Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 42. Band (2001) [1 ed.] 9783428505869, 9783428105861

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 42. Band (2001) [1 ed.]
 9783428505869, 9783428105861

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H N e u e Folge, begründet v o n H e r m a n n

IM AUFTRAGE DER

Kunisch

GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN

VON

PROF. D R . T H E O D O R B E R C H E M , PROF. D R . V O L K E R KAPP, PROF. D R . F R A N Z L I N K , PROF. D R . K U R T M Ü L L E R , PROF. D R . R U P R E C H T W I M M E R , PROF. D R . A L O I S W O L F ZWEIUNDVIERZIGSTER

BAND

2001

Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch w i r d i m Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-

gegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Leibnizstraße 10, 24098 Kiel, Prof. Dr. Franz Link, Eichrodtstraße 1, 79117 Freiburg i. Br., Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift:

Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion:

Dr. Jutta

Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche

Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von

etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES

JAHRBUCH

ZWEIUNDVIERZIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH

I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF

ZWEIUNDVIERZIGSTER B A N D

2001

D U N C K E R

&

H U M B L O T

- B E R L I N

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-10586-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

INHALT

AUFSÄTZE Werner Hoffmann (Frankfurt am Main), Ein meister las. Walthers >Reuelied< (122,24) und das Problem seiner Altersdichtung

9

Tobias Leuker (Bamberg), Trabajos i n göttlicher Mission - Z u den Titelfiguren von Cervantes y Persiles

43

Ulrich Kinzel (Hamburg), Die Regierung der Einbildungskraft: Humboldts Staatsk r i t i k und Ästhetik

63

Hermann F. Weiss ( A n n Arbor), Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg und seinem Umkreis

83

Jan Stievermann (Tübingen), >Man doing< and >Man listeningThose Images of jealousieElegie< auch eine Entstehung Ende 1218/Anfang 1219, 1220/21 oder 1223/24 für möglich gehalten. 66 Auch 64

Günther Schweikle (wie A n m . 19), 430.

65

Manfred Günter Scholz (wie A n m . 21), 152.

Ein meister las

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wer das nicht als wahrscheinlich ansieht, kann derartige Hypothesen nicht widerlegen. Wenn man die »eigentlichen« Alterslieder Walthers miteinander vergleicht, so ist evident, daß die Sicht der Welt und die Abwendung des Dichters von ihr deutlich abgestuft sind. Indem die >ElegieAlterstonAlterston< überliefern. 69 Vgl. dazu den noch immer wichtigen Aufsatz von Alfred Mundhenk, »Walthers Selbstbewußtsein«, DVjs., 37 (1963), 406-438; mit einem Postscriptum wieder abgedruckt

in: A. M., Walthers Zuhörer (wie Anm. 11), 39-72. *

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Werner Hoffmann

minnesang i n der Gesellschaft weiterleben 7 0 , und deren hulde soll i h m dafür zuteil werden (1,11 /12). Die Welt i m Sinne des mundus w i r d selbstverständlich auch i m >Alterston< negativ gesehen (3. Str.). D o c h überträgt Walther das Wissen u m die Vergänglichkeit, die zeitliche Begrenztheit alles Seienden auf die Werlt , die an ihrem bald kommenden jämertac i m Feuer zugrunde gehen w i r d (111,10-12) - auch dies Ausdruck von Walthers Selbstbewußtsein. I n der 4. Strophe betrachtet der Dichter - i m Gegensatz zur 1. Strophe - sein Wirken i n der Welt i m Dienste der aristokratisch-höfischen Gesellschaft als bedeutungslos i m H i n b l i c k auf sein Seelenheil, ja als dieses gefährdend, und er formuliert dabei eine antithetische, dualistische Auffassung v o m Verhältnis von Leib und Seele (IV,5). Aber höchst aufschlußreich ist, daß er i n der 5. Strophe über die Trennung von Leib und Seele, also den Tod, hinausblickt und sein Lied mit der zugesagten leiblichen Auferstehung und damit der neuerlichen Vereinigung von Leib und Seele ausklingen läßt (V,9-12). Diese Vereinigung ist ewig und so auch die Freude, mit der die beiden Teile des Menschen sich dereinst wiederfinden werden. Es bedarf keiner weiteren Darlegungen, u m zu erhärten, daß demgegenüber das >Reuelied< die Negativierung alles Weltlichen radikalisiert und totalisiert. Walther rechnet sich keinerlei Verdienste mehr zu. Deutet man das Lied biographisch, dann läßt es sich durchaus als sein letztes Lied ansetzen, wie das Hermann Schneider für sehr wahrscheinlich gehalten hat. 7 1 Trotzdem ist diese Ansicht nicht unproblematisch. Auch wenn man Walthers Sorge u m das, was ihn nach dem nahen Tod erwartet, als etwas betrachtet, das ihn als Mensch und Christ existentiell betrifft, so kann man argumentieren, daß das Lied i n einer Situation konzipiert worden sei, i n der den Dichter die Angst tatsächlich überwältigt hat, daß er sich von ihr jedoch wieder freimachen konnte, daß er dem Tod gelassener zu begegnen lernte und daß er zu differenzierteren Äußerungen über sich und sein Leben imstande war. Das ist selbstverständlich eine bloße Spekulation. Ich habe sie dennoch angeführt, u m daran zu erinnern, auf welch unsicherem Boden w i r uns bewegen, wenn eine für die Alterslieder an sich legitime Deutungsmöglichkeit auf die Spitze getrieben wird. I m übrigen darf man 70 Das i m Mhd. verhältnismäßig selten vorkommende Wort minnesang ( minnesanc ), das anscheinend in Walthers >Alterston< zum ersten M a l belegt ist, kann sowohl N o m e n acti wie N o m e n actionis sein. Je nachdem, wie es i m vorliegenden Kontext verwendet ist, differiert das Verständnis von Walthers Aussage. D o c h das ist eine Detailfrage, die nur i n einer Interpretation des Liedes erörtert werden kann. 71 »Diese tief ergreifenden Strophen sind aller Wahrscheinlichkeit nach das Letzte, was der erkrankte greise Dichter geschaffen hat« [ A n t o n E. Schönbach, Walther von der Vogelweide. Ein Dichterleben , 4. Aufl., neu bearbeitet von Hermann Schneider (Berlin 1923), 196/97]. I n jüngerer Zeit hat auch Alfred Mundhenk erwogen: » N i m m t man Echtheit an und läßt der Phantasie freien Lauf, dann würde man es [das >ReueliedReueliedReuelied< mit sich allein. Gerade aus der generell vorauszusetzenden Vortragssituation läßt sich begründen, warum es sich bei Walthers Altersdichtung nicht u m Rollenlyrik handeln kann. Es ist schlechterdings unmöglich, daß Walther mit den Worten wol vierzig jär hab ich gesungen unde me/ von minnen und als iemen sol (»Alterstons 1,7 / 8) vor sein Auditorium getreten wäre, wenn diese Aussage nicht einer biographischen Realität entspräche und in einem sinnvollen, nachvollziehbaren Bezug zu seinem damaligen Alter stünde. Was Walther in den Altersliedern äußert, bezieht sich zunächst einmal auf ihn als Person und muß für das Publikum glaubhaft sein. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß er sich i n dem Weltabsagelied 100,24 von der Frouwe Werk mit seinem Taufnamen Walther ansprechen läßt (11,1). Die poetologisch notwendige und an sich berechtigte Unterscheidung zwischen dem Ich des Textes, dem lyrischen Ich, dem poetischen Ich, dem Rollen-Ich - oder wie immer man es unter etwas wechselnden Aspekten nennen mag - , das stets vom A u t o r geschaffen und ein fiktives Ich ist, und dem biographischen, für uns historisch faßbaren Ich, der Person des Dichters, w i r d hier gegenstandslos, die Differenzen zwischen ihnen sind de facto aufgehoben. 72 Das w i r d auch von Literarhistorikern zugegeben, die ansonsten und durchaus mit Recht den Rollencharakter des Minnesangs betonen. Darum ist es nicht Unachtsamkeit oder Bequemlichkeit, wenn ich i m Verlaufe meiner Ausführungen wiederholt den Namen Walther gebraucht habe, w o

72 Z u den hier berührten Problemen weise ich lediglich auf zwei förderliche Beiträge hin: Christoph Cormeau, »Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide«, in: Mittelalterbilder aus neuer

Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984y hg. Ernstpeter Ruhe und Rudolf Behrens (München 1985), 147-165. Max Wehrli, »Rollenlyrik und Selbsterfahrung i n Wal-

thers Weltklageliedern«, in: Walther von der Vogelweide [ . . . ] (wie Anm. 16), 105 -113.

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eigentlich das spezifizierte Wort »Ich« zu erwarten gewesen wäre. Daß das Text-Ich in Walthers Alterslyrik bis zur UnUnterscheidbarkeit mit dem biographischen Ich verschmolzen ist, gehört zu ihren Charakteristika. Niemand w i r d heutzutage noch einem planen Biographismus das Wort reden und mit einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Wirklichkeit und Dichtung rechnen. Aber es wäre schlichtweg töricht, einen Konnex zwischen dem dichterischen Werk und der realen Existenz des Autors leugnen zu wollen. Das gilt für Walther von der Vogelweide in besonderem Maße. Viele Aussagen in seiner Sangspruchdichtung und auch in seinen spruchartigen Liedern sind in konkreten außerliterarischen Situationen und lebensweltlichen Bezügen des Dichters fundiert und sind nur oder jedenfalls weit besser verständlich, wenn w i r diese kennen. Das ist bekannt und braucht hier nicht i m einzelnen aufgezeigt zu werden. Walther, der in seiner Lied- wie in seiner Spruchlyrik das Personalpronomen ich samt den flektierten Formen ungemein häufig verwendet, konnte davon ausgehen, daß sein Publikum zu unterscheiden wußte, wann er über sich selbst sang und wann er in einer angenommenen Rolle auftrat und sich äußerte, wann also, in unserer Terminologie, das Ich ein Rollen-Ich war. Pauschale Urteile, die seine Lyrik einseitig auf die eine oder die andere Möglichkeit festlegen, verfehlen - wie Pauschalurteile zuallermeist - die Vielfalt und Komplexität ihres Gegenstandes. Dementsprechend ist auch hervorzuheben, daß das Rollen-Ich aus Liedern, die vermutlich zu Walthers Alterslyrik gehören, keineswegs verschwunden ist. So ist sicher die Aussage, mit der das >Palästinalied< (14,38) beginnt, nicht biographisch zu verstehen (und von den zeitgenössischen Rezipienten nicht so verstanden worden), vielmehr äußert sich das Ich i n der Rolle des Kreuzfahrers oder Pilgers: Alrerst lebe ich mir werde, sit min sündic ouge siht daz reine lant und ouch die erde, der man so vil eren gibt, ez ist geschehen, des ich ie bat. ich bin komen an die stat y da got menischlichen trat.

(1,1-7)

I m >Kreuzlied< (76,22) gibt es überhaupt kein ich, sondern nur das kollektive wir. Das Ich des Dichters ist i n dieses wir eingeschlossen, etwa wenn allgemeingültige Einsichten, »Wahrheiten« formuliert werden, z. B. am Anfang der 2. Strophe: Diz kurze leben verswindet,/ der tot uns sündig vindet (11,1 / 2) oder in der 3. Strophe: got wolde durch uns sterben (111,3). D o c h der A u t o r wendet sich auch explizit i n appellativer Form an ein ritterliches Auditorium, das er zur Kreuznahme auffordert: nü loeset unverdrozzen/daz herebernde lant!/ verzinset Up und eigen! (I, 15-17) oder nü hellent hin geliche (111,13). Hier muß man also ein i m Text nur implizit vorhandenes Ich voraussetzen, das in

Ein meister las

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der konkreten Vortragssituation indes real vor einem Publikum steht, vor einem Publikum, das möglicherweise auch die direkte Zielgruppe des Appells ist. Dabei vermeidet es der Sänger aber propagandistisch geschickt, eine Schranke zwischen sich und die Angesprochenen zu legen, vielmehr reiht er sich mittels des wir und uns i n sie ein (z. B.: wir gern ze den swebenden ünden [1,10]; ez ist wol kunt uns allen,/wie jämerlich ez stät [IV,7/8]), und er weitet die Geltung des kollektiven Pronomens so aus, daß es zugleich die Christen umfaßt, die i m Heiligen Land in Bedrängnis sind, und letztlich auf die Christenheit insgesamt zielt: lä dich erbarmen, Krist, mit welcher not si ringen, die dort den borgen dingen, daz si uns also betwingen, daz wende in kurzer frist!

(IV,16 - 20).

Wie man sieht, wäre es zu kurz gegriffen, sich nur mit dem Status des »Ich« in Walthers späten Liedern zu beschäftigen. Die höchstwahrscheinlich Ende der zwanziger Jahre verfaßten Lieder Walthers von der Vogelweide sind nicht allein durch ihre religiöse Thematik charakterisiert - sei es i m Sinne ihn selbst bewegender Reflexionen angesichts von Alter und Todesnähe, sei es als Propagierung des Kreuzzuges Kaiser Friedrichs II. - , sondern gleichermaßen durch die große Aufmerksamkeit, die der A u t o r offensichtlich der Formkunst gewidmet hat, so in der Präferierung ungewöhnlicher, komplizierter und reich ornamentierter Strophenformen. Daß dies auch für den ganz späten Rügeton (König Heinrichs-Ton) gilt, der ungefähr gleichzeitig mit den zentralen Altersliedern entstanden sein wird, habe ich bereits erwähnt. Allerdings muß man sich vor generalisierenden Feststellungen hüten: die >Absage an die Welt< (100,24) weist eine recht einfache Strophenform auf. 7 3 Dies ist aber erklärbar: Das Lied ist ja ein reines Dialoglied, und die fingierte pragmatische Situation würde sicher unglaubhaft wirken, wenn die Reden der Dialogpartner in einer hochkomplexen metrischen Form präsentiert würden. I n den drei anderen Liedern hat Walther hingegen die ihm i n mehr als vier Jahrzehnten zugewachsenen formkünstlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten voll eingesetzt. Einige Hinweise müssen i m vorliegenden Zusammenhang genügen. 7 4 Die Strophenform des Liedes Ir reiniu wip y ir werden man läßt sich am

73

Zur formalen Gestaltung des Liedes vgl. meine Bemerkungen in: »Walthers Absage

an die Welt (Frö Welt 74

y

irsult dem wirte sagen, L. 100,24 ff.)«, ZfdPh

y

95 (1976), 356-373.

Ergänzend kann man für den >Alterston< und die >Elegie< u. a. heranziehen Hans Günther Meyer (wie A n m . 53), 412-432 bzw. 432-445; zur >Elegie< auch Martha Heeder (wie A n m . 25), 373-382 (großteils i m Anschluß an J. A . Huisman; manches ist problematisch).

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besten als gespalten wis erklären. Walther hat sie schon in seiner Sangspruchdichtung verwendet, dort aber noch nicht in voller Konsequenz, da die Kadenzen der Stollen nicht identisch sind (vgl. oben). I m >Alterston< gibt es keine rhythmischen Abweichungen zwischen den den Abgesang umschließenden Stollen. Eine Besonderheit des Abgesangs ist, daß es sich bei dessen zweitem und viertem Vers unter dem Gesichtspunkt des Endreims u m Waisen handelt. D o c h ist das jeweils letzte Wort durch Pausenreim mit dem Anfangswort des vorausgehenden Verses verbunden (1. Strophe: des : wes , wol : sot). I n seiner >Alterselegie< verwendet Walther wiederum eine ganz eigentümliche Strophe: eine Großstrophe von 16 paargereimten Langversen (wozu in den drei Strophen jeweils noch ein Refrain hinzukommt, der einen Kurzvers umfaßt). 7 5 Die Kontroverse, ob i n der >Elegie< Nibelungenverse vorliegen und mit welcher Konsequenz der A u t o r sie gegebenenfalls realisiert hat, ist hier nicht aufzugreifen. Die dichterisch überzeugende Gestaltung der >Elegie< beruht nicht wie beim >Alterston< und, auf andere Weise, beim >Reuelied< zu einem guten Teil auf der Reimkunst - diese ist relativ schlicht - , 7 6 vielmehr einmal auf dem ungewöhnlich stringenten Gedankengang (eine Kontroverse über die Umstellung von Strophen wie beim >Alterston< hätte bei ihr nicht einmal i m Ansatz aufkommen können) und zum andern auf der Fülle der Wort- und Motivresponsionen, die den Text durchziehen. Daß Walthers Form- und insbesondere seine Reimkunst i m >Reuelied< noch einmal voll entfaltet ist, hat sich aus der obigen Untersuchung ergeben. Zugleich machen die Beobachtungen die Annahme unabweislich, die ebenso z. B. für den >AlterstonReuelied< hat hierauf Hans Naumann mit Recht hingewiesen. 78 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die bildende 75

Stilwidrig auf Kurzverse umgerechnet, umfaßte eine Strophe demnach 33 Verse eine christliche Zahlensymbolik katexochen. 76

Es gibt auch nur zwei Paarreimresponsionen, nämlich wol : vol (1,13/14) : wol : sol

(11,11 /12); klage : (ver)zage (11,13 /14): tragen : {besagen (111,13 /14). 77

Wilhelm Wackernagel (wie A n m . 2).

78

Hans Naumann (wie A n m . 17), 222.

Ein meister las

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Kunst. Für Walther darf man an seinen Leich erinnern, ein hochartifizielles Gebilde, eine Prunkform, die als Gefäß inniger Frömmigkeitsbekundungen (Gebet an die Trinität, Lobpreis und Bitte an Maria usw.) dient. Warum sollte der betagte Dichter Ähnliches nicht auch in einem sehr persönlichen Lied versucht haben? I n ihm ist nichts von Walthers sonst oft zum Ausdruck gebrachten Selbstbewußtsein zu spüren, und es fehlt jeder auch nur alludierender Verweis auf das, was er zu leisten vermag. Aber durch das Opus selbst bekräftigt er noch einmal, was für ihn und sein Publikum - und man darf ihn zitieren: wol vierzig jär unde me - Dichtung gewesen ist: Kunst der schönen Form, unabhängig von ihrem Inhalt. A m Ende des Überblicks über Walthers Alterslyrik ist es zweckmäßig, einige ihrer Merkmale nochmals zusammenfassend hervorzuheben und sie damit gewissermaßen zu bündeln. Daß dieses Merkmalsbündel idealtypischer A r t und nicht in jedem Lied voll realisiert ist, sollte man sich stets gegenwärtig halten. Als erstes muß die chronologische Basis der Altersdichtung betont werden: Sie entstand in den Jahren von ca. 1220 bis gegen 1230 und korreliert somit mit einem höheren Lebensalter des Dichters. Zweitens ist für die Walthersche Alterslyrik charakteristisch, daß der Blick des Autors auf die Wirklichkeit, über die er sich in Liedern und Sangsprüchen äußert, überwiegend düster ist, was in vielen Klagen seinen Niederschlag gefunden hat. Sie reichen von Klagen über Neuerungen i m Minnesang, die seinem eigenen Erfolg abträglich sind, über die frouwen und die Zustände in der höfischen Gesellschaft überhaupt bis zur Weltklage, gipfelnd in der Uberwindung der Welt, der Abkehr von ihr und damit der Hinwendung zum religiösen Bereich, zu Gott - unter Umständen mit einer schroffen, dualistischen Entgegensetzung von lip und sele, von Diesseits und Jenseits (lobe ich des libes minne, daz ist der sele leit [>AlterstonElegieReuelied< des rührenden Reims, Mittel, die von späteren Dichtern aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Für diese Neigung zum Eigenwilligen, die sich vor allem in der umfassenden Ornamentalisierung der Bauformen manifestiert, darf man w o h l mit

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Wolfgang M o h r 7 9 den Begriff des Manierismus heranziehen. Man kann i n diesem Zusammenhang auch an Wolframs von Eschenbach Spätwerk, den Willehalm, erinnern - zur Kennzeichnung seines Sprachstils drängt sich der Begriff des Altersmanierismus geradezu auf. Es wäre einer eigenen Untersuchung wert, der Frage nachzugehen, ob Manierismen in der poetischen Gestaltung für Altersdichtung insgesamt etwas Charakteristisches sind. Da indes mittelalterliche Dichtungen nur verhältnismäßig selten eindeutig als Alterswerke bestimmt werden können, werden sich die Mediävisten bei der A n t w o r t auf diese Frage größere Zurückhaltung auferlegen müssen als die Vertreter der neueren Literaturgeschichte. 80

79

Wolfgang M o h r (wie A n m . 54), 333, 335, dazu die erhellende Prägung »Altersmanierismus« (344, A n m . 17). M o h r verwendet den Begriff auch i m H i n b l i c k auf andere stilistische Phänomene als die von mir hervorgehobenen Züge. 80

Die herrschende Auffassung, das Lied Frö Welt, ir sult dem wirte sagen, gehöre zu

Walthers Alterslyrik, ist jüngst von Meinolf Schumacher in Frage gestellt worden: Die »Welt i m Dialog mit dem >alternden< Sänger? Walthers Absagelied Frö Welt, ir sult dem wirte sagen (L. 100,24)«, WW, 50 (2000), 169 - 188. Sein Fazit lautet: »Wir wissen nicht, wann Walther von der Vogelweide das Lied von >Frau Welt< verfaßt hat; möglicherweise geschah es i n fortgeschrittenem Lebensalter. Aus dem überlieferten Text [. . .] geht das freilich nicht hervor, wie auch die Altersrolle auf der Textebene nicht auszumachen ist« (185). Die Argumente, die Schumacher zu diesem Ergebnis geführt haben, müssen ernst genommen werden. Gleichwohl halte ich es nach wie vor für angemessen, das Lied Frö

Welt, ir sult dem wirte sagen als Vertreter der Waltherschen Altersdichtung zu verstehen. Daß es hierfür keinen unanfechtbaren Beweis gibt, ist selbstverständlich. Aber die Zugehörigkeit des Absageliedes zur Alterslyrik Walthers von der Vogelweide läßt sich mit einem hohen Maß an Plausibilität aufzeigen.

Trabajos in göttlicher Mission Z u den Titelfiguren von Cervantes' Persiles Von Tobias Leuker

I m Jahre 1617 erschien postum der Roman Los trabajos de Persiles y Sigismunda von Miguel de Cervantes Saavedra. Das durch und durch christlich geprägte Werk, das i n den Jahren nach seinem Erscheinen begeistert aufgenommen wurde und in der deutschen Romantik glühende Anhänger fand, w i r d heute selbst in Romanistenkreisen kaum mehr gelesen. Die erste bedeutende Gesamtinterpretation des Buches aus dem 20. Jahrhundert legte Joaquín Casalduero vor. 1 Von der insgesamt überzogenen allegorischen Lektüre des argentinischen Gelehrten setzte sich Walter Boehlich 2 i n harscher Form ab. Die drei großen Monographien, die dem Roman dann in den frühen siebziger Jahren gewidmet wurden, zwei Arbeiten von Alban K. Forcione 3 und eine von Tilbert Diego Stegmann 4 , vertiefen die von Boehlich gesetzten Interessenschwerpunkte: Wie ihr Vorläufer widmen sie sich der kreativen Anverwandlung und Ideologisierung der Erzählverfahren der Heliodorschen Aithiopikä durch Cervantes und betrachten den Persiles i m Lichte zeitgenössischer Poetiken, namentlich der Philosophía antigua poética des Alonso López Pinciano. Das jüngste Buch, das dem cervantinischen Roman gewidmet wurde, stammt von Diana de Armas Wilson 5 und bringt die Kategorien Geschlecht und Alte1

Joaquín Casalduero, Sentido y forma de »Los trabajos de Persiles y Sigismunda«

(1. Aufl., Buenos Aires 1947; 2. Aufl., Madrid 1975); Zitate i m folgenden nach der 2. A u f lage. 2

Walter Boehlich, »Heliodorus christianus«, in: Freundesgabe für Ernst Robert Curtius

zum 14. April 1956 (Bern 1956), 103-124. Sicher ist Casalduero nicht zuzustimmen, wenn er das Thema des Persiles als »la historia de la Humanidad y del hombre vivida en el presente« definiert und Cervantes bescheinigt, »la historia del mundo desde la caída de Lucifer hasta el Sumo Pontífice« (!) i n »términos novelescos« übersetzt zu haben (vgl. Casalduero, Sentido y forma, 227 bzw. 206). Sein Buch aber deshalb als »trotz einzelner feinsinniger Beobachtungen völlig unbrauchbar« einzustufen, wie es Boehlich, 105, tut, ist gewiß überzogen. 3

Alban K . Forcione, Cervantes, Aristotle, and the »Persiles« (Princeton 1970); Id., Cer-

vantes y Christian Romance. A Study of »Persiles y Sigismunda« (Princeton 1972). 4

Tilbert Diego Stegmann, Cervantes' Musterroman

»Persiles« (Hamburg 1971).

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Tobias Leuker

rität als neue Bewertungsmaßstäbe ins Spiel. Aus dem Jahre 1997 datiert die neueste Ausgabe des Romans, für die Carlos Romero M u ñ o z verantwortlich zeichnet. 6 Der Persiles , i n erklärter aemulatio zu den Aithiopika

des spätantiken Autors

Heliodor geschrieben, besteht aus vier Büchern. Die beiden ersten spielen i n Nordeuropa, die beiden letzten i m Süden des Kontinents. I m Mittelpunkt der Haupterzählung - sie beginnt in medias res - stehen zwei junge Menschen von herausragender Schönheit, die sich Auristela und Periandro nennen und als Geschwister ausgeben. Sie wollen nach R o m pilgern. Erst als sie ihr Ziel nach zahlreichen Abenteuern erreicht haben, erhält der Leser endgültigen Aufschluß über ihre wahre Identität: Sigismunda und Persiles - so die wahren Namen der Protagonisten - sind Sprößlinge verschiedener nordeuropäischer Königshäuser, von Friesland bzw. Thüle. Die friesische Prinzessin Sigismunda kam als heranreifendes Mädchen an den H o f von Thüle. Ihre Mutter hatte sie, ihr einziges Kind, dorthin bringen lassen, u m sie vor kriegerischen Gefahren in ihrer H e i mat zu schützen. Zugleich hoffte sie insgeheim auf eine Hochzeit Sigismundas mit Magsimino, dem älteren Bruder des Persiles und Thronfolger von Thüle. Vorerst aber k o m m t es zu keiner Begegnung zwischen den beiden, da Magsimino i n der Ferne für seine Heimat Krieg führt. Als man i h m ein Bildnis von Sigismunda schickt, verliebt er sich unsterblich i n das Mädchen und kündigt an, es nach seiner Rückkehr zur Frau nehmen zu wollen. A u f diese Nachricht hin befällt Persiles, der seinerseits i n heftiger Liebe zu Sigismunda entbrannt ist, eine schwere Krankheit, an der die herbeigerufenen Arzte verzweifeln. Aus Sorge u m das Leben ihres jüngeren Sohnes beschwört Königin Eustoquia von Thüle die ihr anvertraute Sigismunda, Persiles auf irgendeine Weise zu helfen. Das Mädchen stimmt unter der Bedingung zu, daß ihre honestidad

gewahrt

bleibe. Die Mutter vereinbart mit ihrem Sohn, daß er mit Sigismunda eine Pilgerfahrt nach R o m unternehmen solle, die man vor Magsimino als Einlösung eines Gelübdes des Mädchens ausgeben werde. Sigismunda und Persiles machen sich auf den Weg. Als Magsimino zwei Jahre später an seinen H o f zurückkehrt und die Nachricht von ihrer Romreise erhält, n i m m t er voller Rachegedanken gegen seinen Bruder ihre Verfolgung auf. Er erreicht ihn und Sigismunda - und die Gegenwart der erzählten Handlung - erst i n der Ewigen Stadt. Kurz vor seinem Eintreffen i n R o m ist er an einer Seuche erkrankt, die ihn unter den Augen der Liebenden aus dem Leben scheiden läßt. I m Sterben wünscht er, sanft geworden, ihrer Ehe Glück. Erfüllt von den Lehren des rechten Glaubens kehren die Jungvermählten i n den hohen Norden zurück, w o sie 5

Diana de Armas Wilson, Allegories of Love. Cervantes's »Persiles and Sigismunda«

(Princeton 1991). 6 Miguel de Cervantes, Los trabajos de Persiles y Sigismunda , hg. Carlos Romero Muñoz (Madrid 1997) (mit umfassender Bibliographie).

Trabajos in göttlicher Mission

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eine vorbildlich christliche und viele Jahrzehnte währende Herrschaft über die nunmehr vereinten Reiche von Friesland und Thüle ausüben. Sigismunda hatte sich i n R o m i n alle Einzelheiten der katholischen Lehre einweihen lassen und wäre, wenn es »un firme disponer del cielo« 7 nicht anders bestimmt hätte, ins Kloster gegangen. Letztlich aber machen sich die beiden Protagonisten des Romans u m das W o h l ihrer Völker verdient. Der Begriff trabajos, der den Titel des Persiles prägt, war schon i n der üppig geratenen Überschrift einer früheren spanischen Adaptation des griechischen Romans zu finden. Die Rede ist von einem Werk namens La historia de los amores de Clareo y Florisea, y las tristezas y trabajos de la sin Ventura Isea, natural de la ciudad de Efeso, das Alonso Nünez de Reinoso, ein Freund des venezianischen Polygraphen Ludovico Dolce, 1552 i n der Lagunenstadt veröffentlicht hatte. 8 Nünez' Buch stellt i m ersten Teil, den amores, eine freie Bearbeitung der letzten vier Bücher des Romans Leukippe und Kleitophon

des

Achilles Tatius dar, wohingegen die tristezas y trabajos eine eigene Erfindung des Spaniers sind. Es gilt seit langem als erwiesen, daß Cervantes Nünez i m Persiles rezipierte. 9 Übernahm er von i h m auch das Wort trabajos i n den Titel seines Romans? - Die Erklärung wäre zu schlicht, zumal die trabajos der Isea, teils unmittelbar, teils indirekt durch ihre sinnlichen Begierden verursacht, nicht eigentlich mit denen des Persiles und der Sigismunda vergleichbar sind. Die cervantinischen Hauptfiguren unterscheiden sich aber nicht nur von der moralisch wenig vorbildlichen Epheserin, die bis zum Ende des Romans sin fortuna

bleibt (nicht einmal der Wunsch, ins Kloster zu gehen, den sie nach

einem beklemmenden Besuch i n der Hölle hegt, w i r d ihr erfüllt), sondern auch von Clareo und Florisea und ihren antiken Vorbildern Kleitophon und Leukippe, deren Leiden i n einem rein privaten Eheglück enden. Hatte Lope de Vega i n seinem Roman El peregrino

en su patria

(1604) 1 0 das Schicksal des

Liebespaars Pänfilo und Nise ganz nach diesem Muster gestaltet, so orientierte sich Cervantes i m Persiles am Finale von Heliodors Aitbiopikä,

deren Prota-

gonisten, Theagenes und Chariklea, durch Hochzeit zum neuen äthiopischen

7 8

Cervantes, Trabajos, 726.

Text in: Novelistas 1876), 431-468.

anteriores a Cervantes, hg. Buenaventura C. Aribau (Madrid

9

Spätestens seit dem Artikel von J. Palomo Roberto, »Una fuente española del >PersilesLeucipe y C l i tofonte< y >Clareo y Florisea< en el >Persiles< de Cervantes«, Anales Cervantinos, X I I I X I V (1974-1975), 3 7 - 5 8 . Zimic (41 f.) liefert einen schlagenden Beweis dafür, daß Cervantes i m Persiles auch die erste vollständige italienische Übersetzung des Achilles Tatius (Venedig 1551) aufgriff. 10

Referenzausgabe: Lope de Vega, El peregrino en su patria, hg. Juan Bautista AvalleArce, Clásicos Castalia 55 (Madrid 1973).

46

Tobias Leuker

Königspaar und damit gleichzeitig zu geistlichen Oberhäuptern ihres Reiches werden. Freilich beschränkte er sich nicht darauf, die dynastisch-religiöse Dimension dieses desenlace unter christlichen Vorzeichen auf seinen Roman zu übertragen, sondern gab dem religiösen Aspekt größeres Gewicht. Indem er eine Pilgerreise nach Rom, das Zentrum der katholischen Welt, zur Haupthandlung seines Romans macht, kennzeichnet er die trabajos seiner Helden weitaus stärker als Heliodor, dessen Leser bis kurz vor Schluß nur eine königliche Hochzeit erwartet und von den priesterlichen Konnotationen eines solchen Ehebunds nichts ahnt, als Prüfungen i m Rahmen eines Aufstiegs zu religiöser Vollkommenheit. Eine vergleichbare spirituelle Aszendenz läßt sich, was spanische Romane vor dem Persiles betrifft, allein aus der Selva de aventuras des Jerónimo de Contreras 1 1 herauslesen. Luzmán, Hauptgestalt der Selva , hatte sich, von der spröden Arbolea abgewiesen, auf eine Reise nach Italien begeben, w o er nach ausgiebigem Genuß der Pracht einiger oberitalienischer Städte erbauliche Begegnungen mit einem sienesischen Einsiedler und einem i m Ruf der Heiligkeit stehenden römischen Greis hat und schließlich bei Pozzuoli die Höhle der Cuma betritt, einer Nachfolgerin jener Sibylle, von der man annahm, sie hätte das Kommen Christi prophezeit. D o r t hat er einen Traum, der i h m seine einstige Angebetete als Braut eines weißgekleideten Mannes zeigt. Er kehrt i n seine Heimatstadt Sevilla zurück, u m Aufschluß über Arboleas Schicksal zu erhalten. Als er erfährt, daß sie zur sponsa Christi geworden, sprich ins Kloster gegangen ist, beschließt Luzmán, seinerseits ein Leben als Einsiedler zu führen. Eine spätere Fassung der Selva de aventuras i n neun statt sieben Büchern endet freilich anders: Arbolea verläßt das Kloster und heiratet Luzmán. Das Finale des Persiles kombiniert die Ausgänge der beiden Versionen auf originelle Weise. 12 I n den genannten Texten von Núñez de Reinoso, Jerónimo de Contreras und Lope de Vega findet sich eine Vielzahl von Okkurrenzen des Terminus trabajos. Bei Núñez und Lope werden sämtliche trabajos u m der Liebe willen erlitten, gleich welchen Personen sie zugeordnet sind. Felesindos, den Isea nach dem Verlust Cláreos längere Zeit begleitet, erhält die Verheißung, daß er seine Geliebte Luciandra nach Durchquerung des »valle de la Pena, el cual nombre

11

Urfassung in: Novelistas anteriores a Cervantes , 469 - 505.

12

Vgl. Alberto Navarro González, »La >Selva de aventuras< de Jerónimo de Contreras y >Los trabajos de Persiles y Sigismunda< de Cervantes«, in: Actas del I Coloquio Interna-

cional de la Asociación de Cervantistas (Alcalá de Henares , 29/30 nov. y 1 /2 die. 1988) (Barcelona 1990), 6 3 - 8 2 . Die Urfassung der Selva in sieben Büchern erschien neunmal zwischen 1572 und 1615, die überarbeitete Version in neun Büchern fünfmal zwischen 1582 und 1603. Navarro González bietet einen differenzierten Vergleich beider Fassungen mit dem Persiles. Sein skeptisches Offenhalten der Frage, ob Cervantes die Selva de aventuras kannte, erscheint mir übertrieben.

Trabajos in göttlicher Mission

47

tiene por las grandes desventuras y trabajos que pasa y sufre quien camina por él« i n der »casa del Descanso« finden werde. 1 3 Das Bild des Jammertals hat eine alte christliche Tradition, w i r d hier jedoch nicht i m christlichen Sinne verwendet. 1 4 Von Lopes Pilger erfahren wir, wie er sich »por medio de tan ¿numerables trabajos el fin del descanso de la patria« 1 5 verdiente. O b w o h l Lope über den gesamten Roman hin kaum eine Gelegenheit ausläßt, sich als ergebener Anhänger der Gegenreformation zu präsentieren, fehlt es den Mühen seines Helden und auch denen der anderen Figuren seines Buches an einer markanten christlichen Fundierung. Bei Jerónimo de Contreras ist dies trotz des »klösterlichen Finales< nicht anders. Einzig der Satz »Mas nuestro Señor, que en los mayores trabajos y adversidades no se olvida de aquellos que a él se encomiendan, y que tienen la esperanza en su socorro« 1 6 enthält den Begriff trabajos i n einem theologischen Kontext. Die zur Entstehungszeit des Persiles maßgebliche Ubersetzung der Aithiopikä des Heliodor hatte Fernando de Mena 1587 vorgelegt. 17 A u c h in ihr begegnet das Wort trabajos an zahlreichen Stellen (mehr als zwanzigmal). A n der für uns interessantesten w i r d auf das Glück verwiesen, das die Protagonisten der Aithiopikä ähnlich wie Persiles und Sigismunda zum guten Schluß »en los postreros términos de la tierra« finden (freilich i n wärmeren Gefilden). Es handelt 13 Clareo y Florisea , hg. Aribau, 455. I m selben Text bezeichnet Felesindos das Tal der Schmerzen als »valle de la Pena y Trabajos« (461). Eine Seite später hören w i r ihn sagen: » [ . . . ] los hados ordenaron traerme así desasosegado hasta llevarme, después de muchos trabajos, adonde tenga descanso.« Núñez läßt offen, ob Felesindos sein Ziel erreicht. Eine mehrfach angekündigte Fortsetzung des Romans hätte dies klären sollen. 14

Núñez war höchstwahrscheinlich ein judío converso und aus Glaubensgründen nach Venedig emigriert. Sein Schicksal als Verfolgter scheint auch das negative Porträt der spanischen Nonnen zu bedingen, die der läuterungswilligen Isea die Aufnahme in ihr Kloster verweigern. 15 Lope, Peregrino , 474. Der Bezug zur zuvor zitierten Stelle aus Clareo y Florisea ist jenseits der identischen Termini trabajos und descanso auch deshalb wahrscheinlich, weil sowohl Núñez de Reinoso als auch Lope i m näheren Umfeld der jeweiligen Stelle die betroffenen Figuren (Felesindos bzw. Pánfilo) mit Odysseus vergleichen. I m älteren der beiden Texte heißt es dabei, Felesindos habe »tan grandes trabajos« durchlebt, »que los de Ulises no fueron iguales« (Núñez, Clareo y Florisea, 455).

16

Contreras, Selva, 501 f.

17

La historia de los dos leales amantes Theagenes y Chariclea. Trasladada agora de nue-

vo de Latin en Romance, por Fernando de Mena vezino de Toledo (Alcalá de Henares: Juan Gracián, 1587). Hervorragende moderne Ausgabe: Historia Etiópica de los amores de

Tedgenes y Cariclea, traduáda en romance por Fernando de Mena, hg. Francisco López Estrada (Madrid 1954). López Estrada adaptiert den Titel der Edition Madrid 1615. Die Ausgaben Barcelona 1614 und Paris 1616 behielten die ältere Überschrift bei. Eine frühere, von einem anonymen Erasmisten besorgte spanische Version von Heliodors Roman (Antwerpen 1554) trug den Titel Historia Ethiópica de Heliodoro. Sie wurde 1581 i n Salamanca erneut gedruckt. Weitere Informationen bei López Estrada, X I - X V I I .

48

Tobias Leuker

sich u m eine Prophezeiung, die ein mit magischen Kräften kurzzeitig v o m Tod erweckter Ägypter am Ende des sechsten Buches des Werkes verkündet: [ . . . ] una triste doncella [sc. Cariclea], digo, vencida del amor, que andará rodeando cuasi todo el mundo por causa de un su enamorado, con el cual después de infinitos trabajos y peligros vivirá en los postreros términos de la tierra en real y gloriosa fortuna. 1 8

Vielleicht noch mehr als durch diese Stelle aus dem Herzen des Romans könnte Cervantes durch einen Präliminartext der Edition von 1587, der die Haupthandlung der Aithiopikä

i n größter Konzision zusammenfaßt,

zur

besonderen Gewichtung des Terminus trabajos ermuntert worden sein. Juan Gracián, de Menas Drucker, schrieb darin an D o n A n t o n i o Polo Cortés, den H e r r n von Escariche und Beschützer des dortigen Klosters: [ . . . ] no quedará v. m. sin el premio del gusto, que será ver pintado un tan buen soldado, tan buen caballero, tan buen amante, como lo fué Teágenes, y tan invencible en los trabajos y adversidades, como moderado, apacible, afable y manso en las prosperidades y mandos, tan paciente sufridor cuando esclavo, como amoroso y humano cuando rey, cual últimamente se muestra en el reino de Etiopia, del cual, por ser legítima heredera y sucesora su esposa Cariclea, queda en pago de sus trabajos hecho pacífico poseedor y señor.

19

War i m ersten der beiden Zitate von den Mühen und Leiden der weiblichen Hauptfigur die Rede, so betonte das zweite die des männlichen Protagonisten. Die meisten der übrigen trabajos-Okkurrenzen

i n de Menas Version betreffen

gemeinsame Mühen des Theagenes und der Chariklea. Jenseits der bis hierher aufgeführten Präzedenzfälle bin ich davon überzeugt, daß Cervantes mit der Eingliederung des Substantivs trabajos i n den Titel seines Romans nicht so sehr auf Odysseus anspielen wollte, dessen leidvolle Abenteuer Jerónimo de Contreras und Lope de Vega mit denen ihrer Figuren verglichen hatten, sondern vielmehr darauf abzielte, die beiden Helden seines Romans, deren gottgewollte Mission es letztlich ist, die Völker des Nordens als vorbildliche katholische Regenten zu beglücken, über den Terminus trabajos mit dem antiken Wohltäter der Menschheit schlechthin, Herkules, zu assoziieren und ihren Mühen dadurch eine prägnante ethische Dimension zu geben. 20 18

Heliodor/ de Mena, Historia Etiópica , 245. Zitiert bei Stegmann, Cervantes ' Muster-

roman , 169 (unter Hervorhebung des Wortes trabajos ). 19 20

Heliodor / de Mena, Historia Etiópica, 11.

Luce Arrabal, Autorin eines »El mito de Hércules en Cervantes y en >E1 Criticóntrabajos< del >PersilesHand des Sieges< (die Cervantes nicht kennen konnte) noch mit »mujer que sigue el mundo« auflösen (Sigismunda ist der Welt nicht verfallen), sondern am ehesten mit >mujer que sigue mundac Sigismunda bewahrt ihre Reinheit und ist i m Persiles die Gegenfigur der lasziven Rosamunda, die nach den Worten des murmurador Clodio besser »Rosa inmunda« (Cervantes, Trabajos, 213) heißen sollte. Auch die kaiserlichen Konnotationen des Namens Sigismunda stehen der Prinzessin und späteren Königin gut an. 67 68

Pérez de Moya, Philoso fía, 381.

In über die eheliche sten der

der Selva de aventuras des Jerónimo de Contreras (483 ff.) endet eine Debatte wertvollste Form der Liebe - ungehemmtes Ausleben der sexuellen Begierden, Liebe, kontemplativ-ungeschlechtliche Liebe - mit einem klaren Votum zugunehelichen Liebe. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß m i t der

58

Tobias Leuker

Königreich von Friesland und Thüle die römisch-katholische Herrschaft i m Norden Europas gefestigt werden kann. I m Lichte dieser Utopie erhält das Finale des Persiles eine ideologische, antiprotestantische Dimension, die es über einen gewöhnlichen Märchenschluß hinaushebt: »Y habiendo [sc Sigismunda] besado los pies al Pontífice, sosegó su espíritu y cumplió su voto y vivió en compañía de su esposo Persiles hasta que bisnietos le alargaron los días, pues los vio en su larga y feliz posteridad.« 69 Die Mission der beiden cervantinischen Helden, ihre Untertanen für den Katholizismus zurückzugewinnen, läßt erneut an Enrique de Villenas H e r k u lestraktat denken. Darin w i r d die Eroberung der Hesperidenäpfel allegorisch als Vorstoß zum Baum der Erkenntnis interpretiert und die Nützlichkeit dieses Unternehmens für die Menschheit gewürdigt: Oyendo esto [sc. die Nachricht v o m Hesperidengarten, i n dessen Mitte »eil alto árbol de philosofia« steht] Ércules, que es deseoso de saber, va en aquellas partes, es a saber sigue los estudios e apacigua las dichas doncellas [sc. die drei Hesperiden, zuvor mit Fulgentius als »intelligen^ia, memoria e elocuencia« interpretiert], dándose a entender, membrar e demostrar lo aprendido. Así entra en el cercado e nombrado vergel. E non queda nin se detiene en los menores árboles, que son los menores saberes, fasta que viene al medio, onde es el nascimiento del saber e comienco d'él. En esta guisa, con trabajo continuado, vence la ruditat suya que le embarga o vieda coger la mancana de tanto prescio. E así toma los verdaderos principios e cognosce las ciertas fines. E después presenta aquella mancana al su enseñador o maestro, que tiene lugar de rey cerca d'él rigiéndolo. E esto faze por que lo certifique e aprueve, alumbrando o esclareciendo por ende toda la región de los aprendientes, faziendo crescer el su desseo e asegurando la su esperanca. 70

Die Erleuchtung der »región de los aprendentes« durch Herkules hatte der Abschnitt Historia

desselben Kapitels wie folgt beschrieben: »E así alumbró

[sc. Ércules] aquella región que de antes por ignorancia era obscura e enriquesció los entendimientos de los moradores d'ella, que de antes eran pobres de saber«. 71 I n der aplicación der Allegorese vergleicht Villena dann die Tat des zweiten Fassung der Selva ein Wechsel vom ursprünglichen, asketischen zu einem ehelichen Finale verbunden war. 69

Cervantes, Trabajos, 728 ff. Z u Recht hoben Boehlich (»Heliodorus christianus«, 120) und nach i h m Rothbauer (Vorwort zu Cervantes, Exemplarische Novellen/Persiles, 80) den christlichen Wert der Ehe zwischen Persiles und Sigismunda hervor und kritisierten das Urteil L u d w i g Pfandls, der es als inkohärent bemängelt hatte, daß der Lebensgang der Protagonisten des Romans nicht »mystizierend i n Entsagung und überirdischem Idealismus, sondern in trivialer Hochzeit und reichlicher Nachkommenschaft« ende; vgl.

Pfandl, Geschichte der spanischen Nationalliteratur gau 1929), 157. 70

Villena, Los doce trabajos , 32.

71

34.

in ihrer Blütezeit (Freiburg im Breis-

Trabajos in göttlicher Mission

59

A l k i d e n mit dem mühevollen Eindringen i n die Geheimnisse des christlichen Glaubens. So wie Herkules die eroberten Äpfel vor König Eurystheus präsentiert habe, sollten die Angehörigen des geistlichen Standes den Königen ihrer Länder Früchte darbringen, »predicando la verdat divina e iluminando el pueblo, por mostrarles carrera de salud. E serán dignos, por ende«, verheißt der spanische A u t o r am Ende seines Gedankengangs, »de loable memoria e Spiritual enxemplo, así como Hércules lo fue temporalmente a los presentes e siguientes o avenideros.« 72 Persiles und Sigismunda sind selbst Könige. Sie können daher die »Erleuchtung« oder zumindest spirituelle Kräftigung ihrer i m >dunklen< Norden, »[donde] la fe católica [ . . . ] andaba algo de quiebra« 7 3 , lebenden Völker selbst übernehmen und ihnen den Weg zum H e i l weisen. Die friesische Prinzessin, die sich i n Rom, dem Zentrum der katholischen Welt, i n die Geheimnisse des christlichen Glaubens einweihen ließ, ähnelt dabei i n besonderer Weise dem Herkules, der laut Villena mit stetigem »trabajo« einem Zentrum, dem des Gartens der Hesperiden, zustrebte, u m dort die tiefsten philosophischen Erkenntnisse zu erlangen. 74 Hätte es 1417 bereits den Begriff Reyes católicos mit all seinen moralischen Implikationen gegeben, dann hätte vielleicht bereits V i l lena die Allegorese der Eroberung der Hesperidenäpfel mit der Mission christlicher Herrscher verknüpft. Immerhin hielt er fest, daß nicht nur der geistliche Stand durch die Herkulestat zu edlen Werken angespornt werden könne, 7 5 und forderte seinen dédicataire - und damit indirekt auch alle anderen Leser dazu auf, den N u t z e n des trabajo für sämtliche Schichten der Gesellschaft zu bedenken. 7 6

72 35 f. 73

Cervantes, Trabajos , 717.

