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German Pages 1074 [1075] Year 2009
Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit
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Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit DFG-Symposion 2006 Herausgegeben von Peter Strohschneider
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. 앪
ISBN 978-3-11-020061-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Inhalt Peter Strohschneider Vorbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Sektion: Semantiken – Diskurse – Konzepte Alois Hahn Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marina Mnkler Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in der Historia von D. Johann Fausten und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Burkhard Hasebrink mitewrker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friedrich Vollhardt Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tobias Bulang und Beate Kellner Wolframs Willehalm: Poetische Verfahren als Reflexion des Heidenkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Georg Soeffner Symbolkonkurrenzen und kommunikative Leerstellen. Wolframs Parzival: Ein Prototyp auf der Suche nach seinem Standort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
Klaus W. Hempfer Zur Enthierarchisierung von ,religiösem‘ und ,literarischem‘ Diskurs in der italienischen Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Andreas Kablitz Bella menzogna. Mittelalterliche allegorische Dichtung und die Struktur der Fiktion (Dante, Convivio – Thomas Mann, Der Zauberberg – Aristoteles, Poetik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
Marn Schorch Bericht über die Diskussion der Ersten Sektion . . . . . . . . . . . .
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II. Sektion: Rede – Text – Schrift Bruno Quast Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Bernhard Lang Predigt als ,intellektuelles Ritual‘. Eine Grundform religiöser Kommunikation kulturwissenschaftlich betrachtet . . . . . . . . . .
292
Thomas Lentes A maioribus tradita. Zur Kommunikation von Mythos und Ritus im mittelalterlichen Messkommentar . . . . . . . . . . . .
324
Christian Kiening Hybriden des Heils. Reliquie und Text des Grauen Rocks um 1512 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
Stephan Mller Der Codex als Text. Über geistlich-weltliche Überlieferungssymbiosen um 1200 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411
Mireille Schnyder Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten .
427
Michael Stolz Kommunion und Kommunikation. Eucharistische Verhandlungen in der Literatur des Mittelalters . . . . . . . . . . . .
453
Ulrich Hoffmann Bericht über die Diskussionen der Zweiten Sektion . . . . . . . .
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Inhalt
VII
III. Sektion: Kommunikative Instanzen und Institutionalisierungen Gert Melville Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Cristina Andenna Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
526
Christian Schneider Religiöse Kommunikation und höfische Identität. Zum ethischen Diskurs in der Literatur um Herzog Albrecht III. von Österreich und Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365 – 1396) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
574
Margreth Egidi Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende . . . . . . . . . . . . .
607
Armin Schulz Hybride Epistemik. Episches Einander-Erkennen im Spannungsfeld höfischer und religiöser Identitätskonstruktionen: Die gute Frau, Mai und Beaflor, Wilhelm von Wenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
658
Klaus Grubmller Autorität und meisterschaft. Zur Fundierung geistlicher Rede in der deutschen Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts . . . . . . .
689
Nikola von Merveldt Transgression und Transzendenz. Der Skandal der fabliaux dvots aus der Vie des Pres . . . . . . . . . .
712
Hans Jrgen Scheuer Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken . . . . . . . . . . .
733
Markus Schrer Bericht über die Diskussionen der Dritten Sektion . . . . . . . . .
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Inhalt
IV. Sektion: Performative Praxis Andreas Hçfele Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
781
Jutta Eming Marienklagen im Passionsspiel als Grenzfall religiöser Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
794
Andrew James Johnston Chaucers Pardoner – die Geburt der Literatur aus dem Geist der Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
817
Klaus Schreiner Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . .
844
Klaus Krger Figuren der Evidenz. Bild, Medium und allegorische Kodierung im Trecento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
904
Sebastian Neumeister Die Sprache als Weg in die Transzendenz: Baltasar Graciáns Comulgatorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
930
Niklaus Largier Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
953
Susanne Kçbele Emphasis, berswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse) . . . . . . .
969
Stephan Laqu Bericht über die Diskussion der Vierten Sektion . . . . . . . . . . .
1003
Tafelteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1013
Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbericht Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft fand vom 2. bis 5. Oktober 2006 im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni in Loveno di Menaggio am Comer See das Symposion Literarische und religiçse Kommunikation in Mittelalter und Frher Neuzeit statt. Mit seinen Spielregeln orientierte es sich an dem von Albrecht Schöne im Jahre 1974 ausgerichteten Barock-Symposion. Die Veranstaltung war die 27. und damit in gewissem Sinne die letzte in der Serie der „Germanistischen Symposien“: Die DFG beabsichtigt, künftig regelmäßig „Literaturwissenschaftliche Symposien“ auszuschreiben, hat indes über die Frage der Dokumentation der entsprechenden Ergebnisse derzeit noch nicht entschieden. Die Planungen für das Projekt, dessen Erträge hiermit vorgelegt werden, setzten ein, als der Zweite Irakkrieg – von der Administration in Washington als auf den 11. September 2001 antwortender antifundamentalistischer war on terrorism begründet – in seiner heftigsten Phase war. Die Tage in der Villa Vigoni selbst begannen gerade einmal zwei Wochen nach jener weltweit Aufsehen erregenden Rede über Glauben und Vernunft, mit welcher Benedikt XVI. ein letztes Mal in die Rolle des emeritierten Regensburger Theologieprofessors zurück zu wechseln versucht hatte – dabei die Unterschiedlichkeit der Gelingensbedingungen von universitären Vorlesungen und päpstlichen Ansprachen offenbar unterschätzend.1 Stets unübersehbar blieb angesichts solcher Ereignisse also, dass das Symposion mit seinem Stichwort „religiöse Kommunikation“ ein Problemfeld nicht allein von aktueller politischer Relevanz aufgerufen hatte, sondern auch eines von grundsätzlicher historischer wie systematischer Bedeutung für die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Dass sich religiöse Kommunikation weiterhin wissenschaftlich erfolgreich als ein sozusagen alteuropäischer Rest würde behandeln lassen, welcher im Zuge von Prozessen der funktionalen Differenzierung endgültig in residualen Subsystemen eingekapselt oder aber durch diskursethische Selbstaufklärung aufgelöst werde – oder doch zumindest seine theoretische Begründbarkeit verliere –, eine 1
Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Kommentiert von Gesine Schwan, Adel Th. Khoury und Karl Lehmann. Freiburg/Br. 2006.
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Vorbericht
solche Annahme ist in den zurückliegenden Jahren zunehmend unwahrscheinlich geworden.2 Die ,Säkularisierungsthese‘, um weiter in schlagwortartiger Vereinfachung zu formulieren, die Annahme eines progredierenden Relevanzverlustes des Religiösen im öffentlichen Raum im Zuge der gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen Modernisierungsschübe der Gegenwart, diese These scheint an Plausibilität zu verlieren. Ihr gegenüber könnte man vielmehr geneigt sein, für die gegenwärtigen Gesellschaften geradezu von einer Wiederkehr und Pluralisierung des Religiösen und der Religion – auch im Zeichen von Globalisierung und unterschiedlichster Fundamentalismen – zu sprechen.3 Derartige Prozesse waren nicht Gegenstand des Symposions. Dieses versuchte auch nicht in unfruchtbarem Aktualismus auf sie zu reagieren oder aus ihnen Begründungsmöglichkeiten zu gewinnen. Das dem Projekt zugrunde liegende Konzept wie die Symposionsbeiträge sind vor allem anderen in Aufgabenstellungen und Erkenntnisprozessen der literaturwissenschaftlichen Mediävistik und Frühneuzeitforschung fundiert. Historische Wissenschaft tut allerdings gut daran, ihren Historisierungsimperativ stets auch auf sich selbst anzuwenden: Die Situierung ihrer Problemselektionen, Problemexpositionen und Erkenntnisprozesse in komplexem gesellschaftlichem Veränderungsgeschehen braucht sie keineswegs jederzeit zu explizieren, einfach ignorieren wird sie diese Situierung gleichwohl schwerlich können. So dürfte es beispielsweise für Rekonstruktion und Verständnis der christlichen Traditionen religiöser Rede in Mittelalter und Früher Neuzeit kaum gänzlich folgenlos bleiben, dass die europäisch-transatlantische Zivilisation und die in ihren Traditionen verankerten Wissenschaften, wo sie dem Islam begegnen, auch auf religiöse Wissensordnungen treffen, in denen etwa das Ästhetische nicht in vertrauter Weise einer Entradikalisierung, sondern vielmehr im Gegenteil einer Radikalisierung der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz zuarbeitet.4 2
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Der Dialog von Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger ist als Indiz dieses vermuteten Wandels bedeutsamer denn in theoretischer Hinsicht; vgl. Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Skularisierung. ber Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort, hrsg. von Florian Schuller, Freiburg/Br. 2005. Die vermutlich prägnanteste Formel im deutschsprachigen Raum stammt einstweilen von Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Gçtter. Religion in der modernen Kultur, 2., durchges. Auflage, München 2004. Vgl. dazu Navid Kermani, Gott ist schçn. Das sthetische Erleben des Koran. München 22003.
Vorbericht
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Die Konstellationen und möglicherweise post-säkularen Veränderungsschübe unserer eigenen Welt sind also in diesem Symposion nicht ausdrücklich thematisch geworden, gleichwohl, so sollte hier angedeutet werden, bilden sie für es einen Reflexionshorizont. In ihm formulierte das Konzept des Symposions ein spezifisches Problem, ein Frage, die letztlich – in ihrer auf die volkssprachigen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gerichteten Perspektive – mit einer Klärung von Bedingungen der Möglichkeit vormoderner Literatur zu tun hat. Es ist dies die Frage nach den Relationen literarischer und religiöser Rede und Praxis in Mittelalter und Früher Neuzeit; das „und“ im Titel des Symposions wie dieses Bandes zielt also selbstverständlich keineswegs auf eine bloße Addition von Disparatem. Bei der Formulierung dieser Frage spielte zunächst eine sozusagen institutionelle Überlegung eine Rolle. Als ein Unternehmen in der Reihe der Germanistischen Symposien der DFG sollte die Veranstaltung so angelegt sein, dass sie einerseits den aktuellen Problem-, Theorie- und Methodenstand der Germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung – selbstverständlich in interdisziplinär informierter Weise – in gewisser Hinsicht zu resümieren und exemplarisch weiter zu entwickeln erlaubt. Angesichts einer Vielzahl programmatisch gemeinter, zuweilen aber auch bloß proklamatorischer Veranstaltungen und Publikationen zum disziplinären Status der (auch ,Älteren‘) Germanistik – zu ihren theoretischen, methodischen und historischen Aufgaben wie Optionen, zu den linguistic, cultural, anthropological, performative, iconic oder spatial turns und dann auch wieder zur ,Rephilologisierung‘ – schien es auf der anderen Seite angeraten, eine solche Vermessung disziplinärer Positionen und Perspektiven nicht ein weiteres Mal im Allgemeinen und Fachkonzeptionellen, sondern historisch und systematisch konkret zu versuchen. Unter dieser Vorgabe lag es nahe, die literaturwissenschaftliche Frage nach den Möglichkeitsbedingungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher literarischer Kommunikation bei deren Relationen zu religiöser Kommunikation anzusetzen. Sie entsteht und operiert nämlich nicht unter den Bedingungen eines funktionsspezifisch ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystems Literatur (oder Kunst). Sie ist vielmehr in historisch fremder Weise in historisch fremde kulturelle Kontexte, soziale Praktiken und epistemische Ordnungen eingelassen. Insbesondere etabliert sich poetische Kommunikation in der Volkssprache im frühen und hohen Mittelalter erst ganz allmählich neben der dominanten schriftsprachlich-lateinischen Kultur. Die Durchsetzung
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Vorbericht
gegen das Schriftmonopol der Klerikerkultur ist ein langer, windungsreicher, von komplexen Verschränkungen und Überlagerungen gekennzeichneter Prozeß. Mit einem sozial ausdifferenzierten Literaturbetrieb, wie er für die Moderne anzusetzen ist, mit Organisationsformen, die literarische Produktion, Distribution und Rezeption institutionell absichern und mit Geltung ausstatten, kann dementsprechend auf lange hin nicht und allenfalls ansatzweise erst im Spätmittelalter gerechnet werden. Mittelalterliche Literatur in der Volkssprache ist noch nicht als eigenes Sozialsystem beschreibbar, sondern bleibt funktional, strukturell und personal eng eingebunden in die Ordnungen von Religion, Heil, Herrschaft und Macht. Einfache Dichotomien von Geistlichem und Weltlichem oder Sakralem und Profanem verlieren, wenn man so ansetzt, ihre analytische Attraktivität. Sie führen sehr schnell, vermutlich zu schnell zurück in konventionell literaturgeschichtliche Konstellationen oder gattungsgeschichtliche Zusammenhänge. So läßt sich etwa auf der Grundlage einer Klassifikation ihrer Sujets ,geistliche Dichtung‘ von ,weltlicher Literatur‘ zwar unterscheiden. Doch muß man dafür typischer Weise in Kauf nehmen, beträchtliche Segmente der Textüberlieferung allein noch in Residualkategorien nach Art des Kompositums ,Legendenroman‘ unterbringen zu können. Will man hingegen gerade die Spannungsfelder von Literatur und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit erschließen – so war die Hoffnung –, dann kann sich eine Umstellung auf kommunikations- und wissensgeschichtliche Aspekte, die ich hier in einer differenztheoretischen Version skizziere, anbieten. Eine Akzentuierung der kommunikativen Dimension von Literatur und Religion eröffnet neue Perspektiven auf das historische Material und ermöglicht insofern Erkenntniszugewinne. Neben dieser heuristischen besteht freilich zugleich eine systematische Begründung für die hier vorgenommene Verschiebung der erkenntnisleitenden Differenz von der Ebene der Textsujets auf diejenige von Kommunikation: Religion wie Literatur sind allein insofern wissenschaftlich beobachtbar, insofern sie Kommunikationen sind (womit übrigens nicht gesagt ist, dass sie nichts als Kommunikationen seien). Solcher Beobachtung zeigen sie sich zugleich allerdings als Grenzfälle von Kommunikation, als Formen der Abweichung von Alltagskommunikation: Als religiöse konstituiert und behandelt, bespricht oder adressiert Kommunikation das Andere von Kommunikation (Gott/Transzendenz, individueller Glaube/Bewusstsein), als lite-
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rarische funktioniert sie über ästhetische Differenz beziehungsweise poetische Selbstreferenz. Diese Herausgehobenheit beider Relate scheint mir verständlich zu machen, dass das Verhältnis von literarischer und religiöser Kommunikation stets – jedenfalls an jenen Manifestationen, die, wie die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen, nicht gesellschaftlichen Subsystemen mit je spezifischem Funktionsprimat zugeordnet werden können – prekär und analytisch schwierig erscheint: Es handelt sich um eine Relation, die nicht unter Absehung von einem Dritten, ich nannte es: Alltagskommunikation, beschrieben werden kann. Sie ist daher durch komplexe Übergängigkeiten gekennzeichnet: pragmatische Verschränkungen, semantische Ausbeutungs- oder Anreicherungsverhältnisse, strukturelle Homologien unterschiedlichster Art. Sie aber sind begrifflich schwer zu fixieren, weil stets differenziell als das Eine oder das Andere zu fassen wäre, was in der europäischen Vormoderne vor allem im Modus des Mehr oder Weniger vorliegt. Solches kann ein systematischer Ort von Metaphern sein, die auch deswegen hilfreich sind, weil sie auf Strukturmerkmale der Relationen von literarischer und religiöser Kommunikation aufmerksam machen können: Oszillieren, Wechselspiel, Hybrid, Mischung oder Verwilderung haben sich in den Vorlagen und Diskussionen des hier dokumentierten Symposions vielfach als solche leistungsfähigen Metaphern angeboten. Und sie haben sichtbar gemacht, dass die vormodernen Relationen von literarischer und religiöser Kommunikation weder gleichseitig noch einfach asymmetrisch sind: Jene hat es durchaus nicht stets mit der Kommunikation des Unkommunizierbaren zu tun; diese muss im Spannungsfeld von radikalisierter (zum Beispiel: Theologie, Mystik) und entradikalisierter Transzendenz (etwa die magische Devotionspraxis ,vor‘ dem Kultbild) Plausibilität organisieren für anderweit Paradoxes (wie Trinität, Jungfrauengeburt oder den gekreuzigten Gottessohn). Das Verhältnis von literarischer und religiöser Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit stellt sich also nicht als systematisch geklärte (oder klärbare) Zwei-Seiten-Form dar. Die Relate werden vielmehr von einer – ohne das Oxymoron geht es nicht –,unscharfen Grenze‘ auseinandergehalten und aufeinander bezogen. Und alles, was dem Symposion zum Thema wurde, Texte, Bilder und Praktiken gleichermaßen, arbeitet an der Produktion dieser Grenze wie zugleich ihrer Unschärfe. Das heißt übrigens, dass es im historischen Feld selbstverständlich keine unabhängige externe Beobachterposition geben kann, auch nicht diejenige des dogmatischen Diskurses, deren Wissen von der Objektebene
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dieses Symposions auf dessen Analyseebene herüber genommen werden könnte. Es geht ja vielmehr auch um die Voraussetzungen einer solchen Position, für welche in der Tradition der Name Gottes steht, und um deren kommunikative Produktion. Und es ging dem Symposion um die Irritation und Komplexisierung solcher sehr abstrakten Konzepte durch geschichtliche Empirie sowie schließlich darum, die dramatischen Wandlungsprozesse in Mittelalter und Früher Neuzeit in den Blick zu bekommen, jenen Umbau der Differenzierungs- und Hierarchisierungsmuster vormoderner epistemischer und institutioneller Ordnungen, ohne welchen diese keineswegs so kategorisiert werden könnten, wie es hier geschieht: eben als vormoderne. Hier wie schon in der Ausschreibung des Symposions ist eine Theoriesprache gewählt, die überwiegend von den Begriffen ,Kommunikation‘, ,Religiosität‘ und ,Literarizität‘ her organisiert ist. Dies setzt eine Reihe, hier vorwiegend differenztheoretischer Vorentscheidungen voraus, die man nicht teilen muss. Es gibt zu dieser Begriffssprache und Problemexplikation Alternativen. Eine ganze Reihe solcher Alternativen kommt in den Beiträgen des Symposions zur Sprache. Es ist in ihnen nicht nur von Literarischem und Religiösem die Rede, sondern auch von Profanem und Sakralem, von Weltlichem und Geistlichem, von Ästhetischem und Transzendentem, von Textuellem und Rituellem oder von Laien und Klerikern, von den Feinen und den Frommen. Solche Begriffspaare verhalten sich durchaus nicht symmetrisch zueinander. Sie besitzen höchst unterschiedliche theoriegeschichtliche Voraussetzungen, fokussieren verschiedene diskursive Textebenen und nicht-diskursive Praxisdimensionen. Ihnen eignet vermutlich je spezifische analytische Aufschlusskraft. Diese allerdings braucht es auch. Denn die Vielfältigkeit der konzeptuellen Optionen verweist wie auf die Ausdifferenzierung des theoretischen Feldes auf die Komplexität des zentralen Problems, der Relationen von literarischer und religiöser Rede und Praxis in Mittelalter und Früher Neuzeit. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen haben Alois Hahn, Andreas Höfele, Gert Melville, Bruno Quast und ich einen Ausschreibungstext entwickelt,5 der in seinem konzeptuellen Hauptteil wie folgt lautete: 5
Er wurde publiziert als Ankündigung eines Symposions „Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 134/2005, S. 138 – 142; Deutsche Vierteljahrsschrift, 79/2005, S. 160 – 166; Zeitschrift fr
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Was die Literaturwissenschaft als ,Literatur‘ kennt (und in der Überlieferung als solche erkennt), funktioniert und profiliert sich im Mittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein überwiegend in Beziehungen mit religiöser Kommunikation sowie als Ausdifferenzierung ihr gegenüber; und dies in semantischer wie wissensgeschichtlicher, kommunikationspragmatischer, medienanthropologischer, funktionaler, personeller oder institutioneller Hinsicht. Das Problemfeld „Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit“ ist literarhistorisch zentral wie zugleich theoretisch-methodologisch anspruchsvoll. Es eignet sich daher in besonderer Weise dazu, den aktuellen Problem-, Theorie- und Methodenstand der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung exemplarisch zu resümieren und in interdisziplinärem Horizont weiterzuentwickeln.6 Als liturgische Rede oder individuelle Zwiesprache mit Gott, als Prophetenwort, Bekenntnis oder Predigt, als Schriftauslegung, Doxologie oder Zungenrede, als Beschwörung, Segen oder Verstummen: Religiöse Kommunikation (im hier gemeinten Sinne) hat es in jedweder Form mit dem Unterscheiden von Immanenz und Transzendenz zu tun, also auch mit der Bewältigung oder Herstellung von Unverfügbarkeiten. In einer letzten Steigerungsform solcher Unverfügbarkeit mag religiöse Kommunikation sich selbst zum Kriterium der Differenzierung von Immanenz und Transzendenz machen können: Sie wird dann behaupten, daß das Transzendente nicht kommunizierbar sei (oder doch lediglich als Unkommunizierbares), und sie wird behaupten, daß es auch seinerseits nicht – jedenfalls: nicht mehr – kommuniziere (oder doch allein in einer Weise, die sich von aller Kommunikation unterscheidet). Wenn sie an dieser Stelle nicht radikal verstummen will (oder etwa auf Kommunion umstellt, die freilich ihrerseits ohne liturgische Rede nicht zu haben ist), dann berührt religiöse Kommunikation sich hier mit solchen Formen von Rede, die in der Germanistik als ,Literatur‘ klassifiziert werden. Zugleich sind mit Blick auf die ,Ursprünge‘ der Poesie (ihre Ausdifferenzierung gegenüber dem Enthusiasmus) auch in historischer Hinsicht die Nexus von literarischer und religiöser Kommunikation ohne weiteres einsichtig. Daß sie für literarische Kommunikationen auch in den nachantiken europäischen Volkssprachen auf lange hin fundierend bleiben, dürfte sich nicht bestreiten lassen. Doch unterliegen die komplexen Beziehungsmuster von literarischer und religiöser Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit tiefgreifenden historischen Wandlungen – und dies, obwohl hier religiöse Wissens- und Kommunikationsordnungen noch keineswegs insgesamt und als solche in Frage gestellt werden können. Die Prozesse solchen historischen Wandels sind indessen so uneinheitlich, daß ein Richtungssinn sich allenfalls aus der Ferne und auf hohem Vereinfachungsniveau herauspräparieren ließe (er könnte dann
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deutsche Philologie, 124/2005, S. 155 – 159; Zeitschrift fr Literaturwissenschaft und Linguistik, 35/2005, S. 173 – 178. Die Entwicklung dieses Diskussionsstandes in den zurückliegenden Jahren kann an den DFG-Symposien „Literarische Interessenbildung im Mittelalter“ (1991), „,Aufführung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit“ (1994) sowie „Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450“ (2000) prägnant abgelesen werden.
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unter anderem ,Entzauberung‘, ,Säkularisierung‘, ,Rationalisierung‘ oder ,Modernisierung‘ heißen). Besonders herausfordernd sind aber die Nahsichten: vor allem auf solche historischen Felder, in denen die (Spannungs-)Konstellationen von literarischer und religiöser Kommunikation eben nicht oder erst ansatzweise auf dem Strukturierungsniveau autologischer gesellschaftlicher Funktionssysteme ,Literatur/Kunst’ und ,Religion‘ behandelt werden. Diese Felder könnten in der deutschen Literaturgeschichte in chronologischer wie zugleich auch in systematischer Hinsicht beispielsweise von den Merseburger Zaubersprüchen einerseits und Klopstocks „Messias“ andererseits abgegrenzt werden. Gerade eine solche historische Akzentuierung – die sich also nicht an den Teilfachgliederungen der germanistischen Literaturwissenschaft, sondern an systematischen Interessen orientiert – kann das Symposion mit fruchtbaren Forschungsproblemen ausstatten. Im systematischen Zentrum des Symposions sollen einerseits die Übergangszonen zwischen Ungeschiedenheit und Ausdifferenzierung von literarischer und religiöser Kommunikation stehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient andererseits auch deren Phänomenalität: Dabei soll es nicht zuletzt um Formen der Transgression jener Unterscheidung gehen, welche die religiöse Kommunikation zugleich (immanent) konstituiert, also um gleitende Übergänge oder radikale Über-Sprünge in die Transzendenz, um Gegenwärtigkeiten des Absenten und Präsenzeffekte des Repräsentationellen – kurz, um das Andere der Kommunikation. Schließlich sind drittens die Geltungsansprüche und Sozialdimensionen von literarischer und religiöser Kommunikation (ihre Institutionalität) zu diskutieren, wobei eine Leitfrage diejenige sein mag, wie literarische Kommunikation Geltung beanspruchen und funktionieren kann unter den immer auch in religiöser Kommunikation reproduzierten Bedingungen solcher kulturellen und epistemischen Ordnungen, welche (in historisch sich verändernder Weise) über verlässliche metaphysische Weltdeutungen verfügen und daher explizite Letztbegründungen bereithalten sowie legitime Pluralitäten von Geltungsfonds ausschließen. In vier Sektionen eröffnet das Symposion Zugänge zu dem skizzierten Problemraum. Seine Vorbereitung und Durchführung übernehmen Alois Hahn, Andreas Höfele, Gert Melville, Bruno Quast und Peter Strohschneider. Für die vier Sektionen schlagen die Kuratoren die folgenden Themen und Arbeitsfelder vor; dabei sind die Stichworte als heuristische Vorgaben verstanden, welche Anspruch auf Vollständigkeit nicht erheben und andere Akzentuierungen nicht ausschließen. 1. Sektion: Semantiken – Diskurse – Konzepte Leitung: Alois Hahn (Trier) Religiöse Kommunikation, literarische Kommunikation und Individualität (Radikalisierung der Unverwechselbarkeit des Einzelnen) – Generatoren von Individualität: Liebe, Sünde, Heldentum, Heiligkeit – Wechselseitige Thematisierungen und gepflegte Semantiken, reziproke Autonomisierungen (bzw. Heteronomisierungen) sowie Logiken der Kontaktvermeidung zwischen religiöser und literarischer Kommunikation – ,Ich‘ und Gott, die/der Geliebte, der
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Freund (mystische Offenbarungen, Epiphanien, Gewissen, Geheimnis) – Redeund Schweigegebote und -verbote – Umbesetzungen (H. Blumenberg) und ›Zirkulationen‹ (S. Greenblatt) von strukturellen Mustern und Semantiken zwischen religiöser und literarischer Kommunikation – Mythos und (Heils)Geschichte – (Göttliche) Offenbarung und künstlerische Inspiration – Generell: Theorieprobleme dichotomischer Konzeptualisierung von literarischer und religiöser Kommunikation in den Mediävistiken 2. Sektion: Rede – Text – Schrift Leitung: Bruno Quast (Konstanz) Bildliche und textuelle Symbolisierungen von Kult und Kunst – Macht der Dinge, Kraft des Wortes: Magie und Aura literarischer und religiöser Kommunikationsmedien – ›Kompaktheit‹ (E. Voegelin) vormoderner Kommunikationsformen – Gegenwart des Erzählten oder Besungenen im Erzählen oder Singen – Schrift und Codex als Medien der Nahkommunikation – Heilige Sprachen, heilige Texte, heilige Schriften (und deren Profanierungen) – Schreiben zwischen Partizipation und Mimesis – Texthermeneutik (ruminatio und Lektüre, Teilhabe und Auslegung) – Evolutionäre Verschiebungen (Übergang zur Volkssprache, Buchdruck, Reformation) 3. Sektion: Kommunikative Instanzen und Institutionalisierungen Leitung: Gert Melville (Dresden) Träger und Trägergruppen literarischer und religiöser Kommunikation: religiöse Virtuosität (erlernte, spontane usw.) und ästhetische Virtuosität (Meisterschaft) – Virtuosität und diskursive Vorgaben (Stiftung, Abbruch, Fortsetzung) – ,Ich‘ und Gemeinschaft – Ordnungen und Symbolisierungen von Räumen (Kloster und Hof, Schule und Kirche, öffentliche und nicht-öffentliche Räume, sakrale und profane Kommunikationsorte, Innen- und Außenräume) – Topologien der domus interior – Ordnungen und Symbolisierungen von Zeitlichkeit und Ewigkeit (sakrale Zeitstrukturen, Mußestunden) – Institutionalisierte Kommunikationsregeln, -verfahren, -symbole, -rituale, -muster – Geltungsprobleme und Legitimationsstrategien von religiöser und literarischer Kommunikation: Geltungsgefälle von Kommunikationsakten und Kommunikationsinhalten – Kanonisierung und Entkanonisierung – gegenseitige (De)Valuierung und (De)Legitimierung von literarischer und religiöser Kommunikation (z. B. klerikale Kritik des Theaters, reformatorische Messpolemik) – Heiligung, Charismatisierung, Auratisierung, Profanierung 4. Sektion: Performative Praxis Leitung: Andreas Höfele (München) Formen und Medien des Performativen: Kultus, Spiel, Ritual, Ekstase, Gebärde – Performativer Vollzug (,enactment‘) und Repräsentation / Mimesis – Phänomenalität und Diskursivität – Performative ,Verkehrsregelungen‘ zwischen Immanenz und Transzendenz in religiösen und literarischen Inszenierungen – Rhetoriken imaginativer Performanz – Performanz als Wiederholung und Variation (Ritus und Topos) – Mittelalterliches Spiel und frühneuzeitliches
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Theater: Verweltlichung des liturgischen Spiels oder Sakralisierung des weltlichen Raums? – Inszenierung und Identität: religiöses Dogma und literarische Subjektkonstitution – Nicht-sprachliche Dimensionen literarischer und religiöser Kommunikation – Verkörperungsakte und Verkörperungsbedingungen – Performanz als ,Produktionsmittel‘ von Affekten (Konversion, Frömmigkeit, Leidenschaften, ,katharsis‘, Ekstase, ,Efferveszenz‘) – Ereignishaftigkeit und Erlebnis – Verstummen
Im Sommer 2005 wählten die Kuratoren aus 75 Vorschlägen 27 Symposionsbeiträge aus. Dass Beate Kellner, Susanne Köbele und Klaus Grubmüller aus persönlichen Gründen gehindert waren, an den Diskussionen in der Villa Vigoni teilzunehmen, habe nicht nur ich sehr bedauert. Ihre wie aller anderen Beiträger Vorlagen werden – mit einer Ausnahme – gemeinsam mit den Sektionseinleitungen der Kuratoren sowie knappen Diskussionsberichten im vorliegenden Band dokumentiert. Diese Beiträge decken, anders könnte es schwerlich sein, das von der Ausschreibung abgesteckte Feld möglicher Fragestellungen keineswegs gleichmäßig ab. In ihrer Mehrzahl stammen sie aus der Germanistik, doch lassen zugleich die Brückenschläge zur Anglistik und Romanistik, zur Geschichtswissenschaft und Soziologie, zur Theologie, Kirchengeschichte und Kunsthistorie jene Erkenntnisgewinne hervortreten, welche sich aus interdisziplinärer Kooperation dann ergeben mögen, wenn diese nicht in wissenschaftspolitischen Vorgaben, sondern in den Gemeinsamkeiten systematischer Problembezüge ihren Grund hat. Die Regeln der Germanistischen Symposien der DFG sahen eine Publikation der Beiträge in Jahresfrist vor. Daran gemessen erscheint der vorliegende Band mit merklicher Verspätung. Diese ergab sich nicht zuletzt aus den wissenschaftspolitischen Verpflichtungen, welche mir seit der Planung des Symposions zugewachsen sind, und ich bitte alle Beiträger für diesen Verzug um Nachsicht. Um so mehr habe ich vielfältige Veranlassung, mich zum Abschluss dieses Projektes sehr zu bedanken: bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und bei Wolfgang Adam, Ingrid Kasten sowie Ralf Schnell, den Mitgliedern ihres damaligen Ausschusses für die Germanistischen Symposien, für konstruktive Beratung und finanzielle Förderung; beim Deutsch-Italienischen Zentrum und den Mitarbeiterinnen der Villa Vigoni für die so heitere wie produktive Atmosphäre leuchtender Herbsttage; beim Verlag Walter de Gruyter, vertreten durch seinen rührigen Lektoratsleiter für Germanistik Heiko Hartmann, für Beweise von Engagement und Verlässlichkeit, wie sie zu Zeiten des durchgreifenden Wandels im
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wissenschaftlichen Publikationswesen gewiss nicht häufiger werden. Sodann danke ich Alois Hahn, Andreas Höfele, Gert Melville und Bruno Quast für ihr freundschaftlich kollegiales Mittun; den vier Redaktoren für ihre Mühewaltung weit über die Diskussionsberichte hinaus; und schließlich besonders herzlich Marion Oswald, Stephanie Seidl und Christine Stridde, ohne deren unverdrossenes Engagement die herausgehobenen Tage in der Villa Vigoni nicht hätten gelingen können und das Manuskript dieses Bandes im Meer der Alltagsgeschäfte gewiss untergegangen wäre. München, im Frühjahr 2008
Peter Strohschneider
I. Sektion: Semantiken – Diskurse – Konzepte
Einleitung Alois Hahn Die Grundideen, die der Planung des Kolloquiums zugrunde lagen, sind in dem Vorbericht von Peter Strohschneider noch einmal dargestellt. Ich will nun versuchen, so zu tun, als wären die Beiträge dieser Sektion Kapitel eines Buches, die sich ganz streng an die dort umrissenen systematischen Vorgaben halten. Ob damit bloß eine Kohärenzfiktion lanciert wird, mag der Leser entscheiden. Auch bitte ich für den Fall, dass Beiträge in dieser Einleitung in der einen oder anderen Weise missverstanden sein sollten, dies nicht als Zeugnis bösen Willens, sondern einer strukturbedingten Ignoranz eines Fachfremden zu interpretieren und nachsehen zu wollen. Es ist gleichwohl nicht zu leugnen, dass die einzelnen Beiträge sich jenem Imperialismus der Systematisierung in unterschiedlicher Weise fügen, so dass sogleich eine zweite Entschuldigung fällig wird: Die Vorlagen, die eher als glänzende ,Solitäre‘ philologischer Exzellenz strahlen, werden von mir etwas stiefväterlich behandelt, wenn sie sich allzu sehr gegen das Prokrustesbett meiner soziologischen Idiosynkrasien sträuben.1 Aber die Texte sind ja hier abgedruckt, und die durch sie angeregte Diskussion ist dokumentiert. Ich beginne bei dem Beitrag von Klaus Hempfer. Da scheint mir jedenfalls die kritische ,Folgsamkeit‘ gegenüber den Vorgaben des Symposions ganz besonders liebenswürdig eingehalten zu sein. Deshalb widme ich mich ihm auch mit besonderer Ausführlichkeit. Hempfer beginnt seine Überlegungen mit einem Hinweis auf Epochenkonzepte 1
Das trifft vor allem zu auf den Beitrag von Andreas Kablitz, den ich hier nicht recht in meine Systematik integrieren konnte. Als Entschädigung kann ich nur anbieten, dass ich eines seiner zentralen Argumente immer wieder in meiner Darstellung verwende, nämlich die Idee, dass literarische Texte sich von anderen durch ihr Verhältnis zu ihren Referenten unterscheiden. Damit ergibt sich ihre wenn auch nie völlig konfliktfreie größere Freiheit. Daraus resultiert auch die Tatsache, dass hier Möglichkeiten entworfen werden können, die jenseits der Texte nicht ernsthaft diskutiert werden dürfen, aber möglicherweise ein Innovationspotenzial darstellen, auf das erst zukünftige Generationen zurück kommen können: Literatur ist der privilegierte Ort für „preadaptive advances“: die schönste Nische der Welt.
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und die Problematik, die damit verbunden sein kann. Alle ,Epochenbehaupter‘ gehen typischerweise von epochalen Emergenzen aus: Es gibt jetzt zum ersten Mal ,X‘, und ,Y‘ gibt es jetzt nicht mehr. Hempfer greift in diesem Kontext zunächst Foucault auf (und an), der ja bekanntlich seine Epocheneinteilungen an Epistimeschranken2 festgemacht und der Vorklassik das Prinzip der Ähnlichkeit (ressemblance) als Typusmerkmal zugeschrieben hatte. Und nun macht Hempfer geltend, dass das für die frühe Neuzeit gerade nicht mehr stimme, dass das analogische Denken ab 1500 nicht mehr Bestandteil der dominanten Episteme sei. Er weist zunächst auf Bembos Dialog Asolani von 1505 hin, in dem bereits am Beispiel divergenter Liebeskonzeptionen vorgeführt werde, dass eigentlich das Schema der ressemblance hier keine epistemische Bedeutung mehr habe, wenn es auch noch argumentativ genutzt werden könne: Damit ist es aber nicht mehr episteme im Sinne Foucaults, nicht mehr unhintergehbare Voraussetzung allen Denkens und Erkennens, sondern nur mehr eines von mehreren möglichen ,Denkmodellen‘ und damit selbst Gegenstand des Erkenntnisprozesses, der seinerseits notwendig auf anderen Voraussetzungen – wie ich glaube – einer episteme der Pluralität – basiert (S. 186).
Es gibt demnach mehrere Diskurslogiken, die nebeneinander stehen und die nicht ohne weiteres hierarchisiert werden können. Diese Ausgangsthese sucht Hempfer in einem historisch-systematischen Durchlauf zu veranschaulichen. Er geht dabei aus von Dante. Dort finde sich selbstredend eine Ausdifferenzierung der poetologischen und der theologischen Diskurse. Bei Dante stünden diese verschiedenen Diskurse aber nicht einfach nebeneinander, sondern sie seien hierarchisiert. Die Hierarchisierung erfolge ganz eindeutig so, dass über 2
Dass übrigens in der Romanistik bei Auerbach ähnliche Auffassungen artikuliert wurden, hat Ulrich Schulz-Buschhaus in einem kurz vor seinem Tod erschienenen Aufsatz hervorgehoben: „Entscheidend erscheinen ihm [Auerbach] […] die grundsätzlich verschiedenen ,Kulturformen und Epochen‘, deren umfassende mentalitätenprägende Kraft er gelegentlich in Anlehnung an Vico derart unterstreicht, daß man versucht ist, an Foucaults Konzeption einer jeweils epochenkonstitutiven Episteme zu denken. Natürlich weiß auch Auerbach, daß es zwischen den ,Kulturformen oder Epochen‘ Kontinuitäten und Übergänge gibt; doch dramatisiert werden von ihm immer wieder die Differenzen, die er zumal in Mimesis […] als Brüche in Szene setzt“ (Ulrich SchulzBuschhaus, „Curtius und Auerbach als Kanonbildner“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 51/2001, S. 199 – 215, hier S. 211).
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Differenzen zwischen den von verschiedenen Diskursen erzeugten Wahrheiten entschieden werden könne und die Theologie dabei die entscheidende Rolle spiele. Die ,Sünde‘, der sich Foucault also (nach Hempfer) schuldig macht, ist die, dass er nicht erkennt, dass die Episteme der Ähnlichkeit nicht erst im 17. Jahrhundert, sondern bereits viel früher, spätestens seit dem 16. Jahrhundert und in Ansätzen bereits im 14. nicht mehr dominant ist. Ich habe diesen Typus der Argumentation an anderer Stelle als „historische Vorverlegung des Explanandums“ bezeichnet. Denn seit mehr als hundert Jahren wird in den Geschichts- und Sozialwissenschaften – also längst vor Foucault – darüber gestritten, ob es eine kategorial bestimmbare deutliche Kluft gibt, die die Moderne von früheren Epochen trennt, wo dieser Einbruch historisch zu lozieren wäre und an welchen religiösen, philosophischen oder institutionellen Wandlungen er sich manifestiert. Man denke etwa an die Burckhardtsche These von der Entstehung des modernen Individualismus im Kontext der Kultur der Renaissance, die schon Gilson und mit ihm andere Mediävisten agacierte: Sie bleibt als Interpretationsfigur offenbar lebendig, auch wenn noch so viele Einzelinterpretationen den angeblich modernen Individualismus an Gestalten des 12. Jahrhunderts aufweisen. Das Muster der Gegenargumentation folgt jeweils einer bestimmten Strategie, die man am Beispiel der Burckhardtschen These gut illustrieren kann: Er hatte etwa aus dem Fehlen von im modernen Sinne biographischer Literatur im Mittelalter auf ein entsprechendes Defizit an Interesse für Individualität geschlossen, ohne dabei einzelne seiner These widersprechende Ausnahmen zu übersehen. So verweist er ausdrücklich auf die Biographie des Heiligen Ludwig von Joinville. Aber solche Eingeständnisse tangieren für ihn seine These nicht. Die Gegenposition verlegt sich aber gerade auf diese Gegenbeispiele und wertet sie auf. Bei radikaler Anwendung solcher Verfahren lassen sich dann überhaupt kaum noch epochale Unterschiede mehr feststellen, die Zäsur zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit wird dann allenfalls als heuristisch bequeme Fiktion akzeptabel. So schreibt Gilson mit Bezug auf die Burckhardtsche These: Devant un tel désaccord des faits et de la théorie, on pourrait croire que la théorie consentira enfin à céder. Que l’on se détrompe, et c’est ici qu’en vérité nous atteignons le nœud du problème. L’interprétation de la Renaissance et du Moyen Age que nous avons sous les yeux n’est aucunement […] une hypothèse historique justiciable des faits. C’est un mythe. Un
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mythe comme tel n’est pas discutable. Ce ne sont pas les faits qui la justifient. C’est lui qui dicte les faits.3
Die behauptete Epochenschwelle wird schlicht zum Mythos erklärt, weil frühere Ereignisse gefunden werden, die bei Gültigkeit der These ,eigentlich‘ erst später auftauchen dürften. Die Antwort darauf ist in der Regel die, dass man die Vergleichbarkeit der als Falsifikation herangezogenen Fakten in Zweifel zieht: Kann man wirklich Augustins Confessiones oder Petrarcas Secretum oder den Briefwechsel zwischen Abélard und Héloise im gleichen Sinne als Zeugnisse für Individualität deuten wie die Autobiographie Benvenuto Cellinis oder Rousseaus Confessions? Auf dieser Annahme basiert die These Gilsons, auf ihrer Bestreitung die Burckhardts. Es ist nicht ganz ohne Charme, dass Hempfer selbst, der hier die „Falsifikation durch Vorverlegung des Explanandums“ durchaus überzeugend gegenüber Foucault vorführt, in Bezug auf seine Theorien über die ,Modernität‘ der Dialogform von Peter von Moos in analoger Weise contestiert wird.4 Für die Soziologie zählt freilich weniger, wo ein Einzelphänomen erstmals auftaucht (so interessant ein solcher Nachweis auch ist), sondern wie stark seine jeweilige gesellschaftliche Relevanz ist. In der Systemtheorie steht dafür das Konzept der „preadaptive advances“ (T. Parsons): Es gibt Innovationen, die zum Zeitpunkt ihrer Erfindung sozial folgenlos oder jedenfalls nicht anschlussfähig, zumindest nicht gesamtgesellschaftlich generalisierbar sind. So kann man sehen, dass für die Sündenlehre Abélards die contritio den Schuldigen vor Gott vollständig reinwäscht.5 Die Übertragbarkeit der Intentionalitätsthese auf das Rechtswesen ließ sich erst einige Jahrhunderte später diskutieren, realisierbar ist sie auch heute nicht. Es würde also nicht reichen nach3 4
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Etienne Gilson, Hloise et Ablard, 3. durchges. Auflage, Paris 1978, S. 151. Das vielleicht massivste Beispiel dieser Art von Auseinandersetzung stellt wohl die Attacke Bernhardt Königs gegen Karlheinz Stierle dar (Bernard König, „Petrarcas Landschaften“, in: Romanische Forschungen, 92/1980, S. 251 – 282). Dieser hatte in Petrarca den Entdecker eines modernen Landschaftsgefühls entdeckt, das dann erst bei Rousseau wieder begegne (Karlheinz Stierle, Petrarcas Landschaften, Krefeld 1979). König hingegen wies nach, dass die vermeintlich modernsten diesbezüglichen Passagen bei Petrarca von Stierle nicht als solche entdeckte Horazzitate seien. Zu dieser These vgl. im einzelnen Alois Hahn, „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“, in: Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie, 34/1982, S. 407 – 434.
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zuweisen, dass ein bestimmtes diskursives Motiv überhaupt auffindbar ist, sondern man müsste ihm auch strukturbildende Funktionen unterstellen können. Das berühmteste Beispiel für ein solche ,Errungenschaft‘ wäre etwa in Max Webers Theorie des Mönchstums (nicht nur des europäischen) zu sehen. Alles, was er an charakteristischen religiös motivierten Selbstdomestikationsleistungen und rationaler Affektkontrolle, Zeitdisziplin und wirtschaftlicher Effizienz bei den Calvinisten identifiziert, weist er als Grundmuster mittelalterlicher mönchischer Lebensführung auf. Die Bedeutung des asketischen Protestantismus liegt also nicht darin, dass hier erstmals eine sonst nicht vorfindbare Lebensform zum historischen Vorschein kommt, sondern darin, dass sie in einer Gestalt auftritt, die sie im Kontext gleichzeitiger, aber völlig anderer Entwicklungen gesellschaftsweit generalisierbar macht. Der ,takeoff‘ ist also weniger (wenn überhaupt) Folge der Evolution eines Einzeldiskurses, sondern der aus der Perspektive der einzelnen Diskursformationen ,zufälligen‘ Konvergenz heterogener Entwicklungen. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen wird an bestimmten ,Sattelstellen‘ unterbrochen und produziert Mutationen der Gesamtlage durch intersystemische Synchronizitäten, die es erlauben, vorher ,fremde‘ Diskurse (wie modifiziert auch immer) einzubauen, zu ,nostrifizieren‘. Man könnte auch sagen, dass bestimmte Denkfiguren, Diskursgestalten, Lebensformen oder organisatorische Errungenschaften sich zuvor nur in Nischen etablieren. Ob sie darüber hinaus wirksam werden, hängt aber von Faktoren ab, die unter Umständen mit dem, was in diesen Nischen sich abspielt, nichts zu tun hat. Doch kehren wir zurück zu Hempfers Argumentation im einzelnen, so kann er in der Tat eine Entwicklung vom Ähnlichkeitsmodell zum Prinzip der Pluralität von Dante über Petrarca zu Ariost plausibel machen: In Dantes Vita Nova (die im Convivio 6 verteidigt wird) wird ein Liebeskonzept entwickelt, das zwar ausgeht von der erotischen Liebe zu einer Dame, gleichwohl sich darauf nicht beschränkt. Die reale irdische Liebe hat eine Analogfunktion für die göttliche Liebe, für die Liebe im theologischen Sinne. Die irdische Liebe ist in diesem Sinne eine figura der himmlischen, so wie das Alte es für das Neue Testament ist. Insofern fügt sich Hempfer ein in die von Auerbach initiierte Figural-Deutung 6
Zur diskurslogischen Deutung des Convivio gerade auch unter dem Aspekt von durch ,Poetisierung‘ ermöglichtem Pluralismus vgl. den Beitrag von Andreas Kablitz in diesem Band.
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Dantes7: Man kann Liebesgedichte schreiben. Aber selbst wenn sie noch so persönlich klingen, selbst wenn sie noch so biographisch verankert zu sein scheinen, das wirklich Entscheidende ist gerade nicht das, was sie an Irdischem haben, sondern ihre ,Hinführungswirkung‘ zum Sakralen, oder wie Hempfer sagt: Die Liebeslyrik überführt den „[…] sensus litteralis der ,Liebesgeschichte‘ in einen sensus tropologicus“ (S. 194), indem sie den Weg der einzelnen Seele zum Heil durch die richtige Liebe zur Dame vorführt. Demnach wäre die Engführung von literarischem und religiösem Diskurs in der Vita Nova dadurch geleistet, dass das Schriftsinnschema als Auslegungsverfahren zum Verfahren der Textproduktion selber wird. Der literarische Diskurs wird also letztlich durch seine Integrierbarkeit in den theologischen legitimiert. Das gilt analog auch für andere nicht-theologische Diskurse. Hempfer führt in diesem Kontext etwa die mittelalterlichen kosmologischen Kontroversen an. Für Dante entscheidet sich die Akzeptabilität der jeweiligen Propositionen je nach der Kompatibilität mit den kirchlichen Positionen: […] secondo che la Santa Chiesa vuole, che non pu dire menzogna (Convivio, III, IV, 10). Ich merke an, dass hier im Grunde für das Verhältnis von religiösen und literarischen Diskursen etwas Ähnliches vorliegt wie etwa für die Beurteilung der Differenz der Diskurse von Philosophie und Theologie, wie sie 1277 im Regionalkonzil von Sens zur Sprache kam und mit der Verurteilung des lateinischen Averroismus endete. Ausgangspunkt des Konflikts war, dass die philosophischen Diskurse eine Wahrheit produzierten, die den Aussagen der Theologie widersprachen. Eine der Lösungen des Problems wurde bekanntlich von Siger von Brabant vorgeschlagen: Man muss dann eben mit doppelten Wahrheiten leben. Wichtig bleibt lediglich, für welche „finite province of meaning“ (A. Schütz) welche Wahrheit in Anspruch genommen wird. Man könnte auch das als einen „preadaptive advance“ bezeichnen. Denn bei vollendeter Ausdifferenzierung von funktionalen Subsystemen wird man sich auf „Interdependenzunterbrecher“ (W. R. Ashby) verlassen können, die solche Inkompatibilitäten entschärfen. Aber eben das konnte die Kirche im 13. Jahrhundert nicht durchgehen lassen: Hierarchisierung der Diskurse nicht anzuerkennen, bedeutete Häretisierung. Vor allem seit Blumenbergs Interpretation des Regionalkonzils von Sens hat man immer wieder auf die von diesem ermöglichte Plurali7
Vgl. hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus, „Erich Auerbach und die Literaturwissenschaft der neunziger Jahre“, in: Sprachkunst, 30/1999, S. 97 – 119, hier S. 106 – 111.
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sierung der Diskurse hingewiesen, falls man die Position des Nominalismus akzeptierte. Nur wenn man die mit der Theologie nicht kompatiblen Einsichten (z. B. in der Naturbeobachtung) für theologisch und damit existentiell für unerheblich erklärt, kann man sie zulassen. Sie schaden dann zwar nicht dem Heil, führen aber auch nicht zu ihm hin. Sie sind durch ihre theologische Adiaphorisierung gleichsam ,entschärft‘. Vielleicht könnte man auch sagen, die kosmologischen Theorien werden wie Poesie, wie Musikbeispiele behandelt, die fürs Heil nicht mehr verschlagen. Warum sollte man sich ihretwegen echauffieren? Oder, um mich auf den Beitrag von Andreas Kablitz zu beziehen, sie werden ihres (in diesem Falle heilsrelevanten) referenziellen Mehrwerts entkleidet. Man hat immer wieder darauf hingewiesen, dass genau dies der These des Heiligen Thomas widersprochen habe, der gerade von der Relevanz der Welterkenntnis für die Gotteserkenntnis ausgegangen sei. Man verweist dann stets auf die berühmte Stelle in der Summa contra gentiles, II,3: Sic ergo patet falsam esse quorundam sentiam qui dicebant nihil interesse ad fidei veritatem quid de creatura quisque sentiret, dummodo circa Deum recte sentiatur […]. Nam error circa creaturam redundat in falsam de Deo sententiam, et hominum mentes a Deo abducit […].
Die häufige Interpretation dieser Stelle, die davon ausgeht, dass man folglich nach Meinung des Autors die Schöpfung genau untersuchen müsse, um sich nicht in einen Irrtum über Gott zu verstricken, übersieht aber, dass auch die heilsrelevanten Wahrheiten über die Welt nach Thomas von Gott offenbart sind. Er verwendet das ganze vierte Kapitel des ersten Buches der Summa contra gentiles darauf zu zeigen, warum auch Wahrheiten, die an sich der Vernunft zugänglich sind, zusätzlich noch offenbart sind. Denn die menschliche Vernunft bleibt stets fehlbar und widersprüchlich: Sicherheit geben nur die Offenbarung und die autorisierte Tradition der Kirche. Die im Selbstbewusstsein der Wissenschaft des 16. Jahrhunderts sichtbare Revolution liegt also in der Verweltlichung der Quellen für heilsrelevante certitudines oder – wenn man so will – in der Resakralisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn Galilei seine eigene Meinung in Dialogen rhetorisch als bloß relativ camoufliert, so ändert das nichts an seinem – auch gegen die Kirche behaupteten – Wahrheitsanspruch. Das scheint das Heilige Offizium damals besser verstanden zu haben als manche modernen relativistischen Galilei-Interpreten. Mit besonderer Eindringlichkeit hat Benjamin Nelson auf diese Tatsa-
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che verwiesen: „[…] Far from being nonconformist sceptics intent upon destroying the superstition of the unlettered, the pioneers of modern science and philosophy were ardent searchers after ‘truth’, questing for subjective certitude grounded in objective certainties.“8 Die Kirche hatte ja die heliozentrische These solange nicht verworfen, wie sie nicht mit dem Anspruch auf kosmologische Wahrheit vertreten worden war. Die Verurteilung Galileos hatte also ein neues Selbstbewusstsein der Naturwissenschaft zur Voraussetzung. Verurteilt wurde eigentlich gar nicht der Naturwissenschaftler als solcher, sondern der Naturforscher, der für seine Funde theologische Argumente mit heranzog, der religiöse Relevanz für seine Forschungen reklamierte und der – den Blick zu den Sternen gerichtet – eine Gewissheit in Anspruch nahm, die gerade nicht probabilistisch restringiert war. Bei Galilei findet sich eben nicht die Fortsetzung nominalistischer Trivialisierung9 weltlicher Diskurse gegenüber der Religion. Die Naturwissenschaft tritt selbst als Offenbarungsquelle auf.10 Dies muss man wohl im Auge behalten, wenn man die von Hempfer beobachtete Verschiebung des Verhältnisses von theologischen und literarischen Diskursen von Dante zu Petrarca beurteilen will. Bei Petrarca werden zwei Liebeskonzepte vorgestellt. Das eine, das im Grunde so wie Dante argumentiert und ein anderes, das im Secretum von 8 Benjamin Nelson, „,Probabilists‘, ,Anti Probabilists‘ and the Quest for Certitude in the 16th and 17th Centuries“, in: Proceedings of the Xth International Congress of the History of Science, Paris 1965, Bd. I., S. 265 – 285, hier S. 269. 9 Zum hier intendierten Verständnis von „Trivialisierung“ vgl. Friedrich H. Tenbruck, „Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß“, in: Nico Stehr/René König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologische Studien und Materialien, Opladen 1976, S. 19 – 47. 10 Vgl. hierzu die gegen Pierre Duhem gerichteten Argumente von Edward Grant, der zeigt, dass die frühneuzeitlichen naturwissenschaftlichen Diskurse, selbst wenn sie formal als Dialoge auftreten, sich diametral von spätmittelalterlichen, am Nominalismus orientierten Relativismen unterscheiden: Die Intention ist dogmatisch: Die Hierarchisierung der Diskurse – diesmal zugunsten der nicht von der Santa Chiesa gesteuerten – verbirgt sich lediglich hinter der Dialogform, was angesichts der real existierenden Machtverhältnisse durchaus verständlich ist: „Despite the significant achievements of medieval Science […] it is doubtful that a scientific revolution could have occurred within a tradition which came to emphasize uncertainty, probability and possibility, rather than certainty, exactness and faith that fundamental physical truths – which could be not otherwise – were attainable.“ (Edward Grant, „Late Medieval Thought and the Scientific Revolution“, in: Journal of the History of Ideas, 23/1962, S. 197 – 222, hier S. 229).
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Augustinus vorgeführt wird. Es handelt sich ja auch um ein eigentlich augustinisches Konzept. Hier führt die irdische Liebe nicht durch religiöse Sublimierung zur himmlischen. Die Liebe ist Konkupiszenz und als solche heilswidrig. Nur wird bei Petrarca – im Gegensatz zur Position Dantes – zwischen diesen beiden Konzepten keine Hierarchie mehr hergestellt. Und das wird, wie ich finde, besonders eindrucksvoll vorgeführt in Hempfers Interpretation der 140. Canzone. Da wird nämlich eine Art Gerichtssituation fingiert. Die stilnovistische Liebeskonzeption und die – ich sage jetzt einmal – augustinische Konzeption treten als Plädoyers vor dem Richterstuhl der Vernunft auf. Jede möchte eigentlich, dass die jeweils eigene anerkannt wird. Aber die Vernunft? Die hält den Mund und vertagt die Antwort: Die literarische und die religiöse Auffassung können nicht mehr hierarchisiert werden. Hier hätten wir es also zum ersten Mal mit dem Auftauchen unentscheidbarer Pluralität von Diskursen zu tun. Der Höhepunkt in dieser Entwicklung ist selbstredend die von Hempfer ja vielfach behandelte Entwicklung zu den Dialogen im 15. Jahrhundert. In der hier abgedruckten Vorlage aber soll Ariosts Orlando furioso für den Abschluss dieser Entwicklung einstehen: Selbst biblisch begründete Auffassungen sind dort nicht mehr per se überzeugend. Vor allem kirchlich sanktionierte kosmologische Vorstellungen werden verspottet oder doch problematisiert. Die Wahrheit ist also auf Text angewiesen und auf möglichst guten Text. Sie ist geradezu textgeneriert. Selbst die Evangelisten sind diesem Prädikament unterworfen. Hempfer interpretiert das in dem Sinne, dass wir mit einer Art von Pluralität konfrontiert sind, die überhaupt keine Entscheidbarkeit von Wahrheit jenseits der Texte ermöglicht. Die Wahrheit ist im Text, und sie lässt sich nur über Diskurse innerhalb der Texte entscheiden. Das mag meines Erachtens für den Orlando furioso zutreffen; für die Dialoge Galileis vermutlich keinesfalls. Die im Text nicht entscheidbare Wahrheit zwischen den kosmologischen Positionen, wird eben transtextuell entschieden und zwar definitiv. Die heliozentrische These ist die wahre. Aber um das zu erkennen, bedarf es der Kunst der Lektüre eines anderen Buches, nämlich des Buches der Natur, in dem Gott sich dem mathematisch Gebildeten unmissverständlicher ausdrückt als in der Bibel.11 Es gibt also, so würde ich zu bedenken geben, nicht, wie Hempfer vorschlägt, eine geradlinige Entwicklung von Hierarchisierung zu immer mehr Pluralität. Vielmehr 11 Vgl. hierzu ausführlicher Alois Hahn, „Theorien zur Entstehung der europäischen Moderne“, in: Philosophische Rundschau, 31/1984, S. 178 – 202.
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weist die Geschichte einen ,Knick‘ auf: Bei Galilei wird trotz der Dialogform eine neue Hierarchisierung ins Werk gesetzt; nur steht nun nicht mehr wie bei Dante die Theologie im Zentrum der Hierarchie. Ich gehe nun auf die Vorlage von Burkhard Hasebrink ein, die es mit einer ganz anderen Textsorte zu tun hat, nämlich mit den Predigten von Meister Eckhart. Es geht hier nicht um die Diskussion religiöser und literarischer Diskurse. Die Predigt ist ja zunächst nicht einfach ein Schrifttext, sondern ein Element in einer Kommunikation unter Anwesenden, die durch hochgradige Formalisierung und die Integration in einen Ritus strukturiert ist. Es geht nicht um literarische Eleganz, nicht einmal um theologische Dogmatik, sondern um unmittelbare Heilsvermittlung. Predigten sind Gebrauchstexte. Zwar mag der Literaturwissenschafter hier literarische Muster als Subtext isolieren können, eine Überblendung weltlicher und geistlicher Formen feststellen, aber der eigentliche Sitz im Leben der Predigt ist, dass sie den Gläubigen helfen soll, den Weg zum Heil zu finden. Nun könnte man einwenden, die Predigten, so wie sie uns vorliegen, seien ja nachträglich abgefasste Berichte über ein Geschehen, das auf ein Ereignis lediglich verweist. Das hieße aber zu verkennen, dass der Text nicht defizitärer Abklatsch oraler ,Eigentlichkeit‘ ist. Das heilsgenerierende Wort wird auch beim Lesen akut, wie wir seit Augustins Tolle! Lege! wissen. Es kommt bei den mystischen Predigten von Eckhart darauf an, bestimmte religiöse Erlebnisse ,anzubahnen‘. Das, worum es im tiefsten Inneren eigentlich geht, ist, dass Gott selber in der Seele des Gläubigen geboren wird. Im Kontext einer eher auf liturgische Vollzüge setzenden kirchlichen Praxis ist das zumindest verdächtig, scheint es doch die Bedeutung des opus operatum sakramentaler Objektivität in gefährlicher Weise zu subjektivieren, wenn auch die subjektive Dimension zumindest seit Abélard immer auch das zentrale Moment für das Heilsgeschehen war. Und wer an die Erotisierung des Gottesbezugs beim Heiligen Bernhard denkt, wird möglicherweise nicht die dogmatische Skepsis (die sich bis zum Häresievorwurf steigert) der offiziellen Kirche gegenüber den Eckhartschen Texten verstehen. Die eigentliche Dramatik ergibt sich hier freilich aus der Radikalisierung der vorgeschlagenen Methode zur Einswerdung der Seele mit Gott, welche die Herkunft ihres Konzeptarsenals aus weltlichen Minnekontexten nicht ganz verleugnen kann, wenn auch, wie gesagt, die Erotisierung des Gottesbezugs schon spätestens in der zisterziensischen Frömmigkeit mit Händen zu greifen ist. Angeregt werden nämlich Selbstaufgabe und Entblößung, eine Art von Nacktheit, in der die Seele als Geliebte mit
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Gott dem Geliebten und Jesus dem Geliebten sich verbindet. Nun wird im Einzelnen meditativ angeregt, wie sich dieser Prozess der Gottesgeburt in der Seele vorbereiten lässt. Es wird gleichsam die Predigt als ein performatives Schema vorgeführt, das diese Art von Abgeschiedenheit, Gelassenheit (das sind die entsprechenden Schlüsselworte bei Meister Eckhart) herstellen kann. Dabei kommt es nun zu einer Art von diskursiver Verschiebung. Eckhart beschwört zwar klassische Tugenden, typischerweise Tugenden des Mönchstums. Also etwa: Was ist wahrer Gehorsam? Was ist wahre Demut? Das Resultat sind jedoch radikale Neuformulierungen. Bei dem Armutsgebot geht es dann eben nicht mehr bloß um das Aufgeben von Besitzwillen, sondern es geht um völlige Selbstaufgabe, oder beim Gehorsam geht es nicht mehr um Unterordnung unter den Willen eines Oberen, sondern es geht eigentlich darum, dass die Seele ganz leer wird; dass sie überhaupt keinen Willen mehr hat. Die performative Dimension liegt also in dieser Dynamik: Teilhabe am und Präsenz des Göttlichen werden von der sakramentalen Institutionalität in die Sphäre des persönlichen Vollzugs verschoben. Die Spannung, die der mittelalterlichen Frömmigkeit generell eignet, wird damit durch Dramatisierung eines ihrer Pole evident. Auf der einen Seite basiert die mittelalterliche Gesellschaft auf der Integration des Einzelnen in ständisch ausformulierte institutionelle Ordnungen, die von einer adligen Oberschicht dominiert werden. Aber in den religiösen Diskursen, die Erlösung gerade nicht an Statusexzellenz, sondern an individuelle Tugend, nicht an bloße rituelle Performanz, sondern an innerliche Identifikation binden, wird das Konfliktpotenzial dieser Gesellschaften virulent. Erlöst werden nicht Sippen, sondern Einzelne, wenn auch die Sakralisierung der Sippe sich im religiösen Raum der Repräsentationen geradezu aufdringlich manifestiert. Die Innerlichkeit des religiösen Erlebens trennt sich vom Ritus der äußeren Kirche und ihrer Heilsmittel ebenso wie von den Sicherungen ständischer Identität. Es wäre deshalb gänzlich verfehlt, ,stratifikatorisch‘ differenzierte Gesellschaften als Opposition zu Individualität zu begreifen, wie Burckhardt das getan hat. Das heißt aber nicht, dass man das Konzept der ,stratifikatorischen‘ Differenzierung nun sang- und klanglos verabschieden könnte. Man muss nur im Auge behalten, dass sich das Individuum hier in ganz anderer Weise gegen die Umwelt profilieren muss als in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Gerade die strukturelle Inklusion des Individuums in die Welt seines Standes verweist die radikalisierte Individualisierung im Sinne von Einzigartigkeit auf besondere Reservate, die eben durch Verinnerli-
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chung oder, wie im Kloster, durch Schaffung von internen ,Exterritorialitätszonen‘ eine virtuelle Barriere gegen Generalisierungszwänge errichten können.12 Aber gerade die Integration der Klöster in die adlige Standeswelt zeigt, wie tief auch hier die ständischen Vorgaben für Thematisierungen von statustranszendierender Identität sind. Immerhin zeigen die theologieinternen Inkonsistenzen die für diesen Typus von Gesellschaft charakteristische Konfliktladung und das Sprengpotenzial, das in ihnen eingebunden ist. Erst retrospektiv werden sich dann darin „preadaptive advances“ ausmachen lassen. Wir werden nachher sehen, dass sich Ähnliches auch in den weltlichen Texten finden lässt. Die zweite Vorlage, die sich mit Mystik beschäftigt, stammt von Friedrich Vollhardt. Auch hier wird über den Ungrund als einem mystischen ,Ort‘ der Theogonie in der Seele im Bewusstsein der Beteiligten gesprochen. In diesem Falle am Beispiel von Jakob Böhme. Man könnte die Parallelität mancher Textstellen als Hinweis auf die Konstanz des mystischen Denkens, des mystischen Erlebens vorführen. Ich glaube, dass sie als Instanzen für das Gegenteil gelesen werden sollten. Im Fall von Meister Eckhart geht es um Mystik im Kontext der Selbstgenese in ständischen Gesellschaften, bei Böhme haben wir es mit einem Individuum zu tun „[…] das nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden [kann]“13 Bei Eckhart ist das Individuum erst einmal in die Gesellschaft integriert, so dass seine Selbstwerdung nur als Selbstverlust und das heißt als schrittweise Verabschiedung aller gesellschaftlichen Bindungen und Selbstverständlichkeiten vollzogen werden kann. Das Individuum ist dort im Luhmannschen Sinne zunächst einmal ,Inklusionsindividualität‘. Der meditative Weg schreitet deshalb vom erfahrenen Aufgehobensein in der Gruppe zu schmerzhaften Häutungen, in denen diese sozialen Einbettungen abgestreift werden und eine Art nacktes Selbst geboren wird, das sich schon deshalb aller Beschreibung entzieht, weil es alle semantischen 12 Vgl. Cornelia Bohn/Alois Hahn, „Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchstum“, in: Gert Melville/Markus Schürer (Hrsg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster [u.a.] 2002 (Vita regularis 16), S. 3 – 25 und Cornelia Bohn, „Schnittstellen. Schriftlichkeit und der Übergang vom Inklusionsindividuum zum Exklusionsindividuum“, in: dies., Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz 2006, S. 127 – 158. 13 Vgl. Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, S. 149 – 258, hier S. 158.
