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German Pages 498 [500] Year 2007
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH N e u e Folge, b e g r ü n d e t v o n H e r m a n n K u n i s c h
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. K L A U S R I D D E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R
ACHTUNDVIERZIGSTER
BAND
2007
Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-
gegeben von Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz, Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, ErnstAbbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen und Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt. Redaktionsanschrift:
Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion: Dr. Jutta Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von
etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES
JAHRBUCH
ACHTUNDVIERZIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH
I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N V O L K E R KAPP, K U R T M Ü L L E R , KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER
ACHTUNDVIERZIGSTER BAND
2007
D U N C K E R
&
H U M B L O T
- B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-12531-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
INHALT
AUFSÄTZE Christiane Ackermann (Tübingen), Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den Armen Heinrich Hartmanns von Aue)
9
Martin Przybilski (Trier), Körper als Texte? Einige Überlegungen zur gender-Debatte am Beispiel von Wittenwilers Ring
45
Dorothea Scholl (Kiel), Das Mittelalter zwischen >Recycling< und neuem Wissen: Tristans alte und neue Geschichte
69
Roland Weidle (Hamburg), Formen der Selbstwahrnehmung und die Veränderung der Tragödie: Titus Andronicus und King Lear
109
Angel San Miguel (Würzburg), Los Sucesos de un dominico contados por un descen129 diente de judíos conversos Volker Kapp (Kiel), La rhétorique des rituels politiques et religieux dans La Cour sainte de Nicolas Caussin
151
Francis Assaf (Athens, Georgia), Dystopie, désir, discours dans L'Orphelin de Préfontaine
181
infortuné ,
Thorsten Valk (Freiburg i. Br.), Ästhetische Bildung als politische Propädeutik? Goethes Unterhaltungen als kritische Replik auf Schillers //orerc-Ankündigung
189
Bernhard Greiner (Tübingen), Der Gedanke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. Natur und Theater: Goethes Wilhelm Meister
215
Thomas Stauder (Erlangen), Z u m Wandel der Geschlechterrelationen in der französischen Romantik
247
Marius Reiser (Mainz), Die Himmelfahrt der morschen Trümmer: Schuld und Heilung i m Geistlichen Jahr der Droste
269
Peter J. Brenner (Köln), »Catholica non leguntur«: Die Literatur i m Spannungsverhältnis von Kirche und Wirklichkeit i m frühen 20. Jahrhundert
287
Katrin Graf (Taunusstein), Das Jekyll-und-Hyde-Motiv i m Spätwerk Thomas Manns - Eine quellenkritische und interpretatorische Untersuchung
319
Inhalt
6
Kurt Müller (Jena), A n t o n i n Artauds >Theater der Grausamkeit< und das neuere amerikanische Drama
353
Thomas Pittrof (Eichstätt), Literarischer Katholizismus als Forschungsaufgabe: U m risse eines Forschungsprogramms
373
Frédéric Gugelot, Fabrice Preyat, Cécile Vanderpelen-Diagre (Brüssel), La croix et la bannière: L'écrivain catholique en francophonie ( X V I I e - X X I e siècles): Premier état d'un projet de recherches internationales 395
BUCHBESPRECHUNGEN Historisches Wörterbuch Volker Kapp)
der Rhetorik,
hg. Gert Ueding, Band 7, Pos-Rhet
(von 403
Gert Ueding (Hg.), Rhetorik. Begriff - Geschichte - Internationalité F. Plett)
(von Heinrich 406
Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters (von Anette Gerok-Reiter)
408
Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext: Kulturwissenschaftliche Perspektiven (von Ines Heiser)
413
Fortunatus im Unglück, von Edward de Vere, Earl of Oxford: Die Aventiuren des Master F.I. (von Jürgen Meyer) 417 William Shakespeare, Hamlet. Übersetzt mit Anmerkungen von Norbert Greiner; Einleitung und Kommentar von Wolf gang G. Müller (von Holger Klein) Christa Jansohn (Hg.), In the Footsteps of William Müller)
Shakespeare (von Wolfgang
423
G. 433
Écrivains de théâtre 1600-1649. Documents réunis et présentés par Alan Howe à partir des analyses de Madeleine Jürgens (von Volker Kapp)
437
Ralph Dekoninck , Ad Imaginem. Statuts , fonctions et usages de l'image dans la littérature spirituelle jésuite du XVII e siècle (von François Trémolières)
439
Monika Simon , Fénelon platonicien ? Etude historique , philosophique (von François Trémolières)
et littéraire
Henri Bremond , Histoire littéraire du sentiment religieux en France. Depuis la fin des guerres de la religion jusqu'à nos jours (von Béatrice Jakobs) Louis Van Delft , Les spectateurs de la vie. Généalogie du regard moraliste (von Béatrice Jakobs)
443
446
449
Inhalt Wolfgang Drost, Marie-Hélène Leinen) Gerhart Hoffmeister,
Girard
(Hg.), Gautier
et l'Allemagne
(von Frank 453
Heine in der Romania (von Rita Unfer Lukoschik)
457
Konrad Ehrlich (Hg.), Fontane und die Fremde, Fontane und Europa (von Rita Unfer Lukoschik)
460
Anne-Julia Zwierlein (Hg.), Unmapped Countries. Biological Visions in NineteenthCentury Literature and Culture (von Alexandra Lembert)
462
Jacqueline Andall, Derek Duncan (Hgg.), Italian (von Christine Zwinger)
466
Colonialism:
Legacy and Memory,
Georges Bernanos , Das sanfte Erbarmen. Briefe des Dichters. Geleitwort Béguin. Die Geduld der Armen. Neue Briefe (von Volker Kapp)
von Albert
Horst-Jürgen Gerigk, Staat und Revolution im russischen Roman des 20. Jahrhunderts. Eine historische undpoetologische Studie (von Ulrich Steltner)
469
470
Ltalo Michele Battafarano, DelVarte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Garzoni, Campanella, Marino, Belli: Analisi delle traduzioni tedesche dall'eta barocca fino a Stefan George (von Volker Kapp)
475
Heinz Hillmann und Peter Hühn (Hgg.), Europäische Lyrik seit der Antike. 14 Vorlesungen (von Wolfgang G. Müller)
478
Helen Vendler, Invisible Listeners: Lyric Intimacy bery (von Frank J. Kearful)
483
in Herbert,
Whitman, and Ash-
Ina Schabert, Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts: Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung (von Adolf Barth)
486
Frank Baasner (Hg.), Gérer la diversité culturelle: Théorie et pratique de la communication interculturelle en contexte franco-allemand (von Christine Zwinger) 491 Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)
495
Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den Armen Heinrich Hartmanns von Aue) Von Christiane
Ackermann
Der Eindruck, daß die höfische Liebe überholt sei, längst überlagert von modernen Verhaltensweisen, ist naheliegend, er 'macht uns aber blind für die Tatsache, daß die Logik der höfischen Liebe noch immer die Parameter definiert, innerhalb derer die beiden Geschlechter zueinander in Beziehung stehen.
Slavoj Zizek 1
I. Mittelalterliche L i t e r a t u r u n d psychoanalytische Literaturinterpretation ein gespanntes Verhältnis Die Mediävistik hat in den vergangenen Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass eine produktive Rezeption der Psychoanalyse zum Verständnis mittelalterlicher Literatur beitragen kann. Die Interessensschwerpunkte der Untersuchungen, die psychoanalytische Konzepte aufgreifen, aber auch ihr Methodenverständnis sind zum Teil recht verschieden. Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die Psychoanalyse selbst unterschiedliche Ansätze hervorgebracht hat. Stellvertretend sei hier nur verwiesen auf die Abspaltung Carl Gustav Jungs von der Lehre Sigmund Freuds und die Neudimensionierung der Wiener Schule durch die sogenannten (Post-)Strukturalisten. 2 Keinesfalls jedoch ist die Psychoanalyse als eine vollkommen heterogene Lehre zu verstehen. Wohlgemerkt gibt es divergierende Schulen sowie Vorlieben in der Rezeption verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. So stellt die psychoanalytische Literaturwissenschaft längst einen eigenen Forschungsbereich dar, der nur wenig mit der Psychoanalyse als Therapieform zu 1
Zizek, Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Engelmann (Wien 1996), 45.
Versuche , hg. Peter
2 Der französische Kulturhistoriker Michel de Certeau bringt die Vielgestaltigkeit der Psychoanalyse überspitzt auf den Punkt: »Von Indien bis Kalifornien, von Georgia bis Argentinien ist die Psychoanalyse genauso zersplittert wie der Marxismus« [Michel de Certeau, Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse (Wien 1997), 115].
Christiane Ackermann
10
tun hat. Die mediävistische Forschung wiederum ist in ihrer Rezeption der Psychoanalyse eigene Wege (teilweise mit großer Vorsicht) gegangen, was sich aus der besonderen Problematik ihres historischen Gegenstandes ergibt. Die Beiträge der germanistischen Mediävistik schlagen insofern eine gemeinsame Richtung ein, als sie insbesondere auf Theorien Freuds zurückgreifen. Dabei ist die neuere Forschung darum bemüht, seine Überlegungen mit jüngeren literatur- oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen zu koppeln und zugleich der Historizität des literarischen Gegenstandes gerecht zu werden. 3 Drei neuere Untersuchungen, die Innovatives leisten, jedoch zugleich eine grundsätzliche Problematik bezüglich des Methodenverständnisses aufweisen, seien an dieser Stelle kurz angeführt. 4 Die Arbeiten nutzen die Psychoanalyse auch als Möglichkeit, 3 I n Frankreich und i m anglo-amerikanischen Raum hat man intensiver und - wie es scheint - selbstverständlicher psychoanalytische Denkansätze auch nach-Freudscher Provenienz für die Interpretation mittelalterlicher Literatur genutzt. Die französische Forschung verfolgt i. d. R. einen lacanianischen Ansatz. Einschlägig sind: Henri Rey-Flaud, La névrose courtoise (Paris 1983); ders., Le chevalier, l'autre et la mort: les aventures de Gauvain dans Le conte du Graal (Paris 1999); Jean-Charles Huchet, Littérature médiévale et psychoanalyse. Pour une clinique littéraire (Paris 1990); ders., Essais de clinique littéraire du texte médiéval (Orléans 1998); Charles Méla, »La reine et le Graal« (Paris 1984); stellvertretend für die romanistische Mediävistik in Deutschland sei auf Walburga H ü l k verwiesen, die die Lacansche Subjekttheorie in ihre Lektüren einfließen lässt: Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters , Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 297 (Tübingen 1999). Stellvertretend für die angloamerikanische Forschung sei verwiesen auf: L. O . Aranye Fradenburg, Sacrifice Your Love: Psychoanalysis , Historicism , Chaucer (Minneapolis 2002); Sarah Kay, Courtly Contradictions. The Emergence of the Literary Object in the Twelfth Century (Stanford 2001); Cynthia Marshall, »Psychoanalyzing the Prepsychoanalytical Subject«, PMLA, 117/5 (2002), 1207-1216. - Forschungsübersichten finden sich bei: Wolfgang Maaz, »Psychologie und Mediävistik. Geschichte und Tendenzen der Forschung«, in: Thomas Kornbichler (Hg.), Klio und Psyche (Pfaffenweiler 1990), 4 9 - 7 2 ; Hedwig Röckelein, »Psychohistorie und Mediävistik«, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung (Darmstadt 1999), 288-299; Friedrich Wolfzettel, »Mediävistik und Psychoanalyse. Eine Bestandsaufnahme«, in: Ernstpeter Ruhe, Rudolf Behrens (Hgg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984 (München 1985), 210-239; ders., »Der lange Weg zu einem >anderen< Chrétien. Zur Nachkriegsforschung über den >Conte du GraalHelden< in der mittelhochdeutschen Dichtung (Erec, Iwein, Tristan, Parzival). Bemerkungen aus psychoanalytischer Sicht«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik , 26.7 (1977), 3 9 - 5 7 ; ders., »Altere deutsche Literatur und Psychoanalyse«, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik -
Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie
11
literarische Figuren und ihre Handlungen psychologisch zu ergründen: Jutta Eming unternimmt eine konstruktive Zusammenschau von Emotionsforschung und Psychoanalyse und rekurriert dabei auf den Freudschen »Ödipuskomplex als Drama der Gefühle« 5 . Einleitend thematisiert sie die wiederkehrende K r i t i k an der Psychoanalyse, nämlich dass diese »psychische Universalien unterstelle« und dass, »wer sie für das Mittelalter« heranziehe, »folglich eine am bürgerlichen Individuum entwickelte Theorie auf historische Subjekte« 6 appliziere. Daher müsse man den Ansatz mit Blick auf den Gegenstand historisieren. Eming ist hier zuzustimmen, eine mediävistische Analyse k o m m t nicht umhin, die Geschichtlichkeit mittelalterlicher Texte zu berücksichtigen. D o c h w i r d es kaum gelingen, die erwähnte K r i t i k zu entkräften, wenn die Analyse auf das Gefühlsleben literarischer Figuren zielt, so als seien diese real existierende Menschen, was Eming andeutet, etwa wenn sie eine »Unterdrückung von Trieb wünschen« 7 bei Erec und Enite postuliert. I n ähnlicher Weise verfährt der Aufsatz Andrea Siebers. 8 Sie diskutiert die melancholische Disposition Lancelots und Galahots i m deutschsprachigen >Prosa-Lancelot< auf der Basis Freuds und seiner kritischen Erweiterung durch Judith Butler. Sieber zeigt auf, inwiefern Trauer und melancholisches Begehren der Figuren zur gelingenden beziehungsweise scheiternden männlichen Identitätsbildung beitragen. Auch Siebers Vorgehen erscheint dort kritisierbar, w o sie die Gefühlswelt der Helden liest wie die empirischer Personen. Dies geschieht beispielsweise, wenn sie Lancelots Wandgemälde als gelungene Trauerarbeit versteht, die sich »in seiner künstlerischen Schaffensperiode« vollziehe, und wenn sie erklärt, er erreiche so eine »regenerierende Bindungsfähigkeit seines Ich« 9 . I n eine andere Richtung geht die Untersuchung von Christine Pfau. 1 0 Sie beschreibt die Funktion der Träume in Jörg Wick-
Forschungsstand und Perspektiven. Deutscher Germanistentag 1984, Passau. Teil 2 (Berl i n / N e w York 1984), 199-222; Winder McConnel, »Psychological whims - whimsical psychology? The perils and pearls of psychological interpretation of medieval German literature«, in: Albrecht Classen (Hg.), Von Otfried von Weißenburg bis zum 15. Jahrhundert. Proceedings from the 24th international congress on medieval studies, May 4-7, 1989 (Göppingen 1991), 2 3 - 3 7 ; Walter Blank, »Psychoanalytische Interpretation mittelalterlicher Texte?«, in: Johannes Cremerius, Gottfried Fischer, O r t r u d Gutjahr, Wolfram Mauser, Carl Pietzcker (Hgg.), Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten, Freiburger literaturpsychologische Gespräche 14 (Würzburg 1995), 101-125; Waltraud Fritsch-Rößler, »Kastriert, blind, sprachlos. Das (männliche) Geschlecht und der Blick in Wolframs Parzival«, in: dies. (Hg.), Frauenblicke - Männerblicke - Frauenzimmer: Studien zu Blick, Geschlecht und Raum (St. Ingbert 2002), 111 - 1 6 3 . 5 Jutta Eming, »Mediävistik und Psychoanalyse«, in: C. Stephen Jaeger, Ingrid Kasten (Hg.), Codierung von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Trends i n Medieval Philology 1 ( B e r l i n / N e w York 2003), 3 1 - 4 4 , hier: 33. 6
Eming, »Mediävistik und Psychoanalyse«, 32.
7
Eming, »Mediävistik und Psychoanalyse«, 43.
8
Vgl. Andrea Sieber, »Lancelot und Galahot - Melancholische Helden?«, in: Martin Baisch, Hendrikje Haufe, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer, Andrea Sieber (Hg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, Aventiuren 1 (Göttingen 2003), 209-232. 9
Sieber, »Lancelot und Galahot«, 220.
12
Christiane Ackermann rams Galmy und Gabriotto
und Reinhart. Pfau demonstriert überzeugend, wie in den
literarischen Träumen nicht nur eine Vorschau auf das nachfolgende narrative Geschehen gegeben, sondern zudem »ein den Text mitstrukturierender semantischer >Uberschuß< [ . . . ] abgearbeitet« 11 wird. Die Träume, so Pfau, gäben einer ansonsten aus dem Text ausgeschlossenen Körperlichkeit Raum. Problematisch wiederum ist dann Pfaus Begründung der psychoanalytischen Deutung. Sie bemerkt, dass man i m Mittelalter nicht i m psychoanalytischen Sinne Träume zu verstehen versuchte, wohingegen der moderne Leser eines Gegenwartsromans einen darin vorkommenden Traum nicht als Prospekt auf das Nachfolgende begreifen würde - eine narrative Praxis mittelalterlicher Literatur. Literarischen Träumen des 16. Jahrhunderts komme hier eine Zwischenstellung zu, dort fänden sich >beide Extreme von Deutungspraktiken 1 2 Ausgehend von dieser >Scharnierfunktion< frühneuzeitlicher Träume rechtfertigt Pfau ihr Untersuchungsinteresse. Die Argumentation ist jedoch insofern nicht ganz stimmig, als hier zwei Ebenen gleichgesetzt werden. Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen der narrativen Funktion eines Traumes i m Text und dem jeweiligen zeitgenössischen Verständnis von realen Träumen und von ihrer Deutbarkeit i m Lebenszusammenhang. Beides kann zu einer Zeit parallel existieren, literarische und empirische Welt sind zu trennen. - Die genannten Untersuchungen machen sich angreifbar, wenn sie literarische Konstruktionen und individuelle, menschliche Psyche vermengen. Es geht jedoch an der Sache vorbei, die Methode damit zu rechtfertigen, dass bereits der >vormoderne< Mensch eine Psyche besaß (wovon i m Übrigen auszugehen ist), auf die sich anhand literarischer Figuren mit Hilfe der Psychoanalyse Rückschlüsse ziehen lassen, oder dass man sich bereits i m Mittelalter für psychische Zusammenhänge interessierte. Für die Berechtigung einer psychoanalytischen Deutung ist dies nicht relevant, wenn man sie begreift als das, was sie i m Rahmen literaturwissenschaftlicher Arbeit ist, d. h. als eine Theorie des Textverstehens. D e r vorliegende
Beitrag möchte E n t w i c k l u n g e n
der
psychoanalytischen
T h e o r i e aufzeigen u n d v e r d e u t l i c h e n , dass gerade die Psychoanalyse i n d e r N a c h f o l g e Freuds i n G e w i n n b r i n g e n d e r Weise f ü r die mediävistische L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t f r u c h t b a r z u m a c h e n ist. U m M i s s v e r s t ä n d n i s s e n v o r z u b e u g e n , sei an dieser Stelle m i t N a c h d r u c k darauf h i n g e w i e s e n , dass 1. die p s y c h o a n a l y t i s c h e n T h e o r e m e h i e r i n literaturwissenschaftlicher
Perspektive
interessieren
u n d dass 2. die p s y c h o a n a l y t i s c h e F o r s c h u n g selbst das F u n k t i o n i e r e n sprachl i c h e r S t r u k t u r e n u n d die M o d a l i t ä t e n der S i n n s t i f t u n g fokussiert. Dieses I n t e resse d e r Psychoanalyse an s p r a c h l i c h e n u n d s i n n s t i f t e n d e n P h ä n o m e n e n ist keine Randerscheinung, sondern Grundlage der theoretischen Überlegungen. I n s o f e r n lassen sich die p s y c h o a n a l y t i s c h e n A n s ä t z e als Texttheorien als Auslegungsstrategien ,
die d a r a u f zielen, Z e i c h e n s y s t e m e
begreifen,
aufzuschlüsseln.
10 Vgl. Christine Pfau, »Drei Arten, von Liebe zu träumen. Zur Traumsemantik in zwei Prosaromanen Jörg Wickrams«, Zeitschrift für Germanistik , 2 (1998), 282-301. 11
Pfau, »Drei Arten, von Liebe zu träumen«, 285.
12
Vgl. Pfau, »Drei Arten, von Liebe zu träumen«, 283.
Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie
13
Die psychoanalytische Theorie fokussiert ausdrücklich auf Sprache, ihren Symbolgehalt, ihre Verwendungs- und Funktionsweise, um so Mechanismen der Sinnkonstitution zu erkennen. Das Verständnis von Sprache als Fundament des menschlichen Subjekts, der Subjektkonstitution wirft auch ein neues Licht auf die Äußerungsformen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Der Beitrag stellt zunächst kurz dar, inwiefern schon für die Psychoanalyse Freuds die Literatur relevant ist, auch wenn seine (biographische) Betrachtungsweise von Literatur vom vorliegenden semiotisch orientierten psychoanalytischen und literaturwissenschaftlichen Verständnis abweicht. Die einleitenden Bemerkungen zu Freud können jedoch die Anlage der Psychoanalyse als Kulturwissenschaft und Zeichentheorie verdeutlichen, die bis in ihre A n fänge zurück zu verfolgen ist. Dabei w i r d (ansatzweise) die Bedeutung von Literatur und Sprache für die Psychoanalyse und i m Zusammenhang damit vor allem ihre Revolutionierung des Subjektverständnisses transparent gemacht (II.). 1 3 Das Potential der psychoanalytischen Theorie als Zeichentheorie und als Verfahren des Erklärens und Verstehens von Texten soll dann in einem weiteren Schritt eine Beispielanalyse des Armen Heinrich demonstrieren. Sie zeigt, inwiefern in der Dichtung Hartmanns von Aue Strategien der Sinnstiftung mit Hilfe der Hinweise Jacques Lacans zur Funktion des >Blicks< nachvollzogen werden können und die mit diesen Strategien verbundene mehrschichtige Vernetzung der Perspektiven zu erkennen ist (III.). Die Interpretation soll veranschaulichen, dass es einer durch die Psychoanalyse sensibilisierten Textuntersuchung nicht u m Seelenlandschaften literarischer Figuren gehen muss, sondern dass sie ein Erkennen von spezifischen Strukturen und Prinzipien der Sinnstiftung innerhalb literarischer, und selbstverständlich auch historischer literarischer, Texte ermöglicht.
13 Grundlegend zum Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur ist die Doppelnummer der Yale French Studies, 55/56 (1977), als Buchpublikation herausgegeben von Shoshana Felman, Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise (Balt i m o r e / L o n d o n 1982). Darin enthalten sind zwei mediävistische Beiträge (von Charles Mêla und Roger Dragonetti).
14
Christiane Ackermann
I I . Die E n t w i c k l u n g der Psychoanalyse zur L i t e r a t u r - u n d Zeichentheorie 1. Freuds >Seitenblick< auf die Literatur und die Problematisierung des autonomen Individuums Der Dichter [ . . . ] war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft [•••]•
Sigmund Freud 1 4
Schon früh versteht sich die Psychoanalyse nicht allein als eine Therapieform, sondern sie leistet auch kulturwissenschaftliche A r b e i t . 1 5 Freud selbst erklärte, dass der Psychoanalytiker in verschiedenen Disziplinen geschult sein müsste, etwa in der »Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft. Ohne eine gute Orientierung auf diesen Gebieten steht der Analytiker einem großen Teil seines Materials verständnislos gegenüber.« 16 Gleichzeitig formulierte Freud die Hoffnung, dass das kulturwissenschaftliche Potential der Psychoanalyse umfangreicher und ertragreich von jenen Wissenschaften genutzt werden könnte, »die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.« 17 Freud hielt es für möglich, die Psychoanalyse zu einer Kulturanthropologie zu erweitern, er sah in ihr ein großes interdisziplinäres Potential. 1 8 Es scheint, als hätten sich nicht nur die Folgegenerationen von Psychoanalytikern Freuds Hoffnung zu Herzen genommen, sondern auch jene Wissenschaftler, die den Ansatz innerhalb 14 Freud, »Der Wahn und die Träume in W. Jensens >GradivaKorrespondenz< zwischen und über Poe, Lacan und Derrida versammelt der Band: John P. Muller, William J. Richardson (Hg.), The Purloined Poe. Lacan, Derrida and Psychoanalytic Reading (Baltimore / London 1988). (Kultur-)Ge schichte: Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte (Frankfurt am M a i n / N e w York 1991); ders., Theoretische Fiktionen; Michel Foucault rekurriert immer wieder auf die Psychoanalyse, vgl. beispielsweise Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen, stw 716 (15. Aufl., Frankfurt am M a i n 1983). Kulturtheorie und -semiologie: Roland Barthes, »Die strukturalistische Tätigkeit«, Kursbuch, 5 (1966), 190-196; ders., Die Lust am Text (Frankfurt am M a i n 1974); Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection (New York 1982); dies., Black Sun. Depression and Melancholia (New York 1989); dies., Fremde sind wir uns selbst, edition suhrkamp 1604 (Frankfurt am M a i n 1990); dies., Crisis of the European Subject (New York 2000). Filmtheorie: Stephen Heath, »Notes on Suture«, Screen, 18.2 (1977/78), 4 8 - 7 9 ; Christian Metz, Der Imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Film und Medien in der Diskussion 9 (Münster 2000); Jean Pierre Oudart, »Cinema and Suture«, Screen, 18.4 (1977/78), 3 5 - 4 7 ; Kaja Silverman, The Subject of Semiotics (Oxford 1983). Feministische Forschung: Hélène Cixous, Die Unendliche Zirkulation des Begehrens (Berlin 1977); Shoshana Felman, What Does a Woman Want ? Reading and Sexual Difference (Baltimore 1993); Luce Irigaray, Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts (6. Aufl., Frankfurt am M a i n 1996); dies., Das Geschlecht das nicht eins ist (Berlin 1979); Juliet Mitchell, Psychoanalysis and Feminism: Freud, Reich, Laing and Women (New York 1975); Judith Butler, Gender Trouble ( L o n d o n / N e w York 1990). 20 Eine Einführung zu Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft bietet H e n k de Berg (Tübingen / Basel 2005); Slavoj Zizek führt in das Werk Lacans anhand von Werken der Populärkultur ein und liefert zugleich lacanianische Lektüren derselben: Looking Awry. An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture (Cambridge (Massachusetts) / London 2002).
16
Christiane Ackermann
M o t i v e n s o w i e m i t d e n K ü n s t l e r n selbst befasste. 2 1 F r e u d s h i s t o r i s c h e
Bio-
graphie » E i n e K i n d h e i t s e r i n n e r u n g des L e o n a r d o da V i n c i « 2 2 legte d e n G r u n d stein der so g e n a n n t e n P s y c h o b i o g r a p h i e , die sich z u r P s y c h o h i s t o r i e 2 3 w e i t e r e n t w i c k e l t e . D i e A u s p r ä g u n g des b i o g r a p h i s c h e n Ansatzes s o l l h i e r n i c h t w e i ter v e r f o l g t w e r d e n , j e d o c h ist die p s y c h o a n a l y t i s c h e B i o g r a p h i e i m Z u s a m m e n h a n g der K r i t i k a m P o s t u l a t des I n d i v i d u u m s relevant: D i e v o n F r e u d gegründete M i t t w o c h - G e s e l l s c h a f t 2 4
d i s k u t i e r t e r e g e l m ä ß i g >Fälle< aus L i t e -
r a t u r u n d K u n s t , d a r u n t e r K l e i s t , L e n a u , L e o n a r d o da V i n c i , Jean P a u l u n d W e d e k i n d ( d e n A n a l y t i k e r n w a r dabei eine D i f f e r e n z i e r u n g v o n R e a l i t ä t u n d F i k t i o n w i c h t i g ) . D a s besondere, stetig z u n e h m e n d e , Interesse der F r e u d i a n e r galt d e n Schriftstellern. E n t s c h e i d e n d f ü r die R o l l e der Psychoanalyse i m R a h m e n d e r I n d i v i d u a l i t ä t s - u n d S u b j e k t i v i t ä t s d e b a t t e ist, dass die
spezifische
p s y c h o a n a l y t i s c h e Sicht auf die B i o g r a p h i e das P o s t u l a t des I n d i v i d u a l i s m u s h i n t e r f r a g t e . 2 5 D i e p s y c h o a n a l y t i s c h geprägte B i o g r a p h i e w i r k t als
»Selbstkritik
21 Der X . Band der Studienausgabe (vgl. A n m . 14) versammelt verschiedene Schriften Freuds zur bildenden Kunst und Literatur (u. a. zu Dostojewski, W. Jensens Gradiva, Goethes Dichtung und Wahrheit, Michelangelos Moses, Leonardo da Vinci). Die mittelalterliche Literatur spielt in den Schriften Freuds kaum eine Rolle, nichtsdestoweniger findet sie vereinzelt Erwähnung. Für eine zusammenfassende Darstellung der Verweise auf mittelalterliche Texte bei Freud sowie ihre ausführlichere Berücksichtigung durch seine Nachfolger (u. a. O t t o Rank, Theodor Reik, Ernest Jones, Alfred Adler, Carl Gustav Jung) vgl. die Darstellung bei Wolfgang Maaz, »Psychologie und Mediävistik«, 4 9 - 7 2 , insb. 5 0 - 5 4 ; vgl. auch Wolfzettel, »Mediävistik und Psychoanalyse«, 212. Z u Freuds Beschäftigung mit Kunst und Literatur vgl. weiterhin Birgit Iiiner, Psychoanalyse oder die Kunst der Wissenschaft. Freud, die erste Schülergeneration und ihr Umgang mit Literatur (Bern/ Berlin 2000); Reiner Marx, Reiner Wild, »Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Skizze einer komplizierten Beziehungsgeschichte«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 14 (1984), 53/54, 166-193, hier 169; Jack J. Spector, Freud und die Ästhetik: Psychoanalyse, Literatur und Kunst (München 1973), 7 - 1 5 5 . 22 Sigmund Freud, »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910)«, in: ders., Studienausgabe X., 87-159. 23 Wesentlichen Einfluss nahm hier die Arbeit des in Deutschland geborenen Amerikaners Erik H . Erikson über Martin Luther. Erikson betrachtet Luthers Leben entwicklungspsychologisch und deutet vor diesem Hintergrund dessen Theologie. Vgl. Erik H . Erikson, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History ( N e w York 1958). 24
Ihr gehörten neben Freud Karl Abraham, Max Eitington, Sändor Ferenczi, Ernest Jones, O t t o Rank, Hanns Sachs an. 25 Nichtsdestoweniger zeigt die Psychobiographie ein Festhalten am Renaissanceparadigma; vgl. Freud, »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«, 87-159. Kritisch zu Freuds Leonardo-Biographie: Bradley I. Collins, Leonardo, Psychoanalysis, & Art History. A Critical Study of Art Historical Approaches to Leonardo da Vinci (Evanston, Illinois 1997); Jan Philipp Reemtsma, »Forsche nicht nach, wenn die Freiheit dir lieb ist; denn mein Gesicht ist ein Kerker der Liebe. Philologische Anmerkungen zu Sigmund Freuds und K u r t Eisslers >Leonardo U n m ü n d i g k e i t < z u befreien, erscheint angesichts d e r d u r c h F r e u d n e u b e n a n n t e n D i m e n s i o n des U n b e w u s s t e n p r o b l e m a t i s c h . D i e m i t K a n t sich ausprägende F o r t s c h r i t t s e t h i k basierte auf d e m i n d i v i d u a l i s t i schen P o s t u l a t . F r e u d d r e h t »die B e s t i m m u n g e n K a n t s eine n a c h der anderen u m . I n seiner A n a l y s e erscheint der >mündige< E r w a c h s e n e d u r c h seine U n m ü n d i g k e i t b e s t i m m t : das W i s s e n d u r c h T r i e b m e c h a n i s m e n ; die F r e i h e i t d u r c h das Gesetz des U n b e w u ß t e n ; der F o r t s c h r i t t d u r c h e i n a m U r s p r u n g liegendes Ereignis.«
F r e u d m a c h t k l a r : D a s I c h ist n i c h t >Herr i m eigenen H a u s < . 2 9 D i e
k r i t i s c h e Sicht der Psychoanalyse auf die B i o g r a p h i e d e m o n t i e r t die F i g u r des I n d i v i d u a l i s m u s u n d v e r w e i s t auf i h r e n f i k t i o n a l e n C h a r a k t e r . D i e A n n a h m e eines U n b e w u s s t e n h i n t e r f r a g t
z w a n g s l ä u f i g die S u b j e k t i v i t ä t s k r i t e r i e n
Be-
w u s s t s e i n u n d I n t e n t i o n a l i t ä t , j e d o c h o h n e diese v o l l k o m m e n z u n e g i e r e n . 3 0
26
De Certeau, Theoretische Fiktionen,
108.
27
De Certeau, Theoretische Fiktionen,
123 f.
28
De Certeau, Theoretische Fiktionen,
124.
29
Vgl. Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, 11.
30 Derrida moniert die mangelnde Auseinandersetzung der Philosophie mit der psychoanalytischen Entdeckung des Unbewussten: »Und heute, i m heutigen Meinungsklima, legen die Leute nunmehr ein Verhalten an den Tag, als ob überhaupt nichts gewesen wäre, als ob die Einbeziehung des Ereignisses Psychoanalyse, einer Logik des Unbewußten und gar von »unbewußten Begriffen« nicht länger angebracht, erforderlich wäre, ja nicht länger mehr einen Platz hätte in so etwas wie einer Geschichte der Vernunft: als ob man in aller Seelenruhe den guten alten Diskurs der Aufklärung fortsetzen, auf Kant zurückgehen und uns zur ethischen oder juridischen oder politischen Verantwortung des Subjekts zurückrufen könnte, indem man die Autorität des Bewußtseins, des Ich, des reflexiven Cogito, eines »Ich denke« ohne Mühe bzw. ohne Paradoxon wiederherstellt; als ob in dieser Zeit einer philosophischen Restauration, die in der Luft liegt - denn, was an der Tagesordnung ist, an der Tagesordnung der moralischen Tagesordnung, ist eine A r t beschämender flickschusterhafter Restauration - , als ob es nur darauf ankäme, die vorausgesetzten Vernunftansprüche von allen Unebenheiten zu befreien in einem Diskurs, der rein kommunikativ, informationell und glatt sein soll; als wäre es nun endlich wieder legitim, jemanden der Obskuranz oder des Irrationalismus zu beschuldigen, der die Dinge ein wenig kompliziert, indem er sich nach dem Grund der Vernunft (la raison de la raison ), nach der
2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
18
Christiane Ackermann
L a c a n z u f o l g e geht Freuds D e n k e n m i t d e m Descartes' bis z u e i n e m gewissen G r a d e k o n f o r m , beschreitet d a n n aber r e v o l u t i o n ä r e eigene Wege m i t einer R e l a t i v i e r u n g des ich
denke:
Descartes sagt - Ich hin sicher zu denken, weil ich zweifle. [... ] Als Denken bin ich \ De penser; je suis. [ . . . ] Völlig analog dazu ist Freud, w o er zweifelt [ . . . ] - sich gewiß, daß ein Denken ist, das unbewußt ist, und das heißt, daß dieses Denken sich als ein abwesendes darstellt. A n eben diesen Platz ruft Freud [ . . . ] das ich denke, in dem sich dann das Subjekt enthüllt. [ . . . ] Hier hört die Symmetrie zwischen Freud und Descartes auf. Sie hört noch nicht auf bei jenem ersten Schritt einer i m Subjekt begründeten Gewissheit. Die Dissymmetrie zeigt sich erst darin, daß das Subjekt auf dem Feld des Unbewußten zuhause ist. U n d da Freud dies als Gewissheit ausspricht, vollzieht sich jener Schritt nach vorn, mit dem Freud die Welt verändert. 31 Es s i n d n i c h t z u l e t z t die These v o m U n b e w u s s t e n u n d d e r W i l l e , dieses i n seiner F u n k t i o n s w e i s e z u e r g r ü n d e n , die F r e u d d a z u veranlassen, seinen f o r schenden B l i c k i m m e r w i e d e r auf die L i t e r a t u r z u l e n k e n . E r f a n d i n der L i t e r a t u r v o r f o r m u l i e r t , was er i m R a h m e n seiner Psychoanalyse z u e r k l ä r e n suchte. E b e n s o w i e T r ä u m e e n t h a l t e n literarische W e r k e f ü r i h n einen manifesten G e h a l t , der aus U n t e r d r ü c k u n g u n d S u b l i m i e r u n g des u n b e w u s s t e n Begehrens res u l t i e r t . D i e D i c h t u n g a r t i k u l i e r t f ü r F r e u d W a h r h e i t e n , a u c h w e n n diese z u nächst s u b j e k t i v u n d r e - f o r m u l i e r b a r sein k ö n n e n . So gesehen ist die L i t e r a t u r Basis u n d F l u c h t p u n k t der Psychoanalyse: Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb zu ästhetischen Untersuchungen [ . . . ] . Hie und da trifft es sich doch, daß er sich für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß, und dann ist dies gewöhnlich ein [ . . . ] von der ästhetischen Fachliteratur vernachlässigtes. 32 M i t diesen W o r t e n leitet F r e u d seine b e k a n n t e A b h a n d l u n g ü b e r >Das U n heimliche< ein, eine U n t e r s u c h u n g z u E . T . A . H o f f m a n n s
»Der
D e n ersten T e i l b i l d e t eine e t y m o l o g i s c h e S k i z z e des Begriffs
Sandmann«. >unheimlichalten positivistischen Rationalismuskehrte< L a c a n (auf s p r a c h t h e o r e t i s c h e m Wege) z u F r e u d z u r ü c k . 3 5 Z e n t r a l f ü r die T h e o r i e Lacans ist die These, dass das U n b e w u s s t e w i e eine Sprache s t r u k t u r i e r t sei u n d z u d e m selbst aus d e m E i n t r i t t i n die sprachliche O r d n u n g r e s u l t i e r e . 3 6 L a c a n versteht die p s y c h o a n a l y tischen T e r m i n i >Verdichtung< u n d >Verschiebung< analog z u d e n l i n g u i s t i s c h e n B e g r i f f e n >Metapher< u n d > M e t o n y m i e < . 3 7 V o r d i e s e m H i n t e r g r u n d eröffnet sich 33 Freud bemerkt, dass »dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen.« Wichtig ist i h m die Bemerkung Schellings, »[u]nheimlich sei alles, was ein Geheimnis, i m Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.« Nach seiner Analyse des Unheimlichen in E.T.A. Hoffmanns »Der Sandmann« schlussfolgert Freud schließlich, dass der Sprachgebrauch die Natur des Unheimlichen zum Ausdruck bringe: »denn dies Unheimliche ist w i r k l i c h nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf die Verdrängung erhellt uns jetzt auch die Schellingsche Definition, das Unheimliche sei etwas, was i m Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist« (Freud, »Das Unheimliche«, 248 f.; 264). 34
De Certeau, Theoretische Fiktionen,
168.
35
Vgl. grundsätzlich Jacques Lacan, Ecrits (Paris 1966); zu Lacans psychosemiologischer Neulektüre Freuds vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Le titre de la lettre. Une lecture de Lacan (2. Aufl., Paris 2002); Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, stw 626 (3. Aufl., Frankfurt am Main 1998); Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse (2. Aufl., Frankfurt am M a i n / Berlin / Wien 2000). 36 37
Vgl. Lacan, Die vier Grundbegriffe,
26.
»Die Verdichtung [ . . . ] meint die Überbelastungsstruktur der Signifikanten, in der die Metapher ihr Feld einnimmt, wobei der Name (>Ver-dichtungDer entwendete BriefDer entwendete BriefDer entwendete Briefnur< ü b e r d e n W e g der Sprache z u e i n a n d e r k o m m e n . D e r u n h i n t e r g e h b a r e n M i t t e l b a r k e i t e n t s p r i n g t das Begehren u n d m i t i h m das S u b j e k t .
3. L e désir s'affirme c o m m e c o n d i t i o n absolue Das Begehren
als Kategorie
der
Textanalyse
S c h o n f ü r F r e u d ist das B e g e h r e n e i n w i c h t i g e r A s p e k t i m R a h m e n der Subj e k t w e r d u n g , b e i L a c a n w i r d es z u r z e n t r a l e n K a t e g o r i e seiner s e m i o t i s c h gew e n d e t e n Psychoanalyse. V o n Interesse ist dieser A s p e k t gerade auch f ü r die M e d i ä v i s t i k , d e n n d u r c h a u s b e d e n k e n s w e r t erscheint Lacans H i n w e i s , dass die höfische L i e b e e x e m p l a r i s c h das f ü r das S u b j e k t ( w i e L a c a n es begreift, das h e i ß t w e s e n t l i c h d u r c h Sprache d e t e r m i n i e r t ) s y m p t o m a t i s c h e Begehren a r t i k u l i e r e . 4 6 Sie setze e i n O b j e k t i n Szene, das d a z u diene, ein stabiles Selbst z u k o n s t i t u i e r e n . D i e höfische L i e b e v e r d e u t l i c h t L a c a n z u f o l g e die L o g i k der der Individualität sei i m 14. und 15. Jahrhundert zu suchen und markiere den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit. Annette Gerok-Reiter erinnert an die Prägung Burckhardts »durch das Gedankengut der Aufklärung, des deutschen Idealismus, des Geniekults Nietzsches« [Annette Gerok-Reiter, Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Bibliotheca Germanica Band 51 (Tübingen 2006), 24]. Die These vom Beginn des autonomen, mit sich selbst identischen Individuums und einer damit anbrechenden Neuzeit beurteilt Walter Haug als >Gründungslegendezu sehen< ist v e r b u n d e n m i t d e m m e n s c h l i c h e n W i l l e n z u m u n d d e m Verlangen nach Sinn, d e m H e r s t e l l e n v o n Sinn. Es besteht also ein Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n der K o n s t i t u t i o n v o n Perspektiven u n d v o n Signifikanz. D i e se V e r b i n d u n g v e r s p r i c h t d e m n a c h Aufschluss ü b e r die F u n k t i o n s w e i s e der E r z ä h l e r i n s z e n i e r u n g i n H a r t m a n n s W e r k , i n d e m eine f ü r die m i t t e l h o c h d e u t s c h e L i t e r a t u r neue E r z ä h l s t i m m e l a u t w i r d . D e r E r z ä h l e r H a r t m a n n 6 4 n e n n t sich selbst als derjenige, der die Geschichte f ü r sein P u b l i k u m a u s w ä h l t u n d deutet: Ein ritter so geleret was daz er an den buochen las swaz er dar an gescbriben vant; der was Hartman genant, dienstman was er ze Ouwe. er nam im manige schouwe an mislichen buochen dar an begunde er suochen ob er iht des vunde y da mite er swaere stunde möhte senfter machen (V. 1 - 1 1 ; Hervorhebung: C. A.) Main 2004). Sarah Kay hat das M o t i v der blutenden Wunden i m >Yvain< Chretiens de Troyes einer lacanianischen Analyse unterzogen. Sie weist darauf hin, dass »while those w h o can see appear blind [ . . . ] , the only one actually to >see< Yvain is the corpse, whose wound turns out to be a >seeing eyeBlicks< in den Roman als ganzen findet nicht statt. Dies stünde noch aus, u m ihn als Element der Bedeutungsstrukturierung und -konstitution i m Textganzen erfassen zu können. 63 64
Culler, Literaturtheorie.
Eine kurze Einführung
(Stuttgart 2002), 165.
Wenn i m Folgenden von Hartmann und seinem Publikum die Rede ist, dann meint dies keine empirischen Personen, sondern den Erzähler und die Darstellung seiner selbst sowie das i m Text implizierte, fiktive, Publikum.
30
Christiane Ackermann G l e i c h z u B e g i n n lässt H a r t m a n n das B i l d eines E r z ä h l e r s , ja A u t o r s 6 5 , als i n
B ü c h e r n v e r s u n k e n e n dienstman
entstehen, dessen B l i c k ( m a n i g e
schouwe)
zahlreiche S c h r i f t e n d u r c h f o r s c h t , Seite u m Seite j e n e m S t o f f n a c h s p ü r t , d e r seinem P u b l i k u m gefällig ist, bis sich sein A u g e n m e r k s c h l i e ß l i c h auf j e n e n Gegenstand r i c h t e t , d e n er f ü r seine H ö r e r b e z i e h u n g s w e i s e Leser ausgestalten k a n n . H a r t m a n n 6 6 p o s i t i o n i e r t sich i m P r o l o g als d e r j e n i g e , d e r das A n g e messene z u e r k e n n e n u n d f ü r sein P u b l i k u m a u s z u w ä h l e n v e r m a g . E r hat d e n B l i c k f ü r das, was so beschaffen ist, dass es gotes êren tobte / und da mite er sich möhte
/ gelieben
den liuten
(V. 1 3 - 1 5 ) . Seinem P u b l i k u m eröffnet er u n t e r -
dessen seine eigene P e r s p e k t i v e auf die n a c h f o l g e n d e G e s c h i c h t e (nu er iu diuten
/ ein rede, die er geschriben
vant;
beginnet
V. 16 f.; H e r v o r h e b u n g : C . A . ) ,
die i h m selbst das F o r t l e b e n i n der E r i n n e r u n g der R e z i p i e n t e n 6 7 u n d d a m i t seine I d e n t i t ä t als diutœre der rede sichert: dar umbe hat er sich genant, daz er sîner arbeit die er dar an hat geleit iht âne lôn belîbe, und swer nach sînem lîbe
65
Gemeint ist die Autor-Rolle, in die sich der Erzähler zumindest ansatzweise begibt. Ein voll ausgeprägtes Autorbewusstsein lässt sich für den Prolog des Armen Heinrich noch nicht konstatieren. Z u m A u t o r bei Hartmann vgl. Hedda Ragotzky, »saelde und ere und der sele heil Das Verhältnis von A u t o r und Publikum anhand der Prologe zu Hartmanns Iwein und zum Armen Heinrich, in: Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky (Hg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr Erkenntniswert, Kröners Studienbibliothek 663 (Stuttgart 1992), 3 3 - 5 4 . Zur A u t o r - / Erzählerproblematik im Mittelalter sowie zur Begrifflichkeit vgl. Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon, Peter Strohschneider (Hg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. K o l loquium Meißen 1995 (Tübingen 1998); Sebastian Coxon, The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220-1290 (Oxford 2001); Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Klaus Ridder (Hg.), Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, Wolfram Studien 18 (Berlin 2004); Walter Haug, Burghart Wachinger (Hg.), Autorentypen, Fortuna vitrea 6 (Tübingen 1999); Christel Meier, »Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt«, in: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, N o r m und Struktur 23 ( K ö l n 2004), 207-266; Timo Reuvekamp-Felber, »Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts«, Zeitschrift für deutsche Philologie, 120 (2001), 1 - 2 3 ; Jochen Weisweiler, Zur Problematik der Begriffe Autor und Werk bei der Interpretation mittelalterlicher Texte, Edition Wissenschaft. Reihe Germanistik 2 (Marburg 1995). 66 Wenn in Bezug auf die Erzählstrategie von Hartmann die Rede ist, meint dies stets den Erzähler bzw., sofern der Sprecher sich als Dichter der Geschichte präsentiert, die A u torrolle. 67
Der Terminus bezeichnet hier (wie der des >PublikumsAußerhalb< der Geschichte >installiertSubjekten der Vorstellung< verdankt. Diese Gemeinschaftsstiftung ist Ausgangsbasis für einen kollektiven Nachvollzug der Geschichte und des Handelns des Protagonisten. 68 Errichtet der Prolog eine (imaginäre) Einheit zwischen Erzähler und Publikum und harmonisiert ihre Perspektiven, so führt die Handlung diese Harmonie fort in der Präsentation eines mustergültigen Helden. Das Identifikationsangebot des Prologes setzt sich so auf der Handlungsebene fort. Zunächst verknüpft der Terminus ritter Hartmann und Heinrich, er verweist auf eine soziale Sphäre, die beide teilen. 6 9 Sie erfährt mit Heinrich und dem präsentierten Tugendkatalog eine genauere Definition. Letzterer spiegelt das adlige Selbstverständnis. Heinrich ist Vorbild einer nach höfischer Idealität und Identität strebenden Gemeinschaft und damit für eine solche hervorragendes Objekt der Identifikation. Hartmann lässt das Portrait eines jungen Mannes entstehen, der äußerlich vollkommen und insgesamt von größter Tugendhaftigkeit ist, ein Repräsentant höfischer Gemeinschaft, der den Bedürftigen Zuflucht gewährt (V. 64), seinen Verwandten einen Schutzschild bietet (V. 65) sowie Preis und Ruhm der ganzen Welt zu gewinnen vermag (V. 72 f.). Kein Zweifel, Heinrich ist eine Integrationsfigur aller höfisch Handelnden und Denkenden. Er ist ein
68 Das Argument widerspricht nicht dem Bescheidenheitstopos der Verse 1 8 - 2 5 (vgl. Mertens, Stellenkommentar zum Armen Heinrich, 904 zu V. 18-24). Bescheidenheit kann ohne weiteres eine Intention beinhalten. Hier gehört sie zum (christlichen) Wertesystem, in das sich der Erzähler mit seinem Wunsch nach Fürbitte integriert, und ist so Teil des imaginierten Verbundes zwischen Erzähler und Publikum. 69 Damit ist nicht gesagt, dass Hartmann und Heinrich dem gleichen Stand angehören, sie teilen aber »die Verpflichtung auf ein ethisch-gesellschaftliches Ideal. [ . . . ] Das Leitbild des Ritters [ . . . ] ist nicht auf den Adel beschränkt, sondern umfaßt auch die Ministerialen [ . . . ] « (Mertens, Stellenkommentar zum Armen Heinrich, 902 zu V. 1 - 2 8 ) .
32
Christiane Ackermann
idealtypisches Bild der vreude , »die ihrerseits zur Freude der Gesellschaft in einem wechselseitigen Spiegelverhältnis steht, als Folge der Ubereinstimmung mit den gesellschaftlichen Vorgaben:« 70 er was [...] der werltvreude ein Spiegelglas (V. 61). Die Bezeichnung als spiegelglas ist bedeutsam, weil sie auf Heinrich als Bild verweist, als >Figur der Repräsentation, auf die sich der Blick der höfischen Gemeinschaft richtet und ihr in der Widerspiegelung ihrer selbst Stabilität verheißt. Die Erzählung baut also auf der einen Seite einen gemeinschaftlichen Blickpunkt auf, und auf der anderen Seite bietet sie mit Heinrich eine Projektionsfläche, in der sich die höfische Welt in einem geschlossenen Zirkel der Identifikation wieder zu finden vermag. Es gehört zum Strukturprinzip der Erzählung, dass sie nach Errichten der Projektionsfläche diese mit einem >Riss< versieht und so den Einbruch einer übergeordneten Macht effektvoll demonstriert: Die vollendete Erscheinung und mit ihr die von der Erzählung zunächst aufgebaute Sichtweise auf die so ideale Figur w i r d jäh zerstört, wenn es zur überraschenden Wende in Heinrichs Leben kommt. Der Text bricht das über den Protagonisten vermittels höfischer Werte gestiftete Identifikationsangebot auf, wenn er eine Position einführt, welche das Höfische einer höheren Gewalt unterordnet. Die Erzählung inszeniert dies als Blick, der den Gesichtskreis des Individuums übersteigt: an i m [Heinrich] wart erzeiget als ouch an Absalone, daz diu üppige kröne werltlicher süeze vellet under vüeze ab ir besten werdekeit (V. 8 4 - 8 9 ; Hervorhebung: C. A.)
Unabhängig davon, ob ein mittelalterlicher Rezipient davon ausgegangen sein mag, dass es sich u m einen göttlichen Eingriff handelt, ist zu beachten, dass der Text die Instanz, die an Heinrich die Fragilität weltlicher Existenz zeigt , zunächst nicht näher benennt. Erst ab Vers 90 bindet er die Autorität konkret zurück an überindividuelle Größen: die scbrift (V. 90), Gott (V. 115 f.), aber auch die Gesellschaft. Unter ihren Augen vollzieht sich der Fall Heinrichs, dessen Bestrafung durch Gott sich an seinem Körper in Form des Aussatzes abzeichnet. 71 I m Rahmen der Gottesstrafe spielt der Blick eine entscheidende 70 71
Mertens, Stellenkommentar zum >Armen Heinrichs 907 zu V. 6 0 - 7 4 .
Dass der Text zunächst offen lässt, ob Heinrich wie H i o b (Ijob 1 - 2 ) unschuldig oder wie Absalom (2 Sm, 18) aufgrund unangemessener Hybris ins Unglück stürzt, unterstreicht die Irritation i m Zuge des plötzlichen Einbruchs. Auch birgt schon allein der Hiob-Vergleich eine Störung in der vermeintlichen biblischen Orientierung, da der Text das traditionelle Hiob-Bild, wie es i m Mittelalter vorherrschte, variiert. Denn Heinrich erduldet nicht stoisch sein Schicksal, sondern begehrt dagegen auf [vgl. Peter Wapnewski,
Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie
33
Rolle, denn die Krankheit zieht die Blicke auf sich. Unter ihnen w i r d Heinrich zum Ausgegrenzten: do man die swaeren gotes zuht ersach an sinem libe, manne unde wibe wart er do widerzaeme. nü sehet wie genaeme er e der werke waere, er wart nü als unma^re, [...] daz in niemen gerne sach; (V. 120-127; Hervorhebung: C. A.)
Heinrich ist ein körperlich wie sozial Versehrter, dabei erscheinen im Text körperliche Erkrankung und Ausgrenzung i m gesellschaftlichen Blick parallel, was den Symbolcharakter der Krankheit unterstreicht. Es geht hier u m die Markierung des Subjekts als defizitäres, das von der Allgemeinheit als solches wahrgenommen wird. Der Blick w i r d bestimmt als einer, den man auf Heinrich richtet. Die folgenden Verse füllen das Indefinitpronomen mit der wiederum sehr allgemeinen Gruppe manne unde wibe y denen der lepröse Leib zuwider ist. Ihr Blick weist Heinrich seine neue Position in der Gesellschaft zu, und es ist entscheidend, dass hier nicht eine einzelne Person das abstoßende Aussehen des Protagonisten erklärt, sondern dass es sich u m den Blick einer relativ unbestimmten Gruppe, letztlich u m den der Gesellschaft handelt. Der Text konstruiert auf diese Weise eine allgemein gesellschaftliche Perspektive - einen »Blick, der i m Außen ist 7 2 «, um mit Lacan zu sprechen. Dieser >Blick des Außen< verortet Heinrichs Platz in Relation zum gesamtgesellschaftlichen Geflecht, 73 lässt ihn aber auch als ein Subjekt dieser Gesell»Poor Henry - Poor Job: A Contribution to the Discussion of Hartmann's von Aue socalled >Conversion to an A n t i - C o u r t l y AttitudeArmen Heinrich Hartmanns von Aue und im >Engelhard< Konrads von Würzburg und weiteren mittelhochdeutschen Gedichten. Diss. masch. Tübingen 1964, 25 f.). A u c h Tomasek stellt den stereotypen Charakter des Aussatzes i m Armen Heinrich fest, sieht hier aber eine stärkere Plastizität als noch in frühmittelhochdeutschen Legendendichtungen: »Erstmals in der Geschichte der deutschen Dichtung w i r d die Erkrankung einer Figur 3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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Christiane Ackermann
schaft erkennbar werden. Unter Beobachtung der Anderen gelangt das Subjekt zu seiner Position innerhalb der sozialen Ordnung, auch wenn diese Position hier eine (vorläufig) randständige ist. 7 4 Der Makel Heinrichs geht allerdings auch das Publikum an, weil der Text seinen Fall als exemplarischen vorführt und zu Beginn über ihn eine Identitätsgemeinschaft aufgebaut hat. Zudem hält die Erzählstruktur eine Irritation bereit. Wenn es für die Krise zunächst keine nähere Begründung gibt, dann distanziert der Text den Rezipienten von der bis dahin errichteten auktorialen Perspektive (vgl. V. 82 - 89). Unbefriedigend scheint der Verweis auf die Abhängigkeit und Vergänglichkeit allen Lebens, der kaum eine hinreichende Erklärung für die Erniedrigung Heinrichs darstellt, vielmehr dogmatisch und willkürlich wirkt. Paradigmatisch dafür stehen die Verse media vita / in morte sümus (V. 92 f.). 7 5 Der plötzliche Wechsel in das Lateinische, den traditionellen Träger der heiligen Schrift, markiert die Autorität der Aussage und der mit ihr verknüpften Perspektive. 76 Sie beinhaltet zwar ein wir (sumus) und impliziert eine überindividuelle, omnipräsente Perspektive, deren Akzeptanz und Allgemeingültigkeit sich i m pluralen Personalpronomen ausdrückt: Mitten i m Leben sind wir i m Tode. 7 7 Zugleich aber fordert der Erzähler vom Publikum, die Lage in den Mittelpunkt einer ganzen Erzählung gerückt, die innere Lage der Hauptfigur ausführlich geschildert und der gesamte Handlungsverlauf vom Umgang mit der miselsuht bestimmt« (Tomas Tomasek, »Kranke Körper in der mittelhochdeutschen Literatur. Eine Skizze zur Krankheitsmotivik«, in: Klaus Ridder, Otto Langer (Hg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999, Körper - Zeichen - Kultur/Body - Sign - Culture 11 (Berlin 2002), 97-115, hier: 100). Zum Krankheitsmotiv in der mittelalterlichen Literatur vgl. auch Saul Nathaniel Brody, The Disease of the Soul. Leprosy in Medieval Literature (Ithaka / London 1974). Zur sozialen Einbindung und Isolation von Leprösen in der mittelalterlichen Gesellschaft vgl. Bernd Ulrich Hergemöller, »>Randgruppen< im späten Mittelalter«, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters (Bochum 2000), 165-190; David Nirenberg, Communities ofViolence. Persecution of Minorities in the Middle Ages (Princeton, N.J. 1996). 74 »Dies die Funktion, mit der sich die Institution des Subjekts im Sichtbaren zuinnerst erfassen lässt. Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig« (Lacan, Die vier Grundbegriffe , 113). 75
Es handelt sich um ein Zitat der Antiphon Notkers I. Balbulus von St. Gallen. Vollständiger Text in: Franz Josef Mone, Lateinische Hymnen des Mittelalters. 3 Bde. (Freiburg 1853-1855) (Reprint 1964), »Hymnen I«, Nr. 289, 397 f. 76 Er korrespondiert zudem mit dem abrupten Einbruch im Leben Heinrichs und der vorläufigen Unbestimmtheit seiner Ursache. 77 Vgl. weiterhin: daz wir in dem töde sweben , / so wir aller beste wanen leben. /[...] / des muge wir an der kerzen sehen / [... ]/ wir sin von broeden Sachen. /[...]/ unser süeze ist gemischet / mit bitterer gallen. / unser bluome der muoz vallen/ so er aller grüenest
wanet sin (V. 95 -110; Hervorhebung: C. A.).
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Heinrichs zu betrachten. Der Imperativ sehet (V. 124) ruft die Gemeinschaft von Erzähler und Publikum auf und verringert so die Nähe zur Perspektive Heinrichs ein Stück weit, jedoch ohne sie komplett von ihm zu lösen oder ihn als Identifikationsobjekt zu verwerfen. Es sind hier demnach vor allem zwei Aspekte der überraschenden Krise relevant: 1. Die Einführung Heinrichs unter weltlichen Gesichtspunkten blendet zunächst die göttliche Sphäre aus. Die Erweiterung u m die eschatologische Dimension markiert die Begrenztheit der vorgeführten Idealität und demonstriert die eingeschränkte Sichtweise Heinrichs. 2. Die Limitierung betrifft auch das Publikum: Es ist, wie die ganze Welt, dem Gebot Gottes, seiner Sicht, unterstellt. Durch die zuvor inszenierte Vollkommenheit und Identifikationsmöglichkeit mit Heinrich erinnert die Erzählung an die begrenzte Perspektive jedes Einzelnen. Der Fall Heinrichs verdeutlicht exemplarisch einerseits eine Allgemeingültigkeit der Ereignisse, zugleich versetzt sie den Rezipienten in eine beobachtende Distanz und bew i r k t eine Entlastung von dem Eindruck, dass sich etwas seiner Wahrnehmung entzieht. Dem entspricht, dass i m Handlungsverlauf eine auktoriale gegenüber einer personalen Perspektive dominiert. So steht der Rezipient auf der Schwelle zwischen dem >Blick des Außen< und dem Subjekt der Vorstellung. Er sieht den Mangel des Subjekts, mit welchem potentiell eine Identifikation möglich ist, dies aber erst ohne weiteres geschehen kann, wenn der Makel behoben wird. Bemerkenswerter Weise spielt dann für die Tilgung des Makels wiederum der Blick eine entscheidende Rolle, und zwar als Zeichen von Autorität und Autonomie. I n der Bemächtigung des Blicks vollzieht sich die Behauptung des Individuums: Heinrich erfährt, dass er allein durch das Herzblut einer Jungfrau geheilt werden könnte (V. 231). Er zieht sich auf einen Meierhof zurück, wo ihm die Tochter des Freibauern anbietet, ihr Herzblut für ihn zu opfern (V. 921-925). Sie selbst verspricht sich davon das ewige Leben (V. 609 f.). Gemeinsam reisen die beiden nach Salerno, wo ein Arzt die >Operation< vornehmen soll. Heinrich wartet vor dem Behandlungsraum. Er kann nicht sehen, was vor sich geht. Der Held, ausgeschlossen aus der sozialen Gemeinschaft, ohne hinreichendes Vertrauen auf Gott und eine stabile Mitte, ist am Tiefpunkt seiner Existenz angelangt. Er hängt mit seinem Leben von der Bereitschaft der jungen Frau ab, ihr eigenes aufzugeben. Umso verzweifelter wirkt seine Suche nach einer Möglichkeit, einen Blick auf das Geschehen i m Behandlungszimmer zu werfen. Ohne Zugang zu dem Raum aktiver Handlung und zum passiven Warten auf den ihn rettenden Tod des Mädchens gezwungen, sucht er nach einem Spalt in der Wand. Dieses Suchen erscheint als Metapher seiner Situation, Heinrichs Suche nach Heilung, nach neuer Stabilität. Sein Blick gibt sie ihm zurück: *
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Christiane Ackermann N u begunde er suochen unde spehen, unz daz er durch die want ein loch gande vant, und ersacb si durch die schrunden nacket und gebunden. ir lip der was vil minneclich. nü sach er si an unde sich und gewan einen niuwen muot (V. 1228-1235)
Der Vergleich seines kranken mit ihrem schönen, vollkommenen Körper bewegt Heinrich zur inneren Umkehr (vgl. insb. 1234 f.). Er fordert den A r z t auf, das Mädchen am Leben zu lassen, er sei bereit, Gottes Willen zu erdulden (V. 1274-1280). Die maget ist entsetzt, doch ihr Widerstand ist zwecklos. Z u bedenken ist hier die sinn- und identitätsstiftende Dimension der >Gucklochdü hast einen tumben gedanc, daz du sunder sinen danc gerst ze lebenne einen tac wider den nieman niht enmac. [...] ich enwil des kindes tot niht sehen.< (V. 1241 -1256; Hervorhebung: C. A.) 78 Mertens spricht bezüglich der Umkehr Heinrichs von einer »Entdeckung des Selbst«, die mit Reflexion verbunden sei. Diese »benutzt vorgegebene Modelle der religiösen Conversio, ist aber weniger auf Gott als immanent auf die Annahme des von Gott verhängten Lebens und letztlich auf das Mädchen und damit auf mitmenschliche Verantwortung bezogen« (Mertens, Stellenkommentar zum >Armen Heinrichs 929, zu V. 1240). Z u m inneren und >äußeren< Wandel Heinrichs vgl. David Duckworth, The Leper and the Maiden in Hartmann's Der arme Heinrich, G A G 627 (Göppingen 1996), 9 1 - 1 0 0 ; zur Umkehr als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses Heinrichs vgl. Hartmut Freytag, »Ständisches, Theologisches, Poetologisches. Z u Hartmanns Konzeption des >Armen Heinrich«, Euphorion, 81 (1987), 240-261, hier: 254-256.
