schließen, da Wolffsohn einen Scheck über 240 Mark ausgestellt hatte und sich erkundigte, wie die Wechselkurse für den Franc seien, damit die geplanten vierteljährlichen 300 frs erreicht würden. Vgl. Wolffsohn an Ephraim Cohn, 14.9.1896, ZZA, J97/17. 83 Vgl. Comite der jüdischen Colonie Mozah an den Vorstand des Vereins zur Unterstützungjüdischer Ackerbauer in Palaestina und Syrien, 14. Tamus 5661 (1.7.1901), ZZA, W 52 II. 84 Adolf Friedemann, Reisebilder aus Palästina, Berlin 1904, S. 50. Daß die Kolonie Moza von den Zionisten wohlwollend betrachtet wurde, lag sicherlich nicht zuletzt am Besuch Herzls 1898 in der Kolonie.
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worden, obwohl die Kolonie ökonomisch prosperierte, fiir ihre Produkte in Jerusalem einen Absatzmarkt fand und daher die Möglichkeit der Rückzahlungen ab 1905 als realistisch eingeschätzt wurde.85 Der letzte Kolonisationsverein, der vor dem Erscheinen von Herzls „Der Judenstaat" gegründet wurde, war die „Freie israelitische Vereinigung". Und in auch diesem Verein spielte Max Bodenheimer zunächst eine wichtige Rolle. Verantwortlich für die Vereinsgründung zeichnete allerdings der Hamburger Philanthrop Gustav Tuch (1834-1909), den seine sozialen Hilfstätigkeiten weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus im deutschen Judentum bekannt gemacht hatten.86 Tuch setzte sich bereits 1893 mit Bodenheimer in Verbindung, nachdem er Nathan Birnbaums Aufsatz „Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes" (1893)87 gelesen hatte. Von den ausgesprochenen Gedanken völlig überzeugt, zweifelte Tuch nur noch am richtigen Zeitpunkt für eine solche Wiedergeburt.88 Dieser Zeitpunkt schien ihm im Jahre 1895 gekommen zu sein, er nutzte eine Sitzung der Großloge des Bnei Brith, bei der mit vielen Teilnehmern gerechnet wurde, und gründete im Mai 1895 seine Vereinigung, konzipiert als eine Art Wanderversammlung, die jedes Jahr an einem andern Ort tagen und ihre Beschlüsse in Form von Resolutionen zusammenfassen sollte.89
85 Vgl. Jerusalem-Loge an Julius Bien (New York), 26.1.1905, ZZA, J97/11. 86 Gustav Tuch, von Beruf Kaufmann, setzte sich ab den 1860er Jahren fiir die politische Einigung Deutschlands und für die Eingliederung Hamburgs, zu dieser Zeit noch Zollausland, in den deutschen Wirtschaftsbereich ein. Der aufkommende Antisemitismus in Verbindung mit einer Änderung der Bismarck'schen Wirtschaftspolitik ließen ihn nach der Reichsgründung diese Tätigkeit aufgeben. Als 50jähriger begann er, sich jüdischen Fragen zu widmen. Hamburg hatte eine strikte Trennung innerhalb der Jüdischen Gemeinde zwischen Gemeindeleitung und Kultus. So war Tuch nie Mitglied in einem der Hamburger Kultusverbände, dafür aber umso aktiver in der Gemeindeleitung. Er betrachtete seine Tätigkeit als auf rein nationaler Grundlage ruhend. „Werkzeug" seiner Aktivitäten war der Orden Bnei Brith. Ab 1906 bezeichnete er sich selbst als Zionisten. Vgl. Nachruf in: Jüdische Rundschau", XIV Jg., 1909, Nr. 7, 12.2.1909; Louis Maretzki, Reden und Abhandlungen über den Orden, o.O., o.D., Abschnitt: Gedächtnisrede auf Gustav Tuch, S. 111-115 u. Max Bodenheimer, Die freie israelitische Vereinigung, maschinenschriftliches Manuskript, o.J., ZZA, A15/II6. 87 Neuauflage der frühen zionistischen Schriften Birnbaums unter dem Titel: Nathan Birnbaum, Die jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften, Augsburg 1989. 88 Tuch an Bodenheimer, 4.5.1893, ZZA, A15/II 6 (chronologische Auflistung und Exzerpte der Briefe die „Freie israelitische Vereinigung" betreffend). 89 Vgl „Gründungsaufruf der Freien israelitischen Vereinigung", Hamburg, April 1895, ZZA, Α15/Π 6.
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Um sich aber nicht nur in philanthropischen Tätigkeiten und Gesprächen über den inneren Zusammenhalt des Judentums zu ergehen,90 wurde ein Kolonisationsausschuß eingerichtet, dessen Leitung Max Bodenheimer übernahm.91 Und obwohl ein einleitender Briefwechsel zwischen den Mitgliedern des Ausschusses sofort begonnen wurde, in ersten Sondierungsgesprächen die absolute Priorität Palästinas gegenüber allen anderen Ländern betont und schließlich sogar ein Budget von 25.000 frs zur Verfugung gestellt wurde, blieb die Vereinigung in ihren Anfangen stecken. Konkrete Handlungen in Richtung auf eine Hilfe fur die Kolonien wurden nicht eingeleitet. Im Juni 1896 gab es eine zweite Vollversammlung, auf der Bodenheimer über die Kolonisation referierte.92 Damit waren die Aktivitäten des Vereins aber bereits beendet,93 denn inzwischen war Herzls ,Judenstaat" erschienen und sorgte für eine revolutionäre Umwälzung der gesamten Chibbat Zion-Bewegung. Die „Freie israelitische Vereinigung" wurde, wie auch die anderen Vereine, von Herzl völlig in den Hintergrund gedrängt.
5. Die Bedeutung der Kolonisationsvereine Wie sind die in diesem Kapitel beschriebenen Vereine im historischen Kontext und im Blick auf die Geschichte der Kolonien zu beurteilen? Zunächst fallt auf, daß es offenbar doch einige deutsche Juden gab, die sich der Kolonisation widmen wollten, die daher auch zu finanzieller Unterstützung bereit waren oder sich in den Dienst der Verbreitung der zionistischen, sprich kolonisatorischen Ideen stellen wollten. Ein genauer Blick auf die Mitglieder in den verschiedenen Komitees und Ausschüssen, ein Blick in die Rednerlisten mit den als Experten ausgewiesenen Referenten zeigt jedoch, daß sich dort häufig die selben Namen finden. Es sind dies zum Beispiel die Söhne des Rabbiners Esriel Hildesheimer, Hirsch und Meyer Hildesheimer, es sind die „Berliner" Bambus, Loewe, Meyer-Cohn. Auch Adolf Salvendi unterstützte viele Projekte dieser Art, unterschrieb zum Beispiel einen Werbebrief für die Bodenheimer'sche Broschüre „Wo-
90 Vgl. „Programmatische Erklärung", ZZA, A15/II 6. 91 Vgl. Tuch an Bodenheimer, 19.6.1895, ZZA, Α15/Π 6. 92 Vgl. II. Vollversammlung der „Freien israelitischen Vereinigung", 22.6.1896, ZZA, Α15/Π 6. 93 Vgl. Max Bodenheimer, Die freie israelitische Vereinigung, maschinenschriftliches Manuskript, oj., ZZA, A15/II 6.
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hin mit den rassischen Juden". Bodenheimer selbst war in insgesamt drei dieser Vereine tätig.'4 Der Eindruck, die Vereine würden nur von einer relativ kleinen Gruppe von Chibbat Zion-Anhängern inspiriert, ins Leben gerufen und ideell getragen, täuscht nicht. Dieses Faktum an sich wäre selbstverständlich kein Problem und hätte den Zionsfreunden sehr zur Ehre gereicht, wenn es ihnen gelungen wäre, aus der Idee einer Kolonisation Palästinas ein im deutschen Judentum fest verankertes Bewußtsein zu formen. Doch gerade dies gelang ihnen nicht. Mit den verschiedenen Ansätzen, vom rein religiös motivierten bis hin zum pragmatisch-ökonomisch orientierten Versuch, wurde den deutschen Juden eine Palette an Vielfältigkeit geboten, aus der man auszuwählen konnte, die aber auch verwirrend wirkte und dadurch zur Ablehnung fuhren konnte. Denn in der jüdischen Gesellschaft Deutschlands herrschten andere Vorstellungen und Ambitionen vor. Palästina war ein fernes, imaginäres Land, dem die Sehnsucht nur der religiösen Juden zu gelten hatte. Ein nationaljüdisches Denken erschien den akkulturierten Juden als völlig paradox. Wie konnte man einem jüdischen Staatsgedanken huldigen, wenn doch gleichzeitig alles getan wurde, um in der deutschen Nation als gleichwertiges Mitglied akzeptiert zu werden? 1894 schreibt dazu der Hannoveraner Rechtsanwalt Dr. Meyer an Bodenheimer, der ihm offenbar einen Brief über den Zionismus geschrieben hatte, und faßt die Einstellung im deutschen Judentum so plakativ zusammen, daß sich das Zitieren einer längeren Passage anbietet: „Ehrlich gestanden habe ich bis zum Empfang Ihres Briefes gar nicht geglaubt, dass ein studierter deutscher Jude im Ernst die Aufrichtung eines jüdischen Staatenwesens als wünschens- und erstrebenswert ansehen könne. Dieses Ideal liegt meinem ganzen Denken und Empfinden so furchtbar fern (...) dass es mich undenkliche Mühe kostet mich in diese Idee hineinzudenken. (...) Was ist mir Jerusalem? Ein Ort, der mir aus der Bibel eine Fülle heiliger Erinnerungen wachruft, so oft der Name ertönt; aber darum die Heimat aufgeben, darum die Scholle verlassen, an welche sich die süssen Erinnerungen der Kindheit knüpfen, die Gräber der Grosseltern, des Vaters zurücklassen? (...) Wer des Königs Rock getragen hat ist mit stärkeren Banden noch als Andere an das Vaterland gefesselt. Lieber möchte ich hier Druck und Zurücksetzung ertragen, als in Palästina unter jüdischem
94 In der „National-Jüdischen Vereinigung", im „Verein behufs Förderung der jüdischen Ackerbaukolonien in Syrien und Palästina" und in der „Freien israelitischen Vereinigung".
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Scepter par inter pares zu leben. Ich glaube, dass wenn wir zunächst für uns, fur die deutschen Juden sorgen, wir wohl daran tuen. (...) Nach unserer ganzen Erziehung, nach unser Körperbildung selbst, welche die jahrhundertelange Angesessenheit schon bei Vielen recht arisch gestaltet, ist die Auffassung des Judentums für uns der Glaube, nicht die Rasse, nicht die Zugehörigkeit zum Stamme oder zum Volke. Diese Ideen harmonisieren mit dem Wunsch nichts zu sein als Deutsche jüdischen Glaubens."95 Den Kolonisationsvereinen gelang es nicht, die manifesten Gefahren des aufkommenden Antisemitismus zu verdeutlichen und daraus die Kolonisation Palästinas als Lösung schlüssig darzulegen, obwohl die Befürworter der Kolonisation und auch Theodor Herzl explizit auf die Gefahren aufmerksam gemacht hatten. Hile Wechsler schrieb: „Nichts schützt vor dem Judenhaß mehr, auch das Wasser der Taufe nicht, auch die Blutverbindung durch Mischehen nicht."96 Denn Rassenhaß sei noch schrecklicher als Religionshaß, empfand der Rabbiner97 und beschwor die deutschen Juden, aus der Vergangenheit lernend, aber gleichzeitig prophetisch in die Zukunft blickend: „Wenn man den Juden aus irgend einem Grunde zu Leibe gehen will, (...) dann fehlt es auch nicht an Ursachen, ihn aus allerlei Scheingründen da und dort aus dem Wege zu schaffen."98 Leon Pinsker erklärte 1882, daß die Juden ohne eigene Nation auch weiterhin nicht von ihren Mitbürgern als „ebenbürtige Eingeborene" anerkannt werden würden,99 außerdem ließen sie den gewalttätigen Antisemitismus ohne jede Gegenwehr über sich ergehen, fast mit Stolz auf das ihnen hin und wieder entgegenbrachte Mitleid.100 Noch schärfer formulierte dies Isaak Rülf ein Jahr später, er schrieb, wenn sich Juden gegen Mißhandlungen, gleich welcher Art, zur Wehr setzten, sei es gewöhnlich ein „Winseln um Gnade".101 Nathan Birnbaum stellte 1893 erstaunt fest, „daß der Antisemitismus gerade in jenen Ländern, wo die Assimilationsbestrebungen
95 Dr. Meyer an Bodenheimer, 19.2.1894, ZZA, A15/85/1. Dieses Dokument deutschjüdischen Denkens und Empfindens kann als Zeugnis nicht nur des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewertet werden, es behält bis zum Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit. 96 Wechsler, 1880, S. 6. 97 Vgl. Wechsler, 1880, S. 26. 98 Wechsler, 1880, S. 16f 99 Vgl. Pinsker, 1932, S. 7. 100 Ebd., S. 15. 101 Rülf, 1883, S. 55.
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der Juden am stärksten waren und am freudigsten begrüßt wurden, den fettesten Nährboden fand."102 Theodor Herzl schließlich befand in der ihm eigenen Art der simplifizierenden Darstellung komplizierter Fakten: „Die Völker, bei denen Juden wohnen, sind sammt und sonders (...) Antisemiten." Die Hoffnung auf eine allgemeine menschliche Besserung, gegründet auf die Güte, die dann auch den Juden zugute komme, nannte er eine „Faselei" und resümierte: „Man wird uns nicht in Ruhe lassen."103 Es war aber Mitte der 1890er Jahre objektiv nicht zu erkennen, wie gefahrlich der Antisemitismus noch werden sollte und auch nicht, daß sich Palästina zu einer der wenigen realen Fluchtmöglichkeiten entwickeln würde. Die Möglichkeit, Einfluß auf die Entwicklung der Siedlungen auszuüben, hatten die deutschen Juden aber bereits 1882 verpaßt, als sich die osteuropäischen Kolonisten nach Deutschland wandten, um hier Hilfe zu finden. So blieb es im deutschen Judentum bei kleineren Versuchen, die Kolonien zu unterstützen. Hierbei haben dann aber nur der Esra und der Kölner Kolonisationsverein vorzeigbare Resultate erbracht. Hypothetisch ist die Frage, ob sich ab der zweiten Hälfte der 1890er Jahre die Einstellung der deutschen Juden zu wandeln begann, sich daher die Möglichkeit bot, die Kolonisation im Bewußtsein der Juden doch noch zu verankern und neuen Kolonisationsvereinen die Gelegenheit zu geben, in Palästina aktiv zu werden. Die Frage ist deswegen hypothetisch, da im Jahre 1896 Theodor Herzl die zionistische Bewegung in kürzester Zeit völlig veränderte und jede neue Aktivität zunächst auf ihn zugeschnitten war. Der Zionismus änderte seine Zielrichtung, die politischen Aktivitäten bekamen Priorität, und die Kolonisationsvereine hatten nur die Wahl, in der sich bildenden Zionistischen Weltorganisation mitzuarbeiten oder im Sog der Herzl'schen Aktivitäten jede Bedeutung zu verlieren. Neuen Ansätzen außerhalb der Zionistischen Weltorganisation blieb daher keine Zeit fiir eine ruhige, gedeihliche Entwicklung. Inwieweit davon auch Willy Bambus und Heinrich Loewe, die vielleicht größten Hoffnungsträger des deutschen Zionismus vor Herzl - in Hinblick auf die Entwicklung nationalstaatlicher Gedanken, aber auch auf die Hilfe für die Kolonien -, betroffen waren, soll im nächsten Kapitel erörtert werden. 102 Nathan Birnbaum, Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes, Wien 1893, abgedruckt in: Nathan Birnbaum, Die jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften, Augsburg, 1989, S. 22. 103 Herzl, 1897, S. 26.
XIII. Willy Bambus und Heinrich Loewe
Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, daß es zwar im deutschen Judentum vereinzelt ein Interesse fur die Kolonien in Palästina gegeben hat, sich in den 1880er Jahren in der jüdischen Bevölkerung Deutschlands aber keine größere Bewegung entwickeln konnte. Vielleicht fehlten in den ersten Jahren der Bewegung für Palästina die Führungskräfte, die eine größere Popularisierung hätten erreichen können. Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte des politischen Zionismus unter Theodor Herzl scheint dies zu bestätigen. Leopold Hamburger, Emil Lachmann, Sigismund Simmel und Adolf Salvendi sind uneingeschränkt als Befürworter und Förderer der Kolonien anzusehen, aber nur Salvendi erreichte über die „Spendenverzeichnisse" ein größeres Publikum, und dies war offenbar nicht genug. Ende der 1880er Jahre aber kristallisierte sich die zweite Generation der Zionsfreunde in Deutschland heraus, an deren Spitze zwei Personen standen, die in der Zeit von 1886 bis 1896 die Ideen und Aktivitäten prägen sollten, Willy Bambus (1862-1904) und Heinrich Loewe (1869-1951). Beide waren auch für die Ausformung des Zionismus in Deutschland mit bestimmend, im Folgenden sollen sie aber vor allem in ihrer Tätigkeit und Agitation für die Kolonien gezeigt werden. Heinrich Loewe ist in der Historiographie des Zionismus eine prominente Figur geworden, Willy Bambus dagegen geriet in Vergessenheit. Dieses Kapitel wird daher den Fragen nachgehen, wie sich Loewe und Bambus für die Kolonisation eingesetzt haben, wie sie die Idee der Palästinafreunde in Deutschland populär zu machen versuchten, wie Bambus im Gegensatz zu Loewe den politischen Zionismus als Gefahr für die Kolonien bekämpfte, schließlich wie es zum Bruch zwischen beiden kam und damit auch zum fast völligen Verschwinden Bambus' aus dem Bewußtsein der Zionisten. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Person Willy Bambus liegen, da er bis heute der Unbekanntere von beiden ist, in den Jahren 1886 bis 1896 jedoch Loewe in seiner Bedeutung und Anerkennung mindestens gleichrangig war.
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1. Die frühen Jahre
Willy Bambus wurde am 21.3.1862 in Berlin geboren.1 Seine Familie, akkulturiert, aber ohne größeren Einfluß in der Berliner Gemeinde, stammte aus Hohensalza (heute Inowroclaw, Polen). Über Kindheit und Jugend ist nur bekannt, daß er ein Gymnasium bis zur Untersekunda besucht hatte, zeit seines Lebens sich aber autodidaktisch fortbildete.2 Schon in jungen Jahren Schloß er sich der Orthodoxie an, auch wenn ihm „die Kenntnisse fehlten, die er zur Ausübung des Gesetzes, das er in voller Form für sich als verbindlich ansah, eigentlich nötig hatte."3 Bambus, der sich selbst als „strenggläubigen Juden" bezeichnete,4 gehörte der Berliner Gemeinde „Adass Jisroel" an, es läßt sich jedoch nicht genau feststellen, wann er der Gemeinde beigetreten ist.5 Die Familie Bambus wird übereinstimmend als mittellos geschildert, nähere Angaben zum Beispiel zum Beruf des Vaters fehlen allerdings.6 Willy Bambus erlernte den Beruf eines Kaufmanns und leitete anschließend eine Weberei in Berlin.7 Der Aufstieg vom mittellosen Lehrling zum Leiter eines Unternehmens mutet überraschend an, doch Bambus' langjähriger Freund Hirsch Hildesheimer, einer der Söhne des Rabbiners Esriel Hildesheimer, fand eine einfache Erklärung. Bambus sei „ein Arbeitsgenie / \ (...) gewesen. « 8 Aus den Quellen geht nicht eindeutig hervor, was Willy Bambus bewegt haben mag, sich ab Mitte der 1880er Jahre dem Nationaljudentum und den Kolonien in Palästina zu widmen. Für Hirsch Hildesheimer waren diese Aktivitäten ein Zeichen von Bambus' „Hingebung für jüdisch-
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Zur Biographie von Bambus gibt es verschiedene Angaben. So wird sein Geburtsjahr in der EJ und bei Eliav mit 1863 angegeben. Dagegen nennen Bodenheimer, Herlitz und auch das Verzeichnis der Personalarchive des ZZA 1862. Vgl. Artikel „Bambus, Willy", in: EJ, 4:157; Eliav, 1981, Vol II, S. 323; H.H. Bodenheimer, 1965, S. 419 u. Georg Herlitz, Das Jahr der Zionisten, Jerusalem-Luzern 1949, S. 25. Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 6, ZZA, A146/6/5. Loewe, SichronothJung-Israel, S. 1, CZA, A146/6/5. Willy Bambus, Palästina - Land und Leute, Berlin 1898, S. 6. Vgl. Mitteilungen der Adass Jisroel an Bambus, CZA, A28/16/1, o.D. Vgl. z.B. Hirsch Hildesheimer, Leitartikel in: Die jüdische Presse, Nr. 46, 11.11.1904 u. Isaak Turofii Willy Bambus als Zionist und Nationaljude, in: „Die Welt", Nr. 47, 11.4.1904. Vgl. Isaak Turoff, Willy Bambus als Zionist und Nationaljude, in: „Die Welt", Nr. 47,11.4.1904. Hirsch Hildesheimer, Leitartikel in: Die jüdische Presse, Nr. 46,11.11.1904.
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gemeinützige Interessen"9, die auch aus seinem Leben nach den orthodoxen Traditionen erwuchs. Aber Bambus wollte offensichtlich nicht eigene Spenden wohltätig verteilen, was ihm angesichts seiner finanziellen Lage Anfang der 1880er Jahre wohl auch schwer gefallen wäre, er wollte aktiv und kreativ mitarbeiten. Hierzu bot sich ab Mitte der 1880er Jahre in Berlin eine Gelegenheit, die Bambus vor allem in Kontakt mit den Kolonien in Palätina bringen sollte, denn 1884 wurde in Berlin der Verein „Esra" gegründet.10 Bereits 1885 wurde Willy Bambus Mitglied im Esra11 und trat damit das erste Mal in das Licht der an Palästina interessierten Öffentlichkeit. Von den Ideen des Esra überzeugt, nicht aber von der Struktur und den bisherigen Aktivitäten, übernahm Bambus die Organisation des Berliner Lokalkomitees, wurde bereits 1887 Erster Schriftführer und war in seiner Tätigkeit außerordentlich erfolgreich, so daß Loewe ihn als den „(...) eigentlich führenden Geist im Verein" bezeichnete.12 Mit zwei weiteren Mitgliedern des Lokalkomitees, Isaak Turoff und Albert Katz, verband Bambus eine tiefe Freundschaft.13 Die drei Männer hatten die gleichen Vorstellungen über Palästina und entschlossen sich daher bereits im Herbst 1886, mit einer Zeitschrift an die jüdisch-deutsche Öffentlichkeit zu treten. Gemeinsam mit dem in Hamburg lebenden Ferdinand Wolff gründeten sie den „Serubabel", der sich explizit der „Förderung von Jischuw Erez Israel"14 widmen sollte. Daß dies nur ein kurzlebiger Versuch war, die Zeitschrift erschien nur zwei Jahre, ist im Vorangegangenen detailliert ausgeführt worden. Bambus wurde durch seine Aktivitäten recht bekannt, zumindest soweit, daß sich Rahmers „Israelitische Wochenschrift" zu einem spöttischen Artikel veranlaßt sah über Bambus' Versuche, mit den kleinen Gewinnen aus gesellschaftlichen Veranstaltungen des Esra die Kolonisation Palästinas finanzieren zu wollen.15 Allerdings konnte Bambus seine beginnende Popularität in den jüdischen Kreisen Berlins nicht weiter ausbauen, da ihn eine private Tragödie zum Verlassen der Stadt nötigte. Seine Ehefrau, Elise 9 10 11 12 13 14 15
Ebd. Vgl. „Der Verein „Esra"„, in: Kap. XII: Die deutschen Kolonisationsvereine. Vgl. H.H. Bodenheimer, 1965, S. 419. Loewe, Sichronoth, Im Verein Esra, S. 2, ZZA, A146/6/5. Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 5, ZZA, A146/6/5. Werbebroschüre „Serubabel", September 1886. Vgl. Kap. XI, Abschnitt „Serubabel". Artikel zitiert in: Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 6, ZZA, A146/6/5. Trotz dieser Angriffe waren die Jahre bis 1887 fur Bambus die „schönste Zeit" in seinem Leben, schreibt sein Freund Isaak Turoff 1904. Vgl. Turoff 1904.
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Bambus, litt unter einer fortschreitenden Geisteskrankheit, was ihn veranlaßte, sich 1889 in der Nähe von Brünn mit seiner Familie eine neue Existenz aufzubauen.16 Aber dies scheiterte, und wahrscheinlich 1891 kam Bambus in schweren finanziellen Nöten wieder nach Berlin zurück,17 wo er durch durch die Vermitdung Hirsch Hildesheimers beim „Komitee zur Abwehr antisemitischer Angriffe", das von Paul Nathan (1857-1927) ins Leben gerufen worden war,18 eine Arbeitsstelle fand. Während Bambus' Abwesenheit hatte sich die zionistische Landschaft in Berlin verändert. Vor allem der jüdische Studentenverein „RussischJüdisch wissenschaftlicher Verein" sorgte für neue Ideen und engagierte Aktivitäten auf dem Gebiet der Zionsliebe.1' Gegründet 1889 unter der Ägide von Leo Mozkin, versuchte der Verein, sich auf die aus Rußland stammenden Studenten in Berlin zu konzentrieren und sie für nationaljüdische Ideen zu begeistern. Der Verein war in seinen Bemühungen nicht besonders erfolgreich, wurde aber ein Sammelbecken einiger später für den Zionismus bedeutender Personen. In den Erinnerungen eines seiner Mitglieder, Chaim Weizmann, kulminierte die Beschreibung der regelmäßigen Zusammenkünfte in der bezeichnenden Feststellung: „It was all very youthful and native and jolly and exciting; but it was not without a deeper meaning."20 Der Verein bestand fast ausschließlich aus russischen Studenten, da jüdischen Studenten aus Deutschland die Ideen des Vereins wohl zu suspekt erschienen, und so fand sich nur ein einziges Mitglied aus Deutschland im „Russisch-Jüdisch wissenschaftlichen Verein". Dieses Mit-
16 Die Informationen über die Ehe und die Krankheit von Elise Bambus sind nur sehr spärlich. Über die Art und Schwere der Krankheit kann nichts gesagt werden, ebensowenig darüber, ob sie in Brünn in einem Heim gepflegt werden sollte oder welche anderen Gründe es für Bambus gegeben hatte, Brünn zu wählen. 17 Die Angaben über Bambus' Familienschicksal stammen zum einen von Loewe, der seinen einstigen Weggefahrten mit seinen Erinnerungen zumindest in diesem Rahmen der Vergessenheit entriß. Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 6, ZZA, A146/6/5. Die Zahlenangaben sind den Mitgliederlisten des Esra entnommen. Vgl. ZZA, DD-Germania 1. Zum anderen sind Details aus Bambus' Privatleben dem Nachruf von Turoff 1904 zu entnehmen. Vgl. Turoflj 1904. 18 Vgl. W. Bambus an H. Bambus, 20.7.1895, ZZA, A28/1/2 u. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 6, ZZA, A146/6/5. Paul Nathan, der als unabhängiger Schriftsteller und Herausgeber in Berlin lebte, war 1901 Mitbegründer des „Hilfsvereins der deutschen Juden". Auch in diesem Verein sollte Bambus dann eine Anstellung finden. 19 Zur Geschichte des Vereins vgl. Eloni, 1987, S. 61-63. 20 Weizmann, 1949, S. 54.
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glied war Heinrich Loewe, der hier entscheidende Impulse fiir seine Arbeit empfangen sollte. Loewe, geboren 1869 in der sächsischen Kleinstadt Großwanzleben, kam, ebenso wie Bambus, aus einer akkulturierten Familie, hatte ein protestantisches Gymnasium in Magdeburg besucht und begann in Berlin ein Studium der Geschichte und Semitischen Sprachen. Daneben belegte er Vorlesungen an der „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums". Früh von nationaljüdischen Ideen beeinflußt und von Palästina fasziniert wenn auch all dies sich noch nicht konkret manifestierte, sondern latent auf einer eher emotionalen Ebene angelegt war21 - suchte Loewe den Kontakt zu Studenten mit ähnlichen Ideen und fand sie im „RussischJüdisch wissenschaftlichen Verein". Der Verein war klein, euphorisch bis zur Infantilität, aber er war die einzige Möglichkeit, die sich den jüdischnationalen Studenten bot, ihre Ansichten auszutauschen. Loewe wurde dabei ein eifriger Redner, der nicht nur in Vorträgen die Idee des Zionismus vertrat, sondern vor allem in Diskussionen über den Zionismus und seine vermeintlichen Gefahren konsequent Partei ergriff Bereits 1891 sprach Loewe auch über die Kolonisation Palästinas, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus eigener Anschauung kannte. Daher wandte er sich zum einen an Leo Mozkin mit der Bitte um detaillierte Angaben,22 zum anderen eröffneten ihm die Briefe von vier jüdischen Studenten aus Dresden, mit denen er befreundet war, direkte Zugangsmöglichkeiten zu Informationen über die Kolonisation.23 Diese Gruppe hatte sich 1891 entschieden, nach Palästina auszuwandern, doch führen zunächst nur drei von ihnen tatsächlich nach Palästina, blieben dort aber nur kurze Zeit,24 und nur Selig Soskin (1873-1959), der zwar zu der Gruppe gehörte, aber erst 1896 auswanderte, blieb als Agronom in Palästina und wurde ein bedeutender Förderer der landwirtschaftlichen Entwicklung in Palästina.25
21 Vgl. hierzu die mannigfaltigen Äußerungen Loewes in seinen Erinnerungen über seine Jugendzeit und seine ersten Kontakte mit jüdisch-nationalen Ideen. 22 Vgl. Loewe an Mozkin, 5.8.1891, ZZA, A126/16/4 u. Mozkin an Loewe, 8.8.1891, ZZA, A146/24. 23 Vgl. Simchah Rosenblum an Loewe, 9.10.1891 (Rechowot), abgedruckt in: Loewe, Sichronoth, Akademische Diskussionen, S. 8-10, ZZA, A146/6/5. 24 Über die Gruppe vgl. Loewe, Sichronoth, Akademische Diskussionen, S. 6-14, ZZA, A146/6/5. 25 Uber Soskin vgl. Loewe, Sichronoth, Akademische Diskussionen, S. 10-14, ZZA, A146/6/5, Artikel „Soskin, Selig Eugen", in: EJ, 15:168£
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Doch Palästina und die Kolonisation waren zu diesem Zeitpunkt nicht das zentrale Thema Loewes, denn der Verein bot in all seiner Marginalität doch eher eine Plattform für die politisch-theoretische Ausführung nationaljüdischer Ideen. Bei einer Zusammenkunft im Verein lernte Loewe den aus Brünn zurückgekehrten Willy Bambus kennen.26 Sie erkannten ihre vermeintlich gleiche Interessenlage - Loewe erkannte vor allem, daß Bambus bei der Gründung und Etablierung eines zionistischen Vereins in Berlin sehr hilfreich sein konnte. Aber schon zu diesem frühen Zeitpunkt entging dem aufmerksamen Beobachter Loewe nicht, daß Bambus und er eigentlich doch sehr gegensätzliche Positionen vertraten, die das spätere Konfliktpotential bereits in sich bargen. Denn beide gingen von unterschiedlichen Interpretationen aus, welche Stellung das Nationaljudentum innerhalb der jüdischen Welt, der jüdischen Gemeinschaft habe und wie die Kolonisation dort einzubringen sei. Und beide hatten eigentlich auch schon ihre Lebensaufgabe in diesem Bereich gefunden. Loewe faßte dies treffend zusammen: „Bambus war für Palästinasiedlung, hatte dabei gegen die Betonung des Nationalismus einstweilen nichts einzuwenden. Ich war nationaler Jude, wollte das Judentum auf nationaler Grundlage neu aufbauen. Dabei war mir die alte Heimat als Heimat der Zukunft selbstverständlich."27 Für Bambus wurde nach seiner Rückkehr aus Brünn die Arbeit fur die Kolonisation und für Palästina das vorrangige Ziel, bereits im Juli 1891 plante er, zusammen mit dem ebenfalls im Esra engagierten Louis Unger nach Palästina zu reisen, um dort im Bereich der textilverarbeitenden Fabrikation Hilfe zu leisten.28 Den Angaben seines Freundes Isaak Turoff zufolge dachte Bambus sogar daran, ganz nach Palästina überzusiedeln.29 Auch Heinrich Loewe wollte zu dieser Zeit, vielleicht nicht unbeeinflußt von den Plänen Bambus', nach Palästina übersiedeln, doch die Entscheidung, zunächst das Studium zu beenden, ließ das Vorhaben scheitern.30 Leider geben die Quellen keinen Hinweis, wieso auch das Bambus'sche Unternehmen nicht in die Tat umgesetzt wurde. Bambus aber suchte weiter nach Möglichkeiten praktischer Hilfe für die osteuropäischen Juden in den Kolonien in Palästina. 26 Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 6, ZZA, A146/6/5. 27 Loewe, Sichronoth, Jung-Israel, S. 1, ZZA, A146/6/5. 28 Vgl. Heinrich Loewe an Richard Loewe, 21.7.1891, ZZA, A 89/7/1 u. Turoff an Birnbaum, 2.9.(1891), ZZA, A188/17/34. 29 Vgl. Turoff an Birnbaum, 2.9.(1891), ZZA, A188/17/34. 30 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, Einschub zwischen Seite 1 und 2, ZZA, A146/6/6.
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Ein halbes Jahr nach den Übersiedlungsplänen wurde in Berlin die Gründung einer neuen Genossenschaft bekanntgegeben. Die „OrientGenossenschaft zur Ansiedlung russischer Juden in der asiatischen Türkei" hatte sich in Sitzungen von Oktober bis Dezember 1891 konstituiert, neben Willy Bambus und Isaak Turoff im Vorstand fanden sich im Aufsichtsrat mit Willy Steinberg und Hirsch Hildesheimer noch andere EsraMitarbeiter. Das in der Gründungserklärung genannte Ziel: „Industrielle und landwirtschaftliche Unternehmungen ins Leben zu rufen und mit Hilfe russischer Juden zu betreiben und so unseren vertriebenen russischen Glaubensgenossen in der asiatischen Türkei eine neue Heimath zu schaffen",31 war nicht von euphorischem Idealismus getragen, es hatte nichts von der Loewe'schen Begeisterung für das Nationaljüdische, im Gegenteil, es ist das Bemühen überdeutlich, eine von pragmatischen und ökonomischen Überlegungen gesteuerte Genossenschaft aufzubauen, eine Haltung, die sich bei Bambus lebenslang durchhalten wird. Allerdings war die Genossenschaft nicht sehr erfolgreich oder konnte möglicherweise doch nicht realisiert werden, denn in den Quellen finden sich keinerlei Hinweise auf ihre Aktivitäten, und Bambus mußte die Realisierung seiner Ideen einer Wirtschaftssubvention Palästinas weiter aufschieben Bambus und Loewe standen, wie letzterer es nannte, „(...) nicht auf demselben Boden",32 ließen ihre ideologischen Differenzen aber zu diesem Zeitpunkt nicht als Trennungslinie zwischen sich stehen, sondern entschieden rational, die Bewegung gemeinsam zu unterstützen. Dadurch ermutigt, rief Loewe den ersten nationaljüdischen Verein mit mehrheitlich deutschen Mitgliedern ins Leben. ,Jung-Israel, jüdisch-nationaler Verein" wurde 1892 gegründet und nannte global als oberstes Ziel „(...) das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit des jüdischen Volkes zu wecken".33 Erreicht werden sollte dies durch Vorträge, Diskussionen, Lesezirkel und die Pflege der hebräischen Sprache.34 Die Behandlung der Kolonisation wurde in den Statuten nicht explizit genannt, vielleicht ein Grund, warum Bambus die von Loewe ihm vorgeschlagene Vereinsgründung nicht, wie von Loewe gehofft, euphorisch begrüßte, sondern die zu erwartenden Schwierigkeiten zu bedenken gab. Aber Loewe ließ sich in
31 Gründungerklärung „Orient" Genossenschaft zur Ansiedlung russischer Juden in der asiatischen Türkei. Berlin, 10.12.1891, ZZA, A146/15. 32 Ebd. 33 Statuten des Jung-Israel, jüdisch-nationaler Verein" zu Berlin, Paragraph 2. ZZA, A146/16. 34 Vgl. ebd., Paragraph 3.
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seiner Begeisterung für den Verein, und in der Erkenntnis von der Notwendigkeit Bambus'scher Mitarbeit, nicht aufhalten und sagte als Gegenleistung seine Mitarbeit in dem von Albert Katz geplanten und von Bambus vorbehaltlos unterstützten „Verein für jüdische Geschichte und Literatur" zu.35 Loewe nahm die kritischen Bemerkungen des Freundes über seinen Verein sehr ernst und betonte später immer wieder die Bedeutung Bambus' für die Gründung des Vereins.36 Ohne Bambus wäre Jung-Israel nicht zustande gekommen, mit Bambus mußte Loewe einen Kompromiß finden, der ihre unterschiedlichen Einstellungen und Arbeitsschwerpunkte kompensierte oder zumindest nicht als Divergenz erscheinen ließ. Schon in seiner Gründungsansprache für den Jung-Israel machte Loewe deutlich, wo er die Versäumnisse der letzten Jahre und die zukünftigen Ziele sah: „In der jüngsten Zeit wiederum hat der nationale Eifer manche Anhänger unserer Idee dahin geführt, daß sie über die Emigrations- und Colonisationsfrage unserer russisch-jüdischen Brüder zum Teil die Nationalidee selbst vernachlässigt haben, - ein bedauernswertes Mißverständnis (...)".37 Diese Aussage ließ an ihrer Eindeutigkeit nicht zweifeln, Loewe stellte die Nationalidee über die Kolonisation, mehr noch, er stellte sich in die Tradition der um Assimilation in die deutsche Gesellschaft bemühten Juden des 19. Jahrhunderts, indem er den Topos vom „Deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" in ein: „Wir sind treue deutsche Staatsbürger jüdischer Nationalität"38 umwandelte. Genauer betrachtet, machte diese Umwandlung viel weniger Sinn als die vorher gebrauchte Formulierung, denn der Ausdruck „deutscher Staatsbürger jüdischer Nationalität" war in den Augen vieler Juden schlicht paradox. Bambus hingegen betrachtete den Jung-Israel aus einer ganz anderen Perspektive, für ihn stand stets Kolonisation im Vordergrund, denn „(...) ihm lag nicht am nationalen Bekenntnis."39 Unter diesen Bedingungen arbeiteten Bambus und Loewe bis 1895 gemeinsam für die Realisierung der, ganz allgemein gesprochen, Ideen der Chowewe Zion. Um auch für die Teile der jüdischen Jugend Deutschlands interessant zu sein, die sich mit den Thesen des Jung-Israel nicht anfreunden konnten, gründeten Loewe und Bambus gemeinsam mit den Esra-Mitgliedern Mo-
35 Vgl. Loewe, Sichronoth, Zionistische Regungen, S. 9, ZZA, A146/6/5. 36 Vgl. u.a. Loewe, Sichronoth Jung-Israel, S. 2, ZZA, A146/6/5. 37 Loewe, Rede im Verein Jung-Israel, gehalten am 30.5.1892, abgedruckt in: Reinharz, 1981, S. 30. 38 Ebd., S 31. 39 Loewe, Sichronoth, Jung-Israel Π, S. 1, ZZA, A146/6/5.