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Bezüge gerade getilgt hat. Die moderne Individualität findet sich demgegenüber aber bereits als solche ,entfremdet‘ vor, sie kann sich in keines der es umgebenden Subsysteme ganz einbringen, nicht einmal fiktiv. Sie versteht sich also in diesem Sinne als „extrasozietal“ (N. Luhmann), ist „Kreuzungspunkt sozialer Kreise“ (G. Simmel), geht aber in keinem einzigen ganz auf. Hier wird somit „[…] das Verhältnis der Gesellschaft zu Individuen von Inklusionsindividualität auf Exklusionsindividualität umgestellt […]“.14 Und die von Vollhardt kommentierten Texte geben in diesem Sinne ein frühes Zeugnis für den gegenüber der Eckartschen Mystik umgekehrten Weg der Selbstfindung.15 Dass es sich bei Böhme folglich nicht um Predigten, sondern um eine Reihe von Schriften handelt, die gerade nicht auf Tilgung von mundaner Weisheit aus sind, sondern auf ihre Aneignung, ist deshalb nicht zufällig. Vor allem etwa die Einarbeitung der kosmologischen Debatten in die Selbstsuche ist höchst aufschlussreich. Dazu passt auch, dass Böhmes Texte keinesfalls – und das zeigt Vollhardt höchst überzeugend – völlig hermetisch sind; handelt es sich doch um deutlich erkennbare Textspuren von zeitgenössischen Auseinandersetzungen (in den Naturwissenschaften, aber auch in der Philosophie und der Theologie). Im Kern aller dieser Überlegungen steht allerdings eine autobiographische Erfahrung, nämlich ein angeblich um 1600 erfolgtes Erweckungserlebnis von Jakob Böhme selbst; es geht eigentlich um ein Heilsgeschehnis, das exklusiv auf Böhme selbst bezogen war, das aber von ihm immer wieder mitgeteilt wird. Je früher nun die Texte abgefasst sind, desto hermetischer erscheinen sie, die Abfolge der Texte ist auch ein Versuch der Klärung. Dabei geht es um prinzipiell Sagbares, wenn auch dessen innere Komplexität die Darstellung unendlich mühsam macht. Eine Möglichkeit mit diesem Hermetismus umzugehen wäre Poetisierung gewesen. Sie würde aber bedeuten, auf Interpretationen im Sinne eines Sachangebots von Mitteilungen zu verzichten. Die Unterstellung von Unverständlichkeit würde die Texte dann als ,Musikbeispiele‘ behandeln. Sie würde mit ihnen so umgehen, wie die Wiener Schule des Neopositivismus überhaupt alle nicht empirisch kontrollierbare Litera14 Ebd., S. 160. 15 Meister Eckart ist in seiner Gesellschaft ein ausgewiesener Gelehrter, während der Schuhmachermeister Böhme sich autodidaktisch die gelehrte Kultur aneignen muss. Für Eckart kann deshalb der Weg zum Eigentlichen als Abschied von vorgestanzten kulturellen Mustern präsentiert werden. Für Böhme ist gerade die Identifikation mit der Welt der Bildung als subjektives Aneignungsgeschehen Generator von Theogonie in der Seele.
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tur glaubte traktieren zu sollen, jene Literatur, die man nicht unter dem Aspekt Wahrheit oder Falschheit beurteilen könne, sondern nur unter dem ihrer poetischen Kraft zur Stimulation von Aufmerksamkeit. Die These Vollhardts wäre demgegenüber, dass sich hinter dem scheinbaren Hermetismus ein alternatives Vernunftmodell und ein alternativer Diskurs verbirgt, dass sich hier also ein theoretischer Anspruch auf innere Schlüssigkeit findet. Das Ziel ist aber nicht meditative Rückkehr zum als einfach gedachten Ungrund als Urgrund, sondern Selbstfindung angesichts aufrecht erhaltener schwieriger Komplexität. Der Ungrund ist selbst komplex. Wer sich anschickt, ihn zu beschreiben, hat es mit jenem unvermeidlichen Problem zu tun, der sich alle Selbstthematisierung ausgesetzt sieht, nämlich zwischen Paradoxie und Tautologie zu oszillieren. Entparadoxierung nimmt daher immer die Form der Entfaltung des Paradoxes an, das aber keinesfalls verschwindet.16 Der autobiographische Diskurs kann deshalb nicht einfach als bloß theologischer geführt werden. Es geht um eine Integration der Diskurse im Ungrund der Person, die sich über ein neues Weltverständnis selbst findet, und gerade nicht die Welt hinter sich lässt. Von Böhme und der frühen Neuzeit zurück ins Mittelalter führen die beiden anschließenden Vorlagen, die manche Gemeinsamkeit haben – nicht allein diejenige, dass sie den gleichen Autor, Wolfram von Eschenbach, behandeln. Ich versuche kurz aufzugreifen, was uns von Beate Kellner und Tobias Bulang am Willehalm sozusagen direkt zu unserem im engeren Sinne thematischen Kernproblem mitgeteilt wird. Im Willehalm werde eine Kompaktheit der Bilder entwickelt, die diskursiv nicht einholbar sei. Lediglich das poetische Verfahren stifte die Lizenz zur Darstellung von Widersprüchen, die sich in der Gesellschaft notwendig auftun, in nicht literarischen Diskursen aber nicht ausdrückbar wären. Hier begegnen wir wieder dem von Andreas Kablitz eingebrachten Argument, dass Poetisierung eben deshalb solche Freiheiten gestattet, weil sie von referenzieller Verantwortung entlastet. Dabei geht es den Autoren vor allen Dingen darum, Wolframs Text als Paradoxiegenerator vorzuführen. Das wird schon am Prolog gezeigt: 16 Man hat deshalb nicht ohne Grund Hegel und Böhme aufeinander bezogen. Denn Dialektik wird man wohl als eine Form der Paradoxieentfaltung begreifen dürfen. Hegel selbst hat von Böhme gesagt, „[…] diesem gewaltigen Geiste ist mit Recht der Name: ,Philosophus teutonicus‘ beigelegt worden […]“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, 20 Bde. Bd. 8: Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Teil 1: Die Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1986, S. 27 (= Vorrede zur zweiten Ausgabe [1827]).
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Immer wieder schieben sich bereits dort, so Bulang und Kellner, literarische und religiöse Sinndimensionen ineinander. Die religiösen Kommunikationsmuster werden so mit der literarischen Programmatik verschränkt, dass eine besondere Art von Heiligenlegende erzählbar wird, eben die des Ritterheiligen Willehalm. Die Vorstellung einer Dichotomie von Weltlichem und Geistlichem beziehungsweise literarischer und religiöser Kommunikation werde eben durch diesen Text geradezu unterlaufen. Was sich im Prolog als Programm zeigt, werde dann durch die Handlungsführung belegt. Das Entscheidende scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass die Helden, um die es hier geht (nicht nur der Hauptheld), eine Art von hybriden Kämpfern darstellen. Diese Hybridität bezieht sich einerseits auf eigentlich nicht kompatible Rollenkombinationen, dass man zum Beispiel gegen Verwandte kämpft, obwohl man eigentlich gerade nächsten Angehörigen zu äußerster Treue verpflichtet ist. Der Grund liegt darin, dass die nächsten Angehörigen nicht mehr Christen, sondern Heiden sind. Der Konflikt entsteht also aus widersprüchlichen Loyalitäten, die idealiter gar nicht in Widerspruch geraten dürften. Das Prinzip genealogischer Nähe und das der Zugehörigkeit zum rechten Glauben sind im Normalfall deckungsgleich; im Fall der Kreuzritter aber nicht immer. Hier kollidiert das Prinzip der Treue zum gleichen Stand (oder sogar zur gleichen Familie) mit dem der Treue zur Religion. Die sarazenischen Krieger sind einerseits Adlige wie die christlichen Ritter auch, insofern meilenweit unterschieden von den Bauern aus der eigenen Gesellschaft, andererseits aber sind auch die Bauern Christen, insofern also fundamental verschieden von den Heiden. Eine Lösungsfigur stellt die Einführung einer neuen Differenz dar, nämlich derjenigen zwischen Universalgenealogie und Partikulargenealogie: Einerseits ist die Genealogie typischerweise selbstverständlich etwas, das andere ausgrenzt (die eine Familie gegen die andere), aber natürlich sind wir über Adam alle eine Familie. Daraus ergeben sich dialektische Verschränkungen, welche die Entwicklung des Handlungsablaufs des Romans bestimmen, in dem die Paradoxien zwischen den menschlichen Partikulargenealogien und der göttlich verankerten Universalgenealogie entfaltet werden. Dieser Widersprüchlichkeit steht eine zweite gegenüber, diejenige zwischen realer und idealer Genealogie. In Adelsgesellschaften werden hohe Ämter nach Herkunft verliehen. Dabei muss unterstellt werden, dass sich die für das Amt erforderliche Begabung vererbt. Das ist genau das, was Max Weber als ,Erbcharisma‘ bezeichnet hat. In der schnöden Wirklichkeit ist der Widerspruch zwischen der Legitimität des Blutes und der Le-
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gitimität durch Tugenden aber häufig unübersehbar. ,Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand‘: Das ist als Prinzip zwar unaufkündbar, widerspricht aber der unabweisbaren Erfahrung. Auch in modernen Gesellschaften kann es freilich problematisch sein, wie man mit unfähigen Leuten umgeht. Im Prinzip aber werden politische oder berufliche Positionen nach Leistung, nicht nach Herkunft vergeben. Als illegitim gilt, wenn Herkunft gegenüber Leistung sich durchsetzt. In stratifizierten Gesellschaften gilt aber das umgekehrte Prinzip: Legitimer Herrscher ist der Sohn des Herrschers, Eignung muss auch kontrafaktisch unterstellt werden. Am Leiden unter der Kontrafaktizität entzünden sich Romane. Im Willehalm ist König Ludwig zwar blutslegitimer Nachfolger Karls, aber ein schwacher König. Hier ist allein die Blutslegitimität gegeben, Leistungslegitimität aber gerade nicht. Und beim Helden Willehalm ist es genau umgekehrt: Er wird von seinem Vater enterbt; hat also sozusagen nicht mehr Teil an der Blutslegitimität, die ihm zustünde, aber er wäre eigentlich der viel bessere König. Er hätte ,eigentlich‘ an die Stelle von Ludwig treten müssen. Die Frage ist: Wie wird ein solcher Konflikt aufgelöst? Eine Möglichkeit der Auflösung dieser dramatischen Spannungen wäre, dass plötzlich eine neue Idee der Humanität eingeführt würde, die diese ganzen Kämpfe irgendwie unterfüttert. Selbst wenn so etwas im Roman denkbar wäre, hätte es für die gesellschaftliche Wirklichkeit gleichwohl keine anschlussfähigen Folgen. Es wäre allenfalls ein „preadaptive advance“. Die Autoren bestreiten im übrigen, dass sich im Roman eine solche Idee finden lässt. Das Rettende in dieser Hinsicht ist im Willehalm nicht mehr die höfische Minne, sondern die eheliche Liebe. Sie wird als eine eigene Form von innerweltlicher Religion vorgeführt. Es findet sich allerdings in der Interpretation von Bulang und Kellner eine gewisse Spannung: Auf der einen Seite heißt es: Die Liebe des Paares bleibe stets auf die Gottesliebe bezogen, werde also religiös transgrediert, ohne jedoch den Status einer Minnereligion zu gewinnen; diese Lesart wäre ja geradezu eine stilnovistische Konzeption. Dagegen aber steht, dass die Ehefrau zwar als Heilsmittlerin stilisiert werde, doch nicht als Minneheilige erscheine. Das Heil, welches die Liebenden inmitten der Heillosigkeit des Kampfgeschehens in der Liebe finden, bleibe vielmehr radikal diesseitig: Es erwachse aus der körperlichen Hingabe in der Verschmelzung des Paares im Liebesakt, in der Intensität dieses Augenblicks werde das irdische Glück im Horizont von Willehalms bevorstehendem Aufbruch zum Kampf möglich. Die Frage stellt sich: Ist tatsächlich diese Ehe eine innerweltliche Religion im Sinne der Luckmannschen Religionsbe-
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grifflichkeit? Ist Glück im Diesseits eine diesseitige Jenseitigkeit oder wird doch eine analogische Beziehung hergestellt, wie wir sie in den Texten von Dante haben? Selbst wenn man annehmen dürfte, dass diese innerweltliche Transzendenz hier entworfen wird, so wird man sie jedenfalls als ,bloß‘ literarische, nur im Roman mögliche Konstruktion ansehen. Die Vorstellung der Verknüpfbarkeit von Ehe und romantischer Liebe wird erst in der Neuzeit als dominantes Modell akzeptabel; freilich um den Preis der Paradoxien, die damit verbunden sind. Und auch heute, wo nach Statistiken die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung davon ausgeht, dass Liebe der zentrale Legitimationsgrund für Ehe sei, führt die Kontrafaktizität der Verhältnisse zu unzählbaren Romanen (um von Schlimmerem zu schweigen). Damit komme ich zu dem Beitrag von Hans-Georg Soeffner über den Parzival. Er beginnt mit einigen allgemeinen Überlegungen zur Religion. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität. Religion ist hiernach das, was kommuniziert wird: die objektive Dimension der Religion als Kulturerscheinung. Religiosität aber ist die Spur, die Religion im Bewusstsein hinterlässt. Individuen sind niemals bloße Abziehbilder jener Kultur, in der sie aufwachsen, sondern sie müssen sich das Gebotene aneignen. Diesem Prozess ist in allen Gesellschaften nicht ohne weiteres in jedem Einzelfalle Erfolg beschieden. Das Ausmaß der Identifikation variiert sicher auch zwischen den Gesellschaften, aber es variiert auch in einer und derselben Gesellschaft erheblich zwischen den Individuen. Brüche sind unvermeidlich. Auf der einen Seite ist die Tatsache, dass das menschliche Individuum nicht schon mit Kultur auf die Welt kommt, sondern in sie hineinwachsen muss, für jede Kultur ein Problem. Auf der anderen Seite müssen die Einzelnen sterben, das heißt, allein mit der erfolgreichen individuellen Übernahme der Kultur lässt diese sich nicht verewigen. In diesem Kontext setzt Soeffner in Auseinandersetzung mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann sein Konzept der Religion als Sinnstiftung ein. Hierbei gelte es zwei Ebenen zu unterscheiden: Auf der einen Seite Religion als konsistente Welterklärung in wie immer gestufter Transzendenz und auf der anderen Seite als individuell erfahrbare Sinnstiftung für den Einzelnen, der mit ihrer Hilfe die Existenzialangst zu bewältigen sucht. Im Zentrum dieser Angst stehe aber der Tod des Einzelnen.17 Die kulturellen Vorgaben sind gerade wegen 17 An diesem Punkt folgt Soeffner der von Peter L. Berger und Thomas Luckmann vorgeschlagenen Lösung. Meine eigene dazu kritische Position in Alois
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ihrer Universalität nur in Grenzen geeignet, diese Funktion zu erfüllen: Die Verwandlung von Religion in Religiosität versteht sich nicht von selbst, und in jedem Falle verändert sich die Religion in ihrem Gehalt und ihrer Bedeutung bei diesem Übernahmeprozess. Analoges ließe sich auch bei der Sprache konstatieren, je nachdem, ob man von ihr als Moment des ,objektiven Geistes‘ oder als individueller Kompetenz ausgeht. Religion, so wie Soeffner sie hier bestimmt, ließe sich gleichsam als Medium fassen, das vom Bewusstsein und der gesellschaftlichen Kommunikation auf je spezifische Weise aktualisiert wird.18 Es gibt damit „Passungsprobleme“ (Soeffner), weil die jeweils individuell konkreten Kompetenzen und Schicksale nur locker verkoppelt sind mit den kulturellen Mustern. In unterschiedlichem Ausmaße resultieren daraus Unsicherheiten, Krisen und bisweilen Tragödien, weil eben die „[…] kollektiv abgesicherten, normativ vorgestanzten und an gefestigten Interaktionsformen orientierten Lebensformen […]“ (S. 179) der konkreten Erfahrungslage des Einzelnen nur in gewissen Grenzen adäquat sind. Das gilt für alle Gesellschaften. Die jeweiligen Formen, in denen diese Passungsprobleme sich manifestieren, variieren allerdings historisch fundamental. Passungsprobleme, die in mittelalterlichen Adelsgesellschaften entstehen, werden von Soeffner am Beispiel des Parzival aufgegriffen: Parzival ist in ganz ähnlicher Weise wie auch Willehalm ein existenziell total vereinsamter Mensch. Er wächst vaterlos auf, kommt, ohne höfisch gebildet zu sein, in eine höfische Welt. Er ist also das vollkommene Gegenteil von Gawan, der in die höfische Welt geradezu hineingewachsen ist, als wäre sie eine zweite Haut. Parzival ist dramatisch ein Einzelner, wie das als typisches Schicksal immer wieder für die Moderne dargestellt wird. Interessant ist, dass diese existenzielle Einsamkeit in religiösen Texten seit dem 12. Jahrhundert, also viel früher als im Parzival, artikuliert wird; die Mystik Eckarts steht diesbezüglich bereits in einer längeren Tradition. Die ständische Gesellschaft des Mittelalters fängt gewissermaßen die diesseitige Differenz zwischen den Ständen durch die Verheißung eines Jenseits auf, in welchem die Rangordnung nicht diesseitiger Vornehmheit, sondern spezifisch religiösem Verdienst Hahn, Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung, Stuttgart 1968. 18 Dass ,Kultur‘ ganz allgemein in diesem Sinne gedeutet werden kann, habe ich versucht darzustellen in Alois Hahn, „Ist Kultur ein Medium?“, in: Günter Burkart/Gunter Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2004, S. 40 – 58.
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entspringt. Die Logik des Religionssystems steht insofern orthogonal zur dominanten Differenzierungsform. Der Tod erhält damit eine zusätzliche Dramatik, die über die anthropologisch universale hinausreicht: Das Standesprinzip wird im Jenseits durch ein innerweltlich nur als Problem vorhandenes Moment abgelöst, nämlich von dem einer von Herkunft unabhängigen ,Leistung‘. Man wird nicht sippenweise, sondern als Einzelner, und zwar allein in Ansehung der je eigenen Sünden nach seinen eigenen Meriten erlöst oder verurteilt. Was zählt ist (im Soeffnerschen Sinne) nicht Religion, sondern Religiosität. Die Erbbegräbnisse wären demgegenüber Religion. Parzival macht aber auch auf rein innerweltliche Passungsprobleme aufmerksam. Er ist ein sozialisatorisch heimatloser Mensch, ein vaterloses Muttersöhnchen. Er ist insofern auf die Welt, in die er hineingerät, nicht hinlänglich vorbereitet. Der Logik der Adelsgesellschaft wäre es gemäß, dass Blutsrang und Erziehung konvergieren, dass also Rang und Kompetenz einander entsprechen. Für dieses Ideal steht im Roman Gawan. Die Wirklichkeit widersprach dem aber häufig. Was im Willehalm als Divergenz zwischen Führungsqualifikation und Rang beschrieben wird, tritt im Parzival als Kluft zwischen Herkunft und Erziehung auf. Diese Spannungen erzeugen eigene Probleme der Sinnstiftung, für die in der Gesellschaft keine patenten Lösungen bereitgehalten werden können, weil sie der Struktur der Gesellschaft selbst zuwider liefen. Im Roman können immerhin Lösungen angeboten werden, die als Strukturentscheidungen systemsprengend wären. Sinngebung wird nämlich über Ehe ermöglicht: Im Parzival wie im Willehalm fungiert nicht die höfische Minne, sondern die eheliche Liebe in diesem Sinne. Sie spielt die Rolle eines gesellschaftlichen Reservats (wie sonst eher das Kloster), in dem die andernorts gültigen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Diese Ehe besitzt eine eigene Erfüllungsdimension. Sie wäre im strengen Sinne Thomas Luckmanns innerweltliche Religion, eine Religion, die der Religion eigentlich nicht mehr bedarf, obwohl die Ehe dann post factum zusätzlich auch kirchlich gesegnet wird. Wir fänden uns hier also mit einer innerweltlichen Transzendenz konfrontiert, einer Religiosität, die der Religion weitestgehend entraten kann. Eigentlich bleibt Parzival immer ein Einsamer. Er ist nie voll in die Religion oder in die Kultur seiner Umgebung integriert. Das ist er nur in der Liebe zu seiner Frau. Im Übrigen bleibt immer ein Leerraum der Sprechunfähigkeit, des Unsagbaren. Parzival bleibt im Grunde kommunikationsunfähig. Die Ehe ist eine Ausnahme. Die Unkommunikabilität zwischen den Menschen wird an diesem Fall vorgeführt.
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Dass Gott als unfassbares Geheimnis aller Sagbarkeit entzogen ist, gehört zu den klassischen Topoi der Theologie. Im Roman wird die Missverständlichkeit aller Kommunikation aber als zwischenmenschliches Problem vorgeführt. Vielleicht hängt die Attraktivität des Parzivalromans auch für uns damit zusammen, dass wir uns einbilden können, hier typisch moderne Probleme wiederzufinden. Der klassische Ort, an dem im Mittelalter Individualität als sippenunabhängiges Phänomen legitim diskutiert wird, ist die Literatur über Sünde, Reue und Buße: Sündhaftigkeit erscheint hier als Generator von Individualität.19 Die kirchliche Institution, in der individuelles Sündenbekenntnis, Reue und Vergebung vereint werden, ist die Beichte. Im Sinne Soeffners könnte man sagen, dass die Beichte der Schnittpunkt von Religion und Religiösität im Kontext von individualisierender Schuld ist. Marina Münkler geht diesen Zusammenhängen in ihrem Beitrag über die Historia von D. Johann Fausten und die Faustbcher des 16. und 17. Jahrhunderts nach. Sie beginnt mit einer Rekapitulation der historischen Untersuchungen über die Rolle der Beichte und die Rolle von Bekenntnissen als Generator von Individualität. Das führt dann aber nicht zu einer Fortschreibung der soziologischen Theorien über die Beichte, sondern wird zum Ausgangspunkt der Darstellung des ,Sünderheiligen‘. Eine Reihe von Heiligen waren zunächst große Sünder beziehungsweise Sünderinnen. Das Bekehrungsergebnis, die Wiederversöhnung mit Gott, die Rekonziliation, ist in den entsprechenden theologischen und dichterischen Texten das eigentliche Modell. Marina Münkler wendet diese Konzeptionen nun auf die Deutung der Faustus-Historia an. Dass ein zwar reuiger Sünder trotzdem nicht versöhnt wird, das ist theologisch zumindest ein großes Problem. Faustus wird verurteilt, weil er die Sünde gegen den Heiligen Geist begangen hat. Solche Sünden sind als einzige nicht vergebbar. Das ist nun vor allem auch deshalb spannend, weil gemäß katholischer Doktrin jede bereute Sünde verziehen werden kann und Faustus ja als reuiger Sünder dargestellt wird. Hinzu kommt, dass die Sünden, die Faustus begangen hat, alles in allem objektiv nicht extrem exorbitant sind. Da gibt es Schlimmeres, auch schon vor Faustus. Erst recht natürlich danach. Die Frage ist nun: Wieso wird jemand ein Sünder gegen den Heiligen Geist, der sich wegen seiner Verzweiflung umbringt, obwohl er ja schon bereut hat? Diese Problematik gewinnt im katholischen 19 Für meinen eigenen Beitrag zu dieser Problematik vgl. Anm. 5.
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Raum eine dramatische Bedeutung erst in der Theologie der Gegenreformation, und zwar vor allem in französischen Kontexten. Die ältere Theorie sagt ja: Selbst wenn ich im letzten Augenblick noch bereue, dann komme ich ins Fegefeuer, aber nach wie langer Leidenszeit auch immer doch schließlich in den Himmel. Selbst der letzte Moment, der ultimo momento, wie es im Don Giovanni heißt, kann einen noch retten. Auf dieser Vorstellung sind zum Beispiel die artes moriendi aufgebaut. Im Faustbuch wirkt die Reue aber gerade nicht. Das gleiche Konzept findet sich nun interessanterweise in der theologischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts in Frankreich: Sie nimmt zwar keine Änderung am dogmatischen Bestand vor; wenn man sich im letzten Moment bekehrt, ist man gerettet. Es wird aber geltend gemacht, dass so etwas empirisch extrem unwahrscheinlich sei. Man könne nicht davon ausgehen, dass die heilsrelevante Reue sich bei einem schweren Sünder in articulo mortis noch einstellt. Das gilt vor allem für Rückfallsünder, also für solche, die nach der Beichte erneut gesündigt haben. Hätten sie nämlich ihre Sünde wirklich bereut, wäre ein solcher relapsus in peccatum unwahrscheinlich. Rückfall ist also ein Indiz für mangelnde Reue. Reue aber ist die Voraussetzung für Verzeihung. Dass sich wahre Reue aber auf dem Totenbett einstellen soll, davon ist nach menschlichem Ermessen nicht auszugehen. Buße im letzten Moment ist deshalb vermutlich nicht echt, also wird auch keine Verzeihung erwirkt. Es vollzieht sich eine psychologische Umdeutung eines Heilsmodells in den theologischen Diskursen, die ohne jede Modifikation der Dogmatik zu einer völlig neuen Beurteilung der Heilsbedeutung von Reue gelangt. Was sich ändert, ist die psychologische Beurteilung dessen, was sich empirisch im letzten Augenblick abgespielt hat. Damit wird im Grunde das gelebte Leben zum entscheidenden Maßstab für die Wahrscheinlichkeit der Erlösung. Bei den Calvinisten zeigt der tugendhafte Wandel die vermutete Gnade Gottes an, auf die menschlicher Wille keinen Einfluss hat, bei den Katholiken den echten Willen zur Mitwirkung am Heil. In beiden Fällen wird die individuelle Biographie als Indikator für Erlösung deutbar. Die Faust-Historie würde in diesem Kontext zeigen, dass in der Neuzeit die Biographie zum Heilsgenerator wird und dass noch so stark affektgeladene momentane Reuebekundungen nicht mehr als gültiger Widerruf eines schuldbeladenen Lebens akzeptiert werden. In diesem Sinne ergänzen sich literarische und theologische Diskurse: Der Verdammung des Dr. Faustus im Faustbuch korrespondiert eine neue Theologie. Im Mittelalter war die Vereinzelung des Menschen, seine Herauslösung aus Stand und Sippe vor allem im Kontext der Religion
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generalisierbar. In der Neuzeit wird die individuelle Verantwortung für die eigene Biographie die Unterstellung für den Normalfall, und zwar nicht nur in der Religion. Ein im religiösen Kontext entstandenes Motiv hört auf ein „preadaptive advance“ zu sein. Er wird zum Regelfall der Adaption des Individuums an seine soziale Umgebung. Die literarischen Diskurse ratifizieren diesen Tatbestand.
Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in der Historia von D. Johann Fausten und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts Marina Mnkler Einleitung Dass Sündhaftigkeit per se Individualität generiert, ist für das Mittelalter wie für die Frühe Neuzeit zunächst als der unwahrscheinliche Fall anzusehen. Sündhaftigkeit gilt hier als der Normalfall menschlicher Existenz, und in der Literatur des Spätmittelalters finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass die Sünde als so universal betrachtet wurde, dass sich gerade der als Sünder auswies, der meinte, frei von Sünde zu sein.1 Sündhaftigkeit ist zwar stets Transgression der Norm, aber das heißt eben nicht, dass sie sich außerhalb der Normalität bewegt, sofern man Normalität im Luhmannschen Sinne als das Eintreten des Erwarteten, Norm dagegen als kontrafaktisch stabilisierte Erwartung definiert.2 Freilich ist die Normalität der Normverletzung schwer zu denken, ohne 1
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Das musste nicht unbedingt mit dem Begriff des Sünders bezeichnet werden, sondern konnte beispielsweise auch mit dem Begriff des Narren, der eigentlich in eine andere Richtung zu weisen scheint, belegt werden, wie das berühmte Beispiel Sebastian Brants zeigt, an den sich Thomas Murner angeschlossen hat. Brants Narrenschiff-Metapher umschreibt exakt die Unausweichlichkeit der Sündenverfallenheit: Alle sitzen im selben Boot, und wer meint, das Schiff aus eigenem Willen verlassen zu können oder nicht darauf zu gehören, sitzt nur umso sicherer darinnen fest. Zu Brant und Murner vgl. Marina Münkler, „Volkssprachlicher Früh- und Hochhumanismus“, in: dies./Werner Röcke (Hrsg.), Die Literatur im bergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1), S. 77 – 96, hier S. 90 – 94. Zur „Normalität als Eintreten des Erwarteten“ vgl. Niklas Luhmann, „Die Autopoiesis des Bewußtseins“, in: Alois Hahn/Volker Kapp, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Gestndnis, Frankfurt/M. 1987, S. 25 – 94, hier S. 49 f.; zur Norm als „kontrafaktisch stabilisierter Erwartung“ vgl. ders., Rechtssoziologie, Reinbek bei Hamburg 1982, Bd. 1, S. 40 – 63.
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dass dies die Geltung der Norm unterhöhlt. Wenn die Verletzung der Norm der Normalfall ist, bedarf es starker institutioneller Mechanismen, um die Erosion der Norm zu verhindern, das heißt ihre Geltung aufrechtzuerhalten. Eine der im Mittelalter wichtigsten Praktiken zur Blockierung der Normerosion ist die Beichte, die mit dem IV. Laterankonzil 1215 als Pflichtbeichte auch für die Laien verbindlich gemacht worden ist.3 Mit ihr wird ein Regime der Selbstbeobachtung etabliert, das nach Alois Hahn eine erhebliche Steigerung und Differenzierung von Individualität zur Folge hatte. In dem Maße, wie sich die entsprechende Konzeption durchsetzt, wird das Individuum zu einer Besinnung auf sich selbst zurückgeworfen, wie dies vorher nie der Fall war. Seine innersten Motive werden heilsrelevant, deshalb erforschungsbedürftig. Mit dieser Erhellung des eigenen Motivhaushalts ist aber gerade auch eine Steigerung der Empfindung für die eigene Subjektivität verbunden, die historisch neu ist. Subjektivität ergibt sich also als Folge sozialer Kontrollprozesse.4
Ähnlich argumentiert auch Michel Foucault in Der Wille zum Wissen: Spätestens seit dem Mittelalter haben die abendländischen Gesellschaften das Geständnis unter die Hauptrituale eingereiht, von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht: Regelung des Bußsakraments durch das Laterankonzil von 1215, die darauf folgende Entwicklung der Beichttechniken […], Einsetzung der Inquisitionsgerichte – all das hat dazu beigetragen, dem Geständnis eine zentrale Rolle in der Ordnung der zivilen und religiösen Mächte zuzuweisen. Die Entwicklung des Wortes ,Geständnis‘5 und der von ihm bezeichneten Rechtsfunktion ist in sich schon charakteristisch: vom Geständnis als Garantie von Stand, Identität und Wert, die jemandem von einem anderen beigemessen werden, ist man zum Geständnis als Anerkennen bestimmter Handlungen und Gedanken als der eigenen übergegangen. Lange Zeit hat sich das Individuum durch seine Beziehung zu anderen und durch Bezeugung seiner Bindung an andere ausgewiesen; später hat man es durch den Diskurs ausgewiesen, den es über 3
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Vgl. Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 89); Peter Browe, „Die Pflichtbeichte im Mittelalter“, in: Zeitschrift fr katholische Theologie, 57/1933, S. 335 – 383. Alois Hahn, „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß“, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt/M. 2000, S. 197 – 236. Die deutsche Übersetzung hat an dieser Stelle eine Anmerkung des Übersetzers: „Foucault bezieht sich hier auf die Wortgeschichte von ,aveu‘, das sich vom lateinischen ,advocare‘ herleitet“ (S. 75).
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sich selbst halten konnte oder mußte. Das Geständnis der Wahrheit hat sich in das Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt.6
Hahn wie Foucault legen in ihrer These von der Steigerung oder Konstitution des Individuums durch die Beichte das Hauptgewicht auf das Geständnis und sehen dabei weitgehend von der Rekonziliation ab. Zweifellos ist das Geständnis ein zentraler Aspekt bei der Steigerung von Individualität, die Geltung der Norm wird in der Beichte aber auf zwei Wegen gesichert: Durch das Geständnis und durch die Absolution. Das Geständnis zwingt das Individuum dazu zu reflektieren, welche Sünden es begangen hat, sein Verhalten also mit der Norm abzugleichen und sich so dem Maßstab der Norm zu unterwerfen; die Absolution belohnt das Individuum für das Geständnis und reintegriert es so in die christliche Gemeinschaft. Erst die Absolution macht die Permanenz der Transgression handhabbar, denn sie reintegriert den Sünder immer wieder in den Geltungsbereich der Norm und trägt damit erheblich zur Stabilisierung der Norm bei. Normverletzung ohne die Möglichkeit der Rekonziliation wäre die eigentliche Gefahr für die Norm, denn diese müsste dann fast zwangsläufig aufgrund des Widerspruchs zwischen Geltungsanspruch und tatsächlicher Geltung kollabieren. Transgression ohne Absolution, das heißt ohne Rekonziliation, ist dagegen schwer integrierbar. Sie ist der nicht vorgesehene Fall von Transgression, der nur durch exemplarische Bestrafung gehandhabt werden kann, und selbst diese Form exemplarischer und grausamer Bestrafung hat noch die Funktion, die Seele des Sünders zu retten, ihn also letztendlich zu reintegrieren.7
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Michel Foucault, Sexualitt und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977, S. 75 f. Vgl. Michel Foucault, berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses, Frankfurt/M. 1976, bes. S. 57 – 63. Diesen zentralen Aspekt der Rettung der Seele durch die Bestrafung des Leibes verdeutlicht etwa ein Exempel, das Luther in seinen Tischreden erwähnt: Ein Erfurter Schwarzkünstler habe unter der Folter nicht nur seinen Teufelspakt gestanden, sondern sich auch zu Gott bekehrt und sei deshalb „mit fröhlichem Herzen in seiner Leibesstrafe“ gestorben. Vgl. Johannes Aurifaber, Tischreden oder Colloquia Doct. Mart: Luthers / So er in vielen Jaren / gegen gelarten Leuten / auch frembden Gesten / vnd seinen Tischgesellen gefret / Nach den Heubtstcken vnserer Christlichen Lere / zusammen getragen. Gedruckt zu Eisleben / bey Urban Graubisch 1566 (Faksimiledruck Wiesbaden 1981), S. 293v.
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Als Transgression erscheint daher aber auch die Heiligkeit, denn die vollkommene Erfüllung der Norm in einer der Sünde verfallenen Welt ist eine so provozierend supererogatorische Leistung, eine so eminente Überwindung der Normalität, dass auch sie von zahlreichen institutionellen Mechanismen begrenzt und kontrolliert werden muss.8 Heilig gesprochen werden kann nur, wer entweder das Martyrium für den Glauben erlitten oder – insbesondere nach seinem Tod – Wunder gewirkt hat. Der in dem seit dem 12. Jahrhundert als Gerichtsprozess inszenierten Heiligsprechungsverfahren auftretende advocatus Diaboli ist der institutionalisierte Ausdruck für die Bemühungen um Kontrolle und Begrenzung der Heiligung.9 Gleichzeitig ist diese Form der Transgression besonders geeignet, die Norm zu stabilisieren, denn sie belegt, dass es überhaupt möglich ist, die Norm zu erfüllen. Der Heilige stützt die Norm gegen die Normalität, weil er ihre Geltung exemplarisch verkörpert und damit aus der Anforderung in die Evidenz transformiert. Eben deshalb bedarf das Leben des Heiligen der Verankerung im gesellschaftlichen Gedächtnis: Seine Lebensgeschichte, das heißt die Geschichte seiner Heiligung, muss aufgeschrieben und – wichtiger noch – sie muss gelesen werden. Aus diesem Grund sind Heiligenviten legenda, „zu Lesende“.10 Die Etymologie von ,Legende‘ verweist also zuallererst nicht auf eine Erzählgattung, sondern auf deren Funktionalisierung. Der Heilige hat einen unhintergehbaren Anspruch auf eine Vita, weil erst diese Vita ihn über 8 Vgl. Alois Hahn, „Transgression und Innovation“, in: Werner Helmich/Helmut Meter/Astrid Poier-Bernhard (Hrsg.), Poetologische Umbrche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München 2002, S. 452 – 465; zur Heiligkeit als „supererogatorischer Leistung“ S. 455 – 457. 9 Die Umstellung des Heiligsprechungsverfahrens von der rituellen Elevation zum kanonischen Rechtsakt, an den die Elevation nur noch angehängt wird, lässt sich als Ausdruck für das Bemühungen um die Begrenzung von Heiligkeitszuschreibungen lesen. Zur Geschichte des Heiligsprechungsverfahrens vgl. Otfried Kraft, Papsturkunde und Heiligsprechung, Köln [u.a.] 2005; Thomas Wetzstein, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europischen Sptmittelalter, Köln [u.a.] 2005; zum Begriff des advocatus Diaboli, der in den kanonischen Regeln für das Heiligsprechungsverfahren als promotor fidei bezeichnet wird, vgl. ebd., S. 308 f. sowie 417 f. Vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht, „Die Identität des Heiligen als Produkt ihrer Infragestellung“, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identitt, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 704 – 708. 10 Vgl. Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur des Mittelalters 20), 50 – 65.
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das Moment der Selbstheiligung hinausragen lässt und als Verkörperung der Norm im Wortsinne ,verwirklicht‘. Die Legende ist insofern zentraler Bestandteil der Heiligung, weil sie leistet, was der Kult selbst nicht vermag: den Heiligen zunächst im Diesseits zu verankern, um ihn dann im Jenseits anrufen zu können.11 Dennoch ist im Mittelalter immer wieder auch der Sünder, und zwar vorwiegend in seiner superlativischen Ausprägung als vollkommen böse oder als Teufelsbündner, zur Ehre einer Vita erhoben worden. Allerdings war die legendarische Vita des Sünders zumeist mit der eines Heiligen verknüpft: So erscheint Simon Magus in der Petruslegende als dessen zeitweiliger Widersacher, und die Judas-Vita wird als Auftakt zur Legende das Apostels Matthias erzählt, der nach Judas’ Verrat und Selbstmord diesen als zwölfter Apostel ersetzt.12 Freilich waren solche Sünder-Legenden, in denen es nicht zu einer Rekonziliation kam, die Ausnahme. Sehr viel häufiger wurde dann vom Sünder erzählt, wenn er seine Sündhaftigkeit überwand und sich zum Heiligen wandelte, wie etwa Gregorius oder der Teufelsbündner Theophilus.13 Bestätigte die Heiligenlegende die Möglichkeit der Normerfüllung, so bekräftigte die Sünderheiligenlegende die Möglichkeit der Rekonziliation: Gleichgültig wie groß die Sünde auch sein mochte – Gott konnte dem Sünder Gnade zuteil werden lassen und ihm nicht nur seine Sünden vergeben, sondern ihn über jeden Makel erheben. Hierzu bedurfte es freilich bestimmter narrativer Mechanismen, die den Wechsel 11 Vgl. Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147 bes. S. 115. 12 Diese Verknüpfung findet sich etwa in der Legenda aurea. Vgl. Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, 10. Auflage, Heidelberg 1984 (Simon Magus, S. 428 – 433; Judas, S. 214 – 217). Zur Judaslegende vgl. Friedrich Ohly, Der Verfluchte und der Erwhlte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften. Vorträge G 207), bes. S. 7 – 43. 13 Grundlegend zur Figur des Sünderheiligen ist nach wie vor Erhard Dorn, Der sndige Heilige in der Legende des Mittelalters, München 1967 (Medium Aevum 10). Speziell zur Theophiluslegende: Albert Gier, Der Snder als Beispiel. Zu Gestalt und Funktion hagiographischer Gebrauchstexte anhand der Theophiluslegende, Frankfurt/M. 1977; Karl Plenzat, Die Theophiluslegende in den Dichtungen des Mittelalters, Berlin 1926 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967) (Germanische Studien 43); Hans Heinrich Weber, Studien zur deutschen Marienlegende des Mittelalters am Beispiel der Theophiluslegende, Hamburg 1966.
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von der Sünde zur Heiligkeit abfederten: Der Sünderheilige wurde geheiligt durch die Tiefe seiner Reue und die Hartnäckigkeit seiner Buße, die dann durch die superabundans gratia mit der vollständigen Rekonziliation belohnt wurde. Für den Teufelsbündner bedurfte es freilich jenseits von Buße und Reue spezieller Mechanismen, um der Gnade den Weg zu ebnen. Als rtes de passage fungierten dabei die Fürbitte eines Heiligen oder der Gottesmutter und das Geständnis des Sünders. Reue und Buße allein reichten in diesem Falle nicht aus, denn durch die Apostasie und die schriftliche Fixierung des Teufelspaktes war der reuige und umkehrwillige Teufelsbündner auf ausdrückliche Vergebung, die an das Geständnis geknüpft war, und auf Hilfe von außen angewiesen, um dem Teufel das Paktdokument wieder zu entreißen.14
Eine Anti-Legende? Die Historia von D. Johann Fausten Bekanntlich ist Johann Faustus diese Umkehr nicht gelungen. Seine Sünderbiographie beschreibt eine Transgression ohne Rekonziliation. Damit setzt die Historia von D. Johann Fausten einen durchaus markanten Punkt, denn Faustus ist der erste zur Ehre einer Vita erhobene Teufelsbündner, der nicht gerettet, sondern vom Teufel in einer bemerkenswert grausam geschilderten Szene geholt wird.15 Erstaunlicher noch ist die Tatsache, dass die Historia Faustus dieses fatale Ende einschreibt, ohne ihn, wie etwa Judas, als absolut böse auszuweisen – im Gegenteil: der Faustus der Historia ist ein ausgesprochen umgänglicher und fürsorglicher Mensch, und seine magischen Zauberkräfte setzt er so gut wie nie ein, um echten Schaden zu bewirken.16 Der mit Hilfe von Zauberei 14 Vgl. Gier, Der Snder als Beispiel (Anm. 12), S. 46. 15 Vgl. Die Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587, Kritische Ausgabe, hrsg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1988, S. 122 f. 16 Eine Ausnahme hiervon bildet die Tötung eines anderen Zauberers, die der Erzähler sowohl innerhalb der Narration in der Fokalisierung auf Faust ([ihn] verdroß de[r] Hochmuth den Principal Zauberers / wie er so frech mit Gotteßl (stern vnd lachendem Mund jm ließ den Kopff herab hawen) als auch auf der Kommentarebene (wie dann der Teuffel allen seinen Dienern letztlich solchen Lohn gibt) ausdrücklich legitimiert. Vgl. Historia (Anm. 15), S. 101. In der jüngeren Forschung ist der Zusammenhang zwischen der Faust-Historia und der Hexenverfolgung stärker thematisiert worden, wobei meines Erachtens nicht hinreichend berücksichtigt worden ist, was es bedeutet, dass Faust nicht als bösartiger Schadenszauberer dargestellt wird. Vgl. Frank Baron, Faustus on Trial. The origins of Johann Spies’s
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angerichtete Schaden beruht zumeist auf harmloser Sinnestäuschung, die nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wird, und er richtet sich zudem vorwiegend gegen gesellschaftlich stigmatisierte Gruppen (Bauern, Juden), die schadenfrohem Gelächter preisgegeben werden.17 Umso unbarmherziger wirkt Faustens Ende. An ihm wird eine Form der Normdurchsetzung exekutiert, die keine mildernden Umstände gelten lässt und die Ansprüche an Reue und Glaubensunbedingtheit derart gesteigert hat, dass ein Rückweg so gut wie ausgeschlossen ist.18 Dabei finden sich durchaus entscheidende Umkehrvoraussetzungen in der Erzählung seines Lebens. Schon bald nach Abschluss des Teufelspakts bereut Faustus seine Tat, weint und klagt, dass ich als ein Gesch =pff Gottes von jme gewichen bin / vnd mich den Teuffel bereden lassen / dass ich mich jhme mit Leib vnd Seele ergeben / vnd verkaufft habe.19 Und am Ende seines Lebens klagt er sich in drei Wehklagen selbst an und richtet verzweifelt die Frage an sich wer wil mich Elenden erretten? 20 Schließlich legt er am letzten Abend vor Ablauf der vierundzwanzigjährigen Paktzeit vor seinen liebe[n] vertrawete[n] vnd gantz g Fnstige[n] Herren ein Geständnis seiner Schuld ab und bekennt ihnen in einer Oratio, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, der in der kommenden Nacht ablaufe. Obwohl er ihnen versichert, dass ich eine
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,Historia‘ in an age of witch hunting, Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 9), bes. S. 127 – 147; ders., „Die Hexenprozesse und die Entstehung des Faustbuchs“, in: Richard Auernheimer/Frank Baron (Hrsg.), Das Faustbuch von 1587. Provokation und Wirkung, München 1991, S. 59 – 73; Gerhild Scholz Williams/ Alexander Schwarz, Existentielle Vergeblichkeit. Vertrge in der Mlusine, im Eulenspiegel und im Dr. Faustus, Berlin 2003 (Philologische Studien und Quellen 179), S. 109 – 145. Nicht zuletzt an dieser Schadenfreude lässt sich eine Nähe zum Schwankroman festmachen. Zur Funktion der Schadenfreude im Schwankroman vgl. Werner Röcke, Die Freude am Bçsen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Sptmittelalter, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6), S. 24 und passim. Diese Unbarmherzigkeit hat bis in die jüngere Forschung für Irritation gesorgt. So bemerkt etwa Walter Haug („Der Teufelspakt vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 75/2001, S. 185 – 215, hier S. 205), „man sieht sich schließlich vor die Frage gestellt, weshalb Faustus eigentlich verdammt wird“, denn „er tut kaum etwas wirklich Böses“. „Man stößt sich an dem Missverhältnis zwischen dem, was Faustus’ Zusammenspiel mit dem Teufel an mehr oder weniger harmlosen Boshaftigkeiten zeigt und der Verurteilung zur ewigen Höllenqual.“ Historia (Anm. 15), S. 33. Ebd., S. 118.
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hertzliche Reuwe habe / vnd im Hertzen jmmer vmb Gnade bitte, vollzieht sich in der folgenden Nacht sein greuwliche[s] vnd erschreckliche[s] Ende: der Teufel zerschmettert seinen Leib und wirft ihn auf den Misthaufen, das Gehirn klebt in der blutbespritzten Stube an der Wand, Augen und Zähne liegen auf dem Boden zerstreut.21 Dieses Ende, das der Erzähler schon in der Vorrede an den christlichen Leser angekündigt hatte und auf das hin Faustens Vita erzählt worden ist, besiegelt seine Identität als Verworfener.22 Das Urteil über Faustus aber fällt nicht Gott im individuellen Gericht, sondern Faustus selbst und quasi im Gleichklang mit ihm die Stimme des Erzählers. Faustus meint, weil er sich dem Teufel ergeben habe, könne er auf die Gnade Gottes nicht mehr hoffen, und der Erzähler kommentiert daraufhin, Faustus habe weder Glauben noch Hoffnung zu schöpfen vermocht, dass er durch Buße zur Gnade gebracht werden könne.23 Faustus eigenes Urteil, das die Grundlage seiner Verurteilung bildet, wiederholt der Erzählerkommentar an mehreren Stellen gebetsmühlenhaft und macht sich damit – theologisch streng genommen – derselben Sünde schuldig wie Faustus: Er maßt sich das Urteil Gottes an und legt dessen ebenso unerschöpflicher wie unergründlicher Freiheit, Gnade walten zu lassen, Fesseln an. Die heterodiegetische Stimme des Erzählers übernimmt selbst die Funktion des Richters, indem sie Faustus Reue immer wieder als Kains- und Judasreue aburteilt.24 Was der Erzähler sich erlaubt, darf Faustus aber gerade nicht: Erst durch seine Selbstverurteilung nämlich macht er sich der Sünde der desperatio schuldig und verwirkt damit tatsächlich die Möglichkeit der Gnade, die nur an eine Voraussetzung gebunden ist: den Glauben an ihre Möglichkeit wider alle Normativität.25 Das lässt mindestens zwei Schlussfolgerungen zu: zum einen, dass das Erzählen von Transgression ohne Rekonziliation erträglich geworden ist, ohne die Norm selbst zu gefährden, was auf eine gesteigerte Normenstabilität schließen ließe; zum anderen, dass die Historia sich nicht mehr am Sünderlegendenmodell von Transgression und Rekon21 22 23 24 25
Ebd., S. 119 – 123. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 33 und S. 36. Vgl. Friedrich Ohly, „Desperatio und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit“, in: Helmut Birkhahn (Hrsg.), Festgabe fr Otto Hçfler zum 75. Geburtstag, Wien [u.a.] 1976 (Philologica Germanica 3), S. 499 – 577.
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ziliation orientiert. Die Historia wird denn auch in der Forschung häufig auch als Antilegende bezeichnet.26 Trotz seiner geläufigen Verwendung ist der Begriff der Antilegende terminologisch uneindeutig, und anders als dem Legenden-Begriff ist ihm auch keine weit zurückreichende und mit der pragmatischen Rahmung der Heiligenvita eng verknüpfte Etymologie eigen. Eingeführt in die Diskussion wurde er 1930 von André Jolles in seiner berühmt gewordenen Untersuchung Einfache Formen. Jolles hat den Begriff der Antilegende quasi deduktiv aus seiner Definition der Legende als der „Geistesbeschäftigung der imitatio“ abgeleitet: Wenn nun in der Geistesbeschäftigung der imitatio der Heilige eine Gestalt ist, in der die Tugend meßbar, greifbar, faßbar wird, die uns zum Bewußtsein bringt, was wir auf dem Wege der Tugend tun, erfahren und sein möchten, und die uns sachlich als Maßstab die Möglichkeit gibt, ihr zu folgen, so muß es andererseits in derselben Form Gestalten geben, in denen das Verbrechen meßbar, greifbar, faßbar wird und in denen sich das Böse, das strafbare Unrecht in derselben Weise vergegenständlicht. Dem Nachahmenswerten, Unnachahmbaren muß sich eine Figur gegenüberstellen lassen, der wir unter keiner Bedingung folgen sollen, die uns das konkrete Bewusstsein dessen gibt, was wir nicht nachahmen dürfen. Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüber stehen.27
Als einen dieser Unheiligen führt Jolles auch Faust an und stellt ihn in eine Reihe mit Simon Magus, Robert dem Teufel, Ahasver, dem fliegenden Holländer, Don Juan und dem Grafen von Luxemburg.28 26 Vgl. etwa Frank Baron, „Die Hexenprozesse“ (Anm. 16), S. 68 f.; ders., „The Faust Book’s Indebtedness to Augustin Lerchheimer and Wittenberg Sources“, in: Daphnis, 14 (1985), S. 517 – 545, hier S. 536 f.; Friedrich Ohly, Der Verfluchte (Anm. 12), S. 102; Jan-Dirk Müller, „Kommentar“, in: Melusine, Fortunatus, Faustus. Die Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von dems., Frankfurt/M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54), S. 1346 f. Umgekehrt ist der Faust-Stoff häufig aber auch als Legende bezeichnet worden. Der Bezugspunkt ist in diesen Fällen dann aber nicht die Legende, sondern das Legendäre der Figur, ohne dass dies freilich reflektiert worden wäre. Vgl. etwa Luigi Tacconelli, Faust. Reise in die Kulturalitt. Von der textuellen Zeichenhaftigkeit zur hypertextuellen Entropie der ,Rap‘-performativen sthetik, Trient 1998, S. 10. Im Englischen eignet dem Begriff der Legende ohnehin eine stärkere Polysemie, die von der Sage nicht deutlich getrennt ist. Vgl. Marguerite de Huszar Allen, The Faust Legend: Popular Formula and Modern Novel, New York [u.a.] 1985. 27 André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rtsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Mrchen, Witz, 7. unveränd. Auflage, Tübingen 1999, S. 51. 28 Ebd., S. 53.
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Die Heterogenität dieser Reihe macht bereits deutlich, wie vage der Begriff der Antilegende bleibt. Jolles macht den Unterschied zwischen der Legende und der Antilegende allein an ihrem Protagonisten und der von ihm auf die imitatio eingeschränkten pragmatischen Funktion der Legende fest: wird von einem Heiligen erzählt, der nachgeahmt werden soll, so handelt es sich um eine Legende; wird von einem Sünder erzählt, dessen Handlungen auf keinen Fall nachgeahmt werden dürfen, so handelt es sich um eine Antilegende. Die Antilegende ist bei Jolles somit nicht im eigentlichen Sinne eine negative Umkehrung der Legende, sondern ihres Protagonisten. Anstelle der Vita eines Heiligen wird die eines Antiheiligen erzählt.29 Damit lässt Jolles’ Begriff der Antilegende offen, ob und in welcher Weise die Antilegende an den Erzählformen der Legende partizipiert oder ob sie auf einzelne Elemente legendarischen Erzählens bezogen werden kann. Er homogenisiert so einerseits in unangemessener Weise unterschiedliche Formen legendarischen Erzählens und suggeriert andererseits die Festlegung des Heiligen auf einen bestimmten Aspekt, nämlich den der imitatio. 30 Unter Antilegende ist denn auch Verschiedenes subsumiert worden, was nicht zuletzt an Jolles’ vager und die Erzählformen der Legende nicht berücksichtigender Definition der Antilegende liegt. Als Antilegenden sind einerseits die Geschichten von Sünderheiligen bezeichnet worden, also solcher Heiliger oder Seliger, die sich nach einer sündhaften Phase ihres Lebens zu Gott bekehrten und anschließend Heilige wurden, andererseits die Geschichten von Sündern, die von Gott abfielen und nie zu ihm zurückfanden, daneben aber auch die Viten, in denen Heiligkeitsbehauptungen widerlegt werden sollten, wie die protestantischen „Lügenden“, mittels derer der lügenhafte Charakter der katholischen Heiligenlegenden aufgezeigt werden sollte und ebenso die polemischen katholischen Luther-Viten, die Luther gegen die schon bald nach seinem Tod entstandenen protestantischen Legenden als Ketzer oder Teufelsbündner auszuweisen suchten. Eine Antilegende kann also alles sein, was irgendwie von Sündern oder Verworfenen erzählt oder bestehende Legenden abzuwerten beziehungsweise zu widerlegen versucht. 29 Jolles hat denn auch nicht nur die Antilegende erfunden, sondern auch das Antimärchen, auf das dann im Anschluss an ihn auch die Gegensage (engl. „antilegend“) gefolgt ist. Vgl. Elfriede Moser-Rath, „Antimärchen“, in: Enzyklopdie des Mrchens, Bd. 1, Berlin [u.a.] 1977, Sp. 609 – 611. 30 Vgl. Jolles, Einfache Formen (Anm. 27), S. 36 f.
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Eine solch heillose Begriffsverwirrung könnte es geraten scheinen lassen, den Begriff der Antilegende gänzlich zu verabschieden, aber damit würde man sich der Möglichkeit begeben aufzuzeigen, in welcher Weise Faustus am Maßstab des Heiligen gemessen wird, inwiefern Elemente legendarischen Erzählens in seine Vita eingeflossen sind und welches Licht seine Vita auf die Legende selbst zurückwirft. Um den Begriff der Antilegende und seine Brauchbarkeit zu klären, bedarf es daher zunächst des Rekurses auf die Geltungsbedingungen sowie die Morphologie der Legende im Mittelalter und ihrer Transformationen durch die Reformation.
Zum Begriff der Legende und legendarischem Erzählen im Mittelalter Die Legende erzählt vom Durchbruch des Heiligen im Leben eines als historisch verbürgt angenommenen Menschen. Insofern greift es zu kurz, sie nur als die Vita eines Heiligen zu bezeichnen.31 Denn die Legende repräsentiert nicht einfach nur den Heiligen, sondern auch das Heilige. „Sie vergegenwärtigt das Heilige in Gestalt der viten- oder biographieförmigen Erzählung von einem oder einer Heiligen.“32 Das unterscheidet sie von anderen Formen der biographischen Erzählung. 31 Zur gattungstheoretischen Diskussion, die nicht zuletzt darunter leidet, dass ein Teil der Forschung die Legende als eine weitgehend auf das christliche Mittelalter beschränkte Gattung betrachtet, während ein anderer Teil sie als universale Erzählform begreift, vgl. Hans Peter Ecker, Die Legende. Kulturanthropologische Annherung an eine literarische Gattung, Stuttgart [u.a.] 1993 (Germanistische Abhandlungen 76); Gabriel Decuble, Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heiligenlegende als literarische Gattung. Unter besonderer Bercksichtigung der Alexius-Legende, Konstanz 2002; Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzhlens von der sptantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964; Ulrich Wyss, „Legenden“, in: Volker Mertens/Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 40 – 60; Siegfried Ringler, „Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters“, in: Peter Kesting (Hrsg.), Wrzburger Prosastudien II. Festschrift Kurt Ruh, München 1975 (Medium Aevum 31), S. 255 – 270; Hans Ulrich Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie“, in: Christoph Cormeau (Hrsg.), Deutsche Literatur im Mittelalter: Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 37 – 84. 32 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 11), S. 113.
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Selbst wenn der Heilige von Beginn an ein sündenfreies, Gott hingegebenes Leben führt, muss sich das Heilige doch erst im Laufe seines Lebens verwirklichen und in oder nach seinem Tod bestätigen. Der Durchbruch des Heiligen im Leben eines Menschen kann sich in unterschiedlicher Weise ereignen: Als Martyrium, als Wunder, als Weltabkehr etc. Deshalb geht es in der Legende zumeist nicht um das Kontinuum eines Lebens, sondern um die Brüche und Umbrüche, um den Einbruch des Wunders und der wunderbaren Tugend in das Leben.33 Aufgrund dieser Festlegung auf den Durchbruch des Heiligen ist der legendarischen Vita bis in die jüngere Forschung hinein attestiert worden, sie sei extrem stereotyp und lasse den Heiligen nicht als Individuum, sondern als Typus erscheinen.34 Dem steht freilich entgegen, dass der Heilige nur dann anrufbar ist, wenn er in der Zeitlichkeit der Immanenz durch die behauptete Historizität seiner Legende fest verankert und ihm eine kohärente Identität verliehen worden ist, die es ermöglicht, ihn von anderen Heiligen zu unterscheiden. Insofern Legenden, wie es das Wirklichkeitskriterium postuliert, ihren Erzählstoff in einem Realgeschehen fundiert wissen wollen, entwickeln sie in vielen Fällen ein besonderes Interesse für ihre Protagonisten, die namentlich genannt, historisch, geographisch und genealogisch eingeordnet und charakterlich beschrieben werden. Die (glaubhaft vermittelte) reale Existenz der Handelnden plausibilisiert die Realität ihrer Taten und Erlebnisse, ihre Individualisierung konstituiert sie als Ansprechpartner.35
Systemtheoretisch betrachtet, individualisiert die Legende den Heiligen, indem sie ihn auf ein Jenseits hin orientiert, das den Anforderungen des Diesseits entgegensteht. Der Heilige zeichnet sich insofern durch Exklusionsindividualität aus, denn die gesellschaftlichen Anforderungen von Familie und Stand haben für ihn keine Bedeutung. Die Figur des Heiligen scheint damit Luhmanns Grundannahme zu widersprechen, 33 Vgl. Jolles, Einfache Formen (Anm. 27), S. 39. 34 Vgl. Wyss, „Legenden“ (Anm. 31), S. 57; Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kults vom frhen Christentum bis zur Gegenwart, 2. überarb. Auflage, München 1997, S. 143 – 148. 35 Ecker, Die Legende (Anm. 31), S. 216. Ecker hat damit auf einen meines Erachtens entscheidenden Irrtum der älteren Legendenforschung hingewiesen, die in der Regel lediglich die Stereotypie legendarischen Erzählens konstatiert hat. Eigentümlich anachronistisch an seiner oben zitierten Aussage ist freilich die Bezeichnung des Heiligen als „Ansprechpartner“, womit wohl intercessor oder mediator gemeint sein dürfte.