74

I n der dem »estado del dis^iplo« gewidmeten aplicación zur Allegorese der einzigen römischen Herkulestat, der Besiegung des Räubers Cacus unterhalb des Aventin, vergleicht Villena Rom mit dem H o r t der tiefsten Wahrheiten, den der Schüler am Ende seiner Ausbildung erreiche: »Después qu'el dis?iplo averá vencido la hedat pueril [ . . . ] e [mostrerá. .. ] las disposiciones juveniles [ . . . ] a multiplicar virtuosos ábitos, e será llegado o venido a las escuelas, do es el río Tíbero, que significa la abundan^a de la s^ien^ia, a do son abondosos pastos para engordar el su ganado, que se entiende por los verdeantes enxemplos que engordan e fartan las buenas disposiciones, estonce son los escolares al pie del monte Aventino, es a saber en el subimiento del entendimiento para algar el su entender a cognosger las grandes verdades e provechosas conclusiones de las s^ieníias.« (Villena, Los doce trabajos , 84). Läßt man diese Worte für das konkrete Rom gelten, kann man die römische Episode der katechistischen Unterweisung Sigismundas (Cervantes, Trabajos , 668 ff.) als letzte Etappe eines >Bildungsromans< lesen. 75

»E non solamente aquéste de religioso, mas aun los otros estados pueden aver de aquéste grand beneficio trabajo [sic y wohl irrtümlich statt »trabajo grand beneficio«].«

(Villena, Los doce trabajos , 36).

60

Tobias Leuker » M a n y clues i n Cervantess text disclose the t h o u g h t system e m b e d d e d i n its

pages: b y p o i n t i n g o u t the relationships o f his images t o antecedent examples and precepts, Cervantes tries t o indicate h o w a c o m m e n t a r y o n h i m s h o u l d proceed«, schreibt D i a n a de A r m a s W i l s o n . 7 7 A u ß e r B i l d e r n k ö n n e n auch W o r te als Schlüssel z u Cervantes' R o m a n fungieren, z u m a l w e n n sie, w i e trabajos , i n dessen T i t e l stehen. E r führte uns v o n N ú ñ e z de Reinoso über de Menas H e l i o d o r z u H e r k u l e s u n d w e i t e r z u V i l l e n a u n d Pérez de M o y a . D i e christliche Mythenallegorese d ü r f t e f ü r die geistige Substanz des Persiles

größeres

G e w i c h t gehabt haben als das p l a t o n i s c h inspirierte S c h r i f t t u m des 16. J a h r h u n derts, d e m die amerikanische F o r s c h e r i n entscheidende B e d e u t u n g beimaß. Des w e i t e r e n ist ihre B e h a u p t u n g z u r ü c k z u w e i s e n , daß erotische Fragestellungen oder gar das A n d r o g y n e 7 8 i m M i t t e l p u n k t des Werkes stünden. Cervantes'

76 Villena weitete diese Aufforderung in der Conclusión seines Werkes auf sämtliche Mühen des Herkules aus. Er habe zu jedem trabajo deshalb nur je eine aplicación geboten, schreibt er dort, »a fin que por diversas aplicaciones, segúnt la diversidat de los ingenios e prespicagidades, puedan las moralidades de aquestos trabajos seer variadas e multiplicadas« (110) - eine Einladung, die mir Cervantes angenommen zu haben scheint. 77 78

De Armas Wilson, Allegories of Love , 53 f.

Das Androgynie-Verständnis der Forscherin gibt Rätsel auf. Sie betrachtet Persiles und Sigismunda als zwei zusammengehörige, aber vorerst getrennte Hälften eines androgynen Wesens. Dabei stützt sie sich auf Formulierungen wie »¡O querida mitad de mi alma!«, deren topischer Charakter offenkundig ist und von ihr selbst auch keineswegs geleugnet wird. Fast nie meint sie mit Androgynie die Vereinigung männlicher und weiblicher Wesenszüge oder Körpereigenschaften in einer Person. A u f diese übliche Bedeutung scheint sie allein bei ihrer abwegigen >Ubersetzung< des Namens Periandro (vgl. Anm. 56) anspielen zu wollen. Der Versuch von de Armas Wilson, die vielfach konstatierte (und oft genug auch grundlos beklagte) Trennung des Persiles in eine >nördliche< und eine >südliche< Hälfte und viele andere Oppositionspaare, die sie in dem Text entdeckt, mit dem Hinweis auf das Androgyne als »organizing metaphor for Cervantes's romance« (Allegories of Love , X V I ) zu erklären, kann nicht überzeugen, denn das Androgyne kann keine Spaltungen sanktionieren. Schon auf derselben Seite wird ihm denn auch die entgegengesetzte Aufgabe zuerkannt. D o r t wird es als »a structure that figures a reconciliation of opposites« präsentiert, gemäß der am Ende des Romans alle ihn zuvor prägenden Trennungen überwunden würden. Später resümiert de Armas Wilson: »The figure of the androgyne in the Persiles destabilizes not only that most ancient of hierachized [s/c] oppositions, male/ female, but also every other >split< in the text: novel / romance, pagan / Christian, allegory/mimesis, main plot / interpolations, first half/second half, N o r t h /South, land/sea, Madonna / whore, and many more seemingly irreconcilable differences are juxtaposed and then mixed or merged, their differences forever blurred.« (104 f.). Gegen dieses Fazit ist erstens einzuwenden, daß am Ende des Romans eine Hochzeit und nicht das Verschmelzen der Protagonisten zu einem Monstrum steht, und zweitens, daß zwar der Gegensatz zwischen Nord- und Südeuropa durch das neue nordische Pendant der Reyes católicos verringert wird, doch Oppositionen wie Dunkel / Licht, Dämonen / Gott, heidnisch/christlich, Barbarei / Zivilisation grundsätzlich nicht in Frage gestellt oder gar aufgehoben werden. Was sich verschiebt, ist allein die jeweilige Verteilung der Einfluß-

Trabajos in göttlicher Mission

61

Verzicht auf das Wort amores i m Titel seines Romans macht keineswegs klar, »[that] love i n the Late Renaissance [ . . . ] is becoming harder w o r k for men and women alike», 7 9 sondern zeigt i m Gegenteil, daß die Romanhandlung des Persiles weder, wie bei Nünez, i m privaten, noch, wie bei Heliodor, i m dynastischen Eheglück und dem Priesteramt der Protagonisten ihren Endzweck findet, sondern i n der religiösen Relevanz, die ihrer königlichen Hochzeit aus der Sicht der Römischen Kirche zukommt. Die Tugend des Persiles und der Sigismunda vervollkommnet sich i n zahllosen Fährnissen, damit sie den i m Glauben schwankend gewordenen Ländern des Nordens kraftvolle katholische Souveräne sein können. Trabajos als Weg zu politisch-religiöser Stabilität der irdischen Gemeinschaft und zu individueller Erlösung nach dem Tod - i n Cervantes' Romantitel erhält der Begriff ein Gewicht, das i m Einklang mit dem Katholizismus der Gegenreformation steht. 8 0 Der Mensch kann sich das H i m melreich auf Erden verdienen, ist nicht allein von der Gnade Gottes abhängig. Gewiß, Persiles selbst stand die Mühen des Weges einzig für Sigismunda durch, doch hatte die Vorsehung just diese Sigismunda als Instrument seiner Vervollkommnung eingesetzt. Die Prinzessin wiederum mag diese Rolle bewußt bekleidet haben - immerhin wählte sie sich ihr Pseudonym selbst - , doch konnte sie nicht ahnen, daß die Unterweisung i n den tiefsten Geheimnissen des Glaubens, die sie in R o m suchte und erhielt, ihr durch Gottes Ratschluß als M i t regentin eines vereinigten Königreichs zugute kommen sollte. Somit läßt sich

Sphären (bei Gegensatzpaaren wie Land / Meer bleibt indes selbst sie gleich). Von androgynen Mischungen zwischen Allegorie und Mimesis, Ritterliteratur und byzantinischem Roman etc. auszugehen, ist - mit Verlaub - ein terminologischer Abszeß. 79 80

De Armas Wilson, Allegories of Love, 42 f.

Vgl. Julio Baena, »Los trabajos de Persiles y Sigismunda: la utopía del novelista«, Cervantes, 8 (1988), 127-140, bes. 129f. und 132. Baena wehrt sich gegen eine Gleichsetzung von trabajos mit hazañas, weil der Urheber der letzteren stets ein Mensch sei, der seine Großtaten »con la finalidad de ser héroe« vollbringe, während christliche trabajos die »acción constante, acumulativa« des Gläubigen meinten, die nicht in sich selbst, sondern in Gott ihr Ziel finde. Die Kontrastierung Baenas fällt insofern zu radikal aus, weil sie verkennt, daß die trabajos und hazañas in der christlich-stoischen Mythenallegorese zu Synonymen werden können (vgl. oben Anm. 26). Somit überrascht es nicht, daß Periandro-Persiles, der selbsternannte »gran sufridor de trabajos« (Cervantes, Trabajos, 413), i m zweiten Buch des Romans einige seiner Mühen als »hazañas« bezeichnet: »Y yo me despido agora«, sagt er eines Abends zu einer Gruppe von Zuhörern, denen er von seinen Taten berichtet, »porque la segunda hazaña me fuerza a descansar para entrar en ella« (368 f.). Eine der lauschenden Damen war es, die die Zählung der Heldentaten des Persiles eingeleitet hatte: »Suspensa me tiene el veros capitán de salteadores«, sagte die irische Prinzessin Transila zu ihm, » [ . . . ] y estaré esperando, también suspensa, cuál fue la primera hazaña que hicistes.« (360 f.). Als Persiles die Zählung weiterführt, entsteht für kurze Zeit der Eindruck, daß der Prinz von Thüle den zwölf Mühen des Herkules ebensoviele eigene entgegenstellen könnte.

62

Tobias Leuker

auch vom Persiles sagen, was mit einigem Recht von Alessandro Manzonis Promessi sposi gesagt worden ist: 8 1 Die eigentliche Protagonistin des Romans ist die Providentia

divina.

82

81

A t t i l i o Momogliano, Alessandro Manzoni , 5. Aufl. (Mailand / Messina 1958), 221 und 225. 82

Vgl. Alberto Navarro González, Cervantes entre el »Persiles « y el »Quijote « (Sala-

manca 1981), 93. - Gleiches gilt freilich schon für die Aithiopika ; vgl. H e l i o d o r / d e Mena, Historia Etiópica , 226 (»divina providencia«), 230 (»la providencia de alguno de los dioses«) und 423.

Die Regierung der Einbildungskraft: Humboldts Staatskritik und Ästhetik V o n Ulrich

Kinzel

I n zwei Texten aus dem »Salon 1859« k o m m t Baudelaire auf die Imagination zu sprechen. I n dem ersten nennt er sie »La reine des facultés« - Die Königin der Vermögen - , denn »sie steht«, sagt Baudelaire, »mit allen anderen in Verbindung; sie spornt sie an, schickt sie i n den Streit.« 1 Etwas später heißt es: Die Einbildungskraft hat den Menschen die sittliche Bedeutung der Farbe, des Umrisses, der Klänge und Düfte gelehrt. Sie hat, am Anfang der Welt, die Analogie und die Metapher geschaffen. Sie zerlegt die ganze Schöpfung, und mit den angehäuften Materialien, die sie nach Regeln anordnet, deren Ursprung in den tiefsten Tiefen der Seele zu suchen ist, schafft sie eine neue Welt, ruft sie die Empfindung des Neuen hervor. Da sie die Welt geschaffen hat [ . . . ] , so ist es nur gerecht, daß sie die Welt regiert. 2

A n dieser Stelle und i m H i n b l i c k auf das W o r t »imagination« sei vor allem das letzte Wort des letzten Satzes unterstrichen: »Da sie die Welt geschaffen hat, so ist es nur gerecht, daß sie die Welt beherrscht - i l est juste qu'elle le gouverne. « Dieser Satz war für Baudelaire offensichtlich bedeutsam genug, u m i h n i n dem folgenden Text wie ein Echo wiedererklingen zu lassen, einem Text, dem er den Titel verlieh »Le Gouvernement de l'Imagination - D i e Regierung der Einbildungskraft«. Baudelaire verbindet Wörter miteinander, die aus zwei unterschiedlichen Bereichen stammen: den ästhetischen Begriff der Einbildungskraft m i t den politischen Begriffen der Souveränität und der Regierung. Es geht hier offenbar darum, der Einbildungskraft einen souveränen Status zuzuschreiben - deshalb w i r d sie die »Königin der Vermögen< genannt - , das heißt die Macht, eine neue und eigenständige Welt zu erschaffen, zu erfinden. Diese Vorstellung w i r d gern m i t der romantischen Kunst u n d der v o n ihr ausgehenden ästhetischen M o derne i n Verbindung gebracht. Bezieht man sie darüber hinaus auf die Moderne 1 Charles Baudelaire, »Der Salon 1859«, in: Sämtliche Werke und Briefe, hg. Friedhelm Kemp, Claude Pichois, Wolfgang Drost, Bd. 5 (München / Wien 1989), 141 [iŒuvres complètes. , hg. Y.-G. Le Dantec, Claude Pichois (Paris 1961), 1037].

2

Ebd.

64

Ulrich Kinzel

»als Kontigenzbewußtsein, als Bewußtsein v o m Zufall und Zerfall« 3 , so w i r d man sich nur bedingt auf Baudelaire berufen können. Denn nach i h m fingiert die Einbildungskraft nicht nur eine Welt, sie beherrscht sie auch. Es geht nicht darum, daß unter dem Souverän der Phantasie die Dinge endlich i n regellose, spontane, kontingente Verbindungen eintreten, vielmehr scheinen die Formulierungen Baudelaires nahezulegen, daß die erfundene Welt auch regiert werden müsse. Während die Frage der Souveränität der Phantasie i n den gegenwärtigen literaturtheoretischen Debatten eine gewichtige Rolle spielt, scheint man dem Aspekt der Regimentalität der Einbildungskraft weniger Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Aber vielleicht könnte man sich diesem Thema, dieser K o m plizität von F i k t i o n und Politik, von Erfindungs- und Regierungsmacht nähern, indem man sich einem i n seiner Zeit und auch heute wenig beachteten Text zur Ästhetik zuwendet, der ungefähr ein halbes Jahrhundert vor Baudelaires Texten aus dem >Salon< erschien. Es handelt sich u m Wilhelm von Humboldts Schrift Aesthetische Versuche I: Ueber Göthes Herrmann

und Dorothea.

Die erste Definition zur Rolle der Einbildungskraft, die H u m b o l d t hier gibt, heißt: Das Feld, das der Dichter als sein Eigenthum bearbeitet, ist das Gebiet der Einbildungskraft; nur dadurch, dass er diese beschäftigt, und nur i n so fern, als er diess stark und ausschliessend thut, verdient er Dichter zu heissen.4

Bemerkenswert an dieser Formulierung sind die Wörter »Feld«, »Eigenthum« und »Gebiet«. Das »Gebiet« der Einbildungskraft ist für H u m b o l d t ein souveränes Territorium, über das der Dichter herrscht. Zieht man weitere Bestimmungen der Arbeit der Imagination hinzu, so zeichnet sich auch die Regierungsfunktion ab, die mit dieser Arbeit verbunden ist. Denn wie jedes intellektuelle Bemühen zeigt auch die Bearbeitung des Wirklichen durch die Phantasie den Willen, »ueberall den Zufall zu verbannen« 5 und damit den Eindruck zu zerstreuen, daß sie - die Imagination - nicht über ihr eigenes Gebiet herrsche. Schließlich muß der Dichter sich bemühen, »aller Empfindungen seines Z u hörers Meister zu werden. Er muß es immer und durchaus, sobald er nur i m absoluten Verstände Dichter zu heißen verdient, d.i. sobald er es versteht, die Einbildungskraft herrschend und selbsttätig zu machen.« 6 U m die politische Dimension dieser Bestimmung der imaginativen Arbeit besser verstehen zu können, ist es notwendig, auf die politische Tradition eini3

Karl-Heinz Bohrer, Die Kritik

4

der Romantik

(Frankfurt a. M . 1989), 11.

Wilhelm von H u m b o l d t , »Aesthetische Versuche, Erster Theil: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea [1799]«, in: W.v.H .yWerke in fünf Bänden, hg. Andreas Flitner, Klaus Giel, Bd. I I , 2. Aufl. (Darmstadt 1961), 136 f. 5 Ebd., 139. 6

Ebd., 147.

Humboldts Staatskritik und Ästhetik

65

ger Begriffe einzugehen, die hier in das Gebiet der Ästhetik transponiert worden sind. Es soll darum gehen, am Beispiel Humboldts einen historischen A u genblick zu rekonstruieren, i n dem sich an der Schwelle zur Moderne die Verbindung von Einbildungskraft, Souveränität und Regierung gebildet hat. K o n kret gesprochen heißt dies, daß versucht werden soll, den Ubergang H u m boldts von dem 1792 zerstreut und unvollständig publizierten Text Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen zu dem 1799 erschienenen Text Aesthetische Versuche I: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea nachzuzeichnen. Den allgemeinen Rahmen, in dem diese Arbeit anzusiedeln ist, bilden die von Foucault eingeleiteten Bemühungen u m eine Genealogie des Regierungsdenkens. U m das Ziel dieses Typs von Analyse zu verstehen, muß man davon ausgehen, daß Macht nicht eine Böswilligkeit der Geschichte darstellt, der man die hermeneutische Arbeit am Sinn entgegenhalten müßte, sondern daß Macht, verstanden als ein Ensemble von Kraftverhältnissen, als ein allgemeines und konstitutives Element menschlicher Beziehungen zu verstehen ist und daß sie die Form von Regierungpraktiken annehmen kann. U m Humboldts Weg von der Politik zur Ästhetik zu skizzieren, soll zunächst ein Teil der begrifflichen Systematik von Humboldts Essay über den Staat rekonstruiert werden; auf diese Weise soll sichtbar werden, auf welche historische Gegenständlichkeit Humboldts politische K r i t i k zielt. Es w i r d dann darum gehen, die Prägung der ästhetischen Versuche durch das Regierungsdenken nachzuzeichnen. 7 I.

Die historische Wirklichkeit des Staates, wie sie sich i n Europa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert formierte, war niemals unumstritten. A n der neuen Rationalität des Staates entzündete sich vor allem eine moralische und eine juridische Kritik. Man wandte sich von der neuen >Regierklugkeit< - wie die Ratio status i n Deutschland genannt wurde - ab, weil man i n ihr nichts anderes sah als ein auf Taktik und Prinzipienlosigkeit gegründetes Handeln. Davon zeugen die Verse des Barockdichters Friedrich von Logau, denen er den Titel Heutige Welt-Kunst gab: ANders seyn / vnd anders scheinen: Anders reden / anders meinen: Alles loben / alles tragen / Allen heucheln / stets behagen / A l l e m Winde Segel geben: Bös' und Guten dienstbar leben: 7

Zur systematischen Entwicklung von Humboldts Ästhetik vgl. Irina König, Vom Ur-

sprung des Geistes aus der Geschlechtlichkeit. Zur chronologischen und systematischen Entwicklung der Ästhetik Wilhelm von Humboldts (Egelsbach / Köln / New York 1992). 5 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42. Bd.

66

Ulrich Kinzel Alles T h u n und alles Tichten Bloß auff eignen Nutzen richten; Wer sich diesses w i l befleissen Kann Politisch heuer heißen. 8

I n der christlichen Tradition konnte das weltliche Regiment nur dann gerecht sein, wenn es ein System von sozialen, natürlichen und göttlichen Rechten respektierte. Für Thomas von A q u i n war die Herrschaft des Königs ein A b b i l d der göttlichen Herrschaft der Natur. Regieren w i r d hier verstanden als imitatio. 9 Der Skandal, den Machiavellis Der Fürst hervorrief, bestand darin, mit diesem Nachahmungsverhältnis zu brechen und das Handeln des Fürsten allein auf eine autonome politische Rationalität zu gründen. D o r t , w o man ihn kritisierte, berief man sich bezeichnenderweise genau auf diesen Modus der Nachahmung. Bodin, der zum ersten M a l die Prinzipien der souveränen Macht definierte, Machiavelli aber gleichzeitig vorhielt, daß seine Politik sich »in der Kenntnis tyrannischer Winkelzüge« 1 0 erschöpfe, sah i n dem souveränen Fürsten ein A b b i l d Gottes: »Denn wenn Gerechtigkeit der Zweck der Gesetze ist und die Gesetze das Werk des Fürsten sind, der Fürst aber das A b b i l d Gottes ist, so folgt daraus, daß die Gesetze des Fürsten nach dem Muster des göttlichen Gesetzes beschaffen sein sollten.« 1 1 Gegenüber der christlichen Tradition der auf das Recht gegründeten Regierung und gegenüber Machiavelli, der vor allem die Beziehung zwischen dem Fürsten und dem Staat verstärkte, bedeuten die i m 17. Jahrhundert zum ersten M a l auftauchenden und sich rasch verbreitenden Definitionen der Staatsräson - ratio status - einen bedeutsamen Einschnitt. Die Ratio status ist nach Botero »die Kenntnis der Mittel, die geeignet sind, einen Staat zu gründen, zu erhalten und zu vermehren« 1 2 . Die Regierung verfolgt damit nicht mehr das Ziel, das göttliche Recht nachzuahmen oder das Band zwischen dem Fürsten und seinem Territorium zu verstärken, sie verfolgt das Ziel, die Macht, das Vermögen des Staates selbst zu verstärken und zu erhöhen. Die Staatsräson ist, wie Foucault sagt, eine »Kunst« 1 3 des Regierens, eine teehrte, und sie ist und erfordert ein spezifisches Wissen v o m Staat, von seinen natürlichen und menschlichen 8

Friedrich von Logau, Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend (Breslau 1654), Erstes Tausend, neundes Hundert, Nr. 71 (Reprint Hildesheim / N e w York 1972), 210. 9 Thomas von Aquin, Von der Herrschaft (Stuttgart 1971), I, 9, 37.

der Fürsten, übers. Friedrich Schreyvogl

10

Jean Bodin, Über den Staat [1583], übers. Gottfried Niedhart (Stuttgart 1976), 6.

11

Ebd., 38.

12

Zitiert nach: Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson [1923], 4. Aufl. (München / Wien 1976), 78. 13

Michel Foucault, »The Political Technology of Individuais«, in: Technologies of the

Seif A Seminar with Michel Foucault, hg. Luther H. Martin u. a. (London 1988), 149.

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Ressourcen, v o n dem also, was seine Stärke ausmacht. Der Staat w i r d m i t einer eigenen Finalität ausgestattet und als autonomes Wesen begründet. D a m i t ändert sich der Modus der Regierung, sie ist nun vor allem eine Kunst, wie der Staat nicht A b b i l d v o n etwas außer ihm, sondern F i k t i o n ist: »Durch [ . . . ] Kunst,« sagt Hobbes, »wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat [ . . . ] ,

der nichts anderes ist als ein

künstlicher

Mensch.« 1 4

II. Der Staat als Gebilde m i t eigener Rationalität und m i t eigener Finalität, als Gefüge von Regierungstechniken, als politische Technologie, der Staat als Kunstwerk - das ist die Wirklichkeit, auf die sich H u m b o l d t i n seiner Staatsschrift v o n 1792 bezieht. Bemerkenswerterweise folgt H u m b o l d t weder der juridischen noch der moralischen Tradition der Staatskritik. Vielmehr konzentriert er sich auf die Wirkungsweise der Regierungsmacht. Unter dieser wichtigen Prämisse muß man seine K r i t i k des Staates, vor allem aber die begriffliche Systematik, die er ihr zugrundelegt, lesen. Er greift nicht die Prinzipienlosigkeit der Staatsräson, sondern die Physik des Staates an. Blickt man auf die Geschichte der Staatsverfassung, so zeigt sich nach H u m boldt, daß man immer die Freiheit der Bürger aus einem zwiefachen Gesichtspunkte eingeengt [hat], einmal aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit,

die Verfassung entweder

einzurichten, oder zu sichern ; dann aus dem Gesichtspunkte der Nüzlichkeit,

für den

physischen, oder moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. 15 Daraus läßt sich nach H u m b o l d t ein doppelter Zweck des Staates ableiten: Er kann Glük befördern,

oder nur Uebel verhindern wollen [ . . . ] . Schränkt er sich auf

das leztere ein, so sucht er nur Sicherheit, und diese Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen übrigen möglichen Zwekken, unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint, entgegenzusezen.16

M a n gewinnt zwei Gruppen v o n Begriffen, auf der einen Seite Sicherheit, Notwendigkeit, Wohlfahrt,

negative Sorge , auf der anderen Seite physische und moralische

Nützlichkeit,

Aufgabe der Politik 14

positive Sorge. Die negative Aufgabe des Staates, die

ist es, die Sicherheit des Staates zu garantieren. Der Staat

Thomas Hobbes, Leviathan [1651], hg. R. Tuck (Cambridge 1991), 9 (meine Übers.).

15

Wilhelm von Humboldt, »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen [1792]«, in: Wv.H.,Werke in fünf Bänden, hg. Andreas Flitner, Klaus Giel, Bd. I, 2. Aufl. (Darmstadt 1960), 59 (meine Hervorhebungen). 16

5:

Ebd., 70 (meine Hervorhebungen).

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soll die Bürger mit Hilfe der Armee und des Rechts gegen äußere Feinde und gegeneinander schützen. M i t dieser politischen Aufgabe des Staates ist H u m boldt einverstanden. A u f die Frage, ob der Staat Sicherheit oder positive Wohlfahrt erwirken soll, gibt es also eine klare Antwort: Der Staat soll seine negative politische Aufgabe wahrnehmen und für die innere und äußere Sicherheit der Bürger sorgen, aber er soll sich nicht u m das physische und moralische Wohl der Bürger kümmern. Worauf bezieht sich diese Kritik? Offensichtlich nicht auf die Souveränität des Staates und nicht, jedenfalls nicht vollständig auf die Ratio status, sondern auf die positive Sorgfalt des Staates, auf das, was man i m Unterschied zur Politik Polizei nannte.

III. U m verstehen zu können, welcher politischen Tradition H u m b o l d t antwortet, muß man darauf gefaßt sein, daß >Polizei< vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine andere, sehr w o h l präzise, auf jeden Fall aber sehr viel weitere Bedeutung gehabt hat als heute. Bezieht man sich auf die oben genannten Definitionen, so ist Polizei von Politik unterschieden, das heißt sie hat weder die Instrumente der Armee noch die des Rechts zur Verfügung. Versucht man die Wirkungsweise der Polizeimacht zu beschreiben, so muß man bedenken, daß sie nicht als Einschränkung, Verbot oder Unterdrückung funktioniert. Sie ist vielmehr positive Sorge u m das Wohl der staatlichen Subjekte. I n der Polizeiliteratur bezieht man sich gern auf den Begriff und die philosophische Tradition der Glückseligkeit, des guten Lebens. U m Humboldts K r i t i k und das, was er an die Stelle der Wohlfahrtsaufgabe des Staates setzt, genauer verstehen zu können, sei ausgehend von Justis Die Grundfeste zu der Macht und Gluckseeligkeit der Staaten, oder ausführliche Vorstellung der gesamten Polizey-Wissenschaft von 1760 ein knapper Umriß von der Aufgabe, dem Gegenstand und der Wirkungsweise der Polizei gegeben. Welche Aufgabe hat die Polizei? Justi formuliert den allgemeinen Grundsatz so: Man muß in allen innern Landesangelegenheiten die Wohlfahrth der einzelnen Familien mit dem gemeinschaftlichen Besten oder der Glückseligkeit des gesammten Staats, in die genaueste Verbindung und Zusammenhang zu setzen suchen. 17

Die Aufgabe der Polizei besteht also darin, für das Wohl der Individuen zu sorgen und dieses Wohl der Individuen und Familien auf das genaueste mit 17

Johann Heinrich Gottlob Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit

der Staaten, oder ausführliche (Leipzig 1760-1761), Bd. I, Vorrede.

Vorstellung

der gesamten Polizey-Wissenschaft,

2 Bde.

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dem Wohl des Staates zu verfugen und auf diese Weise das Vermögen, die Stärke, die Macht des Staates - die nichts ohne das Vermögen und die Kraft der Individuen ist - zu erhalten, zu potenzieren. Aus dieser Definition leitet sich der von H u m b o l d t gebrauchte Begriff der Nützlichkeit her: alle Verhaltensweisen der Individuen, ihre gesamte Lebensführung, werden von der Polizei gefördert und beobachtet, insofern sie für den Staat nützlich ist. Aus dieser Aufgabe der Polizei ergeben sich die drei großen Gegenstände ihrer Sorge: Die zeitliche Wohlfahrth und Glückseeligkeit des Menschen k o m m t hauptsächlich auf zweyerley Umstände an, nämlich auf die Güter der Glückes und auf ihre moralische Beschaffenheit. 18

Die Güter des Glücks interessieren nur insoweit, als sie ein materielles Vermögen darstellen, denn nur als Vermögen können die Güter des Glücks dem Staat nützlich sein. Sie zerfallen i n zwei Klassen, die unbeweglichen und die beweglichen Güter, die zusammen mit der moralischen Verfassung der Subjekte die drei Gegenstandsfelder der Polizei bilden. Z u den unbeweglichen Gütern gehören i m wesentlichen die natürlichen Ressourcen und die Verkehrswege sowie die Bevölkerung (Wohnverhältnisse, Zeugungsverhalten, materieller Wohlstand). Bewegliche Güter sind alles, was die materielle Existenz der Bürger und damit des Staates erhält und steigert (Manufakturen, Handwerk, Handel, Geldverkehr). Die moralische Beschaffenheit der Subjekte umfaßt deren Tugenden und Geschicklichkeiten, alles, was man i m weitesten Sinne zur Lebensführung zählen kann. Diese kurze Aufzählung vermag nur einen kleinen Eindruck von der Weite des Gegenstandsfeldes zu geben, u m das die Polizei sich zu sorgen hatte. Daran zu erinnern, scheint notwendig zu sein, wenn man begreifen will, worauf sich H u m b o l d t bezieht, wenn er in Ubereinstimmung mit Justis Klassifikation von der positiven Sorgfalt des Staates für das physische und moralische Wohl der Bürger spricht. U n d w i r k lich war das Gegenstandsfeld der staatlichen Sorge so groß, daß ein Polizeitheoretiker (Lois Turquet de Mayenne) sagen konnte: »The police's true object is man.« 1 9 Wie nun w i r k t die Polizei? Wie muß man sich das Modell vorstellen, nach dem sie Macht über Individuen ausübt? Zunächst einmal läßt sich die Regierungsweise der Polizei nicht auf den Mechanismus des Verbots und der Unterdrückung einschränken. Regieren heißt nicht verbieten. Statt dessen müßte man folgende Kennzeichen dieses Regierungstyps, der sich auf der Innenseite der staatlichen Souveränität entfaltet hat, hervorheben: 18

Ebd., 10.

19

Foucault, »The Political Technology of Individuais«, 156.

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1. Das Regiment der Polizei ist wohltätig. Es besteht i n einer positiven und dauernden Sorge u m das materielle Wohlergehen und die Lebensführung der Individuen, das die Polizei steigert und vermehrt. 2. Die Macht der Polizei ist individualisierend. U n d u m die Individuen regieren zu können, muß sie sie kennen, muß sie ein Wissen von den Individuen konstituieren, ein Wissen, das als Selbsterkenntnis des Staates fungiert. U n d es ist nötig, daß die Polizei wachsam ist - >Aufmerksamkeit< ist das Wort bei Justi, der Staat muß eine dauernde und erschöpfende, das heißt jedermann erfassende Aufmerksamkeit ausüben. U n d dieser H u t , dieser Sorge haben die Bürger mit Gehorsam zu antworten. 3. Das Ziel der Polizei ist, zwischen dem Wohl der Bürger und dem des Staates ein stabiles Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen. Es geht darum, jeden einzelnen in die Totalität des Staates zu integrieren. 4. Was das institutionelle Gefüge des Staates angeht, so w i r d die Polizei zu einer A r t Verwaltung der Verwaltung. Justi hält es für das Beste, jedem Collegium (Ministerium) eine polizeiliche Aufsicht zuzugesellen, also eine Finanz-, Kamerai-, Bergwerkspolizei usw. Die Polizei w i r d gedacht als eine universale Lenkungsfunktion.

IV. Angesichts der Wohltätigkeit und der Vernunft, die man dem staatlichen Regiment zuschrieb, gibt das (von Mirabeau stammende) M o t t o , das H u m b o l d t seinem Versuch über den Staat voranstellt, einen deutlichen Hinweis: »Das Schwere besteht darin, nur notwendige Gesetze zu erlassen und diesem wahrhaft konstituierenden Prinzip der Gesellschaft auf immer treu zu bleiben, sich zu hüten vor der Besessenheit des Regierens, dieser verhängnisvollsten Krankheit der modernen Regierungen.« 20 >Fureur de gouvernerRegierung< auf ein anderes Fundament zu stellen und an anderen Zielen auszurichten. U m sehen zu können, was H u m b o l d t kritisiert, wenn er die Sorgfalt des Staates angreift, seien zwei Aspekte hervorgehoben: 20

Humboldt, »Ideen zu einem Versuch«, 56 (Motto).

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1. Zunächst einmal geht H u m b o l d t auf die Einrichtungen des Staates ein, die dazu dienen, das physische Wohl der Individuen zu bewirken. I n ihnen herrscht »der Geist der Regierung« 21 , der »weise und heilsam« 22 sein mag, der allerdings einige negative Effekte hervorbringt: er erlegt den Individuen Zwang auf, er führt dazu, daß sie alle ihre Tätigkeiten und Lebensformen an verwertbaren Resultaten ausrichten müssen, er erzeugt gleichförmige Verhältnisse und heteronome Verhaltensweisen. Die positive Sorgfalt des Staates ist mit anderen Worten nichts als eine Intervention, Herrschaft maskiert als Wohltat. 2. Der zweite Aspekt betrifft die Wirkung der Normierungsmacht auf die Physik der Individuen. H u m b o l d t sagt, daß die Ausrichtung des Handelns auf die Erlangung von Gütern, die den allgemeinen Wohlstand vermehren, die Kräfte des einzelnen schwächen. Man könnte dies als >Entmächtigung< bezeichnen, das heißt den Individuen w i r d die ihnen zugehörige Kraft, durch sie sich durch sich selbst als Subjekte konstituieren könnten, genommen. Diese physische Entmächtigung der Individuen durch die polizeiliche Lenkung hat moralische Folgen: N o c h mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handlens überhaupt, und der moralische Charakter. [ . . . ] Wer oft und viel geleitet wird, k o m m t leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er i n fremden Händen sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt. 2 3

Die »sorgende Hülfe des Staats« 24 schwächt den Selbstbezug und damit auch die Bereitschaft zum gemeinschaftlichen Handeln. Das Bild, das H u m b o l d t von dem Zustand zeichnet, den das Wohlfahrtsregiment bewirkt, ist nicht das Bild grausamer und zügelloser Repression, sondern das Bild der Bequemlichkeit, der Erschlaffung, der Betäubung. Die Staaten gleichen »den Aerzten, welche die Krankheit nähren« 25 ; das ganze Wohlfahrtssystem »führt [ . . . ] auf ein fruchtloses Streben, dem Schmerz zu entrinnen« 2 6 . N i c h t über die Unterdrükkung, sondern über das Glücks- und Wohlstandsangebot läuft die Macht des Staates über die Individuen, eine Macht, die bis i n die innersten Zellen der Kräfte und der Lebensführung eines jeden vordringt. Die Glückseligkeit, die (wie H u m b o l d t sie nennt) »gutmüthige Menschen, vorzüglich Schriftsteller« 27 , zum Zweck des Staates erhoben haben, der nur an seiner eigenen Stärke inter21

Ebd., 71.

22

Ebd.

23

Ebd., 74.

24

Ebd., 75

25

Ebd.

*> Ebd., 87. 27

H u m b o l d t , »Ideen über Staatsverfassung [1791]«, in: Werke, Bd. I, 39.

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essiert war, erkennt H u m b o l d t klar als List des polizeilichen Regiments: Das »Princip, dass die Regierung für das G l ü k und das Wohl, das physische und moralische, der Nation sorgen muss« ist »gerade der ärgste und drükkendste Despotismus. Denn weil die Mittel der Unterdrükkung so verstekt, so verwikkelt waren; so glaubten sich die Menschen frei, und wurden an ihren edelsten Kräften gelähmt.« 28 Die nach Glück und Wohlstand strebenden Bürger nennt H u m b o l d t einen »Haufe[n] ernährter Sklaven«. 29 Dieser politischen Technologie der Individuen stellt H u m b o l d t eine andere Weise des Regierens entgegen. Zunächst kehrt er das Ziel des Regierens um, indem er es auf eine Ethik gründet, das heißt er löst das Regieren vom Staatszweck, von seiner Aufgabe, die Seinsweise des Staates und die Seinsweise der Individuen ineinanderzufügen, und bestimmt als Ziel des Regierens das Individuum, das sich als Subjekt seines Handelns konstituieren soll. Es soll nicht mehr darum gehen, wie der Staat die Individuen und diese sich untereinander regieren, sondern darum, daß jeder einzelne die Regierung seiner selbst wählt. Das menschliche Individuum soll (in Humboldts Worten) »der erste Quell, und das lezte Ziel alles Wirkens« 3 0 sein. Gegenüber der Wohltätigkeit, Betäubung und Schwächung, die die politische Macht hervorruft, führt er die Macht wieder in das Subjekt ein, er führt dem Individuum die Kräfte wieder zu, die es in der Vermehrung seines nutzbaren Vermögens entäußert. Diese Umkehrung der Physik des Individuums dient vor allem dazu, den Selbstbezug des einzelnen zu ermöglichen. Er soll - wie ein »Künstler« 31 - »durch eigen gelenkte Kraft« 3 2 seine Handlungen verrichten, »sich aus sich selbst organisir[en]« 33 und versuchen, »sich [ . . . ] selbst zu modificiren« 3 4 . W i r d damit das Regierungselement i m Subjekt verstärkt, weil es nur so die Souveränität über sich zurückerlangt, so w i r d diese Machtübung des Selbst andererseits begrenzt durch das Prinzip der Mäßigung, das H u m b o l d t der Regierungswut entgegenstellt. I n politischer Hinsicht übrigens w i r d diese Mäßigung herbeigeführt durch den Staat, insofern er die Sicherheit der Bürger gegeneinander durch die Anwendung eines Systems von Gesetzen gewährleistet. I n moralischer Hinsicht nimmt die Mäßigung - verstanden als eine sich selbst begrenzende Regierung - die Form dessen an, was Foucault askesis 35 und was H u m b o l d t - i n Ent-

28

Ebd., 40.

29

Humboldt, »Ideen zu einem Versuch«, 142.

30 Ebd., 76. 31

Ebd.

32

Ebd.

33

Ebd., 88.

34

Ebd., 89.

35

Vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste (Frankfurt a.M. 1989), 40 ff., 96-103.

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gegensetzung zur Polizei - >Bildung< nennt. Sie ist eine Arbeit des Individuums an ihm selbst, die sich auch i n ihrer Form wesentlich von den Direktiven der Polizei für das tugendhafte Verhalten unterscheidet, insofern sie nicht die Befolgung eines Handlungscodes darstellt, der durch einen Katalog von Vorschriften und Empfehlungen konstituiert wird, sondern als Geschicklichkeit aufzufassen ist, als kunstvolle Praktik des Selbst, die darauf zielt, der eigenen Existenz einen größtmöglichen Grad von Selbstbeherrschung und Vollkommenheit zu verleihen. Diese Existenzweise des über sich selbst herrschenden Subjekts w i r d von H u m b o l d t mit ästhetischen Qualitäten versehen, er spricht davon, daß derjenige, der in seiner Lebensweise, die mit seinem Inneren übereinstimmt, »zu einer entzükkenden Schönheit« 36 aufblüht. Zur Bezeichnung dieser auf einer Ethik des Sich-selbst-Regierens beruhenden Lebensweise läßt sich ein Begriff Foucaults aufgreifen, mit dem er die antiken Moralpraktiken charakterisiert, auf die H u m b o l d t sich bezieht, der Begriff der Ethik als Ästhetik der Existenz .

V. 1799 - sieben Jahre nach dem Versuch über den Staat - erscheinen H u m boldts Aesthetische Versuche I: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea. Die folgende Erörterung beschränkt sich auf drei Aspekte aus dem ersten Teil des Aesthetischen Versuchs , in dem das Wesen der Dichtkunst bestimmt wird. Es handelt sich bei diesen Aspekten u m den Prozeß der Idealisierung , u m den Prozeß der Transposition und u m die Definition des punctum , das heißt des Ortes, den das Subjekt gegenüber der Welt einnehmen soll. Diese Aspekte beziehen sich auf die ersten beiden von insgesamt vier Wesensmerkmalen der Dichtung, auf das, was Idealität und Totalität genannt wird. 1. Idealisierung. H u m b o l d t gibt zwei Definitionen des Idealischen in der Kunst. Die erste bestimmt das Idealische der Kunst als das Nicht-Wirkliche, das heißt, wie groß die Nähe des dargestellten Gegenstandes zu seinem realen Vorbild sein mag, als Gegenstand i m Raum des Kunstwerks ist dieser Gegenstand eine »vollkommen neue Schöpfung« 37 des Künstlers. Damit »erleidet auch der Gegenstand eine Umänderung seines Wesens« 38 , und auf diese M o d i fikation des Wesens (nicht des Gegenstandes selbst) bezieht sich die zweite Definition des Idealischen: Dadurch, dass der Dichter seinen Gegenstand, selbst wenn er ihn unmittelbar aus der N a t u r entlehnt, doch immer von neuem durch seine Einbildungskraft erzeugt, w i r d die 36 Ebd., 76. 37

Humboldt, »Aesthetische Versuche I«, 139.

38

Ebd.

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Gestalt bestimmt, die er demselben über seine wirkliche Beschaffenheit oder auch ausser derselben giebt. Denn er tilgt nun jeden Zug in ihm aus, der nur in Zufälligkeiten

seinen Grund hat, macht jeden von dem andern und das Ganze nur von sich selbst abhängig; und die Einheit, die dadurch in ihm herrschend wird, ist dennoch keine Einheit des Begriffs,

sondern durchaus nur eine Einheit der Form. Denn nur unter der doppel-

ten Bedingung völliger Selbstbestimmung und völliger Formalität ist die Einbildungskraft im Stande, ihn sich selbst zu bilden. 3 9

Es gibt also zwei Modalitäten, unter denen der Gegenstand existiert: den Modus des Realen - hier ist der Gegenstand unbestimmt, sein Dasein ist dem Zufall unterworfen, und mit anderen Gegenständen zusammen bildet er nur eine »Masse [ . . . ] abgerissener Erscheinungen« 40 - und den Modus des Idealischen - hier sind alle Züge des Zufälligen getilgt, der Gegenstand w i r d mit anderen kombiniert, er w i r d bestimmt, und dieses Gefüge von Gegenständen ist nur von sich selbst abhängig, es ist autark. Die Erneuerung des Gegenstandes durch die Zeugungskraft der Phantasie besteht also darin, daß der Gegenstand aus einem Zustand der Nicht-Bestimmung i n einen Zustand der Bestimmung, anders gesagt: einen Zustand des Regiertseins überführt wird. Der autarke Raum des Kunstwerks ist also ein Regierungsraum. H u m b o l d t gebraucht das Wort »Machtspruch« 4 1 , durch einen >Machtspruch< der Einbildungkraft w i r d das zufällige Sein des Gegenstandes suspendiert und i n ein Regiertsein überführt. Die Regierung der Einbildungskraft integriert die Dinge nun nicht unter der »Einheit des Begriffs«, sondern unter der »Einheit der Form«. Diese Bezeichnung findet man wörtlich i n den Schriften über die Ästhetik der männlichen und weiblichen Gestalt. 4 2 Die männliche Gestalt, die eine Äußerung der aktiven Kräfte des Regierens darstellt, ordnete H u m b o l d t dort der Einheit des Begriffs zu, während die weibliche Gestalt durch die Einheit der F o r m ausgezeichnet ist, welche den Beherrschungscharakter der männlichen Kraft mildert. Wenn H u m b o l d t die Operation der Idealisierung als Selbstbestimmung des Gegenstandes i n der Einheit der Form faßt, so führt er offensichtlich aktive und reaktive Kraft (wie i n der Ehe) zusammen. Die Wirkungsweise der Einbildungskraft, sofern sie der Bedingung der Selbstbestimmung

gehorcht, läßt sich

als Modus der Regierung, sofern sie der Bedingung der Formalität

gehorcht, als

Mäßigung von Regierung definieren. 2. Transposition.

Woran w i r d das Regiertsein des Gegenstandes i m M e d i u m

der Kunst erkennbar? A n der Farbe und dem Glanz, die der Künstler seinem 39 4

Ebd., 140 (meine Hervorhebungen).

° Ebd.

41

Ebd., 150.

42

Humboldt, »Über die männliche und weibliche Form [1795]«, in: Werke, Bd. I, 309.

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Werk leiht und durch die er die Phantasie des Lesers oder Betrachters aktiviert. Der ästhetische Schein ist offenbar das Zeichen des Beherrschtseins der Dinge i m autarken Raum des Kunstwerks. Verblüffend ist nun aber die mehrmals geäußerte Feststellung, daß bei der Einführung der natürlichen Gegenstände i n den ästhetischen Raum die Gegenstände selbst nicht modifiziert werden sollen. Die ästhetische Wirkung kann sich »selbst bei der sklavischsten Anhänglichkeit an die N a t u r « 4 3 entfalten. Diese Paradoxie w i r d noch weitergeführt, wenn H u m b o l d t sagt, daß das Kunstwerk uns den Gegenstand »als reines Werk der Einbildungskraft und als vollkommen real« 4 4 zeigt. Diese Zusammenführung von Idealität (also Regierung) und Empirizität im Kunstwerk unter der Souveränität der Einbildungskraft kann nicht durch das Prinzip der Nachahmung bew i r k t werden. Statt dessen schlägt H u m b o l d t ein anderes Prinzip vor, das Prinzip der Transposition des Gegenstandes von einer Sphäre i n eine andere. Diese Vorstellung w i r d sprachlich variiert, es ist die Rede von >HinübertragenEntlehnenSieh hin!Sicherheit< w i r d i m Modus der Einbildungskraft von der politischen Ebene auf seine ethische Bedeutung für die Kultur des Selbst zurückgebracht. Diese Kultur des Selbst bleibt aber eingespannt i n ein politisches Problem, das den Rahmen für den Aesthetischen Versuch I abgibt. Man müßte die Kunst, sagt Humboldt, noch enger als bis jetzt geschehen, »mit der moralischen Bildung in nähere Verbindung setzen«, es war »nie nöthiger [ . . . ] , die innern Formen des Charakters zu bilden und zu befestigen, als jetzt, w o die äussern der Umstände und der Gewohnheit mit so furchtbarer Gewalt einen allgemeinen Umsturz drohen.« 5 1 Die Ästhetik als Ethik des Selbst erscheint hier als eine A r t Wider49

Ebd., 147 (Überschrift).

50

Ebd., 150 (meine Hervorhebung).

51

Ebd., 356.

79

Humboldts Staatskritik und Ästhetik

standstechnik. I n der Tat glaubte H u m b o l d t , daß die Wirkung der französischen Revolution und der Revolutionskriege darin bestehen wird, daß die neuen Staatseinrichtungen den einzelnen viel stärker als bisher i n Anspruch nehmen werden. 5 2 Seine kritischen Anstrengungen verfolgten das Ziel, dem Staat und seiner Interventionstechnologie wenigstens einen Teil der Regierungsmacht zu entreißen und mit der Kunst einen Raum der Gegenregierung zu gründen, zu erfinden, das heißt i n einer Gegenfiktion zur F i k t i o n des Staates das Regierungsthema wieder mit einer Ethik des Selbst zu verknüpfen. I n der Reihe der modernen Versuche, die Kunst als einen Operator der Selbstgestaltung vorzuschlagen, muß man H u m b o l d t eine wichtige Stelle zusprechen. M a n w i r d die Gestaltung seiner selber als einen wichtigen Aspekt dessen begreifen dürfen, was H u m b o l d t >Bildung< nannte. Bisher ist beharrlich jene berühmte Definition der Bildung aufgeschoben worden, die lautet: Der wahre Zwek des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. 53

Daß dieser Satz sich i n einer politischen Schrift findet, sollte man ernst nehmen, u m seinen angeblich anthropologischen Gehalt nicht von der konkreten politisch-moralischen Debatte abzuziehen, die seinen Kontext bildet. Es bleibt weiterhin nachzutragen, daß es viele Paraphrasen von Humboldts Definition der Bildung gibt wie zum Beispiel diese: Die Vernunft erkennt als Lebenszweck des Menschen die harmonische Entwickelung und Ausbildung seiner sämmtlichen Kräfte. Dieß gilt von den Körper-Anlagen so gut als von denen der Seele, doch ist allerdings die Ausbildung der geistigen Kräfte die bei weitem wichtigere Hälfte der Aufgabe. Aus der Forderung, daß die Bildung harmonisch seyn müsse, folgt auf der einen Seite, daß auch nicht Eine Anlage unangeregt schlummern darf, wenn nicht der Wille der Natur unbefolgt bleiben, und ein Theil der Bestimmung des Menschen verfehlt seyn soll; auf der anderen Seite aber ergiebt sich daraus mit Nothwendigkeit, daß keine einzelne Kraft auf Kosten und mit Unterdrükkung der übrigen gebildet, und dadurch dem Menschen eine einseitige, ihn und Andere unbefriedigende Richtung gegeben werden darf.

