Literatur und proletarische Kultur: Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert [Reprint 2021 ed.] 9783112479568, 9783112479551


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German Pages 396 Year 1984

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Literatur und proletarische Kultur: Beiträge zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert [Reprint 2021 ed.]
 9783112479568, 9783112479551

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Literatur und proletarische Kultur

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Literatur und proletarische Kultur Beiträge \ur Kulturgeschichte der deutseben Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert V o n einem Autorenkollektiv unter Leitung von. Dietrich Mühlberg und Rainer Rosenberg

Akademie-Verlag Berlin 1983

E r s c h i e n e n im A k a d e m i e - V e r l a g , D D R - 1086 Berlin, L e i p z i g e r Str. 3—4 © A k a d e m i e - V e r l a g Berlin 1983 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/180/83 P r i n t e d in the G e r m a n D e m o c r a t i c

Republic

G e s a m t h e r s t e l l u n g : I V / 2 / 1 4 V E B D r u c k e r e i » G o t t f r i e d W i l h e l m Leibniz«, 4450 G r ä f e n h a i n i c h e n • 6156 Lektor: Jutta Kolesnyk B e s t e l l n u m m e r : 754 136 5 (2150/81) • L S V 0284 D D R 14,50 M

Inhalt

Vorwort

7

Dietrich Mühlberg Literatur in der Arbeiterklassenkultur - Bemerkungen zu Ansätzen kulturhistorischer Forschung

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Kainer Rosenberg Die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft

45

Horst GroSchopp Die proletarische Klassenorganisation als Kommunikationsstruktur der deutschen Arbeiter vor 1914

75

Ingrid Pepperle Ideologische Auseinandersetzungen in der Literatur deutscher frühproletarischer Organisationen 1843 bis 1845 in der Schweiz

108

Werner Feudel Proletarische Presse und künstlerische Literatur während der Revolution von 1848/49

136

Tanja Bürgel Das Problem der Unterhaltungsliteratur in der deutschen Arbeiterpresse vor dem Sozialistengesetz

163

Gisela Jonas Zur internationalen Funktion des „Volksstaat". Dargestellt am Beispiel der ideologischen Auseinandersetzung mit Bakunin in der ersten Hälfte der siebziger Jahre

183

5

Anneliese Neef Sozialdemokratische Literatur zur Frauenfrage im Proletariat .

201

Horst W. Röhls Bebels literarischer Entwurf Zukunftsstaat

224

vom Wohnen und Siedeln im

Ludwig Martienssen E d w a r d Bellamys „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000" und die Folgen. Wertorientierungen der in Deutschland um 1900 verbreiteten utopischen Belletristik

243

Ursula Münchow Die Begründer des Marxismus und die deutsche Arbeiterautobiographie

268

Isolde Dietrich Überlegungen zur Rolle der Literatur in der Lebensweise großstädtischer Industriearbeiter in Deutschland um 1900

294

Franz Johannson Arbeiterlektüre und bibliothekarische Bemühungen vor 1900

310

Anmerkungen

333

Personenregister

386

Zu den Autoren

394

6

Vorwort

Dieser Studienband gibt keine geschlossene geschichtliche Darstellung der proletarischen Literatur oder der Arbeiterklassenkultur. In den vorgelegten Beiträgen zur Literatur- und Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterklasse werden verschiedene Momente und spezielle Verläufe der Klassengeschichte herausgegriffen, in denen Literatur eine Rolle spielte und an denen zugleich die Ausbildung einer selbständigen proletarischen Kultur im 19. Jahrhundert verdeutlicht werden kann. Die Wahl des Themas ist motiviert durch ein aktuelles kulturpolitisches Interesse an der Beziehung von Klassenkultur und Literatur in der sozialistischen Gesellschaft und vom Interesse, das in verschiedenen Phasen der Kulturgeschichte der Arbeiterklasse sich ändernde Verhältnis von Kultur und Literatur aufzudecken. Gegen eine stark literarisch zentrierte Auffassung von Kultur, die selbst Ausdruck des historischen Charakters der Kulturauffa&sung war und die die Bedeutung widerspiegelt, die das geschriebene und gedruckte W o r t in der Kulturgeschichte der Arbeiterklasse hatte und' hat, bewirkte der VIII. Parteitag der S E D eine kulturpolitische Gewichtsverlagerung, die auch kultur- und literaturwissenschaftlich zu Buche geschlagen is{. Anstelle reduzierter Kulturvorstellungen setzte sich ein „weiter" definierter Kulturbegriff durch, der das ganze Ensemble der sozialen Voraussetzungen individueller Entfaltung in der Gesellschaft und alle subjektiven Qualitäten der Menschen einbegriff. Das hatte Rückwirkungen auf das wissenschaftliche Bild von proletarischer Kultur. Sie wurde nun als Einheit von klassenspezifischen kulturellen Wertvorstellungen, von klasseneigener geistiger Produktion, von Kampfund Organisationskultur und proletarischer Lebensweise verstanden. In diesem kulturellen Modell wird Literatur funktional gesehen. Im Vordergrund steht dabei - und das ist der allgemeinen Forschungslage geschuldet - die Kampf- und Organisätionskultur der 7

Klasse. Doch das gemeinsame Anliegen der Autoren war es, zugleich die Verflechtungen von Literatur mit anderen Bereichen und Ebenen der Klassenkultur kenntlich zu machen. Darum wird auch in jenen Beiträgen, die Literaturkommunikation vor allem in ihrem organisationspolitischen Kontext betrachten, versucht, Zusammenhänge mit dem klasseneigenen System kultureller Wertvorstellungen, mit der besonderen geistigen Produktion der Klasse und mit der spezifisch proletarischen Lebensweise aufzudecken. Für perspektivische kulturelle Aussagen über das Verhältnis von Arbeiterklasse und Literatur ist dies insofern wichtig, als weitere Entwicklungen dieses Verhältnisses (faßt man diese nicht nur rein quantitativ auf) vor allem auf die Lebensweise der Arbeiterklasse zu beziehen wären. Breiter angelegte literatur- und kultursoziologische Untersuchungen zum Kunstverhalten von Klassen und Schichten in der DDR wurden notwendig und möglich. Gleichzeitig damit entstand Bedarf an kulturgeschichtlichen Darstellungen der Entwicklung der Arbeiterklasse, die den Vergleich einschließen mußten, wie sich Platz und Funktion der Literatur in den verschiedenen Phasen dieser Entwicklung wandelten. In diese wissenschaftlichen Bemühungen reiht sich der vorliegende Studienband ein. Die Analysen greifen, zurück bis zum politischen und kulturellen Konstituierungsprozeß der Klasse in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts und führen bis zur Epochenwende 1917. Sie erfassen unter verschiedenen Aspekten Phasen eines proletarischen Kulturbildungsprozesses, in dem sich auch literarische Bedürfnisse erweiterten und differenzierten. Ein Befund der Untersuchungen ist, daß sich am Ende des 19. Jahrhunderts, zumindest bei den Industriearbeitern der großen Städte, die Arbeiterklassenkultur voll ausgebildet hat. (So ist beispielsweise das Literaturverhalten von Arbeiterlesern um 1900 qualitativ ähnlich dem heutiger Leser aus der Arbeiterklasse.) Die literarische „Sonderkultur" der Arbeiterklasse, die vor dem ersten Weltkrieg eine eigene kunstliterarische Produktion hervorbringt, ordnet sich, entgegen den Diagnosen bürgerlicher Kulturund Sozialwissenschaftler, nicht in das System bürgerlicher Kultur ein, sondern auf neue Weise in den gesamtgesellschaftlichen Kulturund Literaturprozeß. Das sind jene durch Vergesellschaftung der Arbeit entstandenen Voraussetzungen, auf denen die sozialistische Kulturrevolution (Brechung des Bildungsprivilegs, Demokratisierung der Literatur usw.) unmittelbar aufbauen kann. Über die bisherigen Darstellungen des Verhältnisses von Arbeiter-

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klasse und Literatur im 19. Jahrhundert hinausgehend, die sich auf die literarische Produktion der Arbeiterklasse und auf die literaturund kulturtheoretischen Positionen und Debatten in der deutschen Sozialdemokratie konzentrierten, unternehmen die Autoren den Versuch, einen neuen Forschungsansatz für ihren Gegenstand fruchtbar zu machen. Dadurch konnte neues Material erschlossen bzw. bereits bekanntes neuartig dargestellt werden. Die Kooperation zwischen Literaturwissenschaftlern und Kulturtheoretikern erbrachte, über den unmittelbaren Gegenstand hinaus (und vielleicht an ihm das Bewußtsein dafür besonders schärfend), Diagnosen, Anregungen und Vorschläge für das allgemeine methodologische Problem einer Zusammenarbeit beider Wissenschaftsdisziplinen an einer kulturgeschichtlichen Darstellung. Die Betonung der kulturtheoretischen Bedeutung der „Lebensweise" sozialer Gruppen und Klassen bewirkte Anstrengungen in allen Gesellschaftswissenschaften, ihren Gegenstand zu erweitern und die jeweils besondere Aneignungs- und Produktionsweise in größerer Komplexität auf den Ges'ellschafts- und Geschichtsprozeß zu beziehen. Ihre wissenschaftlichen Positionen und Motive haben die Herausgeber in ihren einleitenden Beiträgen näher erläutert. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kulturtheoretikern und Literaturwissenschaftlern zustande kam, weil die disziplinären Forschungen zu diesem Gegenstand frühzeitig an einen Punkt gelangten, von dem aus sie ohne konkrete Auskünfte der jeweils anderen Disziplin nicht weitergeführt werden konnten. So haben die Literaturwissenschaftler den Kontakt mit den Kulturtheoretikern gesucht, als für die Weiterführung ihrer Arbeiten über die proletarische deutsche Literatur vor 1918 nicht nur empirische soziologische Daten, kulturgeschichtliches Faktenmaterial aus anderen Lebensbereichen, sondern auch ein bestimmter Stand der kulturtheoretischen Verallgemeinerung dieses Materials erforderlich wurde. Umgekehrt halfen die literaturwissenschaftlichen Arbeiten den K u l turhistorikern bei ihrem Versuch, eine systematische Vorstellung von der Kultur der Arbeiterklasse zu gewinnen. O b der aus dieser E r fahrung wechselseitiger Abhängigkeit entstandene gemeinsame Studienband den Nutzen der Kooperation erweist,- haben die Leser zu entscheiden. D i e Zusammenarbeit kam zustande, obwohl Wissenschaftssprache, Methoden und Diskussionsstand wechselseitig nicht geläufig waren. Ermunterungen zur Grenzüberschreitung haben sie erleichtert. Nicht

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verhohlen werden soll, daß beide Seiten dabei erst lernen mußten, die Forschungsziele der anderen Seite zu respektieren, einzusehen, daß der Zweck der Kooperation weder darin bestehen konnte, die Literaturgeschichte in der Kulturgeschichte aufzulösen, noch darin, der Kulturgeschichte die Wertkriterien der Literaturwissenschaft aufzudrängen. Dieser wechselseitige Lernprozeß hat die Autoren auch zu der Überzeugung geführt, daß es nicht angebracht wäre, die konzeptionellen Unterschiede in der Arbeit der Vertreter beider Disziplinen zu verwischen und unterschiedliche Wertungen, die den besonderen Aspekten der beiden Disziplinen geschuldet sind, auszugleichen. Obwohl diese Unterschiede also bestehen bleiben, glauben die Autoren dennoch, daß der Band sowohl einen Beitrag zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterklasse als auch zur Literaturgeschichte leistet. Eine kurze Übersicht über die vorgelegten Aufsätze soll das veranschaulichen und kenntlich machen, worin Autoren und Herausgeber jeweils den Beitrag zum gemeinsamen Anliegen erblikken. Dadurch soll zugleich der kulturhistorische Zusammenhang' nachgezeichnet werden, der in den punktuell ansetzenden Studien nicht in allgemeiner Form herzustellen war. Die historischen Beiträge setzen mit zwei Untersuchungen über den Beginn einer selbständigen proletarischen Kultur ein. Sie wurde anfangs zwar nur von lokalen Gruppen proletarischer Handwerker getragen, doch beginnt damit die eigentliche Geschichte der Arbeiterklassenkultur. Seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gibt es einen selbständigen kulturellen Traditionszusammenhang der deutschen Arbeiterklasse, der bis in die sozialistische Kultur der Gegenwart reicht. Innere Rückschläge, ideologische Einflüsse und gewaltsame Eingriffe des Klassengegners konnten diesen Kulturbildungsprozeß von nun an nicht mehr aufhalten. Ingrid Pepperle untersucht die bisher kaum beachtete Spätphase der deutschen frühproletarischen Organisationen in der Schweiz und zeigt den Zusammenhang von politisch-ideologischem Konstituierungsprozeß der Klasse und dem planmäßigen Aufbau eines kulturellen Kommunikationssystems. An kleinbürgerlich-demokratischen Vorbildern orientiert, schufen die deutschen Arbeiter mit ihren Vereinen eine proletarische Öffentlichkeit, durch die politisches und soziales Wissen vermittelt wurde und die ihnen Geselligkeit und Solidarisierung ermöglichte. Die Bildung und das Leben dieser Organisationen waren durch das Bedürfnis der Arbeiter nach Verständigung über ihre gesellschaftliche Stellung mitbestimmt. Austausch und Aufklä10

rung bedienten sich dabei auch der unterschiedlichen literarischen Genres und brachten vielfältige Publikationsformer hervor. Die literarischen Produktionen waren dabei kollektiven Charakters - sowohl ihrem Gehalte nach (als Resultate gemeinsamer Beratungen) als auch in ihrer Materialität (mußte doch das Geld für den Druck aufgebracht und Vertrieb wie Anwendung von der Organisation getragen werden). Von außen erzwangen politische Repressalien und die Gesetze des kapitalistischen Literaturmarktes die Ausbildung eines eigenen, eng an die Klassenorganisation gebundenen Kommunikationssystems. Wenn innerhalb dieser Organisation aus der Einsicht in die Besonderheiten der gemeinsamen Lebensverhältnisse die Verpflichtung zu selbständiger politischer Aktion abgeleitet wurde und die Debatten über eine von Arbeiterinteressen geprägte Gesellschaftsform einsetzten, so signalisiert dies den Beginn auch der kulturellen Selbständigkeit des Proletariats. Es spricht für die Potenz dieser frühen kollektiven proletarischen Kulturform, daß die von den vorindustriellen Arbeitern in ihrer Literatur diskutierten Fragen auf der Höhe der Probleme lagen, die zur selben Zeit auch Marx und Engels bei der Ausarbeitung ihrer Gesellschaftstheorie bewegt haben. Der Aufsatz von Werner Feudel über die proletarische Presse in den Revolutionsjahren 1848/49 belegt, daß sich proletarische Organisation und Kultur vor der Revolution nur außerhalb Deutschlands ausbilden konnten. Nachgewiesene Ansätze eigener literarischer Kommunikation hatten sich unter deutschen Bedingungen zuvor nicht halten können. Nun aber wurden an vielen Orten von Arbeitern eigene Zeitungen herausgegeben, die die Arbeiterinteressen vertraten, ganz auf die Bedürfnisse ihrer Vereine zugeschnitten waren und die Arbeitersprache benutzten. Auch die dabei verwendeten kunstliterarischen Mittel waren darauf abgestimmt. Werner Feudel kann die kulturelle Potenz der frühen Arbeiterbewegung deutlich machen, indem er Belege dafür liefert, daß deren literarisches Kommunikationssystem sowohl die von Marx und Engels (über die Neue Rheinische Zeitung) ausgehenden Impulse umzusetzen verstand, als auch die übernommenen bürgerlichen Mittel der eigenen Wirkungsstrategie zu unterwerfen vermochte. Das Scheitern der Revolution, das Verbot der Arbeitervereine und ihrer Presseorgane konnten diese bedeutsamen Ansätze der Arbeiterklassenkultur zwar vorerst niederhalten, doch nicht dauerhaft. Schon ein Jahrzehnt später setzte der proletarische Organisationsprozeß er11

neut ein. Es entstand eine nationale Arbeiterbewegung, und mit ihr bis zur Jahrhundertwende eine durch das industrielle Proletariat geprägte Kultur. Dieser Abschnitt der Kulturgeschichte wird von den folgenden Studien behandelt. Bereits ein Vierteljahrhundert nach der gewaltsamen Unterdrükkung proletarischer Organisationen und ihrer Presse waren Kultur und Literaturkommunikation von ganz anderer Qualität. Die Studie von Gisela Jonas macht an national wie international bedeutsamen propagandistischen Leistungen des Volksstaat deutlich, welche kulturelle Höhe die deutsche Arbeiterbewegung zu Beginn der siebziger Jahre bereits erreicht hatte. Die deutsche Arbeiterpartei stützte sich zu dieser Zeit zunehmend auf das industrielle Proletariat. Sie konnte darum in der von Marx und Engels geführten Auseinandersetzung mit dem kleinbürgerlich-vorindustriellen Anarchismus Bakunins nicht nur eine historisch überlegene Position einnehmen, sondern sie verfügte mit ihrer Presse bereits über ein kommunikatives Instrument von internationalem Einfluß. In ihrer Betrachtung zur frühen Prosaliteratur der deutschen Arbeiterbewegung zeigt Tanja Bürgel, auf welche Weise mit dem literarischen Kommunikationssystem der Arbeiterklasse auf die wachsenden Entspannungs- und Unterhaltungsbedürfnisse wie auf die bürgerliche und proletarische Trivialliteratur reagiert worden ist. Die Arbeiterbewegung hielt in dieser neuartigen kulturellen Situation an der agitatorischen und bildenden Aufgabe ihrer Presse fest und brachte eine politisch motivierte Gebrauchsliteratur hervor. Sie war als Massenliteratur konzipiert, die über die Zeitungen, Unterhaltungsblätter und Kalender der Arbeiterbewegung ein breites Publikum erreichte. Auf andere Seiten der geistigen Produktion als Teil der proletarischen Klassenkultur gehen die Beiträge von Anneliese Neef und Horst Röhls ein. Anneliese Neef verfolgt den Wandel der Lebensbedingungen der Proletarierfrauen, zeigt die Reaktionen der Arbeiter und der Arbeiterbewegung darauf und erläutert, welche Rolle Literatur bei der Ausbildung entsprechender kultureller Wertvorstellungen und einer Kulturpolitik spielte, die den Proletarierfrauen den Zugang zur Klassenorganisation und zur Literaturkommunikation eröffnete. Sie macht darauf aufmerksam, daß die Literaturdebatten der alten Sozialdemokratie kaum richtig interpretiert werden können, wenn sie nicht auch im Zusammenhang mit der „Frauenfrage" gesehen werden. An der Entstehung,, einer sozialistischen Literatur über Frauen und für Frauen, die der bürgerlichen Frauenliteratur alternativ gegenüber12

steht, wird das geistige Vermögen der Arbeiterbewegung nachgewiesen: Geleitet von den marxistischen Grundsätzen wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse, gelang es, für alle Seiten dieses universellen Problems - von dem Arbeiterleben wie Arbeiterorganisation gleichermaßen berührt werden - gültige Lösungen auszuarbeiten. Von ähnlicher Komplexität sind die Probleme, die mit dem Wohnen und Siedeln unter kapitalistischen Verhältnissen wie im „Zukunftsstaat" aufgeworfen sind. Ihrer zunächst literarischen Bewältigung geht der Beitrag von Horst Röhls nach. E r beschreibt den Kontext, in dem das kulturgeschichtliche Gesellschaftsbild steht, das August Bebel in seinem erfolgreichen Hauptwerk gezeichnet hat. Die besondere literarische Form, die Bebel für Die Frau und der Sozialismus gefunden hat, kann als typisch für jene Phase der Arbeiterbewegung gelten, in der ihr rasches Wachstum eine bestimmte Weise der Marxismus-Propaganda verlangte. Sie mußte den stürmischen industriellen und wissenschaftlich-technischen Aufschwung des kapitalistischen Deutschlands ebenso berücksichtigen wie das dadurch stark gestiegene Anspruchsniveau der Arbeiter. An der Spezialfrage „Wohnen und Siedeln" kann gezeigt werden, daß in den literarischen Debatten mit bürgerlichen Konservativen urd Reformen das Mitreden in gesellschaftsstrategischen Fragen gelernt wurde und dabei die marxistische Fundierung der sozialdemokratischen Vorstellungen ein nationales Landeskultur-Programm auszuarbeiten ermöglichte. Von der proletarischen Lebensweise her gehen die beiden folgenden Beiträge auf das Verhältnis der Arbeiter zur Literatur ein. Dabei führen Unterschiede in der Betrachtungsweise auch zu unterschiedlichen Befunden, die aber einander ergänzen. Ursula Münchow stützt sich auf ihre langjährigen Forschungen zur Literaturproduktion von Arbeitern. Ihr Ausgangspunkt ist hier das Interesse, das Karl Marx an der Beschreibung von Lage und Lebensweise der Arbeiter durch die Arbeiter selbst mehrfach (aber vergebens) bekundet hat. Die um 1900 einsetzende Niederschrift und Publikation autobiographischer Literatur von Arbeitern wird nun vom Anliegen wie vom Gehalt als indirekte Antwort auf die Fragen von Karl Marx gesehen. An der Lebensdarstellung von Moritz Bromme wird dies exemplarisch vorgeführt. Neben dem relativ hohen Bildungsgrad der deutschen Arbeiter erweisen sich für den Weg vom lesenden zum schreibenden Arbeiter dabei Anregungen und Aufträge der Klassenorganisation als wesentlich: Begabte Arbeiter, die sich in der Sozialdemokratie zusätzliche Kenntnisse erworben haben, werden zu Mitarbeitern und Redakteu13

ren der Parteipresse und treten neben Spezialisten aus dem bürgerlichen Lager. Lesen und Literaturproduktion von Arbeitern können so als ein Merkmal erreichter kultureller Höhe der Arbeiterklasse bestimmt werden. Isolde Dietrich problematisiert in ihrem Beitrag die aus der industriellen Arbeit folgenden Reproduktionserfordernisse in ihren Wirkungen auf Lebensweise und aneignendes Verhalten. Sie kommt zu dem Schluß, daß Arbeiter über ihre Klassenorganisation eine reich differenzierte literarische Kommunikation als Initiatoren und Auftraggeber in Gang setzen (und sie selbst prinzipiell auch in diesem Bereich der geistigen Produktion aktiv werden können), daß im alltäglichen Leben aber das Lesen literatursprachlich abgefaßter Literatur beinahe ebenso eine Ausnahme ist wie das Verfassen von Kunstliteratur. Der Beitrag enthält die Aufforderung, dem kollektiven wie individuellen Schöpfertum in der industriellen Arbeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken (um so Einseitigkeiten in der Auffassung von geistiger Produktivität, von Kultur und Kulturhöhe der Proletarier zu überwinden), und erinnert daran, daß bisher weder die alltägliche Lektüre noch deren Funktion in der Lebensweise von Arbeitern erforscht worden sind. Ludwig Martienssen kann an einem Werk der massenhaft verbreiteten Belletristik (es erreichte auch gebildete Arbeiterleser) Wechselbeziehungen und Entgegensetzungen von bürgerlicher und proletarischer Kultur aufdecken. Unter dem Einfluß der starken sozialistischen Bewegung hatte der Amerikaner Edward Belfamy eine bürgerliche sozialistische Utopie entworfen, die von der deutschen Sozialdemokratie durch Übersetzung, Verbreitung, Rezeption und kritische Interpretation in die klasseneigene Kommunikation einbezogen worden ist. Mit der Durchsetzung des wissenschaftlichen Sozialismus in der deutschen Arbeiterbewegung (Bebels Frau und der Sozialismus und das Erfurter Programm können dafür stehen) hatte die Klassenkultur eine Höhe erreicht, die sie zu solch bewußter Integration befähigte in der Führung der deutschen Sozialdemokratie ebenso wie beim Arbeiterleser. Die intensive Reaktion des Klassengegners mit antisozialistischen Gegenutopien zeigte an, daß auch die Bourgeoisie die Arbeiterklassenkultur als „zweite Kultur" mit nationalem Anspruch aufzufassen begonnen hatte. Neben sozialpolitischen Gegenmaßnahmen setzte um diese Zeit auch eine umfangreiche antisozialistische Kulturpolitik ein. Franz Johannson veranschaulicht dies am bibliothekarischen „Kampf 14

um den Arbeiterleser". An Aufschwung und Wandel der Arbeiterbibliotheken kann er nachweisen, wie das kulturelle Kommunikationssystem der Arbeiterklasse auf die Bedürfnisse der Organisation (Bibliothek als „Rüstkammer" des Propagandisten und Agitators) und der Arbeiterleser (beginnende massenhafte Aneignung von berufs-, allgemeinbildender und unterhaltender Lesestoffe) schnell zu reagieren vermochte und ein Bibliothekswesen hervorgebracht hat, das der volksbibliothekarischen Fürsorge überlegen war. An den nach dem Fall des Sozialistengesetzes beginnenden kulturpolitischen „Regulierungsversuchen" der Bourgeoisie (Nörrenbergs „Bücherhallenbewegung") ist zu erkennen, mit welcher subjektiven Kultur des potentiellen Arbeiterlesers und mit welcher kulturellen K r a f t der Arbeiterorganisationen die Politiker und Kulturfunktionäre des Kapitals bereits rechneten. Dementsprechend stellt der Beitrag von Horst Groschopp die durch die Arbeiterorganisation ausgebildeten kommunikativen Beziehungen als Teil proletarischer Klassenkultur dar. E r geht den sozialökonomischen Antrieben des Organisationsverhaltens nach, zeichnet die Stadien der Entfaltung des Organisationsgedankens nach und versucht, Organisation generell als Austausch- und Speicherapparat, als System kultureller Kommunikation zu fassen. Im geschichtlichen Organisationsprozeß wurden die tradierten Organisationsformen verarbeitet und ein dem bürgerlichen entgegengesetztes System kultureller Kommunikation geschaffen. In ihm wurden alle Informationsträger genutzt. Die übernommenen Formen und Muster erhielten in diesem Zusammenhang eine neue Funktion und Bedeutung. Folgerichtig entstanden dabei eine klasseneigene Kulturpolitik und Kulturarbeit als bewußte " Seite des Selektions- und Aneignungsprozesses. Darum wird die organisierende Rolle auch aller Formen der Literatur als deren wesentliche Funktion innerhalb der Arbeiterkommunikation angesehen und zu deren näherer kulturgeschichtlicher Untersuchung aufgefordert. Bei der Behandlung ihres speziellen Gegenstandes galt die Aufmerksamkeit aller Autoren der historischen Dialektik von objektiver sozialökonomischer Determination und subjektiver Entfaltung der Klasse. Soweit das möglich war, wurden darum die kulturellen Schöpfungen und Adaptionen der Arbeiter wie die ihrer Bewegung auf die objektive Logik der Klassengeschichte zurückgeführt. Zugleich sollten die Klassenkultur und jedes ihrer Elemente als kollektive schöpferische Reaktion auf die vom Kapital beherrschten ökono15

mischen, politischen und kulturellen Verhältnisse dargestellt werden. D a r u m wurden die literatur- und kulturhistorischen Kriterien, an denen die kulturellen Verhaltensweisen und Bildungen (Objektivationen) zu messen waren, aus der Entwicklungsgeschichte der Klasse abgeleitet. Zugleich wird durch jeden der Beiträge des Bandes auf eine andere W e i s e deutlich gemacht, welche große Rolle der Marxismus für die B i l d u n g der proletarischen Kultur und ihre weitere Entwicklung besaß. An vielen Stellen w i r d der E i n f l u ß gezeigt, den M a r x und Engels auf die kulturelle Kommunikation der Arbeiterklasse - besonders in der Literatur und vermittelt über die Literatur - ausgeübt haben. Die Autoren sehen darin Hinweise auf die historische W i r k s a m k e i t von Karl Marx, dessen Todestag sich 1983 zum hundertsten M a l e jährte. Seinem wissenschaftlichen und politischen Vermächtnis auch mit diesen Beiträgen gerecht zu werden w a r ihr Bemühen. Dietrich Mühlberg Rainer Rosenberg

Dietrich Mühlberg

Literatur in der Arbeiterklassenkultur Bemerkungen zu Ansätzen kulturhistorischer Forschung

In den marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften ist es zwar geläufig, von der Kultur herrschender Klassen zu sprechen, unüblich jedoch, von einer Klassenkultur der Arbeiter. Der Antagonist bürgerlicher Kultur wird vorzüglich „zweite Kultur" oder „sozialistische Kultur" genannt. Das macht es erforderlich, die Behandlung von Literatur als Teil proletarischer Klassenkultur näher zu erläutern und zu fragen, ob sich tatsächlich eine „Kultur der Arbeiterklasse" nachweisen läßt, ob der Begriff „Klassenkultur der Arbeiter" sinnvoll ist und auch, welche Beziehungsfelder er abbildet. Gleichfalls fragwürdig ist der Begriff von Literatur, mit dem operiert wird, wenn das Literarische in den Strukturen von Arbeiterklassenkultur aufgesucht wird. Literatur wird so als Vorgang und Form eines spezifischen Kulturbildungsprozesses verstanden und an seinen Kriterien gemessen. Das ist nicht unproblematisch, denn der Literaturbegriff gehört seiner Genesis nach zur Emanzipations- und Herrschaftsideologie der Bourgeoisie, also der des Klassengegners. Es wäre aber auch nach den Motiven einer solchen Betrachtungsweise zu fragen. Was kartn Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker gleichermaßen veranlassen, darin eine aktuelle wissenschaftliche Aufgabe zu sehen und speziell den Beziehungen von Literatur und Klassenkultur der deutschen Arbeiter im 19. Jahrhundert nachzugehen? Historische Forschungen bedürfen keiner Legitimation; Vvenn hier dennoch Motive erläutert werden, so geschieht das, weil die Problemlage, auf die reagiert wird, selbst zur Kulturgeschichte der Arbeiterklasse gehört. D i e Bestimmung des eigenen Standorts in der gegenwärtigen kulturpolitischen und wissenschaftlichen Situation zählt zu den inneren Voraussetzungen kulturgeschichtlicher Forschung.

2

Proletarische K u l t u r

17

Z» kulturpolitischen

Motiven kulturhistorischer

Forschungsarbeit

Obwohl von der kulturhistorischen Forschung keine unmittelbar anwendbaren Ergebnisse zu erwarten sind, ist das Erkenntnisinteresse doch aktuell kulturpolitisch motiviert. Wendet man sich der Kulturgeschichte der Arbeiterklasse zu, so bezieht man auch in der Diskussion über den Klassencharakter der sozialistischen Kultur eine bestimmte Position. Man greift also in eine Debatte ein, die seit Beginn der sozialistischen Kulturrevolution in der DDR geführt wird und in der auch immer über die Funktion der Literatur in der sozialistischen Gesellschaft verhandelt worden ist. Die Frage nach der Klassenkulti^r der Arbeiter berührt eine der zentralen kulturellen Fragen, zu deren Beantwortung letztlich alle kulturwissenschaftliche Forschung beiträgt. Es geht um die kulturelle Perspektive der sozialistischen Gesellschaft, um die Ziele und Maßstäbe der Kulturrevolution. Aus diesem Grunde soll zunächst daran erinnert werden, in welchem kulturpolitischen Kontext die Beziehung von Arbeiterklasse und Literatur in den letzten Jahrzehnten stand und diskutiert worden ist. Der hier behauptete Gegenwartsbezug unserer kultur- und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen hängt mit dem spezifischen Klassencharakter der sozialistischen Gesellschaft zusammen. In ihr übt auf der Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse die Arbeiterklasse (im Bündnis mit anderen werktätigen Gruppen) die politische Macht aus, und als allgemeines Prinzip herrscht - wie 1871 von Marx vorausgesehen - die Arbeit. 1 Damit sind die grundlegenden Merkmale der nachkapitalistischen Stadien der Klassengeschichte umrissen. Jede dieser Phasen zeichnet sich durch einen besonderen Entwicklungsgrad der Klassenorganisation ebenso aus wie durch eine spezifische Lage und Stellung der Angehörigen dieser Klasse in der Gesellschaft. Beidem entspricht ein bestimmter kultureller Zustand der Arbeiterklasse, eine Entwicklungsstufe ihrer Kultur. Für historisch-materialistische Gesellschaftswissenschaften ist es evidentj daß die Kriterien einer jeden Phase der Klassenentwicklung - also auch die kulturellen Merkmale der gegenwärtigen - nur dann wissenschaftlich erschlossen werden können, wenn der jeweils untersuchte Zustand stadial aufgefaßt wird. Er ist also auf die vorhergehenden Phasen der Klassengeschichte zu beziehen, also zurückzuverfolgen bis auf die ökonomische^ politisch-ideologische und kulturelle Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert. Die Absicht vergleichender Betrachtung kultureller Entwicklungs18

Stadien ist es, den allgemeinen wie den jeweils spezifischen Gebrauch aufzuklären, den die Arbeiterklasse von historisch vorgeprägten und übernommenen wie von neu geschaffenen Aneignungsweisen macht. Darunter verdienen jene vorwiegend geistig-kommunikativen Formen besondere Aufmerksamkeit, die komplex mit dem Begriff „Literatur" zusammengefaßt werden. Dies schon deshalb, weil es zu den Besonderheiten des Proletariats gegenüber den anderen werktätigen Klassen der Geschichte gehört, daß Literatur am Anfang das bevorzugte geistige Mittel der politisch-ideologischen Klassenkonstituierung war. Durch die historische Darstellung kann verdeutlicht werden, daß die Probleme der heutigen kulturellen Entwicklungsphase nur besondere Momente eines allgemeineren Vorgangs sind: der Nutzung von Aneignungsweisen - eingeschlossen jener, die durch Literatur gegeben sind - beim Ausbilden sowohl der kollektiven Subjektivität der Arbeiterklasse als auch der individuellen Subjektivität der Menschen, die die jeweilige Arbeitergeneration bilden. Gerade darin besteht das Wachstum von Klassenkultur, daß in geschichtlicher Kontinuität eine dialektische Einheit von kollektiver und individueller Subjektivität aufgebaut und deren relative Stabilität durch ein System von Objektivationen abgesichert wird. Die Forschungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen liefern seit mehr als hundert Jahren Informationen über den Zusammenhang von Literatur und Arbeiterbewegung und haben - wenngleich über viele Jahrzehnte mit stark abnehmender Tendenz - auch einige Beziehungen zwischen Literatur und Arbeiterleben beleuchtet. Überwiegend wurde freilich aus bürgerlicher Perspektive auf die Arbeiter geblickt, in ihnen keine Klasse im marxistischen Sinne gesehen, und so lag auch der Gedanke völlig fern, in ihr eine selbständige kulturelle Kraft zu vermuten. Die marxistische Forschung zum Gegenstand war vor dem Aufbau des Sozialismus in der D D R zwar durch Methode und Sinn für die historische Perspektive der Klasse bürgerlicher Wissenschaft überlegen, doch blieb sie rein quantitativ aussichtslos hinter ihr zurück. Darum konnte bislang auch die Idee noch nicht verwirklicht werden, für die Stadien der Klassengeschichte den Stellenwert und die Leistung von Literatur im jeweilig ausgebildeten Ensemble von Aneignungsweisen zu untersuchen und kulturgeschichtlich darzustellen. Auch für die Arbeiterklasse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft verfügen wir nur über erste Ansätze zu einer solchen Darstellung. Man mag über solchen Mangel erstaunt sein, hätte aber zu be2*

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denken, daß auch in diesem Falle die tatsächliche soziale Entfaltung des Problems dem wissenschaftlichen Problembewußtsein vorausgehen muß. Inzwischen aber kann zurückgegriffen werden auf umfangreiche und differenzierte Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Unterdessen hat eine ganze Reihe von Literaturwissenschaftlern sich mit dem Erbe der deutschen sozialistischen Literatur erfolgreich beschäftigt. Die durch die Berührung dieser Forschungen 2 * zustande gekommenen Erkenntnisse über die Rolle der Literatur in der deutschen Arbeiterbewegung bilden wertvolle Bausteine für die Kulturgeschichte der Klasse. Aber viele Seiten des sozialen Gebrauchs von Literatur sind noch nicht näher untersucht worden. So mangelt es vor allem an marxistischen Forschungen über die Funktionen von Literatur im Leben der Arbeiter und anderer sozialer Gruppen. Schon darum besteht vorerst noch keine rechte Chance, daß die Funktion der Literatur in den einzelnen Stadien der Klassenentwicklung einigermaßen genau bestimmt werden kann. D a bei ist hinsichtlich der literarischen Aneignungsweisen die Forschungslage noch am günstigsten. Über die Funktionen anderer - künstlerischer wie nichtkünstlerischer - Arten und Formen in der Klassengeschichte liegt auch nicht annähernd so viel Material vor. D a s mag den Versuch erleichtern, von der Literatur her auf den Prozeß der Klassenkultur zu blicken. Bei einem solchen Verfahren ist es unerläßlich, sich der Historizität des eigenen .Ansatzes zu vergewissern. Dabei können wir nicht außer acht lassen, daß unsere Vorstellungen in starkem Maße durch das Bild bestimmt werden, das wir von der Wirksamkeit der Literatur in der sozialistischen Kulturrevolution haben. Dieses Bild ist nicht einheitlich. Seitdem in der antifaschistisch-demokratischen Phase die Werke bürgerlicher und sozialistischer Autoren eine starke Wirkung im ideologischen Umerziehungsprozeß hatten, war die überragende Bedeutung der Literatur für die Entwicklung der sozialistischen Kultur nie in Zweifel gezogen worden, wenn auch ihr Gewicht dabei recht unterschiedlich veranschlagt wurde. Durchgesetzt hat sich zunächst eine Auffassung, die von der Literatur den bestimmenden Beitrag zur revolutionären Schöpfung sozialistischer Kultur erwartete. Wohl sprach Walter Ulbricht im Rückblick auf die Ergebnisse der Bitterfelder Konferenz 1959 von der „hohen Kultur, sozialistisch zu * Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, werden durch einen Stern gekennzeichnet.

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arbeiten, zu lernen und zu leben", doch der wichtigste kulturelle Erfolg wurde von ihm darin gesehen, „daß die allseitig verstandene Aufforderung .Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalliteratur braucht dich!' und die Bestrebungen, sich mit den wertvollsten Schätzen unserer Kunst und Literatur vertraut zu machen, als zwei einander bedingende Seiten unserer sozialistischen Kulturrevolution" 3 erkannt worden seien. Auf die Ursachen dieser erstaunlich hohen Wertschätzung vornehmlich der künstlerischen Literatur muß näher eingegangen werden. Engte diese Bevorzugung auch nur für kurze Zeit das kulturpolitische Konzept ein, 4 so wirken doch die damals gesetzten Positionen bis heute nach und beeinflussen noch immer kulturelle Werturteile. Es liegt auf der Hand, daß diese Kulturauffassung durch frühere kulturelle Erfahrungen der Arbeiterbewegung abgestützt war. Zugleich spiegelt sie Erfordernisse der Anfangsphase der neuen Gesellschaftsordnung wider. Analogien zur frühen Phase bürgerlicher Gesellschafts- und Kulturentwicklung sind nicht zu übersehen. Auch in den Anfängen des Kapitalismus hatte das kulturelle Selbstbewußtsein didaktisch-aufklärerische Züge, und in der ästhetischen Kommunikation domihierten die von der Literatur getragenen weltanschaulichen, politischen und moralischen Botschaften. 5 * So muß die literaturzentrierte Kulturauffassung als typisch für das damalige Stadium der Arbeiterklassenkultur angesehen werden, rang doch die Klassenorganisation darum, in möglichst kurzer Zeit die Fähigkeit zu planmäßiger Gestaltung aller Seiten des Gesellschaftsprozesses zu erwerben. Dies verlangte vor allem Einsichten in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und in die Konstellationen des politischen Kampfes. Gefordert waren also subjektive Qualitäten, die vornehmlich in literarischer Form erworben und vermittelt werden mußten. Für das kulturelle Niveau der Arbeiter konnte das nur heißen, daß die „Selbstverwirklichung des Menschen" als Ergebnis hoher Bildung und dauernden Umgangs mit Kunst - voran mit Literatur - angestrebt wurde." Die mit diesen Vorstellungen verbundene Favorisierung künstlerischer Literatur kann an vielen kulturellen Ereignissen und Abläufen der ersten beiden Jahrzehnte der DDR-Geschichte abgelesen werden. 7 * Gehen nach, so fünfziger schlossen

wir den sozialen Ursachen dieser Auffassung von Kultur muß zunächst daran erinnert werden, daß am Ende der Jahre der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus abgewar und nun „die allseitige Ausprägung der sozialistischen 21

Kultur und Lebensweise auf den dem Sozialismus eigenen sozialökonomischen Grundlagen" 8 begonnen hatte. Die allgemeinen Merkmale dieser neuen Phase der Gesellschaftsentwicklung waren damals wissenschaftlich keineswegs hinreichend geklärt, zwischen den kommunistischen Parteien sozialistischer Länder fand darüber ein intensiver Austausch statt. Zu den dabei aufgeworfenen strategischen Problemen gehörte die Überwindung von sozialen Unterschieden zwischen den Angehörigen der verschiedenen Klassen und Schichten, wie sie aus der kapitalistischen Gesellschaft überkommen waren. Es galt Lösungen zu finden, wie die Arbeiterklasse als produktiv tätige und machtausübende Klasse zugleich kulturell führend sein konnte. Die Distanz zwischen Arbeitern und den spezialisiert tätigen geistigen Produzenten, der Intelligenz, wurde ausgemessen. In der Hinwendung der Künstler „zum Volke" einerseits und in dem wachsenden Interesse der Arbeiter für die Künste andererseits wurde der W e g zur Aufhebung des Gegensatzes von körperlicher und geistiger Arbeit gesehen. Hans Koch hatte 1959 in einem prägnanten Aufsatz die grundsätzliche Bedeutung dieses Vorgangs erläutert: Es „drückt dieses gemeinsame schöpferische Wirken aus, daß hier ein Prozeß beginnt, in dem diese beiden Gesellschaftsschichten allmählich aufhören, die Trennung und den wesentlichen Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zu repräsentieren, der durch die ganze Entwicklung der Klassengesellschaft hervorgebracht worden ist" 9 . Der Enthusiasmus dieser Aufbauphase hat dazu beigetragen, d a ß angesichts der sich abzeichnenden Entwicklungschancen der Literatur auch deren Möglichkeiten als Medium kulturrevolutionärer Veränderungen überzeichnet worden sind. Sicher ist die Feststellung von Koch durch die weitere Entwicklung bestätigt worden, der mit dem Hinweis auf die Traditionslinie der schreibenden Arbeiter im Kapitalismus zugleich das qualitativ Neuartige literarischer Betätigung von Arbeitern im Sozialismus kenntlich machte: Nun „konnte die Bewegung des .schreibenden Arbeiters' zu e i n e r (Hervorhebung D . M.) Keimform der Überwindung des Gegensatzes und grundlegenden Unterschieds zwischen körperlicher und geistiger Arbeit werden". 1 0 Doch nicht in gleichem Maße konnte sich die E r w a r t u n g erfüllen, d a ß der Übergang zu einer (auch damals durchaus weit gefaßten) literarischen Aktivität der Arbeiter den Kernprozeß der sozialistischen Kulturrevolution ausmachen werde. 1 1 * Die Kulturhöhe der Arbeiter im Sozialismus sollte daran gemessen werden, wie weit 22

diese über das Lesen guter Literatur schon hinausgekommen und zu eigener literarischer Produktion übergegangen wären (und „nicht mehr das Skatspielen in einer kleinen, engen Kneipe . . . im Vordergrund" 1 2 stehe). Diese Hoffnungen der Anfangsperiode sozialistischer Kulturrevolution sind von außerordentlichem kulturhistorischem Interesse, erhellen sie doch den politischen, ökonomischen und ideologischen Kontext, in dem die kulturellen Strategien und Idealvorstellungen der Arbeiterbewegung aktuell - wie historisch - stehen. Beachtet man diesen Zusammenhang nicht, könnte man zu rein erkenntnisgeschichtlichen Urteilen über aufgehobene oder nur überwundene Standpunkte kommen. Wir aber haben zu bedenken, daß die Erwartungen in die umgestaltende Kraft der literarischen Betätigung von Arbeitern zu einer Zeit ausgesprochen worden sind, da über die Rolle der Produktivkräfte in der Geschichte wie im Sozialismus gerade die ersten Diskussionen aufkamen. Das Nachdenken darüber, ob es eine wissenschaftlich-technische Revolution geben könne, begann einige Jahre später. 1 3 * Eben erst hatte die Praxis Probleme sozialstruktureller Entwicklung im Sozialismus aufgeworfen, und es lag nahe, das Konzept von der Hebung des kulturell-technischen Niveaus der Arbeiter anzuwenden. Darum wurden generell von der sozialistischen Kulturarbeit noch Ergebnisse erwartet, die wenige Jahre später als angestrebte Folge einer tiefgreifenden Umgestaltung a l l e r Arbeits- und Lebensbedingungen begriffen worden sind. Einstweilen jedoch wurde in ideologischen Veränderungen und in der Hebung des Bildungsniveaus der entscheidende Vorgang bei der Annäherung der Klassen und Schichten gesehen. Schon darum war die Hinwendung speziell zur künstlerisch-literarischen Betätigung kulturpolitisch ganz logisch, denn alle anderen bildenden Tätigkeiten des Arbeiters heben ja tendenziell sein Arbeiterdasein auf: E r wird durch sie Spezialist für eine arbeitsteilige geistige Arbeit (politischer oder ökonomischer Leiter, Ingenieur, Wissenschaftler); gerade über dieses Problem ist am Verhältnis zwischen Schriftsteller und schreibendem Arbeiter heftig debattiert worden. Zugleich müssen wir uns vergewissern, daß — notwendiger Ausdruck eines ökonomischen Entwicklungsstandes Freizeit und vielfältige Freizeitbetätigun'gen im Sozialismus damals noch gar nicht wahrgenommen worden waren; 1 4 * die bald eintretende Besetzung des größeren Teils der freien Zeit durch das Fernsehen wurde noch nicht vermutet, obwohl sich dies als Trend international bereits abzeichnete. Bedenkt man dann noch die gegebenen

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materiellen Voraussetzungen für kulturelle Betätigung, so ist es wohl beinahe selbstverständlich, daß damals ganz allgemein das Lesen guter Literatur wie auch das Schreiben als die allen zugänglichen und zugleich als die wohl höchsten Formen freier Betätigung der geistigen Kräfte des Menschen angesehen werden mußten. Mindestens ebenso stark, wie die aktuelle Situation das kulturpolitische Konzept bestimmte, wirkten in ihm die kulturellen Traditionen der Arbeiterbewegung. Unschwer ist im Betonen der Literatur eine wichtige Erfahrung der Arbeiterbewegung wiederzuerkennen: Neben der mündlichen Kommunikation ist es das geschriebene und gedruckte Wort, das die kulturelle Selbständigkeit der Arbeiterklasse ermöglichte. Beinahe ausschließlich über die Zeitung, die Broschüre und das Buch hatte die Arbeiterbewegung ihre Weltanschauung und ihre politische Ideologie verbreiten können und eine relative Unabhängigkeit gegenüber den Institutionen und Medien der bürgerlichen Ideologie errungen. Diese kulturellen Traditionslinien in der Geschichte der Arbeiterbewegung sind noch nicht aufgedeckt worden. Wollte man darangehen, indem man etwa die überragende Rolle der Literatur in der ganzen Kulturgeschichte der Arbeiterbewegung erhellte, so wären einige kulturhistorische Tatbestände zu beachten, die die Position der Literatur in der Klassenkultur, wesentlich bestimmten. Zuerst wäre dabei an die schon angedeutete Funktion zu denken, die die literarische Kommunikation für die politisch-ideologische Konstituierung der Klasse hatte und für ihren weiteren Kampf besitzt. Hier hat die deutsche Arbeiterbewegung ganz unmittelbar bürgerliche kulturelle Praktiken, wie sie im antifeudalen ideologischen Kampf zwischen Aufklärung und Vormärz entstanden waren, übernommen, fortgesetzt und für ihre Zwecke weiterentwickelt. 15 Man muß darin eine kulturelle Voraussetzung für die Aufnahme des Marxismus in die Arbeiterklassenkultur sehen. In Lenins Theorie von der revolutionären Kampfpartei der Arbeiterklasse liegt die funktionale Einbindung der Literatur, in die Praxis der Klassenorgänisation umfassend ausgearbeitet vor. 16 Es ist darum kein Zufall, daß am Beginn der sozialistischen Kulturrevolution auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Traditionen dieser Seite der Kampf- und Organisationskultur eingesetzt hat und „das Literaturwesen im System der Parteiarbeit" 17 zum literaturhistorischen Gegenstand gemacht worden ist. Literatur konnte diese Bedeutung für die Klassenorganisation von kapitalistisch Ausgebeuteten nur bekommen, weil sie als Aneignungs24

und Kommunikationsform auch von Arbeitern zu handhaben war. Neben der Möglichkeit, Redaktion, Druck und Vertrieb technisch wie ökonomisch durch Arbeiter und Arbeitsorganisation zu meistern, war ausschlaggebend dafür auch der hohe Bildungsstand der deutschen Arbeiter im allgemeinen wie der der früheren Abteilungen der Arbeiterklasse im besonderen. Darum war Literatur bevorzugtes Medium, sie war tauglich für die Arbeiterbewegung, in die Klasse hinein zu wirken - ein Vorgang, der als Aufbau einer literarischen Gegenöffentlichkeit bezeichnet worden ist. J8 Von der Arbeiterbewegung wurde Literatur darum immer - wenn man von der Informationsverbreitung absieht - als subjektbezogenes Verbreitungsmittel der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse verstanden, als Träger der verbalisierbaren und damit überprüfbaren Seiten der Klassenideologie. Konsequentes Beharren auf der emanzipatorischen Wirkung der Literatur war die notwendig damit verbundene kulturpolitische Haltung. W a s diesem Kriterium nicht genügte, konnte bestenfalls als bloße Unterhaltung geduldet werden, prinzipiell aber mußte es als offene oder verdeckte Apologie des Bestehenden verurteilt werden. Dem entsprach, daß die geistige Emanzipation des einzelnen wesentlich als Folge seines Literaturverhaltens angesehen wurde, dem ein entsprechendes Angebot bereitzustellen war. Der Bildungsgang jener organisierten Arbeiter, die in literarischen Selbstzeugnissen über ihre eigenen Litetaturerfahrungen berichteten, bestätigt dies. 19 * Diese kulturpolitische Grundhaltung war auch der Tatsache geschuldet, daß die Klassenorganisation vor Beginn des sozialistischen Aufbaus selbstverständlich nicht die Verantwortung für den ganzen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft trug. Damit gehörten - sieht man vom gewerkschaftlichen Kampf für günstige Verkaufsbedingungen der W a r e Arbeitskraft ab - die Produktion und Reproduktion der Arbeiter nicht zu dem, was die Arbeiterbewegung „sichern" mußte und konnte. Sie hatte ihre ganze Kraft für die politisch-ideologische Bildung und Mobilisierung 'der Arbeiter einzusetzen. Ihre Funktionäre standen darum allem, was diesen Auftrag nicht unterstützte, gleichgültig oder skeptisch gegenüber. Als am Ende des 19.'Jahr^ hunderts infolge der Intensiviening der industriellen Arbeit Arbeitszeitverkürzungen unumgängliche Bedingung für die Reproduktion der Arbeitskraft geworden waren, sah die Arbeiterbewegung darin eine Voraussetzung für vermehrte politische und bildende Tätigkeit. Zugleich mußte sie die neu entstandenen Freizeit-Einrichtungen und die 25

damit verbundenen Betätigungen jeweils erst einmal zurückweisen und deren Nutzung durch Arbeiter als Ablenkung oder als bürgerliche ideologische Beeinflussung negativ bewerten. ( D a s betraf anfangs die allein der Unterhaltung dienende Literatur überhaupt, danach die sogenannte Trivial- oder Massenliteratur, das K i n o wie die anderen Vergnügungsstätten der entstehenden kapitalistischen Freizeitindustrie, später auch den Rundfunk und die illustrierte Massenpresse.) Demgegenüber wurde die Aneignung von Literatur emanzipatorischen Charakters (und dazu gehörte am E n d e des 19. Jahrhunderts auch künstlerische Literatur) als das sichere Gegengewicht angesehen. 2 0 Schließlich war die kulturhistorische Grundsituation dadurch charakterisiert, daß die Literatur im E n s e m b l e der politischen und ideologischen K a m p f f o r m e n der Arbeiterklasse ganz wesentliches Medium der Selbstdarstellung der Arbeiterbewegung dem Klassengegner wie den Bündnispartnern gegenüber war. Sie drückte als G a n z e s dann zunehmend - ob im einzelnen beabsichtigt oder nicht - den nationalen Anspruch der K l a s s e auf die Führung der Gesellschaft aus. N e ben der Nützlichkeit für die Absichten der Arbeiterbewegung kam damit ein neues Beurteilungskriterium für alle Formen der geistigen Produktion a u f : das richtiger Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft. Anders ist manche unwirsche oder entschuldigende Geste der intellektuellen Führer der Arbeiterbewegung gegenüber unbeholfener proletarischer Kunstäußerung gar nicht zu verstehen. Literatur war also bevorzugtes Medium der abgrenzenden inneren Verständigung und zugleich der Selbstdarstellung „nach außen". D a mit ist auf einen wesentlichen ständigen Bildungsprozeß von Arbeiterklassenkultur hingewiesen, dem alle ihre Bereiche unterliegen: Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wird die kulturelle Identität durch A u f b a u abgrenzender Haltungen, Lebensformen, Traditionsbeziehungen, durch S c h a f f u n g einer eigenen W e l t kultureller Objektivationen permanent gesichert. D i e s geschah teilweise dadurch, daß vorhandene Objekte einen neudn Symbolwert erhielten. All diese subjektiven wie objektiven Formen proletarischer Kultur sind zugleich Formen des Widerstandes gegen den allgegenwärtigen Machtanspruch des K a p i t a l s und in diesem Sinne der T e n d e n z nach die bewußte Beziehung auf alle Seiten des Gesellschaftsprozesses. A l s ideal ausgebildetes G a n z e s stellen sie schließlich die Art und Weise dar, in der auf allen Ebenen der Klassenpraxis das Verhältnis der 26