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Individualität sei in der stratifikatorischen Gesellschaft des Mittelalters grundsätzlich nur als Inklusionsindividualität bestimmt worden.36 Die Identität des Heiligen zeichnet sich in der Regel gerade durch gezielte Selbstexklusion aus, sie bestimmt sich jenseits der Inklusion in ein bestimmtes gesellschaftliches Stratum.37 Häufig sagt sich der künftige Heilige von seiner Familie los, verlässt sein Elternhaus oder seine Ehefrau, gibt seinen gesellschaftlichen Status auf und wandelt als Fremder durch die Welt oder zieht sich, wie in den Anachoretenlegenden, in die Einsamkeit der Wüste zurück.38 Oder aber er nimmt, wie in den frühchristlichen Legenden, gar das Martyrium auf sich, dessen Erlangung häufig durch die Negierung seiner gesellschaftlichen Position eingeleitet wird.39 Was als Widerspruch erscheint, ist jedoch eher eine Bestätigung: Die Identität des Heiligen errichtet sich über dem Basisschema der Inklusionsindividualität als die mirabile Ausnahme, die das Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz markiert. Überdies ist diese Selbstexklusion nur eine Stufe auf dem Weg zur Inklusion des Heiligen in die communio sanctorum und damit eine Inklusion in die 36 Vgl. Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt/M. 1989, Bd. 3, S. 149 – 258, bes. S. 156 f. Vgl. auch Cornelia Bohn, „Inklusionsindividualität und Exklusionsindividualität“, in: dies./Herbert Willems (Hrsg.), Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive, Konstanz 2001, S. 159 – 176. 37 Alois Hahn und Cornelia Bohn haben darauf hingewiesen, dass in einer Gesellschaft, die sich auf ein Jenseits hin entwirft, die Religion eigene Exklusionsmuster entwickle, womit das bereits ausdifferenzierte Funktionssystem der Religion auf moderne Exklusions- und Inklusionsverhältnisse vorgreife. Vgl. Alois Hahn/Cornelia Bohn, „Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum“, in: Gert Melville/Markus Schürer (Hrsg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002 (Vita regularis 16), S. 3 – 25 hier S. 15 f. 38 Für das Lossagen von der Familie und den Verzicht auf den gesellschaftlichen Status ist die Alexius-Legende ein besonders eindrückliches Beispiel, denn Alexius fristet nach siebzehn Jahren, die er in der Fremde verbracht hat, weitere siebzehn Jahre seines Lebens als Bettler unter der Treppe des elterlichen Patrizierhauses in Rom, ohne dass er erkannt würde. Erst nach seinem Tod offenbart sich seine frühere Identität zugleich mit seiner Heiligkeit. Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 11); Feistner, Historische Typologie (Anm. 10), S. 39 – 42; Margreth Egidi, „Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende“, in diesem Band. 39 Ich spreche hier absichtsvoll von der Erlangung des Martyriums, denn zahlreiche der Märtyrerlegenden erzählen davon, dass der oder die Heilige das Martyrium gezielt anstrebt.
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Gesellschaft auf zweiter Stufe, denn dem Heiligen wird institutionell die Funktion des Mediators und Intercessors zugewiesen, der als Inklusionsvermittler in das himmlische Reich fungiert. Seine irdische Exklusion ist daher nur die Vorstufe seiner himmlischen Inklusion sowie Ausweis und Versprechen der Inkludierbarkeit auch für diejenigen, die selbst keine Heiligen sein können. Daher ist der Heilige nicht allein auf seine Vorbildfunktion festzulegen: das venerabile fordert nicht unbedingt zur imitatio auf, sondern ersetzt vielfach die imitatio durch die admiratio. 40 Die Identität des Heiligen gibt der Legende nicht unbedingt ein einheitliches Erzählschema vor, sie lässt sich vielmehr mit den beiden grundsätzlichen morphologischen Bauprinzipien der mittelalterlichen Legende verknüpfen, die Edith Feistner aufgezeigt hat: dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente und dem ihrer paradigmatischen Reihung.41 Diese beiden grundsätzlichen Bauprinzipien legendarischen Erzählens fallen weitgehend zusammen mit der traditionellen Unterteilung der Legenden in Märtyrer- und Bekennerlegenden. Die Märtyrerlegende folgt dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente, während die Bekennerlegende sich des loseren Prinzips der paradigmatischen Reihung bedient. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass das Martyrium eine syntagmatische Verknüpfung quasi erzwingt, weil es der Logik einer dramatischen Klimax folgt, die am Basisnexus Verhör – Haft – Hinrichtung orientiert ist.42 Die einzelnen Elemente des Bekennertypus können dagegen mehr oder weniger beliebig amplifiziert werden, weil sie als Paradigmen der Heiligung fungieren, deren Reihung nicht unbedingt einer bestimmten Anordnung unterliegt und die deshalb auch unproblematisch erweitert werden kann. Nach Feistners überzeugender Darlegung ist das Prinzip ihrer Anordnung bis auf den Rahmen von Herkunft, Geburt und Tod weitgehend frei verfügbar und kann sich entweder an der rhetorischen Disposition der Reihung in chronologischer Abfolge oder der Reihung nach bestimmten Themenbereichen beziehungsweise Tugenden ori-
40 Vgl. Wolpers, Die englische Heiligenlegende (Anm. 31), S. 31. Hans Robert Jauß hat dafür den Begriff der „admirativen Identifikation“ geprägt; vgl. Hans Robert Jauß, „Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden“, in: ders., sthetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1991, S. 244 – 292. 41 Vgl. Feistner, Historische Typologie (Anm. 10), S. 26 – 49. 42 Vgl. ebd., S. 27.
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entieren.43 Ergänzen lässt sich diese Rahmung durch die Selbstexklusion des Heiligen, die häufig den Prozess der Heiligung einleitet oder als ihr erster vernehmlicher Ausdruck erscheint.44 Beide Legendentypen können darunter verschiedene biographische Modelle des Heiligen und der Heiligung entwickeln: das lineare Geburtsmodell und das rupturale Konversionsmodell.45 Im linearen Geburtsmodell ist der Heilige von Geburt an frei von Sünde und von der Aura der Heiligkeit umgeben (Nikolaus, Alexius), im rupturalen Konversionsmodell lebt er anfänglich in Sünde und Gottesferne, um sich dann zu bekehren und von da ab ein heiligmäßiges Leben in Buße und Reue zu führen (Maria Aegyptiaca) oder das Martyrium für den Glauben zu erleiden (Paulus). Das Konversionsmodell kann noch einmal unterteilt werden in die Vita des gewöhnlichen Sünders, der Gott nicht achtet, dann aber zu ihm findet, und die des Apostaten, der von Gott abfällt, sich mit dem Teufel einlässt, um sich dann wieder zu bekehren.46 Es ergibt sich daraus ein einfaches (Sünder) oder ein dop-
43 Vgl. ebd., S. 35. Feistner zeigt, dass sich die Legende mit diesen beiden möglichen Dispositionsformen an den beiden in der antiken Rhetorik vorgegebenen Biographiemodellen orientiert. 44 Der bekannteste Vertreter dieses Modells ist der Kaufmannssohn Franziskus von Assisi, der sich in einem dramatischen Akt auf dem Marktplatz von Assisi nackt auszieht, um sich von seinem Vater loszusagen und sich dabei zugleich aller seiner Statussymbole zu entledigen. Wie dominant das Modell der Selbstexklusion aus gesellschaftlichen Verpflichtungen ist, zeigt sich selbst dort, wo es nicht verwirklicht ist, wie etwa in der Ambrosius-Legende, die das Leben des aus einer vornehmen römischen Familie stammenden Ambrosius als allzu bruchlos auswiese, wenn nicht der Heilige zahlreiche Versuche unternähme, das ihm angetragene Amt des Bischofs von Mailand mit allen Mitteln auszuschlagen. Vgl. Legenda aurea (Anm. 12), S. 290 f. 45 In ähnlicher Weise unterscheidet Hans Ulrich Gumbrecht im Anschluss an Max Scheler (Zur Ethik und Erkenntnislehre, Berlin 1933, Bd. 1, S. 157 ff.) die „einmalgeborenen“ Heiligen (Heilige, die von ihrer Geburt bis zum Tod ein heiligmäßiges Leben führen) von den „zweimalgeborenen“ Heiligen (Heilige, die vor ihrer conversio ein sündhaftes Leben geführt haben, wie Paulus, Augustinus, Franziskus und Maria Magdalena), denen nach seiner Auffassung eine persönliche Identität und damit Biographie eignet. Vgl. Gumbrecht, „Die Identität des Heiligen“ (Anm. 9), S. 706. 46 Dorn unterteilt seine Untersuchung der Sünderheiligen danach, woran sie sich versündigen. Vgl. Dorn, Der sndige Heilige (Anm. 13), S. 20; Sünder wider Gott und den Glauben: infidelitas, S. 28 – 40; abnegatio fidei, S. 40 – 51; Sünder wider den Leib (luxuria), S. 52 – 80, (incestus), S. 80 – 89; Sünder wider das Leben: homicidium, S. 90 – 97; patricidium, S. 97 – 103; Sünder wider das Ei-
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peltes (Teufelsbündner) Konversionsmodell: Das einfache Konversionsmodell ist auf Umkehr und Buße angelegt, das doppelte Konversionsmodell auf Abfall und Umkehr.47 Beide Konversionsmodelle sind aufgrund ihrer Anlage eng mit Reue und Buße verknüpft, wobei das doppelte Konversionsmodell des Teufelsbündners in der Regel mit einem Geständnis einhergeht und zugleich eine der wichtigsten Funktionen des Heiligen narrativ verdichtet: die des Intercessors. Den Rückweg zu Gott ebnen dem reuigen Teufelsbündner und künftigen Heiligen in der Regel andere Heilige, die für den reuigen Gefallenen um Gnade bitten.48 Teufelsbündnerlegenden erzählen deshalb nicht nur von der Heiligung des Sünders, sondern auch von der Funktion der Heiligen als Heilsvermittler für diejenigen, die in Sünde leben. Sie integrieren in die Narration, was eigentlich jenseits der Legende steht: die Anrufung der Heiligen um des eigenen Heils willen.49
Protestantische Legendenkritik und protestantische Bekennerhistorie Gerade diese Verknüpfung von Geltungsbedingungen und Geltungserzählungen des Heiligen ändert sich mit der Reformation fundamental. Mit dem von Luther begründeten dreifachen sola-Prinzip – sola fides, sola scriptura, sola gratia – verlieren die Heiligen ihre Funktion als Fürbitter und Heilsvermittler. Luther, der von sich selbst bekennt, er habe die Heiligen in seiner Zeit als Augustinermönch vielfach angerufen, sieht in der Heiligenverehrung zunehmend eine Form der Negierung gentum (avaritia, immisericordia): Räuber (latrocinium), S. 104 – 110); Zöllner (immoderatus appetitus divitiarum), S. 110 – 114. 47 Für die imitatio ist nur das Konversionsmodell geeignet – ein Geburtsheiliger kann nicht nachgeahmt werden. 48 In dieser Rolle erscheint bevorzugt die auf das Mitleid mit dem armen Sünder festgelegte Gottesmutter. In den zahlreichen Marienlegenden tritt sie immer wieder als Heilsvermittlerin auf, die den Zorn Christi über den Sünder besänftigt und ihn schließlich dazu bringt, ihm gnädig zu sein. Vgl. Weber, Studien zur deutschen Marienlegende (Anm. 13), passim. Das lässt sich insbesondere am Beispiel der unterschiedlichen Bearbeitungen der Theophiluslegende zeigen. Vgl. Plenzat, Die Theophiluslegende (Anm. 13), S. 22 Gier, Der Snder als Beispiel (Anm. 13), S. 60. 49 Hans Peter Ecker hat diesen besonderen Aspekt in seinem Kriterienkatalog für die Legende als „Relevanzkriterium“ bezeichnet. Vgl. Ecker, Legende (Anm. 31), S. 148 ff.
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Christi als des einzigen Heilsvermittlers und in der Verfügung der Kirche über die Heiligen mittels der Reliquien und der durch sie begründeten Wallfahrten eine Aneignung der Heilsvermittlung, die den Glauben unterminiert, weil sie ihn durch abergläubische Praktiken ersetzt.50 Die Ablehnung der Heiligenverehrung hat sich langsam vollzogen, aber immer deutlichere Formen angenommen. In der 1519 erschienen Schrift Unterricht auf etlich Artikel schreibt Luther noch: Von der lieben Heiligen Frbitte sag ich und halt fest mit der ganzen Christenheit, dass man die lieben Heiligen ehren und anrufen soll.51 Schon im Sermon von der Bereitung zum Sterben, ebenfalls von 1519, kritisiert Luther aber die Tendenz, die Heiligen bei Krankheiten oder in der Todesstunde um Hilfe anzurufen.52 Die Heiligen sollen vielmehr als Glaubensvorbilder fungieren, die der Seele durch die Festigkeit ihres Glaubens Trost spenden: Also fleucht Tod, Snd und Hçll mit all ihren Krften, so wir nur Christi und seiner Heiligen leuchtende Bilder in uns ben in der Nacht, d. i. im Glauben.53 Der Heilige wandelt sich damit bei Luther zunächst vom ,magischen Helfer‘ zum ,ethischen Virtuosen‘.54 Im Zeitraum zwischen 1521 – 1525 kommt es dann zur immer dezidierteren Ablehnung der Heiligenverehrung. Das wird besonders deutlich an Luthers zunehmender Kritik am Marienkult. 1521 preist er in seinem Magnificat verdeutscht und außgelegt Maria zwar noch als Vorbild echter humilitas, weist aber bereits darauf hin, dass man ihr nur achtungsvoll gedenken, sie aber nicht als mediatrix verehren solle.55 1522 schreibt Luther zum Ave Maria des Betbchleins, der Gläubige solle seine Zuversicht nicht auf Maria richten, denn solche Zuversicht gebühre allein Gott.56 Maria gilt nicht mehr als die wichtigste Heilsvermittlerin 50 Vgl. Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie“ (Anm. 31), S. 69 f. 51 Martin Luther, „Unterricht auf etlich Artikel“, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff., Bd. 2, S. 70 (künftig als WA zitiert). 52 Vgl. Luther, „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben“, in: WA, Bd. 2, S. 685 – 726, hier S. 690. 53 Luther, „Ein Sermon“ (Anm. 52), S. 690. 54 Zu diesen Begriffen vgl. Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie“ (Anm. 31), S. 55. 55 Luther, „Magnificat verdeutscht und außgelegt“, in: WA, Bd. 7, S. 546 – 603, hier S. 568 f. 56 Vgl. WA, Bd. 10/II, S. 407. Vgl. auch S. 409, wo sich Luther zum Marienkult noch deutlich schärfer äußert.
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und Himmelskönigin, sondern nur noch als Exempel des Glaubens, der Demut und des Trostes. Deutlicher noch wird die Ablehnung der Anrufung der Heiligen in der Schrift Etliche Artikel, so von den Papisten jetzt neulich verflscht und bçslich gerhmt wider uns Lutherischen aus dem Jahr 1535.57 Der Anspruch an jeden wahren Christen ist jetzt, dass er sich nicht mehr an die Heiligen wendet, sondern lßt solches alles anstehen, als der da gelernet hat, dass nirgends keine Hlfe auf Erden ist, wider den Tod […], schreit aber allein zu Gott mit solchem Glauben, dass er ihm durch Christus davon helfen werde.58 Deutlicher noch brandmarkt Luther in den Schmalkaldischen Artikeln von 1538 die Anrufung der Heiligen als Abgötterei: Anruffung der Heiligen ist auch der End Christischen Misbreuche einer und streitet wider den ersten Heubtartikel und tilget die erkenntnis Christi.59 „Der umfassendere Gedanke der communio sanctorum wird damit aufgegeben, das einzelne Individuum steht allein Gott gegenüber, und die Grundlagen der Heiligenverehrung, des Intercessiogedankens und der Wallfahrten sind aufgelöst.“60 Damit wachsen im Protestantismus die Anforderungen an den Gläubigen: Der Weg zum Heil muss nunmehr allein beschritten werden, und dieser Weg ist gekennzeichnet von Ängsten und Anfechtungen, in denen keine Heiligen mehr angerufen werden dürfen, sondern in denen der Christ allein vor Gott bestehen können muss. Gerechtfertigt werden kann der Mensch allein durch den Glauben, aber dieser Glaube wird von jeder institutionellen Verbindlichkeit gelöst und von allen Praktiken entbunden, die mit Heilsgarantie versehen waren. Damit ändern sich auch die Geltungsbedingungen der Legende fundamental. Die Erzählungen von dem im Leben der Heiligen sich verwirklichenden Heil, vom Hineinragen der Transzendenz in die 57 Vgl. WA, Bd. 38, S. 393 ff. 58 Ebd., S. 394. 59 „Schmalkaldische Artikel“, in: WA, Bd. 50, S. 192 – 254, hier S. 210, col. 2. Die Manuskriptgeschichte der von einer großen Zahl von Reformierten unterzeichneten Schmalkaldischen Artikel ist überaus verworren, so dass ihre Zuschreibung zu Luther nicht eindeutig ist. Luther dürfte wohl den ursprünglichen Text verfasst haben, der dann unter den Unterzeichnern zirkulierte. Zumindest Spalatin und Melanchthon haben nachweislich Änderungen vorgenommen, der Tenor des Textes dürfte aber auf Luther zurückgehen. Für die Liste der Unterzeichner vgl. WA, Bd. 50, S. 253 – 254. 60 Wolfgang Hieber, Legende, protestantische Bekennerhistorie, Legendenhistorie. Studien zur literarischen Gestaltung der Heiligenthematik im Zeitalter der Glaubenskmpfe, Würzburg 1970, S. 319.
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Immanenz, von den Wundern, die die Heiligen vor und nach ihrem Tod vollbracht haben sollen, von der Selbstheiligung durch Askese und der mutwilligen Abweisung gesellschaftlicher Anforderungen negieren aus evangelischer Sicht das Prinzip der sola gratia und fördern damit den Aberglauben. Der Legende wird aber nicht nur vorgeworfen, sie vermittle ein falsches Bild von der Verwirklichung des Heils und damit zugleich falsche Sicherheit, sondern auch, sie sei bloße Erfindung, um die Gläubigen vom Weg des Heils abzubringen, der nur in Christus selbst bestehen könne, und sie in der Illusion der Heilsvermittlung durch die kirchlichen Institutionen zu halten. „Die protestantische Legendenpolemik war insofern wesentlich Hierarchiekritik, als sie u. a. die Funktionalisierung der Legende als Bibelersatz verurteilte und darin ein Symptom für das klerikale Insistieren auf theologischem Herrschaftswissen sah.“61 Luther, dessen Einstellung zur Legende sich parallel zu seiner Einstellung gegenüber den Heiligen wandelte, bezeichnete die Legende seit den 1530er Jahren als Lgende und verspottete sie in seiner 1537 erschienenen Lgend von S. Johanne Chrysostomo als unglaubwürdige Erfindung boshafter oder einfältiger Autoren, die das Volk in Aberglauben und Götzenanbetung halten wollen.62 In der protestantischen Legendenpolemik sollten die Geschichten über Heilige als ,papistische Lügen‘ ad absurdum geführt werden, indem man sie mit zunehmender Rigorosität jeglicher bildlicher Überhöhung entkleidete, auf die Folie alltagspraktischer Erfahrungswirklichkeit gleichsam ,abstürzen‘ ließ und daraus nebenbei noch einen propagandistisch wirksamen komischsatirischen Effekt erzielte. Die materia wurde hier derart radikal in Frage gestellt, dass die diskursive Vermittlung überhaupt nur mehr darin bestand, sie zu pulverisieren.63
In diesem Sinne entstand eine ganze Reihe polemischer Legendensammlungen, wie etwa Hieronymus Rauschers Sammlung Hundert Außerwelte, große, vnuerschempte, feiste, wolgemeste, erstunkene Papistische Lgen, Welche aller Narren Lugend […] weit vbertreffen, damit die Papisten die frnemsten Artickel jhrer Lehre verteidigen, die armen Christen aber ver61 Feistner, Historische Typologie (Anm. 10), S. 64. 62 Vgl. Luther, „Die Lügend von S. Johanne Chrysostomo“, in: WA, Bd. 50, S. 48 – 52. Vgl. dazu André Schnyder, „Legendenpolemik und Legendenkritik in der Reformation. Die Lügend von St. Johanne Chrysostomo bei Luther und Cochläus“, in: Archiv fr Reformationsgeschichte, 70/1979, S. 122 – 140; Ecker, Die Legende (Anm. 31), S. 238 – 243. 63 Feistner, Historische Typologie (Anm. 10), S. 362 f.
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blenden, vnd in abgrund der Hellen verfren, deren Funktion darin bestand, mit den Legenden den Glauben an die Fürbittfunktion der Heiligen und an den Gnadenschatz zu unterminieren, über den die Papisten zu verfügen behaupteten.64 Wenig später aber setzte eine protestantische Legendenbildung um die evangelischen Märtyrer und Bekenner ein, deren bedeutendster Heiliger nach seinem Tod der Reformator selbst wurde.65 Freilich unterscheidet sich das protestantische Heiligkeitskonzept fundamental vom katholischen: Es gibt kein protestantisches Heiligsprechungsverfahren, es gibt keine Reliquien und Heiligenaltäre, keine Funktionalisierung des Heiligen als Vermittler und Fürbitter.66 Damit unterliegt die protestantische Bekennerhistorie völlig anderen Geltungsbedingungen, denn es fehlt ihr die Verbindung zum Kult und die Absicherung durch ein kanonisches Heiligsprechungsverfahren. Sie repräsentiert nicht das Heilige, sondern den Heiligen. Das Heilige bleibt unverfügbares Jenseits, es erscheint nicht mehr als Transzendentes, das in die Immanenz hineinragt, sondern als Transzendentes, dem sich die Immanenz annähert. Erst damit wird der Aspekt der Vorbildhaftigkeit des Heiligen und seiner imitatio entscheidend: Nicht mehr die unnahbare Heiligkeit will bewundert werden, die Voraussetzung für die Befähigung des Heiligen zur Fürbitte ist, sondern der Heilige erhält als Prediger in der Legende die Aufgabe, auf die Menschen belehrend und bekehrend einzuwirken und indirekt dem Leser die Glaubenswahrheiten und Lebensregeln zu vermitteln.67 64 Hieronymus Rauscher, Hundert Außerwelte, große, vnuerschempte, feiste, wolgemeste, erstunkene Papistische Lgen, Welche aller Narren Lugend, als des Eulen- / spiegels, Marcolphi, des Pfaffen vom Kalen- / bergs, Fortunati, Rollwagens, etc. weit vber- / treffen, damit die Papisten die frnemsten Ar- / tickel jhrer Lehre verteidigen, die armen Christen aber / verblenden, vnd in abgrund der Hellen verfren, Aus / jren eigenen Scribenten zusamen gezogen, vnd / besondere Erinnerung zu jedlicher / gestellt. / Durch / M. Hieronymum Rauscher / Pfaltz- / greffischem Hoffprediger zu New- / burg an der Donaw. M.D.LXII. Zu Regenspurg / druckts Heinricus Geisler. Vgl. dazu auch Rudolf Schenda, „Hieronymus Rauscher und die protestantischkatholische Legendenpolemik“, in: Wolfgang Brückner (Hrsg.), Volkserzhlung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzhlstoffen und Erzhlliteratur im Protestantismus, Berlin 1974, S. 178 – 259. 65 Vgl. Hieber, Legende (Anm. 60), S. 35 – 55; Annemarie Brückner/Wolfgang Brückner, „Zeugen des Glaubens und ihre Literatur. Altväterbeispiele, Kalenderheilige, protestantische Märtyrer und evangelische Lebenszeugnisse“, in: Brückner (Hrsg.), Volkserzhlung und Reformation (Anm. 64), S. 520 – 578. 66 Vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien (Anm. 34), S. 257 ff. 67 Hieber, Legende (Anm. 60), S. 233 f.
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Die legendarischen Erzählungen von den protestantischen Märtyrern und Bekennern wurden freilich nicht mehr als Legenden bezeichnet – dafür war der Terminus durch das Wortspiel mit der Lgende zu sehr diskreditiert –, sondern als Exempla oder als Historien, als wahrhaftige Erzählungen und leuchtende Beispiele vorbildhaften Lebens und Sterbens im Kampf für den wahren Glauben. 1554 erscheinen die drei bedeutendsten protestantischen Märtyrerbücher: In Straßburg veröffentlichte John Foxe die Commentarii rerum in ecclesia gestarum – Historien verfolgter Christen wie John Wyclif –, ebenfalls in Straßburg brachte Ludwig Rabus die Historien der Heyligen Außerwçlten Gottes Zegen / Bekennern vnd Martyre heraus und in Genf publizierte Jean Crespin Le livre des Martyrs. 68 Einige Zeit später folgte mit Andreas Hondorffs Calendarium Sanctorum eine Märtyrer- und Bekennerhistoriensammlung, die auch eine Reihe der alten Heiligen wieder aufnahm, die Darstellung ihres Lebens aber ganz auf Vorbildhaftigkeit ausrichtete.69 Diesen entscheidenden Unterschied machte Hondorff in seiner Vorrede deutlich: Ein außb Fndig / vnd sehr sch =n trostreiches / n Ftzlichs Buch / auß welchem // ein gutherziger Christ mag vnd kann sehen / auch lernen / auff wasserley weise vnd arth / er sein gantzes // leben ausrichten sol / damit vnd dass es m =ge Gott gefallen / sich auch in seinen zugeschickten anfech//tungen richten / stercken vnd tr =sten / auff dass er nicht von seinen Ertzfeinden / dem teufel fleisch vnd welt / mit denen wir (nach laut der Schrifft) tglich zukampffn // vberwunden werde / besondern die Krone der Bekenneren // Christlicher warheit erlangen mçge. 70
68 Vgl. ebd., S. 35 – 50. 69 Andreas Hondorff, Calendarium Sanctorvm & Historiarum Das ist: KirchenHistoria vnd t (gliche Haußßtaffel / dari ] nach ordnung gemeiner Calender durchs gantze Jahr aller Heiligen Lehrer vnd M (rterer Leben / Bekentnis vnd Leiden beschrieben. So wol auch viel Politische denckwirdige Historien aus der H. Schrifft vnd andern bewehreten Authoren zusammen getragen. Estlich durch Andream Hondorff seligen Pfarrherrn zu Droyissg angefangen / vnd in Druck gegeben / Nachmals durch Vincentuim Sturmium gebessert. Jetzo aber auffs newe vbersehen / Mit vielen Historien biß auff die jetzige zeit vermehret / vnd in eine richtige Volkommenheit gebracht. Duch M. Wenceslavm Sturmium, Weiland Pfarherrn vnd Superatttendenten zu Bitterfeld. Cum Privilegio. Gedruckt in verlegung Henningt Grossen / Buchh (endler zu Leiptzig / Anno M. D. XCIX. Vgl. dazu Hieber, Legende (Anm. 60), S. 51 ff.; eine ähnliche Funktion weist Hondorff auch seiner Exempelsammlung Promptuarium Exemplorum zu. Vgl. Heidemarie Schade, „Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum“, in: Brückner (Hrsg.), Volkserzhlung und Reformation (Anm. 64), S. 647 – 703. 70 Hondorff, Calendarium Sanctorum (Anm. 69), S. IV.
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Außerdem sicherte er sich gegen den potenziellen Vorwurf ab, Lgenden zu verbreiten, indem er ihn an seine Quellen zurückverwies und an die besondere Urteilskraft seiner Leser appellierte: Ob bißweilen aber auch etwas mit vnterleuffet / das zu gle Fben nicht wol klingen wil / mag man erstlich solches den angezogenen Autoribus zumessen / vnd darnach auch selber hierin ein Christlich Iudicium brauchen. Inmassen dann auch bißweilen / wenn es mit den Historijs Sanctis zu hoch steigen will / eine Meynung daran gehefft /darauß man sp Fren kan / daß man zwischen solchen Historijs vnd demjenigen / was man als Artickel des Glaubens stet vnd fest zu gl (uben sch Fldig ist / einen vnterscheidt gehalten haben wolle. Vnd wird also demnach dieses alles der Leser zu einer Christlichen Entsch Fldigung […] wol auffzunemen wissen 71
Auf diese protestantischen Bekennerhistorien wiederum reagierte die katholische Seite mit ähnlichen Polemiken wie zuvor die protestantische. Insbesondere Luther war die bevorzugte Zielscheibe der antiprotestantischen Legendenpolemiken, wie etwa in den 1570 in Ingolstadt veröffentlichten Quinta Centuria des Franziskaner Johannes Nas, in denen Luthers Vita als das Leben eines vom Teufel gezeugten und mit ihm vertrauten Umgang pflegenden Säufers und Hurenbocks beschrieben wurde, den schließlich der Teufel geholt habe.72
Antilegende und Legendenkontrafaktur Erst von dieser Geschichte der Legende und ihren veränderten Geltungsbedingungen ausgehend und unter Berücksichtigung der Legendenpolemiken, lässt sich die Frage beantworten, ob es sinnvoll ist, die Historia von D. Johann Fausten als Antilegende zu bezeichnen. Vor dem Horizont der Legenden-Polemiken gegen Luther und die neue evangelische Lehre ließe sich die Historia in gewissem Sinne durchaus als Antilegende lesen. So hat jedenfalls Augustin Lercheimer die Historia verstanden. In der dritten Auflage seines Christlich Bedencken 71 Ebd., S. V. 72 Vgl. Johannes Nasus, Quinta Centuria, Das ist das f Fnfft Hundert der evangelischen Wahrheit, darinn mit Fleiß beschrieben wird der gantze Handel, Anfang, Lebens und Todts, des theuren Manns D. Martin Luthers, Ingolstadt 1570; vgl. Wolfgang Brückner, „Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende der Orthodoxie und der Kontroversisten“, in: ders. (Hrsg.), Volkserzhlung und Reformation (Anm. 64), S. 260 – 294, bes. S. 278 – 294. Brückner plädiert hier dafür, nur solche Legendenpolemiken als Antilegenden zu bezeichnen, die sich konkret und eindeutig auf eine vorgängige Legende beziehen.
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von Zauberey (1597) fügte er eine scharfe Kritik an der Historia ein und beschimpfte ihren anonymen Autor als lecker, der lgen und teufelsdreck verbreite, damit die schule und kirche zu Wittenberg geschmehet und verleumdet werde. Lercheimer bezog sich dabei in erster Linie darauf, dass Faustus nach den Angaben der Historia in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert worden sei. Daß man in solcher Vniuersitet einen solchen / den Melanthon ein scheißhauß vieler teufel pflag zu nennen / solte zum Magister / ich geschweige zum Doctor Theologiae gemacht haben / welches dem grad vnd ehren titul ein ewige schmach vnd schand flecke were / wer glaubet das? 73
Aber diese Lügen, so Lercheimer, ließen sich leicht aufdecken, denn die Ortsangaben in Wittenberg seien unrichtig und zahlreiche andere Details offensichtlich falsch oder schlecht erfunden. Lercheimer sah die Historia also ganz im Kontext der katholischen Legendenpolemik; er betrachtete sie als eine protestantismusfeindliche schmeheschrifft und beklagte deshalb umso mehr, dass sie von einem bekanntermaßen protestantischen Drucker herausgebracht worden war: Es ist zwar nicht newe vnd kein wunder das solche schmehesrifften von b =sen leuten vnser religion feinden außgegeben werden: das aber ist ein vngeb Frlich ding vnd zubeklagen / daß auch vnsere buchtr Fcker d =rffen ohn schew vnd scham solche bcher ausprengen vnd gemein machen / dadurch ehrliche leute verleumdet / die frwitzige jugent / die sie zuhanden bekommt / ge (rgert vnd angefhrt wird / wie die affen / zu w Fnschen (dabey sich dann der teufel bald leßt finden) vnd zu versuchen ob sie dergleichen wunderwerck k =nne nachthun / vnbedacht vnd vngeachtet / was fr ein ende es mit Fausten vnd seines gleichen genommen habe […].74
In der Faust-Forschung ist die These, bei der Historia handele es sich um eine katholische Antilegende, in der mit der Faustfigur Luther selbst parodiert worden sei, was der orthodox protestantische Drucker Johann Spies jedoch nicht verstanden habe, nur 1912 von Eugen Wolff vertreten worden, der sich mit seiner Position jedoch nicht durchzusetzen vermochte.75 73 Zitiert nach Historia (Anm. 15) „Zeugnisse zur zeitgenössischen Wirkung“, S. 298. 74 Zitiert nach ebd., S. 299. 75 Vgl. Eugen Wolff, Faust und Luther. Ein Beitrag zur Entstehung der Faust-Dichtung, Halle/S. 1912. Angeschlossen haben sich Wolffs These in der jüngeren Forschung nur Frauke Bülow („Neues zum ,Faust‘-Thema, in: Literatur in Bayern, 13/1988, S. 9 – 16, hier S. 13 f.) und Dietz-Rüdiger Moser („,Hanß Sachs, Schulmeiter zur Narrnhausen, die Comoedi von Doctor Faust exhibierend‘. Aspekte einer süddeutschen Faust-Tradition“, in: Literatur in Bayern,
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Diesem Ansatz nicht unähnlich, aber in entgegengesetzter Richtung, nämlich als Ausdruck innerprotestantischer Polemik in der Auseinandersetzung zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten, deutete Gustav Milchsack die Historia. Er ging davon aus, dass mit Fausts angeblicher Vita Melanchthon und dessen Begeisterung für die Astrologie verunglimpft werden sollte. Nach seiner Auffassung steckte Melanchthon sowohl in Faustus als auch in Mephostophiles.76 Dieser Mephostophiles-Melanchthon ist es, der den auf seinen ,freien Willen‘ pochenden Faust-Melanchthon zum ,Uebermut‘ und Abfall vom lutherischen Glauben reizt, der eine katholische Reue erzeugt, die FaustMelanchthons quälende Zweifel an seiner Rechtfertigung nicht hebt, weil der lutherische Glaube fehlt, der den Faust-Melanchthon durch Drohung bei seinen katholisierenden Tendenzen festhält, ihn schließlich verspottet und zuletzt auf furchtbare Weise (rabies theologorum) tödtet.77
Milchsack deutete damit die Historia als gnesiolutheranische Polemik gegen Melanchthon.78 Gerade die gegensätzlichen Deutungen von Wolff und Milchsack lassen es als fraglich erscheinen, ob es sinnvoll ist, die Historia als Antilegende zu charakterisieren, denn ihre durchaus nachvollziehbare Auslegbarkeit in zwei völlig entgegengesetzte Richtungen macht es unplausibel, dass sie ähnlich eindeutig lesbar sein könnte wie die Antilegenden auf Luthers Legende. Als Antilegenden 10/1987, S. 8 – 26, hier S. 18 – 20). Während Bülow davon ausgeht, dass der Autor einer der Schüler von Johannes Nas gewesen sein könnte, vertritt Moser die Annahme, der Autor müsse ein Jesuit gewesen sein. Beide können als Belege für ihre Annahmen jedoch nichts wirklich Neues beibringen. In der Forschung dominiert nach wie vor die von Erich Schmidt dezidiert vertretene Auffassung, aus der Historia lasse sich „der Geist eines strengen Lutheraners herauslesen“. (Erich Schmidt, „Faust und Luther“, in: Sitzungsberichte der Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1/1896, S. 567 – 591, hier S. 569). 76 Vgl. Gustav Milchsack, „Faustbuch und Faustsage“, in: ders., Gesammelte Aufstze ber Buchkunst und Buchdruck, Doppeldrucke, Faustbuch und Faustsage, sowie ber neue Handschriften von Tischreden Luthers und Dicta Melanchthonis, Wolfenbüttel 1922, Sp. 113 – 158, hier Sp. 126 – 134. 77 Ebd., Sp. 133. 78 Auch Jan-Dirk Müller geht davon aus, dass die Historia vor dem Hintergrund der gnesiolutheranischen Anwürfe gegen die Anhänger Philipp Melanchthons zu lesen sei. Als Beleg führt er Lercheimers Kritik an, der selbst Philippist ist, wobei er jedoch übersieht, dass dieser von den „seligen Männer[n] Lutherum Philippum“ spricht. Vgl. Jan-Dirk Müller, „Faust – ein Mißverständnis wird Symbolfigur“, in: Werner Röcke (Hrsg.), Thomas Mann, Doktor Faustus, 1947 – 1997, Bern [u.a.] 2001 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 3), S. 167 – 186, bes. S. 172 – 175.
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funktionieren solche Texte nur, wenn sie ihren Hypotext eindeutig ausweisen, und das heißt, wenn sie ihren Anti-Heiligen nicht gegen eine andere Figur austauschen, die nur lose Bezüge zur angeblich vorgängigen Gestalt aufweisen. Das zeigt sich auch daran, dass Lercheimer die Historia zwar als schmeheschrift deutet, aber nur insofern, als der Teufelsbündner in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert worden sei – eine fatale Nähe Fausts zu Luther oder Melanchthon sah er offenbar nicht. Das Problem der aus der Promotion in Wittenberg resultierenden Deutbarkeit der Faust-Vita gegen die Reformation hat offenbar auch Georg Rudolff Widman gesehen, der in seiner 1599 erschienenen Neubearbeitung des Faustbuches Faustens Studienort nach Ingolstadt verlegte, also in das Zentrum der katholischen Gegenreformation.79 Nun könnte es nichtsdestoweniger im Hinblick darauf, dass in der protestantischen Bekennerlegende die imitatio im Sinne der Vorbildlichkeit des Heiligen, die Jolles schon für die mittelalterliche Legende angenommen hat, überhaupt erst zum entscheidenden Aspekt wird, gerechtfertigt scheinen, sie in seinem Sinne als Antilegende zur protestantischen Bekennerhistorie zu charakterisieren. Man brauchte dann nur als Hypotext die Legenda aurea gegen Rabus Historien der Heyligen Außerwçlten Gottes Zegen / Bekennern vnd Martyre auszutauschen, um die Historia als eine Antilegende auszuweisen, bei der nicht imitatio, sondern dehortatio gefordert wäre. Damit würde man freilich die pragmatische Dimension zum zentralen Kriterium erheben und andere Konstituenten außer Acht lassen. Zwar wäre es sicher im Sinne des Erzählers der Historia, wenn man seine paränetische Mahnschrift in dieser eindeutigen Weise lesen würde, aber damit würde man gerade jene Bezugnahmen auf die Legende zudecken, in der nicht nur der Heilige, sondern das legendarische Erzählmuster als Bezugspunkt fungiert. Erst bei einer solchen Betrachtung erweist sich die Verknüpfung der Historia mit der Legende in ihrer ganzen Komplexität. Grundlegend ist zunächst zu konstatieren, dass das morphologische Bauprinzip von Fausts Vita offenbar dem von Edith Feistner für die Bekennerlegende 79 Vgl. Georg Rudolf Widman, D. Johannes Faustus. Faksimiledruck der ersten Ausgabe Hamburg 1599, hrsg. von der Druckerei Oscar Mahl KG, Schwäbisch Hall in Verbindung mit dem Historischen Verein für Württembergisch Franken und dem Stadtarchiv Schwäbisch Hall. Mit einem Nachwort von Gerd Wunder, Schwäbisch Hall 1978, I. Teil, S. 1 – 4.
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herausgearbeiteten Prinzip der paradigmatischen Reihung folgt, bei dem sich im Falle der Historia die Reihung in chronologischer Abfolge und die Reihung nach bestimmten Themenbereichen überschneiden.80 Die chronologische Abfolge ist durch den Rahmen von Herkunft, Geburt und Tod vorgegeben und wird insbesondere durch die 24jährige Paktdauer determiniert. Daraus ergibt sich eine höhere biographische Kohärenz als sie der Bekennerlegende im Mittelalter eignet. Fausts ablaufende Zeit wird vom Erzähler wiederholt durch Hinweise auf die Zahl der bereits abgelaufenen Jahre ins Bewusstsein des Lesers gehoben, was insbesondere dort von Bedeutung ist, wo die Reihungselemente, wie im sogenannten ,Schwankteil‘, in dem Faustus sich als Zauberer betätigt, so iterativ wirken, dass der biographische Zusammenhang verloren zu gehen droht.81 Andererseits bleibt die paradigmatische Reihung insbesondere in den Zauberkapiteln bestehen, was sich auch daran bestätigt, dass diese Kapitel in den nachfolgenden Ausgaben erweitert und ergänzt worden sind.82 Die Reihung nach Themenbereichen zeigt sich insbesondere an der Gruppierung der Fragen nach Hölle und Himmel und am Übergang von der Disputation zur visuellen Erfahrung.83 Biographisch betrachtet folgt Fausts Vita dem Modell der doppelten Konversion vom wohlgefällig christlichen Leben zum Teufelspakt und anschließender Umkehr. Allerdings wird dieses Muster zur doppelten Apostasie gebrochen, denn Fausts Bekehrungsversuch scheitert und mündet nicht in die Aufkündigung des Paktes, sondern in die Unterzeichnung eines zweiten Paktes. Dass die Historia sich mit diesem biographischen Modell und auch mit einzelnen Elementen eng an die Theophiluslegende anlehnt, ist in der Forschung wiederholt konstatiert worden.84 Wie Theophilus beschwört Faustus den Teufel und schreibt den Teufelspakt mit seinem eigenen Blut nieder. Wie Theophilus be80 Vgl. Feistner, Historische Typologie (Anm. 10), S. 33 – 45. 81 Vgl. die Überschriften des 54. bis 59. Kapitels der Historia (Anm. 15), S. 105 – 110. 82 Vgl. die Zusatztexte des C-Druckes von 1589 in: ebd., S. 152 – 163. 83 Vgl. ebd., S. 30 – 43. Zu den Fragen nach der Hölle vgl. Marina Münkler, „Höllenangst und Gewissensqual. Gründe und Abgründe der Selbstsorge in der ,Historia von D. Johann Fausten‘“, in: Zeitschrift fr Germanistik, N.F. 14/2004, S. 249 – 264. 84 Vgl. etwa Frank Baron, Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München 1982, S. 65 – 68; Jeffrey B. Russel, Mephistopheles. The Devil in the Modern World, Ithaca – London 1986, S. 63 – 65.
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reut er seine Tat und beklagt sein Schicksal, aber anders als Theophilus kann er sich nicht vom Teufel lösen, sondern verwirkt die Möglichkeit der Rekonziliation und ergibt sich endgültig dem Teufel. Dennoch macht es auch im Bezug auf Theophilus wenig Sinn, von einer Antilegende zu sprechen, denn dafür enthält die Historia zu viele Elemente, die sich nicht auf die Theophiluslegende beziehen lassen.85 Sehr viel aufschlussreicher ist die Art und Weise, wie bestimmte Konstituenten der Gattung aufgerufen werden. So gibt sich Fausts Vita als Historia, also als wahrhafter Bericht, der mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schrifften sowie aus Zeugenberichten zusammengestellt worden sein soll. Mehrere Textteile werden als Zitate von Fausts eigenen Niederschriften ausgegeben, so etwa der Teufelspakt, von dem ihn der Teufel eigens eine Kopie anfertigen lässt, damit der Text auch vorliegen kann, die Beschreibungen seiner Höllen- und seiner Gestirnsfahrt sowie die drei Wehklagen am Schluss, die Faust in seinen letzten Lebenstagen aufzeichnet, damit ers nicht vergessen m =chte.86 Diese typische Form der Legendenbeglaubigung, die sowohl für die mittelalterliche Legende als auch für die protestantische Bekennerhistorie ein entscheidender Aspekt ihrer Geltungsbehauptung ist, wird allerdings dadurch in ein eigenartiges Licht gerückt wird, dass Faustus seinen Famulus Wagner mit der Abfassung seiner Lebensgeschichte beauftragt. Darneben bitte ich / daß du meine Kunst / Thaten / vnd was ich getrieben habe / nicht offenbarest / biß ich Todt bin / alsdenn w =llest es auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren / darzu dir dein Geist vnd Awerhan helffen wirt / was dir vergessen ist / das wirdt er dich wider erjnnern / denn man wirdt solche meine Geschichte von dir haben w =llen. 87
Irritierend ist daran zunächst, dass Wagner selbst ein Teufelsbündner und damit nicht eben ein glaubwürdiger Zeuge ist, mehr aber noch, dass sein teuflischer Geist Awerhan ihm beim Abfassen der wahren Geschichte helfen soll – ein Glied jenes Teufels also, den der Erzähler zuvor nicht müde geworden ist, als Lgen- und Mordgeist zu brand85 So unterscheiden sich beispielsweise die Gründe für den Pakt fundamental: Während Theophilus den Pakt schließt, um in sein Amt wieder eingesetzt zu werden, begründet Faust seinen Pakt mit seiner curiositas. Zur Semantik von curiositas in den Faustbüchern vgl. Marina Münkler „,allezeit den Spekulierer genennet‘. Curiositas als identitäres Merkmal in den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Faust-Jahrbuch, 2/2005 f., S. 61 – 81. 86 Historia (Anm. 15), S. 113. Vgl. auch S. 22 f. (Pakt), S. 26 (Kopie des Paktes), S. 52 – 55 (Höllenfahrt), S. 56 – 59 (Gestirnsfahrt). 87 Ebd., S. 112 f.
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marken, von dem man keine Wahrheit erhoffen dürfe. Die Wahrheitsbeteuerung wird damit in gewisser Weise untergraben und die Historia erscheint so als Kontrafaktur sowohl der von der Legende als auch von der Bekennerhistorie behaupteten Geltungsbedingungen. Betrachtet man die einzelnen Kapitel, so scheint eine ganze Reihe von Legenden und legendarischen Erzählelementen als Hypotext für die Erzählung von Fausts Leben gedient zu haben.88 Die Historia von D. Johann Fausten ist damit ein Musterbeispiel hypertextueller Praktiken, die sich der Bauformen der Legende bedienen, ohne darin aufzugehen. In dieser Hinsicht ist es sinnvoller und terminologisch präziser, nicht von einer Antilegende, sondern von einer Legendenkontrafaktur zu sprechen, in der einzelne paradigmatische Elemente verschiedener Legenden übernommen und mit anderen Bedeutungen versehen werden, indem, metaphorisch gesprochen, auf die heilige Melodie ein unheiliges Lied gesungen wird. Als Legendenkontrafaktur hat bereits Friedrich Ohly die Historia bezeichnet, allerdings hat er den Begriff synonym zu dem der Antilegende verwendet und damit auf die nahe liegende Differenzierungsmöglichkeit zwischen pragmatischer Funktion und morphologischen Bauelementen verzichtet: „Das Faustbuch ist wie die Viten von Simon Magus, Pilatus und Judas eine Legendenkontrafaktur, deren Held nicht Wunder Gottes, sondern Zauber aus des Teufels Kraft wirkt, dann statt zur Seligkeit in die ewige Verdammnis eingeht, da seine Judasreue ihm nicht hilft.“89 An mehreren Stellen hat er aber einzelne Elemente als Kontrafaktur gedeutet, so etwa Fausts letzte Mahlzeit mit den Studenten als Abendmahlskontrafaktur.90 Für solche paradigmatischen Reihungselemente, 88 Zum Begriff des Hypertextes und des Hypotextes vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 9 – 18. 89 Vgl. Ohly, Der Verfluchte und der Erwhlte (Anm. 12), S. 103. 90 Vgl. ebd., S. 102. Ohly hat auch die Beglaubigung der Vita als Kontrafakturelement gedeutet: „Die Echtheit von Fausts Unheiligenvita ist also fiktiv beglaubigt, sei es durch seine Autorschaft für mehrere Kapitel, sei es durch von ihm selbst berufene Augenzeugen wie Wagner für den Lebensgang und andere Schüler für das Ende, so daß die ganze Kontrafaktur von Hagiographischem wie eine Legende nicht als Fiktion, sondern als durch Zeugenbericht authentisch verbürgt genommen werden will.“ (S. 103) Allerdings hat er dabei den „Zeugen Awerhan“ außer Acht gelassen. Zur Deutung des Abschiedsmahls mit den Studenten als Abendmahlskontrafaktur vgl. auch Peter Philipp Riedl, „Nützliches Erschrecken. Die ältesten Versionen der Faust-Historia und das Verhältnis von prodesse und delectare in der Literatur der Frühen Neuzeit“, in:
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die als Kontrafaktur einzelner Legendenelemente gedeutet werden können, lassen sich zahlreiche Beispiele anführen: Faustens Bestrafungszauber gegenüber aufmüpfigen Bauern, seine Totenerweckung am Hof Karls V., der Blumenzauber in seinem Garten etc.91 Alle diese Elemente können als Kontrafaktur von Heiligenwundern gedeutet werden. In diesen Elementen wirft die Historia ein gleißendes Licht auf die mittelalterliche Legende, lässt sie doch gerade das als Zauberei erscheinen, was dort als Wunder verhandelt wurde. Die Kontrafaktur diskreditiert hier also ihre Vorlage und verwandelt deren Melodie in Teufelsmusik. Zu dieser Stoßrichtung passt auch, dass in der 1599 erschienenen Bearbeitung der Historia durch Georg Rudolff Widman Mephistopholes Faustus die Lektüre von Legenden erlaubt, während er ihm die Bibel größtenteils verbietet.92 Im Kommentar zu diesem Kapitel führt Widman in enger Anlehnung an die anti-katholische Lgenden-Polemik denn auch aus: Weiter geschicht meldung von den Legenden /welche auch domahls ein sonderlich plag vom Teuffel war. Es hatten die M Fnche in Cl =stern / nur auß m Fssigen faulen tagen / solche schendtliche L Fgen zusammen geraspelt / das man sich dar Fber zuverwundern / vnnd dennoch must es der gemein Mann glauben / daher man auß dem Buchstaben E. ein U. gemacht / den es nicht ein Legenden / sonder Lugenden Buch in warheit ist / vnd ist droben zusehen / dass dem teuffel diß buch lieber gewesen den die Bibel. Denn in der Bibel ist die warheit / in dem legenden buch die L Fgen / welcher der Teuffel ein Vater ist. 93
Anders verhält es sich mit jenen Elementen, die als Kontrafaktur des Widerstandes erscheinen, den die Heiligen jederzeit unter Inkaufnahme körperlicher Pein dem Teufel entgegensetzt haben. Faust dagegen unterwirft sich jedes Mal ängstlich, sobald ihn der Teufel körperlich bedroht.94 Hier versagt Faust sowohl vor dem Maßstab der katholischen Legende als auch der protestantischen Bekennerhistorie, die Heiligkeit gerade dadurch ausweisen, dass der Bekenner allen Anfechtungen des Teufels widersteht, die Unversehrtheit seines Leibes nicht achtet, son-
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Daphnis, 32/2003, S. 523 – 557, hier S. 544. Riedl hat daneben (S. 548) auch den Weinzauber in Kap. 53 des C-Druckes (Historia [Anm. 15], S. 157 – 159) als blasphemische Kontrafaktur des Weinwunders Jesu bei der Hochzeit von Kana ( Joh 2,1 – 12) und als eine Anspielung auf Moses’ Wasserwunder (Ex 17,6; Num 20,11) gedeutet. Vgl. ebd., S. 77 ff., 98 ff.; S. 106 f. Widman, D. Johannes Faustus (Anm. 79), 1. Teil, S. 121. Vgl. ebd., 1. Teil, S. 126. Vgl. Historia (Anm. 15), S. 28 und S. 103.
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dern dem Teufel heroisch mit Hohn und Spott begegnet.95 Die Kontrafaktur trifft hier nicht die Legende, sondern den Anti-Heiligen. Damit aber partizipiert die Legendenkontrafaktur, anders als der Begriff der Antilegende suggeriert, an der Legende. Sie ist ihr nämlich nicht eindeutig entgegengesetzt, sondern konstruiert aus der Umbesetzung einzelner paradigmatischer Elementen der Legende und der Bekennerhistorie das Bild eines Sünders, der zwar Pseudo-HeiligenWunder zu vollbringen vermag, aber an den an wahre Heiligkeit gestellten Ansprüchen scheitert und dem kein heiliger Intercessor mehr zu Hilfe kommt. Damit freilich plaudert die Historia aus, was es heißt, wenn der Heilige zum Maßstab wird und zugleich nicht mehr als Fürbitter fungiert, wenn die Gewissensqualen des Sünders und sein Geständnis nicht mehr Voraussetzung der Rekonziliation, sondern der endgültigen Verdammung sind. Sicherlich könnte man das auch über die Judaslegende sagen, aber Judas wird in seiner Legende von Beginn an als absolut böse, als Vater- und Brudermörder ausgewiesen.96 Und selbst hier spielt die Rekonziliation eine wichtige Rolle, denn Christus vergibt Judas seine Taten und nimmt ihn in den Kreis der Jünger auf, bevor Judas sich dann erneut schuldig macht. Die Historia aber entwirft nicht das Bild eines absolut Bösen, sondern das Bild eines Individuums, dem nichts und niemand mehr hilft, weil alle institutionellen Vermittlungsebenen zwischen Gott und dem Sünder in der Reformation verabschiedet worden sind.
95 Dieses Legendenelement erscheint auch bereits in der mittelalterlichen Legende. Es gehört bezeichnenderweise zu jenen Elementen, die auch die protestantische Bekennerhistorie noch gelten lässt und die manchen Heiligen den Weg in protestantische Sammlungen öffnet. 96 Mit Niklas Luhmann zu sprechen, vermischen sich hier der Code der Religion und der Code der Moral. Theologisch betrachtet wäre der Verrat Christi für die Verdammung des Judas völlig ausreichend, aber die Legende ergänzt diese Tat, deren Verwerflichkeit ohnehin kaum zu überbieten ist, mit dem Vater- und Brudermord und fügt damit Elemente des Moralcodes hinzu. Zur Überlappung von Religion und Moral vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 173 – 184.
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Legendenkontrafaktur und das Problem der eindeutigen Lesbarkeit Damit scheint die Historia von D. Johann Fausten ein Musterbeispiel für die Dominanz der religiösen über die literarische Kommunikation zu sein. Im Detail betrachtet erweisen sich einzelne Elemente der Legendenkontrafaktur in dieser Hinsicht jedoch als äußert riskante Mittel, denn wo es der Erzähler verabsäumt, ihre Verwerflichkeit eindeutig auszuweisen, lösen sie sich vom Schema und seinen Bewertungskriterien und werden frei verfügbar für andere Sinnhorizonte. So lässt sich an einzelnen Elementen etwa zeigen, wie die grundlegende Semantik von Heil und Verdammnis, die sowohl in der Legende als auch in der Bekennerhistorie die Semantik von Individualität regelt, stellenweise zurücktritt und einer Semantik von Karriere Platz macht, die in der Welt der Erzählung unabhängig von religiösen Beschränkungen Eigenwert erlangt.97 Wie sehr diese Semantik im Einzelfall die Transgression als Sündhaftigkeit zurückzudrängen vermag, zeigt sich besonders deutlich an der Kaiser-Episode, die prominent am Beginn des dritten Teils der Historia platziert worden ist, und an den Transformationen, die sie in den nachfolgenden Faustbüchern erfahren hat. Die Episode beschreibt Faustens Auftritt am Hofe Kaiser Karls V., bei dem er Alexander den Großen und dessen Gemahlin auf Bitten des Kaisers heraufbeschwört. Sie wird in ähnlicher Weise zuvor in Luthers Tischreden, in Johann Weiers De Praestigiis Daemonum und in Augustin Lercheimers Ein Christlich Bedencken von Zauberey berichtet, allerdings nicht mit Faustus und Karl V. als Protagonisten, sondern mit Johannes Trithemius und Kaiser Maximilian. Bei Luther führt der Schwarzkünstler dem Kaiser die großen Helden der Antike, alle verstorbenen Kaiser sowie Maximilians verstorbene Gattin Maria von Burgund vor, bei Lercheimer nur Maria von Burgund.98 Weder Luther noch Lercheimer geben einen Grund für die Anwesenheit des Schwarzkünstlers am Kaiserhof an. Demgegenüber
97 Zur Umstellung von der Semantik von Heil und Verdammnis zur Semantik von Karriere im Übergang von der Inklusionsindividualität zur Exklusionsindividualität vgl. Luhmann, „Individuum“ (Anm. 36), S. 231 – 236. 98 Vgl. Historia (Anm. 15), Quellentexte, Nr. 29, 30 und 31, S. 254 – 257. Als Quelle kommen alle drei Texte in Frage, denn alle sind nachweislich vom Autor der Historia benutzt worden.
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begründet die Historia Faustus Anwesenheit ausführlich, er wird förmlich mit einem narrativen Geleitzug ausgestattet: Keyser Carolus der F Fnfft dieses Namens / war mit seiner Hoffhaltung gen Jnßbruck kommen / dahin sich D. Faustus auch verf Fget / vnnd von vielen Freyherrn vnd Adelspersonen / denen sein Kunst vnd Geschickligkeit wol bewust / sonderlich diesen so er mit Artzney vnnd Recepten von vielen namhafften Schmertzen vnd Kranckheiten geholffen / gen Hof zum Essen geladen vnd beruffen / gaben jhm das Geleydt dahin […].99
Faustens Anwesenheit am Kaiserhof ist damit Ausdruck einer bemerkenswerten Reputationskarriere, die es dem Bauernsohn ermöglicht, in den höchsten Kreisen zu verkehren. Bis an das Ohr des Kaisers ist sein Name gedrungen, weshalb er Faustus nach dem Essen in sein Gemach befiehlt und ihn wissen lässt, wie jhm bewust / dass er ein erfahrner der schwartzen Kunst were / vnnd einen Warsager Geist htte. 100 Diese Feststellung führt jedoch nicht zu obrigkeitlicher Verfolgung des Schwarzkünstlers – was des Kaisers Amt gewesen wäre – oder auch nur zu der Ermahnung, von solchem Tun künftig abzulassen, sondern gipfelt in dem begern / dass er jn ein Prob sehen lassen wolt / es sollte jhm nichts widerfahren / das verhiesse er bey seiner Keyserlichen Kron. 101 Auf Wunsch des Kaisers, der darüber sinniert, wie vor mir meine Voreltern vnd Vorfahren in so hohen Grad vnd Autoritet gestiegen und deswegen den Lucern vnd Zierd aller Keyser Alexander den Großen zu sehen begehrt, lässt Faustus Alexander und dessen Frau Roxane leibhaftig vor dem Kaiser auftreten.102 Entscheidend ist hierbei die Differenz in der Reaktion des Kaisers gegenüber Lercheimers Darstellung. Bei Lercheimer ist Karls Großvater Maximilian von der Erscheinung seiner verstorbenen Gattin derart berührt, dass er nahezu die Fassung verliert: Da ist den Keyser ein grauwen ankommen / hat dem Abt gewincket / er sol das Gespenst weg thun: vnd darnach mit zittern unnd zorn zu jhm gesprochen: M =nch / mache mir der possen keine mehr: vnd hat bekannt wie schwerlich vnnd kaum er sich habe enthalten / daß er jhr nicht zu redete. Wann das geschehen were / so hette jhn der b =se Geist vmbbracht. Darauff wars gespielt: aber Gott hat den frommen Gottsf =rchtigen Herrn gnediglich beh Ft vnd gewarnet / daß er hinnfort solcher schauwspiele m Fssig gienge. 103 99 100 101 102 103
Ebd., S. 77. Ebd. Ebd. Ebd., S. 78. Augustin Lercheimer, Ein Christlich Bedencken von Zauberey [1585], zitiert nach ebd., „Quellentexte“, S. 257.
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Durch den im Erzählerkommentar eingefügten Hinweis auf das Ziel der Beschwörung, nämlich den Kaiser durch den Bruch der kaum einzuhaltenden Schweigebedingung zu töten, wird das Exempel von der Erzählung eines harmlosen, wenn auch verbotenen Sinnestäuschungszaubers in den Bereich des Schadenszaubers verschoben. Eine solche Konnotation fehlt in der Historia völlig; weder schaltet sich der Erzähler mit einem kritischen Kommentar ein noch ist der Kaiser irritiert oder zornig, und schon gar nicht ist von einem heimtückischen Anschlag auf das Leben des Kaisers die Rede. Der Bezugsrahmen bleibt in der Narration rein innerweltlich; der Kaiser zeigt sich von dem Spektakel überaus erfreut und betrachtet es als beachtliche Leistung, mit der Faustus den ihm vorauseilenden Ruf bestätigt. Als Faustus sich vom Hof verabschiedet, wird jhme beneben der Keyserlichen / vnnd ander mehr Schanckungen / aller guter Willen bewiesen. 104 Die Möglichkeit, die Reputationskarriere im Glanze des Kaisers erstrahlen zu lassen, hat hier die in den Quellen vorgegebene konträre Möglichkeit, sie unter dem Aspekt sündhafter Transgression eindeutig auszuweisen, nahezu vollständig absorbiert. Damit ist eine Anschlussmöglichkeit eröffnet, die in den nachfolgenden Faustbüchern bedenkenlos wahrgenommen worden ist. Die englische Übersetzung der Historia verstärkt den Aspekt der Reputationskarriere noch, indem sie schon zu Beginn der Episode betont, dass Faustus nicht nur an den Hof eingeladen, sondern even in the presence of the emperor empfangen worden sei.105 Und auch das Gespräch mit dem Kaiser ist dahingehend transformiert, dass Karl nicht mehr mit kritischem Unterton bemerkt, was ihm sehr wohl bewusst sei, sondern ungehemmt lobend erklärt, I have heard much of thee, that thou art excellent in the black art, and none like thee in mine empire, um dann noch hinzuzufügen, wenn die Beschwörung gelinge: I may say I have my long desire fulfilled, and to praise thee to be a famous man in thine art and experience.106 Selbst Georg Rudolff Widman hat sich dieser Reputationssteigerungslogik in seiner 1599 erschienenen Bearbeitung, die in den Erinnerungen sehr viel stärker das Bewusstsein der Verwerflichkeit von Faustens Treiben aufrechtzuerhalten sucht, offenbar nicht zu entziehen vermocht, sondern noch einen weiteren Aspekt hinzugefügt. Er über104 Ebd., S. 80. 105 The English Faust Book. A critical edition based on the text of 1592, hrsg. von John Henry Jones, Cambridge 1994, S. 147. 106 English Faust Book (Anm. 105), S.147.
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nimmt das Kapitel zunächst weitgehend unverändert, ohne den Kommentar für eine Kritik an Faustens Zaubereien oder der Wundersucht des Kaisers zu nutzen.107 In den beiden anschließenden, neu hinzugefügten Kapiteln stellt er vielmehr eine Reziprozität der Gaben zwischen Faustus und dem Kaiser her, welche die Karrieresemantik verstärkt. Weil sich der Kaiser Faustus gegenüber mit einer verehrung erkent, hat sich D. Faustus auch wiederumb gegen jm danckbarlich verhalten und dem Kaiser ohne Ankündigung einen bezaubernden Garten, einen locus amoenus, in sein Schlafgemach gezaubert. Auf Nachfrage des Kaisers, ob er der Gärtner gewesen sei, entgegnet Faustus, er habe sich wegen der stattlichen Verehrung, mit der ihn seine Key. Mey. bedacht habe, dankbar erzeigen müssen, darob Key. M. ein wolgefallen hat getragen.108 Diese Episode wird im Anschluss noch einmal strukturell wiederholt, indem Faustus bei einem anschließenden Bankett ein schönes Gewölk in den Saal zaubert, das die Hofgesellschaft ebenso erschreckt wie entzückt.109 Der so erfolgte Gabentausch zwischen dem Schwarzkünstler und dem Kaiser stellt eine Ebene der Reziprozität zwischen beiden her, welche die Rangunterschiede punktuell zum Verschwinden bringt und somit aus dem Teufelspakt ein innerweltliches Karrierevehikel ersten Ranges macht. Das funktioniert freilich nur, weil die Anforderungen der Transzendenz zugunsten der Immanenz an dieser Stelle zurückgestellt werden. Die Sündhaftigkeit der Transgression durch Teufelspakt und Teufelszauber ist zwar nicht vergessen oder gar negiert, aber sie wird für einen Moment überlagert von der Faszination der Reputationskarriere. Nun ließe sich sicherlich daraus folgern, dass damit auch Kritik an der Leichtfertigkeit des Adels und der Vernachlässigung seiner obrigkeitlichen Verpflichtungen durch den Kaiser geübt werde, aber weder die Narration noch der ausführliche Kommentar bei Widman geben darauf irgendeinen Hinweis. Vielmehr hat die Vorstellung des phänomenalen Erfolges bei Hofe die sündhaft transgressiven Aspekte der Geisterbeschwörung so sehr beiseite gedrängt, dass sie nahezu vollständig aus deren narrativer Logik herausfallen. Was einerseits als Legendenkontrafaktur lesbar ist, kann sich damit andererseits von diesem 107 Vgl. Widman, D. Johannes Faustus (Anm. 79), 2. Teil, S. 70 f. Die einzige explizite Korrektur erfolgt in einer Marginalglosse, in der Widman unter Berufung auf das rechte Original der Historie darauf hinweist, dass es sich bei dem Kaiser nicht um Karl, sondern um Maximilian gehandelt habe. 108 Ebd., S. 78. 109 Ebd., S. 79 f.
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Bezugsrahmen narrativ so weit entfernen, dass die Beziehung zwischen Hypotext und Hypertext, die bei Lercheimer noch eindeutig ist, verloren geht. Faustus ist dann nicht mehr im Muster der Legende zu halten und geht damit – jedenfalls stellenweise – auch nicht mehr in der binär codierten Semantik von Heil und Verdammnis auf.