Das Bemerkenswerte an diesen Sätzen ist, daß sie gar nicht den von H u m boldt initiierten Diskurs stützen, sondern einen anderen: die H u m b o l d t zitierenden Sätze finden sich nämlich i n Robert v o n Mohls 1832/33 erschienener Schrift Die Polizey-Wissenschaft

nach den Grundsätzen

des Rechtsstaates.

54

D i e gegen die Technologie der Wohlfahrt gewonnene Praktik des Selbst w i r d 52 Humboldt, »Ueber die Bedingungen, unter denen Wissenschaft und Kunst in einem Volke gedeihen [1814, posth.]«, in: Werke , Bd. I, 555. 53

Humboldt, »Ideen zu einem Versuch«, 64.

54

2 Bde. (Tübingen 1832-33), Bd. 1,403.

Ulrich Kinzel

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in die Praktik der Polizei zurückübersetzt. Das ethische Problem der Bildung des Selbst durch sich findet sich eine Generation nach H u m b o l d t i n Nachbarschaft zu dem polizeilichen Problem der Regulierung einer Bevölkerung. Die Lösung der Bildungsaufgabe w i r d mit der Lösung der Bevölkerungsfrage verknüpft. 55 A n diesem Punkt hat Nietzsche i n seinen frühen Schriften über die Bildungsanstalten den Bildungsdiskurs aufgenommen und ihn später mit dem Problem der Macht wiederverbunden. »Erweiterung und Verbreitung der Bildung«, unter dieser Formel faßt Nietzsche die politische Technologie der Bildung zusammen: »Möglichst viel Erkenntniß und Bildung - daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß - daher möglichst viel Glück [ . . . ] . H i e r haben w i r den N u t z e n als Ziel und Zweck der Bildung.« 5 6 M a n erkennt i n den Wörtern >Glück< und >Nutzen< sehr schnell die Leitbegriffe der Polizei wieder; N i e t z sche bezieht sich bewußt auf sie und bringt sie in Verbindung mit der ratio status, mit dem Streben des Staates, »um seiner eignen Existenz willen [ . . . ] die stärkste Entfesselung der Bildung noch unter sein Joch« 5 7 zu spannen. U n d diese Erweiterung w i r d zur Vernichtung der Bildung, da die mobilisierten Kräfte i m Räderwerk der Arbeit, der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und i m Journalismus verbraucht werden. Die Konzeption des Willens zur Macht w i r d i n wesentlichen Teilen der Versuch sein, das Subjekt mit seinen Kräften wiederzuverbinden, und diese Rekonjugalisierung ist als eine Praxis dessen zu begreifen, was Foucault >Ästhetizismus< nennt. 5 8 Es geht darum, sich von der U n wandelbarkeit des Charakters zu lösen - denn dieser >feste Ruf< lockt das Individuum i n die soziale Nützlichkeit - und die eigene Existenz auf das »Wechseln, Umlernen, Sich-Verwandeln« 59 zu gründen. I n positiver Weise w i r d diese Umwandlung als Stilisierung des Selbst betrieben: Seinem Charakter »Stil geben« - eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter N a t u r hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: - beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. 6 0 55 Eine Verteidigung dieser Verbindung findet sich bei Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre [1966] (München 1986), 220,223 f. 56

Friedrich Nietzsche, »Uber die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, KSA 1, 667.

57

Ebd., 669.

58

Michel Foucault, »The Minimalist Seif«, in: M.F., Politics, Philosophy

views and Other Writings

y

Culture.

Inter-

1977-1988, hg. Lawrence D. Kritzman (New York/London

1990), 14; Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit (Berlin 1996), 175. 59

Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, 537.

60

Ebd., 530.

Humboldts Staatskritik und Ästhetik

81

Der Gebildete, der von den Künstlern lernt, indem er von sich selbst A b stand nimmt, sich - sein Werk - überblickt und prüft und sich zum Dichter seines Lebens »im Kleinsten und Alltäglichsten« 6 1 macht, w i r d zum »Gebilde«, zur »Form« 6 2 - »der plastische Bildner seiner selber« 63 . Dieser Ästhetizismus findet einen Verbündeten i n der durch den »weiten Blick« der politischen Verantwortung geschulten »Personal-Souveränität« genauswendi-

; seinen Feind findet er i n dem,

was zur >inwendigen< Macht des Staates gehört, i n der politischen Regulierung des Kleinsten: Unsere Civilisation, regiert durch eine minutieuse Polizei, giebt keinen Begriff davon, was der Mensch in Epochen thut, wo die Originalität eines Jeden freieren Spielraum hat. 6 6

61

Ebd., 538.

62

Friedrich Nietzsche, Umwertung (München 1987), 749. 63

aller Werte , hg. Friedrich Würzbach, 2. Aufl.

Ebd., 756.

64

Friedrich Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1887-1889«, KSA 13, 112 (meine Hervorhebung). 65

Vgl. ebd., 187.

66

Ebd., 185.

6 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42. Bd.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg und seinem Umkreis Von Hermann F. Weiss

M i t der unmittelbar bevorstehenden Publikation der Teilbände 6 / 3 und 6 / 4 w i r d die historisch-kritische Novalis-Ausgabe vorerst zum Abschluß kommen. Allerdings ist eine Neubearbeitung der zum Verständnis von Leben, Werk und Umwelt dieses Dichters wichtigen zeitgenössischen Zeugnisse in Band 4 1 z. Zt. nicht geplant. Daher seien den von mir in den letzten Jahren veröffentlichten Dokumenten dieser A r t 2 hier zahlreiche weitere hinzugefügt, die i n der HKA bisher nur in kürzerer oder fehlerhafter Form vorlagen bzw. gänzlich unbekannt sind. Einige entstammen dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M . , 3 aber die meisten dem trotz aller Verkäufe und Verluste immer noch umfangreichen, i n der Außenstelle Wernigerode des Landesarchivs Magdeburg befindlichen Grundherrschaftsarchiv Oberwiederstedt. 4 Gabriele Rommel, die Leiterin der Forschungsstätte für Frühromantik und des Novalis-Museums i m Schloß Oberwiederstedt, hat diesen Bestand dankenswerter Weise neu geordnet und aufgezeichnet. 5 I m Folgenden w i r d öfters aus dem über 400 Seiten starken Folioband Salinendirektor v. Hardenberg zitiert, der sich i m Grundherrschaftsarchiv Oberwiederstedt unter Nr. 10 befindet. 6 Diese von der Forschung noch nicht aus1

Vgl. Novalis, Schuften (zit. HKA),

Bd. 4, hg. Richard Samuel (Stuttgart 1975), 5 3 1 -

684. 2 Vgl. u. a. Verf.: »Novalis und der Landkomtur auf Schloß Lucklum. Die Beziehung des Dichters zu seinem Onkel Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenberg«, Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 79 (1998), 129-131; »Der Mittwochs- und der Professorenklub. Zur Geselligkeit in Jena am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts«,

Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1999, 107-109. 3

(Zit. F D H ) . Ich danke Christoph Pereis, dem Direktor des F D H , für die Zitiererlaubnis, sowie Renate Moering ( F D H ) für die Bereitstellung von Kopien. 4 Den Mitarbeitern der Außenstelle Wernigerode, insbesondere H e r r n Dr. Klare, Herrn Brückner und Frau Schulze gilt mein herzlicher Dank für ihre nimmermüde Unterstützung meiner Forschungen. 5 E i n von Gabriele Rommel aufgestelltes Verzeichnis des Bestandes Oberwiederstedt w i r d demnächst erscheinen.

7*

84

Hermann F. Weiss

gewertete Archivalie wurde von Maria Sophia von Hardenberg (1821-1898), einer Tochter von Friedrich von Hardenbergs Bruder Georg A n t o n (1781 — 1825), angefertigt. Sie besteht aus ihren chronologisch angeordneten Abschriften zahlloser Briefe und anderer Dokumente sowie ihrem verbindenden K o m mentar und behandelt das gesamte Leben ihres Großvaters. Möglicherweise handelt es sich u m Vorarbeiten zu einer nicht zustande gekommenen Biographie, denen anscheinend ein von ihr »Novalis« genanntes Projekt vorausgeht. I n Salinendirektor v. Hardenberg verweist sie nämlich gelegentlich darauf, etwa mit Vermerken wie »Das Unterstrichne in diesen Briefen ist in Novalis abgeschrieben« 7 oder »Der ganze Brief ist in dem Leben von Novalis abgeschrieben«. 8 Gemeint ist w o h l der unter Nr. 1 i n Wernigerode aufbewahrte etwa 250 Seiten umfassende Folioband Friedrich von Hardenberg - Erasmus von Hardenberg. Familiengeschichte, 9 der ebenfalls viele Abschriften und Ansichten Sophia von Hardenbergs enthält und eine Vorstufe zu ihrer 1873 in erster und 1883 in erweiterter Auflage erschienenen Biographie des Dichters darstellt. 10 Salinendirektor v. Hardenberg dürfte also etwa ab 1872 entstanden sein; eine genauere zeitliche Datierung ist z. Zt. nicht möglich. Zwar genügen die A b schriften Sophia von Hardenbergs nicht immer heutigen philologischen Anforderungen, aber dieses Konvolut besitzt doch beträchtlichen Wert, da es nicht nur mancherlei inzwischen verschollene Handschriften, sondern auch mündliche Familienüberlieferung wiedergibt und überdies von einer Kennerin des damals noch umfangreicheren Oberwiederstedter Archivs geschrieben wurde. Sophia von Hardenbergs Kommentar, der i n der vorliegenden Dokumentation ab und zu zitiert wird, enthält Partien, die sie aus Familienrücksichten oder anderen Gründen in Nachlese lediglich in abgeschwächter Form oder gar nicht veröffentlichte. So w i r d z. B. die Mutter des Dichters i n Salinendirektor v. Hardenberg 11 kritischer gesehen als in Nachlese, 12 und die negativen Bemerkungen 6 A u f S. 1 des Konvoluts findet sich noch folgende Überschrift »Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg«. Gelegentlich sind weitere von Sophia von Hardenberg nicht mit Seitenzahlen versehene Abschriften eingeheftet. 7 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 14v. 8 Ebd., 97v. Es handelt sich u m Friedrich von Hardenbergs langen Brief an den Vater vom 9. Februar 1793; vgl. ferner ebd., fol. 145r. 9

Das Konvolut Nr. 1 ist von der Forschung schon teilweise ausgewertet worden; vgl. z. B. HKA, Bd. 4, 721, 991 u.ö. 10 Friedrich von Hardenberg (genannt Novalis). Eine Nachlese aus den Quellen des Familienarchivs herausgegeben von einem Mitgliede der Familie (2. Aufl., Gotha 1883); zit. Nachlese. 11

12

Vgl. Kommentar zu Nr. 3 der vorliegenden Dokumentation.

Nachlese, 9; vgl. Kommentar zu Nr. 39 der vorliegenden Dokumentation. Sophia von Hardenberg beteiligte sich an der zeitgenössischen Diskussion über die Stellung der

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

85

ü b e r J u l i e v o n C h a r p e n t i e r , 1 3 die z w e i t e B r a u t des D i c h t e r s , e n t f a l l e n i m B u c h ganz. D i e h i e r i n c h r o n o l o g i s c h e r F o l g e a b g e d r u c k t e n Zeugnisse b i e t e n m a n c h e r l e i neue I n f o r m a t i o n e n ü b e r F r i e d r i c h v o n H a r d e n b e r g u n d seine F a m i l i e n a n g e h ö rigen, e t w a z u r r e l i g i ö s e n E n t w i c k l u n g seines Vaters, e i n e m bisher u n b e k a n n t e n A u f e n t h a l t des D i c h t e r s i n B e r l i n u n d z u d e n l e t z t e n M o n a t e n seines L e bens. I n f o l g e d e r l ü c k e n h a f t e n U b e r l i e f e r u n g k ö n n e n sie l e i d e r o f t n u r fragm e n t a r i s c h k o m m e n t i e r t w e r d e n . M ö g e n Sie die z u k ü n f t i g e N o v a l i s - F o r s c h u n g z u w e i t e r e n S u c h a k t i o n e n anregen, die d a n n v i e l l e i c h t d o c h n o c h v e r l o r e n G e glaubtes zutage f ö r d e r n ! 1. B ü n d n i s H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g s m i t G o t t . 11. F e b r u a r 177014 Unendlicher, ewig seliger Gott! ich wünsche mich Dir, in tiefster Demuth und Erniedrigung meiner Seelen, darzustellen. Ich weiß es wohl, wie unwürdig ein solcher sündiger W u r m ist, vor der allerheiligsten Majestaet des Himmels, dem König aller Könige, und Herrn aller Herren, zu erscheinen; besonders bey einer solchen Gelegenheit, wie diese ist, da ich mit D i r eben einen förmlichen Bund errichten will. D u hast mich zwar i n den ersten Tagen meines Lebens in dem Bade der heiligen Taufe bereits i n Deinen heiligen Bund aufgenommen, und ich habe selbigen bey meinem Eintritt in die Welt bey dem öffentlichen Glaubens Bekenntniße vor Deiner Gemeinde zu Oberwiederstedt an dem feyerlichen Feste, welches dem Gedächtniße der gloreichen Himmelfarth Deines lieben Sohnes Jesu Christi geheiliget ist, erneuret: Allein o mein Gott, welche Schrecken erfüllen meine Seele, wenn ich an die Sünden meiner Jugend gedenke, durch welche ich so unzähligen mahl diesen heiligen Bund gebrochen, und mich durch den ausschweifendsten Leichtsinn, und durch die eifrigste Befolgung meiner sinnlichen Begierden von den Wegen dieses heiligen Bundes habe ableiten laßen. O b ich nun gleich meine gänzliche Unwürdigkeit erkenne, jenes heilige Bündniß mit D i r dem allerheiligsten aber auch durch meine große Undankbarkeit und sündlichen Beleidigungen höchst erzürnten Wesen zu erneuren, so hast D u mir doch diese gnädige Erlaubniß aus unendlichem Erbarmen durch Deinen Sohn anbieten laßen, und Deine Gnade hat mein Herz erweichet und zugleich gestärket in tiefster Ehrfurcht jedoch mit einer kindlichen Zuversicht mich zu Deinem heiligen Throne zu nahen. So komme ich nun zu D i r und bekenne daß ich ein großer Ubelthäter gewesen. Ich schlage an meine Brust und spreche mit dem demütigen Zöllner: Gott sey mir armen Sünder gnädig! Ich komme eingeladen in dem Nahmen Deines Sohnes, und verlaße mich gänzlich auf deßen vollkommene Gerechtigkeit. Ich bitte aber D u wollest u m seiner vollFrau, wie z. B. ihre 1883 i n Leipzig erschienene Broschüre Zur Frauenfrage belegt (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 36). 13 14

Vgl. Kommentar zu Nr. 28 der vorliegenden Dokumentation.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 310. A u f dem Umschlag befindet sich folgender Vermerk des Vaters: «Von niemand bey meinem Leben zu eröfnen H U E von Hardenberg«

Hermann F. Weiss

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kommenen Gerechtigkeit willen, meiner Ungerechtigkeit gnädig seyn, und meiner Sünden in Ungnade nicht mehr gedenken. Ich bitte D i c h n i m Dein ungehorsames Geschöpfe wiederum zu Gnaden auf und an. Ich bin ja nunmehr überzeuget, von Deinem Rechte über mich, und wünsche nichts so sehr, als nur der Deinige zu seyn. Heute diesen Tag ergebe ich mich D i r auf das allerfeyerlichste. Ich kündige allen meinen vorigen Herren, insbesondere denen so die gröste Gewalt über mich gehabt dem Leichtsin, der Faulheit und der Wollust, wie auch allen andern Sünden und Lastern hiermit und von nun an völlig auf. D i r widme ich alles was ich bin und ich habe; die Kräfte meiner Seele, die Glieder meines Leibes, meine zeitlichen Güter, meine Zeit und meine Rechte über andere. Alles soll bloß allein zu Deiner Ehre gebraucht, und nur in dem Gehorsam gegen Deine heiligen Befehle verwendet] werden, so lange D u nur immer mein Leben fristen wirst. M e i n brünstiges Verlangen, mein demütiges Begehren, Dein zu seyn, zu leben und zu sterben, soll mit mir in die heilige Ewigkeit gehen. Ich werde mich i n dieser aufmercksamen Verfaßung beständig erhalten, u m die erste Vorschrift Deines Willens zu beobachten, und mit völliger Bereitwilligkeit mit Eyfer und mit Freude, zu der ungesäumten Vollziehung deßelben zu schreiten. Ich verschreibe mich zugleich und alles was ich bin und was ich habe Deiner göttlichen Führung. Mache D u es m i t diesen allen, so wie es Deine unendlichen Weißheit dem Zweck Deiner Ehre am gemäßesten erachtet. D i r überlaße ich die Regierung aller Begebenheiten, und spreche ohne alle Bedingung, ohne allen Vorbehalt: Herr, nicht mein sondern Dein Wille geschehe! Ich freue mich aus treuem Herzen, über Deine unumschränkte Regierung, die allen vernünftigen Geschöpfen nichts als Lust und Vergnügen erwecken kann. Gebrauche mich o Herr! ich bitte Dich, als ein Werkzeug i n Deinem Dienste. Zähle mich unter Dein eigenthümliches Volk. Wasche mich m i t dem Blute Deines geliebten Sohnes, meines einzigen Heylandes und Erlösers. Bekleide mich m i t seiner Gerechtigkeit. Heilige mich mit seinem heiligen Geiste, mache mich immer mehr und mehr seinem Bilde ähnlich. Theile mir durch ihn, allen nöthigen Beystand seines Geistes mit, der mein Herz reinige, erquicke und tröste. U n d gieb daß ich meine Tage, unter dieser Hülfe, in dem Lichte Deines gnädigen Angesichts, mein Vater und mein Gott, zubringen möge. Erscheinet dann die wichtige Stunde meines Todtes, so gib mir Gnade, daß ich noch i n meinen letzten Augenblicken dieser meiner Verbindlichkeit gegen D i c h eingedenk sey, und noch meinen letzten Odem zu Deinem Dienst verwende. U n d gedenke D u Herr noch alsdann dieses Bundes, wenn D u siehest, wie groß die Angst meines sterbenden Herzens ist, und wenn D u weist, daß ich nicht mehr vermögend bin, mich deßen zu besinnen. Ach! mein himmlischer Vater, siehe mit einem mitleidigen Auge hinab, auf Dein mattes, auf Dein mit dem Todte ringendes Kind. Lege Deine ewigen Arme unter mich die mich tragen. Gieb meiner Seele, wenn sie abscheidet Stärke und Zuversicht, und n i m m sie auf, i n die Arme Deiner ewigen Liebe, Empfange sie i n den Wohnungen derer die in Jesu entschlaffen sind. Laß sie mit ihnen daselbst den herrlichen Tag erwarten, an welchem die letzte Deiner Verheißungen über das Volk Deines Bundes nach ihrer siegreichen Auferstehung, w i r d erfüllet werden. Laß mir also m i t ihnen [unleserliches Wort] dargereichet werden, den Eingang zu dem ewigen Reiche unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi. D u hast uns ja daßelbe durch Deinen Bund versichert. U n d in Hoffnung deßen ergreiffe ich jetzt denselben, und wünsche diese Hoffnung fest zu halten i m Leben und i m Sterben. B i n ich aber solcher gestalt i n das Reich der Todten versetzet, gehet mein

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

87

Leib bereits durch die Verwesung i n seinen ersten Stoff zurück, und sollte alsdann ein Hinterlaßener Freund, dieses schriftliche Denkmahl meines feyerlichen Bundes mit D i r finden, so laß auch sein Herz dadurch lebhaftig gerühret werden. Gib i h m die Gnade daß er es nicht wie meine sondern wie seine eigene Sprache lese. Lehre ihn wie er D i c h den Herrn meinen Gott fürchten, und mit mir seine Zuversicht unter den Schatten Deiner Flügel i n Zeit und in Ewigkeit nehmen soll. Laß ihn demnächst diese Gnade verehren, welche unsre Herzen neiget i n diesen Bund zu treten, und die, wenn w i r geneigt und w i l lig dazu sind, uns ganz unverdienter Weise darinnen aufnimt. Laß i h m endlich, wenn auch er zu seiner Zeit die Schrecken des Todtes überwunden nebst mir und allen Erlöseten i n den ewigen H ü t t e n des Friedens, D i r dem dreyeinigen Gott, Vater, Sohn, und H e i ligen Geist so viel Dank Ruhm, Ehre, und Preiß darbringen, als einer jeden göttlichen Person für alles, was sie zu diesem herrlichen Werke beyträgt, eigenthümlich gebühret, von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen.

Schloeben d. 11 Hornung 1770. Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg erneuert d. 15 Nov. 1772 erneuert d. 16 A p r i l 1773. erneuert d. 28 Nov. 1773. erneuert an meinem Geburtstage d. 9 Jenner. 1775 erneuert d. 12Jun[i] 1775. erneuert d 19 Jenner. 1777. erneuert d. 6 Oct. 1777. erneuert d. 17 April. 1778. Gib Jesu, daß ich D i r nach geh thuh Deines Vaters Willen. Weil ich es aber oft verseh, zu schwach ihn zu erfüllen; So rette mich Dein theures Blut, U n d mache meine Mängel gut.

2. Georg Gottlieb Lebrecht von Hardenberg an den Vater. Gotha, 2. Juli 1772 15 Ich habe dir, mein lieber Bruder, meine Freude noch nicht bezeugt, welche mir die glückliche Niederkunft deiner Frau Gemahlin mit einem iungen Sohne verursacht, ich habe dir noch nicht bezeugt, daß ich es als ein Zeichen von aufrichtiger Freundschaft nehme, daß du mich zu Gevatter genommen hast, ich habe dir noch nicht gesagt, wie froh, wie zufrieden ich bin, über ein Zeichen der Freundschaft meiner Brüder, da ich nichts mehr und sehnlicher wünsche. Die Ursache ist gewesen, daß ich auch die hier grasierende contagion durch einen starken Anfall empfunden mein A r z t rieth mir bey der Beßerung mich von Gotha zu entfernen, und frey von allem mich auf dem Lande zu erhohlen, ich gieng nach Georgenthal, welches da es das Gestüt ist, mir eine angenehme und eigene Wohnung dar bot, und hinter ließ meinen Bedienten welchen ich befahl mir nichts von 15

Ebd., Nr. 85.

Hermann F. Weiss

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allem dem nachzuschicken, was indeßen einlauffen würde. Haette ich gewußt daß meine Frau Schwaegerin in gesegneten Umstaenden war, haette ich vermuthet daß du mein lieber Bruder, mich würdest zu einen Pathen nennen so würden Deine Brieffe, feyn ausgenommen werden. Glücklich werde ich mich schaetzen, wenn ich iehmahls durch wahre Freundschaft, meine[m] kleinen neveu, nuzlich seyn koenne zu deßelben wahren Wohl. Ich freue mich über diesen kleinen Mann u m so viel mehr, da ich es als kein Unglück ansehe, daß mir Gott, der alles zu unsern Besten wendet, keine Kinder gegeben hatt, die Sorgen und Pflichten der Auferziehung sind groß und schwer, vielleicht zu schwer vor mich aber nicht vor Dich. Begnüge D i c h aber nicht an den Einen kleinen Mann, noch einer wenigstens. [ . . . ] Kommentar: G e o r g G o t t l i e b L e b r e c h t v o n H a r d e n b e r g ( 1 7 3 2 - 1 8 2 2 ) , h e r z o g l i c h sächsisch-gothaischer G e h e i m r a t u n d O b e r s t a l l m e i s t e r , e i n O n k e l F r i e d r i c h v o n H a r d e n b e r g s väterlicherseits, w i r d i n d e r K o r r e s p o n d e n z des D i c h t e r s selten e r w ä h n t . 1 6 I m O b e r w i e d e r s t e d t e r K i r c h e n b u c h erscheint er u n t e r d e n T a u f paten Friedrich v o n Hardenbergs. 17 3. G e d i c h t B e r n h a r d i n e A u g u s t e v o n H a r d e n b e r g s 1 8 A n den kleinen Fritz zu seinem Geburtstag. M e i n Sohn, für den sich jederzeit, mein ganzes Herz bewegt Das m i t besorgter Fröhlichkeit, für Deine Wohlfahrt schlägt. Das wenn in stiller Mitternacht, der Schlaf mein Auge schließt N o c h selbst so sehr als wenn es wacht, mit D i r beschäftigt ist. Jüngst träumte mir, o hör ihn an, den angenehmen Traum So lebhaft denkt u. handelt man, am hellen Tage kaum Ich stieg an Deines Vaters Hand, den hohen Berg hinauf, D o c h manche Hindrung die sich fand, hielt uns i m Gehen auf. Dein Vater, von des Alters Last, bereits ganz krummgebeugt Der wankt bei jedem Schritte fast, indem er höher steigt. U n d ich, ich folgte langsam nach, schon selber alt u. grau, Ein Stecken stützte nur noch schwach, die alte, matte Frau.

16 HKAy Bd. 4, 290 (Friedrich von Hardenberg an Louise Henriette von M i l t i t z , Juni 1799). Relevante Korrespondenz dieses Onkels ließ sich weder i m Thüringischen Staatsarchiv Gotha bzw. dem Thüringischen Staatsarchiv Altenburg noch in der Forschungsbibliothek Gotha finden. 17 18

Ebd., 566.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol., 68 r (Abschrift Sophia von Hardenbergs).

Oberwiederstedt,

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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So stiegen w i r u. blieben oft, bei jedem Schritte stehn, Da ließest D u D i c h unverhofft, an unsrer Seite sehn! D o c h nicht so klein u. jugendlich; nein stark u. männlich schön, Verstand u. Klugheit ließen sich, in Deinen Augen sehn. I n allen Deinen Handlungen, erschien Rechtschaffenheit, Der Gottheit Dienst, dem Wohlergehn des Nächsten ganz geweiht. Ein Herz, das voller Edelmuth, des Lasters Reiz verwarf, Dies Alles, o mein lieber Sohn! bezeichnete Dein Blick. W i r Eltern ganz entzückt davon, w i r fühlten dieses Glück. D u kamst, Dein starker A r m bot sich, uns Alten hülfreich an: Ganz leicht, w i r hielten uns an Dich, ward uns die rauhe Bahn. U n d wer uns sah, der segnete, den wohlgerathnen Sohn O , rief man aus: Glückselige wie schön ist dieser Lohn! M i t nie gefühlter Leichtigkeit verfolgten w i r den Lauf, D o c h mitten in der Fröhlichkeit, wacht Deine Mutter auf: U n d wünscht an diesem Tage heut, da sie D i c h einst gebar, O machtest D u i n künftger Zeit, die schönen Träume wahr! Kommentar: N e b e n diesem w a h r s c h e i n l i c h i n d e n J a h r e n k u r z v o r 1780 entstandenen G e d i c h t der M u t t e r ist e i n z w e i t e s m i t d e m T i t e l Der kleine

Fritz

an seinen

Vater

ü b e r l i e f e r t , welches Sophia v o n H a r d e n b e r g erstmals v e r ö f f e n t l i c h t e . 1 9 I n Salinendirektor

v. Hardenberg

b e m e r k t sie z u m V e r h ä l t n i s z w i s c h e n V a t e r u n d

Mutter: Vielleicht wenn ihr Mann liebevoll auf ihre Interessen eingegangen wär[e], ihre bescheidenen Wünsche in Bezug auf Geselligkeit berücksichtigt hätte, ihrer geistigen E i g e n t ü m lichkeit, die allerdings hübsch u. anmuthig i n den beiden kleinen Gedichten an Novalis u. an seinen Vater hervortritt, Einfluß auf sich gestattet hätte, so würde sie sich schöner u. für die Kinder segensreicher entwickelt haben. So erscheint sie so passiv, so energielos, u. nur das Liebevolle ihres Gemüths versöhnt mit der seltsam schwachen Natur sowohl dem Manne wie den Kindern gegenüber. 20

19

Nachlese , 1 2 - 1 3 . Weitere Geburtstagsgedichte der Familie von Hardenberg befinden sich in Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 1 4 6 / 1 , 2 3 5 / 1 . 20 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, 67 v . Zur D y n a m i k der Ehe und ihrer Wirkung auf Friedrich von Hardenberg vgl. Florian Roder, Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs (Urachhaus 1992), 3 6 - 3 7 .

90

Hermann F. Weiss

4. Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Schlöben, 21 9. O k tober 1779 2 2 A u f der Brücke am Thore begegnete mir der gute Geheime Rath Ponikau. 2 3 Dieses war mir sehr fatal. Dadurch w i r d denn nun abermahls die Sache verlängert. [ . . . ] das Zeug für Fritzen, die lavendel Blumen für Jenert und 1 Mandel Lerchen für D i c h überkommen mit Dölscher. A u c h habe ich ein paar Zeilen an den guten Klingsohr geantwortet die ich zur Besorgung m i t übersende. [ . . . ]

Kommentar: Dieser Briefauszug enthält einen interessanten Hinweis auf die Verbindungen der Familie von Hardenberg zu den Herrnhutern. Sophia von Hardenberg nennt nämlich unter den von ihr anscheinend i m Schlöbener Kirchenbuch gefundenen Taufpaten Georg A n t o n von Hardenbergs (28. Juli 1781) »August Klingsohr, Prediger zu K l . Welke«. 2 4 Der i n der Nähe von Dresden geborene Johann August Klingsohr (1764-1798) war u m 1770 Hofmeister Peter Carl Wilhelm von Hohenthals (1754-1825), der sowohl den Herrnhutern wie auch der Familie des Dichters nahestand. 25 1772 wurde Klingsohr i n die Brüdergemeine aufgenommen, wirkte von 1778 bis 1780 i n Ebersdorf 2 6 und wurde 1780 als Gemeinhelfer und Prediger nach Kleinwelka (Oberlausitz) berufen. Von 1783 bis zu seinem Tod lebte er als Prediger i n verschiedenen Orten Pennsylvaniens, zuletzt i n Bethlehem. 2 7

21

1776 übersiedelte die Familie des Dichters von Oberwiederstedt i n das Gut Schlöben bei Jena, welches seit 1768 i n ihrem Besitz war; vgl. Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 61 v . 22

Ebd., Nr. 309. I n dieser Mappe befinden sich die meist relativ kurzen Briefe des Vaters an seine Frau aus dem Zeitraum 1779-1807, i n Nr. 166 diejenigen der Jahre 1808 —

1812. 23

Wahrscheinlich Johann Friedrich von Ponickau (1723-1780), kusächsischer Ge-

heimrat; vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der uradeligen

Häuser; Bd. 7

(Gotha 1907), 614, ferner A n m . 65. 24 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 70 v .

Oberwiederstedt,

25

Vgl. HKA, Bd. 4, S. 662 (Caroline von Rechenberg an ihre Mutter, 6. August 1800).

26

Z u Ebersdorf vgl. Kommentar zu Nr. 39.

27

Frdl. Mitteilung des Archivs der Brüder-Unität Herrnhut v o m 18. August 2000. Die Moravian Archives i n Bethlehem (Pennsylvania) bewahren zwar amtliche, aber keine Privatkorrespondenz Klingsohrs auf (frdl. Mitteilung v o m 11. September 2000).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

91

5. Hauptmann von Boeltzig an den Vater. Berlin, 9. März 1785. Berlin, 9. März 1785 2 8 Meine Mutter hat mir geschrieben, daß Ihnen der Churfürst den Posten eines Directeurs seiner Salzwerke aufgetragen habe; 2 9 ich gratuliere von Herzen dazu u habe mich herzlich gefreut, sowohl Ihretwegen, als auch weil dieser neue Posten ein Merkmal der immer mehreren Aufnahme meines Vaterlandes u. seiner Industrie ist, u. durch diese neue Entreprise, wenn sie auch gleich noch nicht sehr beträchtlich ist, u m damit auswärtigen Handel zu führen, doch immer eine ansehnliche Summe i m Lande bleibet, die vor diesem in's Ausland ging, wodurch also der innere Reichthum Sachsens gewinnen muß; eine nicht kleine Acquisition, da seine Nachbarn seinen Gewerben so viele Hindernisse in den Weg legen, u. dieselben gänzlich zu hemmen suchen [ . . . ] .

Kommentar: Sophia von Hardenbergs Nachlese zufolge übte neben dem Onkel Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenberg (1732-1800) »der Stiefbruder der Frau von Hardenberg, Hauptmann von Bölzig« einen wichtigen Einfluß auf die Erziehung der Kinder aus. Er war als preußischer Offizier i m Siebenjährigen Krieg Invalide geworden, war ein Bewunderer Friedrichs I I . und »verabscheute jeden Zwang i n religiöser Hinsicht«. 3 0 I n Salinendirektor

v.

Hardenberg

berichtet sie über diesen von der Forschung noch kaum beachteten Stiefonkel ferner, daß er seine Schwester öfters besuchte und daß seine »Neigung für die Freimaurer, die er für äußerst christlich hält«, den Widerspruch des Vaters erregte. 31 Leider gibt sie weder seine Vornamen noch sein Geburts- und Sterbejahr an und teilt auch nicht mit, ab wann er i n Berlin wohnte. I n genealogischen Werken konnte er nicht aufgefunden werden, 3 2 und die Zentralkartei der A u t o graphen i n der Staatsbibliothek zu Berlin weist keine Belege für Angehörige der Familie von Boeltzig auf. Übrigens existierte eine weitere Verbindung z w i -

28 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 73 r (Abschrift Sophia von Hardenbergs). I n Wernigerode werden einige weitere, allerdings schwer lesbare Schreiben Boeltzigs an den Vater aus dem Zeitraum 1784 bis 1788 aufbewahrt (ebd., Nr. 393). 29

Der Vater war am 18. Dezember 1784 zum Direktor der kursächsischen Salinen D ü r renberg, Kösen und Artern ernannt worden. 30 31

Nachlese, 1 4 - 1 5 .

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 72 v . 32

Oberwiederstedt,

Vgl. z. B. Stammtafeln der Herren von Boeltzig 1194-1940, bearb. von Ferdinand

von Boeltzig-Stolzenhagen (Görlitz 1941), Stammtafel 4. Die auf die Familie von Boeltzig bezüglichen Mappen Nr. 123, 396, 400, 417 und 4 8 9 / 2 enthalten keine Informationen zu dem Stiefonkel. Anscheinend ist das für die Novalis-Forschung wichtige Gutsarchiv Stolzenhagen, welches 1945 verlorenging, nie ausgewertet worden (frdl. Mitteilung des Bevollmächtigten der Familie von Boeltzig, Jobst Reichelt, v o m 6. M a i 2000).

92

Hermann F. Weiss

sehen den Familien von Boeltzig und von Hardenberg. I m Jahre 1749 heiratete nämlich Amalie Elisabeth Friederike von Hardenberg (1729-1756), eine Schwester des Vaters, Johann (Hans) Rudolph von Boeltzig (1703 -1756), einen Onkel der Mutter. 3 3 6. Hauptmann von Boeltzig an die Mutter. Berlin, 16. M a i 1786 34 [ . . . ] der gute Fritz w i r d als ein Pensionirter Mann, und der da [er] nun schon etwas die Welt gesehen hat, sich vermuthlich rechte airs geben, indeßen werden Asmus 3 5 u. C a r l 3 6 i h m diesen Vorzug w o h l nicht lange zugestehen da sie auf das nemliche Glück einen W i n ter bey ihrem würdigen Oncle zuzubringen rechnen können. Alle diese braven Jungen, Ihro Ehrwürden, Herrn A n t o n mit eingeschlossen, laße ich bitten, ihren am Rande des Grabes herumwankenden Oncle nicht zu vergeßen, und welche Bitte ich meine lieben Nicien gleichfalls bitte. [ . . . ]

Kommentar: Bisher war unbekannt, daß sich Friedrich von Hardenberg i m Winter 1785 / 1786 mehrere Monate bei dem Stiefonkel in der preußischen Hauptstadt aufhielt. Die entsprechenden Jahrgänge des Neuen Berliner Intelligenz-Blattes sind anscheinend verschollen, sonst ließe sich aus den darin enthaltenen Fremdenlisten wahrscheinlich ersehen, wann und in wessen Begleitung er dort eintraf. Ähnlich wie sein Aufenthalt bei dem Onkel in Lucklum i m darauffolgenden Winter dürfte diese Zeit zu einer Horizonterweiterung beigetragen haben. Man wüßte gern, mit wem der Stiefonkel in Berlin Kontakt hatte; zumindest lassen die oben wiedergegebenen Ausführungen Sophia von Hardenbergs erahnen, daß er von der Aufklärung in Preußen geprägt war und auch in dieser Hinsicht ein Gegengewicht zum Vater Friedrich von Hardenbergs darstellte. Der von ihm verehrte König Friedrich I I . verbrachte während des Aufenthalts Friedrich von Hardenbergs in der preußischen Hauptstadt sein letztes Lebensjahr in Potsdam.

33

Ebd.

34

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 144. I n dieser Mappe befinden sich einige in Berlin 1786-1788 entstandene Briefe Boeltzigs und ein 1801 in Liegnitz verfaßter. Unter Nr. 4 8 9 / 1 werden mehrere i n Bielefeld geschriebene Briefe Boeltzigs aufbewahrt, denen sich entnehmen läßt, daß er 1792 an den Rhein verlegt wurde. Anfragen beim Landesarchiv Berlin und Stadtarchiv Bielefeld blieben ergebnislos. 35 Christoph Wilhelm A n t o n Erasmus von Hardenberg (1774-1797), Bruder des Dichters, von der Familie »Asmus« oder auch »Mus« genannt.

36

Gottlob Albrecht Karl von Hardenberg (1776 -1813), Bruder des Dichters.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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7. Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Eisleben, 19. Juni 1792 37 [ . . . ] Wegen Mus muß man es dem lieben Gott überlaßen und hoffen daß er uns auch mit dem Kinde nach seinem Willen rathen und helfen wird. Meine Reise ist glücklich vollendet. Den Alten hab ich recht w o h l verlaßen, und er ist jetzt auf der Reise nach Mecklenburg. Die M i l t i t z ist wegen ihrem Sohne in großer Verlegenheit, und das nicht ohne U h r sach. Er sitzt in Lausanne und schreibt ihr Zeug daß mann nicht verstehen kann. G o t t gebe ihr Geduld und Ergebung in seinen Willen, und Diedrich übergebe ich ganz seiner heiligen Führung. Der General in Wien ist todt. Vielleicht ist das ein M i t t e l ihn herum zu bekommen. [ . . . ]

Kommentar: Krankheiten spielten bekanntlich i m Leben der Familie des Dichters immer wieder eine bedrückende Rolle. I m September 1792 unterbrach Erasmus ohne Rücksprache mit den Eltern wegen Unwohlsein das Studium in Leipzig, w o er sich am 19. Mai 1792 immatrikuliert hatte. Daraufhin teilte der Vater am 11. September 1792 von Eisleben aus der Mutter mit: »Ein wunderlicher Einfall von Mus ist es gewesen von Leipzig hieher zu reisen. N u n sitzt er allein i n Wiederstedt. D u kannst denken wie ich mich wunderte, als ich die Einlage bey meiner retour von A i t e r n fand. Er selbst war schon fort nach Wiederstedt, und habe ich ihn noch nicht gesehen. So bald ich kann schicke ich ihn zu Dir. Das Sitzen I n Wiederstedt taugt nichts vor ihn.« 3 8 Der Vater hatte »den Alten«, also seinen beträchtlich älteren Bruder Gottlob Friedrich Wilhelm besucht, der als Landkomtur des Deutschen Ordens auf Schloß Lucklum bei Braunschweig saß und der bei der Entwicklung des Dichters und überhaupt i m Leben seiner Familie eine wichtige Rolle spielte. 39 Bezeichnend ist auch, daß dieser Onkel, den der Vater in seinen Briefen oft »Landcommandeur« nennt, unter den Taufpaten von vier Kindern aufgeführt wird, nämlich Friedrich von Hardenbergs, 40 seiner Brüder Erasmus und A n t o n sowie seiner »Gustel« genannten Schwester Benigna Elisabeth Auguste (17831804). 41 Die Tagebücher eines entfernten Verwandten, des späteren preußischen Kanzlers Karl August von Hardenberg (1750-1822) belegen, daß die beiden zur Wiederstedter Linie gehörigen Brüder oft gemeinsam auftraten bzw. han37 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 309. 38

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 309. 39

Vgl. Verf.: »Novalis und der Landkomtur« (wie A n m . 2), 125-138.

40

HKA, Bd. 4, 566.

41

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, 61 v , 70 v , 71 r .

Oberwiederstedt, Oberwiederstedt,

Oberwiederstedt,

Hermann F. Weiss

94

d e l t e n . 4 2 A u c h die Briefe des Vaters an die M u t t e r e n t h a l t e n H i n w e i s e auf b i s h e r u n b e k a n n t e Z u s a m m e n k ü n f t e z w i s c h e n i h m u n d seinem B r u d e r . 4 3 B e k a n n t l i c h w a r H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g ab 1774 V o r m u n d des m i t d e m D i c h t e r b e f r e u n d e t e n D i e t r i c h v o n M i l t i t z ( 1 7 6 9 - 1 8 5 3 ) , 4 4 der sich bis 1792 eine längere Z e i t i n d e r S c h w e i z aufhielt. E r m a c h t e n i c h t n u r seiner M u t t e r L u i s e H e n r i e t t e v o n M i l t i t z ( 1 7 4 1 - 1 8 0 5 ) , die v o n d e r F a m i l i e v o n H a r d e n b e r g o f t »Tante M i l t i t z « g e n a n n t w u r d e , 4 5 K u m m e r w e g e n seiner A n h ä n g l i c h k e i t an die Französische R e v o l u t i o n . D e r V a t e r des D i c h t e r s , d e r e i n G r o ß o n k e l v o n D i e t r i c h v o n M i l t i t z w a r , schrieb d i e s e m a m 31. D e z e m b e r 1792, u m i h n u m z u s t i m m e n . 4 6 Ü b e r die B e z i e h u n g z w i s c h e n M i l t i t z u n d d e m m i t i h m verwandten Feldmarschall-Leutnant Dietrich Alexander v o n M i l t i t z , der a m 3. J u n i 1792 i n B a d e n b e i W i e n v e r s t a r b , 4 7 ist n i c h t s b e k a n n t .

42

Vgl. Nr. 17 der vorliegenden Dokumentation, auch Verf.: »Friedrich von Hardenberg auf dem Hardenberg. E i n Familientreffen i m Jahre 1796«, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 71 (1999), 292-295; ferner Verf.: »Karl August von Hardenberg und seine Wiederstedter Vettern. Z u m Umkreis Friedrich von Hardenbergs«, Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, 36 (1999). I n dem letzteren Aufsatz wäre zu A n m . 21 noch zu ergänzen, dass sich i m Nachlass Leopold von Rankes keine Originalkorrespondenz von Karl August von Hardenberg bzw. anderen Mitgliedern der Familie von Hardenberg befindet (frdl. Mitteilung der Staatsbibliothek zu Berlin v o m 21. November 2000). 43

A m 17. A p r i l 1779 z. B. schreibt der Vater seiner in Schlöben befindlichen Frau aus Lucklum, er sei am Tag zuvor dort angekommen und werde am 19. April, also einem Montag, mit seinem Bruder nach Oberwiederstedt reisen, w o dieser drei Wochen zu verbringen gedenke. Er ordnet an, daß die Kinder, darunter w o h l auch Friedrich von Hardenberg, am Freitag, also dem 23. A p r i l morgens unter der Aufsicht von »Beck« nach Oberwiederstedt abreisen und am darauffolgenden Tag dort eintreffen sollen (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 309). Bisher wurde nicht beachtet, daß Oberwiederstedt den beiden Brüdern zu gleichen Teilen gehörte; vgl. ebd., Nr. 10, fol. 61 r ). 44 I m Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden werden i m Bestand Grundherrschaft Siebeneichen Lehnvormundschaftsurkunden für Dietrich von M i l t i t z v o m 25. A p r i l 1774 und 8. Januar 1784 aufbewahrt (Nr. 418), ferner eine Vollmacht Dietrich von Miltitz* v o m 12. Dezember 1791, die den Vater des Dichters ermächtigte, während seines Auslandsaufenthalts seine Angelegenheiten zu verwalten (Nr. 437). Der dort ebenfalls befindliche Bestand Grundherrschaft Scharfenberg umfasst lediglich Unterlagen zur Patrimonialgerichtsbarkeit der Familie von M i l t i t z (frdl. Mitteilung vom 11. November 2000). 45

Die Tante M i l t i t z war eine Taufpatin Erasmus von Hardenbergs; vgl. Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 61 v . 46 47

HKA, Bd. 4, 575.

Dieser M i l t i t z wechselte 1763 aus sächsischen i n österreichische Dienste über (frdl. Mitteilung des Kriegsarchivs Wien v o m 3. August 2000). Briefe von und an ihn aus dem Zeitraum 1749-1763 befinden sich i m Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden (Grundherrschaft Siebeneichen, Nr. 5 1 - 5 8 ) .

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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8. Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Artern, 9. September 1792 4 8 [ . . . ] A m Dienstag kam sehr unvermuthet der Landcommandeur nach Eisleben, und blieb einen Tag in Closterrode, und gieng den Sonnabend retour. Bey meiner Arbeit habe ich ihn wenig sehen können. [ . . . ] Wie lange unsere Arbeit währen wird, vermag ich noch nicht zu bestimmen. Oppel ist der ärgste Treiber, der seyn kann. 4 9 Also liegt es an unsrer Arbeit nicht. W i r arbeiten von früh bis i n die Nacht. [ . . . ]

Kommentar: Zwischen den Wiederstedter Hardenbergs und den Grafen von der Schulenburg auf Klosterrode westlich von Sangerhausen bestanden verwandtschaftliche Beziehungen, mit denen sich die Forschung noch wenig beschäftigt hat. Friedrich von Hardenbergs Großmutter mütterlicherseits, Erdmuthe Albertine (1725-1750), entstammte dieser Familie. Albrecht L u d w i g von der Schulenburg (1741 -1784), seit 1772 Geheimer Kammer- und Bergrat, 5 0 war einer der Taufpaten von Friedrich von Hardenbergs Bruder K a r l . 5 1 Sein Sohn Friedrich Albrecht (1772-1853), der später als Diplomat und Konferenzminister für Sachsen w i r k t e , 5 2 war zwar nicht Mitschüler bzw. Mitstudent des Dichters i n Eisleben und Leipzig, wie bis vor kurzem angenommen wurde, 5 3 aber er w i r d den i m gleichen Jahr geborenen Dichter schon i n dessen Kindheit gekannt haben. Er ist w o h l der »Albrecht«, dem der Onkel, ähnlich wie dem jungen Friedrich, i m Jahre 1787 aus pädagogischen Gründen keinen längeren Aufent48 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 309.

Oberwiederstedt,

49 Julius Wilhelm von Oppel (1765-1832), zu diesem Zeitpunkt Bergkommerzienrat beim Oberbergamt i n Freiberg, später mit Friedrich von Hardenberg befreundet. 50 Er war seit 1772 m i t Friederike Magdalene von Stammer (1751-1809) verheiratet, Tochter des kursächsischen Konferenzministers Hieronymus Friedrich von Stammer und seiner Gattin Johanne Auguste geb. von Ponickau; vgl. Georg Schmidt, Das Geschlecht von der Schulenburg , Bd. 2, Beetzendorf 1899, 586. Sophia von Hardenberg zitiert aus Briefen Schulenburgs an den Vater des Dichters vom 17. Februar und 14. Dezember 1780 (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 69 v -70 r ). 51 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Oberwiederstedt, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 61 v ).

52

Zu Friedrich Albrecht von der Schulenburg vgl. Allgemeine Deutsche Biographie ,

Bd. 32, 663 f., ferner Schmid (wie A n m . 50), 638-642. 53 Vgl. Verf.: »Zu Friedrich von Hardenbergs Gymnasialzeit i n Eisleben«, Wirkendes Wort, 49 (1999), 172. I m Gegensatz zur HKA habe ich die Ansicht vertreten, daß Schulenburg nicht Mitstudent Friedrich von Hardenbergs i n Leipzig war; vgl. ebd., 180, A n m . 17.

Im Leipziger gelehrten Tagebuch auf das Jahr 1790 wird er noch in der Liste der an der Universität Leipzig eingeschriebenen adligen Studenten aufgeführt, aber nicht mehr i m darauffolgenden Jahrgang.