Arbeiter Zu den und in den gesellschaftlichen Widersprüchen ausgetragen wird. Nach unserem gegenwärtigen Verständnis von bewußtem Sein kann das Selbstbewußtsein dieser (streng geordneten, aber weitgehend „instinktiv" gelebten) Klassenpraxis nur literarisch ausgedrückt werden. Im kulturellen Konstituierungsprozeß der Arbeiterklasse hat sich die besondere Stellung der Literatur auch dadurch ergeben, daß eine Reihe von Bildungen und Abgrenzungen geradezu „literaturbezogen" stattgefunden hat, weil in einer Art „Ausgrenzungsverfahren" ein großer Teil nichtliterarischer Aneignungsformen zunächst noch nicht angenommen werden konnte. Dazu gehören die Distanzierungen von jenen Formen bürgerlicher Kunst, auf deren artifizielles Niveau die Arbeiterklassenkultur nicht angemessen reagieren konnte, die Ablehnung verständlicher Genüsse als „Luxus". Das war eine wichtige Form der Kritik an den Kapitalisten. Ausgrenzung geschah auch durch das „instinktive" Mißtrauen gegenüber allen geistigen Produkten, deren Aussage sich der Überprüfung am proletarischen Programm und an der proletarischen Wissenschaft entzog. Und es verstand sich von selbst, daß die Arbeiterbewegung sich auch von allen Arten der Ablenkung der Arbeiter lösen mußte, die sie aus ihrer proletarischen Lebenswelt und von ihrer politischen Bestimmung zu entfernen drohten. Insgesamt konnten Arbeiter und Arbeiterbewegung aus dem „Angebot" des kulturellen Erbes und dem "der zeitgleichen Kulturen anderer sozialer Gruppen nur das annehmen, was in die Lebens- und Kampfpraxis einzuordnen war. All dies zusammen ergab die Grundüberzeugung, daß Literatur den Kern der eigenen Kultur ausmache und den Zugang zur Kultur überhaupt ermögliche. Über den historischen Klassencharakter dieser Kulturauffassung bestand in der Arbeiterbewegung Klarheit. Die kulturhistorische Bedingtheit des von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgearbeiteten Programms der Kulturrevolution war schon zu dem Zeitpunkt offensichtlich, zu dem es vorgestellt wurde. Mit derselben Bestimmtheit, mit der Walter Ulbricht 1958 den kulturpolitischen Kurs der Partei umrissen hatte, betonte er zugleich dessen historische Relativität, indem er darauf verwies, daß die Klassenorganisation, die Arbeiterfunktionäre und die Arbeiter nur über jenes kulturelle Potential verfügen, das unter kapitalistischen Verhältnissen ausgebildet werden konnte. 21 So wurde die Literaturbezogenheit von sozialistischer Kultur erklärt und gleichzeitig ein weit über Literaturaneignung hinausweisendes praktisches kulturelles Programm entwik27

kelt. Das wird an den Beiträgen zur zweiten Bitterfelder Konferenz von 1964 deutlich, obwohl auch hier an den schon erläuterten Vorstellungen von den einzusetzenden Mitteln festgehalten wurde: Kultureller Mangel, der sich im Zurückbleiben aller subjektiven Faktoren hinter objektiven Erfordernissen zeigte, 22 war durch Bildung auszugleichen. Tatsächlich gehören die Brechung des Bildungsprivilegs und die sozialistische „Demokratisierung" der Kultur zu den Merkmalen sozialistischer Kulturrevolution. Doch nicht in erster Linie diese Vorgänge prägen die Qualität der sozialistischen Kultur. Wird das übersehen, so führt das zu perspektivischen Vorstellungen von der Funktion der Literatur, die nicht über die harmlose und vielfältig belegbare These hinausgehen, daß deren gesellschaftliche Rolle immer mehr wachse und auch zunehmend mehr Arbeiter in unserer Gesellschaft läsen. So ist selbst in literaturtheoretischen Arbeiten, die die sozialen Bedingungen des Leseverhaltens pibblematisieren, der unerschütterliche Standpunkt anzutreffen, daß in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft das Lesen für die Mehrzahl der Menschen allmählich zu einer .Lebepsgewohnheit' < < 2 3 werde. Zu bedenken ist immerhin, daß die wissenschaftlichen Verfechter aller anderen Aneignungs- und Betätigungsweisen sich gleichlautend äußern. Offensichtlich besteht die kulturelle Perspektive der Klasse darin, daß alle Arbeiter von allem Guten immer mehr, von allem Schlechten dagegen immer weniger tun. Gestützt wird diese Überzeugung durch den richtigen Hinweis darauf, wieviel geleistet wurde, jedem Gesellschaftsmitglied die Vielfalt der Aneignungsweisen zugänglich und handhabbar zu machen. Eine enorme Ausweitung kultureller Bedürfnisse war die Folge dieser sozialistischen Demokratisierung. Darum muß es äußerlich als eine Frage der Zeit und der Mittel erscheinen, wann endlich alle den ganzen kulturellen Reichtum für ihre allseitige Persönlichkeitsentwicklung nutzen. Solche Vorstellungen verbauen in gewisser Weise das Verständnis für die Eigenart der Klassenkultur in den einzelnen Etappen sozialistischer Gesellschaftsentwicklung. Auch in den sechziger Jahren war das so, und es hat damals zu Verengungen der Kulturpolitik geführt. Durch die sozialpolitische Idee von einer „sozialistischen Menschengemeinschaft" orientiert, war dieses einseitige Kulturkonzept wenig geeignet, den Klassencharakter der Lebensweise von Arbeitern der sozialistischen Gesellschaft weiter auszuprägen. Sozialromantische Vorstellungen von abstrakter Gleichheit im Sozialismus entfernten 28

die Kulturarbeit in nicht ungefährlicher Weise von den Bedürfnissen der Arbeiter. E s war darum ein wichtiger qualitativer Fortschritt, als von der Praxis inzwischen klar überholte unrealistische Kulturvorstellungen durch das vom V I I I . Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossene Programm für den weiteren Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft grundsätzlich aufgehoben wurde. In das Zentrum der Kulturpolitik rückten die Arbeitskultur 2/ ' und die Gesamtheit der für die erweiterte Reproduktion der Arbeitskraft gesellschaftlich zu schaffenden Voraussetzungen. D i e Künste und so auch die Literatur - wurden als Momente des abgestimmt zu entwickelnden materiellen wie kulturellen Lebensniveaus der Werktätigen verstanden. Damit wurden auch wissenschaftliche Auskünfte über die vielfältigen Einbindungen der Künste in den Gesellschaftsprozeß wichtig. Zugleich betonten die Beschlüsse des V I I I . Parteitags den Klassencharakter der sozialistischen Gesellschaft. Den Wissenschaften gegenüber wurde die Erwartung ausgesprochen, durch Forschungen die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei für die besonderen Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu erhellen. 2 5 Für die Kulturwissenschaften hieß das, sich stärker der Dialektik von sozialistischer Nationalkultur und Klassenkultur zuzuwenden, in der sich der Einfluß der Arbeiterklasse auf den gesellschaftlichen Kulturprozeß durchsetzt. Am Material einer 1973 veranstalteten Konferenz über das kulturelle Lebensniveau der Arbeiterklasse in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft 2 6 kann das Spektrum der Fragen für die siebziger Jahre abgelesen werden. Erkennbar ist auch die Breite des Forschungsfeldes der Kulturwissenschaften, wenn die dialektische Beziehung von Klassenkultur und gesamtgesellschaftlichem Kulturprozeß erfaßt und abgebildet werden soll. Zugleich zeichnete sich ab, daß alle mit der Kultur der sozialistischen Gesellschaft befaßten Disziplinen zu erweiternden Bestimmungen des Wissenschaftsgegenstandes und zu interdisziplinärer Arbeitsweise tendierten. Aufschlußreich für die kulturpolitisch bedingte neue wissenschaftliche Situation sind entsprechende Veränderungen in der Literaturwissenschaft. Sie sind am Konferenzbeitrag von Manfred Naumann zu erkennen, der zu einer Theorie der Literaturrezeption gesprochen hatte. E r grenzte sich von Kulturvorstellungen ab, „die bewußt oder unbewußt die gebildete Persönlichkeit mit der literarisch gebildeten Persönlichkeit gleichsetzen", und erklärte, daß „jede einzelne Kunst-

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gattung mit ihren besonderen Produktions-, Verbreitungs-, Rezeptions- und Kommunikationsbedingungen unentbehrlich, notwendiges Element des Ensembles sozialistischer Kunst ist". Naumann erläuterte die wissenschaftliche Einbindung des Literaturverhaltens in die „soziale Alltagspraxis" 2 7 und machte den theoretischen Vorstoß kenntlich, der mit der Aufnahme wirkungsästhetischer und kommünikationstheoretischer Betrachtungsweisen gemacht worden war. D i e literarische Kommunikation von Gesellschaften und die der verschiedenen Klassen in ihnen waren zum Gegenstand der Literaturwissenschaft geworden. Literatur war in dieser Auffassung nicht mehr eine historische Folge von geschaffenen wertvollen Werken, die zu bewahren, zu interpretieren und anzueignen sind, sondern ein vielfältig: gegliedertes kommunikatives Beziehungsgefüge, das jeweils reale soziale Träger bestimmter Qualität besitzt. Damit sind die neuen Akzente literaturwissenschaftlicher Forschungsarbeit genannt, die durch das Reagieren auf das Erkenntnisinteresse der sozialistischen Gesellschaft gesetzt worden sind. D i e literarischen Aneignungsweisen sollten nun in ihrem Gebrauch durch jene kollektiven und individuellen Subjekte erforscht werden, die in Geschichte und Gegenwart deren soziale Träger und Nutzer sind. Dieser Vorsatz macht den Literaturforscher abhängig von Erkenntnissen jener Disziplinen, die die sozialen Gruppen - und spezieller deren Kulturen - untersuchen. Auch der angenommene kulturpolitische Auftrag verlangt von ihm interdisziplinäre Einordnung. Sucht er doch bei der Literaturforschung nach Teilantworten auf eine ganze Kette grundsätzlicher Fragen, die die einzelwissenschaftliche Kompetenz überschreiten: W i e weit sind Arbeiter und ihre Organisationen heute Schöpfer und Träger von Klassenkultur? In welchem Maße entspricht die unter der Herrschaft der Arbeiterklasse hervorgebrachte gesellschaftliche Kultur den Interessen der Arbeiter? Welche Funktionen hat sie in ihrem Leben? Wie verhalten sich jene Menschen, die durch ihre Arbeitsleistung in Produktion, Zirkulation und Verwaltung die Reproduktion der Gesellschaft sichern, zu jenen allgemeinen Aneignungsweisen, die durch das spezialisierte System der arbeitsteiligen geistigen Produktion verangetrieben werden? Welche kulturellen Voraussetzungen und Folgen hat die schrittweise Beseitigung sozialer Ungleichheit, die unser kommunistisches Ziel ist? D i e werkorientierte,; ideologiegeschichtlich operierende Literaturwissenschaft ist nicht gezwungen, sich diesen Fragen zu stellen. Sie bleiben ihr äußerlich. D i e funktio-

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nale Betrachtungsweise des literarischen Gesamtprozesses unserer Gesellschaft wirft ganz bewußt auch die Fragen nach den sozialen Triebkräften der sozialistischen Kultur auf. Sie ist darum abhängig von einem hinreichend sicheren Modell kultureller Entwicklungsstadien, wie sie zugleich zu seiner Bildung beiträgt. Hinsichtlich der sozialen Gruppen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft besteht also literaturwissenschaftliches Interesse daran, daß die inneren Maßverhältnisse des erreichten Entwicklungsstandes ihrer Kulturen ebenso aufgedeckt werden wie der funktionelle Zusammenhang der Klassen- und Gruppenkulturen, durch den die sozialistische Nationalkultur unserer Gesellschaft gebildet wird und durch den sie ihre besondere Form erhält. Dabei gilt der Kultur der herrschenden Klasse die größte Aufmerksamkeit. Aus diesem Grunde ist die Erforschung der Entwicklungsstadien der Arbeiterklassenkultur in ihren jeweiligen antagonistischen oder nichtantagonistischen Wechselbeziehungen zu anderen Klassen- und Gruppenkulturen so wichtig. Sie vor allem liefern Kriterien für die entwicklungsgeschichtliche Bewertung der kulturellen Situation der Arbeiterklasse in Gegenwart und Zukunft. Sie fundieren auf diese Weise auch die Strategie der marxistisch-leninistischen Partei bei der Führung der Kulturrevolution.

Literatur- und kunstwissenschaftliche kulturhistorischer Forschung

Motive

Werden die kulturpolitischen Motive einer Annäherung von Kulturund Literaturwissenschaft von der Aufgabe bestimmt, die kulturelle Leistungsfähigkeit der Arbeiterklasse geschichtlich auszuweisen, so die innerwirtschaftlichen Motive von zunehmenden Ähnlichkeiten hinsichtlich der Gegenstands- und Methodenauffassung. Worin bestehen diese Annäherungen? Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert hat marxistische Literaturwissenschaft ihren Gegenstand als Teil des gesellschaftlichen Uberbaus aufgefaßt und die allgemeine Abhängigkeit der Literatur von der Basisentwicklung vorausgesetzt und kenntlich gemacht. Dabei überwog eine Vorstellung vom relativen Eigenleben des Literaturprozesses als einer Abfolge von Werken und Autoren. Obwohl unter kulturpolitischen Gesichtspunkten und vom Standpunkt der Literaturkritik die Rezeption und die sozialen Wirkungen von literarischen

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Werken durchaus in die Betrachtung einbezogen waren, hatte dies doch auf das Literaturverständnis keinen größeren Einfluß. D i e durch den Klassenkampf gebotene konsequente Verfechtung der Widerspiegelungs- und Erkenntnisfunktion der Künste hat zu überwiegender Beschäftigung mit dem weltanschaulichen und politischen Wahrheitsgehalt der Werke geführt. Bis in die Periodisierung hinein wurde die Literaturgeschichte dabei als Teil der politischen Geschichte verstanden. Demgegenüber hat eine Untersuchung der spezifisch ästhetischen Qualität der Texte und Werke, die sie als besondere Schöpfungen einer Kultur ausweisen, eine ebenso geringe Rolle gespielt wie die des literarischen Lebens, das ja ein relativ selbständiges Beziehungsgeflecht innerhalb der Gesellschafts- oder Klassenkultur darstellt. Mit Fortschritten, die in allen marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften bei der differenzierteren Betrachtung komplexer sozialer Prozesse erzielt wurden, verstärkte sich auch die Aufmerksamkeit für die Vermittlungen zwischen Basisprozessen und den geistigen Aneignungsweisen der Gesellschaft. Damit entstanden auch neue Voraussetzungen dafür, die bislang beinahe ausschließlich wahrgenommene Einbindung des Literaturprozesses in die politisch-ideologische Geschichte durch neue Beziehungszusammenhänge zu ergänzen und zu relativieren. Auch die Fixierung auf das Verhältnis zwischen sozialer Wirklichkeit, Künstler und künstlerischem Abbild konnte dadurch grundsätzlich überwunden werden. Gerade das Nebeneinander dieser beiden literaturwissenschaftlichen Haltungen war schon seit längerem kritisch besprochen worden. Werner Krauss hatte dies als den Gegensatz von „idealistischer Souveränitätserklärung der geistigen Schöpfung" einerseits und „vulgärmaterialistischer Auflösung der Literatur in Soziologie" 2 8 andererseits benannt. In jüngster Zeit hat etwa Winfried Schröder die von Krauss ausgehenden Impulse engagiert vertreten und - wie andere auch - zur Erweiterung des Gegenstandes literaturwissenschaftlicher Arbeit aufgerufen. Sie müsse „sowohl die .sozialen und wirtschaftlichen Faktoren' im ureigensten Bereich der Geschichte der Literatur erforschen, als auch die verschiedenen historischen Formen, in denen sich die gesellschaftliche Funktion der Literatur realisiert. Denn: welche sozialen Klassen oder Schichten .einer Gesellschaft sich mit Literatur befassen, aus welchen unterschiedlichen Motiven und mit welchen unterschiedlichen Ergebnissen, ist genauso ein objektiver und sich historisch verändernder Faktor wie der jeweilige Entwicklungsstand der Kommunikations-

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formen und die jeweils herrschenden Bewußtseins- und Literaturformen." 2 9 Die hier zitierte Meinung steht für eine Reihe von Überlegungen, die mit bemerkenswerten Weiterentwicklungen der Literaturtheorie in jüngster Zeit verbunden sind. Unter soziologischem Einfluß, durch die Aufnahme rezeptions- und wirkungsästhetischer Gesichtspunkte wie kommunikationswissenschaftlicher Methoden wurde ein ganzes Netz von Einflußfaktoren und Verbindungsgliedern gezeichnet, in dem Autoren, Werke, Vermittler und Leser eingewoben existieren. Verschiedentlich waren diese Beziehungen auch vordem schon angezeigt worden. Gewonnen wurden nun neue Gesamtsichten, die ältere literaturwissenschaftliche Arbeitsweisen und vor allem den Gegensatz von Vulgärsoziologie und Literaturimmanenz konzeptionell aufhoben. 1973 umriß Manfred Naumann dieses Programm: „Wir gehen von der Einsicht aus, d a ß Autor, Werk und Leser, d a ß die literarischen Schreib-, Aneignungs- und Austauschprozesse einander wechselseitig zugeordnet sind und ein Beziehungsgefüge bilden. Als Ganzes, in seinen Teilen und in den Vermittlungen ist es diachronisch eingebettet in den gesamtgeschichtlichen Prozeß und synchronisch in die bestehenden und sich verändernden materiellen und ideologischen Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaftsformation."'® Aufschlußreich für unseren Zusammenhang ist der im Sinne dieser programmatischen Erklärung von Rainer Rosenberg unternommene Versuch, die Literatur des deutschen Vormärz „generell als Reaktion auf die für den Prozeß der bürgerlichen Umwälzung typischen Veränderungen der gesellschaftlichen Beziehungen zu begreifen". Rosenberg kam dabei zu dem Ergebnis, daß „die Literaturentwicklung überhaupt . . . nur zu einem geringen Teil unmittelbar durch die ökonomisch-gesellschaftlichen Veränderungen bedingt" sei. „Diese wirkten größtenteils vermittelt durch die ideologische Entwicklung, und zwar weitgehend in der Form, wie diese sich im gesellschaftlichen Bewußtsein und in der Mentalität der Masse der an der literarischen Kommunikation beteiligten Klassen und Schichten niederschlug." 151 Es sei angemerkt, d a ß ähnlich, wie der Literaturwissenschaftler die Wirkungen der sozialökonomischen Basis auf den Literaturprozeß über Bewußtsein und Mentalität sozialer Gruppen vermittelt sieht, sich auch die Wissenschaftler geäußert haben, die andere künstlerische Bewußtseinsformen untersuchen. So schrieb der Kunstwissenschaftler Peter H. Feist, d a ß es die durch die Beziehungen Von Basis und Überbau „bewirkten, längere Zeit andauernden Zustände, ein3

Proletarische

Kultur

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schließlich eines kulturellen, geistigen, ideologischen ,Klimas'" 3 2 sind, die den Kulturprozeß prägen. In der kulturgeschichtlichen und volkskundlichen Forschung der DDR wurde bei ähnlichem Herangehen größeres Gewicht der sozialstrukturellen Differenzierung beigemessen. Es sind die Lebensbedingungen der Klassen und anderer sozialer Gruppen, über die vermittelt die jeweils charakteristischen Aneignungsweisen und Wertvorstellungen erzeugt oder angeregt werden. Allgemein gilt, was Marx über herrschende Klassen des 19. Jahrhunderts geschrieben hat: „. . . auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen."' 1 * Von der sozialstrukturellen Differenzierung ausgehende Überlegungen marxistisch orientierter englischer Literaturwissenschaftler zur Kulturbestimmung haben schon Ende der fünfziger Jahre eingesetzt und die Gründung eines kulturwissenschaftlichen Zentrums bewirkt, in dem vor allem die Arbeiterklassenkultur erforscht wird. Richard Hoggart und Raymond Williams grenzten sich sowohl von bürgerlich-orthodoxer als auch von vulgärsoziologisch betriebener Literaturgeschichtsschreibung ab und wendeten sich dabei der Kulturwissenschaft zu. Hoggart hat - um den Umgang der Arbeiter mit Trivialliteratur erklären zu können - die proletarischen Lebensformen untersucht und in ihnen eine eigene Kultur erkannt, die sich gegenüber der herrschenden bürgerlichen Kultur zu behaupten vermag. 3 ' 1 Ähnlich hat Williams in seinen Studien zur Begründung historisch-materialistischer Literaturwissenschaft die Kultur als „eine ganze Lebensweise" 35 definiert. Damit versuchte er jene soziale Atmosphäre zu erfassen, aus der klassenspezifisches Kunstverhalten der Arbeiter, erklärt werden kann, das sich relativ abgehoben von jener arbeitsteiligen geistigen Produktion entfaltet, die von den herrschenden Klassen bestimmt wird. Aus diesen zunächst noch literaturwissenschaftlichen Überlegungen sind dann die modernen englischen Forschungen zur Kultur der Arbeiterklasse hervorgegangen. 36 * E. P. Thompson vollzog den Übergang von der Literaturgeschichte zur Kulturgeschichte. Er hat gezeigt, daß die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur arbeitsteilig organisierten geistigen Produktion bisher an der historischen Lebenspraxis der werktätigen Massen völlig vorbeigegangen sind. In 34

bewußter Anlehnung an Marxsche Methoden hat er den Konstituierungsprozeß der englischen Arbeiterklasse daraufhin untersucht, wie „Änderungen in den Produktionsbeziehungen im gesellschaftlichen und kulturellen Leben erfahren werden, sich in den Ideen der Menschen und in ihren Werten brechen und diese sich in ihren Handlungen, Wahlmöglichkeiten und Glaubensvorstellungen damit auseinandersetzen". Thompsons Verfahren stimmt mit dem von Kulturwissenschaftlern sozialistischer Länder weitgehend überein. Während er als allgemeine Kategorie die „kognitive Organisation des Lebens" einzuführen vorschlug 37 und damit vor allem auf die Objektivationen sozialer Erfahrungen und gelebter Lebensweise als Kultur zusteuerte, wurde hier größere Aufmerksamkeit der Tatsache gewidmet, daß das Ensemble primärer und sekundärer Lebensbedingungen in seiner Qualität und Struktur durch den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß und seine Bewegung bestimmt ist. Damit wird größeres Gewicht auf die sozialökonomische Bestimmtheit der Voraussetzungen schöpferischen Verhaltens gelegt, dabei jedoch nicht stehengeblieben. Mehrere kulturhistorische Beiträge dieses Bandes versuchen, einen Schritt weiterzugehen und zu zeigen, auf welche Weise die spezifische Qualität der Lebensbedingungen den Inhalt und die Form des literarischaneignenden Verhaltens bestimmt und wie dadurch zugleich das Ensemble der Lebensbedingungen im proletarischen Interesse modifiziert wird. Versucht man, die von Literaturwissenschaftlern der DDR genannten vermittelnden Verhältnisse zu resümieren, die die von den Basisprozessen ausgehenden Impulse auf die Literatur übertragen und auch das Medium der Rückwirkung abgeben, so werden neben dem politischen Klassenkampf vor allem kulturelle Zustände und Strukturen genannt. Rosenberg spricht von „nichtpolitischen Vermittlungen von Basisvorgängen" :!8 . Er hat bei der Skizzierung der „Literaturverhältnisse im deutschen Vormärz" am Beispiel der Bourgeoisie deutlich gemacht, daß die spezifische Daseinsweise der Literatur (und dies betrifft - wenn auch jeweils anders - deren produktive, kommunikativ-distributive und rezeptive Sphäre) geprägt wird durch die L e b e n s w e i s e der Angehörigen dieser Klasse, durch die von ihr geschaffenen o r g a n i s a t o r i s c h e n und k o m m u n i k a t i v e n S t r u k t u r e n , durch das neuartige System g e i s t i g e r Prod u k t i o n wie durch den Bestand ihrer k u l t u r e l l e n Wertvorstellungen. 3»

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Mindestens diese Zusammenhänge sind von der Forschung aufzuklären, wenn Literaturverhältnisse als Moment der bürgerlichen Kultur in der kapitalistischen Gesellschaft festgestellt werden sollen. Das bedeutet dann hinsichtlich der von Rosenberg untersuchten vorrangig politischen Zwecke der Vormärzliteratur, daß nicht mehr nur danach gefragt wird, „wie die Literatur die politischen Klassenauseinandersetzungen widerspiegelt und zu ihnen Stellung nimmt", sondern darüber hinaus auch untersucht wird, „welche Stellung sie in ihnen einnimmt und welche politischen Funktionen das einzelne Literaturprodukt . . . in einer bestimmten historischen Situation erfüllt". 39 In der Diskussion über die Bedeutung des kulturwissenschaftlichen Trends in den Kunstwissenschaften hat Bernd Jürgen Warneken gerade diese komplexe kulturelle Einbindung untersuchter Kunst als den wesentlichen Unterschied gegenüber „traditioneller Kunstwissenschaft" benannt. Kulturwissenschaftlich betriebene Kunstwissenschaft untersuche „quasi die ,Lebensweise' dieser Kernbereiche von Kultur". Sie erforscht „sie also nicht nur als Ensemble von Bedeutungen, sondern als selbst materiell fundierte und sozial umlaufende Kulturinstitutionen . . . Der Schritt von der Kunst- zur Kulturwissenschaft in diesem Sinn beginnt schon da, wo man nicht mehr Film, sondern Kino sagt, d. h. zumindest die Sessel mitdenkt, in denen die Filmzuschauer sitzen.'"10 Der Hinweis auf Kino und Sessel enthält Weiterungen: Vom Filmwissenschaftler wird erwartet, er solle auch erforschen, was die Menschen zum Kino zieht oder von ihm fernhält. Wäre dies nicht ein Schritt, der von der Kunstwissenschaft wegführt? Verfehlte nicht auch die Literaturwissenschaft ihren Auftrag, Gesetzmäßigkeiten spezifisch kunstliterarischer Aneignungsweisen aufzudecken, wenn sie solcherart sich den organisatorisch-kommunikativen Strukturen, den institutionalisierten Praktiken, den Austauschbeziehungen usw. zuwendet, in denen das Literarische immer nur ein Moment neben vielen anderen ist? Wären die disziplinaren Grenzen nicht überschritten, wenn das gewöhnliche Leben der Leute, in dem ohnehin ästhetisches Vergnügen am Trivialen 41 * überwiegt, zum Objekt literaturwissenschaftlicher Erkenntnis erklärt würde? Schöbe man dadurch nicht auch die „eigentlichen Gegenstände" (die Texte, die Werke und die Literaturgeschichte) beiseite? Es kann vielleicht schon als ein berechtigtes Warnzeichen angesehen werden, wenn Jutta Held eine Tagung des Ulmer Vereins'12*, die zu dem programmatischen Thema Von der Kunstgeschichte zur Kulturwissenschaft durchgeführt wurde, folgendermaßen 36

kommentiert h a t : „Freilich fällt bei der gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskussion auch auf, d a ß mit der Ausweitung der Kulturbegriffe auf Lebensverhältnisse oder auf spezifische, durch Selbstbestimmung gekennzeichnete Momente der unterschiedlichen Produktions- und Reproduktionsprozesse, die kulturellen Objekte, d. h. die Vergegenständlichungen von bestimmbaren Lebenszusammenhängen, weitgehend aus dem Blick geraten sind." 4 -' Eine nähere Betrachtung zeigt, wie unbegründet solche Befürchtungen sind. Zunächst einmal schon, weil keine der bislang üblichen Arbeitsweisen und Gegenstände beseitigt werden soll. W e r vermochte das zu tun? Urpgekehrt w ä r e erst Gelegenheit d a f ü r zu schaffen, d a ß in andere Richtungen ausgreifende Untersuchungen auch stattfinden können. Die angestrebte kulturelle Gesamtsicht beschränkt sich V ja noch weitgehend auf literaturtheoretische E n t w ü r f e . Und gerade dieses Verharren in der guten Absicht scheint Skeptiker zu bestätigen. Selbst wenn sie rechtens wären, könnte Literaturwissenschaft solche Vorsätze überhaupt erfüllen? Auch die Lagebeurteilung des Ästhetikers - der dabei nur auf einen der kulturellen Zusammenhänge, auf die Lebensweise, eingeht - l ä ß t da eine Art unüberschreitbarer magischer Grenze gegenüber Bereichen außerliterarischer W i r k l i c h k e i t vermuten. E i n e H ü r d e , die die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Kunstwissenschaften wohl noch aufhält. W o l f g a n g Heise verweist auf die häufige K l a g e über „das wechselseitige Sichverselbständigen der Kunstwissenschaften. J e d e lebt von der theoretischen Abstraktion der selbständigen Existenz ihres Gegenstandes. Seit langem wird in jeder an den Gittern gerüttelt, die sie in das Gefängnis nur immanenter Betrachtung sperren. Theoretisch w e i ß man's besser; d a ß die Künste ein Ensemble innerhalb des gesellschaftlichen Systems und seiner Bewegungen bilden, das sie ideell reflektieren, kommunikativ vermitteln, abbilden usw. - das bleibt aber unfruchtbar, solange der wirkliche massenhafte Lebensprozeß selbst als Abstraktion und Idealvorstellung behandelt w i r d , solange nicht Gegenständlichkeit und Funktion, Bedürfnis und Gebrauch dessen, w a s da künstlerisch produziert, abgebildet, mitgeteilt wird, in der Alltäglichkeit selbst, und zwar von dieser her, hinreichend erfaßt werden.'" 1 ' 1 In der R a d i kalität der Forderung des Ästhetikers ist der Hinweis auf die Ursachen für das Zögern bereits enthalten. Nicht von der Literatur aus auf deren soziale Voraussetzungen blicken, sondern vom wirklichen massenhaften Lebensprozeß her die literarischen Aneignungsweisen einordnend betrachten - dies verlangt ja einen G r a d wissenschaft37

licher Aufklärung über Leben und Lebensweise sozialer Gruppen, wie er heute noch nicht gegeben ist und wie er vom Kunstwissenschaftler allein auch nie zu erreichen ist. So wäre genaugenommen die Literaturwissenschaft als theoretische Anregerin von Lebensweise- und Alltagsforschung herauszustellen und nicht gerade ihr anzulasten, d a ß sie ins Stocken geraten ist, wo doch die Forschungen zu diesen Seiten der Kulturgeschichte gerade erst anlaufen. E s bedarf auch keiner längeren Beweisführung, um klarzustellen, d a ß marxistisch betriebene literatur- und kunstwissenschaftliche Untersuchungen sich schon immer auf komplizierte außerkünstlerische Prozesse bezogen und eingelassen haben. So vermögen sie Werke, Künstler und künstlerische Strömungen in große weltanschaulichideologische Entwicklungsprozesse einzuordnen; die kunstkritische Konfrontation der Abbilder mit der sozialen Wirklichkeit ist ihr ebenso geläufig wie etwa die sorgfältige biographische Aufzeichnung der politisch-ideologischen, ökonomischen und kulturellen Verwicklungen, in die Künstler gerieten. Es wurde also mit dem hier diskutierten „weiten" literaturwissenschaftlichen Konzept nicht beabsichtigt, etwa erstmals außerkünstlerische Beziehungsfelder in die Forschung einzubeziehen. Es geht darum, den Literaturprozeß in seiner funktionalen E i n b i n d u n g e n a l l e Bereiche oder Ebenen einer gege 1 benen Gesellschafts- oder Klassenkultur zu betrachten. Unter jenen Literatur- und Kunstwissenschaftlern, die gegenwärtig den möglichen Ertrag kulturwissenschaftlicher Verfahrensweisen erörtern, bilden sich - aus der Sicht der Kulturwissenschaft - zwei „Fraktionen" heraus. Einmal sind das die „Werkorientierten", zum anderen die Verfechter der Theorie von den „Kunstverhältnissen". D a b e i hat es auf den ersten Blick den Anschein, als ob letztere in weit stärkerem Maße den Kunstprozeß auf Kultur und ihre Geschichte zu beziehen vermögen. Hier wirkt wahrscheinlich die Tatsache nach, d a ß sie zuerst daran gegangen waren, die relative Isolation zu durchbrechen und die sozialen Einbindungen des Kunstlebens vor allem historisch zu rekonstruieren. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive streben beide „Fraktionen" sehr ähnliche Ziele an. D i e Erledigung der von ihnen angezeigten Aufgaben hat in jedem Falle weiter entfaltete kulturgeschichtliche Erkenntnis zur Voraussetzung. Zugleich wird in beiden Fällen vom Literaturwissenschaftler verlangt, sich selbst auf allgemeinere kulturgeschichtliche Abläufe einzulassen. Diese Behauptung soll erläutert werden, weil das die Ansätze interdisziplinärer Kooperation verdeutlichen kann. 38

Gehört man zur erstgenannten Fraktion und begreift damit das künstlerische Werk und seipe Rezeption als Kernbeziehung der künstlerischen Aneignungsweise (Schlenstedt spricht vom „Herstellen und Verarbeiten von Texten" 45 ), so hat man die wissenschaftliche Ästhetik auf seiner Seite. Und zwar in ihrer modernen Form, die den Kunstprozeß keineswegs auf die Beziehungen zwischen Realität, Künstler und Kunstwerk einengt, sondern ihn als Einheit von Produktion, Distribution und Rezeption von Kunstwerken darstellt - in Analogie zu einem Marxschen Modell des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gedacht. In der festen Überzeugung, daß es sich bei allen Akten künstlerischer Aneignung um Äußerungen i n d i v i d u e l l e r Subjektivität handelt 46 *, wird dann der kulturgeschichtlichen Bedingtheit des produzierenden, des interpretierenden und des rezipierenden Individuums nachgegangen. Seine durch Verarbeiten vielfältiger Einflüsse geprägte Subjektivität bemächtigt sich im geschichtlichen Kontinuum immer wieder der im Werk vergegenständlichten Erfahrung wie der Verfahrensweise, ihnen sozial dauerhafte, allgemeine Gestalt zu geben. Auf diese Weise entsteht ein kumulierender -geschichtlicher Zusammenhang, entwickelt sich die ästhetische Kultur als ein „differenziertes Ensemble von Aneignungsweisen" 47 , das den Individuen je nach Klassenlage mehr oder weniger zum Gebrauch verfügbar ist. (Innerhalb der Ästhetik wird auf die Begrenztheit dieses Ansatzes aufmerksam gemacht. So weist etwa Günter Mayer auf überindividuelle Aneignungsprozesse hin.48*) Leistungsfähigkeit wie Grenzen dieses auf die individuelle Subjektivität gegründeten ästhetischen Konzepts zeigen sich in seiner literaturund kunstwissenschaftlichen Anwendung. Die Autoren des Buches Gesellschaft, Literatur, Lesen, die erklären, warum die Literaturrezeption ein legitimer literaturwissenschaftlicher Gegenstand ist, nehmen diesen ästhetischen Standpunkt ein/' 9 * Dabei wird selbstverständlich auf das weite Feld der Voraussetzungen rezeptiven Verhaltens hingewiesen und so gut wie alles aufgezählt, was „das Vorher der Lektüre in bezug auf den Leser bestimmt". Doch dieses „Vorher" bleibt noch amorph, und es zeigt nur an, daß der Umgang mit Literatur in Einheit mit anderen Lebensäußerungen verstanden werden muß. Eine innere Gemeinsamkeit aller dieser bedingenden Faktoren, ihre innere Form, die sie als einer Kultur zugehörig erkennen ließen, wird nicht aufgesucht. Vielleicht resignierend heißt es endlich: „Die subjektiven Situationen sind so vielfältig wie das Leben selbst und vermitteln den Rezeptionsprozessen zusätzliche Varian39

t e n . " 5 0 D a m i t wird in gewisser W e i s e nahegelegt - wozu die B e t r a c h tung der individuellen A u f n a h m e wohl anregen muß

d a ß es dieses

Subjekt selbst ist, das hier die innere E i n h e i t aller dialektisch determinierenden Faktoren stiftet. Sollte nun aber diese Rezeptionstheorie empirisch auf ihre E r k e n n t niskraft geprüft werden, so müßte sicher b a l d nach jenen R e g e l m ä ßigkeiten gesucht werden, die die strukturierte soziale W e l t des Rezipienten als deren K u l t u r ausweist. D a d u r c h werden jene Beziehungen einsehbarer, die zwar individuelle Rezeption voraussetzen, die aber nicht mit ihr identisch sind: die Klassensubjektivität als die besondere A r t und Weise, allgemein mit den Aneignungsmitteln

umzugehen.

D e r W e g , um zu solchen Prinzipien zu gelangen, „die eine jede kulturelle Produktion b e s t i m m e n " 5 1 , ist durch den Begriff der „gesellschaftlichen Rezeptionsweisen" 5 2 angedeutet. M i t diesem Ansatz wird das

produzierende,

grundsätzlich

interpretierende

und

rezipierende

Individuum

als personalisierte Version kollektiver oder

gemein-

schaftlicher kultureller Strategien und Muster untersucht. So gesehen dürfte die Erforschung der Rezeptionsweisen - besonders in der G e schichte der Arbeiterklasse und in

der der sozialistischen

Gesell-

schaft - einen originär literaturwissenschaftlichen Beitrag zur K u l t u r geschichtsforschung erbringen. Ähnlich ist es, wenn von der P r o d u k t i o n und ihrem E r g e b n i s ausgegangen wird. D i e W e r k e liegen als Resultate spezifischer Anstrengungen von Produzenten vor und können darum als „Vergegenständlichungen von bestimmbaren Lebenszusammenhängen" 0 3 angesehen werden. W e n n der Sinn und der gesellschaftliche A u f t r a g solcher Forschungen allgemein darin besteht, vorgefundene W e r k e zu erschließen und sie der allgemeinen Rezeption oder den Spezialisten zur V e r fügung zu stellen, so wird damit verlangt, die komplexen Beziehungen zu

überschauen, die zwischen

den intendierten

Wirkungsabsichten

des W e r k e s , seinen Wirkungspotenzen einerseits und den Wirkungsmöglichkeiten in der G r u p p e der aktuellen Adressaten bestehen. In solcher Verfahrensweise tritt die Untersuchung der Literatur- oder Kunstverhältnisse zurück hinter

„die F r a g e nach den .Aneignungs-

mustern', über die die Menschen jeweils auf der G r u n d l a g e Verhältnisse,

Praxis,

Alltagserfahrung

usw.

verfügten" 5 ''.

ihrer

Werden

Kunstwerke vorrangig als symbolische Formen betrachtet, weil sich in ihrer F a k t u r , in den Kompositionsprinzipien und Gestaltungsweisen, konzentriert aber in der „ A r t und W e i s e einer künstlerischen G e staltung von Räumen, ¿eitprozessen, . . . Lebensformen und Interak-

40

tionsmustern" „zivilisationsgeschichtliche weil psychohistorische Phänomene" manifestieren, so ist der kulturhistorische Charakter solcher Kunstwissenschaft offenbar. Analysiert werden sollen ja „Mentalitäts- und Verhaltensstrukturen, die in den Bildern vergegenständlicht sind" 03 . Helga Möbius und H a r a l d Olbrich sehen in solchem Verfahren keine Auflösung der Kunstwissenschaft, sondern ein Mittel, um „sich dem speziellen Gegenstand mit speziellen Methoden zu nähern", und sie sehen darum „den Drehpunkt in der Analyse der intendierten Wirkungen der Werke' als verdichtete Abbilder realen Lebens, die Interessen, Einstellungen, Bedingungen so transformieren, daß sie, visuell-geistig artikuliert, selbst wieder Interessen und Einstellungen organisieren und regulieren". 36 Hier kann nicht hinreichend sachkundig geprüft werden, ob das propagierte kunstwissenschaftliche Verfahren trotz seiner Hervorhebung der Werke nicht doch die Spezifik kunstwissenschaftlicher E r kenntnis vernachlässigt, das Werk zur kulturhistorischen Quelle degradiert und damit in der Interpretation auch seine Einmaligkeit als Werk verfehlt. (Die Annales-Historiker werden als Beispiel für kulturgeschichtliche Ausbeutung der Kunstgeschichte genannt 5 '). Solche Sorge ist aber überflüssig, weil Werkinterpretation sich darin nicht erschöpfen muß. Überdies sind keine Literatur- oder Kunstwissenschaftler bekannt geworden, die das Ziel haben, die Kulturgeschichte aus den überkommenen Kunstwerken einer Zeit zu rekonstruieren. Auch glaubt niemand daran, d a ß die ästhetische Rezeption der Werke hier und heute eine kulturhistorische Erklärung zur unmittelbaren Voraussetzung hat 38 *, sie kommt bei Verfügbarkeit des Werkes zustande oder bleibt aus (was auch geschieht, wenn sie nur kulturgeschichtlich ausfällt). Was aber nicht nur Literatur- und Kunstgeschichte brennend interessiert, ist doch die Frage, warum die Wirksamkeit von Kunstwerken allgemein und dauerhaft sein kann, warum sie also auch unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen rezipiert werden können. Sie tragen in sich ja die spezifische „generative Grammatik der Handlungsmuster" 5 9 ihrer Kultur, wenn sie „einen bestimmten Wirklichkeitsbereich in ihm analogen Strukturen" abbilden und dabei als Modell „eine auf den Menschen weisende Bedeutung" verliehen bekommen. Wenn es Kunstwerke vermögen, „an konkreten Beziehungen symbolische Bedeutungen vorzuschlagen", so sind sie dabei immer zugleich „Instrument bestimmter sozialer Gruppen und Klassen". 6 0 Sie unterliegen also den spezifischen Prinzipien, die die gruppen- oder klas41

seneigene kulturelle Produktion bestimmen. Diese „Instrumentalität" ist auch dadurch gegeben, d a ß Kunstwerke als „Verbalisierungen" zu den sekundären oder abgeleiteten Hervorbringungen sozialer G r u p pen gehören,'' 1 * weil sie von kulturellen Grundmustern abhängen, die schon etablierte kulturelle Praxis sind. Die künstlerische Artikulation macht sie nun transportabel, dauerhaft und diskutierbar. Mit der Beschreibung und der Analyse dieser Art kultureller Einbindung von Kunstwerken reihen sich Literatur- und Kunstwissenschaftler als Gebende und Nehmende in die kulturhistorische Forschung ein. D i e Entschlüsselung der im Werk vorgeschlagenen symbolischen Bedeutungen, die Aufklärung der wechselnden Reaktionen auf diese Vorschläge und die Erklärung des produktiven und rezeptiven Verhaltens in unserer Gesellschaft setzen voraus, d a ß bei den dabei in Frage kommenden Gesellschafts- und Klassenkulturen habituelle Ubereinstimmungen, Ähnlichkeiten, Differenzen und Gegensätze durch kulturhistorische Analyse - auch von Kunstwerken und Rezeptionsweisen - aufgedeckt werden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit der Literatur- und Kunstwissenschaftler besonders auf bestimmte Bereiche der Kulturen. Neben den praktizierten erfahrenen und verbalisierten Lebensformen, die in ihrer Einheit die Lebensweise einer sozialen Gemeinschaft ausmachen, wird es vor allem das System der Wertauffassungen, in all seinen Artikulationsformen und Abstraktionsebenen, sein. Demgegenüber treten andere Bereiche der Kultur, wie die Entfaltung der geistigen Produktion und das organisatorischkommunikative Gefüge, zurück. G e r a d e umgekehrt ist die Interessenlage wohl bei jenen Literatur- und Kunstwissenschaftlern, die sich stärker den Kunst- oder Literaturverhältnissen zuwenden. Sie haben einen anderen W e g vorgeschlagen, um den Kunstprozeß in allen wesentlichen Seiten und sozialen Abhängigkeiten abzubilden. Solche Modellansätze werden in mehreren Kunstwissenschaften diskutiert und haben unterschiedliche G r a d e von Präzision und Verbindlichkeit erreicht. So hat Peter H. Feist in einer Reihe von Aufsätzen darauf hingewiesen, was alles zu berücksichtigen wäre, wenn Kunstgeschichtsschreibung die Beschränkung auf Betrachtung und Interpretation von Werken aufgäbe und den „ganzen gesellschaftlichen Kunstprozeß" 6 2 zu untersuchen begänne. Neben Kunstwerk und Schöpfer wären dies: Kunstleben, Umgang mit Kunst, Kunstströmungen und ihre Kämpfe, öffentliche Resonanz, Kunstkritik, ästhetische Lehrmeinungen, Kunstverbreitung, soziale Stellung des Künstlers, Bedürfnisse der Rezipienten und anderes. An solchen programmatischen 42

Vorschlägen für die weitere Entfaltung der Kunstgeschichtsschreibung fällt die Vielfalt der benannten Kunstbeziehungen a u f ; zunächst geht es wohl um die möglichst vollständige Erfassung aller Seiten und Elemente des Kunstprozesses. Sie alle sollen in ihrer Einbindung in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt untersucht werden. Doch wird noch darauf verzichtet, diese Momente des Kunstprozesses auf übergreifende k u l t u r e l l e Strukturen zu beziehen. Solche Abhängigkeiten klingen nur an, wenn von Lebensgefühl, Alltagsbewußtsein, Klassenpsyche oder Symbolmilieu die Rede ist. Auch eine Einordnung der bildenden Kunst in das Ensemble der Künste kommt hier noch nicht in Frage. So gehörte dann jedes der Momente des Kunstprozesses einem anderen Bereich sozialer Verhältnisse an. Die Einheit aller wird nur in der Theorie oder in kunstpolitischleitender Absicht gewonnen (in seiner Anwendung auf den Sozialismus wäre ein so verstandener Begriff der Kunstverhältnisse verwandt mit Bechers programmatischer Idee einer Literaturgesellschaft). Der Begriff der Kunstverhältnisse bildet also keinen relativ selbständigen Bereich sozialer Beziehungen ab, sondern sagt aus, d a ß alle Seiten bildkünstlerischer Aneignung in übergreifende gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden sind. Bei analogen Überlegungen in der Literaturwissenschaft ist es schon zu spezielleren Festlegungen gekommen. D i e Kategorie „Literaturverhältnisse" bildet hier nicht die Gesellschaftlichkeit von Literatur ab, sondern sie benennt einen bestimmten realen kulturellen Zusammenhang, in dem Literatur eingebunden in relativer Selbständigkeit steht; sie behandelt Literatur als eines der Medien jener Kommunikation, die Gesellschaften und Klassen als Teil ihrer Kultur aufbauen, um die geistige Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft zu sichern. Noch ganz allgemein hat Rainer Rosenberg dies ausgedrückt: „Die wirkliche Geschichte der Literatur kann, weil das literarische Werk nicht nur in einem literarischen Traditionszusammenhang, sondern in der Geschichte steht, nur als eine Seite des gesellschaftlichen Gesamtprozesses begriffen werden. Sie kann nichts anderes sein als die Geschichte der literarischen Kommunikation der Gesellschaft . . . Sie kann nur von einer Literaturwissenschaft dargestellt werden, die nicht hermeneutisch, sondern g e s e l l s c h a f t s w i s s e n s c h a f t l i c h vorgeht." 6;i (Es wäre zu prüfen, ob die Kennzeichnung „kulturwissenschaftlich" hier nicht angemessener wäre, weil die literarische Kommunikation zu jenem Kommunikationssystem der Gesellschaft gehört, in das die Menschen als historische 43

Individuen -

und nicht als Postsekretäre, Warendisponenten,

grammierer, Fluglotsen, Literaturwissenschaftler usw. -

Pro-

einbezogen

sind.) Dieser

wissenschaftliche Ansatz ist universell

und einseitig zu-

gleich. E r bildet eine spezifische Ordnung des Ganzen ab. Seine allgemeine Leistungsfähigkeit besteht darin, d a ß er jedes M o m e n t des literarischen Aneignungsprozesses einer G e s e l l s c h a f t oder K l a s s e erfassen kann und durch ihn dessen Platz und Funktion in der jeweiligen kulturellen Kommunikation bezeichnet wird. Forschungen zur geschichtlichen E n t f a l t u n g von kulturellen kommunikativen Strukturen lassen die R o l l e der Literatur im Organisationsprozeß einer G e sellschaft deutlich hervortreten. W i r d unter diesem speziellen A s p e k t die K u l t u r einer Gesellschaft als G e f ü g e verschiedener K o m m u n i k a tionskreise

oder Kommunikationsebenen

dargestellt, so

ermöglicht

dies auch, den kulturellen Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen der K l a s s e n und Schichten einer Gesellschaft näher zu kommen und ihren spezifischen Beitrag zu der widersprüchlichen E i n h e i t

dieser

Gesellschaftskultur zu entdecken. D i e Ausbildung spezifischer K o m munikationsformen wie die besondere V e r w e n d u n g allgemeiner k o m munikativer Verfahrensweisen

sind wesentliche Seiten des

Kultur-

bildungsprozesses, die auf diesem W e g e erforscht werden. D i e

Er-

mittlung der kommunizierten G e h a l t e und die K l ä r u n g des B e d e u tungswandels, den sie beim U b e r g a n g in ein anderes kommunikatives Teilsystem der Gesellschaft notwendig erfahren, kann als allgemeines kulturgeschichtliches

Verfahren

und

als

spezifisch

literaturwissen-

schaftliches Herangehen angesehen werden. Universell ist dieser A n satz letztlich dadurch, daß er von den historisch-konkreten sozialen Subjekten als den Trägern von K u l t u r ausgeht. D e r e n Organisationsprozeß institutionalisiert sich auch im A u f b a u einer eigenen literarischen K o m m u n i k a t i o n . Aus diesem G r u n d e wird ein

wesentlicher

Bereich der Geschichte proletarischer Klassenkultur in den Arbeiten marxistischer Literaturhistoriker abgebildet. E s ist einsichtig, daß weder die Kultur noch die Literatur einer historischen Gemeinschaft allein unter dem Gesichtswinkel der organisatorisch-kommunikativen Strukturen und Vorgänge vollständig gef a ß t werden können. Lebensweise, kulturelle Wertsysteme und geistige Produktion sind da wohl immer mit erfaßt, doch auf diese W e i s e nur in einem eingeschränkten Sinne zu begreifen. Insofern ist das gewählte V e r f a h r e n bewußt einseitig und bedarf der Ergänzung durch andere M o d e l l e , Forschungs- und Darstellungsmethoden. 6 ''

44

Rainer Rosenberg

Die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung als Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft

Ausgehend von der Beschäftigung mit der revolutionär-demokratischen Vormärzliteratur stieß die Literaturwissenschaft der D D R schon Anfang der sechziger Jahre auch zu den literarischen Zeugnissen der deutschen Sozialdemokratie vor. Zusammen mit dem Erbe Georg Weerths, mit Heines Deutschland. Ein Winter mär eben, einigen Gedichtcn Freiligraths und dem Spätwerk Georg Herweghs führte sie sie als „frühe sozialistische Literatur" in die Literaturgeschichtsschreibung ein. Bereits das Lexikon sozialistischer deutscher Literatur (1963), das die Geschichte dieser Literatur bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückprojizierte, verzeichnet etwa ein Dutzend sozialdemokratischer Schriftsteller und Journalisten, die bis dahin in keiner „Literaturgeschichte" erwähnt worden waren. 1 In den folgenden beiden Jahrzehnten entstand mit der von Bruno Kaiser, Manfred Häckel und Ursula Münchow begründeten und von Reinhard Weisbach und Norbert Rothe weitergeführten Reihe der Texlausgaben zur frühen sozialistischen Literatur eine Sammlung, die die künstlerische Literatur der deutschen Arbeiterbewegung bis 1918 in größtmöglicher Breite dokumentierte. 2 Die konzeptionelle Grundlage dieser Dokumentation war mit der 1964 in den Weimarer Beiträgen veröffentlichten Skizze zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur erarbeitet worden.-1 Der Konzeption der Skizze folgten grundsätzlich dann auch die Bände 8 und 9 der elfbändigen Geschichte der deutschen Literatur. Wie schon aus der Begriffsbildung hervorgeht, wurde der Gegenstand zunächst ideologisch bestimmt. Dabei hatten die Literaturwissenschaftler für die proletarische Literatur keinen anderen Literaturbegriff als den der bürgerlichen Ästhetik des 19. Jahrhunderts (der der damals maßgebenden Fassung der Realismus-Theorie zugrundelag): In Betracht kamen eigentlich nur kunstliterarische Produkte und nur die Produkte bzw. die Produktion. Die Forschungspraxis ging allerdings stets über 45

diesen Rahmen hinaus. Wilhelm Weitlings theoretische Schriften wurden von Anfang an ebenso in die literaturhistorische Darstellung einbezogen wie seine Gedichte. Der von Ingrid Pepperle verfaßte Abschnitt über die proletarische Literatur des Vormärz und der Achtundvierziger Revolution im Band 8.1 der Geschichte der deutschen Literatur behandelt die politische Aufklärungs- und Agitationsliteratur ausführlich/' und Ursula Münchow veröffentlichte eine Studie über Frühe deutsche Arbeiterautobiographien, die diese ebenfalls unter literaturgeschichtlichen Aspekten betrachtet.5 In der die Grenzen der Ästhetik überschreitenden Praxis blieben jedoch viele Probleme ungeklärt. Schon der Begriff „frühe sozialistische Literatur" stieß auf Widerspruch. Der von Manfred Häckel angebotene Beitrag über die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung 1869-1918 erschien in der fünfbändigen sowjetischen Geschichte der deutschen Literatur unter der Kapitelüberschrift Literatur der deutschen Sozialdemokratie? Die sowjetischen Herausgeber waren offensichtlich nicht bereit, eine rein ideologische Bestimmung als Gliederungsprinzip zu übernehmen. Und sie wären, selbst wenn sie dieses Prinzip akzeptiert hätten, noch mit der Tatsache konfrontiert gewesen, daß hier, eine Literatur das Attribut „sozialistisch" erhalten hatte, deren Ideologie in vielen Fällen nicht dem wissenschaftlichen Sozialismus entsprach. Aber auch innerhalb der Literaturwissenschaft der D D R bestanden unterschiedliche Begriffe sozialistischer Literatur nebeneinander. Allgemein sprach man von „sozialistisch-realistischer deutscher Literatur" im Hinblick auf die seit Ende der zwanziger Jahre entstandenen Werke Bechers, Seghers', Brechts usw., und man sprach von der „sozialistischen Nationalliteratur der D D R " . Die mit der revolutionären Arbeiterbewegung verbundene deutsche Literatur der zwanziger Jahre wurde demgegenüber als „proletarisch-revolutionär" definiert. Diese Unterscheidung beruhte offensichtlich darauf, daß eine rein ideologische Begriffsbestimmung auch von den Literaturwissenschaftlern der D D R , die auf dem Gebiet der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts arbeiteten, nicht angestrebt wurde. „Sozialistische Literatur" meinte in ihrem Sprachgebrauch „Literatur der sozialistischen Gesellschaft", die Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft wurde dagegen grundsätzlich in den durch die Realismus-Theorie gegebenen ideologisch-ästhetischen Kategorien (kritischer Realismus/sozialistischer Realismus - nichtrealistische Strömungen oder „Methoden") gedacht. In diesen Kategorien war die proletarische Literatur der zwanziger Jahre aber nicht adäquat zu erfas-

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sen. Der Begriff der „frühen sozialistischen Literatur", der als ideologische Bestimmung eher auf diese Literatur anzuwenden gewesen wäre als auf die proletarische Literatur des 19. Jahrhunderts, stimmte jedenfalls mit dem Sprachgebrauch in der Forschung zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts nicht überein. Schwerer als die widersprüchliche Begriffsbildung wog jedoch die ihr zugrundeliegende Problematik der ideologisch-ästhetischen Bewertung, der die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand nicht entgehen konnte. Zweifellos hatten die Herausgeber der Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur, als sie diesen Gegenstand zu erschließen begannen, sich nicht in erster Linie von einem ästhetischen Interesse leiten lassen. Da sie - als Literaturhistoriker - ihn aber nicht vorrangig in den Forschungszusammenhang der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sondern der Geschichte der deutschen Literatur stellten, mußten sie erfahren, daß auch die geltenden ideologisch-ästhetischen Wertkriterien an ihn herangetragen wurden. Die Herausgeber der Textausgaben haben über die auf diese Weise zustande gekommenen „schiefen" Urteile und eine daraus folgernde Geringschätzung der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts oft geklagt, obwohl die literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen für solche Klagen keinen greifbaren Anlaß gaben. Sie wurde in ihnen, da sie ja doch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung gehörte, in der Regel pietätvoll umgangen. Tatsächlich war es nur eine kleine Zahl von Literaturwissenschaftlern, die sich mit der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts ernsthaft beschäftigten. Deren Versuche, die künstlerischen Qualitäten dieser Literatur auf der Grundlage der Realismus-Theorie nachzuweisen, wirken allerdings zumeist defensiv und verkrampft. Generell waren die konzeptionellen Schwierigkeiten der Einordnung der Literatur der deutschen Sozialdemokratie in die Literaturgeschichte durch die Skizze nicht gelöst worden. Als Geschichte des Realismus konzipiert, deren Bogen sich von Goethe über Keller, Raabe, Fontane bis zu Thomas Mann und zur sozialistisch-realistischen Literatur der D D R spannte, konnte die deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der Literaturerzeugnisse proletarischer Laienschriftsteller oder sozialdemokratischer Parteijournalisten eigentlich nur als ungelenke Anfänge oder publizistische Randerscheinungen aufnehmen - und die Literaturhistoriker hätten sich dabei auch noch auf Mehring berufen können, der zwar - Engels' Hinweisen folgend - Georg Weerth als ersten Dichter des deutschen 47