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ritz Dorn und Max Oppenheimer die Jüdische Humanitätsgesellschaft". Der Weg zum Nationaljudentum für die Jugendlichen sollte über „(...) jüdisches Wissen und jüdisches Fühlen" führen.40 Die Jüdische Humanitätsgesellschaft wirkte vor allem im Bereich der akademischen Jugend und war zusammen mit Jung-Israel wesentlich an der Gründung des „Vereins jüdischer Studierender" beteiligt. Auch hier war der Name Programm: Das Nationaljudentum wurde nicht auf die Fahnen geschrieben, sprich im Namen des Vereins festgehalten, sondern blieb parallel zur offiziellen Verlautbarung mitlaufendes Ziel.41 Loewe agierte in diesem Punkt fast übervorsichtig, zum einen wollte er den Status des deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens nicht in Frage stellen, gleichzeitig aber doch auf vorsichtige Weise neue Anhänger gewinnen, die sich möglicherweise von zu radikalen Parolen abgestoßen fühlen konnten. Die erste Hälfte der 1890er Jahre brachte den Zionsfreunden in Deutschland neue Perspektiven, neue Betätigungsmöglichkeiten und vor allem neue Denkansätze. Die hieran mitwirkenden oder interessierten Juden traten miteinander in Kontakt, tauschten sich aus und versuchten, ihre teils noch verschwommenen Vorstellungen zu konkretisieren und zu popularisieren. Bambus stand in regelmäßigem Kontakt mit Nathan Birnbaum, der zu dieser Zeit in Wien lebte, dort die „Selbst-Emancipation" herausgab und seine Informationen über die Vorgänge in Deutschland von Bambus erhielt.42 Zu Beginn des Jahres 1892 nahm Bambus auch Kontakt mit Max Bodenheimer in Köln auf den er für den Verein Esra gewinnen wollte.43 Loewe und Bambus waren auch weiterhin für den Esra tätig, wobei Bambus hier der aktivere war, sein mußte, da er schon 1891 als hauptamtlicher Sekretär des Vereins angestellt wurde und seine Aufgabe - Agitation und Gründung neuer Zweigvereine in Deutschland - zur höchsten Zufriedenheit erfüllte.44 Gleichzeitig hatte der Esra begonnen, sich in Palästina eine Basis zu schaffen, die ihm Unterstützungen für Kolonien und Kolonisten ermöglichte, und Bambus war auch daran maßgeblich beteiligt.45 Er war daneben die treibende Kraft des Esra bei der Gründung des Pariser Central-Comites, das er sich als eine Art Weltorganisation vorstellte,46 in un-
40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Eloni, 1987, S. 66£ Ebd., S. 70. Vgl. Birnbaum an Mozkin, 4.8.1891, ZZA, A 1 2 6 / 1 6 / 1 . Vgl. Briefwechsel Bambus-Bodenheimer ab 13.1.1892, ZZA, A15/II 8. Vgl. A12/31, S. 5f Vgl. Kap. ΧΠ, Abschnitt „Der Verein Esra". Vgl. Artikel „Bambus, Willy", in: EJ, 4:157.
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bewußter Vorwegnahme der späteren Zionistischen Organisation durch Herzl, von der Erkenntnis geleitet, nur eine länderumspannende Organisation könne die anstehenden Probleme, die sog. Judenfrage", lösen. 1893 geriet Birnbaums „Selbst-Emancipation" in eine schwere Krise, aus der Loewe und Bambus die Zeitschrift zu befreien suchten.47 Doch dies gelang nicht, und die „Selbst-Emancipation" wurde in eine neue Zeitschrift, die in Berlin erscheinende und von Loewe geleitete Jüdische Volkszeitung", überfuhrt. Heinrich Loewe sah ein Ziel des Zionismus erreicht, da es mit dieser neuen Zeitschrift nun ,,(...)fur die zionistischen Ideen im deutschen Sprachgebiete keine bessere Propaganda gibt".48 Während Loewe für die Volkszeitung arbeitete, die aber bereits 1895 ihr Erscheinen aus finanziellen Gründen wieder einstellen mußte, nahm Bambus Kontakt zu David WolfFsohn au£ dem er die Prinzipien des Jungisrael erläuterte, nämlich die Herausbildung einer elitären Führungsschicht für die zukünftigen Aktivitäten, und bat ihn, im Namen des Kölner Kolonisationsvereins dem Esra zum zehnjährigen Bestehen eine Grußadresse zu schicken.4 Die Briefe an die Kölner WolfFsohn und Bodenheimer zeigen Bambus noch ganz in der Meinung verhaftet, die Berliner Zionisten, und damit auch der Esra, führten die Bewegung an, auch wenn es offiziell keine übergeordnete Instanz gab.50
47 Vgl. „Anschreiben des Finanzierungscomites der Selbstemancipation", o.D. (aus dem Inhalt des Schreibens läßt sich ein Datum Ende 1893 schließen), ZZA, A146/17; Bambus an Birnbaum, 2.1.1894, ZZA, A188/17/5 u. Loewe an Birnbaum, 29.1.1894, ZZA, A188/17/14. An dem Versuch zur Rettung der Zeitschrift, und damit auch zur Sicherung des Einkommens des Herausgebers - Birnbaum befand sich fast chronisch in Geldschwierigkeiten und benötigte mehr als einmal die Hilfe seiner Gesinnungsgenossen -, waren auch noch andere Zionsfreunde beteiligt, die sich zum Teil schon seit Beginn der 1880er Jahre hierfür engagierten, wie z.B. Moritz Moses, oder gerade erst begannen, ihren Platz in der Bewegung zu finden, wie der in Tarnow (Galizien) lebende junge Rechtsanwalt Abraham Salz (1864-1941). 48 Loewe, i.A. der Verwaltung der Jüdischen Volkszeitung", 25.12.1894, an Menachem Ussischkin (standardisierter Werbebrief an potentielle Abonnenten und Journalisten, anbei ein persönliches Anschreiben von Loewe an Ussischkin), ZZA, A24/4/2. In seinem Tagebuch vermerkt Adolf Friedemann über die Volkszeitung, daß sie von Beginn an keine Zweifel an ihrer stark zionistischen Ausrichtung gelassen habe. Vgl. Adolf Friedemann, Tagebuch „Durch" (im weiteren „Tb" abgekürzt), 5.1.1894. ZZA, A8/2/6. 49 Vgl. Bambus an Wolffsohn, 20.12.1894, ZZA, W 52 I. 50 Diese vorausgesetzte Superiorität führte dann ab 1896 zu heftigen Konflikten zwischen den Zionisten beider Städte. Im Ringen um die Vorherrschaft konnte sich zunächst Köln durchsetzen, vor allem durch die Wahl Wolffsohns zum Präsidenten
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Bis zum Beginn des Jahres 1895 hatten Loewe und Bambus, wie die Beispiele andeuten, zu vielen Zionsfreunden Kontakt aufgenommen, sie hatten agiert, Vorträge gehalten, einen weiteren Zeitungsversuch gestartet, zwei zionistische Vereine gegründet und waren dadurch in den Kreisen der Chowewe Zion sehr populär geworden. Loewes Einsatz fur das Nationaljudentum wurde von der Akademischen Vereinigung „Kadima", der ersten nationaljüdischen StudentenVereinigung, gegründet 1882 in Wien, 1891 mit der Ernennung zum „correspondierenden Mitgliede" belohnt.51 Bambus hingegen schrieb bereits 1894 sein erstes Buch über Palästina, um, wie er im Vorwort ausführte, die deutschen Juden über das Land ihrer Vorväter zu informieren.52 Am Ende einer sehr positiven Darstellung sagte er der Ökonomie des Landes und den Kolonien eine glänzende Zukunft voraus.53 Der deutsche Zionist Adolf Friedemann (1871-1932) schrieb in seinem Tagebuch 1894/95 ausfuhrlich über Loewe und Bambus, die er als die fuhrenden Köpfe des deutschen Zionismus bezeichnete. Aber auch Friedemann entgingen die feinen Unterschiede in den Interpretationen und die daraus resultierenden Schlußfolgerungen über Theorie und Praxis des Zionismus der beiden nicht. Bambus wurde von ihm eindeutig die Rolle des Palästinakenners zugeteilt, der sich zudem, obwohl aus kleinen Verhältnissen stammend, den Respekt der Gesellschaft erworben habe, jedoch Probleme bei der Selbstdarstellung offenbare: „Aus dem Nichts hat er sich zu einer Autorität geradezu in allen Palästina Angelegenheiten empor gearbeitet; mit mehr Persönlichkeit könnte er eine große Rolle spielen. Auch so erkennen ihn viele willig an, die gesellschaftlich weit über ihm stehen."54 Über einen Vortrag Bambus', der sich mit der Kolonisation Palästinas befaßte, urteilte Friedemann: „Lehrreich und langweilig"55. Dies war eine bezeichnende Aussage, Bambus war der Spezialist, der unangefochtene Kenner der palästinensischen Verhältnisse, aber er konnte seine Zuhörer nicht begeistern. Ganz anders nahm Friedemann Heinrich Loewe bei seinen öffentlichen Auftritten wahr, die fast etwas Theatralisches, Inszeniertes in sich
51 52 53 54 55
der Zionistischen Organisation nach Herzls Tod 1904, ab 1911 ging diese Position aber an Berlin über. Vgl. Akademischer Verein „Kadimah", Wien, an Loewe, 7.2.1891, ZZA, A146/19. Vgl. Willy Bambus, Palästina in der Gegenwart, Brünn 1894, Vorwort. Ebd., Schlußwort. Friedemann, Tb v. 11.3.1895, ZZA, A 8 / 2 / 6 . Ebd., Tb v. 22.2.1894, ZZA, A 8 / 2 / 6 .
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bargen, denn Loewe wurde von den eigenen Vorträgen teils so angerührt, daß die emotionalen Reaktionen, die er beim Zuhörer hervorrufen wollte, auch ihn übermannten.56 Loewe war ein „(...) unglaublicher Heisssporn",57 der seine Zuhörer immer in den Bann ziehen konnte, „(...) er sprach brilliant. Unter brausendem Beifall."58 Loewes Vortragsthemen und seine Diskussionsbeiträge drehten sich stets um jüdische Nationalität, aber Friedemann schrieb nichts über die inhaltliche Qualität. Offenbar war auch er zu sehr vom Charisma Loewes fasziniert, während ihm bei Bambus zwar die hohe Qualität auffiel, die aber von der Langeweile der Reden überdeckt wurde. 1895 wurde für Loewe und Bambus ein entscheidendes Jahr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie zusammengearbeitet, jeder zwar auf seine Weise für die zionistische Sache, aber doch gemeinsam. 1895 sollte der Beginn einer Trennung werden, die beide schließlich einander völlig entfremdete, obwohl alle Unternehmungen dieses Jahres überwiegend noch gemeinsam geplant und durchgeführt wurden. Größtes Projekt war zunächst die Überfuhrung der Jüdischen Volkszeitung" in eine neue Monatsschrift, die bezeichnenderweise „Zion - Monatsschrift für die nationalen Interessen des Jüdischen Volkes" genannt wurde. Loewe führte die Redaktion der Zeitschrift, eingetragen wurde sie auf die Namen von Bambus und Leib Estermann, einem russischen Studenten, der um 1893 aus Wien nach Berlin gekommen war, als Mitglied des Russisch-Jüdisch wissenschaftlichen Vereins auf sich aufmerksam gemacht und sich den nationalen Vorstellungen Loewes angeschlossen hatte.59 Mit „Zion" wurden zwei Ziele verfolgt. Zunächst wurde in einem Anschreiben an potentielle Interessenten auf die Popularisierung der Kolonisation und die Situation in Palästina Wert gelegt,60 deutlich spiegelt sich der Einfluß von Willy Bambus darin. In seinen Erinnerungen bezeichnet Loewe allerdings die „(...) gedankliche Begründung der zionistischen These und des national-jüdischen Gedankens und damit überhaupt der jüdischen Gefühlswelt"61 als programmatischen Ansatz der Zeitschrift. Unter 56 Vgl. Friedemann, Tb (o.D.; Seite mit der Datumsangabe ist aus dem Buch herausgerissen; der Eintrag findet sich vor der Datumsangabe 24.5.1894), ZZA, A8/2/6. 57 Ebd. 58 Friedemann, Tb v. 5.6.1895, ZZA, A8/2/6. 59 Zur Eintragung in das Handelsregister vgl. H.H. Bodenheimer, 1965, S. 58 (Anm. 27). Zur Biographie Estennanns vgl. Loewe, Sichronoth, Jung-Israel II, S. 2, ZZA, A146/6/5; Estermann, S. 3, u. Allerlei Juden, S. 2, ZZA, A146/6/10. 60 Vgl. Loewe, 29.1.1895, ZZA, A25/83. 61 Loewe, Sichronoth, Vorgeschichte des Zionismus, S. 1, ZZA, A146/6/15.
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der redaktionellen Leitung Loewes suchte die Zeitschrift zunächst beide Ziele zu verwirklichen, doch Bambus blieb bei den nationaljüdischen Bestrebungen skeptisch. Er bevorzugte die praktische Arbeit für Palästina, was bei ihm bedeutete, daß er nach pragmatischen Lösungen für die Kolonien suchte. Bambus fand seinen Ansatz in dem Projekt einer Bankgründung in Palästina. Es läßt sich anhand der Quellen nicht genau verfolgen, wann und von wem Bambus diese Idee übernommen hatte, denn ein neuer Vorschlag war dies nicht. Es existiert ein Brief von S.P. Rabinowitz (Chibbat Zion Warschau) an Louis Unger vom Juni 1891, in dem auf Ungers Pläne zur Gründung einer Agrarbank eingegangen wird, Pläne, die die Chibbat Zion selbst schon eine lange Zeit gehegt hatten.62 Unger, Esra-Mitglied und in Berlin wohnhaft, sah sich mit Willy Bambus zumindest im Interesse für Palästina verbunden, sie hatten, wie bereits dargelegt, im Juli 1891 gemeinsam die Übersiedlung geplant, und es ist durchaus vorstellbar, daß Bambus die Bankidee von Unger übernommen hatte. Eine zweite Möglichkeit zeigt ein Brief von Leo Mozkin an Heinrich Loewe vom August 1891, in dem über ein Gerücht berichtet wird, daß in Paris die Agrarbank bereits gegründet worden sei.63 Dies bestätigte sich zwar nicht, läßt aber darauf schließen, daß Pläne für eine solche Bank möglicherweise auch im Pariser Central-Comite der Chowewe Zion besprochen wurden, und in diesem Komitee war Bambus einer der führenden Akteure. Vier Jahre später erscheint Bambus als der Hauptförderer dieses Bankprojekts. In Briefen an seine Schwester Hedwig Bambus (1864-1939)64 vom Sommer 1895 berichtete er aus Paris und London über die Fortschritte bei den Bankverhandlungen, die seinen Aussagen nach kurz vor dem Abschluß standen.65 In einem Brief an Menachem Ussischkin erläuterte er den Zweck dieser Bank, der selbstredend ganz im Zeichen der Unterstützung der jüdischen Kolonien stand: „Zweck der Bank soll der Ex-
62 Vgl. Rabinowitz an Unger, 21.6.1891, ZZA, A118/1/2. 63 Vgl. Mozkin an Loewe, 8.8.1891, ZZA, A146/24. 64 Uber Hedwig Bambus läßt sich aus den vorhandenen Quellen nur wenig herausfinden. Sie hat den Mitgliedslisten des Esra zufolge bis 1888 in Berlin gewohnt, ist dann aber nicht mit ihrem Bruder nach Brünn gegangen, sondern lebte seither in Breslau. Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 2, ZZA, A146/6/6. Ihr Geburtsdatum ist einem Begleitschreiben von Elfriede Bambus zu den Briefen ihres Vaters an seine Schwester entnommen. Vgl. Z Z A A28/1/2. Die Angabe des Todesjahres findet sich in „Box 2" des Archivs Elfriede Frank-Bambus, ZZA, A76. 65 Vgl. W. Bambus an H. Bambus, 19.7.1895,23.7.1895 u. 1.8.1895, ZZA, A28/1/2.
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port landwirtschaftlicher Produkte sein."66 Neben seinem Einsatz für das Zustandekommen dieser Bank, die er ohne Zweifel als existentiell notwendig für das Überleben der Kolonien ansah, offenbaren die Briefe an Hedwig aber noch eine andere Seite des bisher eigentlich nur in ökonomisch-pragmatischen Kategorien denkenden Willy Bambus, die ihn in einem Gegensatz zu Heinrich Loewe zeigt. Loewe, beruflich noch ungebunden und ledig, der sich in seinen Erinnerungen aus dieser Zeit als ein idealistischer Schwärmer, ein optimistischer Heißsporn darstellt, vielleicht manchmal sogar etwas zu idealistisch und gleichzeitig fast oberflächlich, der sein Leben dem Zionismus und Palästina widmete, der sich von diesen Ideen leiten ließ, verlor dabei nie sich selbst aus den Augen, gab nie das Bewußstein auch für die eigene Entwicklung auf Aus seinen Schriften und Erinnerungen sprechen Ruhe und Selbstgewißheit. Anders Willy Bambus, den die Sorgen um die Familie, die erkrankte Frau und die Sicherung des täglichen Einkommens in selbstquälerischer Weise einen Weg suchen ließen, der zwischen Zionismus und privater Problemlösung lag. Das Bankprojekt erschien als große Chance, nachdem der zeitweilige Umzug nach Brünn nicht weitergeholfen hatte. Bambus betonte gegenüber seiner Schwester die Wichtigkeit seiner Person für die Bank, aber vor allem die Chance, aus dem Kreislauf des privaten Unglücks herauszukommen. Das Gelingen der Bank würde ihn einer Scheidung näherbringen,67 er würde die Freiheit haben, nach Palästina zu gehen,68 und erhoffe sich dadurch ein „besseres Leben".9 Bambus verknüpfte auf riskante Weise sein eigenes Schicksal mit dem des Bankprojekts, ein Scheitern der Bank konnte auch sein persönliches Scheitern bedeuten. Trotz der in bezug auf die schnelle Realisierung der Bank sehr zuversichtlich klingenden Briefe plante Bambus zusammen mit Loewe bereits seit Anfang 1895, in jedem Falle eine Reise nach Palästina zu unternehmen,70 und weil sich das Projekt schließlich doch verzögerte, entschieden sie sich für den Herbst 1895 als Reisezeit. Da die Finanzsituation für Loewe und Bambus gleichermaßen gespannt war, entwickelte Bambus das System, die Reise über Artikel und Vorträge, die nach der Rückkehr zu schreiben bzw. zu halten wären, per Vorkasse finanzieren zu lassen. Gleichzeitig hatte
66 67 68 69 70
Bambus an Ussischkin, 31.8.1895, ZZA, A24/4/4. Vgl. W. Bambus an H. Bambus, 19.7.1895, ZZA, A28/1/2. Ebd., 1.8.1895, ZZA, A28/1/2. Ebd., 19.7.1895, ZZA, A28/1/2. Vgl. Friedemann, Tb v. 11.3.1895, ZZA, A8/2/6.
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Bambus nach einer weiteren Möglichkeit gesucht, die Kolonien in Deutschland populärer zu machen und fand sie in der fur 1896 in Berlin anberaumten internationalen Gewerbeaussteilung, die einen Bereich „Kairo in Berlin" beinhalten sollte, und hier wollte er versuchen, eine Ausstellung der jüdischen Kolonien in Palästina zu piazieren. Bambus erreichte die Zusage für eine solche Ausstellung und plante die Palästinareise auch als Informationsreise darüber, wie die Kolonien am günstigsten dargestellt werden könnten.71
2. Die Palästinareise 1895 Man muß sich zunächst bewußt machen, daß eine solche Reise auch Ende des 19. Jahrhunderts nach europäischen Maßstäben immer noch als ein großes Wagnis angesehen wurde.72 Das Wissen über Palästina war nur gering, die Informationen aus dem Land spärlich, nicht selten ideologisch gefärbt und trafen zudem auf ein desinteressiertes deutsches Judentum, das nicht nachfragte. Und obwohl Loewe und Bambus zweifellos als Spezialisten für Palästina gelten konnten, kannten auch sie das Land nur aus der Literatur, wußten nicht, was sie erwartete. Am 10. Oktober 1895 erreichten sie nach einem kurzen Aufenthalt in Ägypten die Hafenstadt Jaffa.74 Die Reise war im Neuen Jischuw Palästinas
71 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 2 u. 7, ZZA, A146/6/6 u. W. Bambus an H. Bambus, 1.8.1895, ZZA, A28/1/2. 72 Loewes bereits zitierter Satz, „Es war den Leuten, als wären wir als Entdecker in einer ganz fremden Welt gewesen, die in Deutschland viel ferner und fremder empfunden wurde, als Amerika oder Australien", kann als Stereotyp der Unkenntnis wörtlich genommen werden. Loewe, Sichronoth, Richards Erwerbung, S. 1, ZZA, A146/6/5. 73 Verlassen hatten sie Deutschland am 25.9.1895. Vgl. „Zion", 1895, S. 276. Ihr Ankunftsdatum ergibt sich aus der Angabe Loewes, man habe am Abend der Ankunft das Fest „Simchat Tora" gefeiert, das für das Jahr 1895 auf den Abend des 10.10. bzw. den 11.10. fällt Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 12, ZZA A146/6/6. 74 Leider liegen über die Reise nur die Erinnerungen Heinrich Loewes in schriftlicher Form vor. Willy Bambus hatte zwar auch ein Tagebuch verfaßt, doch ist es anscheinend verlorengegangen. Es fand sich weder bei seinen persönlichen Papieren noch bei den Unterlagen, die seine Tochter Elfriede Bambus dem ZZA überlassen hatte. So muß, bis auf wenige Hinweise in den Briefen Bambus', auf Loewes Schilderungen zurückgegriffen werden. Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind die Informationen des Abschnitts über die erste Reise dem 61-seitigen Kapitel „PalästinaReise" von Loewe entnommen. ZZA, A146/6/6.
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kein Geheimnis geblieben, schließlich war dieser Besuch der erste aus Deutschland seit einer langen Zeit, der einen Fortschritt in der Entwicklung der Kolonien versprach, zudem waren Loewe und Bambus in denjenigen Kreisen Palästinas nicht unbekannt, die über Zeitungslektüre Kontakte zu nationaljüdischen Zirkeln in Deutschland hatten. Der letzte vielversprechende Besucher war Sigismund Simmel 1887 gewesen, doch die in ihn gesetzten Erwartungen hatten sich nicht erfüllt. Schon in Jaffa wurden die zwei deutschen Zionisten daher von Mitgliedern des „Waad ha-Poel" (Rat der Arbeiter) herzlich empfangen, und dieser herzliche Empfang setzte sich auf der ganzen Reise fort. Ob es in den Städten war oder in den Kolonien, stets berichtete Loewe über die herzlichste Begrüßung und die von ihm als ehrlich empfundene Freude der Bewohner über die Besucher aus Deutschland. Es hatte sich offenbar seit dem Beginn der Kolonisation nichts an der Einstellung gegenüber dem deutschen Judentum geändert. Respekt und Bewunderung bestimmte die Haltung, auch wenn Loewe es in der ihm eigenen Formulierfreudigkeit drastischer „Ehrfurcht vor dem Deutschtum" nannte, das er vor allem bei denen gefunden habe, die bereits einmal Deutschland besucht hätten.75 Dieser Respekt zeigte sich auch darin, daß es akzeptiert wurde, wenn Loewe als Außenstehender nach Lösungen in der halachischen Frage der Einhaltung des Schmittajahres und des sich daran anschließenden Problems der Ethrogim-Früchte suchte.76 Loewe und Bambus trafen in Palästina mit den verschiedenen Vertretern des Neuen und auch des Alten Jischuws zusammen, sie sprachen mit dem sefardischen und dem aschkenasischen Oberrabiner ebenso wie mit Eliezer Ben-Jehuda, sie lernten die Familie Kaminitz kennen, in deren Hotel sie übernachteten, sie sprachen mit Angestellten der Rothschildverwaltung und suchten die Bekanntschaft vieler Lehrer in Palästina, die sich um die Erziehung der jüdischen Jugend, vor allem im Bereich der neuhebräischen Sprache, verdient machten. Auch die Städte Jaffa, Jerusalem, Haifa, Safed, Tiberias und die Landwirtschaftsschule Mikweh Israel standen auf dem Besuchsprogramm. Doch die wichtigsten Stationen waren die Aufenthalte in den Kolonien. Von Nord nach Süd und West nach Ost wurde das Land durchquert und dabei die Kolonien Rischon le-Zion, Rechowot,
75 Loewe, Sichronoth, Palästina-Reise, S. 30, ZZA, A146/6/6. 76 Hierbei handelte es sich um die Frage, inwieweit in Palästina angebaute Ethrogim von den Rabbinern als koscher deklariert wurden und ob dadurch nicht der Export der Früchte aus Korfii gestoppt werden konnte, vor allem, da die Bevölkerung Korfüs in den Augen der Juden nicht gerade als judenfreundlich galt.
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Gedera, Petach Tikwa, Hadera, Sichron Jakow, Ain Seitim, Rosch Pina und Mischmar Hajarden besucht. Bambus zeigte zu diesem Zeitpunkt schon die Symptome einer schweren Erkrankung,77 daher fielen ihm die körperlichen Strapazen der Reise ungleich schwerer als seinem jüngeren und an Sport gewöhnten Reisegefährten. Die Besuche in den einzelnen Kolonien dauerten zwar oft nicht länger als ein paar Stunden oder einige Tage, auf diese Weise konnten sich die Reisenden jedoch zumindest einen groben Eindruck über Palästina, die jüdische Gemeinschaft und den Stand der ländlichen Kolonien verschaffen. Aber die Eindrücke, die beide von Palästina empfingen, waren doch recht verschieden, auch wenn dies nicht so schnell zu tage trat,78 denn beide setzten unterschiedliche Schwerpunkte in der Betrachtung der Verhältnisse. Loewe, der sich selbst als eher idealistischen Träumer, ein wenig fern der Realität bezeichnete, suchte den Kontakt mit Kolonisten und Lehrern in den Kolonien, vielleicht auch schon mit dem Gedanken einer eigenen Anstellung in Palästina als Pädagoge, während Bambus, der Kaufmann, sich stets an der ökonomischen Situation orientierte, mit dem Ziel, den Kolonien Lösungsvorschläge in diesem Bereich anbieten zu können, die dann vom Esra zu finanzieren seien. Gefordert wurde Bambus diesbezüglich schon in Palästina in der Kolonie Mischmar Hajarden, die vor dem wirtschaftlichen Ruin stand. Hier beeindruckte er Loewe durch besonnenes Verhandeln über das Schicksal der Kolonie und einen Plan zu ihrer Sanierung. Die Konsolidierung Mischmar Hajardens wurde für Bambus ein wichtiges Projekt, dem er sich auch nach der Rückkehr weiter widmete, wie seine zahlreichen Briefe über die Entwicklung der Kolonie beweisen.7' 77 Aus dem vorliegenden Material ist nicht zu entnehmen, welcher Art diese Erkrankung war, die möglicherweise auch zum frühen Tod Bambus' 1904 gefuhrt hatte. Die drastische Schilderung Loewes läßt auf eine Krebserkrankung schließen. Turoff spricht von „großen Drüsengeschwülsten", die sein Leben bedroht hätten. Vgl. Turoff, 1904. Bambus selbst schreibt kurz vor seinem Tod an Eisenstadt in Jerusalem: „Diesmal sind es neue Drüsen, welche die Herztätigkeit angegriffen haben". Bambus an Eisenstadt, 21.9.1904, ZZA, A28/11/1. 78 Loewe schreibt nach der Rückkehr: „Mir war anfangs nicht bewußt, dass das Land und seine Bewohner auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht hatten, als auf meinen Reisegefährten". Loewe, Sichronoth, Richards Ewerbung, S. 1, ZZA, A146/6/5. 79 Die Bedeutung Bambus' für die Kolonie wird aus einem Brief von Soskin an ihn deutlich, der ihm das Projekt einer weiteren Ansiedlung von 12 Kolonistenfamilien vorstellt und nach seiner Meinung bzw. Zustimmung fragt Vgl. Soskin an Bambus, 15./27.5.1897, ZZA, A28/6. Bambus selbst erwähnt die Kolonie in so vielen Briefen an die verschiedensten Personen, daß eine Aufzählung nicht sinnvoll erscheint.
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Entsprechend ihren Intentionen knüpften Bambus und Loewe Kontakte zu den ihrer Ansicht nach wichtigen Personen, die in den folgenden Jahren fiir beide die zuverlässigsten Quellen fur Nachrichten aus Palästina werden sollten. Aber so unterschiedlich sie Palästina wahrnahmen, so unterschiedlich sie ihre Schwerpunkte setzten, so gleich waren doch beide in ihrer Schlußfolgerung, denn beide äußerten den Wunsch, nach Palästina überzusiedeln. Loewe dachte an eine Emigration nach Abschluß der Berliner Ausstellung 1896, seine Pläne gingen in Richtung einer Lehrerstelle in Jaffa, während Bambus, dessen Erwartungen bei weitem übertroffen wurden,80 noch konkreter wurde und aus Palästina an seine Schwester einen die Schönheit des Landes schildernden Brief schrieb, der mit dem Satz endete: „Ich habe mir in Rechowoth bereits einen Bauplatz gekauft."81 Auch aus einem Brief an seine achtjährige Tochter Elfriede lassen sich Pläne zur Ubersiedlung herauslesen.82 Die Reise hatte beide stark beeinflußt, beide sahen ihren Weg noch deutlicher, beide wollten auf diesem Weg fortschreiten, Loewe immer stärker an der nationaljüdischen Idee orientiert, Bambus in seinem Bemühen, den Kolonien so umfassend wie nur irgend möglich zu helfen. Aber so sehr auch das gemeinsame Erleben Palästinas ein verbindendes Element für Loewe und Bambus hatte, trennten sich doch nach der Reise ihre Wege. Die schon länger latent vorhandenden Gegensätze wurden offenkundiger, wodurch ein immer stärker werdender Entfremdungprozeß begann. Zunächst aber galt es fur beide, noch einmal zusammenzuarbeiten, denn die Ausstellung der jüdischen Kolonien in Berlin mußte vorbereitet werden.
3. Die Palästina-Ausstellung Sofort nach ihrer Rückkehr aus Palästina nahmen Bambus und Loewe die Arbeit für die Ausstellung der Produkte jüdischer Kolonien in Palästina auf. Sie waren sich einig, daß sich mit dieser Ausstellung eine einmalige Chance bot, die Kolonisation einem größeren Publikum, jüdischen und nichtjüdischen, vorzustellen, denn die internationale Gewerbeausstellung, auf der die Produkte gezeigt werden sollten, lief über einen Zeitraum von fünf Monaten und versprach hohe Besucherzahlen. 80 Vgl. Bambus an Hirsch (Chovevei Zion London), 8.11.1895, ZZA A2/113. 81 W. Bambus an H. Bambus, Haifa, 23.10.1895, ZZA, A28/1/2. 82 Vgl. W. Bambus an Elfriede Bambus, Haifa, 24.10.1895, ZZA, A76.
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Während das fur die Vorbereitung der Ausstellung gegründete „Comite für die Ausstellung der Produkte jüdischer Dörfer in Palästina"83 an der Realisierung der größten Veranstaltung zugunsten der Kolonisation arbeitete, erschien im Februar 1896 eine kleine Broschüre, die die jüdische Welt und auch die jüdisch-zionistische in zwei Lager spalten sollte: „Der Judenstaat", von Theodor Herzl. Im Sommer 1896 standen sich somit zum ersten Mal der politische Zionismus in seinen Anfängen und die praktische Arbeit fur die Kolonisation gegenüber. Doch wurde dies von den Beteiligten noch nicht mit einer solchen Ausschließlichkeit gesehen, aber es war richtungsweisend. Die Bedeutung und Sprengkraft des Herzl'schen Buches war den Palästinafreunden noch nicht bewußt, vor allem war ihnen Herzl vorher weder als Zionist bekannt, höchstens als Feuilletonist, noch ahnten sie die in ihm ruhende Durchsetzungskraft. Sein kurz vor der Buchveröffentlichung im Jewish Chronicle" erschienener Artikel „Eine Lösung der Judenfrage" wurde vom „Zion" lapidar als nicht neues enthaltend abgetan, einzig ein gewisser W. Josephson schrieb im „Zion" eine positive Kritik über Herzls Ideen.84 Dieser Josephson war niemand anders als Willy Bambus, der häufig unter Pseudonym (W. Josephson und Willy Heß sind die bekannten Pseudonyme) Artikel veröffentlichte. Es ist interessant und bemerkenswert, daß Bambus wohl zu diesem Zeitpunkt vielleicht der einzige in den Chowewe Zion-Kreisen war, der die Ideen Herzl positiv beurteilte, der vielleicht auch spürte, was sich dahinter verbarg. Interessant ist dieser Artikel allerdings auch in Anbetracht der kurz darauf vollzogenen völligen Kehrtwendung von Bambus in der Beurteilung Herzls. Für die Historiographie ist das fast Gleichzeitige beider Ereignisse, der Palästina-Ausstellung und das Erscheinen des Judenstaat", ein interessanter Aspekt, es kann der Charakter einer Wachablösung nicht geleugnet werden: Im Augenblick höchster Popularisierung der praktischen Hilfe für die Kolonien entwickelt sich die mächtigste jüdische Bewegung der Neuzeit, die ganz andere Pläne und sehr viel umfassendere Zielsetzungen in sich barg, als 5.000 darbenden Kolonisten zu helfen. Es zeigte sich bereits kurz nach Erscheinen des Judenstaat", daß dies der Auslöser für die Trennung zwischen Bambus und Loewe sein sollte, denn im Namen von Jung-Israel erklärte sich Loewe in einem Brief an
83 Das Komitee bestand aus „Baumeister Wohlgemuth, Dr. Paul Nathan, Julius Bodenstein, den Rechtsanwälten Jonas und Sonnenfeld, Sigfned Cronbach, Bildhauer Reinhold, Moritz Dom, Willy Bambus und Hirsch Hildesheimer." Zitiert nach: „Die jüdische Presse", Nr. 45, 4.10.1896. 84 Vgl. Eloni, 1987, S. 73.
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Herzl mit dessen Ideen vollständig einverstanden.85 Bambus hingegen entwickelte sehr schnell, im Gegensatz zu seiner ersten Analyse im „Zion", ein tiefes Mißtrauen gegen Herzl, nachdem klar war, daß dieser die Kolonisation, von ihm despektierlich „Infiltration" genannt, ablehnte.86 Aber all dies focht das Komitee zu Beginn des Jahres 1896 noch nicht an, denn zunächst galt es, eine finanzielle Basis zu errichten, die sich auf zwei Eckpfeiler stützte. Zum einen schufen die Berliner Palästinafreunde einen Garantiefonds, zum anderen gewährte Baron Edmond de Rothschild ein zinsfreies Darlehen. Die Gewährung eines solchen Darlehens überrascht nicht, planten die Berliner doch vor allem, die in Palästina produzierten Weine dem Publikum bekannt zu machen, und da die Weinproduktion fast ausschließlich in den Händen der Rothschild-Kolonien lag, konnte von einer solchen Veranstaltung eine Absatzförderung des bis dahin eher schleppenden Verkaufs erwartet werden. Allerdings betrachtete das Komitee dieses Darlehen nicht als getarntes Geschenk und begann schon im Juli 1896 mit der Rückzahlung.87 Die Finanzierung war auf diese Weise gesichert. Als Leiter der Ausstellung konnte vom Komitee Moses David Schub gewonnen werden,88 der dann zusammen mit Heinrich Loewe die Verantwortung übernahm.89 Während der Ausstellung standen
85 Vgl. Jung-Israel" an Herzl, 7.3.1896, ZZA, Η VIII 529. 86 Vgl. Herzl an Bodenheimer, 31.5.1896 und die Anmerkung Bodenheimers zu den Reaktionen der Berliner Zionisten auf diesen Brief] abgedruckt in: H.H. Bodenheimer, 1965, S. 25£ 87 Vgl. Loewe, Sichronoth, Ausstellung 1896 (Einfügung), ZZA, A146/6/15. Loewe fugt das Anschreiben an Rothschild bei, in dem die Rückzahlung der ersten Rate angekündigt wird. In den Quellen finden sich aber keine Angabe, in welcher Höhe sich Garantiefonds und Darlehen bewegten. Einen Hinweis enthält ein Brief Hirsch Hildesheimers, der an der Realisation der Ausstellung ebenfalls beteiligt war, an Colonel Albert Goldsmid. Dieser plante, eine solche Ausstellung in London zu organisieren, und in diesem Zusammenhang nannte ihm Hildesheimer als notwendigen Garantiefonds 5-6.000 Pfund Sterling. Vgl. H. Hildesheimer an Goldsmid, 1.7.1896, A2/113. Colonel Albert Goldsmid (1846-1904) war Soldat der Britischen Armee. Seine Familie war mit der hoch angesehenen englisch-jüdischen Familie Goldsmid verbunden, wodurch er in Kontakt mit dem Leben der Juden in England kam. Er arbeitete zweitweise fur die JCA und war ein prominentes Mitglied der englischen Chowewe Zion. Vgl. Artikel „Goldsmid, Albert Edward Williamson", in: EJ, 7:737. 88 Vgl. dazu die Schilderungen Schubs über seine Zeit in Deutschland während der Ausstellung, in: Schub, 5697 (1937), S. 154-158. 89 Vgl. Loewe, Rischon l'zion auf der Ausstellung (maschinenschriftliches Manuskript), o.D., ZZA, A192/600, S. 1 (im weiteren zitiert als „Loewe, A192/600").