96

Hermann F. Weiss

h a l t i n L u c k l u m m e h r gestatten w o l l t e 5 4 u n d dessen A n k u n f t i n Weissenfeis er dem Bruder

am

16. F e b r u a r

1787 a n k ü n d i g t e . 5 5

Am

26. D e z e m b e r

1799

schreibt H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g aus L u c k l u m a n seine F r a u : » I n C l o s t e r r o d e habe i c h alles w o h l u n d ü b e r die E r n e n n u n g des Sohnes z u m G e s a n d t e n n a c h C o p p e n h a g e n sehr f r o h u n d v e r g n ü g t gefunden. W e n n i c h k a n n , so gehe i c h ü b e r C l o s t e r r o d e u m A l b r e c h t n o c h e i n m a l z u s e h e n . « 5 6 D i e Suche n a c h d e m f ü r die N o v a l i s - F o r s c h u n g evtl. interessanten G u t s a r c h i v K l o sterrode b l i e b bisher e r g e b n i s l o s . 5 7 9. H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g

an seine F r a u .

Wiederstedt,

4. O k t o b e r 1 7 9 2 5 8 Ich bin 3 Tage in Eisleben gewesen, und gestern wieder hier gegangen. [ . . . ] A m Sonntage kam der Bruder und gehet morgen wieder nach Hause und nimt Mus mit, u m ihn Brügmann sehen zu laßen. 5 9 Gott schenke i h m Gesundheit. Hier wollte es noch nicht fort. [ . . . ] 6 0

54

Vgl. Verf.: »Novalis und der Landkomtur« (wie A n m . 2), 130.

55

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 469; vgl. auch die Erwähnungen von Klosterrode i m Tagebuch (HKA, Bd. 4, 43) und in der Korrespondenz des Dichters (ebd., 582). 56 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 309; z. B. hielt sich der Vater seinem Brief an die Mutter v o m 9. M a i 1792 zufolge auch am Tag zuvor auf einer Reise nach L u c k l u m in Klosterrode auf (ebd.). 57 Weder i m Landesarchiv Magdeburg bzw. der Außenstelle Wernigerode noch i m N i e dersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel ist das Gutsarchiv Klosterrode vorhanden; zur Geschichte dieses Ritterguts vgl. Schmid (wie A n m . 50), Bd. 1 (Beetzendorf 1908), 547 f. Ein i m Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden aufbewahrter Nachlaß Friedrich Albrechts von der Schulenburg umfaßt leider nur den Zeitraum 1814-1830. 58 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 309.

Oberwiederstedt,

59 Urban Friedrich Brückmann (1728-1812), Leibarzt dreier Braunschweiger Herzöge, Mineraloge, Hofrat, Freund Lessings; vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3, 398. Sein i m Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel aufbewahrter Restnachlaß enthält anscheinend nichts für uns Relevantes (frdl. Mitteilung vom 3. August 2000). Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenbergs Freundes- und Bekanntenkreis, mit dem die Familie des Dichters zumindest teilweise vertraut war, ist noch ungenügend erforscht. 60 Erasmus reiste m i t dem Onkel nach L u c k l u m und blieb dort den Winter 1792/1793 über; am 16. März 1793 schrieb i h m sein Bruder Friedrich dorthin; vgl. HKA y Bd. 4,112 — 119.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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10. Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Eisleben, 9. O k tober 1792 61 Freitag gehe ich von hier nach Leipzig ab. 6 2 Wie lange ich mich da, wegen unsrer hiesigen Commission aufhalten muß, vermag ich noch nicht einzusehen. Es ist aber nöthig, daß Fritz u. Semmler 63 auf den Freitag nach Dürrenberg kommen u. kann Fritz als dann mit mir gleich nach Leipzig gehen. Semmler muß sich auf ein Paar Tage i n Dürrenberg einrichten. Wenn Bloch i n der Zeit k o m m t so bleibt er da, übernimmt aber die Kinder nicht eher, als bis ich komme.

11. Marie Anna Henriette von Ponickau an die Mutter. Falkenhain, 26. Februar [1793] 6 4 [ . . . ] Tausend innigen Dank sagt D i r liebe Frau mein Herz vor Deinen letzten lieben Brief, und i n Absicht meiner da solcher mir ein so redender Beweis Deiner mir geschenkten Zutrauungsvollen Freundschafft ist, war er mir ungemein werth, aber meine Gute Beste Deine mir eröfneten Mütterlichen Bekümmernisse haben mich aufs Theilnehmendste gerührt, ob ich schon noch glaube daß D u liebe Frau, zuviel Trübes in voraus denkest, daß Deinen Sohn auf seiner sich selbst gewählten Laufbahn treffen könnte, D u sagst mir ja selbst sein Herz sey noch gut, ist dieses noch unverdorben so zage nicht, was vor brauchbare Männer haben w i r nicht, welche auch i n der Jugend ihrem Eigendünkel folgten, und komen dennoch zum Ziel zurück, und lebt doch nur als Soldat Tugendhafft und erfült seine Pflichten, so weis ich gewis Dein Mutterherz w i r d dadurch den größten angelegentlichsten Theil der Wünsche vor Deinen Sohn erfült sehen, denn welche Mutter solte sich nicht mehr freuen? wenn ihr Sohn ein Christlicher Soldat ist, als ein boshaffter M i n i ster; [ . . . ] übergieb also auch diese Angelegenheit dem Gott der aller Herzen und also auch Deiner guten Kinder Herzen Regieret [ . . . ] ich schmeichle mir immer D u wirst mir bald sagen daß D u mit Deinem guten Sohn Friz ausgesöhnt, Gott w i r d D i r M i t t e l zeigen, Dein w i r k l i c h kluger und Einsichtsvoller Gemal, w i r d solche anzuwenden wißen, das gute Herz und Verstand Deines Sohnes w i r d solche annehmen, und D u - wirst Gott danken. D e n H . Canonier und besonders meinen Freund Erasmus beklage aufrichtigst, das vielleicht zu sehr eingezogene Leben i n Pforta hat letztern ohne Zweifel geschadet, eine freyere Lebensart und das Karlsbad w i r d D i r nächst Gott diesen w i r k l i c h guten und hoffnungsvollen Sohn gewis erhalten, fürchte nicht zu viel auf einmal, beste Frau; die Hofnung so 61 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 94 v (Abschrift Sophia von Hardenbergs). Die Zeittafel in HKA enthält einen kurzen Hinweis auf diesen Brief (Bd. 5, 372). 62

I n der Zeittafel w i r d ohne Beleg angegeben, daß der Dichter seinen Vater am 14. O k tober 1792 auf der Leipziger Messe traf (ebd.). Möglicherweise reiste er m i t i h m bereits am 12. Oktober, also dem besagten Freitag, von dem i n der Nähe von Leipzig gelegenen Dürrenberg dorthin. 63 Johann Adam Semler, Salzschreiber an der Saline Artern, vorher Sekretär des Vaters i n Weißenfels. 64 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 173; das Jahr w i r d irrtümlich mit 1792 angegeben. I n Nr. 173 befinden sich Briefe der Frau von Ponickau an die Mutter aus dem Zeitraum 1791 bis 1801.

7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42. Bd.

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Hermann F. Weiss

D u mir giebst D i c h den M a y oder Juny bey mir zu sehen hat mich in Wahrheit an Leib und Seele erfreut [ . . . ] bringe nur ja von Deinen mir insgesamt lieben Kindern so viel als nur i n Wagen gehn mit, mein liebes Karlingen 6 5 k o m m t doch auch zu mir, Heinrich freut sich auch schon auf den lieben Anton, und da gehen immer noch einige kleine liebe Geschöpfgen in Wagen, ach denke ich diesen recht voll, so denke ich mir ein wahres Fest

Kommentar: I n der Außenstelle Wernigerode des Landesarchivs Magdeburg werden unter der Signatur Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 173 zahlreiche Briefe einer bisher unbekannten entfernten Verwandten der Familie von Hardenberg an die M u t ter des Dichters aufbewahrt. Der bereits erwähnte Geheimrat von Ponickau hatte sich 1779 i n vierter Ehe mit Marie Anna Henriette Sahrer von Sahr (1750-1833) vermählt. 6 6 Eine Urgroßmutter des Dichters mütterlicherseits, Johanna Erdmuthe von der Schulenburg, war eine geborene Sahrer von Sahr. Das einzige K i n d des Ehepaars von Ponickau war der mit A n t o n von Hardenberg etwa gleichaltrige Johann Heinrich Friedrich von Ponickau (1780-1838). Leider haben sich von dem i n Wernigerode vorhandenen Archiv des der Familie von Ponickau gehörenden Gutes Falkenhain bei Altenburg nur Reste erhalten, die i n unserem Zusammenhang irrelevant sind. 6 7 Die hier abgedruckte Briefpartie bezieht sich auf die Spannungen zwischen Friedrich von Hardenberg und seinen Eltern, die durch seinen Anfang 1793 gefaßten Plan, Soldat zu werden, entstanden. 68 Sein Entschluß zum Weiterstudium vom März 1793 führte zur Lösung dieser Krise. Über die Haltung der Mutter wußte man bisher nur durch Friedrich von Hardenbergs Bemerkung: »meine Mutter ergriff mit beyden Händen meinen abgeänderten Entschluß«. 69 Möglicherweise standen bei ihr ökonomische Bedenken weniger i m Vordergrund als bei dem Vater des Dichters.

65 Sidonie Sophia Charlotte Caroline von Hardenberg (1771-1801), das älteste K i n d unter den Geschwistern von Hardenberg.

66

Vgl. Stammtafeln (wie Anm. 32), Stammtafel 4.

67

Die Suche nach Archivalien der Familie von Ponickau i m Thüringischen Staatsarchiv Altenburg, i m Landesarchiv Magdeburg, i m Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden sowie i n der Forschungsbibliothek Gotha blieb ohne Ergebnis. 68 Vgl. z. B. Friedrich von Hardenbergs eingehenden Rechtfertigungsbrief v o m 9. Februar 1793 ( H K A , Bd. 4, 104-112). Sophia von Hardenberg bemerkt zu ihm, er drücke »eine Überlegung, eine Gewalt der Darstellung« aus, daß es ihr rätselhaft erscheint, wieso der Vater nicht auf das »ungewöhnliche Talent« des Sohnes aufmerksam wurde und »ein völlig andres Verfahren mit ihm« einschlug (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, 97 v ).

69

HKA, Bd. 4,114 (Friedrich von Hardenberg an Erasmus, 16. März 1793).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

99

12. M a r i e A n n a H e n r i e t t e v o n P o n i c k a u an die M u t t e r . F a l k e n h a i n , 22. M ä r z 179670 Daß Dein lieber ältster Sohn seinen Plaz beym Salinen erhalten, 71 muß D i c h nothwendig sehr freuen, auf diese A r t siehst D u den Sohn so gut versorgt und dadurch zugleich Deinen H . Gemal unterstützet, Gott gebe D i r mehr dergleichen Familien Freuden; Z u meiner wahren Beruhigung habe ich Deinen lieben Carlen recht erholt gefunden, da der gute Erasmus so eben auch an Blutumständen gelitten, so ist w o h l Vollblütigkeit ein gemeinschaftlicher Feind von Deiner lieben Kinder Gesundheit.

13. H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g an G o t t f r i e d C h r i s t i a n Steinbrecher. Weißenfels, 7. F e b r u a r 1 7 9 7 7 2 M e i n Erasmus liegt so kranck in Zillbach an einen heftigen Blutspeyen daß w i r es für nöthig finden einen Boten an seinen Doctor nach Wasungen zu schicken. Diesen soll Langermann von Jena abfertigen und in Starckens 73 Auftrage dem Doctor Cümpel in Wasungen 7 4 schreiben, weil der Cümpeln jenen kennen soll. Der Bote gehet also nicht auf Z i l l bach sondern directe auf Wasungen. [ . . . ] Ich hatte den Bote dergestalt über seinen zu nehmenden Weg instruirt, an Langermann gleich morgen zu schicken, damit er gleich von Jena nach Wasungen abgehen kann. M e i n Erasmus muß nicht erfahren daß w i r an seinen Doctor haben schreiben laßen. [ . . . ] Deswegen muß der Bote sich gar nicht merken laßen, daß er von uns ist. sondern er giebt sich bloß vor den Boten von Jena nach Wasungen an Dr. Cümpel aus. Ich habe Langermann von allen informirt, und wenn ihr Bote kömt, so fertigt er ihn ab. Die Kranckheit hat meinen Sohn viel gekostet, und er bittet also u m Geld. Da ich nun keine Laubthaler habe, so bitte ich Sie i h m doch 100 rt. zu schicken in Laubthaler oder Carolins [ . . . ] Ich schreibe es heute an Mus, der also darauf warten wird. [ . . . ] Die A n t w o r t bringt der Bote allemahl an Langermann nach Jena. [ . . . ] Kommentar: B e k a n n t ist bereits, daß d e r m i t F r i e d r i c h v o n H a r d e n b e r g seit dessen L e i p z i g e r S t u d i e n z e i t befreundete A r z t u n d P s y c h i a t e r J o h a n n G o t t f r i e d L a n g e r m a n n ( 1 7 6 8 - 1 8 3 2 ) E n d e 1796 u n d A n f a n g 1797 eine R o l l e b e i d e r B e h a n d l u n g Sophie v o n K ü h n s , d e r V e r l o b t e n des D i c h t e r s , 7 5 spielte. D a s h i e r w i e d e r g e g e -

70 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 173.

Oberwiederstedt,

71 Friedrich von Hardenberg war ab 5. Februar 1796 Akzessist bei der Salinendirektion in Weißenfels. 72

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 4 4 8 / 1 .

Oberwiederstedt,

73 Z u dem bedeutenden Jenaer Mediziner Johann Christian Stark dem Alteren (17531811) vgl. Verf.: »Die Ärzte Friedrich von Hardenbergs und Sophie von Kühns«, Sudboffs Archiv , 83 (1999), 42 f. 74 Johann Andreas Kümpel (1766-1812), geboren und verstorben in Wasungen (frdl. Mitteilung des Stadtarchivs Wasungen vom 19. September 2000).

8*

Hermann F. Weiss

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bene Schreiben an den Schlöbener Justitiar Steinbrecher zeigt, daß er etwa zur gleichen Zeit auch an der Betreuung v o n Friedrichs Bruder Erasmus teilnahm, der i h m gleichfalls wohlbekannt w a r . 7 6 O b w o h l er sein Medizinstudium noch nicht abgeschlossen hatte, muß er das Vertrauen der beteiligten Familien genossen haben. Erasmus, der ab Dezember 1796 an der Forstlehranstalt Zillbach bei Meiningen studierte, kehrte am 8. März 1796 todkrank nach Weißenfels zurück und verstarb dort nur wenige Wochen nach Sophie v o n K ü h n am 14. A p r i l

1801. 14. Heinrich U l r i c h Erasmus v o n Hardenberg an Gottfried Christian Steinbrecher. Weißenfels, 2. August 1797 7 7 [ . . . ] Unsere Uberkunft ist aufgeschoben. Unsere Fremden kommen nun erst gegen den 16ten und da eine Kranckheit an diesem Aufschub Schuld ist, so erwarte ich erst noch anderweite Nachricht wegen dieser Reise, die ich dann sofort mitzutheilen nicht ermangeln werde. [ . . . ] Langermann kömt in Verlegenheit, weil eine Aussicht für ihn Seiten des Minist, von Hardenberg ohne seine Schuld ecosirt hat. 7 8 Er w i l l also gerne einige Zeit in Schloeben wohnen, und ich wollte mit Ihnen darüber Rücksprache nehmen. Da ich nun spaeter komme, so bitte ich dieses mit ihm so lange zu arrangiren bis w i r mündliche A b rede darüber nehmen können. Deshalb bitte ich die Anlage an ihn zu bestellen.

Kommentar: Karl W i l h e l m Ideler (1795-1860) teilt über die am 19. November 1797 erfolgte Ernennung seines Lehrers Langermann zum Medizinal-Assessor mit: »Zum Orte seines ersten praktischen Auftretens wählte er Bayreuth, infolge einer Einladung des Ministers v o n Hardenberg , damaligen Chefs der preußischen Regierung i n Franken, dem er durch sein näheres Verhältniß zu Novalis bekannt geworden war.« 7 9 Hierbei dürfte allerdings auch der Vater des D i c h ters eine Rolle gespielt haben, zumal er m i t Karl August v o n Hardenberg i n engerer Verbindung stand als bisher angenommen w u r d e . 8 0 Bekannt war bereits, daß er 1797 Langermann die Promotionskosten vorstreckte. 8 1 Die hier 75 Vgl. Verf.: »Friedrich von Hardenberg und Johann Gottfried Langermann«, Zeitschrift für Deutsche Philologie, 117(1998), 173-188. 76

Vgl. Langermanns Leipziger Eintragung vom 20. Mai 1792 i m Stammbuch Erasmus von Hardenbergs (.HKA , Bd. 6 / 1 , 643). 77 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 394. 78

Oberwiederstedt,

Die Aussicht auf eine Stellung zerschlug sich also; wahrscheinlich vom Frz. »ecos-

ser«. 79

Zit. nach Verf. (wie Anm. 75), 184.

80

Vgl. Verf.: »Karl August von Hardenberg und seine Wiederstedter Vettern« (wie Anm. 42). 81

Vgl. Verf. (wie Anm. 75), 179.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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wiedergegebene Briefstelle belegt erstmals, daß sich dieser i m g l e i c h e n J a h r als G a s t d e r F a m i l i e v o n H a r d e n b e r g auf d e m G u t S c h l ö b e n u n f e r n Jena aufhielt. E i n e v o n Sophia v o n H a r d e n b e r g t r a n s k r i b i e r t e A b r e c h n u n g Steinbrechers g i b t h i e r z u nähere A u s k u n f t : » 2 8 " J u l i 1 7 9 7 - 1 9 " O k t . D r . L a n g e r m a n n . M i t t a g s u , A b e n d t i s c h , kaltes u . w a r m e s G e t r ä n k , G e l e u c h t e . 60 Tage a 16 [ G r o s c h e n ] 40 r t h « . 8 2 15. C a r o l i n e v o n H a r d e n b e r g an i h r e M u t t e r . T e p l i t z , 4. A u g u s t 1 7 9 9 8 3 [ . . . ] Wie herzlich freue ich mich das ihr alle so w o h l seyd, u in der Gesellschaft unsers Frizen w i r d es euch u vorzüglich meinem Mütterchen an Heiterkeit u Frohsinn nicht fehlen. Fremde kommen hier noch täglich an, allein ich kenne wenige davon, w i r leben meistens unter uns [ . . . ] Wie sehr ich mich nach Beendigung unsres hiesigen Aufenthalts sehne kann ich D i r nicht beschreiben, zu erzählen w i r d auch Gustel genug haben, aber amusiren thut sie sich nicht, weil sie keine Gesellschaft von ihren Jahren hier hat. Schulzens sind Gestern gekommen 8 4 ich werde sie vielleicht heute sehn. Ich habe Husten u heute an einer kräftigen K o l i k gelitten, die mich auch u m einen Thee dansant gebracht hat, den Graf Kolowrats gaben 85 [ . . . ] Meine Tante ist wohl, u w i r d mir mit jedem Tage, troz ihrer Lebhaftigkeit, lieber, wenn alle lebhaften Charakters, so vielwahre Güte des Herzens besäßen, so könnte es einem nicht schwer werden ihre Lebhaftigkeit u treiberisches Wesen zu ertragen, ich wünsche das sie so mit mir zufrieden ist als ich es m i t ihr bin, es ist eine vortreffliche Frau die es innig gut m i t uns allen meint [ . . . ] . Kommentar: A m 11. J u l i 1799 t r a f der V a t e r des D i c h t e r s m i t seinen K i n d e r n A u g u s t e , C a r o l i n e u n d K a r l z u r K u r i n T e p l i t z e i n . 8 6 D o r t l e r n t e C a r o l i n e i h r e n späteren E h e m a n n W o l f G e o r g Friedrich v o n Rechenberg ( 1 7 6 0 - 1 8 0 8 ) kennen, welcher d e r K u r l i s t e z u f o l g e a m 7. J u l i 1799 m i t z w e i T ö c h t e r n v o n s e i n e m G u t S c h ö n 82 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 118. 83

Oberwiederstedt,

Ebd., Nr. 145/1.

84

I m Zeitraum 1. bis 12. August 1798 taucht dieses Ehepaar nicht in der handschriftlichen Badeliste auf, die sich in der Bibliothek des Regionalmuseums Teplice befindet (frdl. Mitteilung Jana Michlovas vom 3. Oktober 2000). 85

Gemeint ist wahrscheinlich Franz A n t o n von Kolowrat-Liebsteinsky (1778-1861), der wichtige österreichische Staatsämter bekleiden sollte. 86 Vgl. Verf.: »Zu Friedrich von Hardenbergs Aufenthalt i n Teplitz i m Sommer 1798«, Aurora , 59 (1999), 272. Z u ergänzen wäre noch zu diesem Aufsatz, daß der Vater Steinbrecher am 2. Juli 1799 von Weißenfels aus schrieb, er wolle am 6. Juli 1799 nach Teplitz aufbrechen und benötige insgesamt 500 Taler für diese Reise - eine sehr beträchtliche Summe übrigens! (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 394). Von Interesse ist auch folgende Bemerkung i n einem am 26. August 1798 in Weißenfels verfaßten Brief des Vaters an Steinbrecher: »Ich bin am 22ten dieses mit meiner Tochter glücklich von Toeplitz wieder hier angekommen.« (ebd.) Unbekannt war bisher, daß ihn eine seiner Töchter begleitete, wobei unklar bleibt, u m welche es sich handelt.

Hermann F. Weiss

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berg (Oberlausitz) her kommend dort eingetroffen w a r . 8 7 Diesem Verzeichnis läßt sich auch entnehmen, daß die bereits erwähnte Tante M i l t i t z am 14. Juli 1799 i n Teplitz eintraf, w o sie Umgang mit den Hardenbergs gehabt haben muß. Unbeachtet blieb bisher, daß ihr Sohn i m Sommer zuvor etwa zur gleichen Zeit wie Friedrich von Hardenberg und dessen Vater dort weilte. I n der handschriftlichen Badeliste der Stadt Teplitz zurrt Jahr 1798 heißt es nämlich unter dem 27. Juli 1798: »H. D i t t r i c h von M i l t i t z , Besitzer des Schlosses Scharfenberg aus Dresden.« 8 8 16. Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Dresden, 16. A u gust 1799 8 9 Da ich meine Reise in etwas abändern muß, so kann ich meine Pferde nicht brauchen. Also schicke mir keine. Ich lasse meine Chaise i n Siebeneichen mit Karin u. Fritzen, die auf weitere Reisen gehen wollen. Also muß ich eine solche große Chaise in welcher w i r mit Bernhard selb 5 sitzen müssen. Kann ich nach meinem Plan auf den Sonntag nach der Vorstellung noch fort, so bin ich den Tag noch in Siebeneichen. [ . . . ]

Kommentar: A m Dienstag, dem 13. August 1799 hatte der Vater zusammen mit seinen beiden Töchtern Teplitz verlassen und traf noch am gleichen Tag i n Dresden ein, und zwar in seiner eigenen Kutsche. 9 0 D o r t gesellte sich Friedrich von Hardenberg und dessen Bruder August Wilhelm Bernhard (1787-1800) zu ihnen, ferner Karl von Hardenberg, der Teplitz anscheinend früher verlassen hatte. 9 1 Karl und Friedrich reisten von Dresden nach Schönberg i n der Oberlausitz, w o Karl u m Rechenbergs Schwester »Jeannette« werben w o l l t e . 9 2 Der Hauptgrund für die Zusammenkunft i n Dresden dürfte die Präsentation Bernhard von Hardenbergs als Page am H o f gewesen sein. Bereits am 30. A u gust 1798 hatte der Vater das Oberhofmarschallamt unter Hinweis auf die 1794 erfolgte Zusicherung einer Jagdpagenstelle für seinen Sohn Erasmus u m eine Silberpagenstelle für Bernhard ersucht, die i h m daraufhin am 6. Oktober 1798 87

Vgl. Stadt Teplitzer

und Dorf Schönauer Badeliste Ao. 1799, Nr. 393 (Regional-

museum Teplice, Bibliothek, Ms. 88). 88

Badeliste, Nr. 728 (Regionalmuseum Teplice, Bibliothek, Ms. 87).

89

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 124 r (Abschrift Sophia von Hardenbergs).

Oberwiederstedt,

90

Verf. (wie A n m . 86), 272.

91

Vgl. HKA t Bd. 4,296 (Friedrich von Hardenberg an die Mutter, 12. August 1799).

92 Vgl. ebd., 303, ferner 297. Bisher war der Novalis-Forschung nicht bekannt, daß es sich bei »Jeannette« u m Friedrich von Rechenbergs zweite Schwester Johanna Friederike Wilhelmina (1770-1818) handelt (frdl. Mitteilung Hubert von Rechenbergs [Trier] vom 11. Oktober 2000).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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für den Sommer 1799 in Aussicht gestellt worden war. 9 3 I n Salinendirektor v. Hardenberg teilt Sophia von Hardenberg einige bisher unbekannte Umstände zu Bernhards am 28. Oktober 1800 erfolgten Tod durch Ertrinken i n der Saale mit, der die Familie tief erschütterte: »Auguste war mit den jüngeren Geschwistern Bernhard, Wilhelm, Hans, Amalie i n Weisenfels, während dieser Reise der Eltern zu Carolinen, [ . . . ] , zurückgeblieben; bei den Knaben war ein Hauslehrer [am Rand: »Herr Beyer«], ohne Zweifel ein unbrauchbarer nachlässiger Mensch; Carl war in Lützen. A m 28" O k t . Nachmittags verließ Bernhard das Haus u. kehrte nicht zurück, als er Abends nicht da war, suchte man nach ihm; er war i n der Saale ertrunken! Carl meldete es dem Vater, u. eilte dann nach Dresden zu Fritz, der schon sehr krank, aus Schock über diese Nachricht einen heftigen Blutsturz bekam, der seiner Gesundheit den letzten Stoß gab. Der Vater war wie ich glaube, sogleich nach Weißenfels zurückgeeilt, die Mutter blieb noch ungefährt 14 Tage, da sie sowohl wie die Töchter so erschüttert waren, daß sie nicht reisen konnte, Sidonie wagte man nicht nach Weißenfels zurückzulassen, sie blieb bei Karolinen.« 9 4 Der Tod dieses Sohnes milderte Sophia von Hardenberg zufolge das Verhalten des Vaters den Kindern gegenüber. Sie berichtet, daß er »sich mit den jüngern Geschwistern viel mehr beschäftigte, ihre Arbeiten selbst beaufsichtigte, u. sie fast immer u m sich hatte.« 95 17. Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg an Gottlob Friedrich Wilhelm von Hardenberg. Fragment. Weißenfels, 1. November 1799 96 Aus meinem Brief wirst D u ersehen haben, daß Karl den 18" O k t nach Leipzig kommen wollte, er meldete mir niemand als den Obersten 9 7 u. Kriegsrath Lang. Durch W i t z leben 9 8 erfuhr ich, daß der Oberst mit der ältesten G r ä f i n 9 9 den 16" durch Merseburg ge93 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Oberhofmarschallamt L i t . P, 14b, Nr. 70. Die Akte enthält auch ein Dankschreiben des Vaters v o m 30. Oktober 1798. Weder in den dort aufbewahrten Journalen des Oberhofmarschallamts noch i m Dresdner Anzeiger finden sich Hinweise auf die Pagenvorstellung, die anscheinend am Sonntag, dem 8. August 1799 stattfand. I n einem in Teplitz am 5. August 1799 verfaßten Schreiben teilt nämlich Friedrich von Hardenbergs Vater der Mutter mit: »Da nehmlich Bernhard erst den 18ten vorgestellt werden kann, so werde ich w o h l so lange in Dresden bleiben, und w i r zusammen erst den 18ten Nachmittag von Dresden abgehen.« (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 309) 94 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 143r. 9

Oberwiederstedt,

* Ebd., fol. 144r.

96

Ebd., fol. 130 r -131 v (Abschrift Sophia von Hardenbergs).

97

Nach einem Randvermerk Sophia von Hardenbergs August Georg U l r i c h von Hardenberg (1761 -1805), ein Bruder des Ministers, preußischer Oberst. 98

George Hartmann von Witzleben (1766-1841), seit 1796 Supernumerar- Amtshauptmann i n Merseburg, auch mit Friedrich von Hardenberg bekannt. Den Angaben i m Register der HKA zu Witzleben (Bd. 5, 931) sei noch hinzugefügt, daß er sehr bald nach dem

104

Hermann F. Weiss

kommen sei. Karl brachte G e o r g 1 0 0 mit. Ich hatte den Bruder aus G o t h a 1 0 1 hinbestellt u. meine 2 Söhne 1 0 2 mitgenommen, so waren mit einem male 9 Hardenbergs u. eine Frau aus der Familie, die Seckendorfen mit ihrem M a n n e 1 0 3 beisammen. Karl kam u m 5 Uhr, da ward gegessen u. nichts wieder gethan, außer daß ich mit dem ältesten Grafen ausreden konnte, welches mir sehr lieb war. Den andern Morgen konnte ich m i t N o t h eine kurze Unterredung mit Karin haben, i n welcher er mir so einen Schwärm von Projecten vorlegte, daß ich nicht weiß, was ich D i r davon schreiben soll. Der kurze Inhalt war: daß sich sein S o h n 1 0 4 v o m Hardenberg los gesagt u. gebeten, daß sich sein Vater für das Quantum des Kaufgeldes in Holstein oder i m Mecklenburgischen ankaufen solle. Hier würde er Güter für ein wohlfeiles Geld bekommen, die den Ertrag vom Hardenberge der Familie gewährten, welchen alsdann Christian der Familie gewähren wolle. Er selbst, der Minister wolle seine Brüder m i t dem Geld aus dem Hardenberg abfinden, in Ansehung ihrer Forderungen [ . . . ] D a sollte ich denn zu einer solchen Zeit mit i h m hinreisen u m zu beurtheilen ob die zu acquirirenden [Güter] so viel Revenüen thäten, daß die Familie gegen den Hardenberg entschädigt würde. Ich bat u m einen Plan u m ihn D i r u. meinem 2 " Bruder vorzulegen, der war nicht vorhanden. Ich bat er möge mit dem Bruder sprechen, das geschah, doch ohne sich i m Geringsten auf das mir gesagte Detail einzulassen. N u n kam es zur sogenannten Hauptsache. Denn als ich auf einen Plan drang, wurde vorgeschlagen daß Lang das Alles i n den neuen Familienreceß bringen sollte, w o z u auf der Stelle der Plan gemacht wurde; das ließ ich mir gefallen, weil ich doch sah, daß ich i n der Hauptsache nichts ausrichten würde, sondern ich drang darauf, daß Langen unsre Wiederstedter Sache aufgetragen würde u. dadurch der Betrieb in meine Hände gesetzt wurde. Ich besprach auch alles mit Lang, mit meinem Bruder u. dem Grafen. [ . . . ] ich bat ihn [Karl August von Hardenberg] aus seinem Plane die Schwindeleyen weg zu lassen. Er ward empfindlich u. frug: ob ich ihn je auf solchen Schwindeleyen ertappt habe? ich wollte ihn nicht böse machen, sonst hätte ich ihn gefragt: ob sein Finanzplan den w i r garantirt Tod des Dichters dessen Vater als Adjunktus zugeteilt wurde; vgl. Churfürstlicher Sächsischer Hof- und Staats-Calender auf das Jahr 1802 (Leipzig o.J.). Nach Auskunft des Familienarchivars Hubertus von Witzleben (Berlin) besitzen die Angehörigen des Familienverbandes keine i n unserem Zusammenhang relevante Archivalien. Dies gilt auch für das einzige noch erhaltene Grundherrschaftsarchiv der Familie von Witzleben, den Bestand Angelroda (frdl. Mitteilung des Thüringischen Staatsarchivs Rudolstadt vom 11. November 1997). 99 Nach einem Randvermerk Sophia von Hardenbergs muß es sich u m Marianne von Hardenberg geb. Gräfin von Schlieben (1762-1849) handeln. Sie war die Gemahlin August Wilhelm Karl von Hardenbergs (1752-1824), des hannoverschen Oberhauptmanns von der Linie Hinterhaus. 100

Georg A d o l f Gottlieb von Hardenberg (1765-1816), ein Bruder des Ministers

101

Georg Gottlieb Lebrecht von Hardenberg; vgl. Nr. 2.

102

Danach Hinzufügung von Sophia von Hardenberg: »(Fritz u. Carl)«.

103 A d o l f Franz Karl Graf von Seckendorf (1742-1818) und seine Gemahlin Amalie Sophie Elisabeth (1767-1848), eine Schwester Karl August von Hardenbergs, wohnten Zusammenkünften der Gesamtfamilie von Hardenberg öfters bei; vgl. Verf.: »Karl August von Hardenberg und seine Wiederstetter Vettern« (wie A n m . 42).

104

Christian Heinrich August von Hardenberg (1775 -1840).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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nicht eine Schwindeley geworden? D a nun in 10 Jahren fast gar nichts davon gehalten worden, was er uns allen heilig zugesichert hätte! Ich erwiederte i h m aber, daß wenn solches von i h m noch nicht geschehen wäre, so sei er jetzt i m Begriff sich in Schwindeleyen einzulassen, u. ich hielte es für Pflicht ihn vor dem praecipice zu warnen, an dessen Rande er stehe! Er wolle mich zu seinem Controlleur erbitten, allein er möchte bedenken, daß ich zwar sein Freund, aber auch ein Freund der Wahrheit wäre, u. i h m selbige nicht allein offenherzig darlegen, sondern auch endlich danach verfahren werde. Dieser discours war i h m eigentlich unangenehm, allein er fühlte denn doch wohl, daß ich nicht ganz Unrecht hätte u. war froh daß ihn andre Leute unterbrachen. N u n wirst D u selbst sehen, daß an ein weiteres arrangement nicht zu denken war, da D u weißt wie es mit Karin zugehet, da immer alles i m trouble sein muß, dabei w i r d viel haselirt [ . . . ] .

Kommentar: Seit kurzem ist bekannt, daß die Kontakte zwischen dem Vater und Onkel des Dichters einerseits und entfernten Verwandten der beiden anderen Linien des Hauses Hardenberg andererseits, z. B. »Karl«, also dem späteren preußischen Kanzler Karl August von Hardenberg, intensiver waren, als man annehmen konnte. Erstmals wurde ferner belegt, daß Friedrich von Hardenberg seinen berühmten Verwandten recht gut gekannt haben m u ß . 1 0 5 Auch dessen Privatsekretär Karl Heinrich Lang (1764-1835), der i m Zeitraum 1793 bis 1795 das Familienarchiv auf dem Stammschloß Hardenberg bei Nörten neu geordnet hatte, dürfte ihm kein Unbekannter geblieben sein. Sophia von Hardenbergs Identifizierung der »2 Söhne«, die der Vater nach Leipzig mitbrachte, trifft höchstwahrscheinlich zu. I n Leipzig wurden nämlich wichtige Vermögensangelegenheiten der Gesamtfamilie verhandelt, die sich aus dem geplanten Verkauf des Hardenbergs ergaben und in die mündige Söhne einbezogen werden konnten. Der Briefentwurf läßt auch erkennen, daß der Vater des Dichters eine nicht unbedeutende Stellung i m Familienverband einnahm und sich durchaus mit dem M i n i ster anlegen konnte. Sein Mißfallen über die hektische Lebensart dieses Weltmannes, der gern auf großem Fuß lebte und in Finanzsachen leichtsinnig war, tritt unverkennbar hervor. Bekanntlich versuchte er, seinen Kindern »durch Beyspiel und Reden eine Verachtung des äußren Glanzes« beizubringen. 1 0 6 18. Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Artern, 22. Dezember 1799 1 0 7 Gestern Abend war ich bey guter Zeit hier und freue mich daß D u das heute Abend erfährst, und hoffen kannst, daß meine Reise ferner glücklich gehen wird. Wer auf seinen 105

Vgl. A n m . 42.

106

HKA, Bd. 4, 309 (Friedrich von Hardenberg an Julius Wilhelm von Oppel, Ende Januar 1800). 1 7

Nr. 1.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt,

106

Hermann F. Weiss

Berufswegen wandelt, der kann sich erst auf Gottes Schutz verlaßen. M e i n Fritz w i r d morgen zu Euch kommen. Kommentar: E i n e schwere E r k r a n k u n g des O n k e l s hatte d e n V a t e r z u einer Reise n a c h L u c k l u m v e r a n l a ß t , w o er a m 24. D e z e m b e r 1799 eintraf. D e r B r u d e r h a t t e sich bereits e r h o l t , aber b a l d n a c h d e r A b r e i s e des Vaters a m 2. Januar 1 8 0 0 1 0 8 verschlechterte sich sein G e s u n d h e i t s z u s t a n d e r n e u t u n d er verstarb a m 4. M ä r z 1 8 0 0 . 1 0 9 U n b e k a n n t w a r bisher, daß d e r D i c h t e r n o c h u m d e n 22. D e z e m b e r 1799 i n A r t e r n w a r u n d anscheinend a m d a r a u f f o l g e n d e n T a g i n Weißenfels e i n traf. E r w i r d also frühestens a m 24. n a c h F r e i b e r g w e i t e r g e r e i s t sein, w o er sich bekanntlich z u Weihnachten m i t Julie v o n Charpentier verlobte. 19. H e i n r i c h U l r i c h E r a s m u s v o n H a r d e n b e r g a n seine F r a u . L u c k l u m , 30. D e zember 1 7 9 9 1 1 0 [ . . . ] Gott beschere Euch Allen rechte gute Gesundheit, und steure Euch so ins neue Jahr hinüber. M i t dieser Instruction für Euch trenne sich das alte v o m neuen Jahre und trete so i m Hinter Grund unsers Lebens, der jedem seine eigne Perspective gewährt. Wohl uns wenn w i r den Hinter Grund unsers Lebens oft und nicht m i t umgedrehtem Sehrohr betrachten. Je näher w i r ihn uns bringen, und fleißig ins Detail kucken und keine Laterna magica drauß machen, je lehrreicher w i r d diese Arbeit für uns sein. U n d da schenke uns Gott seinen Segen zu das wünsche ich und erflehe es uns Allen zum neuen Jahre. Amen. Hardenberg. Grüße Fritzen und sage ihm, daß unter den Briefen einer mit cito bezeichnet v o m Grafen von W a l l w i t z 1 1 1 wäre, und weiter nichts enthielte, als eine neue Proposition vom Obersten Schmidt. Übrigens möchte er doch gleich m i t der nächsten Post Steinbrechern an die Bezahlung des Thermometers an V o i g t e n 1 1 2 erinnern. Dann soll doch Fritz bey der Kälte fleißig die Thermometers beobachten. Den Flößer Kleiniken möchte Fritzen auf die 108 Ebd., Nr. 309 (Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau, 26. Dezember 1799). Der Vater plante, am 3. Januar i n Oberwiederstedt und am 6. i n Weißenfels einzutreffen (ebd.). 109 A m 29. September 1800 bat Caroline von Rechenberg ihren Vater, ihr sein i n Luckl u m befindliches Porträt von Graff zu überlassen (ebd., Nr. 10, fol. 142 r ). Dieses Bildnis ist heute in der Staatlichen Galerie Moritzburg (Halle); vgl. die Abbildung i n Roder (wie A n m . 20), 72. 110 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H N r . 309.

Oberwiederstedt,

111

Georg Reinhard Graf von Wallwitz (1726-1807), seit 1782 Präsident des Geheimen Finanzkollegiums i n Dresden und verantwortlich für die kursächsischen Salinen; vgl. Friedrich von Hardenbergs Entwurf zu einem Dankschreiben an ihn vom Januar 1800, das m i t seiner Ernennung zum Assessor zusammenhängt ( H K A , Bd. 4, 314). 112 Handelt es sich hier u m den Jenaer Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Voigt (1751-1823)?

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

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Sicherheit der Bret attend machen, wenn dort aus dem Oberlande etwan ein hoher Schneestand bekannt wäre der großes Waßer erwarten läst. [ . . . ] 20. C a r o l i n e v o n R e c h e n b e r g an i h r e M u t t e r . F r a g m e n t . O b e r h a l b e n d o r f , e t w a M i t t e Januar 1 8 0 0 1 1 3 [ . . . ] Bitte doch meinen Vater das er mir ein Losungs Büchelgen schickt [ . . . ] . ' 1 1 4 Ueber Gusteln ihre Stiftstelle freue ich mich, u wünsche meiner guten M i m i 1 1 5 ein gleiches, Sidonien werde ich eine Stelle i n oder u m den Stift zu verschaffen suchen; u ich zweifle nicht das es mir gelingen wird. Von dem neuen projecte meiner Tante m i t Carl hat euch vielleicht Friz was gesagt, ob ich es i h m gleich nur dunkel geschrieben] habe, man lobt das Mädchen gar sehr, es ist die Frl Einsiedeln die bey der Gräfin Reuß ist, die sie erzogen hat, sie soll hübsch u sehr gut seyn, u ist erst 20 Jahr alt, die Tante hat euch vielleicht schon davon geschr[ie]b[en], ist dieses aber nicht so laßt euch ja nichts davon merken. Das aus der Huldenbergschen Sache nichts geworden ist, ist mir nun doppelt lieb, weil man die Frl hier sehr eigensinnig beschreibt, u sie lange nicht so gut seyn soll wie die Heinitzen ihn Heinitzen hat mein Mann auf dem Görlizer Landtag gesehen, er hat sich nach meinem Vater u Brüdern erkundigt [ . . . ] Kommentar: D i e s e r f r a g m e n t a r i s c h erhaltene B r i e f der v o m D i c h t e r sehr g e l i e b t e n S c h w e ster C a r o l i n e 1 1 6 m u ß n a c h i h r e r V e r m ä h l u n g m i t F r i e d r i c h v o n R e c h e n b e r g (11. N o v e m b e r 1799) e n t s t a n d e n sein, u n d z w a r e t w a M i t t e Januar 1800. E i n T e r m i n u s p o s t q u e m e r g i b t sich n ä m l i c h aus f o l g e n d e r Stelle dieses Schreibens: » D e r T o d des L a n d c a m m e r r a t h s Bose, d e n i c h V o r g e s t e r n i n Z e i t u n g e n f a n d , hat m i c h sehr g e w u n d e r t , i c h bedaure m e i n e gute liebe F r l B o s e n d e r es sehr nahe gehen w i r d , u seiner F r a u w e r d e n w o h l s c h w e r l i c h w i e d e r so gute Tage w e r d e n , als sie b e y i h m gehabt hat.« A m 9. Januar 1800 verstarb d e r f ü r s t l i c h anhaltinisch-dessauische

Landkammerrat

Christian A d o l p h

Carl von

Bose

(geb. 1735), w a h r s c h e i n l i c h a u f s e i n e m G u t B o s e n h o f b e i C r i m m i t z s c h a u , e t w a 37 k m s ü d l i c h v o n L e i p z i g . Z u d i e s e m Z e i t p u n k t w a r er i n d r i t t e r E h e m i t H e n r i e t t e W i l h e l m i n e v o n d e r M o s e l ( 1 7 7 5 - 1 8 3 2 ) v e r h e i r a t e t . 1 1 7 Ü b e r diese bisher u n b e k a n n t e V e r b i n d u n g der F a m i l i e des D i c h t e r s z u r F a m i l i e v o n Bose 113

F D H 13193.

114

Seit 1731 gibt die Brüdergemeine jährlich ein Andachtsbüchlein m i t ausgelosten Bibelworten für jeden Tag heraus (frdl. Mitteilung des Archivs der Brüder-Unität Herrnhut vom 27. September 2000). 115

Amalie Auguste von Hardenberg (1793 -1814), eine Schwester des Dichters.

116

I n seinem Brief an Friedrich von Rechenberg vom 6. August 1799 lobt Friedrich von Hardenberg seine Schwester ausführlich und mit Nachdruck; z. B. heißt es hier: »Ich bin ihr vieles schuldig - als K i n d schon hat sie mich beseelt [ . . . ] « ( H K A 4, 295f.); vgl. auch sein Gedicht An meine Schwester (ebd., Bd. 1,463 f.). 117

2000.

Frdl. Mitteilungen Konrad Mündleins (Leipzig) v o m 19. September und 4. Oktober

Hermann F. Weiss

108

k o n n t e n i c h t s N ä h e r e s i n E r f a h r u n g gebracht w e r d e n . Ü b r i g e n s v e r m ä h l t e sich eine Schwester d e r Sophie v o n K ü h n , Susanne F r i e d e r i c a C h r i s t i a n e D o r o t h e a v o n M a n d e l s l o h ( 1 7 7 4 - 1 8 4 9 ) , i m Jahre 1801 i n z w e i t e r E h e m i t C a r l A u g u s t F r i e d r i c h v o n Bose ( 1 7 6 3 - 1 8 2 6 ) , der allerdings e i n e m a n d e r e n Z w e i g d e r F a m i l i e v o n Bose angehörte. D i e bereits e r w ä h n t e M u t t e r D i e t r i c h v o n M i l t i t z ' 1 1 8 hatte b e k a n n t l i c h i m S o m m e r 1799 W i l h e l m i n e v o n H u l d e n b e r g ( 1 7 7 4 - 1 8 4 0 ) als B r a u t F r i e d r i c h v o n H a r d e n b e r g s vorgeschlagen, w o r a u f h i n dieser i h r e A u f m e r k s a m k e i t

auf

seinen B r u d e r K a r l l e n k t e . 1 1 9 U n b e k a n n t w a r bisher, daß sich die »Tante M i l t i t z « n a c h d e m F e h l s c h l a g dieses V e r s u c h s 1 2 0 e r n e u t als E h e a n b a h n e r i n f ü r K a r l betätigte, ferner daß sie viele Jahre l a n g i n d e m a d l i g e n D a m e n s t i f t J o a c h i m s t e i n b e i R a d m e r i t z ( O b e r l a u s i t z ) g e w o h n t h a b e n m u ß ; 1 2 1 sie w a r d o r t n ä m l i c h v o n 1779 bis z u i h r e m T o d e S t i f t s h o f m e i s t e r i n . 1 2 2 D i e Rechenbergs b e s u c h t e n sie d o r t öfters v o n i h r e m nahegelegenen G u t O b e r h a l b e n d o r f ( i m G e b i r g e ) a u s . 1 2 3

118

Vgl. Kommentar zu Nr. 7 der vorliegenden Dokumentation.

119

Vgl. HKA , Bd. 4, 288-290 (Friedrich von Hardenberg an Luise Henriette von M i l titz, Juni 1799. Entwurf). 120

Vgl. ebd., 296 (Friedrich von Hardenberg an seine Mutter, 12. August 1799).