Proletariats in Erinnerung brachte, aber gegenüber den zeitgenössischen Bemühungen um eine proletarische Literatur sich bekanntlich reserviert verhielt. Die Autoren der elfbändigen Geschichte der deutschen Literatur behalfen sich statt dessen mit einem Kompromiß: Die „große Linie" der Realismus-Entwicklung wurde voll durchgezogen, das heißt, die Geschichte der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde wesentlich als eine Geschichte bürgerlicher Literatur geschrieben. Die Kapitel über die Entwicklung der „frühen sozialistischen Literatur" wurden in die Geschichtserzählung „eingeschoben", wobei die Wertung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der „Stofferoberung" - der Widerspiegelung des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Gesellschaft, der Schilderung der Not des Proletariats und des Klassenkampfes - erfolgte. Diese „Stofferoberung" konnte mit vollem Recht als eine künstlerische Errungenschaft dargestellt werden, auch wenn sie an und für sich noch keine realistische Qualität verkörperte. (Während aber doch die Qualität des Realismus der zeitgenössischen bürgerlichen Erzählliteratur in Deutschland nach allgemeiner Übereinkunft als dadurch gemindert angesehen wurde, daß der Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft ausgespart blieb.) Gleichzeitig gab es theoretische Bemühungen, die Kluft zwischen bürgerlicher und proletarischer Literatur mit Hilfe von Lenins Lehre von den zwei Kulturen zu überbrücken. Die demokratischen Züge in den Werken der bürgerlichen Realisten herausstellend, rückte man sie mit der proletarischen Literatur als Elemente jener demokratischen und sozialistischen Kultur zusammen, die Lenin der herrschenden Kultur gegenübergestellt hatte. Dabei blieb allerdings die Grenze zur herrschenden Kultur, das heißt zur Kultur der herrschenden Klasse im Ungefähren: So wenig die bürgerlich-realistische Literatur von Keller bis Fontane in der herrschenden Kultur restlos aufging, so wenig ließ sie sich von der Kultur der herrschenden Klasse gänzlich abtrennen. Die Experten der proletarischen Literatur brachten ihrerseits keine Lösungsvorschläge für die Probleme, die ihr Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung aufgab, in die Diskussion ein. Sie waren dazu auch kaum in der Lage, weil ihre Aufmerksamkeit auf die proletarische Literatur konzentriert war. Die Feststellung dieses Tatbestandes enthält keinen Vorwurf gegen die Experten, denn schließlich hatten sie erst einmal das Material zu sammeln und zu sichten, das von der bürgerlichen Literaturwissenschaft unbeachtet liegengelassen worden war, während für die Beschäftigung mit dem bürgerlichen Erbe ein 48

reicher Materialfundus existierte, von dem die Literaturwissenschaft der D D R - manchmal vielleicht zu unbedenklich - ausging. Nichtsdestoweniger wurde die Isolierung der proletarischen Literatur vom Gesamtprozeß auf die Dauer auch für die Erforschung dieses Gegenstandes zu eipem Handicap. Mit der Einführung wirkungsästhetischer und kommunikationstheoretischer Gesichtspunkte in die Literaturwissenschaft und der Durchsetzung einer funktionalen Betrachtungsweise veränderte sich die Problemlage. Denn den Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung bildet nun nicht mehr nur ein Traditionszusammenhang von literarischen Kunstwerken (in den die Erzeugnisse der proletarischen Literatur einzuordnen waren), sondern das gesamte Feld -der literarischen Kommunikation der Gesellschaft. Indem das einzelne Literaturprodukt danach nicht mehr nur in seinem Entstehungsprozeß, sondern im komplexen Zusammenhang seiner Entstehung, Verbreitung und Wirkung zu betrachten war, bildete sich auch eine umfassendere und differenziertere Vorstellung des literarischen Gesamtprozesses. Dieser ließ sich nicht mehr einfach mit dem Traditionszusammenhang der Werke identifizieren. Zur Debatte stand vielmehr die Entwicklung des gesellschaftlichen Umgangs mit Literatur. Differenzierter wurde die Vorstellung insofern, als die literarische Kommunikation der G e sellschaft ja ebensowenig ein homogenes Feld darstellt wie die Gesellschaft selbst. Die verschiedenen Klassen und Schichten gehen unterschiedlich mit Literatur um und sie gehen auch mit unterschiedlicher Literatur um. E s bestehen - klassen- oder schichtenspezifisch bestimmte - unterschiedliche Ebenen der Literaturkommunikation, und es bestehen verschiedene - einander vielfach überschneidende - Kommunikationskreise. Den Experten der proletarischen Literatur lieferte die kommunikationswissenschaftliche Gegenstandsbestimmung die theoretische Begründung für eine Arbeitsweise, zu der sie - gedrängt durch die Natur ihres Gegenstandes und durch die Forschungslage - von Anfang an tendierten. Sie hatten deshalb auch die geringste Veranlassung umzudenken. Wohl aber half ihnen die Wissenschaftsentwicklung - wie die Forschungsergebnisse zeigen - , die theoretischen Fragen schärfer zu erfassen oder neu zu formulieren und ihre Methode zu reflektieren. Geht man von den jüngsten Forschungsergebnissen aus, so stellt sich die Problematik des Gegenstandes heute etwa folgendermaßen dar, wird die aktuelle Aufgabenstellung etwa folgendermaßen umrissen: 4

Proletarische K u l t u r

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Erforscht werden Entstehung und Entwicklung der literarischen Kommunikation der deutschen Arbeiterklasse, die ein vom literarischen L e b e n der bürgerlichen Schichten abgehobenes eigenes K o m m u nikationssystem ausbildet. D a s literaturwissenschaftliche Interesse konzentriert sich auf Struktur und Funktionsweise dieses Systems geht also nicht in der soziologischen (kulturhistorischen) Frage auf, was alles Proletarier unter dem E i n f l u ß der herrschenden Kultur ge= lesen haben mögen, obwohl für die Literaturwissenschaft natürlich auch diese F r a g e von B e l a n g ist. Angesichts der Tatsache, daß die Ausbildung eines eigenen literarischen Kommunikationssystems der Arbeiterklasse an die Entwicklung der Arbeiterbewegung gebunden ist und dieses System in seiner entwickelten F o r m eine literaturorganisatorische Leistung der Partei der Arbeiterklasse darstellt, ist es gerechtfertigt, es als L i t e r a t u r s y s t e m d e r Arbeiterbew e g u n g oder als L i t e r a t u r s y s t e m der revolutionären deutschen Sozialdemokratie zu definieren. Dieses System umfaßt nicht alle von Proletariern gelesenen oder unter Proletariern verbreiteten Literaturerzeugnisse, enthält aber mehr als die von Vertretern der deutschen Arbeiterklasse erzeugten literarischen Kunstprodukte. D i e kommunikationswissenschaftliche Gegenstandsbestimmung hatte zunächst eine theoretische Begründung für die Historisierung des Literaturbegriffs geliefert. Z w a r mußte schon die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung, auch wenn ihr in neuerer Zeit zumeist rein dichtungsgeschichtliche Konzepte zugrunde lagen, die jeweilige historische Stufe der Arbeitsteilung berücksichtigen und beispielsweise in ihre D a r s t e l l u n g der frühbürgerlichen oder der mittelalterlichen Literatur Literatursorten einbeziehen, die sie aus der Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit Recht ausschloß. D i e System-Auffassung der proletarischen Literatur verhalf nun aber auch zu der Einsicht, d a ß die marxistische Historiographie bei diesem Gegenstand mit dem gleichen Recht auf einem Literaturbegriff zu bestehen hatte, der über die poetischen Gattungen hinaufging. Erforschte man die Entwicklung der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts unter dem A s p e k t der Ausbildung eines relativ selbständigen literarischen Kommunikationssystems, dann erkannte man nämlich auch sofort, daß das System in Struktur und Funktionsweise v o m bürgerlichen Literatursystem abwich. E i n e Reihe dieser Abweichungen ließ sich aus dem unterschiedlichen Entwicklungsstand beider Systeme erklären. Hier halfen die historischen Analogien zur bürgerlichen Li-

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teratur vom späten Mittelalter bis zur Aufklärung. Noch für das 18. Jahrhundert ist erwiesen, daß politisch-philosophische Traktate, Predigten, Streitschriften, Reisebeschreibungen oder historiographische Texte ebenso als Kunstleistungen aufgefaßt wurden wie epische oder dramatische Dichtungen (die Geschichtsschreibung galt - zumindest im Selbstverständnis der Historiker - bis ins 19. Jahrhundert als eine „Kunst"). Die Vertreter der „rhetorischen" Genres waren zumeist mit den Verfassern poetischer Texte identisch, und sie bedienten sich in diesen Genres ebenso poetischer Mittel wie andererseits für die Poesie weitgehend noch die Regeln der Rhetorik Gültigkeit hatten. Der Roman - die wichtigste Kunstform im bürgerlichen Literatursystem des 19. und 20. Jahrhunderts - hatte keinen höheren künstlerischen Status als die „rhetorischen" Genres und wurde gar nicht zu den poetischen Gattungen gerechnet. (Daß er für die epische Gattung eintrat, war das Resultat eines historischen Prozesses, der sich erst im 19. Jahrhundert vollendete.) Dementsprechend waren auch die funktionalen Divergenzen zwischen den „rhetorischen" und den poetischen Genres geringer: Jene sprachen ebenso auch ästhetische Bedürfnisse an wie die poetischen Genres auch Informationsund Aufklärungsfunktionen erfüllten. (Diese und andere außerästhetische Funktionen erfüllen künstlerische Literaturprodukte auch heute noch, insgesamt ist jedoch die zunehmende funktionale Divergenz nicht zu übersehen.) Die Literatur der Arbeiterbewegung hat mit der bürgerlichen Literatur früherer Zeiten die enge Verbindung der ästhetischen Funktion mit didaktisch-aufklärerischen, politischen, moralischen Funktionen gemein. Das proletarische Literatursystem entsteht ebensowenig als ein System der Kunstkommunikation, wie auch die bürgerliche Kunstliteratur bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts kein eigenes System bildete. Der Literaturbegriff, der den Forschungen zur proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts vorauszusetzen ist, darf also nicht enger sein als der Literaturbegriff der bürgerlichen Aufklärung. Viel weiter als bis zu der Feststellung, daß beide Literatursysteme - die Literatur der Arbeiterbewegung und die bürgerliche Literatur bis zur Revolution von 1848/49 - grundsätzlich der Emanzipation der Klassen dienten, die sie trugen, helfen die historischen Analogien allerdings nicht. Denn das Bürgertum hatte schon unter der Feudalherrschaft die geistige Führungsrolle in der Gesellschaft erlangt. Die Entwicklung der Wissenschaften und der Technik, der Aufbau der neuzeitlichen weltlichen geistigen Kultur wurden wesentlich vom Bürgertum vorange4»

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trieben. Die geistige Produktion, die Literaturproduktion vor allem, war im großen und ganzen eine bürgerliche Tätigkeit. Die diese T ä tigkeit ausübten und zunehmend ihre Existenz auf sie gründeten, bildeten die bürgerliche Intelligenzschicht, die sich ursprünglich aus den verschiedensten Klassen und Schichten rekrutierte, in wachsendem M a ß aber selbst reproduzierte. Diese Schicht nutzte ihre unter der Feudalherrschaft und in deren Dienst erworbene Stellung im geistig-kulturellen Leben der Gesellschaft, nach Maßgabe der ökonomischen Stärke des Bürgertums, zur Ausarbeitung und Verbreitung einer bürgerlichen Ideologie. D i e Emanzipation von den Fesseln der Feudalherrschaft war ein Prozeß, in dem das Bürgertum, ökonomisch gestärkt durch die Akkumulation des Kapitals in seinen Händen und durch die Entwicklung der Warenproduktion, zuerst die ideologischen Stützen des herrschenden Systems untergrub, ehe es zum politischen Kampf antrat. In Deutschland, wo die Bedingungen für die politische Revolution erst im 19. Jahrhundert heranreiften, bildete das Bürgertum mit reformerischen Konzepten seine Führungsrolle in wichtigen ideologischen Bereichen wie zum Beispiel in der Kunst noch unter der Feudalherrschaft voll aus, wurde die Kunst selbst - im Programm der ästhetischen Erziehung - zu einer Form bürgerlicher Emanzipation, die die politische Revolution gar nicht mehr anvisierte, sondern als Alternative zu ihr gedacht war. Für das Proletariat war demgegenüber der politische Kampf der einzige Weg, der es aus der Situation herausführte, in der es sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts befand. Nur durch den Aufbau einer politischen Kampforganisation konnte das Proletariat auch seine Kulturlosigkeit überwinden, und nur innerhalb der politischen Kampforganisation konnte es ein eigenes geistig-kulturelles Leben entfalten. Proletarische Literatur entstand und entwickelte sich als Kommunikationsmittel des organisierten Proletariats zur Verständigung über die Klassenlage, über die Ziele des politischen Kampfes und über dessen Strategie und Taktik. Ihre Formen waren bestimmt durch diese Funktion und durch den Umstand, daß die Proletarier erst in der politischen Kampforganisation literarischer Kommunikation sich zu bedienen lernten - in den ersten Jahrzehnten beginnend mit der Alphabetisierung. D i e proletarische Literaturkommunikation konnte somit auch nicht auf dem Niveau der literarischen Kultur des Bürgertums ansetzen, sondern sie mußte auf die Traditionen der oralen Poesie des Volkslieds, des mündlich überlieferten Gedichts - und auf diejenigen literarischen Formen zurückgehen, für die Elementarschul-

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Unterricht und Kirche Rezeptionsvoraussetzungen geschaffen hatten Von diesen Voraussetzungen her entwickelte sich das literarisch« Kommunikationssystem des Proletariats als ein System, in dem die politische Literatur die dominierende Rolle behielt und auch die literarischen Kunstformen weitgehend der politischen Funktion untergeordnet blieben. Bestimmte literarische Kunstformen, die in dei bürgerlichen Literatur des 18. Jahrhunderts eine politische Funktion erfüllt hatten, nämlich die dramatischen, konnte das Proletariat aber auch in dieser Funktion nicht voll aufnehmen, weil es im 19. Jahrhundert kaum Zugang zum Ort ihrer Realisation, dem Theater, fand. Schließlich wurde die eigenartige Entwicklung der proletarischen Literatur durch die Unterdrückung und Verfolgung der politischen Kampforganisation mitbedingt. Zwar war auch die freie Entfaltung der bürgerlichen Literatur durch die politischen Herrschaftsmächte behindert worden, hatten ökonomische Beschränkungen und politische Repressionen auch das bürgerliche Literatursystem deformiert. Diese Repressionen hatten jedoch weder den Erfolg noch das Ziel, die literarische Kommunikation des Bürgertums überhaupt zu unterbinden. Demgegenüber wurden die Ansätze einer proletarischen Literatur, weil sie an die politische Kampforganisation gebunden waren, mit deren Verfolgung mehrfach zerstört, haben die herrschenden Klassen auch später die proletarische Literaturorganisation immer bekämpft. Die kommunikationswissenschaftliche Auffassung der proletarischen Literatur gab aber nicht nur die Legitimation, die politische Literatur in die Forschung einzubeziehen; sie enthielt eine viel weitergreifende Gegenstandsbestimmung. Denn kein Literatursystem - das der Arbeiterbewegung so wenig wie das bürgerliche - basiert allein auf der klasseneigenen nationalsprachlichen zeitgenössischen Literaturproduktion. In der Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung befinden sich auch Werke der bürgerlichen deutschen Literatur, vornehmlich der Aufklärung und der Klassik und Übersetzungen bürgerlicher und proletarischer Literatur anderer Völker. Dieses Faktum hatte die Forschung zwar ebenfalls schon früher beschäftigt, weil sie ja mit den großen Debatten konfrontiert war, die in der deutschen Sozialdemokratie über den Wert des bürgerlichen Literaturerbes und der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur für die Arbeiterbewegung geführt wurden, und weil sie, beim Studium der Perioden von 1890 bis 1918, allenthalben auch des Echos gewahr wurde, das die zeitgenössische russische, skandinavische und französische Literatur bei lesenden deutschen Arbeitern hervorrief. Der Konsequenz, die in der 53

Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung befindlichen Werke des bürgerlichen Erbes und der Literaturen anderer Völker nicht nur als Gegenstände sozialdemokratischer Literaturkritik, sondern als Elemente des Literatursystems der deutschen Arbeiterbewegung zu behandeln, hat sich die Forschung jedoch, obwohl konzeptionelle Bedenken nicht geltend gemacht wurden, bisher kaum gestellt. Man wird das Ausweichen vor dieser Konsequenz in erster Linie wohl auf die unübersehbare Stoffmasse zurückzuführen haben, die die Forscher auf sich zukommen sahen. Tatsächlich ist die kommunikationswissenschaftliche Konzeption der Literaturgeschichtsschreibung ja auf keinem Gebiet bisher befriedigend realisiert wordeil, dürfte die umfassende und detailgetreue historische Rekonstruktion des Literatursystems der deutschen Arbeiterbewegung letzten Endes auch eine unerfüllbare Aufgabe sein. Die kommunikationswissenschaftliche Orientierung wird durch die theoretischen Inkonsequenzen und praktischen Eingrenzungen jedoch nicht in Frage gestellt, und ein Abrücken von ihr ist auch kaum zu befürchten, weil sie die Forschung schließlich einer Reihe konzeptioneller Schwierigkeiten enthoben hat, die auf anderer theoretischer Grundlage nicht zu lösen sind. Darüber, daß nur auf kommunikationswissenschaftlicher Grundlage ein dem objektiven Sachverhalt entsprechender Literaturbegriff gewonnen werden konnte, ist das Nötigste bereits gesagt worden. Erst die System-Auffassung der proletarischen Literatur befreite die Forschung auch aus dem Dilemma der ideologischen Gegenstandsbestimmung. Gäbe man diese Auffassung auf, müßte man zu dem Verfahren zurückkehren, die Zugehörigkeit eines Textes zur proletarischen Literatur danach zu entscheiden, ob er vom Standpunkt der Arbeiterklasse geschrieben ist. Abgesehen davon, daß das, zum Beispiel in der Lyrik, oft zu einer rein thematischen Auswahl geführt hat, bestand das Dilemma dieses Verfahrens darin, daß die Forschung ihren Gegenstand damit gewissermaßen selbst diskreditierte, weil sie die diversen utopisch-kommunistischen, die lassalleanischen, reformistischen und revisionistischen oder anarchistischen Standpunkte, von denen ein großer Teil der in Frage kommenden Texte geprägt war, ja nicht unterschiedslos als „Standpunkt der Arbeiterklasse" akzeptieren konnte. Sie nahm selbstverständlich den marxistischen Standpunkt zum Maßstab, mit dem sie dann aber meist nur eine Annäherung an den Standpunkt der Arbeiterklasse oder eine Abweichung von ihm festzustellen vermochte. (Andere ebenso unzulängliche Verfahren,

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eine proletarische Literatur zu konstituieren, etwa nach dem Kriterium der sozialen Herkunft des Autors oder nach der Devise: proletarische Literatur ist alles, was von Arbeitern gelesen wurde, haben glücklicherweise in der Literaturforschung der DDR keine Rolle gespielt.) Die kommunikationswissenschaftliche Konzeption ermöglichte es der Forschung demgegenüber, die proletarische Literatur in jedem Stadium ihrer Entwicklung zunächst als historische Errungenschaft der Arbeiterklasse, als kulturelle Leistung der Arbeiterbewegung zu würdigen, dabei zugleich die jeweilige ideologische Verfassung der Arbeiterbewegung herauszuarbeiten und natürlich auch den ideologischen Gehalt der einzelnen Texte in seinem Verhältnis zum wissenschaftlichen Kommunismus zu" bestimmen. Schließlich etablierte sie mit der Einführung funktionaler Wertungskriterien eine Wertungsebene, auf der die geschichtlichen Wirkungspotenzen dieser Literatur in Betracht kamen, nach denen unter dem Paradigma der Realismustheorie nicht hatte gefragt werden können. Wie stellt sich die Geschichte der proletarischen deutschen Literatur - als Entwicklung des literarischen Kommunikationssystems der deutschen Arbeiterbewegung betrachtet - aber nun konkret dar? Die Anfänge haben wir zweifellos in den Arbeiterliederbüchern und in den Flugblättern, Broschüren und Zeitungen zu sehen, die von deutschen Handwerkergesellen und Arbeitern seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, in Frankreich, Belgien und Großbritannien herausgebracht wurden. Konzentrationspunkte dieser ersten Zeugnisse literarischer Selbstartikulation der deutschen Arbeiterklasse waren die frühkommunistischen Geheimgesellschaften und Bünde, denen sie zur Verständigung unter ihren Mitgliedern und zur Werbung für ihre Ziele dienten. Der Wirkungsradius der meisten Zeitungen muß, da sie in der Regel nur geringe Auflagen hatten und oft nur in wenigen Nummern erschienen, als relativ klein angenommen werden, während andererseits ihre Zahl bis 1848 beträchtlich anstieg. Gleichzeitig entwickelten sich einige bürgerliche Gründungen im Zuge der Radikalisierung der bürgerlichen Opposition und des Übergangs ihrer konsequentesten revolutionär-demokratischen Vertreter auf den Standpunkt der Arbeiterklasse zu Organen -der Demokratie, die die gemeinsamen Aufgaben aller revolutionären Kräfte formulierten. Solche Organe waren vor allem der Pariser Vorwärts!, die Deutsche Londoner Zeitung und die Deutsche-Brüsseler-Zeitung. Diese Blätter, an denen neben Heine, Rüge, Heß, Herwegh, Weerth, Freiligrath und anderen auch Marx und Engels mitarbeiteten, spielten 55

eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Prinzipien des wissenschaftlichen Kommunismus in der elementaren Arbeiterbewegung, und sie trugen gleichzeitig: Werke der künstlerischen Literatur, die äuf der Höhe der künstlerischen Möglichkeiten der Zeit standen, in die Arbeiterbewegung hinein. Wenn aber zum Beispiel die DeutscheBrüsseler-Zeitung am Vorabend der Revolution faktisch zur publizistischen Plattform des Bundes der Kommunisten wurde, so bedeutete das nicht, daß sie nur noch proletarische Leser ansprach. Sie reflektierte vielmehr auf die Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit, in der der vom Bürgertum geschaffene Literaturapparat für die Arbeiterklasse nutzbar wurde. Die historische Chance einer solchen auf dem Boden der Exilländer angebahnten Entwicklung bot die bürgerlich-demokratische Revolution 1848/49, als ein Blatt wie die von KarJ Marx geleitete Neue Rheinische Zeitung, die sich im Untertitel ausdrücklich als Organ der Demokratie bezeichnete, für kurze Zeit in Deutschland bestehen konnte. Mit dem Sieg der Konterrevolution wurde diese Entwicklung abgebrochen. Nicht nur, daß bürgerlichen Demokraten wie Kommunisten jede öffentliche Wirksamkeit in Deutschland abermals versperrt wurde und an die Möglichkeit proletarischer Kommunikation über den bürgerlichen Literaturapparat folglich schon gar nicht mehr zu denken war. Auch im Exil setzte sich der für die vorrevolutionäre Situation charakteristische Prozeß der Annäherung von Teilen der bürgerlichen Intelligenz an den Klassenstandpunkt des Proletariats nicht fort, trat vielmehr eine rückläufige Entwicklung ein. Verlauf und Ergebnis der Revolution hatten den Widerspruch von Kapital und Arbeit, der durch den gemeinsamen Kampf aller unterdrückten Klassen und Schichten gegen das feudalbürokratische Herrschaftssystem überdeckt worden war, in voller Schärfe hervortreten lassen und damit der Herausbildung revolutionär-demokratistjier Positionen den Boden entzogen. Diese Positionen, denen die Tendenz des Übergangs auf den Standpunkt der Arbeiterklasse innewohnte, fielen nach 1849 in der bürgerlichen deutschen Intelligenz fast völlig aus. Der Übergang, mit dem revolutionärdemokratische Intellektuelle im Vormärz in großem Maßstab auch die literarische Bildung des Bürgertums in die Arbeiterbewegung hineintrugen, war offensichtlich schwieriger geworden. Demgegenüber brachte erst die kapitalistische Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland massenhaft ein modernes Industrieproletariat hervor, bildeten sich erst in den sechziger Jahren in Deutschland Formen der politischen Klassenorganisation, 56

deren Basis so breit war, daß sie nicht mehr durch Polizeiaktionen liquidiert werden konnten. Beginnend mit den lokalen Arbeiterbildungsvereinen, entwickelte sich, markiert durch historische Daten wie die Gtündung des ADAV und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und deren Vereinigung auf dem Gothaer Kongreß von 1875, in den sechziger/siebziger Jahren eine das ganze 1871 gegründete Deutsche Reich umfassende einheitliche politische Organisation der Arbeiterklasse. In diesem Prozeß entstand bereits in den sechziger Jahren eine Reihe von Publikationsorganen von überregionaler Bedeutung, so der Nordstern (1860-1866, seit 1863 unter dem Einfluß des ADAV), der Social-Demokrat (1864-1871), die Deutsche Arbeilerhalle (1867-1868, Organ des von August Bebel geleiteten Verbandes deutscher Arbeitervereine) und deren Fortsetzung, das Demokratische Wochenblatt (1868-1869, unter der Redaktion von Wilhelm Liebknecht), das auf dem Eisenacher Kongreß in Der Volksstaat umbenannt wurde und unter diesem Titel von 1869 bis 1876 als Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei fungierte. Nach der Reichsgründung kamen bei den „Eisenachern" wie bei den Lassalleanern neue Publikationsorgane hinzu, wurde von den neugegründeten Verlagen wie der Leipziger Genossenschaftsdruckerei (seit 1871) oder dem Verlag von Wilhelm Bracke, der 1871-1878 den Braunschweiger Volksfreund herausgab, dem Verlag von J. H. W. Dietz (seit 1881) oder dem Verlag -yon Paul Singer (seit 1884) auch die Buchproduktion aufgenommen. Bracke warb darüber hinaus mit seinem Volks-Kalender (1874-1878) vornehmlich unter der Landbevölkerung für die Ziele der Sozialdemokratie. Die 1875 aus dem Zusammenschluß von ADAV und SD AP hervorgegangene Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands verfügte bereits Ende 1878, beim Erlaß des Sozialisten-Gesetzes, mit ihrem Zentralorgan Vorwärts (1876-1878), mit der Illustrierten Die Neue Welt (1876-1919, Leitung Wilhelm Liebknecht, später Bruno Geiser) und mehreren lokalen und regionalen Zeitungen, mit einer von parteieigenen oder Parteimitgliedern gehörenden Verlagen unterhaltenen Buchproduktion und einem gut funktionierenden Verteilersystem über eine Literaturorganisation, die zweifellos einen beachtlichen Teil der lesenden Arbeiter erfaßte. Das Sozialistengesetz erwies sich - trotz der Beschränkungen und Erschwernisse, die es der proletarischen Literaturkommunikation verursachte - letzten Endes auch in dieser Hinsicht als ein Fehlschlag: Abgesehen davon, daß die Partei es vermochte, mit dem 1879-1888 in Zürich, 1888-1890 in London gedruckten 57

Sozialdemokrat sich ein neues Zentralorgan zu schaffen, das als kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator der Partei im Kampf gegen das Sozialistengesetz nach Deutschland hineinwirkte, fällt in diese Zeit auch die Gründung der ersten theoretischen Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie, Die Neue Zeit (1883, von Karl Kautsky geleitet, im Verlag von J. H. W . Dietz), sowie zweier massenwirksamer satirischer Zeitschriften: des Wahren Jacob (1879 von J. H . W . Dietz in Hamburg als lokales Monatsblatt gegründet und seit 1884 als Organ der ganzen Partei in Stuttgart herausgegeben) und des Süddeutschen Postillon (1884; Herausgeber: Max Kegel und Ludwig Viereck). Als das Sozialistengesetz fiel, bestanden im Deutschen Reich über 60 Parteizeitungen mit etwa 250 000 Abonnenten. Der Wahre Jacob erreichte mit 100 000 Abonnenten sogar eine Auflage, wie sie zu dieser Zeit sonst nur bürgerliche Generalanzeiger aufzuweisen hatten." Mit der Legalisierung der Parteiarbeit und der raschen Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie zur Massenpartei wuchs die proletarische Literaturorganisation sich schließlich zu einem mächtigen, vielfach gegliederten literarischen Kommunikationssystem aus, das bis 1917 in der internationalen Arbeiterbewegung ohne Beispiel war. D i e Sozialdemokratische Partei Deutschlands - wie sie seit dem Hallenser Parteitag von 1890 hieß - unterhielt um die Jahrhundertwende außer ihrem Zentralorgan (seit 1891 Vorwärts, das ehemalige Berliner Volksblatt) Tageszeitungen in allen größeren Städten (darunter einige wie die Leipziger Volkszeitung, das Hamburger Echo, oder die Bremer Bürgerzeitung — von regionaler oder überregionaler Bedeutung), eine große Illustrierte (Die Neue Welt), eine Romanwochenschrift (In freien Stunden, seit 1896), zwei theoretische Zeitschriften (Die Neue Zeit und - seit 1897 - die Sozialistischen Monatshefte. Internationale Revue des Sozialismus), die schon genannten satirischen Blätter, eine „Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen" (Die Gleichheit, 1891-1923, seit 1892 unter der Redaktion von Clara Zetkin), daneben diverse andere auf bestimmte Zielgruppen innerhalb der Arbeiterbewegung gerichtete Zeitschriften wie Der sozialistische Akademiker. Organ der sozialistischen Studierenden und Studierten deutscher Zunge, 1895-1896, 1897 umgewandelt in Sozialistische Monatshefte, oder Der Bibliothekar. Monatsschrift für Arbeiterbibliotheken, 1909-1914, außerdem in mehreren parteieigenen Verlagen eine Buchproduktion, die bereits in Reihen gruppiert war (zum Beispiel die Hausbibliothek der Leipziger Genossenschafts58

druckerei oder die Internationale Bibliothek des Dietz-Verlages), sowie ein ganzes Netz von Leihbibliotheken. Bestandteil dieses Systems waren schließlich auch die proletarischen Laienspielgruppen (1908 im Bund der Arbeiter-Theater-Vereine Deutschlands zusammengeschlossen) und die Arbeiterchöre (1908 vereinigt zum Deutschen Arbeiter-Sänger-Bund). Mit dem Aufbau dieser hier nur in großen Umrissen skizzierten Literaturorganisation ging die Bedeutung der Emigrantenzeitungen für die proletarische Literaturkommunikation in Deutschland allmählich zurück. Das gilt zumindest für das fremdsprachige Ausland, namentlich für die USA, wo die Gruppen der „Nachmärz"-Emigranten Zu Konzentrationspunkten für die politische Organisation der massenhaft einwandernden deutschen Arbeiter wurden. Diese Arbeiter dachten jedoch - im Unterschied zu der Masse derer, die im Vormärz nach Frankreich oder England emigriert waren, in der Regel nicht an die Rückkehr nach Deutschland, dementsprechend waren auch die deutschsprachigen amerikanischen Zeitungen in erster Linie nicht auf die Probleme der deutschen, sondern der amerikanischen Arbeiterbewegung orientiert, die diese Einwanderer mitbegründeten, und der eigene Kommunikationskreis, den sie bildeten, stand nur noch in losem Zusammenhang mit dem der deutschen Arbeiterbewegung. In den Jahren unter dem Sozialistengesetz verlagerte sich zwar ein Teil der Literaturproduktion der deutschen Sozialdemokratie ins Ausland, vor allem in die Schweiz, aber anders als im Vormärz konnten die Repressalien der herrschenden Klasse nicht mehr die proletarische Literaturkommunikation insgesamt aus Deutschland verbannen. Die in der Schweiz von deutschen Sozialdemokraten publizierten Bücher und Zeitungen waren in erster Linie für die Leser im Deutschen Reich bestimmt und erreichten nachweislich auch einen beträchtlichen Teil ihrer Adressaten. Im Fall der deutschsprachigen Schweiz wie auch der deutschsprachigen Gebiete Österreich-Ungarns wirkte überdies der Umstand, daß sie mit den später im Deutschen Reich vereinigten Ländern ein zusammenhängendes Sprachgebiet bildeten, bereits bei der bürgerlichen Literatur auf die Entwicklung eines gemeinsamen Kommunikationssystems hin, in dem die politischen Grenzen und die unterschiedlichen regionalen Traditionen, die Unterschiede in der geistigen Verfassung und im Stand der politischen Emanzipation des Bürgertums innerhalb der einzelnen politischen Gebilde als Gliederungsfaktoren auftraten. Die Klassenlage des Proletariats und die politische Ideologie der Arbeiterbewegung be59

wirkten, daß die proletarische Literaturkommunikation in den deutschsprachigen Ländern sich von Anfang an in einem noch engeren Zusammenhang entwickelte. D i e Mobilität der Proletarier begünstigte es, daß zum Beispiel österreichische Arbeiter in anderen deutschsprachigen Ländern proletarische Literatur rezipierten (und auch produzierten). D i e in Leipzig, Stuttgart und Berlin angesiedelten sozialdemokratischen Verlage versorgten auch die österreichische Arbeiterbewegung mit den Werken von Marx, Engels,- Bebel, Kautsky und anderen Theoretikern des wissenschaftlichen Kommunismus; ebenso hatten dann später auch Wiener oder Prager Arbeiterverlage ihre reichsdeutschen Abnehmer. Um eine volle Vorstellung von dem Umfang, der Struktur und der Funktionsweise des literarischen Kommunikationssystems der deutschen Arbeiterbewegung zu erhalten, wird man also auch noch dessen Zusammenhang mit der proletarischen Literaturkommunikation in Österreich-Ungarn und der Schweiz bedenken müssen, ohne daß man freilich die selbständige Entwicklung der politischen Klassenorganisation in diesen Ländern übersehen und ohne daß man verkennen dürfte, daß die kunstliterarischen Äußerungen der Arbeiterklasse dieser Länder retrospektiv gleichzeitig als Anfänge einer österreichischen bzw. deutsch-schweizerischen sozialistischen Literatur erscheinen. Von besonderem Interesse ist selbstverständlich die Frage nach der Stellung von Marx und Engels im Literatursystem der deutschen Arbeiterbewegung der sechziger bis neunziger Jahre. Zweifellos geht Marx' und Engels' literarisches Werk ebensowenig in der Geschichte der proletarischen deutschen Literatur auf, wie ihr politisches Wirken (das auch nach 1850 zu einem bedeutenden Teil literarisch vermittelt war) allein der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung angehört. Marx und Engels waren sich ihrer Aufgabe wohl bewußt, jede Chance zu nutzen, um die Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus unter den Proletariern aller Länder zu verbreiten; sie schrieben daher vor allem auch für englische und amerikanische Zeitungen in englischer Sprache. Gleichzeitig waren sie an der Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie, die schon in den siebziger Jahren die zahlenmäßig stärkste, theoretisch gebildetste und bestorganisierte Arbeiterpartei darstellte, besonders interessiert, beschäftigten sie sich intensiv mit deren Entwicklungsproblemen und versuchten sie insbesondere auch, ihre großen wissenschaftlichen Arbeiten in Deutschland herauszubringen. Umgekehrt bemühten sich die Führer der deutschen Sozialdemokratie, die die Autorität der Begründer des wissen-

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schaftlichen Kommunismus anerkannten, ihrerseits um die Mitarbeit von Marx und Engels in der Parteipresse, waren sie bestrebt, deren Schriften in Deutschland zu popularisieren. Daher kam es, daß - beginnend mit dem ersten Band des Kapital (1867 bei O. Meißner in Hamburg) - seit Anfang der siebziger Jahre fast alle größeren Arbeiten von Marx und Engels zuerst in Deutschland erschienen bzw. - während der Gültigkeit des Sozialistengesetzes - im Verlag der schweizerischen Volksbuchhandlung (Hottingen-Zürich), von wo aus ihre Verbreitung in Deutschland organisiert wurde. So gingen während das Kommunistische Manifest in den fünfziger/sechziger Jahren in Deutschland kaum aufzutreiben gewesen war und die nachwachsenden Generationen deutscher Arbeiter die Namen von Marx, und Engels nur noch vom Hörensagen gekannt hatten - die Werke der Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus in die Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung ein und wurden zu einem festen Bestandteil ihres Literatursystems. Die Forschungen zur Literatur der deutschen Arbeiterbewegung, die von der Vorstellung eines Kommunikationssystems mit ungefähr den hier skizzierten Konturen ausgingen, stießen jedoch noch auf eine Reihe anderer Fragen, die sich früheren Forschungen nicht oder nicht in dieser Weise gestellt hatten. Dazu gehört zunächst die Frage rlach der Gesellschaftsgruppe, der Größe und der sozialen Zusammensetzung der Gruppe, die dieses literarische Kommunikationssystem ausbildete. Wenn festgestellt wurde, daß seine Ausbildung an die Entwicklung der politischen Klassenorganisation gebunden war, so ist damit selbstverständlich nicht gesagt, die von deren Distributionsapparaten in Umlauf gebrachte Literatur sei nur von organisierten Arbeitern gelesen worden. Es muß aber noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die proletarische Literatur zu keinem Zeitpunkt die ganze Klasse erfaßte. Die Kulturhistoriker haben zwar eine Reihe vorliterarischer bzw. subliterarischer Formen von zum Teil bäuerlicher oder bürgerlicher Herkunft, darunter Formen oraler Poesie, beschrieben, die im Arbeiterleben generell eine kulturgeschichtlich beachtliche Rolle spielten. Von diesen Formen hat jedoch nur das Lied für die Literatur der Arbeiterbewegung größere Bedeutung erlangt. Das Lesen von Zeitungen oder Büchern oder gar das Schreiben gehörten hingegen - wie die Untersuchungen der Kulturhistoriker ergeben haben - auch in den siebziger/achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch nicht zur Lebensweise der Masse der Industriearbeiter - was niemanden verwundern wird, der bedenkt, daß der Arbeitstag, 61

der in den vierziger Jahren vielfach 16 Stunden betragen hatte, erst nach 1870 allgemein auf 12 Stunden verkürzt wurde. 8 Ebenso ist erwiesen, daß in dem Maß, wie die Zahl der lesenden Arbeiter sich vergrößerte, auch die Zahl derer zunahm, die an der bürgerlichen Literaturkommunikation partizipierten (die Produkte der bürgerlichen Massenliteratur konsumierten). 9 Um so bemerkenswerter ist die T a t sache, daß schon in der elementaren Arbeiterbewegung des Vormärz eine Literaturkommunikation existierte und daß dabei auch schon Proletarier-Autodidakten wie Wilhelm Weitling, Heinrich Bauer oder Stephan Born als Autoren auftraten. Für die zweite Jahrhunderthälfte verbürgen Namen wie Audorf, Bebel, Dietzgen, Kaiser, Kämpchen, Kegel, Klaar, Krille, Lepp, Rehbein, Rosenow, Scheu, Schiller, Vahlteich (um nur einige zu nennen) die ständig wachsende Zahl dieser Autodidakten, die ihre literarische Bildung erst in der politischen Arbeit erwarben, für die das Schreiben Teil ihrer politischen Arbeit war oder die diese jedenfalls zum Schreiben motivierte. Andererseits riß auch nach 1849 der Zustrom bürgerlicher Intellektueller zur Arbeiterbewegung nicht ab, entstammte auch noch ein großer Teil der sozialdemokratischen Autoren (und das heißt zugleich der Ideologen der Partei) den bürgerlichen Schichten. D i e meisten dieser Autoren hatten die bürgerliche Bildung genossen, und einige von ihnen - wie zum Beispiel Franz Mehring - hatten auch bereits ein bürgerliches Literatendasein geführt. Der Wechsel der Klassenposition war für diese Autoren generell gleichbedeutend mit dem Verzicht auf ein bürgerliches Publikum bzw. mit dem Verlust desselben. Selbst bürgerlich-gebildete Autoren wie Leopold Jacoby öder August Otto-Walster wurden vom bürgerlichen Publikum nicht mehr rezipiert und dementsprechend von der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr registriert. Für diese bildete dann auch die gesamte künstlerische Literatur der deutschen Arbeiterbewegung von Weitling und Weerth bis zu den sozialdemokratischen Schriftstellern der Jahrhundertwende eine zusammenhängende terra incógnita. D i e politisch-organisierende, agitatorische oder didaktisch-aufklärerische Funktionsbestimmtheit der Literatur der Arbeiterbewegung auf der einen Seite und auf der anderen die Tatsache, daß ihre Rezeption weitgehend auf proletarische Leserschichten beschränkt war, bestimmten schließlich auch den gesellschaftlichen Status ihrer Produzenten: Sie waren seit den sechziger Jahren meist Redakteure der Parteipresse, sofern sie nicht als Autodidakten ihren Lebensunterhalt weiterhin mit manueller Arbeit bestritten. Ein Teil der sozialdemokra62

tischen Parteijournalisten ging aus der Gruppe dieser Arbeiter-Autodidakten hervor. Als „freie" Schriftsteller zu leben, wie es die Mehrzahl der bürgerlichen Autoren anstrebte, war im allgemeinen weder das Ziel der Schriftsteller der Arbeiterbewegung noch eine für sie mögliche Existenzform. (Zu dieser Existenzform waren allerdings Marx wie auch Herwegh durch das E x i l gezwungen.) D i e soziologische Analyse von Autoren und Lesern proletarischer Literatur, deren bekannte Ergebnisse hier zusammengetragen wurden, hat Tatbestände zutage gefördert, die die Systemauffassung dieser Literatur unterstützen. Dennoch stößt man bei dem Versuch, die Geschichte der proletarischen Literatur als Entwicklung eines relativ selbständigen Kommunikationssystems zu beschreiben, auch auf eine Reihe von Sachverhalten, die diese Auffassung einzuschränken gebieten. Sie provozieren weitere für die Literaturgeschichtsschreibung wie die Kulturtheorie gleichermaßen interessante Fragen. So lief zum Beispiel die Distribution der proletarischen Literatur zu einem bedeutenden Teil über den kapitalistischen Markt. Insbesondere für die Buchproduktion erlangte der kapitalistische Markt, trotz des gleichzeitigen Aufbaus einer eigenen sozialdemokratischen Verteilerorganisation, zunehmend auch die Mittlerfunktion zwischen sozialdemokratischen Verlagen und proletarischen Lesern. Weiterhin ist daran zu erinnern, daß die Literaturproduktion der deutschen Arbeiterbewegung überwiegend in politischer Literatur bestand. D i e Verbreitung politischer Literatur war die Hauptaufgabe der sozialdemokratischen Verlage. Daneben publizierten sie zwar auch die wachsende Zahl der spontan entstandenen kunstliterarischen Äußerungen der Arbeiterklasse, deren Wert wie überhaupt die Perspektive einer proletarischen künstlerischen Literatur wurden jedoch von den Ideologen der deutschen Sozialdemokratie - Mehring eingeschlossen - bekanntlich zurückhaltend beurteilt. Trotz der Förderung, die die Arbeiter-Autodidakten in der Regel erfuhren, orientierte die Partei in der Frage der künstlerischen Literatur grundsätzlich auf die Aneignung des Erbes der bürgerlichen Aufstiegsperiode - als der notwendigen Bildungsvoraussetzung für die Entwicklung einer sozialistischen Literatur nach der proletarischen Revolution oder auch nur für eine prognostizierte Einebnung der Klassengegensätze in einer reformierten kapitalistischen Gesellschaft. Die ideologisch bedeutsamen Differenzen, die in der Frage nach der Art und Weise der Erbe-Aneignung - exemplarisch in der berühmten Schiller-Debatte 1905 - zwischen revolutionären und revisionistischen Kräften der Partei zutage traten, spielen

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in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Hier kommt es auf die Feststellung an, daß - ungeachtet der Bemühungen um eine eigene Erbe-Auswahl beim Abdruck künstlerischer Literatur in sozialdemokratischen Zeitschriften und bei der Programmierung belletristischer Buchreihen in sozialdemokratischen Verlagen und ungeachtet der seit den neunziger Jahren ständig geführten kritischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gegenwartsliteratur in der Parteipresse - die künstlerische Literatur nicht die Hauptform der Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung war und umfassendere und differenziertere belletristische Leseransprüche, wie sie naturgemäß vor allem politisch organisierte Arbeiter entwickelten, auf das Angebot der bürgerlichen Verlage verwiesen blieben. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang auch die Problematik der Volksbühnen-Bewegung. Auch die Idee der Freien Volksbühne entsprang dem sozialdemokratischen Bildungsprogramm. Gedacht war ja nicht an die Entwicklung eines proletarischen Theaters, sondern an die Öffnung einer bürgerlichen Institution für die Arbeiterklasse. Die Volksbühne wollte auf die Auswahl der aufzuführenden Stücke aus dem bürgerlichen Literaturerbe und der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur Einfluß nehmen. In der Praxis war diese Einflußnahme gering, entwickelte sich die Volksbühnen-Bewegung vielmehr zu einer reinen Besucherorganisation, die vorwiegend eine bestimmte Schicht die sozialdemokratische Arbeiteraristokratie - an das Theater heranführte. Daß die Volksbühnen-Bewegung - besonders in Gestalt der Neuen freien Volksbühne, die von den halbanarchistischen „Jungen" in der Partei unterstützt wurde - für eine begrenzte Zeit auch eine fördernde Rolle bei der Durchsetzung neuer Tendenzen in der bürgerlichen Kunst spielte, steht auf einem anderen Blatt. Hier handelt es sich darum, erstens die Verflechtung der proletarischen Literaturkommunikation mit dem bürgerlichen Literaturbetrieb zu veranschaulichen und zweitens deutlich zu machen, daß nicht nur das umfassendere Thema „Arbeiterklasse und Literatur", sondern auch das Thema „Arbeiterbewegung und Literatur" in der Beschreibung eines literarischen Kommunikationssystems nicht aufgeht: Die deutsche Sozialdemokratie baute-nicht nur ihre eigene Literaturorganisation auf, sondern entwickelte zugleich Strategien, unternahm Versuche, sich des bürgerlichen Literaturapparats zu bedienen, in ihn einzudringen und seine Funktionsweise mitzubestimmen. Diese Versuche sind, auch wenn sie bis 1918 in den Prozeß der „Verbürgerlichung" einmündeten, von ihrem Ansatz her nicht durchweg als reformistisch

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einzuschätzen; sie waren auch noch Teil der „Doppelstrategie", die von der revolutionären Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik angewendet wurde. Geht man jedoch auf den Versuch zurück, ein relativ selbständiges literarisches Kommunikationssystem zu beschreiben, so ist auch noch in anderer Richtung zu fragen. Wenngleich die künstlerische Literatur in der Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung nicht denselben Stellenwert erhielt wie im bürgerlichen Literatursystem, so gehörten zu den ersten literarischen Artikulationen des Proletariats-doch Lieder und Gedichte, war die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Kunst, vor allem der künstlerischen Literatur, schon im Vormärz integrierender Bestandteil der theoretischen Reflexion von Marx und Engels, die überdies als Kritiker der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur auftraten und in der mit Lassalle geführten Sickingen-Debatte - Engels später ebenso in den bekannten Briefen an Minna Kautsky und an Margaret Harkness - auch ihre eigenen ästhetischen Vorstellungen erläuterten. Lassalle seinerseits attackierte in seinem. Pamphlet Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker die liberale bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung. In der deutschen Sozialdemokratie erreichte die Literaturkritik einen hohen Stand; seit den neunziger Jahren beschäftigte sich die sozialdemokratische Presse ständig mit dem Verhältnis der Arbeiterklasse zum bürgerlichen Literaturerbe und mit den Entwicklungstendenzen der zeitgenössischen Literatur, wurden Literaturfragen - beginnend mit der Naturalismus-Debatte - mehrfach zum Gegenstand wichtiger parteiinterner ideologischer Auseinandersetzungen. Mit Mehrings umfangreichem literaturkritischem und literaturhistorischem Werk verfügte die deutsche Arbeiterbewegung bereits vor 1918 über eine marxistische Darstellung der Hauptlinien der deutschen Literaturgeschichte von der Aufklärung bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Zugleich enthielt dieses Werk die erste - bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wirksame - ausgearbeitete Konzeption einer marxistischen Literaturtheorie und Ästhetik. Neben, diesen und anderen hervorragenden Leistungen auf dem Feld der Literaturkritik, der Literaturtheorie und -geschichtsschreibung, das als ein Feld der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Klassengegner wie auch zwischen den beiden Grundrichtungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zunehmende Aufmerksamkeit der Parteiideologen erlangte, gewann jedoch auch die Produktion künstlerischer Literatur eine beachtliche Breite und Vielfalt. In ihrem entwickelten Stadium

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Proletarische Kultur

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um die Jahrhundertwende stellte sie sich als ein Gattungsensemble dar, in dem sich - wenn auch in anderer Gewichtung - fast álle von der bürgerlichen deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts verwendeten Genretypen wiederfanden. So hatte die proletarische Literatur in ihren Neuansätzen nach 1850 zum Beispiel im Gedicht zwar zunächst bei weitem nicht den Formenreichtum besessen, zu dem sie von Georg Weerth bereits geführt worden war. Obwohl die kunstliterarischen Bemühungen des Proletariats auch nach 1850 vor allem dem Gedicht galten, herrschten lange Zeit rhetorisch-appellative und balladeske Formen vor, die an die pathetische politische Lyrik des Vormärz und der Unabhängigkeitskriege oder auch unmittelbar an die VolksliedTradition anknüpften. Dennoch wurde - am wirkungsvollsten wahrscheinlich von Georg Herwegh, der selbst zu den hervorragendsten Vertretern der pathetischen Vonnärz-Lyrik gehört - auch das satirische politische Gedicht in der Art Heines und Weerths in die proletarische Literaturproduktion wieder eingeführt, Heines Wintermärchen sogar in einem Neuen Wintermärchen unmittelbar nachgearbeitet. Schon vor der Reichsgründung trat Leopold Jacoby mit großen, zum Teil in freien Rhytmen geschriebenen, philosophischen Gedichten auf, für die sich zu seiner Zeit auch in der bürgerlichen deutschen Literatur kaum Vergleichbares fand. Seit dem Eintritt einiger Vertreter der in den achtziger Jahren ansetzenden Generation bürgerlicher Schriftsteller in die Arbeiterbewegung kamen in der proletarischen Literatur nicht nur naturalistische (und später auch impressionistische und symbolistische) Schreibweisen zur Geltung, sondern wurde in ihr in größerem Umfang auch die „Arbeitswelt" selbst der Arbeitsvorgang, die Stadt- bzw. Industrielandschaft - zum Gegenstand des lyrischen Gedichts. Das Spektrum der erzählenden Prosaformen, die in den fünfziger/sechziger Jahren weitgehend ausfielen, deckt sich schon zu Anfang der neunziger Jahre nahezu mit dem der bürgerlichen Literatur und reicht von der Anekdote bis zum Gesellschaftsroman (Minna Kautsky). Thematisch wurde das proletarische Alltagsleben ebenso angeeignet wie der große historische Gegenstand (Schweicheis Bauernkriegserzählungen). Gleichzeitig förderte die Entwicklung der Arbeiterpresse die Aufnahme nicht-fiktionaler künstlerischer Prosagenres wie der Reportage oder des Feuilletons, entstand eine Reihe von Arbeiter-Autobiographien, die nicht nur von eminentem dokumentarischem Wert sind, sondern zum Teil auch beachtliche künstlerische Qualitäten aufweisen. Selbst die von der bürgerlichen Literatur ausgebildeten dramatischen Genres wurden 66

von der ArDeiterklasse, obwohl sie über kein eigenes Theater verfügte, aufgenommen und mit eigenem Inhalt erfüllt. Vom historischen Drama im „hohen" Stil der bürgerlichen Schiller-Epigonen (Lassalles ' Franz von Sickingen, Wittichs Ulrich von Hutten) über diverse Schwank- und Lustspielformen, wie sie die bürgerliche Unterhaltungsdramatik des 19. Jahrhunderts verwendete, bis zum „sozialen Drama" nach dem Vorbild des jungn Gerhart Hauptmann sind in der Literatur der Arbeiterbewegung fast alle dramatischen Genres, wenn auch mitunter nur durch wenige Stücke, belegt. Seit 1876 existierte (zuerst im Verlag der Volksbuchhandlung in Hottingen-Zürich, dann im Vorwärts-Verlag) eine Reihe Sozialistische Theaterstücke, in der eia Teil der dramatischen Produktion proletarischer Schriftsteller gesammelt wurde. Die kunstliterarische Produktion der deutschen Arbeiterbewegung erschöpfte sich jedoch nicht in der Aneignung der von der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur verwendeten Genretypen. Von besonderer Bedeutung ist, daß sie auch auf Formen zurückging, die von der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur nicht mehr gebraucht wurden, insbesondere auf Formen didaktischer Poesie (Fabel, Lehrgedicht), und daß sie gängige bürgerliche Literaturformen ihrer veränderten Funktionsbestimmung entsprechend ummodelte. Iii diesem Zusammenhang hat man vor allem auf die Verwendung von Schwank- und Lustspielstrukturen für didaktische und agitatorische Zwecke aufmerksam gemacht, sind etwa Jean-Baptiste von Schweitzers Der Schlingel oder das anonyme Demos und Libertas oder Der entlarvte Betrüger als frühe Formen eines sozialistischen Lehrstücks bzw. politischen Agitationsstücks beschrieben worden.1" Angesichts der hier nur angedeuteten Entwicklung der kunstliterarischen Produktion, mit der eine quantitative Zunahme und qualitative Differenzierung der politischen, philosophischen und (vpopulär-) wissenschaftlichen Literatur korrespondierte, stellt sich nicht nur unter dem Gesichtspunkt der praktischen Durchführbarkeit die Frage, ob die proletarische Literatur auch in ihrem entwickelten Stadiurri noch in ihrem ganzen Umfang Gegenstand der Literaturwissenschaft zu sein hat. Rechnet man die Herausbildung differenzierter Lesebedürfnisse bei den Arbeitern hinzu, so spricht vielmehr einiges dafür, die Literaturkommunikation der deutschen Arbeiterbewegung in ihrem entwickelten Stadium auch theoretisch differenzierter zu fassen. Es wäre sicher verfehlt, den Literaturbegriff nun auch in bezug auf die Entwicklung der proletarischen Literatur sukzessiv wieder auf die. künstlerische Literatur einzuschränken. Wenn schon die System5*