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Heinrich Loewe, Dr. Hirsch Hildesheimer und Dr. Holzmann90 den Besuchern für die Beantwortung der Fragen über die Kolonisation zur Verfügung, zudem wurden Informationsbroschüren verteilt. Wie sehr sich im übrigen die Initiatoren der Ausstellung um die Besucher bemühten, geht auch daraus hervor, daß Loewe und Schub in Anbetracht der vielen sefärdischen Besucher einen Gottesdienst nach sefardischem Ritus einrichteten. Den ausführlichen Aufzeichnungen Loewes ist es zu verdanken, daß sich ein annähernd vollständiges Bild gewinnen läßt, wie die Ausstellung aufgebaut war und vor allem, welche Produkte aus den Kolonien gezeigt wurden.92 Drei Räume standen für die jüdischen Produkte zur Verfügung, deren Hauptanteil die Weinkelterei ausmachte. Zum Ausschank und Verkauf gelangten Rotwein, Weißwein, Süßwein und Cognac aus den Kolonien Rischon le-Zion, Sichron Jakow und Rechowot, die vom Publikum sehr gut angenommen wurden, wohl auch, weil es zum ersten Mal seit dem Beginn des Weinexports aus Palästina möglich war, Flaschenwein anstatt Faßwein zu kaufen.93 Dies machte die Weine vor allem für den Kleinabnehmer interessant, zumal sich auch die Preise in einem für deutsche Verhältnisse gemäßigten Rahmen bewegten.94 In drei weiteren Räumen wurden Fotografien der Kolonien gezeigt, es gab Diagramme und Landkarten, dazu ein Album mit Aufnahmen aus Palästina, das ebenfalls erworben werden konnte. Die AIU-Landwirtschaftsschule Mikweh Israel war mit
90 Dr. Holzmann (1868-1938) wurde in Jerusalem als Sohn eines Drechslers geboren. Er ging in jungen Jahren nach Konstantinopel an das jüdische Krankenhaus und arbeitete als „Heilgehilfe". Weder studierte er, noch Schloß er eine andere medizische Ausbildung ab. Er emigrierte erst nach Wien, anschließend nach Berlin und nannte sich von da an Dr. Holzmann. Seine Geschicklichkeit, sich in jedweder Lebenslage zurechtzufinden, zusammen mit einer großen Sprachbegabung, ließen bei den Berliner Zionisten keinen Zweifel an der Identität Holzmanns als graduiertem Mediziner aufkommen, zumal er sich als eifriger Zionist erwies und über ein großes Wissen über Palästina verfugte. Unter dem Pseudonym „Haezioni" schrieb er Artikel, unter anderem auch fur den „Zion". Erst sehr viel später wurde seine wahre Geschichte entdeckt, zu dieser Zeit war Holzmann schon in Marokko als Arzt tätig. Vgl. Loewe, Sichronoth, Haezioni, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 1 0 u. Herzl, 1984, S. 832, Anm. 325. 91 Vgl. Loewe, Sichronoth, Allerlei Juden, S. 3, ZZA, A146/6/10. 92 Loewes Schilderungen werden durch einen Leitartikel in der Berliner Zeitung „Die jüdische Presse" bestätigt. Vgl. „Die jüdische Presse", Nr. 22,27.5.1896. 93 Vgl. Heinrich Loewe, Eine jüdische Palästina-Ausstellung, in: „Zion", Nr. 6, 15.7.1896, S. 163 u. Loewe, A192/600, S. 2. 94 Vgl. Loewe, A192/600, S. 2.
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einer eigenen Abteilung in der Ausstellung vertreten, sie zeigte Wein und Bodenfrüchte aus ihrem Anbau. Aus den Kolonien wurden alle angebauten Cerealiensorten gezeigt, ebenso Boden- und Südfrüchte sowie Mandeln und Oliven. Es konnten die Seidenproduktion aus Rosch Pina sowie die Produkte der holzverarbeitenden Handwerker aus den Städten Jerusalem, Haifa und Jaffa begutachtet werden.95 Für Willy Bambus war die Produktausstellung zweifellos der entscheidende Bereich, die Kolonien konnten ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zeigen, wodurch fiir den Esra möglicherweise neue Mitglieder gewonnen werden konnten. Wie Loewe es formuliert hatte: „Bambus war für Palästinasiedlung", und gedachte, die Kolonisation über die Verbesserung der Ökonomie voranzutreiben, Loewe aber sah sich als „nationaler Jude",96 und darum war ihm auch besonders am letzten Bereich der Ausstellung gelegen, in dem versucht wurde, „(...) einen Begriff von den ersten Anfaengen neuer hebraeischer Kultur zu geben."'7 Darunter verstand Loewe die ersten Schulbücher in Hebräisch, die von Ben-Jehuda herausgegebene Zeitung „Ha-Zwi" („Die Herrlichkeit", auch als Beiname für das Land Israel, Erez Ha-Zwi, gebraucht), die „Ha-Ikar" („Der Landwirt", die erste jüdische landwirtschaftliche Zeitung in hebräischer Sprache) und schließlich auch eine Jugendzeitung, „Olam Katan" („Kleine Welt"), sowie Liederbücher, die bei den Besuchern großes Erstaunen hervorriefen. Nach Loewes Ansicht gingen schon in dieser Ausstellung der politische Zionismus Herzls und die Kolonisation eine Verbindung ein,98 die es aber so in den Jahren bis 1904 nicht gegeben hat. Die Ausstellung schuf nicht den Nährboden, auf dem die Ideen Herzls gedeihen konnten, auch wenn sie vielleicht für viele jüdische Besucher der erste Kontakt mit den Kolonien in Palästina und mit der neuhebräischen Sprache darstellte. Wenn sie tatsächlich der erste Kontakt für so viele deutsche Juden war, ist das nur ein weiteres Indiz dafür, daß seit 1882 die Propagierung der Kolonisation nicht genug vorangetrieben worden war. Es ist mit Hinblick auf die Versuche zur Gewinnung der deutschen Juden seit Gründung der Kolonien auch ein deutlicher Hinweis auf die 14 Jahre andauernde Indifferenz gegenüber allen Bestrebungen, die auch nur im Verdacht stehen konnten, die Assimilation zu gefährden. Loewe und seinen Mitarbeitern gelang aber mit der Ausstellung ein Balanceakt zwischen der Angst der Juden um ihre 95 96 97 98
Die Aufzählung der ausgestellten Produkte findet sich bei Loewe, 1896 u. A192/600. Beide Zitate in: Loewe, Sichronoth, Jung-Israel, S. 1, ZZA, A146/6/5. Loewe, A192/600, S. 3. Vgl. Loewe, A192/600, S. 3.
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Eingliederung und der Faszination, die von den jüdischen Kolonien in Palästina ausging. Dieser Balanceakt sah einen größeren finanziellen Gewinn durch den Verkauf der Produkte aus den Kolonien nicht vor, konnte mit dieser Zielsetzung auch nicht erreicht werden, obwohl die ökonomische Unterstützung für die Kolonisten nicht ganz aus dem Blickfeld verschwinden sollte. Der finanzielle Erfolg der Ausstellung bewegte sich nach den Aussagen der Beteiligten, wie voraussehbar, in einem sehr bescheidenen Rahmen, von „schlechten Geschäften"" im zweiten Monat der Ausstellung war die Rede und von „sehr unbefriedigenden finanziellen Resultaten"100 am Ende. Der eigentliche Erfolg der Ausstellung lag eindeutig in der moralischen Unterstützung.101 Die Betonung dieses großen moralischen Erfolges in allen erreichbaren Veröffentlichungen über die Ausstellung läßt die Frage aufkommen, ob denn mit dieser schon fast aufdringlichen Uberbetonung Schwächen verdeckt werden sollten. Zudem muß nach einem moralischen Erfolg die Frage nach der Zukunft, nach weiteren Initiativen für das zu fördernde Projekt gestellt werden. Wurden also die jüdischen Kolonien nach der Ausstellung mit Mitteln des deutschen Judentums stärker gefördert? Nahmen die deutschen Juden die Verantwortung für die Siedlungen an, auch wenn es eine fremdbestimmte Verantwortung war? Um der ökonomischen Herausforderung gerecht zu werden, wurden nach der Ausstellung zwei Gesellschaften gegründet, die den Weinhandel für Deutschland organisieren sollten. Die „Eliadah" zeichnete verantwortlich für den Export der Weine aus den Rothschildkolonien nach Deutschland, die „Import-Gesellschaft Palästina G.m.b.H" hingegen organisierte den Einzelhandel und fungierte als Muster für weitere Wein-Importgesellschaften, so z.B. für die in Warschau gegründete „Karmel".102 Eine weitere Beantwortung der Frage nach den Ergebnissen der Ausstellung muß dann aber im hypothetischen Rahmen bleiben, denn das Auftreten Herzls än-
99 Bambus an Turoff, 2.8.1896, ZZA, A48/60. 100 Wolffsohn an die „Importgesellschaft Palästina", 10.12.1896, ZZA, W 52 Π. 101 Vgl. „Geschichte des Vereins „Esra", 1884-1908", S. 16, ZZA, A12/31; Wolffsohn an die „Importgesellschaft Palästina", 10.12.1896, ZZA, W 52 II; Loewe, A192/600, S. 3; Loewe, 1896, S. 167 u. H. Hildesheimer an Goldsmid, 1.7.1896, ZZA, A2/113. 102 Vgl. Loewe, Sichronoth, Judentum in Berlin, S. 9a, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 5 ; Loewe, A192/600, S. 4 u. Rundschreiben des Esra über die Ausstellung und die Gründung der Import-Gesellschaft, Januar 1897, ZZA, D D 1 / 2 / 2 / 6 u. Loewe an Bentwich, 3.3.1898, ZZA, A146/24.
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derte die Situation der Zionisten in Deutschland, aber auch die Situation der jüdischen Gemeinden in Deutschland grundlegend. Über Palästina, über die Kolonien konnte fortan nicht mehr unbefangen im Rahmen einer philanthropischen Rettungsaktion gesprochen werden, denn die Idee des Judenstaat" war in diesen Diskussionen allgegenwärtig. Akkulturation und das Bild vom deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens wurden nun von zwei Seiten in Frage gestellt. Der Antisemitismus hatte dieses Bild besonders seit der Gründerkrise 1873 schon in schärfster Form bekämpft, und die politischen Zionisten entwarfen nun die Vorstellung vom jüdischen Volk mit Anspruch auf seine alte Heimat Erez Israel. Dies zwang die Juden, Stellung zu beziehen, auch wenn unbestritten ist, daß bis an die Jahrhundertwende - und auch danach - der Zionismus keine Massenbewegung unter den Juden darstellte. Aber er begann das Vakuum zu füllen, das sich im europäischen Judentum mit dem Bewußtwerden der Ausgeschlossenheit durch den neuen christlich-nationalen Chauvinismus gebildet hatte, der sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein antisemitisch geben sollte. Auch fur Heinrich Loewe und Willy Bambus war die Begegnung mit Herzl richtungsweisend, die Ereignisse überstürzten sich und verlangten von beiden, sich neu zu orientieren.
4. Auseinandersetzung mit Theodor Herzl Für Heinrich Loewe hatte bereits während der Palästinareise festgestanden, daß er nach der Ausstellung versuchen wollte, sich eine Existenz in Palästina aufzubauen. Seine Planungen waren daher ganz auf dieses Vorhaben ausgerichtet. Private und berufliche Angelegenheiten hatte er schnell geordnet, das wichtigste im Bereich des Zionismus war ihm die Ubergabe der Redaktion des „Zion" an Willy Bambus, was bei den nationaljüdisch eingestellten Juden einige Befürchtungen auslöste, denn man vermutete, er würde aus der Zeitung „(...) ein Blatt seiner Richtung machen", wie es Nathan Birnbaum formulierte.103 Drei Hauptthemen bestimmten für Willy Bambus die Arbeit in den Jahren 1896 bis 1898, die Übernahme des „Zion", der Versuch zur Realisierung der Agrarbank und die Auseinandersetzung mit Herzl. Zunächst gab er noch 1896 in Berlin eine knapp 30 Seiten umfassende Broschüre
103 Birnbaum an Mozkin, 4.2.1897, ZZA, A126/16/1.
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über seine Reiseeindrücke aus Palästina heraus. „Die jüdischen Dörfer in Palästina" war eine sachliche Analyse der wirtschaftlichen Situation der jüdischen Kolonien, die aber durch ihren euphemistischen Ton nie die Ziele des Autors verheimlichen konnte, obwohl sich Bambus um Objektivität und korrekte Darstellung bemühte. Er vermied alles Nationaljüdische, um auf diese Weise die deutschen Juden für die Kolonien gewinnen zu können. Auch durch die ab Ende 1896 von ihm redigierte Zeitschrift „Zion" sah Bambus gute Möglichkeiten der Werbung für die Kolonien. Die Übernahme der Zeitschrift war ohne größere Probleme abgelaufen, für Loewe gab es wohl auch keine andere Wahl, schließlich war Bambus ein bewährter Mitstreiter, war als Palästinafreund in Deutschland bekannt und die Zeitschrift zudem auf die Namen „Bambus & Estermann" in das Handelsregister eingetragen. Gleich nach Übernahme der Verantwortung bemühte sich Bambus um Subventionen, die das Blatt auf eine solidere Basis stellen sollten.104 Das schien auch Erfolg zu haben, denn in Bambus' Unterlagen finden sich die Namen der neuen Abonnenten ab 1896, die auf einen Beginn der Konsolidierung schließen lassen.105 Daß aber auch Birnbaum mit seiner Bemerkung über Bambus' Intentionen mit dem „Zion" recht hatte, sollte sich schon im Laufe des Jahres 1897 während der Auseinandersetzungen mit Herzl über den Kurs und Charakter des Zionismus zeigen. Zunächst stand für Bambus allerdings sein Projekt einer Agrarbank im Vordergrund der Aktivitäten. Seine Bemühungen schufen schließlich ein Konsortium von Mitarbeitern in Paris - federführend hier die Bank „Mm. H. Cahn & Cie., banquiers" - Berlin und Wien, das wahrscheinlich zum Ende des Jahres 1896106 das Programm der Bank, in Verbindung mit der Aufforderung, Anteilsscheine zu zeichnen, herausgab. Die wichtigsten Punkte der Zielsetzung in Hinblick auf die Förderung der Kolonisation waren die Kreditgewährung für bäuerliche Gemeinschaften sowie der Kauf und die Parzellierung von Terrains in Palästina und Syrien.107 Dies ent104 Vgl. z.B. Bambus an Wolffsohn, 10.3.1897, ZZA, W 52/ I u. Bambus an Herzl, 2.4.1897, ZZA, Η VIII 42. In beiden Briefen wird explizit über Vergößerungen oder Subventionen gesprochen, bzw. es werden versprochene Zuwendungen eingefordert. 105 Vgl. ZZA, A28/3 u. A28/5. 106 Aus einem Schreiben von Dr. Jaffe (Jaffa) an Bambus geht hervor, daß dieser die Unterlagen im November 1896 erhalten hat. Vgl. Jaffe an Bambus, 19.11.1896, ZZA, A31/1. 107 Für den geplanten Aufgabenkreis der Bank vgl. „Rundschreiben, Paris, Datum des Poststempels", ZZA, DD 1/2/2/8.
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sprach exakt den Vorstellungen von Willy Bambus über die finanzielle Absicherung der Kolonisation, aus der allein heraus an eine Vergrößerung gedacht werden konnte. Bambus begann sofort mit der Werbekampagne fur die Bank108 und setzte sich mit den führenden Zionisten über die Bankpläne auseinander. Wolffsohn wurde in vorgedruckten Rundschreiben zur Anteilszeichnung und weiteren Werbung für die Bank ebenso aufgefordert wie Max Bodenheimer. Doch während die Quellen die Antwort Wolffsohns nicht übermitteln,109 verzeichnen sie heftige Dispute mit Bodenheimer über den finanziellen Rahmen, der dem Kölner Rechtsanwalt zu klein erschien und ihn schließlich zur Negierung der Erfolgschancen einer solchen Bank führte.110 Auch Bambus' langjähriger Freund Selig Soskin, der inzwischen in Palästina lebte, war vom Gelingen des Unternehmens nicht überzeugt, er bezweifelte, daß die deutschen Juden überhaupt Geld hierfür zu geben bereit wären.111 Das Projekt befand sich in einem kritischen Stadium. In diese Phase fiel der Beginn der Auseinandersetzung mit Theodor Herzl (1860-1904),112 dem in Budapest geborenen Juristen, Essayisten und Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Herzls „Der Judenstaat" im Februar 1896 sorgte für gewissen Aufruhr in der Bewegung der Chowewe Zion, erzeugte heftigen Widerstand wie auch huldvolle Befürwortung, und zwang vor allem die deutschen Palästinafreunde, eine klare Stellung zu beziehen. Wie sollte man sich Herzl gegenüber verhalten? Wie seiner Ablehnung der Kolonisation begegnen? Die Kölner Gruppe um Wolffsohn und Bodenheimer entschied sich für eine pro-Herzl Haltung. Zwar verwarf sie Herzls Kolonisationsablehnung, sah dies aber in keiner Weise als Grund an, sich gegen ihn zu stellen. Sie erkannten den frischen Wind, den er in die doch schon leicht angestaubte und erstarrte Bewegung bringen
108 Vgl. Dr. Cohn an „Herr Doctor" (Ussischkinf), 1.12.1896, ZZA, A 2 4 / 4 / 6 (Archiv Ussischkin). 109 Vgl. Bambus an Wolffsohn, 22.2.1897, ZZA, W 52 I. HO Vgl. Bodenheimer an Bambus, 23.3.1897 u. 5.4.1897, ZZA, A15/41. 111 Vgl. Soskin an Bambus, 16.2.1897, ZZA, A28/6. 112 Die Literatur über Herzl ist fast unüberschaubar, daher hier nur einige der wichtigsten Titel. Als Standardwerk kann angesehen werden: Alex Bein, Theodor Herzl, Wien 1934 (Neuausgabe Frankfürt/Main/Berlin/Wien 1983). Weitere Titel: Steven Beller, Herzl, London 1991; Arnos Elon, Theodor Herzl, New York 1986; Avner Falk, Herzl, King of the Jews - A Psychoanalytical Biography of Theodor Herzl, Lanham 1993; Andrew Handler, Don - The life and time of Theodor Herzl in Budapest, University of Alabama 1983 u. Desmond Stewart, Theodor Herzl Artist and Politician, London/Melbourne/New York 1974.
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konnte. Diese Haltung manifestierte sich noch nach einem Besuch Wolffsohns in Wien, der Herzl in den höchsten Tönen lobte. Die Berliner Zionsfreunde hingegen waren skeptischer. Für sie bedeutete Herzls ablehnende Haltung gegenüber der Kolonisation eine große Barriere. Und während die Kölner den „National-Jüdischen Verein" ins Leben riefen, Thesen aufstellten und sich anschickten, diese zusammen mit einem Aufruf zum Beitritt in den Verein zu verschicken, blieben die Berliner unentschieden. Die Zionistische Bewegung, zu diesem Zeitpunkt auch noch häufig Nationaljüdisch genannt, war zwar zum Teil in kleinen Gruppen organisiert, einen länderübergreifenden Verband gab es aber noch nicht. Herzl wollte eine solche Institution ins Leben rufen, in der Hoffnung, damit ein Machtinstrument zur Durchsetzung seiner Ziele in der Hand zu haben. Doch Herzl war völlig unbedarft in die Bewegung der Chowewe Zion geraten, weder kannte er Mitte der 1890er Jahre seine Vorläufer, die „seine" Ideen schon lange vor ihm formuliert hatten, noch die Vertreter und fuhrenden Köpfe des Zionismus. So ergaben sich Kontakte mit Zionisten dadurch, daß sie Herzls Buch gelesen hatten und dem Autor schrieben bzw. ihm Gesinnungsgenossen in den verschiedenen Städten nannten. Auf diese Weise kam Herzl auch mit Willy Bambus in persönlichen Kontakt, der jedoch, wie bereits erwähnt, schon seit Mai 1896 Herzls These von der abzulehnenden Infiltration skeptisch gegenüberstand. Herzl nahm mit Bambus brieflich im Januar 1897 Kontakt auf da ihm bekannt war, daß Bambus' Anhänger seine Ziele nicht mitzutragen gedachten.113 Bambus schilderte seine Bemühungen und die Schwerpunkte, die er in der zionistischen Arbeit setzte, und schien bei Herzl zunächst auf Verständnis zu stoßen.114 Im Februar 1897 empfahl der im galizischen Tarnow praktizierende Rechtsanwalt und Zionist Abraham Salz115 Willy Bambus als „altbewährten Zionisten" in Berlin.116 Am 6. und 7. März 1897 traf sich Herzl mit einigen Berliner Zionisten in Wien, es ging um die Gründung einer Zeitung resp. einer Verlagsgesellschaft, unter ihnen auch Willy Bambus, über den er in seinem Tagebuch schrieb: „Der Bedeutendste von allen ist
113 Bambus an Herzl, 24.1.1897, ZZA, Η VIII 42 u. Herzl an Bambus, 26.1.1897, Herzl, 1990, Nr. 878. 114 Vgl. Bambus an Herzl, 2.2.1897, ZZA, Η VIII 42. 115 Salz, geboren in Tarnow, studierte in Wien, gehörte dort der nationaljüdischen Studentenorganisation Kadima an und war auch bis zu Herzls Auftreten weiter in verschiedenen zionistischen Aktivitäten involviert. Vgl. Artikel „Salz, Abraham Adolph", in: EJ, 14:717. 116 Salz an Herzl, 27.2.1897, ZZA, Η VIII 721.
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Willy Bambus, ein stiller klarer Organisator, der aber gern fuhren möchte.'' Und über ihr zukünftiges Verhältnis: „Klar ist, dass Bambus u. ich die ganze Arbeit machen werden. Die Anderen werden zusehen."117 Zu diesem Zeitpunkt galt Bambus in Herzl Augen noch als vertrauenswürdig und als offensichtlich wichtigere Person als Bodenheimer, der Herzl von Bambus als Referent fur einen geplanten Kongreß empfohlen wurde.118 Dazu kann Herzls Hoffnung, bei den Berliner Zionisten die Unterstützung in Deutschland zu finden, die er für sein Projekt benötigte. Herzl hatte bereits richtig den Führungsanspruch Bambus' erkannt, wenn dieser ihn auch nicht offen aussprach, sondern eher in Handlung und Rede einfließen ließ. Dieser Anspruch konnte von Herzl nicht geduldet werden, da seine Persönlichkeitsstruktur ihn keinen weiteren Führungsanspruch neben sich akzeptieren ließ.119 Dieser Hinweis blieb aber der einzige in der Auseinandersetzung zwischen Herzl und Bambus über einen Führungsanspruch, anscheinend waren beide nicht in der Lage, dieses Problem zu erkennen. Außenstehende sahen das sehr viel deutlicher, wie Heinrich Loewe 1898 in einem Brief an Herzl, in dem er Bambus der persönlichen Rache an Herzl zeiht, „weil Sie und nicht er" Führer der Zionisten geworden war.120 Diese Differenzen blieben in den Briefen zwischen Bambus und Herzl ausgespart, Herzl sah Bambus zunächst als fähigen Mitarbeiter und wollte ihn vollständig für sich gewinnen. Doch hatte er die Intentionen und Vorstellungen des Berliners, dem es vor allem anderen um die Kolonien ging, nicht verstanden, während Bambus Herzls Intentionen sehr viel schneller und klarer durchschaute. Er sah seine ganze Arbeit für die Kolonisation durch Herzl gefährdet, und das ließ ihn eigentlich schon zu diesem Zeitpunkt, im Juni 1897, zu einem Herzl-Gegner werden: „Werde ich vor die Wahl gestellt Herzl oder Palästina, so optiere ich (...) fur das letztere und bekämpfe jenen."121 Diese Einstellung zieht sich dann durch die ganze Korrespondenz mit Herzl über die Gestaltung des Ersten Zionistenkongresses. Vordergründig ging es um organisatorische Dinge, wie die Referatsthemen - Bambus sollte über die Kolonisation berichten -, die Voranzeige und die Einladungen,122 doch hinter Bambus' immer stärkerem Widerstand 117 118 119 120 121 122
Tb v. 10.3.1897, Herzl, 1984, S. 486f Vgl. Herzl an Bodenheimer, 26.3.1897, CZA, Α15/ΙΠ/1 (aZ.) Vgl. hierzu vor allem Falk, 1993. Loewe an Herzl, 20.4.1898, ZZA, Zl/284. Bambus an Zlocisti, 23.6.1897, ZZA, A48/60. Vgl. dazu Herzl an Bambus, 21.3.1897, 26.3.1897, 4.4.1897, 9.4.1897, 24.4.1897, 7.5.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 905, 916, 924,934,943 und 961.
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stand die Angst um die Kolonisation, die sich mehr und mehr in den Vordergrund seines Denkens und Handelns schob. Und schließlich kündigte er Herzl die Mitarbeit als Referent für den Kongreß mit einigen seine Einstellung ganz deutlich herausstellenden Sätzen auf: „Wenn ich ein derartiges Referat auf einem Zionistencongress halte, so verquicke ich dadurch die Colonisation Palästinas mit dem Zionismus, das heisst ich schädige sie sehr stark. (...) Sie kennen meine Anschauung, dass ein Erfolg der Kolonisation mir schwerer wiegt, als die zionistischen Zukunftspläne.''123 Aber gab es für Bambus möglicherweise noch einen anderen Grund, den politischen Zionismus abzulehnen als nur die Angst um den Fortgang der Kolonisation? Lehnte er die Bestrebungen Herzls möglicherweise aus religiösen Gründen ab? Im Vorwort zu seinem Buch „Palästina - Land und Leute" bezeichnete er sich selbst als strenggläubigen Juden.124 Er vertrat die Position, daß die Wiederherstellung des Staates nur vom Messias abhänge, auch gegenüber seinen zionistischen Mitstreitern, die allem Anschein nach aber mit ihm nicht konform gingen.125 Daß er sich 1901 einer MisrachiGruppe anschließen wollte, könnte ebenfalls als Zeichen für seine religiöse Einstellung gedeutet werden, wobei Misrachi ihm die Verbindung Religion und Zionismus ermöglicht hätte.126 Heinrich Loewe zählte ihn ebenfalls zur Orthodoxie, nannte dies aber den Weg, wie Bambus zum Zionismus gefunden habe.127 Eine solche Möglichkeit war nicht abwegig, die orthodoxen Wurzeln resp. die Vorläufer wurden im Vorangegangenen bereits geschildert. Vielleicht war seine orthodoxe Einstellung tatsächlich ein Motiv für Bambus, aber er hat es nicht in den Vordergrund seiner Argumentation gestellt. Weder in seinen Büchern noch in den Briefen über die Kolonisation an die verschiedensten Personen wurden religiöse Gründe für sein Verhalten genannt. Trotzdem kann ein latent vorhandenes Gefühl der Ablehnung gegenüber den säkularen Staatsbestrebungen Herzls nicht ausgeschlossen werden.
123 Bambus an Herzl, 10.5.1897, ZZA, Η VIII 42. Daß Bambus auch von Seiten der Kolonisten nicht nur als Kenner der Verhältnisse in Palästina eingeschätzt wurde, sondern auch als jemand, der seinen Einfluß in Europa zugunsten der Kolonien geltend machen konnte, zeigt ein Brief der Kolonisten in Hadera, die Bambus um Fürsprache in Paris bitten, da sie immer noch auf die versprochene Trockenlegung der Sümpfe warten. Vgl. „Colonisten von Chederah" an Bambus, 22.11.1897, ZZA, A28/6. 124 Vgl. Bambus, 1898, Vorwort, S. 6. 125 Vgl. Soskin an Bambus, 20.9.1897, ZZA, A28/6. 126 Vgl. Turofi; in: „Die Welt", Nr. 47,11.11.1904. 127 Vgl. Loewe, Sichronoth, Rabbinische Richtungen, S. 2, ZZA, A146/6/6.
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Nach der förmlichen Trennung von Herzl vor dem ersten Kongreß bekämpfte Bambus den politischen Zionismus Herzls ganz offen. So nahm er für den „Zion" nur noch Artikel an, die sich mit der Kolonisation beschäftigten, Themen des politischen Zionismus blieben ausgeschlossen.128 Bodenheimer akzeptierte Bambus' Rückzug nicht so ohne weiteres. Er hatte auch schon vor Bambus' formellem Rückzug ihn inständig gebeten, sich an der Arbeit der Kölner für den Aufruf und die Thesen der Nationaljüdischen Vereinigung Köln zu beteiligen,12' und er versuchte ihn schließlich auch noch im Juli 1897 in die Vorbereitungen der deutschen Zionisten für den Kongreß einzuspannen, obwohl er sich schon im Mai gegenüber Birnbaum sehr negativ über die Unterstützung der Berliner Zionisten geäußert hatte.130 Bodenheimer lud Bambus nichtsdestotrotz zur Konferenz nach Bingen ein, bei dem das gemeinsame Vorgehen der deutschen Zionisten auf der Tagesordnung stand. Auch Bambus' Stellung zum Kongreß sollte zur Sprache kommen.131 Bambus erkundigte sich höflich nach dem genauen Zeitplan für Bingen, wollte eventuell dazustoßen,132 erschien dann aber doch nicht. Im Gegenteil, er machte kurz vor dem Kongreß in einem Brief an Bodenheimer seinen Standpunkt noch einmal ganz deutlich, indem er durch Herzl sehr „greifbaren Schaden angerichtet" sah.133 Obwohl sich Bambus explizit als einen Gegner des Herzl'schen Zionismus betrachtete, nahm er doch am Ersten Zionistenkongreß im August 1897 in Basel teil. Auf dem Kongreß äußerte er sich in einer Erwiderung auf verschiedene Referate über Palästina explizit über die Kolonisation, die er als ein notwendiges Experiment bezeichnete, ohne das eine Kolonisation im großen Stil nicht durchzusetzen sei.134 Bambus' Reputation bei den Zionisten war trotz seiner Differenzen mit Herzl noch so groß, daß er am Ende des Kongresses in die „Commission für praktische Colonisation" gewählt wurde.135 Doch aus den Unterlagen der Zionistischen Organisation läßt sich seine Mitarbeit in dieser Kommission nicht erkennen. Bambus zog über den Kongreß das Fazit, daß er sowohl Herzl als auch den Kon128 129 130 131 132 133 134
Vgl. H. Bodenheimer, 1965, S. 58, Anm. 27. Vgl. Bodenheimer an Bambus, 5.4.1897, CZA, A15/41. Vgl. Bodenheimer an Birnbaum, 1.5.1897, CZA, A15/41. Vgl. Bodenheimer an Bambus, 5.7.1897, CZA, A15/42. Vgl. Bambus an Bodenheimer, 6.7.1897, CZA, A15/264. Vgl. Bambus an Bodenheimer, 1.8.1897, CZA, A15/266. Vgl. Protokoll des I. Zionistenkongresses 1897 Basel, Prag 1911 (Neuauflage), S. 205. 135 Vgl. ebd., S. 214. Die anderen Mitglieder waren „Dr. Kaminka, Dr. Mintz, Hubenstein, Dr. Schnirer."
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greß unterschätzt habe, zum Zweiten Kongreß wollte er daher besser vorbereitet erscheinen, um Herzl wirkungsvoller bekämpfen zu können.136 Während sich Bambus mit Herzl auseinandersetzte, lebte Heinrich Loewe in Jaffa und hoffte, dort für die Palästinafreunde und die neue nationaljüdische Kultur arbeiten zu können. Ende 1896 war Loewe zum zweiten Mal nach Palästina gereist und hatte begonnen, seine Tätigkeit als Lehrer an einer hebräischen Schule vorzubereiten sowie die Planungen für ein hebräisches Gymnasium einzuleiten. Doch ein Ereignis kurz nach seiner Ankunft in Jaffa ließ ihn nicht nur von diesen Plänen Abstand nehmen, sondern zeigte vor allem, wie weit die Entfremdung zwischen Loewe und Bambus bereits fortgeschritten war. Nur kurze Zeit vorher hatte Loewe den „Zion" an Bambus in gutem Glauben an ihre Freundschaft, oder zumindest ihre Zusammenarbeit in zionistischen Fragen, übergeben. Nun trafen in Jaffa Briefe aus Berlin ein, die Loewe stark verleumdeten und damit seine Position im Jischuw schwächten. Schreiber der Zeilen war Dr. Holzmann, der sich auf Bambus berief Ein Briefwechsel mit Bambus brachte für Loewe kein befriedigendes Ergebnis, und es blieb im Raum stehen, ob Bambus Holzmann schützen wollte oder tatsächlich Initiator der Verleumdungen gewesen war.137 Die Atmosphäre zwischen den einstigen Freunden und Vorkämpfern für den Zionismus in Deutschland war vergiftet, deutlich wird dies in den Erinnerungen Loewes über die Zeit nach 1896, denn Bambus wird ungewöhnlich scharf kritisiert, als Marionette Paul Nathans dargestellt,138 und seine Intentionen werden nicht mehr ernst genommen. Loewe konzentrierte sich nach diesen Differenzen auf andere Tätigkeitsfelder in Palästina, so versuchte er, Schulbücher für den Unterricht in hebräischer Sprache zu konzipieren, die er als einen der wichtigsten Schritte auf dem Weg zum Nationaljudentum ansah. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Artikeln über Palästina, vor allem mit den von ihm gegründeten „Nachrichten aus Palästina". Auf zwei bis drei Din-A-4 Seiten berichtete Loewe hierin normalerweise alle 14 Tage über die Situation der Kolonien, unter dem Aspekt des Neuaufbaus der alten Heimat, hauptsäch-
136 Vgl. Estermann an Wolffsohn, 19.12.1897, ZZA, W 52 I. 137 Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 10, ZZA, A146/6/8. Die in diesem Teil über Loewes zweite Palästinareise verwendeten Informationen entstammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, ausschließlich aus dem Kapitel „Palästina" und werden daher nicht mehr gesondert nachgewiesen. 138 Ebd., S. 25 u. 70.
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lieh aber über, wie er es nannte, Sprach- und Kulturfragen.139 Verschiedene jüdische Zeitungen in Deutschland übernahmen diese Nachrichten, für Loewe selbst überraschend auch der „Israelii". Bei näherer Betrachtung der Artikel verwundert dies doch nicht so sehr, denn sie handelten in der Hauptsache von Ereignissen in den Kolonien, schilderten Ausflüge dorthin, beschrieben die landwirtschaftliche Arbeit und waren damit weit von dem entfernt, was im deutschen Judentum unter dem Begriff Nationaljudentum so gefurchtet und mit Loewes Namen verbunden wurde. Diese Artikel belegen, daß der Aufenthalt in Palästina für Loewes Arbeit eine Verschiebung des Schwerpunkts gebracht hatte. War er in Deutschland entschiedener Nationaljude gewesen, mit der Zielsetzung, diese Idee im deutschen Judentum populär zu machen und gegen alle Widerstände durchzusetzen, nahm er in Palästina nun großen Anteil an der Entwicklung der Kolonien und konzentrierte sich nicht nur auf den bürgerlich-städtischen Jischuw. Die neuhebräische Sprache und die Kolonien wurden Inhalt seines Lebens in Palästina. In Ergänzung der erfolgreichen Selbstdarstellung der jüdischen Kolonien auf der Berliner Gewerbeaussteilung, die im übrigen noch 1896 eine Fortsetzung in Köln gefunden hatte,140 wurde fur den Sommer 1897 in der Hamburger Gartenausstellung wieder eine Abteilung mit Bäumen, Blumen und landwirtschaftlichen Produkten aus den Kolonien geplant. Bei den Vorarbeiten in Palästina zur Realisierung dieser Ausstellung war Loewe einer der Hauptinitiatoren.141 Man schickte die Produkte per Schiff nach Hamburg und hatte mit dem Gärtner Glückmann in Rischon le-Zion einen Deutsch sprechenden Begleiter des Transports gefunden,142 der dann auch während der Ausstellung für die Pflege der Bäume zuständig war.143 Die Ausstelllang fand großen Anklang beim Publikum und auch bei der lokalen nichtjüdischen Presse. So schrieben die „Hamburger Nachrichten":
139 Im ZZA finden sich die Nummern 1-15 der „Nachrichten aus Palästina", vom 4. Adar II (8.3.1897) bis 14. Av des Jahres 5657 (12.8.1897), ZZA, A146/117. 140 Vgl. A 1 2 / 3 1 (Geschichte des Esra), S. 16 u. Wolffsohn an Bambus, 15.9.1896, ZZA, W 33 I. 141 Vgl. Loewe, Sichronoth, Nach dem ersten Kongress, S. 1, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 8 . Willy Bambus war an der Ausstellung insofern beteiligt, als seine Broschüre „Die jüdischen Dörfer in Palästina" an die Besucher der Ausstellung verteilt wurde. Vgl. „Chovevei Zion Quarterly", Nr. 21, Sept. 1897, S. 10. 142 Vgl. „Chovevei Zion Quarterly", Nr. 21, Sept. 1897, S. 9. 143 Vgl. auch die Briefe Glückmanns an D. Jellin, die er während der Ausstellung schrieb. 5.7., 17.8. u. 22.9.1897, ZZA, A153/50.