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Der Blick des Protagonisten entmachtet die Rolle der maget , während es ihm i m Blick auf den anderen Körper möglich wird, sich selbst zu erkennen, und zwar als Teil eines größeren Ordnungsgefüges. I n Folge dieser Erkenntnis befreit Gott Heinrich von der Lepra. Dessen eigentliche Erlösung aber besteht in seiner Bemächtigung des Blicks. Über das Mädchen w i r d ihm die Möglichkeit gegeben, >seinen Blick zurecht zu rückenBefreiung< fortan. 7 9 Die Szene ist Kulminations- und Wendepunkt der Erzählung. Heinrichs neue Sicht auf die Dinge macht ihn handlungsfähig und leitet ein neues, gottgefälliges, Selbstverständnis ein. Konsequenter Weise erscheinen hier der >Blick des Außen< (an den der Text den Rezipienten beispielsweise durch das erwähnte sehet zurückgebunden hatte) und die Perspektive des Protagonisten übereinander geblendet. Denn das Publikum ist an dieser Stelle nicht aufgefordert, die Misere Heinrichs zu betrachten, sondern teilt seine Perspektive, schaut mit ihm durch die Wand, auf das Mädchen. Die Erzählung bleibt der Perspektive Heinrichs verpflichtet, der sie sich unter anderem durch den Ubergang zum inneren Monolog annähert (vgl. die zitierten Verse 1241-1256). Parallel dazu wendet sich der Blick von seinem defizitären auf den vollkommenen, minneclichen Leib des Mädchens. 80 Letzteres und sein Körper werden hier nicht nur 79 Die Rolle des namenlosen Mädchens ist in der Forschung vielfach diskutiert worden. Vgl. u. a. Barbara Könneker, Hartmann von Aue: Der arme Heinrich (Frankfurt am M a i n 1987), 7 0 - 7 7 ; Marianne Wynn, »Heroine without a Name: The Unnamed G i r l in Hartmann's Story«, in: Volker Honemann, Martin H . Jones, Adrian Stevens, David Wells (Hg.), German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday (Tübingen 1994), 245-289; Hans-Jochen Schiewer, »Acht oder Zwölf: die Rolle der Meierstochter i m >Armen Heinrich< Hartmanns von Aue«, in: Matthias Meyer, H.-J. Schiewer (Hg.), Literarische Leben (Tübingen 2002), 649-667; Andrea Fiddy, The presentation of the female characters in Hartmann 's »Gregorius« and »Der arme Heinrich« (Göppingen 2004). 80 Die Deutungen der Forschung des nackten, schönen Körpers der maget gehen in verschiedene Richtungen: Eis sieht hier eine archaische Nacktheit (Gerhard Eis, »Salernitanisches und Unsalernitanisches i m >Armen Heinrich< des Hartmann von Aue«, in: H u g o Kuhn, Christoph Cormeau (Hg.), Hartmann von Aue (Darmstadt 1973), 135-150); Kartschoke versteht den Blick auf den entblößten Leib als »Akt der Fleischeslust« (Dieter Kartschoke: »Der Herr von Schwaben und das Bauernmädchen i m Armen Heinrich Hartmanns von Aue«, in: U l r i c h Müller (Hg.), Paare und Paarungen: Festschrift für Werner Wunderlich zum 60. Geburtstag , Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 420 (Stuttgart 2004), 213-218, hier: 216); Mertens sieht eine »erotische Nacktheit: religiös als Braut des himmlischen Bräutigams und irdisch, insofern Heinrich sie vil minneclich (v. 1233) findet« (Mertens, Stellenkommentar zum Armen Heinrich, 926, zu V. 1085-1089); Müller diskutiert den Aspekt der symbolischen Entjungferung [Maria E. Müller, Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts (München 1995), 282]; sexuell interpretiert Margetts
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z u m B i l d der S c h ö n h e i t u n d der L i e b e stilisiert, s o n d e r n v o r a l l e m a u c h z u m B i l d »paradiesischer I n t e g r i t ä t « 8 1 . Sie ist n u r m e h r passives O b j e k t der B e t r a c h t u n g . 8 2 D i e I d e a l i s i e r u n g des w e i b l i c h e n K ö r p e r s ist e i n g e b u n d e n i n die K o n s o l i d i e r u n g der m ä n n l i c h e n I d e n t i t ä t , i n s o f e r n die I d e a l i s i e r u n g abhängt v o m U r t e i l des Betrachters u n d v o r a l l e m i n s o f e r n es sein B l i c k ist, i n d e m sich die I n t e g r i t ä t spiegelt, die a m E n d e i n seiner V e r a n t w o r t u n g liegt. D a s M ä d c h e n ü b e r n i m m t h i n g e g e n die passive P o s i t i o n , v o n d e r sich d e r P r o t a g o n i s t ebenso befreit w i e v o n seinem eingeschränkten B l i c k u n d s c h l i e ß l i c h a u c h v o n seinem Makel. H e i n r i c h reist m i t seiner z u k ü n f t i g e n B r a u t heim G o t t erzeigt
(V. 1365) an i h m , wie liep im triuwe
erlöst i h n v o n der miselsuht
u n d machete
ze lande
und bärmde
in da zestunt
(V. 1347), u n d ist (V. 1366), er
/ reine unde wol
gesunt
(V. 1369 f.). H e i n r i c h s gottgefälliges Selbstverständnis h a r m o n i e r t n u n m i t d e m l e t z t g ü l t i g e n U r t e i l des cordis speculator
(V. 1357). Diese K o n g r u e n z der B l i c k e
m a r k i e r t die gelungene K o r r e k t u r der P e r s p e k t i v e des P r o t a g o n i s t e n u n d i n stalliert sie als r i c h t i g u n d a u t o r i t a t i v . 8 3 B e d e u t s a m ist an dieser Stelle w i e d e r u m der Z u s a m m e n h a n g v o n k r a n k e m K ö r p e r u n d B l i c k , beide s i n d K o n s t i t u e n t e n des Sinngebungsprozesses i n n e r h a l b der E r z ä h l u n g . 8 4 Sie s y m b o l i s i e r e n E i n -
(in freudianischer Perspektive) die gesamte Szene, in der das Mädchen auf dem O p e r a tionstisch liegt (John Margetts, »Observations on the Representation of Female Attractiveness i n the Works of Hartmann von Aue w i t h Special Reference to >Der Arme Heinrich«, in: Timothy McFarland, Silvia Ranawake (Hg.), Hartmann von Aue. Changing Perspectives (Göppingen 1988), 199-210). 81 Tomasek, »Kranke Körper in der mittelhochdeutschen Literatur«, 101; Ruh sieht eine paradiesische Reinheit (vgl. K u r t Ruh, »Hartmanns >Armer H e i n r i c h . Erzählmodell und theologische Implikation«, in: Kurt Ruh. Kleine Schriften I, hg. Volker Mertens (Berlin 1984), 2 3 - 3 7 , hier: 325). 82 Zur passiven Frau als Reflexionsfläche des männlichen Blicks vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (München 1994), z. B. 151 und insb. 162-207. 83 D e m entspricht die Beschreibung der Umkehr seines alten gemüete in eine niuwe güete (V. 1239 f.). Denn güete meint hier auch »das Passende, Richtige für eine Person in ihrem Stand / in ihrer Situation« (Otfrid Ehrismann, »Ehre« und »Mut«, »Aventiure« und »Minne«. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter (München 1995), 193). 84 I n Pincikowskis Erklärung des »male body in pain« w i r d ebenfalls der Zusammenhang von Krankheit und Sinnkonstitution i m Armen Heinrich deutlich (wenngleich Pincikowski an dieser Stelle primär den Handlungsverlauf beschreibt): »Heinrich reflects upon the cause of his suffering and comes to a Christian conclusion; in order to assign meaning to his pain he describes it resulting from a moral failing« (Scott E. Pincikowski, Bodies of Pain. Suffering in the Works of Hartmann von Aue, Studies in medieval history and culture 11 (New Y o r k / L o n d o n 2002), 83; Hervorhebung: C. A.). Eine Verknüpfung von Körper und Blick findet sich auch i m >Parzival< Wolframs von Eschenbach. Besonders eindrücklich lässt sie sich an der Figur des Anfortas nachvollziehen, wie Fritsch-Rößler zeigt: »Anfortas' dreistufiger Erkenntnisweg ist nämlich gebunden an einen speziellen
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und Ausschluss des Subjekts sowie die Überwindung der Todesdrohung, die der Beginn der Erzählung einführt. Sie leitet, symbolisiert durch die Erkrankung, den Bewährungsweg des Protagonisten ein, auf dem er sich als Subjekt der christlichen und höfischen Gesellschaft und i m Fokus derselben etabliert. Die Heilung vom Aussatz demonstriert die Möglichkeit, die Hinfälligkeit weltlicher Existenz zu überwinden. Dabei mündet der Weg des Helden in eine Position, die ihn selbst in die Rolle des Schauenden versetzt und seine Perspektive dem >Blick des Außenangeschautes< und w i r d immer wieder erinnert an die Existenz dieses übergeordneten Blickes. Das Subjekt, das sich im Besitz des vollen Gesichtskreises wähnt, w i r d von ihm überrascht, »insofern er alle Perspektiven und Kraftlinien [der] Welt verändert und von dem Punkt des Nichts aus ordnet, w o ich bin, in einer A r t Strahlnetz der Organismen.« 85 Die Wahrnehmung beziehungsweise Imagination des Blickes führt zu dem Verlangen, sich dem Ausgangspunkt dieses Sehens anzunähern, man könnte auch sagen, eine omnipräsente Perspektive einzunehmen. Die Position aber des >Blickes an sich< ist eigentlich »nicht zu fassen« 86 , und eben dies ist der Grund, weshalb der Mensch die Möglichkeit dessen imaginiert. Der Arme Heinrich inszeniert eine gelingende Anverwandlung des Blicks, was sich besonders deutlich zeigt in der Zusammenführung der Sichtweise des Individuums und des cordis speculator ; der hier den Blick i m Feld des »Anderen an sich< symbolisiert. Diese Zusammenbindung erfolgt parallel zur Reetablierung des Protagonisten und unterstützt sie auf der Ebene der Erzählperspektive. Dass es hierbei um die (Re-)Konstruktion männlicher Identität geht, verdeutlicht die beschriebene Funktionalisierung der maget und ihres Körpers, der so letztlich dazu »dient, eine christliche Weltordnung zu sichern.« 87 Es kommt hinzu, dass das Mädchen als aktiv agierende Person für die anschließende Hochzeit kaum mehr eine Rolle spielt, von Interesse ist viel-
(und zwar paradoxen) Umgang mit dem Sehen«; »Der kranke Körper und das verletzte Geschlecht müssen in einem an das Sehen und an die Sprache gebundenen Prozess des Verstehens als solche erkannt und geheilt werden« (Fritsch-Rößler, »Kastriert, blind, sprachlos«, 152 und 161). 85 Lacan, Die vier Grundbegriffe , 90. Zur Nähe von Lacans Konzept des Blicks und des Imaginären zu Sartres Strukturierung des Optischen vgl. Hans-Dieter Gondek, »Der Blick - zwischen Sartre und Lacan. Ein Kommentar zum V I I . Kapitel des Seminars X I « , Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, 3 7 / 3 8 (1997), 175-196. 86
Lacan, Die vier Grundbegriffe
87
Bronfen, Nur über ihre Leiche , 190.
, 90.
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mehr das Einverständnis der Verwandten und Lehnsleute, und damit wiederum die Perspektive der Allgemeinheit: Sine vriunt die besten die sine kunft westen, die riten unde giengen da si in emphiengen engegen i m w o l drie tage. si engeloupten niemens sage niuwan ir selber ougen. si kurn diu gotes tougen an sinem schoenen libe. (V. 1387-1395; Hervorhebung: C. A.)
Manifestierte sich am Beginn der Erzählung der Ausschluss des Individuums auf der Handlungsebene i m Blick der Gemeinschaft, so muss sich nun unter ihren Augen die Rehabilitierung vollziehen. Zugleich demonstriert der Schluss die neue Selbstständigkeit des Individuums, das i m Einklang mit der Gemeinschaft handelt. 88 Lehnsleute und Verwandte raten Heinrich zur Heirat (1451 — 1453; 1466 f.), die Wahl der Braut übernimmt er aber selbst, entscheidet selbsttätig, dies jedoch wiederum ist nur möglich mit dem göttlichen Einverständnis: > [ . . . ] nü rastet mir al min sin daz ich si ze wibe neme. got gebe daz es iuch gezeme, [...] bi unsers herren hulden w i l ich iuch biten alle daz ez iu w o l gevalle.< (V. 1498-1508)
Die allgemeine Zustimmung zur Eheschließung zwischen Heinrich und der maget durch arme und riche (V. 1510) demonstriert die endgültige, umfassende gesellschaftliche Akzeptanz. Parallel zur gelingenden Rehabilitierung Heinrichs wird die auch zuvor auf der Erzählebene implizierte Distanznahme zu ihm als Identifikationsobjekt aufgehoben, sein Vorbildcharakter für das Publikum und den Erzähler reinstalliert, wenn sich i m Epilog die i m Prolog angesprochene Weltüberwindung für den Protagonisten erfüllt, die allen, das heißt Erzähler und höfischer wie christlicher Gemeinschaft, zuteil werden soll: 88
Dies drückt sich nun wiederum aus in der Darstellung des Protagonisten als Betrachtenden, der das Mädchen anblickt und bewertet, sowie seiner Intention, die Perspektive von mäge und man, die mit ihm auf die maget schauen sollen, seiner anzugleichen (V. 1464): >iu ist allen wol kunt / daz ich vor kurzer stunt/ was vil ungenxme, / den liuten widerzaeme. /[...].iu ist allen wol gesaget / daz ich von dirre guoten maget / minen gesunt wider hän, / dieir hie sehet bi mir stän. /[...]< (V. 1475 -1496; Hervorhebung: C. A.).
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do besäzen si geliche daz ewige riche. also müezez uns allen ze jungest gevallen! den Ion den si da nämen, des helfe uns got! amen. (V. 1515-1520)
Das Wunschformelhafte des Epilogs betont die Relevanz der Harmonie zwischen einzelnem und Gemeinschaft und verleiht dem Text eschatologischen Sinn. Er schließt mit der gelungenen Reintegration des Helden, mit dem Einklang zwischen einzelnem und Gemeinschaft. Alles ist aufgehoben in der christlichen Weltsicht, in der die Perspektiven harmonieren. So schließt sich der Kreis zwischen Betrachter und Betrachtetem, zwischen >Blick des Außen< und dem von diesem entworfenen Bild des Subjekts der Vorstellung. Das Ende ist so zurückgebunden an den Beginn der Erzählung. Denn schon i m Prolog äußert der Erzähler die Hoffnung auf das ewige Leben, die sich zu guter Letzt erfüllt. Die Verbindung von Anfang und Ende stellt eine idealtypische Geschlossenheit inhaltlich und erzählstrukturell her. Prolog und Epilog machen deutlich, dass die Erzählung darauf angelegt ist, eine Identität (auf verschiedenen Textebenen) zu stiften, die nicht i m Tod ihr Ende findet, sondern sich harmonisch einfügt in die christliche Ewigkeitshoffnung. 8 9 Der Erzähler bettet sich und seine Dichtung darin ein. Dabei liegt die Besonderheit darin, dass er die Perspektiven so anordnet und verknüpft, dass er einen Blick des Außerhalb ausschließt beziehungsweise ihn mit rhetorischem Geschick vereinnahmt, indem er ihn symbolisiert (als den der Gesellschaft, Gottes und den der auktorialen Perspektive), in das eigene Erzählen integriert und für die Sinnund Subjektkonstitution instrumentalisiert: Der Prolog stellt den Erzähler als äußerst belesenen Ministerialen vor, der aufgrund seines umfassenden Blickes in diverse Bücher und seiner umsichtigen Stoffwahl zu Recht eine auktoriale Perspektive einnimmt. Dabei macht er den Rezipienten unter Verheißung des göttlichen Seelenheils zu seinem Komplizen, verschafft ihm gewissermaßen einen Logenplatz i m Feld des >Blickes< und damit eine Subjektposition i m Rahmen der Erzählung. Parallel erfolgt auf der Handlungsebene mit Heinrich als Repräsentant höfischer Idealität ein Identifikationsangebot. Der Text versetzt dieses schon bald durch die Mangelhaftigkeit des Subjekts der Handlung, des Bildes, das i m gemeinsamen Blick von Erzähler und Rezipienten entstan89
A u c h die Geschichte handelt davon, sie thematisiert die Anwesenheit des Leben. Daran aber, dass das Erzählen auf die Uberwindung des Todes angelegt jedoch vom T o d / d e r Todesdrohung i m Leben selbst handelt, zeigt sich auch, Sprechen darüber, das Sprechen als solches den Tod immer impliziert (ja dieser Sprechen hervorgeht, denn es bringt einen Verlust an Sein mit sich).
Todes i m ist, diese dass das aus dem
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den ist, in Irritation. Dieser Einbruch dient von Anfang an dazu, seine Aufhebung zu beobachten und die Bewährung des Subjekts (in welche die Erzählinstanz und das Publikum eingebunden sind) auf der Handlungsebene (die auch die Subjektposition des Rezipienten tangiert) in Augenschein zu nehmen. Beides gelingt in der Akzeptanz des göttlichen Willens, im Einklang der Perspektive des Subjektes mit der Gottes. Sie ist zugleich rückgekoppelt an die des Erzählers, dessen Bitte u m Seelenheil i m Prolog der Epilog anhand der Figuren symbolisch realisiert. Der Erzähler positioniert sich derart nicht nur als Teil des heilsgeschichtlichen Sinns, sondern als ihr Initiator und Vollender. Die Zusammenbindung von Pro- und Epilog ist so zu verstehen als Imagination einer Geschlossenheit beziehungsweise Ganzheitlichkeit, mit der sich der Erzähler selbst ausstattet. Er tut dies, insofern er sich als i m symbolischen System verankert vorstellt, das heißt innerhalb der sprachlichen Ordnung und innerhalb vorgegebener gesellschaftlicher, religiöser Sinnmuster. Der Weg dorthin führt über die Darstellung einer gelingenden Subjektkonstitution, die letztlich fungiert als subluminale Unterfütterung der Subjekterstellung des Erzählers selbst. Die Konstitution des Subjektes ist hier nicht auf eine Figur der Handlung beschränkt, sondern vollzieht sich in der Verflechtung von Handlungs- und Erzählerebene. Dabei verdeutlicht die Rolle des Blicks die Verbindungslinien im Geflecht, das heißt i m gegebenen Sinnsystem, als dessen integraler Bestandteil der Erzähler sich begreift, und das er sich zu nutze macht, um sich Bedeutung zuzuschreiben und sich als Sinnstifter in Szene zu setzen.
IV. Fazit Kein Buch gegen etwas, was dies auch immer sei, hat jemals Bedeutung; es zählen allein die Bücher »für« etwas Neues, und die Bücher, die es zu produzieren wissen.
Gilles Deleuze 9 0
Die obigen Ausführungen machen deutlich, was die Psychoanalyse in ihrer zeichentheoretischen und in ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Ausprägung auch sein und leisten kann. Sie trägt in diesem Falle dazu bei, die Funktion des Blickes i m Armen Heinrich herauszuarbeiten, ohne dass dabei dem Text die Theorie Lacans aufgenötigt wird. Lacans Hinweise jedoch zur Bedeutung des Blicks i m Rahmen der Bildung und der Artikulationsweise des Subjekts haben eine Zusammenschau der der Dichtung eingeschriebenen Modalitäten der Sinn- und Subjektkonstitution ermöglicht und gezeigt, in welchem Rahmen hier eine Verflechtung der Handlungs- und Erzählebene zu beachten ist. Die Subjektkonstitution ist nicht lediglich mit dem Lebensweg 90
Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus ? (Berlin 1992), 60.
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des Protagonisten gleichzusetzen, vielmehr ist Subjektivität als ein mehrschichtiges Element des Textes zu verstehen. Sie betrifft in Hartmanns Werk zunächst die Erzählerebene und sodann die Handlungsebene, auf welcher die vom Erzähler anvisierte Geschlossenheit seines Berichts und seiner Identität, die in der Ewigkeitshoffnung aufgehoben ist, widerhallt. Die Subjektkonstitution zeigt sich im Armen Heinrich in Form einer >mehrdimensionalen< Gestaltung vollkommener Identität, die erzähltechnisch als geschlossene Perspektive inszeniert wird. Die Psychoanalyse als semiotischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansatz für die Deutung mittelalterlicher Texte zu nutzen, bedeutet nicht, dass man diesen unweigerlich eine Theorie aufzwingt. Überhaupt ist die Psychoanalyse im hier vorgestellten Sinne nicht als eine zu »applizierende« Theorie zu verstehen. Denn sie ist zunächst einmal eine Form der Benennung, sie verweist auf Zusammenhänge, welche in der Literatur vorhanden sind. Sie steht der Literatur nicht als etwas Fremdes gegenüber, sondern ist eine Methode, sprachliche und literarische Strukturen zu beschreiben sowie die darin zu erkennenden - historisch variablen - Modalitäten und Formen der Sinnkonstitution zu beleuchten. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob man die Psychoanalyse für die Deutung mittelalterlicher Literatur nutzen darf. Sie stellt sich eher danach, in welcher Weise dies geschehen kann, aber auch danach, wie die Psychoanalyse selbst diesbezüglich zu verstehen ist. Wichtig hierbei sollte sein, sie nicht als eine ahistorische Methode abzutun, wiewohl sich ihre Erkenntnisse einer Kritik, die in ihnen lediglich universelle Postulate sieht, möglicherweise stellen müssen. Hierher könnte etwa die Lacan'sche These von der sprachlichen »Beschaffenheit des Subjekts gehören. Doch wer w i l l angesichts der Omnipräsenz von Sprache ihre fundamentale Relevanz für das Subjekt ernsthaft abstreiten? Trotz solch möglicher Streitpunkte ist die Psychoanalyse als Methode dazu geeignet, die Verankerung eines Textes im jeweiligen Zeitgefüge herauszuarbeiten. Weder die Psychoanalyse als Methode, die eine Berücksichtigung historischer Zusammenhänge erlaubt, noch ihre Ergebnisse sind an sich ahistorisch. Vielmehr macht sie bewusst, dass es nicht das Ziel einer historischen Textinterpretation sein muss, nach mythischen Ursprungsereignissen zu suchen, wie etwa der >Geburtsstunde< des Subjekts. Solange Menschen Literatur verfasst haben, darf man wohl davon ausgehen, dass sich darin auch Subjektivität artikuliert. Es fragt sich aber, in welcher Form und Intensität sowie mit welchen ästhetischen, erzähltechnischen Mitteln etc. dies jeweils geschieht. Die Psychoanalyse ist eine Methode, danach zu fragen und die damit in Zusammenhang stehenden Konstitutionsweisen und -bedingungen von Sinn (oder auch U n - S i n n 9 1 ) zu be-
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Z u verstehen im deleuzianischen Sinne; vgl. Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus18.
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schreiben. Sie beansprucht dabei keineswegs, letztgültige Wahrheiten zu formulieren, fordert allerdings sehr w o h l dazu auf, bestehende Wahrheiten zu hinterfragen und gegebenenfalls zu reformulieren. So verstanden ist sie Geistesund Human-Wissenschaft i m besten Sinne.
Körper als Texte? Einige Überlegungen zur gender-Debatte am Beispiel von Wittenwilers Ring Von Martin Przybilski
Der bisher erreichte Erkenntnisstand dekonstruktivistischen Denkens über die Formierung von Geschlecht und dessen körperlicher Repräsentation in unserer postmodernen Gesellschaft wurde vor kurzem von Beatriz Preciado wie folgt zusammengefaßt: Der Körper ist ein sozial konstruierter Text, ein organisches Archiv der Menschheitsgeschichte als Geschichte der sexuellen Produktion-Reproduktion, in der bestimmte Codes naturalisiert, andere ausgelassen und wieder andere systematisch ausgelöscht oder durchgestrichen werden. 1
Insbesondere der das Zitat eröffnende Hauptsatz, der in seiner apodiktischen Haltung keinerlei Widerspruch duldet, klingt für einen Textwissenschaftler überaus verlockend, noch dazu für den Vertreter einer Disziplin, die sich in den zurückliegenden Jahren intensiv mit den Konzepten »Körper« und »Geschlecht« beschäftigt hat. 2 Vor dem Hintergrund der déformation professionelle des Philologen fällt es recht leicht, Körper in der Literatur als Texte zu imaginieren und auch so zu behandeln - die realen Körper, von denen man tagtäglich umgeben ist (inklusive des eigenen), so zu verstehen, dürfte in der Praxis bereits deutlich schwerer fallen, 3 wenngleich die in den zurückliegenden Jahren zu beobachtende Tendenz der sozialen Aufwertung maschineller Einschreibetechniken in die menschliche Haut in Form von Tätowierungen durchaus eine all1 Beatriz Preciado, Kontrasexuelles Manifest (Berlin 2003), 15. Diese Streitschrift stellt meines Erachtens die radikalste Dekonstruktion sämtlicher Geschlechternormen dar, die bislang auf der Basis der theoretischen Überlegungen Judith Butlers und Donna Haraways unternommen wurde. 2 Vgl. unter den zahlreichen einschlägigen altgermanistischen Veröffentlichungen nur Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren (Hg.), Manlichiu wip, wiplich man. Zur Konstruktion der Kategorien »Körper« und »Geschlecht« in der deutschen Literatur des Mittelalters, Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9 (Berlin 1999). 3
Ähnliche Ambivalenzen löst die These aus, Kulturen als Texte zu verstehen, wie sie zum Beispiel prominent in Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft (Frankfurt am Main 1996), vorgestellt wird.
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gemein zunehmende Textualisierung der Oberflächenstruktur realer Körper nahelegt. D o c h ist diese Vorgehensweise überhaupt angemessen, also selbst dann, wenn w i r es mit textuellen, soll heißen in ihrer Materialität auf zwei D i mensionen eingeschränkten Körpern zu tun haben? Ein Interpretationsversuch anhand eines der bedeutendsten epischen Werke der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Literatur soll hier zumindest einige Klärung bringen. A n Heinrich Wittenwilers Ring 4y entstanden u m 1400 in Konstanz, scheiden sich bekanntermaßen bis heute und trotz einer intensiven Forschungsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte die ästhetischen Geister. 5 Großenteils w i r d das Werk als Negativentwurf zur Idealwelt der höfischen Literatur gedeutet, 6 wobei vor allem auf die teilweise stark herausgearbeiteten sexuellen Elemente als Differenzkriterium hingewiesen wird. Die in der Tat oft detaillierten Beschreibungen von Genitalien und sexuellen Handlungen, die als häufig mehr oder minder unterhaltsame Teile einer moralisch-didaktischen Summe angesehen werden, brachten dem Ring den Ruf platter Obszönität ein. So charakterisiert zum Beispiel Kristina Jürgens-Lochthove das Werk als »eine sich selbst genügende literarische Gestaltung des Sexuellen, die auf der Freude an Sexualität beruht und der man möglicherweise den Stimulationseffekt, der häufig mit obszönen Inhalten verbunden ist, nicht ganz absprechen kann.« 7 M i t einer solchen Bewertung steht - wenn auch unausgesprochen - der anachronistische Vorwurf der Pornographie i m Raum. Kerstin Schmitt hat zurecht darauf hin4 I m folgenden zitiert nach Heinrich Wittenwilers Ring. Nach der Meininger Handschrift hg. Edmund Wießner, Deutsche Literatur / Realistik des Spätmittelalters 3 (Darmstadt 1973); zu A u t o r und Werk vgl. Horst Brunner, »Wittenwiler, Heinrich«, in: K u r t Ruh, Burghart Wachinger (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon (2. Aufl., B e r l i n / N e w York 1999), Bd. 10,1281-1289. 5
Zur jüngeren Forschung vgl. den Uberblick bei O r t r u n Riha, »Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers Ring 1988-1998«, in: Dorothea Klein u. a. (Hgg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit. FS Horst Brunner (Wiesbaden 2000), 423-430. 6 Vgl. unter anderen Frank Fürbeth, »nutz, tagalt oder mär. Das wissensorganisierende Paradigma der philosophia practica als literarisches M i t t e l der Sinnstiftung in Heinrich Wittenwilers Ring«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 76 (2002), 497-541; Christoph Huber, »Der werlde ring und was man tuon und lassen schol. Gattungskontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen. Thomasin von Zerklaere - H u g o von Trimberg - Heinrich Wittenwiler und andere«, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Fortuna vitrea 16 (Tübingen 1999), 187-212; Hartmut Kokott, »Ordnung und Chaos. Strukturierungen i m Ring Heinrich Wittenwilers«, in: Silvia Bovenschen (Hg.), Der fremdgewordene Text. FS Helmut Brackert ( B e r l i n / N e w York 1997), 7 3 - 8 4 ; Dagmar Hirschberg, Christa Ortmann, Hedda Ragotzky, »törpel, gpauren und der weite lauf f. Z u m Problem der Bestimmung närrischer Lehre in Wittenwilers Ring«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 8 (1994/1995), 201-219. 7
Kristina Jürgens-Lochthove, Heinrich Wittenwilers Ring im Kontext hochhöfischer Epik, Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 296 (Göppingen 1980), 200.
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gewiesen, daß solche Interpretationen des Ring nur das Resultat einer Betrachtung der Handlung in deren gestalterischem Zusammenhang mit der höfischen Literatur sein können, weshalb die Forschung oft genug versuche, den Kontrast zwischen höfischer Minne, welche trotz ihres hochartifiziellen Charakters als »natürlich« dargestellt wird, und dem auf die körperlich-kreatürliche Ebene beschränkten Werben Bertschis hervorzuheben. 8 I n dieser Diskussion kommt allerdings die Frage zu kurz, ob sich Sexualität und Geschlechtsidentität i m Ring tatsächlich als etwas Natürliches oder nicht vielmehr als kulturiertes und gesellschaftlich konstruiertes Phänomen darstellen. Es ist das Verdienst Judith Butlers - das werden selbst ihre schärfsten K r i t i ker nicht leugnen wollen - aufgezeigt zu haben, daß die Geschlechterrelation »immer durch Diskurs und Machtverhältnisse konstruiert ist, wobei der Begriff Macht teilweise i m Sinne heterosexueller und phallischer Kulturkonventionen verstanden wurde« 9 . Daher kann es keine Sexualität vor, außerhalb oder jenseits solcher Machtverhältnisse geben. Dabei ergibt sich durch die Schaffung einer normativen, und dadurch naturalisierten, Heterosexualität, innerhalb derer Geschlechtsidentitäten als binär - männlich und weiblich 1 0 - dargestellt werden, eine »innere Kohärenz« 1 1 von sex (biologischem Geschlecht) und gender (Geschlechtsidentität). M i t Blick auf diese theoretischen Zusammenhänge, die mittlerweile durchaus schon kodifizierten Handbuchcharakter besitzen, 12 w i r d i m folgenden unter8 Vgl. Kerstin Schmitt, »Sexualität als Textualität. Die Inszenierung von Geschlechterdifferenz und Sexualität in Heinrich Wittenwilers Ring«, in: Alois M . Haas, Ingrid Kasten (Hgg.), Schwierige Frauen - schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters (Bern u. a. 1999), 129-152, hier 129 f. 9 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (Frankfurt am M a i n 1992), 56. Die, zum Teil vehemente, K r i t i k am Butlerschen Konzept läßt sich grob in zwei Kategorien aufteilen: entweder w i r d ihm, meines Erachtens zu Unrecht, eine völlige Ignorierung der menschlichen Leiblichkeit unterstellt - vgl. z. B. Barbara Duden, »Die Frau ohne Unterleib. Z u Judith Butlers Entkörperlichung. E i n Zeitdokument«, in: Nathalie Amstutz, Martina K u o n i (Hgg.), Theorie - Geschlecht - Fiktion, Nexus 13 (Basel / Frankfurt am M a i n 1994), 153-166 oder es wird, meines Erachtens zu Recht, auf die ungeklärte Frage seiner Historisierbarkeit hingewiesen - vgl. z. B. Isabell Lorey, Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler (Tübingen 1996). 10 Wenn i m folgenden von den Dispositiven >männlich< und >weiblich< gesprochen wird, sind damit in Anlehnung an Butler gesellschaftliche Konstrukte gemeint. 11 12
Butler, Unbehagen, 56.
Vgl. z. B. Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung (Stuttgart, Weimar 2000); Christiane Eifert u. a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel (Frankfurt am Main 1996); M y r a Jehlen, »Gender«, in: Frank Lentricchia, Thomas McLaughlin (Hg.), Critical Terms for Literary Study, (2. Aufl., Chicago / London 1995), 263-273; Hadumod Bußmann
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sucht, w i e sich m ä n n l i c h e u n d w e i b l i c h e Sexualität i n W i t t e n w i l e r s Ring
dar-
stellen u n d gegenseitig b e d i n g e n u n d w i e G e s c h l e c h t s i d e n t i t ä t e n u n d M a c h t verhältnisse i n n e r h a l b des gender-Gerüsts
k o n s t r u i e r t u n d gesellschaftlich legi-
t i m i e r t w e r d e n . Es w i r d dabei v o r r a n g i g auf die F i g u r M ä t z l i s a b g e h o b e n , 1 3 deren literarisierte sexuelle I d e n t i t ä t besonders v o r d e m H i n t e r g r u n d der l i t e rarischen T r a d i t i o n d e r a l t f r a n z ö s i s c h e n F a b l i a u x gesehen w e r d e n m u ß .
I. Das bipolare Paar B e v o r j e d o c h die P r o t a g o n i s t i n auf der l i t e r a r i s c h e n B ü h n e erscheint, f ü h r t W i t t e n w i l e r z u n ä c h s t die m ä n n l i c h e H a u p t f i g u r Triefnas: Ein junkherr
degen
säuberleich
und
stoltz
seines W e r k s ein, B e r t s c h i
(v. 63), der sich s e l b s t h e r r l i c h als
(v. 68) t i t u l i e r e n l ä s s t . 1 4 D a b e i ist d e m P u b l i k u m v o n
vornherein
klar, daß die F i g u r Bertschis i r o n i s c h g e b r o c h e n ist, z u m e i n e n d u r c h die v o r angehende C h a r a k t e r i s i e r u n g o r t vil
esler pauren
seines H e i m a t d o r f s
L a p p e n h a u s e n als
(v. 59) - e r k e n n b a r e i n W o r t s p i e l m i t edler
anderen d u r c h d e n N a m e n des P r o t a g o n i s t e n , der die
Wohn-
-, und zum
Erwartungshaltung
des P u b l i k u m s i n die gleiche R i c h t u n g l e n k t : B e r t s c h i ist i n d e r N e i d h a r t t r a d i t i o n als t o p i s c h e r V o r n a m e eines »Vertreter[s]
der älteren
Bauerngenera-
(Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften (Stuttgart 1995); Theresa Wobbe, Gesa Lindemann (Hgg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht (Frankfurt am M a i n 1994). Als Bestandsaufnahmen aus dezidiert altgermanistischer Sicht vgl. zudem Ingrid Bennewitz, »Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters«, in: Ingrid Bennewitz, Ingrid Kasten (Hgg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur.; Bamberger Studien zum Mittelalter 1 (Münster 2002), 1 - 1 0 ; Judith Klinger, »Gender-Theorien. Altere deutsche Literatur«, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten (Hgg.), Germanistische Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theorie-Konzepte (Reinbek 2002), 267 - 2 9 7 ; Birgit Kochskämper, »Die germanistische Mediävistik und das Geschlechterverhältnis«, in: Volker Honemann, Tomas Tomasek (Hgg.), Germanistische Mediävistik, Münsteraner Einführungen/Germanistik 4 (Münster 1999), 309-352; Rüdiger Schnell, »Geschlechtergeschichte, Diskursgeschichte und Literaturgeschichte«, Frühmittelalterstudien, 32 (1998), 363-387. 13 Ich werde mich i m folgenden also vorrangig mit der textuellen Konstruktion von Weiblichkeit i m Ring beschäftigen; das Blickfeld der gender studies erweitern - fort von einer auf die wie auch immer geartete Negativ- oder Differenzfolie des Weiblichen hin orientierten Beschränkung zu einer die Männlichkeitsbilder untersuchenden Vorgehensweise - die Beiträge des Sammelbands Martin Baisch u. a. (Hgg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, Aventiuren 1 (Göttingen 2003). 14 Vgl. zu dieser Szene auch Lajos Szalai, »Sam er gedraiet wär aus holtz. Volkstümliche Wendungen für Spott, Ironie und Ernst in Heinrich Wittenwilers Ring«, in: Lajos Szalai (Hg.), Der Text als Begegnungsfeld zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik, Acta germanistica Savariensia 4 (Szombathely 2000), 5 5 - 6 3 .
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t i o n « 1 5 bezeugt, 16 sein Nachname verweist ebenfalls auf das bäuerische Verhalten seines Trägers. 17 Mätzli Rüerenzumph w i r d anschließend wesentlich breiter als Bertschi dem Publikum vorgestellt (v. 75-96). Wittenwiler orientiert sich dabei am literarischen Schema des Schönheitspreises de capite ad calcem auf eine höfische vrouwe. Es fällt sogleich auf, daß die Lobrede auf ihr anmutiges Äußeres eine völlige Verkehrung des höfischen Schönheitsideals darstellt. So beschreibt sie der Erzähler beispielsweise als von adel lam und krumpf (v. 76) mit wängel rosenlecht sam äschen (v. 89). 1 8 U n d wie in Bertschis Fall besitzt auch ihr Name appellativen Charakter: Mätzli ist selbstredend zunächst einmal der Diminutiv zu Mechthild, zugleich aber auch schon die Bezeichnung für eine D i r n e ; 1 9 Rüerenzumph hingegen - und hier beginnt bereits die Konstruktion ihrer spezifischen Geschlechtsidentität durch die Einschreibung ihres Namens - deutet auf ihre primäre Funktion in einer heterosexuell normierten Beziehung voraus. Die beiden Figuren werden nun durch das männliche Begehren zusammengebracht ( w . 73 f. u. 98 -100): Bertschi ist so sehr für Mätzli in Liebe entbrannt, das er nach ir zerserten wolt (v. 102). Sein grenzenloses Verlangen nach Mätzli trägt somit deutlich sichtbare autoagressive Züge, die sich aber auch in Agressivität gegenüber seiner Umwelt, nicht zuletzt gegenüber seiner Angebeteten äußern können. U m sie zu erobern, setzt er sich in den Kopf, nach höfischem Vorbild ein Turnier für seine Minnedame zu gewinnen: Do huoh sich ein hofieren/Mit stechen und turnieren (v. 103 f.). Die folgenden Szenen der detaillierten Beschreibung des Turniers (v. 105-1227) 2 0 sind durchzogen von phallischer Symbolik: die Wappen der bäuerlichen Streiter bilden Mistgabeln (v. 113 f.),
15 Jürgen Belitz, Studien zur Parodie in Heinrich Arbeiten zur Germanistik 254 (Göppingen 1978), 80.
Wittenwilers
Ring, Göppinger
16
Vgl. dazu auch Bernhard Sowinski, »Wittenwilers Ring und die Neidharttradition«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 8 (1994/1995), 3 - 1 1 . 17 Vgl. Belitz, Studien, 7 9 - 8 1 , und Winfried Schlaffke, Heinrich Wittenweilers Komposition und Gehalt, Philologische Studien und Quellen 50 (Berlin 1969), 15 f.
Ring.
18 Da das zeitgenössische Publikum von einer Ubereinstimmung von Äußerem und Innerem ausging, kann die Beschreibung Mätzlis als eindeutiger Hinweis auf ihren »häßlichen« Charakter gelesen werden; vgl. Werner Röcke, »Das Lachen, die Schrift und die Gewalt. Zur Literarisierung didaktischen Schreibens in Wittenwilers Ring«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 8 (1994/1995), 259-282, hier 263. 19 Vgl. dazu Martin Przybilski, »Kuppelmessen. Öffentliche Heimlichkeit und die Tücke der Frauen i m Märe Frau Metze des Armen Konrad«, in: Horst Brunner (Hg.), Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters, Imagines Medii Aevi 17 (Wiesbaden 2004), 137-152, hier 150. 20 Vgl. zu diesem Abschnitt des Werks auch Günther Bärnthaler, »Homo ferox I I . Fest und Turnier i n Hartmanns Erec und Wittenwilers Ring. Literaturunterricht zum Thema Gewalt«, Informationen zur Deutschdidaktik, 25 (2001), 89-104.
4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
Martin Przybilski
50
Kirschenhaken (v. 121 f.), Rechen (v. 125) oder Eier (v. 154) ab; sie reiten auf Eseln (v. 175); ihre Lanzen sind Ofenkrücken (v. 179); durch die Heftigkeit des Kampfs w i r d der Penis Burkharts mit dem Uberbein entblößt (v. 392-398); der Pfarrer vergleicht die Schläge der strohumwundenen Kolben mit hodenschleg (v. 1152-1154). Gewalt und Sexualität werden so i m Ring deutlich ineinander verwoben. Das Turnier als ritualisierte Kriegshandlung, seine agressionsgeladene Vitalitität und phallische Metaphorik werden dem als »männlich« konstruierten Bereich zugewiesen. Durch diese phallogozentrische Szenerie und die gleichzeitige Passivität Mätzlis - bezeichnenderweise w i r d ihre Reaktion auf Bertschis Aktivitäten i m Text nicht erwähnt, es ist aber anzunehmen, daß sie dem Geschehen zusammen mit den anderen Frauen beiwohnt - werden die von Butler beschriebenen Machtverhältnisse in einem binär generierten Geschlechtersystem inszeniert. 21 Männlichkeit w i r d dabei wiederum zum normativen Ausgangspunkt für die spiegelnde Konstruktion von Weiblichkeit. Mätzli muß als geschlechtsidentitärer Gegenpart erst geschaffen, ihre Rolle i m Geschlechtersystem erst noch durch die Position des Gegengeschlechts definiert werden. 2 2 Davon zeugt ebenfalls die Tatsache, daß Mätzli sich bis zu ihrem Aufenthalt auf dem Speicher eines eigenen sexuellen Begehrens überhaupt nicht bewußt ist und sie genausowenig versteht, daß sie das Objekt des männlichen Begehrens ist. 2 3
I I . Mätzlis sexuelle Initiation Die Speicherszene (v. 1562-1617), in welcher Mätzli einen Dialog mit ihrer mutzen führt und dieser zunächst Gewalt antut, u m sie i m nächsten Augenblick zu liebkosen, wurde nach Einschätzung eines Teils der Forschung vom zeitgenössischen Publikum als i m höchsten Maße obszön empfunden. So stellt Jürgens-Lochthove den Speicheraufenthalt mit der eingehenden »Beschreibung des weiblichen Genitale« 2 4 sowie weitere Textpassagen wie die Arztszene als 21
Vgl. Butler, Unbehagen, 56.
22
Wittenwilers Konstruktion von Weiblichkeit i m Falle Mätzlis weist kontrafaktorische Parallelen zum biblischen Entstehungsbericht Evas auf (Gen. 1,27; 2,21 f.). I m Gegensatz zur Generierung von Geschlecht i m Ring w i r d Adam zunächst als androgynes Wesen erschaffen, das seine Geschlechtsbestimmtheit erst durch die Schaffung Evas als geschlechtlichen Gegenstücks erfährt; vgl. Rolf R. Mueller, Festival and Fiction in Heinrich Wittenwilers Ring. A Study of the Narrative in its Relation to the Traditional Topoi of Marriage , Folly, and Play , German Language and Literature Monographs 3 (Amsterdam 1977), 78. 23
Vgl. Schmitt, »Sexualität« 151.
24
Jürgens-Lochthove, Ring , 202.
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für spätmittelalterliche Rezipienten anstößig und mit der herrschenden Sexualmoral unvereinbar dar. Die, meines Erachtens überaus problematische, Kategorie des »Obszönen« wurde in erster Linie durch Wolf-Dieter Stempel in die Interpretation (spät)mittelalterlicher Literatur eingeführt. 25 Dementsprechend kontrastiert Jürgen Belitz die Speicherszene mit dem M o t i v der »alleinegelassenen Frau« 2 6 in der Minnelyrik, indem er auf inhaltliche Parallelen hinweist: So könnten die Verse: Mätzli sas aIlaine, / Sei schawt ier weissen paine (v. 1564 f.) direkt einem, durch Wittenwiler jedoch parodierten und in seiner Intention nachgerade verkehrten »höfischen Gedicht entnommen sein« 27 . Dabei diene die Signalfarbe Weiß nicht allein der parodistischen Anspielung auf die Hautfarbe der vrouwe des klassischen Minnelieds, sondern auch der Kontraststeigerung zur braunen Farbe der mutzen , die als etwas Schmutziges und Niederes - analog zur sozial niederen Verortung des Bauerntums - dargestellt werde. Wittenwilers Ziel sei es demnach, das triebhaft-obszöne Verhalten des Bauernmädchens durch einen intertextuellen Verweis auf das höfische Benehmen der adligen Minnedame noch stärker zu desavouieren. Meiner des Ring Sexualität den. 2 8 I n
Ansicht nach muß an dieser und anderen, ähnlich gelagerten Stellen der dezidiert alteritäre, möglicherweise auch freiere Umgang mit und deren Darstellung i m Spätmittelalter in Betracht gezogen werdiesem Zusammenhang weisen vor allem Christa Puchta-Mähl 2 9 und
25
Vgl. Wolf-Dieter Stempel, »Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem«, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (München 1968), 187-205; schon Rainer Helfenbein, Zur Auffassung der Ehe in Heinrich Wittenwilers Ring (Bochum 1976), 54, hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff der »Obszönität« eine kaum sicher historisch zu umreißende Bezugsgröße darstellt, die zudem eng mit den Moralvorstellungen des bürgerlichen Subjekts des 19. und 20. Jahrhunderts verknüpft ist; vgl. in diesem Sinne auch Wolfgang Beutin, Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance (Würzburg 1990), 103-119. Dessenungeachtet wendet ihn zum Beispiel noch Lajos Szalai, »Derbheit und Obszönität in Heinrich Wittenwilers Ring«, in: Karöly Manherz (Hg.), Gedenktagung zu Ehren von Claus Jürgen Hutterer und Karl Mollay, Budapester Beiträge zur Germanistik 38 (Budapest 2003), 169-181, völlig unkritisch als Beschreibungs- und Deutungskategorie auf den Ring an. 26
Belitz, Studien , 58.
27
Belitz, Studien , 59. I m Hintergrund steht hier selbstredend die Texttradition, die in der deutschen Lieddichtung bis zu der Dietmar von Eist zugeschriebenen Strophe Ez stuont ein vrouwe alleine ( M F 37,4) zurückreicht. 28
Vgl. in diesem Sinne auch Christa Maria Puchta-Mähl, Wan es ze ring umb uns beschafft Studien zur Narrenterminologie, zum Gattungsproblem und zur Adressatenschicht in Heinrich Wittenwilers Ring (Heidelberg 1986), 220. Damit stelle ich mich bewußt gegen die meines Erachtens zwar durchaus berechtigte, in ihrem Vorwurf der Quellenferne aber wiederum selbst zu stark nivellierende K r i t i k , die Hans Peter Duerr, »Der Mythos vom Zivilisationsprozeß«, Bd. 3: Obszönität und Gewalt (Frankfurt am M a i n 1993), an N o r bert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (Basel 1939), geübt hat. 4*
52
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Ortrun Riha 3 0 auf die Entsprechungen der Speicherszene zum schwankhaften Märe Der Rosendorn 31 hin, in welchem eine junkfrau eine Diskussion mit ihrem Genital über die wahren Gründe für die intensive Werbung der Männer um sie führt, um nach einer zeitweiligen Abspaltung von ihrem eigenen Geschlechtsteil zu der Erkenntnis seiner eigentlichen, positiven Funktion zu gelangen. 32 Auch die von Belitz in ihrer vermeintlich negativierenden Wirkung betonte Farblichkeit von Mätzlis mutzen relativiert sich durch den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Texten, ja sie w i r d nachgerade zum Teil eines Schönheitspreises: zu denken ist hier in erster Linie an das Lob der guten Fut 33, eine in zwei Fassungen überlieferte Rede aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, deren anonymer A u t o r sich in panegyrischem Ton begeistert über ain prauni fud geflezet ausläßt, wobei die äußere Bräune gleichberechtigt neben die innere Röte als besonderer Aspekt ästhetischer Vollkommenheit des gepriesenen Genitals gestellt w i r d . 3 4 Aus dem Blickwinkel literarischer Tradition verliert der Vorwurf der Obszönität also deutlich an Gewicht und läßt die Speicherepisode des Ring vielmehr i m Licht einer »Diskussion u m Geschlechteridentitäten« 35 erscheinen, wie sie auf vergleichbare Weise auch in anderen volkssprachlichen Literaturen des späteren Mittelalters geführt wird, zum Beispiel in der Gattung der altfranzösischen Fabliaux. 3 6 29
Vgl. Puchta-Mähl, Studien, 218 f.
30
Vgl. O r t r u n Riha, »Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers Ring Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, 4 (Würzburg 1990), 122.
1851-1988«,
31 »Der Rosendorn I und II«, in: Hanns Fischer (Hg.), Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, Münchener Texte und Untersuchungen 12 (München 1966), 444-461. 32
Z u m in der deutschen Literatur des späteren Mittelalters häufiger anzutreffenden, sowohl auf Penis wie Vulva angewandten M o t i v der genitalen Abspaltung vgl. Edith Wenzel, »zers und fud als literarische Helden. Z u m >Eigenleben< von Geschlechtsteilen in mittelalterlicher Literatur«, in: Claudia Benthien und Christoph W u l f (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie (Reinbek 2001), 274-293. 33 Die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift. Kommentierte Edition der deutschen Dichtungen, hg. Manfred Zimmermann, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft/ Germanistische Reihe 8 (Innsbruck 1980), 113-115; Zwölf Minnereden des Cgm 270, hg. Rosemarie Leiderer, Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 27 (Berlin 1972), 130-134; vgl. dazu auch Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung (2., durchges. und erw. Aufl. bes. von Johannes Janota, Tübingen 1983), 45 f.; Christoph Gerhardt, »Kröte und Igel in schwankhafter Literatur des Mittelalters«, Medizinhistorisches Journal, 16 (1981), 340-357, hier 351. 34 Sozusagen eine Kurzfassung des Inhalts dieser Rede, allerdings just unter Auslassung des Farbenlobs, bietet das anonyme Priamel Ein Votz wolgestalt. Codex Weimar Q 565, hg. Elisabeth Kully, Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters / Bibliotheca Germanica 25 (Bern / München 1982), 85; vgl. dazu auch Hansjürgen Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 15. Jahrhundert, Münchener Texte und Untersuchungen 74 (München 1984), 408. 35
Schmitt, »Sexualität,« 134.
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W i e bereits e r w ä h n t , ist sich M ä t z l i bis z u i h r e m A u f e n t h a l t auf d e m Speicher n i c h t d a r ü b e r b e w u ß t , daß sie Bertschis O b j e k t des Begehrens ist, w e s h a l b es a u c h z u z a h l r e i c h e n M i ß v e r s t ä n d n i s s e n z w i s c h e n d e n b e i d e n k o m m t , w i e z u m B e i s p i e l i n der K u h s t a l l s z e n e (v. 1 4 1 6 - 1 4 4 7 ) , i n w e l c h e r B e r t s c h i v e r s u c h t , sich M ä t z l i g e w a l t s a m sexuell z u n ä h e r n . 3 7 D i e m i t » u n k o n t r o l l i e r t e r G e w a l t t ä t i g k e i t « 3 8 g e k o p p e l t e sexuelle T r i e b h a f t i g k e i t f i n d e t sich a u c h i n d e r Szene, i n d e r B e r t s c h i v o r M ä t z l i s H a u s steht, i n d e n L e h m b e i ß t u n d z u m türlein
hinein
w i l l (v. 1 2 8 2 - 1 2 9 1 ) . D a b e i steht das H a u s m e t a p h o r i s c h f ü r M ä t z l i , die T ü r w i e d e r u m f ü r i h r e Vagina, i n w e l c h e B e r t s c h i m i t G e w a l t e i n z u d r i n g e n vers u c h t . 3 9 A u f d e m Speicher, auf d e n i h r Vater sie m i t d e n W o r t e n : »Des bist du alles werd. Ich bin gestochen und geschlagen I n daz maul und in den magen; Daz tach das ist zerprochen mier: Sich, daz hab ich alz von dier!« [•••]
»Da sitz und scheiss! Der ars ist dir ze dik und feiss.« ( w . 1539-1543 u. 1546 f.), einsperrt, w e i l er sie f ü r das angerichtete C h a o s v e r a n t w o r t l i c h m a c h t , setzt sich M ä t z l i m i t i h r e r mutzen
auseinander. Sie m i ß h a n d e l t diese als v e r m e i n t -
liche Verursacherin ihrer Misere u n d beginnt schließlich ein Gespräch m i t ihr: 36 Vgl. dazu Simon Gaunt, Gender and Genre in Medieval bridge Studies in French 53 (Cambridge 1995), 237 f.
French Literature,
Cam-
37 Johannes Keller, »Vorschule der Sexualität. Die Werbung Bertschis u m Mätzli in H . Wittenwilers Ring«, in: Alois M . Haas, Ingrid Kasten (Hg.), Schwierige Frauen schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters (Bern u. a. 1999), 153-174, hier 168, ist der Ansicht, daß Mätzlis Zeigen ihres entblößten Hinterteils während Bertschis Ständchen (v. 1375-1385) eine eindeutig sexuell konnotierte Handlung sei, was der These, Mätzli begreife den Grund von Bertschis Bemühungen nicht, durchaus nicht widerspreche, da die sexuelle Werbung u m Mätzli immer wieder neu inszeniert werde. 38 39
Röcke, »Lachen«, 266.
Z u dieser durchaus nicht auf den Ring beschränkten Bildhaftigkeit sexueller Aktivität vgl. auch Dorothea Klein, »Zur Metaphorik der Gewalt in der Minneburg«, in: Horst Brunner (Hg.), Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters, Imagines Medii Aevi 17 (Wiesbaden 2004), 103 - 1 1 9 . Ein besonders eindrückliches Beispiel dieser spezifischen Metaphorik - und zugleich einen deutlichen Hinweis auf ihre literarische Langlebigkeit - liefert die Eroberung der Stadt Fudanna, ein anonymer Text der Frühen Neuzeit, von einer Hand des 17. Jahrhunderts auf freie Blätter einer Sammelhandschrift des späteren 15. Jahrhunderts eingetragen: Die genannte Stadt, selbstredend Urbane Personifikation des weiblichen Genitals, w i r d von dem Fürsten Zagel belagert, in dessen Heer sich unter anderen die Herren von Standauff von Zersbach, von Hodenhaim und von Stoszdrein befinden, und schließlich eingenommen, wobei der Fürst auch selbst Jn den Kopff verwundet worden, das Jhme das hirn heraus gespritzet (Kully, Codex, 145 -147).
54
Martin Przybilski Sölich zuchen, rupfen, smutzen H u o b sich auf den rauhen fleken, Reissen, chlenken und ainzweken, Dar zuo fluochen, trewen, schelten, Das des jamers ghort man selten. Mätzel zuo der futzen sprach: [...] »Se hin! Das gib ich dier, Das man umb dich hat geben mier. Dar zuo so müess er sterben, Der nach dir w i l verderben!« ( w . 1567-1572 u. 1580-1583)
Mätzlis Autoaggression macht die personalisierte und als eigenständiges Wesen dargestellte Vagina zur stummen Dialogpartnerin, was auch durch die Verwendung des Begriffs maul deutlich wird, auf welches Mätzli immer wieder einschlägt, bis es angeschwollen ist und nicht mehr antworten kann: Der pletz der wolt geantwürt haben: / Do warend im die zend aus gschlagen (v. 1600 f.). Es handelt sich demnach nicht nur um eine sexuelle Anspielung auf das Angeschwollensein von Schamlippen und Klitoris aufgrund der Schläge, das Mätzli schließlich zu einem plötzlichen Sinneswandel führen und ihr Genital mit streichen und auch salben (v. 1590) nunmehr pfleglich behandeln läßt - sie w i r d sich durch die Masturbation auch über den (auto)erotischen Wert ihrer mutzen klar - , sondern ebenfalls um eine mit »kulturell-gesellschaftlichen Bedeutungen aufgeladen[e]« 40 Andeutung. So erscheint die personifizierte Vagina mit Mund, Haaren und Zähnen als vagina dentata 4X die dadurch, daß ihr die Zähne ausgeschlagen worden sind, nun nicht mehr zubeißen kann und für die Männer keine Gefahr mehr darstellt. A b diesem Augenblick kann Mätzli mit ihrem pazifizierten Genital Frieden schließen und dieses somit als Objekt des Begehrens Bertschis anerkennen: Der minne feur sich also mert, / Daz sei dem gesellen ward so hold / Und holder dann dem liechten gold (v. 1615-1617). Rolf Mueller interpretiert diese für Mätzli neuen und neuartigen Gefühlsregungen als rein sexueller Natur - i m Gegensatz zu Bertschis Werben, das ganz i m Zeichen des ritterlichen Ideals stehe. 42 Er übersieht jedoch, daß beide Protagonisten in das Schema einer höfischen Minnewerbung eingebettet sind: Mätzli als Minnedame und Bertschi als der sie umwerbende Ritter. Dabei ist Bertschis Motivation ebenso sexueller Natur, was nicht zuletzt am Beispiel der bereits angesprochenen Kuhstallszene deutlich wird.
40
Schmitt, »Sexualität,« 136.
41
Vgl. Gaunt, Gender ; 240 f., zur Darstellung des weiblichen Geschlechtsteils als unersättliches, bedrohliches Maul in den Fabliaux. 42
Vgl. Mueller, »Festival«, 32.
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Mätzlis Leidenschaft orientiert sich, gemäß dem gesellschaftlich normierten und legitimierten heterosexuellen 43 Begehren, ganz am Vertreter der entgegengesetzten Geschlechtsidentität. Ihr Begehren Bertschis w i r d also auf der Grundlage eines gesellschaftlich festgelegten Geschlechtermodells konstruiert, das binär angelegt ist und eine innere Übereinstimmung von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität gleichzeitig einfordert und herstellt. 44 I m konkreten binären Schema des Ring w i r d die männliche Geschlechtsidentität als Ausgangspunkt und die weibliche Geschlechtsidentität als Gegenstück des männlichen gender und sex definiert. Daß das Geschlechtskonstrukt namens Mätzli prädestiniert ist für eine Projektion ihres eigenen Begehrens auf das männliche biologische Geschlecht, ist - wie schon erwähnt - in ihren Nachnamen eingeschrieben, der ihre Funktion innerhalb des sexuellen Diskurses offenlegt und von Chrippenchra später auch explizit gemacht wird: Sie ist dazu »geschaffen«, den zumph zu rüeren (v. 2117-2119). 4 5 I n jedem Fall w i r d i m Ring keine Form »natürlicher«, also nicht kulturell-gesellschaftlich determinierter Sexualität thematisiert, sondern vielmehr die Inszenierung des sozial normierten und hegemonisierten gender und dessen Zusammenhang mit »gesellschaftlich definierten Machtpositionen« 4 6 .