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Auffassung der proletarischen Literaturkommunikation im ganzen ihre problematischen Seiten hat, so ist die kunstliterarische Kommunikation erst recht nicht als selbständiges System zu denken. Die künstlerische Literatur bleibt grundsätzlich an die politische Klassenorganisation gebunden, erfährt keine von den Institutionen der Partei und vom bürgerlichen Literaturapparat abgesetzte autonome Institutionalisierung, die eine solche Auffassung rechtfertigen würde. Wohl aber gewinnen - wie schon gesagt - alte und neue bürgerliche Literatur und deren kritische Reflexion fortgesetzt an Raum innerhalb der proletarischen Literaturkommunikation, beansprucht auch die spontan entstehende kunstliterarische Produktion der Arbeiterklasse selbst einen wachsenden Anteil an ihr. Dabei beweist die Tatsache, daß dieser Prozeß zum Gegenstand parteiinterner Diskussionen wurde, eine Auffassung des Sachverhalts bei den Debattanten, die der hier dargelegten entspricht: Die kunstliterarische Produktion sozialdemokratischer Schriftsteller wird als „proletarische Kunst" bzw. als „sozialistische Dichtung" von der „sozialistischen Literatur" abgehoben, 11 aber dennoch als eine Art von „Parteiliteratur" gewertet, das heißt, als eine interne Angelegenheit der sozialdemokratischen Literaturorganisation angesehen (und eben deshalb Diskussionsgegenstand der Parteiideologen). Sofern die Literaturwissenschaft sich die fortdauernde Einbindung der künstlerischen Literatur in eine politisch bestimmte Literaturorganisation bewußt hält, läßt sich die praktisch gebotene (und vollzogene) sukzessive Einschränkung der Forschungen auf den Umgang der Arbeiterbewegung mit der künstlerischen Literatur somit auch theoretisch begründen: nicht mit einem der bürgerlichen Literaturentwicklung analogen Autonomwerden der künstlerischen Literatur, wohl aber mit der Differenzierung der kommunikativen Beziehungen, die mit dem geschriebenen Wort in der deutschen Arbeiterbewegung hergestellt wurden. Nicht mehr vertretbar ist allerdings der Ausschluß der in die Kommunikation einbezogenen bürgerlichen deutschen und ausländischen Kunstliteratur sowie der Literaturkritik und die Einschränkung auf die kunstliterarische Produktion proletarischer Schriftsteller, obwohl diese' für den Literaturwissenschaftler durchaus auch ein eigenes Interesse behält. Eben um auf dieses eigene Interesse zu kommen, ist noch eine letzte System-Frage zu erörtern. Während sich die Literaturkommunikation der deutschen Sozialdemokratie nach dem Fall des Sozialistengesetzes enorm verbreiterte und differenzierte, verlor sie - als Ganzes betrachtet - immer mehr den Charakter einer „Gegen-Öffent68

lichkeit". Mit dem Vordringen des Reformismus und Revisionismus wurde nicht nur in wachsendem M a ß kritiklos zeitgenössische bürgerliche Literatur in die sozialdemokratische Literaturkommunikation eingespeist, sondern wurden auch die kritischen Maßstäbe, die die Arbeiterbewegung sich für die Aneignung des bürgerlichen Erbes geschaffen hatte, immer weiter abgebaut. Gleichzeitig kamen, auch in der proletarischen Literaturproduktion nach der Jahrhundertwende vielfach revisionistische ideologische Tenderfzen zur Geltung - oft gepaart mit dem Versuch der Produzenten, sich ins bürgerliche Literatursystem zu integrieren. Mindestens im Umgang mit der künstlerischen Literatur verschwammen schon vor dem ersten Weltkrieg die Grenzen zwischen der sozialdemokratischen Literaturkommunikation und dem bürgerlichen Literatursystem, in dem sie sich schließlich auflöst. Während die naturalistische Generation der bürgerlichen Schriftsteller noch ai)f die Sozialdemokratie als „Gegen-Öffentlichkeit" reflektierte, kam diese für den antikapitalistischen Protest der ersten expressionistischen Generation schon gar nicht mehr in Betracht. Dabei war es sicher nicht nur das vom Reformismus und Revisionismus geprägte Bild der Verbürgerlichung, sondern auch der ästhetische Konservatismus marxistischer Kräfte in der Partei, die apriorische Auffassung, daß die neuen Formen der bürgerlichen Kunst nur noch Ausdrucksformen des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft sein könnten, was der Verbindung avantgardistischer bürgerlicher Schriftsteller mit der Arbeiterbewegung entgegenstand. Nach der Novemberrevolution von 1918 und der organisatorischen Neuformierung der revolutionären Arbeiterbewegung in der Kommunistischen Partei spielte der alte sozialdemokratische Literaturapparat für die Vermittlung der Gegenwartsliteratur nur noch eine völlig untergeordnete Rolle. Die der SPD nahestehenden Künstler waren nicht mehr auf ihn angewiesen, weil sie nun vollen Zugang zum kapitalistischen Literaturmarkt hatten, die KPD baute im Zuge ihrer politisch-ideologischen Konsolidierung ihre eigene Literaturorganisation auf. Die sozialdemokratischen Leser befriedigten ihre Lesebedürfnisse aus dem Angebot der bürgerlichen Verlage bzw. der zum Teil von der SPD unterstützten - Buchgemeinschaften. Die revolutionäre Kunst der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts entwickelte sich in allen ihren Strömungen außerhalb der von der alten Sozialdemokratie geebneten Bahnen und knüpfte in keiner ihrer Strömungen unmittelbar an die künstlerischen Traditionen der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts an. Versucht man also die Geschichte 69

der proletarischen deutschen Literatur als die im Vormärz beginnende, nach 1850 neu ansetzende Entwicklung eines literarischen Kommunikationssystems zu beschreiben, so läuft diese Geschichte mit dem Zusammenbruch der II. Internationale aus. Die durch alle Brüche hindurchgehenden Kontinuitätslinien einer vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung geschriebenen Literatur geraten in Gefahr, übersehen zu werden. (Was freilich auch bei den 1917/18 ansetzenden Forschungen leicht der Fall sein kann, wenn sie die Neuformierung einer revolutionären Kunst einseitig aus der Opposition gegen die II. Internationale ableiten.) Sofern man aber diese Kontinuitätslinien im Auge behält, bleibt den eindringlichen Schilderungen des Umbruchs, der sich in der revolutionären Nachkriegskrise im Verhältnis von Arbeiterklasse und Literatur vollzog, nichts hinzuzufügen. Die Geschichte der proletarischen Literatur mindestens des Zeitraums von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1918 war zwar schon unter werkästhetischen Gesichtspunkten als eine in sich zusammenhängende Entwicklung dargestellt worden. Erst mit der Erforschung der Kommunikationsbedingungen und der Art und Weise der Kommunikation, den speziellen Literaturverhältnissen also, die die Produzenten dieser Literatur vorfanden und auf die sie sich einstellten, und mit der grundsätzlichen Unterscheidung dieser Literaturverhältnisse von der Situation der revolutionären Literatur nach 1918 (wie auch von der Situation der zeitgenössischen bürgerlichen Literatur) wurde jedoch die funktionale Wertungsebene eingeführt, die die Literaturwissenschaft benötigt, um der proletarischen Literatur des 19. Jahrhunderts historisch gerecht werden zu können. Die Literaturwissenschaft ist an diesem Punkt allerdings nicht zu Ende. Sie kann weder bei der Untersuchung der „Funktionsgerechtigkeit" der proletarischen Literatur stehenbleiben noch die Wirkung dieser Literatur auf ihre ersten Leser als einzigen Wertungsmaßstab gebrauchen. Der literarische Gesamtprozeß, in den die werkästhetisch bestimmte Forschung die proletarische Literatur unvermittelt hineingestellt hat, ist keine Erfindung der idealistischen bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Bürgerliche und proletarische Literatur, wie die Klassenkulturen überhaupt, entwickeln sich nicht auf verschiedenen Planeten. Die Literatur der Arbeiterbewegung übernimmt - wie schon gesagt - ihr Material größtenteils der bürgerlichen Literatur und dies nicht in einer einmaligen Transaktion, sondern laufend, geht also, selbst wenn sie dieses Material in anderen Funktionen verwendet und teilweise umarbeitet, bis zu einem bestimmten Grad mit der

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bürgerlichen Literaturentwicklung mit. Bürgerliche Schriftsteller treten mit ihren künstlerischen Erfahrungen in die proletarische Literaturkommunikation ein - und auch wieder aus. Zeitweise - etwa zwischen 1885 und 1890 - nähert sich die gesamte Avantgarde der bürgerlichen Literatur der Arbeiterbewegung an, wirkt auf die proletarische Literatur ein und wird von der Ideologie der Arbeiterbewegung selber beeinflußt. Schließlich verläuft die Entwicklung nicht einerseits als kontinuierliche Höherentwicklung eines proletarischen und a n ' dererseits als fortschreitende Aushöhlung eines bürgerlichen Literatursystems bis zu einem Punkt, von dem an ersteres die gesamte Literaturkommunikation der, Gesellschaft übernimmt. Die vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung geschriebene Literatur nach 1918 beginnt - unter neuen Bedingungen - ihren Durchsetzungskampf mitten auf dem Markt, und sie beginnt diesen Kampf in der revolutionären Nachkriegskrise an einem Punkt, an dem sie sich selbst erst aus der Masse der von Revolutionsbegeisterung getragenen und mit utopisch-kommunistischen Visionen der Menschheitsverbrüderung erfüllten Kunstäußerungen neu herauskristallisiert. Bürgerliche und proletarische Literatur sind in ihrer Entwicklung also vielfach ineinander verschlungen, bilden - ungeachtet der relativen Selbständigkeit der Literaturkommunikation der Arbeiterbewegung zwischen 1830 und 1918 - doch ein widersprüchliches Ganzes, eben den literarischen Gesamtprozeß, der von der Produktionsseite aus gesehen als der „innerliterarische Zusammenhang", als der „Traditionszusammenhang der Werke" erscheint. Von der Produktionsseite aus gesehen kann die Isolierung der proletarischen Kunstliteratur folglich nur ein methodischer Schritt sein; die Entwicklung der Produktion kann jedoch nicht isoliert beschrieben werden, weil sie keinen eigenen, von der Entwicklung der bürgerlichen Literatur unbeeinflußten unabhängigen „innerliterarischen" Zusammenhang bildet. Die Literaturwissenschaft hat gelernt, den literarischen Gesamtprozeß als ein kompliziertes Gefüge mit unterschiedlichen, einander überschneidenden Kommunikationskreisen zu begreifen, unter denen die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung im Zeitraum von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1918 ( - wie wir, die eingangs wiedergegebene heutige Auffassung dieses Gegenstands einschränkend, jetzt besser sagen wollen - ) Züge eines relativ selbständigen literarischen Kommunikationssystems aufweist. Die durch diese Auffassung ermöglichte Einführung der historischen Funktion als einer ersten Wertungsebene hat - wie schon gesagt - die Literatur71

Wissenschaft in die Lage versetzt, dieser Literatur historisch besser gerecht zu werden, als sie es auf der Grundlage der Realismus-Theorie - die Literaturerzeugnisse der deutschen Arbeiterbewegung unmittelbar mit den Hauptwerken des „kritischen Realismus" konfrontierend - vermochte. Die Kulturgeschichtsschreibung kann mit der historisch-funktionalen Wertung der Literatur abschließen. Die Literaturwissenschaft hat demgegenüber immer auch auf die Frage zu antworten, welche Wirkungen die Literatur über ihre Entstehungszeit hinaus gehabt hat; ihr werden Erklärungen dafür abverlangt, warum diese oder jene alten Kunstprodukte bis heute oder heute wieder in Gebrauch sind; und man erwartet von ihr Anregungen und Vorschläge, alte Literatur, in der sie Wirkungspotenzen vermutet, wieder in Umlauf zu bringen. Auf das kunstliterarische Erbe der deutschen Arbeiterbewegung vor 1918 bezogen, heißt das, die Literaturwissenschaft muß auch erklären, warum dieses Erbe zum größten Teil heute nicht. mehr „lebendig" ist, sondern nur noch kulturgeschichtliches Interesse weckt, und warum es selbst die Tradition der sozialistischen Literatur des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich bestimmt hat. Man ist sich heute durchaus darüber im klaren, daß Kunstliteratur auch in außerästhetischen Funktionen weiterwirken oder wieder zur Wirkung gelangen kann; im allgemeinen aber ist die Wirkungspotenz in ihrem Kunstcharakter beschlossen, ermöglicht eben er es ihr, in neue gesellschaftliche Funktionen einzutreten. Ein noch so flüchtiger Blick auf die heute gelesene Literatur genügt, um zu beweisen, daß gerade auch alte Kunst, deren historische Funktion politisch bestimmt war, noch wirken kann, nachdem sie diese ursprüngliche Funktion längst verloren hat, indem sie ästhetisch rezipiert wird (und dank ihrer erhalten gebliebenen ästhetischen Rezipierbarkeit unter anderem auch neue politische Funktionen erfüllen kann). Die Literaturwissenschaft muß das kunstliterarische Erbe der deutschen Arbeiterbewegung somit auch ästhetisch werten, und zwar nicht nur, um Gründe dafür zu suchen, warum heute so viel weniger davon „lebendig" ist als von der gleichzeitig entstandenen bürgerlichen Literatur, um also die gegenwärtige Beschaffenheit der literarischen Kommunikation in unserer Gesellschaft zu bestätigen. Sie muß gerade auch dann ästhetisch werten, wenn sie ihrer anderen Aufgabe gerecht werden will, das Erbe immer wieder von neuem nach Texten zu durchforschen, die - einmal in Umlauf gebracht - aktuelle gesellschaftliche Funktionen übernehmen können. Selbstverständlich kalkuliert diese Forderung die Erkenntnis ein, daß der ästhetische Wert 72

historisch-materialistisch ebenfalls nur als eine funktionale Größe und nicht als eine Dingeigenschaft - vom wertenden Subjekt unabhängiges, dem Kunstprodukt eingeschriebenes, unveränderliches M a ß - zu fassen ist. Indem Ästhetik heute das geltende Werturteil als einen gesellschaftlichen Konsens begreift, reflektiert sie jedoch zugleich die komplexe historisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Wertvorstellungen und -maßstäbe, die der Urteilsbildung zugrundeliegen. Ein wesentliches Moment in diesem Bedingungskomplex ist nun der Literaturprozeß selbst - und zwar sowohl in seiner gesellschaftsgeschichtlichen Dimension als literarischer Kommunikationsprozeß gesehen wie auch als Traditionszusammenhang der Werke. Jenseits aller werkästhetischen Verabsolutierungen und Verkürzungen erweist sich das Werturteil über ein überliefertes Literaturprodukt immer auch als abhängig von dessen Stellung in der Literaturgeschichte. Indem die Wissenschaft die Stellung der Literatur der deutschen Arbeiterbewegung im literarischen Gesamtprozeß zu bestimmen versucht, geht sie folglich nicht nur einer wesentlichen Komponente der ästhetischen Urteilsbildung nach, der diese Literatur wie jede andere alte Literatur bei der unausgesetzten Selektion des Erbes unterliegt, sondern versucht sie die Urteilsbildung auch zu beeinflussen. Die Literaturwissenschaft hat, veranlaßt durch Engels' bzw. Mehrings Einschätzungen, dazu beigetragen, daß das Erbe Georg Weerths und Robert Schweicheis bei uns heute wieder zu der gelesenen Literatur gerechnet werden kann, und sie hat auch mit der ästhetischen Neubewertung von Herweghs späten Gedichten Erfolg gehabt. Von Autoren wie Rosenow oder Preczang sind zumindest einzelne Texte im Umlauf geblieben. Die Arbeiter-Autobiographien können mit einem, wenngleich mehr kulturgeschichtlich bestimmten Leseinteresse rechnen. Und sicher sind die Wirkungspotenzen dieser Literatur mit den genannten Autoren nicht ausgeschöpft. Der ästhetischen Rezipierbarkeit des größeren Teils dieser Literatur scheinen jedoch nichtsdestoweniger Grenzen gesetzt, die durch die Forschungsergebnisse der Literaturwissenschaft kaum wesentlich zu erweitern sein werden. Die Literatur der deutschen Sozialdemokratie kam nur in seltenen Fällen an die künstlerischen Möglichkeiten heran, die die zeitgenössische bürgerliche Literatur gewonnen hatte. (Die bürgerlichen Schriftsteller, die sich der Arbeiterbewegung annäherten, vermochten diese Möglichkeiten in der Sozialdemokratie nicht zu realisieren.) Dieser Sachverhalt ist natürlich ebenfalls historisch erklärbar aus der mangelnden ästhetischen Bildung der Masse der an der proletarischen Li73

teraturkommunikation partizipierenden Arbeiter, aus der durch ihre Klassenlage verursachten Rückständigkeit in der Entwicklung ihres künstlerischen Geschmacks, daraus, daß die neuen Techniken und Mittel der bürgerlichen Literatur vielfach an eine der Arbeiterbewegung feindliche Ideologie gebunden und für die proletarische Literatur gar nicht ohne weiteres nutzbar waren (weshalb sie auch gerade von marxistischen Kräften in der Sozialdemokratie abgelehnt wurden). Andererseits erklärt eben die unangefochtene Geltung des Vorbilds der traditionellen bürgerlichen Kunstformen, daß die Arbeiterklasse noch nicht imstande war, in großem Maßstab eigene, der Funktion proletarischer Kunst entsprechende Techniken und Mittel auszubilden (wobei gleichzeitig die unter reformistischem Einfluß erfolgende Zurückdrängung der Kampffunktion durch eine vom Aufklärungs- und Bildungsgedanken getragene Funktionsbestimmung mit im Spiel gewesen sein mag). Und schließlich wirkten die bei den meisten Parteiideologen bestehenden Vorbehalte gegen eine proletarische Kunst überhaupt sich hemmend aus. Heißt das, daß die Literaturwissenschaft sich anschickt, diese Vorbehalte mit solchen Erklärungen nachträglich zu rechtfertigen? D a s bestimmt nicht. Denn Wilhelm Liebknecht bezweifelte die Vereinbarkeit von proletarischem Klassenkampf und Kunstprpduktion an sich (Wer kämpft, habe keine Zeit zum Dichten) 12 , und Mehring war jedenfalls davon überzeugt, solange das Proletariat „in diesem heißen Kampfe steht", könne und werde es „keine große Kunst aus seinem Schöße gebären". 1 3 * D i e vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterbewegung geschriebene Literatur des 20. Jahrhunderts hat indessen wenige Jahre nach Mehrings Tod das Beispiel einer „kämpfenden Kunst" gegeben, die selbst die Maßstäbe im literarischen Gesamtprozeß setzte. D i e Erfahrungen mit der Literatur der deutschen Sozialdemokratie, die Mehring verallgemeinerte, ließen allerdings eine solche Entwicklung kaum ahnen. Sie war unter den sozialen, politischen und ideologischen Bedingungen, unter denen die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges stand, nicht vorstellbar. D i e Literaturwissenschaft muß sich nicht dem Vorwurf aussetzen, die künstlerische Aktivität des Proletariats geringzuschätzen, wenn sie Mehrings Urteil über die proletarische Kunst seiner Zeit grundsätzlich nur im Hinblick auf deren historische Funktion zu korrigieren vermag, die Leistung der deutschen Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der Literatur in dieser Zeit aber vor allem als eine theoretische und organisatorische würdigt. . 74

Horst Groschopp

Die proletarische Klassenorganisation als Kommunikationsstruktur der deutschen Arbeiter vor 1914*

Die engen Beziehungen zwischen proletarischem Organisationsprozeß und Kulturgeschichte der Arbeiterklasse sind unbestritten. Auch Literaturwissenschaftler haben in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten vorgelegt, die den Zusammenhang von deutscher Arbeiterbewegung und Literaturentwicklung vor dem ersten Weltkrieg berühren. Dabei wird auch der Beginn der marxistischen Literaturwissenschaft aus den Bedürfnissen der Klassenorganisation erklärt. Dieter Schlenstedt und Klaus Städtke schreiben, daß „die Notwendigkeit einer öffentlich-kontinuierlichen, ausgebreiteten und synthetisierenden Tätigkeit auf dem Felde der Kritik und Theorie von Literatur und Kunst . . . in den Kämpfen der A r b e i t e r b e w e g u n g a l s K u l t u r b e w e g u n g (Hervorhebung - H. G.) geboren wurde" 1 . Andere Autoren 2 , wie Ursula Münchow und Georg Fülberth, beziehen ihre Literaturforschungen ebenfalls auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Frank Trommler, Gerald Stieg und Bernd Witte untersuchen eigenständige sozialistische Literaturäußerungen in deutschen Arbeiterorganisationen. Aus ähnlichem Forschungsinteresse entstand die Studie zur Literaturpropaganda innerhalb der sozialdemokratischen Bildungsarbeit von Dietger Pforte. Fragen der Literaturverbreitung als Teil organisierter Bildungsarbeit berührt auch Gerhard Beier. Hans-Josef Steinberg, Dieter Langewiesche und Klaus Schönhoven beziehen ihre Aussage über die Geschichte der Arbeiterbibliotheken und die Lesegewohnheiten der Arbeiter auf die Kulturarbeit der Arbeiterorganisationen. Dirk Hoffmann wiederum betrachtet die Literatur der Arbeiterorganisationen vorrangig als ein Mittel der politischen Beeinflussung der Arbeiter. Peter von Rüden schreibt, bezugnehmend auf die Arbeiten von Friedrich Kniiii und Ursula Münchow, über Arbeiterorganisation und Arbeitertheater. Andere Veröffentlichungen, so die von Kurt Koszyk, Wolfgang Emmerich, Dieter Schwarzenau, Georg Bollenbeck und Knut Hickethier, 75

betrachten Verbindungen zwischen proletarischer Organisation und Pressepolitik, frühen Arbeiterautobiographien oder der Bildpublizistik. Jochen Loreck stellt Hypothesen über den Anteil von Literatur am Politisierungsprozeß deutscher Arbeiterfunktionäre auf. Bereits diese knappe Aufzählung historischer und literaturhistorischer Arbeiten über den Zusammenhang von Arbeiterklasse und Literatur deutet die Vielzahl der dabei zu betrachtenden Probleme und Ebenen an. Rainer Rosenberg nimmt in seinem Beitrag auf diese Arbeiten Bezug und bestimmt die Herausbildung eines eigenen Kommunikationssystems der Arbeiterklasse als literaturorganisatorische Leistung der deutschen Arbeiterbewegung. E r verweist in Abgrenzung von einseitig ideologischen Bestimmungen s o z i a l i s t i s c h e r Literatur auf den qualitativen Funktionszusammenhang j e d e r Art von Literatur innerhalb der proletarischen Klässenkommunikation. Ein ähnlicher theoretischer Ansatz liegt auch diesem Beitrag zugrunde, jedoch wird hier versucht, die durch Arbeiterorganisation geprägte Kommunikationsstruktur darüber hinaus als Teil proletarischer Klassenkultur darzustellen. Kulturgeschichtliche Forschung wird immer den Organisationsprozeß der Arbeiterklasse als einen der kulturellen Grundvorgänge anzusehen haben. Darum werden im folgenden einige Aspekte des Zusammenhangs von Klassenorganisation und Klassenkultur näher betrachtet. Dabei wird unter proletarischer Organisation ein Kulturprozeß verstanden, in dem die Organisationen der Arbeiterklasse zu „sekundären" (von der Klasse s e l b s t hervorgebrachten) Lebensbedingungen werden, ein spezifisches Organisationsverhalten sich ausbildet und Organisationsvorstellungen individuelles Verhalten maßgeblich beeinflussen. Das hier vorzustellende Verständnis von proletarischer Klassenorganisation ist demzufolge ein „weites". Es geht über die Hauptformen proletarischer Organisation (Partei, Gewerkschaften) hinaus und schließt Vereine, Genossenschaften, Kassen - ja a l l e s Organisierte und Regelhafte - in die Betrachtung ein, also auch informelle Gruppenbildungen, Nachbarschaften, Familienverabredungen, Patenschaften und Feiern. Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen sind auf den Zusammenhang zwischen der Kommunikationsstruktur der deutschen Arbeiterbewegung vor dem ersten Weltkrieg und ihrer vielfältigen Organisation gerichtet. Was Kommunikation der Arbeiterklasse war und leistete, soll dort aufgesucht werden, wo insbesondere die deutsche Arbeiterklasse ihre selbständigste Leistung vollbrachte, in der Entwicklung ihrer Organisationen.

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Kapitalistische

Klassenteilung

und

Arbeiterorganisation

Kultur ist die konkret-historische Form der Vergesellschaftung ihrer Individuen, die jede soziale Gemeinschaft ausbildet. Sie ist strukturiert durch eine raum-zeitliche Ordnung der sozialen Beziehungen, eine historische Organisation der Reproduktion der sozialen G e meinschaft. Relativ stabile Normen, Sitten, Bräuche und Wertmuster institutionalisieren kooperative und kommunikative Bindungen, steuern die Ausbildung von typischen Verhaltensweisen und regeln die Sozialisationsprozesse in der Abfolge der Generationen. Darin besteht die soziale Funktion jeder historischen Organisation der Individuen einer Gesellschaft, Klasse oder Gruppe. D i e Organisationsformen des Zusammenlebens hängen dabei letztlich vom sozialökonomischen Reproduktionsprozeß ab. So werden die Lebensbedingungen der Menschen im Kapitalismus durch den G e gensatz von K a p i t a l und Arbeit bestimmt, der sich, bezogen auf die grundlegenden Beziehungen der Menschen zueinander, als Klassenspaltung von Bourgeoisie und Proletariat darstellt. Dieses Verhältnis bestimmt die Kultur im Kapitalismus, denn dort, wo die Reproduktion der Gesellschaft letztlich über die Reproduktion des K a p i tals auf der einen und der Ware Arbeitskraft auf der anderen Seite funktioniert, unterliegen Produktion, Verteilung und Nutzung von Reichtum und Zeit eben diesem Widerspruch und dem Grundgesetz seines Funktionierens, der Maximierung von Profit. Nicht der Besitz an Produktionsmitteln schlechthin, sondern ihr Gebrauch als K a pital durch Anwendung mehrwerterzeugender Lohnarbeit ist Ursache der Klassenbildung. Innerhalb der Arbeiterklasse, wie in allen anderen Klassen, gibt es mannigfaltige Differenzierungen. Obwohl die Schichtung innerhalb des Proletariats im Fortgang der Geschichte dieser Klasse immer differenzierter wird (Lohnhöhe, Nationalität, Bildungsniveau, Wirkungsweise tradierter Lebensweisen, Berufe), also innerhalb der Klasse verschiedene Gruppen verschiedene Lebensbedingungen haben, gehören dennoch alle zum Proletariat. 3 * Sie sind Angehörige dieser Klasse, weil die sozialökonomische Stellung im System der Produktionsverhältnisse und die damit gegebene Q u a l i t ä t ihrer Lebensbedingungen sie als Klasse von anderen Klassen und sozialen Gruppen unterscheidet. Sie sind auf Grund des durch die Lohnarbeit gegebenen Verhältnisses zum Reichtum sowie zu dessen Produktion sozial charakterisiert. Aus dem Verhältnis zu den Produktionsmitteln resultiert für ••77

den Arbeiter die Bestimmung, Produzent und nicht Konsument des Mehrwerts zu sein. D a aber alle kapitalistische Produktion in dem Ziel gipfelt, Profit zu maximieren, ist die Klassenspaltung eine soziale Folge eben dieser Grundfunktion kapitalistischer Produktion. W i e Marx und Engels nachwiesen, werden die Klassen im Kapitalismus, die Kapitalisten und Grundeigentümer sowie Lohnarbeiter durch Unterschiede in den Revenuef o r m e n gebildet (Profit, Rente und Lohn), das heißt durch Unterschiede in den Formen, in denen ihnen ihre Anteile am jährlich produzierten Gesamtreichtum (Revenue im weitesten Sinne) zufließen. 4 * Damit ist zugleich auch der Klassenkampf um die Größe des Anteils daran als notwendiges Element der Unterscheidung von Klassen durch das Produktionsverhältnis selbst gesetzt. Es ist nötig und möglich, organisiert um die Verteilung des Reichtums zu kämpfen. Selbst die Sicherung der einfachen Reproduktion verlangt vom Proletarier nicht nur effektives Konkurrenzverhalten auf dem Arbeitskräftemarkt, sondern von Anfang an auch solidarische Organisation. Als proletarischer Zusammenschluß verlängt Organisation immer auch Kommunikation' sowohl innerhalb der Klasse als auch im gesamtgesellschaftlichen und internationalen Maßstab. Deshalb bestimmte Marx bereits 1851/52, anläßlich der Untersuchung der Klassenbeziehungen in Frankreich, als Kriterien der Existenz von modernen Klassen das Vorhandensein von „Nationalität", „Kommunikation", „Organisation" und „Klassensubjektivität", das heißt Handeln im Klassenmaßstab. 5 Modern in diesem Marxschen Sinne ist die Arbeiterklasse, weil die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware mit vergleichbarem Tauschwert schon dazu geführt hat, daß alle Arbeiter durch das „Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise" 6 ins gleiche Verhältnis zum Eigentum an Produktionsmitteln gekommen sind: Sie wurden davon ausgeschlossen und haben kein Privatinteresse daran. Gleichzeitig zerstörten Industrie und Lohnarbeit die alten, das Zusammenleben der Menschen organisierenden Bindungen, Regelungen, Wertvorstellungen und Normen. Jeder war jetzt Besitzer von Geld und Verkäufer einer W a r e (und sei es seine Arbeitskraft) und damit als Gleicher zu betrachten. Dieses Verhältnis wurde auch nicht dadurch aufgehoben, daß bereits frühzeitig Fabrikbesitzer „soziale Sicherungen" einführten, um sich ein „gesittigtes" Stammpersonal zu verschaffen, also ihre Ausbeutung zu „sichern": Zwangskassen, freie Fabrikwohnungen, Treuegelder, Ausbildungshilfen und Altersver-

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sorgungen. (Otto Rühle spricht in diesem Sinne zu Recht von der bürgerlichen Kultur als einer „Sicherungsmaschinerie". 7 ) D i e als Klasse parallel zur Arbeiterklasse entstehende Industriebourgeoisie versuchte die Lohnarbeiter in besonderen Organisationen zu erfassen und an sich zu binden. Johannes Fallati verlangte 1844 die „innere Veredlung" der Arbeiter durch ihre Zusammenführung in staatsbeaufsichtigten Vereinen: Einführung der Mäßigkeit, technischer Unterricht, Gesang, Kunstbetrachtung, Bücherverleih und Geldhilfe. s Friedrich Harkort entwickelte daraus ein System der bürgerlichen Organisation der Arbeiter von der Wiege bis zur Bahre. 9 Der 1859 gegründete Nationalverein knüpfte Anfang der sechziger Jahre an dieses Programm an, doch war dies dann schon ein ungewollter Schritt in Richtung einer selbständigen nationalen Arbeiterpartei. 1 0 Bis dahin, also noch während der industriellen Revolution, waren die Arbeiter nur beschränkt als Klasse handlungsfähig. Friedrich Engels schrieb 1845 in bezug auf die sich herausbildenden Lebensbedingungen der Arbeiter: Jetzt „wurde das Proletariat erst eine wirkliche, feste Klasse der Bevölkerung, während es früher oft nur ein Durchgang in die Bourgeoisie war. Wer jetzt als Arbeiter geboren wurde, hatte keine andere Aussicht, als lebenslang Proletarier zu bleiben. Jetzt also erst war das Proletariat imstande, selbständige Bewegungen vorzunehmen." 11 Die Beschränkung der Konkurrenz untereinander als Eigentümer der Ware Arbeitskraft, den deutschen Arbeitern von 1848 als Forderung noch unverständlich, ist dann die' originäre Leistung der Arbeiter, durch die die organisierte Arbeiterbewegung entsteht. Die innere Logik der Arbeiterorganisation führte sie schnell über die rein ökonomischen Formen des Zusammenschlusses als Verkäufer ihrer Arbeitskraft hinaus. Sie lernten 12 *, vereint zu handeln und ihre Klasseninteressen zu formulieren und zu sichern. Besonders die politische Verselbständigung verlangte eigene Formen der Kommunikation und der Kulturarbeit. W i e Dieter Kramer hervorhebt, knüpfte dabei die Arbeiterbewegung an Traditionen der Gesellenverbände an. „Das bedeutet nicht, daß die Arbeiter ohne das Vorbild der Handwerksgesellen nicht auf die Idee gekommen wären, zu streiken. Keine Kultur . . . entsteht aus dem Nichts . . . Indem die Arbeiter sich einer bereits vorgeprägten Sozialtechnik bedienten, verkürzten sie einen Prozeß, der in seiner . . . Langform zu ähnlichen Ergebnissen geführt hätte." 13 Frolinde Baiser verweist auf die Übernahme parlamentarischer Regeln, die die Arbeiter befähigten, „Versammlungen und Ver-

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Handlungen sicher und nach festen Regeln durchzuführen und so eine demokratische Organisation aufzubauen". 14 Auch habe das „Vorbild des glatt funktionierenden staatlichen Verwaltungsapparates . . . ganz offensichtlich . . . die organisatorischen Maßnahmen der Arbeiter befruchtet". 1 5 * D i e proletarische Bewegung unterwarf alle tradierten Organisationsformen einem Aneignungs- und Umwertungsprozeß und brachte sie in einen neuen und anderen Funktionszusammenhang. So hatten auch nichtproletarische Traditionen Anteil daran, daß in der Abfolge von zwei bis drei Generationen bis 1914 sich im Arbeiterverhalten wiederkehrende, relativ stabile Grundmuster ausbildeten. D i e zunächst nur in Ansätzen ausgebildeten Wertmuster konnten auf Grund der sich, weiter ausprägenden proletarischen Lebensbedingungen normierend auf die Sozialisation nachfolgender Arbeitergenerationen wirken. Bei der Befestigung der proletarischen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen wirkte die Klassenorganisation objektiv und subjektiv als „Steuerungsinstrument". Durch ihre Programme, Statuten und Richtlinien setzte sie Vorschriften und Verbindlichkeiten. Sie regelte und normierte soziales Handeln durch Gebote und Verbote, Berechtigungen und Versprechen, Belohnungen und Tadel, Achtung oder Verachtung. D i e sozialen Erfahrungen der Arbeiter in ihren Alltagskonflikten (Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, Überstunden, Freizeitverluste, Familienzwiste) u n d ihren Klassenkämpfen (Wahlsiege und Wahlniederlagen, Ausweisungen, Entlassungen aus politischen Gründen, kollektives Auftreten) wurden sowohl auf der Ebene des Alltagsverhaltens'als auch auf der des politischen Kampfes und seiner Ideologie verallgemeinert und für alle Arbeiter verfügbar gemacht, bewahrt und weitergegeben. Verhalten wurde normiert durch Aufforderung zur Befolgung bestimmter Regeln. Dabei vollzog sich die Normierung unter ständigem Sanktionierungsdruck. D i e Arbeiterorganisationen bildeten eigene Sicherungsbestimmungen aus, die Statuten- und programmgemäßes Handeln billigten und in oft sogar feierlicher Form anerkannten. Zwangsmaßnahmen dagegen verhinderten schädigendes Verhalten. Im 1836 vom Bund der Geächteten abgespaltenen Bund der Gerechten galten noch die konspirativen Regeln alter .Geheimbünde. Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein Ferdinand Lassalles und die 1869 entstandene Sozialdemokratische Arbeiterpartei Wilhelm Liebknechts und August Bebels operierten bereits mit der öffentlichen Mitgliedschaft und hatten feste, allgemein zugäng80

liehe Programme und Statuten. Während der achtziger Jahre wurde die deutsche Arbeiterbewegung zu einer Massenbewegung. Sie bildete nun ein System von Aufforderungen und Sanktionen aus, die das Funktionieren der Organisationen sicherte. 16 * Aufforderungen durch die Klassenorganisation waren die Grundsätze der Programme der verschiedenen Vereinigungen. Mitgliedschaft bedeutete, sich mit den Zielen der Organisation zu identifizieren und sich mit Tat und Opfer, durch Beiträge und Spenden, dafür einzusetzen. Mitgliedschaft bedeutete zugleich, bestimmten Geboten (solidarisches Verhalten unter allen Bedingungen) unterworfen zu sein. Auch Verbote erkannte das Mitglied an, so Streikbrechertum oder Mitgliedschaft in gegnerischen Organisationen. Freiwillig übernahm man Aufträge und Befehle: Flugblätter und Wahlzettel zu verteilen, Zeitungen zu kaufen oder zu verkaufen, Werbezettel der eigenen Verlage zu erläutern, Streikaufrufe zu verfassen, Versammlungen zu leiten, Berichte und Protokolle zu schreiben, den Genossen vorzulesen, schriftliche Anfragen und Anträge zu formulieren, die Geschäftsordnung zu akzep-, tieren, Mitgliedsbücher auszufüllen und sicher aufzubewahren, Finanzanalysen und Statistiken anzufertigen, Anschläge und Wandzeitungen anzubringen, Versammlungs- und Vereinslokale auszugestalten, eine Fahnenweihe durchzuführen, die Kasse zu verwahren, Festreden zu halten und Prologe aufzusagen und anderes mehr. 17 * Bei Befolgung dieser Aufforderungen erwarb man als Mitglied die Berechtigung, seine Erfahrungen, Wünsche, Bitten und Beschwerden in die Organisation ein- und seinen Genossen nahezubringen. Der Sanktionierungsdruck der Klassenorganisation wirkte auf das proletarische Individuum in der Tendenz weniger durch kurzfristige Belohnungen oder Strafen, sondern durch - historisch langfristig gesehen - Besserstellung des organisierten und anspruchsvollen Arbeiters und Schlechterstellung des Nichtorganisierten: „Belohnung" durch mehr Lohn, Wohnung, Gesundheit, Geselligkeit, Gemeinschaft, Solidarität gegenüber „Bestrafung" durch Entlassung, sozialen Abstieg ins Lumpenproletariat - aber vor allem durch Isolierung, Vereinzelung und Verachtung. Der Arbeiter nahm durch seine Mitgliedschaft die Ziele der Organisation als erfüllbares Versprechen an, identifizierte sich mit ihnen und handelte im Rahmen ihrer Anforderungen. Nur so konnten im alltäglichen Organisationsleben Lob für Tapferkeit, Standhaftigkeit und besondere Aktivitäten im Klassenkampf verhaltensstimulierend wirken: eine Rede zu halten oder Posten zu stehen. Im entgegenge6

Proletarische K u l t u r

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setzten Fall war Tadel zu erwarten. Aber auch Ehrungen wirkten als Sanktion, wie die Achtung der „alten Hasen" oder der Führer generell, für ordentliche Kassierung, das Fahne-tragen-Dürfen oder In-der-ersten-Reihe-Marschieren. Die internationale Arbeiterbewegung und besonders ihre deutsche Abteilung hatten eine historisch neue Form der Organisation einer unterdrückten und ausgebeuteten Klasse hervorgebracht, die auch in kultureller Hinsicht weit über die Möglichkeiten anderer unterdrückter Klassen hinausging. Ihr politisches Ziel, immer größere Massen von Werktätigen in die bewußte Gestaltung der Gesellschaft einzubeziehen, ließ die organisierte Arbeiterbewegung zum Betätigungsfeld der schöpferischen Kräfte vieler Arbeiter und zu einer Schule proletarischer Persönlichkeitsentwicklung werden. Clara Zetkin hielt den „Stolz der deutschen Arbeiterklasse auf ihre machtvollen Organisationen" für völlig gerechtfertigt. „Die Theorie ihres Befreiungskampfes hat sie zum größten Teil von Klassenfremden erhalten. Die Organisation dagegen ist ihr eigenes stolzes Werk. Und sie hat ihre Organisation aufgebaut unter Mühen und Opfern, unter wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten." 18 Erst mit der Institutionalisierung politischer und ideologischer Klassenbeziehungen entstanden, wie Hartmut Zwahr untersucht hat, „die neben den ökonomischen für die Klassenbildung wesentlichsten und dauerhaftesten Beziehungen", die schließlich die „Verbindung von elementarer Arbeiterbewegung und wissenschaftlichem Kommunismus"19 gestatteten und beförderten. Dieser Verschmelzungsprozeß und der Anteil, den Literatur daran hatte, ist durch marxistische Forschungen nachgewiesen worden. 20 Sie stützen sich dabei auch auf Aussagen Lenins über die deutsche Arbeiterbewegung. Wie Lenin 1917 schrieb, beherrschte die deutsche Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg die „Kunst der langsamen, beharrlichen, systematischen Organisationsarbeit auf breiter und breitester Grundlage" am besten.21 1913 berichtete Lenin in der Zeitschrift Prosweschtschenije über die deutsche Sozialdemokratie. Dabei charakterisierte er aus politischer Sicht die Organisation der deutschen Proletarier: „In Deutschland gibt es jetzt etwa 1 Million Parteimitglieder . . . Eine Million - das ist die P a r t e i." 22 Die deutsche Arbeiterbewegung zeichne sich durch eine „die Massen erfassende Organisiertheit" aus. 23 Die proletarischen Massen in Deutschland haben „durch ihre beharrliche, hartnäckige und ausdauernde Organisationsarbeit in den langen Jahrzehnten der europäischen .Windstille' von 1871 bis 1914 der Menschheit und dem 82

Sozialismus . . . viel gegeben" 24 . Lenin hielt es für erforderlich, wie er vpr Kriegsbeginn 1914 an Ines Armand schrieb, „ a l l e s Wertvolle von den Deutschen zu übernehmen (die Vielzahl von Zeitungen, die große Zahl von Parteimitgliedern, die Mitgliedermassen in den G e werkschaften, feste Zeitungsabonnements, strenge Kontrolle der Parlamentsabgeordneten . . . ) , das alles zu übernehmen, o h n e den O p portunisten die geringsten Zugeständnisse zu machen"2*'. Lenin verweist in den angeführten Äußerungen auf die politische Bedeutung der Klassenorganisation für die Ausbildung eines eigenständigen Systems kultureller Kommunikation. Doch gingen der Schaffung dieses Systems das Entstehen und Akzeptieren des sozialistischen Organisationsgedankens durch die breiten Massen der Arbeiter voraus. Bis zur Jahrhundertwende sind - grob skizziert - mehrere Phasen des Organisationsprozesses unterscheidbar: Vorbereitet durch noch sektenhafte Geheimbünde wie den Bund der Gerechten und in H a n d werkertraditionen wurzelnde Gesellenvereinigungen führte die E n t wicklung seit den dreißiger Jahren zu den ersten Anfängen proletarischer Organisation während der Revolution von 1848/49; teils nach Deutschland hineinwirkend (Bund der Kommunisten), teils innerhalb Deutschlands selbständig entstehend (Arbeiter-Verbrüderung). D i e fünfziger Jahre brachten mit dem Ausbau der selbstverwalteten Unterstützungskassen und gewerkschaftlichen Kampfkoalitionen lokale und berufliche Organisationen der Arbeiter hervor, doch waren diese noch nicht festgefügt und dauerhaft. 2 6 E s überwogen zu dieser Zeit noch Versuche der bürgerlichen Organisation der Arbeiter in Bildungsvereinen, kurzlebigen Produktivassoziationen und Konsumgenossenschaften sowie Unterstützungskassen der Unternehmer. E r gebnisse der sechziger und siebziger Jahre - bewährt, befestigt und ausgebaut in der Zeit des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890 führten zur Existenz einer einheitlichen nationalen Arbeiterpartei und zum Beginn massenhafter gewerkschaftlicher Organisation der Arbeiter. D i e Phasen proletarischer Organisation sind auch die Etappen, in denen der „Organisationsgedanke" sich ausbildete und verbreitete. D i e fünfziger und sechziger Jahre zählen dabei zu den entscheidenden für die ideologische Orientierung der deutschen Arbeiterbewegung am Marxismus.



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Entstehung und Verbreitung des „Organisationsgedankens" Die Ausbildung der Klassenorganisation ist auch ein ideologischer Prozeß. Die Entfaltung des Organisationsgedankens unter den Lohnarbeitern, seine Institutionalisierung in der Lebensweise, seine Befestigung in proletarischer Klassenkultur begleiteten den Organisationsprozeß. Auch dem frühen Proletariat war der Organisationsgedanke nicht fremd. E r konnte aber nicht voll ausgebildet werden, weil die vorhandenen Arbeiter- und Handwerkerorganisationen, auf die er reflektierte, eher Abwehrorganisationen gegen zunehmende Verelendung oder Geheimbünde waren als breite und feste Organisationen mit eigener und weitreichender „Sicherungsmaschinerie". Der 1836 im Pariser Exil ins Leben gerufene Bund der Gerechten verfocht noch den radikal-plebejischen Gedanken der Gleichheit und Gütergemeinschaft. E r stellte, wie Friedrich Engels später im Sozialdemokrat schrieb, „halb Propagandaverein, halb Verschwörung" dar. Der Bund verbreitete Sektenliteratur, Zeitungen, Flugblätter und Aufrufe. Auch war „die Vorbereitung gelegentlicher Putsche in Deutschland keineswegs ausgeschlossen". Erst als 1848 das Manifest der Kommunistischen Partei erschien, geschrieben für den ein Jahr zuvor in London gegründeten internationalen Bund der Kommunisten, trat eine grundsätzliche Wende ein. „Kommunismus hieß nun nicht mehr: Ausheckung, vermittelst der Phantasie, eines möglichst vollkommenen Gesellschaftsideals, sondern: Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die daraus sich ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfs." Die wesentlichste organisatorische Schlußfolgerung daraus war der Verzicht auf die Geheimbündelei. Der Kommunistenbund „organisierte sich in Gemeinden, Kreise, leitende Kreise, Zentralbehörde und Kongreß". 2 ' In Auswertung der Erfahrungen des englischen Chartismus 28 * war damit die Grundstruktur proletarischer Organisation „erfunden". Nach 1864 bestand eine der wichtigsten Aufgaben der I. Internationale darin, nationale politische Massenbewegungen der Arbeiter zu schaffen. Der Zentralrat der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) forderte deshalb, „daß er mit wenigen nationalen Zentren der Arbeitergesellschaften verhandelt, statt mit einer großen Anzahl kleiner und zusammenhangloser lokaler Gesellschaften" 29 . Mit Schaffung der IAA und der erfolgten Festlegung ihrer ideologischen Prinzipien in der Inauguraladresse war auch der Organisationsgedanke in 84

seiner entwickelten Form voll ausgebildet; zunächst nur als strategische Absicht, doch bereits um die Jahrhundertwende verwirklicht. Die Gedanken der IAA gelangten zu einer Zeit nach Deutschland, als hier bereits vielfältige Versuche der Arbeiterorganisation stattfanden: berufliche Koalitionen, Bildungsvereine, Spargesellschaften, Konsumgenossenschaften, Produktivassoziationen, Solidaritäts-, Streik-, Invaliden-, Witwen-, Unfall-, Spar-, Versorgungs-, Heirats- und auch Begräbniskassen. Der Organisationsgedanke selbst war dabei auf eine begriffliche Höhe entwickelt worden, die die Aufnahme Marxscher Gedanken ermöglichte: organisierter Klassenkampf um die politische Macht und allseitige Selbstorganisation der Arbeiter. In der Herausbildung des Organisationsgedankens in Deutschland ist deutlich ein qualitativer Sprung zu beobachten. Die vorkapitalistischen Organisationsformen sind ihrem Charakter nach Verbindungen persönlich abhängiger und nicht freier Individuen. Organisation als freier und zweckgerichteter Zusammenschluß wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts als etwas Neues begrifflich reflektiert. So im Deutseben Wörterbuch-. „So hat man sich bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen umbildung eines groszen Volkes zu einem Staate

des wortes .organisation' . . . bedient."'®* „Organisation" bezieht sich - umgangssprachlich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts und auch im Bewußtsein der sich organisierenden Arbeiter - einerseits auf die sozialen, kommunikativen und anderen Beziehungen a l l e r die kapitalistische Gesellschaft bildenden Menschen, das heißt den Gesamtprozeß der Vergesellschaftung, und andererseits auf die besondere Organisation der Individuen als Bedürftige und Interessengleiche. Der Begriff „Organisation" erfährt eine inhaltliche Ausweitung im Sinne von „Organisation e n ", „sich organisieren" und „sich vereinen". Das Deutsche Wörterbuch faßt „Verein" deshalb als „Verbindung zur einheit", „das durch Vereinigung verbundene: verein der sänger, der turner usw." 31 . Daß es sich bei den sich Organisierenden um bedürftige Individuen handelt, deren Interessengleichheit sozial bestimmt ist, geht aus der Definition von „soziale Bewegung" hervor, die sich schon im Bewußtsein der Zeitgenossen eindeutig auf die Organisation der A r b e i t e r bezog: „bewegung zur besserung der wirtschaftlichen zustände, zur Verwirklichung der gerechtigkeit in der Ordnung der gesellschaft, speciell zur hebung der arbeiterklasse". 32 * Kapital und Arbeit als Gegensatz haben im Verständnis der beginnenden Arbeiterbewegung, auf den Organisationsgedanken bezogen, ebenfalls die obige doppelte Bedeutung: Die Arbeit soll organi85

siert ablaufen, K o n k u r r e n z soll ausgeschlossen sèin und mit ihr die negativen Folgen des Kapitalismus der freien K o n k u r r e n z f ü r die A r b e i t e r : Arbeitslosigkeit, Verelendung, Abnutzung der Arbeitskraft. Unter diesem Blickwinkel w u r d e das Kapitalverhältnis bereits in Ansätzen als die historisch-konkrete F o r m gesehen, in der sich die Vergesellschaftung vollzog. Dagegen setzten die Arbeiter entsprechend ihrer Lebenssituation i h r e Vorstellungen von Organisation der Gesellschaft. D e r Anarchie der sich entfaltenden freien K o n kurrenz stellten f r ü h e Ideologen der Arbeiterklasse wie W i l h e l m Weitling das Prinzip der „gesellschaftlichen Organisation der A r b e i t " entgegen. D i e Arbeitenden sollten beginnen, sich als „Genossen" zu verhalten. D i e sozialdemokratischen Arbeiter brachten mit der A n r e d e „Genosse" schließlich zum Ausdruck, d a ß sie sich selbstbewußt als T r ä g e r der Gesellschaft und als deren eigentliche Organisatoren verstanden. „Genosse" h e i ß t : „gemeinsame nutznießung oder das recht d a r a n haben", „einander eigentlich gleich . . . in ihrem rechts- und lebenskreise". D i e sich organisierenden Arbeiter, die das Leben in der Gesellschaft selbst regeln wollten, bezogen sich - im Alltagsbewußtsein sicher zunächst u n b e w u ß t - auf die Tradition der vorkapitalistischen K l a s s e n k ä m p f e : „auch den unterthanen oder hörigen eines herrn bleibt der alte name mit seinem anklang von Selbstverwaltung". D a s W o r t „Genosse" diente immer dazu, „das rcchts- und Standesverhältnis der genossenschaften und ihrer mitgliader auszudrücken, dann auch erweitert auf w ü r d e , wert und art ü b e r h a u p t " ' 3 . „Genosse" w u r d e ein wertender A u s d r u c k ; Z u s t ä n d e und das Verhalten von Individuen w u r d e n als des Genossen würdig, angemessen (oder nicht) beurteilt. D i e Organisation der A r b e i t sollte in A r t einer G e n o s s e n s c h a f t erfolgen. D a b e i w u r d e sowohl der G e d a n k e an Gemeinschaftlichkeit der Produktion reflektiert als auch die historisch-konkrete Form der gegen die Kapitalherrschaft gerichteten O r ganisation der Arbeit positiv bewertet: „die heutige f o r m ist, als wollte man gesellschaft u m b i l d e n in gesellenschaft". 3 ' 1 In einer Zeit, da der Marxismus u n d d a m i t die materialistische Analyse des Kapitalismus noch nicht v o r h a n d e n waren, w u r d e unter „Organisation der A r b e i t " noch häufig ein utopischer Z u s t a n d der überwundenen Industrie oder der zurückgewonnenen Zunftherrlichkeit verstanden. Aber in der B e r u f u n g auf I d e e n und I d e a l e der H a r m o n i e , der Genossenschaft, des Volksstaates und der Sozialdemokratie waren immer auch das Aufbegehren, das wachsende K r a f t b e wußtsein, der latente und a u f b r e c h e n d e W i d e r s t a n d der Lohnarbei86

ter gegen die sich herausbildende Form der Organisation der Arbeit und der Gesellschaft ausgedrückt - die Verneinung des Kapitalverhältnisses. Auch wenn hier noch a l l e Arbeitenden (Ausgebeuteten, Unterdrückten, Leidenden) angesprochen werden. Sie s i n d schon die Repräsentanten der „naturnotwendigen" Entwicklung der Produktivkräfte. In der Kulturauffassung wird dies als Konfrontation der Prinzipien „Individualismus" kontra „Kollektivismus" (das heißt „Organisation") gedacht. Die Forderung nach Gesellschaftlichkeit der Arbeit war gleichbedeutend mit der Forderung nach Organisation aller sozialen Prozesse. Eine gedankliche Trennung beider Forderungen, die nach der Organisation der Gesellschaft und die nach der Organisation der Arbeiter, konnte von den Manufaktur- und ersten Fabrikarbeitern wie auch den Handwerkern schon deshalb nicht vollzogen werden, weil Ihr objektiver Erfahrungshorizont, ihr tägliches Leben, bezeugte: Leben ist Arbeit. Die an alle Arbeitsfähigen gerichtete alte Losung: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" ist hier im Keim die Forderung nach einer sozialistischen Gesellschaft (auch wenn darunter vom „rohen Arbeiterkommunismus" vor allem ein großes und gut organisiertes „Arbeitshaus" verstanden wurde und noch nicht eine Gesellschaft, die reichlich Genüsse produziert, an denen alle gleichermaßen teilhaben sollen). Im Streben nach Gesellschaftlichkeit der Arbeit ist auch die Forderung nach Organisation der ökonomischen Beziehungen, nach Ausschaltung der freien Konkurrenz und ihrer Anarchie. Jede Organisation dieser Art schloß mit Notwendigkeit den Gedanken der Organisation der Produzenten ein. Anders, das sah jeder, war die Anarchie nicht zu bändigen. Die kommunistischen Systeme der Utopisten wie alle praktischen Formen der Selbsthilfe gingen von dieser Grundthese aus. Arbeiter und arme Handwerker sammelten mit eigenen und bürgerlichen Vorschlägen zur „Selbsthülfe", wie sie zum Beispiel Hermann Schulze-Delitzsch und Eduard Pfeiffer in den fünfziger bis siebziger Jahren propagierten, bittere Erfahrungen: Spar- und Vorschußkassen gediehen nur kurze Zeit, Speiseanstalten in Art der Volksküchen entstanden keineswegs massenhaft, Genossenschaften und Konsumvereine kamen nicht recht in Gang - und veränderten auch die Klassenlage nicht grundsätzlich. Aus der These „Organisation der Produzenten" wuchs die Erkenntnis, daß die ökonomische, politische und ideologische - also organisatorische - Lostrennung der Arbeitenden von der Bourgeoisie, die sich sozial ebenfalls aus den Arbeitenden löste, notwendig wurde. Die

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Trennung der Arbeiterorganisationen von bürgerlichen Organisationen der Bildungsvermittlung, der Selbsthilfe und der sogenannten Werksgemeinschaft stand auf der Tagesordnung: „Nach der Niederlage der europäischen Revolution 1849 mußte der Sozialismus in Deutschland sich auf eine geheime Existenz beschränken. Erst 1862 pflanzte Lassalle, ein Schüler von Marx, von neuem die sozialistische Fahne auf.":!;>* 1863 entstand der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ( A D A V ) , die erste nationale Arbeiterpartei der Welt. Nachdem sich auch der 5. Vereinstag des Verbandes deutscher Arbeitervereine ( V D A V ) 1868 in Nürnberg weitgehend mit den programmatischen Beschlüssen der I A A identifizierte, verfocht die 1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei, konsequenter als Lassalles A D A V , das Programm von Marx und Engels. Auch das Statut entsprach weitgehend den Empfehlungen der IAA. Mit der Vereinigung beider Arbeiterparteien 1875 in Gotha, dem gemeinsamen Kampf gegen das Sozialistengesetz von 1878 bis 1890 und dem marxistischen Erfurter Programm von 1891 waren die ideologischen und mit den Statuten von Halle 1890 und Mainz 1900 auch die organisatorischen Voraussetzungen zur Schaffung einer Millionenpartei und der Zusammenfassung breiter Massen von Arbeitern in den Gewerkschaften, Vereinen und Genossenschaften gegeben. Rasch fortschreitende Industrialisierung und zunehmende Proletarisierung ehemaliger Landarbeiter, Handwerker und Bauern schufen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen breiter proletarischer Organisation und massenhafter Aufnahme des sozialistischen Organisationsgedankens. Noch in den vierziger und fünfziger Jahren hatten nahezu alle sozialen Kräfte in Deutschland das Proletariat als ein Übel, als eine Art „sozialer Krankheit" betrachtet. 36 * Besonders ehemalige Handwerker sahen im Arbeiterdasein noch ein Übergangsstadium, das in einer relativ kurzen Zeitspanne, wenn schon nicht vom gesamten „arbeitenden Stand", so doch zumindest von besonders fleißigen und sparsamen Individuen, überwindbar sei. Ihre Organisationsvorstellungen. gaben diesen Zielen Ausdruck: Geheimbünde, aber besonders Spar-, Selbsthilfe-, Unterstützungs-, Bildungs- und andere Vereine und Kassen. Seit den siebziger Jahren bestimmten Lohnarbeit und insbesondere Fabrikarbeit den Lebensprozeß von immer mehr Werktätigen: Arn Ende der industriellen Revolution in Deutschland um 1860 gab es etwa eine Million Arbeiter, die allerdings noch vorwiegend in Kleinund Mittelbetrieben unter fünfzig Beschäftigten arbeiteten. Die mit