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„Das Unternehmen der Colonisten verdient besondere Anerkennung. In anderthalb Jahrzehnten haben die aus Rußland und Rumänien zuströmenden Einwanderer in ungewohnter Arbeit sich bewährt."144 Eine weitere Möglichkeit, für die Kolonien werbewirksam zu agieren, bot sich Loewe zu Pessach 1897. Zu diesem Zeitpunkt war eine Pilgerfahrt des englischen Maccabäer-Clubs anberaumt. Loewe ließ sich das Programm schicken und unternahm dann alle Anstrengungen, um die Reisegesellschaft auf die neuen jüdischen Kolonien aufmerksam zu machen und die Reiseroute im Hinblick auf die Besichtigung der Siedlungen abzuändern. Dies gelang nur teilweise, zeigte aber deutlich sein Engagement für die Kolonien und brachte ihm den Respekt des englischen Schriftstellers und Zionisten Israel Zangwill (1864-1926) ein, der ebenfalls Teilnehmer dieser Fahrt war und sich mit Loewe über die Notwendigkeit der Kolonisation für die Verwirklichung des Zionismus auseinandersetzte. Inzwischen begannen sich Herzls Aktivitäten in Europa immer stärker auch auf die jüdische Gemeinde in Palästina auszuwirken. Die erste Nummer der von Herzl gegründeten Zeitung „Die Welt" erschien am 4.6.1897, erreichte Palästina zwei Wochen später und entfachte sofort eine heftige Debatte über Zionismus und den geplanten Zionistenkongreß. Die Gruppe der fuhrenden Zionisten in Jaffa, zu der auch Loewe gehörte, war sich der Problematik der Herzl'schen Pläne durchaus bewußt, zumal sie in ihren genuinen Interessen davon berührt war. Drei Aspekte trennten die Zionisten in Palästina von Herzl, die Sprachenfrage, die Landfrage - denn Herzl hatte sich weder eindeutig für das Neuhebräische noch für Palästina als zukünftige Heimat ausgesprochen - und seine Ablehnung der von ihm abschätzig „Infiltration" genannten Siedlungsbewegung. Diese Differenzen waren geeignet, die Zionisten Palästinas in Opposition zu Herzl zu bringen, vor allem die Ablehnung der Siedlungsbewegung hatte bekanntermaßen schon zum Bruch zwischen Bambus und Herzl geführt. Aber Loewe und seine Mitstreiter zogen den Schluß, daß trotz dieser Probleme der geplante Kongreß vorbehaltlos zu unterstützen sei. Loewe schreibt an einer anderen Stelle seiner Memoiren noch einmal über seine Meinung zu Herzls Ablehnung der Kolonisation bevor nicht eine rechtliche Garantie in den Händen der Zionisten sei: „Ich konnte ihm darin nicht folgen, sondern war der Meinung, daß wir bei einer Lösung der
144 Zitiert nach: „Die Welt", Nr. 7,16.7.1897, S. 11.
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orientalischen Frage um so mehr Aussicht hätten, je mehr Machtpositionen wir im Lande hätten."145 So begann Loewe in den Kolonien eine Kampagne zur Unterstützung des Kongresses, an dem er auch selbst unter allen Umständen teilnehmen wollte, und sammelte gleichzeitig Material über die Kolonien, um es dem Kongreß präsentieren zu können.146 Loewes Agitation für den Kongreß hatte den gewünschten Erfolg, das Jaffaer Komitee und auch die Kolonisten sprachen sich fur die Entsendung eines Delegierten nach Basel aus und wählten schließlich Heinrich Loewe als Repräsentanten des Neuen Jischuws. Diese Wahl muß sehr hoch eingeschätzt werden, denn Loewe war erst knapp ein halbes Jahr in Jaffa wohnhaft. Er hatte sich zwar sehr für die Kolonien interessiert, doch waren die Erfahrungen der Kolonisten mit Hilfe aus Deutschland doch eher negativ, so daß das Vertrauen, welches sie mit dieser Wahl Loewe aussprachen, den Gewählten sehr ehrte und ein weiterer Beweis für die immer noch vorhandene hohe Achtung der Kolonisten vor dem deutschen Judentum war.147 Für Loewe war die Entscheidung, nach Basel zu gehen, mit einem jahrzehntelangen Abschied von Palästina verbunden, er stellte seine ganze Arbeitskraft in den Dienst des Zionismus, begann an der Berliner Universitätsbibliothek zu arbeiten, errang auf dem Gebiet des Archivar- und Bibliothekswesens den Professorentitel und kam erst 1933 als Emigrant zurück nach Palästina.
145 Loewe, Sichronoth, Warburg, S. 1, ZZA, A146/6/15. Diese Position gibt exakt die Vorstellungen der „praktischen" Zionisten wieder, die den W e g der „politischen" Zionisten, erst rechtliche Garantie, dann Kolonisation, in Anbetracht der politischen Realität und der politischen Logik ablehnten. Beide Wege standen sich zu Herzls Lebzeiten unvereinbar gegenüber, erst Chaim Weizmann verband beide Richtungen zum sog. „synthetischen" Zionismus, in dem er die von Ussischkin entwickelten Vorstellungen zu seinem Programm machte. 146 Nach Loewes Angaben hat er dieses sehr umfangreiche statistische Material über die Kolonien dem Kongreß-Büro ausgehändigt. Leider war es in den Unterlagen der Zionistischen Organisation im ZZA nicht zu finden. 147 Wie sehr die Einberufung des Zionistenkongresses die Gefühle der Teilnehmer berührte, wie schnell eine Stimmung aufkam, die man als Aufbruchstimmung bezeichnen kann, geht aus Loewes letzten Sätzen aus dem Kapitel „Palästina" hervor: „Ehe ich mir ein Hotel oder eine Schlafstätte suchte, ging ich zum Kongressbureau, mich zu melden. Denn ich hatte das Gefühl eines Soldaten, der sich bei seinem Regiment zu melden hat: „Hier bin ich!"" Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 80, ZZA, A 1 4 6 / 6 / 8 .
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Der Erste Zionistenkongreß im August 1897 in Basel brachte den Zionisten das „Baseler Programm"148 und die Gewißheit, mit Theodor Herzl einen Führer zu haben, der im Gegensatz zu allen anderen Zionisten vor ihm, nicht nur entschlossen war, seine Ideen durchzusetzen, sondern auch die Fähigkeit dazu besaß. Die Kräfteverhältnisse in der zionistischen Bewegung begannen sich vollkommen zu verschieben, respektierte Führer vor Herzl gerieten in Vergessenheit, gleichzeitig traten neue Führungsgruppen in das Licht der jüdischen Öffentlichkeit. Für Willy Bambus, der zu der Gruppe gehörte, die Herzl heftig bekämpfte, bestätigten sich seine Befürchtungen über Herzls Haltung gegenüber den Kolonien, während der Auseinandersetzung über die von galizischen Juden gegründete Kolonie Machnaim, die aber gleichzeitig der nicht unberechtigten Befürchtung Herzls recht gab, neue Kolonien könnten ohne gesicherte Basis nur im finanziellen Ruin enden. In der galizischen Stadt Tarnow hatte sich Mitte der 1890er Jahre unter der Leitung von Abraham Salz ein Verein für die Kolonisation Palästinas, „Ahawath-Zion" (Zionsliebe), gebildet, dessen Ziel ganz explizit die Gründung einer neuen Ansiedlung galizischer Juden in Palästina war.149 Im Dezember 1896 wurden Einlagescheine herausgegeben, die die finanzielle Basis für die zukünftige Siedlung schaffen sollten.150 Am 7.10.1897, also anderthalb Monate nach Beendigung des Ersten Zionistenkongresses, an dem Salz als Anhänger Herzls teilgenommen und als 2. Vizepräsident fungiert hatte, schrieb der Verein an den Wiener Landesverband „Zion" und an Herzl in gleichlautenden Schreiben, daß man sich, den Zielen des Vereins entsprechend, um ein Terrain bemüht und dies durch Vermittlung Rothschilds nordöstlich von Rosch Pina gefunden habe. Der Boden sei
148 „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Ziels nimmt der Congress folgende Mittel in Aussicht: I. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. II. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesammten Judenheit durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach Massgabe der Landesgesetze. ΙΠ. Die Stärkung des jüdischen Selbstgefühls und Volksbewusstseins. IV. Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen." Text zitiert nach: H.H. Bodenheimer, 1965, S.52. 149 Vgl. Paragraph 1 der Geschäftsordnung des „Ahawath-Zion", ZZA, Zl/2. 150 Vgl. Rundschreiben des Ahawath-Zion „Brüder und Stammesgenossen!", Dezember 1896 u. „Einlageschein des galizischen Vereines fur Colonisation Palästinas". ZZA, DD 1/2/2/1.
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fruchtbar und das einzige Problem die Finanzierung, daher bitte man um Mithilfe, um die Kosten gemeinsam tragen zu können, eine Idee, die in Paris bereits genehmigt worden sei.151 Dieses Ansinnen war den Vorstellungen Herzls diametral entgegengesetzt, selbstverständlich konnte er einem solchen Projekt nicht zustimmen, noch konnte er es unterstützen. Im Antwortbrief an Salz wurde daher noch einmal auf die Beschlüsse des Kongresses eingegangen und empfohlen, den Bodenkauf rückgängig zu machen. Die Geldmittel sollten besser zur Konsolidierung der bestehenden Kolonien verwendet werden.152 Immerhin stellte sich die Zionistische Organisation nicht völlig gegen die bereits existierenden Kolonien, auch wenn sie diese nicht mit großer Sympathie betrachtete, aber neue Kolonien zu gründen, wurde strikt abgelehnt. Mit dieser abschlägigen Antwort gab sich Abraham Salz nicht zufrieden, und in einem zehnseitigen Brief an Herzl erläuterte er die Geschichte des Vereins „Ahawath-Zion", die Gründe für den Bodenkauf die Wichtigkeit des Ziels der Siedlungsgründung, schwächte aber auch die Pläne der Galizier ein wenig ab, indem er die Siedlung als „Versuchsstation" deklarierte. Am Ende des Briefes findet sich ein handschriftlicher Vermerk Herzls, der ein gewisses Einlenken signalisierte: „Die Aufklärung über die „Versuchsstation" finde ich einleuchtend. So lässt sich darüber reden."153 Doch schon kurze Zeit später gab es ein weiteres Schreiben an Salz. Der Verein hatte inzwischen bei anderen zionistischen Vereinen sein Projekt vorgestellt und ebenfalls um finanzielle Beteiligung gebeten. In diesen Vorstellungen war nicht mehr von einer Versuchsstation die Rede, sondern wieder explizit von einer Kolonie. Einer dieser Vereine hatte sich an Herzl mit der Bitte um Aufklärung gewandt, wie man sich in diesem Falle verhalten solle, ob eine Unterstützung der Tarnower auch von Herzl gewünscht würde. Daraufhin wurde an den Tarnower Verein ein Brief verfaßt, der in scharfem Ton die Versuche zur Gründung einer Kolonie in Palästina verurteilte, sich dabei auf die schwache finanzielle Basis der Tarnower berief die nach Aussage des O.K. auf keinen Fall zur Gründung ausreiche, und der mit scharfen Dementis drohte, sollten die Tarnower die Zionistische Organisation weiter als an ihrem Projekt beteiligt erwähnen.154
151 Vgl. „Ahawath-Zion" an Landesverband „Zion", 7.10.1897 u. Salz an Herzl, 7.10.1897, ZZA, Zl/542. 152 Vgl. Bureau des Zionistenkongresses an Salz, 19.10.1897, ZZA, Zl/542. 153 Vgl. Salz an Herzl, 31.10.1897, ZZA, Zl/542. 154 Vgl. Bureau des Zionistenkongresss an Salz, 21.12.1897, ZZA, Zl/542.
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Salz interpretierte die Haltung Herzls als eindeutig gegen jedwede Form der Kolonisation gerichtet und sah sich darin auch durch die Antworten Herzls an weitere emigrationswillige Juden bestätigt. In den Akten des Zionistischen Bureaus finden sich viele Anfragen und Bitten, man möge doch bei der Ausreise, bei der Etablierung in Palästina, bei der Kolonisation helfen. Die überlieferten Antworten Herzls waren stets abschlägig.155 Daher wandte sich Salz an Willy Bambus, von dem er wußte, daß er ein Verfechter der Kolonisationsidee war und gleichzeitig mit dem Verein Esra ein Finanzinstrument zur Unterstützung der Kolonien zur Verfugung hatte. Im April 1898 warnte er Bambus, das Actionscomite, das gewählte ausführende Organ der Zionistischen Bewegung zwischen den einzelnen Kongressen, plane einen „(...) verweifelten Kampf um das Prinzip der Nichtcolonisation."156 Mit Bambus fand Salz nicht nur einen gleichgesinnten Kolonisationsförderer, der sich der Kolonie engagiert annahm,157 sondern auch die notwendigen Finanzhilfen zur Realisierung der Kolonie, von deren Gründung sich die Galizier nicht hatten abbringen lassen. In einem Brief vom Mai 1898 bestätigte Salz die Zusage des Esra, Machnaim (hebr.: „Zwei Lager", Gen 32:3) finanziell helfen zu wollen.158 Aber auch Herzls Bedenken erwiesen sich als nicht unbegründet, denn die Kolonie reüssierte nicht. Im Jahre 1901, als sich die Lage Machnaims schon sehr zugespitzt hatte, die Kolonie war wirtschaftlich kurz vor dem Ende, forderte Bambus einen Bericht über die Situation der Siedlung und beauftragte hiermit Selig Soskin. Dieser faßte die Entwicklung, vor allem die Fehlentwicklung, auf 13 Seiten zusammen, mit dem Fazit, daß die Kolonie fast schon hoffnungslos überschuldet sei und es nur mit größter Anstrengung möglich sein werde, den Ruin abzuwenden. Als Hauptfehler machte Soskin den Beginn der Kolonisation aus, der ohne die notwendigen finanziellen Mittel erfolgt sei, wobei Soskin nicht umhin kam, diesen wirtschaftlichen Ruin den Verantwortlichen in Tarnow anzulasten, da sie um die Risiken wußten, nachdem eingeplante Geldgeber nicht zur Verfügung standen, und trotzdem die Siedlung gründeten.15' Alle Hilfe von sei-
155 Vgl. z.B. ZZA, Zl/279, Zl/280, Zl/281, Zl/286 u. Zl/289. 156 Salz an Bambus, 24.4.1898, ZZA, A28/6. 157 Bambus verteidigte die Kolonie sogar in Leserbriefen an den Jewish Chronicle", wenn er dies für nötig hielt. Vgl. Bambus an Jewish Chronicle", 1.9.1899. 158 Vgl. Salz an Bambus, 20.5.1898, ZZA, A28/6. 159 Vgl. Selig Soskin, Die Kolonie MACHNAIM bei Rosch-Pinah, Gründung des Vereins „Ahawath Zion" zu Tarnow, Bericht an Willy Bambus, 7.6.1901, ZZA, A28/6.
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ten des Esra und auch der JCA half der Siedlung nicht mehr, Machnaim fiel 1903 wüst.160
5. Der Eklat auf dem Zweiten Zionistenkongreß Um den Kolonien ökonomisch helfen zu können, hatte Bambus im Sommer 1898 den Gedanken gefaßt, ein Import-Exportgeschäft zwischen Palästina und Deutschland einzurichten. Eine in Jaifa geplante Filiale wollte er selbst leiten und wandte sich zu diesem Zweck an das Deutsche Konsulat in Jaffa, mit der Bitte um Auskünfte, seine geplante Übersiedlung nach Palästina betreffend.161 Obwohl die Antwort des Konsulats positiv ausfiel, der Niederlassung stünde kein Hindernis im Weg,162 sollte es noch bis zum Mai 1899 dauern, bis Bambus wieder nach Palästina kam und seine Pläne möglicherweise realisieren konnte. Denn zunächst beschäftigte ihn der Zweite Zionistenkongreß 1898. Bambus hatte am Ersten Zionistenkongreß teilgenommen und die Macht der Herzl'schen Idee, oder besser die Macht der Herzl'schen Persönlichkeit, unterschätzt. Den Zweiten Kongreß wollte er ebenfalls besuchen, diesmal aber besser vorbereitet. 1898 wurde nun das Jahr, in dem es zum endgültigen Bruch zwischen Bambus und Herzl kam, ausgelöst durch einen heftigen Streit über die Bewertung der Kolonisation in Palästina. Noch im Juni 1898, zwei Monate vor dem Zweiten Kongreß, hatte Bambus Kontakt mit Max Nordau (1849-1923), Vizepräsident des Ersten Kongresses und neben Herzl einer der fuhrenden Zionisten, aufgenommen und ihm erklärt, die Kolonisation dürfe nicht eingestellt werden, es gehöre so viel Land wie möglich in jüdische Hände,163 und es müsse die Zahl der Juden in Palästina erhöht werden.164 Dies war zwar nur eine Wiederholung seiner bereits bekannten Position, sie war aber in einem moderaten Ton gehalten, der auf die Möglichkeit einer Annäherung Bambus' an die Zionistische Organisation während des Kongresses schließen ließ. Für diesen Zweiten Kongreß hatte Herzl beschlossen, einen fundierteren Vortrag über die Kolonisation Palästinas anzufordern als er beim er-
160 Vgl. Josef Weitz, Galiläa, Prag 1938, S. 35. 161 Vgl. Bambus „An ein wohllöbliches Konsulat Jaffa", 10.8.1898, in: Eliav, 1973, Dok. 165, S. 241. 162 Vgl. Konsul Schmidt flaffa) an Bambus, 23.8.1898, in: Eliav, 1973, Dok. 166, S. 241£ 163 Vgl. Bambus an Nordau, 13.6.1898, ZZA, A119/143. 164 Vgl. Bambus an Nordau, 26.6.1898, ZZA, A l 19/143.
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sten Kongreß von Armand Kaminka geboten worden war. Seine Wahl fiel auf Leo Mozkin, der im Sommer 1898 nach Palästina reisen sollte, um sich über die Lage der Siedlungen zu informieren. Mit dieser Aufforderung tat sich Mozkin allerdings sehr schwer. Er machte gesundheitliche Bedenken geltend, wollte außerdem auch zuerst mit Heinrich Loewe, als einem anerkannten Palästinakenner, sprechen.165 Dieser warnte ihn vor falschen und oberflächlichen Vorstellungen, die er zwangsläufig von Palästina bekommen würde, wenn er nur als Gast für kurze Zeit im Lande weilen würde.166 Aber Herzl zerstreute diese Bedenken und schickte Mozkin im Sommer 1898 nach Palästina, den „(...) gegenwärtigen Zustand des jüdischen Palästinas"167 zu erforschen. Mozkins Befürchtungen wurden auch in Palästina nicht ganz ausgeräumt, wie ein Brief an Herzl zeigt, er fürchtete weiter, seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden.168 Trotz aller Bedenken hielt Leo Mozkin auf dem Zweiten Zionistenkongreß (28.8.-31.8.1898, Basel) sein Referat über Palästina und kam nach einer kritischen Darstellung der Situation zu einem sehr negativen Fazit über das bisher Erreichte.169 Willy Bambus war über das Referat empört, denn er sah in Mozkins Äußerungen die größte Gefahr für den Fortbestand der Kolonisation. Einer sofortigen Widerlegung der Mozkin'schen Thesen auf dem Kongreß170 folgte schnell die Broschüre „Herr Mozkin und die Wahrheit über die Kolonisation Palästinas",171 die sich in schärfster Form gegen das Referat und seinen Autor wandte.172 Er warf seinem ehemaligen Mitarbeiter im Esra vor, wissentlich die Unwahrheit gesagt zu ha-
165 Vgl. Mozkin an Herzl, 16.5.1898, ZZA, Η VIC 584. 166 Vgl. Mozkin an Herzl, 20.5.1898, ZZA, Η VIII 584. 167 Vgl. die handschriftlichen Aufzeichnungen Mozkins vor seiner Reise, ZZA, A126/22. 168 Vgl. Mozkin an Herzl, Jaffa, 13.5.1898, ZZA, Η VIII 584. 169 Vgl. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des Π. Zionistenkongresses gehalten zu Basel 1898, Wien 1898, S. 100-127. 170 Vgl. Ebd., S. 182-185. Ein Zeichen fur die beginnende Entfremdung zwischen Bambus und Loewe war der Disput, der sich an Bambus' Rede gegen Mozkin anschloß. Beide warfen sich vor, auf ihrer gemeinsamen Reise eher dem Müßiggang gefrönt denn praktisch für Erez Israel gearbeitet zu haben. Ebd., S. 189£ u 196f 171 Vgl. Willy Bambus, „Herr Mozkin und die Wahrheit über die Kolonisation Palästinas", Verlag: Zion (Berlin) 1898, S. 3. 172 Im September 1898 hatte Bambus an Seev Gluskin einen Brief geschrieben, der als Motto über der Broschüre stehen könnte: „Ich habe die Rede Mozkin's (...) natürlich kontrolliert und bin dabei zu dem Resultat gekommen, daß ungefähr sämmtliche Ziffern, die er angegeben hat (...) falsch sind." Bambus an Gluskin, 13.9.1898, ZZA, A l 18/1/6.
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ben, Zahlen im Sinne der Kolonisationsgegner gefälscht zu haben, kritiklos ihm genehme Angaben übernommen zu haben und häufig schlicht Gerüchten in Palästinas aufgesessen zu sein. Aber nicht nur Mozkin wurde einer scharfen Kritik unterzogen, auch Heinrich Loewe, der mit Bambus noch zwei Jahre zuvor in augenscheinlicher Eintracht und zur Verwirklichung zionistischer Interessen nach Palästina gereist war, wurde als Verbreiter von Gerüchten und Verleumdungen bezeichnet.173 Im ZZA finden sich die handschriftlichen Aufzeichnungen, die Mozkin nach Erscheinen der Bambus'schen Broschüre angefertigt hat, um sie in einem Artikel oder ebenfalls einer Broschüre zu verwenden. Diese - unvollständigen - Aufzeichnungen griffen nun wieder Bambus in scharfer Form an, warfen ihm Doppelzüngigkeit sowie gehässige persönliche Angriffe vor und zeigten vermeintliche Fehler in der Bambus'schen Interpretation und Verwendung des statistischen Materials.174 Es ist müßig, den Streit über Zahlen, Statistiken und ihre Interpretation nachzuzeichnen oder gar überprüfen zu wollen, denn im Kern ging es Bambus nur vordergründig um akribische Statistik. Immer wieder hatte er im Zusammenhang mit der Kolonisation von einer Lebensaufgabe gesprochen, seiner Lebensaufgabe, und er ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Das Engagement nahm schon fast pathologisch übersteigerte Züge an. Im Versuch, durch die Arbeit für die Kolonisten seine eigene höchst unerfreuliche private Situation zu vergesssen, wurde Bambus immer engstirniger, überall sah er das Werk von politischen Zionisten bedroht. Nur so sind seine Ausfalle gegen die ehemaligen Freunde aus Berlin zu erklären, gegen Loewe und Mozkin, die zusammen mit ihm im Berliner Zionismus der 1890er Jahre die Führung innegehabt und die sich nun Herzl zugewandt hatten. Aber Bambus' Angriffe gegen Mozkin führten auch auf seiten der HerzlAnhänger zu heftigen Gegenreaktionen. Bereits im Dezember 1898 sprach Max Bodenheimer in seinem Tagebuch davon, daß Bambus in der Bewegung völlig diskreditiert sei.175 Zwischen Herzl und Bambus wurde aus ge173 Vgl. Bambus, Herr Mozkin..., 1898, S. 10, Fußnote. Ebenfalls 1898 veröffentlichte Bambus das zweite Buch über seine Palästinareise, „Palästina-Land und Leute". Dies war im wesentlichen eine längere Fassung (175 Seiten) der bereits 1896 erschienenen Broschüre. Leider läßt sich nicht mehr feststellen, ob dieses Buch bereits vor dem zweiten Kongreß, oder als Reaktion auf Mozkins Referat veröffentlicht wurde, was dem Buch eine andere Qualität und Bedeutung verleihen würde. 174 Vgl. ZZA, A126/22. Die Aufzeichnungen sind nicht numeriert, insgesamt liegen 72 Seiten vor. 175 Vgl. Tb v. 24.12.1898, zitiert in: H.H. Bodenheimer, 1965, S. 119. 1899 nannte Bodenheimer die Anhänger Bambus' in einem Schreiben an Herzl „Clique Bambus"
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gensätzlichen Positionen offene Feindschaft, so daß Herzl 1902 schließlich von Bambus als einem „Haderlumpen"176 sprach. Der Bruch mit den Zionisten um Herzl hätte Bambus möglicherweise nur wenig gestört und wäre nicht von derart heftigen persönlichen Angriffen begleitet worden, wenn nicht im gleichen Jahr auch sein Bankprojekt, das er als überlebensnotwendig für die Kolonisation ansah, gescheitert wäre. Da er sich bei der Suche nach Mitarbeitern und Zeichnern von Einlagescheinen vor allem an Nichtzionisten wandte, die sich aber von dem Streit mit Herzl und den gleichzeitig von Bambus formulierten zionistischen Vorstellungen über die Ziele der Bank äußerst irritiert zeigten, mußte das Projekt bereits im Frühjahr 1898 als unrealisierbar eingestellt werden.177 Dieses Scheitern war zweifellos eine sehr große Enttäuschung für Bambus, denn ohne eine finanzielle Basis mit den Möglichkeiten einer Bank sah auch er größte Schwierigkeiten bei der weiteren Förderung „seiner" Kolonisation. Vielleicht erklärt diese Enttäuschung seine scharfen Reaktionen auf Mozkins Referat, das sicher gewisse Mängel im statistischen Material und seiner Interpretation enthielt, die regelrechte Verdammung des Referats und seines Autors mutete aber doch sehr überzogen und von anderen Gründen mitbeeinflußt an. Auch für Heinrich Loewe ging das Jahr 1898 nicht ohne Enttäuschung seiner Bemühungen um das neue jüdische Palästina zu Ende. Aufgrund seiner Erfahrungen aus zwei Reisen und des Wissens, daß für die Kolonisation und den Neuen Jischuw am besten geworben werden könne, wenn man das Land selbst gesehen habe, plante er für 1898 eine Jüdische Gesellschaftsreise nach dem heiligen Lande".178 Diese sollte von von Mitte Oktober bis Mitte November stattfinden. Ein Blick in das von Loewe entworfene Programm machte seine Intentionen deutlich, denn neben der Besichtigung der verschiedenen Kultur- und Altertumsdenkmäler Syriens und Ägyptens nahmen die Besuche in den jüdischen Kolonien Palästinas den größten Raum ein. Von den bis 1898 gegründeten 16 Kolonien plante Loewe, nicht weniger als 14 zu besuchen.179 Die Reise, von der sich Loewe
176 177 178 179
und warf ihnen höchst unlautere Absichten vor. Vgl. Bodenheimer an Herzl, 28.4.1899, ZZA, Η VIII101. Herzl, Tb v. 24.3.1902, in: Herzl, 1986, S. 384. Vgl. Loewe an Bentwich, 3.3.1898, ZZA, A 146/24. Vgl. Ebd. u. „Eine Pilgerfahrt nach Palästina", in: Correspondenz No. 8 der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Mai 1898, S. 4, ZZA, A102/10/1. Vgl. „Programm der Jüdischen Gesellschaftsreise nach dem heiligen Lande sowie nach Syrien und Ägypten im Herbst 1898", ZZA, DD-Germania 4.
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einen großen Effekt versprach, kam nicht zustande, verantwortlich hierfür waren vor allem die Auseinandersetzungen Loewes mit Bambus und Hirsch Hildesheimer über den Zionismus, die dazu führten, daß der Reise in der von Hildesheimer geleiteten Jüdischen Presse" unlautere Ziele unterstellt wurden und sie schließlich von Loewe selbst abgesagt werden mußte.180 Ein von Loewe und Bambus noch gemeinsam initiiertes Projekt sollte aber 1898/99 noch einmal mit Erfolg organisiert werden. Es handelte sich um die Ausstellung jüdischer Kolonien, die nun nach Berlin, Köln, Breslau und Hamburg in Frankfurt/Main zum letzten Mal stattfand.181 Bambus war an der Realisierung dieser Ausstellung als Vertreter der Import-Gesellschaft Palästina wesentlich beteiligt. Obwohl die Ausstellung auch in Frankfurt als Erfolg gewertet wurde, erwies sich das Konzept in den Augen des Bambus-Vertrauten Isaak Turoff als überholt, und er schlug eine „neue Palästina-Ausstellung" vor, die sehr viel umfassender die jüdischen Kolonien darstellen sollte.182 Doch auch diese weitreichenden Pläne, ebenso wie schon die Gesellschaftsreise, wurden nicht realisiert, zeigen aber, daß es einige Ideen gab, die Kolonien in Deutschland populärer zu machen und ihnen dadurch umfassendere Unterstützung zukommen zu lassen.
6. Neuorientierung und alte Konflikte Willy Bambus unternahm im Mai 1899 im Auftrag des Pariser CentralComites der Chowewe Zion eine zweite Reise nach Palästina Er sollte im Bereich des Handwerks und der Industrie die Gründungen von Betrieben anregen, hier vor allem in der textilverarbeitenden Branche. Uber diese Reise gibt es keine aussagekräftigen Quellen, weder über den Verlauf der Reise noch über die Resultate. Zwar schrieb Bambus eine Art Reisetage-
180 Vgl. Loewe, Sichronoth, Nach dem ersten Kongress, S. 3, ZZA, A146/6/8. Angaben bei Weinberg und Bodenheimer lassen darauf schließen, daß Loewe zumindest während der Reise Wilhelm Π. (1898) in Palästina war. Weinberg spricht auch explizit von einer „Gesellschaftsreise". Vgl. Weinberg, 1946, S. 184 und Bodenheimer, 1981, S. 47. Eine endgültige Abklärung, so sie denn überhaupt möglich ist, steht noch aus. 181 Vgl. „Zion", Nr. 11/12,1898, S. 31-33. 182 Vgl. Turoff an Bambus, 1.3.1899, ZZA, A28/13/3. Der Brief ist unvollständig, daher ohne Unterschrift, ein Handschriftenvergleich weist aber Turoff eindeutig als Verfasser aus. 183 Vgl. Jewish Chronicle", 24.3.1899.
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buch,184 doch vermerkte er hierin nur seine Gesprächspartner, seine Aufenthaltsorte und spontanen Eindrücke. Aus dieser Zeit existiert nur noch ein Brief, den Bambus an seine Tochter Elfriede schrieb. Aus ihm geht hervor, daß in der Familie eine mögliche Übersiedlung zumindest diskutiert worden war und bei der inzwischen 12 Jahre alten Elfriede großen Anklang gefunden hatte.185 Als Ergebnis der Reise ist aber festzuhalten, daß Bambus nicht nach Palästina emigrierte, daß er kein Weinexportgeschäft eröffnete, hingegen weiter fur die Import-Gesellschaft tätig war, ebenso wie für Dr. Nathan, und zwar ab 1901 als Sekretär des „Hilfsveru 186
eins . Aber Bambus blieb der Arbeit für die Kolonien weiter verbunden, so referierte er im März 1900 auf einer Konferenz der Kolonisationsvereine in Frankfurt.187 An dieser Konferenz nahmen Vertreter der Chalukka-Organisationen, des Esra, des Ahawath Zion, der Wiener Allianz, der AIU und der russischen Chowewe Zion daran teil. Hildesheimer referierte über die Kolonien in Palästina, Horowitz über das Schulwesen und Bambus widmete sich dem Thema „Gewerbe und Industrie in Palästina". Dieses Thema mußte ihm sehr am Herzen gelegen haben, wie sonst ist es zu erklären, daß er sein eigentliches Spezialgebiet, die Kolonien in Palästina, an Hildesheimer „abgetreten" hatte. Bambus war der Meinung, daß das Kleingewerbe in Palästina mit geringen Mitteln gefördert werden könnte, aber auch hierfür seien Geldmittel nötig, über die die Vereine nicht verfügten, daher müsse man eine Kommission bilden, die das Geld beschaffen solle.188 Sein Referat ließ Bambus drucken und als Broschüre unter dem Titel „Industrielle Kolonisation in Palästina" erscheinen. In dieser Broschüre nannte er noch einmal explizit Oivenholzindustrie, Seifen und Konservenproduktion als exportgeeignet, die Weberei hingegen, ein Gebiet auf dem er sich sehr gut auskannte, sah er eher als Unterstützung des inländischen Marktes. Resultat der Konferenz war die Einrichtung eines „Fonds zur Begründung von Industrie in Palästina", auf deren erster Liste der Anteilszeichner Willy Bambus mit drei Anteilen genannt wird.18' Auch wurde ein erstes
184 Vgl. Notizbuch Willy Bambus 1899 (2. Palästinareise), S. 43, 16.5.1899, ZZA, A28/13/3. 185 Vgl. W . Bambus an E. Bambus, (Jaffa) 2.5.1899, ZZA, A76. 186 Biographische Angabe vgl. ZZA, A28 Katalog. 187 Vgl. „Die Welt", Nr. 14, 6.4.1900. 188 Über diese Konferenz vgl. „Die Welt", Nr. 14, 6.4.1900 u. das handschriftliche Protokoll der Konferenz, CZA, A 2 8 / 7 / 3 . 189 Vgl. Fonds zur Begründung von Industrie in Palästina, CZA, A 2 8 / 7 / 4 .
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Projekt ins Leben gerufen: „Projekt zur Errichtung eines jüdischen Bazars fur den Fremdenverkehr in Jerusalem mit besonderer Berücksichtigung der Olivenholzindustrie.''1'0 Ein zweites Projekt scheint, einem Brief MeyerCohns zufolge, die Gründung einer Konservenfarbrik fur Marmelade gewesen zu sein.191 Leider fehlt weiteres Quellenmaterial aus dem hervorgehen könnte, was aus den oben genannten Projekten und vor allem aus dem Fonds geworden ist, ob er seiner Aufgabe gerecht geworden ist oder ob auch dieser Fonds einer von vielen gescheiterten Versuchen war, der jüdischen Bevölkerung in Palästina zu helfen. Möglich ist aber auch, daß der Fonds von der AIU oder dem „Lemaan Zion" übernommen wurde. Beide Organisationen hatte Bambus in seiner Broschüre als die notwendigen Träger einer Industrialisierung in Palästina genannt.192 Sein Engagement im Esra ließ Bambus weiter Kontakt zu der praktischen Arbeit für die Kolonisation halten, außerdem blieb er ein aufmerksamer Beobachter der Zionistischen Bewegung. Der sogenannte „UgandaPlan" - das britische Außenministerium hatte 1903 nach den Pogromen in Kischinew Herzl ein Gebiet in Ostafrika als Siedlungsgebiet angeboten, Nordau sprach vom „Nachtasyl" - ließ Bambus befürchten, diesmal würde nicht nur die Kolonisation vergessen, sondern auch Palästina nur noch ein Platz von vielen werden. Kritik am Uganda-Plan wurde auch von anderen Seiten geäußert, so verfaßte beispielsweise der englische Rabbiner und Zionist Moses Gaster (1856-1939) Artikel fur den Jewish Chronicle" und die „Welt" über seine Ablehnung dieses Plans. Bambus stimmte mit Gaster völlig überein und schrieb an ihn: „Der gefährlichste Schritt aber, den die Bewegung gehen könnte, wäre, wenn sie auf das Ideal Palästina verzichtete zugunsten eines Charters in Ostafrika".193 Doch Bambus wollte nicht nur kritisieren, sondern konstruktiv für Palästina wirken. Bedenkt man die Entwicklung der letzten Jahre, kamen seine dazu gefaßten Pläne allerdings sehr überraschend: „Ich glaube, dass jetzt auch für mich wieder der Zeitpunkt gekommen ist, mich der zionistischen Organisation anzuschliessen, um in derselben für Palästina zu wirken."194
190 Vgl. Bambus an Prag (London), 11.4.1900 (anbei Projektbeschreibung), ZZA, A2/114. 191 Vgl. Meyer-Cohn, Oktober 1900, ZZA, A2. 192 Vgl. Willy Bambus, Industrielle Kolonisation in Palästina, Berlin 1900. 193 Bambus an Gaster, 7.9.1903, ZZA A203/21. 194 Ebd.
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Bambus hatte erkannt, daß auch innerhalb der Zionistischen Organisation Mitarbeiter für die Kolonisation, für das „Ideal Palästina" zu finden waren. Eine Opposition von innen erschien wirksamer und erfolgversprechender als die Rolle des aus externer Position Protestierenden. Um sich einen eigenen Eindruck von der Situation zu machen, aus dem heraus sich gezielt und detailliert argumentieren ließ, besuchte Willy Bambus von Dezember 1903 bis Januar 1904 zum dritten Mal Palästina,1'5 inspizierte die Kolonien und stellte überall einen großen Fortschritt fest.196 Das Ergebnis dieser Reise war zunächst Bambus' drittes Palästina-Buch, das noch einmal die Kolonien in ihrer Geschichte und ihren Entwicklungsmöglichkeiten darstellte.197 Doch für einen rahigen Neuanfang in neuerlicher Auseinandersetzung mit Herzl über die Kolonisation gab es in der zionistischen Bewegung 1904 keine Möglichkeit mehr, denn Herzl war schwer erkrankt, und die Sorge um ihn ließ die Bewegung in hektischen Aktionismus verfallen. Als Theodor Herzl am 3.7.1904 starb, erstarrte die zionistische Bewegung zunächst in Apathie. Aber auch Bambus selbst hatte nicht mehr die Möglichkeit, sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen, seine Krankheit verschlimmerte sich ebenfalls, Anfang November 1904198 verstarb auch er, ohne seine Vorstellungen eines neuen Ansatzes in der zionistischen Bewegung realisiert zu haben. Willy Bambus und Heinrich Loewe waren die Vertreter einer neuen Generation der Zionsfreunde, die sich in Deutschland in den 1890er Jahren etablierte. Diese neue Generation wollte sich nicht an althergebrachten Mustern orientieren, sondern sich ein eigenes Bild machen, eigene Erfahrungen sammeln, die sie dann in ihre Vorstellungen einfließen lassen konnte. Sie arbeitete ohne Berührungsängste, sowohl mit dem traditionellen Judentum als auch mit den Anforderungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das heißt sie wollte sowohl die Tora respektieren als auch der modernen Wirtschaft zu ihrem Recht verhelfen.
195 Die Reisezeit läßt sich aus drei Briefen dieser Zeit schließen. Im Dezember 1903 schrieb Bambus zweimal aus Palästina an Elfriede, und im Januar 1904 wurde er vom Jerusalemer Frauenverein „Esrath-Naschim" zu einem Vortrag eingeladen, da er sich zu dieser Zeit in Jerusalem aufhielt. Vgl. W. Bambus an E. Bambus, 31.12.1903 u. Dezember 1903, ZZA, A76; Esrath-Naschim an Bambus, 10.1.1904,
ZZA, A28. 196 Vgl. W. Bambus an E. Bambus, 31.12.1903, ZZA, A76. 197 Willy Bambus, Die jüdischen Kolonien in Palästina, Berlin 1904. 198 Herlitz nennt den 5.11, vgl. Herlitz, 1949, S. 55. Vermerk der Tochter Elfriede Frank-Bambus:" Am 3. November starb mein Vater." Vgl. ZZA, A28/11/1.