I I I . Mätzli beim Arzt Die Arztszene (v. 2001-2252) w i r d in der Forschung des öfteren als Verführung vonseiten Mätzlis beschrieben. Sowohl Winfried Schlaffke 47 als auch Daniel Rocher 4 8 beispielsweise stellen das Geschehen so dar, als hätte Mätzli dieses mehr oder minder absichtlich herbeigeführt, zumindest aber doch begünstigt: Sie ist von der minne feur (v. 1615) überwältigt und hat den Einfall, 43 Der neuzeitliche Terminus »heterosexuell« ist insofern problematisch, als er H o m o sexualität als ein davon abgegrenztes Sexualitätsmodell voraussetzt, was als solches kein Thema i m Ring ist, vgl. Schmitt, Sexualität , 137. Z u gleichgeschlechtlicher Sexualität in der mittelalterlichen Literatur vgl. Brigitte Spreitzer, »Verquere Körper. Zur Diskursivierung der >stummen Sünde< i m Mittelalter«, in: Ingrid Bennewitz und Ingrid Kasten (Hg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur y Bamberger Studien zum Mittelalter 1 (Münster 2002), 1 1 - 2 8 ; Brigitte Spreitzer, Die stumme Sünde. Homosexualität im Mittelalter ; Göppinger Arbeiten zur Germanistik 498 (Göppingen 1988). 44
Vgl. Butler, Unbehagen, 45 f.
45
Vgl. Belitz, Studien , 46 f.
46
Schmitt, »Sexualität«, 137.
47
Vgl. Schlaffke, Ring y S. 4 4 - 4 6 .
48
Vgl. Daniel Rocher, »Frauenverständnis und Frauenrollen in Wittenwilers Ring «, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 8 (1994/1995), 2 7 - 3 7 .
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sich unter dem Vorwand der Behandlung der Verletzung, die ihr der durch das Fenster geworfene Stein zugefügt hat, zum A r z t bringen und den Brief Bertschis übersetzen zu lassen. 49 Nachdem sie den Inhalt des Briefs vernommen hat, weiß sie bereits genau, wie ihr Antwortschreiben auszusehen hat: »Got grües dich, lieb von hoher art! Chaim puolen ich nie lieber wart Dan dir, mein trost: daz sag ich dir A n allen spot, gelaub es mir! Deinen brief han ich gelesen; Des muoss ich iemer fröleich wesen. C h ü m zuo mir pei diser nacht! Ins artzetz haus und gib mir chraft! U n d waz du w i l t , daz w i l ich tuon: Ich acht der andern nicht ein huon. Da mit so phleg dein unser herr, D u seigist nahent oder verr!« (v. 2085-2096)
Chrippenchra schließt daraus: »Trun, du macht ein hüerrel sein, / Mich triegin dann die sinne mein!« (v. 2099 f.). Schlaffke versteht die sich anschließende Szene dahingehend, daß die »liebestolle M ä t z l i « 5 0 dem A r z t für dessen sexuelles Vergnügen als überaus geeignet erscheint und daraufhin dessen »Verführungskunst zum Opfer« 5 1 fällt, was impliziere, daß Mätzli durchaus gewillt sei, sich verführen zu lassen. Rocher geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er Mätzli sich nur dem Willen Chrippenchras beugen läßt, u m danach ihrerseits sexuelle Ansprüche an den A r z t stellen zu können. 5 2 Schmitt hingegen deutet die Szene als Vergewaltigung, die, wie zuvor schon die Speicherszene, dazu diene, den »sexualisierten, weiblichen Körper« 5 3 innerhalb der gesellschaftlich hegemonialisierten Machtrelationen zu erschaffen und zu plazieren gemäß der allgemeinen Erkenntnis: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man w i r d es« 54 . Genauso w i r d Mätzli als Frau - in biologischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht, als Gegenstück zum männlichen sex und gender - konstruiert, wobei Butler darauf hinweist, daß die Herstellung von gender immer
49 Vgl. dazu auch Thomas Cramer, »Nabelreibers Brief«, in: Horst Wenzel und Peter Göhler (Hg.), Gespräche, Boten, Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter| Philologische Studien und Quellen 143 (Berlin 1997), 212-225. 50
Schlaffke, Ring, 46.
51
Schlaffke, Ring, 46.
52
Vgl. Rocher, »Frauenverständnis«, 34.
53
Schmitt, »Sexualität,« 138.
54
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (Reinbek 1985), 265.
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einen » m e n s c h l i c h e n K o n s t r u k t e u r « 5 5 erfordere, w o d u r c h G e s c h l e c h t s i d e n t i t ä t an sich w i e d e r als festgelegte K a t e g o r i e erscheine, die i n d e n a n a t o m i s c h u n t e r s c h i e d l i c h e n K ö r p e r n eingeschrieben sei, sex u n d gender
eben eine innere K o -
härenz a u f w i e s e n . 5 6 N a c h M o n i q u e W i t t i g ist j a bereits der T e r m i n u s »Frau« e i n v o n der p a t r i a r c h a l e n Gesellschaft geformtes K o n s t r u k t , das w i e d e r u m z u r Naturalisierung normativer Heterosexualität d i e n t . 5 7 » V e r g e w a l t i g u n g « 5 8 ist als e i n k u l t u r e l l e r C o d e z u verstehen, d e r v o n einer Gesellschaft festgelegt w i r d , u m sexuelle U n t e r s c h i e d e z u generieren u n d die j e w e i l i g e n ( M a c h t - ) P o s i t i o n e n z u v e r f e s t i g e n . 5 9 D i e G e w a l t geht dabei i m m e r v o m als m ä n n l i c h d e f i n i e r t e n G e s c h l e c h t aus u n d r i c h t e t sich auf das w e i b l i c h e , w o b e i die V e r g e w a l t i g u n g n i c h t aus e i n e m U n t e r s c h i e d der b i o l o g i s c h e n G e schlechter u n d der j e w e i l s spezifischen Bauweise der K ö r p e r h e r r ü h r t , s o n d e r n daraus, w i e sich die G e s c h l e c h t e r i n i h r e n z u g e w i e s e n e n R o l l e n i n n e r h a l b d e r Gesellschaft darstellen. C h r i p p e n c h r a f ü h r t d e m z u f o l g e eine gesellschaftlich l e g i t i m i e r t e , n a c h e i n e m b e s t i m m t e n Schema verlaufende H a n d l u n g an M ä t z l i aus, w e l c h e die G e s c h l e c h t e r d i f f e r e n z festschreibt, u n d s t ü t z t sein V e r h a l t e n ,
55
Butler, Unbehagen, 25.
56
Vgl. Butler, Unbehagen, 25.
57 Vgl. Monique Wittig, »The Straight Mind«, Feminist Issues, 1 (1980), 103-111, und dazu Marie-Luise Angerer, »Zwischen Ekstase und Melancholie. Der Körper in der neueren feministischen Diskussion«, UHomme, 5 (1994), 2 8 - 4 4 , hier 32. 58 Das literarische M o t i v der Vergewaltigung ist besonders häufig zur Veranschaulichung des Aspekts der »diskursiven Gewalt« gegen Frauen in mittelalterlicher Literatur herangezogen worden, vgl. zum Beispiel Klein, Metaphorik, 109-112; Susan Samples, »The Rape of Ginover in Heinrich von dem Türlin's Diu Grone«, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Arthurian Romance and Gender. Masculin / féminin dans le roman arthurien médiéval. Geschlechterrollen im mittelalterlichen Artusroman, Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 10 (Amsterdam, Atlanta 1995), 196-205; Rüdiger Schnell, »Unterwerfung und Herrschaft. Z u m Liebesdiskurs i m Hochmittelalter«, in: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche (Frankfurt am M a i n / L e i p z i g 1994), 103-133, hier 109; Kathryn Gravdals, Ravishing Maidens. Writing Rape in Médiéval French Literature and Law, N e w Culture Studies Series (Philadelphia 1991); Ingrid Bennewitz, »Lukretia, oder: Über die literarischen Projektionen von der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen. Darstellung und Bewertung von Vergewaltigung in der Kaiserchronik und i m Ritter vom Thum«, in: Ingrid Bennewitz (Hg.), Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 517 (Göppingen 1989), 113-134; Joachim Bumke, »Liebe und Ehebruch in der höfischen Gesellschaft« in: Rüdiger K r o h n (Hg.), Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland (München 1983), 2 5 - 4 5 , hier 3 2 - 3 5 ; Bruno Barth, »Liebe und Ehe i m altfranzösischen Fablei und in der mittelhochdeutschen Novelle«, Palaestra 97 (Berlin 1910), 151 - 1 5 5 . 59 Vgl. Sharon Marcus, »Fighting Bodies, Fighting Words. A Theory and Politics of Rape Prevention«, in: Judith Butler und Joan W. Scott (Hg.), Feminists Theorize the Political (New York 1992), 385-403, hier 390 f.
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indem er - in sprachlicher Komplizenschaft mit der Erzählerfigur 6 0 - gesellschaftlich allgemeingültige Rechtfertigungsgründe anführt: Den frawen ist der ars zu prait, Daz hertz ze smal/ Daz ist gesait So vil, und ich euchs btüten will: Frawen trew der ist nicht vil; Frawen unkeusch ist ein vinden, Den chain roch mag überwinden. Waz sag ich euch? Es ist nicht new, Wie smal sei aller weiber trew U n d dar zuo churtz ier stätichait, Ier sünde michel und auch prait. (v. 2103-2112)
Über Mätzli, die hier als Personifikation aller Vertreterinnen ihrer Geschlechtsidentität steht, darf also frei verfügt werden, da dies ihrem triebhaften und untreuen Charakter entspricht. 61 Darüber hinaus stellt Chrippenchra - wie bereits erwähnt - Mätzlis spezielles, aus ihrem Nachnamen resultierendes Ausgerichtetsein auf das männliche Genital fest (v. 2117-2119). Problematisch w i r d die Festschreibung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern allerdings, als Mätzli, wie bereits erwähnt, von sich aus den Geschlechtsakt ein zweites und sogar ein drittes M a l einfordert und der A r z t dieser Forderung nicht mehr gerecht werden kann: O b w o h l ihr Verhalten die Vergewaltigung zusätzlich zu rechtfertigen scheint, w i r d die Inszenierung der Geschlechterdifferenz durch ihr aktives Agieren und die daraus resultierende Unterlegenheit des Arztes verkehrt. Auffallend ist also, daß die Machtposition des Mannes bei Wittenwiler nicht durch einen physischen Vorteil gegenüber der Frau erlangt wird, sondern durch eine »kulturell-soziale Überlegenheit« 62 . Männer werden i m Ring durch ihre 60 Vgl. zu Wittenwilers Erzähler auch Jürgen Schulz-Grobert, »Autor in fabula. Selbstreferentielle Figurenprofile i m Ring Heinrich Wittenwilers?«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 8 (1994/1995), 13-26. 61 Vgl. Schmitt, »Sexualität,« 138. Vergewaltigung w i r d bis heute in der Sprache vieler patriarchaler Kulturen häufig gar nicht als Gewaltanwendung gesehen, sondern als etwas, das eine Frau selbst heraufbeschwört: Frauen »wollen« vergewaltigt werden, vgl. dazu Marcus, Bodies, 389. Daß diese Ansicht keineswegs auf die europäische Moderne beschränkt ist, verdeutlicht die bekannte Passage des Livre de la cité des dames, in der Christine de Pizan (1365-1429/30) Beispiele gegen diejenigen, qui dient que femmes veullent estre efforciees, anführt, denn ce n'est mie plaisir aux dames chastes et de belle vie estre efforciees, ains leur est douleur sur toutes autres. Et que ce soit vray, Vont demonstré plusieurs d'elles par vray exemple , si comme de Lucresce [The Livre de la cité des dames of Christine de Pisan. A Critical Edition, 2 Bde., hg. Maureen Cheney Curnow (Nashville 1975), 11,44]. 62
Schmitt, »Sexualität«, 140.
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soziale Funktion von Frauen unterschieden, kurz, sie gehen einem »Beruf« nach. Der A r z t und der Schreiber gehören darüber hinaus zur Gruppe der i m Werk auftretenden litterati, die ihre durch Bildung erlangte und gefestigte gesellschaftliche Macht ausspielen und damit das Feld, auf dem die anderen Figuren agieren können, definieren und umgrenzen - eine klassische Machtdefinition i m Sinne Michel Foucaults, nach der »Machtausübung für die einen eine Weise ist, das Feld möglichen Handelns der anderen zu strukturieren« 63 . Somit kann Bertschi, der eben keinen klassifizierten Beruf ausübt - und noch dazu in dem »Beruf«, den er sich auszuüben anmaßt, also dem des Turnierritters, 6 4 kläglich scheitert (v. 105-1147) - , i m Grunde nur bedingt als »Mann« im Sinne einer sozial-kulturellen Definition bezeichnet werden, was letztlich auch der Grund dafür ist, daß er i m Gegensatz zu Chrippenchra gegenüber Mätzli keine Machtposition behaupten kann. Geschlechter, sowohl soziale als auch biologische, werden i m Ring also über ihren Zugang zu, ihren Anteil an und ihre Verfügungsgewalt über materielles und immaterielles Haben und Nicht-Haben generiert, wobei sich das soziale Geschlecht über das biologische Geschlecht zu definieren scheint, 65 wie die i m Text von Mätzli metapherologisch konkretisierte Verknüpfung von männlichem Geschlechtsteil und (akademischer) Bildung zeigt. Sie verwendet die Begriffe wurtzen und sak bildlich i m Zusammenhang mit dem samen der chunst, den sie nicht ausgesät hat: Owe, chunst, du werdes guot, D u höchster hord, du edler muot, Gewisser schätz, du blüendeu frucht, Der sele hail, des leibes zucht, H i e t ich deinen Samen gsait M i t sorgen und auch arbait, So möcht ich ietzo sneiden M i t fröden ane leiden. N i e t ich gsatzt der wurtzen dein, Die mich so bitter dauchten sein, So läs ich ietz in meinen sak Öpfel süess und w o l gesmak. (v. 1969-1980) 63
Michel Foucault, »Wie w i r d Macht ausgeübt?«, in: Walter Seitter (Hg.), Das Spektrum der Genealogie (Bodenheim 1997), 2 9 - 4 7 , hier 40; vgl. in diesem Sinne auch Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt (Frankfurt am M a i n 2003), 28: »jede Handlungsfähigkeit, auch die der Freiheit, steht in Bezug zu einem ermöglichenden und begrenzenden Feld von Zwängen«. 64 Vgl. dazu auch Michael Bärmann, »Helden unter Bauern. Versuch zu Heinrich W i t tenwilers Ring«, Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 119(2001), 59-105. 65
Vgl. in diesem Sinne und bezogen auf die Fabliaux auch Gaunt, Gender; 251.
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Somit w i r d Bildung zu etwas, das man nur durch die wurtzen, das männliche Genital, besitzt. Chrippenchra macht Mätzli von der wurtzen abhängig: Z u m einen benötigt sie diese zu ihrer Heilung, und nur er kann sie ihr aufgrund seiner spezifischen Teilhabe am Wissen verschreiben, zum anderen zur Befriedigung ihrer sexuellen Triebe. Indem der A r z t sie über die Beschaffenheit des männlichen Genitals und dessen Funktion beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr aufklärt (v. 2139-2148), definiert er sie zugleich als passives Gegenstück zum männlichen Geschlecht und festigt somit seine Verfügungsgewalt über sie. Mätzli war in sexueller Hinsicht bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbedarft: Ewers willens ich enwaiss y / Des stumphen bkenn ich auch ein schaiss (v. 2136 f.). Die deutlich abgegrenzte hegemoniale Position Chrippenchras w i r d aber eben auch dadurch erschüttert, daß Mätzli das Rollensystem aufbricht und ins Paradoxe verkehrt, indem sie die ihr eingeschriebene Passivität überwindet, sexuell initiativ w i r d und somit zwar einerseits ihr Begehren auf das männliche Geschlechtsteil fixiert, diesem andererseits aber auch die Macht entzieht: Der A r z t ist im weiteren Verlauf der Handlung nicht in der Lage, Mätzlis Begehren zu befriedigen, und ist ihr folglich unterlegen (v. 2176-2184). Dabei verwendet Wittenwiler das literarisch weitverbreitete Arsenal sexueller Essensmetaphorik mit dem zentralen M o t i v der unersättlichen Frau, 6 6 das erkennbar einem männlichen Phantasma geschuldet ist, in dem sich Wunsch und Abwehr treffen: Da mit ward sei der wurtzen essen Also ser und unvermessen, Daz sei ieso hiet vergessen, Wo sei gestanden was und gsessen. (v. 2151-2154)
Das Bild der Vagina als unersättlicher, allesverschlingender Mund, wie es schon in der Speicherszene aufgerufen wurde, w i r d hier wieder aufgegriffen. Die Destabilisierung geschlechtlicher Machtverhältnisse ist allerdings nicht von Dauer. Schmitt hat zurecht darauf hingewiesen, daß die Verkehrung der Positionen durch Mätzlis Schwangerschaft, dargestellt als defektiver Nachteil des weiblichen Körpers, wieder aufgehoben w i r d : 6 7 Doch hiet fro Mätzel ieren taily / Wie wol sei vor hin war ze gail (v. 2185 f.). Sie muß für ihre Maßlosigkeit büßen und ist erneut von Chrippenchra abhängig, der ihr - wiederum ermächtigt durch sein Zugriffsrecht auf hegemonial-männliches Wissen - hilft, die Schwangerschaft und die verlorene Jungfräulichkeit zu verbergen. Die A r z t szene des Ring dient somit, noch deutlicher als zuvor bereits die Szene auf dem Speicher, der literarischen Inszenierung und Festschreibung sozial-kultureller 66
Vgl. dazu Gaunt, Gender y 241.
67
Vgl. Schmitt, »Sexualität,« 145.
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Geschlechtsidentitäten, allerdings auch ihrer performativen Durchbrechung und Verunklarung. IV. Die Vereinigung des Paars M i t Bertschis und Mätzlis Hochzeit (v. 5215-7138), der mit der sogenannten Ehedebatte (v. 2623-3530) eine parodistische Variation der Frage, ob ein man ein weih schul nemen, vorangestellt ist, 6 8 taucht zum wiederholten Male ein Topos des Schwankmäre i m Ring auf: Die Bauernhochzeit, 69 die durch ihre Fixierung auf den körperlich-sexuellen Aspekt in deutlichem Kontrast zur idealisierten Vorstellung einer christlichen Ehe steht. 7 0 Innerhalb der Parameter dieses Ideals dient die Eheschließung, deren einzige, göttlich legitimierte und naturrechtliche Bestimmung der Geschlechtsakt und die daraus resultierende Reproduktion ist, 7 1 der Etablierung zweier gegensätzlicher Geschlechterkategorien, wodurch die heterosexuelle Beziehung wiederum zum normierenden Standardmodell erhoben und als singulär rechtmäßig anerkannt w i r d . 7 2 Die Ehe wurde i m vormodernen Christentum somit - nicht allein auf biblischer Überlieferung fußend (Gen 2,24), sondern sowohl Positionen der Stoa (Musonius Rufus) als auch des Neuplatonismus (Hierokles von Alexandreia) rezeptiv integrierend - zu einer naturgegebenen Institution, zu deren Erfüllung die menschliche Spezies erschaffen worden sei. 73 Die Geschehnisse und das Verhalten der Protagonisten in der Brautnacht laufen nach eindeutigen, gesellschaftlich-ritualistischen Regeln ab: Dies zeichnet 68 Vgl. zu dieser Szene Wolfgang Sellert, »Soll man heiraten? Uber den rechtshistorischen Gehalt der Ehedebatte i m Ring des Heinrich Wittenwiler«, in: Heinrich de Wall, Michael Germann (Hg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. FS Christoph Link (Tübingen 2003), 827-849; Detlef Roth, »Von der dissuasio zur quaestio. Die Transformation des Topos An vir sapiens ducat uxorem in Wittenwilers >EhedebatteRecycling< und neuem Wissen: Tristans alte und neue Geschichte Von Dorothea Scholl
La destruction de vieilles cultures vénérables dénude l'humanité entière, dépossédée de son travail millénaire, de sa mémoire et de ses morts; expulsée de la chaude étroitesse de communautés en prise réelle - quoique incertaine - sur le m o n d e . . . alors que la nôtre est certaine mais de plus en plus irréelle. Rien pourtant n'est jamais tout à fait joué. Paul Zumthor, Introduction
a la poésie orale , p. 281.
I. Z u m Begriff des Recycling W i r alle kennen den Begriff des Recycling i m Sinne der Wiederaufbereitung von Abfall. Literatur- und kulturwissenschaftlich betrachtet meint dieser Begriff aber etwas anderes: Es handelt sich dabei u m das Problem der Aktualisierung, u m die Frage, wie und ob Vergangenes vererbt werden kann, welche Formen der Wiederaufbereitung existieren, warum aus etwas Altem etwas Neues gemacht w i r d und welche Aspekte des Alten in welchen Kontexten und aus welchen Gründen neu verwertet werden. I n diesem Sinne ist der Begriff des Recycling für die einen zu einer allgemeinen Denkfigur der Postmoderne geworden, für die anderen zu einem Schlagwort, unter das literaturwissenschaftlich etablierte Begriffe wie Rezeptionsästhetik, Wirkungsgeschichte oder produktive Rezeption subsumiert und gewissermaßen »recyclet« werden. Auch Adaptationen und intertextuelle oder intermediale Verfahren wie Paraphrase, Pastiche, Plagiat, Parodie oder »Remake« sind hiermit gemeint. 1 Angesichts der Tatsache, dass die Wiederaufbereitung alter Stoffe in jüngster Zeit zu einem Phänomen der Alltagskultur geworden ist und eine wesentliche Dimension der marktorientierten globalen Kulturindustrie darstellt, wollen w i r 1
Z u m Konzept des Recycling vgl. Recyclages. Économies de l'appropriation culturelle. Sous la direction de Claude Dionne, Silvestra Mariniello et Walter Moser, Montréal, Éditions Balzac (L'Univers des discours), 1996. Zur theoretischen Bestimmung vgl. dort bes. Walter Moser, »Le recyclage culturel«, 2 3 - 5 3 .
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für unsere spezifische Fragestellung in diesem Rahmen den Begriff des Recycling als einen heuristischen Begriff verwenden, der es erlauben soll, auch jene Phänomene in den Blick zu bekommen, die über den Bereich der sogenannten schönen Literatur hinausreichen und traditionell von der Literaturwissenschaft entweder nicht berücksichtigt oder den »nicht mehr schönen Künsten« zugeordnet wurden. 2 I n einer solchen - auf die regionale und globale Alltagskultur erweiterten Perspektive ginge es i m Hinblick auf die »Wiederaufbereitung« des Mittelalters u m die Analyse der Mittelalter-Rezeption einschließlich der Vorstellungen vom Mittelalter, die gegenwärtig kursieren, und die etwa in der Produktion von Ritterburgen für Kinder oder in Mittelalterfestspielen zutage treten. Auch populäre Welterfolge wie Harry Potter ; w o mittelalterliche Turnierspiele in einem neuen phantastischen Kontext Wiederverwertung finden, oder Umberto Ecos Il nome della rosa , w o Zitate aus mittelalterlichen Quellen (z. B. Bernard de Clairvaux) fiktiven Romanfiguren in den M u n d gelegt und nach dem Prinzip der Montage wiederaufbereitet werden, zeugen von einer neuen Vergegenwärtigung des Mittelalters. Solche Bestseller, wie auch deren Verfilmungen, produzieren oder reproduzieren Bilder und Phantasmen, die vom Mittelalter im Umlauf sind. Thomas Manns i m archaisierenden Stil geschriebene Erzählung Der Erwählte könnte als Beispiel für eine kreative Auseinandersetzung mit dem Mittelalter herangezogen werden. Auch die vielen instrumentalen und vokalen Adaptationen mittelalterlicher Musik (z. B. Angelo Branduardi) wären zu bedenken. Der Erfolg solcher Assimilationen und Vergegenwärtigungen zeigt, dass der »Mythos Mittelalter« aktuell ist. Das Mittelalter kann als ein System betrachtet werden, das die gegenwärtige Interpretation der Gesellschaft, der Kultur, des Menschen und seiner Beziehungen in Frage stellt. Die modernen und postmodernen Formen des Recycling lassen erkennen, dass das Mittelalter ungeachtet und vielleicht gerade aufgrund seiner absoluten Differenz eine gewaltige Faszinationskraft ausübt. Eine Analyse in der Perspektive des Recycling kann natürlich nur dann seriös sein, wenn das eigentliche Objekt, das man als Mittelalter bezeichnet, in seiner Spezifik wissenschaftlich erschlossen wird. Dabei tritt ein hermeneutisches Problem auf, das auch i m Falle der populären Wiederaufbereitungen berücksichtigt werden muss: Wir können nur mit unserem, durch unsere Welt geprägten Vorverständnis vergangene Zeiten erschließen (Gadamer), und unser Interesse bedingt unsere Erkenntnis (Habermas). »Je ne saurais parler de la Chanson de Roland en homme du X I e ou du X I I e siècle: pourquoi me reprocher de le faire en homme de 1979 plutôt que de 1900?«, fragt der große Mittelalterspezialist Paul Zumthor in seiner Studie Parler du Moyen Age (82). Für 2
Z u m Konzept der »nicht mehr schönen Künste« vgl. Jauss (Hg.).
Tristans alte und neue Geschichte
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Zumthor war das Mittelalter eine Epoche, in der Probleme des Lebens und der Gemeinschaft von elementarer Bedeutung waren. Auch andere Wissenschaftler, auf die w i r noch zurückkommen werden, trugen zur Erneuerung des Interesses am Mittelalter bei und führten zu einem neuen Wissen. Ich möchte mich in diesem Rahmen auf die Tristan-Thematik beschränken und versuchen, die alte und neue Geschichte Tristans i m Kontext der Frage nach dem Zusammenhang zwischen mittelalterlicher Textüberlieferung und den modernen und postmodernen Formen des Recycling analysieren. Die Untersuchung soll schließlich Aufschluss über verschiedene aktuelle Zugangsmöglichkeiten zu mittelalterlichen Texten geben und die Tristan-Thematik i m Spannungsfeld von »Wiederaufbereitung« und neuem Wissen methodenkritisch beleuchten.
I L Tristan in der mittelalterlichen Tradition Si grand'peine d'amour N'eût Tristan l'amoureux Q u i dut souffrir maintes douleurs De par Iseult la blonde. Bernard de Ventadour, Chanson ( w . 4 5 - 4 8 )
Der Ursprung der Tristanlegende liegt i m Dunkeln. Neben keltischen wurden auch walisische, bretonische, antike und orientalische Ursprünge ausgemacht. Es wurde der Versuch unternommen, aus verschiedenen Varianten und Bearbeitungen der zahlreichen Textquellen, in denen die Geschichte Tristans und Isoldes erzählt wird, einen »Ur-Tristan« zu rekonstruieren. 3 Doch Paul Zumthor hat in seinen Studien zur Mündlichkeit darauf hingewiesen, dass man bei mittelalterlichen Texten nicht ausschließlich von Textquellen ausgehen kann, sondern dass man bei der Analyse dieser Texte den Nomadismus der Erzählungen mitberücksichtigen muss. 4
3 Chrétien de Troyes wurde als Schöpfer eines »Ur-Tristan« angenommen, weil er i m Prolog zu Cligès auf eines seiner Werke mit dem Titel Le roi Marc et Iseut la blonde anspielt. Dieser Text ist jedoch verloren gegangen. Nach Wolf gang Golther entstammt die »gesamte Uberlieferung einem französischen, vermutlich poitevinischen Versroman, dessen Urfassung verloren ging«, und »der nur in späteren mehr oder weniger freien Bearbeitungen vorliegt« (Golther, 1). 4 » [ . . . ] jusqu'au milieu du X I I e siècle la parole poétique, dans les langues maternelles, se formait uniquement sur les lèvres des nomades. Et cette situation, au sein des communautés qui paraisssaient (faussement) s'y prêter le moins, perdura - altérée, diversement modalisée - jusque bien après Gutenberg. Combien de Vidas de troubadours, rédigées aux X I V e , X V e siècles, signalent élogieusement les errances de leurs héros [ . . . ] Perpétuel
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A u f die Tristan-Überlieferung bezogen zeigt sich dieser Nomadismus zum einen daran, dass einzelne Bearbeiter der Geschichte explizit sowohl auf schriftliche als auch auf mündliche Überlieferungen verweisen, wie Béroul, der darauf aufmerksam macht, dass die alte Geschichte Tristans in verschiedener Weise erzählt wird, und der sich z. B. von stereotypen Vorstellungen über die Bereitschaft der Protagonisten zum M o r d abgrenzt und nach dem Prinzip der emulatio seine Version als den anderen überlegen deklariert, da sie näher an der ursprünglichen und daher glaubwürdiger sei: L i contor dient que Yvain Firent nier, qui sont vilain; N ' e n sevent mie bien Pestoire, Berox Ta mex en sen memoire: Trop ert Tristran preuz et cortois A ocirre gent de tes lois, ( w . 1265-1270, Berol, p. 66.)
Jede Fassung der Geschichte Tristans kann als eine Interpretation einer oder mehrerer vorausgegangenen Fassungen derselben Geschichte verstanden werden, bereits i m Mittelalter findet sich also ein Pluralismus von Interpretationen. Z u m anderen zeigt sich der Nomadismus auch daran, dass die gesamte Geschichte wie auch einzelne Fragmente und Motive der Legende in ganz verschiedenen Gattungen und kulturellen Kontexten auftreten, z. B. i m Lai de Chèvrefeuille von Marie de France (um 1160), i m Versroman wie bei Béroul (um 1170), Thomas d'Angleterre (um 1170-1190), Eilhart von Oberg (um 1170) und Gottfried von Straßburg (um 1210), in der Form von Parodie wie in Chrétien de Troyes Cligès (um 1176), i m Prosaroman wie i m dreizehnten und fünfzehnten Jahrhundert, w o der Tristanstoff mit der Artussage verknüpft wird; in Balladen und Liedern wie von Bernard de Ventadour und Chrétien de Troyes, in Gedichten wie der Folie Tristan (Ende 12. Jh.) und i m englischen Sir Tristrem, i m italienischen Tristano und der Tavola ritonda wie auch in der skandinavischen Tristramssaga oder i n griechischen und slavischen Versionen des Stoffes. 5 A l l diese Texte zusammen genommen konstituieren eine Tradition , i n der die Geschichte der fatalen Liebesleidenschaft zwischen Tristan und Isolde in immer wieder neuer Form besungen wird, mal in archaisch direkter Weise, mal in höfischer Manier, mal mystisch vergeistigt, mal psychologisch vertieft, mal mit Sympathie für die beiden Liebenden, mal mit drohend erhobenem Zeigefinger; für einige w i r d Tristan zur Identifikationsfigur. retour des errants sur les lieux successifs d'un monde fini, où tout toujours recommence [ . . . ] « (Zumthor, La lettre et la voix, 105 -106). 5
Zur Tristantradition in den europäischen Literaturen des Mittelalters vgl. Ferrante (1979) und Stein (2001).
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Der spanische Mediävist Menendez Pidal hat Tradition als »Assimilation des Gleichen« definiert, die »aus der fortlaufenden und ununterbrochenen Wirkung der Varianten« hervorgeht und i m Gegensatz zur geschriebenen Übertragung eines Textes dessen Reproduktion und Veränderung impliziert. 6 Provokativ ausgedrückt: Das Mittelalter praktiziert Recyclage. Schon i m Mittelalter finden sich unterschiedliche Gestaltungen der Tristan-Legende, die in Abhängigkeit zur Herkunft, zum Talent und zum Milieu des jeweiligen Bearbeiters, je verschieden modelliert wird. Immer neue Aktualisierungen zeigen, dass die Tradition lebendig bleibt. Die neue Geschichte Tristans ist die alte. Doch dies gilt nur bei formaler Betrachtung. Betrachten w i r nun die Geschichte vom inhaltlichen Aspekt her. Dazu möchte ich zunächst einige wesentliche Elemente grob skizzieren, wobei ich zur Veranschaulichung auch Bilddokumente heranziehen werde, die rezeptionsästhetisch betrachtet ihrerseits wiederum über die Verbreitung des Stoffes und über die Aufmerksamkeit der jeweiligen Rezipienten Aufschluss geben. So zeigen die symbolistischen und surrealistischen Illustrationen der Liebestrankszene einen - vielleicht durch die Inszenierungspraktiken von Wagners Oper beeinflussten - Hang zur Theatralisierung (vgl. Abb. 7 - 9 ) .
I I I . Tristans alte Geschichte D'eus deus fu il tut autresi Cume del chevrefoil esteit K i a la codre se perneit: Quant il est s'i laciez e pris E tut entur le fust s'est mis, Ensemble poënt bien durer, Mès k i puis les volt desevrer, L i codres muert hastivement, E li chevrefoil ensemement. Marie de France, Chèvrefeuille
(w. 68-76)
Der junge Tristan, der seinen Namen dem Umstand verdankt, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben ist, w i r d in den verschiedenen Quellen als ein listenreicher Held und vollendeter Ritter dargestellt, der zahlreiche Aben6 Romancero hispánico , I, 45. Paul Zumthor verwendet zur Charakterisierung dieses Phänomens den Begriff mouvance und weist auf zwei Aspekte hin: den Dialog nach innen, d. h. mit einem oder mehreren anderen Texten (oder auch mündlichen Erzählungen) innerhalb eines Textes, und den Dialog nach außen, der aus seinem Bezug zu den anderen hervorgeht. Vgl. Zumthor, La lettre et la voix, 162-163. Vgl auch Zumthor, »Tradition et mouvance«, in: Parier du Moyen Age, 6 7 - 7 0 , bes. 69.
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teuer siegreich besteht: Er besiegt den irischen Riesen Morholt (Abb. 1), besteht einen Drachenkampf (Abb. 2) und zeichnet sich darüber hinaus in allen Künsten aus (Abb. 3), vereint also A k t i o n und Kontemplation. Gleichzeitig w i r d er aber auch immer wieder in Situationen der Hilflosigkeit und Schwäche gezeigt: Vom giftigen Pfeil des Riesen verwundet, treibt er i n einem todesähnlichen Schlaf aufs offene Meer hinaus und strandet am feindlichen irischen Ufer, w o er auf wunderbare Weise von der irischen Königstochter Isolde (in manchen Quellen von ihrer Mutter) geheilt w i r d (Abb. 4). Das Ausgesetztsein in einem Boot ohne Orientierung auf dem Meer hat wie viele Elemente der Geschichte zeichenhaften Charakter und unterstreicht die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse. Als Tristans Onkel Marke, von den Baronen seines Hofes zur Heirat gedrängt, diesen erklärt, er würde nur die Frau heiraten, von der das goldene Haar stamme, das ihm der W i n d zugeweht hatte (oder ihm von einem Vogel zugetragen wurde) und Tristan sich auf die Suche nach dieser Frau macht, treibt ihn sein Schiff erneut zu Isolde, in der er die goldhaarige Jungfrau erkennt. Sie wiederum erkennt an seinem Schwert in Tristan den Mörder Morholts. Auch der Liebestrank (Abb. 5 - 9 ) , den Isoldes Mutter gebraut hat, u m das eheliche Glück ihrer Tochter mit Marke zu gewährleisten, hat zeichenhaften Charakter: A u f der Überfahrt geschieht es durch ein Versehen, dass Tristan und Isolde diesen Trank zu sich nehmen, worauf sie in plötzlicher leidenschaftlicher Liebe zueinander entflammen, die so verzehrend ist, dass einer ohne den anderen zugrundegehen würde. A u f diese Verwechslungsszene folgt eine Verwechslung anderer Art: Nach der Hochzeit zwischen Marke und Isolde muss Brangäne, die für die Verwechslung des Liebestranks verantwortlich ist, in der ersten Nacht Isoldes Stelle in Markes Bett einnehmen, der die Vertauschung nicht bemerkt. Aber Tristans Rivalen, die Barone an Markes H o f - die vielleicht fürchten, dass der zukünftige Thronfolger nicht der eheliche Sohn des Königs, sondern Tristans Sohn sein w i r d - machen den König mit Hilfe eines sternenkundigen Zwergs - der die Zeichen böswillig interpretiert - argwöhnisch gegen die Liebenden. Doch jedes Mal, wenn das Liebespaar mit Trennung und Tod bedroht wird, kann es sich durch ingeniöse Einfälle oder die Gunst der Stunde retten: Als Marke das Liebespaar von einem Baum aus beobachtet, entdecken sie seinen Schatten und können sich verstellen. Einige Illustrationen dieser Szene erinnern ikonographisch an Sündenfalldarstellungen (vgl. Abb. 10-11): Marke w i r d mit der bösartigen Schlange assimiliert, die den Liebenden i m Paradies auflauert und ihnen Verderben bringt.
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Abb. 1: Tristan tötet Morholt. Aus der Münchener Tristan-Handschrift (um 1240). In: Wieland Wagner (Hg.), 23.
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Abb. 2: Der Drachenkampf. Aus dem Teppich i m Kloster Wienhausen (14. Jh.). In: Wieland Wagner (Hg.), 29.
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Abb. 3: Tristan mit Harfe und Schwert. Aus der Eilhart-Handschrift in Heidelberg (13. Jh.). In: Wieland Wagner (Hg.), 9.
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Abb. 4: Isolde heilt Tristan. Aus Tristan von Antoine Vérard (1494). Bibliothèque Nationale, Paris. In: Wieland Wagner (Hg.), 57.
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Abb. 5: Der Liebestrank. Elfenbeintruhe, Ermitage, Leningrad. In: Payen, Abbildungsteil (unpaginiert)
Selbst als Tristan i n der Verbannung eine andere Isolde, Iseut aux blanches mains, heiratet, findet er Mittel und Wege, in verschiedener Verkleidung Iseut la blonde zu treffen und mit ihrer Hilfe die Hofgesellschaft zu täuschen. Doch als er i m Kampf von einem vergifteten Speer tödlich verwundet w i r d und man nach der heilkundigen blonden Isolde schickt, u m ihn zu retten, verhindert Iseut aux blanches mains die Begegnung, und wieder spielt die Bedeutung außersprachlicher Zeichen eine entscheidende Rolle: Als das Schiff mit weißem Segel als Zeichen für die Anwesenheit der blonden Isolde in Sicht kommt, meldet Iseut aux blanches mains dem todkranken Tristan, die Farbe des Segels sei schwarz, w o rauf Tristan stirbt. Als die blonde Isolde ihren Geliebten tot vorfindet, nimmt sie ihn in die Arme und stirbt ebenfalls (Abb. 12). Marke w i r d über die Wirkung des Liebestranks aufgeklärt, verzeiht den beiden und läßt sie zusammen bestatten. Er pflanzt auf das Grab Isoldes einen Rosenstrauch und auf das Grab Tristans eine Rebe, die, je höher sie wachsen, sich u m so stärker ineinander verranken.
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Abb. 6: Der Liebestrank. Aus Tristan en prose. In: Payen, Abbildungsteil (unpaginiert)
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Abb. 7: Der Liebestrank. Jean Delville (1887). In: Symbolismus in Europa , 53, Abb. 32
Ich habe den Inhalt der Tristangeschichte vor allem ausgehend von Beroul und Thomas wiedergegeben, die die Grundlagen für weitere Bearbeitungen bildeten, die ihrerseits wiederum andere Episoden einfügen oder andere Akzentuierungen vornehmen. Jede Nacherzählung der Tristan-Tradition steht jedoch vor einem Dilemma, wie i m folgenden Abschnitt anhand moderner Nacherzählungen erläutert werden soll.
6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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Abb. 8: Der Liebestrank. Aubrey Beardsley, » H o w Sir Tristram Drank of the Love Drink« (1893-94). In: H o r n (Hg.), 10.
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Abb. 9: Der Liebestrank. Salvador Dali, »Frontispice« Tristan et Iseult (1970). In: Dali, 207.
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Abb. 10: Marke beobachtet das Liebespaar vom Baum aus. Teppich i m Rathaus von Regensburg (14. Jh). In: Wieland Wagner (Hg.), 32.
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Abb. 11: Marke beobachtet das Liebespaar vom Baum aus. Misericordie, Chester, 14. Jh. In: Payen, Abbildungsteil (unpaginiert)
IV. Moderne Tristan-Nacherzählungen Bei modernen Nacherzählungen alter Geschichten zeigt sich ein Phänomen, das man häufig im Bereich der Kinderliteratur antrifft: Die narrative Vereinfachung eines Stoffes der Weltliteratur. Gleichzeitig können aber auch durch Nachdichtung genuine neue Kunstwerke entstehen. Die ursprünglichen Tristan-Dichtungen wurden und werden in moderne Prosa übertragen, u m sie dem Leser, der den direkten Zugang zu den mittelalterlichen Texten verloren hat, nahezubringen. Da jedoch diese Texte nur in Fragmenten erhalten sind, werden die Lücken geschlossen, indem Episoden aus anderen Bearbeitungen eingefügt werden, um der Erzählung eine in sich geschlossene Form zu geben. Jeder, der
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Abb. 12: Der Liebestod. Musé de Chantilly (Photo Lauros-Giraudon). In: Rougemont, L'Amour et l'Occident
(Umschlagbild).
sich eine solche Aufgabe vornimmt, steht vor einem Dilemma: Wen sollte man als Ausgangspunkt wählen? Günter de Bruyn wählte für seine Nacherzählung in Prosa Gottfried von Straßburg als Vorlage und verwendete für den Schluss Ulrich von Türheim. 7 Joseph Bedier entschied sich für Beroul, wobei er jedoch auch Teile aus Eilhart, Thomas, Gottfried und anderen Bearbeitungen einfügte, 7 Vgl. de Bruyn, »Nachwort«, in: de Bruyn, Tristan und Isolde, 114-116. Zur ideologischen Problematik der Nachdichtung de Bruyns i m System der ehemaligen D D R s. Stein (1979), 3 0 - 6 3 .
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u m die L ü c k e n b e i B é r o u l z u schließen u n d d a r ü b e r hinaus gerade die E l e m e n te, die i h m bei B é r o u l z u w i l d u n d b a r b a r i s c h o d e r i h r e r e r o t i s c h e n Suggestivk r a f t z u d e u t l i c h erschienen, a b s c h w ä c h t e o d e r w e g l i e ß . D i e bis ins z w a n z i g s t e Jahrhundert bienséance
wirksame
französische
Tradition
höfischer
Kultiviertheit
und
g e b o t die V e r b a n n u n g solcher Szenen. T r o t z d e m w u r d e B é d i e r als
» B é r o u l m o d e r n e « 8 gefeiert u n d seine N a c h d i c h t u n g z u m A u s g a n g s p u n k t f ü r eine F ü l l e neuer N a c h e r z ä h l u n g e n . Z u r V e r d e u t l i c h u n g stelle i c h aus e i n i g e n m o d e r n e n N a c h e r z ä h l u n g e n verschiedene A u s z ü g e aus der L i e b e s t r a n k s z e n e zusammen: Joseph B é d i e r (1924): Comme le soleil brûlait et qu'ils avaient soif, ils demandèrent à boire. L'enfant [une petite servante] chercha quelque breuvage, tant qu'elle découvrit le coutret confié à Brangien par la mère d'Iseut. »J'ai trouvé du vin!« leur cria-t-elle. N o n , ce n'était pas du vin: c'était la passion, c'était l'âpre joie et l'angoisse sans fin, la mort. [ . . . ] I l [Tristan] songeait: »Andret, Denoalen, Guenelon et Gondoïne, félons qui m'accusiez de convoiter la terre du roi Marc, ah! je suis plus vil encore, et ce n'est pas sa terre que je convoite! Bel oncle, qui m'avez aimé orphelin avant même de reconnaître le sang de votre sœur Blanchefleur, vous qui me pleuriez tendrement, tandis que vos bras me portaient jusqu'à la barque sans rames ni voile, bel oncle, que n'avez-vous, dès le premier jour, chassé l'enfant errant venu pour vous trahir? A h ! qu'ai-je pensé? Iseut est votre femme, et moi votre fils. (47-48) Pierre C h a m p i o n (1938): La chaleur était accablante. Tristan qui a soif demande du vin. Gouvernai et Brangien vont pour lui en chercher, et ils trouvent le »boire amoureux« entre les autres tasses d'argent. S'ils se trompent, c'est bien par mégarde! Mais Brangien a pris la coupe d'or et Gouvernai y verse le boire qui était comme du vin clair. En vérité c'était du vin, mais du vin mélangé avec d'autres choses. Et Tristan boit la coupe toute pleine, et commande qu'on donne ce vin à Iseut. O n lui passe la coupe. Et Iseut boit. A h ! Dieu, quelle boisson! / Ainsi ils sont entrés dans la route qui jamais ne leur manquera, jour de leur vie, car ils ont bu leur destruction et leur mort. Leurs cœurs changent et muent. Car sitôt qu'ils eurent bu, l'un regarda l'autre, tout ébahi. Ils pensent à autre chose qu'ils faisaient devant. Tristan pense à Iseut, Iseut pense à Tristan: et voilà bien oublié le roi Marc! / Car Tristan ne songe plus qu'à avoir l'amour d'Iseut, et Iseut ne pense plus qu'à avoir l'amour de Tristan. Et tel est l'accord de leurs cœurs qui s'aimeront toute la vie. [ . . . ] I l est gentilhomme, elle est issue de haut lignage; ainsi ils peuvent bien s'accorder ensemble, de beauté et de race. Que le roi Marc cherche une autre reine, car Iseut veut avoir Tristan, et Tristan Iseut! (103-104) 8 »Il [Béroul] s'assimilait lui-même des éléments de toute provenance, parfois assez disparates, et dont la disparité ne le choquait ni le gênait, d'autant plus qu'il leur faisait souvent subir une sorte d'accommodation qui suffisait à leur donner une homogénéité superficielle. Le Béroul moderne a donc pu procéder de mêmey sauf à y mettre plus de choix et de goût« (Gaston Paris, IV).
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André Mary (1941): Déjà le soleil était entré dans le signe de l'Écrevisse. C'était la veille de la Saint-Jean. [ . . . ] Tristan jouait aux échecs avec Iseut sous la tente. I l eut soif. [ . . . ] Et Tristan l'offre [le breuvage] à Iseut, disant: »Belle Iseut, buvez ce breuvage.« Iseut boit d'une gorgée et tend le hanap à Tristan qui l'épuise à son tour d'un trait. Tout aussitôt il regarde Iseut d'un air égaré, et l'émoi et la frayeur se peignent sur la figure d'Iseut. Qu'ont-ils fait? Hélas! ce n'était pas le vin de dépense qu'ils ont bu, ce n'est ni cervoise ni goudale, mais le boire enchanté que la reine d'Irlande a brassé pour les noces du roi Marc! Brangaine est saisie d'un terrible doute; elle s'enfuit éperdue. Dieu! Si elle s'était trompée! Elle se hâte de descendre dans la soute: elle voit le baril à boire herbé à moitié vide: »Malheur, malheur à moi! s'écrie-t-elle. Tristan, hélas! Hélas! Iseut! Vous avez bu votre destruction et votre mort!« / Cependant le poison d'amour se répandait dans les veines du valet et de la pucelle. Hier ennemis, les voici aujourd'hui dru et drue. Mais le lien qui les enlace leur entrera profondément dans la chair, et jamais ils ne pourront s'en guérir. Vénus, la redoutable véneresse, les a pris dans ses réseaux; le dieu d ' A m o u r leur a décoché sa flèche mortelle; i l a planté son étendard dans leur coeur; il les tient toujours en sa baillie. ( 6 3 - 6 4 )
René Louis (1972) La servante [ . . . ] savait [ . . . ] que l'aversion apparente d'Iseult pour Tristan procédait, sans qu'elle en eût conscience, d'un désir amoureux inavoué et déçu. / Peu après, voyant qu'Iseult était restée sur le navire et refusait de prendre part aux divertissements sur l'île, Tristan vint sous son pavillon pour la saluer et lui rendre visite. Comme, assis côte à côte, ils échangèrent quelques propos, ils eurent soif l'un et l'autre et se le dirent. Iseult appela Brangien et lui commanda d'apporter du vin. Celle-ci se hâta de gagner l'angle du pavillon où les marins irlandais avaient déposé les coffres d'Iseult et de sa suite. Dans l'un d'eux, elle prit le précieux flacon, reconnaissable entre tous, où la reine d'Irlande avait versé le vin herbé. A cet instant, le visage de la jeune fille s'éclaira d'un sourire furtif: elle tenait en ses mains le plus sûr moyen de faire naître l'amour en Tristan et de le lier à Iseult pour toujours. Brangien déposa le flacon avec une coupe d'argent ciselé sur une table à laquelle Iseult s'était accoudée et elle lui dit d'un air riant: »Reine Iseult, prenez ce breuvage qui a été préparé en Irlande pour le roi Marc!« [ . . . ] Dès que les deux jeunes gens eurent bu de ce vin, l'amour, tourment du monde, se glissa dans leurs cœurs. Avant qu'ils s'en fussent aperçu, il les courba tous deux sous son joug. La rancune d'Iseult s'évanouit et jamais plus ils ne furent ennemis. Ils se sentaient déjà liés l'un à l'autre par la force du désir, et pourtant ils se cachaient encore l'un de l'autre. Si violent que fût l'attrait qui les poussait vers un même vouloir, ils tremblaient tous deux pareillement dans la crainte du premier aveu. (55-57)
Michel Cazenave (1985): O r donc, à la veille même de la fête de la Saint-Jean, quand la sève s'épanouit dans les branches des arbres, quand crépitent les flammes, quand resaute le feu, tous les vents suspendirent leur course vagabonde. [ . . . ] Puis midi arriva. / Sous la chaleur suffocante, ils ne purent plus y tenir et réclamèrent de concert qu'on leur donnât à boire. Périnis le fidèle rechercha un breuvage et fouilla dans les coffres de la tente d'Iseut. / I l y trouva
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un coutret qu'il en sortit sur-le-champ. [ . . . ] I l était juste midi quand Périnis en remplit une coupe sertie d'or et la tendit à Iseut qui y but à longs traits; quand Iseut la tendit à son tour à Tristan, et que Tristan la vida: il était juste midi, le midi de la soif, le midi de la gloire du soleil sur la mer. / Or, écoutez cette histoire qui était celle de ce boire. [ . . . ] Ses cheveux dénoués qui s'écroulaient dans son dos, Iseut la blonde se tenait sur le seuil de sa tente. Que sait-on à son âge de ces sentiments indistincts, de ces douleurs sans raison qui vous brouillent le coeur, de ces larmes qui montent et vous embuent les prunelles? U n mal perçant la tenait, dont elle gémissait à la fois de frayeur et de joie. Des brûlures inconnues se répandaient dans ses membres, son visage s'empourprait, elle pâlissait aussitôt et chancelait sur son siège d'une fièvre sans cause. [ . . . ] Mais tandis que le soleil touchait presque la mer, Tristan sentait, lui aussi, des épines s'enfoncer dans le vif de sa chair, qui lui déchiraient l'âme et le cœur et le laissaient, tout haletant, dans son amère solitude. (72 - 75)
Bédier akzentuiert mit Hilfe eines inneren Monologs Tristans Schuldgefühle, er dramatisiert die Szene; Pierre Champion verwendet Präsens und erlebte Rede, er lenkt den Blick des Lesers auf kostbare Gegenstände und suggeriert einen Bezug zur biblischen Sündenfallerzählung; André Mary unterstreicht die politische Dimension und führt kosmische und mythologische Elemente ein; René Louis und Michel Cazenave akzentuieren die psychologische Wandlung bei der entstehenden Liebe. Bei den meisten lässt sich eine in pädagogischer Absicht geführte Verkindlichung in der Erzählweise feststellen und eine A k zentuierung des psychischen und physischen Erlebens sowie der Schuldgefühle der Protagonisten. Wie in den mittelalterlichen Quellen werden die Motive der alten Geschichten variiert, neu kombiniert und i m Hinblick auf das anvisierte Publikum stilisiert. Dasselbe lässt sich natürlich über andere Formen der Tristan-Rezeption sagen, denen ich mich i m Folgenden zuwenden will.
V. Thierry Schiel, Tristan et Iseut (2002) Als Beispiel für eine andere Form der Vereinfachung des Tristanstoffes in einem anderen Medium nehme ich den 2002 erschienenen Kinderfilm Tristan et Iseut (Abb. 13). I n dieser luxemburgischen Zeichentrickfilmproduktion aus Thierry Schieis Animationsfirma »Oniria« w i r d die Liebe zwischen Tristan und Isolde, die durch böse Barone bedroht w i r d und immer wieder wundersame Rettung erfährt, als Zaubermärchen i m Disneystil vermittelt. Die phantastischen, komischen und märchenhaften Elemente aus der alten Tristangeschichte werden dort i m Rückgriff auf Zauberwesen aus der Disneywelt erweitert und gesteigert: Puk, der Waldgeist und Teazle, die kleine Fee übernehmen bei dieser Form der Tristan-Adaptation die Rolle des Schicksals und kommen dem bedrohten Liebespaar immer wieder zu Hilfe. Der Film endet
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Abb. 13: Thierry Schiel, Tristan et Iseut , D V D .
natürlich mit einem Happy End. König Marke verzichtet auf den Thron, setzt Tristan als Thronfolger ein, und Tristan darf Isolde heiraten! U n d wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Der Film befriedigt auf dem wachsenden Markt der Animationsindustrie die Bedürfnisse der Konsumenten nach phantastischen Animationsproduktionen. Dennoch hält er sich in vielen Aspekten an die Vorlagen: Die bösen Barone, die das Glück der Liebenden stören und zerstören wollen, die Schattenszene, Tristans Pseudonym Tantris, die Liebestrankverwechslung und viele andere Elemente der ursprünglichen Erzählungen werden dem kindlichen Publikum vermittelt. Auch komische und ironische Elemente spielen eine Rolle. So soll Tristan zuerst eine Schreckschraube heiraten, bleibt beim Bunjee-Jumping an einer Liane hängen und gerät immer wieder in peinliche Situationen. Isolde w i r k t mit ihrem übertrieben zickigen Verhalten wie ein Abklatsch des Spielverhaltens mancher zeitgenös-
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sischer Soapdarstellerinnen, und als Teazle und Puk Tristan zum ersten M a l begegnen, benehmen sie sich wie junge Teenager beim Zusammentreffen mit Popstars, bekommen Gänsehaut und fallen fast in Ohnmacht. Als Recycling des alten Stoffes kann man diese unterhaltsame Produktion durchaus als gelungen bezeichnen. O b sie den Geschmack der Kinder verdirbt oder ihnen durch das versöhnliche Märchenende eine Verharmlosung suggeriert, steht auf einem anderen Blatt. Tatsache ist, dass sie ihnen etwas von Tristans alter Geschichte neu erzählt und dadurch, dass sie auf den archetypischen Grundstrukturen des Stoffes aufbaut, die Lebenskraft der alten Tristangeschichte nicht nur in ihrer komischen Dimension, sondern auch in wesentlichen inhaltlichen Aspekten erneuert.
VI. Maurice Maeterlinck, Pelleas et Melisande (1892) Ins märchenhaft-phantastische gesteigert war auch schon Maurice Maeterlincks Drama Pelleas et Melisande (1892) das allein vom Titel her keinen Bezug zur Tristangeschichte aufweist. 9 Maeterlincks Drama evoziert eine märchenhafte mittelalterliche Welt, in der aus der Tristan-Tradition abgeleitete Räume - Schloss, Grotte, Wald und Meer - symbolischen Charakter annehmen. Ebenfalls aus der Tristan-Tradition abgeleitet sind dort die Motive der heilenden Fee, des Liebestods, der Verwandtschaft, der Eifersucht und des Schattens. A l l diese Motive treten nun aber in abgewandelter und sogar umgekehrter, verfremdeter Form auf, wodurch möglicherweise Dejä-vu-Erlebnisse beim Rezipienten ausgelöst werden. Wie König Marke w i r d Golaud in Pelleas et Melisande argwöhnisch gegen das junge Liebespaar, das sich in einer Grotte am Meer trifft. I n der vierten Szene i m vierten A k t beobachtet er, wie Pelleas und Melisande sich i m Mondschein umarmen, d. h., er sieht nur den Schatten des Paares, und dieser Schatten nimmt monströse Formen an. Damit w i r d szenisch die sich steigernde Eifersucht des Königs verdeutlicht, die schließlich dazu führt, dass Golaud auf das Paar zustürzt und seinen Bruder Pelleas umbringt. I n der Tristan-Tradition (vgl. z. B. den Anfang von Berouls Roman) sind es dagegen die Liebenden selbst, die den Schatten ihres Beobachters entdecken und sich daraufhin gegen dessen Eifersucht verbal und gestisch wappnen. Maeterlincks Drama wurde später in vielfältiger Weise von zahlreichen Komponisten vertont: Gabriel Faure (1898/1901), William Wallace (1900), Claude Debussy (1902), Arnold Schönberg (1903) und Jean Sibelius (1905). Auch in der bildenden Kunst war seine Wirkung groß, vor allem bei den Sym9 Pierre C i t t i verweist auf Lohengrin und die Gralslegende, vgl. Maeterlinck, 2 1 - 2 3 . K . H . Ruppel stellt Parallelen zwischen Wagners Oper Tristan und Isolde und Claude Debussys Oper Pelleas et Melisande heraus. Vgl. Ruppel.
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bolisten. 1 0 Doch der eigentliche Ursprung für die Tradierung des Tristanstoffs in der Literatur, Kunst und Musik der Moderne ist Richard Wagners Oper Tristan und Isolde (1859).
VII. Wagner und die Suche nach dem Absoluten Sollte diu wunnecliche isot iemer alsus sin min tot, so wollte ich gerne werben umbe ein eweclichez sterben. Gottfried von Straßburg, Tristan ( w . 11705-11706) 1 1 O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, daß ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß löse von der Welt mich los! Richard Wagner, Tristan und Isolde (41 - 4 2 )
Wagners Gesamtkunstwerk findet seinen Höhepunkt i m - schon i m Vorspiel und i m Leitmotiv anklingenden - Liebestod. I n Karl Gustav Vollmöllers lyrischem Drama Catherina Gräfin von Armagnac und ihre beiden Liebhaber (1903), versucht ein Bretone namens Tristan die Liebe der Gräfin zu gewinnen und tötet seinen Rivalen, mit dem sich die weibliche Protagonistin i m Liebestod vereint. 1 2 Wie Maeterlincks Pelleas et Melisande läßt der Titel dieses Dramas nicht auf die Tristan-Thematik schließen. Viele Werke der Jahrhundertwende greifen strukturelle Elemente oder Episoden aus der Tristan-Tradition auf. Betrachtet man die zahlreichen Tristan-Illustrationen, Tristan-Romane, Tristan-Dramen und Tristan-Gedichte seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, so stellt man fest, dass sich diese weit mehr auf Wagners Interpretation als auf die mittelalterlichen Textquellen beziehen, das heißt, die Rezeption ist bereits in sich gebrochen. 10 Vgl. z. B. »Melisande« von Marianne Stokes (1895), in: Hofmann, Kat. Nr. 42, Tafel 9, oder »Junge Prinzessin« von Lucien Victor Guirand de Scevola (1902), in: Symbolismus in Europa, 77, Abb. 59. 11 [»Wenn die herrliche Isolde/immer so mein Tod sein soll,/dann w i l l ich mich mit Vergnügen b e m ü h e n / u m einen ewigen Tod.«] Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. I I , 158-159. 12 Vgl. Einakter und kleine Dramen des Jugendstils, 55-114. Z u den Tristan-Dramen der Jahrhundertwende vgl. auch Linden und Grill.
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Der Gründer der Revue Wagnérienne, der französische Symbolist Edouard Dujardin, übernimmt Wagners Interpretation Tristans als Sucher nach dem A b soluten und identifiziert Tristan mit Wagner selbst, der als Genie, als Gott, als Mystiker und Magier erscheint, der den Stein der Weisen gefunden hat und sich durch seine Genialität von der Welt des Alltäglichen löst: Ainsi le morne dieu connaissant la Fin proche, Entrevoyant la fin des grands Ors superflus, S'acheminant vers les achèvements voulus; - Ainsi Tristan criait au jour son long reproche. Et son désir au jour plus ne s'accroche, Aspiration à des hymnes absolus; Ainsi le Pur, en qui les Mondes ne sont plus, Planait, extatique Colombe, sur la Roche... O mépriseur, nieur serein, ô attesté Blasphémateur de l'ordinaire, en l'unité Vivant, ô découvreur des réels récifs, Mage, A nous, ainsi, l'esprit hautain et le pervers Génie, ainsi le rêve et la non-vaine image Et l'idée où se meut l'autre et l'autre univers! 1 3
Neben den Helden der Götterdämmerung, des Nibelungenrings und Parsifal steht hier Wagners Tristan in seiner Suche nach dem Absoluten metonymisch für Wagner selbst. Auch Henri Céards Terrains à vendre au bord de la mer ist eine Auseinandersetzung mit Wagners Tristan. I n diesem Roman identifiziert sich eine Opernsängerin mit Isolde und tauscht mit ihrem Geliebten Repliken, die aus Wagners Tristan-Libretto stammen (vgl. Coeuroy, 299-300). Gabriele d'Annunzio zeigt in seinem Roman II trionfo délia morte (1894) einen von Lebensekel befallenen Protagonisten, dessen Todessehnsucht durch das Hören von Wagners Tristan-Vorspiel geweckt wird, und Thomas Manns Novelle Tristan ist eine Auseinandersetzung mit Wagners mystischer Interpretation der Liebestod-Thematik und der überwältigenden Wirkung von Wagners Musik, wobei wörtliche Zitate aus Wagners Libretto in Thomas Manns Prosa Eingang finden: Zwei Kräfte, zwei entrückte Wesen strebten in Leiden und Seligkeit nach einander und umarmten sich in dem verzückten und wahnsinnigen Begehren nach dem Ewigen und Absoluten... [ . . . ] Wer liebend des Todes Nacht und ihr süßes Geheimnis erschaute, dem blieb i m Wahn des Lichts ein einzig Sehnen, die Sehnsucht hin zur heiligen Nacht, der ewigen, wahren, der einsmachenden... / O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschließe sie ganz mit deiner Wonne und löse sie los von der Welt des Truges und der Trennung. (238-239) 13
Édouard Dujardin, »Hommage à Wagner«, in: Hindeberger (Hg.), 198.