Bekenntnis, Geständnis und die Sünderheiligenlegende Im Erzählmodus der Legende wird Faustus in erster Linie durch den Konnex von Reue, Klage und Bekenntnis gehalten. Diese Verbindung ist charakteristisch für die Sünderheiligenlegende: Der reuige Sünder bekennt seine Sünden, bevor er wieder in den Schoß der Kirche aufgenommen wird und schließlich das Heil erlangt. In der Teufelsbündnerlegende ist dieses Schema bedeutend erweitert: Auf Reue und Selbstbezichtigung folgt die Aufkündigung des Paktes, zumeist mit Hilfe Marias, daran schließt sich dann das öffentliche Bekenntnis des Teufelspaktes und die anschließende Rückkehr in den Schoß der Kirche an, die in der Regel mit Heiligkeitserweisen für den ehemaligen Teufelsbündner einhergeht. Gegenüber der Sünderheiligenlegende ist demnach das Bekenntnis der Sünden verdoppelt: Zunächst ergeht sich der Teufelsbündner in stiller, aber tränenreicher Reue und Selbstbezichtigungen, worauf Maria erscheint und ihn vom Teufelspakt löst; daran schließt sich dann das öffentliche Sündenbekenntnis an. Für den Hörer oder Leser wird das Bekenntnis durch das retardierende Element des Auftritts der Gottesmutter verdoppelt: Vom Bekenntnis foro interno wird es in ein Bekenntnis foro externo überführt.110 Eben dieses syntagmatische Verknüpfungsschema findet sich auch in der Historia von D. Johann Fausten. In der Abfolge von Reue, Selbstbezichtigung, Suche nach Beistand sowie anschließendem öffentlichem Bekenntnis erweisen sich die Schlusskapitel der Historia als dichte Kontrafaktur der Theophiluslegende. In der Theophiluslegende bereut Theophilus schon nach kurzer Zeit tränenreich seinen Teufelspakt. Daran schließt sich ein zweiteiliger Reuemonolog im stummen, aber tränenreichen Gebet an, der mit Selbstbezichtigungen und Angstreue einsetzt, sich dann jedoch an Maria wendet und trotz der Scham des 110 Auf den Zusammenhang der Theophiluslegende und ihrer starken Verbreitung im 13. Jahrhundert mit der Reform der Bußpraxis hat bereits Gier, Der Snder als Beispiel (Anm. 13), S. 46, hingewiesen.
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Befleckten gegenüber der Reinen schließlich auf ihre Hilfe vertraut. Maria sichert ihm anschließend die Vergebung Christi und steigt sogar selbst in die Hölle hinab, um dem Teufel die Verschreibung zu entreißen. Anschließend bekennt Theophilus öffentlich vor der Gemeinde seine Schuld, empfängt das Messopfer, wird verklärt und stirbt drei Tage nach der Sündenvergebung.111 Diese Verknüpfung von Reue und Selbstbezichtigung sowie die Scham gegenüber den Heiligen finden sich auch in den drei Weheklagen der Historia.112 Ach Fauste / du verwegenes vnnd nicht werdes Hertz / der du deine Gesellschafft mit verf Fhrest in ein Vrtheil deß Feuwers / da du wol hettest die Seligkeit haben k =nnen / so du jetzunder verleurest / Ach Vernunfft vnd freyer Will / was zeihestu meine Glieder/ so nichts anders zuversehen ist / dann beraubung jres Lebens / Ach jhr Glieder / vnnd du noch gesunder Leib / Vernunfft vnd Seel / beklagen mich / dann ich hette dir es zu geben oder zu nemmen gehabt / vnd mein Besserung mit dir befriedigt. Ach Lieb vnnd Haß / warumb seyd jr zugleich bey mir eingezogen / nach dem ich euwer Gesellschafft halb solche Pein erleiden muß / Ach Barmhertzigkeit vnd Rach / auß was vrsach habt jr mir solchen Lohn vnd Schmach verg =nnet? O Grimmigkeit vnd Mitleyden / bin ich darvmb ein Mensch geschaffen / die Straff / so ich bereit sehe / von mir selbsten zu erdulden? Ach / ach Armer/ ist auch etwas in der Welt / so mir nicht widerstrebet? Ach / was hilfft mein Klagen. 113
Auf Faustens Klagen erscheint, anders als in der Theophiluslegende, jedoch nicht die trost- und gnadenreiche Maria, sondern der hämische und spöttische Mephostophiles, der Faustus mit Sprichwörtern überschüttet, die alle darauf gemünzt sind, dass seine Reue zu spät komme und vergeblich sei: Ein gebratene Wurst hat zween Zipffel / Auff deß Teuffels Eyß ist nicht gut gehen / Du hast ein b =se Art gehabt / darumb l (ßt Art von Art nicht / also l (ßt die Katz das Mausen nit / Scharpff frnemmen macht sch (rtig / weil der L =ffel new ist / braucht jn der Koch / darnach wenn er alt wirt / so scheißt er dreyn / dann iß mit jm auß / Jst es nicht auch also mit dir? der du ein newer Kochl =ffel deß Teuffels warest / nun n Ftzet es dich nimmer / denn der Marckt hett dich sollen lehren Kauffen / […] Es geh =rt mehr zum Tantz / dann ein roht par Schuch / hettestu Gott vor Augen gehabt / vnd dich mit denen Gaben / so er dir verliehen / begn Fgen lassen / d =rfftestu diesen Reyen nicht tanzten / […] / jetzt wischt der Teuffel das Maul / vnnd gehet davon / du hast dich zum B Frgen gesetzt / mit deinem eigenen blut / so sol man B Frgen w Frgen / hast es zu einem Ohr lassen eingehen / zum andern wider auß. 114 111 112 113 114
Vgl. Plenzat, Theophiluslegende (Anm. 13), S. 21 f. Vgl. Historia (Anm. 15), S. 113 – 115. Ebd., S. 113 f. Ebd., S. 116 f.
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Die zum großen Teil dem Code der Haus- und Marktökonomie entlehnten Sprichwörter, deren semantische Dystopie Faustus zum großen Teil selbst noch den Code der Religion verweigert, bildet einen scharfen Kontrast zu den anfänglich widerstrebenden, aber dann zunehmend tröstlicheren Worten der Gottesmutter in der Theophiluslegende. Auch das anschließende Bekenntnis ist eine unmittelbare Kontrafaktur zum Geständnis in der Theophiluslegende: Faustus legt es nicht, wie Theophilus, öffentlich in der Kirche vor dem Bischof und der Gemeinde ab, sondern semi-öffentlich, in einem Wirtshaus als oratio Fausti ad Studiosos. Dennoch bleibt der performative Akt als Generalbeichte erhalten, ohne dass freilich die endgültige Rekonziliation erfolgen würde: Faustus wird anschließend nicht verklärt und in den Himmel erhoben, sondern sein Leib wird vom Teufel zerschmettert und landet auf dem Misthaufen, seine Seele verfällt dem Teufel. Nichtsdestoweniger bleiben das private, hier schriftlich niedergelegte und das öffentliche, mündlich vorgetragene Bekenntnis, die beide von Zeichen der Reue erfüllt sind, auch als Kontrafakturelemente entscheidende Generatoren von Individualität. Indem Faustus unter vollständiger Ausschaltung der extradiegetisch-hetereodiegetischen Erzählerstimme in ausführlichen Monologen und Metadiegesen auf seine Sünden reflektiert und diese öffentlich bekennt, wird er in das Dispositiv der Geständnispraktiken eingeschrieben, in denen das Individuum sich selbst an der Norm misst und sich ihr damit unterwirft. Faustens Reintegration erfolgt nicht durch Rekonziliation, sondern durch die Performanz seiner Unterwerfung unter das Regime der christlichen Geständnispraktiken.
mitewrker gotes Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts Burkhard Hasebrink Über Beziehungsmuster von literarischer und religiöser Kommunikation im Mittelalter zu sprechen geht von einer grundsätzlichen Voraussetzung aus: Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter bilden ein asymmetrisches Verhältnis, in dem der Part der ,Literatur‘ zwar nicht grundsätzlich heteronom bedingt sein muss, aber doch noch in seiner größten Ferne zu religiösen Deutungen diesen gegenüber latent unter Geltungsdruck steht.1 Die Schnittstellen und Berührungen sind vielfältig und oft unterschwellig. Sie wahrzunehmen unterliegt zudem selbst der Veränderung: Was als kaum beachtete, topisch scheinende Größe in Texten ruht, erweist sich einer gewandelten Einstellung gegenüber möglicherweise als zentrale Wirkmacht einer literarisch entworfenen Welt. Die Bedeutung der religiösen Dimension mittelalterlicher Texte legt also eine klare Grenzziehung zwischen literarischer und religiöser Kommunikation nicht nahe. Besonderes Interesse verdienen hybridisierende Formen, in denen geistliche und weltliche Sinnmuster überblendet oder durchkreuzt werden. Aber noch in Legenden bleibt der reale Geltungsbereich des Heiligen begrenzt; es kommt gerade auf die Inszenierung des ,Einbruches‘ des Transzendenten in eine Welt an, die ihre Logik der Differenz zum Heiligen verdankt. Ein solcher ,Einbruch‘ in die ,diesseitige‘ Welt scheint die Ordnungen zeichenhafter Repräsentation außer Kraft zu setzen und Effekte einer Präsenzstiftung zu 1
Vgl. Burghart Wachinger, „Einleitung“, in: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 1 – 15. – Georg Steer gilt mein besonderer Dank für die Möglichkeit, Grundzüge dieses Beitrages auf der Gründungsveranstaltung der Meister-Eckhart-Gesellschaft im November 2004 in Köln unter dem Titel ,Semantik der Gelassenheit‘ vorstellen zu dürfen. Für wichtige Hinweise möchte ich zudem Bent Gebert (Freiburg/Br.) herzlich danken.
Performativität der Umdeutung bei Meister Eckhart
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erzeugen, die das Heilige als Kennzeichen einer anderen Anschauungsform auszeichnet, die magisch anmutet.2 Die Frage der Präsenz des Heiligen spitzt sich in Texten zu, die sich selbst als Ergebnis von Inspiration oder Offenbarung verstehen. Dabei scheint gerade die Vergewisserung darüber, wie sich ,Inspiration‘ mit dem Eigenanteil an der Produktion von Texten verbindet, zu Ansätzen literarischer Reflexivität zu führen, ohne die Geltung eines solchen transzendenten Einwirkens auf das eigene Sprechen oder Schreiben in Frage zu stellen. Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung ist unter dieser Hinsicht beschrieben worden.3 Eine besondere Dichte gewinnt die Überblendung von bildlich-allegorischer Darstellung mit Effekten materialer Präsenz in der Literatur ,heiliger Frauen‘. Im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg legitimiert eine solche virgo sancta (so die lateinische Vorrede) ihr Buch mit der Vision, in der Gott dieses Buch in seiner Rechten hält.4 Gleichzeitig ist dieses 2
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Vgl. mit unterschiedlichen Akzentuierungen: Christian Kiening, „Gewalt und Heiligkeit“, in: ders., Zwischen Kçrper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003, S. 35 – 55; Bruno Quast, „Vera Icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst in der ,Veronika‘ des Wilden Mannes“, in: Jan-Dirk Müller/Horst Wenzel (Hrsg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart 1999, S. 197 – 216; Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 149. Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfngen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erweit. Auflage, Darmstadt 1992; Christian Kiening, „Freiräume literarischer Theoriebildung – Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 66/1992, S. 405 – 449. Unter dem Titel „Ansätze literarischer Theoriebildung“, in: ders., Zwischen Kçrper und Schrift (Anm. 2), S. 113 – 129; Almut Schneider, „Licht-Bilder. Zur Metaphorik poetischer Sprechweisen in Texten des frühen Mittelalters“, in: Gerd Dicke/Manfred Eikelmann/Burkhard Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beitrge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin – New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 189 – 209. Mechthild von Magdeburg, Das Fließende Licht der Gottheit, hrsg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt/M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181, Bibliothek des Mittelalters 19), II 26, S. 136 – 138. Vgl. Klaus Grubmüller, „Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg“, in: Johannes Janota [u.a.] (Hrsg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, 2 Bde., Tübingen 1992, Bd. I, S. 335 – 348.
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Buch Gegenstand allegorischer Auslegung – die visionär geschaute Dinglichkeit des Buches oszilliert mit dessen Zeichenhaftigkeit und markiert damit die fließenden Übergänge zwischen Präsenzeffekten und bildhafter Repräsentationslogik.5 Die Differenz, die mit der Formel von ,literarischer und religiöser Kommunikation‘ angezeigt wird, verschiebt sich nicht nur auf die Ebene einer innerreligiösen Kommunikation im Dialog zwischen Gott und minnender Seele (anima diligens), sondern verlagert sich schließlich auf den Weg der Seele selbst, die ,Heiligung‘ in Selbstvernichtung und Entblößung sucht, um in solcher ,Nacktheit‘ als Geliebte sich mit dem göttlichen Geliebten zu vereinigen.6 Während ein solcher Text wie das Fließende Licht der Gottheit das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz über die Dynamik von Begehren, Liebesvereinigung, Verlassen und den Umschlag von Ferne in größte Nähe zu entdifferenzieren und damit zu verdichten sucht, stehen die deutschen Predigten Meister Eckharts im Kontext theoretischer Deutungsmodelle, die das Verhältnis von kontingenter Welt und göttlicher Wirklichkeit umfassend aus theologischen und philosophischen Traditionen heraus begründet.7 Die Position Meister Eckharts ist gekennzeichnet durch eine extreme Zuspitzung im Verhältnis von geschaffener, endlicher Welt und der Transzendenz: Gott wird als das eine Sein bestimmt, das allein Einheit, Wahrheit und Wirklichkeit für sich beanspruchen kann. In einem dynamischen, kontinuierlichen Prozess teilt sich dieses Sein dem Geschaffenen mit, das für sich genommen ein reines Nichts ist. Was die deutschen Predigten Eckharts so unverwechselbar macht, ist ihre Fokussierung auf die abegescheidenheit der Seele: Die Seele findet ihre Einheit mit dem Transzendenten im Durchbruch in ihren eigenen, innersten, göttlichen Grund. Die Heiligkeit dieser Seele ist somit zugleich ihre innicheit, in der sie allem Geschaffenen fern steht und sich selbst als Gottes Sohn, als sein Wort begreift. Mit diesem Modell der ,Heiligung‘ stehen die deutschen 5
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Vgl. Burkhard Hasebrink, „Sprechen vom Anderen her. ,Heterologie‘ mystischer Rede als epistemischer Fluchtpunkt mittelalterlicher Literarizität“, in: Konrad Ehlich (Hrsg.), Germanistik in, und, fr Europa. Faszination – Wissen. Texte des Germanistentages 2004, Bielefeld 2006, S. 391 – 399. Vgl. Das Fließende Licht der Gottheit (Anm. 4), Kapitel 44 des ersten Buches: Von der minne weg an siben dingen, von drin leiden der brfflte und von tantzen. Ich zitiere nach der Ausgabe: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke [DW], hrsg. von Josef Quint/Georg Steer. Die lateinischen Werke [LW], hrsg. von Ernst Benz [u.a.], Stuttgart 1936 ff.
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Predigten Eckharts nicht nur im Kontext theologischer und philosophischer Theoriemodelle. Sie wenden sich an Menschen, die ihre Lebenspraxis am Ziel einer solchen Heiligung ausrichten. Das sind, von der Überlieferung der deutschen Predigten her betrachtet, in erster Linie Mitglieder der Orden. Das geistliche Programm, das sie entfalten, ist dominikanisch geprägt, beschränkt sich aber weder auf diesen Orden noch auf die vita religiosa allgemein, sondern stellt die abegescheidenheit in das Zentrum einer universalen Anthropologie, die für jeden Menschen Wahrheit beansprucht. Sie formulieren eine Grenzposition, die gleichermaßen das Zentrum religiöser Deutung hervorkehrt: Transzendenz bricht nicht in Immanenz ein, sondern ist in überzeitlicher Gegenwärtigkeit ihr alles hervorbringender Grund. Die Gottesgeburt in der Seele setzt diese Dynamik von Transzendenz und Immanenz ins Bild und kennzeichnet zugleich ihre höchst verdichtete Differenzlogik der innicheit als Selbstbezug.8 Dabei sprengen diese Predigten die Ordnungen nach Stand und Ordenszugehörigkeit: Sie zielen auf die Heiligung eines jeden Menschen und verweisen ihn auf die Göttlichkeit seines eigenen, innersten Seelengrundes. Diese Lehre zielt somit auf Ununterschiedenheit in der Intelligibilität des einen Grundes. Die Frage nach der Präsenz des Heiligen bekommt damit eine neue Dimension: Sie wird nicht aus der Differenz, der Abwesenheit des Transzendenten heraus gestellt, sondern von der Anwesenheit und Wirklichkeit des Göttlichen her. Entsprechend interessieren Eckhart Praktiken eines Aufstiegs kaum, auch wenn er entsprechende Modelle kennt und aufgreift.9 Im Gegenteil: Eckhart greift Leitkonzepte eines auf Vervollkommnung gerichteten Lebens auf, wie sie in der geistlichen Kultur des Spätmittelalters zirkulieren, um ihre Verwendung als Stufen oder Mittel geistlicher Heilsfindung zu kritisieren. Wenn er stattdessen 8
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„Die Geburt findet in der Ewigkeit statt und ist in keiner Weise bestimmt durch den Raum, die Natur oder die Vorstellung, wie die Schöpfung sie kennt.“ (Maarten J. F. M. Hoenen, „Predigt 37: ,Vir meus servus tuus mortuus est‘“, in: Georg Steer/Loris Sturlese [Hrsg.], Lectura Eckhardi II. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, koordiniert von Dagmar Gottschall, Stuttgart 2003, S. 89 – 110, hier S. 106). Zur Frage von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit einer Heiligung in mystischen Texten vgl. grundlegend Walter Haug, „Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik“, in: ders. (Hrsg.), Mittelalter und frhe Neuzeit. bergnge, Umbrche und Neuanstze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 357 – 377. Wieder in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frhen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 446 – 463.
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Burkhard Hasebrink
diese Leitkonzepte umdeutet, dann tut er das nicht nur in theoretischer Absicht. Seine Umdeutungen haben eine performative Dimension, sie vollziehen die Freilegung eines ,Kerns‘ der Bedeutung, der erst gewonnen werden kann, wenn die alte Bedeutung ,abgeschält‘ und der Begriff umgestülpt wird (um die bekannte Metapher zu verwenden). Solche Operationen in der Kommunikationssituation der volkssprachigen Predigten zu vollziehen bedeutet, sie als integratives Moment eines Prozesses zu begreifen, der kein ,Weg‘ ist, sondern ein erkennendes Offenbarwerden der eigenen ,Heiligkeit‘ – Momente sprachlicher Präsenzstiftung im Vollzug von Predigt und autoritativer Lehre. Zur Debatte steht also nicht die Grenze zwischen ,weltlich‘ und ,geistlich‘ in all ihren Varianten. Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass sich die Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz in einer etablierten religiösen Kultur in den spezifischen Praktiken und Konzepten dieser Kultur selbst neu eingenistet hat. Was diese Kultur überwinden wollte, erzeugt sie in sich in noch größerer Brisanz neu. Es geht also darum, die Leitdifferenz der religiösen Kultur dort aufzusuchen, wo sie sich bis zur Unkenntlichkeit minimiert hat, und die Modelle zu beschreiben, die diese Differenz dynamisieren oder in prozessualer Relationalität ins Fließen zu bringen suchen – in der Liebe, der Erkenntnis, im nachahmenden Leiden, im höchsten Genuss. Bei meinen Überlegungen beschränke ich mich auf die Texte in der Volkssprache, vor allem die deutschen Predigten. Diese Predigten besitzen ihre eigene Kommunikationssituation, denn sie belehren nicht nur in ihrem theoretisch-rationalen Profil, sondern setzen in ihrer Deutungsarbeit das zentrale Thema der abegescheidenheit interaktiv um, indem sie den Rezipienten in die innicheit hineinführen, aus der sie gesprochen sind. Dabei geht es mir nicht um den historischen Nachweis spezieller Zielgruppen, für den vor allem die Überlieferung heranzuziehen wäre, sondern auf den ,impliziten Rezipienten‘, den die Predigten voraussetzen wie ansprechen, unabhängig davon, ob es sich um Predigten in Frauenklöstern oder vor den ,einfachen Leuten‘ handelt, von denen die Verurteilungsbulle In agro dominico spricht. Es wäre aufschlussreich, das Bild dieser Rezipienten genauer aus den Predigten heraus nachzuzeichnen, gerade weil es sich nicht mit gängigen Abstufungen nach Status oder Ordenszugehörigkeit deckt, sondern allgemein einen Menschen annimmt, der die höchste Vervollkommnung in der unmittelbaren Gottesschau erstrebt. Die Predigten theoretisieren dieses Ziel nicht nur, sondern ziehen den Rezipienten mit in ihren Argumentationsgang hinein, indem sie sich performativ in den aktuellen
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Prozess der Gottesgeburt im Augenblick ihres Vollzugs stellen. Ich untersuche also eine Bewegung innerhalb religiöser Kommunikation, und zugleich betrachte ich sie als Zuspitzung der grundsätzlichen Problematik der Gegenwart des Heiligen in einer auf Transzendenz gerichteten Welt. Den eigentümlichen Reiz dieser Texte sehe ich in der Durchdringung von Theoretisierung und Performierung, mit der in der Predigt der verborgene Sinn des auszulegenden Schriftwortes erschlossen wird. Dabei geht es nicht um die Umsetzung von Techniken der Exegese, sondern um ein Zerbrechen, bei dem die Auslegung zum Sinn der Begriffe ,durchbricht‘. Susanne Köbele hat diese Dynamik vor kurzem gerade am Begriff der Heiligkeit überzeugend unter dem Stichwort der locutio emphatica beschrieben.10 Die Loslösung in der abegescheidenheit ist nicht einfach ein spiritueller Prozess der Weltabsage. Er vollzieht sich zugleich als Reinigung der Erkenntnis und damit sprachlich als Freilegung der verborgenen Bedeutung der verwendeten Termini. Die „Lust an rhetorischer Radikalität“11 verbindet sich jenseits von ,Einkleidung‘ mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch, den die sprachliche Bewegung der Umdeutung kommunikativ einlöst. Ich möchte diese Umdeutung an einigen Beispielen vorstellen, wobei ich auch die Inszenierung einbeziehe, die solche Umdeutungen in den Predigten erfahren. Gottes Sprechen schafft unmittelbar Wirklichkeit, indem es die Dinge ins Sein setzt. Wenn Eckhart sich als mitewrker begreift, mag man den immensen kommunikativen Anspruch seiner Predigten ermessen, mit seinen Umdeutungen die Wahrheit selbst zu Wort kommen zu lassen, auch wenn Gott darin nicht unvermittelt wirkt.12 10 „,Locutio emphatica‘. Metapher und Begriff bei Meister Eckhart“. Vortrag von Susanne Köbele auf der zweiten Jahrestagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft in Straßburg, April 2006. Vgl. jetzt den Beitrag von Susanne Köbele, „,Emphasis‘, ,überswanc‘, ,underscheit‘. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse)“, in diesem Band. 11 Kurt Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der ,Deutschen Mystik‘ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, S. 113. 12 Vgl. Predigt Quint Nr. 81: Hier sieht Eckhart die göttliche Gnade in sein Wort ,gebunden‘, doch die Gnade, die der heilige Geist in die Seele bringe, werde ohne Unterschied empfangen, wenn die Seele auf jene einfache Kraft hingeordnet sei, die Gott erkennt: Etelich werk wrket unser herre got ne underscheit selbe, etelich mit underscheide und mit helfe. Mçhte diu gnde, diu in mn wort gebunden ist, ne underscheit komen in die sÞle, als ob ez got selbe spræche oder wçrhte, diu sÞle wrde alzehant bekÞret und wrde heilic und enmçhte sich niht d vor enthalten. Als ich
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Prominent ist dabei sicherlich die Transponierung, die Eckhart in der Semantik des Lassens vornimmt. Doch schon in den frühen Erfurter Reden ist die Verwendung von lzen und sich lzen eng verknüpft mit anderen Ausdrücken aus einem Feld, das man im klösterlichen Kontext als ,Wortfeld der Weltabkehr‘ bezeichnen könnte. Abstrakter formuliert geht es um jene Praktiken der Vervollkommnung und Reinigung, durch die sich die Seele für den Empfang der metaphysisch gedachten Wahrheit bereitet. Doch die Prominenz des Begriffs der Gelassenheit täuscht nicht darüber hinweg, dass es sich in den Texten Eckharts um ein ganzes Netz von Leitbegriffen einer geistlichen Lebensführung handelt, die einer umfassenden Transformation unterzogen werden. Mein Zugang zu dieser semantischen Arbeit gewinne ich also nicht aus der Analyse eines Einzelwortes, denn die spezifische Resignifikation, die ich beschreiben möchte, betrifft kein Einzelwort. Eckhart hat gelzenheit als Begriff nicht terminologisiert; eine solche begriffliche Bestimmung hat erst Heinrich Seuse in seinem Buch der Wahrheit unternommen, in dem er im Sinne einer Verteidigung der Lehre Eckharts rechte, wahre Gelassenheit von ungeordneter Freiheit abgrenzt.13 Vielmehr scheint es der Prozess der Umdeutung selbst zu sein, in dem die einzelnen Ausdrücke in ihrer Semantik einerseits bestimmt, andererseits aber in ganz eigener Weise miteinander in Beziehung treten, wobei diese Beziehung von Konvertibilität gekennzeichnet ist, die bis an die Grenze der Tautologie führt. Wem Eckhart konkret gepredigt hat, wissen wir nur in seltenen Fällen, aber es scheint, als greife er immer wieder Leitbegriffe geistlicher Lebensführung auf, um sie gleichsam in sein Programm der Einheit von Gott und Seele im wechselseitigen Erkennen ,einzuschmelzen‘, um schon in diesem Vorgang die Wahrheit dieses Programms zur Geltung zu bringen. Einsetzen möchte ich mit den Reden der Unterweisung (so übersetzte Josef Quint rede der unterscheidunge). In diesen frühen Erfurter Reden arbeitet Eckhart an den diskursiven Deutungsmustern der Klosterkultur. gotes wort spriche, s bin ich ein mitewrker gotes und ist diu gnde gemenget mit der crÞat re und enwirt niht genzlche enpfangen in die sÞle. Aber diu gnde, die der heilige geist bringet in die sÞle, diu wirt enpfangen ne underscheit, ob diu sÞle gesament ist an die einvaltige kraft, diu got bekennet (DW III, S. 398,9 – 399,2). Zur erleuchteten, gottgleichen Seele als mitewrkerin Gottes, die mit dem Vater alle seine Werke wirkt, vgl. die Predigt Quint Nr. 31 (DW II, S. 124,5 – 125,6). 13 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit. Mittelhochdeutsch – Deutsch, kritisch hrsg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übersetzt von Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 458).
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In seiner Analyse legt Eckhart offen, in welchem Widerspruch sich solche Muster verfangen.14 Denn anstatt zu Gott und damit zu Frieden und Ruhe zu führen, verfestige die Konzentration auf geistliche Übungen und gute Werke nur die Bindung an die Welt und damit an den Eigenwillen. Entsprechend handelt das erste Kapitel vom wahren Gehorsam. Jedes Werk, so Eckhart, sei es Beten, Betrachtung oder was du dir denken magst: Alles ist sinnvoller getan in wahrem Gehorsam. Ich möchte deshalb dieses Kapitel als erstes Beispiel des Semantisierungsprozesses anführen: Wahrer Gehorsam heißt, ganz aus seinem Ich herauszugehen und den eigenen Willen aufzugeben, so dass der göttliche Wille in diesem Menschen wirke (DW V, S. 187). Schon hier spricht Eckhart von ,lassen‘ als selbstreflexiver Bewegung: Soweit sich der Mensch lasse und aus allen Dingen herausgehe, soweit gehe Gott mit all dem Seinen ein (DW V, S. 197). ,Sich lassen‘ ist eingebettet in ,ausgehen‘ und ,aufgeben‘ – die erstrebte Heiligung des Menschen korreliert mit der Transgression der kreatürlichen Welt. Zugleich ist damit ,Gehorsam‘ als leitende Tugend klösterlichen Lebens umgedeutet: Nicht die Befolgung eines anderen Willens, sondern die Aufgabe des Eigenwillens sei wahrer Gehorsam und, so Eckhart, im ,Tausch‘ (commercium) das Wirken des göttlichen Willens. ,Sich lassen‘ bedeutet hier eine ,innere Einöde‘, wo oder bei wem der Mensch auch sei (DW V, S. 207). Die Erfurter Reden bleiben jedoch an einem Muster der Habitualisierung ausgerichtet, das die Verfestigung einer Haltung durch Lernen und Einübung betont, bis man eine Tugend in ihrem Grunde gewinne: Als lange lerne man sich lzen, biz daz man niht eigens enbeheltet (DW V, S. 282,11).15 Nichts Eigenes: das ist in der Form einer bestimmten Negation geradezu die Kurzformel der Abgeschiedenheit und Selbstvernichtung.
14 Vgl. Burkhard Hasebrink, „,sich erbilden‘. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ,Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts“, in: Andreas Speer/Lydia Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin – New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 122 – 136. 15 Zur Auseinandersetzung Eckharts mit der Einübung von Tugenden und der davon abzuhebenden Position der Weglosigkeit vgl. grundlegend Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrçmmigkeit seiner Zeit, München – Zürich 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 91), S. 174 – 199; ders., Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 328 – 334.
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In diesem Kontext der Selbstvernichtung findet sich auch der anfangs angesprochene vereinzelte Beleg für gelzenheit (DW V, S. 283), noch ganz mit dem Begriff der ,wahren Abgeschiedenheit‘ verflochten. Es geht um die Frage, ob man schließlich auch von Gottes sezicheit ablassen solle: könne das nicht auch von Trägheit oder von zu geringer Liebe zu Gott kommen? Die Antwort: Ja durchaus, wenn man den Unterschied nicht erkenne: Wan, ez kome von trcheit oder von wrer abegescheidenheit oder von gelzenheit, s sol man merken, ob man sich hier inne vindet, als man s gar von innen gelzen ist, daz man denne gote als getriuwe ist, als man in dem grœsten enpfindenne wære, daz man hier inne allez daz tuo, daz man d tæte, und niht minner, und daz man sich als abegescheidenlche halte von allem trste und helfunge, als man tæte, s man gegenwerticlchen got enpfnde (DW V, S. 283,7 – 284,2).
Wahre Abgeschiedenheit und Gelassenheit kann man von Trägheit unterscheiden, indem man darauf achtet, ob man in dieser Haltung Gott ebenso ,treu‘ ist wie im größten Empfinden seiner Gegenwart und dabei auf jede Form von Trost und Beistand verzichtet. Wortgeschichtlich handelt es sich um den frühesten Beleg der substantivierten Form gelzenheit.16 Es fällt jedoch auf, dass in der Paarformel eher gelzenheit das glossierende Wort ist. Das würde voraussetzen, dass es nicht okkasionell, sondern in einer usuellen Bedeutung verwendet wird. Hat Eckhart hier auf einen allgemeiner bekannten volkssprachlichen Ausdruck zurückgegriffen, mit dem er seinen Begriff der wren abegescheidenheit erläutert? Wenn Eckhart den Begriff gelzenheit selbst gebildet hätte, wie jüngst Panzig betont, warum verwendet er ihn, soweit es zu übersehen ist, in seinen Predigten nie? 17 Zirkulierte dieses Wort vielleicht schon? War es dann nicht erst Heinrich Seuse, der diesen Ausdruck für Eckhart zu reklamieren suchte, um vor einer ,falschen‘ Verwendung zu warnen und gleichzeitig eine klare Tren16 Vgl. Ludwig Völker, „,Gelassenheit‘. Zur Entstehung eines Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme“, in: Franz Hundsnurscher/Ulrich Müller (Hrsg.), ,Getempert und gemischet‘, Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 65), S. 281 – 312; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung von Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Bercksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt/M. [u.a.] 1990; Erik Alexander Panzig, „,gelâzenheit und abegescheidenheit‘ – zur Verwurzelung beider Theoreme im theologischen Denken Meister Eckharts“, in: Speer/Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart (Anm. 14), S. 335 – 355. 17 Vgl. Panzig, „gelâzenheit“ (Anm. 16), S. 244.
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nungslinie zwischen der Lehre Eckharts und solchen zu ziehen, die in einem ,ungeordneten‘ Sinn von ,Gelassenheit‘ gesprochen hatten? Die Reden können jedenfalls beide Ausdrücke nebeneinander stellen, präferieren aber, was die substantivierte Form angeht, bekanntlich abegescheidenheit.18 Mit ,wahrer Abgeschiedenheit‘ zielen die Erfurter Reden nicht auf eine Instrumentalisierung der Willensaufgabe zum Zweck der Erkenntnis des Göttlichen, sondern formulieren jene Anleitung, auf die später die Predigt Quint Nr. 12 Qui audit me Bezug nehmen wird: Ez enist kein rt als guot, got ze vindennne, dan w man got læzet; und wie dir was, d d in zem lesten htest, als tuo n , die wle d sn missest, s vindest d in (DW V, S. 225,3 – 5). Eckhart profiliert seinen Begriff der abegescheidenheit gegen Praktiken der Selbstvervollkommnung, die vom eigenen Willen geleitet sind und religiöse Übungen instrumentalisieren. Man kann dies als Versuch verstehen, eine solche Kultur zu entparadoxieren.19 Indem die Erfurter Reden aber abegescheidenheit von der Erfahrung ablösen, Gott zu haben, bricht die Paradoxie des Heiligen erneut auf: Gott lassen, um Gott zu finden. Mein zweites Beispiel für die spezifische Umdeutung betrifft eben die Haltung, die sich als Bereitschaft auf die Annahme des göttlichen Willens bezieht: die Demut. Auch hier führt Eckhart einen entscheidenden Bedeutungswandel herbei, geradezu eine Bedeutungsumkehr. Ich beziehe mich dabei auf die Predigt Quint Nr. 14 Surge illuminare iherusalem, „Steh auf, Jerusalem, und werde erleuchtet“ ( Jes 60,1). Aussagen dieser Predigt wurden zum Prozess gegen Eckhart herangezogen.20 Die Bulle In agro dominico bezieht sich mit Artikel 21 auf eine Aussage dieser Predigt, dass es dem edlen demütigen Menschen nicht genüge, dass er der einige geborene Sohn sei, den der Vater ewiglich geboren habe; er wolle auch Vater sein, in die selbe Gleichheit der ewigen Vaterschaft eintreten und den gebären, von dem ich ewig geboren werde.21 Wie prekär Eckharts Überlegungen zur göttlichen 18 In der programmatischen Formulierung seines zentralen Predigtthemas spricht Eckhart folglich auch von abegescheidenheit: Swenne ich predige, s pflige ich ze sprechenne von abegescheidenheit und daz der mensche ledic werde sn selbes und aller dinge (Predigt Quint Nr. 53; DW II, S. 528,5 – 6). 19 Vgl. Peter Fuchs, „Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens“, in: Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 21 – 45. 20 Vgl. DW I, S. 227. 21 Bulle art. 21: Homo nobilis est ille unigenitus filius dei, quem pater eternaliter genuit (zitiert nach DW I, S. 239, Anm. 3).
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Sohnschaft des demütigen Menschen sind, manifestiert sich auch in der Überlieferung. Nur eine Handschrift bietet die Predigt vollständig.22 Eine zweite Handschrift enthält lediglich ein anonym überliefertes Fragment dieser Predigt.23 Josef Quint vermutete, dass der Text möglicherweise auf Grund der Brisanz der Ausführungen abbricht. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass zu Beginn des Fragments am rechten Rand vermerkt ist: dit ensal men neit lesen – das soll man nicht lesen.24 Es wird angenommen, dass die Predigt – eingebunden in eine Reihe weiterer Predigten – in Köln gehalten wurde.25 Auch weist die Überlieferung nach Köln. Denn die Handschrift mit dem Fragment dieser Predigt, die zudem mit der ersten Handschrift eng verwandt ist, stammt aus der Kölner Kartause St. Barbara. Diskursgeschichtliche Untersuchungen müssten solchen Spuren einer abgebrochenen, untersagten und anonymisierten Mystikrezeption in den Klöstern des Spätmittelalters umfassend nachgehen. Aber was macht diese Predigt so gefährlich? Ich setze ein mit dem Rückverweis, mit dem Eckhart sich auf die Predigt Quint Nr. 22 bezieht, die er zo mergarden (DW I, S. 233,1) gehalten habe.26 Dort habe er gesagt: dat hoege is, zo deme spricht man: koyme heir neder. dat neder is, zo deme spricht man: koime heire vp. Bystu neder inde were ich inbouen dir, so moyste ich heir neder zo dir. also deyt got; so wane du dich oitmoedeges, so kompt got van inbouen heir neder inde compt in dich (DW I, S. 233,1 – 5). Man denke an das Argumentationsmuster des Tausches aus dem ersten Beispiel zurück: Wenn du aus dir herausgehst, kommt Gott mit all dem 22 B16: Berlin, SBBPK, Ms. germ. qu. 1261, fol. 299v–302r. Vgl. DW I, S. 227. 23 Lo1: London, Library of University College, Ms. germ. 11, fol. 126vb–127ra. Vgl. DW I, S. 227; Kurt Otto Seidel, ,Die St. Georgener Predigten‘. Untersuchungen zur berlieferungs- und Textgeschichte, Tübingen 2003 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 121), S. 91 – 97. Seidel macht wahrscheinlich, dass die Handschrift zur Laienbibliothek der Kartause gehörte. 24 Vgl. DW I, S. 230. 25 Vgl. Meister Eckhart, Werke I/II. Texte und bersetzungen, hrsg. von Niklaus Largier, Frankfurt/M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 91/92, Bibliothek des Mittelalters 20/21), Bd. I, S. 889. Karl-Heinz Witte hat jetzt in seinem Beitrag für den geplanten dritten Band der Lectura Eckhardi die Diskussion ausführlich aufgearbeitet und votiert mit guten Gründen für die Entstehung der Predigt in Köln. Ich danke Herrn Witte herzlich für die Einsicht in den noch unpublizierten Beitrag, der die Predigt in luzider Weise interpretiert. 26 Vgl. DW I, S. 372 – 374; Eckhart, Werke (Anm. 25), Bd. I, S. 935: Es handelt sich demnach um das Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten in Köln.
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Seinen hinein. ,Sich lassen‘ wird hier also durch ,sich erniedrigen‘ ersetzt; und das Denken in den vertikalen Kategorien von ,oben‘ und ,unten‘ spielt auch in der Ontologie und Kosmologie Eckharts eine zentrale Rolle. Demut sei die Wurzel alles Guten, folgert Eckhart, um sich dann als Gelehrten zu inszenieren: Schon zu Paris habe er gesagt, dass alle Dinge in einem recht demütigen Menschen vollendet würden (DW I, S. 235,4 – 5).27 Damit wird der homo humilis zum Grund der Heiligung aller Dinge.28 Die Rechtgläubigkeit genau dieses Satzes wurde bezweifelt: Er findet sich in den Prozessakten in den Listen der Sätze, die Eckhart vorgeworfen wurden. Und weiter: Der geware oitmodege mynsche der in darff got neit byden, hey mach gode gebeden, want de hoede der gotheit in suit neyt anders an den de doifde der oitmoedicheit (DW I, S. 235,7 – 9). Die Einheitsaussage liegt in der Logik dieser göttlichen Selbstmitteilung: Der oitmodege mynsche inde got dat is eyn (DW I, S. 235,9 – 10). Wir befinden uns im Zentrum des Eckhartschen Denkens. Eine semantische Neubestimmung wahrer Demut ist vollzogen. Doch wird Gott nicht noch zu räumlich gedacht? Passen die Kategorien der Kosmologie, passt die Dependenz nach Höhe und Tiefe zu jener Interiorisierung, wie sie Eckhart von Anfang an hervorhebt, passt sie zur ,inneren Einöde‘? An diesem Punkt inszeniert die Predigt eine spontane Neusemantisierung: jch dachte zo nachte, godes hoicheit lege an myner nederheit; dar ich mych nederde, dair wirt got erhoeget (DW I, S. 237,3 – 5). Gottes Transzendenz als Funktion menschlicher Immanenz? Gibt meine Demut, wie es in einem separat überlieferten Spruch Eckharts heißt, Gott seine Gottheit? 29 Überraschend setzt die Predigt noch einmal an: jherosalem sal erluchtet werden, sprycht de schryft inde der proppehete. mer ich gedachte zo nahte, dat got inthoeget solde werden, neit ey alle me ey in, ind sprycht 27 Als Parallele führt Quint (DW I, S. 235, Anm. 2) eine Stelle aus Pf. S. 306,40 f. auf, die inhaltlich sehr ähnlich lautet, sich aber auf den ,gerechten Menschen‘ bezieht. 28 Zum homo humilis vgl. Alain de Libera, Denken im Mittelalter [Penser au Moyen Age, 1991], aus dem Französischen von Andreas Knop, München 2003, S. 235 – 238. Zu Demut als paradoxalem Prinzip, das „Schöpfung als göttliche Selbstoffenbarung“ ausweist, vgl. Donata Schoeller Reisch, Enthçhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Bçhme, Freiburg/Br. – München 1999, S. 114 – 129, hier S. 127. 29 DW I, S. 237, Anm. 2.
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also vyle as inthoeget got, dat myr also wayle behagede, dat ich it in myn boich schryff (DW I, S. 237,5 – 8).
Wir besitzen keine Überlieferungszeugen von dem, was Eckhart in einem solchen Handbuch notiert haben könnte.30 Dass überhaupt auf ein solches Buch verwiesen wird, verleiht dem Gedanken des ,enthöhten Gottes‘ jedoch eine außerordentliche Signifikanz. Gedanklich wie sprachlich ist offenbar der Durchbruch gelungen – jetzt denkt Eckhart nicht mehr aus der vertikalen Differenz von Oben und Unten heraus, sondern ganz aus dem enträumlichten Innen, so dass das Folgende wie eine zirkuläre Denkbewegung um dieses sich selbst vermittelnde Innen klingt: dat ouen was, dat wart in. du salt geinneget werden inde van dich seluer in dich seluer, dat hey in dir sy. neit, dat wir eit nemen van deme, dat bouen ons sy; wir solent in ons nemen inde solent neimen van ons in ons seluer (DW I, S. 237,9 – 12). Die Predigt legt Wert darauf, dieses neue Verständnis von Demut nicht einfach vorzustellen, sondern diese Umdeutung performativ aktuell werden zu lassen, indem der Prediger einerseits den Umschwung seines eigenen Denkens berichtet, zugleich aber den Rezipienten konkret anspricht (du), in ein inklusives wir übergeht und schließlich die Bewegung der Verinnerlichung geradezu satzrhythmisch mitvollzieht, indem es die Betonungen auf die Präpositionen ,oben‘, ,von‘ und besonders ,in‘ legt – ein solcher Text erzeugt geradezu die Stimme, dessen Spur er ist. Vielleicht ist jetzt verständlicher, warum der Text in der Handschrift aus der Kölner Kartause abbricht. ,Demut‘ erscheint jetzt gegenüber dem anfangs referierten Verständnis in einem völlig neuen Licht. In einem edlen demütigen Menschen vollzieht sich, so fährt die Predigt fort, die göttliche Geburt, und es ist genau die Gleichsetzung dieses ,edlen Menschen‘ mit dem eingebornen Sohn Gottes, die von der päpstlichen Bulle im Artikel 21 verurteilt wird. Wieder ist ein dominantes Konzept geistlicher Lebensführung umgedeutet; ,Demut‘ meint keine Erniedrigung, sondern die Integration in den hier als Geburt gefassten göttlichen Selbstvollzug – von dir selber in dich selber, von uns in uns selbst. Paul Celan hat diese Predigt in einem seiner späten Gedichte herangezogen. DU SEI WIE DU, IMMER. lautet die Überschrift, nur auf den ersten Blick allein auf Jerusalem bezogen. DU SEI WIE DU, 30 Zu Eckharts ,Entwurfheften‘ vgl. Loris Sturlese, „Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen“, in: Speer/Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart (Anm. 14), S. 393 – 408, hier S. 403.
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IMMER. – für Celan scheint eine solche performative Selbstidentität nur als Wunsch formulierbar.31 In der mittelalterlichen Predigt Eckharts ist diese Selbstpräsenz metaphysische Gewissheit; und es scheint mir diese Selbstbezüglichkeit des demütigen Menschen, des göttlichen Sohnes, zu sein, auf die hin Eckhart seine Semantisierung ausrichtet. Dabei geht es nicht um Demut als solche, sondern um die Anverwandlung auch dieser Tugend an die Theorie der unmittelbaren Präsenz Gottes im inneren Menschen, wie sie vor allem am Verhältnis von Gerechtigkeit und Gerechtem entfaltet worden ist. Die ausschlaggebende Inversion liegt dabei im Wechsel vom ,erhöhten‘ zum ,enthöhten‘ Gott, die in der Predigt als Denkbewegung inszeniert und zugleich sprachlich als Durchbruch zum ,Kern‘ der Bedeutung vorgeführt wird. Man könnte den Zugang zu Eckharts Denken über diese Vorsilbe aufbauen, die im Kontext der negativen Theologie zu sehen ist wie im Kontext philosophischer Traditionen der Reinigung der Vernunft. Ich nenne einige Beispiele (mit wiederum beispielhaften Belegstellen): entbilden (DW V, S. 116,16) 32 entglchen (DW V, S. 116,16) entkleiden (DW I, S. 152,7) entsinken (DW V, S. 292,4) entvremden (DW I, S. 404,1) entwenen (DW V, S. 278,7) entwerden (DW V, S. 281,9)
Solche Forschung, die zu den dringenden Desideraten gehört, wäre nicht einfach ,Wortforschung‘, sondern zielte auf eine kulturelle Semantik der Literatur der ,deutschen Mystik‘ und ihrer ungeheuren sprachlichen wie kulturellen Produktivität. 31 Zitiert nach: Paul Celan/Ilana Shmueli, Briefwechsel, hrsg. von Ilana Shmueli/ Thomas Sparr, Frankfurt/M. 2004, S. 9. Zur Eckhartrezeption bei Paul Celan vgl. Lydia Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, Mainz 1997 (Theologie und Literatur 7); Mischa von Perger, „Mystik unter Zwang. Erlösungsworte Meister Eckharts bei Paul Celan“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 113/2004, S. 433 – 471. 32 Vgl. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwçrterbuch, Bd. 1, Stuttgart 1992, Sp. 545: Erstbeleg für enbilden (in der Bedeutung von ,sich unkenntlich machen‘) im Tristan Ulrichs von Türheim. Vgl. Ulrich von Türheim, Tristan, hrsg. von Thomas Kerth, Tübingen 1979 (Altdeutsche Textbibliothek 89), V. 2383 – 87: ,n weiz ich doch wol wer du bist. / wer ht gelÞret dich den list,/ daz d bist sus enbildet? / dn antlitze ist erwildet / der forme und du soltest hn.
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Mein drittes Beispiel lässt sich unmittelbar an diese Überlegungen anschließen. Es ist von den Semantisierungen, die Eckhart vornimmt, wie stets betont wird, sicher die radikalste. Es ist die neue Sinngebung des Begriffs der geistigen Armut, wie sie in der Predigt Beati sunt pauperes in spiritu, der Armutspredigt, vorgenommen wird. Schon der Begriff der geistigen Armut stellt gegenüber dem für einen Bettelorden zentralen Gebot der Armut eine Virtualisierung dar, doch sie genügt Eckhart nicht. Wie in den frühen Erfurter Reden übt er scharfe Kritik an ,geistiger Armut‘, die nicht mehr Weltliches wolle, aber noch Gott wolle; und in diesem ,Gott Wollen‘ die Akte des Wollens nicht wirklich preisgibt, sondern vielmehr verfestigt. Die Armutspredigt bietet aber nicht nur eine radikale Neufassung des Armutsgebotes.33 Die Überbietung des bisherigen Verständnisses in der Auslegung der Seligpreisung erfährt in dieser Predigt eine selbst für den selbstbewussten Dominikaner Eckhart ungewöhnliche Inszenierung, die aber nicht nur interessante Implikationen für die Kommunikationssituation der Predigt enthält, sondern auch den absoluten Wahrheitsanspruch dieser Predigt hervorhebt. Schon die Einleitung der Predigt hebt mit der Nennung des Schriftwortes (Mt 5,3) den munt der wsheit als Quelle des Schriftwortes hervor; die Engel, die Heiligen, alles, was je geboren wurde, müsse schweigen, denn alle Weisheit der Engel und der Geschöpfe sei reine Torheit gegenüber der gruntlsen wsheit gotes (vgl. LE I, S. 168,1 – 9).34 Sælic sint die armen des geistes (ebd.): Wenn das die Seligkeit selbst aus dem Mund der unergründlichen Weisheit des Vaters spricht, verbindet sich damit ein unüberbietbarer Anspruch auf 33 Zu ,Vorstufen‘ dieser Predigt vgl. Freimut Löser, „,Der niht enwil und niht enweiz und niht enhat‘. Drei übersehene Texte Meister Eckharts zur Armutslehre“, in: Claudia Brinker [u.a.] (Hrsg.), Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhltnis von Literatur und Spiritualitt, Festschrift für Alois M. Haas, Bern [u.a.] 1995, S. 391 – 439; ders., „Meister Eckhart in Bewegung. Das mittelalterliche Erfurt als Wirkungszentrum der Dominikaner im Licht neuer Funde“, in: Speer/Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart (Anm. 14), S. 56 – 74, hier S. 70 f. 34 Zitiert wird diese Predigt nach der neuen Edition von Georg Steer, mit Übersetzung und Lektüre von Kurt Flasch, in: Georg Steer/Loris Sturlese (Hrsg.), Lectura Eckhardi I. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, koordiniert von Dagmar Gottschall, Stuttgart [u.a.] 1998, S. 163 – 199 [Sigle: LE I]. Zu überlieferungsgeschichtlichen und textkritischen Aspekten vgl. Burkhard Hasebrink, „Der Rebdorfer Eckhartkommentar. Überlieferung und Kommentierung der Armutspredigt Meister Eckharts in der Rebdorfer Handschrift Cgm 455“, in: Zeitschrift fr Deutsche Philologie, 113/1994: Mystik, S. 207 – 222.
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Wahrheit, insofern ,Weisheit‘ und ,Wahrheit‘ als allgemeine Vollkommenheiten konvertibel sind. Berücksichtigt man, dass Eckhart das Verhältnis dieser allgemeinen Vollkommenheit zum jeweils Wahren, Guten oder Gerechten als Teilhabe bestimmt, dann kann ,verstehen‘ nur bedeuten, dieser Wahrheit gleich zu sein: N bite ich iuch, daz ir als st, daz ir verstt dise rede; wan ich sage iu b der Þwigen wrheit: ir enst glch der wrheit, von der wir n sprechen wellen, s ensult ir mich nicht verstn (LE I, S. 168,16 – 18). Der Prediger gibt an, nach ,Armut‘ gefragt worden zu sein (LE I, S. 168,19 f.: Ir ht mich gevrget, waz armuot s in im selben und waz ein arm mensche s. Her zuo wil ich antwrten). Ob es sich um eine ähnliche Konstellation wie in den Erfurter Reden handelt, also eine ordensinterne Unterweisung, sei dahingestellt; doch setzt diese Predigt offensichtlich Rezipienten voraus, die ein hohes Reflexionsniveau in Fragen geistlicher Praxis gewonnen haben. Unmissverständlich werden diese Rezipienten mit dem hermeneutischen Anspruch dieser Predigt konfrontiert. Indem die Predigt die Wahrheit des Schriftwortes erschließt, partizipieren die Rezipienten an dieser Wahrheit, insofern sie gedanklich die Argumentation dieser Predigt mit vollziehen und darin diese Wahrheit wirksam werden lassen. Es geht um die unmittelbare Präsenz der Wahrheit in der Predigt, die Eckhart in selbstbewusster Abgrenzung gegenüber Albertus Magnus, dem Gründer des Kölner Generalstudiums der Dominikaner, zur Geltung bringt. Die Predigt gilt als Kommunikationsmedium, aber eine solche Predigt ist gegenüber der Wahrheit nicht ein ganz Anderes, sondern lässt diese in sich evident werden. Nachdem die neue Deutung programmatisch ausgesprochen ist (LE I, S. 168,23 f.: daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enht), betont der Prediger nochmals den Wahrheitsanspruch der Predigt.35 Man kann darin Predigtrhetorik sehen. Doch es geht um mehr. Insofern man religiöse Kommunikation von außen nur dort adäquat beobachten kann, wo sie sich selbst beobachtet, haben wir eine solche Selbstbeschreibung vor uns, in der die Bedingungen religiöser Kommunikation durchaus polemisch verhandelt werden.36 Nochmals bittet der Prediger bei der Liebe Gottes, daz ir verstt dise wrheit, ob ir 35 Vgl. Löser, „Der niht enwil“ (Anm. 33). 36 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt/M. 2002, S. 15. Angesichts des prekären Verhältnisses von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung versuche ich also das herauszuarbeiten, was in den Texten selbst als Abgrenzung und Neudeutung markiert wird.
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knnet; und enverstt ir sie niht, s enbekmbert iuch d mite niht, wan ich wil sprechen von s getner wrheit, die ltzel guoter liute verstn suln (LE I, S. 168,25 – 28). Bekümmert euch nicht damit: Die Wahrheit dieser Rede kennt nur den Ausschluss als Alternative zu einem teilhabenden Erkennen der Wahrheit. Solche Ausschlüsse nimmt nun die Predigt in aller Deutlichkeit vor: Leute, die mit eigenschaft (LE I, S. 170,2 f.; ,mit Selbstbezug‘) Bußwerke und äußere Übungen verrichten, die die Leute für groß hielten, hießen dem äußerem Anschein nach ,heilig‘, aber von innen seien sie Esel. Sie verstehen nicht, was es heißt, nichts zu wollen. Ihre Absicht sei gut, und so sollten sie das Himmelreich erlangen. Sie seien groß geachtet in den Augen der Leute, die es nicht besser wüssten; und noch einmal dezidiert: Sie sind Esel. Von dieser Armut, von der wir nun sprechen wollen, wissen sie nichts. Nicht nur der äußere Anschein (von zwendigen bilden), sondern auch die meinunge, die Absicht, ist irrelevant; entscheidend für die Armut als Nicht-Wollen ist, im ,Ursprung‘ (LE I, S. 172,1: in mner Þrsten sache) zu stehen, in meinem ersten Grund, und da hatte ich keinen Gott und war Grund meiner selbst: do enwolte ich niht, noch enbegerte ich niht, wan ich was ein ledic sn und ein bekenner mn selbes nch gebr chlcher wrheit (LE I, S. 172,2 f.). Die Inszenierung der Umdeutung erreicht in dieser Ich-Rede ihren Höhepunkt. Sie bezieht sich jedoch nicht auf den Prediger, sondern verweist in ihrer Indexikalität auf eine Allgemeinheit, in die sich der Prediger einfügt, ohne auf eine besondere individuelle Erfahrung abzuzielen. Im Gegenteil: Diese Selbsterkenntnis des Nicht-Wollenden im ersten Grund der Ununterschiedenheit steht im Zentrum einer theozentrischen Anthropologie, die in der Einheit des innersten Grundes Erkennen, Leben und Wirken gleichsetzt.37 Oder mit den Worten der Gerechtigkeitspredigt Quint Nr. 6: In dem innersten quelle d quille ich z in dem heiligen geiste, d ist in leben und in wesen und in werk (DW I, S. 109,10 – 11). Doch wo die Erfurter Reden noch von einem ,Haben Gottes‘ sprachen, dekonstruiert die Armutspredigt den Gottesbegriff mit dem Verweis auf den ersten Grund, in dem es keine Unterschiedenheit mehr zwischen Gott und der Seele gibt, sondern ein rein vernünftiger Selbstvollzug des Seins und Erkennens. In diesem Grund sind Sein und Wollen, Wirken und Leben identisch, und so würde jedes Wollen dieses Grundes ihn selbst in seiner Einheit verfehlen. 37 Vgl. In Gen. I n. 12; LW I, S. 195,12 – 196,2.
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Die Folgen sind in der Tat radikal, denn in diesem Grund der Ununterschiedenheit ist auch Gott nicht ,Gott‘: Er war vielmehr, so wörtlich, daz er was (LE I, S. 172,7). Jedes Reden über das Heilige, so formuliert die Systemtheorie, ist ein Reden in Paradoxien: diese Erkenntnis ist in der Armutspredigt sprachlich vollzogen. Aber das Paradoxe wird nicht einfach als Widerspruch hingestellt, sondern zurückgebunden an den ersten Grund, in dem das, was in der Sprache als gegensätzlich erscheint, selbst wiederum eins ist mit sich als das, ,was es war‘. Auch das Sprechen von diesem ersten Grund ist von der Verneinung bestimmt, insofern es ein Grund ist, der gruntls ist (DW II, S. 309,5). Was in der Benennung gegenteilig erscheint, ist in diesem grundlosen, ,einfaltigen‘ Grund als das in absoluter Performanz sich selbst vollziehende Eine zu verstehen. Denn wenn ,Performanz‘ auf die Einheit von Sprechen und Wirken zielt, dann ist sie in diesem letzten Grund in uneingeschränkter Weise gegeben, und ein Prediger, der sich aus dieser Wahrheit heraus sprechend sieht, wird in dem Wahren seiner Rede ebenfalls Sprechen und Wirken als Einheit verstehen. So lässt sich von diesem ersten Grund und – das meint ,Heterologie‘ – nur von diesem Grund her sprechen. Dass die Bewegung der Umdeutung die Begriffe selbst zu Leerstellen werden lässt, deren Besetzung ihre Wahrheit verfehlte, zeigt Eckhart schließlich am Gottesbegriff selbst. Gott, insofern er im Sinne der Geschöpfe Gott ist, bleibt unendlich weit entfernt von der Fülle seines göttlichen Seins. Hätte eine Fliege Vernunft, und suchte sie mit Vernunft den ewigen Abgrund des göttlichen Wesens zu erfassen, so würde ihr Gott mit allem, worin er Gott ist, nicht genügen können. Will diese Vernunft sich also selbst in ihrer ursprünglichen Einheit mit dem göttlichen Vernunft finden, so müssen wir gotes qut werden (LE I, S. 172,16), so dass das Erkennen und Leben aus dieser Einheit die in geschöpflichen Kategorien gesetzten Unterschiede wie Gott und Geschöpf selbst wiederum verneinen. Das ist ein Programm, das innerhalb religiöser Weltdeutung die alles konstituierende Leitdifferenz selbst ins Visier nimmt und sie selbst durchstreicht, doch kann dieses Unterfangen nur dann der Aporie einer Sprache der Differenz entgehen, wenn es sich bereits aus jenem Grund heraus erkennend und sprechend begreift, in den es durch die Verneinung jeder Andersheit zurückkehrt. Die Predigt schließt damit, dass nur derjenige sie verstehen kann, der in der Wahrheit steht – man könnte geradezu von einer Herme-
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neutik der Integration sprechen.38 Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, wie paradox der Gedanke ist, dass man bereits verstanden haben müsse, um es zu verstehen.39 Auch hier bleibt die Predigt nicht bei der Bekundung der Paradoxie stehen. Denn insofern Eckhart bei den Rezipienten denselben Grund des Verstehens annimmt, aus dem er spricht, inszeniert die Predigt eine Inklusion, die jeden Rezipienten, insofern er geistig arm ist, in die Wahrheit der Rede einbezieht. Auch ,arm sein‘ ist also keine Stufe zur Heiligkeit. ,Arm sein‘ ist Vollzug der göttlichen Gegenwart – von ,Askese‘ weit entfernt. Dies ist meines Erachtens genau die Spannung, die den Begriff des Lassens prägt: ,Lassen‘ als Übung und ,gelassen sein‘ als Inne-sein und Inne-bleiben trennen Welten. Denn Eckhart versteht ,gelassen sein‘ nicht als Abschluss einer zunehmenden Heiligung, sondern als Immanenz in jenem ersten Grund der Ununterschiedenheit, in dem ,Gott‘ und ,Ich‘ eins sind. Ich darf das noch kurz an der Predigt Qui audit me erläutern. Sie fokussiert das Lassen ausgehend von Paulus: Das Äußerste, was der Mensch lassen könne, sei, dass er Gott um Gottes willen lasse. Die Aufhebung jeder Intentionalität tritt damit an dem Lassen selbst zu Tage; und auch hier die spezifische Semantisierung: ,Sich lassen‘, Selbstvernichtung, ist in diesem Sinne keine Technik der Gottessuche, sondern nur der Mensch ist allein gelassen, der niemals auch nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat – ein solch gelassener und seiner selbst vernichteter Mensch bleibt in der Gleichheit und in der Einheit. In dieser Identitätskonstruktion – und das unterscheidet Eckhart von antiken Lehren der Selbstsorge – lässt sich das Lassen des Selbst als Sorge. Ich suche meine Ausführungen zu bündeln. Mein Ausgangspunkt war die Überlegung, dass die deutschen Schriften Eckharts geprägt sind von einem Prozess der umfassenden Umdeutung der Leitbegriffe geistlicher Lebensführung. Es handelt sich um ein ganzes Ensemble von zirkulierenden Termini, von denen ich nur einige herausgegriffen habe: 38 Im Johanneskommentar unterscheidet Eckhart mit Blick auf das Univoke explizit zwischen Partizipation und Integration: in univocis autem semper est aequale, eandem naturam non participans, sed totam simpliciter, integraliter et ex aequo a suo principio accipiens (In Ioh n. 5; LW III, S. 7,5 – 7). 39 Vgl. bereits den eindringlichen Problemaufriss bei Walter Haug, „Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart“, in: ders./Timothy R. Jackson/Johannes Janota (Hrsg.), Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981, Heidelberg 1983, S. 25 – 44.
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Gehorsam, Demut, Armut, Sich lassen. Andere Konzepte ließen sich in dieser Hinsicht ergänzen. Ich erinnere nur an besonders prägnante Neusemantisierungen, auch wenn in ihnen nicht immer der Inszenierungsgrad so ausgeprägt ist wie beispielsweise in der Armutspredigt: So bestimmt Eckhart in der Predigt Quint Nr. 60 ,Ruhe‘ als Ziel allen Wirkens und Bewegens, um dann den ersten Ursprung mit ,Ruhe‘ gleichzusetzen. In der Predigt Quint Nr. 7 bemängelt Eckhart ein falsches Verständnis von Friede: Ausgehend vom Schriftwort vade in pace (Lk 7,50) wird zuerst das Defizit konstatiert: Ez ist guot, der von vride ze vride kumet, ez ist lobelich; doch ist ez gebrestenlich (DW I, S. 117,7 f.). Wieder werden nicht solche kritisiert, die außerhalb religiöser Deutungen leben, sondern ein fehlerhaftes Verständnis besitzen. Stattdessen fordert die Predigt: Man sol loufen in den vride, man ensol niht anevhen in vride. Got wil sprechen, man sol gesast sn in vride und gestzen sn in vride und sol enden in dem vride. Unser herre sprach: ,in mir ht ir aleine vride‘. Rehte als verre in got, als verre in vride (DW I, S. 117,8 – 118,3). Auch der Begriff des Friedens wird, wie man auch sagen könnte, ,deifiziert‘: Allein in Gott ist Friede, so dass es nicht verwundert, wenn die Predigt in ihrer weiteren Argumentation die Einigung in den Mittelpunkt stellt.40 Prominente Umdeutungen führen bis in die Gegenwart hinein zu Zweifeln an der Echtheit. Ich verweise auf den Traktat Von abegescheidenheit, dessen Echtheit immer wieder bezweifelt wurde.41 Nach einem Avicenna-Zitat (De anima, IV c. 4), wonach der Adel des abgeschiedenen Geistes so groß ist, dass alles, was er schaue, wahr sei, fährt der Text fort: Und solt daz wizzen vr wr: swenne der vre geist stt in rehter abegescheidenheit, s twinget er got ze snem wesene (DW V, S. 411,1 – 2). Kurt Ruh folgerte: „Wie könnte Eckhart im Wissen darum, dass er mit den Brüdern und Schwestern vom Freien Geiste in Zusammenhang gebracht worden ist, das Stichwort ,freier Geist‘ verwenden?“42 Aber 40 Zu diesen beiden Predigten vgl. jetzt Markus Enders, „Gott ist die Ruhe und der Friede. Eine kontextbezogene Interpretation der Predigten 7 (,Populi eius qui in te est, misereberis‘) und 60 (,In omnibus requiem quaesivi‘) des Meister Eckhart“, in: Speer/Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart (Anm. 14), S. 450 – 470. 41 Vgl. zusammenfassend Niklaus Largier, in: Eckhart, Werke (Anm. 25), Bd. II, S. 802 f. 42 Vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, 2. Auflage, München 1989, S. 165. Ruh spricht deshalb auch von ,eingeschränkter Authentizität‘; ders., Geschichte der abendlndischen Mystik, Bd. III: Die Mystik des Predigerordens und ihre Grundlegung in der Hochscholastik, München 1996, S. 355 – 358 (mit ausführlicher Widerlegung der Echtheitsthese).