121

Vgl. Richard Doehler: »Diplomatarium Joachimsteinense. Die Urkunden der zur Herrschaft des freien weltadeligen evangelischen Fräuleinstifts Joachimstein gehörigen Rittergüter [ . . . ] « , Neues Lausitzisches Magazin 81 (1905), 59. Der Vater Friedrich von Rechenbergs, Johann Christoph Friedrich (1734-1818) war von 1789 bis 1795 Stiftsverweser; i h m folgte sein der Novalis-Forschung gleichfalls bekannter Schwiegersohn Karl Wilhelm Ferdinand von Fehrentheil (1757-1831) von 1795 bis 1827 (ebd., 58; frdl. Hinweis von Dr. Seifert, Domstiftsarchiv Bautzen v o m 4. Oktober 2000). Caroline von Rechenberg, die wie ihr Vater den Herrnhutern nahestand, schreibt in dem hier teilweise wiedergegebenen Brief: »im Stift vermeide ich alle religiöse Discurse« ( F D H 13193). D o r t traf sie auch gelegentlich mit Dietrich von M i l t i t z und dessen Frau Sarah Anne geb. Constable zusammen; am 6. August 1800 z. B. teilt sie ihrer Mutter mit: »den 8ten erwartet man Miltitzen u. seine Frau i m Stiftf ... ] den Sonnabend werden w i r w o h l Miltitzens zu sehn, i m Stift müssen.« ( F D H 13184). Das Stift Joachimstein wurde 1728 von Joachim Siegismund von Ziegler und Klipphausen begründet und existierte bis 1945. Die nahe der deutschen Grenze i n Polen gelegenen Gebäudlichkeiten wurden gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. 122 123

Vgl. Doehler (wie A n m . 121), 58.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 143 v -144 r . Der Verbleib des Rechenbergschen Archivs i n Oberhalbendorf ließ sich weder i m Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden noch i m Stadtarchiv bzw. Staatsfilialarchiv Bautzen ermitteln, w o man es noch am ehesten vermutet hätte. A u c h Anfragen beim Staatsarchiv Wroclaw und dem Familienverband von Rechenberg blieben ergebnislos (frdl. Mitteilung von Hubertus von Rechenberg, Trier, vom 3. September 2000). Das Familienarchiv von Rechenberg i m Niedersächsischen Staatsarchiv Bückeburg enthält nichts für uns Relevantes (frdl. Mitteilung v o m 7. September 2000). Übrigens wurde das Herrenhaus in Oberhalbendorf Ende des 19. Jahrhunderts neu erbaut.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

109

21. Caroline von Rechenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 19. November

1800 124 [ . . . ] Fritzen wirst D u hoffentlich in einem bessern Gesundheitszustand angetroffen haben, als uns die Nachrichten kurz vor Eurer Abreise befürchten ließen; ein Brief von Carln v o m 14" beruhigte uns u m Vieles, 1 2 5 gebe der Himmel, daß die künftigen Nachrichten von i h m eben so günstig sein mögen. [ . . . ] . Gestern hat H . Sonnenwald die letzte H a n d an mein Bild gelegt, wie alle behaupten, so hat es durch diese letzte Sitzung sehr gewonnen. Sonnenwald geht jetzt nach Bautzen, bei seiner Rückkehr w i r d er Sidonien malen. [ . . . ] . 1 2 6

22. Bernhardine Auguste von Hardenberg an ihre Tochter Sidonie. Weißenfels, 24. November 1800 1 2 7 Tausend Dank geliebte Dohne vor Deinen Tröstlichen Brief Gott Unterstützt mich u so w i r d alles gut gehn [ . . . ] in Dresden habe ich 8 schwere Tage verlebt Fritz fährt wieder aus täglich 2 mahl u w i l l auch Reiten D o c h ist er schwach sehr abgezehrt u daß blut speinen hört nicht auf fasse M u t h liebste beste Dongen u stehe Deiner Armen Schwester bey, wen G o t t solte auch den schweren Verlust über uns verhängen, doch vieleicht ist G o t t i n den Schwachen mächtig, u thut mehr als w i r bitten u verstehn, die Alte Charpentier war da krank u äußerst hipocondrisch Sie hatte P e t z o l d 1 2 8 gesprochen u verlohr darüber gantz die Tramontana 1 2 9 Da er ihr daß nehmliche wie den Vater sagte, sie schrieb an Vater u wüste nicht was sie wolte der Vater ließ ihr sagen sie solte Julgen zu Fritz nach Dresden schiken Fritz wolte nach Freiberg Die Alte w i l l ihn nicht, Der Vater hat ihn gebeten Z u uns Z u kommen er w i r d beßre Pflege haben den mit den besten Willen kan er sie dort nicht haben bey aller N o t h die es mir würde machen so wolte ich Gott danken wen ich ihn hier hätte, wie daß alles noch w i r d werden weis allein Gott sage Carlinen nichts von

124 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 143 v -144 r (Abschrift Sophia von Hardenbergs).

Oberwiederstedt,

125

Anfang November 1800 erlitt Friedrich von Hardenberg einen Blutsturz in Dresden (vgl. Kommentar zu Nr. 12), w o ihn sein Bruder Karl pflegte; dessen Brief vom 14. N o vember 1800 ist nicht erhalten. Die Eltern besuchten Friedrich von Hardenberg vom 20. bis 30. November 1800 in Dresden. 126 Ein Maler Sonnenwald ließ sich nicht ermitteln; auch das Stadtarchiv Bautzen konnte hier nicht weiterhelfen. Evtl. hat Sophia von Hardenberg den Namen nicht richtig entziffert. 127

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 145. Von diesem Brief war bisher nur die kurze Stelle »in Dresden [ . . . ] nicht auf« i n der ungenauen Abschrift Ernst Heilborns bekannt; vgl. HKA , Bd. 4, 666. I n der Mappe Nr. 1 4 5 / 1 befinden sich auch zahlreiche Briefe Friedrich von Rechenbergs an seine Schwiegermutter aus dem Zeitraum 1799-1801, und i n 145/2 werden seine Briefe an sie aus den Jahren 1801 bis 1810 aufbewahrt. 128 Z u dem angesehenen A r z t Johann Nathanael Pezold (1739-1813), der den Dichter in Dresden behandelte, vgl. Verf. (wie A n m . 73), 74 f.

129

D.h. sie verlor die Fassung.

Hermann F. Weiss

110

diesen allen, u sage nur der Brief wäre von Ihren Weynachten [ . . . ] Wohl 1000 Umarmungen Deine treuste Mutter v H

Kommentar: Dieses Schreiben an Sidonie, die sich damals monatelang bei ihrer Schwester Caroline von Rechenberg i n Oberhalbenberg aufhielt, vermittelt einen anschaulichen Eindruck v o m alltäglichen Briefstil der Mutter Friedrich von Hardenbergs, deren Briefe fast alle verlorengegangen sind. A h n l i c h wie viele andere hier abgedruckte Auszüge verdeutlicht es auch die engen Bande innerhalb der Hardenbergschen F a m i l i e . 1 3 0 Unbekannt war bisher, daß der schwer kranke Dichter erwog, sich nach seinem Aufenthalt i n Dresden i n Freiberg weiter pflegen zu lassen, daß Juliens Mutter Johanna Dorothea Wilhelmine von Charpentier ihn i n Dresden besuchte und sich gegen den Plan seines Aufenthalts i n Dresden entschied, wobei unklar bleibt, wieso sie sich des Dichters nicht annehmen wollte. A u c h andere hier wieder gegebene Zeugnisse zeigen deutlicher als die bisher bekanntgewordenen Dokumente, wie sehr sein gesundheitlicher Zustand Spannungen zwischen und i n den beiden Familien wieder aufleben ließ. Die Belastungen des Jahres 1800 stellten anscheinend das Gottvertrauen der Eltern und Geschwister Friedrich von Hardenbergs auf eine schwere Probe. Caroline kränkelte seit dem Frühjahr 1800 immer wieder, 1 3 1 und der Tod Bernhards am 28. Oktober 1800 traf die Familie schwer. Über die bisher unbekannten Umstände dieses tragischen Unfalls berichtet Sophia von Hardenberg, w o h l auf Grund mündlicher Familienüberlieferung, Folgendes: »Auguste war mit den jüngeren Geschwistern Bernhard, Wilhelm, Hans, Amalie i n Weißenfels, während dieser Reise der Eltern zu Carolinen, [ . . . ] zurückgeblieben; bei den Knaben war ein Hauslehrer, 1 3 2 ohne Zweifel ein unbrauchbarer nachlässiger Mensch. Karl war i n Lützen. A m 28" O k t . Nachmittags verließ Bernhard das Haus u. kehrte nicht zurück, als er Abends nicht da war suchte man nach ihm; er war i n der Saale ertrunken! Karl meldete es dem Vater, u. eilte dann nach Dresden zu Fritz, der schon sehr krank, aus Schreck über diese Nachricht einen heftigen Blutsturz bekam, der seiner Gesundheit den letzten Stoß gab. Der Vater war wie ich glaube, sogleich nach Weißenfels zurückgeeilt. Die M u t ter blieb noch ungefähr 14 Tage, da sie sowohl wie die Töchter so erschüttert war, daß sie nicht reisen k o n n t e [ . . . ] . « 1 3 3

130

Z u m Familiensinn i n der Familie von Hardenberg vgl. HKA, Bd. 4, S. 6*f.

131

Nachlese., 259.

132

A m Rand i n Sophia von Hardenbergs Handschrift: »Herr Beyer«.

133

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H

Nr. 10, fol. 143. Vgl. Nachlese, 270.

Oberwiederstedt,

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

111

23. Caroline von Rechenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 5. Dezember

1800 134 Gleich mein Anfang theure geliebte Mutter soll D i c h Deiner Unruhe über Frizens Reise zu uns erledigen 1 3 5 bis jezt ist es blos beym Plane dazu geblieben, Wetter u Weg u auch der Raht Juliens haben es bis hierher verhindert, u für jezt dürfte es auch nach dem heutigen Briefe von Carlen, wenn anders Wetter u Weg sich nicht ändert nicht geschehen. M i t Frizens Gesundheit scheint es bey der Besserung fortzufahren. Carl schreibt das er täglich 3 Stunden m i t i h m aus fährt u das es würklich besser m i t i h m gienge, dies sind Carls eigne Worte. Fürchteten w i r uns nicht bey der jezigen Jahreszeit u Weg vor einem nachtheiligen Einfluß der Reise auf Frizens Gesundheit so sollte er uns herzlich w i l l k o m men seyn, u w i r würden gern u w i l l i g für ihn thun was i n unsern Kräften stünde. U n d nun bitte ich D i c h herzlich meine goldne Mutter mache D i r noch keine Sorge über die idée Julchen und Carolinchen 1 3 6 diesen Winter bey euch zu sehn, wer weis wie sich dies alles noch ändert, die Güte unsers besten Vaters auch i n diesen Plan, blos aus Liebe für Fritz, und gegen seine eignen Wünsche, zu willigen macht ihn uns täglich verehrungswerther, u gewiß muß u w i r d dies Friz auch eben so lebhaft fühlen, wenn er wieder gesund seyn wird. [ . . . ]

24. Sidonie von Hardenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 11. Dezember

1800 137 Soeben, meine liebste Mutter, erfahr' ich erst daß ein Bote nach Görlitz geht er w i l l den Augenblick fort und D u erhälst also nur wenige Zeilen. Ueber Fritzen wirst D u nun hoffentlich beruhigt seyn, er ist nicht bey uns; Julchens Plicher Sorgfalt hast D u die jetzige Verschiebung der Reise zu danken; an seiner statt hat uns der gute A n t o n sehr angenehm überrascht; aus seiner Entbehrlichkeit bei F r i t z 1 3 8 kannst D u schon schließen wie gut es m i t diesem steht; auch hat er überall nicht beschreiben können wie schwere Fortschritte dieser in seiner Genesung macht; sein Aeuseres und Inneres soll sichtbar an Heiterkeit und Wohlseyn gewonnen haben. [ . . . ] Der Kreis Deiner Geliebten ist groß und ob D i r schon da natürlich mehr Schmerzen zufallen als andern so hast D u doch gewiß auch der Freuden mehr!

134

Ebd., Nr. 145/1.

135

Der bisher unbekannte Plan des Dichters, von Dresden aus nach Oberhalbendorf zu kommen, konnte nicht verwirklicht werden. 136 137

Z u »Carolinchen« vgl. A n m . 168.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 2 7 / 2 . 138

Oberwiederstedt,

Georg Anton von Hardenberg, der seit 1799 in Dresden stationiert war, beteiligte sich dort an der Pflege seines Bruders.

112

Hermann F. Weiss

25. Caroline von Rechenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 21. Dezember

1800 139 Wie schlecht mir der Brief des Herrn Ob[er]=Hof=Predigers gefallen, kannst D u D i r denken; ich habe wahrhaft Feuer u. Flammen gespien u. mich tüchtig über den Wisch geärgert, u. meines Vaters himmlische Sanftmuth bewundert; glauben möchte man fast, er wäre närrisch, da er vorher ganz das Gegentheil von dem, was er jetzt behauptet, geäußert hat, u. D i r u. Fritz Schuld gab und in einer [unleserliches Wort] zu spielen, u. nun auch D i c h einer üblen Behandlung Juliens zeiht, ich kann nicht klug aus dem ganzen Handel werden, noch wodurch sich mein Vater auf seinen letzten freundschaftlichen Brief an Reinhard eine solche massive A n t w o r t zugezogen hat. Daß dieser Schritt Reinhardt nicht von Fritz u. Julien gebilligt wird, darauf dächte ich, wollte ich w o h l einen Eid ablegen, es ist dies ganz gegen Fritzens Denk u. Handlungsart, der sich w o h l i m disputiren mannichmal gegen den Vater vergaß, aber bei völliger Überlegung u. Besonnenheit nie einen solchen Schritt thun oder billigen wird, dazu ist er zu gut u. zu klug, u. wie könnte er denn mit gutem Gewissen D i r Mütterchen bei dieser Gelegenheit etwas zur Last legen, schon hieraus siehst D u daß es nicht von i h m her kömmt, u. dann denke nur, beste Mutter, Beide wissen doch, daß sie künftig von Euch abhängen werden, u. ohne die Unterstützung des Vater's aus ihrer Verbindung nichts werden kann, beide werden sich daher hoffentlich sehr hüten Euch ohne Ursache zu beleidigen. Julie würde sich ja selbst böses Spiel machen, da sie nicht bei ihren Eltern u. Verwandten, sondern bei u. mit Euch leben muß, und was würde ich nach solchen Äußerungen vor einen Begriff von ihrem Herzen u. Charakter bekommen, wenn sie so etwas zu thun oder nur zu denken fähig wäre. N e i n theure Eltern, es ist die Stimme beleidigten, geistlichen Hochmuths, die wie mich dünkt ganz deutlich aus Reinhardt Feder spricht, wer weiß, wodurch mein Vater bei dem stolzen Pfaffen angestoßen hat, u. nun sucht er dies unter einer Empfindlichkeit über das Benehmen gegen seine Schwägerin zu verstecken, warum hat er sich denn nicht früher ihrer angenommen? u. seines gekränkten Schwiegervaters Parthie nicht früher ergriffen? warum nun vollende der alte Charpentier jetzt beleidigt sein soll, begreife ich gar nicht, ich dächte die proposition, Julien zu Euch zu nehmen, hätte i h m eher lieb sein sollen, u. die A r t mit der sie i h m unser bester Vater gethan hat, war ja w o h l so freundschaftlich u. ehrend als möglich; kurz - über diese ganze Sache hängt für mich u. für uns alle hier ein Flor, den ich vergeblich m i t meinen Augen zu durchdringen strebe, es muß da noch irgend etwas uns unbekanntes dahinter stecken, worüber uns vielleicht nur die Zeit Aufschluß giebt.

Kommentar: Bekanntlich versuchte Friedrich von Hardenberg i m Frühsommer 1799 den angesehenen Dresdener Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (17531812), der mit Julie von Charpentiers Schwester Ernestine (geb. 1774) vermählt war, für seine Berufs- und Hochzeitspläne zu gewinnen. 1 4 0 Da die entsprechen139 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 144 r -145 r (Abschrift Sophia von Hardenbergs). Teildruck nach der Abschrift Ernst Heilborns i n HKA, Bd. 4, 668.

140

Vgl. HKA, Bd. 4, 282-285 (Friedrich von Hardenberg an Reinhard, 20. Mai 1799).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

113

den Zeugnisse, darunter der Briefwechsel zwischen Reinhard und dem Vater des Dichters, verschollen sind, läßt sich nicht rekonstruieren, wie sich das Verhältnis Reinhards zur Familie von Hardenberg entwickelte und warum er ihr Ende 1800 Vorwürfe wegen »einer üblen Behandlung Juliens« machte. M a n gew i n n t den Eindruck, daß die beiden Familien zunächst den durch Friedrich von Hardenbergs schwere Krankheit an sie gestellten Anforderungen nicht ganz gewachsen waren; daß durch sie latente Konflikte aktiviert wurden, etwa das Mißtrauen der den Herrnhutern nahestehenden Mitglieder der Familie des Dichters gegen den offiziellen Protestantismus, zeigt die fulminante Reaktion der sonst eher sanftmütigen Caroline gegen den »stolzen Pfaffen« Reinhard. Erst Mitte Januar 1801 gelang es dem Vater i n Dresden, den Streit mit diesem beizulegen und seine Zustimmung zur Mitreise Julie von Charpentiers nach Weißenfels zu erhalten. 1 4 1 26. Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau. Dresden, 14. Januar 1801 1 4 2 Gestern Abend u m 9 U h r kam ich hier an. Meine Kinder waren mir entgegen spazieren gefahren, und Carl fuhr gleich mit mir nach Hause. Von i h m erfuhr ich die Gesundheit von Fritz, und als er nach Hause kam fand ich es auch so. Er hat nach der Esels M i l c h und dem Kalckwaßer die Diaroe verlohren, und das Fieber war gestern Abend kaum zu spüren. Die Nachtschweiße kommen auch nicht alle Tage, und das Aussehen hat sich seit unserer Abreise nicht verschlimmert. Das ist das gute was ich D i r nach der Wahrheit schreiben kann. Allein der Husten ist schlimm, besonders periodisch des Nachtes, und der kurze Athem ist schlimmer geworden, so daß i h m das Reden sauer wird. Gestern Abend gieng es nach Heiwege. Er fährt alle Tage 4 Stunden spacieren und braucht nichts als Esels M i l c h und Kalckwaßer und etwas weniges [unleserliches Wort] moos. Seine beyden doctores sind kranck, und das quartier macht N o t h . Ich habe sehr darauf angetragen nach Weißenfels zu gehen, und w i r wollen sehen wie weit w i r damit kommen werden. Wenn das so bringe ich Julien mit, und vielleicht gleich meine Söhne. So bald ich etwas gewißes sagen kann, so schreibe ich Dir. Carl und A n t o n sind wohl, das sind alle meine nova. [ . . . ] N o c h bleibt es fest bey der Abrede, daß ich den Sonntag die Pferde i n Leipsig finde. [ . . . ]

27. Sidonie von Hardenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 27. Januar 1801 1 4 3 [ . . . ] Daß ich mir jetzt mehr als je zu D i r sehne da D i r eine neue so harte Prüfung bevorsteht, glaubst D u mir gewiß; w i r haben durch den Vater Nachricht erhalten daß er 141

Vgl. ebd., 672 f. (Heinrich U l r i c h Erasmus von Hardenberg an seine Frau, 15., 16., 18. Januar 1801). 142 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 309. Der bisher bekannte Brieftext (HKA, Bd. 4, S. 671 f.) beruht auf dem unvollständigen und fehlerhaften Erstdruck i n Nachlese , 270 f. 143 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 2 7 / 2 .

8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42. Bd.

Oberwiederstedt,

114

Hermann F. Weiss

m i t Fritz, Karl und Julie auf dem Wege zu D i r i s t ; 1 4 4 daß aber des ersten Gesundheitszustand noch sehr wechselt. So lieb mir nun aus vielen Rücksichten besonders Karls wegen diese Veränderung ihres Aufenthalts ist; so zittere ich doch bei dem Gedanken wie viel Unruhe und Angst Dich, meine geliebte Mutter, erwarten. Julie w i r d D i c h unterstützen so viel es i n ihren Kräften steht, das weiß ich, sie w i r d gerade jezt Gelegenheit haben sich so zu zeigen daß D u sie gewiß lieb gewinnen wirst; aber w i r d es ihr bei ihren lebhaften und tiefen Gefühlen nicht oft selbst an M u t h und Stärke gebrechen? [ . . . ] ich weiß nicht ob D i r das Lied aus dem Brüdergesangbuch: Nährt auch immer Schmerz, Mangel und Schmach, jezt erinnerlich ist; für mich enthält es viel Tröstliches. [ . . . ] 1 4 5 Wenn D u diesen Brief erhälst so ist Fritz schon bei D i r ; Gott gebe daß es beßer geht als man erwarten sollte; Grüße und küsse ihn auf das zärtlichste i n meinem Namen, so wie auch Carlen und Julien denen ich nächstens schreiben werde [ . . . ] Schreibe uns bald und entdecke m i r besonders aufrichtig ob D u m i t Julien zufrieden bist; du weißt daß ich lieber aus Deinem Munde die Wahrheit höre auch wenn sie bitter ist als eine Täuschung von der Dein Herz nichts weiß.

28. S i d o n i e v o n H a r d e n b e r g

an i h r e M u t t e r .

Oberhalbendorf,

30. Januar

1801146 [ . . . ] D u kannst D i r denken wie tröstlich uns bei so mancher andern Unruhe die erfreulichen Nachrichten von Fritzens Gesundheit seyn mußten Gott gebe daß D i r seine Besserung eben wie die von der Tante von Dauer seyn mag! Dies wäre über meine Erwartung, ich gestehe D i r daß ich allen M u t h zum Aeußersten verloren hatte; u m Ergebung hab* ich den himmlischen Vater für D i c h und uns Alle angerufen, alles übrige überließ ich ihm, vor meinen Augen war Alles dunkel. [ . . . ] ich weiß es nicht woher es k ö m m t allein seit einigen Tagen umschweben mich w i r k l i c h frohere Ahndungen über Fritzen; wie, wenn er bei D i r genäse, wenn D u durch seinen und Juliens Aufenthalt bei D i r mit einer Verbindung ausgesöhnt würdest, die D i r so vielen Kummer gemacht hat, wie - ich darf mich dieser schönen Aussicht nicht überlassen - wie unaussprechlich dankbar würd* ich dem H i m m e l sein! [ . . . ] Kommentar: W i e i m v o r a u f g e h e n d e n B r i e f e r w e i s t sich a u c h h i e r S i d o n i e als A n w ä l t i n J u l i e v o n C h a r p e n t i e r s , d e r e n Status i n der F a m i l i e v o n H a r d e n b e r g o f f e n s i c h t l i c h auch z u d i e s e m Z e i t p u n k t n o c h n i c h t gesichert w a r . O b w o h l die M u t t e r d e r z u k ü n f t i g e n S c h w i e g e r t o c h t e r a m 22. J u n i 1799 v e r s p r o c h e n hatte, daß sie » m i t L i e b e u n d F r e u n d l i c h k e i t « i n die F a m i l i e a u f g e n o m m e n w ü r d e , 1 4 7 hegte 144 A m 20. Januar 1801 war der todkranke Dichter mit seiner Begleitung von Dresden nach Weißenfels abgereist, w o er am 24. Januar eintraf. 145 Friedrich von Hardenberg besaß auch das Gesangbuch der Brüdergemeine, wobei unklar ist, u m welche Ausgabe es sich handelte; vgl. HKA> Bd. 4, 696, 1061, ferner Nr. 31 der vorliegenden Dokumentation. 1

Nr.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H 7 .

Oberwiederstedt,

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

115

sie anscheinend weiterhin Vorbehalte gegen sie, die sich leider nicht näher bestimmen lassen. Selbst Sidonie scheint sich nicht sicher gewesen zu sein, ob Julie von Charpentier dem auf ihr lastenden Erwartungsdruck gerecht werden konnte. Dem unten abgedruckten Dokument Nr. 30 zufolge scheint etwa Anfang Februar eine - evtl. nur zeitweilige - Verminderung der Spannungen zwischen Julie und den Eltern des Dichters eingetreten zu sein. Man wüßte gern, warum Sidonie »aus vielen Rücksichten besonders Karls wegen« der Ortswechsel von Dresden nach Weißenfels zusagte. Hängt dieser diskrete Hinweis mit der Anbahnung einer Beziehung in Dresden zusammen, über die Sophia von Hardenberg, w o h l auf Grund der Familienüberlieferung, in Salinendirektor v. Hardenberg Folgendes verlauten läßt: »Aber ganz unverkennbar ist auch, daß trotz allem Bemühn von Carl u. Sidonie, selbst der nachsichtigen schwachen Mutter Julie Charpentier völlig unsympathisch war, so sehr sie sich bemüht die >Braut ihres Fritz< zu lieben, es geht nicht, sie bleibt den Eltern eine unangenehme, fremde Persönlichkeit, besonders nahmen sie ihr, ihre Koquetterie mit Carl während der Pflege von Fritz sehr übel, so daß sie Gott dankten als sie zu ihren Eltern zurückging, nach Fritz seinem Tode; Carl ist au petit soins für sie, u. nachher führt er eine eifrige Correspondenz mit ihr [ . . . ] . « 1 4 8 Die Herausgeber der HKA, denen anscheinend weder der hier kommentierte Brief noch die Ausführungen Sophia von Hardenbergs bekannt waren, halten das Verhältnis zwischen Karl und Julie von Charpentier dagegen für schwesterlich, 149 was eher zu hagiographischen Tendenzen der NovalisRezeption paßt. A u c h Sophia von Hardenberg schließt sich ihnen an, indem sie manche in ihren Vorstudien enthaltenen herben Äußerungen nicht in Nachlaß übernimmt, z. B. die eben zitierten sowie die Behauptung, daß Julie den oben erörterten Konflikt mit Reinhard inszeniert habe, u m das Verhältnis mit Friedrich von Hardenberg aufzulösen, »das ihr anfing lästig u. fatal zu werden, da sie die Furcht angesteckt zu werden sehr peinigte, u. die ganze Krankheit von Fritz ihr Schauder erregte; sie muß überall seltsam in dieser Zeit gewesen sein

147

HKA, Bd. 4, 656 f.; vgl. den voraufgehenden Bittbrief Julie von Charpentiers vom 25. M a i 1799 an die Mutter (ebd., 655 f.). 148 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 10, fol. 150. 149 HKA, 1901), l l l f .

1

Oberwiederstedt,

Bd. 4, 1024; vgl. dagegen Ernst Heilborn: Novalis, der Romantiker

(Berlin

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 5.

Hermann F. Weiss

116

29. Caroline von Rechenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 31. Januar

1801151 [ . . . ] Tausend Grüße an meine geliebten Geschwister u Julchen vorzüglich unsern lieben Kranken, denen ich aus voller Seele gute Beßrung wünsche [ . . . ] Meinem guten lieben Georgen 1 5 2 einen derben Kuß. [ . . . ] Gott gebe seinen Segen zur Beßrung der Tante, M i l t i z ist seit 2 Tagen dort. [ . . . ]

30. Sidonie von Hardenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 7. Februar

1801153 Dein Brief, meine theure zärtlich geliebte Mutter [ . . . ] hat mir w o h l und weh gethan; die Nachrichten von Fritz könnt* ich nach dem letztern Briefe von Gustel nicht beßer erwarten, auch hab' ich schon längst Verzicht auf alle hoffnungsvollen Aussichten gethan, die guten von dieser Seite würden mich mehr überraschen als die schlimmen. Wenn ich D i r und Julchen M u t h einsprach, so war es mehr u m euch zu überreden als daß ich selber mir viel geschmeichelt hätte. Ihr beiden liegt mir vorzüglich am Herzen und der H i m m e l weiß wann ich euch nur etwas von Eurer Last abnehmen könnte, wie w i l l i g ich die äußerliche Ruhe meiner Lage aufopfern wollte! [ . . . ] daß D u , meine geliebte Mutter, i n Julchen das w i r k l i c h gefunden hast was ich D i r lange versprach daß D u sie für Dein K i n d dem Herzen nach erkennst, daß auch sie sich so an D i c h attachirt, daß auch mein Vater mit diesem Verhältniß ausgesöhnt ist, das ist eine Befriedigung für die ich dem A l l gütigen nicht genug danken kann; dieses Mißverständniß zwischen Menschen die ich so unaussprechlich liebe von denen ich wußte daß sie einander werth waren, hat mich oft tief gekränkt, hat mir so viele trübe Stunden gekostet und so hat denn endlich mein Gebet es aufzulösen der Allgütige erhört! so müssen auch Schmerzen nur zur innigem Vereinigung verwandter Menschen dienen! [ . . . ] Für Julchen ist mir bänger, ihr Verlust ist zu groß und ihr Gemüth zu wenig durch Erfahrungen gestählt und erhoben u m nicht ganz dem Drucke nachzugeben der auf ihr lastet; Eure Gegenwart, Euer Beispiel, Eure Liebe, meine theuern Eltern w i r d es ihr indeß viel erleichtern und die Gesellschaft ihrer zärtlich geliebten Schwester gewiß auch nicht ohne Wirkung seyn; die liebevolle, theilnehmende Seele der Thielemann 1 5 4 w i r d gewiß mit Freuden den gemeinschaftlichen Antheil an euerm Leide übernehmen. A u c h du, meine geliebte Mutter wirst dich in ihrem Umgange beruhigt fühlen; sie ist ein vortreffliches Weib die selbst durch Leiden sehr veredelt worden ist.

151

F D H 13187.

152

Z u »Georgen« vgl. A n m . 168.

153 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 27/2. 154 Vgl. Kommentar zu Nr. 34.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

117

31. S i d o n i e v o n H a r d e n b e r g a n i h r e M u t t e r . O b e r h a l b e n d o r f ,

10. F e b r u a r

[1801]155 [ . . . ] ich beneide alle die Menschen so glücklich sind m i t D i r Deine Kümmernisse zu theilen, und nicht allein die Deinigen sondern auch Juliens! O Gott! und was gäb ich daru m auch u m unsern geliebten Fritz zu seyn und nur etwas zu seiner Erleichterung bei zu tragen; [ . . . ] die Nähe geliebter Menschen ist mir jetzt zum größten Bedürfniß, am liebsten möcht' ich euch alle beisammen haben! - M i t meiner Leetüre geht es mir jezt gerade wie Dir, liebste Mutter, Romane ekeln mich an, Müllers Schweitzergeschichte 156 und Coocks Reisen 1 5 7 interessiren mich am meisten [ . . . ] A m Allerliebsten und unentbehrlichsten ist mir indeß alles was auf unser höheres und unvergängliches Wesen Beziehung hat. Das Brüdergesangbuch das ich erst jezt m i t rechter Aufmerksamkeit durchlese schenkt mir manchen Trost und manche Erquickung; es enthält viele geistreiche und fröhliche Lieder; einige die mich besonders rühren w i l l ich D i r nennen [ . . . ] 32. C a r o l i n e v o n R e c h e n b e r g an i h r e M u t t e r . O b e r h a l b e n d o r f ,

19. F e b r u a r

1801 158 A m Montag früh erhielten w i r bey unsrer Zurückkunft aus N i e s k y 1 5 9 eure lieben Briefe, nach denen w i r schon längst uns gesehnt hatten, u ihnen mit Furcht u Hofnung entgegen gesehen hatten, leider ach leider sind Eure Nachrichten nicht sehr tröstlich; Wofür w i r Gott herzlich danken ist das D u bestes Herzensmütterchen u mein Vater nebst Carl w o h l seyd, Gott stärke u erhalte euch, das ihr der Pflege u Wartung unsres theuren Kranken nicht unterliegt, Gott weiß wie gern ich bey euch wäre, wie gern ich D i r beystünde. Der Krampfhusten Juliens ist mir vorzüglich eures u Frizens wegen, höchst unangenehm gewesen, gebe Gott das sie dieser Brief völlig befreit davon findet. [ . . . ] 33. S i d o n i e v o n H a r d e n b e r g an i h r e M u t t e r . O b e r h a l b e n d o r f ,

28

Februar

1801 160 [ . . . ] Daß Thielemanns nicht länger da geblieben sind thut mir sehr leid; [ . . . ] M i t der theuren Julie denk* ich w i r d es fort beßer gehn, grüße sie m i t unserm Fritz aufs zärtlichste, so auch alle übrigen Geschwister. [ . . . ] 155

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H N r . 2 7 / 2 . Der Brief trägt irrtümlich die Jahreszahl 1800.

Oberwiederstedt,

156 Johannes von Müller, Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft Erstes bis Drittes Buch, Leipzig 1787-1795. Dieses Werk befand sich in der Bibliothek Friedrich von Hardenbergs; vgl. HKA, Bd. 4, 696. 157 Johann Georg Forsters Bericht über James Cooks Entdeckungsreisen, A Voyage towards the South-Pole and round the world in the Years 1772, 1773, 1774 and 1775 (1777), erschien 1778-1780 i n deutscher Ubersetzung. 158 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 145/1. 159 1

Nr.

Oberwiederstedt,

Niesky wurde 1742 von der Herrnhuter Brüdergemeine gegründet. Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H .

Oberwiederstedt,

Hermann F. Weiss

118

34. C a r o l i n e v o n R e c h e n b e r g an i h r e M u t t e r . O b e r h a l b e n d o r f , 4. M ä r z 1 8 0 1 1 6 1 A n diesem stillen einsamen Morgen benutze ich die ersten Stunden u m D i r meine goldne beste Herzensmutterutter für Deinen lezten Brief vom 24ten zu danken, u D i c h meiner gewiß recht innigen lebhaften Theilnahme an den leider fortwährenden Leiden meines guten geliebten Frizen zu versichern. O gute theure Mutter wie gern unterstütz[t]e ich D i c h selbst u hülfe ihn pflegen u warten, o! das das mein jeziger Zustand leider unmöglich macht, 1 6 2 ich beseufze es oft, u am Willen liegt es wahrhaftig nicht. Wie herzlich danke ich Gott für die Stärke die er D i r zu diesem traurigen mühvollen Geschäfte verleiht, denn nur sein A r m kann D i c h unter so vielen Sorgen aufrecht erhalten [ . . . ] Wie sehr mich Fritzens Andenken gerührt hat, wie gern ich i h m jezt Beweise gäbe daß meine Liebe für ihn immer die alte ist u das dieser weder meine jezigen Verhältnisse noch Entfernung je Abbruch thun könnten, nur Pflichten machen es mir unmöglich meiner Sehnsucht ihn zu pflegen zu folgen, u die Ueberzeugung das ich i h m bey der leider immer näher rükkenden Zeit meiner Entbindung weniger nüzlich seyn dürfte, auch ist das gewiß mein guter bester Fritz von seiner Line überzeugt [ . . . ] Das Benehmen von der Th.[ielemann] weis ich mir gar nicht zu deuten von ihr hätte ich dies am wenigsten vermuthet, solche Verlegenheiten lernen einen oft Menschen auf sehr verschiedenen Seiten kennen, ich hätte gedacht, sie wäre in der Schule der Leiden geprüft u würde u m so herzlicheren Theil an denen anderr nehmen, doch ich schweige wie über so manches andre. [ . . . ] Grüße tausendmahl meinen geliebten Friz u alle meine lieben Geschwister. [ . . . ] . Kommentar: A u s d i e s e m s o w i e d e m v o r h e r g e h e n d e n B r i e f e r g i b t sich die bisher u n b e k a n n t e Tatsache, daß eine Schwester J u l i e v o n C h a r p e n t i e r s , die v o n F r i e d r i c h v o n H a r d e n b e r g geschätzte W i l h e l m i n e v o n T h i e l e m a n n ( 1 7 7 2 - 1 8 4 2 ) , u n d i h r m i t d e m D i c h t e r befreundete G a t t e J o h a n n A d o l f (1765 - 1 8 2 4 ) sich i m F e b r u a r 1801 i n Weißenfels

aufhielten.

Sophia v o n

Hardenberg

vermerkt

hierzu:

» l . [ a u t ] e i n e m C a l e n d e r v o n K a r l w a r e n T h i e l e m a n n s v o m 2 0 - 2 3 F e b r u a r 1801 i n W e i ß e n f e l s « . 1 6 3 I n der HKA

w e r d e n z a h l r e i c h e Briefe S i d o n i e v o n H a r d e n -

bergs an W i l h e l m i n e v o n T h i e l m a n n a b g e d r u c k t , 1 6 4 die allerdings n u r aus d e m Z e i t r a u m 1 7 9 9 - 1 8 0 0 s t a m m e n . So läßt sich n i c h t k l ä r e n , w a r u m es i n W e i ß e n fels z u S p a n n u n g e n k a m , die anscheinend z u einer v e r f r ü h t e n A b r e i s e d e r T h i e lemanns f ü h r t e n . 161

F D H 13189. Der erste Absatz teilweise und mit einigen Fehlern in HKA,

Bd. 4,

677. 162

A m Tag vor dem Tod des Dichters kam Carolines erstes K i n d Friedrich Erasmus zur Welt (24. März 1801); am 18. A p r i l 1801 starb sie an den Folgen der Geburt. 163 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 154. Der Hinweis auf Wilhelmine von Thielemann i n Nr. 30 der vorliegenden Dokumentation bezieht sich wahrscheinlich auf den zu erwartenden Besuch der Thielemanns. 164

Vgl. z. B. HKA, Bd. 4, 628 ff., 636, 643 f. u.ö.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

119

35. Sidonie von Hardenberg an ihre Mutter. [Oberhalbendorf?], 8. März

1801 165 [ . . . ] Wenn mir G o t t wenigstens die Bitte gewährt D i r nach so vielen bittern Leiden durch meinen Umgang etwas zum Tröste zu dienen, wenn er mein Herz Deiner immer werther immer loser von alle dem macht was D i r mißfallen könnte so w i r d mir auch das Leben wieder lieber werden das sonst w i r k l i c h nur wenig Reitze für mich hat [ . . . ] Gott sey nur mit D i r und Julien! Ihr braucht es am meisten er steht ja so manchem Leidenden bei, der beinahe unter der Last erliegt; er w i r d euch auch nicht verlaßen.

36. Caroline von Rechenberg an ihre Mutter. Schönberg, 14. März 1801 1 6 6 So sehr ich auch Deine A n k u n f t bey mir liebste beste Mutter wünsche, so traurig machte uns doch Dein lezter Brief wenn w i r bedachten wie schwer D i r unter den jezigen U m ständen das Haus zu verlassen werden müste u wie ungern D u unsern armen Kranken anderer Pflege überlassen würdest, doch dies ist eine Materie worüber ich weder schreiben noch denken darf wenn ich jezt ruhig bleiben w i l l , Gott segne meinen Frizen für seine treue Fürsorge, u sey sein Beystand in seinen Leidensstunden, w o dieser ihn allein stärken kann, ich bete u w i l l fleißig für ihn beten. [ . . . ] Viel Herzliches meinen geliebten Geschwistern vorzüglich meinem Fritzen u tausend Dank für den neuen u so seltnen Beweis seiner treuen Liebe für m i c h , 1 6 7 ach könnte ich i h m doch einen Beweiß der meinigen geben. [ . . . ] Grüße meinen Georgen und meine Caroline schönstens. 168

37. Sidonie von Hardenberg an ihre Mutter. Oberhalbendorf, 22. März 1800 1 6 9 [ . . . ] Unserm geliebten Kranken meine zärtlichste Umarmung. Gott stehe i h m doch bei und erleichtere i h m wenigstens seine Leiden! [ . . . ] 165 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Nr. 2 7 / 2 .

Oberwiederstedt,

166 Ebd., Nr. 2 7 / 1 . Schönberg i m oberlausitzischen Gebirge gehörte der Familie von Rechenberg, verfügte aber nicht über einen selbstständigen Rittersitz. 167 M a n wüßte gern, was Caroline von Rechenberg von ihrem Bruder erhielt. Vielleicht etwas von ihm Gedichtetes? Vgl. auch den Hinweis auf ein früheres Geschenk in Nr. 34. 168 Karl Georg Friedrich von Rechenberg (1785-1854) entstammt Friedrich von Rechenbergs erster Ehe mit Christiane Eleonore Friederike von Heldreich (1762-1799; frdl. Mitteilung Huberts von Rechenberg vom 11. Oktober 2000). Bisher war unbekannt, daß er ab Ende 1800 bis Frühjahr 1801 i m Hardenbergschen Haus i n Weißenfels weilte und also das Lebensende des Dichters miterlebte; vgl. Nr. 29 der vorliegenden Dokumentation, ferner Salinendirektor v Hardenberg (Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 144 r ). Caroline ist wahrscheinlich eine seiner Schwestern und hielt sich damals gleichfalls in Weißenfels auf; vgl. Nr. 23 der vorliegenden Dokumentation, ferner Caroline von Rechenbergs Schreiben v o m 31. Januar 1801 an ihre Mutter (Rep H Oberwiederstedt, Nr. 145/1). Leider sind diese Schwestern in die Genealogien der Familie von Rechenberg nicht aufgenommen worden (frdl. Mitteilung Hubert von Rechenbergs vom 11. Oktober 2000).

1 9

Nr.

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, .

120

Hermann F. Weiss

38. Christian Gottfried Steinbrecher an den Vater. Schlöben, 11. A p r i l 1801 1 7 0 [ . . . ] Die traurige Nachricht hatten w i r alle hier i n ungemeiner Theilnahme an Ew. Gnaden Verlust vernommen; der seel. junge Herr wurde hier von aller Welt geliebt, und w i r d daher eben so allgemein betrauert. Von der Canzel, da bey des seel. Ju[n]k[e]rs Aßmus Ableben nichts geschehen, ist auch, nach Ew. Gnaden Verordnung keine A b k ü n digungerfolgt. [ . . . ]

39. Autobiographische Aufzeichnung des Vaters. Undatiert. 1 7 1 Ich habe schon lange gewünscht meine Gedanken über meine Bekanntschaft m i t der Brüdergemeinde, schriftl. zu entwerfen, u. den Grund der Hoffnung anzugeben, die i n mir ist. Ich nehme daher des ersten freien Augenblicks wahr, der sich mir dazu darbietet, weil ich als ein Mensch nicht über den kurzen Zeitpunkt einer Minute hinübersehen u. entscheiden kann ob ich noch weit von der Stunde entfernt bin, die meinen Glauben i n Schauen verwandeln wird, dann können meine Freunde, gebe Gott m i t kälterem Blute meine Verantwortung lesen, u. sie werden mir denn doch ein unpartheiisches Urtheil nicht versagen, w o z u ich Ihnen vor dem Angesichte unsers Herrn seine Gnade erflehen will. Wer also diese Zeilen lies't der beurtheile sie aus diesem Gesichtspunkte. Nach einem wüsten wilden Leben erwachte ich i m Ernst 1769 durch eine heftige Erschütterung bei dem Tode meiner F r a u , 1 7 2 u. empfand eine heftige Unruhe meines Herzens, über den Zustand meines Herzens. Die fromme Erziehung meiner seeligen M u t ter, 1 7 3 hatte mir principia eingeflös't, welche mir schon i n meinen zarten Jahren starke Eindrücke i n meine Seele gemacht, u. diese hatte mir der langmüthige Gott auch i n dem Wust von Lastern erhalten, welchen ich mich so lange überlassen. Diese wachten nun wieder auf u. machten mir vielen Kummer. Ich sah den traurigen Tod meiner Frau als eine besondre Strafe Gottes über mein vergangenes Leben an u. wünschte sehnlich über die Frage gründlich belehrt zu sein: Was soll ich thun daß ich selig werde? M e i n erster Gedanke war ich w i l l mich bessern u. durch meinen strengen Wandel das wieder gut machen, was ich i n meiner Jugend versäumt habe, ich fühlte wohl, daß ich damit meine Schuld nicht abtragen konnte, u. diese Überzeugung trieb mich zu dem einzigen Grunde unsrer Hoffnung, zum Verdienst Jesu Christi. A u f dieses setzte ich ein festes Vertrauen u. meine einzige Zuflucht i n meiner Sündennoth, u. dieser Trost war kräftig i n meiner Seele. Allein ich verlor ihn oft, wenn ich durch beständig vergebliche Bemühungen i n meiner Besserung nieder geschlagen wurde. Ich hatte zu lange dem Laster gefrohnt, als daß es nicht i n meiner Seele tiefe Eindrücke u. Wurzeln sollte hinterlassen haben. So viel Mühe ich mir gab sie von mir zu

170 Ebd., Nr. 395. N u r wenige Monate später, am 31. August 1801, berichtete Steinbrecher dem Vater, daß er den Jenaer Mediziner Stark (vgl. A n m . 73) gebeten habe, die in Schlöben todkrank darniederliegende Sidonie zu untersuchen; sie verstarb am 17. November jenes Jahres (ebd.). 171

Ebd., Nr. 10, fol. 13 v -14 r . D e m Text geht die wahrscheinlich von Sophia von Hardenberg stammende Überschrift »Ein einzelnes Blatt« voraus. 172 Die erste Frau des Vaters, Caroline Friederike Henriette geb. von Olshausen (geb. 1747), starb am 22. M a i 1769.

173

Katharina Sidonia geb. von Heynitz (1710-1771).

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

121

entfernen, so sehr überzeugte mich meine traurige Erfahrung, daß ich zwar die groben Ausbrüche der Laster vermied, aber der unglückliche Stoff blieb u. ließ mich bei jeder Versuchung zur Sünde ihren Sieg befürchten. I n der Zeit bekam ich den lieben Dodridge zu lesen 1 7 4 u. der brachte mich von neuem i n das Selbstwürken. Ich folgte ganz seinem Plan u. ergab mich G o t t meinem Herrn auf recht solenne Weise durch ein schriftliches Bündniß, welches ich demnächst allemal erneute, so oft ich zum heil. Abendmahl g i n g . 1 7 5 Allein eben so oft fand ich auch zu meinem Entsetzen, daß ich keinen Schritt weiter kam, ich mußte mich immer mit dem innerlichen Hang zum Laster quälen, der mein Herz so sehr einnahm, daß ich den Ausbruch immer mit Schrecken befürchtete. Dieses machte mir denn viele Zweifel, ob auch mein Glaube rechter A r t sei u. ob ich mich mit Grunde des Verdienstes meines Heilandes zu getrösten hätte. Daß unser Glaube ohne Werke todt sei, war mir ein fürchterlicher Satz, u. weil ich diese Werke bei mir nicht fand, so war der natürlicher Weise daraus folgd. Schluß traurig für mich. Schon derer Zeit ward ich m i t einem Freunde der Brüdergemeinde bekannt, dem ich hier über meine Gedanken klagte, allein seine A n t w o r t wollte mir damals noch nicht schmecken . . .

Kommentar: I n Nachlaß hat Sophia von Hardenberg diesen nur i n ihrer Abschrift erhaltenen, unvollständigen Bericht des Vaters über seine religiöse Erweckung abged r u c k t . 1 7 6 Allerdings gibt sie den ersten Absatz dort nicht wieder und mildert überdies das Bekenntnis ihres Großvaters wiederholt ab. Statt von einem »wüsten, wilden Leben« ist dort z. B. nur von einem »sehr weltlichen Leben« die Rede. Den »Wust von Lastern« redigiert Sophia von Hardenberg zum »Gehen i n der Irre« und »Laster« mehrfach zu »Sünde«. Das Bild vom »Ausbruch« des Lasters strich sie ebenso wie etwa den Satz: »Ich hatte zu lange dem Laster gefrohnt, als daß es nicht i n meiner Seele tiefe Eindrücke u. Wurzeln sollte hinterlassen haben.« Offensichtlich war ihr das Sündenbewußtsein ihres Vorfahren, seine »Neigung zum Sectenwesen«, 177 durchaus fremd. Zwar kritisiert sie die auch von anderen Biographen bemerkte oft harte Haltung des Vaters, unsbesondere seinen älteren Söhnen gegenüber, 178 erklärt sie aber aus der i m deutschen Adel allgemein verbreiteten autoritären Vaterrolle. 1 7 9 Sie ver174

Philipp Doddridge (1702-1751), bedeutender freikirchlicher Theologe in England;

vgl. Dictionary of National Biography, Bd. 5, 1063-69. U m 1760 erschienen mehrere seiner Schriften in deutscher Übersetzung, z. B. Betrachtungen über die Macht und Gnade Jesu, selig zu machen (Magdeburg 1767). 175

Gemeint ist das unter Nr. 1 abgedruckte Bündnis.

176

Nachlaß, 5-7.

177

Ebd., 17.

178 Vgl. Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 65 r ; vgl. hierzu Nachlaß , 9, 20 u. ö., ferner Roder (wie A n m . 20), 3 3 - 3 5 und Gerhard Schulz: Novalis in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbeck 1974), 1 1 - 1 3 .

179 Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 65v-66r.

122

Hermann F. Weiss

fällt nicht auf den Gedanken, daß ihr Großvater sich so gewissermaßen für seine nicht näher benannten jugendlichen Verfehlungen selbst bestrafte - und seine Kinder gleich mit. Man wüßte gerne, mit welchem »Freunde der Brüdergemeine« der Vater des Dichters über seine Glaubenskrise sprach und wann dies geschah. Wohl zu Recht schließt Sophia von Hardenberg aus den von ihr transkribierten Taufpatenlisten der Hardenbergschen Kinder, daß sich die Beziehung des Vaters zu den Herrnhutern zu Beginn der achtziger Jahre intensivierte, obwohl er nie eigentliches Mitglied dieser Religionsgemeinschaft w u r d e . 1 8 0 Schon unter den Paten A n t o n von Hardenbergs, der am 28. Juli 1781 i n Schlöben getauft wurde, finden sich weniger Verwandte als in den Verzeichnissen für die älteren Kinder. Stattdessen w i r d nun zusätzlich zu dem i n Nr. 4 erwähnten Prediger Klingsohr, einem Prediger der Brüdergemeine, »Frau Prediger M o l l y Ebbing zu Ebersdorf« aufgeführt. 1 8 1 Es handelt sich u m Marie Ebbing geb. Antes (17421811), die von 1742 bis 1764 i n Pennsylvanien lebte und 1772 Johann Renatus Ebbing (1736-1815) heiratete. Dieser wirkte von 1772 bis 1781 als Diakonus der Brüdergemeine in Ebersdorf und amtierte vom Herbst 1781 bis Herbst 1782 in Niesky und danach bis 1785 i n N e u w i e d . 1 8 2 Die bisher nicht beachtete Verbindung nach Ebersdorf existierte noch Jahre später, denn am 6. August 1795 teilt Karl von Hardenberg seinem Bruder mit: »der Vater geht den 9. nach Ebersdorf und bleibt 8 Tage daselbst«. 183 U n d u m die Jahreswende 1799/1800 schreibt Caroline von Rechenberg ihrer Mutter: »nach der Beschreibung w i r d mir Herrnhut weniger gefallen als unser stilles Ebersdorf, w o mir der alte Brüdersinn noch mehr das Uebergewicht zu haben schien«. 1 8 4 Die am 2. A p r i l 1783 getaufte Auguste von Hardenberg hatte gleich drei Mitglieder der Brüdergemeine zu Paten, und zwar neben dem bereits genannten Ebbing zwei Töchter des Grafen Nicolaus L u d w i g von Zinzendorf (1700-1760), des Begründers von H e r r n h u t . 1 8 5 Henriette Benigna Justine von Watteville (1725-1789) begleitete ihren Mann Johann von Watteville (1718-1788), der Bischof der Brüdergemeine und Nachfolger von Zinzendorf war, i m Zeitraum 1748 bis 180 Ebd., fol. 70 v . 181

Ebd.