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Jean Delvilles Darstellung der Liebestrankszene (Abb. 7) zeigt ebenso wie einige der oben erwähnten modernen Tristan-Nacherzählungen, dass in der Folge von Wagners Tristan-Interpretation die Verschmelzung von Liebestrank und Liebestod, die auch schon i m Mittelalter angeklungen war, 1 4 zum festen Bestandteil späterer Tristan-Adaptationen wird.
VIII. Denis de Rougemont und die Frage nach dem Sinn I n dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems wehendem A l l ertrinken, versinken unbewußt höchste Lust! Richard Wagner, Tristan und Isolde , 74.
Denis de Rougemont charakterisierte in einem Beitrag anlässlich des hundertjährigen Aufführungsjubiläums von Wagners Tristan und Isolde Wagners Interpretation der Tristangeschichte als Wiedergewinnung des verloren gegangenen Sinnes der Legende »in ihrer ursprünglichen Kraft«, als die unhintergehbare »Vollendung des Mythos«, insofern als Wagner mit seiner suggestiven M u sik mehr über die Liebe ausdrücke, als Sprache allein zu vermitteln vermöge und insofern als der Mythos jene Mächte beschwöre, die die Welt regieren: »Haß, Stolz und barbarische Gewalttätigkeit der feudalen Ehre, bis zum Verbrechen.« 15 In seiner berühmten Studie über die großen Liebesmythen der westlichen Welt, UAmour et l'Occident , sieht Denis de Rougemont sein eigenes Anliegen darin, dem Leser diese Dichotomie zwischen der auf Stolz, Ehre und Haß ausgerichteten »Tagesnorm« und der auf Liebe, Vereinigung und Erlösung ausgerichteten »Nachtleidenschaft«, bewusst zu machen und den Tristanmythos in seiner existentiellen Dimension in dieser zeitlosen Weise dem Verständnis zu erschließen: Dresser le mythe de la passion dans sa violence primitive et sacrée, dans sa pureté monumentale, comme une ironie salutaire sur nos complaisances tortueuses et sur notre impuissance à choisir vaillamment entre la Norme du Jour et la Passion de la N u i t ; 14 » [ . . . ] ouwe Tristan unde Isot, / diz tranc ist iuwer beider tot!« [ O weh, Tristan und Isolde, / dieser Trank ist Euer beider Tod!] Gottfried von Straßburg, Tristan , Bd. I I , 110-111 ( w . 11705-11706). Vgl. auch 158-159 ( w . 12486-12502). 15
Rougemont, »Wagner oder die Vollendung«, 159-160, vgl. auch 163.
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dresser cette figure de la M o r t des Amants qu'exalte l'angoissant et vampirique crescendo du second acte de Wagner, tel est le premier objet de cet ouvrage; et le succès qu'il ambitionne, c'est d'amener un lecteur au seuil d'un choix: »J'ai voulu cela!« ou bien: »Que Dieu m'en garde!« 16
A u f unsere Fragestellung hin bezogen könnte man dies folgendermaßen fassen: Jede Form eines »Recycling« des Tristanmythos, ob sie nun künstlerischer, folkloristischer oder wissenschaftlicher Natur ist, ließe sich daran messen, ob und inwiefern sie beim Rezipienten einen Bewußtwerdungsprozess auslöst, der eine existentielle Wahl nach sich zieht. 1 7 Für Denis de Rougemont beruht die ansteckende Kraft des Tristanmythos auf der ästhetischen und ethischen Vollkommenheit in der Darstellung der Liebesleidenschaft: L'amour-passion relève de l'excellence de l'âme. O r c'est dans le mythe de Tristan qu'il a trouvé son expression la plus totale, délicieuse et tragique à la fois. C'est à ce mythe qu'il doit, depuis le X I I e siècle, son pouvoir à jamais contagieux. 18
Trotz dieser ansteckenden Kraft ist Denis de Rougemont zufolge der Großteil der Rezipienten - darin eingeschlossen epigonale Bearbeiter, Leser, Opernpublikum und Opernregisseure - unfähig, den tieferen Sinn des Tristanmythos zu erfassen. 19 Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei den jeweiligen Interpretationen und Sinngebungen der Tristangeschichte um eine Vertiefung oder u m eine Verflachung des ursprünglichen Sinnes handelt, ist jedoch schwierig, da meines Erachtens weder der ursprüngliche Sinn eindeutig erschlossen werden kann, noch nur dieser eine Sinn, falls es ihn gäbe, Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Die Frage, ob Béroul eher archaisch oder eher höfisch geprägt ist, oder ob aufgrund der Stilbrüche er allein oder ein anderer an der Abfassung des 16
Rougemont, L'Amour et l'Occident, 26.
17
Sartre äußerte sich in seiner Rezension den Thesen Rougemonts gegenüber mit Ironie und empfahl den Lesern L'Amour et l'Occident zur Lektüre als »bei amusement« (Sartre, p. 69). Nach Denis de Rougemont zeigen die großen Liebesmythen der westlichen Welt, dass Hindernisse die Bedingung für die Entwicklung einer großen Liebe sind. Sartre, der bekanntlich mit Simone de Beauvoir eine Liebesbeziehung kultivierte, die soziale H i n dernisse bewusst ignoriert, konnte Denis de Rougemonts Konzeption der großen Liebe, die durch Hindernisse reift, nicht verstehen. Z u Denis de Rougemonts Konzeption des Hindernisses vgl. außer in L'Amour et l'Occcident auch in Tristan et Iseut à travers les temps, 3 2 - 3 3 . 18 19
Rougemont, »Discours«, in: Tristan et Iseut a travers le temps, 30.
» [ . . . ] die Frivolität des gewöhnlichen Theaterpublikums, seine schwerfällige Sentimentalität und, um alles zu sagen, seine außergewöhnliche Fähigkeit, das, was man singt, nicht zu verstehen, [haben] den Vorgang [der Trivialisierung] erleichtert. So kann der Tristan von Wagner ungestraft in voller Sicherheit vor bewegtem Publikum wiederholt werden; so stark ist die allgemeine Gewißheit, daß niemand seiner Botschaft glauben wird.« Rougemont, »Wagner oder die Vollendung«, 160.
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Textes beteiligt war und welche Konsequenzen sich daraus für den historischen Sinn der Erzählung ergeben, ist umstritten. Die Frage nach dem Verhältnis von Volkskultur und Hofkultur in den Tristandichtungen des Mittelalters w i r d ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage nach einem vorschriftlichen »UrTristan«, der einer schriftlichen estoire vorausgehe. Beide sind von verschiedenen Forschern in so verschiedener Weise rekonstruiert worden, dass ich eigentlich besser i m Plural von Tristans alten und neuen Geschichten sprechen müsste. H i n z u kommt, dass man sogar innerhalb einer einzelnen Geschichte mehrere finden kann: Wie in der Bibel einzelne Episoden in Dubletten oder mehreren Varianten erzählt werden, so finden sich in den einzelnen Tristandichtungen analoge Episoden, die wie i m Falle der Bibel auf den Übergang vom Gesprochenen zum Geschriebenen zurückgeführt werden und mit den Methoden historisch-kritischer Exegese und der Bestimmung des Sitzes i m Leben ausgelegt werden könnten. Jede Tristan-Bearbeitung, ob sie nun autonom oder innerhalb eines einzelnen Textes in Dubletten oder in redaktioneller Überarbeitung greifbar ist, trägt die Färbung ihrer Zeit und ist Ausdruck einer individuellen Formgebung. I n immer neuem Gewand zeigt sich die alte Geschichte, deren U r sprung im Dunkeln liegt. Die Tatsache, dass die Rezeption der mittelalterlichen Tristanlegende von Anfang an so viele Varianten zeigt, weist gerade auf die inhärente Polysemie der in Fragmenten überlieferten Geschichte zurück, und jeder Rezipient kann nach seinem Verständnishorizont einen Sinn oder eine Sinnvielfalt entdecken, erschließen oder vermitteln (vgl. Barteau). Selbst die auf der Grundlage historischer Analysen geführte Rekonstitution eines historischen Sinns der Tristanerzählungen führte in der Forschung zu Kontroversen, wobei das Hauptproblem darin liegt, dass die einen die mittelalterlichen Tristan-Texte als historische Quellen betrachten, aus denen man sozialgeschichtliche Fakten ableiten und verallgemeinern kann, die anderen hingegen auf den Fiktionscharakter dieser Texte hinweisen und sie nicht als Ausdruck der realen mittelalterlichen Kultur, sondern als Ausdruck einer Gegenkultur lesen. George D u b y nimmt in Le Chevalier; la Femme et le Pretre die mittelalterlichen Tristan-Texte als historische Quellen für die sozialen Praktiken der Epoche und schließt aus seiner Lektüre auf Verhaltensmaßnahmen bei weiblicher Untreue i m mittelalterlichen Alltagsleben (Duby, pp. 233-235). Paul Zumthor und Hans Ulrich Gumbrecht vermuten, dass die mittelalterliche Poesie aufgrund ihrer ironischen Dimension einen gegenkulturellen Charakter besitzt, jedoch nicht i m Sinne eines Klassenkampfs, sondern i m Sinne des Karnevals. 20 I m Gegensatz zu Bachtin 2 1 interpretiert Zumthor die karnavaleske
20
Zumthor, Parier du Moyen Age, 72, mit Bezug auf Gumbrecht.
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Dimension mittelalterlicher Literatur als bewusste Ambiguität, durch die das System sowohl bestätigt als auch subvertiert w i r d {Parler du Moyen Age, pp. 78-79). I n diesem Sinne betrachtet Zumthor Erich Köhlers Thesen zum höfischen Roman 2 2 als repräsentativ, da Köhler die Bezüge zwischen Text und Imagination erhelle und den höfischen Roman als kompensatorische Projektion einer sich über den Mythos definierenden Gesellschaft interpretiere (ibid. p. 43). Zumthor selbst schlägt vor, jede mittelalterliche poetische Form als doppelsinnig zu betrachten: [ . . . ] toute forme poétique médiévale (quel que soit le niveau où on la définit) tend au double sens: et je n'entends pas ici le dédoublement que déchiffre la lecture allégorique mais, s'y superposant ou en complexifiant les effets, un perpétuel sic et non, oui et non, envers / avers. Tout sens, à la limite, se donnerait pour énigmatique, l'énigme se résolvant en propositions simultanées et contradictoires, dont l'une toujours parodie plus ou moins l'autre. [ . . . ] Le texte médiéval me fait confiance. [ . . . ] je vous livre un sens, dit le texte; à vous de le découvrir, de l'»inventer« - comme on parlait de l'invention
des
reliques d'un corps saint. [ . . . ] Notre tâche consistera, dans chaque cas particulier, à déceler par quelles voies, avec quelle voix, le texte entend guider notre quête. (Ibid., pp. 7 1 - 7 4 ) .
Das Fragmentarische und Kontradiktorische der mittelalterlichen Quellen, ihre fundamentale Ambiguität, die darin begründet ist, dass diese Texte sowohl auf die realen Umstände der Lebenswelt verweisen und diese teilweise bestätigen, als auch einen Gegendiskurs inszenieren, ist gewissermaßen eine Bedingung für die Möglichkeit, immer wieder neue Sinnstiftungen vorzunehmen.
IX. Vitalität und kreative Potenz des Tristanmythos Fatto questo issammo fiocco e vela maestra e facendole portare in pieno ci awenturiamo verso i l mare aperto. Tutte le direzioni sono di pari importanza.
N a n n i Balestrini, Tristano (p. 10)
Tristan und Isolde logen, u m irgendeine Wahrheit zu verteidigen, die sie über die rationale Weltordnung hinaushob. Vielleicht braucht Gott auch solche Menschen? Maria Kuncewiczowa, Tristan 1946 (p. 142).
I m Verlauf seines Rezeptionsprozesses durchläuft Tristan verschiedene Metamorphosen: vom Halbgott, der übernatürliche Kräfte besaß, w i r d er zum 21 Vgl. z. B. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur Main, Suhrkamp, 1995 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1187). 22
[1965], Frankfurt am
Vgl. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik: Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung. Tübingen, Niemeyer, 3., unveränderte Auflage 2002. 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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tragischen Helden, zum Hofmenschen, zur Identifikationsfigur, zum Symbol. Moderne Tristan-Romane wie von Maria Kuncewiczowa oder Nanni Balestrini zeigen, dass i m Tristanmythos eine Vitalität und kreative Potenz enthalten ist, die bis in unsere Gegenwart hinein zu immer wieder neuen originellen Auseinandersetzungen führt. Maria Kuncewiczowa überträgt die Tristan-Thematik in die sich langsam regenerierende Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und bietet eine modernisierte Version der tragischen Liebe zwischen einem aus dem K Z entronnenen Polen und einer verheirateten Irin. Die Romanfiguren stellen in wechselnden Erzählperspektiven immer wieder Verbindungen zwischen ihren Erlebnissen und einzelnen Episoden der mythologischen Welt des alten Romans her, die zur Obsession w i r d . 2 3 Z u m Schluss w i r d angedeutet, dass die Liebe von Tristan und Isolde ein Mythos ist, dem die Mentaltät der Moderne nicht standhalten kann. Nanni Balestrinis Roman spielt mit der Tatsache der fragmentarischen Uberlieferung des Tristanstoffes und dekonstruiert Tristan und Isolde i m Sinne der experimentellen Prosa des nouveau roman als Figuren, deren Identität nicht greifbar ist, und die miteinander und ineinander verschmelzen. Auch die Resistenza-Thematik findet Eingang in Balestrinis Roman. Beide Romane sind kreative Auseinandersetzungen mit dem Tristanmythos. Ahnliche Phänomene finden natürlich auch bei anderen mittelalterlichen Texten, wie dies Nicole Dentzien anhand der Artustradition gezeigt hat, deren kreative Potenz sie auf die textinterne, intertextuelle, historische und kulturelle Offenheit der mythenbildenden Texte des Mittelalters zurückführt (vgl. Dentzien). Man könnte i m H i n b l i c k auf solche kreativen Auseinandersetzungen auch mit Henri Bergson von élan vital. , évolution créatrice und fonction fabulatrice sprechen, diese jedoch nicht mehr wie dieser aus naturgegebener Disposition herleiten, sondern eher i m Sinne von Ernst-Robert Curtius anthropologisch als »freies Spiel« verstehen, das sich »vom biologisch zweckmäßigen Erzeugen von Fiktionen zur Schaffung von Göttern und Mythen« und »von der religiösen Welt ganz abgelöst« hat und »die Fähigkeit, Personen zu schaffen, deren Geschichte w i r uns selbst erzählen« ausdrückt (Curtius, p. 19). Heutzutage ist die Fabulierfunktion auch angesichts der Tatsache bedeutsam, dass sich neue künstlerische Mittel entwickelt haben, vor allem i m Film. Die Mobilität der Kamera, die Technik der Montage, die Aufteilung in Sequenzen, die Fokussierung, all das eröffnet neue Dimensionen, wobei zu beachten wäre, dass in diesem Fall die Fabulierfunktion stärker auf der Ebene der Repräsentation als auf jener des Diskurses anzusiedeln und zu analysieren wäre.
23
»In der Halle lauerte Ernest schon auf mich, am Rand des geschnitzten Stuhls sitzend, ganz wie der von König Marke begnadigte Zwerg« (Kuncewiczowa, 103).
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X . Kevin Reynolds' Film Tristan
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& Isolde (USA 2005)
Vor kurzem brachte der amerikanische Regisseur Kevin Reynolds seinen Historienfilm Tristan and Isolde heraus. Der Film ist trotz brutaler Kampfszenen freigegeben für Zuschauer ab zwölf Jahren. Grandiose Landschaften bilden den Rahmen für ausgelassene Feste, wilde Kampfgemetzel und stille, sentimentale Liebesszenen (Abb. 14).
Abb. 14: Szene aus Kevin Reynolds Film: James Franco in der Rolle des Tristan und Sophia Myles in der Rolle der Isolde. In: Kino & Co, p. 16
I n einer Zeitung, die sich Kino&Co y Deutschlands grosses Kinomagazin nennt, w i r d diese Hollywoodproduktion von Kritikern und teilweise auch von den Schauspielern selbst als »hinreissendes Herzensdrama« (1), als »frustrierende Geschichte«, die »jedem passieren [kann], der in der Disco die falsche Frau anspricht« (16-17) charakterisiert, und sogar - in Anspielung auf die Kampfund Liebesszenen - als »Schlachtplatte mit Liebesspielen« (16), »Liebe und Hiebe sozusagen« (15). Solche Reduktionen der Komplexität des Tristanstoffes zeigen eine Tendenz zur Trivialisierung. I m Film entspricht Tristan dem tradi-
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tionellen Heldenideal, da er alle Kämpfe siegreich überwindet. Doch in der Liebe ist Isolde die treibende Kraft. Tristan, der in den Kampfszenen ein echter Draufgänger ist, zeigt sich in Liebensangelegenheiten von Anfang an passiv. Isolde muss ihn immer wieder mit Worten und Taten zu seinem Glück zwingen: »Liebe ist von Gott geschaffen!« Tristan hat dagegen die Moral i m Sinne von law and order verinnerlicht. »Es darf nicht sein! [ . . . ] Es muss enden!« Dass er Recht behält, soll die Tatsache verdeutlichen, dass die individuelle Liebe der beiden verheerende Auswirkungen auf das kollektive Schicksal ihrer Völker hat und Marke den Anspruch auf das Königtum verliert. U m des lieben Frieden willens verzichtet Tristan auf Isolde und schiebt sie i n einem Boot ins Ungewisse - wie er selbst zu Anfang aufs Meer hinaus geschoben wurde. Isolde fleht ihn an, mit ihr zu kommen, doch Tristan weigert sich: »Für alle Zeiten würde es heißen, unsere Liebe hat ein Königreich vernichtet.« Statt Liebe wählt Tristan den Haß und stürzt sich ins Kampfgetümmel zwischen Engländern und Iren. Er fällt. U n d das Filmpublikum w i r d unterrichtet: »Ihre Liebe vernichtete kein Königreich.« Die Ordnung ist wieder hergestellt. Der Film macht genau das, was alle Tristan-Erzählungen machen: Aus verschiedenen Quellen w i r d eine Erzählung neu komponiert und weitergesponnen, indem einzelne - für unzeitgemäß befundene Elemente - wie in diesem Falle die Liebestrankszene, die Vertauschung Isoldes und Brangänes in Markes Bett und der Liebestod - weggelassen werden, andere Elemente - wie die Morholt-Episode - vertauscht oder dramatisiert wenn nicht gar melodramatisiert werden (Isolde ist Morholt versprochen). Wie in den alten Quellen w i r d nach dem Prinzip der Montage und Paraphrase mit den Mitteln der Reduktion und Amplifikation Tristans alte Geschichte neu erzählt und der eigenen Zeit und Mentalität angepasst. Doch die Ambiguität der alten Quellen, in denen die an der höfischen Gesellschaft orientierte »Tagesnorm« und i m Kontrast hierzu die »Nachtleidenschaft« der Liebenden kontrastiv nebeneinander stehen, ist i m Film reduziert: Die sentimentale Liebe zwischen Tristan und Isolde spiegelt die Liebeskonzeption zeitgenössischer Hollywoodfilme. I m Film ereignet sich kein Liebestod. Stattdessen siegt die »Tagesnorm« von law and order über die Liebe. Der Film baut auf dem Prinzip der Identifikation der Zuschauer mit den Schauspielern auf. M i t geschickter Kameraführung und musikalischer Untermalung werden die Stars in prachtvoll poetischen Landschaftsbildern inszeniert. Man könnte hier von einer Ikonisierung und Auratisierung sprechen, wie man dies vom Prinzip her auch in anderen Filmproduktionen vorfindet, w o die Tatsache, wer die Rolle spielt, wichtiger ist als die Rolle selbst. Doch das wesentliche Problem besteht darin, dass der Film ohne Kenntnis und Reflexion der mittelalterlichen Quellen weder in seiner intellektuellen Auseinandersetzung mit diesen Quellen, noch in seiner innovativen Originalität, noch in
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seinem Kitschcharakter erkannt werden kann. Er vermittelt die alte Geschichte trotz seines historischen Anspruchs in moderner Verkleidung und w i r d nur noch in seiner ikonischen Wirkung wahrgenommen.
X I . Vom Recycling zum neuen Wissen? Was wären w i r - unerzählt. Getrennt geblieben. Hanno Helbling, Tristans Liebe. Abendstücke, 71.
Historisch betrachtet ist das Wissen über das Mittelalter heute grosso modo vollständiger als früher, w o die politische Geschichte i m Vordergrund stand. Die École des annales oder nouvelle histoire haben dazu beigetragen, das Mittelalter neu zu denken und auf der Grundlage einer heterogenen Einheit von Texten, neuen Dokumenten, Monumenten und Fakten eine neue Vorstellung und ein neues Wissen des Mittelalters zu vermitteln. Die Vertreter der École des annales, aber auch darüber hinaus Wissenschaftler wie Aaron Gurjewitsch und Michail Bachtin haben sich vor allem mit den Tatsachen des Alltagslebens befasst und den Blick für die Volkskultur und marginale Räume, Zeiten und Personen des Mittelalters geöffnet, indem sie etwa der Frage nach dem Umgang mit dem Tod nachgingen oder der Frage nach Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten, oder indem sie die Volkskultur und den Karneval ins Zentrum ihrer Analysen stellten. Die traditionelle Historiographie als »Ereignisgeschichte« w i r d durch diesen neuen Typus von Historiographie als »Geschichte des Alltags« ersetzt. Welche Rolle spielt hierbei die Literatur? Einige Vertreter der nouvelle histoire praktizieren zwar die Analyse literarischer Texte als Bestandteil ihrer interdisziplinär ausgerichteten Methodik. Doch der interdisziplinäre Dialog zwischen Historiographie i m Sinne der nouvelle histoire und der Literaturwissenschaft ist nicht unproblematisch. I n Jacques Le Goffs Beschreibung der Methodik der nouvelle histoire w i r d der Dialog mit Literaturwissenschaft, Theologie und Philosophie sogar weitgehend abgelehnt, wogegen der Dialog mit anderen Disziplinen wie Anthropologie, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte, Geographie, Psychologie und Psychoanalyse sowie Linguistik und Mathematik privilegiert w i r d . 2 4 Die Analyse des Imaginären w i r d nur i m Sinne der Strukturanalysen des von Gilbert Durand gegründeten Centre des recherches sur l'imaginaire akzeptiert: [ . . . ] une dimension - essentielle - qui manque encore en grande partie à l'histoire est celle de Y imaginaire, cette part du rêve qui, si on en démêle bien les rapports complexes avec les autres réalités historiques, nous introduit si loin au cœur des sociétés. A cet 24
Le Goff, »L'histoire nouvelle«, in: La nouvelle histoire , 3 4 - 7 5 .
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égard, une meilleure liaison devrait, par exemple, s'établir entre les historiens et le Centre des recherche sur l'imaginaire de Chambéry autour de Gilbert Durand, venu de l'histoire littéraire
et de la linguistique. 2 5
Eine so verstandene Analyse des Imaginären, so wesentlich und wertvoll sie auch als Bestandteil der Analyse literarischer Texte ist, führt meines Erachtens jedoch zu einer Atomisierung und Entkontextualisierung der Literatur, die mehr ist als eine Reihe von Isotopien des Imaginären, da sie aus ihrer Wahrnehmung heraus die Welt thematisiert. Wie also lassen sich in der Perspektive neuen Wissens die Funktionen der alten und neuen Geschichten Tristans interpretieren? Es gibt unbestreitbar eine Intertextualisierung des Mythos als erzählter Geschichte mit spezifischer Bedeutung - in ähnlicher Weise wie James Joyces Ulysses den Odysseus-Mythos überschreibt, w o Leopold Bloom (Odysseus) und M o l l y Bloom (Penelope) zu Repräsentanten der damaligen Gesellschaft i m Allgemeinen werden und sich die mythologische Welt mit der modernen Welt der Zwanziger Jahre überlagert. Die populäre Wiederaufbereitung des Tristanmythos erweitert den Rezeptionsraum dahingehend, dass durch die Einführung neuer Kommunikationsmittel - Film, Videoanimation im Gegensatz zur Literatur und zur Oper - der Zugang zum Mythos nicht mehr nur einer kleinen Elite vorbehalten ist, sondern der Mythos findet Eingang in die Massenkultur. Der Abstand zwischen Mythos und Leben verringert sich; der Mythos tritt ins Alltagsleben ein und w i r d für jeden »konsumierbar«. Der Mythos ist nicht mehr im Sinne von Mircea Eliade eine »histoire racontée in illo tempore«, 26 sondern im Sinne von Leszek Kolakowski gegenwärtig. 27 I m Falle des Tristanmythos w i r d dieser Prozess durch seine Verbreitung im Film dynamisch und wirkungsmächtig. Tristan und seine neuen Geschichten
25 Le Goff, »L'histoire nouvelle«, in: La nouvelle histoire , 64. Evelyne Patlagean geht in ihrem Beitrag »L'histoire de l'imaginaire« (ibid., 307-332) auf soziologische, mentalitätshistorische und psychoanalytische Aspekte ein. 26 »Personnellement, la définition qui me semble la moins imparfaite, parce que la plus large, est la suivante: le mythe raconte une histoire sacrée; il relate un événement qui a eu lieu dans le temps primordial, le temps fabuleux des »commencements«. Autrement dit, le mythe raconte comment, grâce aux exploits des Êtres Surnaturels, une réalité est venue à l'existence, que ce soit la réalité totale, le Cosmos, ou seulement un fragment: une île, une espèce végétale, un comportement humain, une institution. C'est donc toujours le récit d'une »création«: on rapporte comment quelque chose a été produit, a commencé à être« (Eliade, 15). 27 Kolakowski versucht, »die Gegenwärtigkeit des Mythos in den nicht-mythischen Bereichen ausfindig zu machen« (Kolakowski, 9). »Sowohl also i m Verlangen wie in der Stillung des Verlangens offenbart sich die Liebe als eine auf den mythischen Wert bezogene Bewegung« (Kolakowski, 68).
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können so zum Allgemeingut werden. Jenseits der Literatur und jenseits der wagnerschen Oper - die beide fragmentiert weitertradiert werden - tauchen in der Massenkultur Tristan und Isolde als ein außergewöhnliches Paar auf, als Protagonisten einer absoluten und fatalen Liebe, aber gleichzeitig auch als normales Paar, das alle ansprechen soll, da es in seiner symbolischen Wirkung als ideale Verkörperung der Macht der Liebe zur Identifikations- und Projektionsfläche werden kann. Somit w i r d durch Recyclage die große Weltliteratur zur Literatur der Welt. Das elitistische und gebildete Publikum hat dem Massenpublikum den Platz geräumt. Doch die Tatsache, dass sich der Mythos überhaupt modernisieren lässt, zeigt, dass in ihm konstante Ausdrucksmittel begründet sind, die den Menschen jeder Zeit betreffen. 28 Der mittelalterliche Tristanmythos verweist in seiner anthropologischen und kulturellen Dimension auf archetypische Grundmuster, die in allen Kulturen der Welt auftreten: Eros und Thanatos. Liebe und Tod. Unschuld und Schuld. Abenteuer und Suche. Heroismus und Mystik. Glaube und Magie. Wildheit und Kultiviertheit. Kampf und Spiel. Doch nicht zuletzt ist es die Schönheit der alten Geschichtein) Tristans, die jene der neuen bedingt. Diese können ihrerseits wieder neue hervorbringen, wie man dies beispielsweise anhand einer Gegenüberstellung von August Graf von Platens Gedicht »Tristan« (1825) und Luis Antonio de Villenas »Tristan« (1979) erkennen kann: August Graf von Platen, »Tristan« Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, Ist dem Tode schon anheimgegeben, W i r d für keinen Dienst auf Erden taugen, U n d doch w i r d er vor dem Tode beben, Wer die Schönheit angeschaut mit Augen. Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe, Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen, Z u genügen einem solchen Triebe: Wen der Pfeil des Schönen je getroffen, Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe! Ach, er möchte wie ein Quell versiechen, Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen U n d den Tod aus jeder Blume riechen: Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, Ach, er möchte wie ein Quell versiechen! 29 28
»Un mythe, au sens où je l'entends, c'est une histoire, généralement très simple, et invariable en sa donnée - bien qu'offrant des possibilités infinies d'adaptation aux circonstances individuelles les plus diverses - une histoire qui décrit et révèle d'une manière imagée, symbolique, une structure de notre existence« (Denis de Rougemont, in: Tristan et Iseut a travers le temps, 29). 29
August von Platen, 69.
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Dorothea Scholl Luis Antonio de Villena, »Tristan« Quien ha visto con sus ojos la Belleza tocó ya la sombra. Se ha convertido en andante paladín de realidad, en afanoso buscador de tesoros. Quien ha visto con sus ojos la Belleza vivirá para siempre cautivo de ese amor, insatisfecho, hecho, agonizante monje por la lumbre de un cuerpo. Quien ha visto con sus ojos la Belleza, sabe ya la nada que le resta en este mundo; persecutor de dioses implacables, helo ahí, consagrado a la Muerte. 3 0
Jede neue Fortschreibung oder Überschreibung der alten Geschichte einschließlich der Parodien 3 1 wirft ein neues Licht auf eben diese alte Geschichte und eröffnet neue Zugänge. Historisch betrachtet besteht das Problem des neuen Wissens aus einer Reihe von Transformationen i m historischen Feld. Der ursprüngliche Sinn ist entzogen, man kann sich ihm nur durch Textlektüre und Rekonstruktion der historischen Situation annähern. Eine totalisierende Prätention bei der Sinngebung durch den Interpreten w i r d durch die unhintergehbare Ambiguität der Texte selbst und durch die hermeneutische Situation des Interpreten aufgehoben. Dennoch kann man versuchen, aus dem Dialog der mittelalterlichen Textquellen einen historischen Sinn zu rekonstruieren und mit unserem Pluralismus an Methoden die Differenz zu erschließen. Gerade die Rekonstruktion der A n dersartigkeit des Mittelalters ist eine wesentliche Bedingung für die Konstitution von Identität , denn das Mittelalter ist ein Teil unserer eigenen Vergangenheit. Der Verlust an Wissen über »alte« Weltorientierungen verhindert die kritische Distanz angesichts der Entstehung von »neuen« Angeboten der Weltorientierung, wie sie i m Recycling alter Stoffe auftauchen. 30 Villena, 344. [Übersetzung von Gustav Siebenmann: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / hat berührt schon den Schatten. / Hat sich verwandelt in den fahrenden Ritter / nach Wirklichkeit, / in rastlosen Schatzsucher. / Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / w i r d leben für immer gefangen / in dieser Liebe, / ein unbefriedigter, wunder, siecher Mönch / ob des Leuchtens eines Leibes. / Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / weiß schon u m das Nichts, das ihm blüht / in dieser Welt; / Verfolger unerbittlicher Götter, / da steht er, geweiht dem Tode.« (345)]. 31 Z. B. Donizettis komische Oper UElisir d'amore (1831) oder die Grazer Tristane von L u d w i g Harig, der August von Platens »Tristan« parodiert.
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Selbstwahrnehmung in Erinnerung zu rufen, u m in Anschluss daran diese mit neuen Formen der Selbstwahrnehmung in King Lear zu kontrastieren. Hierbei werde ich mich ausschließlich auf Lears Selbstwahrnehmung konzentrieren, u m die Relevanz dieser Veränderungen für den tragischen Handlungsverlauf zu verdeutlichen. Die Skizzierung der >feudalen Selbstwahrnehmung< erfolgt anhand von Shakespeares erster Tragödie, Titus Andronicus , da in dieser, wie in keinem anderen Drama Shakespeares, der tragische Protagonist auf offenkundige Weise in feudale Strukturen eingebettet ist und auch die Form des Dramas auf archaische Gattungsmuster verweist, die in King Lear als bereits überholte präsentiert werden. I. Die Gesellschaft des Blutes Michel Foucault beschreibt die feudale Gesellschaft als eine »Gesellschaft des Blutes«: Für eine Gesellschaft, in der die Allianzsysteme, die politische Form der Souveränität, die Differenzierung in Stände und Ränge sowie der Wert der Abstammungen vorherrschend sind, in der der Hunger, die Seuchen, die Gewaltsamkeiten den Tod in dauernde und unmittelbare Nähe rücken - in einer solchen Gesellschaft stellt das Blut einen der wesentlichen Werte dar. Sein Wert liegt in seiner instrumentellen Rolle (Blut vergießen können), in seinem Funktionieren innerhalb der Ordnung der Zeichen (ein bestimmtes Blut haben, vom selben Blut sein, bereitwillig sein Blut wagen) und auch in seiner Gefährdetheit [ . . . ] . 3
Damit kennzeichnet Foucault eine Gesellschaft, die sich durch und über Rituale, Stände, Ränge, Abstammung, Ehre und existenzielle Ängste auszeichnet. Der Souverän hat Macht über Leben und Tod. 4 Diese direkte Macht über das Leben und den Tod hat sich jedoch, so Foucault, i m Verlauf der frühen Neuzeit in eine indirekte Macht über den Körper und die Bevölkerung bzw. deren Kontrolle verändert. Anstatt dem Menschen und seinem Körper durch Folter, Verstümmelung und Hinrichtung zu drohen, w i r d dieser in zunehmendem Maße dressiert, kontrolliert und reguliert. 5 Ein konstituierendes Merkmal 3
Foucault 175-176.
4
»Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt - oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht >über Leben und Tod< ist in W i r k lichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen« (Foucault 162). 5 Foucault unterscheidet zwischen zwei Hauptformen der Kontrolle: Die erste ist u m den »Körper als Maschine« zentriert, dessen »Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte« und u m dessen »Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme« (Foucault 166). Dies geschehe u. a. durch Institutionen wie die Armee
Formen der Selbstwahrnehmung
111
der »Gesellschaft des Blutes< ist demnach die besondere Rolle, die dem Körper, seiner Bedrohung und Verletzbarkeit, aber auch dem Blut in der Selbstwahrnehmung zukommt, sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinne. Die Veränderung der Gesellschaftsformen lässt sich auch mit den Konzepten Luhmanns beschreiben. Dieser geht von einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung aus. Der segmentären Gesellschaftsform folgte eine hierarchisch-stratifikatorische und schließlich eine funktional-differenzierte. Während sich das Individuum in der hierarchisch-stratifikatorischen Gesellschaft als Teil der Gattung Mensch, also via Inklusion, wahrnimmt, definiert sich der Mensch in einer funktional-differenzierten Gesellschaft über Exklusion, d. h. über die Abgrenzung von der Gesellschaft. 6 Anhand von Shakespeares erster Tragödie Titus Andronicus lassen sich nun einige wesentliche Merkmale der Gesellschaft des Blutes verdeutlichen. Hülse hat sich der Mühe unterzogen, die Misshandlungen in Titus Andronicus zu zählen und statistisch auszuwerten. Er kommt auf »14 killings, 9 of them on stage, 6 severed members, 1 rape (or 2 or 3, depending on how you count), 1 live burial, 1 case of insanity and 1 of cannibalism - an average of 5.2 atrocities per act, or one for every 97 lines.« 7 Die Gesellschaft des Blutes w i r d hier also beim Wort genommen und auf der Bühne ins Bild gesetzt. Die Ausstellung von abgetrennten Körperteilen ist Teil einer Körpersymbolik und einer »Symbolik des Blutes« 8 , die das gesamte Stück durchziehen. Dabei spielt die Identifikation mit dem eigenen Blut, aber auch dem >GeblütEinspielungsversuchen< von Titus in das post-feudale Zeichensystem vgl. Fuchs 9 4 - 9 6 . 26 Diese Unzulänglichkeit beider semiotischen Modelle zeigt sich u. a. auch in der instabilen Opposition von vermeintlich römisch-zivilisiertem und vermeintlich gotisch-barbarischem Interaktionsmodell. Titus »must abandon his Roman integrity and become barbarous in order to defeat the barbarians« (Charney 108) und Aaron erweist sich als »only affectionate father« ( K o l i n 95) i m gesamten Stück. I n Titus Andronicus »the issues of right and wrong are indeed confounded« (Sundelson zitiert in K o l i n 18), Rom »is but a wilderness of tigers« (Tit. III.i.53) und »as Titus is being dehumanized by his commitment to revenge [ . . . ] the barbaric Goths turn against their queen and Aaron and embrace the
8*
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I I . Die höfische Gesellschaft Ein Blick auf die frühneuzeitliche höfische Gesellschaft verdeutlicht die wachsende Bedeutung einer als Rollenhaushalt begriffenen Identität. Norbert Elias beschreibt in seinem Werk Über den Prozeß der Zivilisation die Herausbildung von >zivilisierten< Gesellschaftsformen, die sich vor allem durch eine »Dämpfung der Triebe« 2 7 , eine Internalisierung von Fremdzwängen, Affektkontrolle und die Herausbildung dramaturgisch ausgerichteter Interaktion auszeichnen. M i t der Entstehung von Machtzentren und Machtmonopolen - also der modernen höfischen Gesellschaften - i m 16. und 17. Jahrhundert wurde nicht nur die physische Bedrohung des Einzelnen durch eine indirektere Form der Kontrolle und Regulierung des Körpers ersetzt, wie dies auch Foucault für die Gesellschaft der Sexualität als Folgetypus der Gesellschaft des Bluts postuliert. Auch in der Selbstwahrnehmung wich allmählich die Identifikation mit dem Stammesverband, der Familie und dem Clan einer differenzierteren Selbstsicht, Selbstkontrolle und Selbstinszenierung. I n der höfischen Gesellschaft kommt es zu der Herausbildung einer Selbstkontrollapparatur, die, so Elias, sowohl bewusst als auch unbewusst arbeitet und das eigene Verhalten durch das >Hereintragen< von fremden Rollenerwartungen stark kontrolliert, reguliert und einem dramaturgischen >Skript< unterwirft. Aufgrund des größeren Differenzierungsgrades des funktional-differenzierten höfischen Systems ist jetzt eine affektgebundene Identifikation mit dem Stammesverband ohne Rücksicht auf Image- und Habitusverluste nicht mehr möglich. Der H o f w i r d zur Imagebörse, in der die fremde Meinung über den Wert des Einzelnen bestimmt. Das Leben in diesem Kreis ist kein friedliches Leben. [ . . . ] . Der Druck der Konkurrenz um Prestige und die Gunst des Königs ist stark. [ . . . Die Umstände am H o f ] verlangen und züchten andere Eigenschaften, als die Kämpfe, die mit der Waffe ausgefochten werden können: Überlegung, Berechnung auf längere Sicht, Selbstbeherrschung, genaueste Regelung der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu unerläßlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolges. 28
Wie kann vor dem Hintergrund des skizzierten gesellschaftlichen Umbruchs die Identitätskrise Lears erklärt werden? Es lässt sich bereits an Hamlet zeigen, dass Shakespeare den Übergang von einer identifikatorischen zu einer funktional-differenzierten Selbstwahrnehmung thematisiert. 29 Auch die Figur des Lear zeichnet sich zu Beginn des Dramas durch eine identifikatorische Selbstwahrnehmung aus. So ist für Lear die Krone kein A m t , sondern in der Tradition der cause for the Andronici« [Eugene Waith in der Einleitung zu seiner Ausgabe von Titus Andronicus, The Oxford Shakespeare (Oxford 1984), 65]. 27
Elias Bd. 2, 369.
28
Elias Bd. 2, 370.
29
Vgl. Weidle.
Formen der Selbstwahrnehmung
117
Lehre von den zwei Körpern des Königs etwas, in das er hineingeboren wurde und das fester Bestandteil seines Ichs ist. A u f der Basis eines derartigen Selbstverständnisses kann die von ihm in der ersten Szene anvisierte Teilung von kingship in »name, and all the additions to a king« (Lr. I.i. 136) einerseits, und in »sway, revenue, execution of the rest« (Lr. I.i. 137) andererseits nicht gelingen. Bereits auf der Grundlage dieses Selbstverständnisses ist Lears Wunsch, die Macht abzugeben und die Krone bzw. den Namen zu behalten, ein paradoxes Unterfangen. »Lear's wish to deny his kingship« ist gleichbedeutend mit dem Wunsch »to deny Self, to deny his Being«. 3 0 Somit zeichnet sich bereits zu Beginn des Dramas die Diskrepanz zwischen Lears Wahrnehmung und der Realität ab, die sich i m Verlauf der ersten beiden Akte noch weiter verstärken w i r d . 3 1 M i t der Teilung seiner Krone in »sway« und »name« und dem Wunsch an Letzterem, also am >falschen< Teil, festhalten zu wollen, nimmt Lear in den Worten van Pelts eine »linguistic self-castration« 32 vor. Ein Titel ohne Macht ist nichts, nothing. Diese Selbstkastration w i r d von Lear zunächst nicht als solche wahrgenommen. Heftig und affektgebunden reagiert er daher auf die Aussage des affektierten Höflings Oswald, dass er eigentlich nur noch der Vater seiner Töchter sei: L E A R : [ . . . ] W h o am I, sir? OSW: M y lady's father. L E A R : » M y lady's father«! M y lord's knave! You whoreson dog! you slave! you cur! (Lr. I.iv.67-70)
Lear begreift nicht bzw. noch nicht, dass er mit der Abgabe seiner Macht in der Tat für seine Töchter nicht mehr König, sondern >nur< noch Vater ist. Einerseits erkennt er nicht - oder möchte es nicht wahrhaben - dass die Rolle bzw. das A m t des Königs nicht mehr verfügbar ist, andererseits bieten sich ihm keine alternativen Identifikationsmöglichkeiten. Das ist die Grundlage von Lears tragischem Konflikt. Aus einer derartigen Perspektive gerät das Selbst in Gefahr,
30
H o l l y 178.
31
Taylor spricht vom »unbridgeable chasm between Lear's presumptions about himself and the surrounding actualities« (Taylor 510). 32 Van Pelt 100-101. Van Pelt beschreibt diese Trennung von Titel und Macht in der Terminologie von Lacan: Lear »separates the name of K i n g from the power of kinship, separates the signifying >addition,< glossed as >honors and prerogatives< [ . . . ] , from the imposition of the law and separates the nom (the signifier which encodes the law) from the non (the phallic prohibition which enforces the law). To the horror of his court, Lear performs linguistic self-castration. When Lear gives up the phallus, he reveals to everyone the gap between the chain of signification and the chain of drive on which castration locates itself in the unconscious. This gap, once sutured by Lear's kingship, now yawns wide w i t h the loss of the king as a phallic referent. [ . . . ] To make of the circular crown t w o pieces is to make a nothing into nothing«.
118
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in ein Nichts zusammenzufallen, wie es dann auch bezeichnenderweise vom Narren recht früh, noch i m erstem A k t , diagnostiziert wird: I had rather be any kind o' thing than a fool; and yet I w o u l d not be thee, nuncle; thou hast pared thy w i t o' both sides, and left nothing i' the middle. [ . . . ] Thou wast a pretty fellow when thou hadst no need to care for her [GoneriPs] frowning; now thou art an O without a figure. I am better than thou art now; I am a fool, thou art nothing. (Lr. I.iv.162-169)
Während der Narr sich zumindest noch als »Fool« bezeichnen kann, 3 3 bleiben Lear alternative Identifikations- und Rollenangebote verwehrt: L E A R : D o t h any here know me? This is not Lear. D o t h Lear walk thus? speak thus? Where are his eyes? Either his notion weakens, his discernings Are lethargied - Ha! waking? T i s not so. W h o is it that can tell me w h o I am? (Lr. I.iv.201 - 2 0 5 )
Die Tatsache, dass Lear an andere appelliert, u m sich seines Selbst zu vergewissern, unterstreicht bereits die Bedeutung, die Lear den Fremdwahrnehmungen und Fremderwartungen in der Konstituierung des Ichs beimisst, und sie antizipiert die Ausrichtung des eigenen Verhaltens an internalisierte Rollenerwartungen, wie dies u. a. bereits Edmund, aber auch Edgar vorbildlich praktizieren. 3 4 M i t Lears Desintegration geht auch, und die syntaktische Struktur der zitierten Zeilen verdeutlicht dies, eine gestörte Wahrnehmung seiner U m w e l t einher. Der Soziologe Erving Goffman sieht in einer derartig gestörten Beziehung zwischen Individuum und Umwelt die Ursache für »negative experience« - eine negative Erfahrung, die dann eintritt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, eine Situation entsprechend einzuordnen bzw. zu rahmen: Expecting to take up a position in a well-framed realm, he [das Individuum, das sich in einer derartigen Situation befindet] finds that no particular frame is immediately applic33 Hier müsste noch der Frage nachgegangen werden, ob sich der Fool bereits in der Rolle des bzw. eines Fools sieht oder ob er sich noch ähnlich identifikatorisch wie Lear wahrnimmt. 34 Es sei in diesem Zusammenhang auf eine interessante Parallele verwiesen. Während Lears ungewollte Identitätskrise und sein Wahnsinn ihren Ursprung in dessen Abdankung haben, schlüpft Edgar absichtlich in die Rolle des Wahnsinnigen. Er tut dies »[by] shift [-ing] / Into a madman's rags [ . . . and assuming] a semblance / That very dogs disdained« (Lr. V.iii. 185). Shakespeare schafft damit eine interessante invers-symmetrische Struktur: Lear gibt absichtlich seine Macht auf und muss sich als Resultat einer schmerzhaften Identitätsauflösung unterziehen. Edgar hingegen muss Macht abgeben bzw. den H o f verlassen und nimmt absichtlich eine andere Identität an, um das Land nicht verlassen zu müssen und seinen Vater zu >heilenProjektion< zur Reinigung der sündhaften menschlichen Natur i n Shakespeares Tempest, wie dies von Michael Srigley in einer Studie detailliert untersucht wurde. D o r t werden die »three men of sin« (Tmp. 38
Vgl. Lr. I V . v i . l 8 0 - 1 8 1 und 196-197.
39
»Mit den i m Wahnsinn gewonnenen Einsichten ist die Phase der Transformation abgeschlossen. Lear kann nun in der bisher probeweise übernommenen und ausagierten neuen Identität >wiedergeboren< werden« (Fischer-Lichte 146). Die von Fischer-Lichte attestierte »probeweise übernommenef ... ] und ausagierte[... ] neue[... ] Identität« Lears entspricht in etwa obigem Befund, dass Lear i m Verlauf seiner >Transformation< Einsicht i n den Rollencharakter personaler Identität und die dazugehörige Rollendistanz erlangt. FischerLichte nennt dies Lears »zusammengesetzte Identität^ die »in dem Bewußtsein gründe, sow o h l >König< als auch >nacktes gegabeltes Tier< zu sein« und ihm die Augen öffne »für eine ganz andere Sicht einerseits auf das Königtum, andererseits auf die conditio humana« (ib.). 40 »He hath slept long.« (Lr. IV.vii.18); »In the heaviness of his sleep / We put fresh garments on him.« (Lr. IV.vii.21 - 2 2 ) 41 Dies entspricht u. a. John Lockes Definition von personaler Identität. Diese ist dann gegeben, wenn sich das Individuum qua Bewusstsein vergangene (und zukünftige) Handlungen und Gedanken »verantwortungsvoll aneignen kann (vgl. Locke).
Roland Weidle
122
III.iii.53) - also Alonso, Sebastian und Antonio - von Prospero und Ariel einem Prozess der dissolutio , mortificatio und proiectio unterzogen, der u. a. folgende Merkmale und Mittel in der >Reinigung< der Sünder beinhaltet: einen Sturm, epileptische Anfälle, den Zustand des Wahnsinns, die Beruhigung, einen »process of psychological death« 4 2 und schließlich die Wiederherstellung, die »restoration« 43 , der inneren Harmonie in Geist und Verstand der >Patienten< 44 Lears Deutungsunsicherheit kurz nach seinem Erwachen weicht jedoch seiner Fähigkeit, seine Tochter und somit auch seine Vaterrolle (an)zuerkennen: »Do not laugh at me; / For, as I am a man, I think this lady / To be my child Cordelia.« (Lr. IV.vii.69-71 ) . 4 5 Zudem bleibt Lear die während der negativen Erfahrungsschübe gesammelte Erkenntnis erhalten, dass er zuallererst »a man« und nicht König ist. A u f die Aussage Kents, dass er sich in seinem »own kingdom« (Lr. IV.vii.77) befinde, reagiert Lear daher nur zynisch »Do not abuse me« (Lr. IV.vii.78). Lear weiß, dass seine Zeit als Regent vorbei ist. 4 6 Erika Fischer-Lichte hat darauf hingewiesen, dass das Ende von King Lear in seiner Tragik deshalb so wirkungsvoll sei, weil es die von Lear schmerzvoll gewonnenen Einsichten in veränderte Identitätsentwürfe letztlich als vergebens darstellt: Cordelias Truppen werden geschlagen, Lear und Cordelia gefangengenommen. I n dieser Situation reduziert Lear selbst seine Identität: er gibt seine Rolle als König auf und beschränkt sich auf die des Vaters [ . . . ] . Aber auch diese reduzierte Identität vermag Lear nicht mehr zu realisieren. Cordelia w i r d erhängt. [ . . . ] . Wenn Lear stirbt, ist er weder König noch Vater. 4 7
Fischer-Lichte ist insofern zuzustimmen, als die mühsam von Lear erlernten und durchlebten Selbst-Einsichten letztlich vergeblich sind. Lear kann von 42
Srigley 31.
43
Srigley 31.
44 Interessanterweise verweist auch Fischer-Lichte auf die Ähnlichkeit zwischen Lears Verwandlung und dem »chemischen Prozeß der Transmutation von G o l d in den Stein der Weisen« (Fischer-Lichte 150), führt diese aber nicht weiter aus. Hier böte sich eine weiterführende und ausführlichere Untersuchung zu den Gemeinsamkeiten zwischen Lears veränderter Selbstwahrnehmung und der alchemistischen Transmutation i m Stile von Srigleys Untersuchung an. 45 Adelman und McLuskie haben auf die patriarchalische N a t u r dieser Selbstwahrnehmung hingewiesen: Cordelia, die zu Beginn des Dramas noch aufbegehrendes >Subjekt< ist, w i r d schließlich von Lear als >Objekt< seiner Wunschfantasien (>caring daughter*) neu geschaffen und somit >entschärft< (vgl. Adelman, McLuskie). 46 „ I am a very foolish fond old man, / Fourscore and upward, not an hour more nor less [ . . . ] . « (Lr. IV.vii.61-62); »You must bear w i t h me: / Pray you now, forget and forgive. I am old and foolish.« (Lr. IV.vii.84-85) 47
Fischer-Lichte 147-149.
Formen der Selbstwahrnehmung
123
ihnen nicht profitieren, da der machiavellistische Pragmatismus Edmunds bereits mächtiger - und schneller - waltet. Allerdings ist Fischer-Lichtes Aussage dahingegend zu modifizieren, dass es sich bei Lear keineswegs u m eine reduzierte Form der Selbstwahrnehmung handelt, sondern - in Anbetracht der gesammelten Erfahrungen i m Verlauf des Dramas - ganz i m Gegenteil u m eine komplexere, ausdifferenziertere, rollengebundene Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, die das feudale Modell der Identifikation transzendiert, wenn auch ohne Erfolg.
I I I . Die Transformation der Tragödie Es stellt sich nun abschließend die Frage, welche Folgen die aufgezeigten Veränderungen in den Selbstwahrnehmungsmustern für die Tragödienform haben. Titus Andronicus orientiert sich weitgehend an der Struktur des Rachedramas. Es enthält die von Wendy Griswold aufgezeigten »characteristics of revenge tragedy«: 48 einen höfischen Handlungsort, Gewaltszenen, Rollenspiel und Verkleidung, das Thyestes-Mahl, der Handlungsablauf folgt dem Schema von Erfolg, Tod und Restauration, das Rachevorhaben motiviert und bestimmt den P l o t . 4 9 Die Handlung folgt zudem dem von Harry Levin konstatierten revenge pattern, in dem ein Verbrechen durch ein anderes gesühnt wird, welches seinerseits eine Kette von Vergeltungsakten initiiert. 5 0 Auch die Charakterisierung des tragischen Protagonisten folgt dem bekannten Schema. 51 So befinden sich sowohl Titus in Titus Andronicus als auch sein dramatischer Vorgänger und Prototyp Hieronimo in The Spanish Tragedy in der typischen Situation des Rächer-Protagonisten. Beide befinden sich als Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung i m Konflikt zwischen Staat und Familie. 5 2 Während je48
Griswold 56 ff.
49
Z u einer ähnlichen Bestandsaufnahme kam bereits Fredson Bowers 1940 in dem Standardwerk zur Elizabethan Revenge Tragedy 1587-1642. D o r t fasst er die wesentlichen Merkmale als Kydian Formula zusammen. Für eine aktuellere Zusammenfassung der Diskussion zu diesem Thema vgl. Simkin 1 - 2 3 . 50
Vgl. Levin 213-215.
51
»When the protagonist is the main revenger, he is often an aristocrat w h o is not fully integrated into courtly circles. [ . . . ] One typical pattern is that the protagonist, an insider by birth and rights, becomes an outsider by circumstances which may have to do w i t h his victimization, and then returns to become an insider again but one who bears watching; this socially ambiguous position, sometimes facilitated by disguise or feigned madness, gives him access to court secrets while temporarily maintaining his moral distance from court evils« (Griswold 58). 52 Hieronimo als Knight Marshall zwischen dem Gebot der Aufrechterhaltung des Gesetzes und dem Verlangen nach Rache, Titus zwischen dem offiziellen Gebot der Vergeltung und der Wahrung von Familieninteressen.
124
Roland Weidle
doch Hieronimo den Konflikt in seinen soliloquies thematisiert und diesen somit in sein Bewusstsein >hereinträgt»For They Are Actions That a M a n M i g h t Playc Role Play, Role Distance, Ego Identity and the Construction of Shakespearean Tragedy.« Arbeiten Anglistik
und Amerikanistik,
29.2 (2004): 173-97.
aus
Los Sucesos de un dominico contados por un descendiente de judíos conversos Por Ángel San Miguel
En 1612, a los 65 años de edad y a los tres antes de su muerte, Mateo Alemán escribió los Sucesos de fray García Guerra 1 , arzobispo de Méjico y virrey de Nueva España. La obra gira en torno a un personaje histórico en cuyo radio de acción probablemente se desenvolvió la vida del autor desde fines de 1608 hasta principios de 1612. Hay motivos suficientes para pensar que M . Alemán conoció personalmente a fray G. Guerra: buena parte de los Sucesos narrados son hechos de cuya veracidad da fe el propio autor como testigo ocular. A l fin de los Sucesos el autor añade una »Oración fúnebre« que compone sobre la base de su formación retórica y, al mismo tiempo, movido por su hondo respeto hacia el protagonista y conmovido por su fatídico destino. Ambos elementos, los Sucesos y la »Oración fúnebre«, forman una obra breve por sus dimensiones, pero de gran interés para quien intente indagar la ideología y la personalidad de un autor tan disputado como M . Alemán, el cual, siendo descendiente de judíos conversos, pasó toda su vida inmerso en unas circunstancias católicas por los cuatro costados. Las partes de que se componen los Sucesos son las siguientes: Primera: Llegada de G. Guerra al puerto de San Juan de Ulúa; cordial recibimiento y accidentes ocurridos en el camino hasta la capital mejicana. Segunda: Inesperado nombramiento de G. Guerra como virrey de Nueva España; fiestas en su honor; eclipse de sol y temblores de tierra; primeros síntomas claros de su enfermedad y dramático desarrollo de la misma.
1 »Sucesos de D. Fray García Guerra, Arzobispo de Méjico a cuyo cargo cargo estuvo el gobierno de la Nueva España. Méjico. Viuda de Pedro Balli, 1613«, Edición de Alice H . Bushee, Revue Hispanique, 25 (1911), 359-457. Todas las citas del presente trabajo están tomadas de esta edición. Salvo contadas excepciones, que juzgué necesarias, he modernizado la ortografía del texto original.
9 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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Tercera: Muerte de G. Guerra y pompas fúnebres con ocasión de su entierro. Cuarta: Oración fúnebre. I. La travesía del Atlántico del recién nombrado arzobispo se realizó en una flota al mando de don Lope Diez de Almendáriz compuesta por 62 naves,2 en una de las cuales iba el propio M . Alemán y parte de su familia. La flota se hizo a la mar en la bahía de Cádiz el jueves 17 de junio de 1608 y arribó al puerto de San Juan de Ulúa el martes 19 de agosto del mismo año. Sobre lo que sucedió o dejó de suceder durante la travesía M . Alemán guarda silencio total; únicamente se digna mencionar que la llegada se realizó »con favorables tiempos y vientos« (380). Es a partir de esta escueta introducción cuando comienzan los verdaderos sucesos en que se centra la atención del autor. El título de Sucesos con que M . Alemán califica su escrito excluye por principio la exposición completa de la vida del personaje central - lo que sería una biografía - para reducirla a una crónica parcialmente detallada y combinada - como veremos - con una especie de diario discontinuo. El autor no se detiene a informar al posible lector sobre el lugar y el año de nacimiento de fray G. Guerra; no menciona tampoco quiénes fueron sus padres ni dónde adquirió su formación, etc. Sólo por otros conductos sabemos que fray G. Guerra había nacido en Fromista (Palencia), que sus padres eran Andrés de Rojas y María Guerra, que recibió el hábito de dominico en 1578 en Valladolid, fue Prior del convento de San Pablo 3 en esta misma ciudad castellana y desempeñó otros cargos importantes dentro de su Orden, antes de ser nombrado arzobispo de Méjico en 1607, tras la muerte de su predecesor D . García Mendoza. 4 Esta reducción a los elementos informativos esenciales está determinada, entre otros motivos, por el hecho de que M . Alemán relata los Sucesos de su 2 Sucesos, 380-423. E. Cros afirma que la flota en que navegaba M . Alemán estaba compuesta por más de 70 navios [E. Cros, Mateo Alemán. Introducción a su vida y a su obra (Salamanca 1971) 54]. 3
En este mismo convento vallisoletano de San Pablo se había formado también otro dominico, fray Tomás de Torquemada, nacido como G. Guerra en la provincia de Palencia y descendiente como M . Alemán de judeoconversos [Diccionario Espasa. Historia de España y América. Dirigido por Jaime Alvar Ezquerra, Editorial Espasa Calpe (Madrid 2002), 1077]. 4
Sucesos, 422, nota 2.
Los Sucesos de un dominico contados
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personaje durante el tiempo en que le conoció y del que puede dar testimonio fehaciente. 5 Por ello mucho más detenidamente que el cruce del Atlántico de más de dos meses de duración - Alemán no iría en la misma nave que G. Guerra - se cuenta la acogida de que fue objeto el nuevo arzobispo por parte de los representantes del cabildo de la Iglesia Mayor de Méjico, así como por el pueblo mejicano, en su viaje de 40 días desde el puerto de San Juan de Ulúa hasta la capital de Nueva España pasando por Nueva Vera Cruz, Jalapa, Apa, Otunga, Tzupanco, Huehuetoca, Tehuiloyoca, Tepotzotlan, San Cristóbal Ecatepec, Guadalupe y Santa Ana hasta su entrada en la capital. Los representantes del cabildo se desplazan a darle la bienvenida, le ofrecen refrescos y ponen a su disposición una muía para el largo trayecto, acompañándole hasta su destino. En el recorrido los »naturales« (los indios) le tenían preparados arcos triunfales diseñados por ellos mismos, saludándole con músicas y danzas. El entonces Virrey de Nueva España, D . Luis de Velasco, impedido de salir personalmente a su encuentro, envía a su maestresala con la orden expresa de tratar al recién llegado como a su propia persona. En Santa Ana los caballeros regidores de la ciudad de Méjico salen a su encuentro, jinetes sobre sus caballos, y después de besarle las manos, le acompañan hasta la Iglesia Mayor, adonde llegan el 29 de septiembre de 1608. Una vez allí el coro entona un »Te Deum« y otras canciones en acción de gracias. Punto final de este »viaje triunfal« 6 lo constituye el acto de obediencia prestado por el deán y demás dignidades de la Iglesia Mayor de Méjico al nuevo arzobispo, antes de que éste entre en »las casas arzobispales« (383). Mateo Alemán asegura: H u b o en su entrada y recibimiento muy general regocijo, las calles, paredes, puertas y ventanas, lo manifestaban con su ornato, así por el deseo que Méjico le tenía [a fray G. Guerra], como por su afable condición humanísima, ya divulgada por todo el reino. (383)
C o n esta acogida cordial de que fue objeto fray G. Guerra tanto por parte de las dignidades eclesiásticas y autoridades políticas como por el pueblo, contrastan algunos toques de alerta que operan como augurios misteriosos e inquietantes tanto más cuanto que el autor se muestra avaramente parco en comentarlos. A l día siguiente de haber visitado »el desagüe« de Tzunpanco, la carroza en que viajaban fray G. Guerra y Enrico Martínez, el maestro de dicha obra, se trastornó con ambos, si bien »ninguno de los dos recibieron daños de consideración« (382). Más grave fue otro accidente acaecido al llegar fray G. Guerra a la Iglesia Mayor de Méjico, cuando al ascender a un »tablado« construido para
5 Diego de Santisteban, al dar su visto bueno para la publicación de los Sucesos, afirma haber leído el escrito de M . Alemán y añade »y me parece que está muy conforme a la verdad« (Sucesos, 370). 6
*
Cros, op. cit., 63.