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gerade das Zwingen Gottes hatte der Text zuvor als große Leistung der Abgeschiedenheit gegenüber der Demut hervorgehoben: Wenn man nach Echtheit fragt, könnte dann nicht Eckhart gerade den Begriff des ,freien Geistes‘ im Sinne der Philosophie Avicennas verwandt sehen wollen (und damit implizit ,rechte Abgeschiedenheit‘ als Kriterium wahrer Freiheit des Geistes behaupten)? 43 Ein weiteres Beispiel ist die Predigt Quint Nr. 86 zu Maria und Martha. Nachdem die Predigt Eckhart abgesprochen worden war, plädierte Dietmar Mieth überzeugend für ihre ,Echtheit‘ – was ja nichts anderes heißt, als dass sie nicht im Widerspruch zu den Aussagen der Eckhart zugeschriebenen Texte steht (der Name ,Eckhart‘ bezieht seine Anziehungskraft nicht zuletzt aus den philologischen Bemühungen um die Kohärenz dieser Lehre).44 Hier geht es um das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa; auch hier inszeniert Eckhart eine Umdeutung. Dass ein Denker, der so betont die Einheit von Sein und Wirken herausstellt, dem tätigen Leben mit dieser exegetischen Wende einen neuen Rang zuspricht, ist erwartbar. Sie steht im engen Zusammenhang mit einer Neubewertung des Begriffs des Lebens selbst. Auch hier müssen wir unsere Begriffe historisieren, wenn wir von ,Leben‘ und ,Lebensführung‘ sprechen. In der Gerechtigkeitspredigt Iusti vivent in aeternum – dieser Punkt war bereits angesprochen worden – unternimmt Eckhart auch eine Ausdeutung des Prädikats vivent. Nichts sei so begehrenswert wie zu leben. Doch wenn auch Essen wie Schlafen darauf zielten, dass du lebst, so begehre man das Leben um seiner selbst willen. So wollten selbst die Verdammten in der Hölle leben, da ihr Leben ohne Vermittlung – immediate 45 – von Gott fließt. An diesem Punkt setzt die Predigt zur typischen, zur Transzendenz ,durchbrechenden‘ Neubestimmung des Begriffs an: Waz ist leben? Gotes wesen ist mn leben. Ist mn leben gotes wesen, s muoz daz gotes sn mn sn und gotes isticheit mn 43 Vgl. jetzt Wouter Goris, „Die Freiheit des Denkens. Meister Eckhart und die Pariser Tradition“, in: Speer/Wegener, Meister Eckhart (Anm. 14), S. 283 – 297. Unterschieden werden zwei Perspektiven der Überschreitung: „Eine erste Überschreitung des hoc et hoc also, und eine zweite Überschreitung, die nunmehr den Begriff selbst als hoc et hoc erfasst und den Bereich der Vernunft zurücklässt. Das Geschehen der Freiheit ist, so verstanden, nicht primär Sache der Vernunft, sondern vielmehr eine durchgängige Absage an alles Gegebene, eine Flucht vor der Verdinglichung“ (S. 295). 44 Vgl. Dietmar Mieth, „Predigt 86, Intravit Iesus in quoddam castellum“, in: Steer/Sturlese (Hrsg.), Lectura Eckhardi II (Anm. 8), S. 139 – 175. 45 Vgl. In Ioh. n. 226. Nach: DW I, S. 106, Anm. 1.
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isticheit, noch minner noch mÞr (DW I, S. 106,1 – 3).46 So muss Gottes Sein mein sein: Die ontologische Identität wird hier zur sprachlichen Homonymie. Die Selbstbezüglichkeit des Lebens ließe sich mit der Predigt Quint Nr. 5b In hoc apperuit auf das Wirken zurückbeziehen. Die Frage, worin das rechte Wirken des Menschen bestehe, wird unmittelbar darauf bezogen, dass das Leben sein Ziel in sich selbst hat: ich lebe dar umbe daz ich lebe (DW I, S. 92,1). Auch in dieser Predigt grenzt sich Eckhart konsequent gegen ein zweckorientiertes Verständnis des Wirkens ab, selbst wenn ein solcher Zweck Gott selbst sei. Der Mensch solle stattdessen aus seinem innersten Grund, der zugleich Gottes Grund ist, alle seine Werke wirken sunder warumbe (DW I, S. 90,12). Die oben angesprochene Umwertung des Verhältnisses von vita activa und vita contemplativa findet hier ihre Berechtigung, insofern jedes Wirken als ein Wirken aus dem Innersten des Geistes gedacht wird – die Differenz zwischen Aktion und Kontemplation wird extrem enggeführt. Schließlich findet sich auch hier eine die Umdeutung begleitende polemische Abgrenzung, die man gleichsam als diskursstrategische Maßnahme betrachten könnte.47 Es ließe sich zeigen, wie entsprechend auch Leitbegriffe wie innerkeit und andht neu semantisiert werden. Die Grundparadoxie religiöser Kultur, in der Preisgabe der ,äußeren Welt‘ nur neue Modi des Habens, Wollens und Wissens zu erzeugen und zudem die Ferne von Gott durch das Bewusstsein einer vermeintlichen Nähe nur unendlich zu vergrößern, zwingt zu einer Neufassung einer solchen innerkeit, wie sie im Zusammenhang mit der Demut als innigen bereits angesprochen war.48 Es geht nicht um eine psychologische
46 Zu isticheit vgl. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozitt, Einheit, Hamburg 1983, S. 100 – 105; Alessandra Beccarisi, „Philosophische Neologismen zwischen Latein und Volkssprache: ,istic‘ und ,isticheit‘ bei Meister Eckhart“, in: Recherches de Th ologie et Philosophie m di vales, 70/2003, S. 329 – 358; dies., „,Isticheit‘ nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus“, in: Speer/Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart (Anm. 14), S. 314 – 334. isticheit versteht Beccarisi als „eine ,zu sich selbst zurückgewandte Identität‘“ (ebd. S. 315). 47 Wan wærlche, swer gotes mÞ wænet bekomen in innerkeit, in andht, in sezicheit und in sunderlcher zuovegunge dan b dem viure oder in dem stalle, s tuost d niht anders dan ob d got næmest und wndest in einen mantel umbe daz houbet und stiezest in under einen bank (DW I, S. 91,3 – 7). 48 Vgl. die überzeugende Lektüre von Witte (Anm. 25).
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Empfindungsintensität von ,Innerlichkeit‘, sondern um eine geistige Abgeschiedenheit im Sinne der Armutspredigt.49 Von den Umdeutungen, die Eckhart vornimmt, möchte ich schließlich nur noch zwei besonders herausragende ansprechen: das Gebet und die Eucharistie. Im Buch der gçttlichen Trçstung – in der Tendenz eher eine Aufkündigung der konsolatorischen Funktion von Religion50 – spricht Eckhart über den guten Menschen, der in alle eigenschaft der Gutheit, die Gott in ihm selbst ist, eintritt, sofern er gut ist (vgl. DW V, S. 22,16 – 19). In diesem Zusammenhang deutet Eckhart auch das ,Pater noster‘: ,vater unser‘, ,geheiliget werde dn name‘, daz ist: dich bekennen blz aleine (DW V, S. 21,19 – 22,1).51 Beten heißt Gott blz aleine zu erkennen: das heißt auch das Beten, das ohnedies nicht als Bittgebet verstanden wird, in die grundlegende Dynamik der Gotteserkenntnis in der Abgeschiedenheit hinein zu nehmen, in der im reinen Erkennen Erkanntes und Erkennendes eins sind. Eine ähnliche ,Spiritualisierung‘ auch in der Eucharistie.52 Im 20. Kapitel der Erfurter Reden (Von unsers herren lchamen, wie man den nemen sol ofte und in welher wse und andht) wird betont, dass durch die leibliche Gegenwart des Herren der menschliche Leib erneuert werde (vgl. DW V, S. 265 f.); nie voll49 Vgl. Otto Langer, „Zum Begriff der Innerlichkeit bei Meister Eckhart“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Abendlndische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), S. 17 – 32. 50 Man vergegenwärtige sich in diesem Zusammenhang nur, wie Eckhart gerade in einem Trostbuch von der Klage spricht, deren Poetik für den Minnesang wie für die Frauenmystik konstitutiv ist: Ein guot mensche ensol niemer schaden geklagen noch leit; er sol daz aleine klagen, daz er klage und daz er klagennes und leides in im gewar wirt (DW V, S. 19,14 – 16). Entsprechend entwickelt Eckhart auch ein eigenes Verständnis des Leidens, das nicht weh tut: Ldest d aber umbe got und got aleine, daz lden entuot dir niht wÞ (DW I, S. 37,1 – 2), 51 Vgl. Freimut Löser, „Predigt 19 ,Sta in porta domus domini‘“, in: Steer/ Sturlese, Lectura Eckhardi I (Anm. 34), S. 117 – 149, hier S. 141; ders., „,Oratio est cum deo confabulatio‘. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis“, in: Walter Haug/Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.), Deutsche Mystik im abendlndischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Anstze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 283 – 316. 52 Vgl. Thomas Lentes, „Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts“, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hrsg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhltnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frhen Neuzeit, Mainz 2001, S. 21 – 46.
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ziehe sich eine nähere Einigung mit Gott als in der Einigung mit seinem Leib. Das Kapitel gipfelt aber in der Hervorhebung der geistlichen Kommunion, dem geistlichen Genießen des Leibes: Dies könne der Mensch tausendmal am Tag tun, er sei, wo er auch sei (vgl. DW V, S. 273). Nicht die Lehre von der materialen Präsenz, der substanziellen Anwesenheit in der Gestalt des Brotes, steht im Vordergrund, sondern die geistige Einheit im innersten Grund, und entsprechend gibt es in den deutschen Predigten nur vereinzelte Hinweise zur Eucharistie, die gegenüber dem zentralen Motiv der Gottesgeburt im innersten Grund weit zurückstehen. Kulturelle Ordnungen konstituieren sich über semantischen Wandel: Eine solche These ließe sich – das wollten meine Überlegungen deutlich machen – an den deutschen Schriften Meister Eckharts gerade in dem Sinne belegen, dass die Umdeutung in Abgrenzung und Ausschluss ihre eigene Inszenierung erfährt. Damit lassen diese Texte auch einen Sprecher und Prediger hervortreten, der die Geltung religiöser Literatur mit einem Sprechen sichert, das sich als sprachliche Vermittlung eines Vollzuges versteht, in dem sich das Transzendente im innersten Grund des Mensches selbst vermittelt. Doch ist diese Vermittlung bereits in die Selbstmitteilung des Absoluten hineingenommen und versteht sich insofern aus einem Sprechen aus der Wahrheit, an der es immer schon partizipiert, ja, integriert ist. Was diese Texte fordern, nehmen sie in ihrer Arbeit an den Leitbegriffen der religiösen Kultur des Mittelalters selber vor. Aus dieser performativen Energie speist sich ihr hoher literarischer Rang. Insofern kann man nur bedingt von ,sprachlicher Vermittlung‘ sprechen, da eine solche Kommunikation auf die Evidenz einer Wahrheit zielt, deren überzeitliche Präsenz gar nicht in Frage steht. Noch einmal der verwunderte Prediger: Die liute sprechent dicke zuo mir: bitet vr mich. S gedenke ich: war umbe gt ir z? war umbe blbet ir niht in iu selben und grfet in iuwer eigen guot? ir traget doch alle wrheit wesenlich in iu (DW I, S. 95,4 – 6). So kann die entprechende Gebetsbitte am Ende dieser Predigt formulieren: Daz wir als wærlche inne mezen blben, daz wir alle wrheit mezen besitzen ne mitel und ne underscheit in rehter sælicheit, des helfe uns got (DW I, S. 96,1 – 3). Die Kommunikationssituation dieser Texte changiert also zwischen Vermittlung und Inklusion, zwischen Verstehen und Teilhabe. Ihre Emphase beziehen sie nicht aus rhetorischen Mitteln, sondern aus der Evidenz jener Wahrheit, die sie in ihren Aussagen kommuniziert.53 Dass 53 Zentral in der Predigt Quint Nr. 2 (,Bürgleinpredigt‘) im Kontext der Selbst-
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in dieser Kommunikation Einheit und Differenz mit gedacht ist, ließe sich philosophisch näher an der Transzendentalienlehre explizieren und an dem Modell von Partizipation und Integration des Gerechten in der Gerechtigkeit, des Guten in der Gutheit oder des Wahren in der Wahrheit und damit zugleich der Präsenz der Wahrheit im jeweils Wahren.54 Die Dynamik der spezifischen Semantisierung, die in einer solchen Textform zur Geltung kommt, scheint mir in den aufgeführten Fällen sehr ähnlich zu sein, auch wenn es jeweils spezifische Unterschiede zu bedenken gibt. Unstrittig beherrscht das Thema der Gottesgeburt in einem abgeschiedenen Menschen die deutschen Predigten. Aber so ,monothematisch‘ diese Predigten mit dem Thema der Einheit im grundlosen Grund zu sein scheinen, so verdanken sie ihr jeweiliges Relief einer weitreichenden Arbeit der Umdeutung, der die Leitbegriffe der religiösen Kultur ausgehend von den entsprechenden liturgisch vorgegebenen Schriftworten unterzogen werden. Dabei lässt sich von einem impliziten Rezipienten ausgehen, der nicht nur mit dieser Kultur vertraut ist, sondern selbst ,Heiligung‘ und ,Vervollkommnung‘ erstrebt.55 Dieses Ziel beschränkt sich nicht auf die Klosterkultur; ,Kloster‘ ist bei Eckhart längst zu einer Chiffre für eine universale Anthropologie geworden, die ihre Wirklichkeit allein im Wirken aus dem grundlosen Grund des Einen erfährt – eine Anthropologie jenseits ihrer eigenen Grenze. überbietung: Mçhtet ir gemerken mit mnem herzen, ir verstendet wol, waz ich spriche, wan ez ist wr und diu wrheit sprichet ez selbe (DW I, S. 41,5 – 7). 54 Vgl. Burkhard Mojsisch, „,Perfectiones spirituales‘ – Meister Eckharts Theorie der geistigen Vollkommenheiten. Mit possibilitätsphilosophischen Reflexionen“, in: Martin Pickavé (Hrsg.), Die Logik des Transzendentalen. Festschrift fr Jan A. Aertsen, Berlin – New York 2003 (Miscellanea Mediaevalia 30), S. 511 – 524. 55 „Ist der Seelengrund verdeckt, muß er entdeckt werden, also gefunden und freigelegt werden; ist er entdeckt“, so Mojsisch in seiner auf das sich selbst konstituierende Ich zielenden Deutung weiter, „weiß der Mensch sich als wissendes Wissen, sich wollendes Wollen – eben als ,vernnfticheit‘, als Selbstbewusstsein, als im Wissen, im Wollen und im Selbst-in-sich-selbst-Sein sich auf sich selbst beziehendes Ich.“ (ebd., S. 522) Anders Niklaus Largier, „Repräsentation und Negativität. Meister Eckharts Kritik als Dekonstruktion“, in: Brinker [u.a.] (Hrsg.), Contemplata (Anm. 33), S. 371 – 390, hier S. 388, der betont, „dass ein Begriff des Ich bei Eckhart ausserhalb dieses dramatischen Raums von Freiheit und Abhängigkeit, von Selbstbegründung und vollkommener Selbstvergessenheit nicht denkbar ist.“
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So werden die Begriffe dekontextualisiert, sie werden ihrer usuellen Bedeutung – ich greife nochmals zu Eckharts Metapher – entkleidet und auf den geistigen Selbstvollzug im ersten Grunde hin zentriert, in dem Gott und Mensch eins sind – frei sein, arm sein, lauter sein, gelassen sein werden tendenziell zu Synonymen eines Selbstvollzugs, eines tautologischen Seins und Wirkens aus dem innersten grundlosen Grund. Wenn ,Gelassenheit‘ heißt, sich von allen Begriffen und Bildern zu lösen, dann ließe sich im Sinne einer ,Semantik der Gelassenheit‘ dieses Entbilden auch auf das Verfahren der Umdeutung beziehen, das Eckhart in seinen Schriften selbst anwendet. Man könnte von einer ,Resignifikation‘ sprechen, die das Begriffliche ,reinigt‘ und zurückführt auf ihre ,wahre‘ Bedeutung, auch wenn sich in dieser Rückführung die Begriffe selbst noch als bestimmtes Seiendes erweisen.56 Eckhart legte aber nicht nur die Grundlage für die umfassende Transformation der kulturellen Semantik geistlicher Selbstdeutung. Zugleich unterstrich er die Unzugänglichkeit jenes innersten Grundes. Wie in diesem Grund ,Gott‘ nicht ,Gott‘ ist und ,ich‘ nicht ,ich‘, so ist auch jeder Zugang nur auf paradoxe Weise benennbar: Jeder Weg des Zugangs ist ein Weg der Weglosigkeit. Betroffen sind auch die genannten Leitbegriffe: Auch sie bleiben gegenüber der Unzugänglichkeit des unsagbaren ersten Grundes different. An diesem Punkt liegt die entscheidende Leistung der Predigt Eckharts: Sie enthüllt in stets neuen Anläufen die significatio mystica (vgl. In Gen. II n. 1; LW I, S. 449) der religiösen Leitbegriffe und zeigt, wie diese ,verborgene Bedeutung‘ in der Ununterschiedenheit des absoluten Einen gegründet ist. Sie ,enthöht‘ diese Begriffe, sie ,entbildet‘ sie; und indem sie diesen Prozess vollziehen, oszillieren sie zwischen der Unsagbarkeit des göttlichen Grundes und der Bedingtheit seiner sprachlichen Entfaltung. Ihre performative Dimension liegt gerade in dieser Dynamik: Eckharts Predigten tun selbst, wovon sie sprechen, und in dieser Performativität evozieren sie jene Präsenz, die sich hermeneutisch nicht unmittelbar einholen lässt. Ihr Verhältnis zur Wahrheit ist ihrem eigenen Verständnis nach kein Verhältnis der Referenz, sondern der Teilhabe und Präsenz; und so können die Predigten auf eine fast rituelle 56 In der Tat wird später im Zuge der Tauler-Übersetzung gelzenheit mit resignatio wiedergegeben, womit ein alter theologischer Begriff (resignatio ad infernum) zum Übersetzungswort eines genuin volkssprachigen Ausdrucks avanciert. Zur Begriffsgeschichte von ,resignatio‘ vgl. Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, s.v. ,Resignation‘, Sp. 909 – 916.
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Weise jenes gegenwärtige Geschehen aktualisieren, das sich nach diesem Modell in jedem Augenblick in einem jeden gelassenen Menschen vollzieht – es ist der überzeitlich gedachte Augenblick (nunc aeternum), in dem nichts als das eine n ist: wan daz n , d got den Þrsten menschen inne machete, und daz n , d der leste mensche inne sol vergn, und daz n , d ich inne spriche, diu sint glch in gote und enist niht dan in n (DW I, S. 34,3 – 5). Dagmar Gottschall hat jüngst Eckharts Sprachtheorie als ,metaphysisch‘ bezeichnet, insofern ein Wort wie ,gut‘ von der „ungesprochenen und unsprechbaren Idee des Guten“ mitteilt.57 Dahinter steht kein magisches Verständnis von Sprache, sondern die Vorstellung, dass ein Wort immer auch einen Abglanz dessen bietet, was als hervorbringende Idee selbst ungesprochen bleibt. ,Wunder tun mit Worten‘ ist nur jemandem möglich, für den Sprechen und Wirken identisch sind. Wenn auch eine solche ,absolute Performanz‘ dem Göttlichen vorbehalten ist, so kann ein mitewrken in der ganzen Spannung von Einheit und Differenz etwas davon zur Geltung bringen.58 Dass Äußerung der Wahrheit immer schon genau jene Differenz erzeugt, die sie konstituiert, macht ihre Kundgabe schließlich zu einem offenen, iterierenden Prozess, in dem die Rede von der Gegenwart des Transzendenten zugleich jene Oppositionen hervorbringt, die sie doch verneint. Für sich genommen sei die Schöpfung ein reines Nichts – in dieser Totalitätsfigur des Transzendenten liegt offenbar die Wirkmacht einer Umdeutung, die sich auf diesem Grund sprechend sieht und ihn erzeugend zugleich bezeugt.
57 Dagmar Gottschall, „,Man möhte wunder tuon mit worten‘ (Predigt 18). Zum Umgang Meister Eckharts mit Wörtern in seinen deutschen Predigten“, in: Speer/Wegener, Meister Eckhart (Anm. 14), S. 426 – 449, hier S. 446. 58 Zur Dimension von mitewrken vgl. die Predigt Quint Nr. 9: Gotes sælicheit liget an der nwertwrkunge der vernnfticheit, d daz wort inneblbende ist. D sol diu sÞle sn ein bwort und mit gote wrken ein werk, in dem nswebenden bekantnisse ze nemenne ir sælicheit in dem selben, d got sælic ist (DW I, S. 158,4 – 7).
Ungrund. Der Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes Mit Hinweisen zu einigen Praetexten und zur Wirkung im 17. Jahrhundert
Friedrich Vollhardt Andreas Kablitz zum 8. November 2007
I. Voraussetzungen […] dann der Geist ist das Leben / der Leib ist nur eine Figur deß Lebens / so ist das Blut ein Geh (use deß Geistes / das sol der Artista wol mercken / im Blut deß J Fnglings / wann sich seine Perle in die drey M =rder einergibt / daß sie jhr Blut in vnd mit deß J Fnglings vergeusset / da der Ritter in der H =llen stehet / vnd die Menschliche selbstheit vbergibet / da sich der weisse L =we auff seinem Rosinfarben Thier lesset sehen: Alda liget das Heyl der Kranckheit / vnd der Todt des Todes. 1
In der neuesten (und besten) Ausgabe der Schrift De signatura rerum verweist der Kommentar zu dieser Textpassage auf eine Stelle in der Apokalypse, die Aufschluss über den in seiner Rätselhaftigkeit nicht untypischen Gedankenflug Böhmes geben soll. Schlägt man in der Offenbarung des Johannes nach, lässt sich zwar eine gewisse Verwandt1
Jakob Böhme, Werke, hrsg. von Ferdinand van Ingen, Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143, Bibliothek der Frühen Neuzeit 6), S. 709. – Weitere Schriften Böhmes werden nach der zweiten Gesamtausgabe unter Angabe der (römischen) Band- und (arabischen) Spaltenzahl zitiert: Theosophia Revelata. Das ist: Alle Gçttliche Schriften Des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen Theosophi Jacob Bçhmens […], hrsg. von Johann Otto Glüsing, 2 Bde., o. O. [Hamburg] 1715; Sigle: TR. Zur Druckgeschichte der Werke Böhmes vgl. Werner Buddecke, Die Jakob Bçhme-Ausgaben, 2 Bde., Göttingen 1937/ 1957, sowie Sibylle Rusterholz, Jakob Bçhme und Anhnger, in: Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4/1: Das Heilige Rçmische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001 (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg), S. 61 – 102, hier S. 61 – 66.
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schaft in der Bildlogik erkennen – etwa in Kapitel 19, wo ein Reiter auf einem weißen Pferd und in einem Mantel voller Blut erscheint –, doch dieser Vergleich „bringt nichts“, wie ein Rezensent der Edition angemerkt hat, „denn der Reiter ist kein Löwe, und weiß ist nicht das Reittier, sondern der Löwe, und wo bleiben die drei Mörder, die Perle und das Blut des Jünglings?“2 Die Musterung anderer Tiervisionen der Schrift – zu denken ist an das siebte Kapitel des Daniel-Buches – führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Mit Bibelzitaten lassen sich die Bilder Böhmes, die Assoziationen in verschiedener Hinsicht hervorrufen sollen, nur teilweise erklären. Nicht ohne Grund erinnert der Titel der zitierten Abhandlung an die Paracelsische Zeichenlehre, zu vermuten sind ferner neuplatonische, spiritualistische und kabbalistische Anregungen.3 Da sich aus diesem „Gewebe“ ineinander verschränkter Traditionslinien nur schwer „Fäden zu einer vereinfachenden Betrachtung“4 herauslösen lassen und die Versuche einer Kontextualisierung oft hypothetisch bleiben, hat sich die Forschung nicht selten auf einen immanenten Nachvollzug der hermetischen Denkfiguren Böhmes beschränkt. Bei dieser Ausgangslage könnte man versucht sein, einem Rat von T. S. Eliot zu folgen, der in seinem Dante-Essay aus dem Jahr 1929 2 3
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Kurt Flasch, „Erkenntnis gibt es auch ohne Teleskop: Zwei Schriften Jakob Böhmes“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 256, 04. Nov. 1997, S. L 8. Der von Böhme erwähnte Alchemiker („Artista“) deutet hier nicht auf die paracelsistische Elias/Helias-Artista-Figur, mit der sich religiös-eschatologische Hoffnungen auf den kommenden Reformator verbanden. Vgl. Wilhelm Kühlmann/Joachim Telle (Hrsg.), Corpus Paracelsisticum, Bd. I: Der Frhparacelsismus, Erster Teil, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 59), S. 465 f. In den Jahren um 1600 häufen sich, wie bemerkt, die Schriften von Paracelsisten, in denen mit der „riforma ,elianica‘“ ein Epochenumbruch prophezeit wird; ob die in das Rosenkreuzerschrifttum führenden Spuren auch bei Böhme zu finden sind, erörtert Flavio Cuniberto, Jakob Bçhme, Brescia 2000 (Maestri del Pensiero 14), S. 45 f.: „il nuovo Elia rivelerà il senso autentico della scienza alchemica, instaurando per ciò stesso una stagione che non si esita ad associare al gldenes Jahrhundert […].“ Vgl. auch Thomas Leinkauf, „1600 – Deutungen der Jahrhundertwende im deutschen Luthertum“, in: Manfred Jakibowski-Tiessen [u.a.] (Hrsg.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 155), S. 73 – 128, bes. S. 76 f., Anm. 9. Friedrich Ohly, Zur Signaturenlehre der Frhen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst, hrsg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart – Leipzig 1999, S. 61.
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empfohlen hat, sich beim Lesen „des ersten Inferno-Gesanges [nicht] mit der Bedeutung des Leoparden, des Löwen oder der Wölfin zu plagen. Es ist zu Anfang tatsächlich besser, nicht zu wissen, was sie bedeuten, oder sich nicht darum zu kümmern“.5 Nun verbietet sich ein Vergleich zwischen Dante und dem frühneuzeitlichen Theosophen6 von selbst, auch wenn sich die Regeln für die Auslegung solcher allegorischen Szenen zwischen dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit nicht grundsätzlich gewandelt haben.7 Und noch ist nicht ausgemacht, inwieweit die Schriften Böhmes von dem Religionsgespräch der Zeit zu trennen und der Poesie oder einer Spielart visionärer Literatur zuzu5 6
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Thomas S. Eliot, „Dante“, übersetzt von H. H. Schaeder, in: Werke 3: Essays II, hrsg. von Helmut Viebrock, Frankfurt/M. 1969, S. 44 – 84, hier S. 49. Zum Gebrauch des Wortes theosophia in der patristischen Literatur und der Wiedereinführung des Begriffs in der Frühen Neuzeit vgl. Carlos Gilly, „Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit“, in: Basler Zeitschrift fr Geschichte und Altertumskunde, 77/1977, S. 57 – 127, bes. S. 86 f. (dort auch Hinweise zu dem oft parallel gebrauchten Terminus ,Pansophie‘); vgl. auch Wilhelm Kühlmann/ Joachim Telle (Hrsg.), Corpus Paracelsisticum, Bd. II: Der Frhparacelsismus. Zweiter Teil, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 89), S. 624 f. und 669 f. (zu Böhme). Übrigens haben bereits die frühen Dante-Exegeten den drei Tierfiguren mühelos je ein bestimmtes Laster zuordnen können (Wollust, Hochmut, Geiz), womit auf die erbsündige Disposition des Menschen geschlossen und eine Auslegungstradition begründet werden konnte; vgl. Andreas Kablitz, „Poetik der Erlösung. Dantes Commedia als Verwandlung und Neubegründung mittelalterlicher Allegorese“, in: Glenn W. Most (Hrsg.), Commentaries – Kommentare, Göttingen 1999 (Aporemata 4), S. 353 – 379, bes. S. 368. Kommentierte Abbildungen der drei Bestien finden sich auch in frühneuzeitlichen Commedia-Illustrationen; vgl. Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970 (Medium Aevum 21), S. 214 ff. und Abb. 1. Im Falle Böhmes lautet die Frage, ob in dessen figürlichem Text die stufenweise Annäherung an eine solche Sinnebene in einer dem traditionellen Bildmaterial entsprechenden Weise überhaupt vorgesehen ist und inwiefern bereits die Zeitgenossen bei der Auslegung auf ähnliche Schwierigkeiten stießen wie die heutige Motiv-, Themen- oder Toposforschung. – Wie sich die Zeitgenossen über ihre Verständnisschwierigkeiten austauschten, zeigt ein Brief A. von Franckenbergs an A. W. van Beyerland aus dem Jahr 1640: Wrde auch viel Mhe vnd Zeit dazu gehçren, in diesen [sc. Böhmes] Schrifften zu critisiren […]. Summe: Ein ieglicher siehet doch nicht weiter als sich die stralen sEINes Auges erstrcken. (Abraham von Franckenberg, Briefwechsel, hrsg. von Joachim Telle, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, hier S. 122, sowie die Einleitung des Herausgebers, S. 1 – 57, bes. S. 40. Für den Hinweis auf diese Textstelle danke ich Joachim Telle).
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rechnen sind, die Eliot als eine „diszipliniertere Art des Träumens“8 bezeichnet hat. Da eine solche Entscheidung auf der Ebene der Quellen, wie angedeutet, nur schwer zu treffen ist und rein doxographische Untersuchungen für den Philologen etwas Unbefriedigendes haben, bleibt nur, noch einmal anzusetzen und das Problem in eine grundsätzlichere Fragestellung zu überführen: Wie wird aus einer mentalen Repräsentation die Behauptung einer visionären Erfahrung? Ist das Verhältnis von Erkenntnisanspruch und Beschreibungsmodus bei Böhme funktional bestimmt? Lassen sich, in einem zweiten Schritt, die von ihm entwickelten Systemgehalte nicht doch auf geläufige Deutungsmuster oder auf die nachreformatorischen Debatten in der Theologie beziehen, anders gesagt: in das Netzwerk der religiösen Kommunikation um 1600 einordnen?
Religiöser Diskurs und poetische Sprache Der Autodidakt hat seinen Durchbruch zu einer ,höheren‘ Erkenntnis mehrfach beschrieben und dabei unterschiedliche Darstellungsformen genutzt. Vergleicht man die auf Introspektion beruhenden Berichte miteinander und zusätzlich mit den Aufzeichnungen Abraham von Franckenbergs, zeigen sich signifikante Abweichungen. Böhme orientiert sich an den Adressaten, das Publikum der Morgen=Rçte im Aufgangk wird anders auf die Schilderung des mystischen Erlebnisses vorbereitet als die bereits unterrichteten Gegner oder Anhänger, die er persönlich anspricht. Dabei tritt entweder eine auf das biographische Detail konzentrierte Erzählung in den Vordergrund oder die aus diesem Moment abgeleitete Lehre, womit jedoch keine Vorentscheidung über den Einsatz tradierter Topoi getroffen ist. Mit dem Begriff der „Verzweigung“ lässt sich dieser graduell fassen: „je weniger semantische Implikationen, umso mehr macht sich die Erfahrung als solche geltend“.9 Bei den Auto-Interpretationen Böhmes verstärkt sich mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu der auf das Jahr 1600 datierten Erleuchtung (der 8 9
Eliot, „Dante“ (Anm. 5), S. 50: „Wir halten es für ausgemacht, daß unsere Träume von unten kommen; möglicherweise leidet infolgedessen die Qualität unserer Träume.“ Alois M. Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt/M. 1996, S. 484; der Terminus (,ramification‘) entstammt der angloamerikanischen Religionswissenschaft.
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Geist ging hindurch als ein Blitz) eine solche auf Erfahrung zielende, Unmittelbarkeit herstellende Sprache.10 Bei der Beschreibung Franckenbergs verhält es sich ähnlich. Dieser leitet seinen Grndlichen und wahrhaften Bericht von dem Leben und Abscheid Jacob Bçhmens (1651) mit der Bemerkung ein, dass er kein Zier=Redner sei, also k Frzlich und einf (ltig / jedoch gr Fndlich aus seinen Gesprächen berichten werde; protokolliert wird das Jahr, das Alter und die Umstände, in denen Böhme vom G =ttlichen Lichte ergriffen / und mit seinem gestirnten Selen=Geiste / durch einen g (hlichen Anblick eines Zin-ern Gef (sses […] zu dem in-ersten Grunde oder Centro d’[er] geheimen Natur eingef Fhret? Da er als in etwas zweyfelhaft / um solche vermeinte Phantasey aus dem Gem Fthe zu schlagen / zu G =rlitz vor dem Neyßthore [alwo er an der Br Fcken seine Wohnung gehabt] ins Gr Fne gegangen / u.[nd] doch nichts destoweniger solchen empfangenen Blick je l (nger je mehr und kl (rer empfunden / also daß er vermittelst der angebildeten Signaturen oder Figuren […] in die innerste Natur hinein sehen k =nnen / (wie auch in seinem B Fchlein de Signatura Rerum, dieser ihm eingedruckte Grund genugsam verkl (ret und enthalten/) wodurch er mit grossen Freuden Fbersch Fttet / stille geschwiegen […].11
Der anfängliche Zweifel an dem Erlebnis unterstreicht dessen Authentizität. Der Gang in die Natur, geschildert als Teil eines genau lokalisierbaren12 Geschehens, ist dabei mehr als nur eine erzählerische Episode: Er entdeckt in seinem Erfahrungsraum das ,geheime‘ Wissen, das er später in seiner Lehre von der Natur=Sprache zusammenfasst. Böhme liest hier weder in der Bibel noch im eigenen Selbst, sondern im Weltbuch, das vermeintlich allem Streit über seine Auslegung enthoben 10 Vgl. ebd., S. 485 f. – Zweifelhaft bleibt, ob der Verzicht auf Versatzstücke der Tradition oder deren Umprägung „in Eigenes, der eigenen Erfahrung Konformes“ zugleich für die „Authentizität“ der Erfahrung bürgt, wie Sibylle Rusterholz annimmt: „Jakob Böhmes spirituelle Erfahrung als ,Grund‘ seiner schriftstellerischen Existenz“, in: Die Morgenrçte bricht an. Jakob Bçhme, naturnaher Mystiker und Theosoph, Karlsruhe 1999 (Herrenalber Forum 24), S. 100 – 120, hier S. 119. 11 Zitiert nach der im Anhang zur TR II (Anm. 1, eigene Paginierung) gedruckten Ausgabe, Sp. 3 – 28, hier Sp. 3 und 7. Über das Verhältnis Böhmes zu seinem Biographen informiert umfassend Sibylle Rusterholz, „Abraham von Franckenbergs Verhältnis zu Jacob Böhme. Versuch einer Neubestimmung aufgrund kritischer Sichtung der Textgrundlagen“, in: Klaus Garber (Hrsg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frhen Neuzeit, Bd. I, Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 205 – 241. 12 In den frühen Gesamtausgaben findet sich unter den separat gedruckten Lebensbeschreibungen auch ein Stadtplan von Görlitz, in dem die Gegend um das „Neiss-Thor“ verzeichnet ist; vgl. ebd. zwischen Sp. 56 und 57.
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ist und eine unverfälschte Wahrheit bietet.13 Man muss es nur zu lesen verstehen, wozu Böhme durch die erfahrene Inspiration fähig ist. Seiner vom Gçttlichen Lichte gespendeten Gabe vergewissert er sich zunächst im Schweigen, gibt dann aber sein Wissen in der Schrift De signatura rerum weiter, auf die Franckenberg in seinem Bericht verweist, um – wie zu vermuten ist – ein bestimmtes kulturelles Milieu anzusprechen, das über die Naturspekulation für die Lehren des Pansophen gewonnen werden soll; es handelt sich um einen von mehreren möglichen Zugängen. In Böhmes Werk finden sich weitere traditionsreiche Buchmetaphern, darunter das Bild vom Inneren des Menschen als liber conscientiae, das der nutzlosen akademischen Gelehrsamkeit gegenübergestellt wird: Jch weis nichts von eurem Wissen / habe es auch nie gelernet […]. Jch trage in meinem Wissen nicht erst Buchstaben zusam-en aus vielen B Fchern; sondern ich habe den Buchstaben in mir; ligt doch Himmel und Erden mit allem Wesen / dazu Gott selber / im Menschen: Sol Er den- in dem Buche nicht d Frfen lesen / das er selber ist? 14
Erneut wird angedeutet, dass nicht jeder in dieser Schrift, die keine ist, zu lesen versteht. Das größte Hindernis bilden hier die Selbstzufriedenheit der Gelehrten und ihr steriler Lehrbetrieb: Die Zeit des Disputats und Geschw (tzes ist aus / ihr kommet mit Disputiren nicht weiter […]. (TR I, Sp. 1922) Der Ton wird anklagend, ja polemisch, was sowohl mit der Gattung der Verteidigungsschrift als auch mit einem für Böhme wichtigen Vorbild zu tun haben dürfte: In Valentin Weigels Der gldene Griff wird die Buchmetapher (dis buch ist Jn mir vnd auch In allen menschen) ganz ähnlich mit einer Kritik an den weltgelerten verbunden, die am todten buchstaben kleben, der da ist ausser ihnen, vnd verlassen das buch des lebens, welches ist in ihnen. 15 Dieser Satz spielt wiederum auf eine Stelle im Titel 13 Zur Buchmetaphorik im Spiritualismus des 16. und frühen 17. Jahrhunderts Hermann Geyer, Verborgene Weisheit II: ,libri dei‘. Die metaphorische Programmatik der ,Vier Bcher vom Wahren Christentum‘, Berlin – New York 2001 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 80/II), S. 33 – 60. 14 Die Zweyte Schutz=Schrift Wider Balthasar Tilkens (1621), in: TR I, 1864 – 1924, hier 1917 f. – Zur Buchmetapher im Mittelalter vgl. die Nachweise bei Haas, Mystik als Aussage (Anm. 9), S. 480 – 482; Sibylle Rusterholz, „Zum Verhältnis von ,Liber Naturae‘ und ,Liber Scripturae‘ bei Jacob Böhme“, in: Jan Garewicz/Alois Maria Haas (Hrsg.), Gott, Natur und Mensch in der Sicht Jacob Bçhmes und seiner Rezeption, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 24), S. 129 – 146. 15 Valentin Weigel, Der gldene Griff [1578]. Kontroverse um den ,Gldenen Griff‘. Vom judicio im Menschen, hrsg. von Horst Pfefferl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Sämtliche Schriften – Neue Edition 8), S. 90 f.
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von Sebastian Francks Das verbthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch (1539) an, wo Christus das Buch des lebens 16 genannt wird – die Funktion Christi im Heilsgeschehen bildet einen zentralen Punkt in der Auseinandersetzung zwischen der lutherischen Orthodoxie und ihren als ,Schwärmern‘ verurteilten Gegnern.17 Die Verweise zwischen spiritualistischen Schriften und Strömungen ließen sich noch dichter knüpfen, doch ist bereits jetzt zu sehen, wie Böhme Elemente dieser Tradition aufnimmt, etwa den Gegensatz von Geistbelehrung und Schriftprinzip. Die Gegner haben deutlich erkannt, dass die Berufung auf das inwendige einsprechen des HErren jede Predigt und Lektüre überflüssig macht und damit zugleich die Autorität des Lehramtes in Frage stellt. Diese Warnung hat der Wittenberger Professor Nicolaus Hunnius nicht etwa im Streit um Sebastian Franck, sondern etliche Jahrzehnte später in seiner Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelianischen Theology (1622) ausgesprochen18 – zu einem Zeitpunkt, als der ,neueste‘ Spiritualismus seine Wirkung gerade zu entfalten beginnt. Die angeführten Beispiele reichen aus, um eine erste Annahme über die von Böhme eingesetzten Legitimations- und Schreibverfahren zu formulieren. Je nach Adressat und Anlass weisen die Schriften eine unterschiedlich starke Erfahrungssprache auf; der Autor schildert sein mystisches Erlebnis und eine Inspiration, die ihn dazu befähigt, sowohl die Zeichen der Natur zu deuten als auch den Schl Fssel zu GOtt in sich zu suchen (TR I, Sp. 1919). Dabei beruft er sich autoritativ auf seine ,Einfalt‘ als angeblich ungelehrter Christ, eine Tugend, die durchaus werbewirksam hervorgehoben wird.19 Die behauptete Simplizität steht 16 Vgl. den Kommentar von Horst Pfefferl, ebd., S. 91, Anm. 1. – Vom Lebens=buch spricht auch Böhme an der zitierten Stelle (TR I, 1919). 17 Vgl. Otto Langer, „Inneres Wort und inwohnender Christus. Zum mystischen Spiritualismus Sebastian Francks und seinen Implikationen“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Sebastian Franck (1499 – 1542), Wiesbaden 1993 (Wolfenbüttler Forschungen 56), S. 55 – 69, bes. S. 62. 18 Nachweise bei Bo Andersson, ,Du Solst wissen es ist aus keinem sein gesogen‘. Studien zu Jacob Bçhmes ,Aurora oder Morgen Rçte im auffgang‘, Stockholm 1986 (Acta Universitatis Stockholmiensis 33), S. 61 f.; vgl. auch Ernst Wilhelm Kämmerer, Das Leib-Seele-Geist-Problem bei Paracelsus und einigen Autoren des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1971 (Kosmosophie 3), S. 76 – 79. 19 Vgl. Wilfried Barner, „Über das ,Einfeltige‘ in Jacob Böhmes Aurora“, in: Dieter Breuer (Hrsg.), Religion und Religiositt im Zeitalter des Barock, Teil II, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 441 – 453; Ferdinand van Ingen, „,Der Anfang der Morgenröte‘. Jacob Böhmes re-
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dann in einem umso auffälligeren Kontrast zu dem bilderreichen und dunklen Stil der Schriften. Dieses starke, auf verschiedenen Ebenen artikulierte Bewusstsein der Autorschaft lässt vermuten, dass Böhme auch den Einsatz der sprachlichen Mittel genau reflektiert. Inwieweit er hier auf Bestimmungen der theologia mystica (oder der theologia symbolica im Sinne Johannes Gersons) zurückgreift, kann offen bleiben. Wie seine Vorgänger schreibt er unter der paradoxen Voraussetzung, dass ein Wissen von den göttlichen Geheimnissen weder von der natürlichen menschlichen Erkenntnis erreicht werden kann noch als begriffliche Aussage zu vermitteln ist. Für seine ,Eingebungen‘ sucht Böhme deshalb nach einer Form der Darstellung, in der dieser Widerspruch erkennbar bleibt. Er findet sie unter anderem im Analogiedenken, in der Signaturenlehre, in einem entalchemisierten Gebrauch naturkundlicher Termini und einer Technik der Verschlüsselung: Der assoziative Sinn, „der diskursiven Fortgang ausläßt oder überspringt, ist mit dem Geheimnis der Natur in Gott koextensiv“.20 Wenn Gott der Verborgene bleibt, dann kann sein verhülltes Wesen – in Übereinstimmung mit der von Dionysius Areopagita ausgehenden Tradition und in Verschränkung mit der christlichen obscuritas-Lehre – am ehesten auf dem „Weg über die Unähnlichkeit“21 gesucht werden, über monströse Bilder oder Tierfiguren, womit sich die eingangs zitierte Textstelle aus einem Modell der Differenz22 erklären ließe, in der die Uneigentlichkeit des Bildes – seine Fiktion – in einem angemessenen Verhältnis zu dem Überweltlichen stehen soll. Die sprachliche Dunkelheit kann zudem, doch das ist nur eine Vermutung, auf eine im zeitgenössischen Paracelsismus erprobte Strategie des Rückzugs verweisen, mit dem das privilegierte Wissen vor dem Zugriff formatorische Mystik“, in: Mariano Delgado/Gotthard Fuchs (Hrsg.), Die Kirchenkritik der Mystiker, Bd. 2: Frhe Neuzeit, Stuttgart 2005 (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 3), S. 207 – 220, bes. S. 211. 20 Harald Haferland, „Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme“, in: Joachim Gessinger/Wolfert von Rahden (Hrsg.), Theorien vom Ursprung der Sprache, Berlin – New York 1989, S. 89 – 130, hier S. 98: „Derart hergestellte Texte wollen ausgelegt sein, obwohl sie doch selbst schon auslegen.“ 21 Walter Haug, „Geheimnis und dunkler Stil“, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.), Schleier und Schwelle, Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung, München 1998 (Archäologie der literarischen Kommunikation 5), S. 203 – 217, hier S. 211. 22 Vgl. ebd., S. 213: „Das Geheimnis Gottes bricht dort am radikalsten auf, wo er sich am stärksten verhüllt.“
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der Unberufenen zu schützen ist, was die Attraktivität der Schriften entsprechend erhöht.23 Die Frage nach dem poetischen Charakter respektive dem epistemischen Ort der Schriften Böhmes ist damit noch nicht beantwortet. Vielleicht gehört sie zu jenen Aporemata, welche die Forschung zur Religionsgeschichte in der Frühen Neuzeit ignorieren sollte. Das zeigt auch eine der gründlichsten und noch immer maßgeblichen Studien zum Werk des Theosophen; für Alexandre Koyré ist Böhme „un des penseurs les plus énigmatiques de l’univers“, bedingt vor allem durch seine sprachlichen Eigenarten: „Le langage de Boehme est un langage poétique; c’est comme tel qu’il faut le juger.“24 Dieses entschiedene Urteil dient Koyré jedoch keineswegs als Leitfaden für seine Untersuchung, die weniger der Sprache als der „doctrine“ gewidmet ist.
Alternative Denkmodelle: Teilnehmer, Gegner und Beobachter Der Ideen- und Wissenschaftshistoriker Koyré steht nicht im Verdacht, Geschichte aus der Perspektive derjenigen Forschungsprogramme zu schreiben, die sich retrospektiv als erfolgreich erwiesen haben. Seine Arbeiten zu Kopernikus, Kepler, Galilei oder Newton, kurz: zur new science der Frühen Neuzeit sind nicht in einer solchen Weise anachronistisch, da ihn „thinking in its social context“ und der gemeinsame Hintergrund „of conflicting theories“25 interessieren. Auf bildungsgeschichtliche Einflüsse und Mentalitäten zu achten oder die Wechselwirkung zwischen angeblich inkommensurablen Denkansätzen zu untersuchen, gehörte nicht immer zum Selbstverständnis eines Wissenschaftshistorikers.26 Nur so wird jedoch verständlich, weshalb sich 23 Dazu Kühlmann/Telle (Hrsg.), Corpus Paracelsisticum (Anm. 6), S. 24. 24 Alexandre Koyré, La philosophie de Jacob Boehme, Paris 1929 (Bibliothèque d’histoire de la philosophie), S. XV. 25 Yehuda Elkana, „Alexandre Koyré: Between the history of ideas and sociology of disembodied knowledge“, in: History and Technology, 4/1987, S. 115 – 148, hier S. 124 und 127; zur Bedeutung dieses Ansatzes „per la storia della scienza vera e propria“ vgl. auch Paola Zambelli, L’ambigua natura della magia. Filosofi, streghe, riti nel Rinascimento, 2. Auflage, Venezia 1996, S. 299 und Anm. 109. 26 Koyré hat die Disziplin in dieser Richtung erweitert und methodisch neu orientiert; vgl. Pietro Redondi, „De l’histoire de sciences à l’histoire de la pensée scientifique: le combat d’Alexandre Koyré“, in: ders. (Hrsg.), Alexandre Koyr. De la mystique la science. Cours, confrences et documents 1922 – 1962, Paris 1986 (Histoire des Sciences et des Techniques 2), S. IX–XXVII.
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Böhme bei seinen Spekulationen auf die neue Kosmologie beziehen konnte. Sein ,empirisches‘ Erkenntnisverfahren und seine semiotische Naturauffassung berühren sich indes nicht mit den die mathematische Beschreibung favorisierenden Konzepten der Forschung. Dieser Mangel an einer ,präsentischen‘ Semantik erschwert die historisch-systematische Rekonstruktion, wie Koyré im Blick auf das eigene Unternehmen mit leichter Resignation und Selbstironie bemerkt: „Nous n’avons pas voulu courir le risque d’expliquer ignotum per ignotius.“27 Nun ist religiöse Kommunikation wie jede Form der Kommunikation auf Verstehen angewiesen. Daher muss für Plausibilität gesorgt werden, in der Zeit um 1600 nicht anders als heute. Zu bedenken ist nämlich, dass die „Inkonsistenztoleranz eines Kommunikationssystems“28 geringer ist als die von Individuen oder kleinen, in sich abgeschlossenen Glaubensgemeinschaften. Aus der Sicht von Kirchenvertretern haben die weder auf die etablierte Dogmatik noch auf textuelle Kohärenz achtenden Schriften Böhmes dieses System stark belastet, weshalb man den Autor unter Kontrolle zu halten versuchte. Doch trotz – oder wegen – des verhängten Schreib- und Publikationsverbotes entfaltete sich die Wirkung seiner Lehren über den Dissens, der in den Kontroversschriften thematisiert wurde. Die Sicht der Gegner ist aufschlussreich, wobei verschiedene Stufen der Rezeption zu unterscheiden sind: Auf die Feststellung der Irrtümer in den orthodoxen Streitschriften folgt die Untersuchung in einem eher akademischen Diskurs, der seinen Gegenstand dann aus einer zunehmend wachsenden Distanz wahrnimmt; im einen Fall geht es allein um die Verurteilung, im zweiten auch um ein Verstehen der Texte aus ihren (umstrittenen) religionsgeschichtlichen Ursprüngen. Schließlich wird die Frage nach dem Typus und der ,Rationalität‘ der Böhmeschen Lehren gestellt. Das soll an drei Beispielen kurz ausgeführt werden. Daniel Colberg konzentriert sich in seiner 1690/91 publizierten Ketzergeschichte auf die Christologie, an der sich, wie bemerkt, die Abweichung von der offiziellen Lehre besonders klar demonstrieren ließ: 27 Koyré, La philosophie (Anm. 24), S. XVII. – Zu den Spiritualismus-Studien Koyrés im Zusammenhang seines wissenschaftlichen Œuvres vgl. Gérard Jorland, La science dans la philosophie. Les recherches pistmologiques d’Alexandre Koyr, Paris 1981, bes. S. 174 – 214 („Jacob Boehme entre Paracelse et Copernic“). 28 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt/M. 2000, S. 140.
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Die Aufferstehung Christi bedeutet Jacob Bçhmen so viel / als eine Auffrichtung des inwendigen Lichtes in dem verbliebenen him-l.[ischen] Theil des Menschen. […] Platonische Grillen sind es / zu deren Bemntelung die Schrifft mißbrauchet wird. Wir lesen an keinem Ort / daß Christus in uns aufferstehen mçge. […] Nun urtheile iemand hievon / ob diesses nicht heisse / mit dem Munde groß Geblrr […] machen / in der That aber und im Hertzen Christum verleugnen. […] Ist ein subtiler Socinianismus mit der Platonischen Schwrmerey krfftig vermischet / damit ja der Teuffel den Haupt=Punct unsers Christenthums nicht unangefochten lasse. 29
Die Sätze des Häretikers werden an der Hl. Schrift als höchster Wahrheitsinstanz geprüft und dann mit der als selbstverständlich vorausgesetzten Lehrautorität verworfen. Die Gründe für den Irrglauben spielen eine eher untergeordnete Rolle, mit dem Hinweis auf den ,Platonismus‘ und den Sozinianismus werden sie pauschal angedeutet. Die Verbindungen zwischen den heterodoxen Bewegungen sind für die Orthodoxie ein notorisches Problem, weshalb man sich bei deren Unterscheidung keine überflüssige Mühe macht – krfftig vermischet erscheinen Colberg die antitrinitarischen und neuplatonischen Ideen, die hermetischen Spekulationen und die aus der Melancholie30 hervorgehenden Wahnvorstellungen. Der Name Böhmes steht hier stellvertretend für eine bedrohliche Kommunikationsstörung mit vielfältigen Ursachen. Fast gleichzeitig mit dieser Schwärmerkritik hat der Hamburger Theologe und Orientalist Abraham Hinckelmann seine Viertzig Wichtige[n] Fragen / Betreffende Die Lehre / so in Jakob Bçhmens Schrifften 29 Daniel Colberg, Das Platonisch=Hermetisches Christenthum / Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie […], Frankfurt/M. – Leipzig 1690, S. 310, 312 und 323. 30 Die in den (auto)biographischen Aufzeichnungen festgehaltene Entwicklung Böhmes zum Autor (siehe oben) wird in der akademischen Literatur der Zeit als Verlauf einer Krankheit beschrieben, die notwendig zu dem ,enthusiastischen‘ Verlangen führt, die Geheimnisse Gottes zu entdecken; vgl. etwa die Dissertation von Johann Wilhelm Baier (Praes.)/Georg Schaar (Resp.), De phantasia matre enthusiasmi, Nürnberg 1721, S. 21: Fuit Boehmius a prima aetate solitudinis amans, meditabundus, rerum naturalium ac divinarum supra conditionem suam curiosus. Multa huc facientia scripta evolvit ac legit, plura secum ipse disceptavit et speculatus est, lapsus exinde in profundam melancholiam ac tristitiam fervidumque plenioris cognitionis desiderium, quam etiam importunis precibus Deo conatus est extorquere. Bei den Lesern Böhmes lassen sich dann ähnliche Symptome feststellen (ebd. S. 30 f.). – Zur Melancholie-Diagnose vgl. auch das ausführliche Colberg-Kapitel bei Sicco Lehmann-Brauns, Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklrung. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 99), S. 112 – 186, bes. S. 149.
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enthalten (1693) vorgelegt, gefolgt von einer Detectio Fundamenti Bçhmiani. Diese Schriften verdankten sich der Kontroverse um den Hamburger Revers, bei dem einige mit dem Pietismus sympathisierende Theologen eine freiere Form des öffentlichen Streitens forderten, wie sie Hinckelmann mit seiner Prüfung der Rechtgläubigkeit Böhmes vorführt.31 Dabei werden Hypothesen über das alte und neue Heidentum entwickelt, die sich in Andeutungen bereits bei Colberg finden, dort aber hinter den Platonismusvorwurf zurücktreten. Hinckelmann argumentiert in der Detectio mit einem hohen Aufwand an Gelehrsamkeit, um die Herkunft der modernen Häresien aus chaldäischen, persischen und ägyptischen Quellen herzuleiten, der Neuplatonismus wird orientalisiert.32 Die Religionsgeschichte gewinnt damit an historischer Tiefe, während das Werk Böhmes eher an Kontur verliert, da es in eine Reihe gleichartiger Irrlehren gestellt wird und damit nur ein – wenn auch aktuelles – Beispiel für den Umgang mit dissidenten Positionen liefert, an dem zugleich der Fortschritt in den altertumswissenschaftlichen Kenntnissen demonstriert werden soll. Einen Anknüpfungspunkt für seine Rekonstruktion findet Hinckelmann dabei in den um 1600 europaweit verbreiteten Spekulationen über die ,mosaische Physik‘: Ich werde hernach zeigen / daß Bçhme seine meiste Geheimnisse […] mit dem Engellndischen Philosopho, Roberto Flud ad Fluctibus gemein habe / und von ihn / durch anderer Anfhrung / gelernet. 33 Die hier beiläufig
31 Vgl. Joachim Whaley, Religious Toleration and Social Change in Hamburg 1529 – 1819, Cambridge 1985, S. 31: Die Orthodoxie „attempted to force the Pietist pastors into submission by issuing a Ministerial declaration, to be signed by all the clergy. It was to denounce enthusiasm, separatism, the mystical legacy of Jakob Böhme […]“. Eine umfassende Darstellung des Verlaufs der Streitigkeiten liefert Martin Gierl, Pietismus und Aufklrung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 129), S. 49 – 59; zum weiteren Kontext Martin Mulsow, „Den ,Heydnischen Sauerteig‘ mit dem ,Israelitischen Süßteig‘ vermengt: Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann und Johann Peter Späth“, in: Scientia Poetica, 11/2007, S. 1 – 50. 32 Vgl. ebd. 33 Abraham Hinckelman [sic], Detectio Fundamenti Bçhmiani, Untersuchung und Widerlegung Der Grund=Lehre / Die In Jacob Bçhmens Schrifften verhanden. Worinnen unter andern der Recht=glubige Sinn der alten Jdischen Cabalæ, wie auch der Ursprung alles Fanaticismi und Abgçtterey der Welt entdecket wird, Hamburg 1693, S. 4.
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erwähnte Verführung Böhmes durch ,neugierige Gemüter‘34 oder fanatische Sektierer – bei den Verehrern Fludds konnte es sich nur um Rosenkreuzer handeln – galt bald als gesichertes Wissen. Knapp einhundert Jahre später hat Johann Christoph Adelung dem Autor Böhme ein Kapitel in seiner Geschichte der menschlichen Narrheit gewidmet. Auf der Grundlage der früheren Kritiken wird dessen vornehmster Grundsatz in den Überlieferungsstrom der ganzen morgenlndischen und ltern Griechischen, also voraristotelischen Philosophie eingeordnet, nicht aber auf seine Abhängigkeit von einzelnen Quellen oder Denkmustern befragt.35 Diese Ausführungen stehen bei Adelung ganz am Rande, sie haben längst nicht mehr die Bedeutung wie in den Kontroversschriften des 17. Jahrhunderts. Stattdessen werden ausführlich das Leben und die Werke Böhmes sowie deren Druckgeschichte beschrieben. Hier verstärkt Adelung die bei Hinckelmann umrisshaft entwickelte Theorie einer kollektiven Autorschaft. Danach sollen Freunde und Gönner Theile der Theosophie bearbeitet und dem ungelehrten Autor überlassen haben, dem man dann eine besondere prophetische Gabe zuschrieb, um für öffentliche Aufmerksamkeit zu sorgen. Diese Manipulation hatte für Böhme, wie Adelung mutmaßt, pathologische Folgen, da die im Hintergrund wirkenden Schwärmer sich auch keine Mhe verdrießen ließen, ihm ihre Trume unterzuschieben, und einen vollstndigen Narren aus ihm zu bilden. 36 34 Unter curiositas-Verdacht stellt Hinckelmann die Görlitzer Mediziner, mit welchen Bçhme umbgieng; da es diesem an Ingenio nicht fehlete / (insonderheit an einer grossen etende seiner Phantasie) […] wurde endlich dieses gantze Gebu der Philosophiæ Teutonicæ darauß / wie wir es vor uns finden“ (ebd., S. 62). 35 [ Johann Christoph Adelung,] Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berhmter Schwarzknstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen= und Liniendeuter, Schwrmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, Zweyter Theil, Leipzig 1786, S. 220 – 255 [recte 259], hier S. 252. 36 Ebd., S. 232. – Vgl. auch Wilhelm Kühlmann, „Biographische Methode und aufgeklärte Revision der Geschichte – Johann Christoph Adelungs Paracelsusbiographie“, in: Joachim Telle (Hrsg.), Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frhen Neuzeit, Stuttgart 1994, S. 541 – 556, bes. S. 548, wo sich ein Hinweis auf Gottscheds Böhme-Kritik findet, in der „sich das hermetische Idiom der christlichen Naturspekulation“ bereits „in eine mystische ,obscuritas‘“ verwandelt hat, „deren Attraktivität nur noch fassungslos konstatiert werden kann […].“ Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist so ein Bild von Entwicklungen gezeichnet worden, das uns heute als selbstbefangen und defizitär erscheint; vgl. Dieter Henrich, „Rahmenbedingungen der Rationalität. Überlegungen zum Verhältnis von Kulturform und Kunstform“, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser
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Diese Enthüllung eines vermeintlichen Komplotts ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Aus der Ketzerverfolgung wird die Anamnese einer Krankheit, und an die Stelle des erleuchteten Individuums tritt das Gemeinschaftswerk einer Gruppe. Sowohl die Frage nach den Rationalitätsstandards, unter denen das Werk Böhmes zu beurteilen ist, als auch die nach der Kommunikationssituation, in welcher die Texte in und durch einen Kreis begeisterter Anhänger ihre Wirkung entfalten, sind für eine Untersuchung der Theosophia Revelata von Belang. Bei Adelung spielen beide Faktoren eine Rolle, der dogmatische Rationalismus verhindert jedoch eine eingehendere Reflexion (die religiöse Problematik der Schriften ist hier, am Ende des 18. Jahrhunderts, offenbar unverständlich geworden, das Sinnangebot ließ sich nicht mehr ohne weiteres kollektiv stabilisieren). In der gegenwärtigen Forschung zum frühneuzeitlichen Hermetismus haben die genannten Aspekte unterschiedliche Resonanz gefunden, was im Blick auf Böhme noch zu erläutern ist, bevor auf dessen in mehrfacher Hinsicht konterdiskursiv wirkende und dabei zugleich erfolgreiche Abhandlungen eingegangen werden kann.
,Dritte Kraft‘: Theosophische Spekulation im historischen Kontext Die Frage, ob Rationalität verschiedene Formen haben kann, wird heute mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bejaht. Auch dieses grundlegende Konzept sehen wir bedingt durch kulturelle Lebensformen und andere Rahmenbedingungen, ohne über die Akzeptabilität relativistischer Positionen lange nachzudenken.37 Die Wahrnehmung fremder Beweisnormen und Rationalitätsprinzipien in historischer Perspektive (weniger in ethnologischer) kann zudem auf Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden, die bei der Entwicklung von Zeichenbeziehungen und deren Gebrauch allgemein gelten. Die Wissenssoziologie hat sich früh den von William James geprägten Begriff des (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), S. 537 – 546, bes. S. 541: „Jahrtausende mußten vergehen, in denen sich die Menschheit in ihren letzten Orientierungen von denen abhängig machen mußte, die heute in ihren geschlossenen Anstalten hausen […].“ 37 Zu den hier bestehenden Schwierigkeiten aus wissenschaftstheoretischer Sicht Nicholas Rescher, Rationalitt. Eine philosophische Untersuchung ber das Wesen und die Rechtfertigung von Vernunft, übersetzt von Axel Wüstehube, Würzburg 1993, bes. S. 163 – 209.