182

Frdl. Mitteilung des Archivs der Brüder-Unität Herrnhut vom 18. August 2000. Der Theologe Horst Weigelt (Bamberg) w i r d demnächst i m Zusammenhang eines Forschungsprojekts über deutsche Dichter und ihre pietistischen Elternhäuser die i n Herrnhut befindlichen Dokumente zu Friedrich von Hardenbergs Eltern veröffentlichen (frdl. Mitteilung v o m 13. Juli 2000). 183

HKA y Bd. 4, 385. Z u Ebersdorf vgl. auch den Kommentar zu Nr. 4.

184

F D H 13193.

185

Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Oberwiederstedt, Nr. 10, fol. 71r.

Unbekannte Zeugnisse zu Friedrich von Hardenberg

123

1784 auf den meisten seiner Visitationsreisen, die sie z. B. dreimal nach N o r d amerika, ferner nach Holland, England, Dänemark und die Westindischen Inseln führten. Elisabeth von Watteville (1740-1807) war mit ihrem Mann i m Dienst der Brüdergemeine u. a. in Neuwied, Herrnhut und Barby. 1 8 6 Caroline von Rechenberg, die unter Friedrich von Hardenbergs Geschwistern den Glaubensüberzeugungen ihrer Eltern am nächsten stand, 1 8 7 nennt sie eine »warme Freundin« ihrer Mutter; i m August 1800 wurde sie mit ihr bei einem Besuch i n Herrnhut bekannt. 1 8 8

186 FrJL Mitteilung des Archivs der Brüder-Unität Herrnhut vom 18. August 2000. 187

Nachlese. , 18. 188 f D H 1 3 1 8 4 (Caroline von Rechenberg an ihre Mutter, 6. August 1800).

>Man doing< and >Man listeningsource hunting< no longer promised any major findings. These works basically derived Emerson's transcendentalist ideas, particularly i n his early essays, from the texts of such philosophers and poets as Fichte, Schelling and the Schlegel brothers. By way of contrast, scholars such as René Wellek, 2 drawing on the same sources, claimed that Emerson independently came to the same conclusions as the German authors. According to this argumentation, he merely received their texts as a confirmation of his o w n philosophy which comprised some autochthonous American elements. Notwithstanding their differences, all of these interpretations therefore suggest an essential identity of Emerson's beliefs w i t h those of early German Romanticism. Thus, it is hardly surprising that these critics have also identified large passages in Emerson's first publication Nature (1836) which appear to be imbued w i t h Novalis' thought. Starting from a comparison of Nature and Thomas Carlyle's essay »Novalis«, 3 which translated large sections of Novalis' writings, Pochman arrives at the following conclusion: Indeed, except for the illustrations drawn from natural sciences and the homespun phrases and figures, Emerson's Nature contains few ideas that have not their counter-

1 Henry A. Pochman, German Culture in America: Philosophical and Literary Influences 1600-1900 (Madison 1957) and Stanley M. Vogel, German Literary Influences on the American Transcendentalists (New Haven 1955). 2 René Wellek, »Emerson and German Philosophy«, New (1943), 4 1 - 6 2 .

3

England

Quarterly

16,

Thomas Carlyle, »Novalis«, in Critical and Miscellaneous Essays in Five Volumes ,

Vol. 2 (London 1899), 1 - 5 6 . Carlyle translates the entire first chapter of Die Lehrlinge zu Sais as well as a good portion of the second.

Jan Stievermann

126

part in Carlyle's words on Novalis or i n the quotations from Novalis that are adduced for illustrative purposes. 4

Supported by the additional >evidence< of many Novalis quotations i n Emerson's journals (and the fact that Emerson borrowed Novalis' works from the Concord library i n 1836 5 ) this evaluation of Nature

as a duplicate or at best

slightly Americanized version of Novalis' philosophy continues to reverberate even i n recent publications. Gerhart Hoffmeister, for instance, states that Emerson »agreefd] wholeheartedly w i t h Novalis' transcendental approach«. 6 H o w ever, apart from noting various thematic affinities on the textual surface and similarities i n vocabulary, none of these publications provides a close textual comparison that could really justify the thesis that Emerson directly appropriated Novalis' thought, be it as a precondition or as a confirmation of his o w n writing. Novalis' w o r k Die Lehrlinge

zu Sais lends itself best to testing

the validity of this time-honored opinion, since the text is, i n quantitative as well as i n qualitative terms, at the center of Carlyle's essay which purportedly has influenced the genesis of Nature to such a great extent. 7 However, instead of accumulating additional references to Novalis in Emerson's text (there are many, both of covert and overt nature), and instead of reaffirming existing interpretations, the following reading of Nature w i l l focus rather on the fundamental differences between the t w o texts i n order to illuminate the precise nature of Emerson's response. Beginning w i t h a short outline of the similarities, the following thematic and structural comparison w i l l reveal how Emerson, situated w i t h i n a different intellectual and historical context, productively >misread< and critically discarded central ideas of early German Romanticism w h i c h he encountered i n Die Lehrlinge zu Sais.

4

Pochman, German Culture , 607.

5

Cf. Vogel, German Literary Influences , 177.

6

Gerhart Hoffmeister, »In Search of the Blue Flower: Novalis i n N e w England, 1800 -

1850«, in Romanticism and Beyond. A Festschrift

for John F. Fetzer,

ed. Clifford A.

Bernd/Ingeborg Henderson/Winder McConnell ( N e w York 1996), 101-115, here 105. A l o n g the same lines: Sigrid Bauschinger, Die Posaunen der Reform: Deutsche Literatur im Neuengland des 19. Jahrhunderts (Bern 1989), 32. Martin, Christadler, »German and

American Romanticism«, in American-German Literary

Interrelations

in the Nineteenth

Century, ed. Christoph Wecker (München 1983), 9 - 2 7 . Pochman's statement is quoted i n the article on Novalis i n Wesley T. M o t t (ed.), Encyclopedia of Transcendentalism (Westpoint 1996). 7 The question whether or not Emerson read the entire text or not is somewhat irrelevant as he certainly knew in detail its content and structure and thus could have used Novalis' text as a model for his essay.

>Man doing< and >Man listening
exampla< for the »use which Nature subserves to man« (N, 25). Most of these chapters are even divided into sub-categories. Thus, the hierarchical division between subject and object (propagated on the thematic level) is directly emulated by the form of the text w i t h its detailed catalogue differentiating the exact nature of this dichotomy. 1 7 Nature offers, i n addition, a micro-structure of concrete and practical examples, similes, proverbs or miniature narratives which place these categories of use in an even more pragmatic context. Almost every statement, 14 The conflicts between the transcendental and the post-transcendental voice which Michael Lopez repeatedly points out take place on a different textual level. They occur on the level of >histoire< rather than on the level of >discoursecommon man< from his list of references: »All that Adam had, all that Caesar could, y o u could have and can do. Adam called his house, heaven and earth; Caeser called his house, Rome; you perhaps call yours a cobbler's trade; a hundred acres of ploughed land; or a scholar's garret« (N, 76). Thus, these examples reflect an immediate correlation between the rhetorical strategy of Nature and its imperative of subordination. Moreover, they are an expression of the text's claim that its goal can be realized i n the America of 1836. What Pochman ridiculed as homespun phrases are in fact a genuine attempt to fill the abstract philosophical frame w i t h images of American scenic beauty and anecdotes of dayto-day life that Emerson's audience could relate to: »The tradesman, the attorney comes out of the din and craft of the street and sees the sky and the woods and is a man again« (N, 43). As the opening passages cited above indicate, Die Lehrlinge zu Sai's does not share this optimistic belief in the possibility of fully understanding nature i n the here and now. There may occur momentary »Ahndungen« (LS, 95) of truth but a final authority cannot be revealed. Hence, the text concludes that the one right way to relate to nature cannot be taught at all: »Aber es ist umsonst, die Natur lehren und predigen zu wollen. Ein Blindgeborener lernt nicht sehen, und wenn man ihm noch so viel von Farben und Lichtern und fernen Gestalten erzählt« (LS, 123). The figure of the teacher qualifies this impossibility to a certain extent, but even he admits that nature selects only a few »Lieblinge« who can reach a higher state of understanding through continuous learning (N, 126).

>Man doing< and >Man listening
aufgehoben< in the truly Hegelian sense of the word. As one synthesis often forms the initial thesis of the next paragraph, this standard triad not only defines the micro-structure of a single sequence of three passages but also the macro-structure of the entire text in which the single dialectical units are em18

Ingrid Kreuzer, »Novalis: Die Lehrlinge zu Sais: Fragen zur Struktur, Gattung und immanenten Ästhetik«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 23 (1979), 276-308, here 290. 19

Werk

Juri Striedter, »Die Komposition der Lehrlinge zu Sais«, in Novalis:

und Persönlichkeit

Friedrich

von Hardenbergs,

1970), 2 5 9 - 8 2 [first publ. in Der Deutschunterricht, 20

9*

Mahoney, »Human History«, 112.

7 (1955)].

Beiträge zu

ed. Gerhard Schulz (Darmstadt

132

Jan Stievermann

bedded. The details of Striedter's essay did not go undisputed but his basic claim is widely accepted. 21 Ulrich Geier for instance tries to prove a gradual ascending dialectical movement passing through seven stages toward a final synthesis. 22 To follow the individual intricacies of Novalis' dialectical approach is not relevant for this essay and would go far beyond its scope. I t is important to note in this context, however, the radically different way i n which Novalis tackles his topic. Novalis' anti-hierarchical, dialectical composition can best be demonstrated by outlining the structure of the first chapter which already encapsulates that of the entire text. The first paragraph presents a general introductory description of nature as the great emblem. The question of whether this emblem is legible initially produces a negative answer: » [ . . . ] die Unverständlichkeit sei Folge nur des Unverstandes; dieser suche, was er habe, und also niemals weiter finden könnte« (LS, 95). Then a positive position, founded on a theory of harmonic correspondence between the inner and the outer world, is introduced: »Wer wahrhaft spricht, ist des ewigen Lebens voll, und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns seine Schrift, denn sie ist ein A k k o r d aus des Weltalls Symphonie« (LS, 95). Thus, the t w o answers given start from opposing presuppositions. The first strives to reach inner truth by contemplating the phenomenal world, while the second attempts to understand nature through introspection. I n an asymmetrical correspondence, the teacher exemplifies the fact that the first approach, the search for analogies by focusing on natural details, can indeed produce results. O n the other hand the inept pupil i n the beginning fails to pursue this way: » [ . . . ] er fand nichts leicht, wenn w i r Kristalle suchten oder Blumen. I n die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wußte er nicht« (LS, 97). However, the success he ultimately achieves through focusing on his solipsistic intuition, supports the method presented by the second voice. The third figure indicates the dialectical relationship and thus the ultimate identity of the two basic positions: the messianic child links the seemingly contradictory statements in a symbolic synthesis. A t the time of his second coming the contradictory approaches w i l l collapse into one: » [ . . . ] dann 21

Geza von Molnâr, »The Composition of Novalis »Die Lehrlinge zu Sais«: A

Réévaluation«, Publications of the Modem Language Association of America, 85 (1970), 1002-1014, and Lothar Pikulik, Frühromantik. Epoche-Werke-Wirkung (München 1992), 241-254. Pikulik provides a survey of the secondary literature which essentially agrees w i t h Striedter's line. 22 » [ . . . ] ein zugrundeliegendes Konstruktionsgesetz [ . . . ] , welches bei allen Entwicklungen unbeschadet ihres besonderen Gehalts anzuwenden ist und das Entwickelte aus einem anfänglichen Gegensatzpaar durch vier immer höhere Versuche der Verbindung zu einer Synthese führt, die alle früheren Verbindungsversuche [ . . . ] i n sich aufhebt und zur freien Vereinigung untereinander führt«. Cf. U l r i c h Geier, Krumme Regel: Novalis' >Kon-

struktionslehre

des schaffenden Geistes< und ihre Tradition

(Tübingen 1970), 65.

>Man doing< and >Man listening
Cheerful ApologueDie Lehr-

134

Jan Stievermann

IV. The » D o c t r n ie of U s e « and the C o m m a n d m e n t of L o v e : AT h e m a c i t C o m p a s r io n Traditionally, Nature has been interpreted as the manifesto of a nature-loving pantheist seeking a higher unity of subject and object. 2 5 Indeed the essay is replete w i t h phrases and statements that, at first sight, support such a reading. However, a closer analysis of these statements usually reveals that, i n contrast to Novalis' text, they do not aim at a reciprocal elevation of man and nature, i.e. a >poetization< of nature and a >naturalization< of man. Immediately following the famous »transparent eyeball« passage, w h i c h is often regarded as the climax of Emerson's transcendental vision, the text offers an explanation w h i c h reveals the practical objective motivating the mystical union: »Yet it is certain that the power to produce this delight does not reside i n nature, but i n man, or i n harmony of both« (N, 11). First of all, the goal of the new unity is a product which nature ought to yield and which is intended to delight man and man only. Secondly, it is man w h o holds sway over nature such that the w o r d »harmony« does not describe a status of harmonious equality but rather the way man can acquire this power, i.e. by >tuning in< the laws of the mind to the laws of nature. »For Nature is not about natural beauty or nature itself: it is about the human use of nature«. 2 6 Emerson's phrasing here is very explicit: »Nature is thoroughly mediate. I t is made to serve. I t receives the dominion of man as meekly as the ass on which the Saviour rode« (TV, 40). Accordingly, the essay interprets the fallen state of the present age as the reduction of man's power over nature. Drawing on Coleridge's interpretation of Kant's distinction between Reason and Understanding 2 7 , Emerson claims: »At present, man applies to nature but half his force. H e works on the w o r l d w i t h his understanding alone« (TV, 72). W i t h i n its sensual limitations the human U n derstanding necessarily regards the natural object as an independent >other< firmly located i n time and space. The Understanding can make mechanical use of nature, but it cannot become aware of man's ontological dominance. Thus, 25

For the transition from a transcendental to something like a post-transcendental image of Emerson see the discussion of secondary literature in Lawrence Buell, »The Emerson Industry in the 1980's: A Survey of Trends and Achievements«, ESQ: A Journal of the American Renaissance, 30 (1984), 117-139. Also Michael Lopez, »De-Transcendentaliz-

ing Emerson«, ESQ: A Journal of the American Renaissance, 34 (1988), 77-139. 26

Michael Lopez, Emerson and Power: Creative

Antagonism in the 19th Century

(DeKalb, I L 1996), 81. The interpretative approach of this essay essentially agrees w i t h Lopez and his emphasis on the post-transcendental aspect of Emerson's philosophy. However, it also concurs w i t h Lopez' qualification that the transcendental approach is not fundamentally wrong but incomplete and one-sided. 27

Cf.

Cameron's

chapter

on Emerson's

Cameron, Young Emerson's, 78-200.

reception of

Coleridges's

philosophy:

>Man doing< and >Man listening
Idealismmental sparring partner< whose resistance helps man to acquire the strength necessary to shape his o w n life according to his w i l l : »The exercise of the W i l l , or the lesson of power, is taught i n every event.« (TV, 39). I n this context, the debt and credit metaphor is quite revealing: The same good office is performed by Property and its filial system of debt and credit. Debt, grinding debt, whose iron face the widow, the orphan, and the sons of genius fear and hate [ . . . ] is a preceptor whose lesson cannot be foregone, and is needed most by those who suffer from it most. [ . . . ] Whilst now it is the gymnastics of the understanding, it is hiving, in the foresight of the spirit, experience in profounder laws. (TV, 37)

Even (or i n particular) the harm and losses the surrounding w o r l d inflicts on man can be transformed into valuable lessons of self-tuition and self-discipline. However, the very fact that Emerson chose to couch this philosophical notion i n imagery informed by the social experience of full-fledged capitalism is not only another instance demonstrating the author's eagerness to provide examples from everyday life. I t also demonstrates h o w far Emerson had moved away from the social utopianism of early Romanticism that was so i l l at ease w i t h the rapid social and economic changes of its time. Indeed, Emerson had moved towards a much more pragmatic ideology that was able to incorporate the reality of American liberalism and its free interplay of market forces. 30 Lopez is right 29 30

Lopez, Emerson and Power; 66.

Novalis' critique of modern capitalism is epitomized by his vision of a medieval, non-profit-orientated type of mining in accordance w i t h nature which is presented in

>Man doing< and >Man listening
Spirit< marks the climax of nature's ministry, i n that it presents man's deification as the result of his god-like creative powers, thereby casting the ubiquitous Spirit w i t h i n the mold of his mind: [ . . . ] the Supreme being, does not build up nature around us, but puts it forth through us [ . . . ] . As a plant upon the earth, so man rests upon the bosom of God; he is nourished by unfailing fountains, and draws at his need inexhaustible power. Who can set bounds to the possibilities of man? (N, 64)

Emerson's attempt at combining an Ego-philosophy, which goes far beyond any traditional Christian doctrine, w i t h the concept of a metaphysical Supreme Being outside of the >I< is not undertaken w i t h o u t problems. I n a kind of desperate afterthought, Emerson acknowledges that the epistemological model of mind and matter he propagated so ardently »leaves G o d out of me. I t leaves me i n the splendid labyrinth of m y perceptions« (N, 63). A t the core of this conundrum lies the problem that an antagonistic and utilitarian approach to nature eventually perpetuates the dichotomy of subject and object because it places them i n a fixed hierarchy. This model ultimately leads to the subject's complete dependence on the object w i t h regard to its self-definition and self-realization. I t is the master's dependence on the works of his slave. John Michael rightly remarks: »Emerson proffers his benediction on a narcissistic state of being that is essentially paradoxical: a relation of the >I< that exists without a >You< to correlate i t « . 3 2 This inevitably leads to a series of problems haunting Nature's philosophical system. The total power and independence of the subject that Nature proclaims proves to be an illusion without the introduction of a Supreme Being which guarantees for the ultimate correspondence between mind and matter and, at the same time, for man's superiority. The notion of correspondence is grounded on the assumption that both M E and N O T - M E are material emanations of the Oversoul. However, i n placing the t w o on a hierarchical scale, Emerson cuts the philosophical ground from under his o w n feet. I f a full realization of »the doctrine of use« depends on man's grasp of the metaphysical harHeinrich von Ofterdingen. Emerson's stance on this issue is a clear sign of how problematic it is to lump together the Emersonian style of Transcendentalism w i t h that of Orestes A . Brownson or even Henry David Thoreau. 31 32

Ibid., 62.

John Michael, »Emerson's Chagrin: Benediction and Exhortation in Nature and >Tintern Abbey«0! daß der Mensch< sagten sie, >die innre Musik der Natur verstände, und einen Sinn für äußere Harmonie hätte. [ . . . ] Seine Begierde Gott zu werden, hat ihn von uns getrennt, er sucht, was w i r nicht wissen und ahnden können, und seitdem ist er keine begleitende Stimme, keine Mitbewegung mehr. (LS, 113) 3 4

Thus, the remedy Emerson offers - the absolute extension of the Ego - is characterized as the root of the present estrangement. Mahoney remarks correctly that Novalis, »protesting against an instrumentalist use of reason that ultimately estranges humans from themselves as well as from their natural surroundings, [ . . . ] chose to emphasize the bonds of love linking together all living creatures«. 35 I n the historical account of man and nature's mutual relationship at the beginning of the second chapter the philosophical position of the earnest man corresponds w i t h the instrumentalist approach of the modern age. The once organic whole of nature is split up, categorized and misused in the service of man's various needs: [ . . . ] zur täglichen Nahrung und N o t d u r f t verarbeitet, und jene unermeßliche N a t u r zu mannigfaltigen, kleinen, gefälligen Naturen zersplittert und gebildet. [ . . . ] Wer sie aber nicht aus Herzensgrunde liebt, und dies und jenes nur an ihr bewundert, und zu erfahren strebt, muß ihre Krankenstube, ihr Beinhaus fleißig besuchen. (LS, 100-01)

I n contrast to Emerson, Novalis' ideal of the absolute did not imply an allencompassing Will, but a final state of »Ungeschiedenheit« 36 between subject and object that lies beyond self-reflexivity. The text has transcended the Fichtean dichotomy and its ultimate synthesis stands on an epistemological foundation that elaborates Schelling's idea of a ubiquitous >WeltgeistI-Thou< relationship. This new relationship, however, cannot be accomplished by means of an exercise of the w i l l or by philosophical thinking, it cannot, in fact, be accomplished at all. I t rather occurs in a free interplay which is enjoyed to no particular end at all. Love for love's sake w o u l d make man the master of a natural game rather than the master of nature, thus the natural objects suggest: »Er würde Meister eines unendlichen Spiels und vergäße alle törichten Bestrebungen in einem ewigen, sich selbst nährenden und immer wachsenden Genüsse. Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blaßgraues, schwaches Leben« (LS, 113). U l t i mately, this means that the >I< w i l l dissipate completely in the sea of original love. As Mähl points out, the conviction underlying Die Lehrlinge zu Sais is that until the dawning of that golden age of the new synthesis, only the true poet w i l l be able to give a vague foretaste of its delights. 39 H e is the elect subject i n which the different voices are merged, the dialectical »Aufhebung< of the »Den37 Dennis F. Mahoney, Die Poetisierung der Natur bei Novalis: Beweggründe, Gestaltung, Folgen (Bonn 1980), 31. 38

Kreuzer, »Novalis«, 300-308.

39

Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis: Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Heidelberg 1965), 362.

>Man doing< and >Man listening
ausgemergelt< etymologisch w i r k l i c h auf ein selten belegtes Verb >ausabmergeln< oder nicht eher auf >Mark< zurückgeht, muß dabei offen bleiben. Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold, 23., erw. Aufl. (Berlin, N e w York 1995), 67 (s.v. >ausgemergeltMergelDer Hünenstein< und >Die Mergelgrube< lassen sich unschwer als Modethemen erkennen« (Nettesheim, »Wissen und Dichtung«, 143); das dürfte für das dichterische Sujet des Hünengrabes und des Runensteins leichter zu belegen sein (wobei der Kommentar zum »Hünenstein« in H K A 1,2, 760 nur auf eine Produktion Wilhelm Junkmanns verweist) als für die »Mergelgrube«. D o c h schrieb noch Liliencron neben einer historischen Skizze »Zwei Runensteine« i m M a i 1888 eine tagebuchartige Novelle »Die Mergelgrube«, die er beide in die Novellensammlung Könige und Bauern aufnahm und die noch die Ausgabe von Benno von Wiese (Hg.): Detlev von Liliencron. Werke. 2 Bde (Frankfurt / M a i n 1977), Bd. 2, 7 0 - 7 6 und 7 7 - 1 0 2 nebeneinander stellt. Liliencron scheint das Gedicht der Droste gekannt zu haben; vgl. unten A n m . 17.

Annette von Droste-Hülshoff: »Die Mergelgrube«

153

»Haidebild« 1 3 mit Herde, H i r t und Sonnenball; die Gesangseinlage V. 95-106, die das Lyrische als volksliedhaften >Gesang< zitiert, es aber zugleich entstellt präsentiert; und schließlich das Gespräch über »Bertuchs Naturgeschichte« (V. 112), i n das wiederum so ganz unlyrisch das Zitat eines Verlegernamens eingelagert ist. Was fällt sprachlich auf? Aufs Ganze gesehen die Vielfalt der Sprachregister, die Biblisches und Kulturhistorisches, Fach- und Umgangssprachliches bis hin zum derben »versoffen« (V. 118) und dem süddeutschen Provinzialismus >Gant< umfaßt, die anthropomorphe Bildlichkeit über einer primär naturkundlich definierten Objektwelt, die Möglichkeiten emotionaler Intensivierung erprobt (»Wie zürnend sturt dich an der schwarze Gneus«, V. 10), aber sie in einer Schwebelage beläßt 1 4 , und das Nebeneinander verschiedener Wahrnehmungsbereiche und Diskurswelten. I m ersten Abschnitt ( V . l - 3 2 ) dominiert das Optische, taktile und haptische Qualitäten schieben sich vor - »Geröll«, »Gebröckel«: das hat, da ja gerade der Zerfall des porösen Materials die bunten Steine freigibt, nicht nur anschaulichen Eigenwert, sondern auch einen ästhetikgeschichtlichen Stellenwert: Gerade die Abwendung des nachgoetheschen Bildungssubjekts von der klassizistischen Gestaltästhetik der Goethezeit erzielt das ästhetisch Neue, setzt Zerfallswerte in Differenzqualitäten um. Z u diesem ästhetisch Neuen gehört auch der Spezialwortschatz der Gesteinskunde. Den kennt zwar schon das physikotheologische Lehrgedicht der Aufklärungszeit. 1 5 Hier aber erscheint er selbst wie sprachliches Fund- und Fremdmaterial, opak und aufblitzend zugleich: »Gneus« (Gneis), Spat, Glimmer, Porphyr, Okerdruse, Feuerstein (V. 10-14) - Wörter, die das Gedicht ergräbt. I m Kontrast dazu dann plötzlich Bibelsprache i n einem sonderbar altertümlichen Register, angeschlagen durch den Namen des Seeungeheuers »Leviathan« (V. 18); schließlich ab V. 25 der Ausbau der wissenschaftssprachlichen Metapher »Findling« zur Existenzbildlichkeit der Heidewelt als Waisenhaus, wobei der leitmotivische Charakter der Metapher über die Variation der Verse 25, 28, 43 und 51 erzielt wird. Damit w i r d am Ende dieses ersten Abschnitts sinnbildhaft besiegelt und zugleich religiös überhöht, daß es nicht mehr u m Naturerfahrung als Erfahrung einer harmonischen Ganzheit geht, sondern u m den Verlust eines einheitstiftenden Deutungszusammenhangs. Allerdings zeigt die

13 Daß nach den geologischen Tagtraumphantasien erst hier das eigentliche »Haidebild« einsetzt, betont Heselhaus, Annette von Droste-Hülshoff 243 f. 14 Das »wie« kann i n der Funktion der Intensivierung, aber auch als Vergleichspartikel i m Sinn eines >als ob< gelesen werden. 15 Vgl. den Hinweis bei Leif L. Albertsen, Das Lehrgedicht (Aarhus 1967), 146, auf die exzessiven Wortlisten bei Barthold Heinrich Brockes, Physikalische und moralische

Gedanken über die drey Reiche der Natur [...]

als des Irdischen

Neunter und letzter Theil (1748, N D Bern 1970), »Von den Steinen«, 43 f.

Vergnügens in Gott

154

Thomas Pittrof

Bildlichkeit dieses ersten Abschnitts gerade i n ihren divergierenden Strebungen, daß diese Einbuße auch Freisetzung sprachlicher Möglichkeiten und Neubesetzung funktionslos gewordener Elemente bedeutet. Der disparaten Welt einer »Dichtung des Plunders«, 16 für die Vokabeln wie »Gant« (V. 3) und »Trödelbude« (V. 4) stehen - auf wertlosen, bunten Kram deutend, der seinem ursprünglichen Sinn- und Gebrauchszusammenhang entrissen ist - , kontrastieren die plötzlich anspringende Schönheit des ungezähmt Lebendigen, Wildheit und Geschmeidigkeit, die i m exotischen Leopardenfell (V. 5) evoziert, aber auch relativiert (»Kein Pardelfell war je so bunt gefleckt [ . . . ] « 1 7 ) werden: Die eigentlichen ästhetischen Sensationen müssen nicht i n der Traum- und Fernwelt der Freiligrathschen Exotismuspoesie aufgesucht, sondern können, ja sollen sogar - liest man den Imperativ V . l (»Stoß deinen Scheit drei Spannen i n den Sand«) als poetologische Anweisung - i n den Anschauungsobjekten des münsterländischen Sandbodens gefunden werden, wobei gerade die sprachlichen M i t t e l der Freiligrathschen Poesie durchaus wertvolle Dienste leisten. 18 Der folgende Abschnitt (V. 33 - 76 bzw. V. 80) liefert die >realistische< Situierung nach und präsentiert nach der imperativischen Selbstansprache des Gedichteingangs erstmals das Ich des Gedichts i n der 1. Person Singular. D o m i nierte zuvor Optisches, so nun Akustisches. >Geisterhaftes< w i r d beschworen, ein Stimmungswechsel zeichnet sich ab, und das hat seinen Grund. Denn i n den ersten 30 Versen war das Wissen ein Gegenstand des Gedichts gewesen: religiöse Überlieferung und naturkundliches Wissen. Aber nun zeigt sich, daß das naturkundliche Wissen keine stabilisierende Wirkung hat, daß es vielmehr i m Medium dieser Subjektivität zur Destabilisierung, Weltabkehr und imaginativen Entgrenzung führt. »Findlinge zog ich Stück auf Stück hervor, / U n d lauschte, lauschte mit berauschtem Ohr« (V. 43): M i t dieser paronomastischen Umspielung des Übergangs von Außen nach Innen w i r d der schon V. 36 angedeutete Wachtraum eingeleitet, der aus Wissenspoesie eine »Verfallsphanta16

Vgl. dazu die ältere, an Stifter anschließende Studie von Franz Koch, »Dichtung des

Plunders«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen , 186 (1949), 1 -27. 17

»Wir sollen frei sein, w i r sollen uns überwinden können; aber das »gefleckte Pardeltier< verfolgt uns unaufhörlich«, schreibt Liliencron in seiner Erzählung »Die Mergelgrube« (Werke Bd. I I , 87) und meint damit den Trieb zur Fortpflanzung - eine merkwürdige Reminiszenz, wenn es sie denn ist, an das Gedicht der Droste. 18 Zur Bedeutung Freiligraths für die Droste, insbesondere seiner Gedichte von 1838 »schön [ . . . ] , aber wüst« nannte sie die Droste (an die Schwester, 7. 7. 1839) - vgl. Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff, 253-264, i m Hinblick auf die »Mergelgrube« bes. 261: »Freiligraths Bedeutung für die Droste in sprachlicher Hinsicht lag [ . . . ] darin, daß z. B. der gehäufte Einsatz von Fremdwörtern und das Auftauchen mundartlicher Färbungen in den Gedichten des berühmten Freiligrath für sie Legitimation und gelegentlich wohl auch Anreiz sein konnte, in den eigenen Gedichten ähnlich zu verfahren.«

Annette von Droste-Hülshoff: »Die Mergelgrube«

155

sie« 19 entbindet. Tatsächlich ist ja eine Fossilienstätte ein Sammelgrab. Die Todesbildlichkeit des Gedichts geht aber über diesen inhaltlichen Anknüpfungspunkt hinaus, und sie w i r d mit penibler Obsession entwickelt, deren Glanzpunkt die »frische Leiche« (V. 70) einer Wespe ist - das einzig Frische i n dem ganzen Gedicht. Der Fundus, aus dem die Droste dabei schöpft, ist vielfältig; er kombiniert den Bilder- und Zeichenvorrat der katholischen Tradition, besonders der Aschermittwochsliturgie 2 0 , mit Anklängen an die biblische A p o kalyptik und die Katastrophentheorien der zeitgenössischen Paläontologie 21 . D o c h ist es nicht nur eine naturwissenschaftlich inspirierte, sondern auch eine psychologisierte, subjektivierte Apokalyptik; der Ausblick auf das »zerstörte All« (V. 38) und einen »zerfall'nen Weltenbau« (V. 51), auf eine verödete Natur (V. 47 f.) und eine »Erde, mürbe, ausgebrannt« (V. 48) weitet den Blick ins Erdgeschichtlich-Kosmische, bindet ihn aber auch an psychische Befindlichkeiten und individuelle Dispositionen zurück. Der kosmologische Zusammenhang zwischen Ich und Welt scheint sich nur noch negativ, als Verfallszusammenhang herstellen zu lassen; darin w i r d der epochale Abstand zu jenem Gedicht aus dem Jahr 1801 deutlich, das ebenfalls die Bilder des Weltendes entfaltet, aber diese Bilder i m Gespräch zwischen Vater und Sohn bei allem Erschrecken doch so tröstlich bewältigt: Hebels nächtliches Gespräch über »Die Vergänglichkeit« auf der Straße nach Basel zwischen Steinen und Brombach. 2 2 Auffallend sind in diesem Zusammenhang die Reminiszenzen an den Totenkult Ägyptens mit Mumie (V. 74), Byssus (V. 78) und Scarabäus (V. 76), i n deren humoristischer Morbidität schon ein Zeitgenosse eine »Burleske der modernen Cultur« erkannte. 23 Z u Recht: Indem die Droste diese Sammlung von Ägyptica auf ihre Vollständigkeit hin pointiert - »Und auch der Scarabäus fehlte nicht«, 19

Heselhaus, Annette von Droste-Hülshoff \ 243.

20

Vgl. » A m Aschermittwochen« ( H K A IV,1,22), Strophe 1: »Auf meiner Stirn dies Kreuz / Von Asche grau; / O schnöder Lebensreiz, / Wie bist du schlau, / Uns zu betrügen! / M i t Farben hell und bunt, / M i t weiß und roth, / Deckst du des Moders Grund, / Dann k ö m m t der Tod / U n d straft dich Lügen!« 21

Dazu unten 163 ff.

22

Johann Peter Hebel, Werke. H g . von Eberhard Meckel, eingel. von Robert Minder. 2 Bde (Frankfurt / M a i n 1968), Bd. 2, 122-126. Die einschlägige und eindringende Studie

von Johann Anselm Steiger, Bihel-Sprache y Welt und Jüngster Tag. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung (Stuttgart 1994), die für den Problemhorizont der »Mergelgrube« auch darum wertvoll ist, weil Steiger gerade gegenläufig zu der bei der Droste zu beobachtenden Tendenz die «Synthese von Empirie und Bibel-Sprache« (161 ff., meine Kursivierung) bei Hebel hervorhebt, verzichtet - fast unverständlicherweise - auf eine integrale Interpretation dieses für sein Thema doch zentralen Gedichts. 23 Jfulian] S[chmidt], »Annette von Droste«, in: Die Grenzboten (Leipzig), 18 (1859) Sem. 2, Bd. 4, 441 - 4 5 5 , zit. nach: Woesler, Modellfall 1,1, 212-223, hier 217. Die »kulturhistorische Wendung« an dieser Stelle vermerkt auch Heselhaus, Annette von Droste-

Hülshoff

242 f.

156

Thomas Pittrof

heißt es ja V. 76

deutet sie zugleich auf das Requisithafte dieser Bildlichkeit

als ein Ensemble von Versatzstücken einer kulturhistorisch geleiteten Phantasie. Das ist ein bildungsgeschichtlich bemerkenswerter Reflex der geistigen Situation der Zeit i m Gedicht, w i r f t aber die Frage auf, wie sich denn der endzeitliche Letzthorizont der apokalyptischen Bildersprache mit dem historistischen (und ja auch humoristischen 2 4 ) Relativitätsbewußtsein des kulturhistorischen Schreibsubjekts verträgt, als das sich hier das Gedicht-Ich inszeniert. Denn schließlich umfaßt diese Bewußtseinskollektion nicht nur Realien aus der Vergangenheit der Kulturgeschichte. A u c h zeittypische Befindlichkeitslagen sind darin eingegangen. Die Selbstdiagnose von der >Müdigkeit< des Ichs könnte an die Zeitdiagnose von Ernst Willkomms Roman Die

Europamüden

anschließen, der kurz zuvor erschienen w a r 2 5 . M i t der Beobachtung solcher impliziter Vielbezüglichkeit ist eine Feststellung getroffen, die i n mehrfacher Hinsicht für das Gedicht grundlegend ist. Sie prägt die Bildlichkeit der titelgebenden »Mergelgrube« selbst; aus ihr erwächst die Bewußtseinsproblematik, die i n der folgenden Konfrontation mit dem H i r t e n aufbricht; und sie bezeichnet den kritischen Punkt der Einheit des Gedichts: die Frage, was es davor bewahrt, i n die Bestände seiner Herkunftswelt zu zerfallen, und inwieweit es i h m gelingt, solche Vielbezüglichkeit zu 24 Offenkundig humoristisch sind der Selbstvergleich mit einem Mammut und die Selbstbezeichnung »Ich Petrefakt« (V. 62). Bereits 1796 war von Georges Cuvier das Mammut als eine von allen lebenden Elefantenarten abweichende ausgestorbene Spezies erkannt worden. E i n später Verwandter aus dem Seitentrieb dieses humoristischen Historismus erwuchs dem Mammut in Joseph Victor von Scheffels »Der Ichthyosaurus«, in:

Gaudeamus! Lieder aus dem Engeren und Weiteren,

21. unver. Aufl. (Stuttgart 1876), 5,

geschätzt von einem gleichfalls Unzeitgemäßen: »Das Außerordentlichste, das mir lange aufgestoßen, das sind i n Scheffels Gaudeamus dessen geologische Lieder [ . . . ] Wenn Sie den Granit, den Ichthyosaurus, den Basalt, den erratischen Block lesen, so haben Sie die ganze geologische Reichsanstalt i m Leibe, der Ihnen dabei vor Lachen wackelt, solch herrlicher H u m o r ist das. Ebenso das Kulturgeschichtliche: Der Pfahlmann, Altassyrisch, Pumpus von Perusia und anderes«, schrieb entzückt (Briefe eines Unbekannten. Aus dessen Nachlaß neu herausgegeben von Karl Graf Lanckoronski und Wilhelm Weigand. 2 Bde, [Leipzig 1910], Bd. 1, 94 f.) Alexander von Villers - eine Gestalt, in deren Ambiente sich die auch für die Droste charakteristische Verbindung von Dilettantismus und kulturhistorisch-musealisierendem Sammeltrieb spiegelt: »[D]ie Zimmer enthielten alles, was ein Menschenleben zusammenraffen, ja mehr noch, was die Phantasie eigentlich nur erdenken kann [ . . . ] , frische Blumen und alte Mobilien, seltene Mineralien, Eisensteine von Elba und Kristalle des Montblanc zu Bergen gehäuft [ . . . ] ; orientalische Teppiche und altdeutsche Legendenbilder, ein großes Relief von Liszt und goldleuchtende Messingschüsseln an den Wänden, und so Unzähliges, Unübersehbares, aus allen Weltteilen und von allen Völkern Zusammengetragenes [ . . . ] ; das alles mit absonderlichem Geschmacke [ . . . ] zusammengestellt, denn es erzählte und stellte i n lebenden Bildern den darin lebenden Menschen dar; seine Geschichte [ . . . ] übersah sich, las sich hier ab.« ( X X V I I f . ) 25

Ernst Willkomm, Die Europamüden. Modernes Lebensbild (Leipzig 1838, N D Göt-

tingen 1968.) - Die Kenntnis des Romans bei der Droste ist nicht belegt.

Annette von Droste-Hülshoff: »Die Mergelgrube« k o m p l e x e r V i e l s c h i c h t i g k e i t z u v e r d i c h t e n . R i c h t e n w i r das A u g e n m e r k

157 zu-

nächst auf die B i l d l i c h k e i t der M e r g e l g r u b e : Was auf d e n ersten B l i c k als genrespezifisches Sujet i m R a h m e n d e r » H a i d e b i l d e r « erscheint, e r w e i s t sich als eine » s y m b o l i s c h e S c h a u p l a t z f i k t i o n « 2 6 , der mehrere B e d e u t u n g s s c h i c h t e n eingelagert sind. E i n m a l s i n d d e m t a g t r a u m v e r l o r e n e n Phantasieren »seitwärts i n d e r H ö h l e n s t u b e « (V. 35) Z ü g e d e r S c h r e i b s i t u a t i o n d e r D r o s t e eingezeichnet. D i e H ö h l e spiegelt das gleichsam e x t e r r i t o r i a l i s i e r t e , d. h. d u r c h A u s l a g e r u n g i n die N a t u r d e m Z u g r i f f i h r e r U m w e l t entzogene I n t e r i e u r ihres Z i m m e r s i m R ü s c h haus w i d e r , des »Schneckenhäuschens«, das seitab d e r W i r t s c h a f t s r ä u m e lag, i n d e m sie n e b e n einer k l e i n e n M ü n z - a u c h eine G e s t e i n s s a m m l u n g a u f b e w a h r t e , auf dessen Sofa sie g e r n z u » k a u e r n « 2 7 pflegte, u n d i n dessen N e b e n z i m m e r i h r e A m m e w o h n t e - d e r E r s a t z d e r m ü t t e r l i c h e n B r u s t (V. 25 f.), der das z u f r ü h geborene, s c h w ä c h l i c h e S i e b e n m o n a t s k i n d das L e b e n v e r d a n k t e . - F e r n e r ist i m A b s t i e g i n die G r u b e eine p o e t o l o g i s c h e D i m e n s i o n angesprochen. D a s B i l d v o m » D i c h t e r als d e m B e r g m a n n i n der Seele Schacht« g e h ö r t seit d e r R o m a n t i k » z u m u n a n g e f o c h t e n e n I n v e n t a r d e r artistischen S e l b s t d e u t u n g « . 2 8 26

Dies zur Korrektur der älteren, biographischen Auffassung, die Entstehungsort und Inspirationsprozeß des Gedichts in den Erlebnisraum der Heidelandschaft selbst zurückverlegte, so etwa bei Elise Rüdiger (1862): »Sie dichtete ihre Heidebilder aus der unmittelbarsten Anschauung [ . . . ] Zuweilen nahm sie auch einen Hammer zur H a n d und wanderte oder kroch die Heide entlang, u m Entdeckungen urweltlicher Steine zu machen. Dabei sank sie auch w o h l gelegentlich in einen poetischen Halbschlaf und brachte ein langes Gedicht daraus her, das sich unter dem Titel >Die Mergelgrube< [ . . . ] in ihrer Sammlung vorfindet.« (Zit. nach Woesler, Modellfall I, 303). »Die Mergelgrube« entstand jedoch, wie bereits notiert, nicht i m Münsterland, sondern auf der Meersburg am Bodensee: aus dem Abstand also, der eine freie Vergegenwärtigung erlaubt. - Die Formel von der »symbolischen Schauplatzfiktion« bei Heinrich F. Plett: »A heap of broken images. Bilder des Kulturzerfalls in T.S. Eliots The Waste Land«, in: Günter Ahrends/Hans U l r i c h Seeber (Hg.): Englische und amerikanische Naturdichtung im 20. Jahrhundert (Tübingen 1985), 235-259, hier 245. 27 Vgl. die in ihrer idyllisierenden Tendenz stilisierende, i m Detail aber zutreffende Beschreibung Elise Rüdigers: » [ . . . ] für Vertraute wurde das eigentliche Wohnzimmer der Dichterin geöffnet. Es war merkwürdig charakteristisch; sie nannte es selbst ihr Schnekkenhäuschen; klein, schmal und niedrig, lag es i m Entresol [Zwischengeschoß] wie ein Versteck, an dem man auf der breiten Treppe, welche i n die obere Etage führte, ahnungslos vorüberging, wenn man nicht zu den Vertrauten gehörte. [ . . . ] Ein winziger Flügel [ . . . ] , der wegen seines leisen Harfentons sich zur Begleitung des Gesanges vorzüglich eignete, war neben einem [ . . . ] großen Sopha, vor dem ein schlichter unpolirter Tisch stand, das einzige Ameublement des Stübchens [ . . . ] A u f dem alten Sopha pflegte sie nach A r t genialer Frauen mit untergeschlagenen Füßen zu sitzen, u m abwechselnd zu träumen, zu dichten und zu schreiben. Wenn der Besuch zu den Auserwählten ihres engen Kreises gehörte [ . . . ] , blieb sie ihrer kauernden Stellung getreu [ . . . ].« Zit. Woesler, Modellfall 1,1,200. 28 Wolfgang Frühwald, »Der Bergmann in der Seele Schacht. Z u Clemens Brentanos Gedicht Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe«, in: Gedichte und Interpretationen. Band 3: Klassik und Romantik. Hg. v. Wulf Segebrecht (Stuttgart 1984), 434-450, hier 449. Anders ordnet Peucker, The Lyric Descent, 85 das M o t i v ein: Ausgehend von der Prä-

158

Thomas Pittrof

Die Seele w i r d - noch auf dem Weg zum modernen Unbewußten - mit einem Bergwerk verglichen, »in dessen dunkler Tiefe die eigentlichen Wahrheiten verborgen sind. Der Dichter vermag sie zu heben. Seit Novalis und Brentano ist diese Metapher i n die Dichtung eingeführt.« 29 Aber nicht nur die Schätze der Tiefe: auch das Risiko eines dichterischen Produzierens, das sich dem eigenen Unbewußten aussetzt, Schrecken und Faszination sind i n diesem Bild aufgehoben. Das lyrische Ich der »Mergelgrube« kennt dieses romantische Erbe als Verfallstendenz an die Innenwelt der Phantasie. Aber als ein nachromantisches Ich gibt es ihr eben nicht so rettungslos nach wie E.T.A. Hoffmanns Elis Fröbom; es bleibt nicht i n der Grube, sondern steigt wieder an die Oberwelt zurück. Daß i h m diese Tageswelt dann wiederum nicht schlechthin befreiend, sondern i n der Gestalt des H i r t e n auch banalisierend und geistig öde entgegentritt, kennzeichnet allerdings einmal mehr seine schwierige Zwischenstellung. Schließlich ist die Mergelgrube aufgrund ihrer Bildlichkeit religiöse Seelenund Reflexionslandschaft. Als locus desertus gehört sie i n die Tradition der »abgelegenen Gründe«. Sie ist »räumliche Chiffre seelischer Verfassungen«. 30 Besonders das Bild v o m Funken, dem Seelenfunken, der unter der Asche glimmt, und die aus dem Geistlichen Jahr bekannten Sinnbilder von Wüste und Ö d e 3 1 umschreiben den religiösen Problemhorizont des Gedichts. Er besteht i n dem Zustand eines Ichs, dem die Glaubensgewißheit fehlt, das unter diesem Zustand schmerzlich leidet, ihn als sündhaft empfindet und auf Gnade und Erlösung hofft. D o c h auch diese Bedeutungszone ist, anders als in Brentanos m o t i w e r w a n d tem Gedicht »Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe«, nur eine von mehreren Sinnschichten. U n d damit erschließt sich das Problem dieses dichterischen Bewußtseins. Denn i n seiner Vielbezüglichkeit steckt ja auch die Unentschiedenheit eines Ichs, das seinen Standpunkt zwischen einer wissenschaftlich objektivierenden, imaginativ entgrenzenden und religiös vertiefenden Weltwahrnehmung sucht. Diese Unsicherheit hinsichtlich des eigenen geschichtlichen Standorts und der geistigen Grundlagen der Existenz bündelt sich i n der senz des Ophelia-Motivs i m frühen Erzählfragment Ledwina begreift sie »the descent into the earth« als »a variant of the descent into water«. 29

Manfred Dierks, »Reisen i n die eigene Tiefe - nach Kessin, Altershausen und Pom-

peji«, in: Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997 y hg. von Eckhard Heftrich, H e l m u t h Nürnberger, Thomas Sprecher und Ruprecht Wimmer, Thomas-Mann-Studien Bd. 18 (Frankfurt / M a i n 1998), 169-186, hier 172. 30 Vgl. Klaus Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts (Köln/

Wien 1974), 251 u.ö., 291. 31

Vgl. Häntzschel, Tradition

und Originalität,

129.