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su recibimiento, éste se derrumbó »matando un Indio que cogió debajo« (382), como cuenta el autor lacónicamente. O t r o accidente más que tuvo lugar en fecha indeterminada y que M . Alemán agrega al final de la primera parte de los Sucesos dice así: U n día por la tarde, viniendo su S. del monasterio de Santa Mónica, ya cerca de su posada se alborotaron las muías que no estaban bien domadas en rodar la carroza, y dieron a correr con ella desbocadamente, sin poder corregirlas el cochero, ni detenerlas mucha gente que se les puso delante. Parecióle a su S. que su persona corría riesgo, y temiendo mayor daño, eligió por el menor, saltar en el suelo, por uno de los estribos; empero, no lo pudo hacer tan francamente, que no cayese, y recibiese pesadumbre con el golpe que dio en el suelo con todo el cuerpo, quedando algo sentido. (383)
A la narración del »suceso« el autor agrega su comentario: »Deste (sic) achaque, quisieron después tomarlo algunos, para dar principio a sus indispusiciones (sic).« (383) Ya en esta primera parte de los Sucesos, que comprende de agosto de 1608 a marzo de 1611, M . Alemán además de detenerse en el gran recibimiento tributado a G. Guerra y en los accidentes mencionados,anticipa algunas informaciones sobre la personalidad del arzobispo que no se deducen necesariamente de las acciones narradas hata ahora, pero de las cuales el autor pudo tener referencias directas. Por encima de todo destaca su »afable condición humanísima« (383), así como su alta calidad ética y sensibilidad en el trato con los demás. Fray G. Guerra administra la justicia - comenta el narrador omnisciente - inclinándose a la misericordia; nunca se precipitaba al castigo »sin mucho examen« (383). Se acentúa asimismo que, además de cumplir con sus obligaciones oficiales (celebrar las órdenes generales, confirmar, visitar su arzobispado etc.) trata bien a sus ministros y criados y, al mismo tiempo, procura que lleven una vida ejemplar. En otro orden de cosas, pero siempre centrado en su protagonista, M . Alemán destaca las dotes de gran letrado, erudito, ingenioso y sabio predicador del fraile dominico elevado a la sede arzobispal. C o n estas primeras referencias a los hechos y virtudes que caracterizan la personalidad de fray García Guerra, el autor, sin mayores explicaciones, se permite un salto mortal cronológico, pasando de improviso a lo que aquí se denomina la segunda parte de los Sucesos. II. Esta segunda parte deja de constituir una agrupada unidad temporal en la medida de la primera, para desmembrarse en apuntes sueltos sobre G. Guerra, en una especie de diario que abarca desde los últimos días de marzo de 1611 hasta fines de febrero de 1612. Es por medio de estas fechas sueltas, unidas, al menos en parte, por el contenido simbólico de las mismas como M . Alemán escalona y dramatiza los últimos meses de vida de su protagonista. Veámoslo en la práctica:
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»Jueves santo, postrero de Marzo de seiscientos i once« (383). El »suceso« ocurrido en esta fecha es de capital importancia en la vida de fray G. Guerra. C o n »el navio de aviso de Castilla« (384) llega la noticia de que el arzobispo de Méjico ha sido designado sucesor del actual virrey, D . Luis de Velasco, quien a su vez obtenía en España la presidencia del »Consejo Real de Indias«. 7 La reacción espontánea de fray G. Guerra ante esta noticia inesperada fue la de irse inmediatamente a su oratorio, donde »postrado en el suelo, reconociendo su indignidad« - como ahora comenta el narrador - »pidió con muchas lágrimas a nuestro Señor, le guiase y enseñase, como mejor le pudiera servir acertando, para gloria y honra suya« (384). A l describir así la reacción el autor pone de relieve dos virtudes fundamentales de G. Guerra: su profunda piedad y su humildad, virtudes que sabe combinar con el cumplimiento exacto de sus tareas arzobispales. Estuvo en esta oración mucho espacio, hasta que le obligó a dejarla, el haber de acudir a sus obligaciones de aquel día en que bendijo el O l i o (sic), celebró el mandato públicamente, con doce pobres entre los dos coros. (384)
Ahora bien, el interés fundamental de la noticia venida de España radica en que llegue precisamente el día de Jueves Santo, como se confirma por los ritos acabados de mencionar, es decir, en la fecha del calendario litúrgico cristiano en que da comienzo la pasión de Cristo. Con el paralelismo así insinuado entre G. Guerra y Cristo queda presagiado el destino personal del arzobispo que pronto será virrey. »Viernes, diez de Junio siguiente«, es decir, de 1911. Eclipse de sol - »el mayor que se ha visto« en Méjico - desde »la una y treinta y ocho minutos del mediodía« hasta »las tres en punto« de la tarde (384). 8 C o n algunas variantes este eclipse había sido preanunciado por Enrico Martínez, quien además de ser el maestro del »desagüe« - como ya se ha visto - era un genio universal. Ahora bien, este viernes de junio a que se refiere M . Alemán no puede ser la fecha siguiente al Jueves Santo de marzo que acabamos de comentar. Pese a esta incongruencia cronológica 9 el autor alude claramente, como si se tratara de Viernes Santo, a la muerte de Cristo como dramático aviso para G. Guerra. La alusión se verifica en la coincidencia cronométrica del eclipse de sol mencionado 7 El Consejo de Indias había sido fundado en 1524 y estaba dotado, entre otras, de amplias funciones administrativas y judiciales (Diccionario Espasa, Historia de España y América, 345). 8 Sucesos, 4 3 4 - 3 5 , nota 20. A. H . Bushee no registra la alusión a los evangelios, esencial para la comprensión de la obra. Tampoco L. A . Irving profundiza en el significado de estos »ominous portents of nature« (326) de los Sucesos. Véase »Mateo Alemán in México: A Document«, HispanicReview, X V I I (1949), 316-330. 9 El paralelismo entre fray G. Guerra y Cristo no es del todo congruente, en cuanto que Cristo, por contraposición a G. Guerra y pese al letrero puesto en la cruz por orden de Pilatos ( I N R I ) , no fue realmente rey de los judíos.
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por M . Alemán con los fenómenos naturales descritos a la muerte de Cristo por los evangelistas Marcos 15,33, Mateo 27, 45 y Lucas 2 3 , 4 4 - 4 6 ; 1 0 el dramático aviso para G. Guerra por ir dirigido expresamente a un príncipe de Méjico »en casa de religión« (384), es decir, a una persona dotada al mismo tiempo de poderes eclesiásticos y civiles como G. Guerra,que siendo ya arzobispo de Méjico estaba a punto de ser virrey; Cristo, fundador de la Iglesia,fue condenado a muerte por ser considerado Rey de los Judíos. 11 Lo cierto es que, cuando llega a los oídos de G. Guerra que D . Luis de Velasco, el ex-virrey, se había hecho a la mar rumbo a España - condición previa para que el cargo pasara al nuevo virrey - el receloso arzobispo, en lugar de prorrumpir en gritos de júbilo, se dirige a Guadalupe para suplicar a la Virgen con »lágrimas»y«sollozos« le concediera el don de gobernar a su pueblo »en paz y justicia.« (385) De allí pasó al monasterio de »frailes Franciscos Calzados« de Santiago Tlatilulco (385) hasta que hizo su nueva entrada en la ciudad de Méjico, ahora como virrey de Nueva España. Pese a la piedad de que G. Guerra da muestra una vez más en esta ocasión, pese a la renuncia que hace al título de Excelencia - como enseguida se verá - y pese a que sigue sintiéndose sobre todo con una misión religiosa en el Nuevo Mundo, no puede caber duda de que las señales y fenómenos descritos se ciernen amenazadores sobre su cabeza. Todo ello convierte crónica y diario a los ojos del lector en un auténtico drama. »Domingo, diezinueve de junio« (385): Entrada triunfal de fray G. Guerra como nuevo virrey de Nueva España en la ciudad de Méjico. Es innecesario advertir que también aquí, pese a la repetida incongruencia cronológica, se trata nuevamente de una alusión a la entrada de Cristo en Jerusalén (Marcos 11,110, Mateo 21 1 - 1 1 , Lucas 19. 2 9 - 4 0 , Juan 12, 12-19) que la Iglesia celebra el Domingo de Ramos. 1 2 Aquí como allí el regocijo fue general: »Las bocas y los ojos del común manifestaban las alegrías de sus corazones« (385). Después de comer el regidor de Méjico fue a besar las manos al nuevo virrey y, al mismo tiempo, a poner a su disposición un caballo que le condujera a la ciudad, engalanada »con los tapices y colgaduras más preciosas« (385). U n nuevo y grave accidente preñado de simbolismo enturbia también en esta ocasión la alegría de la fiesta. En la plaza de Santiago de Tletilulco, antes de llegar a Santa Ana a reco10
»Llegada la hora sexta, hubo oscuridad sobre la tierra hasta la hora de nona« ( . . . ) cuando »Jesús, dando un fuerte grito, expiró« (Marcos, 15; 33 y 37). - »Desde la hora sexta se extendieron las tinieblas sobre toda la tierra hasta la hora de nona« [ . . . ] . - »Jesús, dando de nuevo un fuerte grito, expiró.« (Mateo, 27, 45 y resp. 50). - »Era ya como la hora de sexta, y las tinieblas cubrieron toda la tierra hasta la hora de nona, obscureciéndose el sol« [ . . . ] . - »Jesús, dando una gran voz, dijo: Padre, en tus manos entrego mi espíritu; y diciendo esto, expiró« (Lucas, 23; 4 4 - 4 6 ) . 11 12
Marcos 15;2 ss; Mateo, 27; 11; Lucas 23; 3.
Véase Die Religionen. Ein Lexikon aller Religionen der Welt, bearb. Günter Lanczkowski (Mannheim 1977), 321.
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ger el caballo que le había regalado el Regidor, los indios tenían preparado en honor del nuevo Virrey »un artificio para volar desde lo más alto de un pino al suelo y al tiempo que su exc. pasó con su carroza, cayó uno de ellos y se hizo pedazos« (386). Por todo comentario el autor escribe que G. Guerra siguió su camino hasta llegar a Santa Ana, donde salió de su carroza »y subió en el caballo que allí le tenían prevenido« (386). Los actos festivos continúan. El Regimiento de la ciudad y la Real Audiencia acompañan al Virrey vestidos con sus clásicos trajes. A l entrar en la calle de Santo Domingo le habían construido »un arco triunfal« (386) »de grande majestad y traza, pintado al óleo, con historias, enigmas y letras latinas y Españolas (sic) muy elegantes y sentenciosas« (386). Una vez en la Iglesia Mayor, su Excelencia se apeó del caballo, siendo solemnemente saludado con un »Te Deum«. Poco después, tras dar las gracias »a todos y a cada uno« (387), G. Guerra se dirigió al Palacio. »Una salva de bombas y cámaras de artillería« - probablemente no del agrado de G. Guerra - »se dispararon haciendo grandísimo estruendo« (387) en homenaje al nuevo Virrey. A l día siguiente tiene lugar la lectura de »la cédula de su majestad« (388) y el juramento de costumbre. En una plática improvisada »elegante y grave« (388) - anota el autor - G. Guerra dio a entender a sus oyentes que su profesión y misión principal era y seguía siendo la de »apóstol« (es decir no la de virrey) y que aunque indigno de haber sido nombrado arzobispo de Méjico, aceptaba el título de »señoría«, renunciando por el contrario al de »excelencia« correspondiente al de virrey. Plática y renuncia revelan la vocación religiosa de G. Guerra y su distancia respecto al poder temporal de la Iglesia. M . Alemán parece simpatizar con la postura de fray G. Guerra. U n día más tarde el arzobispo y virrey sintió un poco de calentura,sin dejar por ello de acudir a sus obligaciones. Eran los primeros síntomas claros de una enfermedad que le conduciría a la muerte. »Viernes veinte i seis de Agosto del dicho año de seiscientos i once«: Entre las dos y las tres de la mañana gran temblor de tierra, el mayor que recordaban los habitantes más ancianos de la ciudad y su comarca (388/ 89). El propio M . Alemán, que tal vez pudo presenciar el desastre personalmente, precisa: »Cayeron edificios, peligraron y murieron muchas personas« (389). Eran los primeros meses del gobierno de G. Guerra. El hecho de que también este nuevo accidente ocurra en viernes parece una obsesión de narrador más que de cronista, 13 13
Javier Núñez opina que »los repetidos augurios que predicen la muerte de fray García Guerra tendrían su modelo en Tito Livio más conocido en aquella época por sus relaciones supersticiosas« [»Los >Sucesos< de M . Alemán, ¿Historia o tragedia?«, Anales de Literatura Hispanoamericana, 5 (1976), 51]. Núñez no advierte los paralelos con la pasión de Cristo.
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pero no hay razón para poner en duda su realidad histórica. El mismo día, durante las corridas de toros - que aun sin ser de su agrado hubo de presenciar el virrey - mientras un sobrino suyo actuaba sobre el caballo »comenzó a temblar otra vez la tierra fuertemente« (389); G. Guerra pensó entonces retirarse »y dejar las fiestas«, mas no lo hizo »por no mostrar flaqueza de ánimo« (389). Aquella misma noche se sintió seriamente enfermo; aunque a los médicos no les pareció asunto grave, le administraron un remedio general haciéndole una sangría. Primeros días de Setiembre: La enfermedad se agrava; los humores se acumulan en su cuerpo; purgas y sangrías le alivian un tanto;el enfermo se queja de dolor en el hígado. Cuatro de enero de 1612. Los médicos que le asisten y le cuidan - según M . Alemán los mejores que había en la capital de Nueva España - se reúnen en Atlacuihuayan »una legua de Méjico«, adonde su ilustrísima había ido a curarse. Cada uno de ellos - comenta el autor con mal disimulada ironía - defiende una opinión distinta; fray G. Guerra se pone erróneamente de parte de quienes opinaban que se trataba de una »opilación«, enfermedad considerada de leve. El mal siguió agravándose de manera que G. Guerra hubo de volver a Méjico. »Sábado, veinte i ocho de Enero a las cinco de la tarde«. Tras haber recibido »el viático« (391) fray G. Guerra dirige a los presentes una plática« muy tierna y elegante« (391 / 92) en torno a las palabras del capítulo 13 del evangelista San Juan »Cum dilexisset suos qui erant in mundo, in finem dilexit eos« y sobre el »santísimo sacramento de la Eucaristía« (392). Previendo ya su fin, el enfermo se confiesa ante todos de »miserable pecador« (392). »Domingo cinco de Febrero.« A las cuatro de la tarde nueva intervención médica. Fray G. Guerra empeora sensiblemente. Once de febrero. Se le administra la extremaunción. Actos de contrición y despedida. »Con estos actos de humildad y contricción, y otros muy dignos de sus admirables letras, entendimiento, Cristiandad (sic) y prudencia« se preparó a entregar su espíritu (393).
III.
22 de febrero/1612. Miércoles. Fray G. Guerra, arzobispo de Méjico y virrey de Nueva España muere »a la una y tres cuartos después del mediodía« (393). Hacia las »ocho de la noche« abrieron su cuerpo y hallaron por la parte cóncava de la una punta del hígado cantidad como de medio huevo, por donde se aliga con las costillas, por las materias que le acudían de aquel lado
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ya podrido; los pulmones con algunas manchas, tan levantados, que apenas parecía caber en la caja de su asiento, el corazón muy consumido y pequeño (393), detalles t o d o s éstos que, si n o g u a r d a n »el d e c o r o e x i g i d o p o r la h i s t o r i a « 1 4 c o m o señala J. N ú ñ e z - encajan d e l t o d o en la idea de la f u g a c i d a d de la v i d a y la c a d u c i d a d d e l h o m b r e que el a u t o r de los Sucesos tiene en su m e n t e a l o l a r g o de t o d o su escrito. 25 al 27 de f e b r e r o / 1 6 1 2 : Funerales y e n t i e r r o . Después de m e n c i o n a r los responsos, la abertura d e l t e s t a m e n t o , la v i g i l i a d e l cadáver, su traslado a la »real capilla« (p. 394 ss.) y o t r o s actos similares, M . A l e m á n se detiene c o n d e l e c t a c i ó n m o r o s a en la d e s c r i p c i ó n del s o l e m n í s i m o e n t i e r r o celebrado en h o m e n a j e a la d i g n i d a d eclesiástica y la a u t o r i d a d estatal q u e r e v i s t i ó
el
m o d e s t o y h u m i l d e d o m i n i c o hasta el día de su m u e r t e . D e s d e las más altas autoridades eclesiásticas y civiles pasando p o r las p a r r o q u i a s , los colegios, las cofradías, las órdenes religiosas, los clérigos hasta llegar a la f a m i l i a d e l f i n a d o , los arcabuceros etc. T o d o s asistieron c o n sus vestimentas especiales y sus estandartes,en u n a p r o c e s i ó n majestuosa de la cual el p r o p i o M . A l e m á n , c o m o en otras ocasiones, fue testigo presencial y de la que escribe el siguiente testim o n i o personal: Puedo certificar, habiendo visto las mayores grandezas de la Cristiandad (sic), en tales actos y tiempos nuestros, no haberle alguna excedido, y solo una igualado; digo, dándole su lugar a cada cosa, no tratando de grandeza de sujetos, concurso de príncipes, número de gente, ni riquezas; mas en su tanto cada una,la mayor de que pueden hoy deponer los nacidos, fue sola en Sevilla, la translación de los cuerpos, del santo rey don Fernando, rey don Alonso el sabio, y más personas reales príncipes y maestre de Santiago, que se pasaron a la capilla de los reyes nueva de la vieja; en que parece, no solo haber concurrido aquel maravilloso aplauso, quietud, concierto, silencio, admiración, sosiego, tristeza y lágrimas, que aun pareció habernos el cielo ayudado con ellas haciendo su sentimiento, no afligiendo ni enfadando, que no es de pequeña consideración en esta tierra, siendo el tiempo natural de vientos deshechos, habiéndolos habido los días antes, y después con exceso; en este día pareció que nuestro Señor apartó las aguas de las aguas y descubrió una tarde tan apacible, sosegada y fresca, que mostró claramente ser grande providencia suya, para consuelo nuestro, cerca de la salvación de nuestro príncipe. (396/97) L a h o n d a c o n m o c i ó n de la c i u d a d de M é j i c o ante la m u e r t e de su a r z o b i s p o y v i r r e y la evoca el a u t o r al d e s c r i b i r el triste t a ñ i d o de las campanas: Comenzó a doblar la Iglesia mayor con grande solemnidad en aquella hora, y las iglesias parroquiales, conventos y colegios hicieron lo mismo, con tan grande sentimiento como pedía semejante pérdida, de un príncipe tan bien quisto y amado de todos. (394)
14
Núñez, op. cit., 56.
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A l relatar que el caballerizo de fray G. Guerra llevó al entierro el mismo caballo - si bien ahora vestido de luto - con el que el nuevo virrey había entrado en la ciudad de Méjico, M . Alemán, testigo ocular de lo que narra, apenas puede contener su emoción: Aquí falta el ingenio para encaminar la pluma, cuando quiera suplir su falta, no podrá dejar de hacerla, si se quiere igualar a lo que los ojos vieron ( . . . ) N o asi mostró sentimiento el caballo del rey Alejandro, herido en la batalla de Tebas, ni el del rey Nicomedes en su muerte. N o aquél de Julio César que presagiando el desgraciado fin de su amo, lloraba y no comía. N i los del rey Ludovico doceno de Francia, de quien hacen memoria las historias (por su mucha ferocidad y grandeza) pudieron hacer mayor sentimiento en su muerte, de la que conocemos en éste. Aquello leímos y esto vimos; lo uno tenemos por tradición y esto lo sabemos con la experiencia. Todo él nos iba provocando a tristeza, incitando a pena, pregonando memoria y consideración de la muerte, las vanaglorias del mundo y trágico fin de ellas. Su hermosa presencia y talle, pies manos cabeza y paso, acreditando y favoreciéndose unas a otras acciones, tan iguales y conformes, hacían un todo tal, que fuera muy dura piedra el corazón de donde no sacara lágrimas. N o me alargo, no encarezco, lo que vimos digo, y por m i sentimiento afirmo. En él verifico lo que Solino escribe de los caballos, que tienen instinto natural, en el conocimiento del buen o mal suceso de la guerra; pues, viendo éste la de su señor perdida, deshecha y rota, hizo demostración semejante, que pareció (si se pudiera decir sin absurdo) que consideraba, el día que tan lozano, tan bien enjaezado, entró en él triunfando su amo,y cómo tan en breve lo llevan a enterrar, desposeído de toda su grandeza; y él tan cargado de luto, despalmado y triste; y cómo el paradero de los carros de la vida es en la muerte. (402/403)
IV. La oración fúnebre que forma el colofón final de los »Sucesos« es la parte más amplia de todo el escrito. La travesía del Atlántico, de 68 días de duración, se reduce a un preámbulo de cinco líneas. A l recibimiento de que fue objeto fray G.Guerra a su llegada a Nueva España, los accidentes ocurridos durante el viaje a la capital, su nombramiento de virrey, su enfermedad y su muerte, como ya se ha visto, desde el 19 de agosto de 1608 hasta el 22 de febrero de 1612, se dedican 14 páginas; para los días de los funerales y el solemnísimo entierro nueve. El texto de la oración fúnebre abarca 15 páginas. Su extensión es un indicador de la importancia que el autor le concedía. En ella M.Alemán, trocando el género literario y haciendo »libre ejercicio de la elocuencia retórica«, 15 no sólo expone sus ideas y sentimientos sobre la vida y la muerte barajando el Antiguo y el Nuevo Testamento, los autores clásicos etc., sino que además presenta una imagen más completa y detallada de fray G. Guerra, dándonos con ello la clave para descubrir su auténtica personalidad. Más nítidamente que en los Sucesos 15
Núñez, op. cit., 51.
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aparece aquí el arzobispo y virrey marcado por su pertenencia a la orden dominicana a la que sigue siendo fiel, practicando un riguroso ascetismo sólo insinuado en los Sucesos y que constituye la base de su comportamiento ético. Una de las notas características de la personalidad de G.Guerra según la oración fúnebre es su preocupación por los pobres. Ya en el »Guzmán de Alfarache« los pobres ocupan uno de los temas capitales de la novela. Ahora bien, mientras que en el Guzmán se trataba de encauzar justamente la limosna distinguiendo entre pobres auténticos y fingidos - como el picaro - lo que ahora se tematiza es la postura que ante el problema toma el personaje central de los Sucesos. Es así como se va perfilando la efigie de G. Guerra. El arzobispo G. Guerra convierte los sábados en días especialmente dedicados a la limosna. El lugar de distribución es la casa arzobispal. »Las más de las veces« (p. 414) el propio arzobispo toma parte activa, aprovechando la ocasión para conversar con los necesitados, ya que para el fraile mendicante la repartición de limosnas y el trato personal con ellos formaban los mejores momentos de su vida. (414) Digna de tenerse en cuenta es la observación del autor según la cual además de las limosnas que reparte públicamente, distribuye también limosnas »en secreto« (416). Esto significa que para M . Alemán la virtud de la caridad que G. Guerra practica con los pobres, lejos de ser mera fachada, procede de su íntimo convencimiento. La postura de G. Guerra en este campo llega sin embargo más allá, rayando en los más altos ideales cristianos. En cierta ocasión en que G. Guerra »por otra ocupación forzosa« (414) no pudo asistir personalmente a la entrega de limosnas, al limosnero le faltaron recursos,de forma que muchos de los pobres tuvieron que marcharse con las manos vacías. La reacción del arzobispo fue que »en adelante » [ . . . ] « si acaso faltase dinero, vendiesen la plata y alhajas de su casa, sin perdonar a (sic) el báculo pastoral, porque la hacienda del prelado, era de los pobres y no suya« (414). Otro aspecto fundamental que caracteriza el temple moral de G.Guerra, opuesto frontalmente a la relajación conventual acusada años atrás por Erasmo y los erasmistas españoles, es su estricto cumplimiento de los votos y reglas monásticas. La puesta en práctica del voto de pobreza no debió resultarle demasiado difícil a quien tan fuerte compromiso demuestra con los menesterosos. M . Alemán señala que »la cama en que dormía« G. Guerra también como arzobispo de Méjico, »no se aventajaba en algo a la de los más ordinarios conventuales« (415) y que sus vestidos eran tan pobres como los de los otros frailes. Los días de Viernes Santo el arzobispo los aprovechaba para recogerse en el monasterio de Santo D o m i n g o 1 6 cercano a la ciudad para de esta manera, sien-
16 Los primeros misioneros españoles llegados a Méjico fueron los franciscanos en 1523. A los franciscanos siguieron los dominicos [Bernardino Llorca S.J., Manual de Historia Eclesiástica , Editorial Labor (Barcelona 1960) 496].
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do uno más entre sus hermanos de religión, ayunar »a pan y agua« escuchando durante la comida (!) lecturas de santos mártires y de la regla del fundador de los dominicos (413). Probablemente no hay exageración cuando el autor, refiriéndose al cumplimiento estricto del voto de castidad por G. Guerra, asegura que en los principios de su arzobispado no consintió que »alguna mujer le hablase, hasta que le obligaron a ello, para la buena expedición de negocios, informándole haber sido costumbre antigua loable y necesaria el darles audiencia« (412). También el voto de obediencia, cuya práctica por parte de G. Guerra puede parecer hoy trasnochada y hasta contraproducente, forma parte del elogio que M . Alemán se propone hacer de G. Guerra en su oración fúnebre. En este sentido el autor refiere que, cuando el provincial de la Orden de Santo Domingo ordenaba al ya enfermo arzobispo tomar alguna bebida, comida o medicamento, »por santa obediencia lo tomaba, aunque después lo devolviera« (415) Para interpretar esta última frase en su verdadero sentido, conviene tener presente que en una oración fúnebre del carácter de la de M . Alemán, ironizar las virtudes del difunto hubiera sido ridículo. Dentro de las reglas conventuales caen también las abstinencias a las que G. Guerra se sometía voluntariamente. Durante el tiempo de adviento y cuaresma el arzobispo, consciente de sus obligaciones, hacía lo posible para que sus tareas pastorales no le forzaran a comer carne y, cuando los médicos y hasta su confesor se lo ordenaban, sentía envidia de sus compañeros de religión, porque ellos podían sin problemas cumplir con su regla y con los preceptos de la Iglesia (413). En este mismo sentido señala el autor las »sangrientas disciplinas« (416) a que G. Guerra sometía su cuerpo y que formaban parte de la penitencia y ascética conventuales. Severo consigo mismo y cumplidor de sus deberes, G. Guerra exigía también de sus »criados« - como ahora señala M . Alemán - orden y disciplina poco menos que en un convento. A l anochecer mandaba cerrar las puertas y »el criado que no estaba ya recogido, se quedaba fuera« (413), siendo reprendido al día siguiente »con severidad y aspereza« (413). Por la noche, a deshora, visitaba los aposentos de los criados »para ver en qué se ocupaban y como vivían« (413); del mismo modo les obligaba a »confesar y comulgar a menudo« y por las tardes »les hacía cantar en voz alta la Salve« (413). Era tan estrictamente justo - como registra M . Alemán - que se negaba a favorecer los intereses de sus criados cuando le parecían injustos (415/16). Conviene tener aquí en cuenta que esta severidad iba unida a su carácter habitualmente bondadoso como se recalca en otros muchos pasajes de los Sucesos y de la oración fúnebre. N o deben olvidarse por último dos aspectos decisivos en la tradición conventual que G. Guerra lleva también a la práctica: su inclinación por la oración -
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como se ha visto reiteradamente - y el amor que como buen dominico sentía por los libros a los que llamaba »amigos viejos« (413). Adornado de todas estas virtudes, tan lejanas y hasta opuestas a las del héroe clásico, M . Alemán, en plena madurez, presenta en la persona de G. Guerra un fraile caritativo y asceta, un obispo cumplidor de sus deberes pastorales y un virrey - a su pesar - que corresponden al modelo de humanismo cristiano que se estaba formando en la iglesia española bajo el impulso entre otros muchos de Arias Montano, fray Luis de Granada, fray Luis de León, Santa Teresa, San Ignacio de L o y o l a 1 7 y sobre todo del Concilio de Trento, el cual en su última sesión del 25 de diciembre de 1563 había formulado el decreto »en que se insistía de un modo especial en la reforma de las órdenes religiosas.« 18 Reconociendo la importancia que para la Iglesia tienen los monasterios y conventos bien administrados, y en vistas a mejorar la disciplina, el cumplimiento de los votos (»obedientiae, paupertatis, et castitatis«) (pág. 320) así como los preceptos peculiares de las diversas órdenes religiosas etc., en numerosos puntos que van desde la prohibición de tener bienes privados (»Regulares tam foeminae, quam masculi non possunt tenere propria, sed omnia daré debent suis Superioribus«) (pág. 511) pasando por la regulación de la vida comunitaria, la observancia de la clausura, la edad mínima de las abadesas, los castigos de los monjes o frailes en caso de delito público etc. etc., se intenta poner límites a la relajación de costumbres acusada en los conventos europeos por Erasmo y Lutero entre otros. 1 9 Sin haber vivido directamente el apogeo del erasmismo español, M . Alemán es consciente de que no cualquier tipo de monacato equivale a ser piadoso (Monacatus non est pietas), sino únicamente aquél que acepta y cumple votos y reglas con pleno e íntimo convencimiento. De aquí que en lugar de criticar la vida conventual, en los Sucesos M . Alemán haga el elogio de un fraile dominico, como algunos años antes lo había hecho del franciscano San Antonio de Padua. A u n concediendo hipotéticamente algunas posibles deficiencias en la persona de G. Guerra como, por ejemplo, su falta de reacción ante la muerte de los indios, la pusilanimidad que le atribuye J. Núñez o la severidad que parece demostrar en algunas de sus acciones, creemos poder afirmar sin miedo a error, que fray García Guerra es para M . Alemán un ejemplo de humanidad y de bien entendido cristianismo. Los contratiempos, los accidentes, el eclipse de sol, el terremoto, la enfermedad son avisos y pruebas que tiene que soportar también el justo. H a y que tener en cuenta, sin embargo, que todos estos avisos y pruebas operan sobre el lector de manera distinta a como lo hacen sobre el su17 Marcel Bataillon, Erasmo y España (México / Buenos Aires 1966), 738 y ss [primera edición en francés 1937]. 18 19
Llorca, op.cit., 496.
Sacrosanctum Concilium Tridentinum. sub Signo Monocerotis, s. a., 510-568.
A p u d Viduam Joannis Busaei, Bibliopolae
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jeto paciente de nuestra historia. El lector, incitado por la progresiva acumulación de pruebas y avisos, enjuicia estos Sucesos como un auténtico drama que le mueve a compasión con el sujeto paciente; éste los soporta sin embargo con la resignación y paciencia de un »santo« Job; 2 0 no lucha ni grita ni se desespera ante ellos. Sus armas contra la adversidad son la aceptación silenciosa o la oración. Ninguno de los contratiempos ya señalados ni siquiera su grave enfermedad ni la clara previsión de su muerte son capaces de perturbar la firmeza, la seguridad y la confianza que el fraile dominico extrae de su fe religiosa y de la práctica de la piedad conventual. Mateo Alemán, que en el Guzmán de Alfarache había dibujado el desarrollo moral regresivo de un picaro y en su vida de San Antonio de Padua el entusiasmo religioso de un santo, en los Sucesos presenta la figura de un arzobispo y virrey que, en el fondo, continúa siendo un humilde y piadoso fraile. Los textos de los Sucesos y de la »Oración fúnebre« son, cada uno en su género, documentos fidedignos del gran respeto y de la alta estima que M . Alemán, descendiente de judíos conversos, siente por el fraile dominico. De aquí que, al concluir su »Oración fúnebre«, el autor pueda compartir el profundo dolor de los mejicanos ante la pérdida de un ejemplar humano de la categoría del difunto: »Un fácil achaque despreciado, no entendido ni conocido« (el autor sigue censurando a los médicos de G. Guerra) »eclipsó nuestro sol, apagó la hacha del monte, y puso la luz bajo el candelero, dejándonos asonbrados« (sic) (120).
La muerte no perdona tampoco a los mejores y, sin embargo, ante un »tan observante religioso príncipe de la Iglesia, pastor humanísimo, virrey dignísimo, capitán general clementísimo, padre piadosísimo, afable y manso«, se puede tener el consuelo de que »vive vida eterna« (420). Estas palabras con que M . Alemán pone punto final a su escrito hacen que la »tragedia« de su muerte - más allá de la concepción aristotélica que propone J. N ú ñ e z 2 1 - desemboque en la esperanza. V. Hacer el elogio de un fraile observante de sus votos y reglas, de una dignidad eclesiástica y de una autoridad regia con ocasión de su muerte no suponía en la España de los Austrias ningún acto heroico. Hacerlo siendo descendiente de judíos conversos, como en el caso de M . Alemán, puede convertirse para el estudioso de la literatura que pretende ser objetivo, en un asunto complicado. Para intentar resolverlo, una vez analizado el texto de los Sucesos y la »Oración 20 Para el tema de Job en la literatura véase Elisabeth Frenzel, Stoffe 2. Überarb. Aufl. (Stuttgart 1967), 276-279. 1
N ú ñ e z , op.cit., 5 .
der Weltliteratur;
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fúnebre«, veamos algunos aspectos de la biografía del autor que puedan contribuir a esclarecerlo, así como la cara y cruz de la situación histórica comprobable de los judeoconversos en el mundo hispano en que vivió M . Alemán. Como es notorio M . Alemán descendía tanto por parte materna como paterna de familias judeoconversas. Por encima de ello su abuelo había sido quemado por la Inquisición »a fines del siglo X V « según E. Cros. 2 2 Sabido es asimismo que tanto a los descendientes de moros como de judíos les estaba vedado el traslado al Nuevo Mundo, causa por la cual M . Alemán tuvo que arreglárselas para disimular su origen, al echar la instancia para emigrar a Méjico con su familia, a excepción de su mujer de la que vivía separado. Si lo consiguió fue con ayuda de un testigo sevillano que declaró falsamente que ni los padres ni los abuelos de M . Alemán fueran descendientes de moros ni de judíos ni penitenciados por la Inquisición, antes al contrario que todos ellos eran »cristianos viejos 2 3
A su ascendencia judaica debe atribuirse el interés y la naturalidad con que M . Alemán - estudiante de medicina y derecho - recurre al Antiguo Testamento. David, Jeremías, Moisés, Elias, Tobías el viejo, Melchisedec, Sara, Noemí, Job, El Eclesiastés, el Éxodo etc. son personajes y libros del mundo antiguobíblico a los que acude incluso en un escrito de las sucintas dimensiones de los Sucesos. Algunas huellas de conocimientos rudimentarios de la lengua hebrea se encuentran en su Ortografía Castellana. 24 Se impone pues la pregunta de cómo es posible que un descendiente de conversos con los precedentes mencionados escribiera un texto como el de los Sucesos y la »Oración fúnebre« en honor - como se ha visto - de un convencido representante de la Iglesia católica. La interrogante se vuelve más conflictiva si se tiene en cuenta hasta qué punto los conversos seguían siendo el blanco de intensa actividad inquisitorial. 2 5 Por otro lado la tenaz persistencia de ciertas tradiciones populares orales o escritas, venían desde siglos convirtiendo a los judíos de toda Europa - España incluida - en seres casi míticos, »suma y compendio de todas las vilezas y maldades.« 26 Así ocurre en las leyendas que tematizan actos perversos como el envenenamiento de las aguas o blasfemos perpetrados a la Hostia consagrada de los cató-
22
Cros, op. cit., 13.
23
Guzmán Alvarez, Mateo Alemán (Espasa Calpe / Colección Austral, Buenos Aires 1952)133. 24 Mateo Alemán, Ortografía Castellana. Edición de José Rojas Garcidueñas (México 1950), 11 y 91. Guzmán dice de sí mismo que aprendió »razonablemente la lengua latina, un poco de griego y algo de hebreo« [M. Alemán, Guzmán de Alfarache. Ed. de B. Brancaforte (Madrid 1979), Tomo I, 445]. 25 26
Henry Kamen, Die spanische Inquisition
(München 1969), 185 y ss.
Antonio Domínguez Ortiz, El Antiguo Régimen: Los Reyes Católicos y los Austrias {Historia de España Alfaguara III) (Madrid 5 1978), 188.
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lieos. U n a m u e s t r a de ello se i n c l u y e , p o r e j e m p l o , en 1637 en la » H i s t o r i a de la c i u d a d de S e g o v i a « . 2 7 Esta y otras m u c h a s » h i s t o r i a s « 2 8 q u e h o y se c o n s i d e r a n entre los m i s m o s católicos de »inculpaciones a b s o l u t a m e n t e absurdas, y a que los j u d í o s n o creían en la presencia de C r i s t o en la H o s t i a « 2 9 , c o n t r i b u í a n a su e s t i g m a t i z a c i ó n y a su d e m o n i z a c i ó n . A n t e estos factores innegables c o n v i e n e n o o l v i d a r q u e M a t e o A l e m á n escribió los Sucesos de G . G u e r r a muchas décadas después de la catástrofe f a m i l i a r m e n c i o n a d a y que, y a d u r a n t e su n i ñ e z y adolescencia,su f a m i l i a tenía las puertas abiertas a la i n f l u e n c i a cristiana. Su padre - m é d i c o de la cárcel de Sevilla - recibía frecuentes visitas de los »canónigos de la Santa Iglesia H i s p a l e n s e « 3 0 y u n t í o de M a t e o era » c l é r i g o « . 3 1 E n M a d r i d , d o n d e M . A l e m á n v i v i ó varios años, m a n t i e n e estrechas relaciones c o n d i s t i n -
27 Aunque la leyenda es más larga, para comprender el sentido y la índole del texto es suficiente el primer punto que aquí se transcribe: »Estaban por estos días rey y reina con la corte en nuestra ciudad, donde sucedió aquel célebre milagro del Santísimo Sacramento. U n sacristán de la iglesia de San Fagún, apretado de una necesidad, pidió unos dineros prestados a un judío que pidiéndole seguridad de fianza o prenda, y viendo que se encogía por no la tener, le dijo, que si le daba en prendas una hostia consagrada, que podía sacar del sagrario y custodia, le daría aquel dinero, y más que hubiese menester. A q u í la sacrilega necesidad llegó al último desacato, determinándose el sacristán al horrible sacrilegio; entregando, segundo Judas, al hebreo la prenda de la gloria. La calle en que se hizo la entrega se nombra hasta hoy del Mal Consejo que sale a la cuesta de San Bartolomé. Gozoso el judío del suceso, avisó a los de su nación, y congregados en su sinagoga, con horribles execraciones echaron la Santísima hostia en un baño o caldera de agua hirviente; ciego desatino, pues con él confesaban ellos mismos misteriosa deidad en lo que perseguían. Acreditóse bien en el suceso, pues elevada la hostia en el aire mostraba querer reducir aquellos ánimos obstinados, con escusar milagrosamente aquel oprobio, quien ya humilde padeció tantos por lo mismo. Tembló la fábrica de la sinagoga, rompiéndose los arcos y pilares, cuyas roturas permanecieron hasta que en nuestros días se renovó aquella fábrica. Amedrentada y atónita aquella canalla vil, procuraron coger la hostia; y temiendo más la pena que la culpa, por consejo de todos, la llevaron algunos al convento de Santa Cruz; y llamando al prior con temeroso secreto, le refirieron el milagro y entregaron la hostia, de cuya vista y presencia temblaban temerosos y no arrepentidos; infernal obstinación.« El texto completo de esta leyenda, cuyas raices se remontan a. principios del siglo XV, puede leerse en Diego de Colmenares, Historia de la insigne dudad de Segovia y compendio de las historias de Castilla. Tomo I. Nueva edición anotada (Segovia 1979), 557/ 559 y nota 15, 569. 28 Friedrich Battenberg en su libro Das Europäische Zeitalter der Juden [(Darmstadt, 1990), tomo I, 119 y 125] menciona leyendas similares en París (1280), Rottingen an der Tauber (Alemania, 1298) y Sochaczew (Polonia, 1556) Véase también Nachtum T. Gidal, Die Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik ( K ö l n 1997), 50/51. 29 2000 Jahre Christentum. Illustrierte Kirchengeschichte in Farbe, hg. Günter Stemberger (Salzburg, 1983), 816. El texto alemán dice » [ . . . ] absolut unsinniger Vorwurf, da ja die Juden gar nicht an die Gegenwart Christi in der Hostie glaubten.« 30
Alvarez, op. cit., 11. Ibid.
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guidos personajes como los doctores Pérez de Herrera y Francisco de Valles, este último protomédico del rey, 3 2 ingresando - sospecha E. Cros - en la hermandad de Nuestra Señora de la Misericordia en la parroquia de San Martín, 3 3 a la que probablemente ambos pertenecían. También con Lope de Vega debió compartir estrecha amistad ya que el dramaturgo madrileño escribió un »Elogio« a la »Vida de San Antonio de Padua« 34 del hagiógrafo sevillano. A l emigrar a Méjico tal vez - si lo hubiera deseado - habría tenido la posibilidad de desligarse de ese ambiente cristiano y clerical, pero de hecho ocurrió todo lo contrario. M . Alemán sigue manteniendo vínculos intensos con el cabildo de la Iglesia Mayor de la capital mejicana. Concretamente los Sucesos están dedicados por el autor a D . Antonio Salazar, canónigo de dicha iglesia y »administrador general de los diezmos y rentas della« (sic), con quien M . Alemán - según sus propias palabras - había contribuido »muchas otras obligaciones« (379). Salazar había sido además, como el propio Alemán, testigo ocular de diversas acciones narradas en los Sucesos (379). Tanto Salazar como el cabildo vuelven a reaparecer en el escrito con ocasión de la muerte y el entierro de G. Guerra. Otra persona de la confianza del autor en Méjico pudo ser el padre jesuita Diego de Santisteban, el cual recomendó a la autoridad competente el »imprimatur« de los Sucesos (378). El propio arzobispo G. Guerra, protagonista de los Sucesos, parece haberse ganado desde muy pronto la simpatía y el agradecimiento del autor. U n o de los pocos libros que M . Alemán llevó consigo al Nuevo Mundo fue »El ingenioso Hidalgo D o n Quixote de la Mancha, Compuesto por Miguel de Cervantes Saavedra. A ñ o 1605. C o n privilegio. En Madrid, Por Juan de la Cuesta«, libro que al pasar la aduana cayó en manos del Comisario de Vera Cruz, quien lo retuvo por contener »materias profanas, fabulosas y fingidas«, siéndole devuelto »a su dueño Matheo Alemán, Contador y Criado de su Majestad«, gracias a la intervención de G. Guerra. 3 5 Estos estrechos y duraderos vínculos con la Iglesia en España y en Méjico explican a su vez los conocimientos y el uso que M . Alemán demuestra no sólo del A . T. - como ya se ha visto - sino también del N . Testamento. Además de S. Marcos, S. Mateo y S. Lucas - como ya se ha visto - Alemán destaca su admiración por S. Juan, »el divino evangelista« (408), así como también por el apóstol San Pablo. (407) Más sorprendente es que conozca y mencione a Padres de la Iglesia 32
Sobre estos dos personajes véase E. Cros, op. cit., 30 ss.
33
Cros, op. cit., 33.
34
M . Alemán, San Antonio de Padua. Dirigido al reino y nación lusitana. Impreso en Sevilla por Clemente Hidalgo. A ñ o 1604. Edición de Henri Guerreiro. Tomo I. (Université de Toulouse-Le Mirail 1992), 13/14. 35
Sucesos, op. cit., 422/23.
10 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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como San Ambrosio, San Cipriano, San Ireneo o San Agustín. Digna de mención es asimismo la facilidad con que el descendiente de judíos conversos maneja un vocabulario tan especial como el de la liturgia católica: »palio« (391), »viático« (391), »especies de pan y vino« (392), »extremaunción« (392), »sobrepellices« (394), »responso« (394), »casulla« (395), »capelo« (398), »ciriales« (399) etc. Pocos años antes de escribir los Sucesos M . Alemán había publicado entre la primera y la segunda parte del Guzmán la ya mencionada »Vida de San A n tonio, de Padua«, libro que tiene abundantes paralelos con los Sucesos y que había escrito en cumplimiento de un v o t o . 3 6 Ya en Méjico escribe un »Elogio« a la Vida del Padre Maestro Ignacio de Loyola« de Luis Belmente Bermúdez (1609) y, para no seguir, añadiremos únicamente que una de la hijas de M . Alemán ingresó en Méjico en un convento de monjas teresianas. 37 De los datos apuntados se puede colegir que M . Alemán conocía muy de cerca el mundo de la Iglesia católica. Como conocer no implica necesariamente compartir, añadiremos que probablemente el texto más directo y diáfano en que el autor de los Sucesos y del Guzmán se identifica con la Iglesia católica se halla en su San Antonio de Padua cuando se cuenta entre los que »militamos« 3 8 (320) bajo el estandarte de dicha institución. Obsérvese que el verbo »militar« va mucho más allá de una simple pertenencia más o menos pasiva. Vistas las circunstancias familiares de apertura a la religión cristiana, las intensas relaciones de M . Alemán con la Iglesia en España y en Méjico, los conocimientos que manifiesta en sus escritos del Nuevo Testamento y de los Padres de la Iglesia, es menester detenerse en lo que, por contraste con las leyendas populares antes aludidas, puede llamarse, con B. Netanyahu, la desmitificación histórica del supuesto criptojudaismo español. Recurrimos con este fin a reconocidos estudios históricos que enfocando el tema desde perspectivas distintas llegan si no a conclusiones idénticas sí complementarias y aplicables a la obra que nos ocupa y tal vez al caso de Mateo Alemán, a quien en ninguna de las fuentes empleadas se menciona. Friedrich Battenberg, comparando a los judíos españoles con los del resto de Europa llega a la siguiente conclusión: Frente a las humillaciones y discriminaciones, los judíos españoles reaccionaron de manera distinta a los judíos de los países allende los Pirineos: en lugar de replegarse sobre sí mismos, se abrieron aún más que hasta entonces al cristianismo. 39
36 Juan Lope del Valle, »En alabanza de Mateo Alemán, Vida De San Antonia Padua, 12. 37
Cros, op. cit., 55.
38
Alemán, Vida De San Antonio de Padua, 320.
de
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H e n r y K a m e n en el c a p í t u l o t i t u l a d o » D i e l e t z t e n Tage d e r C o n v e r s o s « (los ú l t i m o s días de los conversos) escribe: La gran cantidad de procesos tramitados contra los judíos, poco después del año 1500, marcó el fin de la generación de judíos españoles que seguían siendo fieles a las leyes mosaicas, como se habían enseñado antes de 1492. Quien por ejemplo en 1532 a la edad de 50 años era castigado por judaizante, en 1492 tenía 10 años, siendo así - como puede pensarse - suficientemente mayor para conocer las leyes de Moisés y hablar la lengua hebrea. Teniendo en cuenta sin embargo que dicha generación no podía vivir ya a mediados del siglo X V I , ello explicaría por qué en estos años no hubo persecuciones. La nueva generación, es decir los hijos de aquéllos, creció de forma completamente distinta a sus padres. Incluso cuando los padres siguieran aún viviendo las costumbres judías, a los hijos no se las transmitieron hasta su madurez por miedo a que su imprudencia pudiera perjudicar a toda la familia. 4 0 A n t o n i o D o m í n g u e z asegura que m i e n t r a s los m o r i s c o s españoles, c o n pocas excepciones, se n e g a r o n a aceptar el c r i s t i a n i s m o , los j u d e o c o n v e r s o s acabaron a c e p t á n d o l o sinceramente: Los primeros se mantuvieron tenazmente aferrados a su entorno, sin querer saber nada del mundo exterior; los segundos tuvieron una real voluntad de integración; no querían seguir siendo ellos, sino hacer olvidar su origen y fundirse con el resto de la nación. 4 1 D e esta f o r m a , m i e n t r a s los m o r i s c o s seguían siendo f á c i l m e n t e i d e n t i f i c a bles, los conversos se f u e r o n d i l u y e n d o cada v e z más en la sociedad española de su t i e m p o , n o en ú l t i m o l u g a r p o r m e d i o de los m a t r i m o n i o s m i x t o s . A u n q u e estas nuevas familias q u e d a b a n i p s o facto c o n t a m i n a d a s , n o resultaba demasiad o d i f í c i l c a m b i a r de apellidos y de d o m i c i l i o c o n a y u d a de testigos falsos, c o m o y a se ha p o d i d o apreciar e n el caso de M . A l e m á n . A s í se explica que entre los conversos españoles de p r o c e d e n c i a j u d í a , según » d o c u m e n t o s i r r e f u t a b l e s « 4 2 39 Battenberg, op. cit., tomo I, 129. E l texto original dice asi: »Gegenüber den Demütigungen und Diskriminierungen reagierten die spanischen Juden jedoch anders als die Juden in den Ländern jenseits der Pyrenäen: sie zogen sich nicht auf sich selbst zurück, sondern öffneten sich noch mehr als bisher dem Christentum.« 40 Kamen, op. cit., 242/43. H e aquí el texto original: »Die hohe Zahl der Prozesse gegen Judaisierende, die bald nach 1500 erhoben wurde, bezeichnete das Ende jener Generation spanischer Juden, die zum Teil noch an den Mosaischen Gesetzen hingen, wie diese vor 1492 gelehrt worden waren. Wer zum Beispiel 1532 i m Alter von fünfzig Jahren als Judaisierender bestraft wurde, wäre 1492 zehn Jahre alt und somit vermutlich schon alt genug gewesen, u m die Gesetze des Moses zu kennen und hebräisch zu sprechen. Da diese Generation u m die Mitte des 16. Jahrhunderts gewiß nicht mehr lebte, würde das erklären, warum damals keine Verfolgungen stattfanden. Die neue Generation, also deren Kinder, wuchs i n ganz anderer Weise heran als ihre Väter. Selbst wenn die Eltern noch nach jüdischer Sitte lebten, ließ man doch die Kinder über die Besonderheiten des jüdischen Glaubens mindestens so lange, bis sie vernünftig denken konnten, i m unklaren, aus Furcht, daß kindlicher Mangel an Vorsicht die ganze Familie ins Verderben bringen könne.« 41
10*
Ortiz, op. cit., 187.
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- asegura Domínguez - se encuentren nombres como los de Luis Vives, Francisco de Vitoria, fray Luis de León, Juan de Avila, Teresa de Jesús, el P. Laínez y muchos otros que desempeñaron un papel decisivo »en la renovación de la religiosidad española gracias a su ardor de neófitos.« 43 Una de las aportaciones mas sólidas y originales en torno a la asimilación de los conversos en la sociedad española de los siglos X I V al X V I es la de Benzion Netanyahu. 4 4 Su concienzudo estudio, que Américo Castro apenas pudo conocer y que Benito Brancaforte pasa por alto tanto en su edición del Guzmán* 5 como en su libro sobre el mismo tema. 4 6 llega a conclusiones absolutamente básicas para comprender el desarrollo histórico de los conversos españoles a partir de las fuentes judías de la época. En concreto los »Responsa«, »la literatura filosófica y polémica« y »la literatura homilética y exegética«. El análisis de los »Responsa« conduce según Netanyahu a las siguientes conclusiones: E l grupo de conversos forzados de 1391 comienza a separarse del judaismo ya en la primera generación. A l acabar la segunda generación, la mayoría había dejado de observar la Ley hebrea. A mediados del siglo X V esa mayoría era tan amplia que para algunos ya no quedaban criptojudíos en el campo de los conversos. 47
En ciertos lugares de España siguieron existiendo algunas minorías de judíos secretos o al menos algunos que practicaban ciertos ritos judaicos. Pero incluso éstos decrecieron progresivamente y se fueron debilitando en su fidelidad al judaismo. ( . . . ) Así pues, mientras el criptojudaismo se iba esfumando, el proceso de asimiliación social y religiosa avanzaba sin cesar. A l fundarse la Inquisición, la asimilación estaba tan extendida y era tan profunda, que para los judíos españoles los marranos eran ya predominantemente gentiles. 48
La situación de los marranos según la literatura filosófica y polémica de los hebreos españoles entre 1415 y 1455 la resumen Netanyahu en las siguientes frases:
42
Ortiz, op. cit., 191.
43
Ibid.
44
Benzion Netanyahu, Los marranos españoles según las fuentes hebreas de la época (Siglos XIV-XVI). Taduccíon Ciríaco M o r ó n Arroyo. Junta de Castilla y Léon. Consejería de Educación y Cultura (Valladolid 2002; primera ed. Nueva York 1966). 45
M . Alemán, Guzmán de alfarache. Cátedra. 2 tomos (Madrid 1979).
46
Benito Brancaforte, Guzmán de Alfarache (Madison 1980). 47 48
»Conversión
o proceso de degradación«
Netanyahu, op. cit.,n 74 / 75.
Netanyahu, op. cit., 75. La Inquisición se fundó bajo los Reyes Católicos el 1 de noviembre de 1478 (Historia de España y América , 626).
Los Sucesos de un dominico contados
149
El campo de los conversos después de 1415, se compone de antiguos forzados (anusim) que terminaron renegando; de apóstatas voluntarios de ideas >herética< y de cristianos convencidos, cuyo número era grande y en constante crecimiento con la entrada de nuevos conversos. 49
Netanyahu continúa formulando su posición: El resultado de todo esto, visto en clara perspectiva, es que no sólo las prácticas rituales, sino la verdadera fe y el anhelo de fe en el judaímo, si no habían desaparecido ya del campo marrano, estaban definitivamente en trance de desaparición. 50
Por fin, tras un detenido examen de la literatura homilética y exegética, al comienzo del capítulo V titulado »Conclusiones« remacha su postura definitiva: ¿Podemos seguir sosteniendo -se pregunta Netanyahu- la idea tan extendida en las historias del tema, según la cual >la mayoría de los conversos eran judíos en la fe y en la práctica ?< En nuestra opinión, la respuesta a esta pregunta debe ser negativa. 51
Pienso que es justamente este marco histórico donde se debe situar la obra de Mateo Alemán - descendiente de judeoconversos - sobre la persona de García Guerra, el cual, a pesar de los altos cargos que desempeñó o tuvo que desempeñar,siguió siendo hasta su muerte un humilde fraile dominico. Probablemente haya que tener los Sucesos de García Guerra más presentes que hasta la fecha en la investigación global sobre el autor sevillano.
49
Netanyahu, op. cit., 119.
50
Netanyahu, op. cit., 120.
51
Netanyahu, op. cit., 173.
La rhétorique des rituels politiques et religieux dans La Cour sainte de Nicolas Caussin 1 Par Volker Kapp
M o n titre propose un >parallèle< entre les rituels politiques et religieux dans La Cour sainte de Nicolas Caussin, père jésuite de renommée européenne au X V I I e siècle, mais tombé dans l'oublie dès le siècle des Lumières. Que signifie ici le terme de rituel? Caussin n'est spécialiste ni du cérémonial de cour ni de la liturgie catholique, mais il s'occupe des manifestations typiques de la vie des grands, surtout de la noblesse, et de leurs rapports avec le prince qui, lui, n'est qu'indirectement le destinataire de l'ouvrage. I l ne s'agit donc pas d'un miroir des princes, genre littéraire florissant dès le Moyen Age et toujours en faveur au X V I I e siècle dans la république des lettres. 2 I l s'agit plutôt d'un manuel de civilité chrétienne puisque »Caussin et ses confrères accordent à l'instruction, à l'>honnêtetéCité de DieuHorenÜber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Text, Materialien, Kommentar (München / Wien 1981). 10
Nachdem Goethe am 26. Oktober 1794 die Erstlektüre der Ästhetischen Briefe als »angenehm« und »wohlthätig« bezeichnet hat ( N A 35, 78), erklärt er zwei Tage später:
Ästhetische Bildung als politische Propädeutik?
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darüber hinwegtäuschen, daß die Eingangspartie der Unterhaltungen , die i m Eröffnungsband der Hören zu Beginn des Jahres 1795 publiziert wird, in eine gänzlich andere Richtung weist. Die erste Sequenz der Novellensammlung muß Schiller als außerordentliche Provokation empfunden haben, schließlich konterkariert Goethes Erzähler hier gleich i m ersten Satz nahezu alles, was das Hören-Avertissement mit hochtrabendem Pathos verkündet hat (FA 9, 995): I n jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, u m den Bedrängnissen zu entgehen, w o m i t alle ausgezeichneten Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, daß sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten, und mancher Vorteile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.
Wie aus dem Eingangssatz der Unterhaltungen hervorgeht, verstößt Goethe gleich mehrfach gegen das Politikverbot der Hören-Ankündigung: Er wählt die Französische Revolution zum Ausgangspunkt seiner Rahmenhandlung, obw o h l Schiller ein striktes Stillschweigen über das »Lieblingsthema des Tages« verhängt hat ( N A 22, 106), und läßt zudem seinen Erzähler Partei für den Adel sowie dessen soziale Privilegien ergreifen. Die an das Herkommen geknüpften Vorrechte werden keineswegs aus dem Geist der Aufklärung kritisiert, sondern vielmehr, wenngleich mit fragwürdigen Argumenten, in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigt. Die Revolutionsschelte des Eingangssatzes gibt einen Kurs vor, an dem der Erzähler auch in den folgenden Abschnitten der Rahmenpartie festhält. So wirft er dem revolutionären Frankreich politische Willkür vor und klagt über den »Unterdrückungsgeist« derer, die das Wort »Freiheit« zwar »immer i m Munde« führen, zugleich aber ein Terrorsystem installieren, das in ganz Europa Furcht und Schrecken verbreitet (FA 9, 1000). Der adelige Kreis, der sich vor den aus Frankreich anrückenden Revolutionstruppen auf seine rechtsrheinischen Güter geflüchtet hat, spiegelt die unterschiedlichen Positionen der deutschen Oberschicht während der ersten Revolutionsjahre wider. Das Spektrum politischer Ansichten reicht von Karls schwärmerischem Revolutionsenthusiasmus bis zum reaktionären Konservativismus des Geheimrats. Der Kreis u m die Baronesse präsentiert sich keineswegs als homogener Personenverbund und ist denkbar weit entfernt von jenem Gesel»Hatte ich das erstemal sie blos als Betrachtender Mensch gelesen und dabey viel, ich darf fast sagen völlige, Ubereinstimmung mit meiner Denckensweise gefunden, so las ich sie das zweytemal i m pracktischen Sinne und beobachtete genau: ob ich etwas fände das mich als handelnden Menschen von seinem Wege ableiten könnte; aber auch da fand ich mich nur gestärckt und gefördert und w i r wollen uns also mit freyem Zutrauen dieser Harmonie erfreuen« ( N A 35, 80). 13*
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Thorsten Valk
ligkeitsideal, das Schiller in der //orew-Ankiindigung vorgibt. Von einer >heiteren< Stimmung kann schon gar nicht die Rede sein, schließlich ist der adelige Zirkel in einen heftigen Parteienstreit verwickelt, der insbesondere durch die provozierenden Äußerungen Karls immer wieder angefacht wird. Trotz seiner adeligen Herkunft bekennt sich Karl vorbehaltlos zu den revolutionären Zielen der Jakobiner. Er propagiert deren politisches Credo ohne Rücksicht auf die abweichenden Ansichten seiner Familienmitglieder und versteigt sich unter Verweis auf das vermeintlich hohe Ziel der Revolution gar zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt, M i t seinen Äußerungen verstößt Karl gegen nahezu alle Gebote aristokratischer Gesittung: Dezenz und Aufmerksamkeit sind ihm ebenso fremd wie diskrete Zurückhaltung und taktvolle Schonung der übrigen Familienmitglieder. Wenn man den spöttischen Äußerungen des Erzählers Glauben schenken darf, dann hat Karl seine jugendliche Libido nicht auf ein hübsches Mädchen, sondern auf die politischen Umtriebe i m Nachbarland gerichtet. Er ist wie sein älterer Namensbruder Karl M o o r jener »blendenden Schönheit« zum Opfer gefallen, die unter dem Namen der »Freiheit« durchs Land zieht und allerorten Unruhe stiftet (FA 9, 997). Während der adelige Familienkreis Karls ungezügelte Revolutionseuphorie widerwillig erduldet, allein die Baronesse zur »Tugend der Unparteilichkeit« mahnt (FA 9, 998), sucht der eintreffende Geheimrat die unmittelbare Konfrontation. Er attackiert Karls politischen Eifer als jugendliche Schwärmerei und diskreditiert jene Revolutionäre, die i m nahegelegenen Mainz eine Republik nach französischem Vorbild ausgerufen haben. I n den Schilderungen des Geheimrats mutieren die deutschen Parteigänger der Revolution zu wirklichkeitsfremden Fanatikern, die man für ihr politisches Abenteurertum unnachsichtig zur Rechenschaft ziehen müsse. Die Auseinandersetzung zwischen Karl und dem Geheimrat konturiert den Gegensatz zweier Positionen, die gewisse Affinitäten zu den politischen Einstellungen Schillers und Goethes vor der wechselseitigen Annäherung i m Jahre 1794 aufweisen. 11 Läßt sich i m jugendlichen Salonrevoluzzer Karl das Profil des jungen Schiller wiedererkennen, der als aufmüpfiger Karlsschüler gegen absolutistischen Machtmißbrauch protestiert und von politischer Freiheit schwärmt, so verbirgt sich hinter der Maske des Geheimrats unverkennbar 11 Hartmut Reinhardt geht davon aus, daß Schiller in Karl den deutschen Revolutionsanhänger und Reiseschriftsteller Georg Forster porträtiert hat. Forster, der mit Goethe in sporadischem Briefwechsel stand, trat 1792 nach der Eroberung von Mainz dem dortigen Jakobinerklub bei und gehörte somit zu jenen »Clubbisten« (FA 9, 1001), gegen die der Geheimrat in den Unterhaltungen heftig polemisiert. Hartmut Reinhardt, »Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Peter-André A l t , Alexander Kosenina, Hartmut Reinhardt u. Wolfgang Riedel (Hg.), Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings (Würzburg 2002), 311-341, hier 325.