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Aber Bambus und Loewe repräsentierten auch die zwei Richtungen innerhalb dieser neuen Generation der Zionsfreunde, die in der Streitfrage kulminierte, ob man dem politischen Zionismus Herzls zustimmen konnte oder nicht. Loewe, obwohl zweifellos ein Anhänger der Kolonisation, stimmte Herzls Ideen zu, sah zwar Verbesserungsbedarf wurde aber im Grundsatz ein politischer Zionist. Bambus hingegen sah über allen diesen Bestrebungen Palästina als das Ziel, das „Ideal", wie er es nannte, und dies war eine bezeichnende Wortwahl. Um dieses Ideal zu erreichen, wenn es überhaupt möglich war, mußte die Kolonisation entschieden unterstützt werden. Herzls politischer Zionismus enthielt nach Bambus' Meinung zu viele gegen Palästina gerichtete Ansätze, nie konnte er sicher sein, daß nicht doch ein anderer Ort als neue Heimat ausgesucht werden würde, mochte es nun Argentinien oder Ostafrika sein. In diese Auseinandersetzung, die schließlich eine bitter persönliche zwischen beiden wurde, brachten Loewe und Bambus auch ihre Charaktere, ihren sozialen und ökonomischen Hintergrund mit ein. Loewe erschien den Zionisten als der unbekümmerte Kämpfer für die zionistische Idee, sein großes rhetorisches Talent trug hierzu einiges bei. Er war der geeignete Mann, um der Bewegung, die vor Herzl in Agonie lag, neues Leben einzuhauchen, und er tat dies in Deutschland wie in Palästina. Seine Wahl zum Delegierten der Kolonisten für den Ersten Kongreß ist nur ein Beispiel von vielen. Bambus hingegen war erdrückt von der Sorge um seine Familie, der Lebensunterhalt mußte mühsam verdient werden, dazu kam seine eigene fortschreitende Krankheit. Viele von ihm begonnene Projekte, seien es zionistische oder solche, die seine wirtschaftliche Situation verbessern sollten, scheiterten. Bambus wurde schließlich ein immer fanatischerer Verteidiger der Kolonisation, überspitzt formuliert betrachtete er die Kolonisation offensichtlich als Ersatz für entgangenes privates Glück, als seine eigentliche Lebensaufgabe. Zwar sah auch er die Fehler der Kolonisation und der Rothschild'schen Administration, aber noch größer war die Angst vor dem Verzicht auf Palästina, und diese Angst verkörperte sich in Theodor Herzl, den es dann seiner Vorstellung entsprechend zu bekämpfen galt. Willy Bambus und Heinrich Loewe hatten im Vergleich zu ihren Vorgängern im Bereich der Chowewe Zion einen großen Einfluß auf das deutsche Judentum. Zwar konnten auch sie zum Beispiel den Esra nicht zu einer Massenorganisation machen, von den 497.000 um 1900 im Deutschen Reich lebenden Juden waren zu dieser Zeit nur 4.000 Mitglied im Esra, nicht einmal 1%, aber die Diskussion über die Kolonisation Palästinas und damit auch die Diskussion über das Nationaljudentum bekam eine
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neue Qualität. Vortragsreisen und Referate über diese Themen führten beide Protagonisten durch ganz Deutschland. Ihre Populariät in den zionistischen Zirkeln, aber auch in den jüdischen Gemeinden allgemein, ließ annehmen, daß eine Sammlung und effektivere Arbeit der Bewegung nur mit und über sie erfolgen könne, zumal Bambus den Kontakt zu den französischen Chowewe Zion aufrechterhielt und in diesen Kreisen ebenfalls sehr angesehen war. Es ist hypothetisch zu fragen, ob das deutsche Judentum im Zuge dieser Popularisierung der zionistischen Ideen vor Herzl im Laufe der nächsten Jahre ein größeres Engagement für die Kolonisation gezeigt hätte, das dann zu großen Teilen dem Wirken Loewes und Bambus' zugeschrieben werden könnte. Herzls Auftreten veränderte innerhalb des kurzen Zeitraums vom Erscheinen des Judenstaat", Februar 1896, bis zum Ende des Zweiten Kongresses, August 1898, die zionistische Landschaft völlig. Loewe schloß sich Herzl an, Bambus blieb nach einer anfanglichen Annäherung der Bewegung fern, versuchte sie zu bekämpfen und gleichzeitig weiter für die Unterstützung und den Fortschritt der Kolonisation zu wirken. Während Loewe als erster Herausgeber der Jüdischen Rundschau" und vor allem als Förderer auf dem Gebiet des Bibliothekswesens in Palästina bekannt wurde, geriet Bambus zu Unrecht in Vergessenheit.199 Und obwohl sich Loewe mit ihm nach dessen Kampfansage an die zionistische Bewegung unter Herzl zerstritten hatte und in seinen Memoiren häufig ein sarkastischer Zug in der Bewertung des ehemaligen Freundes zu finden ist, hat er doch schließlich die richtigen Worte gefunden, die den Weg weisen zur neuen Beurteilung von Willy Bambus, zur Anerkennung seiner großen Verdienste um die Kolonien: „Aber trotzdem ist sein Wirken für Palästina von grundlegendem Werte gewesen, mehr als später die des Mannes, der als erster für die Zionistische Organisation die praktische Palästina-Arbeit kontrollierte."200
199 Bambus' Begeisterung für die Kolonisation Palästinas übertrug sich auf seine Tochter Elfriede Bambus, später verheiratete Frank-Bambus. Sie emigrierte nach Palästina und war auf dem Gebiet der Förderung landwirtschaftlicher Projekte tätig. Vgl. Biographie im Verzeichnis A/76, ZZA. 200 Mit der letzten Bemerkung war offenbar Arthur Ruppin gemeint, der von 1908 bis zu seinem Tod 1943 in Palästina lebte und dort maßgeblich am Aufbau des Siedlungswesens beteiligt war. Vgl. Loewe, Sichronoth, Palästina, S. 25. ZZA, A146/6/8.
XIV. Der politische Zionismus und die Erste Alija
Die Zionssehnsucht, der Wunsch, nach Palästina zurückzukehren, verbunden mit der Vorstellung einer erneuten Staatsbildung, ist ein dem Judentum immanenter Bestandteil.1 Dieses Phänomen ist kein Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, aber erst in diesem Jahrhundert wurden konkrete Schritte zu einer Realisierung unternommen. Die 1881 ausgebrochenen Pogrome in Rußland, die jüdischen Flüchtlinge in Westeuropa und die Gründung der ersten ländlichen Kolonien legten den Grundstein zur Entwicklung moderner zionistischer Theorien. Mit den Beziehungen zwischen den politischen Zionisten, repräsentiert in erster Linie von Theodor Herzl, und der Ersten Alija wird sich das folgende Kapitel befassen, jedoch in einer gerafften Form, da die Geschichte des Zionismus nach 1896 und das ambivalente Verhältnis zu Palästina nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, sondern eine gesonderte Darstellung erfordert. Aber es soll die Frage beantwortet werden, ob die Chowewe Zion einen signifikanten Einfluß auf den politschen Zionismus ausgeübt haben.
1. Die Zionsfreunde und der politische Zionismus Auch wenn die Erste Alija und mit ihr die Bewegung fur die Kolonisation, wie in dieser Arbeit beschrieben, auf die breite Masse der Juden in Deutschland offensichtlich nur wenig Einfluß hatte, so hat sie doch in den interessierten Kreisen einen starken Eindruck hinterlassen. Die deutschen Chowewe Zion vor Herzl, die sich ab den 1880er Jahren zu engagieren begannen, glaubten fest daran, daß nur über eine verstärkte Siedlungsbewegung das Ziel einer starken jüdischen Gemeinschaft und damit eine Lösung der Judenfrage" erreicht werden könne. Manche sahen dabei auch eine erneute Staatsbildung als notwendig an.2 Die politische Situation in Palästina hielten die Zionsfreunde aber für so verworren und unlösbar, daß sie eine konkrete Realisierung in nächster Zukunft nicht einmal in Erwägung zogen. Sie engagierten sich daher in Kolonisationsvereinen wie dem
1 2
Vgl. Kap. ΠΙ den einleitenden Abschnitt. Vgl. hierzu den Teil über Gustav Gabriel Cohen in diesem Kapitel, Abschnitt „Die Zionistische Vereinigung fiir Deutschland".
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Esra, sie lasen die Zeitschriften, die die Kolonisation propagierten, auch wenn diese zumeist nur sehr kurzlebig waren, einige reisten sogar nach Palästina, ein für die damaligen Verhältnisse ungeheuerliches, weil als höchst abenteuerlich eingestuftes Unternehmen, und sie begannen 1896 mit einer größeren Öffentlichkeitsarbeit, die in den verschiedenen Palästina-Ausstellungen ihren Ausdruck fand. Mit seiner im Februar 1896 veröffentlichten Broschüre „Der Judenstaat" traf Theodor Herzl daher nicht, wie er vielleicht erwartet hatte, auf ein unbedarftes Publikum, das sich seinen Vorstellungen unkritisch anschloß. Die Jahre 1882 bis 1896 hatten in Mitteleuropa eine zwar kleine, aber sehr aktive Chibbat Zion-Gemeinschaft entstehen lassen, auf deren Engagement Herzl aufbauen konnte. Auch wenn es Herzl vielleicht nicht bewußt war, er das osteuropäische Judentum skeptisch bis ignorant ablehnend betrachtete und die deutschen Zionisten, sofern sie ihm nicht völlig ergeben waren, als Feinde seiner Sache ansah, so war doch die Erste Alija seine unmittelbare Basis. Schließlich folgten ihm am Beginn seiner Aktivitäten nicht die sich vom Antisemitismus bedroht fühlenden akkulturierten Juden, nicht die von der Judennot" berührten, sondern es folgten ihm die schon in der Chibbat Zion-Organisation tätigen Juden, die sich zumeist auch schon in der Kolonisationsbewegung hervorgetan hatten. Herzl versuchte, die Judenfrage" unter einem den Zionsfreunden entgegengesetzten Blickwinkel zu lösen. Für ihn stand die Diplomatie im Vordergrund, er wollte vom türkischen Sultan - als dies scheiterte, von einer europäischen Macht - einen „Charter" für Palästina erhalten, um dann eine Auswanderung in geordneten, organisierten Bahnen vorzunehmen. Alles sollte legal vonstatten gehen, vorbereitet und durchgeführt von einer auf der politischen Ebene tätigen Vertretung der Juden. Die Herzl'sche Vorstellung wurde bei den Zionisten schnell unter dem Schlagwort „politischer" oder „diplomatischer Zionismus" bekannt. Doch auch die Anhänger der Kolonisationsidee, die sich nicht wie Willy Bambus völlig von Herzl lossagten, versuchten ihre eigenen Ideen in den Zionismus einzubringen und die Kolonisationsidee nicht zugunsten einer unsicheren Diplomatie aufzugeben. Für sie konnte eine Auswanderung der jüdischen Massen und eine mögliche Staatsbildung nur geschehen, wenn vorher eine Basis durch stetige Einwanderung nach Palästina, durch Gründung weiterer Kolonien und Unterstützung der bereits bestehenden Siedlungen geschaffen wurde. Daher konnten bereits 1896 innerhalb des „modernen" Zionismus Herzl'scher Prägung drei Lager konstatiert werden. Den politischen standen
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nicht nur die praktischen Zionisten, sondern auch noch die Kulturzionisten um Achad Haam gegenüber, die Palästina nicht in erster Linie als Masseneinwanderungsland betrachteten, sondern als zu erneuerndes geistiges Zentrum eines wiedererstarkten Judentums. Auch die Kulturzionisten sind in einem nicht unerheblichen Maße von der Ersten Alija beeinflußt worden, saßen doch ihre Anhänger hauptsächlich in den Chibbat Zion-Zentren Osteuropas, in denen an der Kolonisationsbewegung weitaus mehr Anteil genommen wurde als in Deutschland, zumal die Siedler in den Kolonien ausnahmslos aus Osteuropa stammten. Obwohl die praktischen Zionisten und die Kulturzionisten über viele Anhänger innerhalb der Organisation verfugten und große Erfahrung in der Chibbat Zion-Bewegung hatten, konnten sie sich zwischen 1896 und 1904 nicht gegen die Grundsätze des politischen Zionismus durchsetzen. Herzl überstrahlte die Bewegung, seine charismatische Persönlichkeit verlieh auch seinen unrealistischsten Plänen noch das Flair des Erreichbaren und ließ andere Ideen neben sich verblassen. Diese verherrlichte, alles überragende Figur brachte dem Zionismus zwar breitere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, führte aber bei den praktischen Zionisten und den Kulturzionisten zu einer gewissen Verhärtung ihrer Positionen. Resultat war, daß alle drei Richtungen oft nebeneinander und noch öfter gegeneinander arbeiteten, wobei auch persönliche Animositäten nicht ohne Bedeutung blieben. Dies schwächte die Bewegung in erheblichem Maße. Statt die hervorragenden Kräfte der einzelnen Richtungen zu bündeln, nach ihren Möglichkeiten einzusetzen und so die Bewegung dynamisch und damit fur verschiedenste Interessengruppen offen zu halten, schloß man sich ab, versuchte egoistisch die eigene Position durchzusetzen und provozierte heftige Krisen, die sich in den Auseinandersetzungen um die sog. „Ugandafrage" und der frühen Fraktionenbildung innerhalb der Zionistischen Weltorganisation niederschlugen. Einzig Herzl selbst hätte dieses Gegeneinander auflösen und in ein Miteinander verwandeln können, doch erkannte er nicht, daß nur die gebündelten Strömungen den Erfolg des Zionismus ausmachten, sondern beharrte auf seinem Weg, den er als den einzig richtigen und gangbaren empfand.
2. Die Zionistische Vereinigung für Deutschland Um einen möglichen Einfluß der Kolonisationsbewegung und der Siedlungen in Palästina auch auf die wenigen deutschen Zionisten zu zeigen,
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ist ein kurzer Blick in die Entstehungsgeschichte der Zionistischen Organisation in Deutschland notwendig.3 Die ersten konkret zionistischen Aktivitäten gingen 1890 von Köln aus. Wie bereits im Laufe der Arbeit geschildert, veröffentlichte in diesem Jahr der Rechtsanwalt Max Bodenheimer seine „Vision - eine große zionistische Dichtung", der 1891 weitere Broschüren, u.a. „Wohin mit den russischen Juden", folgten, die ihm fast über Nacht in den Kreisen der Zionsfreunde große Popularität eintrugen. Bodenheimer blieb den Themen „Kolonisation" und Jüdische Nation" auch nach 1891 weiter verbunden, veröffentlichte zahlreiche Artikel, machte die Bekanntschaft der in Berlin arbeitenden Chowewe Zion und gründete schließlich 1894, zusammen mit David Wolffsohn, den „Verein behufs Förderung der jüdischen Ackerbaucolonien in Syrien und Palästina". Bodenheimer und Wolffsohn hatten sich 1892 in Köln kennengelernt, ihre einander sehr ähnlichen Ideen ausgetauscht und begonnen, einen Zionismus ihrer Vorstellung zu propagie4
ren. In Berlin wurden ab 1890 ebenfalls Zusammenschlüsse mit zionistischen Zielen gegründet, z.B. Jung Israel" und die Jüdische Humanitätsgesellschaft".5 Diese Vereinsgründungen führten zum Beginn eines Dialogs der über ganz Deutschland verstreuten Zionisten, der Anfang 1896 so weit gediehen war, daß an eine Konferenz gedacht werden konnte, um den ineffizienten Zustand der Zersplitterung und Uneinigkeit zu beenden. Im Februar 1896 erhielten diese Pläne einen entscheidenden Impuls durch die Veröffentlichung der Herzl-Broschüre „Der Judenstaat". Wolffsohn schloß sich Herzl sofort und ohne jeden Vorbehalt an, besuchte ihn in Wien und wurde einer seiner engsten Ratgeber. Derweil erarbeiteten Bodenheimer und seine Mitstreiter Thesen für eine noch in diesem Jahr zu gründende nationaljüdische Vereinigung. Bereits in diesen Thesen wurde ausgesprochen, was später Schwerpunkt des Baseler Programms werden sollte: „(...) daher kann die endgültige Lösung der Judenfrage nur in der Bildung eines jüdischen Staates bestehen (...)". Aber auch die Kolonisation sollte nicht ausgeschlossen sein, denn um das Ziel der Staatsgründung zu erreichen,
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Zur Geschichte des Zionismus in Deutschland vgl. Η. H. Bodenheimer, 1965; Bodenheimer, 1958; Eloni, 1987; Lichtheim, 1954; Stephen M. Poppel, Zionism in Germany 1897-1933, Philadelphia 1977 u. Reinharz, 1987. Vgl. Kap XII, Abschnitt „Max Bodenheimers Arbeit für die Kolonisationsvereine". Vgl. Kap XIII, Abschnitt „Die frühen Jahre".
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sollte als ein Mittel „die Förderung der jüdischen Kolonien in Syrien und Palästina"6 dienen. Die Kölner Vereinigung ordnete sich dem unverhohlen ausgesprochenen Führungsanspruch Herzls unter, während die Berliner, auf die Herzl für die Ausbreitung seiner Ideen große Hoffnungen gesetzt hatte, zunächst keine einheitliche Stellungnahme finden konnten. Zu stark war die ablehnende Haltung der Zionsfreunde, beeinflußt vor allem von Willy Bambus, die Herzl als eine Gefahr für die schon bestehenden Kolonien betrachteten. Diese Ambivalenz führte Herzl zu der Entscheidung, Köln zur „Hauptstadt des deutschen Zionismus" zu erklären,7 womit er den Keim für die Rivalität zwischen Kölner und Berliner Zionisten legte. Nach dem Ersten Zionistenkongreß gründete sich aus dem Kölner Verein die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) unter dem Vorsitz Bodenheimers, die nun die Vertretung aller deutschen Zionisten übernahm. Die ersten Jahre ihrer Existenz waren gekennzeichnet von heftigen inneren Kämpfen um quantitatives Wachstum, aber auch qualitative Kriterien, während gleichzeitig deutsche Zionisten, u.a. Bodenheimer und Wolffsohn, einen entscheidenden Anteil am Aufbau der Zionistischen Weltorganisation hatten. Mit der Gründung der Jüdischen Rundschau" 1902 und der Übernahme des Jüdischen Verlags"8 1907 gelang dazu die Etablierung zweier Institutionen, die weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurden. Schon kurz nach der Gründung der ZVfD wurde die Kölner Leitung von den Berlinern ob ihrer vermeintlichen Unfähigkeit attackiert, den Zionismus in eine Massenbewegung zu verwandeln, was 1904 auf dem 7. Delegiertentag der deutschen Zionisten zu dem Kompromiß führte, in Berlin ein zusätzliches Zentralbüro einzurichten. 1911 schließlich ging die Leitung der ZVfD endgültig nach Berlin. Was machte die deutschen Zionisten für die Entwicklung der Zionistischen Weltorganisation in den ersten Jahren ihres Bestehens so wichtig? In den Ländern Westeuropas konnte der Zionismus in seinen Gründeqahren nur wenige Anhänger gewinnen, dies sollte erst mit dem großen En-
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„Thesen der national-jüdischen Vereinigung Köln", Faksimile-Abdruck in: Η. H. Bodenheimer, 1965, S. 23 und Eloni, 1987, S. 75-81. Vgl. Herzl, Tb v. 24.4.1897, in: Herzl, 1984, und Herzl an Bodenheimer, 24.4.1897, ZZA, A15/III/1. Zur Geschichte des Jüdischen Verlags vgl. Anatol Schenker, Der Jüdische Verlag 1902-1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung, Tübingen 2003 (Reihe Conditio Judaica 41).
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gagement englischer und amerikanischer Zionisten ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts gelingen. Das quantitative Zentrum der Bewegung, wie schon zu Zeiten der Chibbat Zion, war eindeutig in Osteuropa zu suchen, doch die politische Situation, die verbreitete Armut und Unfreiheit der jüdischen Bevölkerung dort erschwerten ein über den Kreis der lokalen Organisation hinausreichendes Engagement der russischen Zionisten erheblich. In Österreich-Ungarn lebten ebenfalls sehr viele Juden, allerdings präsentierte sich die Judenheit dort mindestens so zersplittert, kulturell und ökonomisch unterschiedlich wie die Monarchie selbst. Das deutsche Judentum hingegen erschien als gefestigte Einheit, ein nicht nur ökonomisches Zentrum der Judenheit in Europa, dazu politisch emanzipiert. Wichtiger aber waren zwei weitere Dinge. Zunächst hat die vorliegende Arbeit nachgewiesen, daß die Masse der deutschen Juden zwar nur wenig Interesse an der Kolonisation Palästinas zeigte, sich aber doch eine kleine Gruppe engagierter Zionsfreunde gebildet hatte. Diese hofften auf einen Durchbruch ihrer Ideen, der, wie sie annahmen, unter der Führung von Heinrich Loewe oder Willy Bambus geschehen würde, und sie waren bereit, diesen Durchbruch mit allen zur Verfugung stehenden Mitteln zu unterstützen. Die in ihren Augen bahnbrechende Broschüre „Der Judenstaat" ließ sie schnell erkennen, daß mit Theodor Herzl ein Führer fxir die Durchsetzung ihrer Ideen gefunden war. Zudem - und dies ist der zweite wichtige Punkt - kam Herzl aus dem deutschsprachigen Raum, schrieb Deutsch und war vor allem von der Dominanz der deutschen Sprache im zukünftigen Judenstaat überzeugt.' Diese drei Faktoren trafen im Frühjahr 1896 zusammen und ließen den politischen Zionismus nach außen fast als eine exklusiv deutsche Angelegenheit erscheinen. Daß mit David WolfFsohn, aber vor allem Otto Warburg und Arthur Ruppin weitere fuhrende Protagonisten deutschsprachig waren bzw. deutsche Staatsbürger, tat ein übriges, wobei die Bedeutung andere zionistischer Aktivisten wie z.B. Chaim Weizmann nicht gemildert werden soll. Nicht grundlos versuchte also Herzl, den Zionistenkongreß in München abzuhalten. Dies scheiterte am Widerstand der dortigen jüdischen
9 Vgl. Herzl, Tb v. 15.6.1895, An den „Familienrat" der Rothschilds, in: Herzl, 1984, S. 190.
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Gemeinde und der sogenannten Protestrabbiner,10 die damit ein Phänomen belegen, die fur die Entwicklung des deutschen Zionimus sehr wichtig war. Richard Lichtheim schreibt darüber das Folgende: „Nirgends war der Widerstand der Judenheit gegen die neue Bewegung so einmütig, nirgends so von grundsätzlichen Erwägungen diktiert, nirgends so schroff wie in Deutschland."11 Wie schon die Chowewe Zion in den 1880er Jahren konnte auch der Zionismus ab Mitte der neunziger Jahre die Masse der deutschen Juden nicht auf seine Seite ziehen, zu paradox, zu gefahrlich erschien den akkulturierten Juden die Verbindung einer jüdischen Nationalität mit der deutschen Staatsbürgerschaft. So blieb der Zionismus in Deutschland eine zwar kleine, aber höchst elitäre Bewegung. Zu den frühen politischen Zionisten zählt auch Gustav Gabriel Cohen (1830-1906), dessen „zionistische" Biographie einige Besonderheiten aufweist, die es lohnen, an dieser Stelle etwas näher auf ihn einzugehen. Cohen, geboren in Hamburg, lebte als Inhaber eines großen Handelshauses in Port Elizabeth (Südafrika) und später in Manchester. 1878 kehrte er als Privatier in seine Geburtsstadt zurück und war als Übersetzer für englische Literatur tätig.12 Stark beeinflußt von George Eliots Roman „Daniel Deronda" (1876), der als Vorläufer zionistischer Ideen angesehen wird, und einem sich in Cohens Augen immer unverhohlener manifestierenden Antisemitismus in Deutschland, schrieb er 1891 eine 46seitige Broschüre mit dem Titel „Die Judenfrage und die Zukunft".13 Cohen bejahte darin die Existenz einer Judenfrage, sah diese aber als ein Werk der Antisemiten an und setzte den deutschen Judenfeinden das positive Beispiel Englands ent-
10 „Protestrabbiner" ist der von Herzl geprägte Ausdruck fur eine Erklärung des Geschäftsfuhrenden Ausschusses des Rabbinerverbandes in Deutschland, die sich explizit gegen den Zionismus ausspricht. Vgl. Zionistisches A-B-C-Buch, Hrsg. von der Zionistischen Vereinigung fur Deutschland, Berlin 1908, S. 227-230 und Yaakov Zur, Die „Protestrabbiner", in: Hauman, 1997, S. 128-130. 11 Lichtheim, 1954, S. 147. 12 Die biographischen Angaben sind dem Jüdischen Lexikon, Berlin 1927, Bd. I, Sp. 1417f entnommen. 13 Die Datierung der Broschüre bereitet der Nachwelt offensichtlich Probleme. Obwohl die auch mir vorliegende Ausgabe als Datum 1891 trägt und sich aus dem Textstudium nur 1891 als Abfassungsjahr ergibt, kam durch eine mißverständliche Formulierung im Jüdischen Lexikon" fälschlicherweise das Jahr 1881 in die Literatur. Für die Fotokopie dieser Broschüre und viele weitere Informationen über Cohen bin ich seiner Enkelin Frau Dr. Hanne Lenz zu großem Dank verpflichtet. Sie ist im Besitz eines der wenigen noch existierenden Originale der Broschüre.
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gegen. Zwar gebe es in England nur sehr wenige Juden, aber die Assimilation sei geglückt und die Juden respektierte Staatsbürger. In Deutschland und in Osteuropa sah Cohen jedoch kaum Möglichkeiten für eine Lösung nach dem englischen Vorbild. So schlug er vor, das Judentum müsse sich selbst wieder ein Ideal schaffen, auf das es seine Blicke richten könne, und dies werde nur erlangt durch „seine Selbständigkeit als Nation".14 Zwar empfahl Cohen, die ersten Siedlungen in Zypern zu gründen, langfristig müsse aber „Palästina in den Besitz des Judenthums übergehen".15 Wie das geschehen sollte, ließ er jedoch offen. Die als Privatdruck veröffentlichte Broschüre, fand aber beim Publikum offenbar keinen Anklang. Ein Freund Cohens schickte sie dann 1896 an Theodor Herzl, der sich enthusiastisch darüber äußerte,16 woraus sich eine Freundschaft zwischen Cohen und Herzl entwickelte, die Cohen bewegte, an den ersten drei Zionistenkongressen teilzunehmen. Cohen blieb aber im Hintergrund und wäre wohl heute einer der vergessenen Zionisten, wenn er nicht nach der Veröffentlichung seiner Broschüre auch weiter aktiv im Sinne der, wie er es nannte, „nationalen Wiederherstellung"17 tätig gewesen wäre. Zwar trat er selbst keinem der Kolonisationsvereine bei, aber er beeinflußte seinen Schwiegersohn Otto Warburg (1859-1938), Sproß des Hamburger Zweigs der Warburg-Familie und seit 1892 Professor für Botanik in Berlin, dahingehend, daß sich dieser 1894 dem Esra anschloß. Warburg entwickelte sich zu einem engagierten Verfechter des praktischen Zionismus und setzte sich für eine verstärkte Siedlungstätigkeit als Basis eines zukünftigen jüdischen Staates in Palästina ein. Obwohl er selbst erst am Sechsten Kongreß 1903 teilnahm, wurde er schnell eine wichtige Persönlichkeit im Zionismus und 1911 zum dritten Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation - nach Herzl und Wolffsohn - gewählt. Dieses Amt behielt er bis 1920. Ein solcher Wandel vom politischen zum praktischen Zionismus - wie im Falle der Familie Cohen/Warburg - war und blieb ein einzigartiges Phänomen. Wie die beispielhaften Biographien von Max Bodenheimer, Heinrich Loewe und David Wolffsohn zeigen, war der umgekehrte Weg der „Normalfall". Uber die praktische Tätigkeit fanden diese Zionsfreunde zu Herzl und dem politischen Zionismus, andere, wie Willy Bambus, gin-
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Cohen, 1891, S. 9. Ebd., S. 22. Vgl. Herzl an Martin Hinrichsen, 8.4.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 721. Cohen, 1891, S. 18.
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gen den Weg des politischen Zionismus nicht mit und blieben Anhänger des praktischen Zionismus. Sucht man nach den Beziehungen, Beeinflussungen und konkreten Entwicklungslinien zwischen der Ersten Alija und den deutschen Zionisten, so ist unbestritten, daß fuhrende Personen der Gründeqahre, z.B. die genannten Max Bodenheimer, David Wolffsohn, Heinrich Loewe, eindeutig ihre im Laufe der Arbeit ausfuhrlich dargestellten zionistischen Wurzeln in der Kolonisationsbewegung hatten.18 In den ersten Jahren nach der Gründung der ZVfD spielten Palästina und die Kolonien dann jedoch keine große Rolle mehr, die Arbeit konzentrierte sich auf die Errichtung einer funktionierenden Organisation in Deutschland. Die ehemaligen deutschen Zionsfreunde schlossen sich ganz dem politischen Zionismus an. Diese Tendenz änderte sich erst, als die Zionistische Weltorganisation begann, einen Schwerpunkt ihrer Ausrichtung auf die Kolonisation in Palästina zu legen. Einer der Theoretiker dieser Richtung war der Soziologe und Ökonom Franz Oppenheimer (1864-1943), der 1902 zum Zionismus kam und sogleich von Herzl aufgefordert wurde, die ökonomischen Teile des zionistischen Programms auszuarbeiten. 1911 wurde nach den Ideen Oppenheimers eine genossenschaftliche Siedlung in Palästina errichtet. Federführend bei der paktischen Ausführung dieser „Merchawia" genannten Siedlung war das „Palästina-Amt" in Jaffa unter der Leitung von Arthur Ruppin. Diesem Amt und seinem Leiter ist am Ende dieses Kapitels ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Wahl Otto Warburgs 1911 zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation war Ausdruck einer Entwicklung, bei der Warburg und andere deutsche Zionisten dann sehr aktiv für diesen neu erwachten praktischen Zionismus eintraten. Aber die Beziehungen zwischen der ZVfD und Palästina sollen hier nicht näher erörtert werden, sie erfordern eine gesonderte Untersuchung.
3. Herzls Kampf gegen die „Infiltration" Wie stand aber nun Theodor Herzl selbst zur Ersten Alija? War er von ihr beeinflußt, oder versuchte er als Präsident der Zionistischen Weltorganisation das Schicksal der Kolonisten zu beeinflussen? Die Meinung, daß Herzl
18 Aus den 1890er Jahren existieren keine Mitgliederlisten der jeweiligen Vereine mehr, so daß eine genauere Prüfung der Mitgliedschaften nicht möglich ist.
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vor der Niederschrift des ,Judenstaat" weder seine literarischen Vorläufer noch die nationalen Bemühungen der Chowewe Zion in Ost- und Westeuropa gekannt habe, ist Allgemeingut der zionistischen Historiographie. Daß ihm auch die 1882 begonnene Kolonisation Palästinas nicht bekannt war, darf allerdings bezweifelt werden, denn in seinem Tagebuch berichtet Herzl über Pläne vom Herbst 1894, die Orte aufzusuchen, „(...) wohin der Weltzufall die Juden in Gruppen verstreut hat", um dann über „Zustände der Juden" zu schreiben, und einer dieser Orte waren „die neuen Zionscolonien."19 Ob Herzl zu diesem frühen Zeitpunkt seines Engagements für den Zionismus detaillierte Kenntnisse über die Kolonien hatte und dadurch möglicherweise schon in seinem Urteil festgelegt war, läßt sich anhand des Quellenmaterials nicht beantworten. Sicher ist nur, daß es ein entfernter Verwandter in Wien war, Leopold Paul Löbl, der Herzl, dem Überlieferer dieser Geschichte zufolge an Pessach 1895, über die Kolonien erzählte und ihm sogar Cognac aus Rischon le-Zion zu trinken gab.20 Trotz dieser Episode blieben die Kolonien in Herzls Gedankenwelt zunächst nur ein Nebenaspekt, sie wurden auch nicht als möglicher Ansatzpunkt für eine zionistische Kolonisation in Palästina angesehen, denn Herzl hatte sich 1895 noch nicht einmal eindeutig für Palästina ausgesprochen, ihn quälte vielmehr die Frage, ob das Heilige Land außer der „mächtigen Legende"21 auch andere Vorteile zu bieten habe, und kam zu der Ansicht, er sei „(...) weder gegen Palästina, noch fur Argentinien".22 Festgelegt hatte sich Herzl aber in der Frage der Sprache: „Wir können doch nicht hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss hebräisch ge-
19 Herzl, Tb v. Pfingsten 1895, in: Herzl, 1984, S. 51. 20 Vgl. Maurice I. Cohen, Wie Theodor Herzl Zionist wurde (maschinenschriftliche Erinnerungen, o.D., verfaßt ca. 1922), S. 8, ZZA, A220/3. Herzl selbst bestätigt diese Version 1899 in einem Brief an Wolffsohn, nur das Datum dieses Treffens nennt er nicht. Vgl. Herzl an Wolffsohn, 28.3.1899, in: Herzl, 1991, Nr. 1783. Bei einem Treffen mit dem Londoner Chief Rabbi Adler bekam Herzl im November 1895 noch einmal Wein aus einer Kolonie zu trinken, eine Tatsache, die er in seinem Tagebuch überraschend unkommentiert läßt. Vgl. Herzl, Tb v. 23.11.1895, in: Herzl, 1984, S. 283. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig zu ermitteln, vielleicht war Wein aus Palästina doch schon etwas Alltägliches geworden, vielleicht war Herzl in seinen politischen Bestrebungen zu sehr entfernt von der Realität der jüdischen Kolonien, als daß er den Wein zum Anlaß hätte nehmen können, diese Realität zu kommentieren. 21 Herzl, Tb v. 9.6.1895, in: Herzl, 1984, S. 90. 22 Herzl, Tb v. 13.6.1895, Rede an die Rothschilds, in: Herzl, 1984, S. 156.
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nug, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?"23 Diese Aussage zeugt von großer Unkenntnis oder gar einer bewußten Ignorierung der im Entstehen begriffenen neuhebräischen Sprache, die immer mehr zu einem wichtigen Bestandteil des Selbstverständnisses der Kolonisten in Palästina wurde. Interessant ist, vor allem auch im Rückblick auf die vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit, Herzls Vorstellung über eine gemeinsame Sprache in den zu gründenden Kolonien: „Übrigens glaube ich dass die Hauptsprache die deutsche sein wird."24 Die Unentschiedenheit über die Annahme Palästinas und die entschiedene Ablehnung der hebräischen Sprache25 lassen Herzls Wissen über die Motive der Siedler als äußerst gering erscheinen. Einen weiteren Beweis dieser Unkenntnis lieferte er Anfang 1896, als er noch vor dem Erscheinen des ,Judenstaat" in einem am 17.1.1896 veröffentlichten Artikel für den Jewish Chronicle" schrieb: „Es ist töricht, den Juden zu einem Bauern machen zu wollen. Aber der Jude kann ein mit Maschinen arbeitender kleiner oder großer Landwirt werden."26 Herzl sah damit den zweiten Schritt vor dem ersten, zumindest in bezug auf die Intentionen der Kolonisten. Sie wollten zunächst eben nicht „Landwirte" werden, nicht Grundbesitzer, die im Endeffekt nur eine administrative Tätigkeit ausüben, sie wollten das Land mit eigenen Händen bearbeiten, den Kontakt zum Land wieder herstellen, der in der Diaspora fast völlig verloren gegangen war. Das Quellenmaterial läßt den Schluß zu, daß Herzl bis zum Erscheinen des Judenstaat" zwar von der Existenz der Kolonien gewußt hat, aber weder über ihre innere Struktur noch über die Motive und Ziele der Kolonisten genauere Kenntnis besaß. Im Februar 1896 erschien „Der Judenstaat", Herzl unternahm damit den „Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage", wie er im Untertitel schrieb. In dieser Broschüre spielten die Kolonien nur insofern eine Rolle, als sie den Hintergrund für die Herzl'sche Argumentation gegen die Kolonisation bildeten. Seiner Ansicht nach hatten sich die bisherigen Ko-
23 Herzl, Tb v. 15.6.1895, An den „Familienrat" der Rothschilds, in: Herzl, 1984, S. 190. 24 Ebd. 25 Diese Ablehnung formuliert Herzl noch einmal Anfang 1896, als er in einem Brief an Armand Kaminka gegen eine hebräische Nationalität und gegen die hebräische Sprache als Umgangssprache deudich Stellung bezieht. Vgl. Herzl an Kaminka, 23.1.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 675. 26 Zitiert nach dem deutschen Originaltext, der der englischen Fassung zugrunde lag. In: Herzl, 1984, S. 825.
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lonisationsversuche nicht bewährt,27 denn eine Einwanderung ohne rechtliche Sicherheit, von Herzl „Infiltration" genannt, müsse immer scheitern.28 „Der Judenstaat" war eine politisch-programmatische und gleichzeitig auch utopische Schrift, die ihre Wirkung in der jüdischen Welt nicht verfehlte, aber die Frage der tatsächlich existierenden Kolonien trat in der Debatte um die Broschüre völlig in den Hintergrund. Wenn sich Herzl in den folgenden Monaten über die Kolonien äußerte, geschah dies stets in Verbindung mit seinen politischen Vorstellungen über die zukünftige Einwanderung, so in einem Gespräch mit dem Großherzog von Baden, der ihm vorgeschlagen hatte, zuerst einige hunderttausend Juden nach Palästina zu bringen: „Dagegen bin ich. Es wäre ein Einschleichen. Die Juden müssten sich dann als Insurgenten gegen den Sultan stellen. Und ich will Alles nur offen und klar, in vollster Gesetzlichkeit machen."29 Die Idee einer emotionalen Bindung an Palästina, die eine solche „Infiltration" motiviert haben könnte, schien ihm fremd zu sein, er dachte nicht in Kategorien des Gefühls, er dachte in politischen Kategorien. Seine Vorstellungen zu dieser Zeit zusammenfassend, schrieb er an Max Bodenheimer: „Mein Programm ist vielmehr: Sistierung der Infiltration und Concentration aller Kräfte auf die völkerrechtliche Erwerbung Palästi«30
nas. Herzl wandte sich auch in öffentlichen Reden scharf gegen die Kolonisation, so z.B. im Juli 1896 im Londoner Eastend.31 Allen diesen Äußerungen ist eine große Unsicherheit im Umgang mit den bereits bestehenden Kolonien zu entnehmen, denn stets betont er seine Ablehnung der „Infiltration", die Notwendigkeit der rechtlichen Sicherheit vor einer Einwanderung, die Gefahren einer Einwanderang ohne eben diese Sicherheit. Aber wie stand er zu den bestehenden Kolonien? Lehnte er mit der „Infiltration" auch die Existenz der Siedlungen ab? In dieser Frage hielt sich Herzl zunächst bedeckt, erweiterte seine Angriffe gegen die „Infiltration" aber noch um massive Angriffe gegen Edmond de Rothschild, dessen Engagement für die Kolonisation er in einer Rede als „Sport" bezeichnete, der unbedingt ein Ende nehmen müsse. Zwar machte er dem Baron noch einmal das Angebot, wenn dieser sich der nationalen Sache unterordne
27 Vgl. Theodor Herzl, Der Judenstaat Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig und Wien 1896, S. 15. 28 Ebd., S 28. 29 Herzl, Tb v. 24.4.1896, in: Herzl, 1984, S. 332. 30 Herzl an Bodenheimer, 24.5.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 751. 31 Vgl. Herzl, Tb v. 14.7.1896 (Rede in London-Eastend), in: Herzl, 1984, S. 404.