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der Reichseinigung von 1870/71 verbundene endgültige Ausdehnung der bürgerlichen Gesetzgebung auf ganz Deutschland beseitigte die letzten Hindernisse, die dem Ausbeuten von doppelt freien Lohnarbeitern noch entgegenstanden. So waren endgültig die objektiven Bedingungen dafür geschaffen worden, daß in der Ausprägung proletarischer Lebensbedingungen die gesetzmäßige soziale Seite der Produktivkraftentwicklung verstanden werden konnte. Jetzt war die Möglichkeit zu massenhafter Organisation erkennbar, die Aneignung der lnauguraladresse und der Statuten der IAA wurde möglich. Die kapitalistische Gesellschaft erhöht, wie Lenin 1899 anläßlich der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland schreibt, „das Bedürfnis der Bevölkerung nach Zusammenschluß, nach Vereinigung" und verleiht „diesen Vereinigungen einen im Vergleich zu den Vereinigungen der früheren Zeiten besonderen Charakter". Dieser besondere Charakter, Ergebnis der Eigentümlichkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse, kommt dadurch zum Ausdruck, daß dié unterschiedliche Stellung in der Produktion „einen gewaltigen Anstoß zur Vereinigung innerhalb jeder dieser Gruppen" gibt.37 Die industriellen Lebensbedingungen in den Fabriken und Städten erzeugten mit der Kooperation in der Arbeit und der Disziplinierung der Arbeiter bei ihnen sowohl die Fähigkeit zur Organisation als auch den Zwang dazu. Die Zusammenballung in den Städten, besonders in den entstehenden Mietskasernen, das Zusammentreffen in den Arbeitspausen, Verkehrsmitteln, Kneipen, Einkaufsstätten, Herbergen, Asylen und auch bei der Erholung vor den Toren der Städte, in den Kleingärten, städtischen Parks und auf Rummelplätzen, ließen die Arbeiter ihre vergleichbare Situation auch erleben und ermöglichten den raschen Umschlag sozialer Erfahrungen, stellten Verbindungen untereinander sowie mit den Schichten der Intelligenz her. Sie ließen auch außerhalb der Arbeit den von ihnen produzierten Reichtum in den Bauten und Auslagen sichtbar, ja greifbar werden. Damit die Organisationen der Arbeiterklasse überhaupt entstehen konnten und die Arbeiter bereit und fähig wurden, den Organisationsgedanken aufzunehmen, bedurfte es weiterer ökonomischer und sozialer Voraussetzungen, die von der kapitalistischen Industrie, der Klassenteilung und den Arbeitern selbst hervorgebracht wurden: Freizeit, Verfügung über finanzielle Mittel, konsumtive Ansprüche, Allgemeinbildung, Fähigkeit zu kollektivem und diszipliniertem Handeln. So war vor allem individuell relativ frei verfügbare Zeit außerhalb der Arbeit nötig, um Zeit zu haben für Organisation, Versammlung,. 89

Demonstration oder Bildungsabend. Solange die Arbeitszeit wie noch in den sechziger Jahren 12, 14 und mehr Stunden täglich betrug, war dauerhafte Massenorganisation unmöglich. Auch bedurften die Arbeiter erst eines bestimmten Maßes an finanziellen Mitteln über die Aufwendungen zur Befriedigung der physischen Grundbedürfnisse hinaus, um eine Organisation durch monatliche Beiträge und regelmäßige Spenden am Leben zu erhalten. Das war für die fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse, meist jüngere, qualifizierte und unverheiratete Arbeiter, im wesentlichen seit den achtziger und neunziger Jahren der Fall. Damit wurden die Arbeiterorganisationen relativ unabhängig von reichen Mäzenen und gelegentlichen Sammlungen. Voraussetzung für proletarische Organisation waren aber auch ausgebildete Bedürfnisse, die den anspruchsvollen Arbeiter dazu drängten, sich Organisationen anzuschließen, um sein Leben zu verbessern. Noch Anfang der sechziger Jahre polemisierte Ferdinand Lassalle gegen die „verfluchte Bedürfnislosigkeit" der deutschen Arbeiter. Wie viele Funktionäre auch anderer Arbeiterorganisationen rief Friedrich Wilhelm Fritzsche vom A D A V noch Anfang der siebziger Jahre aus: „Hast Hunger inmitten von Überfluß Ermanne Dich endlich, o Tantalus!" 3 8 D i e Ausbildung von Ansprüchen und Bedürfnissen verlief widersprüchlich, war abhängig von der allgemeinen Situation des Klassenkampfes, den Lohnniveaus in verschiedenen Gegenden und Berufen, dem Warenangebot, der Wohn- und Familiensituation und anderen Faktoren. Dies sind die Ursachen von Unterschieden zwischen den einzelnen Arbeitergruppen, den Städtern und Landarbeitern, den Gelernten und Ungelernten, den Männern und Frauen, den Jugendlichen und Alten. Spannungen waren vorhanden, und zum Teil wurden sogar ökonomische Kämpfe zwischen den verschiedenen Arbeitergruppen ausgetragen. D i e Bereitschaft zur Aufnahme des Organisationsgedankens wurde davon beeinflußt. Ehemalige Manufakturarbeiter oder Handwerker wie die Zigarrenmacher und Buchdrucker organisierten sich schneller und fester bereits seit den siebziger Jahren, die Fabrikarbeiter dagegen erst um die Jahrhundertwende. Die Landarbeiter fanden vor 1914 noch zu keiner festen Organisation. J e d e moderne Organisation setzt bei den Mitgliedern eine Allgemeinbildung voraus, die es ihnen ermöglicht, politische und ökonomische Programme zu lesen, zu verstehen, zu vertreten und zu verbreiten sowie Anforderungen zu genügen, die jede Organisation an ihre

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Mitglieder stellt: Mitsprache, Verwaltung und Ordnung. Der Organisationsgrad in Deutschland wuchs auch mit der Beseitigung des Analphabetentums. Vor Ausbruch des ersten Weltkrieges gab es in den „Industriegebieten . . . praktisch keine Erwachsenen mehr, die nicht wenigstens etwas lesen und schreiben konnten" 39 . Seit den achtziger Jahren wurden Angehörige der Klasse zu Führungsfunktionen freigestellt. Fachleute konnten entsprechend ihrer Qualifikation bezahlt werden, um, von der Bewegung in Dienst genommen oder auf diese „Dienstlaufbahn" geschickt, Bildung aufzunehmen oder zu vermitteln, Verwaltung zu lernen oder zu lehren, die Finanzen in Ordnung zu halten und Kassierung zu studieren oder zu kontrollieren, Kunst zu vermitteln und zu verstehen, die Freizeit sinnvoll zu gestalten - und nicht zuletzt selbst „große Politik" zu machen oder machen zu lassen. Dazu bedurfte es auch einer ausgebildeten Verhaltensdisposition, die Ein- und Unterordnung als individuelle Verhaltensnormative positiv bewertete. Sie wurde weitgehend erst durch die Fabrikarbeit erzeugt. Nur deshalb konnte die Kommunikation unter den Arbeitern die Erkenntnis und die theoretische Formulierung eigener Bedürfnisse fördern. Es bildeten sich Wertvorstellungen heraus, die auf ein einheitliches Handeln orientierten: Solidarität, Disziplin, Standhaftigkeit, Leistungsbereitschaft auch in der Organisation und Tätigkeit für andere, Ordnungssinn und Wißbegierde, die sich auch auf eine Gesellschaftstheorie bezog, die außerhalb der spontanen Arbeiterorganisation entstanden war, die den ideologischen und organisatorischen Interessen der Arbeiterklasse entsprach. Der Marxismus fand in dem Maße Eingang in die massenhafte Organisation der Arbeiter, wie Brüderlichkeit, Genossenschaftlichkeit und Organisation die Diskussionen formierende Gedanken wurden. In bezug auf die historisch-konkrete Formulierung und Beantwortung der „sozialen Frage" - des ,,complex[es] von Problemen, der die wirtschaftlichen und politischen zustände, namentlich die läge der unteren schichten, der lohnarbeiterklasse, betrifft'" 10 - bildeten Arbeiterklasse und Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts konträre Klassenpositionen aus. Dazu gehörte, daß die Aufgabenstellungen der eigenen Organisationen auf die Kultur der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft projiziert wurden. Ihnen war auch ein breites Konzept kultureller Forderungen der arbeitenden Menschen immanent. Dies sowohl hinsichtlich der Verbesserung der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft im weitesten Sinne als auch hinsichtlich der Forderungen nach Aufhebung des Systems der

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Lohnarbeit. Die Ausbildung konträrer Klassenpositionen und ihre Verankerung im Alltagsbewußtsein vieler Arbeiter, die massenhafte Ausbreitung des Organisationsgedankens und die organisatorische Erfassung von Millionen Arbeitern brachten ein eigenes Kommunikationssystem hervor und waren zugleich von ihm abhängig. Den Phasen proletarischer Organisation entspricht jeweils eine bestimmte Kommunikationsstruktur. Die Reichweite und die Vielfältigkeit der Organisationen, die Zahl der einbezogenen Arbeiter und Angehörigen anderer Klassen und Schichten und die Formen und Regeln der Beziehungen innerhalb der Klassenorganisation sowie nach außen prägen die proletarische Kommunikationsstruktur in den verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung. So ist sie sektenhaft und embryonal in den Geheimbünden der frühen Arbeiterbewegung. Die Autarkie der Verschwörung nach innen hatte ihr Pendant im missionarischen Eifer nach außen. Proletarische Kommunikation war hier beschränkt auf den geheimen Zirkel, die konspirative Verbindung, die appellative Flugblatt- und Bekenntnisliteratur und die bekehrende Agitation. Proletarische Kommunikation dieser Art gestaltete sich nicht nur bedingt durch die unentwickelte Industrie und den politischen Repressivdruck der Feudalgewalten, sondern auch durch den Entwicklungsstand der Arbeiterklasse. Man mußte zu dieser Zeit, wie Friedrich Engels 1885 rückblickend schrieb, „die Arbeiter einzeln zusammensuchen, die Verständnis hatten für ihre Lage als Arbeiter und ihren geschichtlich-ökonomischen Gegensatz gegen das Kapital, weil dieser Gegensatz selbst erst im Entstehen begriffen war . . . Damals mußten sich die wenigen Leute, die zur Erkenntnis der geschichtlichen Rolle des Proletariats durchgedrungen, im geheimen zusammentun, in kleinen Gemeinden von drei bis zwanzig Mann verstohlen sich versammeln.'"' 1 Nach der Jahrhundertwende ist die Arbeiterbewegung in einer völlig anderen Situation. Ihre Kommunikationsstruktur ist breit ausgebaut und erreicht in Deutschland die höchste Entfaltung.

Klassenorganisation als System kultureller

Kommunikation

Kulturelle Kommunikation ist eine Seite des Informationsaustausches zwischen Menschen und Menschengruppen einer historischen Gemeinschaft. Der Transport, die Verbreitung und Aneignung sozialer Erfahrung ermöglichen die gesellschaftliche Verständigung über Ereig92

nisse, Prozesse, Beziehungen, Probleme und Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Kommunikation ist Bedingung aller Kooperation wie der Reproduktion im Lebensalltag. Individuelle Anschauungen und Erkenntnisse werden im Prozeß der sozialen Kommunikation artikuliert, verglichen und bewertet. Ihre Bedeutsamkeit kann so von den Menschen auch im System der Kommunikation erlebt werden. Jede soziale Gemeinschaft bildet ein solches System der Kommunikation aus. Durch das Akzeptieren und Benutzen der in der Gemeinschaft üblichen Zeichen, Symbole und Bedeutungen sowie der Regeln ihrer Verwendung eignen sich die Individuen die Werte und Normen des Denkens, Sprechens und Handelns einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe 'an. Dabei bilden sich kommunikative Strukturen. Das sind die Zuordnungen und Verknüpfungen der Informationsträger, die Rezeptionssituationen, Symbol- und Zeichenkonventionen, Bedeutungsrelationen und Informationshierarchien, die der sozialen Kommunikation eine je historisch-konkrete Organisation geben. Die Eigenbewegung des dynamischen Systems der Kommunikation einer Gemeinschaft garantiert die Produktion, Verbreitung und Aneignung auch der sozialen Normen, Regeln und Werte, die den Vergesellschaftungsprozeß der Individuen „steuern". Deshalb ist das System sozialer Kommunikation wesentliches Strukturelement jeder Kultur, ist es doch eine bestimmte Organisation der Fortexistenz der gemeinschaftlichen Erfahrungen, des kollektiven Erkenntnisprozesses und der „Verinnerlichung" von Verhaltensmustern und Wertvorstellungeij. Die kapitalistische Gesellschaft ist auf Grund der sie charakterisierenden Klassenteilung nicht zu einem Konsens in den grundsätzlichen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, also auch nicht zu einheitlicher Kommunikation fähig. 42 * Deshalb sah Friedrich Engels bereits 1845, bezogen auf die unterschiedlichen sprachlichen Dialekte, Ideen, Vorstellungen, Sitten und Sittenprinzipien von Bourgeoisie und Proletariat sowie deren konträre Politik, „zwei ganz verschiedene Völker"'' 3 in England. Angesichts der Klassenkämpfe in Frankreich sprach Karl Marx 1848 von „der Zerklüftung . . . in zwei Nationen'"'''*. Die Programmforderung des Bundes der Kommunisten im Manifest, das Proletariat müsse sich selbst „zur nationalen Klasse erheben" 45 *, war zugleich eine praktische Konzeption proletarischer Organisation und der Schaffung selbstbestimmter kommunikativer Strukturen. Die wachsende Zahl der Proletarier, so Marx 1864 in der Inauguraladresse, falle „nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet" 46 *. 93

Der dem Marxschen Konzept inhärente Organisationsgedanke ist bereits kurz skizziert worden. D i e Geschichte der Arbeiterbewegung hat seine Tauglichkeit f ü r den proletarischen Klassenkampf bewiesen. So zeigt auch die Betrachtung der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung seit den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Schaffung nationaler Kommunikationsstrukturen der Arbeiterklasse. Den deutschen Arbeiterorganisationen gelang es dabei - und darin besteht ihre historische Leistung - , in besonderer Breite Wertvorstellungen und Verhaltensmuster zu produzieren und zu „vererben", die den Lebens- und Kampfbedingungen der Arbeiterklasse entsprachen. Es geschah dies in Versammlungen und Debatten, Wahlprogrammen, Reden, Resolutionen und publizistischen Artikeln, aber auch zunehmend in theoretischen Arbeiten der „Parteischriftsteller". Diskussionen über Kommunales und Nationales, über Wahlsiege und Wahlniederlagen, Ausweisungen und Entlassungen, über Demonstrationszüge und die Wirkung von Zeitungen, über Frauenarbeit, Kindererziehung, Tätigkeit der Arbeitersekretariate, Urlaub, Maifeiern, Jugendweihe, Parteiaufnahmen, proletarische Weihnachts- und Osterbräuche, Ausflüge, Sportverstaltungen, Jubiläen, Hochzeiten und Beerdigungen, Märchen- und Dichterabende waren stets auch konkrete Verständigungen über Bedürfnisse, Ansprüche und Genüsse der Arbeiter. Mit der vielfältigen Organisation der Klassenangehörigen und der zielgerichteten Einflußnahme auf ihr Verhalten, ihre Wünsche, ihr Bewußtsein und ihre Wertvorstellungen - die praktische Leitung und Entwicklung sozialistischer Kulturarbeit - erreichte die deutsche Sozialdemokratie Anerkennung bei Millionen Arbeitern. (Bei der Reichstagswahl 1912 konnte die S P D 4,25 Millionen Wähler verzeichnen.) D i e Formen proletarischer Klassenkommunikation bewährten sich. Mit den Organisationen der Arbeiterklasse entstand innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ein dem bürgerlichen entgegengesetztes System kultureller Kommunikation. D i e Entwicklung der proletarischen Lebensbedingungen in Deutschland vor 1914 führte zur Herausbildung eines zu moderner Kommunikation fähigen Proletariats. Moderne Kommunikation war das Produkt industrieller Entwicklung: Konzentration der Bevölkerung und Kooperation in Betrieben und Einrichtungen, rasche und massenhafte Verfügbarkeit sozialer Informationen und ihre allgemeine Käuflichkeit als W a r e oder Dienstleistung, technische Vervielfältigungsmöglichkeiten, schnelle und weitreichende Verkehrsmittel usw. Bedingt durch den Volksschul94

zwang, tradierte Formen der Berufsbildung und zweckgerichtete Qualifizierung in den Fabriken und Institutionen der Weiterbildung konnte die übergroße Mehrzahl der deutschen Arbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl lesen, schreiben, Bilder betrachten und verstehen als auch rechnen. Die Arbeiter waren in der Lage, sich relativ selbständig Wissen und Ideen anzueignen, sich weiterzubilden, zu qualifizieren und Informationen aufzunehmen und einzuordnen. Dies prägte die Bedingungen proletarischer Organisation ebenso, wie es die Möglichkeiten der herrschenden Klassen vergrößerte, auf das Proletariat ideologisch und damit auch verhaltensregulierend Einfluß zu nehmen. Der Arbeiter nahm an den kooperativen Beziehungen der gesamten sozialen Einheit teil und war eingepaßt in die zu diesem Zweck von der Bourgeoisie beherrschten kommunikativen Einrichtungen, die sein Leben organisierten und ihm bürgerliche Ideologie vermittelten/'7* Zum anderen versuchte die Bourgeoisie auch immer mehr bewußt in Reaktion auf die erstarkende Arbeiterbewegung, die Arbeiter in den individualistischen Denk- und Verhaltensweisen zu bestärken, die spontan aus der arbeitsteiligen Produktion und der isolierten Existenz als Einzelverkäufer der individuellen Arbeitskraft hervorgingen. Zu diesen bewußt geschaffenen Institutionen zählen der Ausbau der politischen Repressivgewalt (Polizei, Militär, Strafvollzug), die immer straffere ideologische Führung der Bildungs- und Erziehungsformen sowie der Aufbau eines besonderen ideologischen Apparates (Presse, Vereine, Feste, Feiern, wissenschaftliche Einrichtungen). Die Arbeiterbewegung brachte jedoch mit der proletarischen Klassenorganisation eine eigene, weitgehend selbstbestimmte Kommunikationsstruktur hervor. Gerade Zur Geschichte der proletarischen Klassenkommunikation ist in den letzten Jahren sehr viel publiziert worden. Dabei sind die zu beobachtenden politischen und wissenschaftlichen Absichten und Tendenzen sehr verschieden. So leiden vorliegende bürgerliche Forschungen unter einem entscheidenden Mangel. Sie stellen die historische Mission der Arbeiterklasse in Frage und bestimmen deshalb die Einfügung der Arbeiter in die bürgerliche Kultur als das vorrangige Ziel und Ergebnis proletarischer Kulturarbeit und Kommunikation. Auch die Art der Publikationen ist sehr verschieden. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen finden sich Überblicksdarstellungen. So hat besonders Dieter Fricke 1976 mit seinem Handbuch über Die deutsche Arbeiterbewegung 1869-1914 ein grundlegendes marxistisches Kompendium zur Geschichte der Arbeiterorganisationen in 95

Deutschland, ihrer Medien und Institutionen vorgelegt/' 8 Aber auch eine ganze Reihe von Spezialarbeiten ist erschienen. Bereits Anfang der sechziger Jahre publizierten Friedrich Donath und Hans-Joachim Schäfers ihre Forschungsergebnisse mit dem Ziel, die Traditionen der deutschen „Arbeiterkulturbewegung" für die Entwicklung sozialistischer Kulturarbeit in der D D R fruchtbar zu machen/' 9 Diese Untersuchungen wurden zwar nicht zielstrebig weitergeführt, aber in der Folgezeit sind in der D D R vereinzelt weitere Arbeiten zur Kulturarbeit, Vereinsgeselligkeit und Kommunikation in der deutschen Arbeiterbewegung von Gerhard Birk, Horst Fröhlich, Werner Kaden, Lothar Skorning und anderen veröffentlicht worden. 50 Zur Geschichte der proletarischen Jugendweihe, an der die Ausbildung eigener Wertvorstellungen, Symbole und Verhaltensnormen besonders deutlich wird, liegen von Gotthold Krapp Untersuchungen über ihre Anfänge vor. '1 Diese wie andere Arbeiten belegen, d a ß die deutsche Arbeiterbewegung bereits vor der Jahrhundertwende viele Institutionen ausbildete, die in den Arbeiteralltag normierend eingriffen und ihn sozialistischen Regelungen unterwarfen: Partei- und Gewerkschaftsaktivitäten, aber auch Namensgebungen, Schulentlassungsfeiern bis zu eigenen Formen der Bestattung. Über die kulturelle Bewertung gehen die Meinungen auseinander. So hat in der B R D Kaspar Maase den Begriff der „Kampf- und Organisationskultur" zur wissenschaftlichen Abbildung der kulturellen Seite der Arbeiterbewegungsgeschichte vorgeschlagen, um die antagonistische Polarisierung in den Organisationen und Idealen zu betonen. 52 * Die meisten Arbeiten in der B R D münden allerdings in die Aussage, die Kulturarbeit innerhalb der proletarischen Klassenkommunikation sei, so Kurt Koszyk, nur eine „Kopie bürgerlicher Kulturbeflissenheit""' 3 . Brigitte Emig konstatiert ebenso „bloße Nachahmung und Vervollkommnung bürgerlicher Kulturmodelle" 5/ '. Die von Hartmann Wunderer veröffentlichte Zusammenstellung wichtiger Kultur- und Massenorganisationen der deutschen Arbeiterbewegung stellt ebenfalls nur „Verbürgerlichung" fest. 55 Auch die von Peter von Rüden versuchte Gesamtsicht auf die sozialistischen Kulturaktivitäten vor 1914 gesteht der Klassenkommunikation in der Arbeiterbewegung keine besondere proletarische Qualität zu. 56 Ähnlich ist das Herangehen bei Gerhard A. Ritter, Vernon L. Lidtke und Wolf Lepenies. ; " Schon 1966 entwickelte dazu Günther Roth den konzeptionellen Ansatz. 58 * Die hier kurz angedeuteten Aussagen resultieren aus einer Betrachtung des Zusammenhangs von Arbeiterorganisation und Klas96

senkommunikation, die die Ähnlichkeit vieler Seiten proletarischer Kulturarbeit mit bürgerlichen Formen als das Wesen nimmt und die Voraussetzungen und Erfordernisse proletarischer Massenorganisation unterschätzt. Die Inhalte proletarischer Kulturarbeit, ob Geselligkeit oder Literatur, hatten aber innerhalb der organisierten Praxis proletarischer Klassenkommunikation eine neue Qualität. Sie sind anderer Bedeutung, indem sie teilhaben an der Herausbildung und Festigung der Organisationen der Arbeiterklasse. Überhaupt ist der Gedanke, den Gesamtprozeß der Arbeiterorganisation und Klassenkommunikation als historischen Kulturbildungsprozeß zu beschreiben, bisher wenig verfolgt worden. 59 * Doch gerade dadurch könnte die kommunikative Verflechtung des individuellen Arbeiterlebens mit den Aktivitäten seiner Klassenorganisation aufgedeckt und so die Institutionalisierung der Arbeiterbewegung als kulturhistorisches Novum herausgestellt werden. Die Organisation der Arbeiter unterschied sich von der Organisation aller bisherigen ausgebeuteten Klassen und Schichten dadurch, daß Außen- wie Innenbeziehungen der Klasse, individuelle wie Klasseninteressen, Bedürfnisse des Lebensalltags und politische Erfordernisse, b e w u ß t v e r m i t t e l t werden müssen. Die Herausbildung proletarischer Organisationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbrachte aber nicht nur die Notwendigkeit zur Verständigung und Interessenvermittlung, sondern e r s t m a l s auch die M ö g l i c h k e i t hierzu. Die Arbeiterklasse schuf sich dazu einen institutionellen Apparat, Organisationen und Verhaltensnormen. Die Institutionalisierung der deutschen Arbeiterbewegung ermöglichte dabei die b e w u ß t e Organisation der individuellen und kollektiven Lernprozesse auf breiter Ebene und in vielen Lebensbereichen. Aber die Organisation der Lernprozesse wurde zugleich immer schwieriger, je mehr Massen von Arbeitern in sie einbezogen wurden. So versuchten die Klassenorganisationen durch ihre Angebote, die ganze Breite der Arbeiterbedürfnisse abzudecken. 60 Stets bestand die Gefahr, durch zu große Autonomie sich von der Masse der Arbeiter abzusondern oder durch Überanpassung die Verbreitung proletarischen Klassenkampfbewußtseins zu vernachlässigen. Deshalb verlief die Entwicklung einer eigenen proletarischen Kommunikation äußerst widersprüchlich. Was bei einer Abbildung des Organisationsprozesses der Arbeiterklasse als Kulturprozeß historisch zu erfassen wäre, kann auch hier nur angedeutet werden. Eine reich differenzierte Kommunikationsstruktur entwickelte die deutsche Arbeiterklasse besonders nach dem 7

Proletarische K u l t u r

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Fall des Sozialistengesetzes 1890. Die Vielfalt proletarischer Organisationen erschien dem Arbeiter als dichtes Netz von Möglichkeiten klassenbezogener Kommunikation. Dabei reichte dieses Netz vom Arbeiterverein und Ortskartell der Gewerkschaften bis zum sozialdemokratischen Verein. E s schloß die' Tätigkeit von Arbeiterfunktionären ebenso ein, wie es die räumliche und zeitliche Struktur des Arbeiterlebens, in denen Freizeitbetätigung organisiert wurde, nutzte: von der abendlichen Versammlung im Vereinszimmer der Kneipe bis zum Familien- und Kinderfest am Wochenende am Rande der Stadt. fil So determinierte die "durch die proletarische Klassenorganisation gesetzte Kommunikationsstruktur auch, wie Produktion, Verteilung und Konsumtion von verschiedenen Arten der Literatur innerhalb der Arbeiterbewegung funktionierten und von der Arbeiterklasse allgemein und den Funktionären der Bewegung im besonderen bewertet, angeeignet und beeinflußt wurden. Breitere und auch finanziell reichere und damit politisch stärkere Organisation ermöglichte die Institutionalisierung verschiedener propagandistischer Formen, mit denen die wissenschaftliche Weltanschauung und die Kulturauffassung unter der Arbeiterklasse verbreitet wurden. Schon eine Aufzählung höchst unterschiedlicher Organisationen und Informationsträger zeigt, daß es sich hier um wichtige kommunikative Einrichtungen handelt. Bereits in den achtziger Jahren entstanden die Arbeitersekretariate, die Rechtsauskunftsstellen und statistischen Büros der Arbeiterbewegung.1'2 Der Beginn der Genossenschaftsbewegung der Arbeiter, besonders der Arbeiter-Konsumgenossenschaften, fällt in die gleiche Zeit. 0 3 Um die Jahrhundertwende gelang es der deutschen Sozialdemokratie, trotz starker Negativsanktionen durch die Vereinsgesetze, sich zwei Arbeitergruppen besonders zuzuwenden und Jugend- und Frauenorganisationen zu gründen. E s waren aber besonders das Pressewesen, die Ausbildung einer Symbol- und Zeichensprache sowie das Arbeitervereinswesen, die zur Stabilisierung proletarischer Kulturelemente beitrugen. D i e 1906 gegründete Parteischule der Sozialdemokratie und die im gleichen Jahr begonnenen gewerkschaftlichen Unterrichtskurse dienten vor allem der Ausbildung von Führungskadern. Dagegen forderte und förderte der Zentralbildungsausschuß massenhafte Formen der Kulturarbeit, Geselligkeit und Bildung. Rainer Rosenberg, Ingrid Pepperle, Werner Feudel und Tanja Bürgel haben in ihren Beiträgen das sozialdemokratische Pressewesen in wesentlichen Punkten seiner Entstehung als einen Prozeß geschildert, der proletarische kommunikative Strukturen erzeugte. Die Bei-

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träge belegen wesentliche Phasen der Entwicklung sozialistischer Presse seit Weitlings Hülferuf der deutschen Jugend von 1841. Sie beschreiben den beginnenden Zugang der Arbeiter zu Gedrucktem und die damit für das Proletariat eroberte Möglichkeit, eigene Interessen zu artikulieren und die mündliche Kommunikation zu ergänzen. Die Herausbildung des proletarischen Presse w e s e n s als wichtigstes Verständigungsmittel der Arbeiterbewegung begann im wesentlichen nach 1860 mit der - noch defizitären - Herausgabe einfacher Mitteilungsorgane. Es entsprach den finanziellen Möglichkeiten der Arbeiter dieser Zeit, daß sie diese Blätter (meist regionaler Art) oft im Gemeinschaftsabonnement bezogen. Erst nach 1874 konnte sich die Partei der „Eisenacher" das Ziel stellen, jeden Genossen einzeln als Abonnenten zu gewinnen und die Parteizeitungen zu Einnahmequellen zu machen. (Ab 1902 erscheint als erste sozialdemokratische Zeitung Der wahre Jacob sogar mit kommerziellen Werbeanzeigen von privaten Firmen.) Während - trotz der Existenz eines gut funktionierenden ZeitungsVerteiler-Netzesß/' - unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes das Schwergewicht notwendigerweise auf der mündlichen Agitation liegen mußte, vervielfachte sich nach 1890 die Anzahl zentraler, beruflicher und regionaler Arbeiterzeitungen von 250 000 auf 1,5 Millionen Gesamtauflage 1912.Go Es waren vor allem die Lokalzeitungen, die Familienbeilagen und die um die Jahrhundertwende geschaffenen Zeitungen der Freizeitvereine der Arbeiter, die nicht nur durch ihren Inhalt, sondern allein schon durch ihren Bezug ein festes Band unter den Mitgliedern schufen. Durch das Ansprechen spezieller Interessen - Wissensgebiete und Hobbys - gelang es, die Kulturarbeit der Arbeitervereine anzuleiten und mit den Aufgaben der Partei und Gewerkschaft zu verbinden: 1892 bis 1907 erschien die Lieder gemeinschaft, der nach 1907 die Deutsche-Arbeiter-Sängerzeitung folgte. Noch vor 1900 entstanden die Arbeiter-Turn-Zeitung (1893), Die freie Jugend (1895), Der Arbeiter-Radfahrer, Der Naturfreund (beide 1896) und In freien Stunden (1897). Mit der Entstehung neuer Kulturorganisationen und Vereinigungen der Arbeiter bereicherten noch weitere Publikationsorgane das Pressewesen der deutschen Arbeiterklasse: Die Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse (1900), Der freie Gastwirt (1901), Der Abstinente Arbeiter (1903), Der Atheist (1905), Der Bibliothekar (1909), Der Arbeitersamariter (1910), der Arbeiter-Esperantist (1911) und die Arbeiter-Schachzeitung (1912), der die parallel weitererscheinende Deutsche Arbeii*

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terschachzeitung (1909) vorausgegangen war. Es m u ß auch beachtet werden, d a ß die Protokolle von Tagungen und Kongressen nahezu aller Organisationen in Broschürenform und in relativ hoher Auflage gedruckt und verbreitet wurden. Speziellen Anteil an der Festigung der Arbeiterorganisationen und der Förderung des Selbstbewußtseins und Zusammengehörigkeitsgefühls hatte der gemeinsame Gesang in nahezu allen Arbeitervereinen. Auch dadurch wurde sozialistische Ideologie verbreitet und Organisation gefestigt. In hohen Auflagen wurden eigene Liederbücher gedruckt und meist ohne Noten hergestellt, da die Melodien zum großen Teil geläufig waren. D i e hohen Auflagen der Liederbücher für den Massengesang lassen den Schluß zu, d a ß auch hierdurch neue kommunikative Strukturen geschaffen werden konnten. Durch ihren Verkauf wurde die Organisation finanziell gestärkt. D e r gemeinsame Gesang gleicher Texte und die Verständigung darüber förderten die Anerkennung proletarischer Zeichen und Bedeutungen. Als Symbol signalisierten die Liederbücher das Anderssein gegenüber dem kirchlichen Gesangbuch, dem Kommersbuch der Studenten oder den Sammlungen bürgerlicher Tafellieder. Bekannt war vor allem die mit immer neuen Texten gesungene Marseillaise, deren Melodie, bewußt an revolutionäres Gedankengut anknüpfend, immer dann ausgeliehen wurde, wenn die Texte besonders kämpferisch und fordernd waren, wie bei vielen Vetbandsliedern. O f t gleich im Titel kenntlich gemacht: Arbeiter-, Wahlrechts-, Weihnachts-, Achtstundenmarseillaise. Andere soziale Gruppen im kaiserlichen Deutschland sangen gerade dieses Lied nicht. So konnte die Marseillaise zum „Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl der Arbeiterbewegung beitragen . . . Die symbolischen und zeremoniellen Funktionen der Massenlieder gewannen im Lauf der Zeit an Bedeutung." 6 6 Die meistgesungenen Lieder vor 1914 waren die Arbeiter-Marseillaise, der Sozialistenmarsch und, besonders nach 1900, die Internationale. In vielen Texten 6 7 ist ungestümes Erwachen und Entfachen proletarischen Selbstbewußtseins zu beobachten. Der Klassengegner wird metaphorisch umschrieben als „Macht des Winters". Sonne, Licht, Luft, Sterne, Frühling und der Morgen werden gegen- Sturm und Toben gesetzt. Religiöse Momente spielen eine große Rolle: „heiliger Krieg", „heilige Fahne"; Frieden," Freude u n d . H o f f n u n g sind Symbole der Erlösung. Aus „Qual und Leid" sollen die Arbeiter sich erheben, um die „ganze Welt", die „Menschheit" zu erretten. Auchwird getröstet und zugleich Zukunftsbewußtsein vermittelt: „Bald 100

steigt der Morgen hell herauf", die „Sonne der Freiheit" leuchtet bereits als der „Freiheit Sonnenstrahl", der Anbruch der „Sonnenzeit". B a l d werde „Gerichtstag wie ein Wetterschlag" sein: „ E r l ö sungsfest", „Völkerfrühling", „Völkertag", „Freiheitsmorgen". D e r Sozialismus leuchtet in den Liedern als „heller Stern" den W e g zur „letzten Freiheitsschlacht", um die „Welt neu zu e r b a u e n " : „ D e r Morgen wird einst tagen" für das „Glücksgeschlecht der Zukunft". D i e metaphorischen Umschreibungen proletarischer Klasseninteressen haben viele Ursachen. So konnte nur durch A n k n ü p f u n g an die bekannte Metaphorik der Zunftgesä'nge, Volks- und Kirchenlieder sozial breite Identifikation erreicht werden. Auch ist wohl die Sicherung gegen polizeiliche Interpretation als eine wichtige Ursache zu nennen. D i e T e x t e zeugen aber auch von der angestrebten Wertorientierung bei Arbeitern an den Werten der Organisation. A n erster Stelle steht dabei „ E i n i g k e i t " , auch in vielen Synonymen, die zugleich Besonderes hinzufügen, wie „Eintracht" (was die Gemeinschaftlichkeit der Ansichten einschließt), „Brudersinn" (das heißt auch Opferwilligkeit, deshalb auch oft ergänzt dujrch „ O p f e r bringen", kämpfen bis zum „letzten Tropfen B l u t " ) und „Freundschaft". „Eintracht", „Brudersinn" und „Freundschaft" assoziieren persönliche Verbundenheit, wie sie zwischen den sich zusammenschließenden nichtverwandten und persönlich unbekannten Menschen bestehen soll. E s geht um die „ E h r e " der Arbeiter und der K l a s s e , „stolz" soll man auftreten, „Söhne des V o l k e s " sein und bleiben, „schlicht" („treu und schlicht", „frei von Fleck und M a k e l " ) und „frei das H a u p t erhoben", mutig, .kühn, fest; geschlossen, begeistert, aber auch besonnen. „ R a u m für alle" soll in der Organisation sein, aber zugleich sollen „dichte Reihen" standhaft stehen: „Wir wanken, und wir weichen nicht". „Zuversicht" und „froher M u t " begleiten die Arbeiter in ihrem K a m p f um ein besseres Leben. Im Arbeitergesang - wie in anderen Formen der Interessenartikulation - wurden Zeichen, Symbole und andere bildliche, sprachliche und den Habitus äußernde Ausdrucksformen benutzt, gesetzt und gefördert. D i e organisierten Arbeiter stellten innerhalb ihrer Bewegung eine kollektive Konvention über die Bedeutung der Zeichen und Symbole her und ermöglichten dadurch die Aneignung der Werte und N o r m e n klassenkonformen Verhaltens. E r s t das tägliche Organisationsleben brachte die einzelnen Arbeiter in Situationen, wichtige Klasseninformationen, wie die Bedeutung eines Streiks oder die Funktion der Kapitalisten, zu _ rezipieren und ins Alltagsbewußtsein

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einzuordnen. Proletarischer Klassenkampf forderte vom organisierten Arbeiter die Bereitschaft, die Ziele des gemeinsamen Kampfes anzuerkennen und den Klassenkampf betreffende Informationen höher zu bewerten als die „kleinen" Sorgen des Alltags. Deshalb förderten die Arbeiterorganisationen - auch durch gemeinsamen Gesang eigener Lieder - das „Streben nach höheren Kulturzielen . . . , die uns", wie Heinrich Schulz 1913 schrieb, „in rein menschlicher Beziehung über die Nichtigkeiten des Alltags hoch hinwegtragen" 08 . Der gemeinsame Gesang von Max Kegels Sozialistenmarschw und anderer Lieder befestigte das Bewußtsein der gleichen sozialen Situation von „ungezählten Millionen". Diese vernahmen den „Weckruf", „die Arbeit zu befreien", der „Erde Glück" zu bringen und sich selbst aus „Qual und Leid . . . zu erheben". „Die Trommel ruft, die Banner wehn . . . Mit uns der Sieg!" Die gesungenen Zeichen und Symbole hatten ihre Entsprechung in der Alltagssprache der Arbeiter, in Begriffen, die spezifischen proletarischen Arbeitstätigkeiten entsprangen und proletarisches Arbeitsleben charakterisierten (wie „malochen" für Vernutzen der Arbeitskraft). Zu ihnen gehörten auch Begriffe aus den Lebens- und Kampfformen der Klasse. Arbeiter bedachten sich und ihre Ausbeuter mit Spitz- und Spottnamen, oder sie verehrten auch auf diese Weise ihre Führer. Sprichwörter und Bibelsprüche wurden gebraucht und abgewandelt. Vor allem gingen immer mehr dem Marxismus entstammende Ausdrücke und Begriffe in die Alltagssprache ein, wie „Kapital", „Klassenkampf" und „Profit". Bereits die persönliche Anrede symbolisierte die Gleichheit der Lage und Interessen: „Genosse", „Arbeiter", „Du". 70 Neben sichtbar als Symbol zur Schau getragenen Kleidungsstücken wie blauem Kittel und Lederschurz, tradierten und veränderten Zunftuniformen, Werkzeugen wie Hammer, Haue und Zirkel, aber auch symbolischen Gesten wie dem Händedruck statt der förmlichen Verneigung waren es besonders die Embleme, Fahnen, Abzeichen und Blumen, die als Symbole proletarischer Organisation tradiert waren oder neu ausgebildet wurden. So gab es Embleme auf Beitragsmarken und Mitgliedskarten. Mit Akribie und Kunstsinn wurden Fahnen bestickt und Wandbehänge gefertigt. Industriell hergestellt, erschienen neben Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Illustrationen Bücher, Broschüren, Kalender, Aufrufe, Flugblätter, Jugendschriften, Bilderbögen, Gedenkblätter, Festschriften, Aufkleber und Plakate. Die deutsche Arbeiterbewegung nutzte nahezu alle Informationsträger zur Ausbildung einer selbstbestimmten Kommunikation. Auf Post102

karten, Spazierstöcken, Hüten, Bierseideln und Busennadeln wurden die Porträts von Marx, Engels und Lassalle, aber auch der Führer der Bewegung ebenso verkauft und verteilt wie Bildnisse typischer Arbeitssituationen und allegorische Zeichnungen der aufstrebenden Klasse. Dabei ist besonders auf das Symbol der sich vereinigenden H ä n d e hinzuweisen. E s findet sich seit der „Arbeiter-Verbrüderung" von 1848/49 in nahezu allen "Fahnen, Wappen und Stempeln von Arbeiterorganisationen wieder. 7 1 * Die rote Fahne ist das wohl eindeutigste Symbol der Arbeiterbewegung geworden. Es gab seit 1848 fast keine Arbeiterdemonstration mehr ohne die rote Fahne oder, wenn verboten, mit roter Schleife, rotem Regenschirm, roten Blumen (Nelken, Rosen). Selbst die Anordnung der Fahnen wurde ein fester Ritus. Besonders in der mündlichen Agitation wurde häufig an kollektive Verhaltensformen angeknüpft wie Demonstrationen, Streiks, Boykotte, Feste, Geselligkeiten, Begräbnisse, sportliche und künstlerische Veranstaltungen. Alle Räumlichkeiten, in denen sich Arbeiter aufhielten, wurden bewußt frequentiert: Fabriken, Wege von und zur Arbeit, Kneipen, Leseräume, Wohnungen. Anfangs fanden sich die organisierten Arbeiter dort zusammen, wo es möglich war, die Freizeit zu verbringen, wo sie die Kassen deponieren konnten und wo man sich überhaupt treffen durfte. Die in den Arbeiterkneipen vorhandene Kommunikation wurde ausgenutzt und reichte zunächst auch hin. Die Institutionalisierung der Bewegung brachte insofern eine Änderung in der kommunikativen Situation der Arbeiterbewegung, als nun von den Arbeiterlokalen gesonderte Räumlichkeiten für Aktivitäten nötig wurden, die über den „Zahlabend" hinausgingen. So enthielten zum Beispiel die Kassen zu viel Geld, um sie in einem Hinterzimmer aufzubewahren. Die Zahl der Organisationen und Funktionäre wurde zu groß, um allein im Vereinszimmer Sprechstunden der Unterstützungseinrichtungen der Gewerkschaften, der Arbeitsvermittlungsbüros, der Sekretariate, der Ortsleitungen usw. abzuhalten. Die um die Jahrhundertwende entstehenden Gewerkschafts- und Volkshäuser wurden zu neuen „Kommunikationszentren". Sie beherbergten Büros und Verwaltungseinrichtungen ebenso wie Freizeiteinrichtungen: Lokale, Säle, Vereinszimmer, Bäder und Übernachtungsmöglichkeiten. Das Problem der politischen Beherrschung der nun vielschichtigeren Kommunikation wurde in der Arbeiterbewegung anhand vieler Seiten proletarischer Organisation diskutiert, so auch am Pressewesen und an der Vereinstätigkeit. 103

Die Arbeiterbewegung mußte lernen, mit ihren Medien, besonders der Presse, erzieherisch zu arbeiten, die Arbeiter zu unterhalten, sie zu bilden - sie überhaupt anzusprechen. Dieses Problem hatte August Bebel im Blick, als er 1898 die „Akademiker" aufforderte, über den Zusammenhang von Intensität der Publizistik und ihrer Wirkung (Befestigung und Änderung von Haltungen und Überzeugungen) nachzudenken. Die Auffassung sei doch nicht wahr, „man könne im Grunde genommen jedem einzelnen Menschen beibringen, was man w i l l ; man könne die Ideenentwicklung in einem gegebenen Zeitalter und einem gegebenen Volke beliebig beeinflussen. Aber das ist eben nicht möglich" 72 . Die Arbeiterbewegung müsse erkennen, so Bebel schon 1876, daß die sozialdemokratische öffentliche Versammlungsund Vereinstätigkeit „den Uneingeweihten sozusagen ein Bild im großen zu geben in der Lage ist von dem, was wir wollen;'die Umund Durchbildung zu tüchtigen Parteigenossen kann aber nur in der Parteiorganisation und durch das Lesen sozialdemokratischer Blätter und Schriften erreicht werden"7-1. Tatsächlich zeigten die Erfahrungen, daß gerade die Vereinsbewegungen oral-lokale wie medial-nationale Kommunikation ermöglichte, war sie doch allerorts direkte Reaktion auf bürgerliche Organisation und Information. Die proletarische Vereinsbewegung gab den Arbeitern die Möglichkeit, sich ideologisch-wertorientierend von bürgerlichen Vereinsangeboten abzuwenden. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Vereine waren - auch was die Geselligkeit betrifft - Alternativorganisationen gegenüber einem breiten kirchlichen und bürgerlichen Angebot an Kleingarten-, Spar- und Lotterievereinen, an Vereinen zur Zucht von Kanarien, Tauben, Bienen oder Hunden ebenso wie an Geselligkeits-, Gesangs- und Kegelvereinen, Rauch- und Theaterklubs, Turn-, Fußball-, Radfahr-, Motorsport-, aber auch Schützen- und Kriegervereinen. 7 ' 1 Die Arbeitervereine verbanden Geselligkeit mit Bildung, politische Überzeugungsarbeit mit elementarer Lebenshilfe. Auch auf diesem Gebiet war die Arbeiterbewegung gezwungen, wie Wilhelm Pieck 1907 schrieb, „sich . . . auch selbst die Institutionen zu schaffen, in denen . . . Kunst und Wissenschaft gelehrt wird". Dazu ist die Arbeiterklasse aus ihrem Klasseninteresse heraus genötigt. Die Arbeiterklasse wisse „ d i e Kunst und Wissenschaft zu schätzen und zu werten, die i h r e n (Hervorhebungen - H. G.) Bestrebungen entspricht, die in ihrem Kampfe um die Befreiung aus wirtschaftlicher und politischer Knechtschaft stärken, heben und begeistern soll und ihr auch den Weg zu ihrem Ziele zeigt" 75 .

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So entwickelte die deutsche Arbeiterklasse außer dem ArbeiterSängerbund (1892), den „Naturfreunde"-Vereinen (1896), den Arbeiter-Theatervereinen (1906) und dem Deutschen Arbeiter-Theaterbund (1913) vor allem eine eigene proletarische Vereinskultur. Im Organisationsleben der sozialdemokratischen Ortsvereine, der Gewerkschaftskartelle, der Arbeiter-Radfahrer-Vereine „Solidarität", der Arbeiterturner, -segler und -schachfreunde, der Konsum- und Sparvereine und besonders der Arbeiter-Abstinenten und "Freidenker, die sich besonders intensiv um eine eigene Kulturarbeit der Arbeiter bemühten (Volkshäuser, Jugendweihen), gab es immer wieder Anlässe zu Festen, Feiern, Umzügen, Kommersen und Gedenkstunden. Dabei brachte das unmittelbare Eingehen auf die realen Frei' Zeitbedürfnisse der Arbeiter den Organisationsprozeß der Klasse wesentlich voran. 7 6 * „Gewiß waren manche Formen und Bezeichnungen der bürgerlichen Welt entlehnt - z. B. Ball mit Concert, Darstellung von Nebelbildern oder mit Damenbelustigung - , aber jeder neue Entwicklungsschritt knüpft in unterschiedlichem Maße an alte Formen an. Die Bedeutung lag darin, daß die Arbeiter nicht zu den Veranstaltungen bürgerlicher Vereine gingen, sondern eigene organisierten und dabei Freude empfanden und Selbstvertrauen gewannen." 77 Die Angebote der proletarischen Selbsthilfeorganisationen zur Befriedigung eines breiten Spektrums der Freizeitbedürfnisse von Arbeitern erforderten deren Einordnung in die umfassende Strategie der sozialistischen Bewegung. Damit verbunden war die kollektive Verständigung über Arbeitersport, Bildungsarbeit, Kunstverhalten, Kindererziehung, Alkohol und andere Fragen des Arbeiteralltags. Vor den zentralen und örtlichen Leitungen der Partei und Gewerkschaften stand jetzt das Problem, das Verhalten ihrer Mitglieder zu den Freizeitvereinen und Kulturorganisationen zu regeln. Wie die Sänger, Turner, Abstinenzler und Freidenker wirkten sie zunächst in bürgerlichen Vereinigungen mit, nun aber bildeten sie eigene Organisationen, teils, weil sie in bürgerlichen Vereinen nicht zugelassen wurden, aber vor allem, weil sie sich politisch abspalteten. Daraus erwuchsen neue Aufgaben für die Leitungen der politischen Partei. Die organisatorische Beherrschung der sich differenzierenden Tätigkeitsfelder der Arbeiterbewegung um 1900 führte zu einer eigenen Kulturpolitik, die auch die kommunale Wohnungs-, Familien-, Freizeit- und Gesundheitspolitik einschloß. Daraus erwuchs die politische Hinwendung zu den Bereichen des Arbeiteralltags, die Otto Rühle 7 8 „Sicherungsmaschinerie" der bürgerlichen Kultur nannte und die Lenin als 105

Erschwernisse der proletarischen Revolution in den hochentwickelten Industrieländern Westeuropas 1918/19 charakterisierte. 79 Die Ausbildung einer eigenen Kulturpolitik kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Eine kulturhistorische Bewertung proletarischer Kulturarbeit hat aber zu beachten, daß eine der originären Leistungen der deutschen Arbeiterbewegung darin bestand, der ausgeweiteten Kommunikationsstruktur angepaßte anleitende und koordinierende Institutionen geschaffen zu haben. Den vom Zentralen Bildungsausschuß (1906) unterwiesenen regionalen Ausschüssen für Bildung und Kultur oblag innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung die Hauptverantwortung für die Kulturarbeit. Basis ihres Wirkens waren daher die Ortskartelle und die ihnen angeschlossenen Arbeitervereine. 1913 waren mehr als 2 000 Parteimitglieder in über 400 Bildungsausschüssen kulturpolitisch tätig. 80 Zu den Aufgaben der Bildungsausschüsse gehörte die Organisation des Vortragswesens, darunter wissenschaftliche Kurse und Lichtbildervorträge. Aber auch Museums- und Fabrikbesichtigungen, Volks- und Kindervorstellungen, Theaterabende sowie „kinematographische Aufführungen" wurden veranstaltet. Zugleich waren Kommissionen für die Kartenverteilung wirksam. Die Bibliotheksarbeit wurde koordiniert. Jugendschriften- und Wandschmuckausstellungen sollten den künstlerischen Geschmack bilden und zugleich zu besonderen Weihnachtseinkäufen anregen. Acht Wanderredner waren fest angestellt: Hermann Duncker, Salo Drucker, Engelbert Graf, Max Poensgen-Alberty, Bernhard Rausch, Richard Woldt, Otto Rühle und Wilhelm Reimes. In den Gewerkschaftshäusern (laut Werbeanzeigen dem „Zentralverkehr aller organisierten Arbeiter"), aber auch in anderen Räumlichkeiten wie Vereinszimmern, Lesehallen, Festplätzen und Parks gab es Vorträge und Vortragszyklen, Musik-, Kunst- und Theaterabende sowie Arbeiterfeste (besonders Gewerkschafts-, Stiftungs- und Maifeste), Frühlings-, Sommer-, Herbst-, Winter-, Weihnachts-, Oster- und Pfingstfeiern, Turnervorführungen, Tanzvergnügen, Kindertage, Weihnachts-, Kunstund andere Ausstellungen. Viele Gelegenheitsdichter ersannen zu diesen Anlässen Prologe und Weiheworte. Für all diese Veranstaltungen gab es schriftliche Empfehlungen, Programmhinweise, gedruckte Redemanuskripte und erklärende Texthinweise. 81 Auch auf diese Weise trug Literaturverbreitung und -aneignung zur Festigung der proletarischen Organisation und des Selbstbewußtseins von Arbeitern bei. Nahezu alle hier nur angedeuteten Probleme proletarischer Kulturarbeit und Kommunikation bedürfen weiterer Diskussion, und weit

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mehr Material wäre zu untersuchen. Es läßt sich aber wohl schlußfolgern: Der Zusammenhang zwischen Organisation und Kultur der Arbeiterklasse bestand nicht nur darin, d a ß Organisationen Träger von Kulturpolitik und Kulturarbeit waren. Organisation bildete selbst einen Teil der Kultur der Arbeiterklasse. Grundlegend war ihre Funktion für den politischen und ökonomischen Kampf. Für die von ihnen erreichten Arbeiter boten sie einen Komplex klasseneigener materieller und ideeller Lebensbedingungen, vorgefundener Verhaltensweisen, Normen und Regeln, die sich von denen im Reproduktionsprozeß des Kapitals unterschieden, zumindest in Sinn und Funktion, so d a ß sie Arbeitern Handlungen, Eigenschaften und Fähigkeiten eigener Art ermöglichten. D i e kulturellen Funktionen der Arbeiterorganisationen auf der Ebene der Lebensweise von Arbeitern spielten eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der „Klasse an sich" zur organisierten und selbstbewußten Arbeiterklasse. Kommunikation war eine wesentliche Bedingung der selbständigen Organisiertheit der Arbeiterklasse, häufig der erste Zweck der Bildung von Arbeiterorganisationen. Umgekehrt wirkten die Arbeiterorganisationen strukturierend auf Inhalt und Form proletarischer Kommunikation, indem sie sozial identische Kommunikation in Beziehung zueinander setzten, spezifische Situationen und Anlässe hervorbrachten, Einrichtungen, Verfahren und Zeichenvorrat boten, Kommunikationsvorgänge zielstrebig und zunehmend häufig durch spezialisierte Funktionäre der Arbeiterbewegung beeinflußten. Organisierende Kommunikation und Organisierung der Kommunikation setzten bereits dort ein, wo Arbeiter ihren Zusammenschluß regelten, wo Organisationsleben zu einem Teil ihrer Lebensweise wurde. Für diese Kommunikation dürften Symbole, Habitus, Kennworte und Schriftführung kaum weniger wichtig gewesen sein als theoretische Schriften. Organisation von Arbeitern erforderte in wachsendem Maße die kommunikativen Leistungen von Literatur. D a h e r sind in der Arbeiterbewegung stets große Anstrengungen für die Produktion und Rezeption von Literatur unternommen worden. In der Lebensweise von Arbeitern wirkte eine Fülle von Literatur, die für das Bild von Geschichte und Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterklasse bisher nur zu einem kleinen Teil erforscht ist. Für das Verständnis und die Bewertung dieser Literatur, auch der belletristischen, ist es wichtig, ihren funktionalen Zusammenhang zu rekonstruieren. 107

Ingrid Pepperle

Ideologische Auseinandersetzungen in der Literatur deutscher frühproletarischer Organisationen 1843 bis 1845 in der Schweiz Wilhelm Weitling hat 1841 im Hülferuf der deutschen Jugend den Anspruch des sich konstituierenden deutschen Proletariats programmatisch formuliert: „Auch wir wollen eine Stimme erheben für unser und der Menschheit Wohl, damit man sich überzeuge, d a ß wir recht gut Kenntnis von unseren Interessen haben." 1 Dieser Prozeß des Bewußtwerdens der eigenen Interessen, der begleitet wird von der Suche nach eigener Organisation, bringt vielfältige Publikationsformen hervor (Flugblätter, Flugschriften, Liederbücher, Broschüren, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften) und vollzieht sich in den unterschiedlichsten literarischen Genres. Es waren Lieder, Gedichte, Erzählungen, Essays, Aufrufe, utopische Romane, politische Pamphlete, theoretische Abhandlungen, in denen die frühen Proletarier sich Klarheit über ihre eigene Situation verschafften und Wege zur Änderung ihrer Lebensverhältnisse beschrieben. Angemessene literarhistorische Untersuchungsmethoden und Wertungskriterien dieser Literatur sind deshalb nur zu gewinnen, wenn der programmatische Anspruch und seine literarische Gestalt in Beziehung gesetzt werden zu ihrer realen Funktion im politisch-ideologischen Konstituierungsprozeß der neuen Klasse. E s ist primär danach zu fragen, wie es diese Literatur verstanden hat, zur Aufklärung und Identitätsfindung der Frühproletarier beizutragen. Ihre kulturschöpferische Leistung ist zu ermitteln aus ihrem Anteil an dem allmählich bewußt werdenden Kampf der Arbeiterklasse um „Veränderung und Überwindung aufgezwungener Arbeits- und Lebensbedingungen" 2 . • Obwohl die literarhistorische Forschung zu diesem Gegenstand erst am Anfang steht, belegen doch die bisherigen Ergebnisse, in denen der funktionale Aspekt als zentraler Bezugspunkt unübersehbar ist, daß allein ein Herangehen dieser Art frühproletarische Literatur e r schließt. Ihr Entstehen und Wirken ist aufs engste verbunden mit den frühproletarischen Organisationen. Beim Überblicken der Forschungs108

literatur fällt allerdings auf, daß die organisatorischen Prozesse und in der Literatur ausgetragenen theoretischen Debatten, die zum Bund der Gerechten und Bund der Kommunisten führten, ziemlich eingehend behandelt worden sind, daß dagegen die Spätphase der deut•schen frühproletarischen Organisationen in der Schweiz - nach der Verhaftung Weitlings bis zum Verbot der Vereine im Sommer 1845 - und ihre literarische Kommunikation bisher kaum Beachtung fanden.''* Diese Vernachlässigung ist unter anderem auf die Ansicht zurückzuführen, daß die Debatten in der Schweiz nach dem Weggang Weitlings uninteressant geworden seien, die Organisationen zerbrachen. Wir meinen, daß diese Einschätzungen nicht aufrechterhalten werden können/* Wenn auch die Hauptlinie der organisatorischen und literarischen Entwicklung zum Bund der Kommunisten über Paris, London und Brüssel verläuft, ist es geboten, den deutschen Arbeitervereinen in der Westschweiz in den Jahren 1843 bis 1845 und den in1 ihrer Publizistik ausgetragenen ideologischen Diskussionen mehr Beachtung zu schenken. Geht es hier doch um die Austragung ideologischer Widersprüche, die in ganz ähnlicher Weise in Paris, London, Berlin und Brüssel zur Debatte standen. Die Art und Weise ihrer Austragung führt zu unterschiedlichen Ergebnissen - daran sind der politisch-ideologische Entwicklungsstand der Organisationen und die theoretische Bewältigung der Fragestellungen zu bestimmen, nicht aber die Bedeutung der .diskutierten Probleme.