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Goethe selbst, der noch zu Beginn der neunziger Jahre den politischen U m bruch in Frankreich auf verbrecherische Umtriebe korrupter Gesellschaftskreise reduziert. I n Karl und dem Geheimrat porträtiert die Eingangspartie der Unterhaltungen Schillers und Goethes ehemalige politische Positionen und skizziert damit zugleich auch entscheidende Gründe für das tiefsitzende M i ß trauen, das sich beide Dichter in den achtziger und frühen neunziger Jahren entgegengebracht haben. Wahrend Karl als Spiegelbild des jungen Schiller die Relevanz des historisch Gewachsenen verkennt und die Tradition auf dem Altar der Revolution zu opfern bereit ist, mithin dem Glauben anhängt, auf der Basis abstrakter Vernunftgründe eine neue Gesellschaft errichten zu können, erweist sich der Geheimrat als unfähig, den geschichtlichen Legitimationsschwund des Ancien Régimes und die historische Logik der Revolution anzuerkennen. Der Wortwechsel zwischen dem reaktionären Geheimrat und dem revolutionär gesonnenen Karl verschärft sich kontinuierlich und kulminiert zuletzt in wechselseitigen Beleidigungen, auf die der Geheimrat mit seiner sofortigen Abreise reagiert. 12 Als Goethe i m November 1794 die Eingangspartie an Schiller sendet, äußert er sich mit keinem Wort zu jener Provokation, die gleich von den ersten A b sätzen seiner Unterhaltungen ausgeht: »Hier schicke ich das Manuscript«, erklärt er lapidar, »und wünsche daß ich das rechte Maas und den gehörigen Ton möge getroffen haben« ( N A 35, 96). Schiller muß nicht lange in dem überstellten Manuskript herumblättern, u m zu realisieren, daß Goethe keineswegs den »gehörigen Ton« getroffen, vielmehr das i n der Einladung zur Mitarbeit ausgesprochene Politikverbot unbekümmert ignoriert hat. Er reagiert zwei Tage später mit einem kurzen Brief, der seine Unzufriedenheit hinter einigen bemühten Höflichkeitsfloskeln klar hervortreten läßt: »Weil ich mich in meiner Annonce an das Publikum auf unsere Keuschheit in politischen Urtheilen berufen werde«, erklärt er, »so gebe ich Ihnen zu bedenken, ob an dem, was Sie dem Geheimrath in den M u n d legen, eine Parthey des Publikums, und nicht die am wenigsten zahlreiche, nicht vielleicht Anstoß nehmen dürfte?« ( N A 27, 94). Der Brief vom 29. November dokumentiert ein weiteres Mal, wie ernst Schiller die apolitische Haltung seiner Zeitschrift nimmt und wie sehr ihm daran liegt, auch Sympathisanten der Revolution als Abonnenten anzusprechen. Kein Leser soll durch parteipolitische Äußerungen vom Kauf und von der Lektüre
12 I n der literaturwissenschaftlichen Forschung w i r d die Abreise des Geheimrats unterschiedlich interpretiert und mit konträren Wertungen belegt. Siehe dazu W u l f Segebrecht, »Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens i m geselligen Rahmen«, Germanisch-Romanische Monatsschrift, 56 (1975), 306-322, hier 315. Bernd Bräutigam, »Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten« (Anm. 8), 518 f. Nicholas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 2: 1791-1803 (München 1999), 393.
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der Zeitschrift abgehalten werden. Erstaunlich ist freilich, daß Schiller nur die Figur des Geheimrats kritisiert, Karl und den Erzähler hingegen trotz ihrer ebenso einseitigen Äußerungen nicht erwähnt. Vieles spricht dafür, daß Schiller die Äußerungen des Geheimrats mit den Urteilen des auktorialen Erzählers und diese mit dem Standpunkt des Autors Goethe gleichsetzt. Die deutlich vernehmbare K r i t i k am sklerotischen Konservativismus des Geheimrats sowie an dessen »hypochondrischem Gemüte« überliest er offensichtlich (FA 9, 1000). 13 Die Omnipräsenz der Französischen Revolution i m Eingangsteil der Unterhaltungen ist von vielen Erstrezipienten mit Erstaunen aufgenommen worden. Manch zeitgenössischer Leser hat gleichwohl zu vorschnell geurteilt, wenn er wie Johann Friedrich Reichardt den pauschalen Vorwurf erhob, Goethes Unterhaltungen würden auf eklatante Weise gegen die Programmatik der Hören verstoßen. 14 A m Ende der Eingangspartie erklärt die Baronesse unter dem Eindruck des vorangegangenen Streits zwischen Karl und dem Geheimrat, daß sie künftig keinen vergleichbaren Wortwechsel mehr erleben wolle und daher alle politischen Auseinandersetzungen strikt untersage. »Laßt uns dahin übereinkommen«, fordert sie, »daß wir, wenn w i r beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen« (FA 9, 1009). Wenn die Baronesse ihre Familienangehörigen ermahnt, über das »Lieblingsthema des Tages< ein >strenges Stillschweigen zu bewahren, und zugleich empfiehlt, an jene alte aristokratische Geselligkeitskultur anzuknüpfen, die unter dem Ansturm der politischen Ereignisse gänzlich in Vergessenheit geraten ist, dann verweist sie 13
Während Schiller seine Unzufriedenheit gegenüber Goethe nur vorsichtig artikuliert, übt er in einem Brief an Körner scharfe Kritik. »Dieser Anfang«, urteilt er über die Eingangspassage der Novellensammlung, »hat meine Erwartung keineswegs befriedigt. Leider trifft dieses Unglück schon das Erste Stück« ( N A 27, 98). Die Genese der Eingangssequenz sowie die dadurch ausgelöste Diskussion zwischen Goethe und Schiller bezüglich der Revolutionsthematik rekapituliert die Studie von Joachim Müller, »Zur Entstehung der deutschen Novelle. Die Rahmenhandlung in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und die Thematik der Französischen Revolution«, in: Helmut Kreuzer, Käte Hamburger (Hg.), Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literaturkunstund musikwissenschaftliche Studien. Festschrift für Fritz Martini zum 60. Geburtstag (Stuttgart 1969), 152-175. 14 I n seiner Rezension des ersten //orew-Jahrgangs wirft Johann Friedrich Reichardt dem A u t o r der Unterhaltungen vor, er beurteile die »wichtigen Gegenstände« des politischen Zeitgeschehens mit »diktatorischem Übermute« und mache sein einseitiges Urteil »mit hämischer Kunst dem Schwachen und Kurzsichtigen annehmlich«. Reichardts K r i t i k mündet in das Resümee: »So unschuldig der achtungswerte Herausgeber auch immer an dem Inhalte dieses Aufsatzes sein mag, so unverzeihlich bleibt es doch, so etwas ganz dem angekündigten Plan Entgegenlaufendes von irgend einem Mitarbeiter aufzunehmen«. Johann Friedrich Reichardt, »Aus einer Rezension über Die Hören. Eine Monatsschrift, herausgegeben von Schiller «. Zitiert nach: Karl Robert Mandelkow (Hg.), Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil 1: 1773-1832 (München 1975), 125.
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mit ihrem eindringlichen Appell auf Schillers Hören-Programm: Geschichten, philosophische Erörterungen sowie naturkundliche Unterweisungen sollen an die Stelle des politischen Diskurses treten, u m eine gesellige Kommunikationskultur mit ästhetischem Bildungsanspruch zu befördern: »Bietet alle eure Kräfte auf, lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein«, appelliert die Baronesse an die Mitglieder des adeligen Zirkels. 1 5 Die Schlußpartie der Eingangssequenz überführt Schillers //orew-Ankündigung in eine plastische Geschichte. Das Avertissement w i r d kurzerhand literarisiert, sein rigides Politikverbot in ein fiktives Geschehen transponiert. A n gesichts dieses Befundes muß die Funktion der Eingangssequenz spezifiziert und i m Kontext ihrer intertextuellen Referenz neu bestimmt werden: Wenn die ersten Absätze der Unterhaltungen das politische Tagesgeschehen nachdrücklich in den Mittelpunkt rücken und der auktoriale Erzähler zudem Partei für die zweifelhaften Privilegien des Adels ergreift, so läßt sich daraus nur auf den ersten Blick ein kalkulierter Regelverstoß ableiten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dagegen, daß die Politik lediglich in den Vordergrund rückt, u m durch die Intervention der Baronesse wirkungsvoll aus allen Gesprächen verbannt zu werden. Die Baronesse diszipliniert freilich nicht nur die Mitglieder ihres Familienkreises, sondern mäßigt auch den Erzähler in seiner Parteinahme für das Ancien Régime. Nach dem von ihr verhängten Politikverbot zieht er sich immer weiter aus dem Handlungsgeschehen zurück und läßt sich schließlich gar nicht mehr vernehmen. Der Streit scheint auf Figuren- und Erzählerebene gleichermaßen geschlichtet. 16
III. Die von der Baronesse am Ende der Eingangspartie ausgegebene Losung legt die Vermutung nahe, daß es sich bei Goethes Unterhaltungen u m eine poeti15 Siehe hierzu auch Dieter Borchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik (Kronberg i m Taunus 1977), 227: »Angesichts der Zerstörung geselliger Tugend durch den unversöhnlichen Gegensatz politischer Doktrinen bricht die Baronesse in einen bewegenden Appell an die Geselligkeit aus. Aus der guten Gesellschaft ist die Sprache des Affekts verbannt, so tief und existenzbedrohend auch das Leid sein mag, das denselben erregt«. 16
Indem Goethes Unterhaltungen den politischen Diskurs thematisieren, um so die Notwendigkeit des künftigen Stillschweigens aufzuzeigen, korrespondieren sie mit dem Gedankengang i m //orew-Avertissement, denn hier spricht Schiller ebenfalls zunächst einmal über die Französische Revolution, um daraufhin zu erklären, warum künftig von ihr geschwiegen werden müsse. Daß Schiller die analoge Gedankenstruktur der HorenAnkündigung und der Eingangssequenz zu den Unterhaltungen nicht erkannt hat, scheint unwahrscheinlich. U m so erstaunlicher ist es, daß er die Anfangspartie der Novellensammlung Körner gegenüber heftig kritisiert.
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sehe Einkleidung des Schillerschen //orew-Programms handelt. M i t Blick auf den weiteren Verlauf der Novellensammlung stellt sich freilich die Frage, ob das bildungsbeflissene Geselligkeitsideal der Baronesse unter den konkreten Umständen des politisch bedingten Exils von den Mitgliedern des adeligen Kreises überhaupt verwirklicht werden kann. Sind die Familienangehörigen fähig und auch willens, den Forderungen der Baronesse zu entsprechen? Goethes Unterhaltungen überführen Schillers Hören-Ankündigung in eine fiktionale Versuchsanordnung und fragen in den Rahmenpartien der Novellensammlung immer wieder nach den Realisierungschancen des ehrgeizigen Bildungsprogramms. I m Kontext dieser Versuchsanordnung reflektiert Goethe bezeichnenderweise ein weiteres Mal seine Beziehung zu Schiller - nunmehr allerdings nicht unter politischen, sondern unter poetologischen Vorzeichen. 1 7 Nachdem die Eingangspassage i m Streit zwischen dem jugendlichen Revolutionsschwärmer Karl und dem restaurativ gesonnenen Geheimrat die i m Jahre 1794 beigelegten Differenzen zwischen Goethe und Schiller noch einmal hat aufleben lassen, vergegenwärtigt der Fortgang der Rahmenhandlung Goethes gewandeltes Verhältnis zu Schiller in der Beziehung zwischen der Baronesse, die mittels ästhetischer Erziehung die Charaktere ihrer Familienmitglieder veredeln will, und dem Geistlichen, der sich von der Baronesse als Geschichtenerzähler verpflichten läßt, auch wenn er zu den von ihr forcierten Bildungsabsichten eine innerliche Distanz bewahrt. Daß es sich bei der Baronesse um eine Verkörperung des //orew-Herausgebers handelt, belegen nicht nur ihre Meinungsäußerungen, die zentrale Gedanken aus Schillers ästhetischen Schriften wiedergeben, sondern insbesondere auch die Namen ihrer Familienmitglieder, die allesamt auf Schiller und seine dramatischen Werke rekurrieren. Während der aufmüpfige Karl auf direktem Wege den Räubern entsprungen zu sein scheint, trägt die sittenstrenge und auf soziale Abgrenzung bedachte Luise ausgerechnet den Namen der bürgerlichen Protagonistin aus Kabale und Liebe. Der Verehrer eben jener Bürgerstochter leiht seinen Namen dem Protagonisten
17 Hartmut Reinhardt hat in seiner kürzlich vorgelegten Studie den Versuch unternommen, Goethes Unterhaltungen als »flankierendes Begleitwerk zu Schillers Ästhetik« zu interpretieren. Wie schon Dieter Borchmeyer in seiner Arbeit zum adeligen und bürgerlichen Wertsystem der Weimarer Klassik behauptet er, daß Goethe Schillers Konzept einer ästhetischen Erziehung poetisch ratifiziert und i m Gewand eines fiktionalen Geschehens bestätigt habe: »Der ästhetische Theoretiker führte, und der Erzähler folgte i h m nach«, heißt es apodiktisch. So aspektreich und anregend Reinhardts Aufsatz über weite Strecken auch ausfällt, seine zentrale These ignoriert die für Goethes Unterhaltungen charakteristische Diskrepanz zwischen Bildungsideal und Bildungsrealität zugunsten einer Lesart, nach der sich die Novellensammlung als Apologie der Schillerschen Ästhetik zu erkennen gibt. Hartmut Reinhardt, »Ästhetische Geselligkeit« (Anm. 11), 313 u. 337. Siehe auch Dieter Borchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe (Anm. 15), 232-235.
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Ferdinand in der zweiten moralischen Erzählung, die der Geistliche auf Geheiß der Baronesse am Morgen des zweiten Tages erzählt. U n d als bedürfte es noch eines weiteren Hinweises auf die Affinität zwischen der Baronesse und Schiller, trägt ihr Sohn den Namen Friedrich. Sich selbst porträtiert Goethe i m alten Geistlichen, der die politischen Debatten des adeligen Kreises konsequent meidet und von Luise nicht nur als Müßiggänger getadelt, sondern auch als leidenschaftlicher Weintrinker verunglimpft wird. M i t diesem ironisch-subversiven Selbstbild opponiert Goethe gegen jenes Porträt, welches Schiller i m neunten seiner Briefe zur ästhetischen Erziehung von dem neugewonnenen Verbündeten gezeichnet hat. D o r t erscheint Goethe in monumentaler Überhöhung als Künstler, den eine »Gottheit« beizeiten »von seiner Mutter Brust« gerissen hat, u m ihn »unter fernem griechischen H i m m e l zur Mündigkeit reifen« zu lassen; als Jüngling kehrt er aus dieser Sphäre zurück, u m »furchtbar wie Agamemnons Sohn« sein eigenes Jahrhundert zu »reinigen« ( N A 20, 333). Nachdem sich die Baronesse am Abend des ersten Tages zur Nachtruhe aus dem Familienkreis zurückgezogen hat, beginnt man entgegen der gerade erst gefaßten Vorsätze erneut zu politisieren. I n dieser Situation entschließt sich der alte Geistliche zu einem Experiment, das ihn über die Bildungsvoraussetzungen seiner künftigen Zuhörerschaft aufklären soll. Er erzählt eine Geschichte von der neapolitanischen Sängerin Antonelli und ihrer Beziehung zu einem Genueser, der sich mit seiner Rolle als Freund und Vertrauter nicht zufrieden geben will, infolgedessen die Position eines Liebhabers einklagt und auf diese Weise sein Unglück heraufbeschwört. Wie schon Gerhard Fricke gezeigt hat, zerfällt die Antonelli-Geschichte unter inhaltlichen wie stilistischen Gesichtspunkten in zwei konträre Teile. Die erste der beiden Sequenzen, die bis zum Tod des unglücklich liebenden Genuesers reicht, ist stringent erzählt und von einer präzisen Darstellung seelischer Konflikte bestimmt. Fein nuancierte Charakterschilderungen verleihen den Figuren ein hohes Maß an Plastizität und psychologischer Glaubwürdigkeit. Die zweite Sequenz hingegen, die den Geist des verstorbenen Genuesers über anderthalb Jahre hinweg sein Unwesen in Neapel treiben läßt, erschöpft sich in einer trivialen Spukgeschichte und gibt jeden A n spruch auf psychologische Stimmigkeit preis. M i t einer ans Karikatureske grenzenden Detailfreude schildert der alte Geistliche die gespensterhaften Umtriebe des unglücklich Verstorbenen, die i m Verlauf des zweiten Teils zu immerhin sechs Ohnmächten der Antonelli führen. 1 8 Die Absicht, die der Geistliche mit seiner aus zwei heterogenen Teilen zusammengesetzten Geschichte verfolgt, ist offenkundig. Er w i l l anhand der 18
Gerhard Fricke, »Zu Sinn und Form von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Preisendanz (Hg.), Formenwandel Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann (Hamburg 1964), 273-293, hier 277-279.
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Reaktionen seiner Zuhörer ermitteln, wie sensibel sie auf ästhetische Phänomene von äußerst unterschiedlicher Qualität reagieren. Das Ergebnis fällt ernüchternd aus: Anstatt die erste, psychologisch anspruchsvolle Erzählsequenz einer differenzierten Betrachtung zu würdigen, konzentrieren sich die Mitglieder des adeligen Kreises sogleich auf den zweiten Teil mit seinen monoton aneinandergereihten Gespenstererscheinungen. Allein die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Spukphänomene treibt ihre Neugier an, während das Niveaugefälle zwischen erster und zweiter Erzählsequenz gänzlich unbemerkt bleibt. Wie die einseitige Fixierung auf den unklaren Realitätsstatus der übernatürlichen Vorgänge verdeutlicht, sind die Familienmitglieder von jenem Bildungsziel, das die Baronesse kurz zuvor proklamiert hat, noch meilenweit entfernt. Sie verfügen über kein ästhetisches Sensorium und demonstrieren mit ihren Fragen nach dem faktischen Wahrheitsgehalt der Gespenstererscheinungen, daß ihnen der tiefere Gehalt der Antonelli-Geschichte unzugänglich bleibt. Der Geistliche reagiert auf die Äußerungen seiner Zuhörer mit einer doppelbödigen Bemerkung. Die von ihm erzählte Geschichte, so erklärt er, »müsse wahr sein, wenn sie interessant sein solle: denn für eine erfundene Geschichte habe sie wenig Verdienst« (FA 9, 1027). Aus dieser ironisch hintergründigen Äußerung geht hervor, daß die zweite Sequenz der Antonelli-Geschichte für den Alten keinen künstlerischen Wert besitzt und allenfalls dann Anspruch auf das Interesse der Zuhörer erheben kann, wenn sich die geschilderten Begebenheiten im Sinne eines vordergründigen Tatsachenpositivismus als »wahr« erweisen lassen. 19 Nach dem Ausgang des Erzählexperiments rückt der Geistliche in den H i n tergrund. Er erkennt, daß die ästhetische Sensibilisierung des adeligen Zirkels an diesem Abend nicht mehr gelingen wird, und überläßt das Feld den anderen Mitgliedern der Familie, die reihum mit weiteren Spuk- und Abenteuergeschichten aufwarten. Als erster meldet sich Friedrich zu Wort, u m das Sujet der neapolitanischen Gespensterepisode in seiner Anekdote vom mysteriösen Klopfgeist erneut aufzugreifen. Daß auch diese zweite Geschichte des Abends unter formalen wie inhaltlichen Gesichtspunkten äußerst mangelhaft ausfällt, w i r d von den Zuhörern nicht realisiert. Ihnen kommt es wiederum nur auf das Faktische an, wie Karl wenig später in einem anderen Gesprächszusammen19 Als fragwürdig erweist sich in diesem Zusammenhang die Behauptung von Gerhard Kurz, die Geschichte von der Sängerin Antonelli erzähle eine »unbewältigte erotische Leidenschaft« und schildere deren Konsequenzen, die darin bestünden, daß »das Nichtbewältigte, nur Verdrängte als irrationale Gewalt« in Gestalt von Gespenstererscheinungen wiederkehre. Die Antonelli-Geschichte antworte somit ebenso wie die nachfolgende Klopfgeist-Anekdote »implizit auf Schillers Verbot, über das Politische zu reden«. Gerhard Kurz, »Das Ganze und das Teil. Zur Bedeutung der Geselligkeit in der ästhetischen Diskussion um 1800«, in: Christoph Jamme (Hg.), Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels (Hamburg 1996), 9 1 - 1 1 3 , hier 109.
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hang zu erkennen gibt, wenn er erklärt, eine erzählte »Handlung oder Begebenheit« verdiene keineswegs aufgrund ihrer narrativen Komplexität oder Plausibilität besonderes Interesse; die Aufmerksamkeit der Zuhörer gebühre ihr nur, insofern sie »wahr« sei (FA 9, 1032). M i t dieser Äußerung verrät Karl einen vordergründigen und reduktionistischen Positivismus, dem es nur u m das Sammeln von Fakten geht, nicht aber u m deren kontextbezogene Deutung. Sein Wahrheitsbegriff verdankt sich letztlich einem primitiven Empirismus, der zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit, zwischen kontingenter Oberflächenrealität und seelischer Tiefendimension nicht zu differenzieren vermag.
IV. Die insgesamt vier Erzählungen des ersten Abends konterkarieren nahezu alle Anforderungen, welche die Baronesse am folgenden Morgen i m Hinblick auf eine niveauvolle und ästhetisch bildende Geschichte formuliert. Die M i t glieder des adeligen Kreises können von Glück sprechen, daß ihre simplen Gespenstergeschichten dem Familienoberhaupt nicht zu Ohren gekommen sind. Bevor die Baronesse ihre Erwartungen an eine anspruchsvolle Erzählung i m einzelnen darlegt, verdeutlicht sie zunächst, welche narrativen Fehlleistungen unbedingt zu vermeiden sind. Ihre K r i t i k richtet sich in erster Linie gegen jenes Erzählverfahren, das »rhapsodische Rätsel« inszeniere und »keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe« anwende, u m die Neugier der Zuhörer fortwährend anzustacheln (FA 9, 1037). Von diesem Erzählverfahren gehe kein bildender Einfluß aus, vielmehr verderbe es den »Geschmack« der Zuhörer und verhindere somit die Restitution der alten Geselligkeitskultur. Während die Baronesse die inhaltliche Dimension einer Geschichte weitgehend vernachlässigt, mißt sie deren Form eine besondere Bedeutung bei (FA 9, 1037 f.). A n den Geistlichen gerichtet, erklärt sie: Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frei, aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß w i r in guter Gesellschaft sind. Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht sei, wahr, natürlich und nicht gemein, so viel Handlung als unentbehrlich und so viel Gesinnung als nötig ist, die nicht still stehe, sich nicht auf Einem Flecke zu langsam bewege, sich aber auch nicht übereile. 20
20 Die Baronesse stellt dem Geistlichen zwar die Themenwahl anheim, gleichwohl ist angesichts ihrer strikt apolitischen Geselligkeitsdoktrin nicht davon auszugehen, daß sie sich auch mit einer dezidiert politischen Geschichte zufrieden geben würde. Dem Geistlichen sind also vermutlich keineswegs alle Themen freigegeben. - Zur Frage nach dem Primat der Form und der nachgeordneten Bedeutung inhaltlicher Aspekte siehe auch Bernd Bräutigam, »Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten« (Anm. 8),
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Wenn die Baronesse nicht nur die Formqualitäten sowie die Fiktionalität des Erzählten exponiert, sondern überdies auch hervorhebt, daß eine Geschichte »wahr« sein müsse, dann zeigt sich daran in aller Deutlichkeit, wie sehr ihr eigener Wahrheitsbegriff von dem des Neffen Karl abweicht. Ihr geht es nicht um äußere, sondern um innere Wahrheit, nicht u m die Übereinstimmung des Erzählten mit einer vordergründigen Tatsachenrealität, sondern u m psychologische Glaubwürdigkeit der Figuren und formale Stimmigkeit der Handlung. M i t ihrem Verweis auf den Primat der Form schlägt die Baronesse einen Bogen zum zweiundzwanzigsten Brief der Ästhetischen Erziehung, w o Schiller das Verhältnis zwischen Form und Inhalt bestimmt: »In einem wahrhaft schönen Kunstwerk«, erklärt er, »soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein w i r d auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey, w i r k t also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten« ( N A 20, 382). Die Baronesse erweist sich mit ihrer Wertschätzung des Formcharakters als überzeugte Parteigängerin Schillers und als entschiedene Verfechterin seiner Ästhetik. Die Affinitäten zwischen ihr und dem Herausgeber der Hören reichen indes noch weiter. Indem die Baronesse für Geschichten mit ästhetischem Bildungsanspruch auch eine geistige »Einheit« verlangt, antizipiert sie eine Auseinandersetzung, die Schiller mit Goethe i m Rahmen der Korrespondenz zum Wilhelm Meister führt. Schiller, der an der Genese des Romans regen A n teil nimmt, fordert Goethe wiederholt dazu auf, dem komplexen Handlungsgeschehen einen zentralen und die geistige Einheit des Werkes garantierenden Gedanken zugrunde zu legen. Goethe widersetzt sich jedoch diesem Appell, indem er auf die Inkommensurabilität seines Romans verweist und diesem damit ein plurales Sinnpotential bewahrt. 2 1
529: »Daß die Form den Stoff vertilgen müsse, ist ein D i k t u m des verantwortlichen Hören-Herausgebers, durch das er sich zum Beispiel legitimiert sah, den Lesern seiner Zeitschrift die Römischen Elegien zumuten zu können; eine Fehleinschätzung des Publikums, wie sich herausstellen sollte«. 21 I m Brief vom 8. Juli 1796 drängt Schiller darauf, die »Idee« des Wilhelm Meister deutlicher zu profilieren und die »Einheit« des Handlungsgeschehens klarer hervortreten zu lassen. Goethe gesteht daraufhin i m Antwortschreiben den von Schiller monierten Mangel ein, entgegnet jedoch mit ironischem Unterton: »Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, k o m m t aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde« (FA 9,1267 f.). Gegen Ende seines Briefes entzieht sich Goethe noch einmal den Änderungswünschen Schillers, indem er subversiv resümiert: »Ich komme mir vor wie einer, der, nachdem er viele und große Zahlen über einander gestellt, endlich mutwillig selbst Additionsfehler machte, u m die letzte Summe, aus Gott weiß was für einer Grille, zu verringern« (FA 9, 1269).
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Die erste Geschichte, die der Geistliche i m unmittelbaren Anschluß an die poetologischen Erörterungen vorträgt, vermag dem von der Baronesse aufgestellten Bildungsideal zu genügen und w i r d daher mit dem »Ehrentitel einer moralischen Erzählung« ausgezeichnet. »Geben Sie uns mehrere von dieser Art«, fordert die Baronesse den Geistlichen auf, »und unsre Gesellschaft w i r d sich deren gewiß erfreuen« (FA 9, 1057). So sehr die Novelle u m den rechtschaffenen Prokurator den Vorstellungen der Baronesse entspricht, so wenig kann sie die anderen Mitglieder der adeligen Gesellschaft zu einer geselligen Unterhaltung animieren. Die Hoffnung, mittels anspruchsvoller Geschichten ästhetische Bildungsprozesse in Gang zu setzen und so eine von wechselseitiger Anteilnahme getragene Kommunikationskultur zu etablieren, scheint sich nicht zu erfüllen. Wahrend die am Vorabend reihum erzählten Gespensterepisoden leidenschaftliche Reaktionen hervorriefen und nicht abreißende Debatten auslösten, verhält sich der Zirkel nunmehr auffällig still. Weder Beifallsbekundungen noch kritische Einwände lassen auf irgendeine Reaktion der Zuhörer schließen. Sie enthalten sich jeder Äußerung, so als wollten sie ihre Langeweile und Indifferenz i m Beisein der Baronesse nicht offen aussprechen. Die daraus ableitbaren Konsequenzen für das am Vortag verkündete Bildungsprogramm liegen auf der Hand: Die pädagogischen Maßnahmen der Baronesse führen nicht zum gewünschten Ziel, Bildungsanspruch und Bildungserfolg klaffen weit auseinander. Die einzige Zuhörerin, die sich neben der Baronesse zu Wort meldet, ist die Tochter Luise. Doch auch sie bezieht sich keineswegs auf die soeben vernommene Geschichte, sondern reagiert lediglich auf eine Äußerung des alten Geistlichen, der i m Anschluß an seinen novellistischen Vortrag erklärt: »Nur diejenige Erzählung verdient moralisch genannt zu werden, die uns zeigt, daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln« (FA 9, 1057). Der Geistliche setzt sich eine Maske auf und geriert sich - die Ambivalenzen des soeben erzählten Novellenschlusses gezielt ignorierend - als Verfechter einer rigorosen Pflichtenethik, die alle aus Neigung erfolgenden Handlungen entwertet. Damit bezieht er gleichsam experimentell eine moralische Extremposition, u m eine lebhafte Diskussion zu initiieren und, wie schon am ersten Abend, die Reaktionen seiner Zuhörer zu testen. Luise kritisiert den Tugendrigorismus des Geistlichen und wirft die berechtigte Frage auf, ob man denn in jedem Fall gegen seine Neigung handeln müsse, wenn man moralisch agieren wolle. Indem die Tochter der Baronesse den alten Geistlichen attackiert, problematisiert sie die bereits von Kant festgeschriebene Opposition zwischen Pflicht und Neigung. Wie nah sie mit ihrer K r i t i k hier der Position Schillers kommt, belegt ein Zweizeiler aus den Xenien mit der Überschrift Gewissensscrupel: »Gerne dien ich den Freunden«, dichtet Schiller dort, »doch thu ich es leider mit Neigung, I U n d so w u r m t es mir oft,
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daß ich nicht tugendhaft bin« ( N A 1, 3 57). 2 2 Die Diskussion zwischen dem Geistlichen und Luise führt den Antagonismus zwischen Pflicht und Neigung bis in jene Aporien, die Schiller in seinem »Xenion« pointiert herausstellt. Als die zunehmend hitzige Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreicht, schreitet die Baronesse ein und bittet, man möge sich doch andernorts »über die Theorie« verständigen und die versammelte Gesellschaft lieber mit moralischen Geschichten nach dem Muster der Prokurator-Novelle unterhalten (FA 9, 1058). Sah die Baronesse am Vortag den inneren Frieden des adeligen Zirkels durch politische Streitgespräche bedroht, so befürchtet sie nunmehr eine vergleichbare Gefährdung durch die von Luise verbissen geführte Theoriedebatte, die es ebenfalls an wechselseitiger Schonung und heiterer Geselligkeit fehlen läßt. A n dieser Stelle zeigt sich, daß das ästhetische Bildungsprogramm der Baronesse nicht nur politische, sondern auch einseitig gelehrte Diskussionen ausschließt und damit einmal mehr an Schillers Hören-Avertissement anknüpft, das den wissenschaftlichen Fachdiskurs brandmarkt und aus dem Journal ausschließt. U m den Streit zwischen dem Geistlichen und Luise freilich nicht ergebnislos abzubrechen, fügt die Baronesse ihrem Appell, man möge sich andernorts über die Theorie verständigen, noch eine abschließende Äußerung an, aus der wiederum hervorgeht, wie weitgehend sie Schillersche Positionen vertritt. »Gewiß«, erklärt die Baronesse versöhnlich, »ein Gemüt, das Neigung zum Guten hat, muß uns, wenn w i r es gewahr werden, schon höchlich erfreuen; aber schöneres ist nichts in der Welt als Neigung durch Vernunft und Gewissen geleitet« (FA 9, 1058). Was die Baronesse hier artikuliert, läßt sich gewissermaßen als Quintessenz der Schillerschen Schrift Über Anmut und Würde betrachten, in der das dichotomische Verhältnis zwischen Pflicht und Neigung unter Verweis auf die >schöne Seele< entschärft wird. Die Baronesse propagiert indes nicht nur Schillers Idee der »schönen Seeleschönen Seele< in Schillers Sinne. 23 Nachdem die Baronesse den Streit u m das Verhältnis zwischen Pflicht und Neigung abgebrochen hat, setzt der Geistliche zu einer weiteren Novelle an. Diese schildert die Geschichte eines jungen Mannes namens Ferdinand, der aus »Neigung« zu einer ebenso attraktiven wie eigensinnigen Frau seinen moralischen Halt verliert, wiederholt die väterliche Kasse erleichtert, um mit teuren Geschenken auf sich aufmerksam zu machen, und schließlich durch moralische 22 Das unmittelbar anschließende Xenion mit der Überschrift Decisum schreibt den rigiden Dualismus zwischen Pflicht und Neigung fort, indem es aus der Behauptung des vorausgehenden Zweizeilers folgert: »Da ist kein anderer Rath, du mußt suchen, sie zu verachten, I U n d mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut« ( N A 1, 357). 23 »In einer schönen Seele ist es also, w o Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und N e i gung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung« ( N A 20, 288).
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Anstrengung auf den rechten Weg zurückkehrt. Daß der Geistliche mit seiner Geschichte das bereits i m Zentrum der Prokurator-Novelle stehende Spannungsverhältnis zwischen Pflicht und Neigung einmal mehr variiert, geht bereits aus der auffälligen Häufung eben dieser beiden Zentralbegriffe am Beginn der Erzählung hervor. Angesichts der vielfach in das Handlungsgeschehen eingewobenen Sentenzen drängt sich der Eindruck auf, als handle es sich bei der Erzählung des Geistlichen u m eine pädagogisch ambitionierte Exempelgeschichte, die Kants moralphilosophische Erörterungen geradewegs in einen fiktionalen Geschehenszusammenhang transponiert. Die Reaktionen der Zuhörer geben freilich wiederum Anlaß zur Skepsis bezüglich des von der Baronesse angestrebten Bildungsfortschritts. Zwar meldet sich nunmehr neben Luise auch Karl zu Wort, doch zeigt er sich von der impliziten Botschaft der moralischen Geschichte ebenso unbeeindruckt wie von ihrem kunstvollen Aufbau. Er ignoriert den komplexen Entwicklungsprozeß, den der Protagonist Ferdinand durchläuft, und kritisiert in bewußter Abgrenzung vom Geistlichen jede Form des Verzichts. Indem Karl das Recht auf sinnliche Bedürfnisbefriedigung einklagt, verwahrt er sich gegen jeden Tugendrigorismus, der i m Sinne Kants die Neigung durch eine von der Vernunft diktierte Pflicht aufhebt. »Alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller Früchte und w i r sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begnügen und auf die schönsten Genüsse Verzicht tun« (FA 9, 1076). Das ästhetische Erziehungsprogramm der Baronesse und des Geistlichen führt bei Karl zu keinem Bildungserfolg. Er läßt die Geschichte nicht als Kunstwerk auf sich wirken, sondern konzentriert sich auf einen Aspekt, den er vom Handlungskontext isoliert und sodann in gedanklicher Verkürzung auf die eigene Lebenssituation bezieht. M i t der moralischen Selbstüberwindung Ferdinands ist die zweite Novelle eigentlich abgerundet. Gleichwohl verlangt Luise, auch noch vom weiteren Schicksal Ferdinands zu erfahren, wobei sie w o h l in erster Linie an sein Eheleben denkt. Der Geistliche entspricht Luises zwischen Prüderie und Voyeurismus oszillierenden Wünschen und erzählt einen überflüssigen, mehrfach ins Sentimentale abgleitenden Schluß, der die formale Stimmigkeit der Geschichte aus den Fugen geraten läßt und das zunächst ernsthafte fabula docet ins Lächerliche zieht: Nachdem Ferdinand, der Protagonist der Novelle, seine ehemaligen Neigungen überwunden und seine moralischen Grundsätze befestigt hat, erstarren ihm Verzicht und Entsagung zu absoluten Werten. Rigoros übt er sich i m Verzicht, unabhängig davon, ob die jeweilige Entsagungsbereitschaft auch sinnvoll und geboten ist. »Selbst als Mann und Hausvater«, so der Geistliche, »pflegte er sich manchmal etwas das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, u m nur nicht aus der Übung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können« (FA 9, 1079). Die
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von Ferdinand verordneten Entsagungsakte erfolgen völlig unmotiviert, so daß die Tugendanstrengungen seiner Kinder zu sinnlosen Pflichtübungen degenerieren. Der Geistliche, der von Luise genötigt wird, die eigentlich schon abgeschlossene Novelle weiterzuerzählen, scheint angesichts des ausbleibenden Bildungserfolges seiner Zuhörer zu resignieren. N u r so läßt sich erklären, daß er die ursprünglich anspruchsvoll erzählte Ferdinand-Geschichte gezielt ins Lächerliche verzeichnet und das Schlußtableau ins Licht ironischer Subversion taucht. Seine Zuhörer freilich sind derart bildungsresistent, daß sie nicht einmal auf die kuriose und persiflagenhafte Wendung reagieren, die Ferdinand zu einem philiströsen Tugendhelden und zu einem Seneca i m bürgerlichen Kleinformat stilisiert. Der untergründige Spott des Geistlichen fällt ihnen ebenso wenig auf wie späteren Literaturwissenschaftlern, welche die Ferdinand-Novelle trotz aller Ironiesignale als eine ernstzunehmende, da Kants Pflichtenethik mustergültig illustrierende Exempelgeschichte gelesen haben. O b auch die Baronesse das Ironisch-Karikatureske des Novellenschlusses überhört, geht aus ihren sich unmittelbar anschließenden Äußerungen nicht eindeutig hervor. Sie bezieht Ferdinands Vermögen, sich jederzeit etwas versagen zu können, auf die Verfassung eines Staates und konstatiert in einer überraschenden Wendung, daß auch dort alles auf die »exekutive Gewalt« ankomme (FA 9, 1080). Abgesehen davon, daß sich die Baronesse mit ihrer staatsphilosophischen Äußerung in die Nähe einer politischen Stellungnahme begibt, ist ihre Aussage überaus problematisch. Zwar weist sie zu Recht auf die Gefahren hin, die von einer schwachen Exekutive ausgehen. Doch wenn es in einem Staat, analog zu Ferdinands dezisionistischen Entsagungsübungen, nur darauf ankommt, daß die Exekutive von Zeit zu Zeit ihre Macht demonstriert, ohne daß die von ihr durchgesetzten Erlasse auf einem vernünftigen Gesetz beruhen und eine berechtigte Absicht verfolgen, dann ist das von der Aufklärungsphilosophie formulierte Ideal einer staatlichen Gewaltenteilung zur Disposition gestellt. Spätestens nach der Ferdinand-Geschichte muß der Geistliche die Vergeblichkeit seiner Bildungsanstrengungen einsehen. Nichts hat sich zum Besseren gewendet, i m Gegenteil: Für einen Augenblick scheint selbst die Baronesse auf Abwege zu geraten, indem sie den parodistischen Schluß der Ferdinand-Novelle ernst nimmt und mit einem gewagten Vergleich zwischen Ferdinands entkerntem Tugendbegriff und der Bedeutung staatlicher Exekutivgewalt ihre politische Ahnungslosigkeit unter Beweis stellt. 2 4 24 A u f den karikaturesken Duktus des Novellenendes verweist bereits Bernd Bräutigam. Er betont jedoch lediglich, daß die Ferdinand-Geschichte in ihrem ersten Teil »weitgehend den Qualitätsansprüchen der um Bildung besorgten Baronesse« entspreche, i m zweiten Teil hingegen die »stofflichen Interessen der Bildungsbedürftigen« befriedige. Daß Ferdinand zu einem Familienvater mit philiströsen Zügen mutiert und sich von einem
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Daß sich Schillers Konzept einer ästhetischen Erziehung i m Horizont der fiktionalen Versuchsanordnung nicht erfolgreich realisieren läßt, verdeutlicht abschließend der von Karl geäußerte Wunsch, der Geistliche möge den versammelten Familienmitgliedern ein Märchen erzählen. »Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen«, begründet Karl seinen Wunsch, »nur mag ich nicht gern, wenn sie das was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die luftigen Gestalten, die sie erschafft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr w i l l kommen, verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft i m Widerspruche zu stehen« (FA 9, 1081). Getreu seinem vordergründigen Wahrheitsbegriff w i l l Karl eine Verschränkung von Imagination und Realität unterbinden. Für ihn kommt es einem illegitimen Grenzübertritt gleich, wenn Literatur auf außerfiktionale Lebenswelten zu referieren beansprucht. Karl betrachtet Märchen nicht als poetische Gebilde, die sich ungeachtet ihrer phantastischen Handlungselemente auf lebensweltliche Fragen beziehen, sondern lediglich als Dichtungen, die in sich selbst kreisen, den Rezipienten mit schönen, gleichwohl zusammenhanglosen Bildern zerstreuen und auf diesem Wege eine diffuse emotionale Wirkung hervorrufen. Indem Karl von der künstlerischen Einbildungskraft eine radikale Realitätsferne verlangt, antizipiert er auf eigentümliche Weise ästhetizistische Positionen des späten 19. Jahrhunderts. Die Einbildungskraft muß sich, so erklärt er, »an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß w i r vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt« (FA 9, 1081). Karl spricht der künstlerischen Einbildungskraft jedes weltverändernde Potential ab und negiert zudem jeden literarischen Bildungsanspruch. Seine Äußerungen führen das Scheitern des von der Baronesse initiierten sowie vom Geistlichen vorangetriebenen Bildungsprozesses noch einmal deutlich vor Augen. Die von Karl geforderte Trennung zwischen imaginärer Märchenwelt und realer Alltagssphäre konterkariert indes nicht nur das Erziehungskonzept der Baronesse, sondern unterhöhlt auch Schillers M o zweifelhaften Entsagungsspleen bestimmen läßt, daß ferner die Baronesse nach dem Ende der Geschichte das von ihr selbst erlassene Politikverbot zu vergessen scheint, findet keine Beachtung. Bernd Bräutigam, »Die ästhetische Erziehung der deutschen Ausgewanderten« (Anm. 8), 534 f. Hartmut Reinhardt exponiert in seiner Studie zwar das BürgerlichSentimentale des Novellenschlusses, verteidigt es jedoch gegen den Vorwurf, hier werde der Protagonist der Geschichte in ein ironisches Licht gerückt: »Es hat seine innere Stimmigkeit, wenn Ferdinand auch in der Sphäre sein Glück macht, in der ihm die Kraft zur Uberwindung seiner >Neigung< zugewachsen ist: zu ihr gehört die Wiederherstellung durch >Tätigkeit< und die Ausrichtung auf >das neue Etablissements den mit Maschinen ausgerüsteten Industriebetrieb in herrlicher Landschaft. Dazu gehört auch die Heirat der >richtigen< Frau und das durch Kinder vermehrte Familienglück«. Hartmut Reinhardt, »Ästhetische Geselligkeit« (Anm. 11), 336. 14 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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d e l l einer ästhetischen V e r m i t t l u n g v o n geistig-theoretischer u n d s i n n l i c h - p r a k tischer E x i s t e n z . 2 5 V. D i e letzte Sequenz d e r R a h m e n p a r t i e v e r d e u t l i c h t , daß das ästhetische B i l d u n g s u n t e r n e h m e n der Baronesse gescheitert ist, die H o f f n u n g auf eine Vere d e l u n g der C h a r a k t e r e d u r c h Poesie m i t h i n u n b e g r ü n d e t war. D i e v o m G e i s t l i c h e n v o r g e t r a g e n e n G e s c h i c h t e n h a b e n t r o t z i h r e r sukzessiven Q u a l i t ä t s s t e i g e r u n g v o m ersten z u m z w e i t e n Tag k e i n e n analogen Sensibilisierungsprozeß u n t e r d e n Z u h ö r e r n auslösen k ö n n e n , v i e l m e h r ist d e r e n V e r s t ä n d n i s l o s i g k e i t u n d I g n o r a n z i m V e r l a u f der R a h m e n h a n d l u n g i m m e r d e u t l i c h e r v o r A u g e n getreten. G o e t h e läßt das E x p e r i m e n t einer ästhetischen E r z i e h u n g i n d e n haltungen
deutscher
Ausgewanderten
Unter-
scheitern, da er sich anders als Schiller
k e i n e n I l l u s i o n e n ü b e r die B i l d u n g s b e r e i t s c h a f t seiner Z e i t g e n o s s e n h i n g i b t . I n d e m er f r e i l i c h die Erfolgsaussichten einer ästhetischen E r z i e h u n g i n Z w e i f e l z i e h t , negiert er auch die v o n Schiller a r t i k u l i e r t e H o f f n u n g , das P r o b l e m der zeitgenössischen P o l i t i k m i t H i l f e der K u n s t l ö s e n z u k ö n n e n . 2 6
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Inwieweit der Geistliche dem Anliegen Karls entspricht und sein Märchen nach A r t eines amimetisch-abstrakten Musikstücks vorträgt, ist unter den zahlreichen Rezipienten der Unterhaltungen umstritten geblieben. A u f der einen Seite versuchte man das Märchen wiederholt als streng allegorische Dichtung zu deuten, auf der anderen Seite attestierte man ihm jene Referenzlosigkeit, die bereits i m Rahmengespräch der Novellensammlung von Karl postuliert wird. H u g o von Hofmannsthal etwa hat das Märchen als freie Phantasiekomposition betrachtet, die »eine undeutbare innere Musik aus schönen Bildern« entstehen lasse [Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze I (1891-1913), hg. Bernd Schoeller u. Rudolf Hirsch (Frankfurt am Main 1979), 443]. Goethes eigene Äußerungen zum Märchen sind widersprüchlich und gehen über vage Andeutungen nicht hinaus. Gegenüber Wilhelm von H u m b o l d t erklärt Goethe am 27. Mai 1796, sein Märchen sei »zugleich bedeutend und deutungslos« (FA 9, 1531). Aus der nahezu unüberschaubaren Fülle unterschiedlicher Studien zu Goethes Märchen seien hier einige repräsentative Arbeiten herausgegriffen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer gegensätzlichen Thesen die vielstimmige Auseinandersetzung u m Goethes Dichtung exemplarisch vor Augen führen. Gonthier-Louis Fink, »Das Märchen. Goethes Auseinandersetzung mit seiner Zeit«, Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft , 33 (1971), 96-122. Peter Pfaff, »Das Hören-Märchen. Eine Replik Goethes auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung «, in: Herbert Anton, Bernhard Gajek u. Peter Pfaff (Hg.), Geist und Zeichen. Festschrift für A r t h u r Henkel (Heidelberg 1977), 320-332. Paul-Wolfgang Wührl, Das deutsche Kunstmärchen. Geschichte , Botschaft und Erzählstrukturen (Heidelberg 1984), 6 2 - 6 9 . Hartmut Reinhardt, »Lizenz zum Spielen. Goethes Märchen in seiner dialogischen Verbindung mit Schillers ästhetischen Schriften«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft , 42 (2003), 99-122. 26 Ulrich Gaier deutet in einem 1987 vorgelegten Aufsatz die Unterhaltungen ebenfalls als Auseinandersetzung Goethes mit Schillers Ästhetik. Er ignoriert allerdings i m Rahmen seiner Abhandlung, daß die Novellensammlung als fiktionale Versuchsanordnung kon-
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Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vergegenwärtigen Goethes Skepsis gegenüber Schillers kulturpädagogischem Reformprogramm nicht bloß auf der Handlungsebene, sondern auch mit Hilfe eines poetologisch chiffrierten Motivs, das wiederholt in den Vordergrund der Rahmenhandlung rückt. Nachdem am ersten Abend der Geistliche seine Spukgeschichte vorgetragen hat, geraten die Mitglieder des adeligen Zirkels in Unruhe: Die Holzplatte eines alten und seit vielen Jahren i m Familienbesitz befindlichen Schreibtischs reißt plötzlich in der Mitte entzwei. Sogleich entbrennt eine Diskussion u m die möglichen Ursachen dieses Vorfalls. Karl sucht gemäß seiner positivistischen Weltanschauung zunächst nach einem Barometer, dann nach einem Hygrometer, um das Reißen des Schreibtischs auf empirische Ursachen zurückführen zu können. A n dere Familienmitglieder, allen voran Friedrich, sehen i m Gegensatz zu Karl geheime und übersinnliche Kräfte am Werk. Ihre Vermutung scheint sich zu bestätigen, als man vom Belvedere des Anwesens aus den Brand eines in der Ferne gelegenen Lusthauses beobachtet, das einen Schreibtisch aus dem gleichen H o l z und aus derselben Werkstatt beherbergt. Daß es sich bei dem durch einen Brand des Lusthauses vernichteten Schreibtisch ebenso wie bei dem zersplitterten Gegenstück auf dem Anwesen der Baronesse u m poetologische Motive handelt, steht w o h l außer Frage. N i c h t allein der Umstand, daß der Schreibtisch der traditionell bevorzugte Arbeitsort des Dichters ist, spricht für seine poetologische Codierung; auch die Bezeichnung der beiden Schreibtische als »Werke« eines »Künstlers« legt eine solche Lesart nahe. Worauf aber verweisen die beiden Schreibtische in ihrer Funktion als dichtungstheoretische Chiffren? 2 7
zipiert ist und Schillers kulturpädagogisches Reformprogramm auf seine konkreten Realisierungschancen beim zeitgenössischen Publikum hin befragt. Gaier verkennt den experimentellen Charakter der Unterhaltungen, indem er sie von vornherein als satirische A n t i these zu Schillers Briefen deutet, die kurzerhand als Dokumente eines wirklichkeitsfernen und apolitischen Ästhetizismus diskreditiert werden. Der ästhetischen Erziehung, so Gaier, werde in der Novellensammlung das Konzept einer sozialen Bildung entgegengesetzt. Ulrich Gaier, »Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der Unterhaltungen als satirische Antithese zu Schillers Ästhetischen Briefen I - I X « , in: Helmut Bachmaier u. Thomas Rentsch (Hg.), Poetische Autonomie f Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins (Stuttgart 1987), 207-272. 27 Daß dem wiederholt exponierten Schreibtischmotiv ein poetologischer Aussagewert innewohnt, ist von der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Goethes Unterhaltungen fast vollständig ignoriert worden. Lediglich zwei Arbeiten verweisen auf die dichtungstheoretische Semantik des Schreibtischmotivs, allerdings ohne deren funktionalen Gehalt adäquat zu erfassen. Gerhard Kurz erklärt in seiner Studie lediglich, die Schreibtische als »Kunstwerke aus der vorrevolutionären Zeit« seien nicht in der Lage, den politischen Ereignissen gegenüber standzuhalten und müßten darum der Zerstörung anheimfallen. Gerhard Kurz, »Das Ganze und das Teil« (Anm. 19), 109. Bernd Witte interpretiert die beiden aus Roentgens berühmter Werkstatt stammenden Schreibtische als Zeichen einer vor allem literarhistorisch dimensionierten Poetologie: Der vom Hoftischler des französischen
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Was den Brand des am Horizont zu erspähenden Lusthauses ausgelöst hat, bleibt unklar. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß die Ursache für das Feuer in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Koalitionsheer und den französischen Revolutionstruppen zu suchen ist, schließlich verläuft die Frontlinie zwischen den feindlichen Armeen in Sichtweite. Geht man davon aus, daß der Brand von den militärischen Gefechten herrührt, die als Konsequenz eines politischen Konflikts interpretiert werden müssen, so erklärt sich auch, warum gerade der Schreibtisch noch vor allem anderen Mobiliar verbrennt. Kunst kann sich in einer Sphäre, die von Politik und kriegerischen Konflikten dominiert wird, nicht bewähren. Anders formuliert: Wo die Politik zum alles entscheidenden Schicksal avanciert, muß die Literatur, die Goethe auf strikte Neutralität verpflichtet, notgedrungen weichen. Der erste Schreibtisch fällt der Zerstörung i m Feuer anheim, da Poesie und Politik sich wechselseitig ausschließen. Der zweite, i m Gesellschaftszimmer der Baronesse stehende Schreibtisch zerreißt hingegen, weil Literatur jenem Bildungsauftrag nicht gewachsen ist, der ihr von Schiller in den Ästhetischen Briefen sowie i m HorenProgramm zugewiesen w i r d und auf dem Anwesen der Baronesse eine erste praktische Anwendung findet. Poesie kann sich weder in einer von der Politik beherrschten Sphäre noch i m Rahmen eines kulturpädagogischen Reformprogramms bewähren. I n dem einen Fall muß sie kapitulieren, da sie aufgrund erzwungener Parteilichkeit ihre poetische Substanz verliert, in dem anderen Fall muß sie resignieren, da sie gegen die Bildungsresistenz ihrer Rezipienten nichts auszurichten vermag. I m ersten Fall sind Goethe und Schiller einer Meinung, i m zweiten differieren ihre Standpunkte. 28 Königs Ludwig X V I . angefertigte Schreibtisch chiffriere »die höchst sublime Kunst seiner Epoche«, die sich noch durch eine Erzählkunst auszeichne, für welche »die Allegorie als eines der vorzüglichsten Mittel« gelte. Die Allegorie vermöge »das Wunderbare ohne Verlust des Wahren hervorzubringen«. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht nach Witte das Zerspringen des Schreibtischs, daß der allegorische Charakter der Antonelli-Geschichte von den Mitgliedern des adeligen Kreises verkannt werde, da man nicht das »Wahre« hinter dem »Wunderbaren« suche, sondern lediglich nach empirischen Ursachen für die mysteriösen Geistererscheinungen frage. »Die Beschädigung des Schreibtisches ist Zeichen dafür, daß das Wunderbare für das rationalistische und vom Parteienstreit der Französischen Revolution gespaltene Publikum seinen Kunstcharakter und seine gesellschaftliche Kommunikationsfunktion verloren hat«. Witte übersieht, daß sich lediglich der Positivist Karl für eine empirische Deutung der Antonelli-Geschichte stark macht, während Friedrich gerade das Wunderbare und Geisterhafte des Handlungsgeschehens exponiert. Wenig überzeugend ist indes schon die Ausgangsthese, wonach die Antonelli-Geschichte ein allegorisch zu deutendes Geschehen schildere. Bernd Witte, »Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik (Stuttgart 1984), 461-484, hier 467 f. 28
Es ist noch einmal daran zu erinnern, daß Goethe seine Vorbehalte gegenüber Schiller nicht in Form einer gelehrten Abhandlung, sondern i m Rahmen einer kurzweiligen
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D a ß G o e t h e an d e r B i l d u n g s f ä h i g k e i t seiner Zeitgenossen entschieden z w e i felt, geht n i c h t n u r aus der R a h m e n h a n d l u n g d e r Unterhaltungen
hervor, son-
d e r n a u c h aus d e n b e i d e n E p i s t e l n , die z e i t g l e i c h m i t der N o v e l l e n s a m m l u n g entstehen u n d ebenso w i e diese i n d e n ersten A u s g a b e n der Hören werden.29
abgedruckt
Goethes Episteln folgen d e m V o r b i l d antiker Briefgedichte
und
r e k u r r i e r e n i n f o r m a l e r w i e g e d a n k l i c h e r H i n s i c h t auf das v o n H o r a z an die P i s o n e n gerichtete H e x a m e t e r g e d i c h t De arte poetica.
I n A n k n ü p f u n g an die
H o r a z i s c h e E p i s t e l , die n e b e n der A r i s t o t e l i s c h e n P o e t i k bis ins 18. J a h r h u n d e r t h i n e i n als k a n o n i s c h e D i c h t u n g s l e h r e g i l t , kreisen auch G o e t h e s B r i e f gedichte u m p o e t o l o g i s c h e Fragen. Diese w e r d e n f r e i l i c h n i c h t m e h r
nach
A r t einer n o r m a t i v e n D i c h t u n g s l e h r e abgehandelt, s o n d e r n i n i r o n i s c h e r u n d satirischer A b s i c h t auf das literarische L e b e n d e r eigenen G e g e n w a r t bezogen. I m M i t t e l p u n k t d e r E p i s t e l n steht die a u c h v o n d e n Unterhaltungen
aufge-
w o r f e n e Frage n a c h d e n E i n f l u ß m ö g l i c h k e i t e n der L i t e r a t u r i m Z e i t a l t e r der F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n . D i e A n t w o r t der b e i d e n B r i e f g e d i c h t e , i n d e n e n sich das l y r i s c h e I c h m e h r f a c h an d e n als » F r e u n d « a p o s t r o p h i e r t e n ausgeber der Hören
Her-
w e n d e t , f ä l l t e r w a r t u n g s g e m ä ß s k e p t i s c h aus ( F A 1, 480,
Vs. 2 8 - 3 5 ) : Reden schwanken so leicht herüber, hinüber wenn viele Sprechen und jeder nur sich i m eigenen Worte, sogar auch N u r sich selbst i m Worte vernimmt das der andere sagte. M i t den Büchern ist es nicht anders; es liest nur ein jeder Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er I n das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde. Ganz vergebens strebst du daher durch Schriften des Menschen Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden. Novellensammlung artikuliert. Er löst damit ein, was Schiller in seiner /forerc-Ankündigung den potentiellen Abonnenten versprochen hat: »So weit es tunlich ist, w i r d man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreien und i n einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen« ( N A 22, 107). Während der Herausgeber Schiller hinter dem selbst gesteckten Ziel zurückzubleiben droht, indem er etwa seine Reflexionen zur ästhetischen Erziehung in einer hochkomplexen Argumentationsführung entwickelt, versteht es Goethe, seine K r i t i k am ehrgeizigen Bildungsauftrag der Hören in eine literarische Form zu gießen und so auch dem »Gemeinsinn« verständlich zu bleiben. 29 Die erste der beiden Episteln folgt i m Eröffnungsband der Hören unmittelbar auf Schillers nochmals abgedrucktes Avertissement. Zugleich leitet sie zu den ersten neun Ästhetischen Briefen über, an die wiederum die Eingangspartie der Unterhaltungen anschließt. Bereits diese Reihung zeigt deutlich, daß sich Goethes Beiträge dialogisch auf Schillers Artikel beziehen und ein intertextuelles Beziehungsgefüge aufspannen. I n einer von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vorgelegten Reproduktion der Hören läßt sich dieses Wechselspiel zwischen Schillers und Goethes Beiträgen anschaulich nachvollziehen: Die Hören. Fotomechanischer Nachdruck des Exemplars der Cottaschen Handschriftensammlung (Darmstadt 1959).
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Thorsten Valk
Poesie, so die Bilanz der »Ersten Epistel«, ist nicht in der Lage, jene kulturpädagogische Aufgabe zu übernehmen, die Schiller ihr in seinen ästhetischen Schriften zuweist. »Soll ich sagen wie ich es denke?«, fragt das lyrische Ich, »so scheint mir es bildet I N u r das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte« (Vs. 38 f.). Das lyrische Ich erhebt die tätige Bewährung i m konkreten A l l tag zur Lehrmeisterin des menschlichen Charakters, während die Bildungsmöglichkeiten der Dichtkunst grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. N i c h t die ästhetische Erziehung kann auf die mentale Disposition des Menschen einwirken, sondern nur die konkrete Lebenswelt mit ihren täglich neuen Herausforderungen. 30 Goethes Episteln setzen der Schillerschen Kunstauffassung zwar ebenso wenig wie die Unterhaltungen ein Alternativmodell entgegen, spielen aber in gleichsam subversiver Absicht eine konträre Kunstauffassung durch. I m zweiten Teil der »Ersten Epistel« berichtet das lyrische Ich von der bereits weit zurückliegenden Begegnung mit einem venezianischen Rhapsoden, der seinerzeit »am wohlgepflasterten Ufer I Jener neptunischen Stadt« (Vs. 56 f.) seine aufmerksam lauschende Zuhörerschaft auf eine Insel namens »Utopien« entführt habe (Vs. 61). Dieses »Utopien« entpuppt sich in den lebhaften Schilderungen des Rhapsoden rasch als eine Sphäre, in der die von politischen und ökonomischen Erwägungen bestimmten Gesetze der gewöhnlichen Alltagsrealität außer Kraft gesetzt sind: Wer sich abmüht und arbeitet, verspielt sein Ansehen in Utopien, wer hingegen faulenzt und sich dem unbeschwerten Lebensgenuß überläßt, erlangt höchste Reputation: »Aber auf dem Markte zu sitzen, die Arme geschlungen I Uber dem schwellenden Bauche, zu hören lustige Lieder I Unsrer Sänger, zu sehn die Tänze der Mädchen, der Knaben I Spiele, das werde dir Pflicht, die du gelobest und schwörest« (Vs. 100-103). Das lyrische Ich der »Ersten Epistel« stellt dem i n der Horew-Ankündigung formulierten »Ideale veredelter Menschheit« ein von epikureischem Lebensgenuß beherrschtes und jeder ästhetischen Erziehung spottendes »Utopien« entgegen. Damit befreit es die Poesie von jener Last, die Schiller ihr mit seinem Reformprogramm aufgebürdet hat. Die Literatur verweigert sich jeder pädagogischen Indienstnahme und entzieht sich der Funktionalisierung als politisches Propädeutikum.