Annette von Droste-Hülshoff: »Die Mergelgrube«

159

Frage »[Bin] ich der erste Mensch oder der letzte?« (vgl. V. 56.) U n d darauf, so zeigt sich nun, w i r d i h m auch durch die Begegnung mit dem Schäfer keine Entscheidung zuteil. Diese Konfrontation zweier ungleicher Partner ist ja äußerst merkwürdig. Schon wie sie zustandekommt, buchstäblich eingefädelt durch das unbemerkt herabfallende Wollknäuel des Schäfers, bei dem sich Gesang und Socken semantisch geradezu unrettbar ineinander verfilzt zeigen - »langsam aus der Kehle / Schiebt den Gesang er i n das Garngestrehle« (V. 93 f.) - ; während das Knäuel wie ein Freudscher Weckreiz zunächst als vermeintliches »Bissusknäuel« (V. 78) in den Tagtraum integriert, dann aber als «ehrlich Lämmerhaar« (V. 79) erkannt und gleichsam als der Ariadnefaden ergriffen wird, an dem sich das Ich wieder zur Oberwelt zurücktastet - das trägt alles hochgradig skurrile Züge. U n d so skurril die Inszenierung, so fragwürdig w i r k t der Problemgehalt der Begegnung. Ist denn dieser Dialog überhaupt ernstzunehmen? Erstens dringt der Schäfer gar nicht dazu vor, das wahrzunehmen, was ihm vorgehalten wird. Er hat die Bibel i m Kopf, und zwar in einem sehr primitiven Verständnis. Alles Leben ist «versoffen« (V. 118), ist durch Ertrinken zu Tode gekommen, und nicht durch Versteinerung. Denn der Schäfer stellt sich unter Versteinerung eine Todesart vor. 3 2 Daß Fossilien die Versteinerungen organismischer Reste von Tieren und Pflanzen sind, die zuvor auf andere Weise umgekommen sind, ist i h m unbekannt. U n d weil er das nicht weiß und ihm mit dem Begriff auch der Phänomensinn fehlt, scheitert Autopsie. Autopsieverweigerung und Aufklärungsresistenz 3 3 - das gehört zusammen. 32

Weil sie dieses Mißverständnis nicht erkennt, scheint mir der Versuch von Herrad Heselhaus, »Poetisierung der Naturgeschichte«, 206 zu scheitern, den Konflikt über eine rationale Rekonstruktion des strittigen Punktes aufzulösen: »Den evolutionstheoretischen Äußerungen des Ich-Erzählers setzt ein Schäfer die biblische Schöpfungsgeschichte entgegen. Dabei w i r d die N a t u r vom Ich-Erzähler als Garant der wahren Beschreibung der erdgeschichtlichen Vergangenheit herangezogen: für ihn sind die Fundstücke i n der Mergelgrube Beweise archäologischer und geologischer Theorien [ . . . ] Beide Begründungsmodelle des Ursprungs der Natur, das religiöse als textueller Beleg der »Heiligen Schrift< und das naturwissenschaftliche als faktischer Beleg der Materie, sind hier aber fehl am Platz, denn in dieser Situation widersprechen sie gar nicht einander. Weder kann die Schieferplatte die Sintflut leugnen, noch verneint die Sintflut spätere Versteinerungen. Erst eine exakte wissenschaftliche Analyse über Alter und A r t der Versteinerung könnte diesbezüglich zu einem Widerspruch führen.« Für den H i r t e n liegt der Widerspruch eben darin, daß etwas, was versteinert worden ist, nicht ertrunken sein kann. 33 Insofern steckt i m Schäfer in doppelter Weise ein sozialgeschichtlicher Kern: Als selbstlesender Schäfer [belegt bei Reinhart Siegert, »Die Lesegewohnheiten des »gemeinen Mannes< u m 1800 und die Anfänge von Volksbibliotheken«, in: Literatur und soziale Pro-

zesse. Studien zur deutschen Literatur

von der Aufklärung

bis zur Weimarer

(Tübingen 1997), 4 0 - 6 1 , 41 f.] eine Adressatenfigur der Volksaufklärung, zeigt er, daß die »Mergelgrube« mehr als eine bloße Bibliotheksphantasie ist. Andererseits stellt er eine

Republik

160

Thomas Pittrof

U n z w e i f e l h a f t ist ferner, daß d e r Schäfer z w a r als G e g e n f i g u r k o n z i p i e r t ist. D a s » A v e M a r i a « , das er (sich) p f e i f t , m u ß als A u s w e i s einer r e l i g i ö s e n H i n t e r g r u n d s i c h e r h e i t gelesen w e r d e n , die d e m G e d i c h t - I c h f e h l t . E r l e b t o f f e n s i c h t l i c h i n v ö l l i g e r U b e r e i n s t i m m u n g m i t seiner U m w e l t . A b e r das G e d i c h t ben e n n t a u c h d e n Preis f ü r diese U b e r e i n s t i m m u n g . U n d das ist der V e r z i c h t auf G e i s t . Schaf u n d Schäfer zeigen so z i e m l i c h dieselbe P h y s i o g n o m i e : » E r schaut so seelengleich die H e r d e an, / D a ß m a n n i c h t w e i ß , o b Schaf er o d e r M a n n . « (V. 91 f.) M i t d i e s e m T i e r / M e n s c h - V e r g l e i c h ist die entscheidende E n t w e r t u n g v o l l z o g e n . D a s R e s u l t a t ist » K o m i k , d e n n w i r w e r d e n [ . . . ] g e z w u n g e n , etwas A n s c h a u l i c h e s u n t e r einen B e g r i f f z u s u b s u m i e r e n , der d a f ü r n i c h t z u s t ä n d i g i s t « . 3 4 S o m i t w i r d z w e i t e n s d e u t l i c h : D e r Schäfer ist z w a r Gegenfigur. A b e r er ist k e i n e A l t e r n a t i v e . 3 5

Figur der scheiternden Aufklärung dar. Er belegt die Richtigkeit der Einsicht des französischen Paläontologen Bertrand aus dem Jahr 1892: » U m die Dinge zu sehen, muß man sie für möglich halten.« Zit. nach Helmut Holder, Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte (Freiburg, München 1960), 5. 34 Applikation einer Formulierung von Horst-Jürgen Gerigk, »Herr und Hund Schopenhauer«, in: Thomas Mann Jahrbuch , 9 (1996), 155-172, hier 161. 35

und

Darüber ist sich die Forschung bis heute uneins. »In der Sprache der Ideologie« (so Kraft, Mein Indien , 149) ist der Schäfer »ein Bild des Geordneten, des Ganzen, der i n Gott wurzelnden und daher behausten und beheimateten Natur. Das bedeutet die Antithese zum Findlings-Sein. I n der heilen Gestalt lebt ein Bild aus dem Ewigen, das als Spiegel vollkommenen Seins eingefangen ist, und zwar in seinem Da-Sein [ . . . ] Trotz aller Spitzweg-Züge ist er eine Monumentalgestalt.« (Nettesheim, »Wissen und Dichtung«, 552 f., zit bei Kraft, Mein Indien , 149.) D e m widerspricht Heselhaus, Annette von Droste-Hülshoff, 244: »Sein dummer Spott über den Bertuch, seine primitive Besserwisserei [ . . . ] ist realistisch-kritisch ohne alle romantische Schäferideologie vermerkt. [ . . . ] Man darf [ . . . ] in dieser Dichter-Schäfer-Szene nicht mehr als eine humorvolle Darstellung der Mehrschichtigkeit der Wirklichkeit sehen. Der Schäfer ist eine ironische Gestalt, aber keine >Monumentalgestaltfast jedes Schloß, fast jedes Dorf, fast jede Stadt< sich als >Sammler von Vögeln und Insekten, von Conchylien und Versteinerungen wie auch als Sammler von >AltertümernUr und die SintflutGroßen< Flut, die damit zum historischen Ereignis wird. Wer etwas Interessanteres zum Lesen weiß, der sage es.

Das Verschwinden des Menschen i n einer Flut von Schlamm zwischen Geschichte und Geschichte: Läßt sich die Umschlägigkeit von Historismus in Antihistorismus mit ihren subjektannihilierenden Konsequenzen bildhafter verdeutlichen? Ich fasse zusammen. Gezeigt hat sich erstens: Indem w i r die »Mergelgrube« auf die Auflösung der Ambivalenz ihrer Modernitätserfahrung hin perspektiviert haben, sind w i r zwar auch, wie Böschenstein, i n das 20. Jahrhundert eingelaufen. Aber das historische Bezugsfeld ist ein anderes. Es ist das der europäischen Zwischenkriegszeit. I n dieses Strömungsgebiet münden sowohl die Wissenschaftsdiskurse ein, die das Gedicht verarbeitet, wie auch seine Bildlichkeit. Eliots zivilisationskritische Dichtung »Waste Land«, mit dem die Existenzbildlichkeit der Wüste den Anschluß an die Weltliteratur der Moderne findet, erscheint 1922. Gegenüber der Droste freilich sind Bildlichkeit und Diskursgeschichte völlig auseinandergefallen. Die Existenzbildlichkeit von Eliot hat mit der Diskursgeschichte der Paläontologie nichts mehr zu tun. Zweitens: Gerade i m Licht eines historisch differenzierten Begriffs von Modernitätserfahrung läßt sich klarer unterscheiden zwischen dem, was i m Gedicht tatsächlich als Potential angelegt, und dem, was definitiv nicht realisiert ist. Definitiv nicht angelegt ist bei der Droste das Verschwinden des Menschen. Erst i n dem Augenblick, da das apokalpytische Szenario nicht bloß aus dem Horizont seines theologisch eindeutigen Bezugssinns heraustritt, sondern i n dem dieser Horizont selbst eingezogen wird, w i r d es möglich, das Verschwinden des Menschen zum außerwissenschaftlichen M o t i v eines Wissenschaftsinteresses an der Paläontologie zu machen. Das ist genau die Schwelle, die die Droste vom zeitgenössischen Materialismus trennt. Drittens: Wenn i m Materialismus des 19. Jahrhunderts das Verschwinden des Menschen seinen Anfang nahm, von dem Foucault behauptet hat, es sei durch seine Diskursgeschichte zum diskursgeschichtlichen Ereignis der Geisteswissenschaften geworden, dann mag es gegenüber dieser französischen Tradition des Positivismus zwar reichlich rückwärtsorientiert erscheinen, ein nach vorn gerichtetes Forschungsinteresse an >Religion< ausgerechnet als Interesse an >Geist< in >Geschichte< zu vertreten. Gleichwohl: Befand Habermas 1973, Religion sei »heute nicht einmal mehr Privatsache« 69 , so wagte schon 1971 Wilhelm Hennis die Prophezeiung, »daß nicht die Sprache, nicht die materiellen Verhältnisse, auch nicht das »Verhaltens sondern die Religion das große philosophische 69

Legitimationsprobleme

im Spätkapitalismus (Frankfurt / M a i n 1973), 113.

Annette von Droste-Hülshoff: »Die Mergelgrube«

173

Thema für den Rest dieses Jahrhunderts abgeben« werde. 7 0 Man muß nicht dieser Rhetorik der Uberbietung folgen, u m zu sehen, daß Hennis recht haben könnte. Dieses Interesse an Religion aber auch in Literaturwissenschaft zu verfolgen zu einem Zeitpunkt, da mit dem Verschwimmen des Fluchtpunkts 7 1 einer »Religion nach der Aufklärung« auch die Dominanz des Deutungsmusters >Säkularisierung< neu zu befragen ist, scheint mir zwar eine schwierige Aufgabe. Aber was verdiente mehr Ausdauer und Aufmerksamkeit als die Selbsterkenntnis jener Natur, die sich i m Fall des »Rätselwesens« Mensch 7 2 zur rätselhaften Doppelnatur verwirklicht hat, nämlich zugleich zu Natur und zum anderen ihrer selbst als Geist? Wer etwas Interessanteres zu lesen weiß , der sage es.

70 Wilhelm Hennis, »Ende der Politik? Zur Krisis der Politik i n der Neuzeit« (1971), wiederabgedruckt in ders., Politik und praktische Philosophie (Stuttgart 1977), 195 A n m . 20. 71

So die Diagnose bei Antonius Liedhegener, Christentum und Urbanisierung (Paderborn usw. 1997), 19, mit Rekurs auf Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (Graz, Wien 1986). 72

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Der erste Roman: Die Geschichten Jaakobs

( F r a n k f u r t / M a i n 1991, 41.-45. Tsd. Oktober 1997), 11: »dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt [ . . . ] . «

Cicikovs Reise zu sich selbst: Versuch einer Deutung von Nikolaj GogoPs Toten Seelen Von Urs Heftrich

»Wie aber, wenn nun der Schlüssel gleich neben der Schatulle läge?« (GogoF: Auflösung des Revisors; IV, 129) 1

1847 veröffentlicht Nikolaj Gogol' seine Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden, nachdem er sie schon i m Vorfeld zu seinem ersten Buch erklärt hat, »das etwas taugt«. 2 Das Werk stößt in beiden führenden Lagern der zeitgenössischen K r i t i k auf nahezu einhellige Ablehnung, ja mehr noch: auf Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit seines Autors. So zerbricht sich der Westler Belinskij öffentlich den Kopf über der Frage, ob der Briefwechsel eher als Ausdruck einer »religiosa mania« oder ordinärer Speichelleckerei gegenüber dem Zaren zu werten sei.3 Er ruft Gogol' zu: »Entweder sind Sie krank, und dann sollten Sie schleunigst Heilung suchen, oder... ich wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen!« ( V I I I , 503). Selbst Gogol's slavophiler Freund Sergej Aksakov vermutet: »er ist verrückt geworden, ohne Zweifel; doch in seiner Verrücktheit steckt viel Schelmerei [ . . . ] . Wahnsinnige sind auf ihre A r t Schelme und Aufschneider.« 4 U n d Gogol', zerknirscht, fühlt sich wie »ein Schuljunge, der mehr angestellt hat, als er eigentlich wollte. Ich habe mich 1 Die Kernthesen dieses Aufsatzes, der das erste Kapitel eines demnächst erscheinenden Buches über GogoPs Tote Seelen darstellt, wurden der Öffentlichkeit zuerst i n der Neuen Zürcher Zeitung vorgelegt (U. H.: »Rätselhafter Zwerg«, in: N . Z . Z . Nr. 266, 15./ 16. 11. 1997, 5 3 - 5 4 ) . GogoPs Werke werden i m folgenden unter Angabe von Bandnummer (röm.) und Seitenzahl (arab.) zitiert nach: N . V. Gogol', Polnoe sobranie socinenij v 14 tomach (Moskva / Leningrad 1937-1952). Die deutschen Zitate aus den Toten Seelen basieren auf der Übersetzung von Michael Pfeiffer (4. Aufl., Berlin / Weimar 1984), die erforderlichenfalls stillschweigend verbessert wird. 2

Brief vom 5.10. 1846 an Sevyrev ( X I I I , 106).

3

Vgl. V I I I , 505. Ausführlich dokumentiert ist der Streit u m GogoPs Briefwechsel bei

Ruth Sobel, Gogol's Forgotten Book: Selected Passages and Its Contemporary (Washington D.C. 1981), 179-270. 4

S. T. Aksakov an I. S. Aksakov, 8. Februar 1847, in: Vasilij V. Gippius (Hg.), N. V.

Gogol\ Materialy i issledovanija (Moskva/Leningrad 1936), Bd. 1,179.

Readers

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in meinem Buch als ein solcher Chlestakov [der Hochstapler i m Revisor] aufgespielt, daß ich mich gar nicht mehr hineinzuschauen traue« ( X I I I , 243). Daß es gleichwohl lohnt hineinzuschauen, w i r d sich i m folgenden zeigen. I n unserem Zusammenhang ist besonders das X V I I I . Kapitel des Briefwechsels von Interesse, das den Toten Seelen gewidmet ist. Gogol' spricht dort zumeist abschätzig von seinem Roman, wie von etwas Unfertigem, Halbgarem, das sich sein Daseinsrecht erst noch verdienen müsse. »Losgesagt« von seinem Hauptwerk hat er sich, wie Belinskij unterstellt ( V I I I , 509-510), aber keineswegs. Er versah es lediglich mit einer Deutung, die dem Ahnherrn der sozialistischen Literaturkritik gegen den Strich ging. Belinskijs Interpretation des Romans als Satire auf die russische Leibeigenschaft hat Schule gemacht, 5 so sehr, daß die Toten Seelen »in sozial gesinnten Hirnen [ . . . ] langsam zu Onkel Toms Hütte« wurden (Nabokov). 6 Gegen diese Auslegung wandte sich Gogol' wiederholt. Gegenstand der Toten Seelen seien weder das Gouvernement noch die abstoßenden Gutsbesitzer, stellte er 1845 gegenüber Aleksandra Smirnova klar ( X I I , 504). U n d schon 1843 heißt es i n einem Brief an Sevyrev unmißverständlich, die Toten Seelen enthielten nichts Satirisches - was man freilich erst bei wiederholtem Lesen begreife. Lange habe er an seinem Buch geschrieben, deshalb schulde man i h m auch die Mühe, lange hineinzublicken. 7 Wenn Gogol' i m Briefwechsel

die »mangelnde Übung« seiner Kritiker, »sich i n die Komposition

eines Werks einzudenken«, beklagte, dürfte er dabei nicht zuletzt an Belinskij gedacht haben ( V I I I , 288). » A l l meine letzten Werke«, verkündet der Briefwechsel,

»sind die Geschichte

meiner eigenen Seele« - nichts weiter ( V I I I , 292). Deshalb seien sie auch »nur i n psychologischer Hinsicht interessant«. 8 Das Muster, nach dem Gogol' die Toten Seelen gestrickt haben wollte, wirkte schlicht, ja naiv: »So wurde es gemacht: ich nahm eine meiner schlechten Eigenschaften [ . . . ] und versuchte sie mir i n Gestalt eines Todfeindes auszumalen. [ . . . ] Ich bin schon viel von dem Häßlichen i n mir losgeworden, indem ich es meinen Helden verlieh« ( V I I I , 294 5

Z u Gogol' und Belinskij vgl. Richard Freeborn, The Rise of the Russian Novel. Stu-

dies in the Russian Novel from »Eugene Onegin« to »War and Peace« (Cambridge 1973), 75-87. Belinskijs Unfähigkeit, den Toten Seelen gerecht zu werden, kann kaum überraschen, wenn man sein generelles Unverständnis für Dichtungen mit allegorischer Tendenz (wie die Divina Commedia oder den II. Teil das Faust) bedenkt. Vgl. Dmitrij Tschizewskij, »Hegel in Rußland«, in: ders. (Hg.), Hegel bei den Slaven (2., verb. Aufl., Darmstadt 1961), 145-396, hier 207. 6 7

Vladimir Nabokov, Nikolaj Gogol, übers. J. Neuberger (Reinbek 1990), 143 -144.

X I I , 144. Vgl. Donald Fanger, The Creation of Nikolai London 1979), 165.

Gogol (Cambridge, Mass./

8 So heißt es im Brief »Über den >SovremennikDead Soulsc Without Naming Names«, in: Jane Grayson, Faith Wigzell (Hgg.), Nikolay Gogol Text and Context (London 1989), 8 3 - 9 1 , hier 87]. 14 15

Fanger, op. cit., 180 f.

James B. Wood ward, GogoVs »Dead Souls« (Princeton, N e w Jersey 1978), 252 (vgl. auch xii-xiii). Woodward verzichtet jedoch darauf, einen systematischen Zusammenhang zwischen Cicikovs Vorgeschichte und den Stationen seiner Reise zu suchen. Dadurch bleibt i h m ein wesentlicher, wenn nicht der Schlüssel zu der von i h m zu Recht hinter den Toten Seelen vermuteten Allegorie verborgen.

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ing each w i t h a specific range of psychological attributes conveyed by recurrent symbolic motifs [ . . . ] . A t the same time indicators of all five types are also woven into the portrait of Chichikov, whose meetings w i t h the landowners [ . . . ] may accordingly be viewed as a journey through a hall of mirrors in which he is unwittingly confronted w i t h manifestations of his o w n corruption. 1 6

Damit k o m m t Woodward von allen Exegeten der Toten Seelen der hier vorgeschlagenen Deutung am nächsten. Andere Interpreten hingegen trachten aus ihrer Deutungsnot eine Tugend zu machen, indem sie die Suche nach einem System der Gutsbesitzer von vornherein für sinnlos erklären. Sie verfahren dabei - mit Verlaub - wie Cicikov selbst, dessen Blindheit für den verborgenen Sinn seiner fünf Rencontres i n einer Frühfassung der Toten Seelen ausdrücklich thematisiert wird: Er stellte sich nicht einmal die Frage, w o z u diese Leute i h m begegneten, so wie w i r uns i m allgemeinen nie fragen, w o z u uns just diese Umstände, und nicht irgendwelche anderen, umgeben haben, w o z u just diese Menschen u m uns waren, und nicht andere dabei geschah selbst das geringste Ereignis i m Leben nicht umsonst und alles u m uns her diente unserer Belehrung und Zurechtweisung. (VI, 690)

Boris Ejchenbaum hat hier 1918 mit seinem berühmten Aufsatz über Gogol's Mantel w o h l den Anfang gemacht: für ihn bestehen die Toten Seelen aus nicht mehr als »einer Vielzahl einzelner, nur durch Tschitschikows Reisen miteinander verbundener Szenen«. 17 Aus Gogol's bekannten Schwierigkeiten mit der Suche nach brauchbaren Sujets 18 folgert Ejchenbaum, die Komposition könne bei i h m »nicht durch das Sujet bestimmt« sein. 1 9 Dieser nicht eben zwingende Schluß wirkte schulebildend. N o c h 1973 erklärte Richard Freeborn: 2 0 A sequential plot based on a logical concatenation of happenings seems to be unimportant to Gogol; it is certainly unimportant in Dead Souls where the meetings between Chichikov and the landowners occur without logical order [ . . . ] . They could be rearranged w i t h no detriment to one'e enjoyment of the novel.

A u c h Jurij Mann folgert aus seiner treffenden Beobachtung, daß Belyjs Schema die Toten Seelen unzulässig simplifiziert, dem Buch könne gar kein einheit16 A u c h Fanger vergleicht die Portraits der Gutsbesitzer mit Spiegeln, die den Helden mit sich selber konfrontieren, und deutet eine vage Verbindung zwischen diesen Spiegeln und Cicikovs Biographie an, ohne jedoch das System, das sich dahinter verbirgt, zu erkennen (op. cit., 170 f.). 17 Boris Eichenbaum, »Wie Gogols >Mantel< gemacht ist«, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur; ausgew. u. übers. Alexander Kaempfe ( F r a n k f u r t / M . 1965), 119-142, hier 120.

1*

18

Vgl. u. a. den Brief an Puskin v o m 7. 10. 1835 (X, 375).

19

Eichenbaum, loc. cit.

20

Freeborn, op. cit., 91.

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liches Konstruktionsprinzip zugrunde liegen. 2 1 Eine Variante dieser Auffassung findet sich auch in einer der bedeutendsten GogoP-Studien aus dem russischen Exil. Andrej Sinjavskij behauptet: 22 Man kann nach Lust und Laune die Zahl der von Tschitschikow aufgesuchten Gutsbesitzer verdoppeln [ . . . ] - und man entdeckt, daß es unmöglich ist, die Struktur des Werkes zu zerstören, als ob für sie das Sprichwort gälte: Vorrat schadet der Tasche nicht.

D e m muß widersprochen werden. U m Sinjavskijs Bild durch eines von Gogol' selbst zu ersetzen: die Toten Seelen gleichen weniger einer dehnbaren Tasche, überquellend von den Produkten einer zügellosen Einbildungskraft, als einer festen Schatulle, maßgefertigt nach den Grundsätzen strengster poetischer Ökonomie. N i c h t einen einzigen Gutsherrn mehr würde sie fassen als die fünf, für die sie ausgelegt ist. Denn die Etappen von Cicikovs Reise folgen einem präzisen Plan, der Einschübe ebensowenig wie Auslassungen duldet. Dieser Plan stand, wenn w i r Gogol's späterem Zeugnis glauben dürfen, zwar nicht am Anfang der Toten Seelen, gewann jedoch mit der fortschreitenden Vollendung des Werkes immer deutlichere Gestalt. 2 3 I n der Beichte eines Autors lesen wir: Ich hatte mich ohne einen ausführlichen Plan an's Schreiben gemacht, ohne mir Rechenschaft darüber abzulegen, was der H e l d selbst eigentlich darstellen sollte. Ich dachte einfach, daß das komische Projekt, mit dessen Verwirklichung Cicikov beschäftigt ist, mich ganz von selbst auf vielfältige Personen und Charaktere bringen würde; daß die in mir aufsteigende Lachlust bereits von sich aus eine Menge komischer Erscheinungen erzeugen würde, die ich dann mit anrührenden mischen wollte. D o c h auf Schritt und Tritt hemmten mich Fragen: weshalb? w o z u dient das? was w i l l ein solcher Charakter besagen? [ . . . ] Ohne eine Empfindung von wesentlicher Notwendigkeit bei diesem oder jenem Helden vermochte ich auch keine Zuneigung zur Aufgabe seiner Gestaltung zu fassen. [ . . . ] Ich sah deutlich, daß ich ohne einen völlig bestimmten und klaren Plan nicht würde weiterschreiben können [ . . . ] . ( V I I I , 440-441)

Cicikovs Reiseroute ist also - darin haben Fanger, Gerigk und Belyj recht genau festgelegt. A u f seinem Weg durchwandert er freilich weder ein Panopt i k u m verschiedener Lebensformen, noch macht er sich auf, das Rätsel der Sphinx zu lösen; und er bereist auch nicht Dantes Inferno. Cicikovs H ö l l e ist hausgemacht: i n ihr begegnet er nicht den Großen der Welt - nur den Schatten der eigenen Vergangenheit. 24 A u f seiner Reise von Gutshof zu Gutshof schrei21

Jurij Vladimirovic Mann, Poetika Gogolja (Moskva 1978), 309-310.

22

Andrej Sinjawskij, Im Schatten Gogols, übers. S. Geier (Berlin / Frankfurt / Wien 1979), 266. 23

Vgl. hierzu insbesondere Jurij Vladimirovic Mann, V poiskach zivoj dusi. »Mertvye

dusi«: pisateV - kritika - citateV (Moskva 1984), 7-125. 24 Durch die hier vorgeschlagene Deutung werden alle Versuche in Frage gestellt, den Sinn der Toten Seelen primär in einer übersteigert realistischen Darstellung der äußeren

Nikolaj Gogol's Tote Seelen

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tet er rückwärts noch einmal die entscheidenden Stationen seines Lebensweges ab. Gogol' hat diesen schlichten Sachverhalt allerdings so kunstvoll verhüllt, daß man ihn leicht übersieht. A u c h hier soll vorerst nur ein Zipfel des Schleiers gelüftet werden. Zunächst sei der Grundriß der Toten Seelen i n groben Zügen nachgezeichnet, bevor w i r zur Besichtigung der einzelnen Räumlichkeiten schreiten.

II. Der

G r u n d r ß i der

Toten Seelen

»Finster« beginnt Cicikovs Erdenwandel. Das »armselige B i l d seiner frühen Kindheit« prägt ein harter Vater, der die Phantasie des Knaben mit dem Gebot » D u sollst nicht lügen!« an die Kandare nimmt. Er stellt ihn zum Schreiben an -

und wehe, das K i n d fügt »einem Buchstaben einen Schnörkel« hinzu

(VI, 224)! Bewirte niemanden und halte niemanden frei, sondern richte es lieber so ein, daß du es bist, der bewirtet wird, und spare vor allem jede Kopeke, sie ist das Sicherste, was es auf der Welt gibt. Der Kamerad oder Freund betrügt und verrät dich i m Unglück als erster, aber die Kopeke verrät einen nie, was für ein Unglück auch kommen mag. (VI, 225)

M i t diesem Rat w i r d Cicikov i n die Schule geschickt. Daß es i n Wahrheit ein diabolischer Ratschlag ist, erweist ein Blick i n die Imitatio

Christi - ein Buch,

auf dessen immense Bedeutung für Gogol' wiederholt hingewiesen wurde. 2 5 Bei Thomas a Kempis steht zu lesen, auf welchen Freund ein Christenmensch i m Unglück bauen sollte: 2 6 Ein seltener Fund auf Erden ist der treue Freund / der in allen N ö t e n seines Freundes mit i h m ausharrt. Dieser Freund / der in allen N ö t e n seines Freundes treu bleibt / und der treueste von allen Freunden bist du / o mein Gott! Wahrhaftig / ein Freund in aller N o t / und außer dir ist es keiner.

zeitgenössischen russischen Wirklichkeit zu suchen. Von diesem Bestreben war bekanntlich v.a. die sowjetische Gogol'-Forschung geprägt, doch das Klischee von dem angeblichen Realisten Gogol' w i r k t auch i m Westen noch bis i n jüngste Zeit nach: vgl. etwa

Edmund Heier, Literary Portraiture

in Nineteenth-Century

Russian Prose (Köln/Wei-

m a r / W i e n 1993) 110-112. 25

Insb. von D m i t r i j Tschizewskij in »Der unbekannte Gogol'«, in: U l r i c h Busch et al.

(Hg.): Gogol y - Turgenev - Dostoevskij - Tolstoj. Zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts (München 1966), 5 7 - 8 7 , hier 7 3 - 7 5 . Vgl. auch Hildegund Schreier, Gogol's reli-

giöses Weltbild

und sein literarisches

Werk.

Zur Antagonie zwischen Kunst und Tendenz

(München 1977). 26

Des Thomas von Kempen vier Bücher von der Nachfolge Christi, übers. Joh. Michael

Sailer, hg. A . Gläser (Wien / Berlin / N e w York o.J.), 226 (= Buch I I I , Kap. 45).

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D e r j u n g e C i c i k o v z e i g t h i n g e g e n rasch, was er v o m a l t e n gelernt hat: Er hatte sofort begriffen und verstanden, worauf es ankam, und benahm sich seinen Kameraden gegenüber wahrhaftig so, daß sie ihn immer bewirteten, er aber bewirtete sie nicht nur niemals, sondern versteckte manchmal sogar die erhaltene Näscherei und verkaufte sie dann wieder dem Spender. (VI, 225-226) B e i m L e h r e r m a c h t er sich l i e b K i n d , bis dieser i n N o t gerät - da b e k u n d e t er z w a r » M i t l e i d « , w i l l es sich aber n i c h t s k o s t e n lassen: M a n kann [ . . . ] nicht behaupten [ . . . ] , daß er weder Mitleid noch Mitgefühl empfunden hätte; er empfand sowohl das eine wie das andere, er war sogar bereit zu helfen, nur durfte diese Hilfe nicht in einer bedeutenden Geldsumme bestehen, nur durfte dabei nicht Geld angerührt werden, das nun einmal nicht angerührt werden sollte, kurz, der väterliche Rat »Spare jede Kopeke!« trug Früchte. (VI, 228) A u f seiner ersten D i e n s t s t e l l e k n ü p f t er zarte B a n d e z u r p o c k e n n a r b i g e n T o c h t e r seines Vorgesetzten: [E]r behandelte die Tochter wie seine Braut, nannte den Abteilungsleiter »Papachen« und küßte seine Hand, und alle i n der Kammer nahmen an, daß die Hochzeit Ende Februar, vor den großen Fasten, stattfinden werde. (VI, 230) D o c h k a u m hat der Schwiegervater i n spe i h m e i n P ö s t c h e n verschafft, ist v o n H e i r a t k e i n e Rede mehr. B e i seinem A u f s t i e g läßt C i c i k o v jede m e n s c h l i c h e B i n d u n g z u r ü c k , n u r e i n e m die Treue w a h r e n d : d e r K o p e k e . D e r E r z ä h l e r r u f t aus: Wenn ihr die sanften Jünglings jähre verlaßt und in das rauhe, verhärtende Mannesalter eintretet, so nehmt alle menschlichen Regungen mit, laßt sie nicht am Wegrand liegen, ihr hebt sie dann nie wieder auf! (VI, 127) G i l t das C i c i k o v ? N e i n , d e m R a f f z a h n P l j u s k i n , d e r m i t d e r o b e n g e p r e d i g t e n S u b s t i t u t i o n des G ö t t l i c h e n d u r c h das G e l d bereits ernst g e m a c h t hat: G e l d b e h a n d e l t er so e h r f ü r c h t i g , » w i e eine f r o m m e A l t e das E u c h a r i s t i e b r o t e m p f ä n g t . « 2 7 D i e s e r H o h e p r i e s t e r des M a m m o n ist e n t z ü c k t , daß sein G a s t w i d e r E r w a r t e n keine B e w i r t u n g fordert: Cicikov verzichtete auf den Likör, indem er sagte, daß er schon getrunken und gegessen habe. »Sie haben schon getrunken und gegessen!« sagte Pljuskin. »Ja natürlich, einen Mann aus der guten Gesellschaft erkennt man gleich überall, er ißt nicht, ist aber satt [ . . . ] « . (VI, 125)

27 So zumindest hieß es i n einer früheren Fassung der Toten Seelen (VI, 770; vgl. V I , 325). Vermutlich hat Gogol' die Stelle aus Rücksicht auf die Zensur für die Druckfassung abgeschwächt. Vgl. Lorenzo Amberg, Kirche, Liturgie und Frömmigkeit im Schaffen von N.V. Gogol' ( B e r n / F r a n k f u r t / N e w York/Paris 1986), 177.

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Sein Interesse an Pljuskins toten Bauern deklariert der Seelenkäufer als A k t des »Mitleids« mit einem alten Mann: »Aber für Mitleid kann man sich nichts kaufen«, sagte Pljuskin. [ . . . ] Cicikov bemühte sich zu erklären, daß sein Mitleid von ganz anderer A r t sei [ . . . ], daß er es nicht durch leere Worte, sondern durch die Tat beweisen wolle, und erklärte [ . . . ] sich bereit, die Pflicht des Steuerzahlens für alle [ . . . ] umgekommenen Bauern auf sich zu nehmen. (VI, 122).

Der Geizige ist - nach anfänglichem Mißtrauen - schließlich derart gerührt, daß er erwägt, seinem Wohltäter eine Taschenuhr zu vermachen: Allein geblieben, kam i h m sogar der Gedanke, sich dem Gast für eine so wahrhaft beispiellose Großmut dankbar zu erweisen. Ich werde i h m die Taschenuhr schenken, dachte er sich [ . . . ] : er ist noch ein junger Mensch, da braucht er eine Taschenuhr, u m seiner Braut zu gefallen. (VI, 130)

Stellen w i r die drei Zitate aus der Pljuskin-Episode den davor angeführten Szenen aus Cicikovs Werdegang gegenüber, so ergeben sich auffällige Entsprechungen. Gleich drei ehemalige Cicikovs scheinen bei Pljuskin aus der Zeitentiefe emporzusteigen: das jeder Gastfreundschaft entwöhnte Kind; der Schüler, dessen Mitleid Phrase bleibt; der Beamte, der nur der Karriere zuliebe den Bräutigam spielt. Eine solche Häufung von Parallelen legt den Schluß nahe: offenbar w i r d der H e l d in der Gestalt des greisen Kopekenfuchsers konsequent mit den Sparsamkeitsexzessen seiner Jugend konfrontiert. I h m selbst bleibt dies freilich ebenso verborgen wie einem oberflächlichen Leser; Gogol's symbolische Psychologie erschließt sich tatsächlich erst bei wiederholter Lektüre. Fröhlich verläßt Cicikov die Szene - mit 120 toten und 78 entlaufenen Seelen i n seiner Schatulle. Von der Knauserei seiner Jugendjahre schreitet er zu den nächsten Weihen: zur Kriminalität mit weißer Weste. A u f seinem erschlichenen Posten w i r d er zum Streiter wider die Korruption, der unter der Hand doppelt abkassiert - bis ein neuer Chef kommt, ein noch resoluterer »Feind jeglicher Bestechung und Unwahrheit« als er selbst (VI, 232). Der Gutsbesitzer Sobakevic - wörtlich: »Hundesohn« - sollte ihn eigentlich an jene Zeit erinnern. Denn Sobakevics Lieblingsthema ist die Korruption. Alle Honoratioren der Stadt N N enthüllt er vor dem verblüfften Cicikov als Gauner: »Nur einen anständigen Menschen gibt es dort, und auch der ist, ehrlich gesagt, ein Schwein!« (VI, 97). Doch das hindert ihn nicht, seinen Gast gleich darauf selbst über's O h r zu hauen. Z u einem Wucherpreis verkauft er i h m Tote, von denen sich einer als gleich zwiefach inexistent entpuppt - der Hundesohn hat den Namen gefälscht! So verdeckt Sobakevics Entlarvungsmanie nur ein höchst vereinnahmendes, ja Cicikovsches Verhältnis zum Wort und zur Wirklichkeit. A u f seinem Gut scheint »jedes Ding, jeder Stuhl zu sprechen: >Auch ich bin Sobakevic!Labirint mira< v interpretacii russkogo poeta pervoj poloviny X V I I

veka«, in: A. N. Robinson (Hg.), Razvitie barokko i zarozdenie klassicizma v Rossii XVII-nacala

XVIII

vv. (Moskva 1989), 4 2 - 4 9 . Zur Inspiration Gogol's durch das

Barock vgl. Gavriel Shapiro, Nikola j Gogol and the Baroque Cultural Heritage (Pennsylvania 1993), Elena A . Smirnova, Poema Gogolja »Mertvye dusi« (Leningrad 1987), 7 6 - 7 7 ,

sowie Sergej A. Goncarov, Tvorcestvo

N. V. Gogolja i tradicija

uateVnoj kuVtury

Peterburg 1992). 32

Natürlich ist die Elster obendrein ein klassisches Teufelstier [vgl. F. Haase, Volks-

glaube und Brauchtum der Ostslaven (Breslau 1939), 167].

(Sankt

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Den ganzen Weg über war er ungewöhnlich fröhlich, pfiff vor sich hin [ . . . ] . Es war schon späte Abenddämmerung, als sie sich der Stadt näherten. [ . . . ] Schließlich machte der Wagen einen ordentlichen Satz und sank durch das Tor des Gasthofes wie i n eine Grube [ . . . ] . (VI, 130-131)

I n »eine Grube« führt Gogol' aber auch schon den jungen Cicikov auf seiner Fahrt in die Stadt, die anfänglich ein Entrinnen aus der Gruft des Elternhauses zu verheißen scheint: [EJines Tages, als zum erstenmal die Frühlingssonne schien und das Tauwasser i n kleinen Bächlein dahinrauschte, nahm der Vater den Sohn und fuhr mit i h m auf einem Wagen fort [ . . . ] . Sie erreichten erst am Morgen des dritten Tages die Stadt. Vor dem Knaben erglänzten in unerwarteter Pracht die Straßen der Stadt [ . . . ] . Dann plumpste die Elster zusammen mit dem Wagen in eine Grube [ . . . ] . (VI, 224-225)

Zwar trennt sich der Vater, nachdem er dem Sohn sein geistiges Vermächtnis hinterlassen hat, für immer vom i h m (VI, 225) - auch für Cicikov senior gilt somit, was der Erzähler von Pljuskin und dessen Sprößling zu berichten weiß: »er interessierte sich niemals mehr dafür, ob er noch auf der Welt existierte oder nicht«. 3 3 Doch der Geist des Alten läßt den Jungen nicht los. I n der Schule gerät er an einen Lehrer, dessen Menschheitsideal in einer A r t vorweggenommener Leichenstarre besteht: So sprach der Lehrer [ . . . ] und mit Wonne in Miene und Augen erzählte er, wie in der Schule, in der er früher unterrichtet hatte, immer eine derartige Stille gewesen sei, daß man [ . . . ] bis zum Klingeln nicht wußte, ob sich jemand in der Klasse befand oder nicht. (VI, 226-227)

I n solch prämortaler Friedhofsruhe kündigt sich bereits Pljuskins Versteinerung zu Lebzeiten an. Das Kabinett dieses Gutsbesitzers hinterläßt beim Besucher folgenden Eindruck: »Man hätte nicht sagen können, daß in diesem Zimmer ein lebendes Wesen wohne« (VI, 115). Der Tod naht in Pljuskins Reich in Gestalt des Hungers: »Die in den Block gespannten Häftlinge i m Zuchthaus leben besser als er: all seine Leute hat er vor Hunger sterben lassen« (VI, 99). Den Hunger setzt aber auch schon Cicikovs erster Lehrer als disziplinarisches Mittel ein: wer in seiner Klasse noch eine Regung von Leben zeigt, den läßt er »tagelang hungern« (VI, 226). U n d hier wie dort zieht Cicikov aus der Auszehrung seiner Umgebung Gewinn; von Pljuskin kauft er mehr tote Seelen als von irgendwem sonst, auf den Appetit seiner Schulkameraden spekuliert er: [E]r kaufte auf dem Markt Eßwaren ein, setzte sich i n der Klasse neben die Wohlhabenderen, und sowie er bemerkte, daß einem von ihnen übel zu werden schien - ein Zei33 V I , 119. Zwar schickt Pljuskin seinem Sohn zuvor noch seinen väterlichen Fluch und unterscheidet sich damit auf den ersten Blick von Cicikov senior - doch was ist, recht besehen, der Ratschlag des Alten an Cicikov anderes als ein Fluch, unter dessen Bann der H e l d das ganze Buch über steht?

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chen herannahenden Hungers - , ließ er ihn unter der Bank scheinbar aus Versehen ein Stück von einem Plätzchen oder einer Semmel sehen, stachelte ihn damit an und legte dann einen dem Appetit entsprechenden Preis fest. (VI, 226)

Der Schüler Cicikov, von zuhause hinreichend an die systematische »Mortifikation des Willens« (Schopenhauer) gewöhnt, bewegt während des gesamten Unterrichts bei dem erwähnten Lehrer »weder Augen noch Brauen« (VI, 227). Dafür hält er sich unter anderem schadlos, indem er i n seiner Freizeit eine Maus dressiert, u m sie gewinnbringend an seine Klassenkameraden zu verkaufen: Zwei Monate beschäftigte er sich in seiner Wohnung pausenlos mit einer Maus, die er in einen kleinen Holzkäfig gesperrt hatte, und erreichte schließlich, daß die Maus auf Befehl auf den Hinterfüßen stand [ . . . ] . (VI, 226)

Dieser Maus hat Gogol' eine bemerkenswerte Wiedergeburt zugedacht. Als Cicikov Pljuskin zum erstenmal i n Augenschein nimmt, w i r d der Alte i n seinem Kabinett mit allen Kennzeichen einer zweibeinigen Maus i n einem Holzkäfig ausgestattet. Die Assoziationslinie zu Cicikovs Jugend verläuft, zunehmend deutlicher, über folgende vier Merkmale: Augen, Brauen, Maus, mutwilliger Junge. D e m Helden selbst k o m m t das Déjà-vu freilich nicht zu Bewußtsein, nur der Leser vermag die Parallelen als solche wahrzunehmen: 3 4 Hier trat unser Held unwillkürlich zurück und sah ihn [Pljuskin] aufmerksam an. [ . . . ] [D]ie kleinen Äuglein waren noch nicht erloschen und liefen unter den lang gewordenen Brauen umher wie die Mäuse, wenn sie aus ihren dunklen Höhlen ihre schmalen Schnäuzchen stecken, die Ohren spitzen, ihre Schnurrbarthaare bewegen und Ausschau halten, ob nicht irgendwo ein Kater oder ein mutwilliger Junge lauere [ . . . ] . (VI, 116; Herv. U . H.)

Der nächste von Cicikovs Lehrmeistern erfüllt die gleiche Doppelfunktion: auf der einen Seite ein Revenant des Vaters, auf der anderen ein Vorbote Pljuskins. Dies ist der Vorgesetzte, der dem Helden auf seiner ersten Dienststelle beschieden ist: [E]r bekam einen uralten Abteilungsleiter zum Vorgesetzten, der ein Muster an steinerner Gefühllosigkeit und Unerschütterlichkeit war; ewig unnahbar, hatte er noch nie in seinem Leben gelächelt [ . . . ] . Bei ihm war einfach nichts vorhanden, weder Gutes noch

34

Auch Carl R. Proffer zieht eine Verbindungslinie zwischen der nachfolgenden Passage und dem Schlußkapitel [ders., The Simile and GogoVs »Dead Souls« (The Hague / Paris 1967), 86]. Er bezieht sich dabei auf eine Stelle, w o Cicikov mit einem Kater verglichen w i r d (VI, 239). Der assoziative Sprung von der Maus zur Katze liegt natürlich nahe, doch bedarf es seiner gar nicht: Gogol' hat Cicikov selbst ja als Mausefänger charakterisiert. Dem von Proffer erwähnten Passus aus Cicikovs Biographie hingegen korrespondiert, wie noch zu zeigen sein wird, nicht die Pljuskin-, sondern die Korobocka-Episode.

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Böses, und i n diesem Fehlen von allem lag etwas Schreckliches. Sein hartes, marmornes Gesicht war ohne jede ausgeprägte Unregelmäßigkeit und hatte keine Ähnlichkeit m i t irgendetwas; seine Züge waren von roher Ebenmäßigkeit. N u r die vielen Pockennarben und Unebenheiten, von denen es übersät war, ließen es zu den Gesichtern zählen, von denen der Volksmund sagt, »daß der Teufel nachts auf ihnen Erbsen drischt«. Es hatte den Anschein, als übersteige es die Kräfte eines Menschen, sich einem solchen M a n n zu nähern und seine Zuneigung zu gewinnen; doch Cicikov versuchte es. [ . . . ] Schließlich schnüffelte er sein häusliches Familienleben aus und erfuhr, daß er eine erwachsene Tochter mit einem Gesicht hatte, das ebenfalls den Eindruck erweckte, als würden auf i h m in der Nacht Erbsen gedroschen. Von dieser Seite aus wollte er nun zum Angriff übergehen. (VI, 229-230)

M i t Erfolg, wie w i r wissen. Einen vergleichbaren Erfolg erzielt Cicikov aber auch bei Pljuskin: U n d über dieses hölzerne Gesicht glitt plötzlich ein warmer Strahl; es war kein Gefühl, sondern ein blasser Abglanz eines Gefühls, eine Erscheinung, die an das unerwartete Auftauchen eines Ertrinkenden an der Wasseroberfläche erinnert [ . . . ] . D o c h [ . . . ] dieses Auftauchen war das letzte. Alles ist stumm, und noch schrecklicher und öder w i r d danach die stillgewordene Oberfläche des schweigsamen Elements. (VI, 126)

Bis auf den - eher graduellen als qualitativen - Unterschied, daß Pljuskins Gesicht nicht »marmorn«, sondern lediglich »hölzern« ist, ähneln die beiden Passagen einander auffallend. I n beiden Fällen w i r d unmenschliche Gefühlsarmut durch eine glatte Oberfläche versinnbildlicht, an der das Erschreckendste gerade ihre Glätte ist - man kann nicht umhin, an Gogol's Nase zu denken - ; i n beiden Fällen setzt das Menschliche genau dort ein, w o diese Oberfläche gestört w i r d - einmal in Form von Pockennarben, das andere M a l in Gestalt eines zerteilten Wasserspiegels. Dabei ist es kein Zufall, daß der letzte Rest humanen Gefühls i n Pljuskin just in dem Augenblick rege wird, da er sich an seine Schulzeit erinnert: Gogol' erleichtert uns so den assoziativen Brückenschlag zu Cicikovs Jugend. Als Bindeglied dient das Freundschaftsmotiv; was Cicikov von seinem Vater empfohlen wurde, hat Pljuskin bereits i n die Tat umgesetzt: an die Stelle von Freunden ist für ihn die Kopeke getreten (VI, 126). Selbst Pljuskins Einladung an den Handlungsreisenden, er möge mit i h m Tee trinken (VI, 124), kommt kaum von ungefähr; die bei einem solchen Geizkragen unerhörte Geste der Gastfreundschaft ist - unter dem Blickwinkel von Gogol's figuralem Denken - lediglich der Reflex einer Einladung aus Cicikovs früherem Leben: »Und [Cicikovs] Sache hatte Erfolg: der gestrenge Abteilungsleiter geriet ins Wanken und lud ihn zum Tee ein!« (VI, 230). Die Fortsetzung kennen w i r bereits; Cicikov avanciert zum Bräutigam - auf beiden Ebenen der Erzählung: der Vorgesetzte denkt ihm eine reale Braut zu, Pljuskin das Statussymbol, mit dem er eine potentielle Braut beeindrucken kann.

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Fassen w i r zusammen: die Pljuskin-Episode spiegelt den Helden i m Werden - ein Werden, das paradoxerweise am ehesten als Erstarren beschrieben werden kann. Dem entspricht vollkommen, daß Pljuskin - neben Cicikov selbst - die einzige Gestalt des Romans ist, der eine Lebensgeschichte, eine persönliche Entwicklung zugestanden w i r d 3 5 und daß es - trotz seiner psychischen Versteinerung - ihm allein unter all den toten Seelen vergönnt sein sollte, an Cicikovs späterer Auferstehung teilzuhaben. I n einem - Jazykov gewidmeten - Aufsatz über Die Gegenstände des lyrischen Dichters in der heutigen Zeit von 1844 schreibt Gogol': Rufe den schönen, doch schlafenden Menschen in Form eines starken lyrischen Appells an! W i r f i h m vom Ufer aus ein Brett hin und schrei i h m aus voller Kehle zu, er solle seine arme Seele retten [ . . . ] ! [ . . . ] Heule auf und halte i h m das Scheusal Alter vor, das i h m naht, das ganz aus Eisen ist, gegen das selbst Eisen noch barmherzig ist, das kein Bröckchen von Gefühl mehr herausrückt und wiedergibt! O , könntest D u i h m nur sagen, was mein Pljuskin sagen soll, wenn ich erst zum dritten Band der Toten Seelen gelange! ( V I I I , 280).