Frübpro/etariscbe

Organisationen in der Schweif

1843 bis 1845

Mit Weitlings Verhaftung im Juni 1843 und seiner Ausweisung nach Preußen 1844 endete ein entscheidender Abschnitt frühproletarischer Agitation und Organisation in der Schweiz. Die von revolutionär-demokratisch orientierten Mitgliedern des Jungen Deutschland geleiteten Arbeiter-Vereine hatten sich nach dem Verbot dieses Geheimbundes im Sommer 1836 nur langsam reorganisiert und erst ab 1840 unter dem Einfluß August Wirths und seiner in Konstanz erscheinenden Deutschen Volkshalle neu belebt. Weitling hatte sich, als er 1841 nach Genf kam, von Anbeginn an offensiv mit dem revolutionär-demokratischen Ideengut des Jungen Deutschland auseinandergesetzt, Wirths Soziallehre im Hülferuf der deutschen Jugend einer eingehenden Kritik unterzogen und später den 109

neugewonnenen Mitgliedern des Bundes der Gerechten Hinweise gegeben, wie der jungdeutschen Propaganda zu begegnen sei. Durch Weitlings publizistische und organisatorische Aktivitäten 1841/42 hatten die Vereine proletarisierter deutscher Handwerker erheblich an Ausdehnung und Einfluß gewonnen. Der Bund der Gerechten faßte in ihnen Fuß, und der utopische Arbeiterkommunismus konntein manchen Vereinen die Mehrheit der organisierten Handwerker für sich gewinnen. Unter ihnen waren so einflußreiche Persönlichkeiten wie der Gerber Simon Schmidt und August Becker, der 1839 aus hessischer Haft entlassene Freund Georg Büchners. Johann Kaspar Bluntschlis im Auftrag der Züricher Regierung zusammengestellter Kommissionalbericht Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren gibt einen authentischen Einblick in den erreichten Stand von Agitation und Organisation. Er enthält die Anweisungen Weitlings zu Agitation und Propaganda, die in den Statuten des Bundes der Gerechten verankert waren, Vorschläge zum Aufbau kommunistischer Arbeiterbildungsvereine sowie Berichte über propagandistische Tätigkeit und Umfang der Publizistik. Bluntschli kann - bei aller prinzipiellen Gegnerschaft - dem Organisationstalent und der Intelligenz der kommunistischen Agitatoren seine Achtung nicht verweigern: „Diese Bildung kommunistischer Vereine wurde nicht ohne p r a k t i s c h e s Talent und mit steigendem Erfolg unter den deutschen Arbeitern in der westlichen Schweiz unternommen"/' „Weitling selbst hat in seiner Sprache bei aller Einseitigkeit seines Prinzips und trotz der Verworfenheit seiner Tendenz etwas Verständiges, Klares, Anschauliches, zuweilen sogar bei aller Unnatürlichkeit und bei aller praktischen Unmöglichkeit seiner Vorschläge etwas Praktisches." Bluntschli muß weiterhin feststellen: „In unseren Tagen übt das gedruckte Wort einen unermeßlichen Einfluß auf die Gesinnung der Menschen. Es ist daher natürlich, daß die Kommunisten sich der Presse zu bemächtigen und durch diese zu wirken suchten. Die literarische Tätigkeit und der literarische Zusammenhang derselben ist größer als man sich bisher vorgestellt hat." Die Beweise, die Bluntschli dann von den publizistischen Bemühungen der deutschen Kommunisten in der Schweiz gibt, sind beeindruckend und deuten auf den planmäßigen Aufbau eines Kommunikationssystems hin. Beispielsweise schreibt August Becker am 20. Dezember 1842 an Weitling; „Nicht allein für eine Druckerei müssen wir uns assoziieren, sondern auch für einen kleinen Buchhandel. Ich habe deshalb schon früher einmal dem Fröbel geschrieben110

Alles, was in Deutschland und Frankreich Soziales und Verbotenes und sonst Praktisches und Zeitgemäßes herauskommt, muß bei uns zu haben sein. Nebenher müssen wir Korrespondenzartikel schreiben und Broschüren machen. Dann denke ich auch an Erweiterung des Journals. Es müßte häufiger erscheinen. Wir müßten einmal eine, Abonnements-Jagd anstellen . . . Herwegh, der ja jetzt alle deutschen Celebritäten kennt, würde uns vielleicht ein paar hundert Abonnenten liefern." Waren solchermaßen der Einfluß der kommunistischen Arbeitervereine und ihre publizistische Tätigkeit in Ausbreitung begriffen, als die Schweizer Polizei eingriff, gab es nach 1843 doch einen erheblichen Rückgang der Aktivitäten. Die Vereine in der Ostschweiz waren aufgelöst worden. Die verstärkte Aufmerksamkeit der Behörden in den anderen Kantonen gebot Vorsicht. Aber die einschneidenden Folgen der Verhaftung Weitlings waren nicht nur organisatorischer Natur. Sie offenbarten auch die seit 1842 latente Krise des Weitlingschen Arbeiterkommunismus, deren Symptome in den Korrespondenzen zwischen Wilhelm Weitling, Sifnon Schmidt, August Becker, Hermann Ewerbeck etc. zu finden sind, deren theoretische Grundlage aber die Frage nach Zeitpunkt und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die proletarische Revolution ist. Weitlings Bestrebungen, den Kommunismus sofort zu verwirklichen, führten nicht nur zu Differenzen zwischen Weitling und August Becker. Wie die Korrespondenz mit Ewerbeck, die Protokolle der Diskussionen im Londoner Arbeiterbildungsverein von 1845 und die Aussagen Pawel Wassiljewitsch Annenkows über die Auseinandersetzungen des Brüsseler Kommunistischen Korrespondenzkomitees mit Weitling beweisen, wurde seine Haltung von den meisten Diskussionspartnern dahingehend kritisiert, daß weder die theoretischen noch die praktischen Voraussetzungen für eine im Anschluß an die bürgerliche Revolution sofort durchzuführende proletarische Revolution gegeben seien. 6 Während aber in Paris und London das Zurückweisen Weitlingscher Vorstellungen einen theoretischen Lernprozeß einleitete, der über die kritische Sichtung anderer kommunistischer Antworten, wie der Cabets, auf die Frage der Einführung des Kommunismus zur realeren Einschätzung der Situation führte und dieses wichtige Problem für die junge Arbeiterbewegung einer Lösung näherbrachte, verlief die Entwicklung in der Schweiz anders: Hier setzten August Becker und Simon Schmidt zwar in wesentlichen, von Weitling ungeklärten theoretischen Problemen zu neuen Überlegungen an, ohne einen fort-

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schreitenden Klärungsprozeß herbeizuführen und ohne an das Niveau der Diskussionen im Londoner Arbeiterbildungsverein heranzukommen. Ja noch mehr, das Unvermögen, diese Frage zu lösen, führte hier letztendlich auf bürgerliche Positionen zurück bzw. zu den pseudosozialistischen Vorstellungen Georg Kuhlmanns. Insgesamt war das Ergebnis daher nicht ein Fortschreiten, sondern ein Rückgang des kommunistischen Einflusses in den Arbeitervereinen und ein Verlust an proletarischer Substanz. Diesem Rückgang kommunistischen Einflusses steht die organisatorische und publizistische Ausbreitung des Jungen Deutschland gegenüber. Sie führte zu verstärkten ideologischen Auseinandersetzungen in den Arbeitervereinen und ab Mitte 1842 zur Spaltung der großen Vereine am Genfer See in ausschließlich kommunistische oder jungdeutsch geleitete. Die jungdeutschen Vereine gründeten im Februar 1843 den Lemanbund, der ihnen die Vorteile der Freizügigkeit der Mitglieder und der zentralen Leitung durch einen jeweils für ein halbes Jahr zum Vorort bestimmten Verein brachte. Die im Lemanbund zusammengeschlossenen Vereine standen in Kartellverträgen mit den übrigen jungdeutschen Vereinigungen. Im Ergebnis weiterer organisatorischer Straffung gliederten sich die gesamten jungdeutschen- Klubs auf Schweizer Territorium - sie waren indessen auf über zwanzig angewachsen - in drei von den führenden Mitgliedern der Geheimorganisation geleitete Sektionen.7* Diese organisatorischen Erfolge beruhten auf der Neubelebung des jungdeutschen Geheimbundes und der ideologischen Neuorientierung leitender Mitglieder, wie Julius Standau, Hermann Döleke, Wilhelm Marr. Döleke und Marr waren erst nach 1840 zum Jungen Deutschland gestoßen und grenzten sich deutlich von der kleinbürgerlich-demokratischen Orientierung des Jungen Deutschland der dreißiger Jahre ab, wie auch von den Sozialtheorien August Wirths und den politischen Thesen Georg Feins. Döleke hatte unter anderem in Halle studiert und die politisch-philosophischen Auseinandersetzungen der Junghegelianer mit der preußischen Regierung in den Hallischen Jahrbüchern miterlebt. Wegen eines Duellvergehens verhaftet, war er aus Deutschland geflohen und hielt sich seit Frühjahr 1841 in Genf auf. 1843 fand sich hier auch Wilhelm Marr ein. Marr hatte, als Handlungsgehilfe 1841 aus Wien kommend, in Zürich gelebt, war mit HerWegh, Fröbel unter anderem auch mit Weitling bekanntgeworden, nach dessen Verhaftung 1843 ausgewiesen und in die Westschweiz übergesiedelt. Standau hatte trotz Gymnasialbildung das Schlosserhandwerk 112

erlernt und gehörte zu den Gründern des Züricher Gesang- und Lesevereins Eintracht. E r lebte um 1842 im Schweizer Jura als Lehrer in La-Chaux-de-Fonds. Mit dem Apothekergehilfen Max Hoffmann bildeten diese drei um 1843/44 die zentrale Leitung des jungdeutschen Geheimbundes. Marr und Döleke forcierten die Abkehr von den alten jungdeutschen Vorstellungen. Sie orientierten sich an den neuesten Entwicklungen der deutschen Philosophie und des französischen Sozialismus. In der Forschungsliteratur ist ihre Position bisher als junghegelianischatheistisch oder junghegelianisch-anarchistisch bezeichnet worden. 8 Diese Einschätzung bedarf der Präzisierung. Es sind nicht nur die Junghegelianer und Proudhon, die rezipiert werden, sondern ganz wesentlich ist es Feuerbach, der den ideologischen Auffassungen ein Gepräge gibt, das nicht schlechthin junghegelianisch oder auch junghegelianisch-atheistisch ist. Publizistisch aktiv war besonders Wilhelm Marr, der mehrere Broschüren herausgab, in denen er Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Bettina von Arnim dem Verständnis der Handwerker zugänglich zu machen suchte.9 Ab Januar 1845 redigierte er auch die als Vereinsorgan gedruckte Zeitschrift Blätter der Gegenwart für sociales Leben.10* Mit dieser Neuorientierung war eine andere Haltung zu sozialen Fragestellungen gegeben, die nunmehr zur teilweisen Annäherung an kommunistische Positionen führte, so daß im August 1844 über die Möglichkeit der Wiedervereinigung in gemeinsamen Versammlungen der Lausanner Zentralvereine verhandelt wurde. August Becker trug aus diesem Anlaß seine später veröffentlichte und von Friedrich Engels als zeitgenössisch beste Darlegung deutscher kommunistischer Positionen bewertete Rede vor: Was wollen die Kommunisten?n D a ß eine Vereinigung nicht zustande kam, dafür war neben persönlichen Reibereien letztendlich doch das Überwiegen der prinzipiell unterschiedlichen theoretischen Positionen ausschlaggebend. Nach dem Scheitern der Vereinigungsbestrebungen vertieften sich die Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen, wobei die kommunistisch orientierten Vereine um August Becker nach Abspaltung der Weitlingianer auf Kuhlmannsche Positionen übergingen, während die jungdeutschen Vereine sich ausbreiteten, ihre Polemik gegen Kuhlmann und Becker, gegen religiösen Kommunismus und Gütergemeinschaft fortsetzten, bis sie schließlich 1845 verboten wurden. Der Anlaß waren einerseits innerschweizerische politische Ereignisse, die sogenannte „waadtländische Revolution" im Frühjahr 1845, andererseits die eige8

Proletarische Kultur

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nen publizistischen und organisatorischen Erfolge. Sie veranlaßten Nachforschungen des preußisch verwalteten Kantons Neuenburg, die im Sommer 1845 die Existenz des jungdeutschen Geheimbundes aufdeckten. Die Unterdrückung sämtlicher legäler deutschen Arbeitervereine und die Ausweisung ihrer leitenden Mitglieder waren die Folgen. Damit endete ein Kapitel in der Entwicklung der elementaren Arbeiterbewegung, nicht aber die Diskussion der auch in der Schweiz aufgeworfenen Fragen nach der Orientierung des proletarischen Klassenkampfes.

Organisationsstrukturen

und

Kommunikationsformen

Seit den Diskussionen um die ersten neobabouvistischen Flugschriften im deutschen Volksverein zu Paris 1833 gab es ununterbrochen Versuche der in Geheimbünden organisierten Arbeiter, in Flugschriften, Liedern, Zeitschriften, Zeitungen, Büchern und Broschüren aufzuklären und zu informieren. D i e unter persönlichen Opfern aufgebauten Kommunikationssysteme entsprachen einem ganz elementaren Bedürfnis der sich konstituierenden Klasse nach Austausch, Wissensvermittlung und theoretischer Bewältigung der eigenen neuen gesellschaftlichen Situation. Diese Flugschriften und Broschüren waren in der Regel das schriftliche Ergebnis kollektiver Erörterungen. Nicht selten wurden sie gemeinsam formuliert. Zum Programm bestimmte Schriften wurden Grundlage weiterer Erörterungen und, wenn sie dem Stand der theoretischen Einsicht nicht mehr entsprachen, verändert oder durch neue ersetzt. Die literarische Kommunikation war auf diese Weise in hohem Maße an die organisatorischen Strukturen der frühproletarischen Vereine gebunden, war Medium des Selbstverständigungsprozesses, der Entwicklung proletarischen Klassenbewußtseins. Der organisatorische Aufbau der Vereine wurde zunächst von den kleinbürgerlich-demokratischen politischen Organisationen übernommen. Meist waren Singe- und Lesevereine, die auf legalem Wege gegründet wurden, die erste Stufe. Sie blieben der äußere Rahmen für Agitation und Propaganda der aktiven Mitglieder der Geheimgesellschaften. Sie bildeten den inneren Kreis, der in der Regel auch die Leitung des Gesamtvereins innehatte. Die Lesevereine entwickelten sich meist zu Bildungsvereinen, so in der Westschweiz. In Genf wurde zum

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Beispiel der jungdeutsche Gesang- und Lesezirkel im November 1839 von dem gerade aus hessischer Haft entlassenen August Becker und dem Kantor Ludwig Weizel zum Verein der jungen Deutschen des Gewerbestandes umgebildet. Schweizer Bürger, unter ihnen namhafte Sozialisten, wie der Kaufmann Georg Kehrwand, gründeten in Lausanne zusammen mit dem deutschen Lehrer Grauff 1840 den Volkstümlichen deutschen Gewerbestandsverein. 13 Diese Vereine wurden von deutschen wandernden Handwerkern aufgesucht, die gewohnheitsmäßig nach bestimmten Reiserouten, über Zürich kommend, die Orte am- Genfer See besuchten und dann über Paris nach Deutschland zurückkehrten. In der Forschungsliteratur ist der soziale; Status dieser Wanderarbeiter Gegenstand divergierender Standpunkte gewesen. Die neuesten Strukturanalysen des Proletariats in der Phase seiner ökonomischen Konstituierung tendieren dahin, seine soziale Vielgliedrigkeit hervorzuheben und dem Anteil des relativ starken Manufakturproletariats bei der Formierung der frühen Arbeiterbewegung mehr Beachtung zu schenken.1'1 Der fließende Übergang vom ZunftgesellenLohnarbeiter, der noch der kleinen Warenproduktion angehörte, zum Manufaktur- und Fabrikgesellen ist ein für diese Phase der industriellen Revolution typischer Prozeß, der in den einzelnen Wirtschaftszweigen und Territorien mit großen Phasenverschiebungen ablief, weshalb die ideologische Konstituierung des Proletariats nicht allein am Reifegrad des industriellen Kapitalismus in Deutschland zu messen ist. Den deutschen Wanderarbeitern in der Schweiz kamen bei der Entwicklung ihrer Organisationen zumindest zeitweilig die bürgerlichen Rechte der Versammlungs- und Pressefreiheit zustatten. So konnten sich auf dieser Grundlage in den Arbeiterbildungsvereinen durchschnittlich je 80 bis 250 Mitglieder versammeln. Aufschlußreich ist das Bildungsprogramm: Die Arbeitervereine hatten ein über die ganze Woche verteiltes Unterrichtsangebot. In Lausanne wurden beispielsweise die Fächer Zeichnen, Geometrie, Arithmetik, Deutsch, Französisch, Naturkunde, Gewerbelehre, Buchhaltung, Geographie, Geschichte und Gesang gelehrt. 15 * So vielseitig wie das Unterrichtsprogramm waren die überall eingerichteten Bibliotheken. Sie besaßen einen legalen Bücherbestand, der Polizeikontrollen unterlag. Verbotene Schriften wurden bei den Mitgliedern der geheimen Bünde aufbewahrt und gezielt ausgetauscht. Unter den - vor allem in polizeilichen Untersuchungsprotokollen überlieferten Bücherverzeichnissen ist der von Gerlach ermittelte Bestand der Berner Vereinsbibliothek als repräsentativ anzusehen. 16 8*

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Neben allgemeinbildenden Werken (Lehrbüchern für die Unterrichtsfächer, Enzyklopädien), klassischer (Schiller) und Unterhaltungsliteratur (unter anderem Sue) boten die Bibliotheken revolutionärdemokratisches, sozialistisches und kommunistisches zeitgenössisches Schrifttum an, meist aus den Schweizer Verlagen, die sich um die zensurfreie deutsche Literatur verdient gemacht haben, wie Fröbels Literarisches Comptoir in Zürich und Winterthur und Jenni und Sohn in Bern. Diese Schriften waren in die frühproletarische Bildungs- und Erziehungsarbeit einbezogen als Korrektiv zur bisherigen Ideologievermittlung der herrschenden Klasse in Schule und Kirche. Die Tendenz dieser Korrektur formulierte eine Flugschrift des Deutschen Volksvereins schon sehr früh: „. . . obgleich jeder von uns eine Erziehung genossen, so haben dennoch unsere Lehrer Sorge getragen, jeden freisinnigen Gedanken in uns zu ersticken und unsere Aufmerksamkeit nur lediglich auf Sachen zu lenken, die außerhalb dem politischen Wirkungskreise liegen. An uns liegt es also, die Mängel unserer Erziehung zu verbessern, und über unsere Menschenwürde und der uns von der Natur gegebenen Rechte ernstliche Betrachtungen anzustellen."17 Zentrales Anliegen der frühproletarischen Bildungsbestrebungen war in der Schweiz, wie in Paris und London, die Diskussion aktueller Probleme der im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse mit dem Ziel, über eigene Interessen und Bedürfnisse Klarheit zu erlangen. Dazu gehörten auch die Erweiterung des Allgemeinwissens, die Aneignung historischer Kenntnisse wie sprachlicher Fertigkeiten in der jeweiligen Landessprache, besonders aber das Interessefinden an theoretischen Fragen. In den Blättern der Gegenwart für sociales Leben heißt es „Endziel all unserer Wissenschaft, all unseres Strebens ist: S e l b s t ä n d i g k e i t . . . Handwerker, welche Vereine bilden, sind in der Regel Leute, die etwas mehr wollen, als nur schustern und schneidern, Burschen, die entweder dem klaren Bewußtsein oder doch dem erwachenden Gefühl ihrer Menschenwürde folgen und sich nun aufklären wollen über sich selbst, übers Leben und ihre Stellung in demselben."18 In der Berner Bibliothek waren beispielsweise Johann Gottlieb Fichtes Beitrag zur Berichtigung des Urteils des Publikums über die französische Revolution in Nachdrucken von Fröbel und Jenni zu finden, französische Sozialisten, wie Louis Blancs Geschichte der zehn Jahre 1830-1840, George Sands Sämtliche Werke, Lamennais Worte 116

des Glaubens. Von den deutschen demokratischen Publizisten waren August Wirths bekannte Verteidigungsrede vor den Assisen zu Landau von 1833, die Schriften Wilhelm Schulz' und Johann Jacobys Vier Fragen und andere Flugschriften vorhanden. Die demokratische Literatur war vertreten mit Börnes Briefen aus Paris, Liedern und. dramatischen Szenen Harro Harrings, Georg Feins, Herweghs Gedichten eines Lebendigen und frühen Prosaschriften, mit politischer Lyrik von Hoffmann von Fallersleben, Robert Prutz, August Becker und Ludwig Seeger. Von junghegelianischen Arbeiten, die aber nur zum Teil im öffentlichen Bücherbestand nachgewiesen sind, waren das Leben Jesu von David Friedrich Strauß (das auch bei Weitlings Festnahme beschlagnahmt wurde), Edgar Bauers Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat, von Karl Nauwerk Der Fürst und sein Minister vorhanden. Außer Weitlings Kerkerpoesien sind in der Berner Bibliothek keine kommunistischen Schriften nachgewiesen worden. August Beckers Rede Was wollen die Kommunisten? war unter beschlagnahmten Büchern zu finden. Dagegen sind Wilhelm Marrs Bearbeitungen von Friedrich Feuerbachs Religion der Zukunft und von Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König nachweisbar. Unter den elf verzeichneten Zeitungen und Zeitschriften finden sich neben den eigenen Periodika Blätter der Gegenwart und Fröhliche Botschaft Schweizer Tageblätter, die Mannheimer Abendzeitung und das Westphälische Dampfboot. Inwiefern diese Buchbestände Hand- und Arbeitsbibliotheken waren, geht aus den Berichten über das Vereinsleben hervor, die von Gästen, zufälligen Besuchern, von Mitgliedern und in der eigenen Presse überliefert sind. Marr berichtet unter anderem, wie der jungdeutsche Verein in Lausanne die Lektüre der Mitglieder systematisch zu lenken versuchte. Durch Harro Harrings Drama Die deutschen Mädchen sollte „ S i n n für öffentliches Leben" entwickelt werden. Um ein Gegengewicht gegen die Deutschtümelei Harrings zu schaffen, wurde von Zeit zu Zeit Wilhelm Schulz' Deutscher Michel vorgelesen und erläutert. Louis Blanc' Geschichte der zehn Jahre mit der Darstellung der Lyoner Aufstände weckte nach Marrs Worten „Sinn für Volksgröße in den Arbeitern", danach wurde mit der Religion der Zukunft Friedrich Feuerbachs „der alte Adam vollends zum Fenster hinausgeworfen". Marr hielt zweimal wöchentlich Vorträge über die Französische Revolution, wobei er die Ereignisse dieses „ersten Kapitels 117

der G e s c h i c h t e d e r M e n s c h h e i t . . . von allen Seiten, in politischer, sozialer und religiöser Beziehung" beleuchtete.19 Nicht in allen Vereinen gab es Intellektuelle, die sich als Lehrer zur Verfügung stellten. Beispielsweise waren die Arbeiter im Berner Verein nach der Trennung von Ludwig Seeger ganz auf sich selbst gestellt. Marr traf sie bei seinen wiederholten Besuchen, wie er schreibt, stets in der „eifrigsten Diskussion über die Fragen des Tages an". Er bekannte, daß er hier erlebte, was Arbeiter leisten können. „Was ist all die Weisheit unserer Schulen, gegen das erwachte, einig handelnde Bewußtsein des Proletariers", rief er aus.-0 Hermann Döleke berichtete „aus den welschen Bergen", wie Vereine das kollektive Lehren und Lernen vorbereiteten, indem sie einen Diskussionsausschuß von neun Mann wählten, dem die Verpflichtung übertragen wurde, an zwei bis drei Abenden in der Woche „für eine belehrende Unterhaltung im Vereinslokale zu sorgen". Der Anfang wurde gemacht mit der Besprechung des Verhältnisses der Arbeiter zur „Opposition in Deutschland" und ihren Parteiungen anhand der abschnittweisen Besprechung von Edgar Bauers Broschüre Die liberalen Bestrebungen in Deutschland,2' Die Stätten der Arbeiterbildung waren in den großen Vereinen gemietete Häuser mit Unterrichtsräumen, einem Versammlungssaal, teilweise mit den von Weitling propagierten eigenen billigen Kostwirtschaften, die die Vereine allerdings finanziell stark belasteten und die aufgegeben werden mußten. Die Vereinslokale waren aber nicht nur Stätten der Bildung und Diskussion, sondern als Keimformen proletarischer Öffentlichkeit auch Stätten der kulturellen Selbstbetätigung, der Geselligkeit und Solidarität. Stiftungsfeste mit Sängerwettstreit bildeten jährliche Höhepunkte. Von der Opferbereitschaft und dem persönlichen Einsatz für Agitation und Propaganda, von der Solidarität mit streikenden Klassengenossen und arbeitslosen Kollegen gibt es in allen Quellen anschauliche Berichte. Marr, der keineswegs zu übertriebenem Pathos neigte, faßte seine Erlebnisse und Erfahrungen so zusammen: „Doch ich habe selbst, und zwar bei unsern entschiedensten Atheisten und Revolutionärs Charakterzüge gefunden, welche die Geschichte verewigen würde, wenn es nicht arme Handwerker gewesen wären, die sich dadurch auszeichneten."22 „Ich habe Handwerker gekannt", erinnerte er sich an anderer Stelle, „welche sich Monate läng nur 4 - 5 Stunden Schlaf täglich gönnten, um unbeschadet ihrer notwendigen Handarbeit, für die Sache arbeiten zu können. Ich habe Handwerker gekannt, welche auf den leisesten 118

Wink hin, ihr Bündel schnürten, ihren Broterwerb aufgaben und auf's Geradewohl oft dreißig Stunden weiter gingen nach anderen Orten, wo man ihre Gegenwart für nutzbringend hielt." 23 Vortragswesen, Diskussionen, gemeinsame und individuelle Lektüre waren Formen proletarischer Öffentlichkeit, die mehr oder weniger auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt blieb. Durch die ständige Fluktuation war zwar das Weitergeben des Angeeigneten und die Neugründung von Zirkeln gewährleistet, und Ernst Schüles Worte aus den dreißiger Jahren, daß die Handwerker Propaganda zu Fuß waren, hatte auch in den vierziger Jahren seine Gültigkeit. Aber man war sich bewußt, daß die Aufklärung über die eigenen Bedürfnisse und Interessen der größten und zahlreichsten Klasse mehr bedeutete als die Schulung einiger Tausend Wanderarbeiter. Deshalb war die Herstellung und Verbreitung eigenen Schrifttums in Form von Flugblättern, Flug- und Zeitschriften ein mit vielen Mühen und Rückschlägen verbundenes, immer wieder von neuem angestrebtes Ziel der frühproletarischen Organisationen. Nach Zerschlagung des ersten in der Schweiz errichteten informellen Kommunikationssystems des Jungen Deutschland im Jahre 1836 hatte Weitling zwischen 1841 und 1843 neue Kommunikationsformen mit seinen Zeitschriften entwickelt, die 1843 aufs neue zerstört wurden. August Beckers weiterreichende Pläne konnten danach nicht mehr realisiert werden. Seine Bemühungen, das beschlagnahmte Manuskript von Weitlings Evangelium des armen Sünders doch noch herauszudie bringen, waren zwar erfolgreich, auch seine .Rede Was wollen Kommunisten? wurde durch den Bund der Gerechten bis nach London vertrieben, aber seine Zeitschrift Die fröhliche Botschaft konnte nicht das Niveau der Weitlingschen Publizistik halten. Dagegen gelang es den Jungdeutschen im Zeitraum von 1843 bis 1845, ein eigenes publizistisches Kommunikationssystem aufzubauen. Neben den preiswert zu erwerbenden Bearbeitungen theoretischer und publizistischer Schriften für den Gebrauch in den Vereinen gelang es Marr Ende 1844, einen Verlag zu gründen und die für die jungdeutschen Vereine bestimmte Zeitschrift Blätter der Gegenwart für sociales Leben herauszugeben. Gleich in der zweiten Nummer wurden die Arbeiter zur Mitarbeit aufgerufen: „Wir richten uns namentlich an diejenigen unserer Leser in den Vereinen usw., welche Trieb und Beruf in sich fühlen, die Bitte, durch m ö g l i c h s t k u r z g e h a l t e n e Aufsätze und Berichte unsere Bemühungen zu unterstützen. Unser Blatt soll ein Volksblatt sein - wohl, so sollen in demselben 119

auch die Männer aus dem Volke ihre Stimme laut werden lassen . . . Freunde! In Frankreich und England haben die arbeitenden Klassen bereits eine eigene Literatur: sie schreiben in Zeitungen und schreiben selbst Bücher. Es ist das jene ,ort- und namenlose Literatur', welche obschon von den Großen und Reichen nicht beachtet, dennoch eine furchtbare Bedeutung gewonnen hat. Sollen wir Deutsche allein auch ferner hinter ihnen zurückbleiben? - . . . Wenn ein Volk die Kinderschuhe ausgetreten und den Mut zu sprechen hat, so darf man hoffen, daß es auch bald seine H ä n d e gebrauchen lernt. Mögen die Deutschen recht bald lernen, ihre Fäuste zu gebrauchen !"2/' Von den so Angesprochenen waren e$ unter anderem ein Glaser H. Christlieb, der Schriftsetzer Franz Joseph Hauser, der Berner Verein und Korrespondenten anderer Vereine, die sich neben Julius Standau, Wilhelm Marr und Hermann Döleke an der Zeitschrift beteiligten. Im Generalbericht von Favre/Lardy wird auf das beachtliche Niveau der Arbeiter-Zuschriften hingewiesen.25 Es war nur folgerichtig, daß sich Marr bemühte, den Verlag auszubauen und neben der Zeitschrift und eigenen Flugschriften auch unzensierte Bücher, preiswerte und dem Verständnis der arbeitenden Klassen entsprechende demokratische und sozialistische Schriften zu verlegen. Marr korrespondierte zu diesem Zweck mit Rüge, Fröbel und Fein, unternahm eine Rundreise durch Deutschland, um sich finanzielle Unterstützung und Absatz zu sichern.26 Die Erweiterung kam durch das Verbot sämtlicher deutscher Vereine und die Ausweisung Marrs 1845 aus der Schweiz nicht zustande. In den Korrespondenzen aber und in Marrs eigenen Überlegungen wird die Problematik deutlich, mit der alle literarische Tätigkeit der „größten und zahlreichsten Menschenklasse" damals konfrontiert war: Wie sind Schriften für das Volk herzustellen, wie zu verbreiten? Wie muß Literatur für das Volk beschaffen sein? (Der unspezifische Begriff „Volk" steht bei den revolutionären Demokraten und Sozialisten im Vormärz „für die ganze Klasse der Produzenten", das heißt, für diejenigen, „welche von ihrer Hände Arbeit leben - welche zuletzt exploitiert werden, welche von einer sozialen Umgestaltung direkt materielle Vorteile haben".) Marr hatte die Problematik in seiner Schrift Dies gehört dem Volk eingehend erörtert: Aus den Erfahrungen in den Arbeiterbildungsvereinen waren ihm einerseits die Wißbegierde, das Verlangen nach Wissen und Aufklärung, das aus der sozialen Existenz der Handwerker entsprang, nur zu bekannt, andererseits aber auch die 120

enormen Schwierigkeiten, die auf Grund des Bildungsmonopols und der knappen Freizeit zu überwinden waren, um die so dringend benötigten theoretischen Kenntnisse zu erwerben. Er kam zu dem Ergebnis, daß die demokratischen Philosophen sich irrten, wenn sie glaubten, mit den neuen Ideen „die Köpfe der Untertanen in Brand zu stecken". „Nicht der - j ^ Teil des Volkes kennt die Erzeugnisse Eures Geistes, ja weiß nicht einmal, daß Ihr überhaupt existiert."27* Die Frage des „populären Stils" war zu dieser Zeit ein Thema, das die Demokraten intensiv beschäftigte. Rüge brachte die Problematik auf die Formel: „Wie die Weisheit nur aus der ganzen Geschichte, aus dem wirklichen Volksbewußtsein hervorgeht, so muß sie sich so lange mit ihrer Form kasteien, bis sie fähig ist, auch wieder ins Volk zurückzugehen."28 Georg Herwegh stellte 1839 in Wirths Deutschet] Volkshalle fest: „.. . eine Menge bedeutender sozialer Fragen wurde in jüngster Zeit poetisch gestaltet - aber immer ist das beste in einer Art abgefaßt, daß nur der Literat zur vollkommenen Erkenntnis desselben durchdringen kann . . . Dichter, die jeder Stufe der Bildung zugänglich sind, besitzen wir zur Zeit noch keine." Er hielt es für notwendig, „daß die guten Schriftsteller zuweilen auch in einer Weise schreiben, die nicht einer jahrelangen Vermittlung bedarf, bis die Quintessenz des geistigen Gehalts unter das Volk kömmt".29 In den Korrespondenzen über die Gründung des Verlags und in Marrs eigenen Überlegungen kommt eine zweite große Schwierigkeit zur Sprache, mit der Arbeiterliteratur seit ihrer Geburt zu kämpfen hatte: eine vom kapitalistischen Literaturmarkt unabhängige literarische Kommunikation zu organisieren. Weitlings Schwierigkeiten zum Beispiel begannen bei den Druckern, die mit Repressionen bedroht wurden, wenn sie den Druck seiner Zeitschriften und Bücher fortsetzten. Die finanziellen Probleme, der Vertrieb, alles mußte von den mittellosen Handwerkern kollektiv bewältigt werden. Marr erklärte den demokratischen Schriftstellern klipp und klar, daß sie nur für Gebildete und Wohlhabende schreiben, „welche die neueren Ideen zu würdigen und - es klingt prosaisch, aber es muß heraus - auch zu b e z a h l e n wissen".30 Sein Pariser Korrespondent (vermutlich Arnold Rüge) schrieb ihm auf seine Anfrage am 8. Juni 1844: „Sie wünschen eine Buchhandlung einzurichten, die lediglich der Aufklärung des Volks und vornehmlich des armen und unbemittelten Volks, nicht kaufmännischen Zwecken gewidmet wäre. Sie vermuten, daß ich in Paris eine Stütze für eine solche Aufklärung gefunden hätte und noch 121

finden würde. Das ist bis jetzt nicht der Fall und auch schwerlich zu hoffen. Ja, es wäre um die Freiheit getan, wenn die Reichen und die Großen sie zu erzeugen hätten. Glücklicherweise sind die Armen reich genug, um die kleine Literatur, die sie nötig haben, selbst zu zahlen. Es wird daher immer noch dabei bleiben, daß die Buchhandlungen für das vermögende Publikum, die Subskriptionen der Armen für ihre praktischere und kürzere Literatur selbst sorgen."31 Julius Fröbel faßte seine Erfahrungen als Verleger zensurfreier Literatur so zusammen: „Ihr demokratisches Projekt . . . hat auch mich in Gedanken vielfach beschäftigt, und könnte vielleicht das e i n z i g e Mittel der Ausführung eines Vertriebs von Volksschriften in die Massen sein. Der Buchhandel, wie er ist, bietet dazu gar keine Hilfsmittel. Dies ist auch der Grund, weshalb wir in der Ausstattung und der Preise auf die Bedürfnisse der Massen wenig Rücksicht nehmen konnten. Der Buchhändler kann v e r b o t e n e Schriften an vertraute K u n d e n abzugeben wagen. Er kann sie aber nicht ins Volk vertreiben, weil er dabei zuviel Gefahr läuft. Er muß bei dem Verkauf soviel gewinnen, daß es der Mühe lohnt sich der Gefahr auszusetzen, sonst läßt er den Artikel liegen und remittiert ihn."32 Es waren nicht zuletzt diese von Fröbel so direkt vermittelten Erfahrungen mit dem kapitalistischen Literaturmarkt, die die Frühproletarier gezwungen haben, eigene Kommunikationssysteme aufzubauen, die sich mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung immer umfangreicher und vielschichtiger gestalteten. Dabei wurden die Bemühungen nicht aufgegeben, sich die Möglichkeiten des kommerziellen Buchhandels und der periodischen Presse legal zu erschließen. In diesem Zusammenhang sind die Diskussionen um Pressefreiheit interessant, die in den Vereinen geführt wurden. Während Weitling in den Garantien der Harmonie und Freiheit seine negativen Erfahrungen mit dieser in der Schweiz garantierten bürgerlichen Errungenschaft schildert und zu Recht darauf hinweist, daß für Arbeiter diese Rechte nur so lange gelten, solange sie nicht gegen bürgerliche Interessen verstoßen33, orientierten die Blätter der Gegenwart für sociales Leben auf eine Beteiligung der Handwerker, Tagelöhner und Fabrikarbeiter am Kampf um Pressefreiheit, um die eigenen, von der Bourgeoisie unabhängigen Interessen wirkungsvoller vertreten zu können.3'' Die kurze Zeitspanne, in der 1848 Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit garantiert waren, hatte gezeigt, wie die Arbeiter diese kommunikativen Rechte auszunutzen verstanden.

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Charakter und Verlauf der ideologischen Diskussionen in den frühproletarischen Organisationen 1843 bis 1845 Wenn man den Verlauf der Diskussionen in der Literatur der frühen Arbeiterbewegung in der Schweiz zu Beginn der vierziger J^hre betrachtet, treten - wie an anderen Orten auch - aus der Vielfalt der angesprochenen Themen zwei große Problemkomplexe hervor. Das ist erstens das Problem des Verhältnisses zur noch ausstehenden bürgerlich-demokratischen Revolution, zu kleinbürgerlichen und bürgerlichen Demokraten und damit des Verhältnisses von politischer und sozialer Emanzipation; ein Problem das bekanntlich auch Marx und Engels lange beschäftigte und für das erst 1847 Lösungen gefunden wurden, die den Aufgaben der neuen Klasse in der historischen Situation am Vorabend der bürgerlich-demokratischen Revolution entsprachen. Das ist zweitens das Problem einer Vereinigung der wertvollsten Ergebnisse der deutschen Philosophie mit den Leistungen der sozialistischen Theorien oder, anders gewendet, die Frage nach der Entwicklung'einer wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus. Die Lösung beider Probleme war notwendig zur Identitätsfindung des Proletariats und zum Begreifen seiner eigenen historischen Mission. In den Schweizer Diskussionen wird etwas von den enormen theoretischen Anstrengungen spürbar, die angesichts der komplizierten Klassenverhältnisse im Vormärz nötig waren, um zu einer Klärung dieser grundlegenden Probleme zu gelangen. Der erste Schritt zur theoretischen Verselbständigung der deutschen Frühproletarier hatte sich in der 1837 einsetzenden Gütergemeinschaftsdiskussion im Bund der Gerechten vollzogen, in deren Verlauf unter anderem Karl Schapper und Wilhelm Weitling die diskutierten neobabouvistischen Auffassungen der „communauté des biens" schriftlich fixierten; Weitlings Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte wird im Ergebnis dieser Erörterungen als Programm des Bundes angenommen. Als Weitling im Frühjahr 1841 nach Genf kam, galt es, diesen in Paris erreichten theoretischen Stand den jungdeutsch orientierten Handwerkern zu vermitteln und auch hier die Ablösung von bürgerlicher Ideologie zu vollziehen. Weitlings .schneller Terraingewinn bestätigt die Überlegenheit seiner Positionen. Aber während der nur zweijährigen Anwesenheit in der Schweiz gelang es nicht, seine Auffassungen allseitig durchzusetzen. Wie aus seiner Polemik im Hülferuf der deutschen Jugend und 123

in den Garantien der Harmonie und Freiheit hervorgeht, hatte neben den handfesten politischen Argumenten Georg Feins auch August Wirths sozialpolitisches Programm nicht geringen E i n f l u ß in den proletarischen Bildungsvereinen. Wie sahen diese revolutionär-demokratischen Positionen konkret aus? Georg Fein wies in seinen wiederholten Besuchen in den Vereinen am Genfer See auf die Bedeutung der politischen Forderungen des demokratischen Bürgertums hin und trat gegen die Gütergemeinschaft auf. E r warb für die Errichtung einer einheitlichen, unteilbaren deutschen Republik, für Durchsetzung von Preßfreiheit, Geschworenengerichten, allgemeinem Stimmrecht, unentgeltlicher Schulbildung. Soziale Fragestellungen erschienen ihm unzeitgemäß, solange Deutschland nicht frei war, weil sie Uneinigkeit in der republikanischen Partei hervorrufen würden. 3 5 Weitling ging gleich in der ersten Lieferung des Hülferufes auf die „heutigen Demokraten" ein, die „auf den Irrwisch der politischen Frage nur allein die Blicke richten und den Stern der sozialen nicht sehen wollen". E r argumentierte geschickt gegen den gleichzeitig bei ihnen ausgeprägten Nationalismus, den „Irrwisch des Nationalhasses, der in der Finsternis ihre Blicke und die Blicke des Volkes, das auf ihre Stimme hört, verwirrt". Weitling zeigte hier Einsichten in das Verhältnis des Proletariats zu bürgerlich-demokratischen Forderungen, an die er in späteren Auseinandersetzungen nicht anknüpfte, wenn er, an die Demokraten gewandt, sagte: „Gut wir folgen! Der Lichtschein eurer, und der Stern unserer Hoffnungen liegen in einer Richtung. Ihr seid mit Reisemitteln bis Herrmannstadt versehen; das Ziel unserer Reise ist darüber hinaus. Findet ihr in Herrmannstadt keine gute Herberge und fühlt ihr noch Mut und K r a f t , die Reise fortzusetzen, so kommt mit uns nach Gleichenstein, dort ist für alle mit gleicher Liebe gesorgt, und wir wollen uns als treue Kameraden auf der beschwerlichen Reise nicht verlassen." :!(i Auch August Becker setzte sich mit Georg Feins ausschließlich politisch orientiertem Demokratismus auseinander, insbesondere wies er dessen Angriffe gegen die deutschen Kommunisten in der Schweiz als „Verräter der guten Sache" zurück. 37 Diese öffentlichen Auseinandersetzungen sprengten 1842 den Genfer Verein und führten, wie Becker berichtet, zur „Trennung des sozialen Elements von dem republikanisch-politischen". Mehr noch als mit der rein politischen Richtung um Fein hatte Weitling mit dem Einfluß der von August Wirth um 1840 publizierten Ansichten zu tun, die sich in entscheidenden Punkten von Feins 124

Auffassungen noch unterschieden. Obwohl die Forderungen nach einer einheitlichen deutschen Republik im Zentrum von Wirths radikaldemokratischem Denken standen, hatten sich seine Positionen gegenüber 1832 geändert. Er sah durch die mit der Geldaristokratie aufkommende neue Ungleichheit das Ziel seines politischen Kampfes den demokratischen Staat - gefährdet und war nun davon überzeugt, daß menschenwürdige Zustände in Deutschland politische u n d soziale Veränderungen voraussetzten. Die bei vielen revolutionären Demokraten mehr oder weniger ausgeprägte Sicht auf die' neue soziale Problematik trat in Wirths Deutsche[r] Volkshalle und der 1840 ausgelieferten Schrift Die politisch-Teformatorische Richtung der Deutschen im XVI. und XIX. Jahrhundert inzwischen deutlicher hervor. Hier entwickelte er in Anlehnung an Fourier ein sozialpolitisches Programm, das unter anderem staatliche Fabrikaufsicht, Arbeitszeitbegrenzung, Schulunterricht für arbeitende Kinder, verbindlich vereinbarte Arbeitslöhne vorsah, das aber die Gütergemeinschaft ablehnte, weil deren „Mangel an Nützlichkeit und Schönheit" nach Wirths Ansicht „jedem reifen Verstand klar ersichtlich" sei. 38 Weitling setzte sich mit Wirths „wahrer Sozialreform" in der Jungen Generation auseinander. E r stimmte ihm prinzipiell in der Sicht auf die soziale Frage zu und insbesondere, wenn Wirth „Elend auf der einen, Pracht und Üppigkeit auf der anderen Seite für die herrschende Sittenverderbnis" verantwortlich machte. Er wies aber dessen „wahre Sozialreform", das heißt Wirths Vorschläge zur Lösung der Probleme entschieden zurück, die durchgreifende Änderung der Situation des Proletariats von allgemeiner Volksbildung erwarteten und für Sparkassen und milde Stiftungen warben.'19 In den Garantien der Harmonie und Freiheit negierte er noch prinzipieller die Auffassungen, die in der Unwissenheit die Ursache der Armut erblickten: „Wie der Graben beim Aufwerfen des Walles, so entsteht die Armut bei der Aufhäufung des Reichtums . . . Das einzige Resultat einer allgemeinen Erziehung würde doch nur das sein, daß es nach diesem keine unwissenden, sondern lauter gebildete Arme gäbe.'"' 0 An den Argumentationen Weitlings und Beckers wird ersichtlich, daß es im Streit mit den Jungdeutschen 1841/42 schon nicht mehr in erster Linie darum ging, die sozialen Fragestellungen überhaupt zu berücksichtigen, sondern vielmehr darum, wie die Prioritäten zu setzen sind, oder, anders gewendet, wie man sich zu den kommunistischen Antworten im Hinblick auf das Eigentum und die soziale Organisation der Gesellschaft stellte. 125

Dieser Streit setzte sich nach Weitlings Ausweisung aus der Schweiz fort. Wenn man die Broschüren, Zeit- und Flugschriften, die Geheimberichte, Briefe, Verhörprotokolle, die nachträgliche Berichterstattung der Hauptbeteiligten verfolgt, blieb es zunächst das Verhältnis von bürgerlich-politischer zu proletarisch-sozialer Revolution, das im Mittelpunkt der Debatten in den proletarischen Vereinen stand. Dabei schälten sich folgende Gruppierungen heraus: D i e wiederholte Anwesenheit Georg Feins stärkte jene Positionen, die von der Durchsetzung demokratischer Forderungen und der politischen Machtergreifung des Bürgertums alle weitergehenden gesellschaftlichen Veränderungen abhängig machten. Gegen diese Haltung, die mit den Schlagworten „Freiheit, Gleichheit, Humanität, Nationalität" für die Einheit Deutschlands eintrat, Fürsten und Pfaffen verjagen wollte, allgemeines Wahlrecht, Geschworenengerichte, Preßfreiheit forderte, wandten sich nicht mehr nur die Kommunisten allein. Gegen die „teutonischen Eichelfresser'" 11 , gegen Nationalismus und „teutschtümelnden Patriotismus" gab es seit 1843- eine wachsende Mehrheit' unter den jungdeutschen Handwerkern, die unter dem E i n f l u ß der deutschen Philosophie die von den kleinbürgerlichen Revolutionären der dreißiger Jahre entwickelte politische Linie als unzeitgemäß ablehnten. Diese Um- und Neuorientierung des Jungen Deutschland unter der Leitung Wilhelm Marrs, Hermann Dölekes und Julius Standaus war so weitreichend, d a ß es zum förmlichen Bruch mit Georg Fein kam. Fein hatte schon einmal, 1836, kurz vor dem E n d e der ersten jungdeutschen Geheimorganisation, die Erörterung sozialer Fragen unter dem E i n f l u ß von Theodor Schusters Fragen eines Republikaners zum Anlaß genommen, um aus dem Geheimbund auszutreten. Auch diesmal zog er sich 1844 enttäuscht zurück, nachdem er als „unverbesserlicher Hambachianer, Konstitutionalist", als ein Mann, der nichts gelernt und nichts vergessen habe, von Marr und Döleke öffentlich angegriffen worden war. Marr, an der Neuorientierung der Jungdeutschen maßgeblich beteiligt, steuerte durch eine Reihe von Publikationen und durch die Herausgabe der Zeitschrift den Prozeß der Vermittlung gesellschaftstheoretischer Ergebnisse der philosophischen Bewegung. Es wäre aber falsch, in ihm ausschließlich den Initiator dieser Entwicklung zu sehen. E r selbst schilderte, wie die Arbeiter ihn aufforderten, sie mit den neuen Theorien bekanntzumachen : ; „Das Jahr 1843 mit seinen Bücher- und Zeitschriftenverboten, seinen Verweisungen und Abset126

zungen bot Stoff genug dar, welcher eben so sehr den Unwillen der Eingeweihten wie die N e u g i e r d e r L a i e n erregte. Die Worte Junghegelei', ,neue Philosophie', die Namen Feuerbach, Bauer, Rüge, usw., welche die Zeitungen füllten, waren den Arbeitern böhmische Dörfer. Die Klage, daß in den Zeitungen so vieles stehe, was ihnen fremd sei, hatte die Aufforderung an uns zur Folge, sie mit dem Wesen jener Dinge bekannt zu machen."42 So begann man am Genfer See, genau wie in Paris und später im Londoner Arbeiterbildungsv'erein, sich Ludwig Feuerbachs Wesen des Christentums anzueignen. Friedrich Feuerbach hatte seines Bruders Gedanken in der. 1843 in Zürich und Winterthur erschienenen Schrift Die Religion der Zukunft nach Paragraphen abgehandelt. Wilhelm Marr bearbeitete diese Broschüre noch einmal für die Diskussionen in den Arbeitervereinen. Im Ergebnis dieser Diskussionen - die Marr als lebhafte Auseinandersetzungen schilderte - setzte sich Feuerbachs Atheismus unter der Mehrheit der jungdeutschen Handwerker durch. Die Bedeutung des neuen Verhältnisses zur Religion für die gesamte politisch-philosophische Orientierung der Jungdeutschen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Ludwig Feuerbach hatte in seinem Hauptwerk den Nachweis geführt, daß der vom Christentum geglaubte Gott keine reale Existenz hat und nichts anderes darstellt als das „entäußerte, nach außen versetzte, und verselbständigte Wesen des Menschen". Er hatte die christliche Religion als eine fundamentale Entfremdung beschrieben, weil die. gläubigen Menschen vom Produkt ihrer Tätigkeit beherrscht werden und in jeder Religion das ersonnene Wesen der Schöpfer und die wirklichen Menschen die völlig abhängigen Geschöpfe sind. Konkreter hatte Feuerbach zu zeigen versucht, daß die Verselbständigung der menschlichen Gattungseigenschaften aus dem Menschen ein vereinzeltes, egoistisches Individuum macht, zur Trennung des. einzelnen von der Gattung führt und vor allem die Liebe des Menschen zum Menschen eine abgeleitete werden läßt. So besteht nach Feuerbach das Verderbliche der Religion gerade darin, daß die Menschen ihre Liebe auf Gott, statt auf die Menschheit, auf ihre Mitmenschen richten.' Er betonte, werde dies geändert, muß es einen Wendepunkt der Weltgeschichte geben: „Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muß zur u r s p r ü n g l i c h e n werden, dann allein wird die Liebe eine w a h r « , h e i l i g e , z u v e r l ä s s i g e Macht . . . Ist das Wesen des Menschen das h ö c h s t e W e s e n des Menschen, so muß auch praktisch das h ö c h s t e und e r s t e G e s e t z 127

dieLiebe desMenschen zumMenschen sein,Hom o h o m i n i D e u s e s t - dies ist der oberste praktische Grundsatz - dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.'"1,1 Einem großen Teil der Arbeiter fiel es nicht schwer, Feuerbachs Religionskritik mit ihrer-eigenen Lage in Beziehung zu setzen. Marr berichtete von spontanen Äußerungen in den Diskussionen, die den Verlust aller Jenseitshoffnungen mit dem Kampf um ein Leben ohne Knechtschaft und Elend beantwortet wissen wollten/1'' Auch die Zuschriften von Arbeitern in den Blättern der Gegenwart für sociales Leben forderten Aufklärung über den „irregeleiteten Glückseligkeitstrieb, welcher den Menschen ertötet und ihn für einen unbekannten Himmel erzieht'"'5. Edgar Bauer, der im Ergebnis die Feuerbachsche Religionskritik teilt, hat in denselben Blättern die politische Bedeutung des Atheismus auf die kurze Formel gebracht: „Der Mensch ist . . . entweder vollkommener Christ, oder er ist vollkommener Bürger . . . Der Christ hat sich als Christ j e d e r O b r i g k e i t z u beugen, sie mag sein, wie sie will . . . Der wahre Bürger dagegen sieht in der Obrigkeit etwas Menschliches, er sucht sie daher immer nach seiner Vernunft und Einsicht einzurichten, d. h. er strebt dahin, seine eigene Obrigkeit zu werden.'"'6 Neben Ludwig Feuerbach wirkte gleichermaßen der junghegelianische Atheismus in den Vereinen. Marr war eines der wenigen erhalten gebliebenen Exemplare von Bruno Bauers Entdecktem Christentum (1843) in die Hände gefallen. Noch vor der Auslieferung war diese Schrift beschlagnahmt und vernichtet, der Verleger Fröbel der Religionsbeleidigung angeklagt, gerichtlich verfolgt und zu Gefängnishaft verurteilt worden. Marr brachte Auszüge, versehen mit eigenen Kommentaren unter dem Titel Das entdeckte und das unentdeckte Christentum in Zürich und ein Traum noch 1843 heraus, „eines der schlimmsten anonymen Pamphlete jener Kampfzeit", wie der spätere Herausgeber von Bauers Schrift urteilte/'7 In den junghegelianischen Publikationen waren die politisch-sozialen Konsequenzen der Religionskritik in einer Weise mitverarbeitet, die die Distanz zu Fein und der kleinbürgerlichen Demokratie der dreißiger Jahre unterstützte. So in Edgar Bauers 1843 in Charlottenburg und 1844 in Bern erschienener Schrift Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat, für die er vier Jahre Festungshaft in Magdeburg erhielt. In ihr ist junghegelianische Religions- und Staatstheorie mit Proudhons Eigentumskritik verbunden und dessen Forderung nach einer gerechten sozialen Ordnung ohne Herrscher aufgegriffen, die Proudhon erstmals Anarchie benannte. 128

W i l h e l m M a r r hat nachweislich auch E d g a r Bauers 1 8 4 3 in Zürich erschienene K r i t i k der Liberalen

Bestrebungen

ver-

in Deutschland

breitet. D ö l e k e berichtete ihm von der enttäuschenden R e a k t i o n G e o r g Feins auf diese radikal-demokratischen E i n w ä n d e gegen den L i b e r a lismus/' 8

Die

Deutschland

Umorientierung in Richtung auf

unter soziale

den

Anhängern

des

Und spezifisch

Jungen

proletarische

Fragestellungen brachte einerseits eine Annäherung an die kommunistischen Mitglieder der Arbeiterbildungsvereine

mit sich, die so

weit ging, daß die seit 1 8 4 2 getrennten Vereine über ein erneutes Zusammengehen berieten. Schriftlich und mündlich tauschte man kritische E i n w ä n d e gegen die jeweils andere Position aus, um Möglichkeiten des gemeinsamen Diskutierens herauszufinden. August B e c k e r hat in seiner R e d e Was wollen 1844

vor

Mitgliedern

hielt,

am

klarsten

die Kommunisten?,

verschiedener

die

Punkte

die er am 4 . August

Arbeitervereine

benannt, ,die

in

Lausanne

Kommunisten

und

Jungdeutsche damals trennten: Atheismus, kommunistisches Systemdenken und das Verhältnis zur „Freiheit". D a b e i unterschied er genau zwischen derjenigen jungdeutschen Richtung, die kleinbürgerlich-demokratische Positionen nicht überschritt, und den „Anhängern

der

junghegelschen Schule . . ., fern von der patriotisch-deutschen

Ge-

fühlspolitik", die „durchaus nicht gegen den Kommunismus, sondern nur gegen [seine] vorgeblich allzu g e m ü t l i c h e systematische und unphilosophische Behandlung sich aussprachen"/' 1 ' D i e s e neue Diskussionsrunde, in der es um die K l ä r u n g grundlegender ideologischer Probleme ging, hat unter starker

emotionaler

Beteiligung stattgefunden, die bis hinein in die Q u e l l e n und überlieferten Darstellungen spürbar ist. So schreibt zum Beispiel

Marr:

„ D e n Kommunisten war diese neue Richtung ein G r ä u e l , denn wurde ihnen

dadurch

die Möglichkeit genommen, ihre

es

christliche

Propaganda unter den H a n d w e r k e r n fortzusetzen. Mich aber traf ihr H a ß zuerst." 5 0 August B e c k e r berichtet, wie die Jungdeutschen, besonders M a r r und D ö l e k e , den Kommunismus als Konsequenz des Atheismus darstellten und darauf beharrten, daß, solange sich die K o m munisten nicht zum Atheismus bekennen würden, von keiner W i e d e r vereinigung die R e d e sein könnte. 5 1 B e c k e r argumentierte dann- seinerseits gegen den Atheismus auf der E b e n e von Weitlings lium

des

armen

Sünders,

Evange-

das er noch im selben J a h r herausbrachte.