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und sie leite, ziehe er sich aus der Bewegung zurück.32 Doch das war zu diesem Zeitpunkt nur noch eine rhetorische Floskel, längst war es Herzl klar, daß Rothschild die zionistische Bewegung und ihn als Führer dieser Bewegung brüsk ablehnte. Diese Episode weist erneut Herzls Unwissenheit über die Geschichte der Kolonien nach, denn wäre er sich der Entwicklungen der Kolonien ab 1882 bewußt gewesen, hätte er, der zeit seines Lebens voraussehbare Niederlagen zu vermeiden suchte, Rothschild ein so aussichtsloses Angebot nicht gemacht. Nun mußte er 1895/96 schmerzlich erfahren, was die Kolonisten schon in den ersten Jahren nach Einrichtung der RothschildAdminstration erkannt hatten, für zionistisch-nationale Tendenzen hatte Rothschild kein Interesse. Herzl reagierte auf diese Erkenntnis in einer für ihn typischen Weise. Wer ihm nicht folgte, ihn gar zurückwies, den lehnte auch Herzl ab und suchte ihn durch sarkastische, zynische, manchmal bis in die Beleidigung gehende Äußerungen auch öffentlich zu diskreditieren. Die Bezeichnung des Rothschild'schen Engagements als Sport war schon eine solche Bemerkung. In seinem Resümee über das Gespräch mit Rothschild am 18.7.1896 schrieb Herzl dann: „Edmund ist ein anständiger gutmüthiger feigherziger Mensch, der die ganze Sache absolut nicht versteht u. sie aufhalten möchte, wie die Feiglinge eine nothwendige Operation aufhalten. Ich glaube er ist jetzt entsetzt darüber dass er sich mit Palästina eingelassen hat u. wird vielleicht zu Alphonse laufen: Du hast Recht gehabt, ich hätte lieber Pferde rennen als Juden wandern lassen sollen."33 Nicht nur, daß Herzl den Baron, dem er nur kurze Zeit vorher noch die Führung der Bewegung anvertrauen wollte, als Feigling hinstellte, er ging in einem Brief an den Großherzog von Baden noch einen Schritt weiter: „Es wäre nun wirklich ein Jammer, wenn die Entwicklung dieses ernsten und grossen menschenfreundlichen Planes durch den Widerstand eines einzigen Menschen von ungenügender Intelligenz aufgehalten werden sollte. Kann das Gottes Wille sein?"34 Herzl schlaf damit zwei entgegengesetzte Pole, auf der einen Seite der feige, nur mit geringer Intelligenz versehene Baron, auf der anderen Seite das menschenfreundliche Werk, das eigentlich auch Gottes Wille ist, und dessen Vertreter und ausführende Organe die Zionisten sind. Für die Chowewe Zion war eine solche Argumentation schon fast Häresie, sie konnten Herzl in seiner Ablehnung
32 Ebd. 33 Herzl, Tb v. 19.7.1896, in: Herzl, 1984, S. 412. 34 Herzl, Tb v. 1.8.1896, in: Herzl, 1984, S. 424.
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Rothschilds nur schwer folgen,35 garantierte doch der Baron durch seine Subventionen zumindest das ökonomische und physische Überleben der Kolonien in Palästina, auch wenn ihnen die Problematik der Administration durchaus bewußt war.36 Trotz seiner scharfen Angriffe und der über das Ziel hinausschießenden persönlichen Attacken gegen Rothschild, die auch als Ablehnung der Kolonien in Palästina gedeutet werden konnten, sorgte sich Herzl doch um die Wirkung der von ihm initiierten Bewegung auf die Kolonien. Gerüchte, daß die türkischen Machthaber Kolonisten ausweisen würden und seine Bewegung der Entwicklung der Siedlungen schaden könnte, verfehlten ihre Wirkung auf Herzl anscheinend nicht, denn nur so ist der befreiende Ton der Briefe und Reden zu verstehen, in denen er mitteilen konnte, daß sich diese Gerüchte nicht bestätigt hätten.37 Sorgte er sich also doch mehr um die Kolonien, als er öffentlich zugestehen wollte oder konnte? Die Quellen geben keinen Hinweis, ob sich Herzl vor Abfassung des ,Judenstaat" über dessen Wirkung in Palästina selbst, in den Städten und in den Kolonien Gedanken gemacht hatte. Aber trotz einer eigentlich gegen die Kolonien und die Bemühungen der Chowewe Zion gerichteten Argumentation und Zukunftsvorstellung wurde „Der Judenstaat" in Palästina in den Kreisen der Zionsfreunde begeistert aufgenommen. Israel Feinberg beschwor Herzl, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzumachen, und faßte das von ihm empfundene Ende der Agonie des Zionismus auch als einen persönlichen Neubeginn auf: „Als ich Ihren Judenstaat gelesen habe weinte ich (...) und spürte neues Leben."38 Wilhelm Gross (1857-1928), seit 1888 in Palästina lebender Kaufmann aus Ungarn,39 schrieb, daß ihn das Werk stolz gemacht habe,40 und verfaßte im September 1896 zusammen mit sechs weiteren Unterzeichnern eine Lobrede auf Herzl, die diesem den Eindruck vermitteln konnte, daß er in Palästina die Chowewe Zion bereits fiir sich gewonnen habe: „In der Ge-
35 Stellvertretend sei die Reaktion der englischen Chowewe Zion genannt, die nach Herzls Eastend-Rede in einem Sturm der Entrüstung die gegen Rothschild gerichteten Argumente ablehnten. Vgl. Herzl, Tb v. 14.7.1896, in: Herzl, 1984, S. 404. 36 Vgl. Kap. VI u. VII. 37 Herzl an Wolffsohn, 1.8.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 801; „Rede im Makkabäer-Klub", 1896, in: Theodor Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1, Berlin 1905, S. 113 u. Herzl, Tb v. 16.9.1896, in: Herzl, 1984, S. 444. 38 Feinberg an Herzl, July 1896, ZZA, Η VIII227. 39 Zur Biographie vgl. Loewe, Sichronoth, Wilhelm Gross, ZZA, A146/6/2 u. Herzl, 1990, Anmerkung zu Brief Nr. 810. 40 Gross an Herzl, 26.7.1896, ZZA, Η VIII299.
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schichte des jüdischen Volkes fur das Jahr 5656 (...) wird fur alle Zeiten ein Name in goldenen Lettern glänzen, der Name des Mannes, der durch seine herrliche Staatsschrift den Völkern ein Friedensbote, seinem eigenen Stamme Licht und Leuchte geworden." Und weiter unten: „Neben der grossen Zahl einsichtsvoller u. warmfühlender Glaubensbrüder in den Ländern der Zerstreuung schlagen Ihnen, hochgeehrter Herr Dr., auch tausende von Herzen aus dem angestammten Heimatslande in Liebe und Dankbarkeit entgegen."41 Inwieweit diese Lobrede tatsächlich der Meinung „tausender" Juden in Palästina über Herzls Ideen entsprach, sei dahingestellt, zweifellos muß eine ablehnende Einstellung der Orthodoxie angenommen werden, ebenso eine kritische bis ablehnende Haltung der Rothschildverwalter. Die Erinnerungen Heinrich Loewes von seiner zweiten Palästinareise 1896/97 beweisen jedoch, daß der Herzl'sche Zionismus schnell ein Thema mit Priorität bei den Kolonisten und bei den Chowewe Zion in den Städten geworden war.42 Herzl schien von der Reaktion in Palästina überrascht und nannte den Gross'schen Brief eine „rührende Resolution".43 Vielleicht hatte diese „Resolution" Herzl einen ersten Anstoß gegeben, sich doch näher mit den Kolonien zu befassen und seine Position gegenüber den Kolonien neu zu definieren, denn er forderte Gross auf, ihn über die Geschehnisse in den Kolonien zu informieren.44 Ein weiteres Zeichen für eine erkennbare Wandlung war eine Auseinandersetzung mit seinem Arbeitgeber bei der „Neuen Freien Presse", Eduard Bacher, bei der Herzl von seiner ansonsten ablehnenden Haltung den Kolonien gegenüber abging und sie sogar verteidigte, denn auf Bachers Bemerkung, die Juden in den Kolonien Palästinas seien alle Schnorrer, erwiderte Herzl: „Nicht richtig! Die Palästina Colonien gedeihen. So wie Sie das nicht wissen, so wissen es Ihre Leser nicht."45 Dies war das erste Mal, daß die Kolonien nicht nur als Musterbeispiel für eine gefährliche Infiltration benutzt wurden. Fast scheint es, als ob Herzl begann, hinter den abstrakten Begriffen „Kolonie" und „Infiltration"
41 Gross u.a. an Herzl. 21. E M 5656, ZZA, Η VIII 299. Unterzeichnet hatten neben Gross noch Ephraim Cohn, David Jellin, Dr. JosefJermans, Michael Pines, W o l f j a witz und A.M. Luncz. Ben-Jehuda und Dr. Grünhut hatten dem Brief ihre Karten beigelegt. 42 Vgl. Kap. ΧΙΠ, Abschnitt „Auseinandersetzung mit Theodor Herzl". 43 Herzl, Tb v. 16.9.1896, in: Herzl, 1984, S. 444. 44 Vgl. Herzl an Gross, 28.10.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 836. 45 Herzl, Tb v. 10.10.1896, in: Herzl, 1984, S. 452.
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die Menschen zu sehen, denen er Hoffnung gemacht hatte, Hoffnung auch auf verbesserte Bedingungen für die Kolonisation und Stärkung in der Auseinandersetzung mit der Rothschildverwaltung. Einer der ersten aktiven Anhänger Herzls in Palästina war Eliahu Lewin-Epstein, der ihn bereits im November 1896 in Wien besuchte46 und dann einer der eifrigsten Schekelsammler in Palästina wurde. Von ihm erfuhr Herzl die Ansicht der Siedler, daß ein Zuviel an Verwaltung dem Gedeihen der Kolonisation sehr abträglich sei.4 Lewin-Epstein blieb nicht der einzige Besucher aus Palästina, im Januar 1897 kam David Moses Schub nach Wien,48 im Februar folgte ihm Dr. d'Arbella,49 Leiter des Rothschildhospitals in Jerusalem. Von beiden bekam Herzl Informationen über Palästina, sicherlich aufgrund der unterschiedlichen Positionen der Besucher aus sehr unterschiedlichen Sichtweisen. Dazu kamen ab April 1897 Briefe von Helene Papiermeister, der Frau des Rischon le-Zion-Kolonisten Baruch Papiermeister, die in massiver Weise die Rothschildverwaltung angriff und sie für die ruinöse Situation der Kolonien in ökonomischer wie auch moralischer Hinsicht verantwortlich machte.50 Schritt für Schritt bekam Herzl durch seine Kontakte mit Juden aus Palästina ein detaillierteres Bild von der Situation im Land und in den Kolonien. Seine anfangliche globale Ablehnung der „Infiltration" bei gleichzeitiger Feststellung des Scheiterns der Kolonisation und damit auch einer Gleichgültigkeit gegenüber Palästina wich einer differenzierteren Sichtweise, die zunächst im letzten Viertel des Jahres 1896 zu der Erkenntnis führte, daß nur Palästina das anzustrebende Land sein könne.51 Zwar lehnte er eine „Infiltration" auch weiterhin ab,52 doch gab es auch schon Überlegungen, was denn von seiten der Zionisten mit den im Lande lebenden Juden geschehen könne: „Es ist in der That schon jetzt unsere Aufgabe, die in
46 Vgl. Herzl, Tb v. 11.11.1896, in: Herzl, 1984, S. 465. Über Lewin-Epstein vgl. Kap. VII. 47 Vgl. Herzl, Tb v. 11.11.1896, in: Herzl, 1984, S. 465. 48 Vgl. Herzl, Tb v. 6.1.1897, in: Herzl, 1984, S. 473. 49 Ebd., Tb v. 20.2.1897, in: Herzl, 1984, S. 483. 50 Vgl. ZZA, Η VIE 630. Die Briefe Helene Papiermeisters sind bereits an anderer Stelle ausführlich zitiert worden, vgl. Kap. V. 51 Vgl. Herzl an Gross, 18.9.1896 u. Herzl an Brandes, 10.12.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 821 u. 864. 52 Vgl. Herzl an Pineles, 18.1.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 876.
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Palästina bereits angesiedelten Juden durch eine vernünftige Arbeitsunterstützung zu Arbeitern zu machen."53 Die Sichtweise wurde zwar differenzierter, aber immer noch ohne Verständnis für die Motive der Siedler, die sie ab 1882 ganz bewußt ländliche Siedlungen hatten gründen lassen. Aber Herzl war bereit, sich die nötigen Informationen zu beschaffen. Herbert Bentwich, der zu Pessach 1897 die bereits an anderer Stelle angesprochene Maccabean-Pilgrimage organisierte,54 wurde von Herzl aufgefordert, während dieser Reise die Zustände in den Kolonien zu untersuchen, damit sich Herzl selbst ein Bild über den Stand der Kolonien machen konnte, vor allem da ihn nach eigener Aussage immer wieder Briefe aus Palästina über Mißbräuche in den Siedlungen erreichten.55 Die Siedlungen wurden wichtiger in Herzls Perspektive, nicht hingegen die Kolonisationsvereine. Über sie schrieb er an Bodenheimer in der Frage der Teilnahme dieser Vereine am Zionistenkongreß in herablassender Weise: „Die „Palästinenser" (Anfuhrungsstriche im Original - gemeint sind die Siedlungsvereine, E.P.) werden natürlich auch auf unserem Congress willkommen sein, wenn sie nicht stören wollen. Und dass wir die nicht für die Oeffentlichkeit bestimmten Dinge unter uns berathen werden, ist doch auch selbstverständlich."56 Diese Aussage zeugt von großer Respektlosigkeit, hier war nichts mehr zu spüren von der früher geäußerten Meinung: „Was die Zionisten bisher gethan haben, bewundere ich dankbar (...)".57 Herzl hatte begonnen, in seinem Denken eine Dreiteilung der Kolonisation vorzunehmen. Baron Edmond de Rothschild, inklusive seines Verwaltungsapparats, und den Chowewe Zion in West- und Osteuropa stellte Herzl die Kolonisten gegenüber und entschied sich in einem für ihn typischen Schwarz-Weiß-Denken, nur den Kolonisten seine Aufmerksamkeit zu schenken, die Chowewe Zion und vor allem Rothschild aber völlig auszugrenzen. Vor dem Ersten Zionistenkongreß, der für August 1897 geplant war, äußerte er sich denn auch explizit in dieser Richtung und meinte: „Dass ich die Colonisation nicht zum Sport von Leuten machen lasse, welche Juden wandern lassen wollen, wie sie Pferde rennen lassen, hat mir natürlich viele Feinde gemacht."58 53 Herzl an die Zionistenversammlung im Jewish Working Men's Club, London, 7.1.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 870. 54 Vgl. Kap. XIII, Abschnitt „Auseinandersetzung mit Theodor Herzl". 55 Vgl. Herzl an Bentwich, 24.3.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 914. 56 Vgl. Herzl an Bodenheimer, 26.5.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 1003. 57 Vgl. Herzl an Bodenheimer, 24.5.1896, in: Herzl, 1990, Nr. 751. 58 Herzl an Pineles, 30.6.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 1044.
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Wie wichtig Herzl die Kolonisten inzwischen geworden waren, zeigte der Brief an Armand Kaminka, der auf dem Kongreß über die bisherige Kolonisation referieren sollte und den Herzl aufgrund seiner Schlagfertigkeit und allgemeinen Bildung zum Referenten bestimmt hatte, da dies unabdingbare Voraussetzungen seien, „(...) die der Berichterstatter eines der wichtigsten Referate haben muss."59 Die Motive der Siedler hatte Herzl, wie dargelegt, noch nicht verstanden, aber daß ihre Entscheidung, das Leben der Bauern zu fuhren, mehr als aus der Not heraus geboren war und diese jüdischen Bauern auch für die Zionisten ein wichtiger Faktor sein konnten, war Herzl am Vorabend des Kongresses klar geworden. Wie anders wäre sonst sein Brief an Armand Kaminka zu erklären, in dem er den Antrag stellte „(...) daß die vereinigten Colonisationsgesellschaften auf der Pariser Weltausstellung (1900, E.R) eine Ausstellung jüdischer Colonialproducte veranstalten mögen und es sei hierzu die Mitarbeit auch der rothschildischen und der argentinischen Colonien herbeizufuhren. Zweck: ein Bild vom jüdischen Bauern zu geben."60 Trotz eines vorausgesetzten Verständnisses für die Wichtigkeit des jüdischen Bauern im Neuen Jischuw, steht dieser Antrag doch sehr außerhalb der Herzl'schen Denkweise, denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde es von ihm nicht in Erwägung gezogen, mit der ungeliebten Rothschildverwaltung und den eigentlich als gescheitert betrachteten argentinischen Kolonien zusammenzuarbeiten. Vielleicht war dies aber auch als ein erster Schritt in Richtung einer Annäherung an die bisher so rigide abgelehnten Kolonisationsgesellschaften zu verstehen. Oder setzte sich bei Herzl die Erkenntnis durch, ohne diese Gesellschaften, und auch ohne Rothschild, sei die Kolonisation in der näheren Zukunft nicht aufrechtzuerhalten? Für letztere These spricht eine Tagebuchnotiz kurz vor dem Kongreß, in der Herzl die zu erwartenden Verhandlungen des Kongresses als „Eiertanz" bezeichnete und über die Kolonisten schrieb: „Ei der Colonisten, denen man Rothschilds Hilfe nicht verderben darf tout en considerant leurs miseres." Wenn man Herzls Pläne über die Gewinnung der Türkei und den „Charter" als utopisch, zum Teil fern jedweder Realität bezeichnen kann, so ist seine Beurteilung über das „Ei der Colonisten" von erstaunlicher Realität. Denn ohne Rothschilds Subventionen waren die Kolonien ökonomisch nicht zu halten, und der Schwerpunkt der Herzl'schen Arbeit lag
59 Herzl an Kaminka, 15.7.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 1071. 60 Herzl an Kaminka, 9.8.1897, in: Herzl, 1990, Nr. 1106. 61 Herzl, Tb v. 24.8.1897, in: Herzl, 1984, S. 537.
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auf einem ganz anderen Gebiet, als daß er sich den Problemen der Kolonien erfolgversprechend hätte widmen können. Da der Erste Zionistenkongreß vom 29.8. bis 31.8.1897 in Basel zweifellos als eine Zäsur und gleichzeitig als der Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte des Zionismus, der Zionsliebe betrachtet werden muß, kann an dieser Stelle ein erstes Fazit über die Beurteilung der Siedlungen durch Herzl gezogen werden. Um die Ambivalenz anschaulich zu machen, müssen die Bewertungen der Kolonisation seinem politischen Handeln gegegnüber gestellt werden. In seinen diplomatischen Bemühungen bewegte er sich auf ihm bekannten Terrain. Wenn auch seine Einschätzungen der politischen Siuation nicht immer einer realistischen Prüfung standhielten, so waren es doch ihm vertraute Vorgänge, vertraute Methoden, mit denen er sich beschäftigte. Ganz anders die Kolonisation. Sie war zu Beginn seines Engagements fur den Zionismus nicht mehr als ein Randaspekt gewesen, der vor allem zum Nachweis des Scheiterns jedweder philanthropischer Kolonisation diente. Herzl war unsicher in der Bewertung der Situation, kannte weder die Siedlungen noch die Kolonisten. Es erschien zunächst auch nicht vorrangig, sich auf diesem Gebiet als kundig zu erweisen. Doch im Laufe der zwei Jahre, von Mitte 1895 bis zum Ersten Kongreß, kam Herzl immer stärker mit Palästina in Berührung, die Besucher informierten ihn, Briefe erreichten ihn und machten ihm klar, daß er sich nicht in einem auf Europa begrenzten politischen Vakuum bewegte, wenn er über Zionismus sprach und diesen neu beleben wollte. Hinter einer abstrakten Sicht auf eine „gescheiterte Kolonisation" traten die Menschen dieser Kolonisation hervor, die sich nicht als gescheitert betrachteten, die - im Gegenteil - Herzl ihre Vitalität durch ihre ebenfalls harsche Kritik an den Zuständen in Palästina bewiesen und ihn so zwangen, auf die Situation zu reagieren. Dieser für Herzl sicherlich bis 1897 noch unüberschaubare Irrgarten der Meinungen und Analysen über die Kolonisation ließ ihn aber doch zu veränderten Urteilen kommen, die allerdings immer noch unstrukturiert, verschwommen und ohne jede persönliche Erfahrung in Palästina gefallt wurden. Das sollte sich 1898 ändern. Doch bevor auf die Zeit nach dem Ersten Kongreß eingegangen werden kann, sei ein Blick auf die Darstellung der Kolonien in der „Welt" gestattet. Am 4.7.1897 erschien die erste Ausgabe der von Herzl gegründeten und finanziell unterstützten Wochenzeitung „Die Welt", die sich schnell als zionistische Zeitschrift etablierte und ab dem Fünften Kongreß 1903 auch das offizielle Organ der Zionistischen Weltorganisation wurde. Die Artikel der „Welt" drehten sich um zionistische Angelegenheiten, deckten
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verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus auf, berichteten von den Gemeinden aus aller Welt und brachten auch immer wieder Informationen über die Kolonien in Palästina. Dies waren entweder aus anderen Zeitschriften übernommene Artikel, von Zionisten geschriebene Artikel oder Original-Korrespondenzen aus Palästina. Man wurde dabei nicht müde, gegen die „Infiltration" zu schreiben und auswanderungswilligen Juden von einer Einwanderung nach Palästina zu jenem Zeitpunkt strikt abzuraten. Die allgemeine Ausrichtung der Artikel über die Kolonien selbst läßt sich nicht eindeutig bestimmen, die überwiegende Anzahl hatte einen neutralen Ton, suchte nüchtern und sachlich zu berichten. Selten gab es ausgesprochen negative Artikel, die aber, wenn sie vorkamen, von explizit positiven Berichten wieder ausgeglichen wurden, ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt. So gab es beispielsweise in der Nr. 8 des Jahres 1899 eine äußerst negative Bewertung der Einwanderung, die in der Rubrik „Aus Palästina" erschien. In der Nr. 16 wurde dann unter der Abteilung „Brief aus Palästina" über die Kolonien geschrieben, sie seien ein Ruhmesblatt in der modernen Geschichte des Judentums. In den Nummern des Jahres 1897 erschien eine Rubrik, die in massivster Form versuchte, ein geschönt-positives Bild der Kolonien aufzubauen, wobei hier in geschickter Weise Bild und Text verbunden wurden: Einer Photographie aus den Kolonien, stets ca. 1/3 der Seite einnehmend, die zumeist eine Szene aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit zeigte, wurde ein Text beigegeben, der die Siedlungen und den damit verbundenen Gedanken der Rückkehr nach Palästina in höchstem Pathos schilderte. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Unter dem Bild einer Rebenpflanzung war zu lesen: „Heimaterde weckt die Geister des Glücks."63 Unter dem Bild eines Blumengartens fanden sich Worte über den inzwischen abgelegten Kaftan, man sei heraus aus dem Ghetto, und ein neues Kleid bringe auch neue Gefühle.63 Der Photographie einer Meierei wurde der Text beigegeben, daß nun der „Völkerfrühling" beginne und weiter: „Ein Stück patriarchalischer Zeit ist herauf gestiegen, ein Abschnitt aus dem Buch der Bücher."64 So viel Pathos war wohl auch den Herausgebern der „Welt" zu viel, denn diese Rubrik existierte nur im Jahrgang 1897, sie verschwand zugunsten einer wieder der neutral ausgewogenen Linie entsprechenden Berichterstattung. 62 „Die Welt", Nr. 11,13.8.1897. 63 „Die Welt", Nr. 13, 27.8.1897. 64 „Die Welt", Nr. 20,15.10.1897.
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Der Erste Kongreß brachte zunächst die offizielle Stellungnahme der politischen Zionisten zum weiteren Verhalten den Kolonien gegenüber. Herzl schrieb daher nach dem Kongreß in der „Welt": „Das Schmerzenskind der Kolonisation soll furderhin anders gepflegt werden (...) Die sogenannte Infiltration muß zum Stillstand gebracht werden, bis die vom Kongreß einstimmig verlangten öffentlich-rechtlichen Garantien geschaffen sind. Das bisher Eingerichtete soll erhalten und gepflegt werden, die bestehenden Kolonien aber nicht mehr von außen her, sondern aus der in Palästina befindlichen proletarischen Bevölkerung alimentiert werden."65 Das waren deutliche Direktiven in der Frage der Versorgung mit Arbeitskräften, gleichzeitig wurde aber das Problem der Subventionierung ausgeklammert, allem Anschein nach wollte man zu große Konflikte vermeiden. Allerdings zeigen die Auseinandersetzungen um die Kolonie Machnaim, die sich nach dem Ersten Kongreß abspielten, daß sich Herzl aber auch sehr massiv gegen jedwede Neugründungen aussprach.66 In dem oben zitierten Artikel vertrat Herzl die offizielle Position der Zionistischen Weltorganisation, zwei Monate später äußerte er sich aber schon wieder deutlicher über die Kolonisten und deren Bindung an den Pariser Baron: „Der Kolonist, der immer nach dem fernen Patron oder Protektor auslugt, gehört nicht zu deqenigen wirtschaftlichen Kategorie von Juden, deren Entstehung für die moralische Hebung unserer Nation von irgend einem Wert sein kann."67 Zum ersten Mal brachte Herzl moralische Kategorien in seine Argumentation mit ein. Diese waren ihm zwar schon seit Anfang 1897 durch die Vorwürfe Helene Papiermeisters angetragen worden, jedoch hatte er sich bisher dieser Kategorie enthalten. Die jüdische Nation bedurfte nach Herzls Meinung also einer moralischen Hebung, und die könne nicht mit den Rothschildkolonisten bzw. dem Muster des subventionierten Kolonisten, den sie repräsentierten, erreicht werden. Aber was sollte mit den Kolonien geschehen? Herzl entwickelte als eigentlicher Leiter der zionistischen Bewegung die Vorstellung von der Notwendigkeit, die Siedler von der zionistischen Position zu überzeugen, gleichzeitig verbunden mit dem Einbinden der anderen in Palästina lebenden Juden in das Werk der Zionisten: „Einerseits gilt es die bereits bestehenden Colonien, die noch lange nicht zu ökonomischer Selbständigkeit und Unabhängigkeit gereift sind, zu stützen und zu halten, damit Positionen, die einmal genommen sind, nicht wieder ver65 Herzl, „Ergebnisse des Kongresses", in: „Die Welt", Nr. 15,10.9.1897. 66 Vgl. Kap. ΧΠΙ, Abschnitt „Die Palästinareise 1895". 67 Herzl, „Die Jüdische Kolonialbank", in: „Die Welt", Nr. 25, 19.11.1897.
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loren gehen. Andererseits ist es nötig, die wirtschaftlich elende und culturell rückständige Masse der in Palästina einheimischen Juden dem Ackerbau und der Industrie zuzuführen, damit sie, wenn einmal die Colonisation im Großen beginnt, für diese nicht zum inneren Feinde, sondern zur Hilfsarmee werde."68 Hiermit war eine offizielle Richtlinie vorgegeben, wenn auch noch ohne konkrete Anweisungen, doch blieb der Eindruck, daß die Kolonisten von seiten der Zionisten in ihren Motiven und ihrem Wunsch nach Selbständigkeit nicht ernst genommen wurden. Der, zugespitzt formuliert, unmoralische Siedler und die in völliger Rückständigkeit lebenden Juden in Palästina bildeten nach Vorstellung der Zionisten nur eine Staffage für die zu erwartende große zionistische Kolonisation, die dann diese schon im Lande lebenden Juden als „Hilfsarmeen" nutzen könne. Dies offenbarte eine typisch europäische Meinung über den Zustand des Kulturraums Palästina und über seine Menschen. Dies waren klare Äußerungen, unmißverständlich, doch schon zu Beginn des Jahres 1898 bereits trat ein deutlicher Wandel in Herzls Beurteilung der Kolonisation der Ersten Alija ein. Dieser Wandel ließ sich zuerst in einer Botschaft an die Amerikanische Zionistenkonferenz vom Februar 1898 ablesen. Herzl beendete seine Botschaft mit den Sätzen: „Wie gering auch die bisherigen Kolonialversuche in Palästina waren, sie haben doch gezeigt, daß der Boden noch immer gut ist. Jeder Boden ist gut, auf den der arbeitende Mensch kommt."69 Die Qualität des Bodens hatte Herzl bis zum Jahr 1898 noch nicht zum Aspekt einer Diskussion über die Kolonisation gemacht, und seine positive Meinung über die Eignung des Bodens in Verbindung mit dem „arbeitenden Menschen" überrascht angesichts seiner bisherigen Äußerungen über die Rothschildsiedler und die jüdische Bevölkerung in Palästina. Dennoch zeigte sich Herzl unerschütterlich von der Notwendigkeit überzeugt, eine weitere Einwanderung nach Palästina ohne rechtliche Sicherheit abzulehnen. Dieser Topos zog sich bis 1904 durch alle seine Briefe an auswanderungswillige Juden, die sich mit Hilfegesuchen an ihn gewandt hatten.70 Zum Standard wurde der Satz: „Wir sind noch nicht soweit, dass wir mit gutem Gewissen zur Auswanderung rathen oder dazu helfen dürften. Unsere unausgesetzten Bemühungen und Arbeiten sind
68 Herzl an die Chowewe Zion, London, 10.12.1897. in: Herzl, 1990, Nr. 1204. 69 „Botschaft an die amerikanische Zionisten-Konferenz im Februar 1898", in: Herzl, 1905, S. 278. 70 Vgl. z.B. Herzl an Hirschwald, 3.7.1898, in: Herzl, 1990, Nr. 1424 u. Herzl an Klein, 27.2.1900, in: Herzl, 1991, Nr. 2297.
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daraufgerichtet, die rechtliche Sicherheit fiir eine Ansiedlung zu verschaffen. Bevor dies gelingen wird, müssen wir jede planlose Auswanderung als ein gefährliches Experiment ansehen, für das wir keinerlei Verantwortung übernehmen."71 Auch wenn dies eindeutige Worte waren, die keinen Raum für Interpretationen ließen, gab es immer noch den Vorwurf, daß er über die Negierung der Einwanderung auch die bereits bestehenden Kolonien ablehne. Herzls Äußerungen über die Kolonien, die nicht mit späterer Einwanderung verbunden waren, ließen eine klare Stellungnahme hierzu vermissen, sie waren mehr verschleiernd denn aufklärend. Die Gefahr, daß die Motive fiir seinen Kampf gegen die „Infiltration" von den Zionisten und auch den Juden in Palästina falsch ausgelegt werden konnten, hatte Herzl nach eigener Aussage schon früh erkannt, aber aus politischen Gründen bewußt ungeklärt im Raum stehenlassen. Erst Mitte 1898 sah er sich zu einer Erklärung veranlaßt, ausgelöst vielleicht durch den Druck, der in dieser Frage auf ihn ausgeübt wurde: „Das Misstrauen der Türken kenne ich längst. Ich habe es anticipirt. Daher (kursiv i.O.) mein Auftreten gegen die Infiltration. Es ist jedenfalls keine Kurzsichtigkeit in meiner Politik. Den Judenstaat in Palästina kann ich nur unter Bekämpfung der Colonisation im Kleinen verlangen."72 Dies klang logisch, konnte auf der einen Seite eine Erklärung für die Chowewe Zion und die praktischen Zionisten in Europa sein, den Kolonisten allerdings half dies in ihrer Situation nicht weiter, obwohl die Anhänger Herzls in Palästina im Umgang mit den türkischen Machthabern ihrerseits ebenfalls größte Vorsicht walten ließen. Sie wollten nicht als Zionisten erkannt werden, und baten daher in den Briefen an das Kongreßbüro stets darum, bei Schekelsammlungen nicht namentlich erwähnt zu werden, da sie Repressalien befürchten müßten.73 Hinter Herzls Worten stand der Plan, daß die zionistische Kolonisation Palästinas den absoluten Vorrang habe vor allen anderen Interessen im Land. Dies konnte auch als eine Form von Zynismus aufgefaßt werden und erinnerte fatal an die Rothschild'sche Diktion, daß es ihm nicht um 71 So z.B. Herzl an Grauer, 28.11.1899, in: Herzl, 1991, Nr. 2146. 72 Herzl, Tb v. 6.7.1898, in: Herzl, 1984, S. 593. 73 Dieser Hinweis auf die gewünschte Anonymität findet sich z.B. in den Briefen Lewin-Epsteins, Chaim M. Michlins und Moise Bercoff an das Kongreßbüro. Vgl. Lewin-Epstein, 20.6.1898, ZZA, Z l / 2 8 6 / 1 ; Chaim M. Michlin, 20.6.1898, Z l / 2 8 6 / 1 u. 27.6.1898, ZZA, Z l / 2 8 6 / 2 ; Moise Bercofl; 28.3.1898, ZZA, Z l / 2 8 2 / 2 . Ausfuhrlich über die Gefahren und den Verdacht, der Zionismus habe bereits zu strengeren Handhabungen der Einwanderungsgesetze seitens der Türken gefuhrt, vgl. LewinEpstein an Oser Kokesch, 20.6.1898, ZZA, A216/2.
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den Menschen gehe sondern nur um den Beweis der Tauglichkeit der Juden für den Ackerbau.74 Herzl konnte mit einer solchen Begründung leicht in den Verdacht geraten, aufgrund persönlicher Eitelkeit seine Pläne kompromißlos zu verfolgen, ohne auf die von dieser Politik Betroffenen, die von ihm Unterstützung erwarteten, Rücksicht zu nehmen.
4. Herzls Palästinareise 1898 - eine Zäsur 1898 stand Herzl zweifellos an einem Scheideweg in bezug auf die Kolonisation, einerseits näherte er sich den vitalen Interessen der Kolonisten, andererseits wollte er unter keinen Umständen von seinen Plänen abrücken. Vielleicht hätte sich Herzl noch stärker in die Richtung einer zynischen Be- und damit Verurteilung der Kolonisten in Palästina entwickelt, wäre er nicht im Oktober 1898 selbst an der Spitze einer zionistischen Delegation, zusammen mit David Wolffsohn, Max Bodenheimer, dem Ingenieur Josef Seidener und dem Arzt Dr. Moses Schnirer, in das Land der Vorväter gefahren. Der Zweck dieser Reise war nicht, sich über die Kolonien zu informieren, man wollte vielmehr Wilhelm II. treffen, der sich zunächst in Konstantinopel, dann in Palästina aufhielt. Herzl hoffte, von ihm eine Zusage für den gewünschten Charter von der Türkei zu erhalten, da er um den Einfluß wußte, der Wilhelm II. in Konstantinopel zugeschrieben wurde. Es ist hier nicht der Ort, alle Ereignisse der Reise, die Kontakte Herzls mit Wilhelm II. in Konstantinopel und in Palästina darzustellen,75 es genügt, im Zusammenhang dieser Untersuchung festzuhalten, daß die in Wilhelm II. gesetzten Hoffnungen enttäuscht wurden. Während des Aufenthaltes in Palästina ergab sich für die Mitglieder der Delegation die Gelegenheit, die Kolonien zu besuchen und sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Das Tagebuch Herzls gibt detailliert Aufschluß über diese Besuche und Herzls Empfindungen. Die Städte Jaffa und Jerusalem machten auf ihn den gleichen Eindruck, den schon viele europäische Besucher vorher geschildert hatten. Uber Jaffa schrieb er: „Armuth u. Elend u. Hitze in lustigen Farben."76 Drastischer fiel das Urteil über Jerusalem aus. „Die dumpfen Niederschläge zweier Jahrtausende voll Unmenschlichkeit, Unduldsamkeit u. Unreinlichkeit sitzen in den übelrie74 Vgl. Kap VII, Abschnitt „Die Rothschild-Ära - Versuch einer Deutung" 75 Uber die Reise vgl. vor allem Max Bodenheimer u. Henriette Hannah Bodenheimer, Die Zionisten und das kaiserliche Deutschland, Jerusalem 1981. 76 Herzl, T b v. 27.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 675.
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chenden Gassen. (...) Bekommen wir jemals Jerusalem, u. kann ich zu dieser Zeit noch etwas bewirken, so würde ich es zunächst reinigen." Uber die Klagemauer notierte Herzl: „Eine tiefere Bewegung will nicht aufkommen, weil sich an diesem Ort ein hässlicher, elender, speculativer Bettel breit macht." Und über die Zukunft Jerusalems: „Ich bin ganz fest überzeugt, dass sich ausserhalb der alten Stadtmauern ein prachtvolles Neujerusalem errichten Hesse."77 Die Städte waren elend, arm und schmutzig, aber wie empfand Herzl dagegen die Kolonien und welche Kolonien nahm er persönlich in Augenschein? Seine erste Station war Mikweh Israel, die für Herzl wohl nicht von zu großem Interesse war, da es sich nicht um eine Kolonie im eigentlichen Sinne, sondern um eine Landwirtschaftsschule betrieben von der AIU handelte. So notierte Herzl in seinem Tagebuch über Mikweh Israel nur, dies sei eine „vorzügliche Ackerbauschule".78 Die erste eigentliche Kolonie, die Herzl besuchte, war Rischon le-Zion, und er äußerte sich desillusioniert über die „vielgepriesene" Siedlung: „Aber wenn man sich mehr als eine arme Niederlassung vorgestellt hat, ist man enttäuscht." Herzl erkannte, oder wollte auch erkennen, daß über der ganzen Kolonie die Furcht vor dem Baron schwebte. Seinen Eindruck der Kolonie hielt er in zum Teil höchst ironischen Wendungen fest: „Musik, leider nur gut gemeinte, empfing uns." Und weiter: „Einer hielt eine Ansprache, worin er die Pflichtschuld gegen den Herrn Baron mit der Liebe zu mir in einen ebenso unmöglichen Einklang zu bringen versuchte, wie der Kapellmeister die Flöte u. die Violine." Über die Häuser der Kolonisten schließlich: „Dann besah ich das Haus eines Colonisten, der reüssiert hat. Grosse Räume, immerhin wohnlich. Aber welke Gesichter. Dann sah ich das Haus der Arbeiter, die auf Taglohn kommen. Holzpritschen mit Misere." Herzl fand sich offenbar in seinem Urteil über die Kolonisation bestätigt, und doch sah er am Ende des Besuchs in Rischon le-Zion Hoffnung. Nach einem Gespräch mit dem Arzt der Kolonie über die Entsumpfung des Landes schrieb er resümierend: „Das wird Milliarden kosten u. Milliarden neuer Werthe schaffen!"79 Eigentiich in seinen Erwartungen bestätigt, ein bißchen enttäuscht, aber doch auch mit Hoffnung für das Land zogen Herzl und die zionisti-
77 Alle Zitate über Jerusalem in: Herzl, Tb v. 31.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 680, 681, 682. 78 Herzl, Tb v. 27.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 675. 79 Alle Zitate über den Besuch in Rischon le-Zion: Herzl, Tb v. 27.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 675f.