Sobakevic M i t dem Schritt vom einfachen Schreiber zum Abteilungsleiter hat Cicikov die »schwierigste Schwelle« seiner Laufbahn genommen: »Von nun an ging alles leichter und erfolgreicher« (VI, 230). Gogol' wählt für diese Feststellung mit Bedacht Vokabeln aus dem Wortfeld des Übertretens: denn der Sündenfall seines Helden, der alle weiteren Verfehlungen nach sich zieht, besteht eben darin, daß er Liebe vortäuscht, w o keine ist. Liebe und Täuschung sind auch die beiden zentralen Motive des Kapitels, das sich an die Pljuskin-Episode anschließt, ihr in der Chronik vorangehend, auf der Ebene von Cicikovs Präexistenz jedoch nachfolgend. A u f dem Weg zu Sobakevic begegnet der Wanderer durch das Totenreich zum erstenmal seiner Beatrice: er stößt mit der Kutsche einer jungen Unbekannten zusammen. Der Erzähler kommentiert: [S]o wie manchmal eine glänzende Equipage mit goldenem Geschirr, bildschönen Pferden und blitzendem Fensterglas plötzlich unerwartet an einem entlegenen armen Dörfchen vorüberjagt [ . . . ] , [s]o tauchte auch unsere Blondine völlig unerwartet i n unserer Erzählung auf, und ebenso unerwartet verschwand sie wieder. Hätte an Cicikovs Stelle ein zwanzigjähriger Jüngling gestanden - ein Husar, ein Student oder ein junger Mensch, der eben erst seine Wirkungsstätte i m Leben betreten hat

mein Gott! was

wäre in ihm alles erwacht, in Bewegung geraten, lebendig geworden! Lange hätte er wie geistesabwesend an einem Fleck gestanden, die Augen wie sinnlos in die Ferne gerichtet, er hätte [ . . . ] sich selbst, den Dienst, die Welt und alles auf der Welt vergessen. 35

Vgl. Mann 1978, op. cit., 316.

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D o c h unser H e l d war in den mittleren Jahren und von umsichtig-abgekühltem Charakter. Er verfiel auch in Nachdenken, aber seine Gedanken waren positiver und nicht so unkontrolliert und sogar teilweise sehr gründlich. [ . . . ] »Es wäre doch interessant, zu wissen, aus was für einer Familie sie stammt! [ . . . ] Wenn dieses Mädchen, nehmen w i r einmal an, ungefähr zweihunderttausend Rubel Mitgift mitbekäme, dann wäre das ein sehr, sehr leckerer Bissen.« (VI, 9 2 - 9 3 )

Der Hinweis auf die potentielle Reaktion eines Jünglings, »der eben erst seine Wirkungsstätte i m Leben betreten hat«, zielt natürlich auch auf Cicikovs eigene Jugend. D o r t hat es vergleichbare Gefühlsaufwallungen ja gerade nicht gegeben - w o h l aber ein höchst utilitaristisches Verständnis von Brautwerbung. Wie sehr schon der junge Cicikov einem Herrn »in den mittleren Jahren [ . . . ] von umsichtig-abgekühltem Charakter« gleicht und wie wenig einem Zwanzigjährigen, davon zeugt eine Episode aus seinen Lehrjahren, die der Begegnung mit der Unbekannten auffallend korrespondiert: Wenn ein reicher Mann in einem hübschen offenen Kutschwagen mit Trabern in prachtvollem Geschirr an ihm vorüberflog, blieb er wie angewurzelt stehen, und wenn er dann wieder zu sich kam, sagte er, als erwache er aus einem tiefen Schlaf: »Der ist doch aber Kontorangestellter gewesen [ . . . ] ! « (VI, 228)

Die einzige Epiphanie, die der Karrierist sich vorstellen kann, kommt über die soziale Rangleiter herabgefahren. N u r ganz allmählich entwächst Cicikov dieser Weltsicht. I m fortgeschrittenen Alter ist es immerhin bereits der Anblick einer Frau, nicht mehr eines neureichen Kontorangestellten, der ihn für einen Augenblick dem Alltag entreißt. Man kann sagen: je mehr Cicikov in die Jahre kommt, desto näher rückt er dem eigentlichen Jünglingsalter. A u f beiden Zeitebenen der Erzählung markiert der Heiratsgedanke die Grenze zu einem Reich, in dem das oberste Gesetz die als Wahrheitsliebe getarnte Täuschung ist - eine potenzierte Form der Lüge also. W i r haben dieses Reich bei der ersten, flüchtigen Besichtigung der Toten Seelen bereits von fern in den Blick genommen und wollen es nun näher erkunden. Beginnen w i r mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des jungen Cicikov. Von seiner Abteilungsleiterposition aus sichert er sich bald das, was man ein »warmes Plätzchen« nennt. Der Erzähler berichtet: Man muß wissen, daß gerade zu dieser Zeit gegen jede Bestechlichkeit auf das schärfste zu Felde gezogen wurde, doch dieser Feldzug schreckte ihn nicht, und er verwandte ihn zu seinem Vorteil, wobei sich bei i h m der echt russische Erfindergeist zeigte, der nur bei Verfolgungen zum Vorschein kommt. (VI, 230-231)

Cicikov adaptiert sich glänzend an die neuen Verhältnisse: jeden direkten Bestechungsversuch von Bittstellern weist er zurück, läßt diese aber auf die gewünschte Dienstleistung so lange warten, bis sie bereit sind, seinen Untergebe13 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42. Bd.

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nen ein Vielfaches des üblichen Schmiergelds zu zahlen. Ein Saubermann, scheinbar jeder Korruption abhold, der sich schließlich als mit allen Wassern gewaschen entpuppt - diese Charakteristik trifft nicht nur auf den Staatsdiener Cicikov, sondern mit gleicher Präzision auf den Gutsherrn Sobakevic zu. Gogol' unterstreicht die Parallele noch, indem er das kriminelle Ingenium seines Helden als spezifisch »russisch« bezeichnet - während er den »Bären« Sobakevic zum Russen schlechthin stilisiert. Die Nähe zu Sobakevic nimmt auf der folgenden Stufe von Cicikovs Laufbahn noch zu. Er w i r d Mitglied i n einer »Kommission für den Bau eines kapitalen Amtsgebäudes«, 36 und zwar - wie nicht anders zu erwarten - »eines der tatkräftigsten Mitglieder«: Die Kommission machte sich unverzüglich an die Arbeit. Ganze sechs Jahre beschäftigte sie sich m i t dem Gebäude; war nun aber das Klima ungünstig oder lag es am Baumaterial - jedenfalls kam das Amtsgebäude nicht über das Fundament hinaus. Währenddessen hatte sich jedes Kommissionsmitglied an verschiedenen Enden der Stadt ein schönes Haus i n gutbürgerlichem Baustil zugelegt - anscheinend war der Baugrund dort besser. (VI, 232)

Die Ruine als zwingendes Resultat eines Widerstreits zwischen dem Plan des Bauherrn und dem Egoismus seiner Vollziehungsgehilfen - dies erinnert entfernt an ein Bauwerk, das zwar nicht gerade ein Torso geblieben, aber doch von einem sehr ähnlichen Interessenskonflikt geformt worden ist: Es war deutlich zu sehen, daß der Architekt beim Bau des Hauses ohne Unterlaß mit dem Geschmack des Hausherrn gekämpft hatte. Der Architekt war ein Pedant und strebte nach Symmetrie, der Hausherr war für Bequemlichkeit [ . . . ] . Der Eingangsgiebel war einfach nicht in die Mitte des Hauses zu bringen gewesen, wie sehr sich der Architekt auch abgemüht hatte, denn der Hausherr hatte angeordnet, an der einen Seite eine Säule zu entfernen, und deshalb standen nicht wie vorgesehen vier Säulen da, sondern nur drei. Der H o f war von einem festen und unmäßig dicken Holzgitter umgeben. Der Hausherr schien viel Wert auf Solidität zu legen. (VI, 93 - 94)

Derart unerschütterlich vermag nur einer seine Bequemlichkeit gegen die Ordnung zu behaupten - Sobakevic. Er hat sich errichtet, w o v o n sein Gast immer schon träumte, bevor ihm die Baukommission die nötigen Mittel in die Hände spielte: ein eigenes, »hervorragend gebautes Haus«. 3 7 36 Ursprünglich sollte es sich bei diesem Gebäude u m ein Gotteshaus handeln (VI, 561). Krivonos erblickt i n dieser Episode denn auch die parodistische Umkehr eines klassischen Elements der Heiligenvita: der Klostergründung (Krivonos, op. cit., 100101). 37 V I , 228. Die ethische Brisanz der Parallele w i r d noch deutlicher, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß Gogol' die Cicikovsche Baukommission ursprünglich m i t der Errichtung einer Kirche betrauen wollte (VI, 561). Vgl. hierzu Amberg, op. cit., 181 - 1 8 3 .

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Dieser Genußmensch erinnert aber nicht nur durch seine Behausung an Cicikovs frühere Kommissionsaktivitäten. Beschloß der Held doch gerade auf jener Position, sein »langjähriges Fasten« endlich zu mildern und zu zeigen, »daß ihm die verschiedensten Genüsse durchaus nicht fremd waren« (VI, 232). Diesen Abschied von der Askese durchlebt er bei Sobakevic auf's Neue - diesmal freilich in Form einer gnadenlosen Überfüllung, die an mittelalterliche Höllenstrafen für die Sünde der gula gemahnt: Der Hammellende folgten Quarkkuchen, von denen jeder sehr viel größer als ein Teller war, und dann kam ein Puter von der Größe eines Kalbes, der mit allen möglichen guten Dingen gefüllt war: mit Eiern, Reis, Leber und wer weiß w o m i t noch, was sich dann i m Magen alles zu einem Klumpen vereinigte. Damit war das Mittagessen auch zu Ende, doch als sie sich von der Tafel erhoben, fühlte sich Cicikov u m ein ganzes Pud schwerer. (VI, 99-100)

Als Kommissionsmitglied, da Cicikov erstmals seine Bürgerträume zu realisieren wagte, begann er sich auch neu einzukleiden: »seitdem bevorzugte er auch braune und rötliche Tuche« (VI, 232). I n eben diesen Farben tritt ihm nun der Bär i n Menschengestalt entgegen: Als Cicikov Sobakevic von der Seite ansah, kam er ihm [ . . . ] genau wie ein Bär mittlerer Größe vor. U m die Ähnlichkeit vollständig zu machen, trug er einen Frack von völlig bärenbrauner Farbe [ . . . ] . Sein Gesicht hatte eine rotglühende Farbe, wie sie ein Kupferfünfer besitzt. (VI, 94; Herv. U . H.)

Die nächste Etappe von Cicikovs Lebenslauf ist gleichsam die dialektische A n t w o r t auf die vorangehende: bei seinem verlogenen Kampf gegen die Lüge w i r d er unversehens zum betrogenen Betrüger. Es war bereits weiter oben die Rede von einem neuen Vorgesetzten, einem General, der als erklärter »Feind jeglicher Bestechung und Unwahrheit« antritt. Die Tragik dieses Mannes besteht darin, daß er es wirklich ehrlich meint und sich deshalb - nach einem A n fangserfolg gegen die Baukommission - bald »in den Händen noch viel größerer Gauner« (VI, 233) befindet. Er unterschätzt die schier unbegrenzte »Anpassungsfähigkeit« (VI, 233) seiner Beamten: Die Beamten hatten i m N u seinen Geist und seinen Charakter erfaßt. Alle seine Untergebenen verwandelten sich in furchtbare Feinde der Unwahrheit; sie verfolgten sie überall, in allen Dingen, wie der Fischer mit seiner Harpune einen fetten Hausen, und sie verfolgten sie mit solchem Erfolg, daß innerhalb kurzer Zeit jeder von ihnen ein Kapital von mehreren tausend Rubeln besaß. (VI, 233)

Der einzige, der die erforderliche Adaptionsleistung nicht erbringt, ist Cicikov - bei diesem menschlichen Chamäleon ein ungewöhnliches Versagen. Alle Versuche, die Gnade des Generals wieder zu erlangen, schlagen fehl: der gehört zu jener A r t von Menschen, i n deren H i r n sich ein einmal gefaßter Gedanke »wie ein eiserner Nagel« festsetzt (VI, 233). Cicikov erreicht lediglich, daß sein 1*

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übles Dienstzeugnis vernichtet wird, und auch das nur, weil ein geschmierter Mittelsmann dem Vorgesetzten »in lebhaften Farben das anrührende Schicksal der unglücklichen Familie Cicikovs ausgemalt hat, die es zum Glück gar nicht gab« (VI, 233). Auch dieser erste Knick i n der kriminellen Laufbahn des Helden hat seine präzisen Entsprechungen in der Visite bei Sobakevic. A u f die vordergründigen Parallelen wurde bereits bei unserem ersten Rundgang durch die Gesamtanlage der Toten Seelen hingewiesen. Ahnlich wie Cicikov seinerzeit den öffentlichen »Feldzug gegen die Bestechlichkeit« (VI, 233) virtuos in eine private Einnahmequelle verwandelte, so schlägt Sobakevic - überall dem Betrug auf der Spur - Kapital aus der Angst seines Gastes, man könnte seine Geschäfte publik machen: »Wissen Sie, daß solche A r t Käufe - ich sage das ganz unter uns, als Ihr Freund - nicht immer erlaubt sind? U n d wenn ich oder jemand anderes davon erzählen würde, dann hätte man einem solchen Mann gegenüber keinerlei Vertrauen mehr bei Kontraktabschlüssen [ . . . ].« (VI, 104)

Damit erweist er sich als Cicikov ebenbürtig - ein recht genaues Spiegelbild von dessen anfänglichem Treiben auf dem »warmen Plätzchen«. Doch Sobakevic leistet noch mehr; er ist der einzige Gutsbesitzer, dem es gelingt, Cicikov mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: er kassiert reales Geld für etwas, das nur auf dem Papier existiert. Cicikov entdeckt den Schwindel erst viel später: »Was ist denn das für ein Bauer: Elizaveta Vorobej? Pfuj, das hat gerade noch gefehlt: ein Weib! Wie ist die denn hierhergekommen? Ein Schuft ist dieser Sobakevic, hier hat er mich also auch übers O h r gehauen!« Cicikov hatte recht, es war in der Tat ein Weib. Wie sie hierhergeraten war, ist nicht bekannt, doch ihr Name war so kunstvoll hingeschrieben, daß man sie von weitem für einen Bauern halten konnte, und sogar der Name endete mit einem Härtezeichen, das heißt nicht auf Elizaveta sondern auf Elizavetfc. (VI, 137)

Sobakevic macht also den Betrüger zum Betrogenen, indem er dessen Masche auf ihn selbst anwendet. Damit gleicht er aber i m Prinzip jenem Vorgesetzten, der dem angeblichen Vorkämpfer gegen die Korruption das Handwerk legte - durch rigorose Aufdeckung der Korruption. M i t anderen Worten: Sobakevic konfrontiert den Helden nicht nur mit seiner ersten Phase auf dem »warmen Plätzchen«, sondern auch mit der zweiten, mit dem Verlust des Plätzchens. Dafür gibt es gleich drei Indizien. Erstens legt Sobakevic beim Feilschen u m den Preis der toten Seelen eine Zähigkeit an den Tag, die an die Sturheit des Generals mit dem »eisernen Nagel« i m Kopf w o h l heranreicht. Sobakevic w i r d denn auch vom Erzähler mit einem Stück Eisen verglichen: »eher würde sich Eisen erkälten und husten als dieser fabelhaft kräftig gebaute Gutsherr« (VI, 144).

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Zweitens versucht Cicikov diesen Eisenhans dadurch zu erweichen, daß er auf seine Familie hinweist - d. h. er greift auf die ultima ratio zurück, die bei dem unerbittlichen General schließlich doch noch verfing. D o c h diesmal ist er an den Falschen geraten: Er wollte anfangen, von irgendwelchen Verwandtschafts- und Familienumständen zu sprechen, doch Sobakevic antwortete nur: »Ich w i l l nicht wissen, was für Verhältnisse bei Ihnen herrschen. Ich mische mich nicht in Familienangelegenheiten, das ist Ihre Sache.« (VI, 104)

Drittens und letztens macht sich Sobakevic - nachdem er von Cicikov wegen eines gewissen Bauern namens Elizavet Vorobej zur Rede gestellt worden ist bei der Feier zum erfolgreichen Abschluß der Seelenkäufe ganz allein über einen gewaltigen Stör her: Sobakevic [ . . . ] ließ sich bei dem Stör nieder, und während die anderen tranken, sich unterhielten und aßen, verputzte er ihn innerhalb einer Viertelstunde vollständig, sodaß der Polizeimeister, als er sich an den Stör erinnerte und sich i h m mit den Worten: »Und was halten Sie von diesem Naturprodukt, meine Herren?« mit der Gabel i n der H a n d zusammen mit den anderen nähern wollte, plötzlich sah, daß von dem Naturprodukt nur der Schwanz übriggeblieben war [ . . . ] . (VI, 150)

Diese Vorliebe für Stör teilt der Bär, der überall Lügen wittert, offenkundig mit den Untergebenen des Generals: diese jagten bekanntlich die Unwahrheit »wie der Fischer mit seiner Harpune einen fetten Hausen« - und mästeten dabei den eigenen Wanst. Der Hausen, auf russisch »beluga«, ist die größte Spielart des Störs. Blicken w i r zurück: i m Sobakevic-Kapitel durchläuft Cicikov noch einmal alle wesentlichen Stationen des zweiten Abschnitts seiner Karriere - zunächst den Zweckgedanken an eine Heirat, dann seinen ersten Triumph i n der Rüstung eines Streiters für die Wahrheit, schließlich die erste Niederlage gegen einen Gegner, der sich just dasselbe Prinzip aufs Panier geschrieben hat.

Nozdrev Cicikovs Weg nach oben, der so geradlinig begann, bricht schon auf der zweiten Etappe unversehens ab, u m einer Pendelbewegung von Aufschwung und Sturz zu weichen. Solches A u f und A b prägt von nun an seinen gesamten weiteren Erdenwandel - ungeachtet seiner eigenen rastlosen Zielstrebigkeit. Was uns der Ideologe Gogol' mit dieser Konstruktion bedeuten w i l l , liegt auf der H a n d und kann kaum treffender wiedergegeben werden als mit den Worten des Thomas a Kempis: 3 8 38

Imitatio Christi, op. cit., Buch III, Kap. 33, 203-204.

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Solange du lebst / bist du / auch wider deinen Willen / der Veränderlichkeit preisgegeben [ . . . ] . Wer aber [ . . . ] die rechte Wahrheit besitzt / der hat bei all dieser Veränderlichkeit seines Herzens einen unveränderlichen Standpunkt / heftet seinen Blick nicht [ . . . ] auf die mancherlei Seiten / von denen der W i n d bald so / bald anders herweht / sondern richtet all seine Gedanken und Absichten auf den einen / wahren / besten Zielpunkt hin. Denn wenn das geheimste Auge seines Geistes bei den unzähligen / einander durchkreuzenden Begebenheiten immer zu mir und nur zu mir aufschaut / so kann es immer dasselbe / sich gleich / und bei allem / was von Außen erschüttert / i m Innern unerschüttert bleiben. [ . . . ] M a n muß also das geheimste Auge / nämlich die herrschende Absicht bei all unsern Handlungen / reinigen / damit es recht sehe / und man muß es über alles / was nur M i t t e l ist / emporrichten und zu mir / als dem letzten Zielpunkt erheben. Solange C i c i k o v das falsche Telos v e r f o l g t , solange er das I r d i s c h e , das nie m e h r als e i n M i t t e l sein k a n n , f ü r das Z i e l h ä l t - so lange k a n n es m i t i h m a u c h n i c h t dauerhaft a u f w ä r t s gehen. D i e s bestätigt sich e r n e u t i m n u n f o l g e n d e n A b s c h n i t t seiner L a u f b a h n , der das P r o b l e m der T e l e o l o g i e w i e k e i n anderer akzentuiert.39 D i e nächste Stufe seiner K a r r i e r e l e i t e r h a t d e r H e l d s c h o n seit l a n g e m ins A u g e gefaßt. Z i e l seiner W ü n s c h e ist eine A n s t e l l u n g b e i m Z o l l : Es muß gesagt werden, daß dieser Dienst längst das geheime Objekt seiner Gedanken gewesen war. [ . . . ] Schon lange hatte er nicht nur einmal mit einem Seufzer gesagt: »Da müßte man einmal hinkommen [ . . . ] ! « [ . . . ] Er hatte also schon lange zum Z o l l gewollt, doch die verschiedenen laufenden Vorteile bei der Baukommission hatten ihn immer zurückgehalten, und er hatte sich ganz richtig gesagt, daß das Zollamt trotz allem nicht mehr als eine Taube auf dem Dach, die Kommission dagegen schon ein Spatz in der H a n d sei. Jetzt aber hatte er beschlossen, um jeden Preis beim Zollamt anzukommen, und er kam an. (VI, 234-235) G o g o l ' s fast s c h o n e r m ü d e n d e s I n s i s t i e r e n auf diesem P u n k t v e r d i e n t Beacht u n g : o f f e n b a r l i e g t i h m v i e l daran, die n u n einsetzenden Ereignisse als R e s u l t a t b e w u ß t e r P l a n u n g darzustellen. K a l k ü l u n d Schicksal scheinen z u diesem Z e i t p u n k t reibungslos H a n d i n H a n d z u gehen; der E r z ä h l e r w e i s t eigens d a r a u f h i n , »das Schicksal selbst« hätte C i c i k o v » z u m Z o l l b e a m t e n b e s t i m m t « ( V I , 235). D e r t u t alles i n seiner M a c h t Stehende, u m auch w e i t e r h i n n i c h t s d e m Z u fall z u überlassen. E r f ä l l t d u r c h eine u n g e w ö h n l i c h »eifrig-selbstlose D i e n s t a u s ü b u n g « ( V I , 236) so lange b e i der O b r i g k e i t auf, bis m a n i h n - a u f eigenen A n t r a g - m i t der Z e r s c h l a g u n g eines g r o ß e n Schmugglerringes beauftragt:

39

Vgl. hierzu bei Susanne Fusso das Kapitel »Plans and Accidents« [dies., Designing Dead Souls. An Anatomy of Disorder in Gogol (Stanford 1993), 2 0 - 5 1 ] , w o Nozdrevs Rolle als Schicksalsmacht, die Cicikovs Pläne stört, präzis herausgearbeitet ist. I m folgenden soll, über Fusso hinausgehend, gezeigt werden, in welchem Maß Cicikov selbst sich zum Herrn über das Schicksal aufzuschwingen trachtet.

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Das war es, was er gewollt hatte. Z u dieser Zeit hatte sich eine planmäßig organisierte, gut durchdachte mächtige Schmugglergesellschaft gebildet; das kühne Unternehmen versprach mehrere Millionen abzuwerfen. Er hatte schon lange davon gewußt und eine Beteiligung abgelehnt, indem er den Abgesandten trocken sagte: »Die Zeit ist noch nicht gekommen.« Als nun alles zu seiner Verfügung stand, ließ er dies sofort die Gesellschaft wissen und sagte: »Jetzt ist es Zeit.« Seine Berechnung war nur allzu gut. [ . . . ] Damit die Sache möglichst reibungslos lief, brachte er noch einen anderen Beamten herum [ . . . ] . (VI,236)

Die »Berechnung war nur allzu gut«, heißt es doppeldeutig - und prompt schaltet sich die personifizierte Unberechenbarkeit ins Geschehen ein. Gogol' unterstreicht diesen Einbruch der Kontingenz noch, indem er ausdrücklich den Inbegriff des Notwendigen dagegensetzt. Beide kosmischen Gegenmächte werden ins Spiel gebracht - Gott und Teufel, der Herr über alle Pläne und der Anwalt des Zufälligen: Q]eder der beiden Beamten erwarb sich ein Kapital von vierhunderttausend Rubeln. Es heißt, daß Cicikov sogar mehr als fünfhunderttausend gehabt haben soll, denn er war wendiger. Gott weiß, was für riesige Ziffern diese segensreichen Summen noch erreicht hätten, wenn nicht irgendein Zufall allem i n die Quere gekommen wäre. Der Teufel hatte beiden Beamten den Verstand verwirrt, mit einfachen Worten: sie gerieten einander in die Haare und zerstritten sich um nichts und wieder nichts. (VI, 236-237; Herv. U . H.)

I m Original w i r d dieser Zufall idiomatisch noch deutlicher als Sendbote des Teufels ausgewiesen: als »nelegkij zver'«, als »unreines Tier«. 4 0 Die Folgen des Zwistes wurden bereits oben skizziert: es kommt zur Denunziation, die beide Beamte ins Unglück stürzt. Der H e l d begreift dies buchstäblich als Schicksalsschlag, an dem er sich keinerlei persönliche Schuld gibt: Jetzt hätte man zu dem Schluß kommen können, er würde sich nach solchen Stürmen, Prüfungen und Launen des Schicksals [ . . . ] zurückziehen. [ . . . ] D o c h das geschah nicht. [ . . . ] Er war verbittert, ärgerlich, mit aller Welt unzufrieden, wütete über die Ungerechtigkeit des Schicksals [ . . . ] und konnte es sich doch nicht versagen, neue Versuche zu unternehmen. (VI, 238)

Cicikovs unentwegtes Bemühen, den Unwägbarkeiten des Schicksals durch Berechnung zu begegnen, w i r d an dem Gutsbesitzer Nozdrev, einem »Kerl von ungezwungenem Wesen« (VI, 17), in geradezu exemplarischer Weise zuschanden. Schon die zufällige Begegnung der beiden in einem Gasthaus an der Landstraße - die erste seit ihrer flüchtigen Bekanntschaft i m I. Kapitel - w i r d dem 40

Vgl. Slovar' frazeologiceskich

sinonimov russkogo jazyka, pod red. V. P. Zukova

(Moskva 1987), 244. Vgl. in diesem Zusammenhang die analogen Beobachtungen von A n dreas Ebbinghaus zum Revisor [Andreas Ebbinghaus, »Konfusion und Teufelsanspielungen in N . V. Gogol's >RevizorBa, ba, ba!kaufenKameraführung< auffallend komplementär ist: Kaum war die Stadt hinter ihnen zurückgeblieben, als sich zu beiden Seiten des Weges die bei uns übliche Einöde und Wildnis zeigte: Erdhügel, Fichtenwald, niedriges und spärliches junges Kieferngestrüpp, halbverkohlte alte Kiefernstümpfe, Heidekraut und ähnlicher Unsinn. Sie fuhren durch Dörfer, die sich schnurgerade dahinzogen und deren Häuser wie alte Brennholzstapel aussahen, mit grauen Dächern und geschnitzten hölzernen Verzierungen darunter, die herabhängenden, mit allen möglichen Mustern bestickten Handtüchern ähnelten. (VI, 21)

61

Z u diesem Genre i n Verbindung mit den Toten Seelen vgl. zuletzt von Christian von

Tschilschke, Epen des Trivialen.

N. V. Gogols »Die toten Seelen« und G. Flauberts »Bou-

vard und Pécuchet«. Ein struktureller 24.

und thematischer Vergleich

(Heidelberg 1996), 19-

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A u c h d e r nächste d e r v i e r E x k u r s e , die die V o r g e s c h i c h t e des H e l d e n abschließen, hat sein genaues G e g e n s t ü c k i m M a n i l o v - K a p i t e l : h i e r w i e d o r t räson i e r t der E r z ä h l e r ü b e r die V i e l f a l t m e n s c h l i c h e r Passionen. D i e s w u r d e s c h o n f l ü c h t i g festgestellt. E r s t e i n D e t a i l v e r g l e i c h zeigt aber, w i e eng u n d geradezu u r s ä c h l i c h die b e i d e n Passagen m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t sind. I m X I .

Kapitel

lesen w i r : 6 2 U n d oft ist in einem Menschen, der zu besseren Heldentaten geboren wurde, nicht nur eine mächtige Leidenschaft, sondern auch ein belangloser Hang zu etwas Unbedeutendem immer größer geworden und hat ihn gezwungen, die hohen und heiligen Pflichten zu vergessen und in unbedeutenden Nichtigkeiten Hohes und Heiliges zu sehen. Zahllos wie Sand am Meer sind die menschlichen Leidenschaften, keine ähnelt der anderen, sie alle, hohe und niedrige, sind zu Anfang dem Menschen Untertan, und erst später werden sie zu seinen schrecklichen Gebietern. (VI, 242) M a n i l o v w i r d m i t den folgenden W o r t e n eingeführt: Jeder hat sein Steckenpferd: bei dem einen sind es Windhunde; der andere glaubt, er sei ein großer Musikliebhaber und empfinde erstaunlich tief jede bedeutungsvolle Stelle eines Stückes; der dritte ist ein Meister i m Schmausen; der vierte versteht es ausgezeichnet, eine Rolle zu spielen, die vielleicht nur eine Winzigkeit mehr darstellt als die, welche ihm vom Schicksal beschieden wurde; der fünfte, der bescheidener ist, schläft am liebsten und träumt nur davon, m i t einem Flügeladjutanten vor den Augen seiner Freunde, seiner Bekannten und auch aller Unbekannten spazierenzugehen; der sechste ist mit einer Hand begnadet, die das übernatürliche Verlangen verspürt, einem Karo-As oder einer Zwei die Ecke umzubiegen, während die Hand des siebenten immer eingreifen muß, u m Ordnung zu schaffen, und dabei mit der Person des Postmeisters oder Kutschers in Berührung k o m m t - kurz, jeder hat etwas, w o m i t er sich beschäftigt, nur Manilov hatte nichts dergleichen. (VI, 24) A u f d e n ersten B l i c k hat es d e n A n s c h e i n , als w e r d e M a n i l o v v o m K a t a l o g d e r sieben Steckenpferde - G o g o l ' s gezielter T r i v i a l i s i e r u n g d e r sieben T o d s ü n d e n - e x p l i z i t a u s g e n o m m e n . D o c h w e n i g e Z e i l e n später w i r d uns, v e r m e i n t l i c h beiläufig, m i t g e t e i l t , daß er sehr w o h l eine L e i d e n s c h a f t hat: er r a u c h t Pfeife, was i h m - so d e r E r z ä h l e r - » z u r G e w o h n h e i t g e w o r d e n w a r , als er n o c h i n der A r m e e gedient hatte, w o er als d e r bescheidenste, t a k t v o l l s t e u n d gebildetste O f f i z i e r galt« ( V I , 25). D a ß es s i c h b e i m R a u c h e n u m m e h r als G e w o h n h e i t , n ä m l i c h u m eine Passion h a n d e l t , b e d e u t e t uns G o g o l ' , i n d e m er uns e i n e n B l i c k i n M a n i l o v s Z i m m e r gestattet: Tabak gab es mehr als alles andere. Er war in allen möglichen Arten vertreten: in Papierbeuteln und Dosen und schließlich als Haufen einfach auf den Tisch geschüttet. A u f beiden Fensterbrettern waren ebenfalls kleine Häufchen von aus der Pfeife ge-

62 Vgl. hiermit u. a. das 20. Kapitel i m I I I . Buch der Imitatio Christi, w o die besondere Gefahr geringer Versuchungen für das menschliche Seelenheil thematisiert wird.

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klopfter Asche, die man sorgfältig i n sehr schönen Reihen angeordnet hatte. Augenscheinlich pflegte sich der Hausherr damit bisweilen die Zeit zu vertreiben. (VI, 32)

Manilov weiß gar bewundernd von einem Fähnrich aus seiner aktiven Zeit zu berichten, »der die Pfeife nicht nur bei Tisch i m M u n d behielt, sondern mit Verlaub zu sagen, auch an allen übrigen Orten« (VI, 32). Indem Gogol' derart wohldosiert, mit peu ä peu nachgeholten Pinselstrichen, das Portrait des angeblich gesichtslosen Manilov in die Züge eines nikotingegerbten Süchtigen verwandelt, liefert er eine konkrete Illustration dessen, was er später dann i n abstrakten Worten als Hauptgefahr für den Menschen beschwören wird. Manilov, dieser einst mustergültige Offizier, der jetzt nur noch Aschehäufchen in Reih und Glied ausrichtet, war zweifellos »zu besseren Heldentaten geboren«, doch »ein belangloser Hang zu etwas Unbedeutendem« wurde i h m zum Verhängnis. 6 3 Gogol's raffiniert retardierende Erzählweise macht uns somit i m II. Kapitel zu Zeugen des gleichen sittlichen Verfallsprozesses, der uns i m X I . Kapitel als Resultat präsentiert w i r d . 6 4 Die Gestalt Manilovs dient damit der allmählichen Entfaltung einer abstrakten Einsicht, sie veranschaulicht ein A x i o m der Gogol'schen Ethik. Die Kunst des Autors besteht darin, uns dennoch die Illusion zu vermitteln, w i r hätten es mit einem realistisch gezeichneten Charakter zu tun. Selbst jenes Detail des Manilov-Kapitels, das durch seine lebenspralle Frische vielleicht am meisten hervorsticht: die Schilderung der beiden Söhne des Gutsherrn, erweist sich bei näherer Betrachtung als bloße Arabeske, die sich u m die i m Schlußkapitel aufgestellte moralische Leitlinie rankt. Denn die Erkenntnis, daß jemand, der eigentlich zu »Heldentaten« (»podvigi«) berufen wäre, sich an »unbedeutende Nichtigkeiten« verlieren kann, w i r d nicht nur durch Manilovs Verhältnis zum Männlichkeitsattribut Pfeife illustriert, sondern auch durch seinen Umgang mit den Kindern. Diesen wurde, wenn ihr Name als Omen gelten darf, offenbar eine heroische Laufbahn zugedacht: »Alkid« ist ein Beiname des Herakles, und »Femistokljus«, dieser verballhornte Sieger von Salamis, hieß i m Manuskript der Toten Seelen gar noch »Menelaos«. 65 Das Kriegshandwerk, dem ihr Vater untreu wurde, üben die Söhne nach dem Maß ihrer kindlichen Kräfte. Femistokljus beißt A l k i d beim Essen ins O h r (VI, 31), beide spielen mit 63

Vgl. hierzu insb. das Manilov gewidmete Kapitel bei Woodward, op. cit., 52 - 69.

64

Dieser Prozeß spiegelt sich auch in GogoFs Wahl des Wortes für »Leidenschaft«: von »strast'« über das D i m i n u t i v »strastiska« führt die stilistische Stufenleiter abwärts zu »zador«. Damit w i r d das assoziative Band zwischen Leidenschaft und Leiden, das i m Russischen wie i m Griechischen, Französischen, Deutschen besteht, zusehends aufgelöst

[vgl. Elena Sergeevna Koporskaja, Semanticeskaja istorija slavjanizmov v russkom literaturnom jazyke novogo vremeni (Moskva 1988), 204]. 65

dacht.

Vgl. den Kommentar i n V I , 707. A l k i d war ursprünglich der Name Alkibiades zuge-

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Urs Heftrich

einem »Holzhusaren, dem A r m und Nase fehlen« (VI, 38), und Cicikov gießt noch O l ins Feuer, indem er ihnen zum Abschied verspricht, sie aufzurüsten: »Lebt wohl, ihr lieben Kleinen!« sagte Cicikov, als er A l k i d und Femistokljus erblickte [ . . . ] . »[W]enn ich wiederkomme, bringe ich unbedingt [etwas] mit. D i r bringe ich einen Säbel mit, willst du einen Säbel?« - »Ja«, antwortete Femistokljus. - »Und du bekommst eine Trommel, du willst doch eine Trommel?« fuhr er fort und beugte sich zu A l k i d hinab. - »Dommel«, flüsterte A l k i d und senkte den Kopf. - »Gut, ich bringe dir eine Trommel. So eine herrliche Trommel! Die wird immer so machen: Rumm... bumm... rummbumbum...« (VI, 38)

Säbel und Trommel, das klassische Zubehör des Kriegshelden, als Kinderspielzeug! Wie w i r sehen, w i r d die Infantilisierung alles Heroischen i n der Manilov-Episode konsequent betrieben. Daß sich dahinter ein regelrechtes System verbirgt, enthüllt aber erst die zugehörige Digression am Ende des X I . Kapitels (in der das Wort »Heros« [»geroj«] auffallend häufig vorkommt). Die »unbedeutenden Nichtigkeiten« nämlich, die - laut Klage des Erzählers - manch einen davon abhalten, sich »Heldentaten« zu widmen, heißen i m Original »nictozny[e] pobrjakusk[i]«: »wertlose Kinderklappern«! Nachdem der Erzähler i m Schlußkapitel sich gegen den Vorwurf, Menschen mit niedrigen Leidenschaften seien kein Gegenstand für ein Heldengedicht, verteidigt hat, beschleicht ihn eine neue Sorge: Doch nicht das ist bitter, daß man mit dem Helden unzufrieden sein wird, bitter ist, daß ich im Innern fest überzeugt bin, die Leser könnten mit dem gleichen Helden, mit dem gleichen Cicikov auch zufrieden sein. Hätte nämlich der Verfasser ihm nicht so tief in die Seele geschaut und auf ihrem Grund nicht all das aufgerührt, was der Welt entgeht und sich vor ihr verbirgt, hätte er nicht die geheimsten Gedanken dargelegt, die kein Mensch einem anderen anvertraut, sondern hätte er ihn so gezeigt, wie er der ganzen Stadt, Manilov und all den anderen, erschienen war - dann wären wohl alle hocherfreut und hielten ihn für einen interessanten Menschen. [ . . . ] Ja, meine guten Leser, ihr möchtet nicht die unverhüllte menschliche Armut sehen. »Weshalb?« sagt ihr, »wozu das? [ . . . ] Stellen Sie uns lieber etwas Schönes, Anziehendes dar! Es wäre besser, wenn wir uns darin vergessen könnten!« (VI, 242-243)

Kaum zufällig w i r d hier als einziger Gutsbesitzer ausgerechnet Manilov beim Namen genannt: verkörpert er doch i n Reinkultur das gesellschaftliche Gebot, u m jeden Preis das D e k o r u m zu wahren, d. h. vor allem Unangenehmen die Augen zu verschließen. D o c h wenden w i r uns wieder dem Erzähler zu! A u f die Forderungen seiner imaginären Leser antwortet er mit einem Gleichnis: »Warum sagst du mir, Bruder, daß die Dinge in der Wirtschaft schlecht stehen?« sagt der Gutsherr zum Verwalter. »Ich weiß das auch ohne dich, Bruder, kannst du denn nicht mal von was anderem sprechen, wie? D u mußt mich das vergessen lassen, ich w i l l nichts davon wissen, dann bin ich glücklich.« (VI, 243; Herv. U . H.)

Nikolaj Gogol's Tote Seelen

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Auch diese Geisteshaltung ist nirgendwo so rein ausgeprägt wie bei den Manilovs, von denen w i r gleich eingangs erfahren, daß sie »mit einem Wort, das waren, was man glücklich nennt« (VI, 26). Ein durch Cicikovs Anliegen provozierter Dialog zwischen Gutsherr und Verwalter enthüllt dann die Basis solchen Glücks; es ruht - mit Nietzsche gesagt 66 - »auf dem Grunde eines [ . . . ] gewaltig[en] Willens, des Willens zum Nicht-wissen«: » H ö r mal, mein Lieber! Wieviel Bauern sind bei uns gestorben, seit w i r die Revisionsliste eingereicht haben?« - »Was heißt hier wieviel? Seit der Zeit sind viele gestorben«, sagte der Verwalter, stieß dabei auf und hielt die H a n d wie einen Schild halb vor den Mund. »Ja, ich gebe zu, daß ich das auch gedacht habe«, bestätigte Manilov, »das stimmt, sehr viele sind gestorben!« Hier wandte er sich an Cicikov und fügte noch hinzu: »So ist es, sehr viele.« - »Und wieviel mögen es etwa der Zahl nach gewesen sein?« fragte Cicikov. - »Ja, wieviel mögen es gewesen sein?« wiederholte Manilov. - »Woher soll ich wissen, wieviel? Wieviel gestorben sind, weiß kein Mensch, niemand hat sie gezählt.« - »Ja, so ist es«, sagte Manilov, zu Cicikov gewandt, »ich habe das ebenfalls angenommen, eine hohe Sterblichkeit haben wir, kein Mensch weiß, wieviel überhaupt gestorben sind.« (VI, 33)

W i r sehen: die Rolle des schlechten Gutsherrn i m Gleichnis ist Manilov wie auf den Leib geschrieben; selbst das »Ich weiß das auch ohne dich, Bruder!« spricht er sinngemäß nach: »Ja, ich gebe zu, daß ich das auch gedacht habe«, »Ja, so ist es, ich habe das ebenfalls angenommen«. Die Abschweifungen am Schluß der Toten Seelen gipfeln, unmittelbar vor Cicikovs endgültiger Flucht, in einem grotesken Schnörkel: i m Gleichnis von dem Vater Kifa Mokievic und seinem Sohn M o k i j K i f o v i c 6 7 Vater und Sohn haben diametral entgegengesetzte Neigungen: Kifa beschäftigt sich mit Philosophie, M o k i j übt sich als »Recke« (VI, 244). So zerbricht sich der Alte den Kopf über der ontologischen Frage, weshalb nicht alle Tiere i n Eiern zur Welt kommen, während der Junge alles, was seinen Weg kreuzt, zu Klump und Asche schlägt: 68 66

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden,

hg. Giorgio C o l l i u. Mazzino Montinari ( M ü n c h e n / B e r l i n / N e w York 1980), Bd. 5, 41. 67

Z u m Sinn dieser Episode vgl. S. I. Masinskij, »Mertvye dusi« N. V. Gogolja (2., erw. Aufl., Moskva 1978), 8 8 - 8 9 sowie V. §. Krivonos, »Pritca o Kife Mokievice i ee rol' v

>Mertvych dusachVij< und >Zapiski sumassedsegosingle effect< demonstriere, 3 sowie den Versuch unternehme, mehr oder minder wissenschaftliche Erörterungen i n erzählende Prosa einzubinden, 4 entgegentreten und die vielfältigen thematischen, stilistischen, poetologischen und philosophischen Gehalte dieser nach wie vor äußerst populären Erzählung untersuchen. Dabei stellt in der Rezeptionsgeschichte von »A Descent into the Maelström« der Nachweis von Poes Rekurs auf Coleridges »The Rime of the A n cient Mariner« einen wichtigen Schritt dar, 5 da in der Folge davon der Ansicht Arthur Moeller-Brucks, für Poe sei die Welt »nichts als ein ästhetisches Phänomen« gewesen,6 bei der Textlektüre wieder verstärkt Rechung getragen wurde. Das Ziel, »[to] rediscover Poe the artist«, 7 stand und steht dabei i m Vordergrund, wobei immer wieder auf Poes Ausführungen zum Begriff der Schönheit 1 Vgl. The Letters of Edgar Allan Poe, 2 Bde., hg. John Ward Ostrom (Cambridge [Massachusetts] 1948), hier Bd. 1,258. 2 So z. B. W. H . Auden i n seiner Edition Edgar Allan Poe, Selected Prose , Poetry, and Eureka (San Francisco 1950), vii. 3

Vgl. Margaret J. Yonce, »The Spiritual Descent into the Maelström: A Dept to >The Rime of the Ancient MarinerA Descent into Maelstrom««, Poe Studies , 6,1 (1973), 2 2 - 2 5 ; Michael L. Burduck, Grim Phantasms.

Fear in Poe's Short Fiction (New York / London 1992), 78-83. 9

Sweeney, »Beauty and Truth«, 23.

10

I n der Rezension zu William Leete Stones Buch Ups and Downs in the life of a Distressed Gentleman k o m m t Poe direkt auf Burkes Ausführungen zu Pracht, Größe und

Schrecken zu sprechen [Complete Works of Edgar Allan Poe, 17 Bde., hg. James A. Harrison (New York 1902), hier Bd. 9, 31 (ab sofort w i r d diese Ausgabe mit der Sigle SW, gefolgt von Band- und Seitenangabe zitiert)]. Z u Spuren Burkes in den Erzählungen Poes vgl. u. a.: Kent Ljungquist, »Burke's Enquiry and the Aesthetics of >The Pit and the Pendulum A r t h u r Gordon PymHouse of UsherHinab in den MaelströmHinab in den MaelströmZuflucht< bei der Vernunft, die aufgrund ihrer Fähigkeit, Ideen zu evozieren, dieser Unermeßlichkeit ein »übersinnliches Substrat« ( K d U 93) unterlegt, mit der Konsequenz, daß der Mensch sich als ein Vernunftwesen entdeckt, welches sich keiner noch so gewaltigen Naturmacht beugen muß. Zwar gibt die N a t u r dem Menschen

17

Vgl. dazu: Clarence deWitt Thorpe, »Coleridge on the Sublime«, in: Earl Leslie

Griggs (Hg.), Wordsworth

and Coleridge, Studies in Honor of George McLean Harper

(New York 1962), 192-219. 18

Voller, »The Power of Terror«, 33 (Anm. 3).

19

Richard P. Benton, »Poes German and Germanism«, Poe Studies , 28,1 (1988), 2 1 24, hier 23. 20 Z u »A Descent« vgl. die, was Kant betrifft, nicht sehr weit reichenden Ausführungen von Kent Ljungquist, »Poe and the Sublime: His Two Short Sea Tales in the Context of an Aesthetic Tradition«, Criticism , 17,2 (1975), 131-151. Z u anderen Erzählungen vgl.: Glen A . Omans, »»Intellect, Taste, and the Moral Sensec Poe's Dept to Immanuel Kant«, Studies in the American Renaissance, 4 (1980), 123 - 1 6 8 ; Voller, »The Power of Terror«, a. a. O . 21

I m folgenden werden alle Zitate aus der Kritik der Urteilskraft i m Text selbst unter Angabe der Sigle K d U und der Paginierung der ersten Auflage (A, 1790) nachgewiesen. Es wurde folgende Ausgabe verwendet: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe, basierend auf dem 5., erneut überprüften Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1957 (Darmstadt 1983), Bd. 8, hier K d U 101.

Stürze in den Malstrom

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seine physische Ohnmacht zu erkennen, aber dieser entdeckt auch »ein Vermögen, [sich] als von ihr unabhängig zu beurteilen« ( K d U 103). I m Bewußtwerden seiner Vernunftkräfte gewinnt der Mensch also seine Freiheit zurück und w i r d sich ihr auf neue Weise bewußt. Kants Erhabenes ist von den Konzeptionen seiner Vorgänger insofern verschieden, daß es für ihn keine erhabenen Gegenstände gibt, sondern das, was man als >erhaben< bezeichnet, nur ein inneres Gefühl darstellt ( K d U 76). Außerdem darf seiner Meinung nach das erhabene Gefühl nur i n der »rohen Natur« ( K d U 88) gesucht werden und nicht, wie beispielsweise bei Burke, i n Werken der Kunst. Der Tradition entspricht er dagegen mit seinem Postulat, ein erhabenes Gefühl könne man nur dann empfinden, wenn eine sichernde Distanz zum erhabenen Gegenstand eingehalten werde ( K d U 103). Soweit die Grundgedanken der »Analytik des Erhabenen«. Betrachtet man die Rahmenhandlung der Erzählung »A Descent into the Maelström«, die einerseits aus dem Gespräch zwischen Fischer und Erzähler auf dem Heiseggen, andererseits aus den Reflexionen des Erzählers über den Malstrom besteht, 22 so läßt sich eine grundlegende Beobachtung machen: die Kantische Forderung nach sichernder Distanz zur übermächtigen Natur w i r d in der Rahmenhandlung nicht nur gewahrt, sondern geradezu inszeniert. 23 Dieses Verfahren Poes läßt sich i m einzelnen so beschreiben: I m zweiten Teil von »A Descent« erzählt der Fischer von seinem Sturz i n den Strudel, ist also i n der Rahmenhandlung der Gerettete, der sich i n Sicherheit befindet (1. Distanzierung). Er erzählt dem Erzähler seine Geschichte weiterhin auf einem Berggipfel, von dem aus man genau auf den Bereich des Meeres blicken kann, w o sich »once« 24 sein Sturz i n den Strudel ereignet hat. Der Gerettete erzählt seine

22

Die Bedeutung dieser Zweiteilung für die Erzählung w i r d nur von wenigen Inter-

preten thematisiert. So z. B. von Franz H. Link, Edgar Allan Poe. Ein Dichter zwischen Romantik und Moderne (Frankfurt a. M a i n / B o n n 1968), 292-298. 23 A n dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß das Verfahren der Distanzierung hier nur vor dem Hintergrund der Diskussion über das Erhabene betrachtet w i r d und nicht hinsichtlich der vielfältigen Authentifizierungsparadoxien in der amerikanischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise bei Washington Irving, Nathaniel Hawthorne oder Hermann Melville feststellbar sind [vgl. dazu: Bernd Engler, »The A r t of >De-MoralizingA Descent into the MaelströmErzählungErzählung< des Malstroms selbst, wie sie an anderer Stelle erzählt wird: bei Jonas Ramus (Natural History of Norway), in der Enzyclopaedia Britannica und bei Atanasius Kircher (581 ff.). Er bewertet das dort Gesagte und generiert damit eine weitere >ErzählungErzählung< der >Erzählungen< vom Malstrom (4. Distanzierung). N i m m t man dies alles zur Kenntnis, so kann gesagt werden, daß die Rahmenerzählung von »A Descent into the Maelström« offenbar wie ein >Rahmen< >funktioniertBildZögern< i m H i n b l i c k auf den Fischer durchaus ein: Ist seine Geschichte wirklich >wahr