E r konnte sich der jungdeutschen These nicht anschließen, die besagte: „. . . solange der Mensch noch an einem jenseitigen wird er sich um das diesseitige nicht kümmern." 3 2

9

Proletarische Kultur

129

Leben

hängt,

Im Verhältnis zur Religion konnte man unter den deutschen Arbeitern in der Schweiz zu keinem Übereinkommen gelangen. Damit war die Situation unterschieden von der in Paris und London, wo die Aufnahme des Feuerbachschen Atheismus auch die Organisationen belastete. In Paris kam es darüber bekanntlich zur Abspaltung der Weitlingianer, während in London die Erörterung des von Weitling vorgeschlagenen 19-Punkte-Programms 1846smit dem Beschluß abgebrochen wurde, die Paragraphen in Friedrich Feuerbachs Religion der Zukunft durchzusprechen, die Mehrheit zum Atheismus überging und Weitling sich zurückzog. In der Forschungsliteratur ist das Verharren der Schweizer Sektion des Bundes der Gerechten auf religiösen Positionen als theoretisches Unvermögen der hauptsächlich an den Auseinandersetzungen beteiligten Kommunisten Becker und Schmidt erklärt worden. Unseres Erachtens ist das nicht ausreichend. Eher kann man der Ansicht zustimmen, daß sich in der Schweiz auf Grund der gering entwickelten Ansätze industrieller Produktion der Mentalitätswandel verzögerte, der dem Übergang von religiösen auf atheistische Positionen vorausgeht oder ihn begleitet. Allerdings ist auch diese Erklärung nur teilweise zu akzeptieren/' 3 Sie kann nicht das Verhalten der jungdeutschen Handwerker erklären, die unter denselben Lebensumständen wie ihre kommunistischen Kollegen, mit fast den gleichen Argumenten wie Schapper erst 1846 in London, schon 1843 für eine atheistische Weltsicht eintraten.'' 1 Unseres Erachtens erklärt sich das Festhalten an religiösen Positionen in der Schweiz vor allem dadurch, daß hier der Einfluß Weitlings besonders groß und der Atheismus an die jungdeutsche Fraktion gebunden war, der die Kommunisten aus berechtigten Gründen nicht folgen konnten. Ein zweites Problem, das einer Einigung entgegenstand und, wie in Paris und London, sich damals im Mittelpunkt der Diskussionen befand, war die sogenannte Systemsucht der Kommunisten. Auch für diesen zweiten jungdeutschen Einwand finden wir in den Quellen viele Belege. Marr berichtet beispielsweise: „Die Kommunisten verbrachten ihre Abende in ihrem Verein, indem sie die Gesellschaft bis ins Kleinste konstruierten" und weiter: „Die Kommunisten behaupteten, wenn man jedem das B i l d einer neuen Gesellschaft zeige, mache man mehr Propaganda." 53 Dieser Vorwurf war zutreffend, insofern diese Systeme bekanntlich in mancherlei Hinsicht konstruiert waren; ihnen fehlte, was den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx auszeichnete: aus der not130

wendigen E n t w i c k l u n g der alten Gesellschaft heraus die Grundzüge der neuen zu entwickeln. Andererseits waren diese Schwächen der frühkommunistischen Systeme historisch unvermeidlich wie aueh die von den Kommunisten geführten Debatten. Wollten sie Menschen für ihre Ideen gewinnen, mußten sie ihnen eine Perspektive zeigen^und die reale Möglichkeit einer kommunistischen Gesellschaft beweisen. Auf das letztere Problem ging Becker ein, indem er grundsätzlich entgegenhielt, d a ß die deutschen Kommunisten in der Schweiz „auf keins der aufgestellten kommunistischen Systeme schwören, d a ß sie weder Weitlingsche noch Cabetsche noch Owensche Kommunisten, sondern nur Kommunisten dem P r i n z i p e nach seien, d. h. Leute, die ihre Rechte an den freien Mitbesitz der E r d e und ihrer Güter, in welcher Form es auch sei und koste es, was es wolle, triumphieren machen wollen". Becker führte über die Haltung der Kommunisten zu dieser Frage weiter aus: d a ß sie „aber die bis jetzt aufgestellten Systeme studieren und diskutieren, um zu sehen, ob und inwiefern das Prinzip der f r e i e n G e m e i n s c h a f t darin durchgeführt sei". Durch das Studium dieser Systeme erlangten sie Kenntnisse und Einsichten, die unumgänglich notwendig seien, „sowohl für die Gegenwart, um anderen die Möglichkeit der f r e i e n G e m e i n s c h a f t durch die Anschauung zu beweisen, als auch für die Zukunft, um bei einer etwaigen Revolution, ,die w i r w e d e r machen noch verhindern' nicht ratlos dazustehen, eine Beute jener Gauner, die es von jeher so trefflich verstanden haben, das Volk an der Nase zu führen".'" Bekker bestimmte hier zutreffend die Funktion kommunistischer Systeme im Prozeß frühproletarischer Theoriebildung. Die „Systemkrämerei" spielte auch in den Diskussionen des Londoner Arbeiterbildungsvereins eine große Rolle. Ihr Verlauf zeigt, d a ß es hier die Kommunisten selbst waren, die die Schwächen ihrer früheren Lehren einsahen und zu überwinden begannen. So k a m es 1845 in diesem Kreis zur Debatte hinsichtlich der Frage nach dem „von jedem System unabhängigen Kern des vollkommensten Kommunismus" und der „Prüfung der verschiedenen modernen und alten Systeme am Kern des Kommunismus", 5 7 in der Schapper gesteht: „Es gab eine Zeit der Systeme, für mich gibt es jetzt keine mehr. In den Systemen sieht man immer nur ein Kasernenleben; nie hat man das Inncrc des Menschen dabei gesehen." 5 8 Schapper hat hier selbst auf die Schranken des kommunistischen Systemdenkens hingewiesen und dabei einen Gesichtspunkt zur Geltung gebracht, den in ähnlicher W e i s e die Jungdeutschen in der Schweiz als dritten E i n w a n d in der 9*

131

Vereinigungsdebatte 1844 vorbrachten: Sie bemängelten das Verhältnis der Kommunisten zur Selbstbestimmung des Menschen, zur „geistigen Freiheit". Damit war mehr angesprochen als nur die von den Saint-Simonisten übernommene jungdeutsche These: „Je besser und freier der einzelne, desto besser und freier die Gesellschaft". 59 Dahinter stand die prinzipielle Frage nach dem Menschen als Subjekt der Geschichte. In der junghegelianischen Theorie, wie sie die Jungdeutschen aufnahmen, wird mit der religiösen Entfremdung auch jede andere Unterwerfung und Beherrschung des Menschen unter eigene Schöpfungen aufgehoben und damit seine Selbstbestimmung begründet. Nach diesem Konzept kann und muß der Mensch die von ihm produzierte Umwelt, die Vergegenständlichung seiner Wesenskräftc in Moral, Religion, Verfassung, Recht und Staat fortlaufend seiner besseren Einsicht zufolge zurücknehmen und verändern. Entsprechend dieser Auffassung des Menschen als freies, tätiges Wesen konnten sich die Junghegelianer nicht mehr mit Vorstellungen abfinden, die den Umständen im menschlichen Leben den Vorrang einräumten. Edgar Bauer hatte in seiner Schrift Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat entwickelt, daß „der Mensch die Verhältnisse, nicht die Verhältnisse den Menschen zu schaffen und zu beherrschen haben".™ Über die Kritik aller bestehenden gesellschaftlichen Institutionen sollte dieses Bewußtsein vom Menschen als freiem Gestalter seiner Lebensbedingungen dem Volk vermittelt werden: „Ja wir wollen ihm am Denken Geschmack beibringen", sagte Edgar Bauer. „Wenn es denkt, wird es auch sein Recht und seine Macht kennen lernen; und was es dann tun wird, dazu brauchen wir es nicht anzuleiten; das wird es dann am besten wissen." 61 Der Streit der Jungdeutschen mit den Schweizer Kommunisten war in der Frage der Selbstbestimmung, der Freiheit des Menschen, besonders hartnäckig. Marr kritisierte, daß die Kommunisten zwar die „scheußliche Ungleichheit auf Erden sehen", aber sie nicht auf die Menschen, sondern auf die Umstände zurückführen, daß sie den status quo zwar beschreiben, aber nicht erklären. „Die gesellschaftlichen Zustände sind ihnen nicht Ausdruck des sozialen B e w u ß t s e i n s der Menschheit, sie sind ihnen ein aufgedrungenes Äußerliches." Mit dieser Feststellung verband Marr den Vorwurf der Passivität. „Das Vertrauen auf sich selbst fehlt den Kommunisten", meinte er. „Unter dem sozialen Druck leidend, suchen sie nach Trost, statt nach Waffen, um sich zu emanzipieren. 132

D e n passiven Teil der Schuld, den sie selbst daran tragen, daß alles ist, wie es ist, wollen sie nicht wahrhaben." 6 2 Mit dieser Kritik verband er die Ablehnung des Systemdenkens. In der Konstruktion utopischer Systeme sah er eine Flucht in die Zukunft, die Illusion als Lebensbedingung, die einem passiven Verhältnis zur G e g e n w a r t entsprach. „ Ü b e r die égalité ist ihnen die liberté abhanden gekommen." 6 3 Marr hat damit nicht nur ein zentrales Problem angesprochen, sondern auch eine wirkliche Schwäche frühproletarischer Theoretiker aufgedeckt, nämlich die Tatsache, daß ihnen ihre Lebensumstände nicht als Ausdruck und Resultat menschlicher Tätigkeit erscheinen; ein Faktum, das in der T a t unausweichliche Konsequenzen für das aktive Verhalten des Menschen nach sich zieht. Marr konnte diese Schwäche richtig charakterisieren, weil er sich angeeignet hatte, was eines der wertvollsten Resultate der Hegeischen und junghegelianischen Philosophie w a r : die Einsicht, daß es in der Geschichte nichts gibt, was nicht Produkt menschlicher Tätigkeit ist, was seinen menschlichen Ursprung verleugnen könnte. Gleichzeitig aber zeigt die Argumentation Marrs, daß er alle Einseitigkeiten und Illusionen teilte, die mit diesem positiven Resultat der klassischen deutschen bürgerlichen Philosophie verbunden waren. E s ist erstens das Verkennen des Umstandes, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, die „ U m s t ä n d e " , bei allem menschlichen Ursprung, einmal geschaffen, produziert, etwas Objektives und damit doch auch ein „aufgedrungenes Äußerliches" darstellen. E s ist zweitens der kapitale Irrtum, die gesellschaftlichen Verhältnisse nur als Ausdruck des sozialen Bewußtseins der Menschheit aufzufassen, statt als ein Produkt primär materiell gegenständlicher Arbeit, das sich gerade darum als eine so hartnäckige Realität erweist; eine Realität, die deshalb auch nicht willkürlich, nach Belieben, sondern nur entsprechend eigenen objektiven Entwicklungstendenzen zu verändern ist. D e r junghegelianische Vorschlag, den die Jungdeutschen den K o m munisten anboten, durch Einsicht in den menschlichen Ursprung ihrer Lebensverhältnisse, durch Aufdeckung der Selbstentfremdung in der Gesellschaft die Freiheit zurückzugewinnen, war also keine L ö s u n g und konnte deshalb auch die Kommunisten nicht befriedigen. In der Marrschen Argumentation war ein rationeller Kern, aber das eigentliche Problem, die Vermittlung von Subjekt und Objekt, wurde nicht bewältigt. 133

Waltraud Seidel-Höppner hat in ihren Untersuchungen zu Weitling, zum frühen deutschen Arbeiterkommunismus in London und Paris darauf hingewiesen, „daß die dialektische Einheit von objektivem Verlauf und bewußtem Handeln aufzuhellen, um für die prakti 1 sehe Bewegung die geeigneten Hebel herauszufinden" 6 ' 1 , eines der zentralen Probleme der frühen Arbeitertheoretiker war. Aus der Sicht der Verhältnisse in der Schweiz wird diese Auffassung bestätigt. Ebenso ist ihr zuzustimmen, wenn sie betont, daß diese lebendige Bewegung der Arbeiterklasse den „Klassenboden für die Erkenntnisse von Marx hergibt" und an seinen Lösungen mit beteiligt ist. In der Tat, wenn Marx allein dieses Problem zu lösen vermochte, indem er, angefangen von dem umwälzenden Schlußabschnitt der Ökonomischphilosophischen Manuskripte, in der Heiligen Familie bis hin zur Deutschen Ideologie, entschieden sich die Erkenntnisse zu eigen machte, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, andererseits aber alle Konsequenzen aus dem materiellen Vergegenständlichungsprozeß der menschlichen Arbeit zog, so ist diese Entwicklung nicht losgelöst zu sehen von den Diskussionen in der frühen Arberterbewegung. Für die Verhältnisse in der Schweiz aber war die Nichtbewältigung dieses Problems folgenreich. Sie war ein Grund dafür, daß sich die Standpunkte auf den entgegengesetzten Polen verhärteten und die organisatorische Spaltung besiegelt wurde. Das Unvermögen, Subjektives und Objektives in der Geschichte zu vermitteln, bewußtes Handeln mit geschichtlicher Notwendigkeit in Einklang zu bringen, war eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß in der Folgezeit die Kommunisten mit Becker an der Spitze sich in die Arme Kuhlmanns und seines verschwommenen religiösen Sozialismus flüchteten, während die Jungdeutschen - zusehends unfruchtbarer - ihre These vom Menschen als Schöpfer seiner Geschichte und von der Bewußtseinsveränderung als den entscheidenden Hebel zur Umwälzung der Zustände strapazierten. Trotz dieses negativen Ergebnisses bei der Suche nach einer tragfähigen theoretischen Grundlage für den gemeinsamen Emanzipationskampf sowie hinsichtlich des Scheiterns der Bestrebungen einer organisatorischen Vereinigung von kommunistischen Arbeiterbildungsvereinen und jungdeutschen Klubs hat die organisatorische und ideologische Entwicklung der deutschen Frühproletarier in der Schweiz auch beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Allein das Faktum, daß die Arbeiter in ihrer Literatur Probleme erörterten, die Marx zur selben 134

Zeit auf das tiefste beschäftigten und deren Lösung sich als zentrale Aufgabe einer wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie herausstellte, kann nicht hoch genug bewertet werden. 6 5 * Die Untersuchung zeigte, wie in vielfacher Hinsicht Probleme nicht nur angesprochen, sondern Lösungswege beschrieben wurden. Weiterhin ist nicht zu übersehen: Bei allen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kontrahenten bestand in einem Punkt Übereinstimmung, der für das Bewußtwerden der eigenen Situation, f ü r das Werden der Klasse vom Ansich zum Fürsich von größter Bedeutung w a r : Jungdeutsche und kommunistische Arbeiter waren sich dessen bewußt und haben die Überzeugung verbreitet, d a ß nur sie, die ausgebeuteten Massen selbst, eine Veränderung ihrer Lage bewirken können und d a ß dazu vereinte Anstrengungen für eine alle überzeugende Theorie, d a ß Aufklärung und Wissensvermittlung Hauptvoraussetzungen sind: „Sind wir doch alle durch all' unsere Lebensverhältnisse", heißt es in den Blättern der Gegenwart für sociales Leben, „aufeinander angewiesen, sind groß geworden in demselben Elend, rütteln an demselben Joche. Die'Zeit ist da, die getrennten Kräfte zu einigen, wir müssen erkennen, d a ß wir natürliche Bundesgenossen sind." 60 Bleibendes Verdienst der zerstrittenen frühproletarischen Organisationen in der Schweiz ist es schließlich, vielen ihrer Mitglieder erstmals politisches und soziales Wissen vermittelt zu haben, das sie befähigte, sich in den ideologischen und politischen Klassenauseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte selbständig zu orientieren und aktiv teilzunehmen. Einige von ihnen entwickelten sich zu befähigten Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung.

135

Werner Feudel

Proletarische Presse und künstlerische Literatur während der Revolution von 1848/49

Die entstehende proletarische Presse des deutschen Vormärz nutzte, um massenwirksam zu sein, von Anfang an die besonderen Möglichkeiten der literarischen Gestaltung, der Skizze, des Gedichts, des Liedes, zur ^Unterstützung ihrer propagandistischen Absichten. Das traf vor allem auf die Zeitungen und Zeitschriften der Arbeitervereine von 1848/49 zu. Von marxistischen Historikern sind zur Arbeiterpresse dieses Zeitraumes in den letzten Jahren wichtige Studien und Einzeluntersuchungen vorgelegt worden, die sich vornehmlich mit der politischen Funktion und dem politischen Gehalt dieser Presseorgane beschäftigten. Ziel unserer Darstellung ist es, einen Überblick über die wichtigsten proletarischen Zeitungen der Revolutionsjahre zu geben, ihre Bedeutung für die Herausbildung eines eigenen literarischen Kommunikationssystems der Arbeiterbewegung zu zeigen und die Rolle der künstlerischen Literatur in diesen Publikationsorganen zu untersuchen, die sich erstmals in Deutschland ungehindert von staatlichen Repressionen entwickeln, und, wenn auch meist nur für kurze Zeit, eine relativ weitreichende Wirkung erlangen konnten. Vor der Revolution von 1848 waren dem Bemühen des deutschen Proletariats um Artikulation der eigenen Lebensinteressen enge Grenzen gesetzt. Bisher konnten in Deutschland nur zwei Zeitungen der elementaren Arbeiterbewegung nachgewiesen werden, die in Hamburg von Georg Schirges, einem Mitglied des Bundes der Gerechten, 1845 bis 1847 herausgegebene Monatsschrift Die Werkstatt. ViertelJahresschrift für Handwerker, an der auch der Schneider Christoph Lychow mitwirkte, und das in Mittweida von August 1846 bis Mai 1848 von dem Schriftsetzer Oskar Skrobeck redigierte Blatt Typographia, Wöchentliches Organ für Buchdrucker, Schriftgießer, Lithografen, Xylografen, Stahl- und Kupferstecher . ..', beides Blätter, die infolge ihrer Fixierung auf einzelne Gewerke kaum über eine regionale Bedeutung hinausgelangten. Publizistisch wirksamer waren dage136

gen die Zeitschriften der „wahren" Sozialisten, der 1845/46 erschienene Gesellschaftsspiegel von Moritz Heß, die von Hermann Püttmann 1846/47 herausgegebenen Rheinischen Jahrbücher für gesellschaftliche Reform und die 1846 bis 1848 von Otto Lüning redigierte Zeitschrift Das westphälische Dampfboot, in denen neben theoretischen Abhandlungen über gesellschaftliche und soziale Probleme auch sozialkritische Novellen und Gedichte über die Not des Proletariats veröffentlicht wurden, darunter Beiträge von Heine, Weerth und Freiligrath. Marx und Engels nutzten diese Organe zeitweilig für ihre wissenschaftlich-kommunistische Propaganda. Und wenn diese Zeitschriften auch weniger an das Proletariat als an ein überwiegend bürgerliches Publikum gerichtet waren, so erlangten sie dennoch eine gewisse Bedeutung für die proletarische Presse von 1848/49, wo einzelne Beiträge wieder abgedruckt wurden. Einige Mitarbeiter schlössen sich während der Revolution der elementaren Arbeiterbewegung an, so Gustav Adolph Köttgen in Bremen, August Weller und Friedrich Hermann Semmig in Leipzig, wo sie die Zeitungen der örtlichen Arbeitervereine redigierten bzw. daran mitarbeiteten. 2 * Eine eigene, selbständige Presse von Arbeitern für Arbeiter und ein eigenes literarisches Kommunikationssystem konnten sich vor 1848 nur im Ausland, in Frankreich, England und in der Schweiz, entwickeln, wo die politische Tätigkeit des Proletariats organisatorische Formen annahm und sich auf der Grundlage der frühproletarischen Handwerkervereine eine Art proletarischer Öffentlichkeit herausbildete. Vorbildlich für die Presse der elementaren deutschen Arbeiterbewegung wurde die von Wilhelm Weitling 1841 herausgegebene kommunistische Zeitschrift Der Hülferuf der deutschen Jugend (von Januar 1842 bis Juni 1843 unter dem Titel Die junge Generation), das erste selbständige Publikationsorgan des deutschen Proletariats.^ Es erschien im Auftrag des Bundes der Gerechten und wurde von den Schweizer Handwerkervereinen unter großen finanziellen Opfern unterhalten und vertrieben. Weitling bemühte sich um eine eindringliche, anschauliche Vermittlung der kommunistischen Ideen. Oft wird, und das taucht in den späteren proletarischen Zeitschriften immer wieder auf, die Form des Lehrgesprächs gebraucht, das auch mögliche Gegenargumente in den Dialog fiktiver Gesprächspartner einbezog. Fast jede Nummer brachte politische Gedichte, die zunächst noch von kleinbürgerlich-demokratischen Tendenzen bestimmt waren, doch zunehmend, etwa in den Beiträgen von August Becker, proleta-

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rischen Charakter annahmen. Die Zeitungen und Zeitschriften der Arbeitervereine von 1848/49 konnten hier unmittelbar anknüpfen. Eine andere Traditionslinie, die des wissenschaftlichen Kommunismus, führte von den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, dem Pariser Vorwärts, der Deutschen Brüsseler Zeitung zur Neuen Rheinischen Zeitung. Diese Blätter wurden durch das publizistische Wirken von Marx und Engels, aber auch durch Dichter und Schriftsteller wie Heine, Freiligrath, Herwegh, Weerth und Rüge bestimmt. Unter dem Einfluß von Karl Marx entwickelte sich die von Januar bis Dezember 1844 in Paris erscheinende Zeitung Vorwärts von einer feuilletonistischen Unterhaltungsschrift zum Blatt der revolutionären Demokratie mit zunehmend kommunistischer Tendenz, das auch von den proletarischen Klubs des Jungen Deutschland in der Schweiz und den Sektionen des Bundes der Gerechten in Frankreich als ihr Presseorgan angesehen wurde/' Hier erschienen Heines Weberlied und als Fortsetzungsserie Deutschland. Ein Wintermärchen, seit Mitte 1844 auch Gedichte von Wilhelm Weitling, August Becker, Wilhelm Marr und Lieder von anonym gebliebenen Arbeitern und Handwerkern. Nach der Unterdrückung des Vorwärts und der Ausweisung von Marx aus Paris übernahm die 1847 von Adalbert Bornstedt herausgegebene Deutsche Brüsseler Zeitung die Funktion eines überregionalen Organs der deutschen Kommunisten, an dem bis zur Pariser Februarrevolution von 1848 fast alle späteren Redakteure der Neuen Rheinischen Zeitung mitarbeiteten. Heine veröffentlichte hier die zweite Fassung seines Gedichts Die schlesischen Weber, Freiligrath seine grandiose Allegorie Von unten a u f , Weerth Das ist das Haus am schwarzen Moor und andere soziale Gedichte, Friedrich Engels seine polemische Studie Der deutsche Sozialismus in Vers und Prosa, in der er' die Ideologie und Poesie der „wahren" Sozialisten einer schonungslosen Kritik unterzog, zugleich aber auch Maßstäbe für eine künftige realistische proletarische Literatur setzte. 0 Wenn auch die genannten Zeitungen und Zeitschriften nur in geringem Maße in Deutschland wirksam werden konnten, so waren sie doch von erheblicher Bedeutung für die Konstituierung der deutschen Arbeiterbewegung und für die Entwicklung der proletarischen Presse von 1848/49. Die Mehrzahl ihrer Redakteure und Mitarbeiter kehrten als Mitglieder des Bundes der Kommunisten nach Deutschland zurück, um die errungene Versammlungs- und Pressefreiheit zum Aufbau proletarischer Organisationen und eigener Presseorgane zu nutzen. Das war um so notwendiger, als sich die entstehenden kleinbürger138

liehen politischen Klubs und ihre Presseorgane darum bemühten, die Interessen des Proletariats mitzuvertreten. So bezeichnete sich die in Berlin vom kleinbürgerlich-demokratischen Volksverein herausgegebene Zeitung Die Volksstimme ausdrücklich als Organ für Arbeiter und Arbeitgeber. In der Regel grenzten sich die Arbeiterblätter schon durch ihr Motto wie „Unser Recht, aller Glück" oder „Einer für Alle, Alle für Einen" von den radikalen bürgerlichen Zeitungen ab, die meist allgemeine Freiheitslosungen als Wahlspruch bevorzugten. Gegenüber der rasch erstarkenden bürgerlichen Presse waren die proletarischen Zeitungsunternehmen freilich von vornherein im Nachteil, da sie kaum über Kapitalrückhalt verfügten und daher von den Repressionsmaßnahmen der allmählich wiedererstarkenden Reaktion im besonderen Maße getroffen wurden. Oft scheiterten die geplanten proletarischen Zeitungen schon an der geforderten Kautionssumme, die in größeren Städten für sechsmal in der Woche erscheinende Blätter 4 000 Reichstaler betrug. 0 Die Publikationsorgane der Arbeiterund Gewerksvereiqe waren aus diesem Grund meist keine Tageszeitungen. Sie erschienen wöchentlich ein- oder zweimal. In der äußeren Aufmachung beschränkten sie sich auf das einfache Quartformat, während die bedeutendsten bürgerlichen Zeitungen, die Berliner Blätter oder die Kölnische Zeitung im großen Folioformat erschienen. Ein spezielles Feuilleton wie die großen bürgerlichen Blätter enthielt keine dieser Zeitungen, doch verzichteten sie nur in wenigen Fällen auf die Möglichkeit, durch politische Gedichte, Anekdoten, fiktive Gespräche die agitatorische Wirksamkeit ihrer Blätter zu fördern. Honorar für die einzelnen Beiträge wurde nicht gezahlt. Nur die Redakteure erhielten in der Regel ein festes Gehalt. Der Vertrieb erfolgte über die Postämter, so daß die Zeitungen auch in anderen Orten erhältlich waren. Über längere Zeit halten konnten sich die proletarischen Zeitungen indes nur in einigen größeren Städten auf der Grundlage gut organisierter örtlicher Arbeiter- und Gewerksvereine, die ihnen einen festen Abonnentenkreis sicherten. Die Neue Kölnische Zeitung für Bürger, Bauern und Soldaten, die immerhin täglich erschien, schrieb zu diesem Problem: „Unsere Zeitung wird nur so viel bringen, daß der Arbeiter sie nach vollbrachtem Tagewerk immer noch mit Bequemlichkeit zu lesen vermag, und der Preis ist wenigstens so, daß ein paar Arbeiter zusammen, (wenn sie nicht ohne Arbeit sind) das Geld schon aufzutreiben im Stande sein werden. Eine solche Menge bedrucktes Papier, wie die Kölnische Zeitung können wir freilich nicht für's Geld geben; dazu müßten wir so 139

reich sein, wie Herr Dumont, 7 * so billig Alles einkaufen können, wie er, so schöne Dampfpressen haben und - so viele Abonnenten. Haben wir erst recht viele Abonnenten, dann können wir unser Blättchen auch noch billiger verkaufen, oder etwas größer machen für denselben Preis." 8 Die Neue Rheinische Zeitung nahm in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein. Sie wurde nach dem Vorbild der Rheinischen Zeitung als Aktiengesellschaft gegründet und konnte so als überregionale Tageszeitung im Großformat erscheinen. Emissäre des Bundes der Kommunisten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland durch das Land reisten, um Bundesgemeinden zu gründen, unterstützten die Werbung für die Zeichnung von Aktien. Abonnementslisten lagen in den Lokalen der Arbeitervereine und in Bier- und Weinschenken aus. 3 Und wenn damit auch nicht alle finanziellen Schwierigkeiten beseitigt wurden, 10 * so konnte die Neue Rheinische Zeitung dennoch kontinuierlich erscheinen und ihre Abonnentenzahl bis zum Mai 1849 auf 6 000 steigern. Ihre weitreichende Wirksamkeit und Bedeutung als Organ der Demokratie und erste selbständige Tageszeitung des deutschen Proletariats erlangte sie vor allem durch ihren Redakteur en chef Karl Marx und das von ihm geleitete Redaktionskollegium, das mit Wilhelm Wolff, Friedrich Engels, Ernst Dronke, Heinrich Bürgers, Georg Weerth und Ferdinand Freiligrath das organisatorische Zentrum des Bundes der Kommunisten bildete. Sie alle verfügten über reiche, im englischen und französischen Exil gewonnene schriftstellerische Erfahrungen, die sie zu einer revolutionären Journalistik großen Stils befähigten. Sie hatten mit den 17 Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland das politische Programm für die Revolution vorgelegt, das es der Zeitung ermöglichte, in ihren aktuellen Artikeln und literarischen Beiträgen für den politischen Sieg der demokratischen Bewegung und für die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins zu wirken. Sie wurde damit zum Vorbild für die Presse der elementaren Arbeiterbewegung in Deutschland, deren Redakteure sich in ihren politischen Artikeln zu einem großen Teil an der Neuen Rheinischen Zeitung orientierten. Das trifft im vollen Maße auf das von Georg Weerth geleitete Feuilleton der Zeitung zu, das die politische und propagandistische Zielstellung des Blattes mit den Mitteln des Witzes, der Parodie und der beißenden Satire unterstützte. 11 Das von der französischen Presse übernommene Feuilleton, das sich nach der Julirevolution auch in Deutschland in den größeren Zeitungen durchgesetzt und der Literatur neue Distri140

butionsmöglichkeiten erschlossen hatte, erhielt hier eine andere, aktivierende Funktion. Es wurde zum direkten Mittel des politischen Kampfes. Die Zeitungen der Arbeitervereine sind davon stark beeinflußt worden. Sie brachten die großen Revolutionshymnen von Freiligrath aus dem Feuilleton der bleuen Rheinischen Zeitung, aber auch Gedichte und Skizzen von Georg Weerth, die bekannter und wirksamer waren, als es die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vermuten läßt. Engels' Wort vom „ersten und b e d e u t e n d s t e n Dichter des deutschen Proletariats"12 wird hier in jeder Hinsicht bestätigt. Marx hatte bewußt Köln, nicht Berlin, zum Erscheinungsort seiner überregionalen Zeitung gewählt. Die Stadt war mit fast 90 000 Einwohnern das wirtschaftliche, politische und geistige Zentrum des rheinischen Industriegebietes, in dem es bereits Ansätze zu einem modernen Industrieproletariat gab. Hier hatte sich mit dem Kölner Arbeiterverein eine starke proletarische Organisation gebildet, die Mitte Juni schon mehr als 6 000 Mitglieder zählte und sich nach der Verhaftung ihres Gründers Dr. Gottschalk unter der Leitung von Josef Moll und Karl Schapper und zeitweise auch von Karl Marx zur bedeutendsten lokalen Arbeiterorganisation des Revolutionsjahres entwickelte. ,rl Als ihr Organ erschien seit dem 23. April 1848 einmal, später zweimal wöchentlich die Zeitung des Arbeiter-Vereines zu Köln.v' Die Neue Rheinische Zeitung wandte sich als Organ der Demokratie an einen breiteren, die gesamte demokratische Bewegung umfassenden Adressatenkreis. Sie lag in den Arbeiterlokalen aus und diente den Redakteuren der lokalen proletarischen Presse nicht nur in Köln als Anleitung für die politischen Artikel und Kommentare, wurde aber von den Arbeitern schon aus finanziellen Gründen kaum abonniert. Die Zeitung des Arbeiter-V ereines war dagegen speziell auf die Interessen und Möglichkeiten der in der Kölner Arbeiterorganisation zusammengeschlossenen Mitglieder ausgerichtet. Der Preis betrug 6 Pfennig pro Blatt, bei vierteljährigem Abonnement 10 Silbergroschen. Die Druckereibesitzer J. A. Mermet und später Brocker-Everaerts waren Mitglieder des Vereins. Das sicherte die Kontinuität der Zeitung, die eine Auflage von 1 500 Exemplaren erreichte. Als Brocker im Oktober 1848 wegen Preßvergehens zu einem Monat Gefängnis und zur Stellung einer Kaution von 4 000 Talern für den Fall der Weiterführung des Blattes verurteilt wurde, änderte die Redaktion den Titel in Freiheit, Brüderlichkeit, Arbeit, so daß die Zeitung in unveränderter Aufmachung und bei gleichem Inhalt weitererscheinen konnte.1"' 141

Unter der Leitung von Gottschalk war die Zeitung des ArbeiterVereines zunächst nur als Mitteilungsblatt der Organisation konzipiert, das Sitzungsprotokolle, Abhandlungen zur sozialen Frage, Beschwerden einzelner Arbeiter und Angriffe auf mißliebige Unternehmer brachte. Politische Artikel waren selten und meist sehr allgemein gehalten. Jede Nummer enthielt jedoch als eine Art Feuilleton literarische Beiträge, Lehrgespräche etwa zwischen dem Fabrikanten Müßig und dem Beschäftigung suchenden Arbeiter Ehrlich über die Stellung des Proletariers in der Gesellschaft oder politisch-agitatorische Gedichte, die auf die Revolution Bezug nahmen und die Arbeiter in ihrem Selbstbewußtsein stärken sollten. Freiligraths Trotz alledem!, Georg Weerths Es war ein armer Schneider oder Gottfried August Bürgers Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen sind dafür Beispiele. Die Beiträge von Arbeitern und Handwerkern knüpfen zunächst noch an die Tradition der Weitlingschen Zeitschriften und das Liedgut der Handwerkerbünde an, etwa das Lied Töne, du Schlachtgesang, unterzeichnet mit „Ferdinand Seyppel, ein Drechsler, aber kein schlechter", das noch ganz im Tone der Handwerkerlieder der dreißiger und frühen vierziger Jahre gehalten ist. Nummer 10 vom 25. Juli brachte Bruchstücke aus einer neuen Litanei, in der „Gott um Erlösung ^on den Grundübeln des gesellschaftlichen Lebens, von allen Steuern, die auf die Lebensmittel der Arbeiter gelegt sind, . . . von allem Wucher, der mit der Arbeit der Armen getrieben wird", von preußischen Beamten, Gerichtsvollziehern und dem schlechten Volksschulwesen, aber auch „von der nachtheiligen Anwendung der Maschinen" und der „Konkurrenz der Engländer" gebeten wird. Es folgt, und das gibt der an sich harmlosen „Litanei" politische Brisanz, als eine Art Anleitung zum Handeln Freiligraths Gedicht „Wie mans machtl" aus der Sammlung Qa iral von 1846. Unter der Leitung von Moll und Schapper von Juli bis September 1848 änderte sich der Charakter des Blattes. An die Stelle ökonomistischer Details traten jetzt stärker politische Erörterungen zu den wichtigsten aktuellen Ereignissen, die in jeder zweiten Nummer unter der Rubrik Politische Neuigkeiten im Sinne der Neuen Rheinischen Zeitung, zum Teil sogar von deren Redaktionssekretär Wilhelm Wolff 1 6 , kommentiert wurden. Nummer 11 vom 2. Juli enthielt in Form einer Polemik gegen die Kölnische Zeitung eine Rechtfertigung der Pariser Juni-Insurrektion. Die Ohnmacht des Reichsverwesers, das Erstarken der Konterrevolution und die Erschießung Robert Blums nach dem Fall von Wien waren weitere Themen der 142

politischen Leitartikel. Dem entsprachen die Gedichte im Feuilleton, die jetzt direkt auf das aktuelle politische Geschehen Bezug nahmen und dieses poetisch kommentierten, so Freiligraths Hymnen Die Toten an die Lebendigen, Wien und Blum. Andererseits waren auch die Politischen Neuigkeiten in einer eindringlichen, bildkräftigen Sprache gehalten, etwa der Leitartikel vom 3. September 1848, der die Kenntnis des Kommunistischen Manifest verrät: „Die Bourgeois, die Herren mit den großen Kapitalien, die Rothschild, die einen Augenblick glaubten, auf eigenen Beinen stehen und unter eigener Firma das Proletariat ausbeuten zu können, haben sich wieder vor den schrecklichen Blousenmännern bis zum Tod erschrocken, reu- de- und wehmüthig in die Arme des alten Systems geworfen . . . Ja, wir wissen es, das Proletariat verfolgt euch gleich einem Gespenst, auf euern Börsen und bei euern Orgien, bei Tag und Nacht. Wenn ihr In euern mit tausend Kerzen beleuchteten Salons, an den unter der Last der Gold- und Silbergeschirre sich beugenden Tafeln beim schwelgerischen Mahle sitzt, so seht ihr die schreckliche Proletarierfaust erscheinen, die ihr warnendes: M e n e , m e n e , t e k e l a n die Wand schreibt, und eure Freude ist dahin; wenn ihr in euren prachtvollen Pflaumbetten Ruhe sucht, so seht ihr in euren Träumen bleiche, hungernde Männer, Weiber und Kinder, die um euer Bett sich drängen, einen immer engeren Kreis ziehen und euch zuletzt gleich dem Alp die Brust eindrücken . . . Was ihr säet, werdet ihr ernten. - " ' 7 Dieses Niveau konnte nach der Verhaftung Schappers im Oktober 1848 und dem Weggang Molls nach London nicht gehalten werden. Die Redaktion übernahm W. Prinz, ein Anhänger Gottschalks, der sich mehr und mehr gegen die marxistische Linie des Arbeitervereins wandte und schließlich seit dem «14. Januar 1849 in dem Blatt, jetzt unter dem Titel Freiheit, Arbeit, eine offene Frontstellung gegen das Bündnis mit der revolutionären Demokratie und gegen die Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung einnahm.18 Die Leitung des Arbeitervereins trennte sich daher von der Zeitung und ihrem Redakteur und ließ, hergestellt in der Druckerei der Neuen Rheinischen und später der Neuen Kölnischen Zeitung, ein eigenes Blatt unter dem alten Titel Freiheit, Brüderlichkeit, Arbeit mit einem Blusenmann mit Schwert und roter Fahne als Vignette erscheinen.19 Als Programm hieß es in der ersten Nummer vom 8. Februar 1849: „Die Tendenz und Richtung dieses Blattes ist: Besprechung der sozialen Frage, der politischen Tagesgeschichte und Aufnahme jeder begründeten Klage, wenn dem Arbeiter in irgend welcher Weise Unrecht 143

zugefügt wird." Der Reinertrag sollte zur Beschaffung von Büchern für den Verein und zur Unterstützung hilfsbedürftiger Arbeiter verwendet werden. Während das weiterbestehende Prinz-Blatt sich in kleinlichen Polemiken mit Angehörigen des demokratischen Vereins verzettelte und ständig an Abonnenten verlor, konnte die von Joseph Christian Esser geleitete Zeitung des Arbeitervereins wieder die alte Bedeutung als wirksames ideologisches Propagandamittel erlangen, das auch an andere Vereine versandt und als Broschüre gebunden vertrieben wurde. 20 Neben Vereinsnachrichten und sozialen Abhandlungen standen jetzt wieder Berichte zum politischen Tagesgeschehen im Vordergrund, der Kampf gegen die fortschreitende Konterrevolution, das Frankfurter Parlament und die kompromißlerische Haltung der Bourgeoisie, zunehmend auch das Bemühen des Vereins und der Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung um die Konstituierung einer selbständigen politischen Massenorganisation des deutschen Proletariats. Unter der Rubrik Gottesdienst und Vaterlandsdienst brachte die Nummer 17 vom 5. April 1849 Auszüge aus der Neuen Rheinischen Zeitung über die „schlesischc Milliarde", Nummer 16 vom 1. April eine Satire auf die Kaisermacher, „frisch angekommen aus der Kaiserschmiede in Frankfurt, genannt der Froschteich", Nummer 19 vom 12. April eine ironische Charakteristik des preußischen Heeres. Unter den Gedichten, die sich vornehmlich gegen die Konterrevolution richteten, ist die Übersetzung des französischen Arbeiter-Liedes Le Chant des ouvriers (1846) von Pierre Dupont (1821-1871) hervorzuheben21*, dessen kraftvoller Optimismus an Weerths Lieder aus Lancashire erinnert: Schlecht gekleidet hausen wir in Höhlen, unterm Giebel, hinterm Schutt mit der Eule, Und dem Diebe müssen wir hausen, und doch braußt purpurnes Blut trotzig durch unsere Adern Und auch wir möchten so gern im Sonnenlicht und unter dem Laube grüner Eichen wandeln. Auf! wir reichen uns die Hand, und wenn wir uns versammeln können, Um in die Runde zu treiben, so stoßen wir an auf die Befreiung der Welt. Jedesmal wenn unser purpurnes Blut in wilden Wogen und Strömen über die Welt fluthete, 144

Befruchtet es sie, und nur irgend ein Tyrann pflückte diese Früchte. Darum ihr Genossen! schont euer liebes rothes Blut, die Liebe ist gewaltiger als die Fehde. Und bis ein beßrer Hauch vom Himmel auf die Erde weht, singen wir laut Aui! wir reichen uns die Hand, und wenn wir uns versammeln können, Um in die Runde zu treiben, so stoßen wir an auf die Befreiung der Welt. 2 2 Ende Juni 1849 fiel die Zeitung des Kölner Arbeitervereins dem Druck der Reaktion zum Opfer. Nach dem Vorbild der Neuen Rheinischen Zeitung erschienen die letzten Nummern als Zeichen des Protestes und der Zuversicht in rotem Druck. Vom 10. September 1848 bis zum 3. Juli 1849 erschien in der rheinischen Metropole ein weiteres Blatt der Arbeiterbewegung, die Neue Kölnische Zeitung für Bürger, Bauern und Soldaten. Seine Herausgeber waren die Mitglieder des Bundes der Kommunisten und des Kölner Arbeitervereins Friedrich Anneke und Friedrich Beust. Ihren Adressatenkreis umriß sie folgendermaßen: „Die ,Neue Kölnische Zeitung' ist, wie schon ihr Titel sagt, vor Allem für das arbeitende Volk bestimmt. Sie will nach Kräften für seine Belehrung und Aufklärung wirken, und seine Interessen, seinen Vortheil in jeder Weise wahrzunehmen trachten. Zum arbeitenden Volk aber rechnet sie alle die, welche sich den ganzen Tag über placken müssen, und doch nur mit Mühe und Noth, mit Kummer und Sorgen sich durch's Leben schlagen, als zum Beispiel die meisten Handwerker, besonders alle Gesellen, die Dienstboten, Tagelöhner, Fabrikarbeiter, alle kleinen Bauern, die Soldaten, Schreiber usw."2-' Anneke war ehemaliger preußischer Artillerieoffizier. Das erklärt die Einbeziehung der Soldaten in defi Adressatenkreis, auf deren Belange in zahlreichen Artikeln eingegangen wurde. Politisch orientierte sich das täglich erscheinende Blatt an der Neuen Rheinischen Zeitung, so daß man fast von deren Lokalausgabe sprechen konnte. Über ihren eigenen Standort schrieb die Zeitung am 17. Februar 1849: „Wenn wir auch im Allgemeinen alle Leitartikel und größeren Aufsätze uns selbst vorbehalten müssen, so nehmen wir doch recht gern bisweilen auch Arbeiten von Gesinnungsgenossen, die mit unsrer Richtung, der sozial-demokratischen, übereinstimmen."2'* 10

Proletarische Kultur

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Zunächst brachte die Neue Kölnische Zeitung nur politische Artikel und Kommentare zum Zeitgeschehen in Deutschland und im Ausland, daneben auch Berichte über die Zustände in preußischen Kasernen, über Mißstände in Kölner Betrieben und Hinweise auf Veranstaltungen des Kölner Arbeitervereins. A b 2. Dezember 1848 enthielt jede zweite oder dritte Nummer ein Feuilleton mit politischen Gedichten von Heine, Freiligrath und anderen, vor allem aber mit sozialkritischer Tendenz, so Berangers Der Bettler in der Nachdichtung von Chamisso, Friedrich von Sallets Vision einer künftigen proletarischen Revolution in dem Gedicht Fernsicht, Püttmanns Arbeiterlied mit dem aufreizenden Refrain „Brot oder Blei! T o t oder frei!" oder das Proletarier-Vaterunser des Schneiders Christoph Lychow, das die Verwirklichung des Reiches Gottes für den Armen schon auf dieser E r d e forderte. In Nummer 113 erschien als eigentümliche Variation von Freiligraths Trotz alledem! das anonyme Gedicht Steh' auf mein Proletar!: D a s Leben ist voll Qual und N o t h ; Verachtet geht der Bettelmann, Und nimmt der Hunger sich ein Brod, So packt ihn gleich die Schande an. • D a n n ist gebrandmarkt er als Schuft Indem manch andrer stiehlt u n d prellt, D e m Armen bleibt allein die Luft, D e m Reichen bleibt die ganze Welt, Steh' auf mein Proletar! Doch ist die neue Zeit erwacht, Bis hierhin und nicht weiter - nein! Das Licht folgt stets des Dunkels Nacht, Auf Regen folgt der Sonnenschein. Geöffnet ist das große Buch, Abrechnen wird Gerechtigkeit, D a ß nicht die Thräne und der Fluch Sich mehr aufs Brod der Armen streut. Steh' auf mein Proletar! 2 5 D a die Neue Kölnische Zeitung als täglich erscheinendes Blatt über mehr Raum als die Zeitung des Arbeitervereins verfügte, konnte sie im Feuilleton auch umfangreichere Prosaarbeiten aufnehmen, etwa im 146

April 1849 die satirische Folge So geht es in Preußen. In einem fiktiven Erlebnisbericht wird hier das Schicksal eines modernen Simplizius geschildert, der wider Willen preußischer Soldat wird und infolge seiner Einfalt in immer neue Konfliktsituationen gerät, die die Sinnlosigkeit des preußischen Kasernenhofdrills sichtbar werden lassen. Die Geschichte erschien in sechs Fortsetzungen, wurde jedoch nicht abgeschlossen, da der Kampf gegen die vordringende Konterrevolution zum Hauptthema der Zeitung und damit auch des Feuilletons wurde. In einem ihrer letzten Beiträge vom 30. Juni 1849 zur Lage der Demokratie bekannte sich die Zeitung trotz des sich vetstärkenden Drucks der Reaktion zur Weiterführung des revolutionären Kampfes im Sinne des Proletariats. 26 * Weniger günstig als in Köln waren die Entwicklungsmöglichkeiten für die erste Frankfurter Arbeiterzeitung. Sie erschien seit dem 18. Mai 1848 unter dem Titel Allgemeine Arbeiterzeitung. Organ für die politischen und sozialen Interessen des arbeitenden Volkes, Zugleich Zeitung des Arbeiter-Vereins zu Frankfurt am Main unter der Redaktion von Eduard Pelz und Christian Esselen. Ziel des Vereins wie der Zeitung war es, die einzelnen Gewerke unter einer einheitlichen Organisation zusammenzufassen, die ^Angelegenheiten des arbeitenden Volkes" zu vertreten und zur politischen Bildung der Arbeiter im weitesten Sinne beizutragen. In der zweiten Nummer schrieben die Herausgeber: „Dem Arbeiter helfen alle politischen Rechte nichts, so lange er durch seine sklavische Stellung dem Arbeitgeber gegenüber an der Ausübung- dieser Rechte verhindert ist. Was nützt dem Armen, dem Proletarier die Preßfreiheit, wenn er nicht Zeit und Geld hat, Zeitungen zu lesen und zu kaufen? Was das Vereinsrecht, wenn der Arbeitgeber ihn zur Stunde der Versammlung in die Werkstätte, in die Fabrik einsperren darf. Wie kann der Arbeiter sich die allgemeine Bildung verschaffen, welche die Grundlage aller politischen Freiheit ist, wenn es ihm unmöglich gemacht wird, . . . sich Bücher zu kaufen, an gebildeten Gesellschaften Theil1 zu nehmen, und im Theater die Meisterwerke unserer klassischen Dichter kennen zu lernen?" 27 Dieser Zustand sollte durch gesetzlich festgelegte Erhöhung des Mindestlohnes und Verkürzung der Arbeitszeit geändert werden. Gemessen an den Programmen anderer Arbeitervereine war diese Forderung sehr gemäßigt, dennoch wurden die Herausgeber schon nach der dritten Nummer aus Frankfurt ausgewiesen. Nach weiteren zwei Nummern, die in Hanau redigiert wurden, mußte die Zeitung ihr Erscheinen einstellen. Länger hielt sich das Arbeiter10*

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Blatt von Lennep, einer kleinen Stadt bei Solingen. Es erschien vom 15. Oktober 1848 bis zum 29. April 1849 in 17 Nummern mit dem Untertitel Organ für die Interessen der arbeitenden Klasse. Herausgegeben wurde es vom Arbeiter-Verein Lennep, einer vornehmlich aus Textilarbeitern bestehenden regionalen Organisation, die sich allem Anschein nach an dem Frankfurter Allgemeinen Arbeiter-Congress vom Juli 1848 und dessen Wortführer Winkelblech orientierte.28 Gegenstand der Zeitung waren hauptsächlich ökonomisch-soziale Probleme, „die Zustände der arbeitenden Klasse und deren Abhilfe, die sämmtlichen Verhandlungen des Arbeiter-Vereins . . . und am Schlüsse die auf die Arbeiterfrage bezüglichen Tagesbegebenheiten in gedrängter Kürze". 2 '* Trotz des geringen Umfangs von vier Blatt im Klein-Oktav verzichtete auch das Arbeiter-Blatt nicht auf den Abdruck von Gedichten, und diese Beiträge waren im Unterschied zu den Prosaartikeln politisch gehalten. So brachte Nummer 5 vom 12. November eine Elegie auf den Tod von Robert Blum zusammen mit der letzten Strophe aus Herweghs Gedicht Der letzte Kriegt*, Nummer 9 vom 10. Dezember ein im Heineschen Tone gehaltenes GedichlNnit einer ironischen Anspielung auf das Bündnis der „Reichen und Großen aus Deutschlands Gau'n", die ihr Geld in der Bank von London deponiert haben, um es zu gegebener Zeit gegen das Volk zur Niederschlagung der Revolution einsetzen zu können. Neben den Rheinlanden entwickelte sich Berlin zu einem Zentrum der proletarischen Presse. Voraussetzung dafür waren der entscheidende Anteil der Arbeiterklasse an den revolutionären Märzereignissen, der relativ hohe Organisationsgrad der Arbeiterbewegung in der Industriestadt Berlin und der allgemeine Aufschwung des Pressewesens in der preußischen Hauptstadt im Gefolge der siegreichen Revolution. Bereits am 29. März 1848 war auf einer Arbeiterversammlung zur Gründung des Arbeiter-Klubs aufgerufen worden. Am 19. April konstituierte sich unter dem Vorsitz von Stephan Born das Zentralkomitee für Arbeiter als erste legale Organisation der Berliner Arbeiterklasse. Daneben versuchten auch die im Politischen Klub organisierten kleinbürgerlichen Demokraten durch die Gründung des Volksvereins und spezieller Presseorgane Einfluß auf die Berliner Arbeiter zu gewinnen.31 Am 17. April berichtete die in Berlin und Leipzig von Arnold Rüge und Heinrich Bernhard Oppenheim herausgegebene politische Tageszeitung Die Reform: „Zwar sind hier Arbeiter-Zeitungen entstanden, eine von Handwerkern selbst: Bisky, Siegerist, Brill und Andern, welche die praktischen Interessen 148

der Gewerke unmittelbar in's Auge faßt. Andere von Literaten: ,die Volksstimme' von Dr. Max Schasler, ,der Volksfreund' von Schlöffel jun. Daneben wendet sich das politische ,Clubb-Blatt' unmittelbar an die Arbeiter, wie sich überhaupt der politische Clubb' nach jener durch Vernunftgründe zurückgeschlagenen Attaque der Herren Liedke und Consorten gerade erst recht fest in den Herzert der arbeitenden Classe eingenistet hat." 3 2 * Schon am 1. April 1848 erschien die von Friedrich Wilhelm Held redigierte Zeitung Locomotive. Zeitung für politische Bildung des Volkes, am 2. April als Blatt des Volksvereins das von Hermann Kannegießer herausgegebene Probeblatt zu der Zeitung Die Volks-Stimme mit dem Untertitel Für Arbeiter und Arbeitgeber^*, am 5. April mit dem Vermerk „Jahr I der Freiheit" Der Volksfreund unter der Redaktion von Gustav Adolph Schlöffel, am 8. April die Deutsche Arbeiter-Zeitung, ebenfalls mit dem Untertitel Für Arbeiter und Arbeitgeber, und am 25. Mai die Probenummer der von Stephan Born herausgegebenen Zeitung Das Volk. Hinzu kamen die Mittheilungen des Centraivereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, als Blätter der Gewerke das Vereinsblatt der Maschinenbauarbeiter zu Berlin, als Organ für das Gesamtinteresse der Buchdrucker und Schriftgießer Deutschlands der Gutenberg und ab 1. Oktober 1848 Wilhelm Weitlings Blatt Der Urwähler?'' Die bis Ende Mai in 22 Nummern erscheinende Volks-Stimme vertrat nur in den ersten Wochen nach der Gründung des Volksvereins entschiedener die Interessen der Arbeiter. Sie rückte in dem Maße davon ab, wie das Zentralkomitee für Arbeiter an Einfluß unter der arbeitenden Bevölkerung Berlins gewann. So enthielten die ersten elf Nummern noch die Rubrik Forderungen und Beschwerden, in der Vertreter der einzelnen Gewerke, die Maschinenbauer, Kattundrukker, Schlosser, Wollsortierer, Buchbinder u. a., zu ihren Problemen Stellung nahmen. Später wird darauf nicht mehr eingegangen. Charakteristisch für die Haltung dieses Blattes ist der Aufruf An die Arbeiter von Max Schasler in Nummer 2 vom 8. April 1848: „Freunde, ich beschwöre euch, seid besonnen, in der Ausbeutung unseres Sieges, wie ihr tapfer in der Erringung desselben wäret. Wollt ihr die Frucht unreif vom Baume schütteln, da sie noch ungenießbar ist, statt durch eifrige Pflege sie zu hüten bis zu ihrer Reife? . . . - und darum rufe ich euch zu: Hütet euch vor denen, die Zerstörung und Aufruhr predigen." 35 Ähnlich versuchte der einstige Offizier und Schauspieler Friedrich Wilhelm Held in der Zeitung Locomotive mäßigend auf die Arbeiter einzuwirken. Er versprach ihnen in seiner Proclamation 149

an die Arbeiter vom 8. April 1848 und in einer Folge weiterer Artikel eine friedliche Lösung der sozialen Frage durch die Hilfe des bestehenden Staates, der dafür zu sorgen habe, daß jeder Arbeit finde und der Arbeitslohn im richtigen Verhältnis zu dem „Preis der Lebensverhältnisse" stehe. Zur Verwirklichung seiner Ideen gründete er am 6. Juli 1848 den Verein auf Radikalreform der Erwerbsverhältnisse als Konkurrenzunternehmen zum Zentralkomitee für Arbeiter und fand damit zeitweilig eine gewisse Resonanz unter den Berliner Arbeitern, besonders unter den Maschihenbauern,36 die Stephan Born neben den Buchdruckern als die „aristokratischen Elemente" in der Arbeiterbewegung der preußischen Hauptstadt bezeichnete.37 Insgesamt vertrat Heids Zeituhg für die politische Bildung des Volkes die Interessen der kleinbürgerlichen Demokratie.- Das trifft auch auf die gegen die feudale Reaktion1 gerichteten Feuilletons von Robert Springer zu. Sie nehmen in dem an jedem Wochentag erscheinenden Blatt einen relativ breiten Raum ein, berühren aber kaum Probleme der Arbeiter, die denn auch in dieser Zeitung nicht selbst zu Wort kamen. Anders dagegen die Deutsche Arbeiter-Zeitung, das Organ des Berliner Handwerkervereins. Sie wurde von den kleinbürgerlichen Demokraten F. Behrend und Eduard Schmidt, Lehrer im Handwerkerverein, herausgegeben und im entsprechenden Sinne redigiert, hatte aber ein Redaktionskomitee, das sich aus acht Arbeitern zusammensetzte, darunter der Goldarbeiter Friedrich Ludwig Bisky und der Schuhmacher August Hätzel, beides profilierte Persönlichkeiten der1 Berliner Arbeiterbewegung, von denen letzterer Mitglied des Bundes der Kommunisten war. 38 * In der ersten Nummer wurden Gesellen und Meister, aber auch Fabrikinhaber, Kaufleute, Vereine und Behörden um schriftliche Einsendungen über „Arbeiterzustände und Arbeits-Angelegenheiten" ersucht.39 Entsprechend kamen in dem Blatt auch Arbeiter zu Wort. In der zweiten Nummer vom 12. April erschienen der Aufruf des Mainzer Arbeiterbildungsvereins An alle Arbeiter Deutschlands zum Zusammenschluß der deutschen Arbeitervereine, in Nummer 5 vom 22. April die Statuten des Zentralkomitees für Arbeiter. Insgesamt wurde die Linie des Blattes jedoch von kleinbürgerlich-demokratischen Auffassungen bestimmt, so daß Stephan Born, der zeitweilig dem Redaktionskomitee beigetreten war, die Zeitung in einem Brief an Karl Marx „eine Trompete" nannte, „in die jeder hineinblasen kann"/'0* Als reines Mitteilungsblatt enthielt die bis zum 24. Juni 1848 erscheinende Deutsche Arbeiter-Zeitung kein Feuilleton und keine literarischen Beiträge. 150