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sehe Delegation weiter und machten eine kurze Rast in Wadi Chanin. Auch hier empfingen viele Bewohner der Kolonie die Besucher aus Europa, überreichten Geschenke und forderten zur Besichtigung der Siedlung auf80 Doch blieben Herzl und seine Mitreisenden nur kurz, da sie noch am gleichen Tag auch die Kolonie Rechowot besuchen wollten. Herzl schilderte den für ihn und seine Mitreisenden unerwarteten Empfang schon vor Erreichen der Kolonie, und das erste Mal in den Schilderungen über die Kolonien zeigte sich Herzl überrascht und vermied den sonst gewohnt ironischen Ton: „Wir führen weiter. Eine Cavalcade stürmte uns von der Colonie Rechowoth entgegen, etwa zwanzig junge Burschen die eine Art Phantasia aufführten, hebräische Lieder jauchzten u. unseren Wagen umschwärmten. Wolffsohn, Schnirer, Bodenheimer u. ich hatten Thränen in den Augen, als wir diese flinken muthigen Reiter sahen, in die sich die hosenverkaufenden Jünglinge verwandeln können."81 Auch wenn die Urteile über die drei besichtigten Kolonien im Tagebuch nicht zu positiv ausfielen - denn obwohl über die jüdischen Reiter tief gerührt, konstatierte Herzl, daß auch Rechowot noch zu den armen Siedlungen gerechnet werden müsse -, schien er doch den Gegensatz zu der städtischen Bevölkerung, die er vollends im Elend versinken sah, für sehr bedeutend zu halten. So bedeutend, daß er auf den Gedanken kam, Wilhelm II. noch in Palästina ein Album mit Photographien der jüdischen Siedlungen zu schenken, um damit den Kaiser von der Förderungswürdigkeit der Kolonien und des Zionismus zu überzeugen.82 Kurz vor der Abreise aus Palästina statteten Herzl, Wolffsohn und Bodenheimer noch der Kolonie Moza einen Besuch ab. Beeindruckt von der Schönheit der Landschaft, mußten sie aber auch erkennen, Moza sei eine „(...) sehr, sehr arme Colonie."83 Am 26.10.1898 hatten Herzl und seine zionistischen Mitstreiter Jaffa erreicht, am 5.11. verließen sie Palästina wieder. Die meiste Zeit hatten sie mit Warten und Hoffen auf eine Audienz beim deutschen Kaiser zugebracht. Von den 17 existierenden jüdischen ländlichen Siedlungen hatten
80 Vgl. Herzl, Tb v. 29.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 677. 81 Herzl, Tb v. 29.10.1898, in: Herzl, 1984, S. 677. Das - antisemitische - Bild vom „hosenverkaufenden Jüngling" wurde bereits 1879 von Heinrich von Treitschke als Bezeichnung für die aus Osteuropa nach Deutschland einwandernden Juden verwendet. Vgl. Kap. I, Abschnitt „Die deutschen Juden zwischen Identitätssuche und Antisemitismus". 82 Vgl. Herzl, Tb v. 1.11.1898, in: Herzl, 1984, S. 684. 83 Herzl, Tb v. 4.11.1898, in: Herzl, 1984, S. 691.
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sie nur vier besucht, drei davon in zwei Tagen. Die Eintragungen in das Tagebuch lassen nicht vermuten, daß sich Herzls Einstellung zu den Kolonien durch diesen Besuch geändert hatte, man könnte annehmen, das Elend der Städte und die Armut in den Kolonien hätten eher noch zu einer Verschärfung seines Urteils geführt. Aber genau das Gegenteil trat ein. In seinem Bericht für die „Welt" über die Ergebnisse der Reise finden sich ganz erstaunliche Analysen: „Die Resultate unserer Kolonisten, insbesondere diejenigen die auf ihren eigenen Füßen stehen, sind einfach verblüffend. (...) Die jüdischen Ackerbauern sind zäh und intelligent, das war der Eindruck, den wir überall hatten. (...) Leider konnten wir nur eine kleine Anzahl der Kolonien besuchen, aber den jüdischen Bauern haben wir doch kennengelernt. Er verspricht viel für die Zukunft."84 Zwar fehlte auch in diesem Artikel nicht der Hinweis auf die Ablehnung der „Infiltration", aber davon abgesehen war es eine einzige Hommage an den jüdischen Ackerbauern, den jüdischen Kolonisten. Gab es Erklärungen für diesen Umschwung? Vielleicht verfaßte Herzl diesen Artikel ganz bewußt als eine Überhöhung, um damit die eigentliche Niederlage der zionistischen Delegation in Palästina auszugleichen. Dies müßte als wahrscheinlich angenommen werden, und spielte sicherlich auch eine gewisse Rolle bei der Abfassung des Artikels, wenn nicht Herzl in weiteren öffentlichen und privaten Äußerungen dieser positiven Linie treu geblieben wäre. Im Dezember schrieb er an den Großherzog von Baden und wies auf die großen Unterschiede zwischen der Stadtbevölkerung und der Bevölkerung in den jüdischen Kolonien hin: „Dass der gegenwärtige Zustand der Juden in Jerusalem - leider auch anderswo - auf Seine Majestät den Kaiser keinen günstigen Eindruck machen konnte, musste ich im Vorhinein annehmen. Aber diese Zustände und unser heisser Wunsch sie zu ändern, sind ja eben die Hauptgründe der zionistischen Bewegung. Übrigens hätte Seine Kaiserliche Majestät bei einer Besichtigung der schon geschaffenen Ackerbaucolonien im heiligen Lande wahrnehmen können, welch vortheilhafte Veränderung in körperlicher wie sittlicher Beziehung die neue Lebensweise, der wir unsere Massen zuführen wollen, bei den Leuten hervorruft."85 Bei einer kurze Zeit später stattfindenden Unterredung mit Graf Eulenburg, Freund und Berater des Kaisers, wies dieser auf die auch in Palästina zu beobachtende Urbanisierung der Juden hin, die dem Kaiser sehr 84 Herzl, Palästina - Bericht über die Reise im Oktober/November 1898, in: „Die Welt", Nr. 46,18.11.1898. 85 Herzl, Tb v. 15.12.1898, in: Herzl, 1984, S. 705.
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mißfallen habe, worauf Herzl entgegnete: „Ich wies auf die Colonien hin. Eulenburg sagte, das ändere viel, der Kaiser habe sich demnach geirrt."86 Zu Beginn des Jahres 1899 wandte sich Herzl noch einmal direkt an den deutschen Kaiser, auch in diesem Brief lobte er die Kolonien und drückte die großen Zukunftshoffnungen aus: „Leider hat Ew. Kaiserliche Majestät die schon vorhandene Thätigkeit unserer Colonisten in Palästina nicht gesehen. Der Anblick der in Jerusalem eingepferchten Juden ist nicht erfreulich. Aber auch diese möchten aufs Land hinaus und den Boden bebauen
(-r Dieser Brief war Herzls letzter Versuch, den deutschen Kaiser von den Ideen der Zionisten zu überzeugen - vergeblich. Das bemerkenswerteste an diesem Brief war aber, daß Herzl nun über die Siedler schon von „unseren Colonisten" sprach. Eine gewisse Identifizierung mit den um Selbständigkeit und Verwirklichung ihrer Ideale ringenden Kolonisten hatte sich also nach der Palästinareise doch eingestellt, auch wenn dies zunächst nicht den Anschein gehabt hatte. Der Topos von der eigentlich geglückten Kolonisation ersetzte das bis 1898 stereotype Wiederholen der schädlichen und daher abzulehnenden „Infiltration". Hierfür zwei Beispiele: In einem Artikel über Zionismus für die „North American Review" 1899 schrieb Herzl, die Kolonisationsversuche in Argentinien und Palästina vergleichend, lapidar: „Hingegen sind die Versuche in Palästina geglückt. Dort gibt es jüdische Bauern in blühenden Kolonien."88 Waren diese Sätze für den aufmerksamen Beobachter der Herzl'schen Äußerungen über die Kolonien schon ein bedeutender Wandel, so sollte eine Rede in London, gehalten ebenfalls 1899, die auch in der „Welt" abgedruckt wurde, noch einen Schritt weiter fuhren. Ein Aspekt der Rede war die Kolonisierbarkeit Palästinas: „Den Beweis hierfür haben die sogenannten praktischen Zionisten schon vor uns angetreten, wenn auch im Kleinen, und er ist gelungen."89 Herzl unternahm mit diesen Äußerungen den Versuch, durch eine unklare Begrifilichkeit, die zeitlich vor ihm agierenden Chowewe Zion mit in die Bewegung einzubeziehen, denn er sprach von den „praktischen Zionisten vor uns". Die Bezeichnung „praktischer Zionist" war aber ein Ausdruck der sich eindeutig erst in der Zeit des Herzl'schen Zionismus herausgebildet hat. Es wird also suggeriert, diese Chowewe Zion hätten
86 87 88 89
Herzl, Herzl, Herzl, Herzl,
Tb v. 20.12.1898, in: Herzl, 1984, S, 708. Tb v. 1.3.1899, in: Herzl, 1984, S. 719. Zionismus, abgedruckt in: Herzl, 1905, S. 378. Rede in London, abgedruckt in: „Die Welt", Nr. 26, 30.6.1899.
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eigentlich schon in gewisser Weise im Herzl'schen Sinne als Zionisten agiert, die sich nun, nachdem der Versuch geglückt sei, in die Reihen der Herzl'schen Zionisten eingeordnet hätten. Des weiteren setzte Herzl in dieser Rede praktische Zionisten und Kolonisten gleich, ein zweiter Schritt zur Vereinnahmung der Siedlungsbewegung. Dies war nötig, um die Zionistische Organisation nach außen hin als legitimen Erben bzw. Nachfolger der Chibbat Zion-Vereine, aber auch als den legitimen ideologischen Kopf einer zu erwartenden neuen, nämlich zionistischen Kolonisationsbewegung zu präsentieren. Herzl hatte erkannt, daß die Kolonisten und der Neue Jischuw in Palästina zwar nicht sehr viel zum Gelingen seiner politischen Bemühungen beitragen konnten, daß er aber auf der anderen Seite nicht gegen die jüdische Bevölkerung in Palästina agieren konnte. Die völlige Ablehnung der Kolonisten hätte ihn unter großen moralischen Druck gesetzt, zumal sich viele der Kolonisten schnell seiner Bewegung angeschlossen hatten und sich immer häufiger bei Problemen mit der Administration an die Zionistische Organisation wandten.90 Obwohl Herzl die Zionisten als Nachfolger und ideologische Erben der Chowewe Zion darzustellen bemüht war, blieb das Problem, wie sich die Zionisten zu den Kolonisationsvereinen stellen sollten, die sich nicht ihrer Organisation anschließen wollten. Die Zeit einer massiven Auseinandersetzung war vorbei, es galt, einen für beide Seiten akzeptablen Modus vivendi zu finden, den Herzl dann im Juni 1899 in einem Brief an einen galizischen Zionisten wie folgt definierte: „Nur durch das Getrenntsein kann der Friede herbeigeführt werden."91 Herzl hatte sich für ein „divide et impera" entschieden, wohl auch in der Hoffnung, im Laufe der Zeit die Chowewe Zion entweder auf seine Seite ziehen zu können oder dadurch die Oberhand im palästinensischen Kolonisationswerk zu gewinnen, daß den Zionisten der Charter gewährt würde. Daß er mit der großen zionistischen Kolonisation fest rechnete und sie nicht nur als eine sich in weiter Ferne befindende Utopie ansah, geht vor allem aus Briefen an die Mitglieder der Kolonisationskommission hervor, die er für ihre zukünftigen Aufgaben instruierte, so z.B. in der Frage der Bodenqualität: „Etwaige Untersuchungen, welche Laboratoriumsarbeiten erfordern, können an den dort entnommenen Proben in europäischen La90 Für die Beziehungen zwischen der Zionistischen Bewegung und dem Jischuw vgl. vor allem Chaja Har-El, Ha-Tenua ha-Zionit we-ha-Jischuw be-Erez-Israel beschelhei ha-Alija Rischona, in: Eliav, 1981, Vol. I, S. 383-406. 91 Herzl an Rosenheck, 20.6.1899, in: Herzl, 1991, Nr. 1953.
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boratorien gemacht werden. Dadurch soll es vermieden werden, dass z.B. eine Gruppe von Colonisten an einem Orte Getreide anbaut, der nur fiir Weinbau geeignet ist, und zu dieser Erkenntnis erst nach einer bitteren und kostspieligen Erfahrung gelangen soll, oder umgekehrt, wie manche böse Erfahrung der bestehenden Colonien lehrt."92 Doch nicht nur in der Praxis galt es, sich auf die zionistische Kolonisation vorzubereiten, Herzl forderte die Kommission auch auf, eine Liste der bisher erschienen Bücher und Zeitschriften durchzusehen, um die für eine zu planende zionistische Kolonisation wichtigen, bereits in der Literatur vorhandenen Erkenntnisse zu nutzen.93 Um in diesem Bereich die Planung und Durchführung nicht dem Zufall zu überlassen, wurde zeitweise sogar an die Gründung eines „Syndicates zur Exploitierung Palästinas" gedacht.94 Herzl hatte seine Einstellung zu den Kolonien geändert, er betrachtete auch die Chowewe Zion aus einer anderen Perspektive, fand zumindest einen Modus vivendi, Rothschild aber, dessen Ablehnung seiner Ideen er nie ganz verwunden hatte, entließ er nicht aus seiner scharfen Kritik. Die Übergabe des Siedlungswerkes an die JCA zum 1.1.1900 bot noch einmal einen geeigneten Anlaß, die Meinung über das Rothschild'sche Kolonisationswerk öffentlich kund zu tun. Herzl gestand dem Baron dabei ein selbstloses Vorgehen zu, ein bescheidenes, lautloses Vorgehen. Doch die Philanthropie könne in diesen Bereichen unter keinen Umständen zum Erfolg führen, schrieb Herzl, und fiel zurück in seine typisch ironische Beurteilung seiner politischen Gegner: „Immerhin hat er Gutes getan - vielleicht mehr seinem eigenen Hause als den armen Juden." Anstatt nun, wie es vielleicht zu erwarten gewesen und wenige Jahre vor diesem Artikel auch sicher geschehen wäre, die ganze Kolonisation zu verurteilen, ihre ökonomischen Mißerfolge herauszustellen und das vermeintliche moralische Sinken der Siedler zu betonen, hob Herzl die Be-
92 Herzl an die Mitglieder der Kolonisationskommission, 20.10.1899, in: Herzl, 1991, Nr. 2091. Herzls Forderung nach Untersuchung der Bodenproben in einem europäischen Laboratorium zeigte den Ende des 19. Jahrhunderts in Palästina zu konstatierenden Mangel an agrarwissenschaftlich ausgebildeteten Personen. Dieser Mangel wurde spätestens 1901 behoben, als Aaron Aaronsohn, Selig Soskin und Josef Treidel ein „Agronomisch-culturtechnisches Bureau" in Sichron Jakow eröffneten. Vgl. „Die Welt", Nr. 31, 2.8.1901. 93 Vgl. Herzl an die Mitglieder der Kolonisationskommission, 22.11.1899, in: Herzl, 1991, Nr. 2141. Eine Liste der von Herzl empfohlenen Bücher ist im Anmerkungskatalog zu diesem Brief abgedruckt. 94 Vgl. Herzl an Bodenheimer, 19.10.1900, in: Herzl, 1993, Nr. 2975 u. Herzl an Gottheil, 27.10.1900, in: Herzl, 1993, Nr. 2985.
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deutung des Zionismus in den bestehenden Kolonien hervor sowie die Wichtigkeit dieser Kolonien auch fur die Zionistische Organisation. Und er verteidigte, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, die idealistischen Motive der Kolonisten der Ersten Alija, ein im Kontext der vorangegangenen Äußerungen fast unglaublicher Vorgang: „Wenn ein solcher Kolonisationsbaron ganz zweifellos von idealen Beweggründen geleitet worden ist, so ist es gewiß auch der Kolonist selber gewesen. Die Leute, die den lange verwahrlosten Boden mit begeisterter Arbeit urbar gemacht, mit Sümpfen und Fiebern gekämpft, Opfer an Leib und Leben gebracht und endlich bewiesen haben, daß der Jude ein Bauer sein kann und es in Palästina sein will - diese Leute sind gewiß als Idealisten nicht minder hoch zu schätzen als die Millionäre, die tief in die Tasche gegriffen haben."95 Dies war der Höhepunkt der Wandlung in der Beurteilung der Kolonien durch Herzl, eine Wandlung, die vier Jahre zuvor nicht zu erwarten gewesen war. Nach dieser Rede, fast einer Art „Endabrechnung" mit der philanthropischen Kolonisation, nahm aber auch die Häufigkeit der Äußerungen Herzls über die Siedlungen und ihre Bewohner drastisch ab. Nur noch sehr sporadisch finden sich solche Äußerungen, denen dann das Motiv der Gegensätzlichkeit von philanthropischer und der von Herzl „national" genannten Kolonisation zugrunde lag.96 Herzl blieb aber an der Frage der Entwicklung der Kolonien weiter interessiert, vor allem beim Engagement der Zionisten für die in Rischon le-Zion im Zuge der Ubergabe der Kolonien an die JCA entlassenen Arbeiter, für die Pläne entwickelt wurden, wie jüdische Unternehmer zu Investitionen in Palästina gebracht werden könnten, und für die schließlich auch ein Unterstützungsfonds eingerichtet wurde.97 In Herzls Äußerungen über die Kolonien der Ersten Alija lassen sich vier Phasen unterscheiden. Zunächst war er offenbar sehr unsicher, wie er die Kolonien bewerten sollte, weder konnte er die Bedeutung der Siedlungen einschätzen noch die Motive und die Energie der Kolonisten. Überrascht auch von den positiven Reaktionen auf seinen Judenstaat" aus Pa95 Zitate entnommen aus Herzl, Rothschilds Colonien, in: „Die Welt", Nr. 3,19.1.1900. 96 Vgl. Rede Herzls auf dem Fünften Kongreß, abgedruckt in: „Die Welt", Nr. 52, 27.12.1901 u. Herzl vor der Londoner Fremden-Kommission, abgedruckt in: „Die Welt", Nr. 29,18.7.1902. 97 Vgl. dazu Herzl an die Mitglieder der Kolonisationskommission, 6.1.1900, in: Herzl, 1991, Nr. 2196; Herzl an die Vertrauensmänner der zionistischen Vereine, 12.10.1900, in: Herzl, 1993, Nr. 2947; Herzl an die Vertrauensmänner der zionistischen Vereine, 6.11.1900, in: Herzl, 1993, Nr. 3006; Herzl anjassinowsky, 30.12.1900, in: Herzl, 1993, Nr. 3120 u. Herzl an Kokesch, 6.9.1902, in: Herzl, 1993, Nr. 4194.
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lästina, wurde seine rigorose Ablehnung der „Infiltration", der stets der Verdacht anhing, Herzl lehne damit auch die bestehenden Kolonien ab, etwas schwächer, seine Meinung etwas differenzierter, wenn er auch bei einer strikten Ablehnung der philanthropischen Kolonisation blieb. Obwohl während des Aufenthaltes in Palästina nur sehr wenig Zeit für die Kolonien geblieben war, hatten diese doch einen starken Eindruck auf Herzl gemacht, denn er begann in einer dritten Phase, die Kolonisten in einem sehr viel positiveren Licht zu sehen. Schießlich gab es diesbezüglich noch einmal einen Schub, der seinen Höhepunkt in der Anerkennung der idealistischen Motive der Siedler und ihrer großen Leistungen hatte. Die Gründe fur diesen zweiten Entwicklungsschub sind nicht eindeutig zu erkennen, vielleicht war er noch eine Folge des Palästinabesuches. Zwar wurde Herzl nie ein Verteidiger der von ihm ironisch „Kleinkolonisation" genannten Siedlungsbewegung, aber er fand während seiner Auseinandersetzung einen differenzierteren Zugang zu den Kolonien und den Kolonisten, auch wenn diese, und das bleibt während Herzls Tätigkeit für den Zionismus unverändert, nie ein Schwerpunkt seines Interesses wurden. Für die Kolonisten selbst stellte sich die Situation etwas anders dar. Herzl war zwar kein deutscher Jude, aber er kam für sie unzweifelhaft aus dem deutschen Sprachraum, und in ihn setzten sie ihre Hoflhungen auf eine Hilfe aus Deutschland, die in den Jahren 1882 bis 1896 so enttäuschend spärlich geflossen war. Herzls Aktivitäten und seine Wirkung in der Judenheit brachten, neben einer Reihe anderer Faktoren, langfristig eine erhebliche Verbesserung der Situation des Jischuws mit sich. Für die Mitglieder der Ersten Alija allerdings konnte Herzl selbst nichts mehr tun. Sein Erscheinen in der Welt des Zionismus glich zwar dem des Phönix aus der Asche, nur hatte dieser Phönix eindeutig staatliche Ziele, die er vor allen anderen Bemühungen gesichert sehen wollte. Die Kolonien in Palästina waren da fast ein Hindernis, eine exotische Erscheinung, die man auf einer Reise leicht spöttisch betrachten konnte, die aber als konkrete Realität von Herzl nicht ernst genommen wurden.
5. Der politische Zionismus nach Herzl und die Erste Alija Herzls Tod 1904 hinterließ ein Macht- und ein Sinnvakuum, orientierungslos versuchten die verschiedenen Richtungen ihre jeweilige Politik zum zentralen Punkt innerhalb der Zionistischen Weltorganisation zu machen. Mit der Wahl David WolfFsohns 1905 auf dem Siebten Kongreß
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zum Nachfolger Herzls als Präsident der Organisation konnten zunächst die politischen Zionisten einen gewissen Erfolg verbuchen, doch stand die Präsidentschaft Wolffsohns unter einem schlechten Stern. Wolffsohns Persönlichkeit und seine liberale Einstellung waren auf Ausgleich bedacht, er suchte stets nach Kompromissen, nach für alle Seiten akzeptierbaren Lösungen, um die divergierenden Strömungen des Zionismus innerhalb der Organisation zu binden und auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten. Doch die Konflikte um den Sitz der Leitung in Deutschland, Köln oder Berlin, und der immer heftigere Streit zwischen praktischen und politischen Zionisten, mit dem Höhepunkt auf dem Neunten Kongreß 1909, zerrieben ihn, machten ihn schließlich zur von allen Seiten angefeindeten Symbolfigur eines nur noch bewahrenden Zionismus. Wolffsohn war sich seiner ambivalenten Stellung bewußt, kämpfte aber vergeblich dagegen an, resignierte und trat auch aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit 1911 zurück.98 Sein Nachfolger wurde, wie bereits geschildert, Otto Warburg, ein Vertreter des praktischen Zionismus. Aber zwischen 1904 und 1911 hatte bereits ein Umdenkungsprozeß stattgefunden, man erkannte, daß nur eine Verbindung aller drei Positionen zum Erfolg fuhren konnte. Obwohl die Verschmelzung dieser drei Positionen stets Chaim Weizmann nach dessen Rede auf dem Achten Kongreß 1907 zugeschrieben wird, war es zuerst der russische Ingenieur Menachem Ussischkin (1863-1941), ein führender Vertreter des praktischen Zionismus, der den Gedanken einer Verbindung wie auch den Begriff der Synthese bereits 1904 ausführte. Der Text erschien 1905 in deutscher Sprache mit dem Titel „Unser Programm" und enthielt neben einer Analyse der Geschichte des Zionismus und den Anforderungen an die Bewegung das Credo: „Ich rufe nun alle wahrhaftigen Palästina-Zionisten auf, zurückzukehren - nicht zum Chibas Zion, nicht zum geistigen Zionismus und auch nicht zum diplomatischen Zionismus - sondern zu einer Synthese aller dieser drei Strömungen (...)."" Ussischkin muß also als der Urheber des synthetischen Zionismus betrachtet werden, aber es war Chaim Weizmann, der ihn in die Tat umsetzte und so die großen Erfolge möglich machte. Inwieweit sich der politische Zionismus dem praktischen Zionismus nach dem Tode Herzls öffnete, zeigte sich an der Eröffnung des PalästinaAmtes 1908 in Jaffa noch unter der Präsidentschaft Wolffsohns. Die Kolonisten der Ersten Alija hatten schon bald nach dem Erscheinen des ,Ju98 Über David Wolffsohn vgl. Cohn, 1939 u. Robinsohn, 1921. 99 Menachem Ussischkin, Unser Programm, Wien-Leipzig 1905, S. 30.
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denstaats" und der Gründung der Zionistischen Weltorganisation Herzl und die von ihm vertretene Organisation als einen wichtigen Ansprechpartner angenommen. Die Spitzfindigkeiten um einen politischen, praktischen oder kulturellen Zionismus waren ihnen fremd und so weit von ihrer realen Situation entfernt, daß sie dem keine Bedeutung beimessen konnten. So wurden schon ab 1896 die „neuen" Zionisten in Mitteleuropa von den Kolonisten zur Hilfe aufgefordert. Bittbriefe an Herzl waren dabei keine Ausnahme, spätestens nachdem Rothschild die Verwaltung seiner Kolonien 1900 an die J C A übergeben hatte und diese einen rigorosen ökonomisch-rationalen Sparkurs in den Kolonien einschlug. 1904 begann die Einwanderungswelle der sog. Zweiten Alija nach Palästina und erhöhte den Druck auf die Zionisten in Europa, sie mußten in Palästina präsent sein, um hier die Entwicklung beeinflussen zu können und das eigentliche Ziel all ihrer Bemühungen nicht aus den Augen und vor allem nicht aus den Händen zu verlieren. Denn bei allen Bestrebungen der praktischen Zionisten, bei allen Versuchen, diese Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen, war doch eine gewisse Realitätsferne spürbar, sowohl bei den praktischen, aber auch bei den politischen Zionisten. „Ich wollte Tatsachen über die Aussichten einer Ansiedlung in Palästina haben und bekam statt dessen nur Phrasen",100 schrieb Arthur Ruppin über seine Kontakte zum politischen Zionismus in den Jahren 1897 bis 1901.101 Noch schärfer formuliert diese Einstellung der Zionist Max Jungmann in seinen Erinnerungen: „Man kämpfte mit scharfem Geist und fuhr mit souveräner Ironie auf jeden Gegner los im Eifer für eine politische Idee, ohne sich darüber Sorgen zu machen, wie sie zu verwirklichen wäre."102 In den Jahren 1882 bis zur Gründung des Palästina-Amtes 1908 krankten alle zionistischen Bestrebungen in Palästina an dem fehlenden Wissen der Europäer über das Land, die klimatischen Verhältnisse, die geographischen Gegegebenheiten und die ökonomischen Möglichkeiten. Hierin unterschieden sich die Zionisten am Ende der 1890er Jahre nicht von den ersten Kolonisten des Jahres 1882.
100 Arthur Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, hrsg. v. Schlomo Krolik, Königstein/Ts. 1985, S. 117£ 101 Uber Arthur Ruppin vgl. Alex Bein, Arthur Ruppin: The Man and his Work, in: Leo Baeck Institute Year Book, Vol. XVII, 1972, S. 117-141 u. Abraham Maurice Bertisch, Α Study of the political-economic Philosophy of Arthur Ruppin and his Role in the economic Development of the Zionist Settlement in Palestine from 1907-1943, Ann Arbor 1980. 102 Max Jungmann, Erinnerungen eines Zionisten, Jerusalem 1959, S. 2 2 f .
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Die Erste Alija hatte zwar zu einer Bewußtseinsänderung gefuhrt und Palästina als reales Einwanderungsland wieder in das Denken der europäischen Juden zurückgeholt, doch implizierte dies nicht, daß sich auch das Wissen um die sozio-ökonomischen Konditionen verbessert hatte. Konkrete Informationen und wissenschaftliche Untersuchungen blieben selten, und wenn es sie gab, war es oft Stückwerk. Diese Lücke sollte das Palästina-Amt schließen. Zum Leiter wurde mit Arthur Ruppin ein Mann bestimmt, der wie kein anderer geeignet war, die alten Ideale der praktischen Chowewe Zion mit dem modernen Zionismus in Palästina zu verknüpfen. Der Aufbau der ländlichen Siedlungen, hierbei vor allem der Kibbuzim während der Zweiten bis Fünften Alija,103 aber auch die Urbanisierung in Palästina ist eng mit seinem Namen verbunden. Geboren 1876 in Rawitsch (Posen), widmete er sich nach einem Jura- und Wirtschaftsstudium zunächst der Soziologie und Demographie. Sein 1904 erschienenes Buch „Die Juden der Gegenwart" erregte großes Aufsehen in der jüdischen Welt und brachte Ruppin in engen Kontakt mit den Zionisten, die ihn 1907 nach Palästina schickten, um die Entwicklungs- und Arbeitsmöglichkeiten der Zionistischen Organisation im Jischuw zu sondieren. Den Posten des Leiters des Palästina-Amtes in Jaffa behielt er bis zu seinem Tod 1943. Ruppin kam nicht über romantische Ansichten der jüdischen Tradition oder einer hebräischen Kultur zum Zionismus, er war vielmehr an der Entwicklung der Ökonomie, an der Erforschung soziologischer Hintergründe und dem Aufbau einer humanen Gesellschaftsordnung in Palästina interessiert, wofür er 1908 eine einmalige Chance sah. Doch dafür bedurfte es der Wandlung des politischen Zionismus in eine praktische, kreative und soziale Bewegung in Palästina, und Ruppin war der Mann, der diese Umwandlung versuchte. Sein Lebenswerk in Palästina läßt sich in vier Phasen gliedern, die zum Teil mit den vier Alijot korrespondieren. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs galt Ruppins ganzes Interesse den Grundlagen für eine zionistische Besiedlung Palästinas, in diese Phase fielen die Gründung Tel Avivs und
103 Die Einteilung der Einwanderungswellen erfolgt nach zeitlichen Schwerpunkten, den Herkunftsländern und der ideologischen Ausrichtung. Die Zweite Alija (19041914) brachte linkszionistisch orientierte osteuropäsche Juden nach Palästina, die Dritte Alija (1919-1923) knüpfte fast nahtlos an die Zweite an. Mit der Vierten Alija (1924-1931) kamen vor allem privatwirtschaftlich engagierte Juden in das Land. Die Flüchtlingswelle der Fünften Alija (1932-1939) war gekennzeichnet von den Verfolgungen in Mitteleuropa und brachte fast 240.000 legale und illegale Einwanderer nach Palästina.
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der ersten Kibbuzim. Während des Weltkriegs unternahm er alle Anstrengungen, den neuen Jischuw überhaupt am Leben zu halten. Die türkischen Behörden in Palästina betrachteten diese Arbeit allerdings als eine Bedrohung ihrer ohnehin schon stark gefährdeten Position und wiesen Ruppin 1916 aus. Erst 1920 konnte er zurückkehren und war bemüht, die vor dem Krieg aufgebauten Strukturen zu erneuern, die ländlichen und Urbanen Siedlungen zu stärken und die Ökonomie des Jischuws durch die großen Wirtschaftskrisen der zwanziger Jahre zu fuhren. Die dramatisch ansteigende Bedrohung der Juden in Europa ab 1933 zwang auch den Jischuw, sich den neuen Bedingungen zu stellen, und auch hierbei wurde Ruppin ein führender Kopf, der sich erfolgreich für die Eingliederung der europäischen Flüchtlinge einsetzte. Neben seiner herausragenden Bedeutung für die ökonomische Entwicklung des ländlichen und städtischen Jischuws war Ruppin aber auch in der Arbeit für eine Verständigung zwischen Juden und Arabern engagiert und gründete zu diesem Zweck 1925 den „Brit Schalom", auch wenn er von der in dieser Vereinigung vertretenen Idee eines binationalen Staates in Palästina gegen Ende seines Lebens etwas abrückte, vielleicht aus Resignation, vielleicht aus der Erkenntnis heraus, daß ein solcher Staat Ende des dreißiger Jahre außerhalb des Erreichbaren lag. Ab Mitte der zwanziger Jahre lehrte er zudem die von ihm begründete „Soziologie der Juden" an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Historiographie hat oft Ruppins entscheidende Bedeutung für die Entwicklung eines an der Praxis orientierten Zionismus nicht erkannt, obwohl Ruppin zweifellos neben Herzl, Weizmann und Ben Gurion zu den bedeutendsten Führern des Zionismus gehört. Seine bis heute prominenteren Zeitgenossen sahen dies viel deutlicher als die Nachwelt, ein illustrierendes Beispiel hierfür ist die folgende Äußerung Chaim Weizmanns: „The man, during the years before World War I and indeed throughout the quarter century following the first World War, played a decisive part in the colonization of Palestine was Arthur Ruppin (...) and when he differed with me - as for example, in 1922 on the question of the minimum of costs of colonization - he was usually right."104
104 Weizmann, 1949, S. 129.
XV. Zusammenfassung und Ausblick
Am 15. Oktober 1897, anderthalb Monate nach dem Ersten Zionistenkongreß, verfaßte Hermann Schapira einen Brief an das Zionistische Zentralbüro in Wien, in dem er sich über die Haltung der deutschen Juden zur Kolonisation äußerte. „Ich habe Hoffnungen für eine Action der Deutschen Juden zu gunsten der Colonisation", schrieb Schapira und nannte die Bedingungen, unter denen eine solche Aktion stattfinden könnte: „1) Die Sache muß gross angefasst werden, da man im Kleinen gar nichts ausrichten wird, als höchstens eine falsche Beschwichtigung des eigenen Gewissens durch die Einbildung, man hätte was gethan. 2) Die Thätigkeit muss organisiert werden (...)."' Diese Ansicht war jedoch nicht etwas Neues, die Bemühungen waren seit 1881 durchaus auch in diese Richtung gegangen. Bereits 1883 hatte Heinrich Graetz auf den Umstand hingewiesen, daß eine Kolonisation nur unterstützt werden dürfe, „wenn sie auf sicherer Basis beruht und von arbeitsfähigen Personen gebildet würde."2 Dies bedeutete nichts anderes als die groß angelegte Organisation, die Schapira für ein Engagement der deutschen Juden voraussetzte. Aber gab es nicht auch schon vor 1881 deutschsprachige Autoren und Förderer, die sich um die Verbreitung zionistischer Ideen in Deutschland bemühten, und gab es zwischen 1881 und 1897 nicht einige Versuche, eine solche Organisation, oder besser, zunächst einmal eine Basis hierfür zu schaffen? Die vorliegende Arbeit hat dies nachgewiesen und detailliert beschrieben. Schon ab 1860 wurde versucht, den deutschen Juden die Idee einer Palästinakolonisation nahezubringen. Die Rabbiner Kalischer und Alkalai vertraten eine traditionelle Religionsauslegung, forderten aber trotzdem einen aktiven Einsatz für die Rückkehr nach Palästina. Chaim Loije sprach eher die säkularisierten Juden an, scheiterte aber vor allem an seinen persönlichen Schwächen. Moses Hess suchte die Verbindung zwischen seinen sozialistischen Theorien und einer nationalstaatlichen Lösung für das Judentum herzustellen. Hile Wechsler schließlich sah 20 Jahre nach Alkalai und Kalischer größte Gefahren für die Juden am Horizont und forderte zur Besiedlung Palästinas als einziger Rettung auf.
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Schapira an das Zionistische Zentralbüro, Wien, 15.10.1897, ZZA, Zl/279. Graetz an Pinsker, 15.3.1883, abgedruckt in: Michael, 1977, S. 382.