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,Subuniversums‘ zu eigen gemacht, um die Funktion geschlossener Sinnwelten zu beschreiben, deren Geltung „völlig unabhängig“ davon ist, ob sie mit unserem Wissen oder dem Alltagsverstand „und seiner Wirklichkeit in irgend einem Zusammenhang stehen“; das betrifft die theoretische Physik ebenso wie die Symbolwelten der Dichtkunst.38 Für kaum einen Bereich der Literatur-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte scheinen diese Überlegungen einen größeren heuristischen Wert zu besitzen als für die magisch-hermetische und theosophische Tradition in der Frühen Neuzeit. Verschiedentlich wurde gezeigt, welche Bedeutung diese mit der mechanistischen Naturwissenschaft konkurrierende Weltsicht für die Entwicklung des modernen Denkens insgesamt hat. Die mit dem Namen von Frances A. Yates verbundene These („through magic to science“) ist allerdings nicht unwidergesprochen geblieben.39 Denn die zu einer „mystical philology“40 führende Natursprachenlehre Böhmes kann auch – systematisch betrachtet – als Ausdruck einer Mentalität verstanden werden, die von unserer Wissenschaftskultur prinzipiell unterschieden und mit dieser inkommensurabel ist.41 Lehnt man dementsprechend den Relativismus in der Frage nach den Prinzipien der Rationalität ab, lässt sich eine theoriegeschichtliche Einordnung (und Bewertung) der Böhmeschen Position in der angedeuteten Weise vornehmen, die allerdings Gefahr läuft, den theoretischen Anspruch und die innere Schlüssigkeit des alternativen Paradigmas zu verkennen. Im Gegenzug ist daher vorgeschlagen worden, die spezifische Erkenntnisleistung des Analogiedenkens zu untersuchen und die Hermetik als eigenen Rationalitätstyp zu 38 Alfred Schütz, Gesammelte Aufstze I. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 399 f.; Schütz illustriert den Vergleich mit einem Hinweis auf die eingangs zitierte Stelle aus dem Dante-Essay von T. S. Eliot (Anm. 5). 39 Vgl. zusammenfassend Christoph Meinel, „Okkulte und exakte Wissenschaften“, in: August Buck (Hrsg.), Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 12), S. 21 – 43, bes. S. 40 f. 40 Brian Vickers, „Analogy versus identity: the rejection of occult symbolism, 1580 – 1680“, in: ders. (Hrsg.), Occult and scientific mentalities in the Renaissance, Cambridge 1984, S. 95 – 163, hier S. 107. 41 Vgl. ebd., S. 156: „The difference between the two traditions emerges in many forms, not least in this awareness that science cannot be built on figures of speech.“ – Vgl. zur Yates-These im Blick auf Böhme auch Brian P. Copenhaver, „Natural magic, hermetism, and occultism in early modern science“, in: David C. Lindberg/Robert S. Westman (Hrsg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge 1990, S. 260 – 301, bes. S. 284 f.
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klassifizieren.42 Beide Sichtweisen neigen zur Generalisierung. Zu überlegen ist, ob man dem Denktyp, welchem die Schriften Böhmes zuzuordnen sind, nicht eher gerecht wird, wenn man dessen Intention als eine auf Konsistenz zielende und insofern „rationale Form der Selbstverständigung des Menschen“43 in einer von Krisen bestimmten Phase der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte zu fassen versucht. Der Blick wird damit erneut auf das Produktions- und Rezeptionsmilieu der Schriften gelenkt. Aus dem Umfeld, in dem Böhme seine Abhandlungen schrieb, kennen wir einige aufschlussreiche Details. In Görlitz wirkte um 1570 ein Collegium medicorum sectae Paracelsi 44 und mit dem Pastor Martin Moller ein Geistlicher, über dessen Predigten und Erbauungsschriften – etwa die deutschen Meditationes sanctorum Patrum (1584/91) – Böhme die Tradition der bernhardinischen Mystik kennengelernt haben dürfte.45 Über die Freunde und Gönner des Autors sind wir ebenso informiert wie über den Druck und die Wirkung seiner Schriften in den Niederlanden und England.46 Insbesondere in England hat sich früh eine Anhängerschaft gebildet, über welche sich die Kommunikation er42 Vgl. die Kritik an Vickers bei Manuel Bachmann, „Die Topologie der Analogie in der Naturmystik der Renaissance“, in: ders./Karen Gloy (Hrsg.), Das Analogiedenken. Vorstçße in ein neues Gebiet der Rationalittstheorie, Freiburg/Br. – München 2000, S. 117 – 143 (und weitere, theoretisch unterschiedlich konsistente Beiträge in diesem Sammelband); vgl. ferner Olaf Breidbach, Der Analogieschluß in den Naturwissenschaften oder die Fiktion des Realen. Bemerkungen zur Mystik des Induktiven, Frankfurt/M. 1987. 43 Thomas Leinkauf, „Interpretation und Analogie. Rationale Strukturen im Hermetismus der Frühen Neuzeit“, in: Anne-Charlott Trepp/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frhen Neuzeit, Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 171), S. 41 – 61, hier S. 61. 44 Vgl. Kühlmann/Telle (Hrsg.), Corpus Paracelsisticum (Anm. 6), S. 11 und 555 – 561; zu dem Görlitzer Dichter, Paracelsisten und Ratsherrn Bartholomäus Scultetus, unter dem Böhme 1613 seinem ,Enthusiasmus‘ abschwören sollte, vgl. ebd. S. 705 f. 45 Vgl. Elke Axmacher, „Meditation und Mystik bei Martin Moller“, in: Dietrich Meyer/Udo Sträter (Hrsg.), Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts, Köln 2002, S. 41 – 58. 46 Vgl. Ferdinand van Ingen, Bçhme und Bçhmisten in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Bonn 1984 (Nachbarn 29); Michael Halls, „Die Böhme-Rezeption“, in: Jean-Pierre Schobinger (Hrsg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 3/1: England, Basel 1988 (Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg), S. 75 – 82.
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schließen lässt, auf die hin Böhme seine Werke konzipiert hat. Es handelt sich zwar um unterschiedliche Kreise und Konstellationen, doch gibt es Verbindungen zwischen diesen Rezeptionsbewegungen, ein gemeinsames Interesse, das uns einen Einblick in die Pragmatik der Böhmeschen Texte verschafft, ohne die sich deren Bedeutung nicht erschließt. Richard H. Popkin hat in einem programmatischen Aufsatz diese Bewegungen als third force neben den empiristischen und rationalistischen Modellbildungen bezeichnet. Ihre Vertreter – Popkin nennt Comenius, Henry More, Lady Anne Conway und andere – sahen sich mit einem Skeptizismus konfrontiert, dem sie mit einer Kombination aus Erkenntnissen der neuen Naturforschung und theosophischen Spekulationen, einer millenaristischen Schriftdeutung und wissenschaftlichen Reformbemühungen zu begegnen suchten; die Werke Böhmes erhielten in diesem Netzwerk eine Schlüsselstellung.47 Zu fragen ist, ob es auch bei ihm selbst einen Anstoß zur Systembildung gegeben hat, der aus einem mit dem modernen Wissenschaftsverständnis verbundenen Zweifel erwachsen ist.
II. Systemgehalte Kosmologie In seinem Erstlingswerk reflektiert Böhme über seinen anfänglichen Zweifel an dem Erfolg menschlicher Wissenssuche und damit über ein Motiv seines Schreibens. Es handelt sich um eine nicht ohne Grund vielzitierte Stelle aus dem 19. Kapitel der Aurora: Es haben die Menschen je und allwege gemein-et / der Himmel sey viel hundert oder tausend Meilen von diesem Erdboden / und GOtt wohne allein in demselben 47 Vgl. Richard H. Popkin, „The Third Force in Seventeenth-Century Thought: Scepticism, Science and Millenarianism“, in: ders., The Third Force in Seventeenth-Century Thought, Leiden – New York 1992 (Brill’s Studies in Intellectual History 22), S. 90 – 119, zu Böhme bes. S. 96 f., 102, passim; zur Aufnahme dieses Forschungsansatzes bei der Untersuchung ähnlicher Zirkel in den deutschen Territorien vgl. Rosmarie Zeller, „Naturmagie, Kabbala, Millenium. Das Sulzbacher Projekt um Christian Knorr von Rosenroth und der Cambridger Platoniker Henry More“, in: Morgen-Glantz, 11/2001, S. 13 – 75, bes. S. 17 f. und Martin Mulsow, „Metaphysikentwürfe im Comenius-Kreis 1640 – 1650“, in: ders./Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt/M. 2005, S. 221 – 257, bes. S. 224 f.
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Himmel: es haben auch wol etliche Physici sich unterstanden / dieselbe H =he zu messen / und gar selzame Dinge herf Frbracht. Zwar ich habe es selber vor dieser meiner Erkentniß und Offenbarung Gottes daf Fr gehalten / daß das allein der rechte Himmel sey / der sich mit einem runden Cirk ganz licht=blau hoch Fber den Sternen schleust / in Mein-ung GOtt habe allein da innen sein sonderliches Wesen / und regire nur allein in Kraft seines H. Geistes in dieser Welt. Als mir aber dieses gar manchen harten Stoß gegeben hat / ohne Zweyfel von dem Geiste / der da Lust zu mir hat gehabt / bin ich endlich gar in eine harte Melancholey und Traurigkeit gerahten / als ich anschauete die grosse Tieffe dieser Welt / darzu […] das kleine F Fnklein des Menschen […]. Weil ich aber befand / daß in allen Dingen B =ses und Gutes war / […] [w]ard ich derowegen ganz melancholisch und hoch betr Fbet / u.[nd] konnte mich keine Schrift tr =sten / welche mir doch fast wol bekant war: darbey dan gewislich der Teufel nicht wird gefeiret haben / welcher mir dan oft heidnische Gedanken einbleuete / derer ich alhie verschweigen wil. […] Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also hart wider GOtt und aller H =llen Porten st Frmete / […] ist mein Geist […] durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit / und alda mit Liebe umfangen worden […]. Weil ich aber nicht alsbald die tieffen Geburten GOttes in ihrem Wesen konte fassen und in meiner Vernunft begreiffen / so hat sichs wol 12. Jahr verzogen / ehe mir ist der rechte Verstand gegeben worden […].48
Die Selbstauskunft wirkt aufrichtig, da der Autor offen über ein verstörendes Erlebnis berichtet, das ihn resignieren lässt und sogar zu einem Fehlverhalten (heidnische Gedanken) verleitet. Doch die Preisgabe dieser persönlichen Anfechtung ist zugleich berechnend, da der Durchbruch zur Erkenntnis dem Leser zum Trost geschildert wird und ihn zur Nachfolge einlädt (ob ihn vielleicht l Fsterte / auf meinem schmalen Stege mit mir zu wandern 49). Die Bewegung wird durch die Betrachtung des Weltalls ausgelöst, dessen grosse Tieffe Angst erzeugt. Es ist zweifellos die neue, nach-kopernikanische Kosmologie, die das Individuum in Melancholie versetzt. Denn die Erde, erklärt Böhme, macht ihren Lauf […] um die Sonne / […] und ist eine grosse Finsterniß gegen der Crone der Sternen am Firmament / daß auch viel Sternen an dem Firmament nicht gesehen werden / wegen der Finsterniß. 50
48 Morgenr =the im Aufgang, in: TR I, 1 – 364, hier XIX, 3 – 14 (TR I, 241 f.). 49 Ebd., XIX, 21 (TR I, 244). 50 Vom Dreyfachen Leben des Menschen, in: TR I, 817 – 1128, hier X, 37 f. (TR I, 985). – Eine weitere Parallelstelle nennt Günther Bonheim, Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch ber Jacob Bçhme, Würzburg 1992 (Epistemata/Literaturwissenschaft 87), S. 413, Anm. 10.
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Von einem solchen Unbehagen war in der Genesis-Vorlesung Luthers, die er zwischen 1535 und 1545 gehalten hat, noch nichts zu spüren. Die Reformation hat sich, was verwundert, das von Kopernikus ausgehende Signal nicht zu eigen gemacht.51 Für Luther gilt das geozentrische Weltbild; die Sterne sind für ihn Kugeln, die am Firmament befestigt sind, um die Nacht zu erleuchten.52 Alles ist das Werk Gottes, der die Welt aus dem Nichts erschaffen hat (ex nihilo factum coelum et terram),53 ohne vorhandene Materie, nur durch das Wort. Diese Überzeugung findet sich noch bei Valentin Weigel, dessen Schrift Vom Ort der Welt (1576) dabei jedoch Vorstellungen von der unbegreifflichen Tieffe 54 des Raumes entwickelt und Formulierungen prägt, die auf Böhme vorausweisen. Der Schöpfungslehre Luthers und der ihm vorangehenden scholastischen Theologie hat Böhme direkt und dazu spöttisch widersprochen, wobei er die Unendlichkeit des Universums erneut als Argument einführt: Der Einf (ltige spricht / GOtt hat alles aus Nichts gemacht: er kennet aber denselben Gott nicht / und weis nicht was Er ist; wan er die Erde ansihet mit samt der Tieffen Fber der Erden […].55 Offensiv verteidigt der Theosoph jene Lehre, die der Teufel im lutherischen Faustbuch des späten 16. Jahrhunderts dem zur Verdammung be51 Vgl. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/M. 1975, S. 374: „War hier nicht die prägnanteste Instanz gegen den mittelalterlich-katholischen Anspruch auf […] Kongruenz der Naturordnung und der Heilsordnung gegeben?“ 52 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff., Bd. 42, S. 31: […] tanquam globos esse affixos firmamento, ut luceant noctu singulae secundum suum donum et creationem suam. 53 Ebd., S. 15. Vgl. zu dieser Stelle Johannes Schwanke, Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der Schçpfung aus dem Nichts in der Großen Genesisvorlesung (1535 – 1545), Berlin – New York 2004 (Theologische Bibliothek Töpelmann 126), S. 106 f. 54 Valentin Weigel, Vom Ort der Welt, hrsg. von Will-Erich Peuckert und Winfried Zeller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 (Sämtliche Schriften, 1. Lieferung), S. 45 f.: Es ist doch keine collatio oder proportio des finiti vnnd infiniti. Also findet sichs / daß die leibliche Welt auß nichts gemacht sey / vnd sey gesetzet in ein nichts / vnd wird werden zu nichts. In seinem letzten Werk (Viererley Auslegung ber das erste Capitel Mosis) beschreibt Weigel dann allerdings ein Schöpfungsdrama, das gnostische Züge trägt; vgl. Carlos Gilly, „Das Bekenntnis zur Gnosis von Paracelsus bis auf die Schüler Jacob Böhmes“, in: From Poimandres to Jacob Bçhme: Gnosis, Hermetism and the Christian Tradition, hrsg. von Roelof van den Broek und Cis van Heertum, Amsterdam 2000 (Pimander 4), S. 385 – 425, bes. S. 402 f. 55 Morgenr =the im Aufgang, XXI, 58 (TR I, 280).
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stimmten Magier mitteilt, der in seiner Trawrigkeit vnd Schwermut den Geist nach dem Ursprung der Welt fragt und hierauff ein Gottlosen vnd falschen Bericht erhält: die Welt / mein Fauste / ist vnerboren vnnd vnsterblich […].56 Damit gerät Böhme in die Nähe nicht-christlicher Vorstellungen der antiken Philosophie, von der er sich bei der Umschreibung seines Gottesbegriffs zwar deutlich distanziert (ich schreibe nicht heidnisch),57 ohne jedoch die zeitgenössischen Leser von seiner Rechtgläubigkeit wirklich überzeugen zu können ([s]o reden die blinden Heyden 58): Sihe / das ist der rechte Einige GOtt / aus dem du geschaffen bist / und in dem du lebest: wan du ansihest die Tieffe und die Sternen und die Erden / so sihestu deinen GOtt / und in demselben GOtt lebest und bistu auch / […] eine Creatur aus Jhme und in Jhme / sonst w (restu nichts. 59
Diese Einsicht in das Wesen Gottes ist für ihn nicht allein aus der Naturbetrachtung zu gewinnen. Ohne das Wirken des Geistes, auf den sich Böhme bei der Schilderung seiner ersten Intuition beruft, sei keine Erkenntnis möglich. Die kirchliche Verkündigung, das verbum externum, bietet für den Glauben dagegen keine Grundlage mehr. Zweifellos hat diese spiritualisierende Auffassung von der Teilhabe an der Präsenz Gottes und seiner ,Leiblichkeit‘ pantheistische Züge, was den Kritikern nicht entgangen ist: Dieses absurdum wrde immediate nach sich ziehen / daß alle Creaturen gçttliches Wesens wren / welches denn fast noch grçber lautet / als daß die Manicher statuiret / daß GOtt wesentlich in allen Dingen sey. 60 Denkfiguren dieser Art finden sich bei religiösen Nonkonformisten des
56 Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt/M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54; Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 886 f. 57 Morgenr =the im Aufgang, XXIII, 10 (TR I, 307). 58 Johann Christoph Holtzhausen, Teutscher Anti-Barclajus […] Samt einem Kurtzen Anhang einiger Anmerckungen Uber Jacob Bçhmens Schrifften […], Frankfurt am Mayn 1691, S. 1187; vgl. auch Hinckelmann, Detectio Fundamenti Bçhmiani (Anm. 33), S. 79: Es streitet diese Lehre auch mit der Heil.[igen] Schrifft geoffenbahrten Allmacht GOTTES. Als die heimlich der Heyden principio beygepflichtet: Aus nichts werde nichts / und wo keine Materie verhanden / da kçnne selbst auch durch Gçttliche Macht kein Ding hervorkommen. 59 Morgenr =the im Aufgang, XXIII, 9 (TR I, 307). 60 E. I. H. M. D., Der entlarvete Jacob Bçhm / Oder Grndliche Anzeigung / wie dessen so genandte Theosophische Schrifften anzusehen / und woher ihm solche Wissenschafften erwachsen sind […], o.O. 1691, S. 13.
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16. Jahrhunderts häufiger, vor allem im Protestantismus.61 Sie gehören zur Außenseite der Doktrin Böhmes, in deren Zentrum eine Theogonie steht, aus der sich die kosmologischen Spekulationen begründen. Diese verdankt sich, wie bemerkt, einer Vielzahl älterer und zeitgenössischer Anregungen, von der Gnosis über die neuplatonischen, mystischen und kabbalistischen Traditionen bis zur Alchemie; diese Elemente lagern sich dem System an, das zunehmend „expandiert“ und daher nicht ohne Grund als die „Supertheorie der Zeit“62 wahrgenommen wurde.
Paradoxieentfaltung Dan GOtt hat alle Dinge aus Nichts gemacht / und dasselbe Nichts ist Er selber […].63 Da es das absolute Nichts nicht gibt, kann es nur über die Leugnung des Seins als vorhanden gedacht werden, um eine Erklärung für dieses Geschaffene zu finden. Mit dieser Negation beschreitet Böhme den Weg der apophatischen Theologie. In äußerster Verkürzung deutet seine paradoxe Formulierung zugleich an, dass Gott, wie eben gezeigt, als Materialursache der Welt verstanden wird, dessen Selbstexplikation spekulativ nachvollzogen werden soll. Dieses causa suiVerhältnis steht im Widerspruch zu der an den theologischen Fakultäten seit dem Mittelalter gelehrten Doktrin, wonach die Schöpfung ein Werk Gottes ist, kein Naturprozess: creatio relatio quaedam est. 64 Sobald diese Relationsbeziehung aufgehoben wird, ist fraglich, was an ihre Stelle tritt. Wie kommt es zu einer Beziehung zwischen dem göttlichen Nichts und seiner Kreatur? Das Überschreiten der Grenze ist nur als ein 61 Mit einer Anspielung auf Carlo Ginzburgs Studie Il formaggio e i vermi. Il Cosmo di un mugnaio de ’500 [1976] fasst Amos Funkenstein in einem Beitrag unter dem Titel „The body of god in 17th century theology and science“ diese Tendenzen pointiert zusammen: „Jacob Boehme’s thought may have been richer or deeper than the vulgar pantheism of the poor village miller Menocchio […]. But the main difference between them was that Boehme was not burned at the stake.“ (In: Richard H. Popkin [Hrsg.], Millenarianism and messianism in english literature and thought 1650 – 1800, Leiden – New York 1988, S. 149 – 175, hier S. 168.) 62 Haferland, „Mystische Theorie der Sprache“ (Anm. 20), S. 92 f. 63 De signatura rerum, in: TR II, 2177 – 2404, hier VI, 8 (TR II, 2221). 64 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, II, 18: Ex hoc autem apparet vanitas impugnantium creationem per rationes sumptas ex natura motus vel mutationis: utpote quod oportet creationem, sicut ceteros motus vel mutationes, esse in aliquo subiecto; et quod oportet non esse transmutari in esse, sicut ignis transmutatur in aerem.
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operationaler Vorgang zu denken, der sich in der Zeit vollzieht. Doch wie erschafft sich Gott selbst? Zur Beschreibung dieser Theophanie hätte Böhme neuplatonische Denkfiguren aufnehmen können, mit denen der Übergang vom Nichts ins Sein als Hervorbringung eines kreativen Prinzips erklärt wird, das im Geschaffenen anwesend bleibt, ohne dass damit die Differenz des Göttlichen „pantheistisch eingeebnet“65 würde. Für die mittelalterliche Tradition der apophatischen Theologie ist dieser Vorbehalt wesentlich, er setzt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit deutliche Grenzen und zwingt dazu, Bestimmungen für Gott nur jenseits des Seins (supersubstantialis) zu suchen.66 Bei Böhme finden sich zahlreiche Formulierungen, die dieser Einschränkung zu entsprechen scheinen, doch letztlich bildet Gott für ihn nur deshalb eine Synthese der Gegensätze, weil diese sein Wesen ausmachen. In den Schriften seit 1620 entfaltet er diese Gottesidee unter dem Begriff des Ungrundes. Der offenbar Werdende ist zunächst in sich selber der Ungrund / ohne einigen Willen gegen der Natur und Creatur / als ein ewig Nichts […]. Er ist das Nichts und das Alles / und ist ein Einiger Wille / in deme die Welt / und die ganze Creation liget / in Jhme ist alles gleich=ewig ohne Anfang / in gleichem Gewichte / Maß und Zahl; Er ist weder Licht noch Finsterniß / weder Liebe noch Zorn / sondern das ewige Eine […].67
Diese Umschreibung einer völligen Nicht-Bezüglichkeit nach außen und innen gehört zu den Grundvorstellungen der negativen Theologie. Das unbegreifliche Nicht-Sein des Einen, seine Ununterscheidbarkeit und Wesenlosigkeit bis hin zur Gleichsetzung mit dem Nichts erinnert zudem an die Sprache der mittelalterlichen Mystik (siehe unten S. 118 ff.). Neuartig ist demgegenüber der Terminus Ungrund. Böhme hat ihn geprägt und eingeführt, um eine Differenz zur Tradition anzuzeigen. Leicht ist es nicht, die mit diesem Neologismus verbundenen Ideen zu explizieren, da es sich um eine „notion-limite“68 handelt, die wiederum nur negativ zu fassen ist. 65 Werner Beierwaltes, „Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriugena“, in: Philosophisches Jahrbuch, 83/1976, S. 237 – 265, hier S. 248. 66 Vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendlndischen Mystik. Erster Band: Die Grundlegung durch die Kirchenvter und die Mçnchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 52 f. 67 Von der Gnaden=Wahl, in: TR II, 2405 – 2608, hier I, 3 (TR II, 2408). 68 Koyré, La philosophie (Anm. 24), S. 322. – Zu den Schwierigkeiten (s)einer systematischen Rekonstruktion bemerkt Koyré ebd., S. 318, Anm. 2: „c’est
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Der Ungrund bildet eine Art Forum, auf dem sich die Enthüllung des Göttlichen als Selbstsetzung vollzieht: Das ist nun das Auge des Ungrundes / das ewige Chaos, da alles innen liget was Ewigkeit und Zeit ist […] / ein in sich selber Wirken / sich selber Geb (ren und Finden / oder Empfinden […].69 Das ewige Eine sucht sich selbst zu erkennen und stößt dabei in dem unbestimmten, in sich ruhenden Ungrund einen Prozess an, in dessen Verlauf sich das Nichts in ein Auge / oder ewig Sehe[n] fasset / zu seiner Selbst=Beschaulichkeit […].70 Gott schafft nicht eine von ihm unterschiedene Welt, vielmehr fasset er sich in eine Jchheit / aufdaß der Wille etwas habe / darinnen und damit er wirket […].71 Das Problem des Anfangs wird in ein „Erklärungsparadox“72 überführt, da nur durch die Annahme einer solchen Selbstbegründung ein regressus in infinitum vermieden werden kann. Die Begriffe der Selbstempfindung und ,Ichheit‘ sind dabei kaum zufällig gewählt. Böhme will keinen Mythos der Theogonie erzählerisch fassen, sondern eine Denkbewegung vorführen, die auf eine konstellative Einbezogenheit in den zu erklärenden Prozess abzielt. Die Verwendung bildlicher Sprache wird damit natürlich nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Zu einer genaueren Explikation der Grundoperation, die sich im göttlichen Selbstbewusstsein vollzieht, hat sich die Forschung allerdings weniger auf den poetischen Diskurs als auf Bestimmungen der späteren idealistischen Philosophie und deren Konzeptionskraft verlassen („L’Un éternel est l’Absolu en soi, il n’est pas encore un Absolu pour soi“73), was nicht unproblematisch ist, da Böhme das fragliche Grundverhältnis betont voluntaristisch ausdeutet. Durch die Einführung von
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pourquoi nous nous sommes efforcé, dans notre exposé, d’en reconstituer toutes les étapes et de distendre, si l’on peut dire, la trame de la déduction que Boehme, souvent, condense en une seule proposition.“ Mysterium Magnum, in: TR II, 2713 – 3528, hier I, 8 (TR II, 2719). Von der Gnaden=Wahl, I, 8 (TR II, 2409). Mysterium Magnum, Kurzer Extract 2 (TR II, 3525). Luhmann, Religion der Gesellschaft (Anm. 28), S. 135; zu Luhmanns Beschreibungen paradoxer Kommunikation vgl. Philipp Stoellger, „Kommunikation von Paradoxen. Zu Luhmanns Umgang mit Paradoxen und den anschließenden Möglichkeiten für die Theologie“, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hrsg.), Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, S. 67 – 91. Koyré, La philosophie (Anm. 24), S. 326; gegen diesen „unwonted degree of abstraction“ argumentiert Andrew Weeks, Boehme. An Intellectual Biography of the Seventeenth-Century Philosopher and Mystic, Albany 1991, S. 148. Zur langen Tradition der Bezugnahme auf den deutschen Idealismus vgl. Donata Schoeller Reisch, Enthçhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Bçhme, Freiburg/Br. – München 1999, S. 212 f.
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Motiven und Metaphern aus dem Begriffsfeld des Willensaktes, des Gemüts74 oder der magnetischen Anziehung wird der Ungrund dynamisiert und psychologisiert, wobei die Bewegung zwischen einem ,aus sich‘ und ,in sich‘ verläuft: Dan Eins hat nichts in sich / das es wollen kan / es duplire sich den- daß es Zwey sey […]. Weil er [sc. der Grund] aber ein Etwas ist gegen der Einheit / welche ist als ein Nichts / und doch Alles ist / so f Fhret er sich in Begierde seiner selber ein / und begehret sich selber / und auch die Einheit / daraus er geflossen. […] Dieser ausgeflossene Wille f Fhret sich in Begierde / und die Begierde ist Magnetisch / als einziehende / und die Einheit ist ausfliessend. Jtzo ists ein Contrarium […]. Das Nichts wil aus sich / daß es offenbar sey / und das Etwas wil in sich / daß es im Nichts empfindlich sey […].75
Und prägnant heißt es an einer anderen Stelle, dass der Ungrund ein ewig Nichts sei, das aber einen ewigen [!] Anfang [machet] / als eine Sucht; Dan das Nichts ist eine Sucht nach Etwas […].76 Wille, Begierde, Sucht – indem aus diesen Impulsen die Entstehung einer Selbstempfindung und -erkenntnis Gottes wird, kann die Paradoxie des Anfangs im Blick auf die entfaltete Wirkung übersprungen werden. Im Nachvollzug dieser Denkfigur werden zugleich zwei grundsätzliche Schwierigkeiten im Prozess der Theogonie beseitigt: Vermieden wird ein dualistischer Ansatz (der Willensimpuls kommt nicht aus einem Gott fremden Prinzip77) und jeder zeitliche Index, da es sich um einen Zustand des „ewigen Anfangs“ im unbestimmten Absoluten, eben dem Ungrund handelt.78 Wie sich diese Selbstentfaltung des Willens genau vollzieht, muss hier nicht im Einzelnen gezeigt werden; in den Schriften Böhmes wird er als ein Kampf der göttlichen Prädikate ausgemalt.79
74 Dazu ausführlich Heinz R. Schmitz, „L’âme et l’Ungrund“, in: Revue Thomiste, 84/1976, S. 208 – 234 (und Annexe, S. 234 – 242). 75 Quæstiones Theosophicæ, in: TR II, 3587 – 3640, hier III, 6, 7, 9 (TR II, 3593). 76 Mysterium Pansophicum, in: TR I, 1581 – 1592, hier 1 (TR I, 1581). 77 Vgl. Schoeller Reisch, Enthçhter Gott – vertiefter Mensch (Anm. 73), S. 223. 78 Vgl. hierzu Reiner Heinze, Das Verhltnis von Mystik und Spekulation bei Jakob Bçhme, Diss. Münster 1972, S. 124 f. 79 Eine Übersicht bei Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendlndischer Spiritualitt in Antike, Mittelalter und Frher Neuzeit, Frankfurt/M. 1998, S. 193 – 204 sowie Karin Schuff, „Zahlenkomposition und prophetisches Selbstverständnis. Die Komposition der Vorrede zu Jakob Böhmes Morgen-Roete im Aufgangk“, in: Daphnis, 31/2002, S. 491 – 528, bes. S. 494 – 500 (mit Hinweisen zu den Illustrationen in den frühen Böhme-Ausgaben).
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Zwei Beobachtungen bleiben noch anzufügen. Zum einen integriert Böhme in den Vorgang der Gottesgeburt Elemente christlicher Lehre, die Personen der Trinität werden als Mittler zwischen dem Ungrund und der Schöpfung gedacht. Ihre Wirksamkeit wird – was als besonders anstößig empfunden werden musste – im Rahmen einer paracelsischen Signaturenwelt erklärt, die zugleich das gr =ste Arcanum bildet, welches nur in gleichnishafter Rede aufzuschließen ist. Gott wäre nicht offenbar, ohne daß ein Bewegen und Spiel in Ihme sey / da die Kr (ften mit einander spielen / und sich in ihrem Liebespiel und Ringen also selber offenbaren […] in der Geburt der H. Dreyfaltigkeit […].80 An der Wechselwirkung der kosmischen Kräfte wird gezeigt, wie sich die göttliche Natur trinitarisch differenziert und so ihre Handlungsfähigkeit erweitert. Durch diese in allen Einzelheiten beschriebene Emanation wird eine Dimension der Selbstreferenz Gottes verständlich, während sich der dogmatische Gehalt der Lehre weitgehend auflöst, trotz der benutzten Formeln: Alhie kan man mit keinem Grunde sagen / daß GOtt drey Personen sey / sondern er ist dreyfaltig in seiner ewigen Geb (rung […].81 Zum anderen liefert Böhme eine Erklärung für das TheodizeeProblem, das bei der Selbstoffenbarung Gottes nicht übergangen werden kann. In seiner Intentionalität ist es nur schwer zu begreifen, weshalb nach grundsätzlichen Erklärungen, also einfachen Antworten gesucht wird: GOtt schuf aber keinen Teufel. 82 Gleichwohl muss es in dem evolutionären Prozess, wie er zuvor beschrieben wurde, eine Stelle geben, an welcher der (freie) Wille und die (negativ besetzbare) Begierde des Einen zugleich das Andere zulassen: Und darum hat Gott in der ewigen Scienz des ewigen ungr Fndlichen Willens / Engel […] aus beiden Feurn / als aus dem Feur der Natur / und aus dem Feur der Liebe 83, und damit die Voraussetzung für die Erhebung Satans geschaffen, der sich von seiner Machtgier hinreißen lässt und die gegebene Harmonie (Temperatur) 80 Von der Gnaden=Wahl, II, 30, 28 (TR II, 2423). 81 Mysterium Magnum, VII, 11 (TR II, 2746). – Die Gegner haben die Überschreitung des möglichen Interpretationsrahmens aufmerksam registriert, gerade in Fragen der Trinitätslehre; vgl. etwa Hinckelmann, Detectio Fundamenti Bçhmiani (Anm. 33), S. 7: Dahero komt weiter / daß nachdem Bçhme das ewige Ein hat als einen Willen ihm erst frgestellet / er hernach das unerforschliche Geheimnis der H. Dreyeinigkeit / solcher vorher gefaßten Meynung gemß hat mssen erklhren / von welcher Art aber die Schrifft nichts uns saget / und daher alles bloß als eine Speculation, die aus jenem Grundsatz geflossen / muß angesehen werden […]. 82 Von der Gnaden=Wahl, VI, 8 (TR II, 2463). 83 Ebd., IV, 20 (TR II, 2442).
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zerstört. Doch aus welchem Grund? Hier nimmt die Erzählung dramatische Züge an: Den- das ist Lucifers Fall / daß er mit eigenem Willen das Reich der Phantasey in seiner Creatur offenbarte / daß er den ewigen Willen aus der Temperatur in die Zertrennung / als in die Ungleichheit der Phantasey / einf Fhrte […] und m =gen nun anders nicht tuhn / als was der Phantasey Eigenschaft ist / nemlich Narrentey treiben / sich verwandeln / das Wesen zerbrechen: […] item ein Geiz zur Vielheit der Eigenschaften / ein stachlichter Neid aus dem bittern Wehe / ein Zorn aus dem Feur / ein Verzweyfeln aus der Angst. 84
Der neutestamentlichen Lehre folgend, werden Anmaßung und Verzweiflung als Ursache des Abfalls von Gott genannt und damit die Frag / in was Gestalt die verstossenen Engel gewest, ähnlich beantwortet wie in der so überschriebenen Disputationsszene zwischen Mephostophilem und dem Doktor Faustus der Historia (1587).85 Als Hauptgrund der (menschlichen) Sündhaftigkeit gilt jedoch auch bei Böhme die superbia, über deren Schilderung in Vergessenheit gerät, ob das Böse nun als eine elementare, per se bestehende Kraft zur Selbstbewusstwerdung Gottes gehört oder als Resultat einer bestimmten, aus einem Eigenwillen entspringenden Tat zu betrachten ist, die immer neue Schuld erzeugt. Wie auch immer – bemerkenswert ist die Funktion, die Böhme der Imagination in diesem Expansionsdrang der ausgestoßenen Geschöpfe zuweist;86 von der negativen, nicht mit der Einbildungskraft identischen Phantasey als einem bloßen Narrenspiel87 ist diese ebenso zu unterscheiden wie von der göttlichen Imagination, die erklärt, wie sich Ideen materialisieren und der Wille die Welt realisiert.
84 Ebd., IV, 29, 30 (TR II, 2444 f.). 85 Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (Anm. 56), S. 866, sowie den Kommentar von Jan-Dirk Müller, ebd. S. 1341. – In Kapitel 14 – 16 der Aurora wird ein Verdammungsurteil über Lucifer gesprochen, wobei sich Böhme verschiedener Gattungen bedient (Gerichtsrede, Predigt u.a.) und dabei eine anti-calvinistische Zielsetzung verfolgt, wie Andersson (Du Solst wissen [Anm. 18], S. 149 – 187) im Einzelnen zeigt. 86 Vgl. Quæstiones Theosophicæ, VI, 10 (TR II, 3604): Den- was sie [sc. wir Menschen] wollen und begehren / das wird durch ihre Imaginirung in Bilder und Formen gebracht / welche Formen eitel Idæen sind / auf Art wie sich die G =ttliche Kr (fte haben vor der Engel Sch =pfung in solche Idæen gebildet / also auch ist ihre Nachmodelung. 87 Vgl. Mysterium Magnum LXXI, 21 (TR II, 3439): als ein Spiel eines selbst=Treibens und sich selber Qu (lens.
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Imagination Bei der Beschreibung des Ungrunds ist auch das Auge erwähnt worden (siehe oben S. 110 f.), mit dem sich der noch nicht personal gedachte Gott selbst beschaut. Um mehr als nur sich selbst wahrzunehmen, muss die göttliche Weisheit ein Objekt entwerfen, das zunächst noch virtuell bleibt, den- ein Wille ist kein Wesen / aber des Willens Imaginiren machet Wesen. 88 Erst über diesen Vorgang begreift sich Gott als Subjekt, das einen Plan fasst und ein Universum kreiert, um sich selbst zu offenbaren. Mit der ebenso traditionsreichen Metapher des Spiegels wird die des Auges ergänzt und das Begehren in diesem Akt der Imagination verdeutlicht: da sich der Wille im Spigel der Weisheit erblicket / so imaginiret er aus dem Ungrunde in sich selber […].89 Die Kombination der beiden Metaphern kompliziert den von Böhme beschriebenen Bewegungsverlauf. Gott erscheint nun als spiegelndes Auge, in dem sich der gesamte Emanationsprozess vollzieht, von der ersten Willensregung über die Imagination einer Ideenwelt bis zur eigentlichen Schöpfung (und gibet ,Centrum Naturæ‘ 90): Das O ist GOttes Auge / der Ewigkeit Auge / das macht und ist ein Spigel / und ist ein runder Cirkel gleich einer Kugel […] der Æternit (t / darinnen der Grund Himmels und Erden / […] von Ewigkeit ist alles Wesen darinne gesehen worden / aber ohne Wesen / gleich als im Spigel oder im Auge […].91
Das Sphärensymbol mit seiner in sich geschlossenen Kreisstruktur verkörpert die Einheit und zugleich einen inneren Gegensatz – zwei göttliche Augen spiegeln sich ineinander –, das heißt jene beiden Pole 88 Von der Menschwerdung Jesu Christi, in: TR I, 1289 – 1492, hier 2. Teil, II, 4 (TR I, 1402). 89 Ebd., II, 1 (TR I, 1401). 90 Psychologia vera, in: TR I, 1129 – 1288, hier I, 26 (TR I, 1136). 91 Ebd., I, 17, 18 (TR I, 1134). – Hinweise zu der verwendeten Metaphorik im Blick auf die mittelalterliche Tradition bei Gudrun Schleusener-Eichholz, „Die Bedeutung des Auges bei Jacob Böhme“, in: Frhmittelalterliche Studien, 6/1972, S. 461 – 492; in einem erweiterten Kontext kommentiert die Stelle Hans Leisegang, „Die Erkenntnis Gottes im Spiegel der Seele und der Natur“, in: Zeitschrift fr philosophische Forschung, 4/1949, S. 161 – 183, bes. S. 170. – Zu den zeitgenössischen Illustrationen vgl. Lottlisa Behling, „Rembrandts sog. ,Dr. Faustus‘, Johann Baptista Portas Magia naturalis und Jacob Böhme“, in: Oud Holland. Tijdschrift voor Nederlandse Kunstgeschiedenis, 79/1964, S. 49 – 77, bes. S. 69 – 74; Christoph Geissmar, Das Auge Gottes. Bilder zu Jakob Bçhme, Wiesbaden 1993 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 23).
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von intelligiblem Ursprung und Sein (Licht und Finsternis, Liebe und Natur etc.), die den Primärprozess bewegen.92 Jedenfalls können die Kreaturen über die ihnen mitgegebene Kraft der Imagination nicht nur das Sündige wollen, sondern auch wieder ins Wort / als in seines Licht=flammenden Herzens Centrum, eingehen […].93 Da diese Imaginationslehre nicht nur vor den trügerischen und schädlichen Einbildungen warnt, dient sie einer grundsätzlichen Reflexion über die bildliche Gestaltung von Abstraktem und ergänzt damit die Zeichentheorie der Natursprache. Zu erwähnen bleibt noch der Kontext, in dem Böhme seine Überlegungen zur Metaphorik von Auge und Spiegel, Licht und Finsternis entwickelt und auf das Vermögen der Imagination bezogen hat. In Valentin Weigels Der gldene Griff wird die Jmaginatio ebenfalls aus zwei Blickrichtungen beschrieben, nämlich Vihisch vnd menschlich, je nach der Stellung zur Vernunft: Das auge der sinnen, oder des fleisches ist das vnterste, wirdt beschlossen vnnd begriffen von der imagination. Vnnd dieweil imaginatio Jnwendig ist, so ist sie auch edtler vnnd wirdiger […]. Dan das obere auge vermag viel, das dem vntern auge vnmoglich ist zu thun. Jtem Mercke auch diese regel: Vnitas omnis est in sua Alteritate, Ceu lux in tenebris, et omnis alteritas est in sua Vnitate Ceu tenebrae in luce. Das ist, die eynigkeit Als das Jnnerste auge ist in dem gezweyten als in seynem vntersten auge, gleich wie ein Licht in der finsternis. 94
Weigel hat diesem Merksatz die graphische Figur einer Doppelpyramide zur Erläuterung beigegeben, in der sich zwei Dreiecke vertikal durchdringen und die Polarität der Seinsstufen andeuten.95 Mit den Begriffen von unitas und alteritas hat er dabei ein von Nicolaus Cusanus geprägtes metaphysisches Gegensatzpaar übernommen, um die Gespaltenheit der Schöpfung zu beschreiben und zugleich die dem Menschen verbliebenen Erkenntnisinstanzen zu erklären.96 Böhme dürfte sich an diesem 92 Ob bei dem Bild der abgeschlossenen Kugel (,orbis absolutus‘) nach lato sensu neuplatonischen Einflüssen zu fragen ist, muss hier offenbleiben, Hinweise gibt Dietrich Mahnke, Unendliche Sphre und Allmittelpunkt. Beitrge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle/S. 1937 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe 23), S. 192 f. 93 Vom Dreyfachen Leben des Menschen, III, 49 (TR I, 861). 94 Weigel, Der gldene Griff (Anm. 15), S. 34 und 30 f. 95 Vgl. ebd. die Abbildungen 14 und 15, S. 32. 96 Vgl. Stephan Meier-Oeser, Die Prsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989 (Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft 10), S. 145 f.
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Modell und damit letztlich an der cusanischen figura paradigmatica orientiert haben, auf die auch in anderen Texten der Zeit angespielt wird.97 Auch die Metapher des göttlichen Auges findet sich bei Weigel vorgeprägt, der den Schöpfer zunächst alle Dinge in sich selber von Jnnen sehen lässt, ehe sie herfur kommen, woran der gottebenbildliche Mensch noch in seinem erkennen / vnnd […] vrteylen 98 teilhat – durch die Imagination. Böhme hat diese Partizipation ähnlich gefasst, dabei aber den ursprünglichen Akt der göttlichen Imagination deutlicher rezeptiv, nämlich als Spiegelung interpretiert (siehe oben S. 115), womit sich erneut Übereinstimmungen mit Nicolaus Cusanus ergeben, für den in eben diesem Motiv greifbar wird, „wie das Hervorgehen des Vielen aus dem Einen und wie der unmittelbare Rückbezug der Welt auf ihren göttlichen Grund zu verstehen ist“.99 Damit ist abschließend noch einmal nach der Vorgeschichte der Böhmeschen Lehren100 und dem „Gewebe“ (Ohly) von Theorien zu fragen, aus denen diese hervorgegangen sind. Das kann nur kurz und andeutungsweise geschehen; der anschließende Blick auf die literarische Rezeption im 17. Jahrhundert – für die Daniel Czepko ein Beispiel liefern soll – ist nicht mehr als ein Versprechen künftiger Untersuchungen.
97 Vgl. János Bruckner, „Angelus Silesius und Nikolaus von Kues: Kusanisches im ,Cherubinischen Wandersmann‘“, in: Euphorion, 64/1970, S. 143 – 166, bes. S. 145. 98 Weigel, Der gldene Griff (Anm. 15), S. 83. 99 Niklaus Largier, „Kontextualisierung als Interpretation. Gottesgeburt und ,speculatio‘ im ,Paradisus anime intelligentis‘“, in: Andreas Speer/Lydia Wegener (Hrsg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin – New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 298 – 313, hier S. 307. 100 Joachim Telle hat mich darauf hingewiesen (Brief vom 06. Okt. 2006), dass hier kein Weg an den noch unerschlossenen theoalchemischen Schriften der Zeit – etwa zur Schöpfungslehre – vorbeiführt. Zur Beantwortung der Frage halte ich jedoch zugleich an einer Betrachtung der (spät-)mittelalterlichen mystischen Traditionen fest; für ihre Gesprächsbereitschaft (inner- und außerhalb der Villa Vigoni) danke ich hier Burkhard Hasebrink, Susanne Köbele, Niklaus Largier und Bruno Quast.
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III. Konstellationen Gegner wie Anhänger des nachreformatorischen Spiritualismus waren sich einig, wie die Frage nach den Quellen der Schriften Weigels oder Böhmes zu beantworten sei. Wo die Orientierung am Schriftprinzip zu fehlen schien, wurde von der lutherischen Orthodoxie auff Dionysium vnd Taulerum“ und die Deutsche Theologiam als den neuen Apostel[n] der platonisch-mystischen Bewegung geschlossen, deren Irrtümer man dann umstandslos dem alten Papstthumb 101 zurechnete. Dabei konnte die Theologia Mystica unter denen Papisten auch auf arabische Einflüsse zurückgeführt werden – Avicennas Mysteria Philosophiæ Orientalis 102 –, die auf dem Weg über Spanien in die kirchliche Lehre eingedrungen seien. Umgekehrt wurde von den Anhängern Böhmes mit Respekt auf die Alten / als Meister Eckhart / Taulerus […] Reißbruch / Henrich Seuse hingewiesen, deren Werke zwar nur eine Vorbereitung böten, aber in ihrer Art doch sehr Edel / und den lernenden fast notwendig 103 seien, um in die Theosophie eingeführt zu werden. Bei dieser Herleitung ist es geblieben. Dass viele der Leitgedanken und sprachlichen Formeln Böhmes auf die mittelalterliche Mystik zurückzuführen sind, wird als evident104 betrachtet, obwohl kein direkter Beleg für eine solche Verbindung anzuführen ist.105 Solange die Erforschung der Eckhart-Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert ein De101 Johann Schelhammer, Widerlegung Der vermeynten Postill Valentini Weigelij: In welcher der Satan / in diesem letzten Seculo, seine Hellische Gifft vnd Grundsuppe aller Lesterung vnd Lgen […] außgeschttet hat, Hamburg 1621, S. 173: da es kçstlich Ding / vnd die grçste Heiligkeit gewesen ist / mentiren, contempliren. Das ist: Gçttliche Ding / ohne Gottes Wort beschawen wollen. 102 Hinckelmann, Detectio Fundamenti Bçhmiani (Anm. 33), S. 104 f. 103 Johann Theodor von Tschesch, Einleitung in dem Edlen Lielien=Zweig des Grundes und der Erkntniß der Schrifften des Hocherleuchten Jacob Bçhmens […] [1641], Amsterdam 1679, S. 60. 104 Das gilt für die ältere wie die jüngere Forschung. Vgl. Heinrich Bornkamm, Luther und Bçhme, Bonn 1925 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 2), S. 79, passim, und Felix Voigt, „Beiträge zum Verständnis Jakob Böhmes. Vom Wesen seiner Persönlichkeit und seiner Gedankenwelt“, in: Richard Jecht (Hrsg.), Jakob Bçhme. Gedenkgabe der Stadt Gçrlitz zu seinem 300jhrigen Todestage, Görlitz 1925, S. 77 – 129, bes. S. 123; neuerdings Massimo Luigi Bianchi, „Autorivelazione divina e superamento della Selbheit in Jacob Böhme“, in: Bruniana & Campanelliana, 6/2000, S. 469 – 502, bes. S. 474 f.: „L’Ungrund di Böhme può certamente accostarsi alla divinitas (o gotheit) eckhartiana […].“ 105 Peter Schäublin, Zur Sprache Jakob Boehmes, Winterthur 1963, S. 194; Heinze, Das Verhltnis von Mystik und Spekulation (Anm. 78), S. 143.
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siderat106 ist, wird diese Frage wohl nicht zu entscheiden sein. Dabei spricht einiges dafür, Böhmes metaphorische Sprachverwendung auf die mittelalterliche Mystik zu beziehen, wie sich an den Bildern von ,Spiegel‘ und ,Auge‘ oder ,Kugel‘, vor allem aber an der Metaphorik von ,Grund‘, ,Abgrund‘ und ,Ungrund‘ zeigen ließe, mit der die Willensbewegung im ewigen Anfang der Sucht beschrieben wird, wo sich der Abgrund besihet / und also in sich eine Form machet / gleich einer Kugel: dan das Auge findet keinen Grund / es schleust sich selber als wie in einen Spigel zu einer runden Kugel; daß es also der Ewigkeit Gleichniß sey / daß es sich kann selber finden / dan im Abgrunde ist kein Finden / dan es ist kein Ort oder Ziel / sondern nur der Ungrund […].107
Bezeichnend ist, dass die grunt-Metapher bei Eckhart ein „exklusives Merkmal der volkssprachlichen Predigten“108 ist, die lateinischen Äquivalente verlieren ihr gegenüber an Anschaulichkeit. Das gilt auch für die synonym gebrauchte abgrunt-Metapher (abgrndicheit): „Gott ist absolut transzendent (nichts von allem) und muß trotzdem zugleich in allem als dessen Grund gedacht werden: Das Bild vom ,grundlosen Grund‘ (Abgrund) realisiert diese Paradoxie.“109 Es ist der dreieinige Gott, wie Heinrich Seuse in seinem die Lehre Eckharts rechtfertigenden Buch der Wahrheit ausdrücklich festhält: Daz ist dffl natur und daz wesen der gotheit. Und in disem grundelosen abgrfflnde siget dffl driheit der personen in ire einikeit, und ellffl mengi wirt da ir selbs entsetzet in etlicher wise. Da ist >ch nach diser wise ze nemenne nfflt fr Ðmdes werkes denne ein stillffl inswebende dfflnsterheit. 110
Bei Böhme gibt es indes noch einen anderen, deutlich nachreformatorischen Abgrund: den des Gewissens und der Sündhaftigkeit, der Angst vor der Realität des Bösen (korreliert mit dem Wunsch nach Buße) und einer Begierde, im Glauben wiedergeboren zu werden durch die Vereinigung mit Christus: Was darf den- die Sele sich anderst wohin
106 Vgl. Niklaus Largier, „Meister Eckhart. Perspektiven der Forschung, 1980 – 1993“, in: Zeitschrift fr Deutsche Philologie, 114/1995, S. 29 – 98, bes. S. 50. 107 Psychologia vera, I, 20 (TR I, 1135). 108 Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen – Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 176. 109 Ebd., S. 188. 110 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit, hrsg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 458), S. 10.
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schwingen / GOtt zu h =ren / als nur eben in ihren Abgrund? 111 Daniel Czepko hat diese Selbstbezüglichkeit in einem Brief noch unverhüllter zum Ausdruck gebracht: Dann, wann auch das geringste [sc. der Geschöpfe] mçchte suchen den Abgrund des hçchsten Wesens, aus dem es kommen ist: […] findet doch nichts als sich. 112 Die starke Betonung des Willens auf der Seite Gottes wie auf der Seite des Geschöpfes scheint eine Differenz gegenüber der mittelalterlichen Mystik zu markieren.113 Solche Abweichungen setzen Kenntnisse voraus; doch welche Traditionslinien sind hier auszuziehen? Im Überlieferungskontext der Schriften Eckharts und Taulers ist auf die Theologia Deutsch aus dem 14. Jahrhundert zu verweisen, die zwar Demut und Unterordnung unter den Willen Gottes lehrt, den Begriff dabei aber neu akzentuiert. Durch die Luther-Drucke aus den Jahren 1516 und 1518 oder eine der späteren Ausgaben – der Text wurde 1571 von Weigel und 1597 von Johann Arndt ediert, Weigel hat immer wieder Motive des Franckforters aufgegriffen114 – dürfte Böhme die Theologia Deutsch kennengelernt haben, wo es heißt: Hie sal man aber etwas mercken vnd besundern von dem willen. Der ewige wille, der yn got orsprunglich vnd weßenlich ist vnde an alle werck vnd wircklikeit, der selb
111 Von der Gnaden=Wahl, XII, 16 (TR II, 2586). – Vgl. hierzu Günther Graf zu Solms-Rödelheim, Die Grundvorstellungen Jacob Bçhmes und ihre Terminologie, Diss. München 1960, S. 123 f. 112 Brief vom 7. Sept. 1631 an Friedrich Geisler; in: Daniel Czepko, Smtliche Werke, Bd. VI: Briefwechsel und Dokumente zu Leben und Werk, hrsg. von HansGert Roloff und Marian Szyrocki, bearbeitet von Lothar Mundt und Ulrich Seelbach, Berlin – New York 1995 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis VIII. Jahrhunderts), S. 45. 113 Gleichwohl ist auch bei Eckart auf eine entwickelte Willenslehre zu verweisen: Der mensche, der […] stt in dem willen gotes, der enwil niht anders, dan daz got ist und daz gotes wille ist. (Predigt 12: Qui audit me, in: Meister Eckhart, Werke I, hrsg. von Niklaus Largier, Frankfurt/M. 1993 [Bibliothek deutscher Klassiker 91, Bibliothek des Mittelalters 20], S. 148.) Zur eigenwilligen Deutung der dritten Paternosterbitte bei Eckhart (daz mn wille sn wille werde) vgl. Susanne Köbele, „Primo aspectu monstruosa. Schriftauslegung bei Meister Eckhart“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 122/1993, S. 62 – 81. 114 Vgl. Andrew Weeks, Valentin Weigel (1533 – 1588). German Religious Dissenter, Speculative Theorist, and Advocate of Tolerance, Albany 2000, bes. S. 44 – 57. – Zur Bedeutung Weigels für Böhme bereits Julius Otto Opel, Valentin Weigel. Ein Beitrag zur Literatur= und Culturgeschichte Deutschlands im 17. Jahrhundert. Leipzig 1864, S. 233 – 252.
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wille ist yn dem menschen ader yn der creatur wircklich vnd wollende, wan dem willen gehoret czu vnde ist seyn eygen, das er wollen sal. 115
Das Verhältnis des Schöpfers zu seinen Kreaturen ist für den Franckforter eyn weßen yn got, ja sogar eyn weßen vnd eyn vrsprung vnd nicht werck,116 aber kein Prozess, wie ihn Böhme in seiner Theogonie gestaltet. In der Theologia Deutsch ist es der Wille des Menschen, der die Vereinigung mit Gott verhindert: Nu kumpt der tufel vnd Adam, das ist die falsch natur, vnd nympt dissen willen an sich vnd macht yn yr eigen vnnd nutzet yn czu yr selber, czu dem yren. 117 Erklärt wird das schwierige Verhältnis von Freiheit, Eigenwillen und Bestimmtheit durch Gott mit dem traditionsreichen Bild des geistigen und weltlichen Auges: Man sal mercken, das man lißet vnd spricht, die sele Cristi hette czwei augen: eyn recht auge vnd eyn linck auge. In dem anbegynne, do sie geschaffen wart, kert sie das recht auge yn die ewikeit vnnd yn die gotheit […]. Mit dem lincken auge sach sie yn die creatur vnd erkant do vnnd n (m do vnderscheid […]. Nu hat die geschaffen sele des menschen auch czwei augen. Das eyn ist muglicheit zu sehen yn die ewikeit, das ander zu sehen yn die czeit […], ßo muß das recht auge gehindert werde an seynen werck, das ist an seyner beschaubunge. 118 115 ,Der Franckforter‘, ,Theologia Deutsch‘. Kritische Textausgabe, hrsg. von Wolfgang von Hinten, München 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 78), S. 144. – Vgl. hierzu Bornkamm, Luther und Bçhme (Anm. 104), S. 99, sowie Ludwig Völker, „,Gelassenheit‘. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme“, in: Franz Hundsnurscher/Ulrich Müller (Hrsg.), ,Getempert und gemischet‘. FS Wolfgang Mohr, Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 65), S. 281 – 312, bes. S. 292. 116 ,Theologia Deutsch‘ (Anm. 115), S. 116. Zu dem Text vgl. auch die gründliche Untersuchung von Andreas Zecherle, „Die ,Theologia Deutsch‘. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat“, in: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hrsg.), Gottes Nhe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 36), S. 1 – 95. 117 Ebd., S. 145. – Die hier nur angedeuteten Aspekte der Willenslehre behandelt ausführlicher Elisabetta Zambruno, „Abbandono di Dio e ritorno a Lui. Intorno al problema del male nella Theologia Deutsch“, in: Scuola Cattolica, 122/ 1994, S. 289 – 329. 118 ,Theologia Deutsch‘ (Anm. 115), S. 77 – 79. Vgl. hierzu Elisabetta Zambruno, La ,Theologia Deutsch‘ o la via per giungere a Dio. Antropologia e simbolismo teologico, 2. Auflage, Milano 1991, S. 74 – 79; ferner Hanns-Peter Neumann, Natura sagax – Die geistige Natur. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frhen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 94), S. 238 f. Das Bild ist auch von Angelus Silesius – vermutlich nach dem Vorbild der Theologia Deutsch – gestaltet worden; vgl. Louise Gnädinger, „Die speku-
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Die christologische Perspektive unterscheidet dieses Bild von den zwei Augen von der älteren Mystik, die Problematik von Sünde und Rechtfertigung tritt damit in den Vordergrund.119 Die Stellung des Menschen zwischen Eigenwille und Sünde, Ewigkeit und Zeit hat Böhme in dasselbe Bild gefasst und damit die alltagsweltliche, auf Erbauung und Handeln gerichtete Vorgabe des Traktats übernommen: Du hast in deiner Selen zwey Augen / die sind r Fcklich aneinander gesetzt / eines sihet in die Ewigkeit / und das ander hintersich in die Natur […]. Las den Teufel hinter dir f Frm linken Auge herrauschen / er kan nicht hinein / du l (ssest dan dem Auge zu / daß es Materiam einnehme. […] der alte Adam weis das nicht / er sihet das nicht / sondern der neue Mensch in GOtt geboren. 120
So wie Böhme im Sinnbildungshorizont der neuplatonischen und spiritualistischen Bewegungen des Spätmittelalters und der Reformationszeit dachte und schrieb, hat er zugleich an der religiösen Wirklichkeitskonstitution seiner Zeit mitgewirkt. Die Metaphorik und Begrifflichkeit seiner Schriften faszinierte die Zeitgenossen, in gesteigerter Form erscheint sie wieder in den der argutia verpflichteten Epigrammen121 Daniel Czepkos: Ursprung. Der Abgrund ist das Nicht. Das Nicht ist dann die Sucht, Draus kam die Welt und ich: Gott hat es bloß vermocht.
In der Consolatio ad Baronissam Cziganeam (1633) hat Czepko die Theogonie Böhmes eingehender reflektiert und die Deutung des Un-
lative Mystik im Cherubinischen Wandersmann des Johannes Angelus Silesius. Teil I“, in: studi germanici, nuova serie 4/1966, S. 29 – 59, bes. S. 52 f. 119 Vgl. Alois Haas, „Die ,Theologia Deutsch‘. Konstitution eines mystologischen Texts“, in: Freiburger Zeitschrift fr Philosophie und Theologie, 25/1978, S. 303 – 350, bes. S. 335 f. 120 Psychologia vera XII, 13, 16, 20 (TR I, 1203 f.). 121 Daniel Czepko, Smtliche Werke, Bd. I/2: Lyrik in Zyklen, hrsg. von Hans-Gert Roloff und Marian Szyrocki, Berlin – New York 1989 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis VIII. Jahrhunderts 131), S. 663. Weitere Beispiele zitiert und kommentiert Ferdinand van Ingen, „Jacob Böhme und die schlesischen Dichter Daniel von Czepko, Johannes Scheffler und Quirinus Kuhlmann“, in: Hartmut Laufhütte/Michael Titzmann (Hrsg.), Heterodoxie in der Frhen Neuzeit, Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 117), S. 243 – 265, bes. S. 252 – 254.
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grunds122 in einer in Prosa abgefassten, gleichwohl hymnischen Beschreibung des göttlichen Nichts zusammengefasst, deren sprachliche Faktur auf einen künstlerischen Anspruch hindeutet: Und also kommen wir auf nichts. Dann ausser allem ist nichts, weil alle Sachen und Dinge dis ist, was die Natur beschleust. Alles schleust in sich die Natur, als eine eintzige Enthltns aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge und Wesen. Was nun ausser den Dingen ist und ausser dem Wesen, das ist ausser der Natur. Denn es ist ausser allen und ist nichts. Aber ein solches nicht, das doch etwas, ich weiß nicht was, sol und muß genennet werden. […] Also muß ausser der Natur und Ewigkeit, die alles beschleust, und beschliesse sie nicht alles, wre sie nicht die Ewigkeit, nichts seyn, und das ist weder etwas noch Gott selbst, dann wre auch diese nicht in der Ewigkeit, so wre die Ewigkeit nicht: denn es muß ausser ihr seyn, weil nichts uber alles ist. Ein solches nicht, das nicht zu gedencken, ausser dem einen, in dem einen, und durch das eine. Frey auf nichts, und nichts auf ihm. Das ausser allem, was die ewige Natur ist, bestehet und ist nichts. Gegen diesem Nicht nun ist die Natur und Ewigkeit nichts als eine Mcke, die auf dem obersten Stern des Himmels sitzt. 123
Die Häufung der negativen Prädikate und die provozierenden, das Unbegreifliche umkreisenden Paradoxa gehören in die Tradition der negativen Theologie und Mystik, also zur religiösen Kommunikation; die subtile Steigerung, der rhetorische Effekt, das geistreiche Vexierspiel mit dem theologisch nicht unbedenklichen nihil 124 und die Ästhetik des Epigramms zeigen jedoch zugleich, welche Bedeutung dem nachreformatorischen Spiritualismus und damit den Schriften Böhmes für die literarische Kommunikation in der Frühen Neuzeit zukam.
122 Vgl. Theodor C. van Stockum, Zwischen Jakob Bçhme und Johann Scheffler: Abraham von Franckenberg (1593 – 1652) und Daniel Czepko von Reigersfeld (1605 – 1660), Amsterdam 1967 (Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen Afd. Letterkunde 30/1), S. 12. 123 Daniel Czepko, Smtliche Werke, Bd. V/2: Prosa-Schriften, hrsg. von Hans-Gert Roloff und Marian Szyrocki, Berlin – New York 1992 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis VIII. Jahrhunderts 141), S. 207 f. – Zu diesem Text aus einer anderen Perspektive Niklaus Largier, „Die Mitte der Zeit. Apokatastasis als Naturerfahrung in Daniel Czepko’s ,Consolatio ad Baronissam Cziganeam‘“, in: Claudia Brinker-von der Heyde/Niklaus Largier (Hrsg.), Homo Medietas. Aufstze zu Religiositt, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. FS Alois Maria Haas, Bern – Berlin 1999, S. 221 – 239. 124 Vgl. hierzu Friedrich Vollhardt, „Otto von Guerickes Magdeburger Versuche über den leeren Raum: Untersuchungen zum Verhältnis von Naturerkenntnis und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Michael Schilling/Gunter Schandera (Hrsg.), Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raums, Magdeburg 1999, S. 165 – 185, bes. S. 181 f.