Im Rahmen unserer Untersuchung kommt dem Blatt Der Volksfreund als der Zeitung mit den konsequentesten politischen Zielen und zugleich mit der größten publizistischen Wirksamkeit unter den Berliner Arbeitern besondere Bedeutung zu. Sie erschien zweimal wöchentlich als „zwangloses Flugblatt" in 2 000 Exemplaren, von denen ein großer Teil unentgeltlich an die Arbeiter verteilt wurde/' 1 * Ihr Herausgeber, der neunzehnjährige Student Gustav Adolph Schlöffel, vertrat darin von Babeuf und Louis Blanc beeinflußte utopischkommunistische Ideen, doch näherte er sich in einzelnen Punkten auch den 17 Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland. Adressaten waren vor allem die Berliner Tagelöhner, die von der Stadt auf den Rehbergen mit Erdarbeiten beschäftigt wurden. Schlöffel war mit ihnen auf der Kundgebung des Volksvereins am 2. April 1848 in Berührung gekommen und dort zu ihrem Sprecher gewählt worden.42 Bereits in der ersten Nummer trat er für den „Umschwung der bestehenden Verhältnisse d u r c h und f ü r d a s V o l k , . . . durch und für die a r b e i t e n d e n , gedrückteni und'geknechteten Klassen" ein. 43 Seinem agitatorischen Ziel, die Arbeiter in ihfietn Klassenbewußtsein zu stärken und zum gemeinsamen Handeln zu bewegen, entsprachen die gewählten publizistischen Mittel. Schlöffel bevorzugte in seinen programmatischen Aufrufen eine bildkräftige, mit vertrauten Wendungen und Gleichnissen aus' der Bibel durchs setzte Sprache, die den Adressaten emotional berühren und unmittelbar ansprechen sollte: „Ist es wahr, daß die Ketten, die auf uns lasten, von der Natur geschmiedet sind? Blicket um Euch! Wer hat die Schlösser aus den Morästen emporgerichtet, wer den Flitter der Reichen mit mörderischen Kanonen hergezaubert? Wer, die Natur? Nein, Du o Volk und Deine Söhne, Ihr unglücklichen armen Leute, Ihr Vogtländer, Ihr gequälte Tagelöhner, Ihr schlesischen Weber, Ihr oberschlesischen Bergleute, Ihr heldenmüthigen Arbeiter wäret es, die man zum Dank Kanaille nennt und zusammenschießen läßt!" 4 4 Das erinnert in manchem an Büchners Hessischen Landboten. Anders als in den dreißiger Jahren fand der Verfasser jetzt jedoch Resonanz unter den Arbeitern. In einem Bericht über die dritte Versammlung des Volksvereins am 5. April 1848, an der 6 000 Menschen, meist Arbeiter und Handwerker, teilnahmen, schrieb Die VolksStimme: „Darauf trat Herr Sdhlöffel auf und bat um die Erlaubnis, ein neu erschienenes, von ihm herausgegebenes Blatt, ,der Volksfreund' betitelt, vorlesen zu dürfen. Es geschah. Mit großem Beifall 151

aufgenommen, hatte die Vorlesung zur Folge, daß sich sofort gegen 15 Redner meldeten, welche über das eben Gehörte das Wort verlangten.'"15 Die von dem Studenten Edmund Monecke verfaßten Gedichte Der Gefangene. Bei einem Arbeiterauf stand in Lyon 1831 und Es lebe das Proletariat verfolgten ähnliche Ziele wie die Artikel von Schlöffel. Sie verwenden zwar zu einem großen Teil noch das Vokabular und einzelne Gedanken aus der Lyrik der „wahren" Sozialisten, doch tritt an die Stelle der bloßen Mitleidshaltung eine kräftige Parteinahme für das Proletariat: Was Bürgerthum, Philisterthum, Wer Geld hat soll regieren? Für wahr, das wär' ein schlechter Ruhm Den künft'gen Reichspanieren. Nein, auch dem Niedern schaffet Rath; Hpch lebe das Proletariat!'' 6 Bereits am 20. April 1848 wurde Schlöffel verhaftet und am 11. Mai wegen versuchten Aufruhrs zu einer halbjährigen Festungsstrafe verurteilt. Zwei Nummern redigierte er noch im Gefängnis. Die Nummer 8 und 9 gab Edmund Monecke heraus. Er wurde am 30. Juni ebenfalls verhaftet, so daß die Zeitung nicht fortgeführt werden konnte. Das erste Berliner Blatt von Arbeitern für Arbeiter war die von dem Schriftsetzer Stephan Born herausgegebene Zeitung Das Volk!'1. Sie erschien vom 1. Juni bis 29. Juli 1848 dreimal, vom 1. August bis zum 29. August 1848 zweimal wöchentlich als Organ des Berliner Zentralkomitees für Arbeiter und Gegengründung zur Deutschen Arbeiter-Zeitung. Stephan Born war in Paris und Brüssel durch Marx und Engels mit dem wissenschaftlichen Kommunismus vertraut geworden. Im April 1848 kam er im Auftrag des Bundes der Kommunisten nach Berlin zurück, um dort für die Bildung einer Massenorganisation der Arbeiter zu wirken. Bereits 1845 war er als neunzehnjähriger Schriftsetzergeselle publizistisch wirksam geworden. Nach seinem zweiten Pariser Aufenthalt im Jahre 1848 entsagte er nach seinen eigenen Angaben „dem Winkelhaken", um „dafür berufsmäßig die Feder" zu führen.'18 Auf diese Erfahrungen gründet sich das gegenüber anderen Arbeiterblättern relativ hohe publizistische und politische Niveau der Zeitung. Über die politische Linie des Blattes schrieb Born im programmatischen Einführungskapitel Was wir vool152

len\ „Unsere Zeitschrift hat . . . die Aufgabe, der Demokratie, der Volksherrschaft im weitesten Sinne des Wortes vorzuarbeiten . . ." /l9 Dazu brachte er schon in den ersten Nummern als Fortsetzungsserie Drei politische Gespräche. Von Timon über die Souveränität des Volkes, die Aufgaben der Nationalversammlung und über den Staat. Dieses in einem Lob der Republik gipfelnde Lehrgespräch zwischen Meister Paul und seinem Gesellen Franz geht auf eine französische Vorlage aus dem Jahre 1834 zurück, doch wurde sie von Born offensichtlich überarbeitet und aktualisiert, um damit zur politischen Bildung der Berliner Arbeiter beizutragen. Entsprechend dem Untertitel Eine sozialpolitische Zeitschrift behandelte Das Volk jedoch vornehmlich soziale Probleme der Arbeiter und Handwerker, gewerkschaftliche Angelegenheiten und Fragen der Organisation der Arbeit, wobei Born auch Zugeständnisse an zurückgebliebene Arbeiterschichten machte und kleinbürgerlich-sozial-reformistische Auffassungen propagierte. Die politischen Artikel folgten der Linie der Neuen Rheinischen Zeitung, für die Born auf Bitten von Marx auch Korrespondenzen aus Berlin verfaßte. Fast jede Nummer brachte unter der Rubrik Briefwechsel zwischen Berlin und Paris Berichte über die französische Arbeiterbewegung, darunter am 1. Juli 1848 als einzige Zeitung Berlins ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Pariser Junischlacht. Auch im Feuilleton stützte sich Born weitgehend auf das Vorbild der Neuen Rheinischen Zeitung. Die Reihe der politischen Gedichte hatte er mit dem von ihm selbst verfaßten und bereits in der Deutschen Brüsseler Zeitung veröffentlichten Bettellied eröffnet, das unter den Bedingungen der revolutionären Ereignisse von 1848 neue Aktualität erlangte: Das Volk verdiene sein Mißgeschick, heißt es dort, wenn es um Gerechtigkeit bettelt. Es hat das Recht und die Pflicht, sie zu erkämpfein.50 In Nummer 6 brachte Born, der die Zeitung im wesentlichen allein redigierte, an Stelle eines Leitartikels Georg Weerths Pfingstlied und als Beginn einer Fortsetzungsserie Teile der in der Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlichten Skizzen aus dem deutschen Handelsleben (Herr Preiss in Nöten, Das Dasein des Herrn Preiss gewinnt welthistorische Bedeutung, Lanz als Bürger gar dist), in weiteren Nummern die Gedichte Der Wirth von Lancashirs, Die hundert Männer von Haswell, Es war ein armer Schneider und die satirische Prosaskizze Aus dem Tagebuch eines Heulers. Diese aus der Sicht des wissenschaftlichen Sozialismus geschriebenen literarischen Beiträge unterstützten wirkungsvoll die politischen Artikel der Zeitung, die sich nach der Pariser Juni153

Schlacht nicht mehr nur gegen die feudale Reaktion, sondern zugleich auch gegen die kompromißbereite Bourgeoisie richteten. In einer der letzten Nummern erschien am 19. August ein Gedicht des Druckers Karl Fröhlich An die feiernden Buchdrucker, eines der frühesten Streikgedichte in der deutschen Arbeiterbewegung. Es bietet zwar im wesentlichen nur eine Paraphrase eines populären Polenliedes von Julius Mosen, doch beruht gerade auf der Aktualisierung eines allgemein bekannten Vorganges die besondere Wirkungsmöglichkeit dieses Gedichts, das später in die sozialdemokratischen Arbeiterliederbücher eingegangen ist: Les't die Geschichte, Brüder, les't! Und wenn das Herz auch brennt, Und ernste Schauer Euch umwehn: So denket an „die letzten Zehn Vom vierten Regiment!" Und wie die Zehne treu und fest Sich brüderlich vereint, So treulich, Brüder, wollen wir Uns schäaren fest um das Panier, Bis auch kein Stern mehr scheint.51 Gedichte zum Berliner 'Buchdruckerstreik waren schon vordem in der Zeitschrift Gutenberg, dem Organ für das Gesamtinteresse der Buchdrucker und Schriftgießer Deutschlands erschienen. Die Arbeiter des Druckereigewerbes hatten sich als erste Berufsgruppe in Deutschland im gesamtnationailen Rahmen organisiert und die in Berlin seit dem 13. Mai 1848 einmal wöchentlich erscheinende Zeitung zu ihrem Mitteilungsblatt bestimmt. Lohn- und Organisationsfragen der Drukker und Setzer Waren daher die vorherrschenden Themen des Blattes. Einen großen Raum nahmen Berichte über die erste National-Buchdruck-Versammlung zu Mainz ein, die einen Reichstarif für das Buchdruckergewerbe mit Mindestlohnsätzen .gefordert hatte. Als die Drukkereibesitzer den Tarif ablehnten und die Drucker Hamburgs und Berlins am 1. August 1848 mit Arbeitsniederlegung antworteten, unterstützte der Gutenberg als „erste Streikzeitung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung"52 diesen Arbeitskampf mit publizistischen und literarischen Beiträgen. Nummer 14 vom 5. August brachte als Kopfleiste die Mitteilung: „Deutsche Brüder! Um allen Gerüch154

ten vorzubeugen, ttieilen wir Euch mit, daß unsere Arbeitseinstellung in voller Kraft fortdauert und wir fest und entschieden dabei beharren, bis unser Prinzip anerkannt wird." Es folgen zwei Gedichte unter dem Titel Am Tage der Arbeits-Niederlegung der Buchdrucker von dem Setzer J. Jaffe und dem Drucker Karl Fröhlich mit der Aufforderung zur Einigkeit und Solidarität. Vor allem das erste Gedicht von Jaffe ist bemerkenswert, weil es Gedanken des Streikkomitees über die Bedeutung der Arbeitskraft und das Recht des Arbeiters, sie so teuer wie möglich zu verkaufen, variiert: Die Auf Des Die

Arbeitskraft, die wollen wir ihren Thron erheben. Staates Grund, der Menschheit Zier, Wohlfahrt schafft und Leben;

Die Arbeitskraft, das Capital, Was einzig uns bcschieden, Sie muß des Wuchers Sündenpfahl An feste Kette schmieden. Sie will erkannt und geltend sein Wie alles Gute, Wahre; Sie will hienieden Sonnenschein Und nicht erst auf der Bahre.5-1 Die Gedichte waren zum Teil nach bekannten Weisen, unter anderem nach der Melodie von Ein freies Leben führen wir aus Schillers Drama Die Räuber, geschrieben und wurden auf den Streikversammlungen auch gesungen.5'1* In den folgenden Nummern erschienen weitere, aus der unmittelbaren Aktion erwachsene Streikgedichte von Arbeitern aus Nürnberg, Greifswald, Kassel und Lübeck, die den Arbeiterkampf aus der Perspektive des Arbeiters am Arbeitsplatz reflektieren, etwa das Gedicht Gegenwart und Zukunft von Andreas Rück aus Nürnberg: An dem Kasten steht der Setzer, Trüben A u g e s starrt er hin. Samstag ist's, er denkt im Stillen An den Lohn für sein Bemüh'n. Zitternd hält den Winkelhaken Seine müde Hand gepreßt - . . . 155

Bei dc-r Arbeit am Setzkasten wird dem Arbeiter die Notwendigkeit bewußt, sich mit den gegebenen Verhältnissen nicht abzufinden und im gegenwärtigen Arbeitskampf nicht nachzugeben: Laßt nicht ab, ihr deutschen Brüder, Fest beharrt auf Euerm Recht! Glück und Wohlstand kehre wieder Ewig bleibt der Wunsch gerecht! Laßt uns einig sein und handeln Trotz Verrat; mit uns ist Gott; Bald wird unsere Kunst hell strahlen In der Freiheit Morgenroth! 55 Der Gutenberg konnte als Organ des im Dezember 1848 in Berlin gegründeten Gutenbergbundes noch bis Ende 1852 weitergeführt werden. Die von Wilhelm Weitling herausgegebene Zeitschrift Der Urwähler blieb dagegen ein Blatt ohne Organisation und daher auch ohne Wirkung auf die Berliner Arbeiter. Der einstige Theoretiker des deutschen Frühproletariats war im Juli 1848 aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt und hatte zunächst in Köln und dann in Berlin auf dem ersten deutschen Arbeiterkongreß am 23. August vergeblich versucht, Einfluß auf die deutsche Arbeiterbewegung zu gewinnen. Seit dem 1. Oktober gab er in Berlin die Wochenschrift Der Urwähler als Organ des Befreiungs-Bundes heraus, einer Organisation, die er in den USA unter den deutschen Arbeitern gegründet hatte. Das Motto der Zeitschrift „Keine Gütervertheilung! Keine Zwangsarbeit! - Aber lohnende Arbeit und ehrlichen Handel für Alle." läßt erkennen, daß sich Weitling von seinen früheren kommunistischen Auffassungen distanzierte und eine bewußte Gegenposition zu den von Stephan Born in der Zeitung Das Volk vertretenen Gedanken der Arbeiterassoziationen und Produktivgenossenschaften einnahm. Er versprach die „Lösung der sozialen Frage überhaupt" durch die Errichtung eines neuen Geldsystems neben dem alten, ohne Aufhebung der Eigentums- und Erbschaftsgesetze. Ziel seines publizistischen Unternehmens war, das Volk aufklärend auf die demokratischen Wahlen vorzubereiten, um damit die Macht im Staate zu erringen. „Beglückt uns . . . mit hunderttausend Abonnenten, so versprechen wir Euch bei den nächsten Wahlen jeden Sieg, den Ihr verlangt", schrieb er in der ersten Nummer.56 Dazu sollte auch ein aus156

führikhes Feuilleton mit Gedichten und sozialen Novellen beitragen. Es fehlte Weitling jedoch an Mitarbeitern, um dieses Vorhaben zu verwirklichen. Außer einem die Solidarität von Handwerksmann und Bauersmann beschwörenden Gedicht von Carl Crueger, einem Mitglied des Bundes der Kommunisten, sind die übrigen lyrischen Beiträge von Weitling selbst verfaßt. Sie erinnern in der Terminologie und durch die Art der Argumentation noch stark an den Hülferuf der deutschen Jugend aus dem Jahre 1841, etwa das Gedicht Gedenke des 18. März 1848: Blieb es Alles doch beim Alten; Fleiß'ge Menschen drückt die Noth Und galante Schwindler schalten Mit der Arbeit Lohn und Brod. Reiche Speculanten weben Schlau des Wuchers Truggespinn, Und die besten Menschenleben Krümmen sich und sterben d'rin. Rings herum im deutschen Lande Frißt der Drohnen Ueberzahl, Frißt der Lung'rer müß'ge Bande Uns'rer Arbeit Blüthen kahl.'" Ziel der Weitldngschen Agitation in diesem Gedicht ist jetzt nicht mehr die proletarische Revolution, sondern ein großes, einheitliches und starkes Deutschland, in dem „alle Fahnen wallen. Schwarz-rothgold und blutig roth". Unter den Berliner Arbeitern fand Weitling damit keine Resonanz, das belegt die Zahl von nur 150 Abonnenten. Infolge der Ausweisung Weitlings am 21. November 1848 durch General Wrangel mußte die Zeitschrift bereits nach fünf Nummern ihr Erscheinen einstellen. Eine ähnliche Bedeutung wie in Berlin erlangte die proletarische Presse der sächsischen Handelsmetropole Leipzig. Hier hatte sich auf der Grundlage einer entwickelten Industrie eine starke Arbeiterbewegung herausgebildet, die im Unterschied zu den Rheinlanden und zur preußischen Hauptstadt jedoch noch weitgehend von kleinbürgerlichen Vorstellungen geprägt wurde.'18 Das trifft vor allem auf den von Hermann Semmig und Emil Ottokar Weller am 20. März 157

1848 gegründeten Sozialistischen Verein zu, der unter dem Einfluß wahrsozialistischer Ideen ökonomistische und sozialutopi-sche Ziele verfolgte. Friedrich Hermann Semmig schrieb dazu in der nur in einer Nummer erschienenen Zeitschrift Die Stimme des Volks. Organ der Arbeiter-. „Wir wollen Wohlstand und Glück auf alle Klassen des Volkes ausgedehnt wissen, nicht blos auf eine Kaste von Kapitalisten; wir wollen die Arbeit zu einer allgemeinen Pflicht, und den eines Menschen würdigen Genuß des Lebens zu einem allgemeinen Recht erhoben* sehen."09 Zwei noch ganz im Tone der wahrsozialistischen Lyrik gehaltene Gedichte über die Not des Proletariats sollten diese letztlich auf einen Klassenkompromiß gerichteten Forderungen unterstützen. Radikaler war die ebenfalls als Organ des Leipziger Sozialistischen Vereins von Emil Ottokar Weller herausgegebene Zeitschrift Der Volksfreund. Sie erschien in zehn Nummern unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und propagierte einen utopischen Kommunismus neobabouvistischer Prägung. Weller war Mitglied des Bundes der Kommunisten. Dabei brachte er in Nummer 5 auch die 17 Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland. Zugleich aber rief er zum unmittelbaren Sturz der Bourgeoisie auf; „Arbeiter, das Königthum ist matt, es hat sich selbst den Rest gegeben! Arbeiter, das französische Volk hat das Bürgerthum besiegt: werdet ihr hinter euern Brüdern zurückbleiben?""" Mit diesen sektiererischen Forderungen fand Weller unter den noch stark der Handwerkertradition verhafteten Leipziger Arbeitern kaum Resonanz. Sie wandten sich vielmehr dem vom demokratischen Vaterlandsverein beeinflußten Leipziger Arbeiterverein zu, der mehr politisch ausgerichtet war und soziale Unterstützung und eine bessere Bildung der Arbeiter im engen Zusammenwirken mit der kleinbürgerlichen Demokratie anstrebte. Als sein Organ erschien vom 1. Mai bis zum 22. Juli 1848 die Leipziger Arbeiter-Zeitung, redigiert von dem Buchdrucker O^skar Skrobek, dem Tischler Louis Kirsinger und dem Drechsler August Büttner, der später von dem Schlosser Friedrich Hampel abgelöst wurde. Das Motto der Zeitung „Durch Bildung zur Freiheit, und durch diese zum Wohlstande" läßt erkennen, daß die politischen Ziele der Herausgeber kaum über die Vorstellungen der kleinbürgerlichen Demokratie hinausgingen. Dennoch wurde das Blatt in der kurzen Zeit seines Bestehens zu einem wichtigen Forum der Selbstverständigung unter den Leipziger Arbeitern, die sich hier über ihre sozialen Probleme, ihre Arbeitsverhältnisse, über Polizei- und Beamtenwillkür äußerten. 61 Wie die Berliner Deutsche Arbeiter158

Zeitung enthielt die Leipziger Arbeiter-Zeitung kein Feuilleton und keine literarischen Beiträge. Gegenüber den genannten, meist nur kurzlebigen Arbeiterblättern nimmt die seit dem 3. Oktober 1848 in Leipzig erscheinende Zeitung Die Verbrüderung62 als einziges überregionales Journal der elementaren deutschen Arbeiterbewegung während der Revolution und erstes Beispiel für ein über längere Zeit funktionierendes eigenes literarisches Kommunikationssystem eine Sonderstellung ein. Sie erschien unter der Redaktion von Stephan Born und unter Mitarbeit von Franz Schwenniger wöchentlich zweimal als Organ der Ende August/ Anfang September 1848 in Berlin gegründeten Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung, die über 200 regionale Arbeitervereine aus ganz Deutschland zusammenfaßte und im April 1849 etwa 12 000 bis 15 000 Mitglieder zählte. 63 * Gedruckt wurde sie zunächst von dem bürgerlichen Verleger Brockhaus, ab 1. Januar 1849 von der Vereins-Buchdruckerei, einem genossenschaftlichen Unternehmen Leipziger Schriftsetzer, das auf Betreiben des Bezirkskomitees der Arbeiterverbrüderung entstanden war. Die Auflagenhöhe der Zeitung wird auf etwa 1 000 Exemplare gesehätzt, doch war ihre Wirksamkeit wesentlich größer, da sie als Correspondenzblatt aller deutschen Arbeiter von allen der Verbrüderung angeschlossenen Arbeitervereinen bezogen wurde und dort unter den Arbeitern von Hand zu Hand ging.64 Sie konnte so im Verlaufe der Revolution zu einem wichtigen Kommunikationsmittel unter den deutschen Arbeitern werden und einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der ersten überregionalen Arbeiterorganisation in Deutschland leisten. Die Verbrüderung beschränkte sich nicht auf die Erörterung sozialer Probleme und auf Fragen der Organisation der Arbeit und der Koordinierung der einzelnen Arbeitervereine. Sie war von vornherein auch politisch ausgerichtet. Bereits in der ersten Nummer hatte Born auf die Notwendigkeit hingewiesen, die soziale Befreiung der Arbeiterklasse im Zusammenhang mit den politischen Klassenkämpfen der Gegenwart zu sehen. Fragen des Bündnisses mit der kleinbürgerlichen Demokratie, der Kampf gegen die vordringende Konterrevolution und die Auseinandersetzung mit den Halbheiten der Frankfurter Nationalversammlung nahmen daher einen breiten Raum in der Zeitung ein. Hier machte sich der zunehmende Einfluß der Neuen Rheinischen Zeitung bemerkbar, der Born seit der Jahreswende 1848/49 längere Auszüge,' unter anderem aus Wilhelm Wolfis Artikelserie Die schlesische Milliarde, entnahm. Wie schon die Zeitschrift Das 159

Volk brachte auch Die Verbrüderung in jeder Nummer ein politisches Gedicht. Born nutzte dabei die ganze Breite der oppositionellen lyrischen Dichtung des deutschen Vormärz von Heine, Herwegh, Weerth und Freiligrath über Hoffmann von Fallersleben, Sallet, Seeger, Dronke, Mäurer, Rollet, Uhland, Jordan bis zur Lyrik der „wahren" Sozialisten Meißner, Beck und Oelkers. Daß die zu einem großen Teil schon vor der Revolution entstandenen Gedichte angesichts der erstarkenden Konterrevolution noch immer aktuell waren, beweist die Wirkung von Heines Gedicht Die schlesiscben Weber, dessen Veröffentlichung am 23. Januar 1849 für Born ein Verfahren wegen Preßvergehen zur Folge hatte. Ein Beispiel für den operativen Charakter der gebotenen lyrischen Beiträge bietet die Verbrüderung vom 16. Februar 1849. In einem ungezeichneten Artikel zum Wahlgesetzentwurf der Frankfurter Nationalversammlung polemisiert hier der Verfasser gegen den geplanten Ausschluß der Arbeiter und Dienstboten von der Wahl zur künftigen Volksvertretung. Es folgt auf der letzten Seite des Blattes als eine Art Kommentar ein Gedicht: Ein deutscher Arbeiter an die Nationalversammlung zu Frankfurt bei Gelegenheit des Wahlgesetzentwurfs, das anschaulicher und prägnanter als der Leitartikel die Auffassung der Betroffenen zum Ausdruck bringt: Wer war's, der in des Märzes heißen Tagen Die nackte Brust der Todeskugel bot, Der in den Straßen siegreich sich geschlagen? - Die Steine zeugen's, noch vom Blute roth! Wir waren's, wir! Durch unsre harten Hände Das Reich der Knechtschaft nahm ein schmählich Ende.

Ihr wollet aus dem Volke uns verstoßen, Stellt mit Verbrechern uns in einen Rang, Wir sollen Sklaven sein des Golds der Großen: Das ist für unsern Todesmuth der Dank. Und warum Alles? - Weil wir arm geboren, Drum werft Ihr uns zu Schurken und zu Thoren.

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So meint Ihr's, Herren; doch glaubet mir, es wohnen Verstand und Tugend auch wohl anderwärts, Vor Schurkerei schützt weder Geld noch Kronen, Auch unter'm Kittel schlägt ein Menschenherz. Stoßt uns nur aus, Ihr sollt es bald erfahren, daß wir's verstehen, unser Recht zu wahren. 65 Gedichte von Arbeitern wurden der Redaktion von allen regionalen Organisationen zugeschickt und regelmäßig in der Verbrüderung publiziert. Angesichts des wachsenden Drucks durch die Konterrevolution ging es meist um die Propagierung des Assoziationsgedankens, etwa in dem Gedicht Ein Gruß an die Deputirten zum bayr. Arbeiterkongreß eines Nürnberger Arbeiters vom 2. April 1849: Verbrüderung! so soll die Losung heißen; Vereinte Arbeitskraft! Verbrüdert sei'n die Starken und die Weisen Arbeit und Wissenschaft! Herbei, herbei mit Hammer und mit Pfriemen, Mit Meisel, Säg' und Scheer' Das sind die Waffen, deine legitimen, Du kampfbereites Heer. Das Bruderwort soll uns zum Kampfe mahnen. Trotz Feindes Spott und Hohn; Und freudig schreiben'wir auf unsre Fahnen; „Assoziation!" 66 Nach der Exilierung von Stephan Born übernahmen im Mai 1849 der Geometer Franz Schwenniger und im August der Schriftsetzer Karl Gangloff die Leitung der Redaktion. Durch die Mitarbeit von Emil Ottokar Weller konnte die Zeitung zunächst noch ihr politisches und publizistisches Niveau halten, doch wirkte sich der nun voll einsetzende, Polizeiterror auch auf den Inhalt des Blattes aus, in dem zunehmend Artikel mit klassenversöhnlerischer Tendenz erschienen. Am 29. Juni 1850 mußte Die Verbrüderung als letzte politische Zei' tung der frühen deutschen Arbeiterbewegung ihr Erscheinen einstellen. Die im März 1848 errungene Versammlungs- und Pressefreiheit bot dem deutschen Proletariat erstmals die Möglichkeit, in eigenen Zei11

Proletarische K u l t u r

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tungen und Zeitschriften seine Interessen zu diskutieren und seine politischen Ziele öffentlich zu propagieren. Der künstlerischen Literatur kam in diesem Zusammenhang als wirkungsvollem Mittel der Agitation besondere Bedeutung zu. Die Mehrzahl der über einen längeren Zeitraum erscheinenden Arbeiterblätter brachte als eine Art Feuilleton Gedichte, Anekdoten, Skizzen, seltener Kurzgeschichten. Diese literarischen Beiträge hatten in erster Linie eine politische Funktion. Sie dienten nicht, wie meist in den zeitgenössischen bürgerlichen Blättern, der Unterhaltung, sondern der Selbstverständigung, der sozialen Anklage oder der satirischen Bloßstellung des Klassengegners. Vor allem dort, wo die Zeitungen überwiegend ökonomistische Ziele verfolgten, übernahmen die Gedichte vielfach die Rolle des politischen Leitartikels oder des politischen Kommentars. Die Revolutionsgedichte von Herwegh und Freiligrath, die Prosaskizzen von Weerth aus dem Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung, aber auch die Lyrik Heines und der „wahren Sozialisten" wurden von den Arbeiterblättern übernommen und der eigenen Wirkungsstrategie nutzbar gemacht. Der Einfluß dieser Autoren auf die politische Lyrik von Arbeitern und Handwerkern ist in fast allen der hier behandelten Zeitungen nachzuweisen. Zugleich aber zeigte sich in diesen Gedichten zunehmend das Bestreben, die übernommenen Formen mit neuem Inhalt zu füllen, das revolutionäre Geschehen aus spezifisch proletarischer Sicht zu kommentieren und zu werten. Unter den Handwerkern traten vor allem die Drucker und Schriftsetzer, die schon von ihrem Beruf her mit künstlerischer Literatur vertraut waren, mit politischen Gedichten an die Öffentlichkeit, um die Arbeiter in ihrem Selbstbewußtsein zu stärken, sie zur Einigkeit und zum organisatorischen Zusammenschluß aufzurufen. Hervorzuheben sind die Lieder und Gedichte zum Berliner Buchdruckerstreik vom August 1848, in denen erstmals der Arbeitskampf aus der Perspektive des Werktätigen am Arbeitsplatz reflektiert wird. Für die Literatur der deutschen Arbeiterbewegung waren das bedeutsame Ansätze, die nach der gescheiterten Revolution und dem Verbot der Arbeitervereine und ihrer Presseorgane erst in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts weitergeführt werden konnten.

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Tanja Bürgel

Das Problem der Unterhaltungsliteratur in der deutschen Arbeiterpresse vor dem Sozialistengesetz

Mit der Entwicklung einer eigenen Unterhaltungsprosa begab sich die Arbeiterbewegung in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf ein „Kampffeld", das bis dato ausschließlich und mit ziemlichem Erfolg von ihren Gegnern beherrscht worden war. Die forcierte ökonomische und technologische Entwicklung der bürgerlichen Massenliteratur um 1870 - von der großen Tagespresse über populärwissenschaftliche Periodika bis zu Kalendern, Familienblättern und Kolportageromanen - führte dazu, daß sich das Angebot billiger Lesewaren verstärkt an die wachsenden proletarischen Bevölkerungsschichten richtete. Der vereinheitlichte kapitalistische Markt, neue technologische Möglichkeiten zur Massenfabrikation von Papier, die Erfindung der Rotationsmaschine (1873) und das Reichspressgesetz (1874) bildeten Voraussetzungen für die massenhafte Verbreitung von Druckerzeugnissen.1 Zwischen 1866 und 1875 verdreifachte sich allein die Zahl der durch die Post verbreiteten Lokal- und Anzeigenblätter.2 Die großen Familienblätter und Hunderte von Lieferungsromanen wurden in Massenauflagen vertrieben (Auflage der Gartenlaube von 1874: ca. 380 000). Um konkurrenzfähig zu bleiben, mußten auch die zahlreichen Tageszeitungen den Unterhaltungsbedürfnissen ihrer Leser und Leserinnen Rechnung tragen. Die Zeitungen der herrschenden Klassen, bis zu den kleinen Lokalblättern, verfügten während der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Regel über einen Feuilletonteil, in welchem regelmäßig Rbmane, Novellen und andere Beiträge abgedruckt wurden. Die Feuilletons der deutschen Presse brachten ab Mitte der siebziger Jahre jährlich etwa 20 000 Fortsetzungsromane.3 Was hier im allgemeinen zu lesen war, zeigte allerdings deutlich, daß das bürgerliche Feuilleton, wie es sich in Europa namentlich zwischen 1830 und 1848 schwungvoll entwickelte, nach der gescheiterten Revolution in Deutschland seine anspruchsvollsten Zeiten hinter sich gelassen ir

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hatte. Nach 1830 Ovaren es zunächst vor allem die Herausgeber der großen französischen Bürgerzeitungen, die die gewinnbringende Zugkraft der Fortsetzungsromane entdeckten. Neben Gerichtsberichten, Reisebeschreibungen, Theaterkritiken, Skandalgeschichten und dergleichen mehr wurden auf den Feuilletonseiten dieser Blätter immer mehr Romane unter anderem von Balzac, Dumas und Sue gedruckt. Hatte diese Verbindung voh politischer Publizistik und Prosaliteratur nach Arnold Hauser eine progressiv zu bewertende, „beispiellose Demokratisierung der Literatur und eine fast vollkommene Nivellierung des lesenden Publikums bewirkt" 4 , so bleibt diese Tendenz der Demokratisierung in den Jahrzehnten nach 1850 zwar erhalten, verbindet sich aber mit der immer stärkeren Trivialisierung der angebotenen Lesestoffe. Friedrich Foltin stellte fest, daß nach 1870 der simple Familien- und Liebesroman dem interessanteren, mit Sensationsmotiven arbeitenden Unterhaltungsroman den Rang abgelaufen hatte. 5 Die bürgerliche Forderung nach Demokratisierung der Literatur, nach der Entwicklung einer Massenpublizistik, die sowohl unterhaltend als auch bildend wirken sollte, wurde immer deutlicher ersetzt durch das reine Geschäftsinteresse, politische Apologie, Sensationshascherei und Sentimentalität. Die von Foltin beobachtete Trivialisierung der Unterhaltungsliteratur nach 1870 war im wesentlichen durch zwei Erscheinungen gekennzeichnet: durch die Massenhaftigkeit in der Verbreitung und durch die ästhetische Abwertung im bürgerlichen Literaturverständnis. 6 * Erst die entwickelte kapitalistische Literaturkommunikation führte zur scheinbar unüberwindlichen Spaltung zwischen der sogenannten „hohen", also ernstgenommenen künstlerischen Literatur und einer als minderwertig klassifizierten, massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur. Auch in den Auffassungen der Sozialdemokraten zeigte sich diese Spaltung. In Artikeln, Vorträgen und Studien sozialdemokratischer Autoren aus den siebziger Jahren wurde die gesamte zeitgenössische Unterhaltungsliteratur immer wieder als „Schund- und Schmutzliteratur" bezeichnet. Auch Wilhelm Liebknechts Aufsatz Wissen ist Macht - Macht ist Wissen (1872) enthielt diese radikale Abwertung: „Die billigsten Unterhaltungsblätter, welche hauptsächlich unter das Volk kommen - ich rechne die sogenannten Kolportage- und Lieferungsromane hier mit - , sind fast ausnahmslos - ich glaube, man kann sagen: ausnahmslos - der Form nach miserabler Schund und dem Inhalt nach Opium für den Verstand und Gift für die Sittlichkeit." 7 Dagegen brachten sozialdemokratische Autoren übereinstimmend ihre 164

große Verehrung der künstlerisch-literarischen Leistungen in der deutschen A u f k l ä r u n g und K l a s s i k zum Ausdruck. Dieser Rückbezug auf die Philosophie und Literatur der deutschen K l a s s i k hatte bereits in der Arbeiteragitation Ferdinand Lassalles während der sechziger Jahre eine wichtige Rolle gespielt. 8 Gewürdigt wurde vor allem die „ideale Gesinnung", „ d a s höhere, ernstere, von Wahrheits- und Freiheitsdrang erfüllte Künstlerbestreben" 9 und die „erhebende" und „ v e r e d e l n d e " Wirkung der Kunstleistungen aus der deutschen K l a s s i k . D i e Arbeiter seien jedoch unter den gegebenen kapitalistischen G e sellschaftsverhältnissen von der Aneignung dieser großen Kunstleistungen ausgeschlossen. 1 0 Aber auch die herrschenden K l a s s e n seien nicht mehr in der L a g e , diese klassischen Linien der Kunstentwicklung weiterzuführen. E i n e ungeahnte Blüte der Künste wurde übereinstimmend erst von einer neuen Gesellschaft erwartet, in der die Bourgeoisie abgedankt habe und die Arbeiterklasse zur M a c h t gekommen sei. „Bis dahin", schreibt E m i l Roßbach, „wo alles wird teilnehmen können am Kultus des ewig Schönen, bis dahin m a g das Praktische den Sinn des Arbeiters haben, und - stählen für seinen großen Kampf."11 D i e Prosaarbeiten, welche sozialdemokratische Autoren während der siebziger Jahre für die Zeitungen, K a l e n d e r und d i e Unterhaltungsblätter der Arbeiterbewegung verfaßten, entstanden nicht aus dem Bestreben heraus, eine neue Periode der Kunstentwicklung eröffnen zu wollen, sondern unter dem Z w a n g , auf die E i n f l ü s s e bürgerlicher Kulturideologie reagieren zu müssen. Unter diesem bestimmenden Gesichtspunkt begann das Problem einer massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur A n f a n g der siebziger J a h r e auch in den Diskussionen der zentralen sozialdemokratischen Parteikongresse eine Rolle zu spielen. D e r rasche politisch organisatorische Aufschwung der deutschen Arbeiterbewegung nach G r ü n d u n g der Eisenacher Partei (1869) schloß eine ebenso rasche literarisch organisatorische Entwicklung innerhalb und im Umkreis der Arbeiterorganisationen ein. In diesen Jahren entstand ein ganzes N e t z von Presseorganen der Partei und der Gewerkschaften, wurden die ersten Verlage und Genossenschaftsdruckereien der Arbeiterbewegung gegründet. D i e Verlage und Druckereien produzierten eine Vielzahl von Agitationsbroschüren, veröffentlichten eine Reihe marxistischer Werke, 1 2 erste sozialdemokratische Volkskalender (die in sehr großen A u f l a g e n , häufig sogar in mehreren N a c h a u f l a g e n verbreitet werden konnten), das erste selbständige Unterhaltungsblatt der Ar-

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beiterpartei Die Neue Welt (ab 1876), erste Romane und Erzählungen sozialdemokratischer Autoren im Separatdruck. In den Diskussionen auf Parteitagen und in der Arbeiterpresse kam ein funktionales Verständnis der eigenen Literaturentwicklung zum Ausdruck. Die Literatur der Arbeiterbewegung wurde in erster Linie als Instrument in den Klassenkämpfen, in ihrer Funktion als Bildungs- und Agitationsmittel verstanden. 13 Diese Funktionsbestimmung steht im Zusammenhang mit einem weitgefaßten Literaturbegriff, wie ihn die deutschen Sozialdemokraten in diesen Jahren verwendeten. 14 * Der Begriff umfaßte aktuell-politische Publizistik, sozialwissenschaftliche Literatur und Belletristik. Die Bemühungen führender Kulturpolitiker der Arbeiterbewegung, wie Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Bracke, richteten sich dabei vorrangig auf die Entwicklung einer wissenschaftlichen Parteiliteratur. l: '* Mit zunehmender Breite und Stabilität des eigenen literarischen Kommunikationssystems zeichneten sich deutlicher zwei Ebenen der Literaturentwicklung ab. Die eigene Literatur sollte einerseits der politischen Auseinandersetzung und theoretischen Klärung in den eigenen Reihen dienen (Parteiorgane, Broschürenliteratur), andererseits den ideologischen Einfluß bürgerlicher Massenliteratur auf die Arbeiter und ihre Familien zurückdrängen und damit die soziale Basis der Arbeiterbewegung erweitern helfen (Gewerkschaftspresse, Feuilletonbeilagen, Kalender, Unterhaltungszeitschriften, Jugendschriften). Namentlich Frauen und Jugendliche, welche nach Meinung der Sozialdemokraten mit Parteiorganen und Broschüren nicht zu erreichen waren, sollten durch ein unterhaltendes Lektüreangebot angesprochen werden. Eine Überbetonung der Belehrung und politischen Überzeugung in den Auffassungen der Sozialdemokraten spielte hierbei eine Rolle.16 Auch Feuilleton-Erzählungen, Kalender, Jugendschriften der Sozialdemokratie sollten als politisch-agitatorische Kampfmittel funktionieren. 17 * Als es zum Beispiel 1874 in Coburg um die Herausgabe illustrierter Jugendschriften ging, betonte ein Delegierter: „Wir müssen die Gegner auf allen Gebieten bekämpfen. Gerade in der Familie hetzen die Gegner wider uns und vor allem nähren sie die Jugend mit ihrem religiösen Fanatismus und mordspatriotischen Vorurteilen . . . Den Kindern im Mutterleibe möchten sie schon die Pickelhaube aufsetzen. Demgegenüber haben wir die Pflicht zu handeln. Gebe man eine gute Jugendschrift, die dann auch von den Eltern gelesen wird." 18 In ihrer praktischen politischen Organisationsarbeit wurden die 166

sozialdemokratischen Agitatoren immer wieder konfrontiert mit den literarischen Unterhaltungsbedürfnissen proletarischer Leser: „Die bewußt sozialistischen Arbeiter", heißt es so in einem Artikel, „welche Volksversammlungen besuchen, auf die Blätter der Partei abonnieren . . . haben die mühseligste Arbeit beim Michel. In der Werkstatt und im Hause müssen sie einen Kameraden nach dem anderen bekehren und schließlich kommt es nur zu oft vor, daß in dem Moment, wo sie meinen, einen Genossen gewonnen zu haben, der deutsche Michel bei jenem wieder zum Durchbruch kommt, der den .geschundenen Raubritter' über alle Politik stellt, und eifrigst nach einem Kolportageroman ,Blutige Nonne' oder ,Gefallene Unschuld' greift, als .pikanteste' Lektüre." 1 9 Die frühesten bisher bekannten soziologischen Untersuchungen über Lesebedürfnisse und Rezeptiönsgewohnheiten von Arbeitern datieren aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Von der großen Arbeiterenquete August Th. Pfannkuches, die 1900 erschien, bis zu historisch auswertenden Arbeiten zum Leseverhalten der Arbeiter aus jüngster Zeit verweisen solche Untersuchungen übereinstimmend auf den großen Einfluß bürgerlicher Unterhaltungsliteratur im Leseverhalten von Arbeitern. 20 Auch frühe Arbeiterautobiographien, zum Beispiel die von Adelheid Popp und Moritz Bromme, enthalten Hinweise auf die massenhafte Verbreitung bürgerlicher Unterhaltungsschriften in den Arbeiterfamilien vor der Jahrhundertwende. 2 1 Ein Mangel der meisten Untersuchungen zum Leseverhalten unter Arbeitern vor 1914 besteht darin, daß sie Ausleihstatistiken von Arbeiterbibliotheken zugrunde legen oder die Lektüre von Büchern untersuchen. Informationen, die Arbeiterautobiographien, Leserzuschriften, Korrespondenzen und Artikeln in der Arbeiterpresse zu entnehmen sind, verweisen jedoch darauf, daß sich „literarisches Verhalten" unter Arbeitern in erster Linie über die Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Kalendern ausbildete. Namentlich in den Feuilleton-Beilagen, Volkskalendern und billigen Unterhaltungsblättern fand die bürgerliche Unterhaltungsliteratur bereits in den siebziger Jahren große Verbreitung unter den proletarischen Bevölkerungsschichten. Der Verkaufsmodus der Kolporteure solcher billiger Lesewaren in den Arbeitervierteln war wirkungsvoll. Man hinterließ kostenlos die letzte Nummer eines Familienblattes oder die jeweils ersten Nummern einiger Romanheftchen in den Wohnungen unter der Bedingung, sie nach einigen Tagen wieder einzuziehen bzw. die Bestellung für ein Abonnement entgegenzunehmen. 167

Die sozialdemokratische Presse druckte in diesen Jahren in großer Zahl „Warnungen vor Schundliteratur" im allgemeinen oder vor einzelnen Kolportageromanen. Dabei spielte allerdings weniger die ästhetische Bewertung dieser Literatur eine Rolle. Die Sozialdemokraten bekämpften die sogenannte Schundliteratur vor allem ihrer ideologischen Wirkung wegen. Diese Literatur funktionierte - und funktioniert auch heute noch - nicht nur als Mittel zur Entspannung, Zerstreuung und Unterhaltung, sie hatte zugleich eine kompensatorische Wirkung. Was das wirkliche Leben verweigerte, gewährte die Scheinwelt der trivialen Unterhaltungsliteratur: „für die Männer vornehmlich eine solche der Abenteuer, der Herrschaft und des Aufstiegs; für Frauen vor allem eine Scheinwelt bürgerlichen Glücks". 22 Otto Rühle vergleicht die Wirkung der sogenannten Schundromane mit der des Alkohols: Flucht aus der bedrückenden, als ausweglos empfundenen Wirklichkeit, Entrückung, Berauschung. 23 Vor allem mit dieser Funktion der Ersatz- oder Scheinbefriedigung unerfüllbarer Wünsche und Träume wird die massenhaft verbreitete bürgerliche Unterhaltungsliteratur zum Feind der Sozialdemokraten und ihrer Bestrebungen nach politischer Aktivierung, Aufklärung und Überzeugung. Namentlich Arbeiterfrauen und sehr jungen Familienmitgliedern blieb der Fluchtweg in die Gastwirtschaft oder Destille in der Regel versperrt. Zudem waren die Frauen mit der materiellen Not, der Sorge um das tägliche Brot für die Familie, steigenden Preisen, wachsenden Schulden beim Lebensmittelhändler unmittelbarer belastet als die Männer. Allein diese Tatsachen machten die besondere Affinität der Arbeiterfrauen zu den Fortsetzungsromanen in Zeitungen und Serienheften verständlich. In einem Artikel über Die zukünftige Stellung des Weibes im Vorwärts, Jahrgang 1877, wurde die „Romanleserei von heutzutage" prinzipiell als „gutes Zeichen" gewertet. Allerdings, wird in dem Artikel ausgeführt, gebe es zuviel schlechte Romane, „welche nicht das Glück einer echten Ehe, die dauernde Selbstbelohnung ehrlicher Pflichterfüllung, den ganzen Reichtum einer edlen Häuslichkeit" schildern. 24 Äußerungen wie diese machen auch deutlich, daß in diesen Jahren, als Bebel bereits an seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus arbeitete, das Verhältnis der proletarischen Frauen zum Emanzipationskampf ihrer Klasse noch längst nicht geklärt war. Die Diskussionen zu diesem Thema zeigen, daß eine Reihe verantwortlich arbeitender Sozialdemokraten und Gewerkschaftler gegen die Berufstätigkeit der Frau und ihre direkte Einbe168

Ziehung in den politischen Kampf auftraten. Dies erscheint in unserem Zusammenhang bedenkenswert, betrachtet man die Fülle kleinbürgerlich moralisierender Erzählungen in den Feuilletons der Arbeiterpresse, deren Lektüre eigentlich vor allem für die kleinbürgerlichen Frauen bestimmt war. 2 5 Wollten die Sozialdemokraten bei der Verbreitung einer eigenen Prosaliteratur erfolgreich sein, durften die bereits entwickelten literarischen Unterhaltungsbedürfnisse namentlich unter den Arbeiterfrauen nicht unberücksichtigt bleiben. Die ersten Prosaarbeiten sozialdemokratischer Autoren, die in den siebziger Jahren entstanden, reagierten unmittelbar auf solche Bedürfnisse. Die Prosaliteratur der Arbeiterbewegung war von vornherein als Massenliteratur konzipiert. Erzählungen, Novellen und Romane wurden nahezu ausnahmslos für die Publikation in den Zeitungen, K a lendern und Unterhaltungsblättern geschrieben. Wie stark das Bedürfnis nach einer eigenen Prosaliteratur war, belegt die Tatsache, d a ß kein Werk eines sozialdemokratischen Autors ungedruckt blieb. Ein großer Teil der Prosaarbeiten wurde' in mehreren Organen der Arbeiterbewegung veröffentlicht. Freilich reichten die literarischen K r ä f t e der Arbeiterbewegung in dieser frühen Sammlungs- und O r ganisationsphase nicht aus, um eine durchgängig selbständige Feuilletonliterätur sozialistischer Tendenz zu schaffen. Der A u f b a u eines literarischen Kommunikationssystems der Arbeiterbewegung, welches zunehmend auch die literarischen Unterhaltungsbedürfnisse der Arbeiterleser berücksichtigen konnte, verlief schneller als die Entwicklung einer dafür benötigten eigenen Prosaliteratur. Neben den Erzählungen und Romanen sozialdemokratischer Autoren brachten die unterhaltenden Teile der Arbeiterblätter eine Fülle von Erzählungen und Romanen aus der zeitgenössischen bürgerlichen Feuilletonliteratur und vereinzelt Werke aus den Traditionen bürgerlicher Erzählkunst. 2 0 D i e Unterhaltungsschriften der Sozialdemokratie waren formal deutlich an der Struktur ihrer „gegnerischen Vorbilder" orientiert. Die Neue Welt, (hervorgegangen aus dem Volksstaat-Erzähler der „Eisenacher" und den Social-politischen Blättern der Lassalleaner), erinnerte in Ausstattung und A u f b a u deutlich an Ernst Keils auflagenstarke bürgerliche Familienzeitschrift Die GartenlaubeP Auch die Feuilletons und Unterhaltungsbeilagen der sozialdemokratischen Presse entsprachen in ihrer Struktur den zeitgenössischen bürgerlichen Unterhaltungsteilen. Mit der Etablierung unterhaltender Rubriken in den Arbeiter169

blättern verband sich das Bemühen der sozialdemokratischen Redakteure, den Erzählungen, Novellen, Romanen, Berichten und Betrachtungen neue Inhalte zu geben, die den Interessen und Zielen der Arbeiterbewegung entsprachen. Vor allem in diesem Zusammenhang entstand eine Prosaliteratur, wie sie auf den Parteikongressen gefordert wurde: eine Literatur, die vorhandene literarische Unterhaltungsbedürfnisse bedienen und zugleich politisch aufklären und überzeugen sollte. Ihrer Funktion und Wirkungsabsicht nach handelt es sich also um eine Art politisch motivierter „Gebrauchsliteratur". Charakteristisch für diese Literatur sozialdemokratischer Autoren jener Jahre ist die Verkettung von Stilelementen der zeitgenössischen bürgerlichen Unterhaltungs- und Trivialliteratur mit politischer Agitation. Dies entsprach der Wirkungsebene und Wirkungsabsicht dieser Literatur. Galt es doch, die Masse von Kolportageroman- und „Gartenlaube"Lesern von der offen oder verdeckt apologetischen Lektüre weg und an die eigenen politischen Ideen und Ziele heranzuführen. Es sind al.so nicht formal-ästhetische Innovationen, die diese frühe Prosaliteratur der deutschen Arbeiterbewegung bemerkenswert erscheinen lassen, sondern es ist ihre Wirkungsweise und ihre Wirkungsabsicht. Wie die politische Lyrik beabsichtigte diese Prosaliteratur den Dialog mit dem Leser, wollte didaktisch wirken und sich mit dem Leser über wichtige soziale und politische Fragen verständigen. Sie rang so um eine kommunikative Funktion, die von der zeitgenössischen, sogenannten hohen bürgerlichen Literatur weitgehend aufgegeben und durch die zeitgenössische Trivialliteratur pervertiert worden war. Während der sechziger Jahre verfügte nur der S o c i a l - D e m o k r a t , als einziges Arbeiterblatt, über einen Feuilletonteil, den Zeitungen des VdAV, der Arbeiterhalle und dem Demokratischen Wochenblatt, erlaubte ihre schwierige personelle und finanzielle Situation nicht, den Blättern einen unterhaltenden Teil hinzuzufügen. In Jean Baptist v. Schweitzers Social-Demokrat gehörte das Feuilleton zum ständigen Bestandteil, wobei sich die Beiträge oft nicht von den politisch informierenden, didaktischen Artikeln in den übrigen Rubriken unterschieden. Harald Feddersen beschreibt das Feuilleton der Zeitung als: „Aneinanderreihung von Beiträgen aus einigen Gebieten des sozialen Lebens zur Orientierung und Unterhaltung der Arbeiter" 28 . So erschienen im Feuilletonteil auch aktuell politische Beiträge, Auszüge aus Reden Lassalles oder Marx' Proudhon-Aufsatz. Andererseits wurden v. Schweitzers Agitationsszenen als Leitartikel gedruckt. 29 Die 170

Bearbeitung des kulturell-unterhaltenden Teils war hier, und das trifft auch auf die anderen Zeitungen der Arbeiterbewegung vor dem Sozialistengesetz zu, keine Ressortangelegenheit, wurde also auch nicht speziellen Mitarbeitern zugewiesen. Dafür hätten die Kräfte nicht ausgereicht. Die wenigen Erzählungen und Novellen im Feuilleton des Social-Demokrat entsprachen nur in Ausnahmefällen den politischen Vorstellungen der Lassalleaner.;!