30 Die »Episteln« wurden von der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum beachtet, obwohl sie für den Dialog zwischen Goethe und Schiller i m Umfeld des HorenProjektes von zentraler Bedeutung sind. Einige allgemeine Hinweise finden sich bei Reiner Wild, Goethes klassische Lyrik (Stuttgart 1999), 111-115. Vgl. auch die erhellenden Ausführungen von Mathias Mayer, »Ökonomie und Verschwendung in der klassischen Lyrik Goethes: Episteln und Amyntas«, Goethe-Jahrbuch, 122 (2005), 6 2 - 7 5 .
Der Gedanke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. N a t u r und Theater: Goethes Wilhelm Meister Von Bernhard Greiner
Das Wort >Bildung< und deren Komponenten >Aufklärung< und >KulturBildungFall von Regeln< ist, andererseits ist in ihm zugleich festgehalten, daß jeder Mensch in seinem ideellen Sein unableitbar, d. h. ein Besonderer, in sich selbst Gründender ist, der nie zum Fall einer Regel gemacht werden kann. Vom Fortschritt an Bildung w i r d ein Sich-Durchdringen dieser beiden Felder der Selbsterfahrung und des Selbstentwurfs des Menschen erwartet, wobei die Bedingung der Möglichkeit solcher Durchdringung allerdings ungeklärt bleibt. A n die Stelle einer Begründung tritt - bei Goethe explizit - die Geschichte des Bildungsgedankens selbst. Goethe betont, daß der Begriff aus der Biologie stamme und gebraucht ihn selbst auf diesem Feld, auf Blumenbachs Schrift über den >Bildungstrieb< verweisend, wobei eben Blumenbach den Begriff anthropomorphisiert, das aber heißt, auf das Feld des Ideellen übertragen habe. Dort war der Begriff i m Umkreis der Theologie schon entwickelt, aber rein spirituell gefaßt: >Einbilden< Gottes in die menschliche Seele als göttliche Gabe (Eckhart, 1958, 12), d. h. ausschließlich das Werk Gottes und nicht des Menschen. Luther hat dann dem Menschen einen aktiveren Anteil zuerkannt, d. i. das von Gott i m Evangelium Vorgebildete in sein Herz zu »bilden«: »das w i r sein wort vleissig jinn unserm hertzen bewiegeten und so einbildeten, das schier natur draus würde« (Luther 1910, 230 u. 246). Paracelsus erkennt diese Bildungskraft Gottes dann in der Natur am Werk und den Menschen aus den Kräften der Natur gemacht, nach Gottes Bildung, woraus die Aufgabe entwickelt wird, die schöpfungsgegebenen, entelechetisch gerichteten, natürlichen Anlagen auszubilden. 1 Goethe entwirft dem wie bei Mendelssohn als Vermittlungsbegriff gefaßten Bildungsgedanken ein eigenes Verwirklichungsfeld. Erst mit dieser Perspektivierung zur Praxis gewann der Bildungsgedanke seine Attraktivität. I n der bürgerlichen Welt, so deklariert der Held von Goethes Bildungsroman, könne das >Bildungsziel< nur auf dem Theater erreicht werden, wobei der Roman dann das Theater zuletzt als bloße Durchgangsstufe zur Verwirklichung des Bildungsziels einschränkt. M i t der Rückbindung des Bildungsgedankens an die Naturforschung und die philosophisch-theologische Bestimmung des Menschen erhält das in ihm Vorgestellte aber eine besondere Performanz. Der Gedanke verspricht ein Zusammenführen von Naturgesetzlichkeit und Freiheit, von menschlicher Heteronomie und Autonomie und ist selbst das Ergebnis solch einer Verbindung. M i t h i n ist, was er eröffnet, in ihm selbst schon immer geleistet; ist i m Bildungsgedanken schon immer vollzogen, wovon er spricht. Das gibt ihm den Status
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Hierzu: Dohmen, 1964; Lichtenstein, 1966.
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einer Selbstbegründung, löst ihn aus seiner theologischen Rückbindung. Die in ihm wirksame Vorstellung von Selbsterzeugung und Freiheit, neben der zugleich die umfassende physische und soziale Determination des menschlichen Seins anerkannt wird, erscheint nicht nur behauptet, sondern performativ bewahrheitet. Die so beglaubigte Selbstbegründung hat dem Bildungsgedanken w o h l zu seiner durchschlagenden Wirkung verholfen. Das soll nachfolgend in den einzelnen Schritten und Komponenten betrachtet werden. >Bildung< als Feld der Verknüpfung von Naturgesetzlichkeit und Freiheit entwirft erstmals systematisch nicht Goethe, sondern Moses Mendelssohn. I n seinem Beitrag vom September 1784 zur Diskussion »Uber die Frage: was heißt aufklären?«, die die Berlinische Monatsschrift angeregt hatte, führt er Bildung als Feld solcher Verknüpfung ein. »Bildung«, so beginnt er seinen Beitrag, »zerfällt in Kultur und Aufklärung« (Mendelssohn, 1974, 4), mithin setzt sie sich aus diesen zusammen, hat sie diese schon immer in einer bestimmten Weise zusammengebracht. >Kultur< macht für Mendelssohn dabei die menschliche Praxis, die herstellende Tätigkeit des Menschen aus, >Aufklärung< bezieht sich auf den theoretischen Bezug zur Welt, auf vernünftige Erkenntnis und Fertigkeit. Deren Feld ist die Wissenschaft, das der Kultur ist der gesellschaftliche U m gang, wozu auch Poesie und Beredsamkeit gerechnet werden. A m Begriff der Bildung ist damit ein Zugleich entgegengesetzter Orientierungen akzentuiert. Mendelssohn dynamisiert diese Konstellation sodann, indem er als Maßstab für beide Felder die »Bestimmung des Menschen« einführt (Mendelssohn, 1974, 4). Bezogen auf >Aufklärung< kann dies nur bedeuten, sie von einem radikal gedachten Begriff der Freiheit her zu denken, >Kultur< w i r d in diesem Horizont als kontinuierlich in der Geschichte voranzubringender Prozeß der Kulturisierung - auf eine erst zu verwirklichende Idealkultur hin gespannt, in der das Zielbild der Aufklärung, die Selbstbestimmung des Menschen in einer auf Vernunft gegründeten Gemeinschaft, in die Wirklichkeit gebracht wäre. Daß mit dieser Dynamisierung des Bildungsgedankens, die die Kluft zwischen ideelltheoretischer und empirisch-praktischer Orientierung überbrücken soll, der Widerspruch gerade vertieft wird, jetzt als Kluft zwischen universal emanzipatorischer und individueller, das Besondere als Besonderes stark machender Orientierung, zeigt Mendelssohn darin, daß er mit Blick auf den aufgestellten Maßstab sogleich weiter unterscheidet zwischen der Bestimmung des Menschen als Menschen und der als Bürger, sodann innerhalb beider nochmals zwischen wesentlicher und zufälliger Bestimmung. Mendelssohn w i l l das Zusammengehen von empirisch-praktischer und ideell-theoretischer Existenz im Voranbringen der Bildung beschreiben, unter der Hand gerät ihm das aber zu einer immer weiter sich verzweigenden Aufzählung von Möglichkeiten des Konflikts beider, also: zwischen wesentlicher Bestimmung des Menschen und wesentlicher Bestimmung des Bürgers, zwischen wesentlicher Bestimmung des Men-
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sehen und außerwesentlicher Bestimmung des Bürgers sowie zwischen wesentlicher Bestimmung des Bürgers und außerwesentlicher Bestimmung des Menschen. Daß sich Mendelssohn das Thema von der proklamierten >Harmonie< von Kultur und Aufklärung zu dem der Vielfalt ihrer möglichen Konflikte verschiebt, zeigt - bei allem Bildungsoptimismus - ein Krisenbewußtsein im H i n blick auf beide an, weshalb es nicht mehr überrascht, daß Mendelssohn in der genannten Schrift zuletzt von Erscheinungsformen des Verfalls beider spricht. In dieser Verschiebung der Argumentation mag sich ein Zweifel am Gelingen der jüdischen Emanzipation artikulieren, wenn Mendelssohn etwa den >unglückseligen< Fall erörtert, daß sich die Aufklärung, d. h. deren universal emanzipatorische Ideen, »nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne, ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zugrunde zu gehen«. (Mendelssohn, 1974, 6) Prinzipiell zeigt diese Verschiebung der Argumentation jedoch an, daß i m Begriff der >Bildung< die Bedingung der Möglichkeit eines Zusammengehens der Gesetze der empirischen Existenz und der Ideen als der Grundlage der sittlichen Existenz unentfaltet bleibt. A n eben dieser uneingelösten Begründung für die von der Bildung erwartete Verknüpfungsleistung setzt Goethe in doppelter Weise an, zum einen mit der Aneignung des Bildungsgedankens aus der zeitgenössischen Biologie, zum andern durch sein Ausarbeiten des Theaters als Verwirklichungsfeld der nun als ein komplexes Feld der Verknüpfung gedachten Bildung. Die neue Orientierung seines Denkens, die er durch den Italienaufenthalt gewonnen hatte, hat Goethe schon bald nach seiner Rückkehr nach Weimar auf verschiedenen Feldern ausgearbeitet, auf dem der Ästhetik in einer Schrift zum Theater 2 und einer anderen zur Bildenden Kunst 3 , kulturgeschichtlich in seiner Schrift zum »Römischen Carneval< 4 und biologisch in seiner Schrift zur »Metamorphose der PflanzenBildungslehre< der Pflanzen als wesentlicher Teil seines nachitalienischen Schaffens beachtet werde. I m Zentrum steht hier die Frage, die schon während der Italienischen Reise mehrfach formuliert wurde und in der Metamorphose-Schrift dann systematisch ausgearbeitet wird, wie die Ausbildung und Umbildung der verschiedenen Pflanzenarten und mehr noch, wie die Bildung der verschiedenen Erscheinungsformen derselben (einjährigen) Pflanze (Blätter, Kelch, Krone, Staubfäden) gesetzhaft erklärt werden könne. Goethe verbindet in seiner A n t w o r t die Vorstellung der Metamorphose mit der der Epigenesis. Letztere besagt, daß sich ein Organ aus einer Substanz entwickle, die noch nicht die Gestalt dieses Organs hat, daß dessen Entwicklung vielmehr durch das Hinzutreten eines zweiten Elements geschehe. Die Epigenesislehre war durch den Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (17521840) entschieden vorangebracht worden, gegen die Präformations- und Evolutionslehre, nach der die Entwicklung von Lebewesen ein Auswickeln und Vergrößern von i m Kern jeweils schon fertigen winzigen Wesen sei und auch alle verschiedenen Lebewesen keimhaft schon in der ersten Schöpfung geschaffen worden seien und sich dann von Generation zu Generation auseinander entwickelt hätten. Die Kraft, die die Epigenesis vorantreibt, hatte Blumenbach in seiner hiernach benannten Schrift »Bildungstrieb« genannt. Goethe hatte diese Schrift gelesen, allerdings, wie er später betont, mit einer gewissen Distanz. 6 Diese ist gut nachvollziehbar, da die Epigenesislehre mit der Akzentuierung, die Goethe dem Metamorphosegedanken gibt - nicht nur nach dem Wandel von Gestalten, sondern auch nach einem Bleibenden i m Wandel zu fragen - , nicht fraglos kompatibel erscheint. Blumenbach sieht sich durch seine Untersuchungen in der Überzeugung bestätigt: Daß keine präformierten Keime präexistieren: sondern daß in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisierten Körper, nachdem er zur Reife und an den O r t seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang tätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, w o möglich wieder herzustellen. Ein Trieb, der folglich zu den Lebenskräften gehört, der aber ebenso deutlich von den übrigen Arten der Lebenskraft der organisierten Körper [ . . . ] als von den allgemeinen physischen Kräften der Körper überhaupt, verschieden ist; der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduktion zu sein scheint, und den man u m ihn von andern Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kann. (Blumenbach, 1791, 31 f.) 6 Vgl. Goethe i m Rückblick 1817: die Würdigung von Blumenbachs Leistung für die Durchsetzung der Epigenesislehre in der »Kritik der Urteilskraft« (1790) habe ihn, Goethe, angeregt, »das Blumenbachische Werk wieder vorzunehmen, das ich zwar früher gelesen, aber nicht durchdrungen hatte.« (FA 1,24, 451)
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Blumenbach betont weiter, daß der Begriff >Bildungstrieb< eine Kraft bezeichne, deren Wirkung empirisch bestimmt (und bestimmbar) sei, während ihre Ursache eine qualitas occulta (Blumenbach, 1791, 33) sei, was anzeigt, daß der Naturforscher hier sein Feld verlassen und auf das der Ideen hinüberwechseln müsse. Die Einführung des Begriffs >Bildungstrieb< in die Epigenesislehre rechnet Goethe i m Rückblick Blumenbach als besondere Leistung an: N u n gewann Blumenbach das Höchste und Letzte des Ausdrucks, er anthropomorphisierte das Wort des Rätsels und nannte das, wovon die Rede war, einen nisus formativus, einen Trieb, eine heftige Tätigkeit, wodurch die Bildung bewirkt werden sollte. (FA 1,24, 451)
Indem er von >Anthropomorphisierung< spricht, erkennt Goethe Blumenbach zu, daß er einen Vorgang, für den Naturgesetzlichkeit gelte, auf das Feld des Menschen und damit der Freiheit übertragen habe. So überrascht es auch nicht, daß Goethe anschließend von »Einheit und Freiheit des Bildungstriebes« spricht (vgl. FA 1,24, 452), wobei die >Einheit< nur durch die hier waltende Naturgesetzlichkeit garantiert sein kann. Der so als Dopplung von Naturkausalität und Freiheit gefaßte Bildungstrieb, so betont Goethe in seiner Bemerkung zum >BildungstriebMetamorphose< nicht zu fassen. Das ist strukturell völlig einleuchtend, da Goethe i m Begriff der >Metamorphose< eine analoge Doppelorientierung akzentuiert, den ständigen Wechsel der Gestalt und ein Bleibendes in allem Wandel. Der Begriff der >Metamorphose< war in der Naturbetrachtung des 18. Jahrhunderts geläufig (um etwa den Gestaltenwandel von der Raupe zum Schmetterling oder vom Ei zum Vogel zu umschreiben), er erhält bei Goethe aber eine eigene Note. Von den botanischen Ideen, die Goethe in Italien verfolgt hat, w i r d gerne die der >UrpflanzeBerichtenUrpflanze< erkannt werde: Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. [ . . . ] Die Urpflanze w i r d das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. M i t diesem Modell und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen in's Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten [ . . . ] . Dasselbe Gesetz w i r d sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen. (FA 1,15.1, 401 f.)
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Aber schon in den >Berichten< der Italienischen Reise verfolgt Goethe die Idee einer >Urpflanze< nicht weiter. Er fragt in Fortsetzung der zitierten Stelle nicht nach einem Grundmuster des gesamten Pflanzenreichs, vielmehr bei der einzelnen Pflanze nach ihren Verwandlungen resp. der Ausbildung neuer Formen und ob sich in diesem Wandel von Formen etwas Bleibendes ausmachen lasse. Als solch ein in allen Umgestaltungen sich erhaltendes Organ erscheint ihm das Blatt: So viel aber sei hier, ferneres Verständnis vorzubereiten, kürzlich ausgesprochen: Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches w i r als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf. Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich süßen Zustand versetzt. (FA 1,15.1, 402)
Der Begriff eines in allem Gestaltenwandel sich durchhaltenden Bleibenden ist >peinlichsüßMetamorphose< nicht nur auf Gestaltenwandel zielt, sondern auch auf ein Bleibendes, das sich in allem Wandel durchhält und an dem die U m - und Fortbildung geschieht, zeigt er an, daß er den Begriff nicht nur aus der zeitgenössischen Naturforschung übernimmt, sondern zugleich - in der Weise einer Übertragung - aus der Literatur, d. i. aus Ovids Metamorphosen. Denn eben diese Doppelorientierung macht die Grundstruktur von Ovids Schrift aus. Eine Welt der Verwandlung von allem w i r d aus-
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gebreitet: »So behält nichts auf Dauer seine Gestalt« (»nec species sua cuique manet«), lehrt Pythagoras im 15. Buch (Ovid, 2004, 759 u. 758, Vs. 252), aber diese Welt w i r d doch bezogen auf ein Bleibendes, etwa auf die >SeeleFassung< einschreibt. N o c h in Rom, das er im Begriff ist, zu verlassen, u m die Rückreise nach Deutschland anzutreten, zitiert er die Verse Ovids, sie ins Deutsche übersetzend, in denen der römische Dichter am O r t seiner Verbannung im fernen Tomi der Nacht gedenkt, da er von Rom Abschied nehmen mußte. Goethe verbindet den Bildungsgedanken mit dem Metamorphosegedanken - »So viel aber getraue ich mir zu behaupten, daß wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei« (FA 1,24, 452) - , wobei beide auf der Grundlage einer vorgenommenen Übertragung bipolar gedacht sind. Goethe überträgt den Ovidschen Begriff der >MetamorphoseBildungBildungstriebesMetamorphose< ( M ü 111,2, 319), das Bewirkende, das die Vielfalt der Gestalten auf das Am-Werk-Sein einer einheitlichen Kraft zurückführt, nennt er >BildungstriebMetamorphose< w i r d das Spannungsverhältnis von Gestaltenwandel und Dauer aus der göttlichen und menschlichen, das aber heißt aus der ideellen Sphäre auf den Bereich der Naturdetermination übertragen, w o das Postulat eines Bleibenden in der unablässigen U m - und Fortbildung der Formen nicht evident ist, vielmehr den Vorwurf idealistischer Spekulation einbringt. 7 I m Begriff des 7
A m Beginn der freundschaftlichen Beziehung zwischen Schiller und Goethe stand bekanntlich, daß Goethe i m Juli 1794 Schiller seine Gedanken zur »Metamorphose der
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>Bildungstriebs< w i r d die Vorstellung einer einheitlich wirksamen, empirisch nachweisbaren Kraft mit einer aus dem Bereich menschlichen Handelns genommenen Vorstellung der Offenheit für Wandel verbunden, so vom Bereich der Naturgesetzlichkeit auf den menschlicher Entwicklung übertragen als ein Spannungsverhältnis von Determination und Freiheit. So steht in beiden Begriffen eine analoge Relation zur Debatte, die allerdings durch Übertragung auf das jeweils entgegengesetzte Feld gewonnen worden ist. Wenn Goethe betont, daß der eine Begriff nicht ohne den anderen gedacht werden könne, zeigt dies das Dilemma beider Übertragungen an und den Versuch, den jeweils ungewissen Bereich, in den die Übertragung geschieht durch den zweiten Begriff, bei dem eben dieser Bereich der sichere Ausgangspunkt ist, zu bewahrheiten. So w i r d i m Begriff der >Metamorphose< die genuin ideelle Vorstellung eines sich in allem Wandel durchhaltenden Identischen, das O v i d auffällig genug >Seele< nennt (Ovid, 2004, 755, Vs. 171), die stets dieselbe bleibe, auf das hierzu fremde Feld der empirisch anschaubaren und gesetzhaft bestimmbaren Natur übertragen, auf dem dann der zur Metamorphose hinzuzudenkende >Bildungstrieb< als ein verifizierbares Naturgesetz die Übertragung doch als möglich bestätigt. Dasselbe ist umgekehrt für die Übertragung des Bildungstriebs auf den Bereich menschlichen Handelns anzusetzen. Diese A r t wechselseitiger Entsprechung und Bestätigung zweier reziproker Relationen erinnert sehr an die zentrale Argumentationsfigur in der philosophischen Schrift, die die Frage eines Brückenschlags zwischen der Welt der Erscheinungen (als Feld der Determination) und der Ideen (als Feld der Freiheit) ins Zentrum stellt, d. i. die Kritik der Urteilskraft. Kant arbeitet in dieser Schrift heraus, daß eine »ästhetische Idee< so viele Vorstellungen aufrufe, daß sie nie endgültig auf einen Begriff gebracht werden kann, was sie zum >Pendant< der Vernunftideen mache, die jede Anschauung transzendieren (vgl. Kant, 1974, 167 f., § 49), und daß so die eine Transzendierung die andere repräsentieren könne: >das Schöne als Symbol des Sittlichguten< (vgl. Kant, 1974,213, § 59). M i t dem Verweis auf diese Analogie soll nicht eine Abhängigkeit behauptet, sondern nur die gleichzeitige Entwicklung einer analogen Argumentationsfigur bewußt gemacht werden, wobei der Vergleich auch deutlich macht, daß Goethe - in den Begriffen Kants - eine Denkfigur aus dem Feld der ästhetischen Urteilskraft auf dem der teleologischen Urteilskraft anwendet, was in der Konsequenz der Argumentation Kants nicht möglich ist. Ausdruck dieses Problems ist, daß i m Bildungs- wie im Metamorphosegedanken, gerade nach der jeweiligen ÜbertraPflanzen< vortrug und Schiller die Konzeption eines in allem Wandel sich durchhaltenden Organs, an dem der Wandel geschieht, für eine Idee erklärte: »Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt der uns trennte, war dadurch auf strengste bezeichnet. [ . . . ] ich [ . . . ] versetzte: das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe« (FA 1,24 437).
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gung auf das andere Feld, die Frage offen bleibt, aber nachdrücklich auf Beantwortung dringt, wie die Doppelorientierung in beiden Konzeptionen möglich sei. Hier werden die anderen Schriften von 1789 und 1790, die den Ertrag der Italienischen Reise festhalten, wichtig. Denn sie entwerfen ein Verwirklichungsfeld für das Zugleich beider Orientierungen: das Theater. I n seinem Aufsatz »Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt« versucht Goethe zu erklären, warum ihm die Erfahrung der Römischen Komödie, in der nach den Bestimmungen des Kirchenstaates Frauenrollen von Männern gespielt werden mußten, trotz anfänglicher Bedenken sehr befriedigt hat. Er betont, daß hier etwas Besonderes zu sehen gewesen sei, statt einer Sache »das Resultat der Sache« ( M ü 111,2, 174), d. h. wieder eine Relation. Der Schauspieler stellt vielleicht perfekt eine Frau vor, hat weibliche Bewegungen und Verhaltensformen auf das Beste studiert und angeeignet, zeigt mithin Unbedingtheit, hier die Freiheit, in eine andere Figur wechseln zu können, gleichwohl sieht man immer einen Mann, der eine Frau spielt, also dessen physische Bedingtheit, die unhintergehbar ist. Der Schauspieler stellt mithin, so Goethe, »eine dritte und eigentlich fremde Natur« vor, eine beobachtete, überdachte Natur, er zeigt das Spielen einer weiblichen Figur durch einen Mann, was Goethe dann »selbstbewußte Illusion« nennt ( M ü 111,2, 174 u. 173). Was Goethe am männlichen Schauspieler, der perfekt eine Frau vorstellt, so großes Vergnügen bereitet, ist offenbar die Tatsache, daß hier das Wesen der >theatralischen Dopplung< 8 augenfällig wird, worunter zu verstehen ist, daß in jeder theatralischen Veranstaltung zwei ontologisch verschiedene Welten zugleich gegeben sind, vorgestellte Welt und Wirklichkeit des Theater-Spielens, und dies als ein Zugleich prinzipiell entgegenstehender Welten ausgeführt erscheint. Die vorgestellte Welt erscheint als eine Welt der Unbedingtheit, in der der Wechsel von einer Gestalt in eine andere möglich ist, die Wirklichkeit des Spielens demgegenüber als eine Welt unhintergehbarer physischer Bedingtheit des Schauspielers. Das Theater manifestiert sich mithin als Feld, auf dem die ideelle Welt der Freiheit und die physisch-soziale Welt der Determination zugleich existieren können, allerdings auf ontologisch verschiedenen Ebenen. Goethe hat mit dieser Möglichkeit von Theater - Ausspielen der theatralischen Dopplung derart, daß auf beiden Ebenen Entgegengesetztes entfaltet w i r d - schon vor seiner Italienischen Reise gearbeitet, z. B. im Drama Der Triumph der Empfindsamkeit oder in der Prosafassung der Iphigenie , stets i m Kontext von Heilungsprozessen. 9 So erfolgt in der Iphigenie die Heilung des Orest dadurch, daß Iphigenie einerseits dem Bruder etwas vorstellt - daß sie als wiedergekehrte
8 Der Begriff wurde von dem Dichter, Philosophen und Theaterkritiker Theodor Lessing (s. Lessing, 1907 und 1912) eingeführt (s. hierzu Greiner 2004). 9
Hierzu ausführlicher: Greiner 2001.
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Klytemnästra zur Sühne seines Muttermordes ihn nun, wie befohlen, den Göttern opfern werde - und daß sie andererseits in der Wirklichkeit hier und jetzt ihrer Unterredung mit dem Bruder immer die liebende Schwester bleibt, die das befohlene Opfer nie vollziehen wird. I m Augenblick, da Orest dieses Zugleich nachvollzogen hat, ist er geheilt. Goethe arbeitet also schon in der voritalienischen Zeit mit dem Verfahren der theatralischen Dopplung, in den ersten Schriften nach der Italienischen Reise macht er dieses Verfahren aber explizit, begründet er es theoretisch und setzt er es systematisch am zentralen Punkt seiner jeweiligen Argumentation ein, so auch in der Schrift »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl«. Goethe stellt hier polar gegenüber: »Nachahmung der Natur< als sich an das Einzelne, Begrenzte, also Bedingte zu halten und >Manier< als Ausgehen vom >GeistStyl< ist das Aufgegebene, er w i r d erläutert als Zugleich von beidem: »so ruht der Styl auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, in so fern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen« ( M ü 111,2, 188). M i t dem »Wesen der Dinge« sind w i r auf dem Feld der Ideen, von denen es nie eine angemessene Anschauung, also Gegenständlichkeit geben kann. Goethe bringt zwei neue Begriffe ins Spiel, wenn er gleichwohl eine Verbindung beider Orientierungen (am Ideellen wie am Gegenständlichen) fordert: >Leben< und >IndividualitätMetamorphose< und >Bildung< (resp. »BildungstriebIndividualität< als das ganz und gar Besondere, das jede Festlegung auf Regel und Gesetz übersteigt und darum das ideelle Bleibende i m naturhaften Wechsel der Gestalten vorstellen kann und >Leben< als den Naturgesetzen unterworfener Prozeß, dem mit dem Vermögen der Selbstorganisation doch eine ideelle Komponente zuzuerkennen ist. Wieder zeichnen sich so zwei reziprok gerichtete Relationen ab, die sich wechselseitig beglaubigen können. »Lebhafte Individualität ist entsprechend nichts anderes als das Zugleich von »einfacher Nachahmung< und >ManierLeben< vorgestellt wird, wie umgekehrt in der Wirklichkeit von Leben »Individualität. M i t dem Begriff der »lebhaften Individualität hat Goethe zugleich schon eine Zielvorstellung des Bildungsgedankens formuliert. A u f ein theatralisches Zugleich von vorgestellter Masken-Figur und W i r k lichkeit der Spieler hebt Goethe auch in der dritten der von ihm herausgehobenen unmittelbar nachitalienischen Schriften ab, d. i. in seiner Darstellung des Römischen Carnevals. Verfaßt hat Goethe die Schrift um die Jahreswende 15 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 48. Bd.
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1788/89. Sie war als Beitrag zum Journal des Luxus und der Moden gedacht, war jedoch mit den Illustrationen zu Masken und Figuren des Karnevals zu umfangreich und erschien daher i m Frühjahr 1789 separat. Wenige Monate vor dem epochalen Umsturz in Frankreich deutet Goethe den Karneval als »Fest allgemeiner Freiheit und Losgebundenheit«, als »modernes Saturnal« (FA 1,15.1, 551). Allgemeine Freiheit als Aufhebung jeder hierarchischen Ordnung war für Goethe w o h l das Beängstigende an diesem Fest. Entsprechend formuliert er als dessen Summe, die er allerdings zugleich als »Aschermittwochsbetrachtung« zurücknimmt, der Karneval vermittle die Erkenntnis, »daß Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des Wahnsinns genossen werden können« (FA 1,15.1, 552). Karneval als Aufhebung aller Grenzen, damit aller U n terscheidung, verweigert sich der Fassung. Konsequent hatte Goethe daher bei seiner ersten Konfrontation mit dem Römischen Carneval am 20. Februar 1787 notiert: »Zu schreiben ist davon gar nichts« (FA 1,15.1, 187). Goethe gelangt gleichwohl zu einer sprachlichen Fassung, indem er eine Deutungsfigur zugrundelegt, die er gleich zu Beginn seiner Schrift nennt: »Das Römische Carneval ist ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird , sondern das das Volk sich selbst gibt« (FA 1,15.1, 518). Diesem Ansatz folgend, beschreibt Goethe nicht nur, was die verschiedenen Masken und Verkleidungen jeweils vorstellen, sondern macht er auch deutlich, daß der Sinn der Darbietungen nicht nur das jeweils Vorgestellte sei, sondern immer auch das Agieren hier und jetzt in der Wirklichkeit des Spielens. Dies eröffnet einen Regelkreis wechselseitiger Anregung und Modifikation. Was die einzelnen Masken i n ihrem Spiel vorstellen, w i r k t sich unmittelbar auf die Wirklichkeit hier und jetzt des Spielens aus - da die >Vorstellung< ja nicht für ein von den Spielern getrenntes Publikum gegeben w i r d die Stimmungsumschwünge und Bewegungen wiederum, die so erzeugt werden, wirken sich unmittelbar auf das aus, was die Masken spielen. Goethe fügt dem einen bemerkenswerten Satz hinzu: »vorzüglich w i r d die Frage sein: ob uns die Beschreibung selbst rechtfertigt?« (FA 1,15.1, 518). M i t h i n gibt es nicht ein der Beschreibung vorausliegendes, gesichertes Autor-Ich, das sich dem Gegenstand zuwendet, ihn zu >fassen< sucht. Der A u t o r entsteht vielmehr erst aus der A r t und Weise, in der er sich mit seiner Beschreibung in das theatralische Zugleich von vorstellendem Spiel und Wirklichkeit des Vorstellens einschwingt. Entsprechend ist auch die Zeitform der Darstellung das Präsens, betont der Verfasser am Ende Zusammenfallen von Darstellung und Dargestelltem, wenn er i m Moment, da er den Aschermittwoch darzustellen hat, selbst Aschermittwochsgedanken vorträgt, die schon genannte Folgerung, daß »Freiheit und Gleichheit nur in einem Taumel des Wahnsinns genossen werden können«. Als Ertrag seiner Italienerfahrung arbeitet Goethe so auf den Feldern der Natur, der Kunst wie der Geschichte (der >Sitten der VölkerMitleids< erschließt sich als ein Versuch, dieses Dilemma zu lösen, insofern das Mitleid als sinnliche (affektive) und zugleich sittliche Haltung an beiden entgegenstehenden Welten Anteil hat, ein anderes Konzept eines Brückenschlags ist in der »Empfindsamkeit zu erkennen, wieder ein anderes in der »Grazie< von Bestimmungen Winckelmanns über Wieland und Schiller bis hin zu Kleist, der dieses Konzept »zu Ende geschrieben hat. 1 0 Kant hat dann bekanntlich in seinen K r i tiken die Kluft zwischen der Welt der Erscheinungen und der der Ideen als prinzipiell unüberbrückbar erwiesen. Der Erkenntnis produzierende Verstand hat keinerlei normative Kompetenz i m Hinblick auf die Welt des sittlichen Wollens, umgekehrt hat die zwecksetzende Vernunft, das der Idee der Freiheit verpflichtete Handeln, keinerlei Versicherung in der Welt der Empirie. »»Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur [denn in der Natur gilt nur das Gesetz der Determination]; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit« (Kant, 1974, L I I I ) . Eine A r t Verknüpfung der Welt der reinen und der praktischen Vernunft spricht Kant dann dem Schönen (dem ästhetischen Urteil) und der teleologischen Naturbetrachtung zu, sofern deren Brückenschlag als bloß symbolisch (vgl. Kant, 1974, 213, § 59) resp. als bloß hypothetisch (vgl.
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15*
Hierzu ausführlicher: Greiner 2000.
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Kant, 1974, 262 f., § 75) bewußt bleiben. Schiller versuchte, von Goethe dessen >Bildungsroman< zum Vorabdruck in seiner neu begründeten Zeitschrift Die Hören zu erhalten, in denen er zugleich mit den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«, über Kant hinauszielend, einen objektiven Brückenschlag zwischen physischer und ideeller Welt i m Schönen aufzuweisen und für die Erziehung der Menschen zu freien Wesen in einer glückenden gesellschaftlichen Praxis fruchtbar zu machen versprach. Z u dieser >Parallelaktion< ist es bekanntlich nicht gekommen, was dem Bildungsgedanken seine scharfe Kontur bewahrt, umgekehrt am Gedanken der »ästhetischen Erziehung< das Ungelöste stärker ins Licht gerückt hat. Denn dieser Gedanke verflüchtigt sich alsbald in Schillers Schrift, da Schiller den in ihm versprochenen Brückenschlag zwischen Naturgesetzlichkeit und Freiheit gar nicht herleiten kann. Schiller geht von einem Begriff des Menschen als sinnlich-vernünftigem Doppelwesen aus und erkennt entsprechend >Ganzheit< als die Bestimmung des Menschen, die sich i m »ästhetischen Zustand< als einem mittleren zwischen dem >physischen< und dem >moralischen< erfülle. Von einem Brückenschlag zwischen Sinnlichkeit und Vernunft ist da keine Rede, entsprechend auch nicht davon, wie man diesen Zustand erlange. Erläutert wird, was er leistet. Statt eines Brückenschlags zwischen Sinnlichkeit und Vernunft entwirft Schiller in immer neuen Formulierungen einen Gleichgewichtszustand beider: Das Gemüt geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. (Schiller, 1967, 633 [20. Brief])
Dieser »ästhetische Zustand< w i r d dann als ein >NullTheatralisierung< des Bildungsgdankens - suggestiv. U m zu überzeugen, muß sie ihren theatralischen Charakter verbergen, so ist sie ein Rückfall in Illusionstheater. Wie dargelegt, hatte Goethe seine Theaterkonzeption eines Bewußt-Haltens und Ausspielens der theatralischen Dopplung schon i n seinem ersten Weimarer Jahrzehnt entwickelt. >Bildung< ist hier allenfalls implizit und negativ i m Spiel, als Aufhebung von Befangenheit in Wahnvorstellungen. I n Wilhelm Meisters Lehrjahren w i r d die Struktur der theatralischen Dopplung demgegenüber explizit und positiv mit dem Bildungsgedanken verknüpft. Der Held erklärt hier - was in der Theatralischen Sendung noch nicht gegeben w i r d - den (Selbst)Bildungstrieb zum Movens seines Handelns: »»mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht« (657) 1 1 . Das Theater ist in der Theatralischen Sendung selbst das Ziel, in den Lehrjahren w i r d es zum ausgezeichneten Medium, den Bildungsgedanken zu verwirklichen. Analog zu Mendelssohn legt Wilhelm seinen Bildungsgedanken in zwei grundlegend verschiedene Komponenten auseinander, wobei er soziologisch argumentiert. Das Bildungsziel der »Persönlichkeit (vgl. 657) sei für den Bürger, im Unterschied zum Adligen, nur auf dem Theater zu erreichen. N u r dort sei der Bürger als »ganze Person< gefragt, d. h. i m ideellen Aspekt seines Durch-sich-selbst-Seins 12 wie i m empirischen Aspekt einzelner Fertig11 U m die Nachweise i m Text zu entlasten, werden nachfolgend bei Zitaten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren nur Seitenzahlen angegeben; diese beziehen sich auf die Ausgabe: FA 1,9. 12 Dem Adligen w i r d »»harmonische Ausbildung der eigenen Natur« zuerkannt (659), gefragt sei bei ihm das Sein, nicht das Verfügen über spezifische Kenntnisse, Fertigkeiten oder Besitz (vgl. 658), i h m sei eine Existenz eröffnet, der keine Grenzen auferlegt sind (vgl. 658).
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keiten, die er als Bürger gezwungen sei, einseitig auszubilden. 13 Der Roman selbst argumentiert nicht soziologisch, sondern strukturell, indem er zeigt, was das Theater dem Helden bereitstellt, u m eben der O r t zu sein, an dem dieser Dualismus von ideeller und empirischer Existenz überwunden werden kann. Ausgeführt w i r d dies in den Kapiteln über Wilhelms //^w/ei-Produktion. Daß die Bildungsthematik mit einer Neuaneignung gerade dieses Dramas verknüpft wird, erscheint schlüssig. Denn mit Hamlet haben w i r an der Entstehung dessen teil, was ein jeder für sich beansprucht: Persönlichkeit, Innerlichkeit, Individualität. Hamlet erhebt den Anspruch, etwas zu haben, was jenseits allen Scheinens sei, jenseits allen gesellschaftlichen Rollenspiels, eine ideelle Einheit, als das Bleibende i m Wandel der Erscheinungen: »I have that w i t h i n which passeth show« und »I know not >seemsshow< überführt werden. Das Besondere, Einmalige einer Person, das jenseits allen Scheines liegt, kann nicht an sich selbst evident werden, es entsteht vielmehr i m Prozeß seiner Re-flektion. Das grundlegend Neue in diesem Entwurf von Personalität w i r d deutlich i m Vergleich mit dem zeitgenössisch herrschenden Verständnis der gesellschaftlichen Existenz als Rollenspiel, wie dies Baidassare Castiglione in seinem Libro del Cortegiano (1528) und Niccolö Machiavelli in seinem Principe (1532) erläutert haben: zwei Werke, die für mehr als ein Jahrhundert die Verhaltensmaximen des Adligen formuliert haben. Der Adlige, so Castiglione, habe sich zu verhalten, als ob er eine Figur auf der Bühne spiele und habe seine U m w e l t von dieser Figur zu überzeugen. Dabei schafft er aber keine persönliche Identität. Der Bezugspunkt des Rollenspiels ist nicht ein Selbst, das sich >maskiertseemingshowweibliche< List im lichem Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik (Stuttgart 1992).
männ-
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ein »Phallokrat« gewesen, der unter Berufung auf die >Natur< die Frau dem Manne untergeordnet habe, 10 die Behauptung L o r i J. Marsos gegenüber steht, bestimmte Frauenfiguren Rousseaus seien für diesen die besseren Menschen gewesen, d. h. bessere Verkörperungen seines Ideals als die Figuren der parallel dazu in seinem Werk auftretenden Männer. 1 1 Voraussetzung für die Analyse dieser Geschlechterrelation ist jedoch zunächst ein Blick auf Rousseaus Zivilisationskritik in seinen beiden 1749 und 1753-54 verfassten Preisschriften.
1. Die Zivilisationskritik der beiden Preisschriften als Ausgangspunkt für Rousseaus neues Menschenbild A u f die Frage der Akademie von Dijon, »si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs«, wagte Rousseau die für die damalige Zeit überraschende 12 Antwort, die hochentwickelte französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts habe die Menschen ihrem ursprünglichen Wesen entfremdet und sie dadurch unglücklich gemacht: »Nos âmes se sont corrompues à mesure que nos Sciences et nos Arts se sont avancés à la perfection.« 13 Eine Gesellschaft, welche sich zu weit von den einfachen Sitten entferne - von »l'heureuse ignorance où la sagesse éternelle nous avait placés« 14 - , sei dem Untergang geweiht. I m Rahmen seiner Warnung vor den schädlichen Folgen einer widernatürlichen Erziehung und einer von Eitelkeit und Selbstüberschätzung motivierten Wissenschaft kritisierte Rousseau explizit auch das Vernunftprimat der Aufklärungsphilosophen: »Dieu tout-puissant [ . . . ] , délivre-nous des Lumières.« 15 Das neue Wertesystem der Romantik antizipierte er mit der Behauptung, das höchste Gut des Menschen sei die Tugend der einfachen Seelen. 10 »He who claims always to >follow the directions of Natures [ . . . ] serves the interests and ends of man (vir).« Sarah Kofman, »Rousseau's Phallocratie Ends«, in Lynda Lange (editor), Feminist interpretations of Jean-Jacques Rousseau (Pennsylvania 2002), 229-244, hier 243. 11 »Rousseau shows us that Julie loves better than her lover does, and that in loving better she has better judgement. [ . . . ] A l l [these details] point to Rousseau's sympathies w i t h Julie and his unwillingness to fully embrace manliness as a good model for citizenship.« L o r i J. Marso, »Rousseau's Subversive Women«, in Feminist interpretations of JeanJacques Rousseau (a. a. O.), 245-276, hier Ill-Ill. 12 Rousseau war sich des revolutionären Charakters seiner Thesen bewusst; i m Vorwort zu diesem Discours schreibt er: »Je prévois qu'on me pardonnera difficilement le parti que j'ai osé prendre.« Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (Paris 2002, H 750), 27. 13
Discours sur les sciences et les arts (a. a. O.), 33.
14
Discours sur les sciences et les arts (a. a. O.), 39.
15
Discours sur les sciences et les arts (a. a. O.), 52.
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I n seiner zweiten Preisschrift antwortete Rousseau auf die von derselben Akademie gestellte Frage »Quelle est l'origine de l'inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la loi naturelle«. I m Unterschied zu der physischen Ungleichheit sei die politische Ungleichheit keineswegs naturgegeben, sondern eine Folge der willkürlichen und langfristig schädlichen Einführung des Privateigentums. Wiederum sehr deutlich erfolgt die Abgrenzung vom Verstandeskult der Aufklärer, mit einer pointierten Formulierung, die zu einer Polemik mit Voltaire führen sollte: »J'ose presque assurer que l'état de réflexion est un état contre nature, et que l'homme qui médite est un animal dépravé.« 16 Auch hier behauptet Rousseau, die Menschheit habe zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Entwicklung glücklicher gelebt als i m Europa des 18. Jahrhunderts; dieses goldene Zeitalter, sozusagen die »Jugend« der Menschheit, sei an der Schwelle zwischen Naturzustand und Zivilisation anzusiedeln, 17 in einem alsbald verloren gegangenen Stadium seelischer Harmonie.
2. Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) Bei der Konzeption der Geschlechterrelationen in seinem 1761 veröffentlichten Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse 18 griff Rousseau auf diese für sein Menschenbild zentrale Dichotomie zwischen Natur und Zivilisation zurück, u m auf ihrer Grundlage einen Liebeskonflikt zu konstruieren: Das ungetrübte Glück zwischen Julie und Saint-Preux ist nur i m zivilisationsfernen Schutzraum der Natur möglich, denn die Konventionen der Gesellschaft verhindern die dauerhafte Verwirklichung ihrer Liebe. Bereits dem ersten Brief Saint-Preux', der als bürgerlicher Hauslehrer die adlige Julie unterrichtet, ist zu entnehmen, dass er weniger ihre körperlichen Reize oder ihre Verstandesfähigkeiten als vielmehr die »pureté de l'âme« und den »charme des sentiments« bewundert. 1 9 Explizit vermerkt der Romantext, sowohl Saint-Preux als auch seine Schülerin hätten sich dank ihrer Jugend die Natürlichkeit ihres Charakters bewahrt, seien noch nicht von der Gesellschaft 16 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur Vorigine et les fondements de l'inégalité les hommes (Paris 2001, M755), 31.
parmi
17
»tenant un juste milieu entre l'indolence de l'état primitif et la pétulante activité de notre amour-propre«; Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (a. a. O.), 65. 18 Eine hervorragende Interpretation - allerdings ohne Gender-Perspektive - bietet: Walburga H ü l k , »Jean-Jacques Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse und Les confessions«, in Französische Literatur; 18. Jahrhundert: Roman, Hrsg. Dietmar Rieger (Tübingen 2000), 169-203. 19
Jean-Jacques Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse (Paris 1995, 1 1761), 10 (1. Brief des 1. Teils).
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verdorben. Die zahlreichen Exklamationen 2 0 in diesem ersten Schreiben des Protagonisten zeugen von seinem inneren Aufruhr, machen aus ihm einen romantischen Helden ante litteram, der seine Gefühle nicht beherrscht noch beherrschen will. Dieser Mann einer neuen Epoche, die Rousseau hier vorwegnimmt, die sich aber generell erst sehr viel später durchsetzen wird, schämt sich seiner Tränen und Seufzer nicht, strebt keine rational-stoizistische Kontrolle seine Seelenlebens mehr an. Julie ihrerseits gesteht Saint-Preux schließlich, seine Liebe zu erwidern; zwar rate ihr die Vernunft von diesem Gefühl ab - sie kenne die Strenge ihres standesbewussten Vaters - , die Macht der Natur aber sei stärker als die Normen der Gesellschaft: »la nature entière semble être ta complice«. 21 Den ersten Kuss Julies erhält Saint-Preux nicht zufällig in einem kleinen Wäldchen, also inmitten eben dieser Natur (14. Brief des 1. Teils). Weil ihre Liebe sich außerhalb der von Rousseau kritisierten Zivilisation abspielt, kennt sie auch nicht deren Verbote, und so kommt es nach einer Weile sogar zu sexueller Intimität (29. Brief des 1. Teils). Julie, der es vorübergehend gelungen war, ihre konventionelle Erziehung zu vergessen, schämt sich jedoch wenig später bereits ihres vermeintlichen Fehltritts, obgleich sie aus Sicht des Autors nur der Stimme ihres Herzens gehorcht hat und deshalb nichts zu bereuen hat; ihr Schuldgefühl 22 zeugt aus Gender-Perspektive vom moralischen Druck auf das weibliche Geschlecht, dem die Männer in der gleichen Situation nicht ausgesetzt sind. Sie w i r d schließlich von ihrem Vater dafür beschimpft, sich überhaupt mit einem derartig unwürdigen Sujet wie Saint-Preux eingelassen zu haben - wobei es nicht u m die individuellen Eigenschaften dieses jungen Mannes geht, sondern nur um dessen zu geringe Stellung in der Gesellschaft. I n einer für die Geschlechterrollen aufschlussreichen Szene gerät der die patriarchale Gewalt verkörpernde Baron d'Étange so sehr in Rage, dass er Julie schlägt (63. Brief des 1. Teils). Gemäß Rousseaus prinzipieller Zivilisationskritik w i r d dieser Vater nicht wirklich als böser Mensch dargestellt, sondern als lediglich traditionellen Vorstellungen verhaftet und etwas zu Jähzorn neigend. Kurz darauf (im 14. Brief des 2. Teils) berichtet Saint-Preux Julie erstmals von einem Aufenthalt in Paris, was Rousseau dazu nutzt, am Beispiel der französischen Hauptstadt wiederum die moralisch korrupte Gesellschaft anzu-
20 »Vous, me chasser! M o i , vous fuir! et pourquoi? [ . . . ] ô Julie! [ . . . ] A h ! pardon!« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 10 (1. Brief des 1. Teils). 21 22
Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 15 (4. Brief des 1. Teils).
»Je suis tombée dans l'abîme d'ignominie dont une fille ne revient point.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 59 (29. Brief des 1. Teils).
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klagen. Z u m negativen Einfluss dieser Umgebung auf die Liebesbeziehungen äußert sich Saint-Preux i m 21. Brief des 2. Teils: »II semble que tout l'ordre des sentiments naturels soit ici renversé. [ . . . ] L'amour même, l'amour a perdu ses droits, et n'est pas moins dénaturé que le mariage.« 23 Z u Beginn des dritten Teils des Romans verstirbt Julies Mutter, seelisch zerrüttet durch die Fortdauer der vom Vater verbotenen Beziehung ihrer Tochter zu Saint-Preux; Julie fühlt sich moralisch schuldig und beschließt, ihrem Vater freie Hand bei der Wahl ihres künftigen Bräutigams zu lassen, unabhängig von ihren privaten Gefühlen. 2 4 A u f indirekte Weise übt die Mutter so einen nicht geringeren Druck auf die Tochter aus als zuvor der handgreiflich gewordene Vater. Der Julie nunmehr von ihrem Vater unter Berufung auf Pflicht und Anstand aufgedrängte standesgemäße Ehemann, der fünfzigjährige Monsieur de Wolmar, w i r d von Rousseau als Vertreter der Ideale der Aufklärung dargestellt und als solcher implizit kritisiert: I n den meisten Lebensbereichen kann er sich durch sein vernunftbestimmtes und ausgeglichenes Wesen zwar auszeichnen, hinsichtlich seiner Liebesfähigkeit jedoch kann er dem romantischen Gefühlsüberschwang einer Julie nicht genügen. Aus der Perspektive der Gender Studies erwähnenswert ist die Wirkung der kirchlichen Trauung auf Julies Gefühlshaushalt: War die Protagonistin zunächst nur rein äußerlich auf die Wünsche ihres Vaters eingegangen, 25 so fühlt sie sich nach der religiösen Zeremonie nunmehr an die christliche Auffassung der Heiligkeit der Ehe gebunden und w i l l somit auch innerlich ihrer Liebe zu SaintPreux entsagen. 26 I m Rahmen von Rousseaus Zivilisationskritik steht diese Szene für die schädliche Wirkung eines falschen Religionsverständnisses auf das menschliche Zusammenleben; der Genfer vertrat hingegen eine natürliche, aus dem Herzen kommende und undogmatische Religionsauffassung, die er später in der »Confession de foi du vicaire savoyard« i m Émile noch ausführlicher darlegen sollte. Als Julie nach ihrem Badeunfall gegen Ende des Romans i m Sterben liegt und nicht mehr zur Verstellung aus Rücksicht auf die Normen der Gesellschaft 23
Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 193 - 1 9 4 (21. Brief des 2. Teils).
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»La cruelle perte de l'un des auteurs de mes jours m'a trop appris à craindre d'affliger l'autre.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 246 (15. Brief des 3. Teils). 25 I m 18. Brief des 3. Teils schreibt sie an Saint-Preux: »Dans l'instant même où j'étais prête à jurer à un autre une éternelle fidélité, mon coeur vous jurait encore un amour éternel.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 260. 26 »Je crus me sentir renaître; je crus recommencer une autre vie. Douce et consolante vertu, je la recommence pour toi.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 261 (18. Brief des 3. Teils).
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gezwungen ist, offenbart sie in ihrem letzten Schreiben an Saint-Preux, diesen auch nach ihrer Heirat weiter geliebt zu haben. 27 Sie verabschiedet sich von ihm mit der Hoffnung, ihn dereinst i m H i m m e l wieder in ihre Arme zu schließen; 2 8 eine derartige Verlagerung in das Jenseits einer in der Gesellschaft unmöglichen Liebe w i r d in der Romantik häufig der einzige Ausweg sein. Während solcherart die tragische Gestalt der an ihrer natürlichen Persönlichkeits- und Liebesentfaltung gehinderten Julie als Rousseausches Plädoyer für eine zumindest partielle Emanzipation der Frau verstanden werden kann - und von der feministischen Literaturwissenschaft durchaus auch so verstanden wurde - , hat sich Rousseau diesen aus Gender-Perspektive fortschrittlichen Ruf mit der Gestalt der Sophie in dem ein Jahr später veröffentlichten Émile bereits wieder gründlich verscherzt.
3. Émile ou De l'éducation (1762) Émile ou De l'éducation 2** charakterisierbar als pädagogisches Traktat mit romanhaften Zügen, beruht wie der kurz zuvor fertiggestellte Briefroman auf Rousseaus radikaler Zivilisationskritik; dem gemäß beginnt das erste von insgesamt fünf Büchern des Emile mit der Behauptung, die Welt sei in dem Zustand, wie sie aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen sei, ursprünglich gut gewesen; erst durch das Werk des Menschen habe der Niedergang der Schöpfung begonnen. Aufgabe der Erziehung sei es deshalb, den Kindern einen »Schutzraum« 30 bereitzustellen, in dem diese fern von der verdorbenen und verderblichen Gesellschaft allein gemäß der Natur aufwachsen sollen. I m Falle des fiktiven Zöglings Émile bedeute dies, möglichst wenig zivilisatorischen Zwang auf ihn auszuüben, ihn statt der »dépendance des hommes« möglichst nur die »dépendance des choses« spüren zu lassen; hierfür prägte Rousseau den i m nachhinein berühmt gewordenen Begriff der »éducation négative«, worunter er die Abschirmung von schädlichen Einflüssen verstand. 27
»Oui, j'eus beau vouloir étouffer le premier sentiment qui m'a fait vivre, il s'est concentré dans mon cœur. I l s'y réveille au moment qu'il n'est plus à craindre.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 564 (12. Brief des 6. Teils). 28
»Non, je ne te quitte pas, je vais t'attendre. La vertu qui nous sépara sur la terre nous unira dans le séjour éternel.« Julie ou la Nouvelle Héloïse (a. a. O.), 566 (12. Brief des 6. Teils). 29 Zur Interpretation (ohne Fokussierung auf die Geschlechterrollen) vgl. die Einleitung von Martin Rang zu Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (Stuttgart 2001), 5 - 9 6 . 30 A n die Mutter gerichtet schreibt Rousseau: »Forme de bonne heure une enceinte autour de l'âme de ton enfant.« Jean-Jacques Rousseau, Émile ou De l'éducation (Paris 1999, 1 1762), 48.
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M i t dem 20. Lebensjahr hat Émile nach Rousseaus Dafürhalten den Beginn des Mannesalters und damit den richtigen Zeitpunkt erreicht, erstmals das Gefühl der Liebe zu einer Frau zu empfinden und dieses weibliche Gegenüber dann auch zu heiraten, w o m i t der Prozess der Erziehung seinen Abschluss finden soll. Hinsichtlich des Wandels der Geschlechterrelationen besonders interessant ist die Frage nach dem idealen Charakter von Émiles künftiger Braut, was zu grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Frau verglichen mit dem des Mannes Anlass gibt. Rousseau beginnt mit der Behauptung, Mann und Frau besäßen eine Reihe von physischen und psychischen Gemeinsamkeiten, die auf die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zurückzuführen seien; die Unterschiede zwischen ihnen seien durch die Geschlechtszugehörigkeit bedingt. Streitereien über die vermeintliche Gleichheit oder Ungleichheit von Mann und Frau seien insofern sinnlos, als jeder von ihnen durch die Natur zu einer anderen A r t von Perfektion geführt werde. 3 1 Die so weit noch einleuchtende Berufung auf die Natur - für Rousseau seit den beiden Preisschriften das höchste Leitprinzip - w i r d jedoch dann problematisch, als der Genfer den Geschlechtern Eigenschaften zuschreibt, die aus heutiger Sicht keineswegs so eindeutig biologisch determiniert sind: »L'un doit être actif et fort, l'autre passif et faible: i l faut nécessairement que l'un veuille et puisse, il suffit que l'autre résiste peu. Ce principe établi, il s'ensuit que la femme est faite spécialement pour plaire à l'homme.« 3 2 Die von ihm behauptete unterschiedliche Rollenverteilung hängt für Rousseau mit der Aufzucht der Kinder zusammen; dass die Frau hierfür stärker verantwortlich sei als der Mann und ihre Lebensführung dementsprechend ausrichten müsse, sei keine W i l l k ü r oder Ungerechtigkeit, sondern ein Gebot der Natur: Quand la femme se plaint là-dessus de l'injuste inégalité qu'y met l'homme, elle a tort; cette inégalité n'est point une institution humaine, ou du moins elle n'est point l'ouvrage du préjugé, mais de la raison: c'est à celui des deux que la nature a chargé du dépôt des enfants d'en répondre à l'autre. 3 3
Während die Pflicht zur ehelichen Treue prinzipiell für Mann und Frau gleichermaßen gelte, sei die Frau noch viel stärker als der Mann zur Respektierung dieser gezwungen, weil sie sonst in die Ehe das K i n d eines Anderen einbringen könne. I n dieser Hinsicht gebe es also keineswegs Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. 31 »Une femme parfaite et un homme parfait ne doivent pas plus se ressembler d'esprit que de visage.« Émile ou De l'éducation (a. a. O.), 265. 32
Émile ou De l'éducation (a. a. O.), 266.
33
Émile ou De l'éducation (a. a. O.), 267.
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Aus alledem folge, so Rousseau weiter, dass kleine Mädchen keineswegs auf die gleiche Weise erzogen werden dürften wie kleine Jungen; die Natur habe beiden unterschiedliche Wege vorgezeichnet. Wenn man Mädchen die gleichen Kenntnisse und Fertigkeiten erlernen lassen würde wie Jungen, verlören sie als junge Frauen ihre natürliche Anziehungskraft auf die jungen Männer. 3 4 Die Frau solle sehr w o h l ihre geistigen Fähigkeiten kultivieren, aber nur, u m dem Mann damit besser gefallen zu können. Denn Mann und Frau fühlten sich gleichermaßen in sexueller Hinsicht voneinander angezogen; die Frau sei aber vom Mann materiell abhängig hinsichtlich der Gewährleistung ihres Lebensunterhalts und ihm dadurch unterlegen: La femme et l'homme sont faits l'un pour l'autre, mais leur mutuelle dépendance n'est pas égale: les hommes dépendent des femmes par leurs désirs; les femmes dépendent des hommes et par leurs désirs et par leurs besoins; nous subsisterions plutôt sans elles qu'elles sans nous. 3 5
Dies entsprach zwar der sozialen Realität des 18. Jahrhunderts in Frankreich; man muss Rousseau jedoch vorwerfen, diese historisch gewachsenen Umstände zum Gesetz der Natur erklärt zu haben und nicht für möglich gehalten zu haben, dass Frauen eine dem Manne gleichwertige Ausbildung erhalten könnten und auch beruflich selbst für sich sorgen könnten. Die Frau sei ungeeignet für höhere Stufen der Wissenschaft und einzig befähigt für praktische Tätigkeiten; überlegen sei sie dem Mann nur in der Kunst der Beobachtung des menschlichen Herzens und somit auch in Liebesangelegenheiten: »La femme, qui est faible et qui ne voit rien au dehors, apprécie et juge les mobiles qu'elle peut mettre en oeuvre pour suppléer à sa faiblesse, et ces mobiles sont les passions de l'homme.« 3 6 Diese geschlechtliche Zuordnung ermöglichte die Aufwertung der Frau während der Romantik; in einer Epoche, welche dem Gefühl gemäß den bahnbrechenden Ideen Rousseaus erstmals den Vorrang über die Vernunft einräumte, konnte die Frau als Bannerträgerin dieses Gefühls eine neue A r t von moralischer Autorität innerhalb der Gesellschaft für sich beanspruchen. A u f genau die Weise, wie es dem gerade dargelegten Frauenbild entspricht nämlich in »aimable ignorance« - , ist Sophie erzogen worden, als ideale Gefährtin und künftige Ehefrau für Émile: »Élève de la nature ainsi qu'Émile, elle est faite pour lui plus qu'aucune autre.« 37 34 »Eh! prenez le parti de les élever comme des hommes; ils y consentiront de bon cœur. Plus elles voudront leur ressembler, moins elles gouverneront.« Émile ou De Véducation (a. a. O.), 269. 35
Émile OH De l'éducation (a. a. O.), 271.
36
Émile ou De l'éducation (a. a. O.), 279.
37
Émile ou De l'éducation (a. a. O.), 293.
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I I I . Das Menschenbild und die Geschlechterrelation in der Rousseau-Nachfolge 1. Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie (1788) Bernardin de Saint-Pierre, der Rousseau 1771 in Paris kennen lernte und ihm 1781 eine posthume Monographie widmete, ist der erste bedeutende seiner zahlreichen geistigen Nachfolger. Der exotische Schauplatz seines 1788 veröffentlichten Romans Paul et Virginie 38 - nämlich die i m Indischen Ozean gelegene und damals noch »Ile de France« genannte Insel Mauritius - offenbart sich gleich zu Beginn als idyllischer O r t fern einer i m Rousseauschen Sinne als korrupt empfundenen Zivilisation. Dort freunden sich zwei aus Frankreich stammende und nunmehr alleinstehende Frauen miteinander an, die ähnlich unerfreuliche Erfahrungen hinter sich haben: Madame de la Tour ist die Witwe eines bürgerlichen jungen Mannes aus der Normandie, der sie dort gegen den Willen ihrer eigenen adelsstolzen Familie geheiratet hatte und auf der Suche nach einem Lebensunterhalt auf die Insel Mauritius gelangt war; bei einer Handelsreise nach Madagaskar war er am Tropenfieber gestorben. Die andere junge Frau namens Marguerite - man erfährt von ihr i m Laufe des Romans nicht mehr als den Vornamen - kommt aus der Bretagne und ist einfacher bäuerlicher Herkunft; sie war in ihrer Heimat von einem gewissenlosen Adligen verführt und geschwängert worden, der sie verließ, ohne wenigstens in finanzieller Hinsicht für sie zu sorgen. Marguerite hatte sich daraufhin entschlossen, auf die Insel Mauritius auszuwandern, u m ihrer Familie dadurch die Schande eines in Frankreich unehelich geborenen Kindes zu ersparen. Da Madame de la Tour inmitten der tropischen Natur ebenfalls ein von ihrem kurz zuvor verstorbenen Ehemann gezeugtes K i n d zur Welt bringt, können die beiden Frauen den kleinen Jungen und das kleine Mädchen - genannt Paul und Virginie - nunmehr gemeinsam aufwachsen lassen. Aus Gender-Perspektive bemerkenswert ist, dass es sich um zwei gleichermaßen von der europäischen Zivilisation enttäuschte Frauen handelt, denen dort von den gesellschaftlichen Vorurteilen bzw. von den zu moralischer Skrupellosigkeit erzogenen Männern ihr Liebesglück und letzten Endes auch ihre Existenz unmöglich gemacht worden war. A u f Mauritius wohnen die beiden Frauen nicht in der Kolonialstadt Port Louis, sondern in zwei einfachen Hütten auf dem Lande, die in Rousseauscher 38 Zur Interpretation (ohne Berücksichtigung des Gender-Aspekts) vgl.: H i n r i c h H u d de, »Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie«, in Französische Literatur,; 18. Jahrhundert: Roman, Hrsg. Dietmar Rieger (Tübingen 2000), 303-326.