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Nach der Gründung der ersten Kolonien in Palästina 1882 gab es wiederum den Versuch, das deutsche Judentum hierfür zu begeistern. Die Kolonisten wandten sich explizit an die deutschen Juden mit der Bitte um materielle wie auch ideelle Hilfe, und dies versuchten sie auch nach den ersten Enttäuschungen immer wieder. Als Grund für diese Versuche kann die hohe Meinung der osteuropäischen Juden von den deutschen Juden angesehen werden. Die Kolonisten nahmen diese Verehrung und das der deutschen Sprache ähnliche Jiddisch mit nach Palästina. Hieraus erklären sich die Bemühungen Joseph Feinbergs 1882 und die Appelle der Kolonien an die deutschen Juden, die sich durch den ganzen in dieser Arbeit behandelten Zeitraum ziehen. Von seiten der deutschen Zionsfreunde gab es in den 1880er Jahren die Aktivitäten eines Leopold Hamburger, Adolf Salvendi, Emil Lachmann und Sigismund Simmel, die auf verschiedenen Ebenen versuchten, für die Kolonien einzutreten. Lachmann kaufte Land in der Kolonie Petach Tikwa, Hamburger engagierte sich fur den Export palästinensischer Waren nach Deutschland, Salvendi war publizistisch tätig, und Simmel mühte sich, nach der Kattowitzer Konferenz 1884 einen Kolonisationsverein in Deutschland zu gründen. Doch trotz ihres großen persönlichen Einsatzes konnten sie die Gleichgültigkeit der meisten deutschen Juden nicht überwinden. Der einzige materielle Erfolg der Chowewe Zion, an dem die oben aufgeführten Zionsfreunde nicht einmal beteiligt waren - ein Zeichen für die Zerplitterung in der Bewegung der Chowewe Zion -, war die Gründung des Vereins Esra, der dem Wunsch nach straffer Organisation entgegenkam. Nach erheblichen Anfangsschwierigkeiten konnte der Verein seine Einnahmen auf ein Niveau heben, das es ihm ermöglichte, die Kolonisation zu unterstützen, wenn auch nur in einem bescheidenen Maße. Sein Aufblühen M t mit dem Aufkommen des Herzl'schen Zionismus zusammen, daher kann die Frage nach einer Entwicklung des Vereins ohne den zionistischen Einfluß nicht beantwortet werden. Zumindest ging der Verein nicht im Sog des „neuen" Zionismus unter, sondern existierte bis 1932. In den 1890er Jahren wuchs eine Generation neuer Zionsfreunde heran, die in Willy Bambus und Heinrich Loewe ihre Protagonisten der Kolonisationsidee fanden. Bambus begann seine Arbeit im „Esra", bei dem er schnell einer der führenden Personen wurde. Loewe war ebenfalls Mitglied im Esra, aber auch als einziger deutscher Jude im „Russisch-Jüdisch Wissenschaftlichen Verein" in Berlin, dem Zusammenschluß russischer Studenten, die das Nationaljudentum auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Beide, Loewe und Bambus, hatten aus den Fehlern ihrer Vorgänger in den 1880er Jahre gelernt und legten daher größten Wert auf Öffentlichkeitsar-
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beit, organisierten 1896 in Berlin sogar eine Ausstellung der Kolonien. Daneben gründeten sie verschiedene Zeitungen, die die Kolonisation einem breiten Publikum bekannt machen sollten. Doch die Blätter blieben bei kleinen Auflagen stehen, gerieten in finanzielle Schwierigkeiten und mußten wieder eingestellt werden. Loewe und Bambus taten aber noch etwas, und dies unterschied sie von den anderen Zionsfreunden in Deutschland, sie besuchten Palästina, den Ort der Sehnsucht, um den sich alle Diskussionen eigentlich drehten, den aber kaum jemand aus eigener Anschauung kannte. So konnten sie selbst erkunden, welche Schwierigkeiten die Kolonien hatten, welche Hilfsmöglichkeiten es gab und wie eine größere Einwanderung effektiv zu organisieren sei. Ihre erste Reise nach Palästina unternahmen sie 1895 noch gemeinsam. Dann jedoch traten die Unterschiede zwischen beiden immer deutlicher zutage. Bambus blieb ein Verfechter der Kolonisation und Verteidiger der Siedlungen, während Loewe sich mehr in die politische Richtung entwickelte und sich daher folgerichtig 1897 Theodor Herzl begeistert anschloß. Bambus sah in Herzl dagegen die personifizierte Gefährdung der Kolonien. Zwar konnte auch er sich der Persönlichkeit Herzls zunächst nicht entziehen und arbeitete einige Zeit mit ihm zusammen, doch als Bambus Herzls Kurs gegen die „Kleinkolonisation" als nicht mehr umkehrbar empfand, wandte er sich ab. In den nächsten Jahren blieben Bambus größere Erfolge fur „seine" Kolonien verwehrt. 1904 entschloß er sich zum Wiedereintritt in die Zionistische Weltorganisation, um innerhalb der Organisation etwas für die Kolonien zu tun, doch starb er kurz nach diesem Entschluß, ohne sein Vorhaben durchgeführt zu haben. Oft wurden die Anhänger der Kolonisationsidee in Deutschland einfach ignoriert, durch eine indifferente Haltung gleichsam vom Diskurs über das Judentum am Ende des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen. Ihre Bewegung hatte zuwenig Anhänger, und die Vorstellungen waren noch nicht tragfahig genug im deutschen Judentum, um in den wichtigen Kreisen oder einer breiteren Öffentlichkeit Gehör zu finden. Aber ab 1897 ließ sich der Zionismus nicht mehr ignorieren. Theodor Herzl wußte, mit welchen Mitteln, inhaltlich wie propagandistisch, sich das säkulare Judentum, aufgewachsen mit den Grundsätzen aufgeklärter und nationalstaatlicher Traditionen, für seine Bewegung gewinnen ließ. Auch wenn der Zionismus, obwohl dies in manchen Darstellungen so erscheint, auch unter Herzl keine Massenbewegung wurde, so zwang er doch den deutschen Juden erneut die Diskussion über ihre Definition einer Nation und eines Volkes auf Wenn auch alle Bemühungen der Palästinafreunde und der Kolonisten letztlich nicht zu dem gewünschten Erfolg einer breiten Unterstützung
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durch die deutschen Juden führten, so waren es doch Versuche auf dem Weg zur Verwirklichung des Ideals, die deutschen Juden mit ihrer moralischen und ideellen Kraft für die Unterstützung der Kolonien zu gewinnen. Warum scheiterten diese Versuche? Gab es überhaupt ein Ergebnis aller dieser Bemühungen? Es muß zunächst noch einmal zusammenfassend darauf hingewiesen werden, daß, wenn für die Hilfe aus Deutschland die sichere Basis, die gute Organisation, die großangelegte Aktion und damit auch eine gewisse Erfolgsgarantie die Voraussetzungen waren, diese Bedingungen zu Beginn des Kolonisationswerks nicht erfüllt wurden. Der Eindruck, den selbst wohlwollend interessierte deutsche Juden von den Kolonien und den ausnahmslos aus Osteuropa stammenden Kolonisten bekamen, war stark geprägt von den durch Deutschland ziehenden jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa - von denen sich die akkulturierten Westjuden in fast pathologischer Angst abzugrenzen versuchten -, von den Vorinformationen über Palästina, die nur selten auch nur annähernd den Tatsachen entsprachen, und von den zum Teil sehr widersprüchlichen Aussagen über Palästina in den größeren Zeitungen und Journalen. Diese gaben den Berichten und Artikeln nicht selten die Färbung, die ihren Intentionen im Hinblick auf eine Behandlung Palästinas entsprachen. Wollte man sich genauer informieren, blieben daher eigentlich nur die speziell für diesen Zweck gegründeten Journale, denen jedoch, neben der marginalen Auflage, die Kurzlebigkeit gemein war. Eine Ausnahme bildeten die „Spendenverzeichnisse", die aber allein der Übermacht der Kolonisationsgegner in der Presse gegenüberstanden und daher nicht genügend Einfluß ausüben konnten. Alle diese Bedingungen in Betracht ziehend und in ihrer Bedeutung für die deutschen Juden würdigend, kommt man trotzdem zu dem Schluß, daß diese die indifferente Haltung der meisten deutschen Juden gegenüber den Kolonien nur teilweise erklären, denn gerade auf der Ebene der Vereine - ein für Deutschland typischer Organisationsmodus gesellschaftlicher Meinungsäußerung und Interessenvertretung wurde dem Wunsch nach sachlicher, emotionsloser Information und exakten statistischen Daten Rechnung getragen. Gab es also andere, tiefere Gründe für das Verhalten der Masse der Juden in Deutschland? Hermann Schapira faßt in seinem Brief vom Oktober 1897 an das Zionistische Zentralbüro treffend zusammen: „Meines Erachtens ist die grösste Rücksicht darauf zu nehmen, dass die Deutschen Juden in ihrer Auffassung der Nationalitätsfrage nicht gereizt werden."3 Die deut-
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Schapira an das Zionistische Zentralbüro, Wien, 15.10.1897, ZZA, Z l / 2 7 9 .
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sehen Juden hatten also nach Schapiras Ansicht eine so sensible Meinung über die Nationalitätsfrage - ihre deutsche Nationalitätsfrage, wohlgemerkt -, die sich dazu offenbar von den Ansichten der Juden in Rußland, England oder Frankreich so sehr unterschied, daß sie in dieser Frage auch nicht im mindesten „gereizt" werden durften. Schapira erkannte dieses Phänomen, war doch die Akkulturation von seiten der Juden im Deutschland des Kaiserreichs in ihren Augen völlig erreicht.4 Der „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" erschien als ein so hehres und gleichzeitig erreichbares Ziel, daß dies mit aller Macht angestrebt wurde. Die 1871 erreichte rechtliche Gleichstellung sowie die wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten im Kaiserreich schienen diese Haltung und die Erwartung der Juden in Deutschland dann auch zu rechtfertigen. Doch je mehr aufzugeben die Juden auch bereit waren, je mehr sie bereit waren, ihre sozialen, religiösen und ökonomischen Lebensumstände zu ändern und damit den - verschämt oder unverschämt geäußerten Forderungen der deutsch-christlichen Umwelt nachzukommen, desto stärker wurden sie von Teilen der deutschen Gesellschaft abgelehnt. Auch dies wurde von Schapira erkannt und dem Zionistischen Büro als Maßgabe für weitere Aktionen mitgeteilt: „Die Angst der Deutschen (i.e. der deutschen Juden, E.P.) vor einer Missdeutung, die ihnen schaden kann, ist - glaube ich - wohlbegründet und muss von uns berücksichtigt werden."5 Die Angst der deutschen Juden vor Mißdeutungen war Ende des 19. Jahrhunderts zum Trauma geworden, denn aus dem archaischen, sich religiös begründenden Antijudaismus war im Laufe des 19. Jahrhunderts der Antisemitismus erwachsen, der mit seiner letztlich rassischen Begründung der Judenfeindschaft eine Waffe schuf, gegen die keine Akkulturationsbereitschaft, keine noch so durchdachte Argumentation etwas ausrichten konnte und die zu verheerenden Taten verleitete. Vor diesem Antisemitismus hatten auch schon die Befürworter einer Kolonisation Palästinas gewarnt. Aber Warnungen dieser Art nahmen die deutschen Juden nicht sehr ernst. Zwar wurde 1893 der „Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (C.V.) gegründet, der 1895 in seiner Monatszeitung von einem Krieg sprach, in dem sich die Juden befänden, und auch der Vor-
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Vgl. hierzu z.B. Julius H. Schoeps, Deutsche - und nichts anderes, in: Spiegel Spezial, 2/1992, S. 94-112. Schapira an das Zionistische Zentralbüro, Wien, 15.10.1897, ZZA, Z l / 2 7 9 . Vgl. Arnold Paucker, Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893-1933, in: Herbert A. Strauss u. Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung,
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wurf der „Drückebergerei" während des Ersten Weltkriegs7 traf die deutschen Juden tiefj erschütterte ihren Glauben an Deutschland - gleichzeitig jedoch, um ein extremes Gegenbeispiel zu wählen, dichtete 1915 der Schriftsteller Ernst Lissauer (1882-1937) das wohl populärste Kriegslied des Ersten Weltkriegs, den „Haßgesang gegen England".8 Von blinder Gläubigkeit an Deutschland geprägt, aber auch stolz auf sein Judentum, dem er nicht qua Taufe abgeschworen hatte, betrachtete sich Lissauer explizit als deutschen Juden, der sich vor allem von den osteuropäischen Juden abhob. Lissauer lehnte - fast muß man sagen: selbstverständlich - den Zionismus ab und setzte sich für eine völlige Akkulturation ein. Ab 1924 lebte er in Wien und Schloß sich hier den Deutsch-Nationalen an.' Mit der Betrachtung dieses zwar erkannten, aber eigentlich zumindest bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht als existentielle Bedrohung angesehenen Antisemitismus, auch wenn die sogenannte .Judenzählung" des Jahres 1916 von jüdischer Seite als ein Fanal gegen die Akkulturation betrachtet wurde,10 konnten und mußten die deutschen Juden jedem Projekt ihre Hilfe verweigern, das sie in ihren Bemühungen um Assimilation gefährden konnte. Die Möglichkeit, der jüdischen Bevölkerung in Palästina über die westlichen philanthropischen Einrichtungen und Mechanismen zu helfen, stellte keine Gefahrdung der eigenen Position dar. Eine solche Hilfe wurde in Palästina wie auch in allen anderen Ländern geleistet, in denen Juden in Not gerieten. Die ländlichen Kolonien aber, diese marginale Anzahl idealistischer Kolonisten, hervorgegangen aus den Chowewe Zion Osteuropas, brach aus dem Konzept westlicher Hilfeleistungen aus, jedoch nicht, weil sie dieser Hilfe nicht bedurft hätten, sondern weil hinter den Koloniegründungen neue alte Motive standen. Es wurde von „Wiederbelebung" gesprochen, von „jüdischem Volk" und jüdischer Nation", und dies waren Reizwörter, verbunden mit dem Wunsch nach Rückkehr der Juden als Volk nach Palästina. Aber solche Bestrebungen wurden von den meisten deutschen Juden schlicht abgelehnt, allerdings nicht, weil
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Bonn 1985, S. 144. Über den C.V. vgl. Avraham Barkai, „Wehr Dich!", München 2002. Vgl. Volkov, 1994, S. 67-69. Vgl. Schoeps, 1992, S. 106. Zur Biographie Lissauers und seiner Einstellung zur Assimilation vgl. Artikel „Lissauer, Ernst", in: EJ, 11:305, u. Wanda Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt/M. 1986, S. 430£ Vgl. Volker Ullrich, „Dazu hält man fur sein Land den Schädel hin", in: Die Zeit, Nr. 42, 11.10.1996 und Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, vor allem S. 527ffi
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man die messianische Erlösungshofinung des Judentums verwarf diese konnte bestehen bleiben, solange sie sich auf ein rein religiöses Gebiet beschränkte. Sobald aber „Nation" und „Volk" damit in Verbindung gebracht wurden, beriefen sich viele deutschen Juden auf ihr angestammtes Deutschsein, das sie schon jahrhundertelang gepflegt hatten." Bleibt zu fragen, ob es dann nicht die hohe Erwartungshaltung der osteuropäischen an die deutschen Juden war, die in den Jahren 1882 bis 1900 das Mißverständnis zwischen den Kolonisten in Palästina und den Juden in Deutschland erst schuf Zweifellos hatten die osteuropäischen Juden von keiner anderen jüdischen Gemeinde in Europa eine so hohe Meinung wie von der deutschen. Der Ausdruck „Omnipotenz" beschreibt dies zutreffend, und zu dieser angenommenen Omnipotenz trat der hohe Respekt, den die osteuropäischen den deutschen Juden zollten. Gerade diese hohe Meinung und der Respekt ließen aber bei den osteuropäischen Juden einen blinden Fleck entstehen, denn selbst wenn sie durch Deutschland gereist waren oder an deutschen Universitäten studiert hatten, blieb ihnen offenbar der psychohistorische Hintergrund des deutschen Judentums verborgen. Die angewendeten Strategien, um die jüdische Bevölkerung von den Zielen der Chowewe Zion - und dies trifft zum Teil auch für den Zionismus ab 1897 zu - zu überzeugen, mochte fur die Vorstellungswelt und die Situation in Osteuropa angepaßt sein. In Westeuropa konnten diese Strategien nicht greifen. Die ökonomische Not dort war gering, die Ghettoisierung praktisch abgeschafft - allerdings noch in subtilen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung vorhanden -, die de jure-Emanzipation durchgesetzt und die Lösung der Probleme der de facto-Assimilierung schien nur eine Frage der Zeit, getragen von dem Gedanken der Aufklärung über die stetige Verbesserung des Menschen durch Erziehung und Bildung. In diesem geistigen Klima, dieser Erwartungshaltung in Deutschland konnten Schlagworte wie Judennot", „Wiederbeleben der jüdischen Nation", „das jüdische Volk als Teil des europäischen Nationalismus" und „Besiedlung Erez Israels" nur wenig Anhänger finden. Bei der Bewertung der Kolonien könnte ein Aspekt hinzu getreten sein, der in diesem Schlußkapitel nur als Hypothese aufgestellt werden soll, da hierfür exaktes Quellenmaterial fehlt, der aber eine logische Fortsetzung des Wunsches nach Assimilation in das so verehrte und geliebte Deutschland wäre. Die Kolonisten hatten sich zwar bis zum Herbst 1882 11 An dieser Stelle sei auf den bereits zitierten Brief des Rechtsanwalts Dr. Meyer an Max Bodenheimer (Kap. ΧΠ, Abschnitt „Max Bodenheimers Arbeit für die Kolonisationsvereine") hingewiesen. Vgl. Meyer an Bodenheimer, 19.2.1894, ZZA, A15/85/1.
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intensiv um Hilfe in Deutschland bemüht, konnten das schwerfällige deutsche Judentum aber nicht zu größeren Spenden bewegen, worauf sie sich nach Paris wandten und bei Edmond de Rothschild zumindest materielle Unterstützung fanden. Blieben alle weiteren Versuche, die deutschen Juden fur die Kolonisation zu begeistern, marginales Stückwerk mit nur sehr kleinen Erfolgen, vielleicht auch deshalb, weil sie eine von Frankreich geförderte Kolonisation ablehnten, nicht unterstützen wollten? Dies ist nur eine vorsichtige Hypothese, die aber in das Bild eines übersteigerten Patriotismus passen würde. Ein Indiz hierfür wäre die Kriegsbegeisterung auch der deutschen Juden, die nicht zögerten, gegen ihre französischen und englischen Glaubensbrüder ins Feld zu ziehen - ein vielsagender Blick in die jüdisch-deutsche Befindlichkeit.12 Wollten die Juden in Deutschland nicht erkennen, was ihnen mit einer Verschärfung des Antisemitismus drohte? Sahen sie eine Verschärfung überhaupt als möglich an? Diese Fragen müssen verneint werden, in großen Teilen des deutschen Judentums herrschte am Ende des 19. Jahrhunderts der ungebrochene Glaube an Fortschritt und stetige Verbesserung der eigenen Situation vor. Damit beantwortet sich auch die Frage, ob die Kolonien in Palästina vielleicht als Basis einer später möglicherweise notwendigen Fluchtstätte betrachtet wurden. An eine Fluchtbasis zu denken, lag völlig außerhalb der Vorstellung der meisten deutschen Juden. Flucht wovor auch? Man hätte eher befürchteten können, daß eine Förderung nationaljüdisch gesinnter Kolonien den Antisemiten als Argument dienen würde, den deutschen Juden mangelnden Patriotismus vorzuwerfen. Dies erwies sich als nicht unbegründet, doch kam der Vorwurf erst während des Ersten Weltkriegs auf und nicht im Zusammenhang mit den Kolonien oder dem Zionismus, in einer Situation, in der die deutschen Juden damit in keiner Weise gerechnet hatten. Sahen die Zionisten die Gefahren des Antisemitismus? Betrachtet man die Werke der Autoren bis Theodor Herzl, könnte der Schluß gezogen werden, die Zionisten hätten die Bedrohung deutlich erkannt, denn sie 12 Es wäre zu vermessen, ausgerechnet von den deutschen Juden Widerstand gegen den Ersten Weltkriegs zu erwarten, zu groß war ihr Patriotismus, wie die Beteiligung jüdischer Frontsoldaten, die Zahl der Gefallenen und die Aufrufe der jüdischen Organisationen zeigen. Ein solcher Widerstand hätte ihrem Anspruch nach höchstens von der SPD erwartet werden können, doch die versagte angesichts der Krise im Herbst 1914. Vgl. Claus-Volker Klenke, „An unserer Gesetzlichkeit werden unsere Feinde zugrunde gehen". Unbewußte Regulationsstrategien im politischen Diskurs. Eine psychohistorische Fallstudie am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie. Hrsg. v. Wissenschaftlichen Zentrum Π der Gesamthochschule Kassel 1985.
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verwendeten den Antisemitismus auch als Argument fur ihre Vorstellung einer jüdischen Nation. Zwar ließen sie sich in ihrem Nationenbegriff fur das jüdische Volk nicht von den Antisemiten leiten, aber die Gefahr wurde den deutschen Juden als Menetekel stets vor Augen gehalten. Doch auch die deutschen Zionisten waren gegen den Akkulturationswunsch und die damit verbundene oft unkritische Deutschlandverehrung nicht gefeit. Deutlich wird dies bei einem Blick auf Deutschland ab den 1920er Jahren. Der immer gewalttätigere Antisemitismus in der Weimarer Republik - „Erschlagt den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau"13, wurde zum Topos haßerfullter Rechter auf das zum Sündenbock auserkorene Judentum14 - und der aufkommende Nationalsozialismus mit der damit einhergehenden offensichtlichen Akzeptanz der antisemitischen Hetze ließen auch die Zionisten nicht von ihrem Vertrauen zu Deutschland abrücken, im Gegenteil: Während sich große Teile der deutschen Juden 1933 noch immer „Bereit für Deutschland"15 fühlten, kulminierte die Meinung der Zionisten im Juni 1933 in der „Äußerung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland zur Stellung der Juden im neuen deutschen Staat",16 einer höchst problematischen Ansammlung übernommener antisemitischer Vorurteile und Argumente. Sie lassen kaum einen Zweifel daran, daß in dieser Situation höchster Gefahr, in der sich die Zionisten in ihren Warnungen eigentlich bestätigt fühlen mußten, auch sie sich in ihrer Einstellung zu Deutschland von weiten Teilen des Judentums nicht unterschieden, auch sie wollten und konnten entweder die Gefahr in Deutschland nicht sehen oder zumindest nicht offen aussprechen. Die Erste Alija war für die deutschen Juden kein Anlaß, sich in besonderer Weise in Palästina zu engagieren, aber dies ist aus ihrer Position heraus nur zu verständlich, sie konnten die Gefahren nicht erkennen, die ihnen von Deutschland drohten, niemand konnte aus den Zeichen eines zwar manifesten Antisemitismus, aber doch als vorübergehende Erschei-
13 Zitiert nach Yaacov Ben-Chanan, Juden und Deutsche. Der lange Weg nach Auschwitz, Kassel 1993, S. 406. 14 Vgl. hierzu auch Jacob Toury, Gab es ein Krisenbewußtsein unter den Juden während der „Guten Jahre" der Weimarer Republik, 1924-1929? in: ders., Deutschlands Stiefkinder. Ausgewählte Aufsätze zur deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte, Gerlingen 1997, S. 191-214. 15 Hans-Joachim Schoeps, Wir deutschen Juden, Berlin 1934, S. 52 u. ders., „Bereit für Deutschland!" Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus, Berlin 1970. 16 ZZA, DD-Germania 4.
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nung angesehenen Phänomens auf die Schoah schließen. Gleichzeitig verstellte sich den deutschen Juden aber auch ein realistischer Blick auf Palästina, obwohl dort die Zeichen für eine positive Entwicklung im Sinne eines Aufbaus ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deutlich waren. Aus den Anfingen der Ersten Alija auf eine Entwicklung zu schließen, die in der Gründung des Staates Israel 1948 einen ersten Abschluß finden sollte, konnte aber nicht erwartet und von den deutschen Juden auch nicht geleistet werden. Selbstverständlich gab es im deutschen Judentum heftige Diskussionen über Akkulturation und jüdische Tradition, über Assimilation und Dissimilation, über Werte und Wertloses, über jüdisches Bewußtsein und deutsches Selbstbewußtsein,17 die mit allem Nachdruck geführt wurden und häufig zu Spannungen und Spaltungen innerhalb des deutschen Judentums führten. Als Beispiel ist die Auseinandersetzung über eine Reform des Judentums zu nennen, die an den Grundfesten jüdischer Religionsauslegung zu rütteln begann und damit eine heftige Kontroverse provozierte. Die Kluft zwischen liberalen und traditionellen Juden wurde so tief, daß sich beide Gruppen das Recht absprachen, überhaupt eine halachisch akzeptable Form des Judentums zu vertreten. Diese Kluft übertrug sich auf das Judentum in der ganzen Welt und ist bis heute nicht überwunden. Was war nun aber das Resultat einer fast 20jährigen Arbeit der Chowewe Zion in Deutschland? Zunächst bleibt festzuhalten, welches große Vertrauen die Kolonisten aus Palästina in die deutschen Juden setzten, und wie engagiert sich einige Palästinafreunde ganz praktisch für diese Kolonien einsetzten. Eine vor allem in den 1880er Jahren nicht selbstverständliche Handlung, wie die Reaktionen der jüdischen Öffentlichkeit, aber auch der betroffenen Familien beweisen - „halbmeschugge" wurde Leopold Hamburger von seiner Familie genannt. Diese Arbeit für die Kolonisation erfuhr kaum Erwähnung und entsprechende Würdigung in der zionistischen Historiographie. An das vorher Gesagte über die Einstellung der deutschen Juden zu den Zionsfreunden anschließend, könnte man also auf den ersten Blick zu der Ansicht kommen, es handele sich bei der Tätigkeit der Chowewe Zion um einen zwei Dekaden währenden, letztendlich gescheiterten Versuch, die deutschen Juden von etwas zu überzeugen, was diese als anachronistisch und in höchstem Maße gefahrlich für ihre gesellschaftliche Position in Deutschland ansahen. Aber es hat sich im Laufe der Untersuchung gezeigt, daß dieses Engagement doch nicht ohne Spuren und Wir17 Vgl. hierzu z.B. Volkov, 1994, S. 47-66.
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kungen geblieben ist. Vor allem die Zionsfreunde in den 1890er Jahren gaben dabei die entscheidenden Impulse. Willy Bambus, Heinrich Loewe, Max Bodenheimer und Adolf Salvendi, um nur die wichtigsten nochmals herauszuheben, beschäftigten sich mit den Problemen, die ab 1897 den Herzl'schen Zionismus in verstärkter Form vor nur schwer zu lösende Aufgaben stellen sollten. Die Zionsfreunde in Deutschland machten sich Gedanken über die praktische Ausführung der Kolonisation, über die Gegebenheiten des Landes, die Aufnahmekapazität und vor allem die Finanzierung dieses Unternehmens. Der Verein Esra war ein erster Lösungsansatz, ein erstes faßbares Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit den zukünftigen Aufgaben eines Nationaljudentums. Das von Herzl angeregte und geförderte Bankprojekt (Jewish Colonial Trust", 1899 in London gegründet) - eine für die Finanzierung einer Kolonisation überlebensnotwendige Einrichtung - wurde von Willy Bambus schon einige Jahre vorher angedacht und in Angriff genommen, scheiterte jedoch aus nicht ganz geklärten Gründen. Für die deutschen Zionsfreunde, die sich ab 1897 zu einem großen Teil dem Herzl'schen Zionismus anschlossen, waren die praktischen Probleme des Zionismus nicht etwas Neues. Zwar waren ihnen die Ideen Herzls oft suspekt und paßten nicht in ihre Vorstellung einer ruhigen, gedeihlichen Entwicklung ohne provozierend lautes öffentliches Auftreten. Aber die Arbeit für den Zionismus, die sich nur wenig von der Tätigkeit für die Kolonisationsvereine unterschied, die Diskussionen innerhalb der Gruppe und mit den Gegnern waren ihnen tief vertraut. Man kann sagen, sie übernahmen die Diskurse über den „neuen" Zionismus. Selbst die inneijüdischen Gegner kamen zum Teil aus dem Lager der früheren Palästinafreunde, wie z.B. Willy Bambus, und trugen erheblich zu einer kontroversen, dadurch aber fruchtbaren Diskussion über das Wesen des Zionismus bei. Die Juden, die sich bis 1897 noch nicht mit nationaljüdischen Gedanken oder den Kolonisationsvereinen beschäftigt hatten, profitierten ebenfalls von dieser Vorgeschichte. Schnell stellten sie fest, daß die vermeintlich neue zionistische Bewegung in Deutschland - und selbstverständlich nicht nur hier - eine lange Tradition hatte. Wer wollte, konnte beispielsweise den von Max Bodenheimer 1899 wieder neu herausgegebenen „Klassiker" des frühen Zionismus, Moses Hess' „Rom und Jerusalem", studieren und die Parallelen zu den „modernen" zionistischen Bestrebungen feststellen. Viele Mitglieder der Kolonisationsvereine aus den 1890er Jahren waren immer noch tätig, erreichten mit dem Zionismus den Zenit ihrer Arbeit, so die politischen Zionisten David Wolffsohn, Max Bodenheimer und
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Heinrich Loewe, und gaben ihre große Erfahrung an die neuen Zionisten weiter. Nur so ist es zu erklären, daß in den ersten Jahren der Bewegung deutsche Juden eine oft so entscheidende Rolle spielten. Neben den Anhängern des politischen Zionismus, die, von der Chibbat Zion-Bewegung geprägt, Einfluß auf den deutschen Zionismus nahmen, sind als Vertreter der praktischen Richtung vor allem Arthur Ruppin und Otto Warburg zu nennen. Warburg, den sein Schwiegervater Gustav Gabriel Cohen 1894 zum Eintritt in den Esra ermunterte, versuchte dem synthetischen Zionismus Ussischkins und Weizmanns eine stärker praktisch orientierte Färbung zu geben, was ihm während seiner Präsidentschaft der Zionistischen Weltorganisation 1911-1920 auch gelang. Arthur Ruppin war die exekutive Kraft der zionistischen Organisation im ländlichen wie städtischen Siedlungswerk in Palästina. Seine Arbeit als Leiter des 1908 gegründeten Palästina-Amtes ist kaum zu überschätzen. Er gehört neben Chaim Weizmann und David Ben-Gurion in die Reihe der wichtigsten Persönlichkeiten des Zionismus im 20. Jahrhundert. Zwar war sein Zugang zum Zionismus ein ganz praktischer, nicht von idealisiertromantischen Vorstellungen geprägt, die möglicherweise einen klaren Blick für eine konsequente Planung der Kolonisation verstellt hätten. Aber ohne seinen pragmatischen Realismus, seine Risikofreudigkeit und seine Überzeugungskraft, hätte es im Jischuw wohl kaum die Fortschritte gegeben, die die Staatsgründung 1948 erst mit ermöglichten. Dazu war er ein Mann mit Weitblick für die Probleme nicht nur beim Aufbau des Jischuws. Ruppin erkannte sehr bald, daß ein Zusammenleben zwischen Arabern und Juden nur auf einer gesicherten Grundlage möglich sein würde, einer gesetzlich und moralisch verpflichtenden Grundlage. Sein Einsatz für den Brit Shalom zeigt ihn in der Rolle des Vermittlers zwischen den in den 1920er Jahren immer heftiger in Streit geratenden Völkern. Für die Palästinafreunde und die späteren Zionisten in Deutschland war die Erste Alija - und das zeigen die Zusammenfassung und die aufgeführten Beispiele noch einmal ganz deutlich - eine wichtige „Erfahrung", eine Realität, mit der man rechnen, über die man sprechen konnte. Die Erste Alija war sowohl fur den Bereich der Siedlungsbewegung in Palästina von entscheidender Bedeutung - sie erst schuf die Basis für die Masseneinwanderung des 20. Jahrhunderts und den Aufbau des Landes, der dann 1948 in der Gründung des Staates Israel mündete - als auch für die Entwicklung der modernen zionistischen Theorien in Europa, indem sie einen realen Hintergrund für die Diskussionen in den Chibbat ZionZirkeln bildete. Bei allen abgehobenen Diskussionen, bei allen mythischen Vorstellungen über ein zukünftiges Nationaljudentum am Ende des 19. Jahr-
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hunderte, im Hintergrund standen immer die am Ende dieser Periode 4.500 Siedler in den Kolonien, die zumindest im Ansatz mit der Verwirklichung der Chowewe Zion-Vorstellungen begonnen hatten. Es läßt sich nicht quantifizieren, wie viele deutsche Zionisten vor 1896 in den Chibbat Zion-Vereinen, den Kolonisationsgesellschaften und Hilfskomitees tätig gewesen sind, da die Mitgliederlisten dieser Organisationen nicht mehr existieren. Aber diese Vereine halfen mit, wenn auch unbewußt, in Deutschland eine zwar nur kleine, aber sehr engagierte Gruppe junger Palästinafreunde unmittelbar fur den modernen Zionismus vorzubereiten. Für die Kolonisation erreichten die Zionsfreunde bis 1896 - gemessen an ihren Ansprüchen - nur wenig. Für den politischen Zionismus hingegen schufen sie eine unverzichtbare Basis in Deutschland, die dann entscheidend daran beteiligt war, dem Zionismus zu seinen Erfolgen zu verhelfen. Hermann Schapira war 1897 noch optimistisch, die Hilfe der deutschen Juden für die Kolonisation betreffend, Theodor Herzl verlegte den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf die politische Ebene, Chaim Weizmann verhalf mit dem „synthetischen Zionismus" der Verbindung zwischen Kolonisationsbefiirwortern und den nach rechtlicher Sicherheit strebenden Kreisen zum Durchbruch, die britische Regierung versuchte über die Balfour-Deklaration 1917 und ihre Mandatsherrschaft ab 1922 das Problem in Palästina zu lösen, während gleichzeitig jüdische Einwanderer Kibbuzim aufbauten und die Städte mit neuem Leben erfüllten. Alle diese Vorgänge hatten ihren ideologischen und praktischen Anfang in der Ersten Alija, deren Bedeutung als Basis für die Entwicklung Palästinas und des jüdischen Volkes im 20. Jahrhundert noch der wissenschaftlichen Anerkennung harrt.
Verzeichnis der Quellen und Literatur
Signaturenverzeichnis des ZZA
Personenarchive
A 1 Rülf, Isaak A 3 Mandelstamm, Max A 4 Cohen, Gustav A 6 & A 9/126 Goldberg, Yitzak Leib A 8 Friedemann, Adolf A 9 Druyanow, Alter A 9/59-61 Lilienblum, Moshe Leib A 9/73-75 Levanda, Yehuda Leib A 9/76-78 Dubnow, Seev A l l Hantke, Arthur A 12 Warburg, Otto A 15 Bodenheimer, Max A 18 Sokolow, Nachum A 23 Lurie, Josef A 24 Ussischkin, Menachem A 25 Barzilai-Eisenstadt, Joshua A 26 Bernstein-Kohan, Jacob A 27 Rabinowitz, Samuel Pinchas A 28 Bambus, Willy A 31 Jofe, Hillel A 32 Meierovitz, Menashe A 34 Levontin, Salman David A 37 Fischer, Jean A 41 Marmorek, Oskar und Alexander A 43 Ben-Jehuda, Eleazar A 48 Zlocisti, Theodor A 50 Baruch, Joseph Marco A 51 Kahn, Zadoc A 56 Lichtheim, Richard A 69 Sandler, Aaron A 74 Kellner, Leon
366 A 75 Nawratzki, Curt A 76 Frank-Bambus, Elfriede A 78 Eberhard, Otto A 80 Stiassny, Wilhelm A 84 Ehrenpreis, Mordechai A 89 Loewe, Richard A 97 Natonek, Josef A 100 Bentwich, Herbert A 102 Schachtel, Hugo A 104 Trietsch, Davis A 107 Ruppin, Arthur A 109 Pines, Michael A 110 Britschgi-Schimmer, Ina A 118 Gluskin, Seev A 119 Nordau, Max A 120 Zangwill, Israel A 125 Szold, Henrietta A 126 Mozkin, Leo A 138 Gottheil, Richard A 141 Boehm, Adolf A 142 Klee, Alfred A 144 Pineles, Samuel A 146 Loewe, Heinrich A 147 Kaminka, Armand A 152 Navon, Joseph A 153 Jellin, David A 157 Tiomkin, Seev A 161 Oppenheimer, Franz A 164 Hurwitz, Amnon A 188 Birnbaum, Nathan A 192 Idelovitch, David A 196 Schallt, Isidor A 198 Herlitz, Georg A 200 Jellin, Joshua A 202 Granott (Granovsky), Abraham A 203 Gaster, Moses A 208 Eisenberg, Aaron A 216 Lewin-Epstein, Eliahu Seev A 220 Cohen, Maurice J. A 222 Blumenfeld, Kurt
Verzeichnis der Quellen und Literatur
Verzeichnis der Quellen und Literatur
A 238 ChankinJoshua A 242 Chissin, Chaim A 248 Tolkowsky, Samuel A 394 Weitz, Naphtali A 398 Beer-Hofinann, Richard A 408 Meyerson, Emile J 15/7245-7247 Scheid, Eli Κ 11/8 Hildesheimer, Asriel Κ 11/9 Hechler, William Κ 11/30 Schapira, Zwi Hermann Κ 11/36 Erlanger, Michel Κ 11/53 Frumkin, Arieh Leib Κ 11/54 Moses, Moses Κ 11/98 Kokesch, Oser Κ 11/186 Schwarz, Salomon Κ 11/237 Baratz, Josef Κ 11/287 Hausdorp Selig Κ 11/294 Stampferjoshua Κ 11/346 Brainin, Ruben Η Herzl, Theodor W Wolffsohn, David
Organisationen
A 2 Chovevei Zion England A 231 Kartell Jüdischer Verbindungen A 368 Kadimah F 1 Zionistische Organisation in Osterreich F 2 Zionistische Organisation in Bulgarien F 4 Zionistische Organisation in Deutschland F 7 Zionistische Organisation in Rußland F 9 Zionistische Organisation in Rumänien J 15 Palestine Jewish Colonization Association (PICA) J 31 Dokumente über die Geschichte der Juden in Safed
367
368 J J J J
Verzeichnis der Quellen und Literatur
32 Aufzeichnungen der Kolelim in Palästina 33 Dokumente über die Geschichte der Juden in Palästina 41 Mikweh Israel 53 Die AIU-Schule in Safed
J 97 Bnei Brith-Logen in Jerusalem, Sichron Jakow, Tel Aviv Ζ 1 Zionistisches Zentralbüro, Wien Gedrucktes Material DD Germania DD Chibbat Zion DD Kongresse Iff
Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek Givat Ram/Israel V 951/17 Frumkin, Arieh Leib
Zeitschriften Altneuland, Berlin (1904-1911) Chovevei Zion Quarterly, London Das einige Israel, Pest (1872) Der Colonist, Kattowitz (1882-1884) Der Israelii, Mainz (1860-1938) Der Jude, Berlin (1916-1924) Die Welt, Wien (1897-1914) Jewish Chronicle, London (seit 1841) Jüdische Rundschau, Berlin (1902-1938) Mittheilungen und Nachrichten des Deutschen Palästina-Vereins Palästina, Berlin (1902-1911) Serubabel, Berlin (1886-1888) Spendenverzeichnisse (1877-1914) Zion, Berlin (1895-1900)
Verzeichnis der Quellen und Literatur
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Verzeichnis der Quellen und Literatur
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00
α> Ό £ Ruven Lehrer Rothschild und Rushany-Juden
1 Familie >100 Personen
Dez. 1882
1882/83
Nov. 1883
Samaria
Judäa
[judäa
Sichron Jakow
Wadi Chanin
Ekron
3
>
Getreide, später Oliven und Mandeln
Wein
Wein
ab 1883 Rothschild (A) verschiedene Kreditgeber Rothschild (A)
1070
TH CS ο m
2000
ο 00 vO
Zentralkomitee Rumän. Sied. Ges.
ab 1883 Rothschild (A)
Rumänische Sied Wein, später 1400 lungsgesellschaft Acker u. Pflanzung
25-36 Familien ?
Ende Sommer 1882
Galiläa
Rosch Pina
ab 1882 Rothschild (A)
Wein Russische Sied lungsgesellschaft
22 Familien
Jerusalemer und Wein Bialystoker Juden
Unterstützer
Ab 1887 Rothschild und Chibbat Zion
July 1882
Rischon leZion
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Einwohner
802?
1882 2. Versuch
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in CS CO
1385
1337,5
vO in CS
Getreide
ο — ι1
12 Siedler
Hauptfrucht Hektar
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Jerusalemer Juden
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337,5