Wolframs Willehalm: Poetische Verfahren als Reflexion des Heidenkriegs Tobias Bulang und Beate Kellner I In Wolframs von Eschenbach Willehalm-Fragment werden zentrale theologische, anthropologische und politische Themen literarisch verhandelt: Bei der Darstellung des Reichs- und Glaubenskrieges, welcher durch die Verbindung des christlichen Markgrafen Willehalm mit der heidnischen Königin Arabel ausgelöst wird, verschränken sich kulturkonstitutive Semantiken des Mittelalters, jene von Gewalt und Krieg, Ritterlichkeit und Heldentum, Heiligkeit und Martyrium, Liebe zu Gott und den Menschen, in einer Weise, die in der zeitgenössischen Literatur wohl als singulär zu bezeichnen ist. Im Verlauf des Erzählens führt dies immer wieder zu unerwarteten Perspektivenwechseln und macht letztlich jede axiologische Einordnung der Figuren und Handlungen schwierig, wenn nicht unmöglich. Die Bindungen der Figuren durch Geburt, Sippe, geschlechtliche Liebe, Heirat, Verschwägerung, durch Lehnsverhältnisse und reichspolitische Verpflichtungen, durch religiösen Glauben und Kult implizieren unterschiedliche Geltungsansprüche und Handlungsappelle, welche sich gerade nicht auf einer einzigen normativen Ebene bestimmen lassen. Was auf der Ebene religiöser Zugehörigkeiten als adäquate Handlung erscheint, kann im Horizont der Sippenbindung oder der Minne in Aporien führen. Durchaus gespalten sind daher auch die Bewertungen der Figuren durch den Erzähler selbst: So wird – um nur ein Beispiel vorab anzudeuten – Gyburc als Ursache des Krieges und damit auch des Leides von Heiden und Christen exponiert (30,21 – 30), im nächsten Augenblick wird sie dagegen vom Erzähler als unschuldic entlastet (31,4). Überblickt man die Forschung zum Willehalm, wird sichtbar, dass Wolframs Epos immer wieder ideologiegeschichtlich als Zeugnis der Toleranz, als großes humanitätsgeschichtliches Dokument, ja als auf-
Reflexion des Heidenkriegs in Wolframs Willehalm
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klärerischer Text avant la lettre verstanden wurde1, als ein Text, in dem sich der Raum öffnet für die partielle Anerkennung des Anderen, des Heidnischen sowie für die Entfaltung von Individualität. Exemplarisch sei auf die breite Auseinandersetzung verwiesen, ob den Heiden in Gyburcs großer Rede im Fürstenrat der Status von Gotteskindern zugedacht werde und ob eine solche Sicht auch dem Erzähler zu unterstellen sei.2 Ausgehend von jenem berühmten Erzählerkommentar, in 1
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So etwa auf dem Umschlagstext zu Joachim Heinzles Edition im Deutschen Klassiker Verlag: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, bersetzung, Kommentar, hrsg. von Joachim Heinzle, Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9). Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Vgl. die Debatte zur Textstelle Willehalm, 307,26 – 30: Walter Johannes Schröder, „Der Toleranzgedanke und der Begriff der ,Gotteskindschaft‘ in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Günter Bellmann/Günter Eifler/Wolfgang Kleiber (Hrsg.), Festschrift fr Karl Bischoff zum 70. Geburtstag, Köln – Wien 1975, S. 400 – 415; Karl Bertau, ber Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der hçfischen Epik um 1200, München 1983, S. 102; Carl Lofmark, „Das Problem des Unglaubens im ,Willehalm‘“, in: Kurt Gärtner/Joachim Heinzle (Hrsg.), Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift fr Werner Schrçder zum 75. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 399 – 413; Fritz Peter Knapp, „Die Heiden und ihr Vater in den Versen 307,27 f. des ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 122/1993, S. 202 – 207; Rüdiger Schnell, „Die Christen und die ,Anderen‘. Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven“, in: Odilo Engels/Peter Schreiner (Hrsg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993 (Kongressakten zum Symposium des Mediävistenverbandes 4), S. 185 – 202; Joachim Heinzle, „Die Heiden als Kinder Gottes. Notiz zum ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 123/1994, S. 301 – 308; Klaus Kirchert, „Heidenkrieg und christliche Schonung des Feindes. Widersprüchliches im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach“, in: Archiv fr das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 231/1994 – 1995, S. 258 – 270; Ralf-Henning Steinmetz, „Die ungetauften Christenkinder in den ,Willehalm‘-Versen 307,26 – 30“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 124/1995, S. 151 – 162; Christoph Fasbender, „,Willehalm‘ als Programmschrift gegen die ,Kreuzzugsideologie‘ und ,Dokument der Menschlichkeit‘“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 116/1997, S. 16 – 31; Joachim Heinzle, „Noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 117/1998, S. 75 – 80; Fritz Peter Knapp, „Und noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 129/2000, S. 296 – 302; Timothy McFarland, „Giburc’s Dilemma: Parents and Children, Baptism and Salvation“, in: ders./Martin H. Jones (Hrsg.), Wolframs ,Willehalm‘. Fifteen Essays, Rochester – New York 2002, S. 121 – 144.
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dem das Abschlachten der Heiden als Sünde bezeichnet wird3, wurde dem Text – vor dem Hintergrund der Kreuzzugserfahrungen im hohen Mittelalter – ein Appell zur Versöhnung von Heiden und Christen, von Orient und Okzident unterstellt.4 Solche Lesarten laufen Gefahr, die Komplexität der literarischen Kommunikation im Blick auf theologische und ideologische Aussagen des Textes zu unterschneiden, indem etwa Figurenrede mit der Erzählerperspektive kurzgeschlossen wird oder indem Einzelaussagen zur Botschaft des Gesamttextes hypostasiert werden. Zu wenig berücksichtigt bleiben dabei häufig gerade die spezifischen Formen der Literarizität. Demgegenüber möchten wir akzentuieren: Literarische Kommunikation erschöpft sich nicht in der Illustration propositionaler Gehalte, die literarische Arbeit an der Kreuzzugsthematik entfaltet in komplexen Bildern und Bildfeldern sowie im Schnittfeld verschiedener Diskurse vielmehr Eigendynamiken, die sich nicht umstandslos mit eindeutigen Appellen verrechnen lassen. Zu berücksichtigen ist stets die Vielschichtigkeit und damit auch die Widersprüchlichkeit der Semantiken und Strukturen, welche die kulturellen Dichotomien des Textes konstituieren: Gerade bei Wolfram werden daraus – so scheint uns – gezielt eingesetzte poetische Verfahren, die wir im Folgenden induktiv erschließen wollen. Auf semantischer und struktureller Ebene sollen hier insbesondere die paradigmatischen Relationen fokussiert werden, das dichte Geflecht von ana- und kataphorischen Verweisen, welches die Figuren und ihre Beziehungsgeflechte intratextuell, aber auch im Horizont weit gespannter intertextueller Netze immer wieder neu perspektiviert.5 Über die Paradigmatik wird jenseits des Syntagmas eine Vertikale der Reflexion im Willehalm erzeugt, welche durch eine hohe Verdichtung von 3 4
5
Willehalm, 450,15 – 20: die nie toufes knde j enpfiengen, ist daz snde? j daz man die sluoc alsam ein vihe, j grzer snde ich drumbe gihe: j ez ist gar gotes hantgett, j zwuo und sibenzec sprche, die er ht. An dieser Stelle sei nur verwiesen auf die in der Forschung lange Zeit maßgebliche Interpretation von Karl Bertau, „Das Recht des Andern. Über den Ursprung der Vorstellung von einer Schonung der Irrgläubigen bei Wolfram von Eschenbach“ (1980), wieder in: ders., Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche ber Subjektivitt und Ursprnglichkeit in der Geschichte, München 1983, S. 241 – 258. Zur Erzähltechnik des Paradigmatischen, durch die, wie wir akzentuieren möchten, Parzival und Willehalm eng verbunden sind, vgl. Rainer Warning, „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“, in: Romanistisches Jahrbuch, 52/2001, S. 176 – 209.
Reflexion des Heidenkriegs in Wolframs Willehalm
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Semantiken und Strukturen und damit durch besondere Intensität gekennzeichnet ist. Im komplexen Wechselspiel von histoire und discours werden das Erzählte und Kommentierte immer wieder relativiert, bisweilen sogar revidiert.6 Indem sich verschiedene Semantiken und Strukturen überlagern, was gattungsgeschichtlich auch den hybriden Status des Willehalm zwischen Heldenepik, höfischem Roman und Legende bedingt7, verlieren die jeweiligen Aussagen auf der Ebene der Handlung wie auch auf der des Erzählers ihre Eindeutigkeit. 6
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Profitiert haben unsere Analysen vor allem von folgenden Arbeiten: Joachim Bumke, Wolframs ,Willehalm‘. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Bltezeit, Heidelberg 1959 (Germanische Bibliothek, Reihe 3: Untersuchungen und Einzeldarstellungen); Kurt Ruh, Hçfische Epik des deutschen Mittelalters, Teil 2, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 154 – 195; Bertau, „Das Recht des Andern“ (Anm. 4); Werner Schröder, Wolfram von Eschenbach. Spuren, Werke, Wirkungen. Kleinere Schriften 1956 – 1987, 2 Bde., Bd. 1: Wolfram von Eschenbach. Spuren und Werke, Stuttgart 1989, S. 251 – 499; Christian Kiening, „Umgang mit dem Fremden. Die Erfahrung des ,Französischen‘ in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Wolfram-Studien, 11/1989, S. 65 – 85; Heinzle, Kommentar (Anm. 1); Christian Kiening, Reflexion – Narration. Wege zum ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 1991 (Hermaea N.F. 63); Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfngen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Auflage, Darmstadt 1992, S. 179 – 196; Peter Strohschneider, „Kreuzzugslegitimität – Schonungsgebot – Selbstreflexivität. Über die Begegnung mit dem fremden Heiden im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach“, in: Stefan Grimm/Dieter Zerlin (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart. Acta Hohenschwangau 1991, München 1992, S. 23 – 42; Christoph Cormeau, „,Ist mich von Kareln uf erborn daz ich sus vil han verlorn?‘ Sinnkonstitutionen aus dem innerliterarischen Dialog im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach“, in: Gerhard Hahn/Hedda Ragotzky (Hrsg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 72 – 85; Burghart Wachinger, „Schichten der Ethik in Wolframs Willehalm“, in: Michael S. Batts (Hrsg.), Alte Welten – Neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung fr germanische Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 1: Plenarvortrge, Tübingen 1996, S. 49 – 59; Christoph A. Kleppel, ,vremder bluomen underscheit‘. Erzhlen von Fremdem in Wolframs ,Willehalm‘, Frankfurt/M. [u.a.] 1996 (Mikrokosmos 45); Stephan Fuchs, Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beitrge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frhen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), S. 237 – 366; Christian Kiening, „Wolframs politische Anthropologie im ,Willehalm‘“, in: Wolfram-Studien, 17/2002, S. 246 – 275. Ob der von Franziska Wessel-Fleinghaus verwendete Terminus Problemlegende passend ist, erscheint uns fraglich; vgl. Franziska Wessel-Fleinghaus, „,Gotes handgetat‘. Zur Deutung von Wolframs ,Willehalm‘ unter dem Aspekt der Gattungsfrage“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 33/1992, S. 29 – 100; vgl.
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Die skizzierten Dynamiken resultieren aus jener spannungsreichen Engführung von Formen religiöser und literarischer Kommunikation, wie sie bereits der Prolog entfaltet. Jener beginnt mit einem Gebet an die Trinität (1,1 ff.), ruft den Helden und Ritter Willehalm dann als Heiligen an und zielt damit auf die literarische Gestaltung einer Legende (2,23 – 4,18). Doch bezieht er zugleich problemgenerierende Impulse aus der Prologtopik und den Verfasserstilisierungen der epischen Tradition. Immer wieder schieben sich literarische und religiöse Dimensionen ineinander: So wird die Wendung gegen Buchgelehrsamkeit, die sich in Wolframs Parzival noch im Sinne einer Stilisierung zum ritterlichen illitteratus findet, hier auf die religiöse Thematik hin dimensioniert (2,18 – 27). Das Erzählen wird – im Modus des Gebetes – über göttliche Inspiration legitimiert, wodurch sich nicht zuletzt topische Verweise auf vorgängige literarische Quellen über Transzendenzbezüge suspendieren lassen. Gleichwohl kommt im hochkomplexen Begriff des sin nicht nur die Bedürftigkeit des Menschen nach göttlicher Hilfe (2,23 – 27), seine Fähigkeit, Gott in Schöpfung und Schrift zu erkennen (2,18) sowie seine Kraft zum religiösen Glauben (1,25) zum Ausdruck, sondern der sin wird als eigentliche Bedingung der Möglichkeit von Kunst jenseits der Buchgelehrsamkeit zur spezifisch menschlichen, ingeniösen, poetischen Kategorie stilisiert (2,19 – 22).8 Vielschichtig werden religiöse Kommunikationsmuster, wie in der Forschung wiederholt herausgestellt, solchermaßen mit literarischer Programmatik verschränkt, um einen Ausschnitt aus dem Leben des Ritterheiligen Willehalm erzählen zu können.9 Die Vorstellung einer Dichotomie von
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dazu auch Annette Gerok-Reiter, „Die Hölle auf Erden. Überlegungen zum Verhältnis von Weltlichem und Geistlichem in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 171 – 194. Vgl. dazu bereits Haug, Literaturtheorie (Anm. 6), bes. S. 190, differenziert auch Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 49 f., 56 – 59. Friedrich Ohly, „Wolframs Gebet an den heiligen Geist im Eingang des ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 91/1961 – 1962, S. 1 – 37; Werner Schröder, „,minne und ander klage‘. Zu ,Willehalm‘ 4,26“ [1964], wieder in: ders., Wolfram von Eschenbach. Spuren und Werke (Anm. 6), S. 306 – 319; Ingrid Ochs, Wolframs ,Willehalm‘-Eingang im Lichte der frhmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung, München 1968 (Medium aevum 14); Barbara Haupt, „Rollenspiel im Prolog des ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach“, in: Euphorion, 75/1981, S. 29 – 49; Eckart Conrad Lutz, Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin – New York 1984 (Quellen und Forschung zur Sprach- und Kultur-
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Weltlichem und Geistlichem respektive literarischer und religiöser Kommunikation wird gerade durch einen Text wie Wolframs Willehalm unterlaufen. Was sich im Prolog als Effekt einer komplexen Überlagerung religiöser und literarischer Kommunikationsformen beschreiben lässt, wird im Roman auch auf der Ebene der Figuren- und Handlungsdarstellung fortgeführt. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf diese Ebene und wollen dabei insbesondere zeigen, durch welche poetischen Verfahren sich Semantiken und Strukturen verschränken und wie durch dieses Ineinander die verschiedenen kulturkonstitutiven Dichotomien des Textes in ihrer vorgeblichen Fraglosigkeit unterwandert werden. Wir analysieren hier zunächst die Mikrostrukturen des Textes, die narrative Organisation der Semantiken, um unsere Problemstellung dann in einem zweiten Schritt auf der Ebene der Makrostrukturen zu perspektivieren.10
II Ein auffälliges Textmuster, das wir zunächst in den Blick nehmen möchten, bildet die paradigmatische Reihe von Einzelkämpfen zwischen Christen und Heiden, welche der Erzähler inmitten der Massenschlacht wiederholt fokussiert.11 Die Reihung der Zweikämpfe ermöglicht es, Entwürfe von Minnerittertum, Rache und Glaubenskrieg immer wieder neu zu arrangieren und dadurch aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtbar zu machen. Damit werden die verschiedenen den Kampf legitimierenden Ideologien und ihre Semantiken auf komplexe Weise variiert. In paradigmatischer Erzählweise wird die Tragweite von Minnerittertum, von Kreuzzugsideologie und Rachegeschichte der germanischen Völker 82), S. 311 – 351; Haug, Literaturtheorie (Anm. 6), S. 184 – 193; Walter Röll, „Zum Prolog von Wolframs ,Willehalm‘“, in: Gärtner/Heinzle (Hrsg.), Studien (Anm. 2), S. 415 – 428; Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 28 – 59; vgl. auch Erich Kleinschmidt, „Die lateinische Fassung von Wolframs ,Willehalm‘-Prolog und ihr Überlieferungswert“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 103/1974, S. 95 – 114. 10 Vgl. dazu mit anderen methodischen Orientierungen und anderen Ergebnissen auch die Studie von Christopher Young, Narrativische Perspektiven in Wolframs ,Willehalm‘. Figuren, Erzhler, Sinngebungsprozeß, Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 104). 11 Vgl. zum Kontext Alois Wolf, „Kampfschilderungen in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Wolfram-Studien, 3/1975, S. 232 – 262.
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begehren im Krieg der Christen mit den Heiden erprobt. So entfaltet sich eine literarische Alternative zum Argument, welche als eine in der Literatur mitunter mögliche Aktivierung eines Problematisierungspotentials zu untersuchen ist. Durch die Reihenbildung kommentieren sich die jeweils entworfenen Konstellationen über die paradigmatische Erzählweise ana- und kataphorischen Verweisens wechselseitig, wodurch die Komplexität der Reflexion gesteigert wird. Eröffnet wird die Reihe der Zweikämpfe mit Willehalms Tötung Pinels, welche in der Vernichtung Myles durch den Heidenkönig Terramer sofort vergolten wird (21,1 – 28). Damit wird eine Kette von Rachehandlungen in Gang gesetzt, die im Kampf zwischen Noupatris und Vivianz fortgeführt wird (22,14 – 26,1).12 Noupatris, der junge, strahlend schöne Heidenkönig, kämpft im Dienste der Minne, der wbe minne hat ihn, so heißt es, in die Schlacht gejagt (22,22 f.).13 Besonders ausgezeichnet ist er durch seine Ausstattung: Eine aus einem Rubin geschnittene Krone, die seinen spiegelhellen Helm ziert, sowie ein am Lanzenschaft befestigtes Banner, welches Amor mit Pfeil und Salbenbüchse zeigt (22,26 – 29; 24,4 – 7; 25,14 f.). Sein christlicher Kontrahent Vivianz wird als Schwestersohn des Markgrafen eingeführt, seine klriu jugent (23,3) wird hervorgehoben, dabei seine Verständigkeit, sein Streben nach durhliuhtigem prse (23,9).14 Im Lanzenkampf werden beide schwer verwundet, Vivianz erschlägt Noupatris daraufhin mit dem Schwert (24,26 – 30). Ihn selbst hatte die Lanze durchbohrt. Mit ihr war ihm das Amorbanner durch den Leib gefahren (25,14 – 25). Vivianz zieht sich die Lanze mit dem Banner wieder aus dem Leib, seine Gedärme quellen heraus und werden von ihm mit eben jenem Banner zurückgebunden, damit er den Kampf fortsetzen kann (25,26 – 30). 12 Zur Verkettung der Rachehandlungen siehe Willehalm, 26,2 f.: Tbaldes rche und des nt j ist alrÞrste um den wurf gespilt; vgl. auch 206,17 f. und 305,30: sus rche wider rche wart gegeben; vgl. Elisabeth Schmid, „Enterbung, Ritterethos, Unrecht: Zu Wolframs ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 107/1978, S. 259 – 275, hier S. 272 f.; Haug, Literaturtheorie (Anm. 6), S. 182. 13 Vgl. zum Minnerittertum des Noupatris Lydia Miklautsch, „,minne – flust‘. Zur Rolle des Minnerittertums in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 117/1995, S. 218 – 234, hier S. 221 – 223. 14 Vgl. zur Figur des Vivianz etwa John Greenfield, „Vivien und Vivianz“, in: Wolfram-Studien, 11/1989, S. 47 – 64; ders., Vivianz. An Analysis of the Martyr Figure in Wolfram von Eschenbach’s ,Willehalm‘ and in his Old French Source Material, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 95).
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Der strahlende, höfische Körper des Vivianz wird demontiert, kommt zur Anschauung als gemarterter Leib des Blutzeugen Christi. Die Bildlichkeit der Minne wird solcherart hart konfrontiert mit der Semantik von Heiligkeit. Diese schroffe Gegenüberstellung des Höfischen mit den Bedingungen des Krieges und der religiösen Semantik kommentiert der Erzähler, indem er darauf hinweist, dass solche Geschichten vom Sterben ihrer Minnediener den Damen nicht zusagen können: des guotiu wp niht darf zemen, s sterbenlcher maere umb ir dienaere. (26,6 – 8)
Das Minnerittertum wird hier insofern delegitimiert, als gezeigt wird, dass dieses Dispositiv unter den Bedingungen des Krieges nicht vorbehaltlos gelten kann15 : Es erfährt eine Grenze, wo es um das Geschäft des Tötens in der Schlacht geht. Vom Heiden Halzebier, der ebenfalls als Minneritter dargestellt wird, empfängt Vivianz schließlich die tödliche Verwundung (46,24 – 27). Indem Halzebiers Kampf als Vergeltung für die Tötung seines Neffen Pinel durch Willehalm perspektiviert ist, werden Rache und Minnerittertum in der paradigmatischen Reihe enggeführt: sn hher prs vor schanden was mit werdekeit behuot: in wbe dienste het er muot. n wart gerochen Pnel von Halzibiere, dem knge snel […]. (46,10 – 14)
Die Inszenierung von Vivianz’ Martyrium schließt sich an: Im Schutz des, wie Wolfram stilisiert, Erzengels Kerubn wird er vom Schlachtfeld geführt und stirbt schließlich nach einer letzten Begegnung mit seinem Onkel Willehalm im Geruch der Heiligkeit (48,4 – 49,30; 60,4 – 15 Dies ließe sich auch noch einmal durch die Analyse der Bildlichkeit der Szene stützen. Im Amorbanner läuft die Minnerittersymbolik leer; vgl. die zum Teil anders akzentuierende Studie von Manfred Kern, „Amors schneidende Lanze. Zur Bildallegorie im ,Willehalm‘ 25,14 ff., zu ihrer Lesbarkeit und ihrer Rezeption im späthöfischen Roman“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 73/1999, S. 567 – 591.
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69,16).16 Mit dem Tod des Vivianz wird der Kampf nicht nur im Martyrium transzendiert, sondern es wird zugleich eine neue Dynamik der Vergeltung ausgelöst: Die Rache gilt fortan auch dem getöteten Heiligen. Wenn im Folgenden die Gründe entfaltet werden für den Kampf der Christen gegen die Heiden, spielt die Rache für Vivianz stets eine bedeutende Rolle (z. B. 418,24 f.).17 Wenngleich unter dem Vorbehalt einer religiösen Legitimierung, wird solcherart die Rache als Kampfmotiv auf der Seite der Getauften deutlicher akzentuiert. Nach der Totenwache für Vivianz reitet Willehalm weiter nach Orange und kämpft unterwegs mit 15 Königen, bei denen er Ehmereiz von Todjerne erkennt, den Sohn Gyburcs (73,17 f.; 74,26 – 28). Ungeachtet der Reizreden seines Stiefsohnes schont Willehalm jenen seiner Mutter wegen (74,26 – 75,26). Hier scheint die Möglichkeit auf, den Kampf aus Rücksicht auf verwandtschaftliche Bindungen zu vermeiden18, die Vergeltung wird allerdings, wie der Kontext zeigt, nur delegiert: Der Erzähler kommentiert, dass Willehalm allein Ehmereiz seine Beleidigungen nachsieht, während er die anderen Könige stellvertretend bestraft (75,28 – 76,2). Zwar wird solchermaßen eine Alternative zu den Dynamiken des Kämpfens und Tötens angedeutet, doch zeichnen sich zugleich die Grenzen des Schonungsvorbehalts ab. Bereits im unmittelbar folgenden Zweikampf wird Schonung dann hart mit ihrem brutalen Gegenteil konfrontiert und so als okkasionalistisch und kontingent markiert. Arofel von Persien, der als Onkel Gyburcs auch mit Willehalm verschwägert ist, wird – anders als Gyburcs Sohn – nicht verschont (77,20 – 82,8).19 Der als bester Minneritter der heidnischen Welten apostrophierte Arofel reitet Willehalm so stürmisch an, dass Riemen seiner Rüstung reißen, wodurch sein nackter Ober16 Vgl. die Passage aus der hyperbolischen Klage des Markgrafen, Willehalm, 62,11 – 14: sçlh seze an dme lbe lac: j des breiten meres salzes smac j mese al zukermaezic sn, j der dn eine zÞhen wrfe drn. Zum Martyrium des Vivianz vgl. Bumke, Wolframs ,Willehalm‘ (Anm. 6), S. 23 – 32; Werner Schröder, „süeziu Gyburc“ [1960], in: ders., Wolfram von Eschenbach. Spuren und Werke (Anm. 6), S. 251 – 281, hier S. 266 f.; Greenfield, „Vivien“ (Anm. 14); ders., Vivianz (Anm. 14). 17 Vgl. Greenfield, „Vivien“ (Anm. 14), S. 50 – 62. 18 Zur Konstellation des Verwandtenkampfes siehe Abschnitt III. unseres Beitrags. 19 Zu Arofel vgl. etwa Werner Schröder, „Die Hinrichtung Arofels“ [1974], in: ders., Wolfram von Eschenbach. Spuren und Werke (Anm. 6), S. 393 – 414; James A. Rushing, „Arofel’s Death and the Question of Willehalm’s Guilt“, in: Journal of English and Germanic Philology, 94/1995, S. 469 – 482, hier S. 476 – 481.
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schenkel freigegeben wird, den Willehalm mit einem Schwerthieb durchtrennt. Kampfunfähig ergibt sich Arofel und bietet ne schande, wie der Erzähler betont (79,15), hohes Lösegeld. Als der Perserkönig darauf hinweist, dass für die Tötung eines bereits Halbtoten keine Ehre zu erwarten sei (79,22 – 24), kommt Willehalm in den Sinn, dass die Rache für Vivianz sein Herz erleichtern könnte (79,28 – 80,1). Das Rachemotiv wird hier also nicht im Sinne gerechter Vergeltung eingesetzt, sondern als Affektgeschehen:20 Die Rache soll den Schmerz lindern. Dieser Aspekt wird deutlich gegen den Appell des Gegners an das Ethos des Kämpfers und auch gegen die Warnung vor Ansehensverlust ausgespielt. Wenn Willehalm in der sich anschließenden Unterredung mit Arofel behauptet, sein Schmerz um die toten Verwandten könne nicht mit allem Reichtum der Welt aufgewogen werden21, so werden die Opfer verrechnet und ihr Wert kalkuliert. Dadurch tritt der Racheaspekt noch deutlicher hervor. Anstelle aller denkbaren Formen des Austauschs, die Gewalthandeln domestizieren könnten, wird mit des tdes wge (80,26) gemesssen. Willehalm erschlägt den Wehrlosen, beraubt die Leiche und schändet sie noch, indem er sie enthauptet (81,11 – 18).22 Mit diesem Exzess der Vergeltung und der Suspension jedes höfischen und christlichen Ethos manifestiert sich Rache als nackte Gewalt, die, jeder sie legitimierenden Einkleidung enthoben, als bloßer Affekt dargestellt wird.23 Der Erzähler beklagt den Verlust Arofels für die Frauen und die Minne, doch er hält sich mit einer Kommentierung der Handlung Willehalms auffällig zurück: war umbe sold i’z lange sagen? (81,11). 20 Dies kritisch zu Werner Schröders Behauptung, es handle sich bei Willehalms Vergehen nicht um eine Affekthandlung, sondern um eine Hinrichtung, die „kaltblütig und mit Vorsatz“ ausgeführt werde; vgl. Schröder, „Die Hinrichtung Arofels“ (Anm. 19), S. 222. Anderenorts freilich bezeichnet Schröder Willehalms Tötung Arofels explizit als Affekthandlung; vgl. ders., „Zur Entwickung des Helden in Wolframs ,Willehalm‘“ [1962], in: ders., Wolfram von Eschenbach. Spuren und Werke (Anm. 6), S. 295 – 306, hier 300 f.; vgl. zum Racheaspekt auch Rushing, „Arofel’s Death“ (Anm. 19), S. 476 – 481. 21 Siehe bes. Willehalm, 80,17 – 26. 22 Schröder, „Die Hinrichtung Arofels“ (Anm. 19), S. 393 – 414. Zu den signifikanten Veränderungen Wolframs gegenüber seiner Vorlage vgl. ebd., S. 393 – 398. Zu den intertextuellen Bezügen der Szene zum Kampf zwischen Eneas und Turnus bei Heinrich von Veldeke siehe Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 102 – 109. 23 Vgl. auch Willehalms spätere Reflexionen darauf: Willehalm, 203,19 – 204,30.
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Dass sich Willehalm nun die Rüstung des Gegners anlegt (81,23 – 29), dient im Syntagma der Handlung der Camouflage. Der Markgraf bedarf der Tarnung, um nach Orange durchzustoßen und später von dort durch die heidnischen Reihen hindurch nach Munleun zu gelangen. Betrachtet man das Anlegen der Rüstung unter paradigmatischem Gesichtspunkt24, zeigt sich, dass die Leitdifferenz zwischen Christen und Heiden weiter destabilisiert wird. Die religiöse Zugehörigkeit des Protagonisten, immerhin des Heiligen Willehalm, ist nicht mehr augenfällig, selbst die eigene Ehefrau erkennt ihn nicht (81,30). Der Markgraf wird zur ambivalenten Figur. Der folgende Zweikampf Willehalms mit Tesereiz entfaltet sich vor diesem Hintergrund (86,1 – 88,1): Tesereiz, der minnen kranz (86,3), der geradezu als Verkörperung der Minneritteridee gelten kann25, erkennt die höfische Vortrefflichkeit des Markgrafen und dessen minne zu Arabel an. Im Zeichen des gemeinsamen Minnerittertums möchte er den Kampf vermeiden26, verfolgt allerdings auch die Absicht, Willehalm für seine Götter zu gewinnen (86,22 f.). Der sich trotz Willehalms Zögern anschließende Kampf wird nun allegorisch transgrediert: Signifikant ist hier, dass gerade nicht christliche Tugenden gegen heidnische Laster ins Feld geführt werden, wie in der Kreuzzugsdichtung erwartbar, sondern dass die Tugenden gegeneinander kämpfen: d was manheit gein ellen komen und diu milte gein der gete, kiusche und hchgemete, mit triuwen zuht ze bÞder st: der aht schanze was der strt. daz niunde was diu minne: diu verls an ir gewinne. (87,16 – 22)
Gegen die religiöse Differenz wird solchermaßen über die Allegorie die Gleichrangigkeit der Kontrahenten im Medium des Höfischen betont.27 24 Der Vergleich zum folgenreichen Raub von Ithers Rüstung in Wolframs Parzival liegt hier nahe: Parzival 155 – 157. Zitiert wird nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, Berlin 1965 (unveränd. Nachdruck der 6. Ausgabe von Karl Lachmann). 25 Vgl. dazu die Wertungen in Willehalm, 36,20 – 22; 83,6 – 9; 205,1 – 28. 26 Willehalm, 86,26 – 30: ,ob ich mit dir strten muoz – j ich weiz wol: dÞst der minne leit. j s unsanfte ich nie gestreit j mit deheiner slahte man, j wand ich dir deheines schaden gan.‘ 27 Vgl. die genaue Analyse bei Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 170 f.
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Da die religiösen Dichotomien dabei jedoch nicht ausgeblendet werden können, muss der Kampf gegen die höfischen Egalitätsimpulse des gemeinsamen Minnerittertums bis zur Tötung ausgetragen werden. Im Rahmen der Allegorie wird dies schlüssig im Bild der als neuntes und letztes Gut benannten Minne, welche verlieren muss, ausgedrückt. Im tödlich endenden Kampf zweier Minneritter ist der Gewinn der Minne zugleich ihr Verlust, wie Wolfram paradox formuliert (87,22). Insofern mündet die Vorstellung von der Gleichrangigkeit der Minneritter, welche die Dichotomie von Heiden und Christen überwölbt, in diesem Kampf in eine Aporie. In paradigmatischer Variation des VivianzMartyriums wird der Minnegedanke dann allerdings im Tod des Tesereiz noch einmal verherrlicht: ald der minnaere lac erslagen. daz velt solde zuker tragen alumb ein tagereise. der klre, kurteise mçht al den ben geben ir nar. st si der seze nement war, si mçhten, waern’s iht wse, in dem lufte nemen ir spse, der von dem lande kumt gevlogen, d Tesereiz vr unbetrogen sn rterlchez ende nam. (88,1 – 11)
Korrespondierend zum Tod des Vivianz wird das Sterben hyperbolisch auch bei Tesereiz im Geruch der Heiligkeit inszeniert. Durch die paradigmatischen Bezüge zum Martyrium des Vivianz wird der die Konfliktparteien egalisierende Impuls des Höfischen auf der Ebene des Religiösen erneut gesetzt. Fortgeführt wird er in der wuchernden Bildlichkeit des Religiösen, ohne dass dies theologisch im Sinne einer Äquivalenzbeziehung von Märtyrertod und Minneheiligkeit begründbar wäre.28 Auf diese Weise entwickelt im Willehalm die Kompaktheit der Bilder eine Dynamik, die diskursiv nicht einholbar ist. Über das poetische Verfahren paradigmatischer Analogiebildung werden Lizenzen freigesetzt, durch die in anderen Diskursen Undenkbares ausgespielt werden kann. 28 Müßig ist daher die Frage, ob Wolfram im theologischen Sinne ein Minnemartyrium des Tesereiz inszeniert. Vgl. die Forschungsdiskussion dazu: Bumke, Wolframs ,Willehalm‘ (Anm. 6), S. 174 f.; Schröder, „süeziu Gyburc“ (Anm. 16), S. 267; Miklautsch, „minne“ (Anm. 13), S. 226 – 228.
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Wir brechen die Untersuchung der Zweikämpfe an dieser Stelle ab.29 Unsere Analyse konnte zeigen, wie in der paradigmatischen Serie die Tragweite von Ideologien, die im Glaubenskrieg eingesetzt sind, erprobt wird. Stützten traditionell die unterschiedlichen Motivierungen der heidnischen und christlichen Kämpfer die valorisierende Verteilung von Gut und Böse, so sind bei Wolfram Minne, Rache und Glaubenskampf auf beiden Seiten zu komplexen Motivationsbündeln verknüpft.30 Im paradigmatischen Bezugssystem werden die verschiedenen Semantiken in immer neuen Konstellationen und Bildfeldern entfaltet, – mit dem Effekt, dass sich anstelle ihrer Organisation in Oppositionen gleitende Übergänge, graduelle Abstufungen, mitunter Entsprechungen ergeben. Dadurch erodiert die topische Semantik von Gut und Böse, welche für das Schema der Konfrontation von Heiden und Christen in der französischen chanson de geste-Tradition wie auch im deutschen Rolandslied konstitutiv ist.31 Diesen Problematisierungsgestus möchten wir als spezifische Leistung literarischer Kommunikation akzentuieren.
III Die Komplexität der Verschränkung verschiedener Semantiken, die am Beispiel der paradigmatischen Reihe von Zweikämpfen in nuce betrachtet wurde, soll nun in einem zweiten Schritt auch auf der Ebene 29 Die paradigmatische Reihe wäre nicht nur durch weitere Kämpfe im Text zu verlängern, sondern auch hinauszuführen über die Grenzen des Willehalm vor allem in den Parzival hinein. Solcherart ließe sich ein literarischer Reflexionsraum vermessen, der weit über den Einzeltext hinausreicht. 30 Vgl. u. a. Schröder, „süeziu Gyburc“ (Anm. 16), S. 229; Fuchs, Hybride Helden (Anm. 6), S. 251 – 256. 31 Vgl. etwa Cormeau, „Ist mich von Kareln uf erborn“ (Anm. 6), S. 72 – 85; Strohschneider, „Kreuzzugslegitimität“ (Anm. 6), bes. S. 27 f. Zum Quellenbezug Wolframs vgl. grundlegend Bodo Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine franzçsischen Quellen, Teil 1, Münster 1936 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 6); Bumke, Wolframs ,Willehalm‘ (Anm. 6); vgl. auch Friederike Wiesmann-Wiedemann, Le roman du ,Willehalm‘ de Wolfram d’Eschenbach et l’ pop e d’,Aliscans‘. Etude de la transformation de l’ pop e en roman, Göppingen 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 190); Marie-Noël Marly, Traduction et Paraphrase dans Willehalm de Wolfram d’Eschenbach, Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 342); Guillaume et Willehalm. Les pop es franÅaises et l’œuvre de Wolfram von Eschenbach, hrsg. von Danielle Buschinger, 2 Bde., Göppingen 1985 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 421).
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der Makrostrukturen des Textes entwickelt werden. Im Reichskrieg und Glaubenskampf zwischen Heiden und Christen, der welthistorische Dimensionen gewinnt und zur großen Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident gerät, stehen sich – betrachtet man die Genese des Krieges – zwei Geschlechter gegenüber. Im Zentrum der Konfrontationen steht ein zwischenmenschlicher Konflikt: Zugrunde liegt, was Girard mimetische Rivalität genannt hat32, zwei Männer, der Heide Tybalt und der Christ Willehalm, begehren dieselbe Frau, die mit dem mächtigen Tybalt verheiratete Arabel, die sich im Zuge der Eheschließung mit ihrem Entführer, dem christlichen Markgrafen, taufen lässt und fortan den Namen Gyburc trägt. Indem der sich anschließende Krieg zugleich um Gyburc und für Gott geführt wird, überlagern sich Minne und Religion als Antriebe der Handlung (14,1 – 15; 16,25 – 17,2; passim). Nun lässt sich zeigen, dass im Schnittpunkt der beschriebenen Semantiken und Handlungsmotivierungen, sowohl auf der Ebene der Minne wie des Kreuzzugs und des Reichskriegs, genealogische Konstellationen und Verbindungen eine zentrale Rolle spielen.33 Die Strukturen und Modellierungen des Genealogischen, die auch in den Sinnbildungsprozessen von Wolframs Parzival tragend sind, werden insbesondere im Willehalm immer wieder religiös transgrediert. Im Folgenden möchten wir herausstellen, welche Akzente dabei gesetzt sind. Schon auf einer ersten Ebene der Lektüre des Willehalm geht die Gleichung, nach der sich im Kampf zweier Geschlechter Heiden und Christen gegenüberstehen, wodurch dem genealogischen Konflikt die Legitimität eines Kreuzzugs und schließlich eines Reichskriegs verliehen wird, nicht auf, denn über Gyburc, die als Grenzgängerin zwischen Orient und Okzident, zwischen Heidentum und Christentum die 32 Entwickelt bes. in: René Girard, Mensonge romantique et v rit romanesque, Paris 1961; vgl. ders., Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992. 33 Vgl. zum Verwandtschaftsgedanken im Willehalm bislang etwa Schmid, „Enterbung“ (Anm. 12), S. 259 – 275; Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 190 – 205; Sylvia Stevens, Family in Wolfram von Eschenbach’s ,Willehalm‘: ,mner mge triwe ist mir wol kuont‘, New York [u.a.] 1997 (Studies on Themes and Motifs in Literature 18); Martin Przybilski, ,sippe‘ und ,geslehte‘. Verwandtschaft als Deutungsmuster im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, Wiesbaden 2000 (Imagines medii aevi 4); Shami Ghosh, „Forms of Kinship. Unresolved Tensions in Wolfram’s ,Willehalm‘“, in: Euphorion, 97/2003, S. 303 – 325; Martin Przybilski, „Verwandtschaft als Wolframs Schlüssel zur erzählten Welt“, in: Zeitschrift fr Germanistik, N.F. 15/2005, S. 122 – 137, hier S. 123 – 128.
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Funktion einer Mittlerin einnimmt, werden die verfeindeten Geschlechter miteinander verschwägert und verwandt.34 Insofern kommt Terramer, Gyburcs Vater, eine prekäre Rolle zu: Er überzieht mit Tybalt, seinem Schwiegersohn, nicht Christen als Fremde mit seinem Heer, sondern seine Tochter und seinen christlichen Schwiegersohn, mithin also seine Verwandten. Genealogisch betrachtet besteht über seine Tochter dieselbe Beziehung Terramers zu Tybalt wie zu Willehalm. Der Erzähler weist auf diese genealogische Parität explizit hin, wenn er über Terramer räsoniert: wie tet der wse man als? si wren im sippe al gelche, Willelm, der lobes rche, und Tbalt, Arabeln man, durch den er herzesÞr gewan vor jmer nch dem bruoder sn und mangen werden Sarrazn dem tde ergap ze zinse. (12,8 – 15)
Ganz in diesem Sinne wird Gyburcs Vater vom Erzähler negativ bewertet: TerramÞr unvuoget […] (11,19 – 24). Im Fortgang der Handlung erscheint der oberste Herrscher der Heiden als gebrochene Figur: Er kämpft im Zeichen der heidnischen Götter, getrieben von der Verpflichtung zur Rache für den Verlust der Tochter und des Landes. Er ist entschlossen dazu, die eigene Tochter zu töten, und doch bleibt er ihr in väterlicher Liebe verbunden (107,14 – 108,22; 109,17 – 28; 217,9 – 30). Mit Terramer, Tybalt sowie dem heidnischen Heer, dessen Befehlshaber, die heidnischen Könige, wiederum in einem weit verzweigten Netz genealogischer Beziehungen mit Terramer verknüpft sind35, und Gyburc, Willehalm sowie dessen Verwandten stehen sich also zwei Kampfverbände gegenüber, deren verwandtschaftliche Gefüge die Grenzlinien der Feindschaft unterlaufen. In einer weiteren Perspektivierung des Wolframschen Textes wird nun deutlich, dass diese genealogische Verflechtung von Heiden und 34 Wie eng die Verbindung von Gyburc zu Willehalms Familie ist, zeigen die triuwe-Bekundungen zwischen Gyburc, Heimrich und seinen Söhnen: Vgl. dazu etwa Willehalm, 250,1 – 253,4. 35 Vgl. die Dokumentation bei Przybilski, ,sippe‘ und ,geslehte‘ (Anm. 33), S. 130 – 153. Die von Przybilski vorgenommene Abgrenzung von sippe Terramers und geslehte Heimrichs geht weder terminologisch noch in den inhaltlichen Zuordnungen auf.
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Christen über die Ehe von Gyburc und Willehalm sozusagen nur einen herausgehobenen Spezialfall einer übergreifenden menschheitsgeschichtlichen Konstellation bedeutet. Denn in der epischen Welt des Willehalm wirken wie auch in jener des Parzival zwei genealogische Bezugssysteme, welche sich überschneiden, aber nicht zur Deckung zu bringen sind. Das Genealogische im engeren Sinne betrifft die Verwandtschaft einzelner Familien, die sich im Blick auf ihre Legitimierungen, ihre Ansprüche auf Herrschaft und Macht sowie komplementär dazu ihre Mechanismen der Vergeltung und des Kampfes gerade von anderen Verbänden abheben müssen, ja durch ihre Differenz zu anderen Verwandtschaftsverbänden gekennzeichnet sind. Das Genealogische im weiteren Sinne zielt auf die Verwandtschaft aller Menschen als Geschöpfe Gottes und Nachkommen Adams.36 Dieser im christlichen Schöpfungsverständnis verankerte Gedanke wiederum hat einen eher paritätischen Appell, welcher nicht nur Ansprüche auf Exklusivität und Abgrenzung einzelner Geschlechter unterminiert, sondern die Vorstellung einer ontologisch begründeten Einheit aller Menschen vom Ursprung her gegen kulturelle Differenzierungen, gegen die Aufspaltung der Völker und Sprachen und auch gegen die Spaltung in Heiden und Christen setzt. Zugespitzt bedeutet dies, dass das genealogische Denksystem seine Funktionen der Differenzierung und Auszeichnung hier mit den Mitteln seiner eigenen Logik unterläuft: Die Geltung der universalen Geschichte vom Ursprung der Welt und der Menschheit und die Geltung der partikularen Genealogien einzelner Gruppen konfligieren. Dies ist der Grammatik des Genealogischen prinzipiell inhärent, doch müssen genealogische Entwürfe, die zur Legitimierung von Herrschaft funktionalisiert werden, jene konstitutive Aporie gerade invisibilisieren.37 Demgegenüber wird bei Wolfram im Parzival wie auch im Willehalm, so unsere These, die aporetische Verschränkung von universalen und partikularen ge36 Als weitere Ebene zwischen den genannten genealogischen Modellierungen wird im Prolog darüber hinaus die Verwandtschaft aller Christen mit Gott über die Inkarnation Christi entfaltet. Die genealogische Verbindung von Gott und Menschen über Christus wird hier zudem etymologisch gestützt. Vgl. Willehalm, 1,19 – 28: dn mennischeit mir sippe gt j dner gotheit mich ne strt j der pter noster nennet j z’einem kinde erkennet. j s gt der touf mir einen trst, j der mich zwvels ht erlst j (ich hn gelouphaften sin): j daz ich dn genanne bin, j wsheit ob allen listen: j d bist Krist, s bin ich kristen. 37 Vgl. zum Problemkomplex Beate Kellner, Ursprung und Kontinuitt. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004.
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nealogischen Strukturen gerade exponiert und reflektiert. An den daraus entstehenden Problemen arbeiten die Wolframschen Texte sich ab. Im Willehalm zieht sich von Gyburcs großer Rede im Fürstenrat bis hin zur Matribleizszene eine Linie, in welcher die Vorstellung von der göttlich verankerten Universalgenealogie der Menschheit in einer unauflöslichen Spannung mit jener der Familien im engeren Sinne steht. In der akzentuierten universalgenealogischen Perspektive38 nun wird jeder Mensch zum Verwandten, kann jeder als Bruder des anderen aufgefasst sein. Daraus ergibt sich, dass die Perspektivierung von Handlungen, insbesondere von Konflikten und Kämpfen, in der epischen Welt des Willehalm, wie bereits in jener des Parzival, changieren kann, je nachdem, in welchem genealogischen Bezugssystem sie situiert sind. Was im Rahmen der Genealogie im engeren Sinne sowie der religiösen Zugehörigkeiten legitim und möglich erscheint, der Kampf gegen andere, insbesondere gegen Heiden, wird auf der Ebene der Universalgenealogie zum Problem.39 Bereits durch die Verschränkung der genealogisch unterschiedlich dimensionierten Systeme können sich also Ambivalenzen in der Beurteilung von Handlungen erklären: Wenn auch der Fernste, der Heide, als Geschöpf Gottes und damit als Verwandter von Adam aufgefasst werden kann, scheinen Kämpfe prinzipiell fragwürdig zu sein. Die skizzierte Problematik wird ganz besonders in jener Reihe der Verwandtenkämpfe entwickelt40, die sich vom Parzival bis in den Willehalm zieht. Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden epischen Großtexten Wolframs zeigen sich gerade in solchen paradigmatischen Verweisen und Reihen eine Fülle von erhellenden Bezügen. So kämpft Parzival gegen seinen Verwandten Ither, den er tötet, ohne um seine Genealogie zu wissen (155,1 – 11) 41, so kämpft er gegen weitere Ver38 Vgl. dazu die zentralen Aussagen im Parzival 463,15 – 465,10, in denen über die Abstammung aller Menschen von Adam die Sippe zugleich als Medium von Heil und Unheil in der Geschichte gesehen wird. Vgl. bes. Parzival 465,1 – 10: Von Admes knne j huop sich riwe und wnne, j st er uns sippe lougent niht, j den ieslch engel ob im siht, j unt daz diu sippe ist snden wagen, j s daz wir snde mezen tragen. j dar ber erbarme sich des kraft, j dem erbarme gt geselleschaft, j st sn getriuwiu mennischeit j mit triwen gein untriwe streit. 39 Entfaltet man die Strukturen des Textes auf diese Weise, zeigt sich, wie wenig die Vorstellung von neuzeitlicher Toleranz hier trägt. 40 Vgl. Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis 1300, München 1963 (Medium aevum 1). 41 Vgl. dazu die Worte Trevrizents an Parzival, Parzival 475,19 – 25: d sprach er ,lieber swester suon, j waz rtes mçht ich dir nu tuon?j du hst dn eigen verch erslagn. j
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wandte, gegen Vergulaht (424,15 – 425,14), Gawan (679,1 – 680,30; 688,5 – 690,2) und schließlich gegen seinen Bruder, den gescheckten Heiden Feirefiz (738,1 – 745,8). Korrespondierend damit kämpft Rennewart, der als jugendlicher Tor ohnedies im intertextuellen Horizont der Parzivalfigur zu sehen ist42, mit seinem Halbbruder Kanliun und tötet ihn, ohne ihn zu erkennen (442,19 – 23).43 Auch der Protagonist Willehalm kämpft, ohne es zu wissen, gegen seinen Bruder Ernalt. Nur weil die Brüder sich im letzten Moment erkennen, geht der Kampf nicht tödlich aus (118,18 – 26). Wie sehr im Willehalm am Problem des Verwandtenkampfes gearbeitet wird, zeigen gerade auch jene Konstellationen, in welchen Tötungen beabsichtigt, aber nicht vollzogen werden. Das sinnfälligste Beispiel dafür ist das Ausbleiben des Kampfes zwischen Terramer und Rennewart. Literarisch spannungsvoll bereitet Wolfram diesen vor, indem er im intertextuellen Rekurs auf die Heldenepik Hildebrant erwähnt und damit den Gedanken an den Kampf zwischen Hildebrant und Hadubrant nahelegt. Statt die erwartbare Verknüpfung zwischen Terramer und Hildebrant sowie Hadubrant und Rennewart auszuführen, wird überraschend Hildebrants Frau Ute ins Spiel gebracht (439,16 – 19).44 In den intertextuellen Verweisen kündigt sich – so ließe sich folgern – also bereits jene Vermeidung des Kampfes von Vater und Sohn an, auf welche Wolfram gegen seine Vorlage zielt. Vater und Sohn verlieren sich im aufgewirbelten Staub des Kampfes aus dem Blick.45 Diese Konfliktkonstellation, in der ein Verwandtenkampf sich anbahnt, dann aber umgangen wird, steht wiederum nicht allein, sondern lässt sich paradigmatisch auf die sich anbahnende, aber vermiedene Konstellation des Kampfes zwischen Rennewart und seinem Neffen Poydjus (444,28 – 30) sowie auf Willehalms Absicht beziehen, seine
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wiltu fr got die schulde tragn, j st daz ir bÞde wrt ein bluot, j ob got d reht gerihte tuot, j s giltet im dn eigen leben‘. Vgl. dazu bes. die expliziten Parallelen zwischen Rennewart und Parzival mit den Rekursen auf die gemeinsame Schönheit, Stärke und tumpheit (Willehalm, 271,15 – 26). Signifikant ist, dass Rennewart Kanliun nicht mit der Stange tötet, sondern mit jenem Schwert seines Verwandten Synagun, das seine Schwester Gyburc ihm gegeben hatte (vgl. Willehalm, 293,21 – 23; 296,10 f.). Vgl. dazu Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 114 – 116. Willehalm, 443,3 – 7: wie diu vluht d geriet? j wie daz kint von sme vater schiet? j wie schiet der vater von’me kint? j seht, wie den stoup der starke wint j her und dar zetrbe!
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Schwester, die Königin, zu töten (147,11 – 24), oder auch auf Terramers Wunsch, sich an seiner Tochter Gyburc zu rächen, ohne ihr Leben zu schonen (109,17 – 29). In der paradigmatischen Reihung von Verwandtenkämpfen über die beiden epischen Großtexte Wolframs hinweg liegt ein starker Akzent, von dem aus das Kriegerethos problematisiert wird, denn die Verwandtenkämpfe sind nur der besondere Ausdruck der universalgenealogischen Konstellation, nach der jeder Mensch der Bruder des anderen ist und insofern jede Tötung eine Wiederholung der genealogischen Ursünde der Kainstat.46 Über die Vorstellung vom gemeinsamen Sippenkörper werden die Kämpfe gegen Brüder – noch radikaler zugespitzt – zu Kämpfen gegen sich selbst. Jene Dimension wird im Parzival vor allem im Kampf zwischen dem Protagonisten und seinem Halbbruder Feirefiz entwickelt47, im Willehalm ist sie im Kontext der Auseinandersetzung zwischen dem Markgrafen und seinem Bruder Ernalt thematisch: Wie in Feirefiz und Parzival stehen sich auch in Willehalm und Ernalt ein Leben und ein Herz gegenüber. Willehalm macht dies im Gespräch mit seinem Bruder deutlich: ,waz wunders kann mir got beschern! hie muos ich mich mn selbes wern: d ich zer tjoste gein dir reit, mit mir selbem ich d streit.‘ Ernalt sprach: ,d sagest al wr: mn lp mn selbes lbe vr ht umbekant erzeiget. mir was dn kunft versweiget als ein bracke ame seile. man mac wol z’eime teile unser zweier lbe zeln. swer zwei herze wolde weln, dern vunde niht wan einez hie: mn herze was dn herze ie, dn herze sol mn herze sn. […]‘ (119,15 – 29)
Die Tötung des Bruders bedeutet in dieser Perspektive die Zerstörung des eigenen Blutes, des eigenen Ich, was zugleich mit dem aristokrati46 Die Zuspitzung der universalgenealogischen Reflexionen auf die Ursünde von Kains Brudermord an Abel wird im Parzival (463,23 – 464,22) explizit reflektiert. Auch für den Willehalm bildet die Ursünde des Brudermordes einen Reflexions- und Anspielungshorizont: Willehalm, 51,30. 47 Vgl. Parzival, 740,2 – 6; ebd. 26 – 30.
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schen Prinzip des Kampfes unter Gleichrangigen verknüpft wird: Auch der Kampf gegen den Besten kann als Kampf gegen das eigene Selbst erscheinen, indem die jeweiligen Protagonisten stets als die besten aller Kämpfer stilisiert werden. Zieht man diese Perspektiven aus, wird deutlich: Gleichrangigkeit, Ebenbürtigkeit und Verwandtschaft führen den Kampf in die Aporie. Die Legitimität des Kampfes implodiert, wenn der Kampf gegen andere als Gewalt gegen das eigene Selbst inszeniert wird. Darin zeigt sich die äußerste Konsequenz der von Wolfram exponierten Aporie des Genealogischen. Strukturell läge es daher nahe, die Konfrontationen zwischen Orient und Okzident aus der Grammatik des Genealogischen heraus zu vermitteln.
IV Wird also in diesem Text ein Konfliktlösungsmodell entwickelt, das – in der Schöpfungsordnung begründet – auf den ontologisch gegebenen und im Blut manifesten Bindungen beruht? Hier ist zu bedenken, dass die Konflikte durch Willehalms verlustreichen Sieg in der zweiten Schlacht nicht aus der Welt geschafft sind. Die Kämpfe auf Alischanz erscheinen vielmehr als Glieder in der Kette der Auseinandersetzungen zwischen Heiden und Christen, die immer wieder aufflammen können. Insofern ist auch mit der erneuten Rückkehr Terramers und dem Beginn neuer Kämpfe zu rechnen, wie Herzog Bernart von Brubant gegenüber seinem Bruder Willehalm betont.48 Zudem dürfen die Matribleizszene (461,8 – 467,8) und die damit verbundene Botschaft an Terramer, Willehalm würde mit der Überführung der toten heidnischen Könige dessen Geschlecht (snen art) ehren (466,19), nicht darüber hinwegtäuschen, dass jener auf seiner Position beharrt und die hulde seines Schwiegervaters (466,8) nur unter den von ihm selbst diktierten Bedingungen erringen will. Niemals würde er Gyburc oder sein Christentum aufgeben, stets wäre er zu neuen Kämpfen für seine Frau und zur Verteidigung des christlichen Glaubens bereit (466,4 – 467,4): vr wr ich liez Þ manegen lp j verhouwen, als ist hie geschehen (466,14 f.). Damit ist klar, dass die grundsätzliche Konfrontation, welche die erste und die zweite Schlacht bedingte, sich nicht verändert hat. 48 Willehalm, 457,17 – 23: Tbaldes lant und des wp j d hst, dar umbe manegen lp j noch gein uns wgen sol sn var. j d weist wol, ber sehs jr j sprach al der heiden admirt j sne samenunge, diu n ht j unser verh hie niht gespart.
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Ungeachtet der beschriebenen genealogischen Konstellationen behält der Kampf zwischen Christen und Heiden also sein Recht. Ungeachtet der Schonungsgeste Willehalms und Gyburcs Aufruf zur Schonung in ihrer Rede im Fürstenrat (306,28) behält die Ideologie des Kreuzzugs ihre Legitimität, und schließlich bleibt auch die Rivalität zwischen Tybalt und Willehalm um die gleiche Frau und damit der Konflikt zwischen zwei Verwandtschaftsverbänden bestehen. Die genannten Dichotomien werden strukturell und semantisch durch die Genea-Logik zwar relativiert, jedoch nicht außer Kraft gesetzt. Sie bleiben in Geltung und verschiedene Geltungsansprüche stehen sich unvermittelt gegenüber. Die sich daraus ergebenden Aporien lassen sich aus der postulierten Allverwandtschaft aller Menschen heraus nicht lösen. Eben dies wird im literarischen Entwurf Wolframs durch die Verschränkungen zwischen den Semantiken von Minne, Reich, Religion, Geschöpflichkeit und Verwandtschaft manifest. Dazu kommt, dass das Genealogische in Wolframs Willehalm zwar in den beschriebenen Modellierungen als tragende gesellschaftliche Struktur entfaltet wird, doch zugleich auch über weite Strecken des Textes hin als geradezu pervertiert erscheint.49 Dies zeigt sich bereits zu Beginn der narratio in der Enterbung Willehalms und seiner Brüder durch den Vater, Graf Heimrich von Narbonne: Indem jener die eigenen Nachkommen gegenüber dem Sohn eines Vasallen, der zugleich sein Patenkind ist, zurücksetzt, zeichnet er das vasallitische Prinzip und die geistliche Verwandtschaft gegenüber der Genealogie des Blutes (5,16 – 6,18) aus. Die eigenen Söhne verweist jener auf Frauen- und Ritterdienst und insbesondere auf die Möglichkeiten zum Ruhm am Hof Kaiser Karls (6,1 – 16). Der Erzähler beklagt diese Haltung des alten Grafen und stellt einen Kausalzusammenhang her zwischen der Enterbung und Willehalms späterer Not: ouwÞ, daz man den niht liez b sns vater erbe! swen der n verderbe, d lt doch mÞr snden an, denne almuosens dort gewan an snem toten Heimrch: ich waene, ez wiget ungelch. (7,16 – 22)
49 Vgl. bes. Schmid, „Enterbung“ (Anm. 12), S. 259 – 275.
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Die Aushöhlung des Geblütsprinzips als Matrix der Herrschaftsübergabe und die Entstehung des Leides werden auf diese Weise schon am Anfang der Erzählung auf das Engste verknüpft. Durch die Auflösung des Verwandtschaftsverbandes, die semantisch im Ausdruck des Verstoßens der Söhne (5,17) besonders sinnfällig ist, tritt Willehalm vom Beginn des Textes an als Einzelner in Erscheinung: Nicht im Namen des Verwandtschaftverbandes, sondern als Einzelner zieht er in die Welt. Der Vergleich mit Parzivals Vater Gahmuret bietet sich an50, und auch innerhalb des Willehalm lässt sich – dem nun schon wiederholt betonten narrativen Prinzip entsprechend – eine paradigmatische Reihe erkennen. Die beschriebene Vereinzelung Willehalms korrespondiert mit Gyburcs Position, denn die Liebe zum Markgrafen bedeutet für sie den Bruch mit ihrer Familie. Ganz in diesem Sinne wird der Namenswechsel von Arabel zu Gyburc zum Zeichen ihrer neuen Identität, für welche sie ihre ursprüngliche Herkunft, ihre Ehe, ihre Religion, ihre Macht und ihren Reichtum gleichermaßen preisgeben muss. Der in der Geschichte Willehalms entfaltete Gedanke der Herauslösung aus dem Verwandtschaftsverband erscheint somit im Blick auf Gyburc radikalisiert, zumal hier keine Versöhnung und Zusammenführung der Familienglieder stattfinden kann. Rache und Fluch der Verwandten verfolgen jene.51 Ebenfalls genealogisch isoliert ist Gyburcs Bruder Rennewart, der durch seine Entführung aus dem väterlichen Haus gerissen wird, am französischen Hof den Status eines Küchenjungen einnimmt und, getrieben vom Hass auf seine Familie, auf Seiten der Christen kämpft, für welche er die zweite Schlacht auf Alischanz entscheidet.52 Rennewarts
50 Parzival, 5,1 – 12,18. 51 Willehalms Weg von Alischanz nach Munleun führt ihn dagegen nach der ersten Schlacht in seinen Verwandtschaftsverband zurück. 52 Zu Rennewarts Geschichte vgl. u. a. Willehalm, 272,1 – 30; 282,15 – 285,22. Zur Figur vgl. etwa Carl Lofmark, Rennewart in Wolfram’s ,Willehalm‘. A Study of Wolfram von Eschenbach and his Sources, Cambridge 1972 (Anglica Germanica 2); Fritz Peter Knapp, „Heilsgewißheit oder Resignation? Rennewarts Schicksal und der Schluß des ,Willehalm‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 57/1983, S. 593 – 612; Andrea Kielpinski, Der Heide Rennewart als Heilswerkzeug Gottes. Die laientheologischen Implikationen im ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, Diss. Berlin 1990; John Greenfield/Lydia Miklautsch, Der ,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach. Eine Einfhrung, Berlin – New York 1998, S. 204 – 210; Martin Przybilski, „Die Selbstvergessenheit des Kriegers. Rennewart in Wolframs ,Willehalm‘“, in:
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Verhältnis zu seiner Familie erscheint mithin als zutiefst gestört. Schwierig ist auch die Beziehung zwischen den Geschwistern Gyburc und Rennewart: Der Bruder eröffnet seiner Schwester seine Identität nicht, und trotz Gyburcs Ahnungen und Annäherungen53 kommt es nicht zu einer Szene des Wiedererkennens. Denkt man die paradigmatische Reihe weiter, dann wird man von hier wiederum auf das problematische Verhältnis Willehalms zu seiner Schwester, der Königin, aufmerksam.54 Zu erinnern ist auch noch einmal besonders an die oben bereits vergegenwärtigten Kämpfe unter Verwandten. Die beschriebenen Figurationen zeigen sämtlich Störungen des Genealogischen55, welche den Text des Willehalm durchziehen, und es ist besonders signifikant, dass jene sich auf der Ebene des Reiches noch einmal paradigmatisch fortsetzen und spiegeln. Im Reich hat sich die Herrschaft von Kaiser Karl auf seinen Sohn Loys vererbt. Vergleicht man die Geschichte des Reiches mit jener der Markgrafenfamilie von Narbonne, wird deutlich, wie Wolfram auch hier paradigmatisch verschiedene Konstellationen des Genealogischen durchspielt, denn: Die Vererbung der Herrschaft im Reich nach dem Geblüt ist der beschriebenen Enterbung innerhalb der Fürstenfamilie entgegengesetzt. Nun erscheint König Loys zwar als unmittelbarer Nachfahre Kaiser Karls zur Herrschaft legitimiert, doch bei näherem Zusehen wird deutlich, dass er nicht der würdige Nachfolger des großen Vorgängers ist. Dem schwachen König Loys56 steht der starke Fürst Willehalm gegenüber: Dieser bringt den Krieg an den Hof des Königs (138,1 – 153,30) und als Krieger im Frieden bleibt er dort radikal ver-
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Ulrich Ernst/Klaus Ridder (Hrsg.), Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte der Erzhlliteratur des Mittelalters, Köln [u.a.] 2003 (Ordo 8), S. 201 – 222. Vgl. etwa Willehalm, 272,1 – 30; 274,1 – 26. Besonders hervorgehoben wird die Ähnlichkeit der Geschwister, ebd., 274,19 – 23: sich kunde alsus vermaeren, j als ob si bÞde waeren j f ein insigel gedrucket j und ghes her abe gezucket: j daz underschiet niht wan sn gran. Siehe dazu besonders die Szenen in Munleun und Willehalms bereits erwähnte Absicht, seine Schwester zu töten; Willehalm, 147,11 – 24. Diese Tendenz prägt den Willehalm in ganz anderer Weise als den Parzival. Wolfram hat Loys gegenüber der Quelle zwar aufgewertet, dies ändert aber letztlich nichts an seiner schwachen Position. Vgl. Michael Curschmann, „The French, the Audience, and the Narrator in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Neophilologus, 59/1975, S. 548 – 562, hier S. 551 – 553; Von einer „Verherrlichung des Königs“ (Marly) bei Wolfram kann die Rede nicht sein; vgl. Marie-Noël Marly, „Vom verachtungswürdigen Schwächling zum vorbildlichen König. Zur Kennzeichnung von Wolframs Bearbeitungsmethode im ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 100/1981, S. 104 – 118, hier S. 118.