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Terminologie ausdrücklich als »asile caché« 39 - also als »verborgener Zufluchtsort« - bezeichnet werden. Dies erklärt sich einerseits daraus, dass die Frauen auf das von Rousseau in seiner zweiten Preisschrift als Beginn des Niedergangs eines natürlichen Zusammenlebens gegeißelte Privateigentum verzichten, 40 andererseits aber auch daraus, dass sie durch ihre weibliche Freundschaft eine Atmosphäre gefühlvoller Harmonie schaffen, wie sie in einer Familie mit männlichem Oberhaupt i m 18. Jahrhundert schwer denkbar gewesen wäre. A n dieser Stelle ist zu erwähnen, dass Bernardin de Saint Pierre in der umfangreichen Vorrede zu seinem Roman ein enthusiastisches Loblied auf die Rolle der Frauen in der Gesellschaft anstimmt; ähnlich wie Rousseau betrachtet er das weibliche Geschlecht als dem Manne i m Gebrauch der Vernunft unterlegen, aber dafür in Herzensdingen - dem zentralen Wert der Romantik - eindeutig überlegen: Les femmes ont contribué plus que les philosophes à former et à réformer les nations. [ . . . ] Elles posèrent les premières bases des lois naturelles. La première fondatrice d'une société humaine fut une mère de famille. [ . . . ] O femmes, c'est par votre sensibilité que vous enchaînez les ambitions des hommes! [ . . . ] Votre pitié naturelle vous donne à la fois l'instinct de l'innocence et celui de la véritable grandeur. [ . . . ] A vos regards modestes, aux doux sons de votre voix, le sophiste audacieux se trouble, le fanatique sent qu'il est homme, et l'athée qu'il existe un Dieu. Vos larmes touchantes éteignent les torches de la superstition, et vos divins sourires dissipent les froids arguments du matérialisme. 41
Solcherart von positiven weiblichen Werten geprägt - und bezeichnenderweise völlig frei von männlichen Einflüssen in Gestalt von miterziehenden Vätern - wachsen Paul und Virginie auf wie Bruder und Schwester; ihre Mütter verzichten darauf, ihnen eine i m europäischen Sinne konventionelle Schulbildung zukommen zu lassen. 42 Ähnlich wie in Rousseaus Émile orientiert sich hier die Erziehung vor allem an der Natur, 4 3 was als vorteilhaft für die Gemütsbildung der beiden Kinder dargestellt wird. Von Paul und Virginie heißt es, ihr Umgang miteinander habe dem von Adam und Eva i m irdischen Paradies vor dem Sündenfall geglichen; als sie etwas älter werden und in die Pubertät kommen, w i r d aus ihrer Freundschaft echte Liebe, die jedoch stets keusch bleibt. 39
Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie
(Paris 1999,
788), 94.
40
»Elles [ . . . ] n'avaient qu'une volonté, qu'un intérêt, qu'une table. Tout entre elles était commun.« Paul et Virginie (a. a. O.), 98. 41
Paul et Virginie
(a. a. O.), 7 2 - 7 8 .
42
»Jamais des sciences inutiles n'avaient fait couler leurs larmes; jamais les leçons d'une triste morale ne les avaient remplis d'ennui.« Paul et Virginie (a. a. O.), 100. 43 »Paul et Virginie n'avaient ni horloges, ni almanachs, ni livres de chronologie, d'histoire, et de philosophie. Les périodes de leur vie se réglaient sur celles de la nature.« Paul et Virginie (a. a. O.), 125.
17 Literaturwissenschafdiches Jahrbuch, 48. Bd.
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Ihre beiden Mütter sind dem Gedanken an eine spätere Heirat nicht abgeneigt, der sich jedoch ökonomische Überlegungen und damit wieder die Zwänge der Zivilisation in den Weg stellen: Virginie w i r d von einer bigotten Tante nach Frankreich eingeladen, wo ihr ein standesgemäßer Ehemann sowie - nach dem Ableben der Verwandten - ein reichhaltiges Erbe zuteil werden soll. Madame de la Tour lehnt diesen Vorschlag zunächst ab, weil ihr die Familienidylle auf der Insel wichtiger ist als materielle Vorteile; auch Virginie zieht das einfache Leben i m Kreis ihrer Lieben dem Luxus in Europa vor. Wer der Mutter ins Gewissen redet, die Reise sei zum Besten ihrer Tochter, ist ein vom französischen Gouverneur der Insel geschickter Missionar; der Kirchenmann rät, das in Aussicht stehende Geld nicht zu verachten: »vous ne sauriez sans injustice la priver d'une si grande succession.« 44 Es ist also wiederum die zivilisatorisch korrumpierte und von den Menschen manipulierend gebrauchte Religion, welche eine junge Frau dazu zwingt, gegen die Stimme ihres Herzens zu handeln. Nach einer beidseitig tränenreichen Trennung von Paul, bei der die zwei jungen Menschen ihr romantisches Gemüt offenbaren, besteigt Virginie schließlich tief betrübt das Schiff, das sie zurück i n die Zivilisation bringen soll. Wie eineinhalb Jahre später ihr erster auf der Insel eintreffender Brief bezeugt, lässt ihr die Tante in Paris eine aufwendige Erziehung zuteil werden und verwöhnt sie mit dem materiellen Uberfluss ihres Standes; Virginie jedoch erinnert sich stets mit Sehnsucht an das schlichte aber harmonische Leben auf der Insel. D o r t geht inzwischen das Gerücht um, Virginie solle in Frankreich gegen ihren Willen mit einem vermögenden Adligen verheiratet werden, woraufhin sich Paul mit einem mit der Familie befreundeten alten Eremiten über die Geldes-Ehen in Europa unterhält, 4 5 die doch nur zum Unglück der Menschen führen könnten - wiederum Gesellschaftskritik in der Rousseau-Nachfolge und gleichzeitig ein Plädoyer für mehr Freiheit der Frauen. Nachdem die widerspenstige Virginie schließlich von ihrer erzürnten Tante zu einem meteorologisch ungünstigen Zeitpunkt - nämlich während der Periode der Winterstürme - zurück auf die Insel Mauritius geschickt wurde, kommt es zu einem tragischen Ende, das aus Gender-Perspektive in einem die Frauen betreffenden zivilisatorischen Verbot wurzelt: Als ihr beim Untergang des auf den Uferfelsen leck geschlagenen Schiffes ein Matrose helfen 44 45
Paul et Virginie
(a. a. O.), 135.
»Paul: >Comment peut-on être tyran des femmes ?< Le vieillard: >En les mariant sans les consulter, une jeune fille avec un vieillard, une femme sensible avec un homme indifférente Paul: »Pourquoi ne pas marier ensemble ceux qui se conviennent, les jeunes avec les jeunes, les amants avec les amantes?< Le vieillard: »C'est que la plupart des jeunes gens, en France, n'ont pas assez de fortune pour se marier, et qu'ils n'en acquièrent qu'en devenant vieux.«< Paul et Virginie (a. a. O.), 169.
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will, ihre Kleider abzulegen und solcherart schwimmend ihr Leben zu retten, weigert sich Virginie aus falscher Scham, die ihr erst in Europa anerzogen wurde. 4 6 Hätte Virginie sich ihre natürlichen Sitten bewahrt - so gibt der A u t o r zu verstehen so hätte sie in dieser Situation sehr w o h l überleben können.
2. François-René de Chateaubriand,
Atala (1801)
Aus vergleichbaren Gründen w i r d die Titelheldin von Chateaubriands erstmals 1801 veröffentlichter Erzählung Atala 47 zur tragischen Gestalt: Auch hier ist wiederum eine Frau das primäre Opfer einer von der Gesellschaft verhinderten Gefühlsentfaltung. Die Fiktion spielt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im nordamerikanischen Louisiana, damals noch in der Hand französischer Siedler; der Prolog präsentiert die - aus europäischer Sicht - exotische Natur an den Ufern des Mississippi, die i m Rousseauschen Sinne als von der Zivilisation noch größtenteils unberührter Zufluchtsort dargestellt w i r d . 4 8 I n der Rahmenerzählung berichtet ein alter Indianer namens Chactas einem jungen, nach Louisiana ausgewanderten Franzosen namens René (der dann seinerseits i m Mittelpunkt einer anderen Erzählung Chateaubriands stehen wird) rückblickend von seinem Leben. Chactas symbolisiert die Synthese von Natur und Zivilisation, war er doch als K i n d vorübergehend in das Frankreich Ludwigs XIV. verschleppt worden, w o er Gelegenheit dazu hatte, die dortigen Sitten zu beobachten; wieder zurück in Louisiana, verlor er i m Alter von 17 Jahren seinen indianischen Vater und wurde deshalb vorübergehend von einem Spanier namens Lopez adoptiert, der ihn dann später in die Wildnis zurückkehren ließ. Als der zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsene Chactas von einem feindlichen Indianerstamm gefangen genommen w i r d und ihm der Tod am Marterpfahl droht, macht er die Bekanntschaft Atalas, der Tochter eines 46 »Ii [= le matelot; T.S.] s'approcha de Virginie avec respect: nous le vîmes se jeter à ses genoux, et s'efforcer même de lui ôter ses habits; mais elle, le repoussant avec dignité, détourna de lui sa vue.« Paul et Virginie (a. a. O.), 181. 47 Zur Interpretation (allgemeiner Natur) vgl.: Reinhold R. Grimm, »François-René de Chateaubriand, Atala und René«, in Französische Literatur,; 19. Jahrhundert: Drama und Novelle, Friedrich Wolfzettel (Hg.) (Tübingen 2001), 133 - 1 7 8 . 48 »Une multitude d'animaux, placés dans ces retraites par la main du Créateur, y répandent l'enchantement de la vie.« François-René de Chateaubriand, Atala (Paris 1994, 1 1801), 42. - Der Begriff »retraite« steht hier in seiner Bedeutung analog zum Rousseauschen » asile«.
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Weißen 4 9 und einer Indianerin, die von ihrer Mutter christlich erzogen und nach deren Tod von einem Indianerhäuptling des Chactas feindlich gesonnenen Stammes an Kindes statt angenommen wurde. Da Atala solcherart in ihrem Gemüt auf harmonische Weise Ursprünglichkeit mit zivilisatorischen Elementen vereint, ist es kein Wunder, dass der auf ähnliche Weise ein i m Rousseauschen Sinne glückliches Stadium der Menschheitsentwicklung verkörpernde Chactas sich in sie verliebt. O b w o h l Atala die Gefühle von Chactas erwidert, sieht sie keine Möglichkeit, mit ihm eine Partnerschaft einzugehen, 50 da ihre Mutter für sie gleich nach der Geburt ein Gelübde der Jungfräulichkeit ablegte, u m sie mit Gottes Hilfe vor einer schweren Krankheit zu erretten. 51 Wie man später erfährt, musste Atala als Jugendliche dieses Gelübde sogar noch am Totenbett ihrer Mutter erneuern; all dies hält sie aber vorerst gegenüber Chactas geheim. Aus Sicht der Gender Studies dienen hier wiederum eine von der Gesellschaft falsch verstandene Religion 5 2 und der als Pflicht eingeforderte Respekt gegenüber den Eltern 5 3 dazu, eine junge Frau in ihrer Entscheidungsfreiheit einzuschränken. A u f ihren beiden Fluchtversuchen, von denen erst der zweite glückt, durchqueren Chactas und Atala eine als paradiesisch geschilderte und die Gefühle des jungen Paares stimulierende Natur; obwohl Atala mehrfach davor steht, dem Drängen Chactas' nachzugeben, versagt sie sich eingedenk ihres Gelübdes jede A r t von Liebeserfüllung, allerdings u m den Preis einer schmerzlich empfundenen - und ihrerseits wieder typisch romantischen - Melancholie. Als sie nach einem zweiwöchigen Fußmarsch und einer Flussfahrt i m selbstgebauten Kanu schließlich die Missionsstation des Père A u b r y erreichen, sieht 49 Desselben Lopez, der auch der Adoptivvater von Chactas ist; zwar sind Atala und Chactas dadurch keine leiblichen Geschwister, aber die Nähe zu einer inzestuösen Beziehung (die auch in Chateaubriands René als Liebeshindernis eine zentrale Rolle spielt) w i r d zumindest unterschwellig angedeutet. 50 Chactas berichtet später über das für ihn unerklärliche Verhalten Atalas: »Ce qui m'effrayait surtout, était un secret, une pensée cachée au fond de son âme, que j'entrevoyais dans ses yeux. [ . . . ] Que de fois elle m'a dit: >0 mon jeune amant! je t'aime comme l'ombre des bois au milieu du jour! [ . . . ] Eh bien, pauvre Chactas, je ne serai jamais ton épouse!«< Atala (a. a. O.), 7 4 - 7 5 . 51
»Pour sauver mes jours, ma mère fit un voeu: elle promit à la Reine des Anges que je lui consacrerais ma virginité, si j'échappais à la mort.« Atala (a. a. O.), 99. 52 So i m Text auch das Urteil des die richtige Religionsauffassung verkörpernden Père Aubry; er führt Atalas Dilemma zurück auf die »dangers de l'enthousiasme, et du défaut de lumières en matière de religion.« Atala (a. a. O.), 108. 53
Bei allem Respekt vor ihrer inzwischen verstorbenen Mutter beklagt Atala i m Rückblick deren Verhalten: »O ma mère! pourquoi parlàtes-vous ainsi!« Atala (a. a. O.), 100.
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Atala dort keinen anderen Ausweg mehr aus dem Widerstreit ihrer Gefühle mit der vermeintlichen Pflicht, als sich zu vergiften; bereits i m Sterben liegend, offenbart sie Chactas endlich das Geheimnis ihrer rätselhaften Zurückhaltung. Der als Vertreter einer natürlichen Religionsauffassung fungierende Père A u b r y erklärt ihr, dass ihr Gelübde auch nachträglich hätte gelöst werden können; 5 4 eine aus Sicht Chateaubriands notwendige Verteidigung des Christentums, dessen kulturstiftende Kraft er in Le génie du christianisme preisen sollte. Aus der Perspektive der Geschlechterrelationen wäre noch hinzuzufügen, dass aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge hier vordergründig zwar wieder vor allem eine liebende Frau zu Schaden kommt; sekundär leidet jedoch auch ein nicht minder romantisch empfindender Mann am Scheitern dieser Beziehung und Chateaubriands Chactas ist hierin vergleichbar Rousseaus SaintPreux sowie Bernardin de Saint-Pierres Paul.
3. Madame de Staël , Corinne ou ITtalie (1807) M i t Corinne stoßen w i r i m Rahmen dieses Uberblicks auf den >modernstenemanzipierten< Frauentyp, was nicht allein chronologische Gründe hat, sondern vor allem auch daran liegt, dass Madame de Staël in den Mittelpunkt ihres 1807 veröffentlichten Romans eine Intellektuelle und Künstlerin stellt, während w i r es bisher mit Frauen zu tun hatten, die allenfalls auf dem Gebiet der Liebe eigene Wünsche zu formulieren wagten. Es w i r d interessant sein, zu beobachten, welche A r t von Beziehung dieser zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch seltene Frauentyp mit dem anderen Geschlecht unterhalten kann. Der Roman 5 5 beginnt mit der Vorstellung des männlichen Protagonisten, des jungen schottischen Adligen L o r d Oswald Nelvil, der nach einer enttäuschenden Liebesaffäre mit einer berechnenden Französin und nach dem Tod seines Vaters unter Melancholie leidet und einen Erholungsurlaub i n Italien antritt. A u f der Reise gen Süden lernt er den aufgeklärt denkenden, aber oberflächlichen Comte d'Erfeuil kennen; der Franzose dient der A u t o r i n zur kontrastiven Betonung von Oswalds romantischem Gemüt, das u. a. i m Genuss der Landschaft zum Ausdruck k o m m t . 5 6 I n Rom wohnt Oswald der unter großem Publikumsandrang vollzogenen Dichterkrönung Corinnes bei, die als antike Sibylle gekleidet in einem Triumphzug vor dem Kapitol ankommt, w o ihr diese Ehrung zuteil wird. Die 54
»La religion n'exige point de sacrifice plus qu'humain.« Atala (a. a. O.), 104.
55
Zur Interpretation (Berücksichtigung des Gender-Aspekts nur am Rande): Béatrice Didier, Commentaire de »Corinne ou l'Italie« de Madame de Staël (Paris 1999). 56 »La disposition qui fait admirer un beau pays et sentir son charme pittoresque«; Madame de Staël, Corinne ou l'Italie (Paris 1999, 1 1807), 37.
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Erzählerin hebt die Durchbrechung der üblichen Geschlechterrollen hervor: Oswald sei in seiner Heimat schon oft Zeuge öffentlicher Würdigungen verdienter Männer geworden, dieses Spektakel in Rom zugunsten Corinnes sei aber die erste Ehrung einer Frau gewesen, die er beobachten konnte. 5 7 Wenig später erhält Oswald die Gelegenheit dazu, einer Abendgesellschaft in Corinnes Salon beizuwohnen; der dort von ihm beobachtete zwanglose U m gang der Protagonistin mit zahlreichen gebildeten und gesellschaftlich bedeutenden Männern ist unverkennbar Madame de Staëls eigenem berühmten Salon i m schweizerischen Coppet nachgebildet. 58 O b w o h l Oswald die intellektuelle Brillanz Corinnes bewundert, fragt er sich doch, ob es überhaupt möglich sei, eine Liebesbeziehung mit einer derart außergewöhnlich begabten Frau einzugehen - ein erstes Anzeichen, dass für Oswald die Durchbrechung der traditionellen Geschlechterrollen ein ernsthaftes Problem darstellt: Oswald était tout à la fois surpris et charmé, inquiet et entraîné; il ne comprenait pas comment une seule personne pouvait réunir tout ce que possédait Corinne. [ . . . ] Cependant elle s'arrêtait quelquefois dans les moments où sa conversation était la plus brillante, étonnée du calme extérieur d'Oswald, ne sachant pas s'il l'approuvait ou s'il la blâmait secrètement. [ . . . ] Oswald était trop captivé par les charmes de Corinne pour se rappeler alors ses anciennes opinions sur l'obscurité qui convenait aux femmes; mais il se demandait si l'on pouvait être aimé d'elle. [ . . . ] Pouvait-on espérer de captiver jamais un génie doué de si brillantes ailes? 59
Außerdem muss Oswald ständig an seinen verstorbenen Vater denken, dessen zu Lebzeiten geäußerte Wünsche er bei der Auswahl seiner künftigen Gattin respektieren w i l l . 6 0 Erneut stoßen w i r hier auf eine Einschränkung der freien Partnerwahl aus Respekt vor der elterlichen Autorität. Auch die Bekannten der beiden Protagonisten raten von einer möglichen Verbindung ab; bei Oswald ist es der rationalistisch eingestellte und daher der Macht der Liebe gegenüber verständnislose Comte d'Erfeuil, der ihn vor der extravaganten Künstlerin warnt: Épouser Corinne, interrompit le comte d'Erfeuil en riant aux éclats, oh, cette idée-là ne me serait jamais venue! Croyez-moi, mon cher Nelvil, si vous voulez faire des sottises, faites-en qui soient réparables; mais pour le mariage i l ne faut jamais consulter que les convenances. 61 57
»c'était pour la première fois qu'il était témoin des honneurs rendus à une femme, à une femme illustrée seulement par les dons du génie«; Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 53. 58
Zur Biographie der Autorin: Corinne Pulver, Madame de Staël (München 1980).
59
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 7 6 - 7 7 .
60
»Oh! mon père, disait Oswald, si vous aviez connu Corinne, qu'auriez-vous pensé d'elle?« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 77. 6
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.),
.
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Corinne w i r d ihrerseits von dem mit ihr befreundeten Prinz Castel-Forte darauf hingewiesen, dass Oswald zwar dasselbe romantische Gemüt wie sie aufweise, dass ihm aber ihre Entschlossenheit fehle, sich über gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen, an die er als konservativ erzogener Engländer besonders stark gebunden sei: C'est, j'en conviens, répondit le prince Castel-Forte, un homme fier, généreux, spirituel, sensible même, et sur-tout mélancolique; mais je me trompe fort, ou ses goûts n'ont pas le moindre rapport avec les vôtres. [ . . . ] Les obstacles le fatigueraient, son âme a contracté, par les chagrins qu'il a éprouvés, une sorte de découragement qui doit nuire à l'énergie de ses résolutions; et vous savez d'ailleurs combien les Anglais en général sont asservis aux mœurs et aux habitudes de leur pays. 6 2
Corinne nimmt sich die Bedenken Castel-Fortes zu Herzen, zieht daraus aber einzig den Schluss, Oswald stärker an die freie Lebensart der Italiener gewöhnen zu wollen, in der uneingestandenen Hoffnung, dadurch seine Auffassungen den ihrigen annähern zu können. Deshalb schlägt sie ihm vor, mit ihr zusammen Rom anzuschauen; sie wolle ihm gerne als Reiseführerin dienen. Oswald nimmt dieses Angebot an und legt damit vorerst auch jene Zögerlichkeit ab, die er bis dahin gegenüber Corinne gezeigt hatte; nun lässt er erstmals seinen Gefühlen freien Lauf und fühlt sich innerlich wie neugeboren. Die beiden unterhalten sich über die Liebe, und Corinne gesteht, bisher noch nicht den richtigen Mann für eine Beziehung gefunden zu haben, was implizit wieder auf die Schwierigkeiten einer Intellektuellen in der damaligen Gesellschaft verweist. O b w o h l sich Oswald stark zu ihr hingezogen fühlt, hegt er insgeheim doch kulturell bedingte Zweifel, ob Corinne wirklich zu ihm passt; er kann sich von dem konventionellen Frauenideal nicht lösen, dem die ängstliche Einfalt der jungen Lucille entspricht, die dereinst sein Vater für ihn als künftige Ehefrau bestimmt hatte. 6 3 Auch später - Oswald und Corinne sind einander in der Zwischenzeit innerlich immer näher gekommen - erinnert er sich an seine vermeintliche Pflicht gegenüber seinem verstorbenen Vater, was Julies und Atalas gefühlswidrigem Verhalten nach dem Tod ihrer Mütter ähnelt und wiederum für den sozialen Druck auf die Geschlechterrelationen steht: Bien qu'il n'eût pas donné sa parole d'épouser Lucile Edgermond, il savait que l'intention de son père avait été de la lui donner pour femme, et il désirait s'y conformer. Enfin Corinne [ . . . ] menait, depuis plusieurs années, une vie beaucoup trop indépendante; un tel mariage n'eût point obtenu (lord N e l v i l le croyait) l'approbation de son père. 6 4
62
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 90.
63
»11 se dit en lui-même: - C'est la plus séduisante des femmes, mais c'est une Italienne; et ce n'est pas ce cœur timide, innocent, à lui-même inconnu, que possède sans doute la jeune Anglaise à laquelle mon père me destinait.« Corinne ou, l'Italie (a. a. O.), 94. 64
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 124.
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Während sie weitere Sehenswürdigkeiten der Ewigen Stadt besichtigen, bemerkt Corinne, die idyllische Umgebung Italiens trage viel zur Entfaltung der dort lebenden Menschen bei: »la nature en Italie fait plus rêver que par-tout ailleurs«. 65 Hier finden w i r die Rousseausche »rêverie«, die i n dem Roman der Madame de Staël genauso an ein »asile naturel« gebunden ist wie beim Vorläufer aus Genf; auch bei Bernardin de Saint-Pierre und bei Chateaubriand war es ja eine natürliche Umgebung, welche die Entfaltung der idealen Liebe ermöglicht hatte. Als Oswald von seinen Gefühlen für sie spricht, äußert Corinne bereits - berechtigte - Zweifel an deren Dauerhaftigkeit und den Wunsch, das Ende ihrer Liebesbeziehung nicht zu überleben; ein prophetischer Vorgriff auf das Ende des Romans. 6 6 Corinnes Unkonventionalität zeigt sich erneut, als sie nicht zögert, Oswald einen Besuch in seiner römischen Wohnung abzustatten, was in der damaligen Zeit für unverheiratete Frauen als unschicklich galt; 6 7 das Ausleben ihrer Gefühle ist ihr - i m Unterschied zu Oswald - wichtiger als die Normen der Gesellschaft. Nachdem Oswald ihr i m zwölften Buch des Romans seine gesamte Vorgeschichte erzählt hat, entschließt sich Corinne i m vierzehnten Buch endlich auch dazu, ihm ihre Herkunft zu offenbaren. Sie ist die Tochter Lord Edgermonds aus dessen erster Ehe mit einer Italienerin - somit die Halbschwester von Lucile - und in dem Land ihrer Mutter aufgewachsen, bevor sie i m Alter von fünfzehn Jahren die Reise nach England antreten musste. Gewohnt an das freie Leben und die natürlichen Sitten in Italien, konnte Corinne sich nur schwer an ihre neue Heimat England gewöhnen; dass ihr eigenes Denken und Verhalten nicht dem dort gültigen konservativen Rollenmodell für die Frau entsprach, löste Selbstzweifel in ihr aus: Je me demandais si ce n'était pas moi dont la manière de penser était une folie; et si cette existence toute solide qui échappe à la douleur comme à la pensée, au sentiment comme à la rêverie, ne valait pas beaucoup mieux que ma manière d'être. 6 8
Sehr bald jedoch erkannte Corinne, dass sie als emanzipierte junge Frau zwar eine Ausnahme darstellte, aber ihr Wunsch nach Selbstverwirklichung dennoch 65
Corinne OH l'Italie
(a. a. O.), 141.
66
»Puisse ce sentiment que je vous inspire aujourd'hui durer autant que ma vie, dit Corinne, ou du moins puisse ma vie ne pas durer plus que lui!« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 141. 67 »Lord N e l v i l comprit tout ce qu'elle venait de hasarder pour le voir, [ . . . ] s'exagérant les conséquences de cette action qui, en Angleterre, aurait entièrement perdu de réputation une femme et à plus forte raison une femme non mariée.« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 206. 68
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 365.
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berechtigt war: »Qu'est-ce donc que le bonheur, me disais-je, si ce n'est pas le développement de nos facultés. N e vaut-il pas autant se tuer physiquement que moralement?« 69 Hiermit w i r d i m Hinblick auf das Romanende vorweggenommen, dass Corinnes Lebenswille versiegen wird, sobald ihr das von ihr angestrebte Glück nicht mehr möglich erscheint. Dass die jugendliche Corinne nicht den Erwartungen der englischen Gesellschaft entsprach, zeigte sich, als sie aufgrund ihres ungewöhnlichen Charakters von Lord Nelvil - dem Vater Oswalds - explizit als künftige Schwiegertochter abgelehnt wurde. Sie lehnte ihrerseits einen möglichen Bräutigam trotz seines Vermögens ab, weil er intellektuell nicht einmal annähernd auf ihrem Niveau war. Als Corinne das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatte, entschloss sie sich zur Rückkehr nach Italien. Sie beendet ihre an Oswald gerichtete Lebensbeichte mit der bitteren Feststellung, lange Zeit habe sie geglaubt, aus eigenem Verschulden niemals einen passenden Mann finden zu können; inzwischen habe sie jedoch erkannt, dass hieran die Gesellschaft schuld sei, die den Frauen die gleiche intellektuelle Bildung wie den Männern vorenthalte: »Si la société n'enchaînait pas les femmes par des liens de tout genre dont les hommes sont dégagés, qu'y aurait-il dans ma vie qui pût empêcher de m'aimer?« 7 0 Corinne lehnt es ab, ihren Geliebten durch den von ihm empfangenen Verlobungsring moralisch an sich zu ketten; sobald seine Gefühle für sie am Erkalten seien, werde er auch den Ring von ihr zurückerhalten, 71 wenngleich sie befürchte, ohne seine Liebe nicht leben zu können. Corinnes Verzicht auf den Schutz »des Eheversprechens - »je ne connais pour l'amour ni promesse ni garantie« 72 - und die damit einhergehende Versorgung bedeutet in einer Zeit, in der die wenigsten Frauen ein eigenes Auskommen hatten, einen besonders mutigen Schritt. Als es nach einer Reihe von Verwicklungen, die hier nicht i m einzelnen nacherzählt werden können, tatsächlich in England zur Hochzeit Oswalds mit Lucile kommt, die dem traditionell-unintellektuellen Frauenideal entspricht, zieht Corinne sich in ein Landhaus in der Nähe von Florenz zurück, w o sie - deren vorherrschende Gemütsstimmung zuvor ein edler Enthusiasmus gewesen war - nunmehr in eine schwere Melancholie voll dunkler Todesahnungen verfällt. 69
Corinne OH l'Italie
70
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 365. (a. a. O.), 388-89.
71 »Oswald, vous êtes libre; quand vous le désirerez, votre anneau vous sera rendu.« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 389. 72
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 390.
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Als Oswald nach einigen Jahren seine frühere Geliebte in Italien besuchen will, um sich mit ihr auszusprechen, 73 lehnt Corinne ein Wiedersehen mit ihm zunächst ab. Gegenüber ihrem Bekannten, dem Prinz Castel-Forte, klagt sie, dass sie dazu bereit gewesen sei, ihrer Liebe zu Oswald alles andere zu opfern, dieser jedoch nicht den M u t dazu gehabt habe, sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen zu stellen und den für ihn bequemeren Weg gewählt habe: J'avais pour Oswald autant d'enthousiasme que d'amour. [ . . . ] I l a flétri l'objet de mon culte. [ . . . ] Qu'a-t-il fait pour moi? peut-il se vanter d'un sacrifice, d'un mouvement généreux? I l est heureux maintenant, i l possède tous les avantages que le monde apprécie; moi je me meurs, qu'il me laisse en paix. 7 4
Dies lässt sich zur Geschlechterhypothese verallgemeinern, die Liebe der Frauen sei unbedingter als die der Männer; in einer Epoche wie der Romantik, in der die Gefühle das höchste Gut sind, erscheinen die Frauen dadurch als die besseren Menschen. Vor ihrem Tod freundet sich Corinne jedoch noch mit Oswalds Gattin L u cile und deren Töchterchen Juliette 7 5 an; sie versucht, beiden noch etwas von ihrem eigenen Charakter mitzugeben. 7 6 Das Resultat dieses verblüffenden weiblichen Bündnisses könnte ein neuer Frauentyp sein, eine Mischung aus Corinnes intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten mit den eher traditionellen Eigenschaften Luciles. 7 7 M i t diesem Romanende schien Madame de Staël ihrem eigenen Geschlecht einen Weg für die Zukunft aufzeigen zu wollen, nachdem sie selbst als emanzipierte Frau neben viel Bewunderung auch viel Ablehnung hatte erfahren müssen.
73 Dass die Entscheidung für die konventionelle Lucile und gegen die brillante Corinne für Oswald aber endgültig ist, zeigt sich auf einem Zwischenstopp in Bologna, w o er in einer Gemäldegalerie eine Sybille mit einer Madonna vergleicht und sich für letztere entscheidet: Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 561-562. 74
Corinne ou l'Italie
(a. a. O.), 565.
75
Der Name Juliette verweist als D i m i n u t i v einerseits auf Rousseaus Julie, andererseits aber auf die weibliche Hauptrolle in Shakespeares Liebestragödie Roméo et Juliette; bei einer Laienaufführung in Rom hatte Oswald Corinne diese Rolle spielen sehen, so dass er ihr mit dem Name seiner Tochter eine heimliche Reverenz erwies. 76
Z u Lucile sagt Corinne: »Je dois bientôt mourir, mon seul désir personnel est encore qu'Oswald retrouve dans vous et dans sa fille quelques traces de mon influence.« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 579. 77 Dies spricht wiederum Oswalds frühere Geliebte gegenüber seiner jetzigen Ehefrau sehr deutlich aus: »Ii faut que vous soyez vous et moi tout à la fois.« Corinne ou l'Italie (a. a. O.), 578.
Geschlechterrelationen in der französischen Romantik
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IV. Schlusswort Es konnte gezeigt werden, dass Rousseaus bahnbrechende Julie und die in deren Nachfolge stehenden frühromantischen Werke von Bernardin de SaintPierre, Chateaubriand und Madame de Staël eine Reihe die Geschlechterrelationen betreffender Eigenschaften gemeinsam haben. A n erster Stelle ist hier der Kontrast zwischen (positiv bewerteter) Natur und (negativ bewerteter) Zivilisation zu nennen, wobei nur die natürliche Umgebung die freie Entfaltung der Gefühle und insbesondere der Liebe erlaubt, wohingegen die moderne Gesellschaft mit ihren rationalen Zwängen die Menschen unglücklich macht ein evidentes Erbe der Rousseauschen Aufklärungskritik und zugleich zentrale Prämisse des romantischen Paradigmenwechsels. Leidtragende der sozialen Konventionen, als deren hauptsächliche Repräsentanten Eltern und Kirchenvertreter erscheinen, sind in den ausgewählten Erzähltexten die Frauen: Genauso wie Julie sterben auch Virginie, Atala und Corinne einen symbolischen Tod als Märtyrerinnen der Liebe. 7 8 Dass Sophie, die Gefährtin Émiles, kein derartiges Schicksal erleidet, liegt daran, dass Rousseau in seinem fiktionalisierten Erziehungstraktat die schädlichen Einflüsse der Zivilisation gerade von seinen Protagonisten fernhalten wollte, so dass es hier zu keinem tragischen Ende k o m m t . 7 9 Von einem Wandel der Geschlechterrelationen innerhalb der französischen Romantik kann man insofern sprechen, als am Ende dieser chronologischen Serie von Liebespaaren das Paar Oswald / Corinne steht, und in dieser Liebesbeziehung die Frau dem Mann in jeder Hinsicht - Verstand, Gefühl, Entschlusskraft - überlegen ist. Weil sie auch konsequenter als Oswald für ihre Uberzeugungen einsteht, findet sich Corinne nicht mit dem Scheitern ihres Liebesideals ab und entzieht sich durch den Tod einer Gesellschaft, welche für Frauen ihrer Qualität noch kein Verständnis aufbringen kann. Somit kann man der zu Beginn dieses Beitrags zitierten Lori J. Marso zustimmen und ihr Urteil gleichzeitig auf die Romantik ausdehnen: N i c h t nur bei Rousseau, sondern auch in der gesamten Romantik sind die Frauen die besseren Liebenden und 78
Dass bei Julie ein Badeunfall ihrem Tod vorausgeht, bei Virginie der Schiffsuntergang die sichtbare Ursache ist und Atala sich vergiftet, hängt mit der Logik der Handlungsführung zusammen bzw. mit dem Bestreben der Autoren, ihre Heldinnen nicht nur an gebrochenem Herzen sterben zu lassen, was für viele Leser unglaubwürdig gewesen wäre. Alle haben jedoch zuvor unter zivilisationsbedingten Hindernissen für ihre Liebe gelitten, so dass sie alle bereits seelisch zerrüttet sind, bevor die vordergründige Todesursache eintritt. 79 Das gilt nur für das von Rousseau zu Lebzeiten abgeschlossene Werk Emile OH De VédHcation; in dessen wenig bekannter und überdies Fragment gebliebener Fortsetzung - posthum erschienen unter dem Titel Émile et Sophie - kommt es dann doch noch zu tragischen Verwicklungen, denn unter dem Einfluss der korrupten Sitten der Großstadt Paris w i r d Sophie ihrem Émile untreu. Womöglich hätte auch hier die weibliche Hauptfigur sterben müssen, falls Rousseau dieses Werk hätte vollenden können.
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Thomas Stauder
werden dadurch innerhalb des neuen Wertesystems der Epoche als die wertvollsten Vertreter des Menschengeschlechts dargestellt - eine eindeutig emanzipatorische Botschaft.
Die Himmelfahrt der morschen Trümmer: Schuld und Heilung im Geistlichen Jahr der Droste 1 V o n Marius
Reiser
W i r Europäer befinden uns i m Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt, w o einiges noch hoch ragt, w o vieles morsch und unheimlich dasteht, das meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug - w o gab es je schönere Ruinen? - und überwachsen mit großem und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: w i r sehen die religiöse Gesellschaft des Christentums bis in die untersten Fundamente erschüttert, - der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. 2 D i e s e Z e i t d i a g n o s e stellt F r i e d r i c h N i e t z s c h e i m Jahr 1881. D i e D r o s t e hat s c h o n J a h r z e h n t e f r ü h e r i m w e s e n t l i c h e n g l e i c h geurteilt. D e n n was ist i m » G e i s t l i c h e n Jahr« anderes geschildert als eine » T r ü m m e r w e l t « v o l l e r R u i n e n , » w o vieles m o r s c h u n d u n h e i m l i c h dasteht«, » ü b e r w a c h s e n m i t g r o ß e m u n d k l e i n e m U n k r a u t e « ? U n d die E r f a h r u n g des » t o t e n « G o t t e s u n d der d a m i t untergegangenen »Sonne« hat die D r o s t e lange v o r N i e t z s c h e g e m a c h t u n d m i t genau diesen M e t a p h e r n b e s c h r i e b e n . 3 D i e D i c h t e r i n w u ß t e sehr w o h l , daß i h r e H e i m a t , die f r o m m e , k l a r e , 4 n u r eine E n k l a v e w a r , e i n »kleiner, g r ü n e r F l e c k « , 5 aber w i e lange n o c h ? D i e D r o s t e u n d N i e t z s c h e w a r e n sich n i c h t n u r i n der D i a g n o s e der r e l i g i ösen S i t u a t i o n E u r o p a s einig, sie w a r e n i n v i e l e r H i n s i c h t v e r w a n d t e Geister.
1 Vortrag bei der Matinee zum Geburtstag der Droste am 15. Januar 2006 i m Rathausfestsaal der Stadt Münster. 2
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche
3
Wissenschaft
Nr. 358 (Schlechta II), 229 f.
25. S. n. Pf. 5f; M . Verk. 4. Vgl. Marius Reiser, »Das Herz war willig, nur der K o p f war schwach.« Die geistliche Not der Annette von Droste-Hülskoff Erbe und Auftrag 80 (2004), 363-384, hier 378 f. (zum »toten« Gott); Marius Reiser, »Sprache und religiöser Gehalt i m »Geistlichen Jahr« der Droste«, in: M . Meisig (Hg.), Religiosität und Sprache I, Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 18 (Münster 2006), 108 (zur untergegangenen Sonne). 4
Vgl. 21. S.n. Pf. 43.
5
Vgl. 26. S. n. Pf. 26.
270
Marius Reiser
Beide waren sie empfindsam, hellsichtig, scharfsinnig und radikal. 6 Beide waren musikalisch und haben komponiert. Beide waren einsame Grübler, versunken in unzeitgemäße Betrachtungen und zu Lebzeiten ohne publizistischen Erfolg. Beide gingen durch eine harte Schule des Leidens, geistig wie körperlich. U n d beide reden davon mit einer Metaphorik und Symbolik, die sich in der Vision einer geistigen Landschaft präsentiert. 7 Die Ähnlichkeit ihrer geistigen Landschaften ist frappierend, wie w i r schon an der »Trümmerwelt« bemerkt haben. I n einer anderen Zeitdiagnose Nietzsches steht der Satz: »Die Gewässer der Religion fluten ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück«. 8 »Ihr w o l l t nie mit euch unzufrieden werden,« schreibt Nietzsche an die Adresse seiner Zeitgenossen, »nie an euch leiden, - und nennt dies euren moralischen Hang! [ . . . ] Glaubt ihr denn, daß w i r Andersgesinnten der reinen Narrheit halber uns der Reise durch die eigenen Oden, Sümpfe und Eisgebirge aussetzen und Schmerzen und Überdruß an uns freiwillig erwählen, wie die Säulenheiligen?« 9 Die »Oden, Sümpfe und Eisgebirge« findet man auch i m »Geistlichen Jahr« als Seelenlandschaften wieder. U n d natürlich gehören in dieses Umfeld bei der Droste wie bei Nietzsche auch die »Wüste« und das »Meer« samt dem »Schiffbruch«. 1 0 Die Droste ging zunächst einen ähnlichen religiösen Weg wie Nietzsche, bis hin zu dem Punkt, an dem ihr der »Unglaube wie die Sonne klar« erschien (25. S. n. Pf. 30). Genau an diesem Punkt aber gehen ihre Wege auseinander. Während Nietzsche den Weg zum Antichristen nahm, rang sich die Droste erneut durch zum Glauben ihrer Kindheit, so daß sie Gebetsworte schreiben konnte wie diese: Fluch allem, was von dir mich stößt! Dein w i l l ich sein, von dir nur stammen. Viel lieber sollst du mich verdammen, Als daß ein andrer mich erlöst. 11
6 A u f Parallelen zwischen der Droste und Nietzsche hat Karl Klein hingewiesen, Der Glaube an der Wende der Neuzeit (Paderborn 1962), 246-346. Aber die Sache verdiente eine gründliche Behandlung. 7 Karl Schlechta bemerkt i m Nachwort seiner dreibändigen Nietzsche-Ausgabe, es sei »gerade bei Nietzsche erlaubt, von einer geistigen Landschaft zu sprechen, da sich bei ihm entscheidende Gespräche und Selbstgespräche, i h m allein und besonders eigentümliche Vorstellungen immer wieder in der Vision einer ganz bestimmten, durchaus adäquaten Landschaft präsentieren« ( I I I 1436). Das gilt auch von der Droste. 8
Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher (Schlechta I ) , 312.
9
Friedrich Nietzsche, Morgenröte Nr. 343 (Schlechta I), 1202.
10
Zur Wüstenmetaphorik vgl. Karl Klein, Der Glaube an der Wende der Neuzeit (München 1962), 261 - 2 6 6 ; Marius Reiser, Sprache und religiöser Gehalt, 112. 114 f. 11
l . S . n . Pf. 3 7 - 4 0 .
Die Himmelfahrt der morschen Trümmer
271
Diesen Ton einer wilden Entschlossenheit finden w i r öfters wieder i m »Geistlichen Jahr«. So schreibt jemand, der die Alternative kennt. Das ist nicht unwesentlich. Denn nach Nietzsche müßten die ernsten Christen »einmal auf längere Zeit versuchsweise« ohne Christentum leben, »einmal auf diese A r t einen Aufenthalt >in der WüsteDie Vergeltung*«, in: E. Ribbat (Hg.), Dialoge mit der Droste (Paderborn 1998), 165-183. Von einer »deterministischen Ordnung« (ebd. 182) oder einer »anonymen Vergeltungsordnung« (ebd. 183) kann i m Fall der Droste keine Rede sein. Vgl. die Deutung bei Wolf, Wesen, 271 - 2 8 6 (»Vom Sinn der Strafe«). Zur bibelwissenschaftlichen Diskussion vgl. M . Rösel, A r t . »Tun - Ergehen - Zusammenhang«, Neues Bibel-Lexikon, 3 (2001), 931 - 9 3 4 . I n diesen Kontext gehört auch »Die Judenbuche«.
Die Himmelfahrt der morschen Trümmer
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Kreatur«. Daß dies auch das Hauptthema des »Geistlichen Jahrs« ist, beweist schon die Allgegenwart der Begriffe Sünde und Schuld, die in kaum einem der 72 Gedichte dieses Zyklusses fehlen. U n d es kommt w o h l nicht von ungefähr, daß unter den Liedkompositionen der Droste das Harfner-Lied aus Goethes »Wilhelm Meister« (»Wer nie sein Brot mit Tränen aß«) besonders gelungen ist. Die Schlußzeile dieses Liedes könnte man leicht mit Werken der Droste illustrieren: »Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.« N i m m t man die genannten Werke zusammen, so sind darin alle Dimensionen unserer Thematik vertreten und entfaltet, die geistliche, die moralische und die soziale. Selbst vor den schwierigsten theologischen Aspekten des Gegenstands schreckte die Dichterin nicht zurück, ja auf diesem Terrain gelangen ihr ihre eindrucksvollsten Werke, unter die ich die drei genannten späten Dichtungen zähle und den Zyklus des »Geistlichen Jahrs«. Dabei bleibt die Dichterin mit unfehlbarem Gespür überall i m Rahmen dessen, was der Theologe die Regula fidei nennt, d. h. des verbindlichen kirchlichen Glaubens, dessen Kern das Credo bildet. Das gilt auch von ihren kühnsten Aussagen. I n der germanistischen Literatur werden der Droste zwar immer wieder unorthodoxe oder gar »ketzerische« Aussagen und Ansichten zugeschrieben. Diese Zuschreibungen beruhen aber auf einer falschen Vorstellung von Katholizismus und Orthodoxie bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren. 1 9 Von dogmatischer Seite jedenfalls stünde einer Heiligsprechung der Droste nichts entgegen. Da fehlen höchstens die Wunder. I m »Geistlichen Jahr« nun geht es, dem Bekenntnischarakter des Zyklusses entsprechend, nicht so sehr u m Schuld und Sühne i m allgemeinen, als u m die ganz persönlichen Sünden der Dichterin, ihre Reue, Scham und Buße einerseits, ihre Hoffnung auf Gottes Gnade und Vergebung andererseits. Forschungen haben erwiesen, daß dabei ein Liebesverhältnis eine besondere Rolle spielt, das aufgrund einer üblen Intrige ein plötzliches Ende fand, gerade zu der Zeit, als die Droste am ersten Teil des »Geistlichen Jahrs« arbeitete. Die Hauptrolle bei der Intrige spielte August von Arnswaldt, der ihre Liebe zu Heinrich Straube auf die Probe stellen sollte. Arnswaldt erreichte tatsächlich eine zeitweilige Gefühlsverwirrung bei der Droste und kündigte ihr daraufhin zusammen mit Straube die Freundschaft auf. Diesen Ausgang ihrer Beziehung zu Heinrich Straube hat die Droste lebenslang als eigene Schuld empfunden. 20 Eine deut19 Gerade unter Gebildeten, die sich nicht als Christen verstehen, verwechselt man die Lehre der Katholischen Kirche gern mit einer starren Doktrin. Wo es u m Orthodoxie geht, können jedoch nur für verbindlich erklärte Glaubenssätze betroffen sein. U n d deren Zahl ist nicht groß. 20 Z u der Nachgeschichte und der Wandlung, die die Droste aufgrund dieser Erfahrung durchgemacht hat vgl. W. Gödden, »Ein neues Kapitel Droste-Biographie«, Droste-JahrW / 7 , 1 (1986/87) 157-172.
18 Literaturwissenschafriiches Jahrbuch, 48. Bd.
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Marius Reiser
liehe Anspielung darauf stellt eine Strophe des Gedichts auf den ersten Fastensonntag dar, an dem die Kirche traditionell das Evangelium von der Versuchung Christi liest: Laß mich, Herr, es immerdar empfinden, Wie ich tief gesunken unter allen, Laß mich nicht zu allen meinen Sünden N o c h in frevelhafte Torheit fallen! Meine Pflichten stehen über vielen, Unter allen meiner Tugend Kraft. Ach, ich mußte w o h l die Kraft verspielen I n dem Spiel mit Sünd und Leidenschaft! 21
Das Spiel mit »Sünd und Leidenschaft« begreift die Dichterin als eine Versuchung, der sie nicht gewachsen war, die ihr vielmehr zeigte, wie »schwach« ihre Kraft war. 2 2 Dafür möchte sie nun, wie es in der Strophe zuvor heißt, »wie u m große Fehle /büßen« (51 f.). Dieses selbstgewählte Büßen fiel, wie w i r wissen, unerbittlich hart aus; sie hat es zeitlebens empfunden, wie tief sie gesunken war, wenigstens in ihren eigenen Augen. Darin zeigt sich ein Charakterzug der Droste: die Unnachsichtigkeit sich selbst gegenüber, wenn es auch nur u m das kleinste Versagen geht. Dieser Charakterzug äußert sich in den penetranten Selbstanklagen, die sich durch den gesamten Zyklus ziehen. Man hat sie immer wieder übertrieben gefunden. Selbst die Dominikanerin Mary E. Morgan spricht in ihrer Biographie der Droste von »Annette's excessive guilt-consciousness, one might call it a guilt-complex«. 2 3 N u n ist das Urteil darüber, was übertrieben ist und was nicht, naturgemäß eine Ermessenssache und abhängig von dem Maßstab, den man anlegt. Gemessen an der Nachsichtigkeit mit den eigenen Fehlern, wie sie selbst unter Christen heute üblich ist, muß die Haltung der Droste natürlich als übertrieben skrupulös gelten. Aber das ist nicht ihr eigener Maßstab. Ihr eigener Maßstab ist vielmehr der des katholischen Katechismus, in dem es bis heute heißt: »Alle Gläubigen sind zur christlichen Heiligkeit berufen.« 24 Heiligkeit ist ihr Maßstab, und in den Schriften und Biographien der Heiligen findet man denn auch leicht die entsprechenden Analogien zum angeblich übersteigerten Schuldbewußtsein der Droste und seinen typischen Äußerungen. I n ihr war »das christlich-asketische Ideal«, von dessen »letztem Kampf« Nietzsche i m Eingangszitat spricht, eben noch ganz lebendig. Übrigens deutet sie selbst den entscheidenden Punkt an, wenn sie in einer Gebetsstrophe schreibt: 21
1. FS 5 7 - 6 4 .
22
Vgl. V. 15: »Ach, der eignen schwachen Kraft gelassen [ . . . ] « . Vgl. Fastn. 46 f.: »da ich in meiner Kräfte üppgem Prangen / E i n furchtbar blendend Licht geduldet [ . . . ] « . 23
M . E. Morgan, Annette von Droste-Hülshof f. A Biography ( N e w York / Bern / Frankfurt am Main 1984), 54. 24
»Kompendium«, Katechismus der Katholischen Kirche (Bonn 2005), 151 (§ 428).
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U n d hast Gewissens Stachel du M i r auch vielleicht geschärft als andern mehr: Ich werd es büßen, Dringt nicht der rechte Stich hinzu, Der Freiheit gibt dem warmen, reinen Meer, Daraus die echten Reuetränen fließen. 25
Die Dichterin weiß, daß sie sich ein Gewissen macht, w o andere mit einem Schulterzucken fertig werden. Aber sie meint, sie müßte »es büßen«, hielte sie es anders. Die einfache Begründung dafür liefert ein Buch, das die Droste sehr geschätzt hat, die Imitatio Christi des Thomas von Kempen. Darin heißt es lapidar: »Niemand ist des himmlischen Trostes würdig, der sich nicht fleißig in heiliger Reue übt.« 2 6 I m Zyklus des »Geistlichen Jahrs« gibt es mehrere Gedichte, die zur Gänze unserer Thematik gewidmet sind. 2 7 I n dieser Reihe nimmt das Gedicht auf den 20. Sonntag nach Pfingsten eine besondere Stellung ein, da es zunächst in einer A r t poetischen Meditation die Sünde und ihre Auswirkungen grundsätzlich behandelt und nur in den beiden letzten Strophen die direkte Anwendung auf ihren persönlichen Fall macht. Betrachten w i r dieses Gedicht und seine Sicht der Sünde genauer.
I I . »Vergeben leicht und Heilen schwer« Das Thema ist vorgegeben vom Evangelium. Es ist die Perikope von der Heilung des Gelähmten ( M t 9 , 1 - 8 ) oder des »Gichtbrüchigen«, ein Wort, das schon i m 18. Jahrhundert veraltet war. Diese Heilungsgeschichte hat eine Besonderheit, die sich in keiner anderen biblischen Heilungsgeschichte wiederfindet: Jesus vergibt dem Kranken zuerst seine Sünden und beweist dann, auf die empörte Reaktion der Schriftgelehrten hin (sie wenden mit Recht ein, daß er sich damit ein göttliches Privileg anmaße) durch die Wunderheilung, daß er tatsächlich Sünden vergeben kann. Als M o t t o ihres Gedichtes zitiert die Dichterin einen Großteil des biblischen Textes, der dann wie folgt kommentiert wird:
25
6. S. n. Pf. 3 1 - 3 6 .
26
Thomas Von Kempen, Nachfolge Christi, hg. u. übers. F. Eichler (München 1966), I 20, 23 (S. 91). Z u diesem Werk vgl. G. Kranz, Thomas von Kempen. Der stille Reformer vom Niederrhein (Moers 1993). Ebd. 4 3 - 5 3 auch Hinweise zur Wirkungsgeschichte. 27 So die Gedichte auf den 4., 6., 7., 12., 23., 25. S. n. Pf. A u c h das Gedicht aus dem Anhang »Als der Herr in Sidons Land gekommen [ . . . ] « gehört hierher.
18*
Marius Reiser Wenn Tau auf reifen Ähren glänzt, Die satten Körner schwellen nicht. U n d wenn den Toten man bekränzt, Die starren Pulse zucken nicht. Wenn über Trümmer geht das Licht, N i c h t eine Säule w i r d ergänzt. U n d dennoch, schau! D ü n k t reiche Gabe Licht und Kranz und Tau! So nimmer Reue mag erbaun, Was einmal Schuld gebrochen hat. U n d dennoch, Gottes Engel schaun Mitleidig auf die wüste Statt. So ragt auch w o h l ein grünes Blatt Durch eines Kerkergitters Graun Z u dem Gefangnen und Er lächelt, seine Seele w i r d gesund. O könnte alle Sünde nur Wie überm Ast der Mistel stehn, Der wurzellos durch die N a t u r Sich selber blühn darf und vergehn! D o c h wie am dürren Baume sehn Man w i r d des Schlinggewächses Spur, So ein Vampir D o r r t sie die Seele und den Körper dir. Wer frischt dir deinen Glauben auf, Versengt an ihrem Odem heiß? Wer bringt dir der Gedanken Lauf Zurück ins fromm beschränkte Gleis? U n d deiner Menschenkenntnis Eis, Den starren Strom, wer löst ihn auf, Den wahren Fluß, Der H i m m e l stets und Hölle scheiden muß? U n d was dein Körper büßte ein I n nagender Gefühle Joch, Das bleibt nun für dies Leben dein und nach dem Drüben greift es noch. U n d wie an einem Haare doch Wirst immer du gehalten sein, Wenn frischer Geist I n frischem Körper wie ein Adler kreist. Sprach doch der allertreuste Mund: »Vergeben leicht und Heilen schwer.« Das ist der Sünde alter Bund, Die zehrend wie Gomorrhas Meer
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Ertötet alle Frucht umher. U n d dennoch kann das Mark gesund, U n d himmelwärts Kann treiben seinen Zweig des Baumes Herz. O , nur Ergebung, nur Geduld! Z u tragen meiner Narben Schmach, U m was gebrochen meine Schuld, Z u trauern still und reuig nach. A u c h über mir steht ja das Dach Des Himmels und der Sonne H u l d U n d ach, der Tau, Er fällt ja auch auf meine heiße Brau! N i c h t wirst du, Herr, mich wandeln gehn, N i c h t heißen heben mich die Hand. D o c h eine Säule darf ich stehn, Ein Zeichen an dem öden Strand, U n d hoffen, daß, wenn Sonnenbrand ie morschen Trümmer ließ vergehn, A n jenem Tag Dein Strahl die Stäubchen aufwärts ziehen mag.
Der biblische Text setzt einen Zusammenhang von Sünden und körperlichen Leiden voraus. Das ist es, was die Dichterin interessiert. I n den ersten sechs Strophen ihres Gedichts w i l l sie durch Analogien, Vergleiche und Beobachtungen aus der Erfahrungswelt die zerstörenden Wirkungen der Sünde auf Seele und Körper aufweisen und verständlich machen. Dazu kommt ein zweites Motiv, nämlich anzudeuten, wie es zu einer Heilung oder mindestens Besserung der durch die Sünde angerichteten Schäden kommen kann, und zwar ohne ein eigens gewirktes Wunder. Gehen w i r die einzelnen Strophen durch und versuchen w i r den Gedankengang möglichst genau zu erfassen. Die erste Strophe setzt unvermittelt ein mit einem Sachverhalt, der an drei Phänomenen exemplifiziert wird, nämlich der verklärenden und tröstlichen Wirkung von Akzidentien, die an der Tatsache selbst nichts ändern. Besonders eindrucksvoll ist das Phänomen des Lichts, das über ein antikes Trümmerfeld mit Säulentrommeln geht. (Ob die Dichterin je eines gesehen hat?) Wer es erlebt hat, kann die frappierende Wirkung bestätigen. Entsprechendes gilt vom Tau auf reifen Ähren und vom Totenschmuck. Die zweite Strophe wechselt mit zwei weiteren Beispielen von der physischen zur moralischen Welt. Sowenig wie das Licht Trümmer wiederherstellen kann, sowenig ändert Reue an dem durch Schuld angerichteten Schaden. U n d doch sieht die Sache gleich anders aus, wenn der Schuldige Einsicht und Reue zeigt. Das zweite Beispiel mit dem Gefangenen, dessen Seele gesundet durch ein »grünes Blatt«, das durch sein Kerkergitter ragt, mag etwas unrealistisch
278
Marius Reiser
scheinen, aber das »grüne Blatt« ist als Symbol der Hoffnung zu verstehen. 28 I m Bild des Gefangenen hat die Droste w o h l sich selbst gesehen, und vielleicht ist hier sogar eine Anspielung auf den Wappenspruch der Familie Droste zu Hülshoff versteckt: »E carcere coelestia appeto« »Aus dem Kerker begehre ich nach dem Himmlischen«. Die dritte Strophe w i l l die Natur der Sünde selbst beschreiben. Das geschieht durch einen eindrucksvollen antithetischen Vergleich aus dem Bereich der Botanik. Gegenübergestellt werden Mistel und Schlinggewächs. 29 Die Mistel - bei der Droste männlichen Geschlechts - gedeiht auf einer Wirtspflanze, ohne dieser merklich zu schaden. Denn sie entzieht dem W i r t durch die sogenannten Haustorien lediglich Wasser und Nährstoffe, aber keine Assimilate, da sie über ihre grünen Blätter selbst Kohlenstoff assimilieren kann. Die Wirtspflanze w i r d dort, wo der Mistelbusch wächst, zwar keine Frucht tragen, aber sie stirbt nicht ab. 3 0 M i t dem »wurzellos sich selber blühn« könnte auf die sogenannten Rindenwurzeln und Haustorien angespielt sein (falls die Droste davon wußte). Wahrscheinlich bezieht sich diese Wendung aber nur allgemein darauf, daß die Mistel nicht i m Boden verwurzelt ist. Bei dem Schlinggewächs kann man an Efeu oder die Waldrebe denken, am ehesten aber an das Windende Geißblatt. Waldrebe und Geißblatt sind extrem lästige Forstunkräuter. Sie werden mehrere Meter hoch, schnüren die jungen Pflanzen völlig ein, erdrücken sie und ziehen sie zu Boden. Man spricht deshalb von »Baumwürgern«. 31 »Des Schlinggewächses Spur« sieht man vor allem am Windenden Geißblatt (Lonicera periclymenum), dessen windender Sproß sich derart u m die Trägerpflanze schlingt, daß sich ihre Windungen dem H o l z der Trägerpflanze einprägen. Der Vergleich soll besagen, daß die Sünde nichts Harmloses ist, das wie die Mistel »sich selber blühn darf und vergehn«, sondern ein Schlinggewächs und ein Vampir, der Seele und Körper aussaugt. Diese Beurteilung der Sünde erklärt den unnachsichtigen Kampf der Droste dagegen, zumindest bei sich selber. I n diesem Zusammenhang ist eine Mitteilung über die Droste erwähnenswert, die Luise von Bornstedt macht. Unter mancherlei Ungereimtem, das 28
Vgl. 25. S. n. Pf. 70; 27. S. n. Pf. 30.
29
Die folgenden Ausführungen basieren teilweise wörtlich auf brieflichen Auskünften, für die ich meinem Freund Hans-Dieter Stoffler, Professor für Forstwirtschaft a.D. und Botaniker, herzlich danke. Eine »Unstimmigkeit des Bildes«, von der W. Woesler mit Bezug auf G. Häntzschel spricht ( H K A I V / 2 , 525), kann ich nicht entdecken. 30 31
Vgl. W. Troll, Allgemeine Botanik (Stuttgart 1973), 525-527 (mit Abb.).
Ebd. 811. D o r t 807-813 zu den Windepflanzen. Vgl. auch F. Schwerdtfeger, Die Waldkrankheiten. Ein Lehrbuch der Forstpathologie und des Forstschutzes (Hamburg und Berlin 1970), 134 f. (»Forstunkräuter«).
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diese exzentrische Dame überliefert, dürfte doch folgende Beobachtung zutreffen: I m persönlichen Verkehr habe die Droste »die Warnungsstimmen und die strenge Richtung« zwar gemieden. »Aber eigentlich war ihr ganzes Innere von dem Wunsch durchdrungen, >ihre Mitmenschen vor dem Unglück der Sünde zu bewahrenModerne