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einzelt. In beispiellosem Zorn sprengt er das Hoffest in Munleun, trägt sich mit dem Gedanken, den König zu töten (138,6 – 10; 139,1 f.), greift die Königin an (147,11 – 24), beschimpft und schmäht sie (152,28 – 153,30), setzt seine Ansprüche auf militärische Unterstützung gegen die Abneigung und das Zögern des Königspaares durch und lässt keinen Zweifel daran, wie der König in seine Position gekommen ist.57 Als Königsmacher bezeichnet der Markgraf sich selbst als den eigentlich mächtigsten Mann im Reich, seinen Vasallenstatus betrachtet er dementsprechend als Schmach (145,16 – 146,13; 159,6 – 16). Seine Verdienste habe er, so betont Willehalm, bereits in den Kämpfen für Kaiser Karl errungen (146,4 – 6). Sie gründen in der Vergangenheit und sollen seine Ansprüche in der Gegenwart legitimieren. Implizit stilisiert sich Willehalm in Munleun zum eigentlichen Nachfolger Karls58, symbolisch nimmt er – so könnte man schließen – diese Rolle ein, als er nach der Versöhnung mit dem Königspaar in jene Gewänder gekleidet wird, welche für den Auftritt des Königs beim Fest bestimmt gewesen waren. Im königlichen Ornat sitzt der Markgraf nach seinen verbalen und körperlichen Angriffen auf das Herrscherpaar an der königlichen Tafel (174,1 – 175,25). Die kostbare Seide, welche er trägt, und seine ungewaschene Haut mit den Spuren des Kampfes, welche er nicht tilgen will, verbinden herrscherlich-höfischen Prunk mit den Zeichen des Krieges in harter Fügung. Auch im Gewand des Königs lässt sich Willehalm nicht vollständig in die Hofgesellschaft König Loys’ integrieren.59 Als dieser immer noch zögert, ihn zu unterstützen, droht jener mit der Rückgabe der Lehen (179,11 – 13) und 57 Vgl. die detaillierte Analyse der Szenen bei Kiening, „Wolframs politische Anthropologie“ (Anm. 6), S. 252 – 269; anders akzentuiert Kathryn Starkey, „Die Androhung der Unordnung. Inszenierung, Macht und Verhandlung in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 121/2002, S. 321 – 341; vgl. zum Kontext auch Gerd Althoff, „Wolfram von Eschenbach und die Spielregeln der mittelalterlichen Gesellschaft“, in: Wolfram-Studien, 16/2000, S. 102 – 120. 58 Grundlegend zum Problemkomplex ist noch immer Bumke, Wolframs ,Willehalm‘ (Anm. 6), S. 99 – 142. 59 Manifest wird dies auch in seinem Wunsch, den Kaufmann Wimar, der ihn zuvor schon gastlich aufgenommen hatte, zum Tischgenossen zu haben, sowie in seinem Verzicht auf üppige Speisen und Getränke. Willehalm hält sich an die Gyburc versprochene Askese und nimmt so nur bedingt an der Mahlgemeinschaft des Festes teil. Dazu gehört auch seine Verweigerung von Küssen seit dem Abschied von Gyburc; siehe Willehalm, 175,26 – 177,14.
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hält dem König vor: ,welt ir’z niht snelleclche tuon, j s wurdet ir nie Karels sun.‘ (179,5 f.). Hier wird die Legitimität von Loys’ Nachfolge als Herrscher explizit in Zweifel gezogen, und gleichermaßen insistiert Willehalm auf der Bedeutung seines Konfliktes für das Reich: Der Heidenkampf ist Reichsangelenheit, und es ist die Sache des Karlsnachfolgers, diese Verpflichtung anzunehmen.60 Erst als Loys zustimmt, wird er, wie es im Text heißt, seiner Stellung als Karls Sohn gerecht.61 Und dennoch erscheint Willehalm im Weiteren als der eigentliche Akteur für das Reich, nachdem ihm der König die Befehlsgewalt über das Heer und die Reichsfahne übergeben hat (211,1 – 22). Wie Kaiser Karl soll Willehalm den Schlachtruf Munschoi führen (212,17 – 24). Die ideale Genealogie – so hat Gert Melville in seinen Arbeiten herausgestellt62 – ist ein Konstrukt, in dem die Nachfahren als Nachfolger legitimiert sind und vice versa. Die Trias von Kaiser Karl, König Loys und Markgraf Willehalm bringt durch die Figur des Dritten eine Spannung in die binäre Abfolge von königlichem Vater und Sohn hinein, sie zeigt – dies unsere Schlussfolgerung – eine Erosion des genealogischen Prinzips auf der Ebene des Reiches, denn der direkte Nachfahre Loys ist nicht der ideale Nachfolger Karls, und der eigentliche Nachfolger Willehalm gehört nicht in die Blutslinie Karls. Abstrakter formuliert führt die Vererbung im Blut nicht zur adäquaten Sukzession im Amt. In der Gegenüberstellung von Willehalm als eigentlichem Nachfolger Karls mit dessen Nachfahren Loys wird der König – implizit und explizit – immer wieder delegitimiert. Wie sehr sich Willehalm dabei genealogisch mit Karl verbunden fühlt, ohne doch dessen Verwandter zu sein, zeigen insbesondere seine Klagen nach der zweiten Schlacht: ouwÞ, daz ich niht tt belac von des admirtes handen! d der keiser Ruolanden verls vor Marssiljen her 60 Willehalm, 182,16 – 23: dicke Karel wart genant: j des ellen solt er erben j und niht die tugent verderben, j diu im von arde waere geslaht; j daz er daechte an’s rches pfaht: j diu lÞrte in’z rche schirmen j und niemer des gehirmen j ern wurbe ’es riches Þre. 61 Willehalm, 184,28 f.: Der von Karel was erborn, j der begienc d Karels tcke. 62 Vgl. besonders Gert Melville, „Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft“, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Sptmittelalter und zur frhen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 203 – 309.
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und Olivieren, der wol ze wer was, und der bischof Turpn – noch ist diu vlust groezer mn. ist mich von Kareln f erborn, daz ich sus vil hn verlorn? der was mn herre und niht mn mc, dehein sn sippe an mir lac. von wem ist mich f geerbet, daz ich sus bin verderbet? (455, 4 – 16)
Was Willehalm von Karl – sozusagen jenseits der Blutslinie – geerbt hat, ist die Aufgabe des Heidenkampfes: Die Schlachten von Alischanz stehen in der Sukzession von Karls Kriegen. Wie Karl gegen Baligan kämpfte, so steht in der nächsten Generation Willehalm gegen dessen Neffen Terramer, und so ist auch Tybalt ein Verwandter jenes Marsilie, der in den Kämpfen Karls von Roland erschlagen wurde (221,12 f.).63 Inszeniert wird – im Rückgriff auf die Generation der Väter – somit eine Genealogie der Kämpfe, deren Ausdruck eine Vererbung des Leides ist. Darauf scheint das Genealogische in dieser Perspektive letztendlich reduziert. Auf dynastie-, reichs- und weltgeschichtlicher Ebene erweist sich der Verlauf der Historie als eine Abfolge von Konflikten, in die man hineingeboren wird und die ererbt werden. Solchermaßen wird dem Einzelnen sein Platz in der überindividuellen (heils)geschichtlichen Struktur zugemessen. Entscheidend ist dabei, dass das Genealogische, dessen zentrale Bedeutung für Wolfram fraglos ist, im Willehalm als Form der adäquaten Legitimierung von Herrschaft aus der Vergangenheit wenig profiliert wird. Dies erklärt auch, warum die genealogischen Linien der Familien von Willehalm und Loys nicht in die zeitliche Tiefe verfolgt werden. Dazu passt wiederum, dass die Vorgeschichte der Kämpfe um Alischanz im Verlauf des Textes nur bruchstückhaft und in Einsprengseln präsentiert wird64, pointiert könnte man sagen: nur insoweit, als es für die Erhellung des Zusammenhangs von Leid und Verderben erforderlich ist. Unsere These lässt sich schließlich auch im Rekurs auf den Versuch Terramers, seine Ansprüche auf den römischen Thron durch genealogische Fundierungen zu untermauern, noch – ex negativo – stützen, denn gerade hier wird deutlich, dass die behauptete Abstammung von 63 Schmid, „Enterbung“ (Anm. 12), S. 271, weist mit Recht darauf hin, dass Tybalts Ansprüche über seine Nähe zu Marsilie diskreditiert werden. 64 Vgl. dazu mit Rekursen auf die französischen Quellen ebd., S. 263 – 275.
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Pompeius seine Ansprüche im gegenwärtigen Krieg nicht rechtfertigen kann.65 Zudem vermag Terramer die genealogische Linie von Pompeius, welcher seiner Darstellung nach zu Unrecht vom römischen Thron vertrieben worden war, nicht einmal zu entwickeln, er postuliert sie nur. Jener ist nicht in der Lage, die römischen Könige damit zu delegitimieren. Seine Absicht, den römischen Thron zu erringen, zeigt freilich, dass die Kämpfe um Alischanz reichsgeschichtliche Dimensionen haben und im Horizont der Schlacht von Pharsalos zu perspektivieren sind.66 Indem Terramer eine alternative Genealogie der Geschichte des Reiches entwirft, wird allerdings auch deutlich gemacht, dass das Genealogische ganz unterschiedlich funktionalisiert werden kann. Ausgestellt wird in der literarischen Inszenierung damit als Konstrukt, was in politischen Begründungsdiskursen als Naturordnung gesetzt werden muss. Dass Genealogien grundsätzlich fingierbar sind, wird so im Medium der Literatur sichtbar: Die Kontingenz des Modells rückt in den Vordergrund. Genealogie, so möchten wir folgern, wird solchermaßen in den skizzierten Facetten als Modell der Legitimierung von Herrschaft problematisiert, was durchaus korrespondiert mit den im Willehalm vielfach beschriebenen Störungen der Familienverbände, die Herkunft kaum als adäquate Matrix der Identitätsbildung und Sinnstiftung erscheinen lassen. Akzentuiert wird dagegen die Verknüpfung von Genealogie und Leid. Das Genealogische wird primär als ein Zusammenhang des Leides, ein Vehikel des Verderbens dargestellt.67 Daher manifestiert sich seine Logik in erster Linie als eine Vererbung von Leid. Die Heillosigkeit der Welt und ihrer Deutungsmodelle, welche der Willehalm in der Verbindung verschiedener Semantiken und Strukturen zeigt, lässt sich mithin nicht nur nicht über die genealogischen Verbindungen einzelner 65 Willehalm, 338,16 – 339,2: ,nch prses gewinne j suln wir noch hiute werben j als, daz vor uns sterben j Ls Rmaere, j d ich billcher waere j knec. ir hoert mich’z lange klagen: j mn houbt solde roemisch krne tragen, j dar umbe mn veter Blign j verls manegen edelen man. j f roemisch krne sprich ich sus: j der edele PompÞjus, j von des gesleht ich bin erborn j (ich enhn die vorderunge niht verlorn), j der wart von roemischer krne vertribenj z’unreht. manec knic ist beliben j d st f mnem erbe: j ich waen, ez noch manegen sterbe.‘ 66 Vgl. dazu und zu möglichen Quellen Wolframs Heinzle, Kommentar (Anm. 1), S. 1039 f. 67 Diese Vorstellung ist im Parzival angelegt, doch wird sie im Willehalm deutlich radikalisiert. Vgl. Parzival, 465,1 – 6.
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Verwandtschaftsverbände oder über in der göttlichen Schöpfung begründete universalgenealogische Verknüpfungen bewältigen, sondern jene Heillosigkeit wohnt dem Genealogischen selbst inne. Die aporetischen Konstellationen von Glaubenskampf, Reichskrieg und Sippenkonflikt lassen sich nicht über die Grammatik des Genealogischen lösen.
V Nun hat die ältere Forschung Potenziale zur Bewältigung des Konflikts zwischen Heiden und Christen gerade in der Reflexion des Religiösen im Text gesehen. Insbesondere wurde dafür Gyburcs große Rede im Fürstenrat in Anspruch genommen. Indem man ihr Gebot, die Heiden zu schonen und die von ihr vorgebrachten religiösen Begründungen im Sinne einer Toleranzidee generalisierte68, wurde die religiöse Semantik des Willehalm überdehnt. Die jüngere Forschung hat diese Hypostasierungen zu Recht kritisiert.69 Wie problematisch ein religiös begründeter Vermittlungsversuch ist, zeigt gerade Gyburcs Gebot, die Heiden als gotes hantgett zu schonen (306,28) – das Zentrum ihrer Rede im Fürstenrat. Dieser Appell ist mit Klagen, auch heftigen Selbstanklagen der Markgräfin verbunden, und er erstickt in ihrem Weinen (306,4 – 310,30; 311,4 f.). Keineswegs kann er als Handlungsanweisung verstanden werden, den Krieg gegen die Heiden einzustellen, schließt er sich doch unmittelbar an Gyburcs expliziten Wunsch an, die Christen sollen im Kampf auf Alischanz Willehalms jungen Neffen Vivianz rächen (306,18 – 24). Ihre Worte sind vielmehr Ausdruck eines Erbarmens mit den Heiden auf der Grundlage der Mitmenschlichkeit und der gemeinsamen Gottesgeschöpflichkeit70, und es ist dieses Erbarmen, welches sich auch im Kampf und – folgt man der Rede genau – nach dem Sieg zeigen kann: ob iu got sigenunft dort gt,j lt ez iu erbarmen ime strt! (309,5 f.) Gyburcs Mitleid und ihr Aufruf sind wiederum auch durch Gottes Handeln in der Heilsgeschichte legitimiert: Die Markgräfin orientiert sich an der misericordia Gottes, welche sein Wirken, wie 68 Vgl. dazu die in Anm. 2 zitierte Literatur. 69 Vgl. dazu etwa Kiening, Reflexion (Anm. 6); Strohschneider, „Kreuzzugslegitimität“ (Anm. 6); Wachinger, „Schichten“ (Anm. 6); Fuchs, Hybride Helden (Anm. 6). 70 Zum Forschungsstreit, ob Gyburc den Heiden auch Gotteskindschaft zumisst, vgl. die in Anm. 2 zitierte Literatur.
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sie sagt, je und je bestimmt hat und welche sich besonders in seiner grenzenlosen Bereitschaft, auch den Feinden zu vergeben, manifestiert: swaz iu die heiden hnt getn, ir sult si doch geniezen ln, daz got selbe f die verks, von den er den lp verls. (309,1 – 4)
Was in Gyburcs Rede diskursiviert wird, setzt Willehalm nach der zweiten Schlacht mit der Schonung der Heidenkönige in der Matribleizszene in einer einzigen Tat um (461,8 – 467,8). Indem man auch Willehalms Akt der Schonung isolierte und wiederum mit der Toleranzidee verknüpfte, missachtete man nicht nur seine unmittelbare syntagmatische Einbindung, sondern auch seine vielfältigen paradigmatischen Bezüge.71 Willehalms Handlung erscheint als eine Möglichkeit, die Mechanik der Rache, die die Kämpfe immer wieder begleitet, nach der zweiten Schlacht zu durchbrechen. Gewalt folgt in den Kämpfen auf Gewalt, und die Rachehandlungen bedingen sich gegenseitig. Die Schonung der Heidenkönige ist im Handlungsgeflecht daher nicht nur auf Gyburcs Rede zu beziehen, sondern verweist auch paradigmatisch auf Willehalms brutale Rache an Arofel und seine Schändung des Leichnams zurück. Jene zeigt sich – so gelesen – als Kehrseite von Willehalms eigenem Rachehandeln. Die Fürsorge für die getöteten Heidenkönige folgt dem christlichen Ethos des Erbarmens und zugleich manifestiert sich darin, versteht man schnen 72 als schne handeln, ein höfisches Ideal:73 Das Höfische, auf das christliche und heidnische Kämpfer verpflichtet sind und das trotz aller äußeren höfischen Prachtentfaltung in den Kämpfen immer wieder missachtet wird, wird solchermaßen mit akzentuiert. Christliche Tugend und höfisches Ideal werden im Appell Gyburcs und in der Geste Willehalms auf das Engste verbunden. Weder wird dadurch der Kreuzzug delegitimiert noch die Bereitschaft zu weiterer Gewalt auf71 Exemplarisch sei hier auf Christa Ortmann verwiesen, welche in der Szene die „Vision eines umfassenden Friedensreiches“ sieht. Vgl. Christa Ortmann, „Der utopische Gehalt der Minne. Strukturelle Bedingungen der Gattungsreflexion in Wolframs ,Willehalm‘“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 115/1993, S. 86 – 117, hier S. 115. 72 Vgl. dazu noch einmal Willehalm, 306,28. 73 Vgl. Fuchs, Hybride Helden (Anm. 6), S. 282 f. mit Anm. 100 und die dort zitierte Forschungsliteratur.
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gegeben74 noch wird ein Ausweg aus den Konflikten gewiesen. Konturiert wird vielmehr eine in christlichen und höfischen Idealen fundierte Haltung, die auf die Unlösbarkeit der Konflikte antwortet. Diese Haltung zeigt sich nun auch auf der Ebene des Erzählers. Zwischen Gyburcs Rede, Willehalms Handlung, dem Mitleid des Erzählers sowie dem Erbarmen Gottes wird solchermaßen ein Zusammenhang deutlich. Was sich auf der Ebene der narratio nur punktuell manifestieren kann und als Konfliktlösungsmodell im Heidenkrieg nicht belastbar ist, die christliche misericordia, zeigt sich auf der Erzählerebene im Gestus der Klage.75 Leitmotivisch spannt sich diese über den gesamten Text und äußert sich im Mitleid, das der Erzähler Heiden wie Christen gleichermaßen entgegenbringt. So bedauert er etwa den Heiden Noupatris und den Christen Vivianz: si wurben bÞde umb den tt. ich bin noch einer, sw man’z saget, der ir tt mit triuwen klaget: disen durh prs und durh den touf und jenen durh den tiuren kouf, daz er ouch prses gerte. (23,14 – 19)
Dieses Klagen erscheint als adäquates literarisches Medium des Insistierens auf Konflikten, für die es strukturell und semantisch keine Lösungen in der erzählten Welt geben kann, denn Naturgewalten vergleichbar bricht das Kampfgeschehen immer wieder über die Menschen herein. Wolfram veranschaulicht dies mit einer Fülle von Bildern aus der Natur76, die rekurrenten Metaphern etwa von der heranwogenden Flut, dem bewegten Meer, dem Regen und Gewitter stiften paradigmatische Konnexe über die Kampfhandlungen hinweg und inszenieren 74 Vgl. etwa Willehalm, 466,4 – 15. 75 Vgl. etwa Willehalm, 4,26 f.; 12,16 – 18; 13,2 – 4; 13,25 – 27; 14,29 f.; 400,1 – 12, passim; vgl. dazu mit umfänglicher Dokumentation der Textstellen besonders Schröder, „minne“ (Anm. 9); Uwe Pörksen, Der Erzhler im mittelhochdeutschen Epos, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), S. 84 – 89 und 169 – 177; Eberhard Nellmann, Wolframs Erzhltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzhlers, Wiesbaden 1973, S. 176 – 178. Mit den Klagen des Erzählers korrespondieren wiederum unzählige Klagen der Figuren des Romans. Vgl. zur Trauer der Figuren und des Erzählers jüngst Elke Koch, Trauer und Identitt. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin – New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 92 – 122. 76 Exemplarisch sei hier verwiesen auf Willehalm, 392,6 – 9; 393,20 – 25; umfassend dazu Kiening, Reflexion (Anm. 6) 130 – 149.
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den Verlauf der Geschichte als Natur. Gerade diese Naturalisierung des Krieges über die Metaphorik, welche ihrerseits nicht in einer Dichotomisierung der Heiden und der Christen über die impliziten Semantiken des Guten und Bösen aufgeht, zeigt, wie sehr die Einzelnen dem Kampf ausgesetzt sind.77 Was angesichts dessen bleibt, ist die Klage. Bei aller Vielgestaltigkeit der Erzählerrolle Wolframs ist es doch dieser Gestus, der immer wieder aufgenommen wird und ganz maßgeblich die Erzählerfigur konstituiert. Mit Blick auf die Spannung religiöser Reflexion und literarischer Kommunikation lässt sich pointieren, dass sich die Semantiken des Religiösen im Willehalm auf der Ebene des discours zu einem Erzählprinzip der Klage verdichten.
VI Es bleibt nun noch die Frage, welche Impulse das Höfische im Heidenkrieg freisetzen kann. Wie bereits betont wurde, partizipieren Heiden und Christen gleichermaßen am Höfischen, wodurch sich die Möglichkeit eröffnet, Dichotomien zwischen den Kampfparteien immer wieder zu überspielen. Dieser Impuls wird jedoch durch Wolframs massive Kritik am Höfischen konterkariert. So wird der feige Rückzug des Reichsheers über die Sehnsucht der Ritter nach Frauendienst und höfischer Bequemlichkeit motiviert.78 Wie fragwürdig Minnerittertum unter den harten Bedingungen der Schlacht wird, zeigt nachgerade auch die besprochene Vivianzszene. Fluchtpunkt solcher Kritik ist bei Wolfram nicht nur im Willehalm, sondern auch im Parzival eine Revision des Höfischen mit seinem Zentrum der Minne: Gegenüber der leidenschaflichen Überspanntheit der höfischen Minne wird die Ehe privilegiert.79 Narrativ entfaltet wird im Binnenraum des Textes die Vorstellung von der geschlechtlichen, ehelichen Liebe des Paares als einer innerweltlichen Möglichkeit des Glücks. Dies wird im gesamten Verlauf des 77 Durch die in den Text hineinzitierte Vorstellung der Sintflut, welcher Gyburc wie Noah standhalten muss, kommen zudem weitere heilsgeschichtliche Konnotationen der Kämpfe ins Spiel; Willehalm, 178,14 – 17: ob NÞ in der arke j grzen kumber ie gewan, j den selben mac Gburc wol hn j von rterschefte bervluot. 78 Vgl. z. B. Willehalm, 323,15 – 324,7; vgl. auch Curschmann, „The French“ (Anm. 56). 79 Dies ließe sich an der paradigmatischen Reihe überspannter Minnekasus im Parzival ebenso zeigen wie an Wolframs Tageliedcorpus.
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Textes deutlich, ganz besonders aber in den beiden Minneszenen zwischen den Schlachten, die Wolfram über die seine Vorlage hinaus in die Handlung eingefügt hat. Die erste Minneszene folgt auf Willehalms Rückkehr zu Gyburc nach der ersten verheerenden Schlacht (99,8 – 100,25): Gyburc hatte den Markgrafen in der Rüstung Arofels, ihres Onkels, zunächst für einen Heiden gehalten (89,10 – 90,23) und gewährte ihm erst Einlass, als er seine Identität über die Befreiung gefangener Christen (90,24 – 30) und vor allem auch über die ihn charakterisierende Narbe (92,14 f.) unter Beweis stellen konnte. Angesichts seines unermesslichen Verlustes und Leides sucht Willehalm nun Trost bei seiner Frau: n geben beide ein ander trst: j wir sn doch trrens unerlst (92,29 f.). Gyburc weiß wie ihr Gemahl, dass durch die Ankunft ihres Vaters und seiner Heerscharen, deren Heranfluten der Erzähler ausführlich schildert (96,6 – 17), neue Kämpfe und neues Unheil drohend bevorstehen80, doch sie zeigt geradezu männliche Tapferkeit (95,3 – 5). Willehalm küsst seine Frau und macht deutlich, dass ihm der Lohn ihrer Liebe mehr bedeutet als alle Gefahr für sein Leben: wer mçht ouch haben den gewin, als ich von dir berten bin an hher minne teile, sn leben waere dar umbe veile und allez, daz er ie gewan? (95,11 – 15)
Die Kämpfe werden hier und im Folgenden aufgewogen gegen die Liebe, jene vermag das schon erlittene und das unmittelbar bevorstehende künftige Leid, jene vermag das feindliche Heer, das sich in nächster Nähe sammelt, zu distanzieren – zumindest für Momente des Glücks. Diese heilbringende Wirkung der Liebe wird zudem in der Vorstellung von Gyburc als Heilender umgesetzt. In der Kemenate hilft sie dem Geliebten, die Rüstung abzulegen und verbindet sie seine Wunden so, dass, wie der Erzähler im Rekurs auf den Parzival sagt, selbst Anfortas nicht besser versorgt worden sei (99,29 f.). Der Liebesakt wird sodann als Recht der Liebenden dargestellt, sich zu nehmen, was ihnen zusteht (100,4 – 10). Während Willehalm mit dem Kopf am Herzen Gyburcs einschläft und neue Kraft schöpfen kann, kehren die quälenden Sorgen der Kö80 Willehalm, 94,18 – 22: uns nhet swachiu wnne. j het wir doch sçlhe kraft, j daz si an den zingelen rterschaft j und hie zen porten mesen holn, j d von si mçhten schaden doln!
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nigin zurück, äußert sie ihr tiefes Leid im Gebet und den Bitten an Gott und verströmt ihre Tränen über den schlafenden Geliebten (100,26 – 102,24). Fast nahtlos geht die Minneszene in das Gebet über, und doch wird die Liebe dadurch nicht religiös transzendiert. Zwar wird Gyburc als Heilsmittlerin stilisiert, doch erscheint sie nicht als Minneheilige.81 Das Heil, welches die Liebenden inmitten der Heillosigkeit des Kampfgeschehens in der Liebe finden, bleibt vielmehr radikal diesseitig, es erwächst aus der körperlichen Hingabe. In der Verschmelzung des Paares im Liebesakt, in der Intensität dieses Augenblicks wird das irdische Glück im Horizont von Willehalms bevorstehendem Aufbruch nach Orange möglich.82 Die zweite Liebesszene vor dem Beginn der zweiten Schlacht stellt das Glück der Liebe dann noch einmal vor Augen. Hier wird der Aspekt der Vergeltung des Leides durch die Liebe besonders stark gemacht. an ein bette wart gegangen, d er und diu kneginne pflgen sçlher minne, daz vergolten wart ze bÞder st, daz in f Alischanz der strt hete getn an mgen: s geltic si lgen. (279,6 – 12)
Die eheliche Liebe ist Ausgleich für alle Verluste, was im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Passage noch einmal unterstrichen wird, indem die Verluste Willehalms als so groß bezeichnet werden, dass sie nicht einmal der Gral aufwiegen könnte (279,27). Gerade indem die Liebe die Kraft des Grals noch überbietet, zeigt sich, welche Geltung ihr zugemessen wird: Sie kann das Leid des Markgrafen mit vreuden undersniten (280,9).83 Weder werden die bestehenden Konflikte durch diese Liebe gelöst noch in ihrer Schärfe gemildert, doch die Liebe vermag – und darin liegt gerade ihre Macht – auch angesichts der Heillosigkeit dieser 81 Die kontroversen Positionen zu Gyburc als heilic vrouwe, wie sie Wolfram eingangs des 9. Buches anruft (Willehalm, 403,1), sind dokumentiert bei Greenfield/Miklautsch, Willehalm (Anm. 52), S. 193 – 200. 82 Die Momente des Glücks in der Spannung des Abschieds sind es gerade auch, die Wolfram in seinen Tageliedern zum Thema macht. Von besonderer Bedeutung ist hier der Begriff des urloup. Vgl. dazu etwa Volker Mertens, „Dienstminne, Tageliederotik und Eheliebe in den Liedern Wolframs von Eschenbach“, in: Euphorion, 77/1983, S. 233 – 246. 83 Die Wiederholung der Begrifflichkeit des geltens stützt dies noch.
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Welt Glück zu stiften, indem sie das Leid, zumindest für den Augenblick und ein Stück weit, distanziert. Ein schönes Bild dafür bringt der Erzähler, wenn er im Blick auf die Liebesszene sagt, die Sorge sei so weit von Willehalm geritten, dass sie kein Speer hätte erreichen können: diu sorge im was s verre entriten, j si mçhte erreichen niht ein sper (280,10 f.). Die Sorge hat sich entfernt, wenn auch nur etwas weiter als einen Speerwurf. Die Ehe zwischen Willehalm und Gyburc überbrückt die Grenzen zwischen Heiden und Christen und verschärft doch zugleich die agonale Konfrontation der Völker und Reiche. Auch wenn in diesem maere, wie der Erzähler im auf die zweite Liebesszene folgenden Exkurs zu Freude und Leid ausführt (280,13 – 281,16), das Leid dominiert (diz maere b vreuden selten ist, 280,21), so wird doch die Bedeutung und das Glück der Liebesfreude dadurch – wie wir akzentuieren wollen – nicht relativiert. Vielmehr liegt darin, dass die Heiligen Willehalm und Gyburc trotz unermesslichen Leides ihr Heil – momenthaft – in der erotischen Vereinigung finden, eine Aufwertung der innerweltlichen Liebe. Das Zentrum der ehelichen Minne ist jene triuwe, welche sich in den verwandtschaftlichen Bindungen der Figuren – wie bereits gezeigt – vielfach als gestört erweist. Indem Gyburc ihre Liebe zum Markgrafen stets auf die Gottesliebe bezieht84, wird diese religiös transgrediert, ohne doch den Status einer Minnereligion zu gewinnen. Zu fragen ist nun, ob und welche Funktion diese Minne über das Glück einer momenthaft bleibenden Ausblendung des Leids hinaus haben kann. Betrachtet man die narrativen Einbindungen der Minneszenen85, wird deutlich, dass die Minne nicht lediglich im Sinne eines utopischen Eskapismus verstanden werden kann. Erst mit Blick auf die narrative Kontextualisierung erschließt sich das Potenzial, das in Wolframs Text der Minne zugemessen wird. Zu berücksichtigen ist, dass die beiden Minneszenen Willehalms Weg nach Munleun rahmen: Die Kraft der Liebe ist die Bedingung dafür, dass es Willehalm mittels äußerst provozierender Inszenierungen im Zentrum des Reiches gelingt, den schwachen König und seinen Hof, welche in Pracht und Bequemlichkeit höfischer Kultur verharren, sowie Rennewart als Werkzeug Gottes für den Krieg zu gewinnen und damit Reich und 84 Vgl. etwa Willehalm, 216,1 – 3; 310,17 – 20. 85 Zum Erzählerexkurs, der sich unmittelbar anschließt, vgl. die umfängliche Analyse von Kiening, Reflexion (Anm. 6), S. 172 – 175.
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Christentum nicht der heidnischen Macht Terramers preiszugeben. Willehalms Gelübde beim Abschied von Gyburc, daz diu jmers lanze sn herze immer twunge, unz im s wol gelunge, daz er si d erlste mit manlchem trste (105,2 – 6),
und sein Versprechen der Askese (105,7 – 13) binden das Paar trotz aller Entfernung aneinander.86 Seine programmatische Fremdheit am Hof, seine offensive Desintegration, die sich im Fasten und in der Kussverweigerung äußert, sind die Voraussetzungen für die Durchsetzung seines Anliegens und werden als unmittelbar in ehelicher triuwe gründend stilisiert. Motive der Legende, Gelübde und Askese, werden hier auf die innerweltliche Liebe hin perspektiviert. Nicht im Minnerittertum, sondern in der Ehe, in der sich alle positiven Aspekte des Höfischen bündeln, wird der Sieg der Christenheit auf Alischanz narrativ fundiert. Darin liegt, so wollen wir betonen, keine Heiligung der Ehe, aus Gyburc und Willehalm werden keine Minneheiligen, denn die Liebe wird gerade in ihrer innerweltlichen Erotik vor Augen geführt. Dass sie dennoch zur Bedingung der Rettung der Christen wird, ist eine literarische Inszenierung, die nicht in theologische Diskurse übersetzbar ist.
VII In Wolframs Willehalm werden poetische Verfahren zum Medium der Reflexion des Heidenkrieges. Auf der Mikroebene versuchten wir zu zeigen, wie die kulturkonstitutiven Semantiken von Glaubenskampf, Martyrium, Heldentum, Ritterschaft und Minne durch paradigmatische Variation in ihrer Tragweite für den Heidenkrieg erprobt und relativiert werden. Durch das literarische Verfahren paradigmatischen Erzählens wird dabei zumindest in Ansätzen formulierbar, was in anderen Diskursen durch die den Heidenkrieg legitimierenden Ideologien begrenzt wird. In solcher Proliferation, die auch die religiösen Semantiken erfasst, 86 Vgl. zu den politischen Implikationen der Eheminne Thomas Grenzler, Erotisierte Politik – politisierte Erotik? Die politisch-stndische Begrndung der Ehe-Minne in Wolframs ,Willehalm‘, im ,Nibelungenlied‘ und in der ,Kudrun‘, Göppingen 1992 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 552), S. 50 – 84.
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liegt ein Spezifikum literarischer Kommunikation, welches von Wolfram besonders virtuos eingesetzt wird. In der wohl nur literarischer Kommunikation eigenen Kompaktheit von Bildern lassen sich die verschiedenen Semantiken von Ritterlichkeit, Heldentum und Heiligkeit, durch welche die Figuren des Romans konstituiert werden, immer wieder verbinden. Jene auf der Mikroebene erschlossenen poetischen Verfahren bleiben nicht ohne Effekte auf der Ebene der Makrostrukturen. Dies versuchten wir zu zeigen, indem wir verfolgten, wie kulturelle Formationen des Genealogischen, Höfischen und Religiösen im literarischen Text transformiert werden. Dem Genealogischen kommt dabei in Wolframs epischen Werken eine besondere Scharnierfunktion zu, denn es verweist in seiner universalgenealogischen Dimension auf die göttliche Schöpfung einerseits, in seiner partikularisierenden Dimension auf adlige Identität und Exklusivität andererseits. Durch die Überblendung zweier verschiedener Bezugssysteme changiert das Genealogische zwischen den religiösen Appellen zur Integration und jenen adliger Exklusion. Insofern lag für uns die Frage nahe, ob es als Vermittlungsinstanz im Heidenkrieg belastbar ist. Da Wolfram jedoch universale und partikulare Aspekte des Genealogischen gleichzeitig akzentuiert, wird die zentrale Aporie des Dispositivs fokussiert: In der religiös fundierten universalgenealogischen Perspektive wird solchermaßen gerade das sichtbar gemacht, was in den genealogischen Diskursen adliger Legitimierung von Herrschaft sowie Identitäts- und Sinnstiftung auszublenden ist. Indem Wolfram die Aporetik des Genealogischen und seine Störungen immer wieder ausstellt, wird schließlich der Entwurfcharakter genealogischer Ordnungen in der Literatur thematisch. Gerade durch die inszenierte Überlagerung verschiedener genealogischer Reichweiten werden die Konflikte zugespitzt und in ihrer Komplexität gesteigert. Die Leitideen des Höfischen und das Ethos christlicher Barmherzigkeit scheinen zwar immer wieder im Text auf, können jedoch keine tragende Wirkung im Heidenkrieg entfalten. Ihre Geltung bleibt in den schwierigen Konstellationen des Konflikts begrenzt. Die christliche misericordia, die sich auf der Ebene der narratio nur punktuell manifestieren kann, entfaltet sich auf der Erzählerebene im Gestus der Klage. In der ubiquitären Klage des Erzählers wird auf der Unlösbarkeit der Aporien, die der Text allenthalben hervortreibt, insistiert. Solcherart wird die Heillosigkeit der Welt und ihrer Deutungsentwürfe im literarischen Gestus der Klage exponiert.
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Bulang / Kellner, Heidenkrieg
Im Zeichen einer Revision des Höfischen und seines Zentrums, der Minne, gewinnt die Ehe zwischen Willehalm und Gyburc besonderen Stellenwert. Auf jene werden die positiven Aspekte des Höfischen übertragen und religiös aufgeladen. Im Horizont der Liebe zu Gott konstituiert sich die eheliche minne, so könnte man pointieren, in der Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz. Die Ehe scheint somit in die Nähe von Heiligkeit zu rücken. Vielfach wurde beobachtet, dass die Heiligkeit des Ritters Willehalm im Prolog nur vorausgesetzt ist, jedoch nicht im Sinne eines Legendenschemas entwickelt wird. Auffällig ist nun, dass Elemente legendarischen Erzählens auf die Ehe- und Minnebindung zwischen Willehalm und Gyburc übertragen werden: Zu erinnern ist noch einmal an Willehalms Askese und sein Gelübde. Gerade diese Nähe von Eheminne und Heiligkeit erscheint uns als Spezifikum des literarischen Entwurfs. Religiöse Erzählmuster werden hier verfügbar gemacht für die literarische Reflexion der Minne. Nur in der Literatur wird es möglich, die Heidin Arabel und christliche Ehefrau Gyburc zur heilic vrouwe (403,1) zu stilisieren. Durch die narrative Funktionalisierung dieser gleichzeitig erotisch und religiös bestimmten Eheminne wird in Wolframs Text die Gefahr für das Reich abgewendet. In solcher Dimensionierung der Minne, die höfische und religiöse Aspekte integriert und die theologisch nicht einholbar ist, zeigt sich einmal mehr die besondere Komplexität und Kompaktheit von Wolframs literarischem Entwurf. Sie können sich im Willehalm vor dem Hintergrund einer im Prolog programmatisch formulierten Engführung literarischer und religiöser Kommunikation entfalten.
Symbolkonkurrenzen und kommunikative Leerstellen. Wolframs Parzival: Ein Prototyp auf der Suche nach seinem Standort Hans-Georg Soeffner I Vorbemerkung Über Wolframs Parzival ist von so vielen soviel Kluges bereits geschrieben worden, dass sich mit Fug und Recht fragen lässt, was mich dazu bringt, der in all diesen Arbeiten angehäuften Gelehrsamkeit noch etwas hinzufügen zu wollen: so, als könne ausgerechnet ein NichtMediävist, ein Fachfremder – dazu noch ein Soziologe und damit ein den sich ständig ändernden Gegenwarten Hingegebener – etwas bahnbrechend Neues in einem alten, so oft interpretatorisch hin- und hergewendeten Text finden. Um bahnbrechend Neues, soviel sei gleich gesagt, geht es mir in den folgenden Überlegungen nicht, sondern eher um einen perspektivisch leicht verschobenen Zugang zu einer ebenfalls schon oft behandelten Problematik: um die Frage nach literarischen Antworten Wolframs auf das von ihm im Parzival-Roman dargestellte Spannungsverhältnis zwischen höfischer Gesellschaft und Gralgemeinschaft, zwischen dem Symbolsystem idealisierten höfischen Verhaltens und dem mit dem Gral verbundenen ,religiösen‘ Symbolsystem – und nicht zuletzt auch um die Lösung, die ein einzelner: ein vom Autor entworfener ,Fall‘, der zum literarischen ,Typus‘ werden kann oder soll1, für sich als Ausweg aus diesem Spannungsverhältnis findet. Joachim Bumke hat die gleichzeitig aufeinander bezogenen und einander widersprechenden Symbolwelten – exemplifiziert an Gawan und Parzival – „vereinfacht“ so charakterisiert, dass man die „Parzival1
Vgl. hierzu Clemens Lugowski, Die Form der Individualitt im Roman, Frankfurt/ M. 1976 (zuerst 1932) und Jan-Dirk Müller, „Clemens Lugowski“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 53/2006: Klassiker der Germanistik. Local Heroes in Zeiten des Global Thinking, S. 28 – 39.
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Hans-Georg Soeffner
Handlung im Roman sub specie aeternitatis […], die Gawan-Handlung dagegen sub specie societatis“ behandeln könne.2 Zu den theologischen Fragen, die sich sub specie aeternitatis mit der ,Schuldproblematik‘ des Helden beschäftigen3, zählt zwar auch die nach dem Einfluss der ,Laientheologie‘ des ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts, nicht aber die nach übergreifenden Religionskonzepten, mit deren Hilfe sich die von Wolfram mit Parzival geschaffene Fallspezifik analytisch fassen lässt. Um eben jene religionssoziologisch motivierte Perspektivik soll es im Folgenden gehen. Die mittelalterliche Theologie wird von mir dabei weitgehend vernachlässigt, wenngleich sie – was ihre Grundstrukturen angeht – in einem der im Folgenden behandelten Religionskonzepte, in Peter L. Bergers substanzialistischem Entwurf 4, immer noch eine wichtige Stellung innehat.
II Religion ist, ganz gleich, welche Definition man mit diesem Ausdruck verbinden möchte, – neben vielen anderen – immer auch ein jeweils historisch spezifisch sich ausdrückendes, kommunikatives Konstrukt.5 Sie stellt den Menschen ein gesellschaftlich verankertes Vokabular zur Verfügung, mit dessen Hilfe sie den Sinn: die ,Natur‘ ihres Lebens, Leidens und Sterbens fassen und mit einer übergreifenden Ordnung in Beziehung setzen können. So ist der fundamentale, geschichtsübergreifende, eigentlich religiöse Vorgang in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Religion darin zu sehen, dass sie jene gesellschaftlich herausgebildeten und tradierten Modellierungsformen bereitstellt, „die den einzelnen in eine gesellschaftlich und geschichtlich transzendente Wirklichkeit“ einpassen. Selbst dann, wenn in einer konkreten historischen Gesellschaft „Erfahrungen von Transzendenz 2 3 4 5
Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. völlig überarbeit. Auflage, Stuttgart – Weimar 2004, S. 176. Vgl. Ebd., S. 128. Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988 (zuerst 1967). Vgl. hierzu Hartmann Tyrell/Volkhard Krech/Hubert Knoblauch (Hrsg.), Religion als Kommunikation, Würzburg 1998; darin bes. Hubert Knoblauch, „Transzendenzerfahrung und symbolische Kommunikation. Die phänomenologisch orientierte Soziologie und die kommunikative Konstruktion der Religion“, S. 147 – 186.
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höherer Größenordnung6 […] nicht vorkonstruiert sind oder, wenn sie es sind, sich einzelne oder viele an den vorkonstruierten Modellen nicht ausrichten,“ bleibt die „Einfügung des individuellen Organismus der Gattung homo sapiens in die Transzendenz einer historischen Gesellschaft“ ein religiöser Vorgang.7 Für den Einzelnen entsteht aus der Einpassung in die symbolische Ausgestaltung einer Religion ein ,sinnhafter Aufbau‘ (A. Schütz) der Welt: „Wer sich die religiösen Symbole zu eigen machen kann, hat – solange er es kann – eine kosmische Garantie dafür, nicht nur die Welt zu verstehen, sondern auch seine Empfindungen und Gefühle präzise definieren zu können, wodurch es ihm möglich wird, diese Welt verdrießlich oder freudig, verbissen oder gelassen zu ertragen.“8 Die sinn- und gemeinschaftsstiftende Leistung der Religion entlässt den Einzelnen jedoch nicht aus jenem Dilemma, das zum evolutionäranthropologischen Erbe der Gattung homo sapiens zählt, und das die spezifische Haltung des einzelnen Menschen gegenüber sich selbst, anderen Menschen und der Welt fundiert. Dieses Dilemma: das Leben des Menschen in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zu sich selbst und ,der Welt‘, hat Helmuth Plessner als ,exzentrische Positionalität‘ charakterisiert.9 Kierkegaard brachte es auf die ebenso knappe wie präzise Formel, dass der Mensch ein Verhältnis sei, das sich zu sich selbst verhalte, und dass das Individuum, sofern es sich an einem gesellschaftlichen ,Außen‘ orientiere, „sich selbst außer sich selbst in sich selbst“ habe.10 All diese Formulierungen und Charakterisierungsversuche beziehen sich auf eine anthropologische Grundstruktur, die den Einzelnen nicht nur in ein Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zu anderen Einzelnen und zur ,Gesellschaft‘ (Familie, Clan, Gemeinschaft, Volk etc.) setzt. Solange der einzelne Mensch fest eingebettet und positioniert ist in einem überschaubaren, gesellschaftlichen Verband, mit dem er die 6 Zur ,innenweltlich‘ fundierten Bedeutung des Begriffes „Transzendenz“ vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1984, Bd. 2, S. 139 – 200. 7 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1991, S. 165. 8 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beitrge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 67. 9 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin – New York 1975 (zuerst 1929). 10 Sören Kierkegaard, [Texte], ausgewählt und eingeleitet von Hermann Diem, Frankfurt/M. (1956), S. 56 f.
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gleiche Weltsicht, die gleichen Überzeugungen und weitgehend das gleiche Wissen teilt – so wie dies in den so genannten ,einfachen‘ Gesellschaften der Fall ist – wird ihm die eigene Position und damit seine persönliche Identität nicht zum Problem: Er weiß, wer er ist, wo er steht, wer die anderen sind, wo sie stehen, und er teilt dieses Wissen mit jedermann in seinem Verband. So sicher die gesellschaftliche Positionierung auch ist, sie lässt auch in derart geschlossenen Gesellschaften dennoch den Einzelnen nicht restlos im Verband aufgehen. In seiner Position und seinen Rollen könnten andere ihn ersetzen, in seiner individuellen Lebenszeit und Prägung nicht. Seine Krankheiten und Schmerzen, sein glücklicher Augenblick oder augenblicklicher Schrecken bleiben ebenso sein individuelles ,Eigentum‘ wie das eigene Sterben und der eigene Tod. Strukturell bilden die Vergesellschaftung des Einzelnen und seine immer mögliche Vereinzelung eine unauflösbare, widersprüchliche Einheit. Es ist beinahe ausschließlich der ,westliche Kulturkreis‘, der seit der Aufklärung allgemein zu fassen versucht (versuchen muss), was sich in ihm in einer spezifischen historischen, sozialstrukturellen Entwicklung als zunehmende ,Individualisierung‘ seiner Gesellschaftsmitglieder vollzogen hat. Von Kant über Fichte, Hegel, Mead, Freud und Plessner bis in die Gegenwart reichen die Versuche, ein ,Ich‘ als Teil und zugleich als Grenze von Gemeinschaft und Gesellschaft zu beschreiben. Was dem Einzelnen im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung dieses Kulturkreises auferlegt wurde, wird nun nicht nur gelebt, sondern auch abstrakt entfaltet und als Struktur offengelegt: „Wenn ich sage: ,Ich‘, meine ich Mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist ebenso jeder: Ich, der alle anderen von sich ausschließt. […] Alle anderen Menschen haben es mit mir gemeinsam, Ich zu sein, wie es allen meinen Empfindungen, Vorstellungen, usf. gemeinsam ist, die meinigen zu sein.“11 Das eigentliche Gegenüber von Gemeinschaften oder Gesellschaften und deren Weltsicht – Kultur und Religion – ist, wie sich an der von Hegel, Kierkegaard und Plessner beschriebenen Struktur erkennen lässt, der einzelne Mensch: Zur Struktur der conditio humana gehört die jederzeit mögliche und damit potenziell immer drohende Vereinzelung des Einzelnen. Die unentwegte gesellschaftliche Arbeit und Anstren11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mndlichen Zustzen. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8, Frankfurt/M. 1970, S. 74.
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gung bei der Einpassung des Einzelnen in eine soziale Welt und deren Ordnungen entspringen dieser grundlegenden, unaufhebbaren Konstellation ebenso wie die Angst des Einzelnen vor dem gesellschaftlichen Nichts: der Vereinzelung.12 Diese – aus der exzentrischen Positionalität erwachsende – Angst des Einzelnen ist, wie ich zeigen will, die anthropologische Basis der Religiosität. Dabei unterscheide ich systematisch zwischen ,Religion‘ und ,Religiosität‘.13 Religiosität verstehe ich als die spezifische Disposition, die aus der Vereinzelung, dem strukturellen Solitärsein des Einzelnen erwächst. Religiosität in einem so verstandenen Sinne hat ihren Standort anthropologisch in der Sphäre des Individuellen. ,Religion‘ ist demgegenüber eine ,überindividuelle‘, gemeinschaftliche Glaubensvorstellung beziehungsweise Weltsicht oder zumindest die Orientierung an einer solchen. Auch der so genannte ,individuelle Glaube‘, der sich einer kollektiven Glaubensvorstellung oder Weltsicht entgegenstellt, ist aus diesen abgeleitet, zumindest aber auf sie hin orientiert. Fast immer aber, wenn von Religion(en) und deren Glaubensinhalten die Rede ist, wird die menschliche Disposition zur Religiosität, die Kraft, die den Religionen das Leben einbläst, unter der Hand vorausgesetzt. Diese Disposition, die im Einzelnen angelegte und von ihm erlebte oder erlebbare Differenz zwischen ihm als Einzelnem und anderen Einzelnen oder Gemeinschaften, konstituiert die potenzielle Abweichung von – und au fond Nichtvereinbarkeit individueller religiöser Erfahrung mit – kollektiv konstruierten, symbolisch ausgeformten Glaubensvorstellungen und Welt(an)sichten. Insofern lässt sich mit Recht behaupten, es gebe „religiöse Naturen, die keine Religion haben“.14 Religion und Kultur leben von der Ausrichtung des Einzelnen am Kollektiv. Religiosität dagegen ist fundiert in der Einstellung des Einzelnen gegenüber Anderen, der Gesellschaft und auch gegenüber sich selbst als einem Gemeinschaftswesen.15 12 Zurecht hat mich Alois Hahn in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass sich diese von mir vertretene Konzeption als eine „soziologische Lektüre“ Heideggers verstehen ließe. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1977 (zuerst 1927), §§ 46 – 53, S. 235 – 267. 13 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin, Weilerswist 2000, S. 112 ff. 14 Georg Simmel, Die Religion, Frankfurt/M. 1912, S. 38. 15 In ähnlicher Weise, wenn auch in einem anderen systematischen Zusammenhang, unterscheidet Luckmann ,Religion‘ und ,Religiosität‘ – ohne allerdings das Solitärsein des einzelnen strukturell herauszustellen. „Hatten wir […] die
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Religion und Kultur werden kommunikativ konstruiert, müssen intersubjektiv darstellbar sein und legitimiert werden. In der religiösen Einstellung dagegen sind Erleben, Handeln und letzte Rechtfertigung solitär begründet. Religion und Kultur suchen und finden Letztbegründungen – und seien es auch nur vorläufige – in vergesellschafteten ,Wahrheiten‘ und Anschauungen. Religiosität verkörpert demgegenüber die – auch in vielen Religionen geforderte – zusätzliche Verankerung von Letztbegründungen und letzter Bedeutung im Individuum. Strukturell wird damit uns als Einzelnen etwas auferlegt, was wir kaum leisten können: Die Fundierung letzter Bedeutung in uns selbst. Ein solches Maß an Autarkie und Autonomie lässt sich vom Einzelnen letztlich nicht durchhalten. Denn es setzt ihn in einen anhaltenden Widerspruch zu dem, was er – gleich grundlegend – auch ist: ein Sozialwesen. Dieser Widerspruch ist zwar oft überbrückbar, strukturell jedoch unaufhebbar. Entscheidend für die Konstitution von Religiosität ist, was in diesem Widerspruch angelegt ist und was er vermittelt: die Erfahrung des Solitärseins. So kann sich das im Solitärsein ausschließlich mit sich selbst vermittelte Individuum gezwungen sehen, sich in seiner Besonderheit und wegen seiner ,ureigenen‘ Erfahrungen gegen ein Kollektiv, also auch gegen Religion und Kultur zu wenden. Dementsprechend werden letztere beziehungsweise Menschen in kultureller oder kollektiv religiöser Einstellung sich als Verteidiger eines gemeinschaftlichen Glaubens oder gemeinschaftlicher Maximen gegen jenen Einzelnen wenden, der diese ,Kollektivgüter‘ gefährdet. Dadurch wird zwangsläufig dessen Vereinzelung verstärkt. In dieser solitären Lage empfindet und erlebt er etwas als ,wirklich‘, das er aber – wie er feststellen muss – nicht oder nur verfälscht kommunikativ vermitteln kann. Dieses ,Wirkliche‘ geht nicht in der gesellschaftlich konstruierten und kommunizierten Wirklichkeit auf, sondern kann ihr sogar radikal gegenüberstehen. Und dennoch: Obwohl Solitärsein, sei es auferlegt oder Ergebnis einer bewussten Entscheidung, seinen erfahrbaren und ,nach außen‘ sichtbaren Ausdruck in der Exkommunikation des Einzelnen aus seiner sozialen Umgebung findet, kennt selbst dieser Ausschluss eine gesellschaftlich bekannte und auch anerkannte Ausdrucksform: den Unsagbarkeitstopos. Er ist Ausdruck des Paradoxons, dass auch das intersubWeltsicht als eine universale gesellschaftliche Form der Religion definiert, so können wir entsprechend die persönliche Identität als eine universale Form der individuellen Religiosität definieren“. Luckmann, Die unsichtbare Religion (Anm. 7), S. 109.
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jektiv nicht Kommunizierbare, individuell Unsagbare sozial angezeigt und die Vereinzelung ,gesellschaftlich‘ anerkannt oder ratifiziert werden muss: Selbst die Exkommunikation aus einer Lebens-, Sprach- und Bedeutungsgemeinschaft muss kommuniziert werden. Der Unsagbarkeitstopos, oft verbunden mit dem Tabu, einen ,Namen‘ (des Gottes, Geistes, Totems etc.) auszusprechen, ist in allen Kulturen bekannt. Er ist auf viele Lebensbereiche übertragen worden und feierte – was unseren Kulturkreis betrifft – seine größten Erfolge in der Literatur des 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Scheinbar unausrottbar lebt er bis heute weiter. Er ist gewissermaßen ,unsäglich‘ robust. – Wenn man allerdings nach seiner Herkunft fragt, stößt man (historisch schon sehr früh) auf den Erfahrungsbereich des Religiösen und darin wiederum auf das ,Numinose‘, auf etwas, das als ineffabile sowohl „begrifflicher Erfassung“ als auch rationalem Zugriff überhaupt (womit per se ein intersubjektiver Zugriff gemeint ist) „völlig unzugänglich ist“.16 Historisch sehr viel später (vermutlich vom 16. Jahrhundert an und vorwiegend in unserem eigenen Kulturkreis) wird auf die von einem Einzelnen erfahrene Differenz zwischen subjektiver Empfindungsqualität und Ausdrucksintention einerseits und vorfindbaren, objektiven ,Sprachmitteln‘ andererseits verwiesen: auf die Differenz zwischen individueller Bedeutungsbeigabe und kollektiven Bedeutungsträgern. Hier ist nicht mehr ein ,Es‘ unausdrückbar, sondern ein ,Ich‘. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen der kommunikativen Vereinzelung des Individuums gegenüber der Gesellschaft, dem innerweltlichen Gott Durkheims, und der Sprach- und Bodenlosigkeit, die mit dem Erlebnis des Ausgeliefertseins an das Numinose verbunden wird. „Die völlige Einzigkeit des Einzelnen, der seinem Gott gegenübersteht“17, ist etwas anderes als das Solitärsein gegenüber der Gesellschaft. Ihr gegenüber versinkt der Einzelne nicht zwangsläufig im Nichts. Davor kann ihn am Ende ein beinahe urwüchsiger Glaube an sich selbst bewahren, „eine im letzten Gefühl des Ich fundamentale Ruhe und Sicherheit, ausgeprägt in der Vorstellung, dass man dieses Ich jeder Situation gegenüber siegreich bewahren und durchsetzen 16 Rudolf Otto, Das Heilige. ber das Irrationale in der Idee des Gçttlichen und sein Verhltnis zum Rationalen, München 1963, S. 8. Zu den einzelnen „Momenten des Numinosen“, auf die hier nicht eingegangen werden soll, vgl. S. 8 – 74. 17 Simmel, Die Religion (Anm. 14), S. 78.
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werde“.18 Diese Ruhe und Sicherheit schaffen vermutlich auch den Grund dafür, dass der Einzelne dem für ihn und durch ihn ,Wirklichen‘ in existenziellen Situationen einen stärkeren Akzent zukommen lässt als dem gesellschaftlich konstruierten Wirklichen. Kants Aufruf: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – und zwar „ohne Leitung eines anderen“ – ist gerade deswegen „der Wahlspruch der Aufklärung“19, weil der Einzelne sich nur durch die Kontrastierung seines Verstandes, genauer: des für den eigenen Verstand und die eigene Erfahrung ,Wirklichen‘ einerseits mit dem, was ,man‘ andererseits als gesellschaftlich konstruierte und dadurch scheinbar gesicherte Wirklichkeit annimmt, die Chance gewinnt, „sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten“.20 Heinrich Rickert und mit ihm Max Weber haben daraus den sowohl erkenntnistheoretischen als auch methodologischen Schluss gezogen, dass wir „das Wirkliche im Besonderen und Individuellen“ haben und dass es sich „niemals aus allgemeinen Elementen aufbauen“ lässt.21 Die bis hierhin erarbeitete, strukturelle Konstellation – eine dreistellige Relation, im Parzival – bestehend aus: (1) Einem Einzelnen als (tendenziell solitärem) Statthalter seiner Religiosität, (2) der durch den Hof konstruierten und aufrecht erhaltenen sozialen Wirklichkeit und (3) der ,Gralreligion‘ als spezifischer symbolischer Ausdrucksform eines sinnhaft-kosmischen Aufbaus der Welt – soll in den nun folgenden Überlegungen unter kommunikationssoziologischen Gesichtspunkten genutzt und, soweit dies in der Kürze möglich ist, überprüft werden.
III So verschachtelt einerseits die Erzählstränge im Parzival-Roman auch sind und so offenkundig Wolfram von Eschenbach Parzival und Gawan durch die Technik wechselseitiger Spiegelungen in erzählerisch getrennten Parallelhandlungen miteinander verbindet, so gerechtfertigt 18 Ebd., S. 46. 19 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [zuerst 1783], in: ders., Werke in zehn Bnden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1971, Bd. 9, S. 53. 20 Ebd., S. 54. 21 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Stuttgart 1986, S. 63.
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erscheint andererseits Bumkes Feststellung: „Wolframs Dichtung hat nur einen Helden, aber zwei Haupthandlungen, die kunstvoll aufeinander bezogen sind.“22 Dieser eine Held weicht vom (idealisierten) Standardlebenslauf eines höfischen Ritters deutlich ab. Parzival ist der zweite Sohn eines ebenfalls zweitgeborenen, nicht erbberechtigten Fürstensohnes, der sich seinerseits auf Grund dieser Benachteiligung seinen Besitz außerhalb des Stammlandes erst suchen, erwerben, erkämpfen und/oder erheiraten muss. Diese sozialstrukturell auferlegte, vorübergehende oder möglicherweise auch anhaltende Heimat- und Standortlosigkeit muss wettgemacht werden durch herausragende, zwar gesellschaftlich vortypisiert standesgemäße, aber dennoch unverwechselbare Taten, die als deutlich identifizierbare, spezifische Ausformungen eines allgemeineren – höfisch-mittelalterlichen – Handlungs- und Verhaltenstypus erkennbar sind. Der Sohn erbt vom Vater diese Struktur. Er ist gewissermaßen ein Heimatloser zweiter Generation. Zusätzlich wird ihm – durch den Tod des Vaters und den dezidierten Rückzug der Mutter vom Hof – die biografische Last aufgebürdet, ohne den Vater als ,konkretem signifikantem Anderen‘23 und außerhalb der höfischen Gesellschaft, jenseits gebilligter Typen der Sozialität, bezeichnenderweise ,im Wald‘ erzogen und durch die ihm von der Mutter verordnete Narrenkleidung seiner Bezugsgruppe entfremdet zu sein. Seine Mutter Herzeloyde lässt ihn, da sie ihn nur nach der Sohnesrolle benennt – bon fz, scher fz, bÞa fz (140,6) 24 –, selbst über seinen Namen im Ungewissen. Gurnemanz wird den Helden nach der roten Rüstung benennen, die dieser dem von ihm unritterlich getöteten Ither ebenso unritterlich raubte: Rüstung und Name ,roter Ritter‘ sind ausgeliehen, aber dennoch lange Zeit ein – trügerisches – Identifikationsmerkmal. Zwar erfährt der junge Mann von seiner Kusine Sigune schon verhältnismäßig früh, wie er heisst – du heizest Parzivl. der name ist ,rehte enmitten durch‘ (140,16) –, aber dieses Wissen bleibt für ihn wie für den Erzähler zunächst ohne Konsequen22 Bumke, Wolfram von Eschenbach (Anm. 2), S. 192 (Hervorhebung von mir). – Es wäre eine interessante Aufgabe, den fiktionalen Erzähler des Romans in einer weiteren Heldenrolle zu sehen und zu interpretieren. 23 Vgl. Georg Herbert Mead, Geist, Identitt und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 (zuerst 1934). 24 Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok, Stuttgart 1981.
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zen: Erst nach dem 7. Buch verzichtet der Erzähler endgültig auf die Nennung des Leihnamens. Kurz: Durch die fehlende sozialisatorische, ständische und lokale Einbettung ist dieser Held bereits deutlich als Abweichler und damit als Vereinzelter symbolisiert, bevor er sich mit dieser Vereinzelung konkret auseinander setzen und sie bewältigen muss. Zwar findet Parzival auf seinem Weg durch unterschiedliche Stationen des weiteren Lebenslaufes eine Reihe vorgegebener Verhaltensstandards vor, diese aber sind – sowohl aus der Sicht des Erzählers als auch aus der des von ihm entworfenen ,Falles‘ – nicht mehr eindeutig und schlüssig aufeinander bezogen. An die Stelle des in der primären Sozialisationsphase fehlenden Vaters treten nun in der ,sekundären Sozialisation‘ unterschiedlich spezialisierte und verschiedene Institutionen vertretende Vaterrepräsentanten: die Vertreter der höfischen Gesellschaft (Artus, Gurnemanz) und der Religion (Trevrizent). Sie repräsentieren nicht nur unterschiedliche Institutionen, sondern auch unterschiedliche Weltsichten (trotz der ihnen gemeinsamen Religion). Diese Unterschiede sind Ausdruck der verschiedenen Ziele, Zweckrationalitäten, Organisationsprinzipien und Lebenshaltungen, von denen keine per se das Monopol auf eine bestimmte Version der Weltanschauung hat, die vielmehr miteinander konkurrieren und damit nicht mehr eine feste Zuordnung des Einzelnen zu einer einsinnigen, sozialen Ordnung gewährleisten.25 Das führt, insbesondere dann, wenn ein sozialisatorisch Heimatloser auf diese gesellschaftliche Lage trifft, zu einer strukturellen Labilität, was die Zuordnungssicherheit des Einzelnen innerhalb der unterschiedlichen Teile des Gesellschaftssystems angeht. Er wird nicht mehr in einen ständisch vorstrukturierten Standardlebenslauf hineingeboren, sondern vor unterschiedliche Alternativen gestellt. An die Stelle der verhältnismäßig problemlosen Identifikation mit einem gesellschaftlich weitgehend vorgegebenen ,Generalisierten Anderen‘ (G. H. Mead) tritt nun für den Einzelnen der Zwang, unter den unterschiedlichen, gesellschaftlich vorgeprägten Lebensentwürfen eine Wahl zu treffen und diese Wahl zu legitimieren. 25 Vgl. Hans-Georg Soeffner, „,Typus und Individualität‘ oder ,Typen der Individualität‘? – Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zu Hause ist“, in: Horst Wenzel (Hrsg.), Typus und Individualitt im Mittelalter, München 1983 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 4), S. 11 – 14, bes. S. 35 ff.
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Hier können die ,institutionellen Väter‘ für Parzival keinen vollwertigen Vaterersatz bieten. Sie stehen von Anfang an in Konkurrenz zu der in der Primärsozialisation zentralen Person, der Mutter. So hält sich Parzival zwar, nachdem er Gurnemanz‘ Erziehungsprogramm durchlaufen und gelernt hat, nicht mehr unentwegt die Mutter zu zitieren, an dessen Ratschläge, aber: sner muoter er gesweic mit rede, und in dem herzen niht, als noch getriuwen man geschiht (173,8 – 10).
Damit ist bereits eine Entscheidung zu Ungunsten jedweder anderen möglichen Ersatzvaterfigur gefallen. Keiner der folgenden Vaterrepräsentanten ist für den Helden letztlich wählbar. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie er selbst einmal eine sozial akzeptierte und gesicherte Vaterrolle einnehmen wird. Auch hier ist durch die Mutter die Richtung vorgegeben: Es wird um einen Vatertypus gehen, der nicht wegen Frau Âventiure jewede andere Frau verlässt, sondern der umgekehrt bei keiner Aventiure seine Frau – stattdessen eher seine Gegner – vergisst (Bluttropfenszene). Anders als sein Vater Gahmuret bei Belakane macht sich Parzival nicht heimlich wie ein Dieb (ich bin dirre verte ein diep, 55,22) davon, sondern verabschiedet sich von seiner Frau mit dem Versprechen und festen Willen zurückzukehren. An die Stelle eines gesellschaftlich in typischen Ausprägungen repräsentierten ,Generalisierten Anderen‘ tritt für Parzival zunächst ein Mythos – umgeben von einem eigenen Zeichen-, Symbol- und Ritualsystem – sowie eine spezifische Gesellschaftsform, die sich deutlich von der des Artushofes abhebt. Dieser Mythos verweist darauf, dass der ,wahrhaft Generalisierte Andere‘ nicht mehr in, sondern außerhalb der Welt gesucht werden soll, in der ,Person‘ des allgemeinsten und vollkommensten Subjektes: in Gott. Zwischen dieses Subjekt und sowohl die höfische Welt als auch den Helden schiebt sich allerdings die Gralswelt. Stärker konturiert und idealisiert als die Kirche, die bei Wolfram weitgehend ausgespart bleibt, nimmt die Gralswelt wie sonst die Kirche eine Mittlerfunktion ein. Die Vermittlerin ist jedoch so stark, dass der zu Vermittelnde – Gott – dahinter verschwindet. So gesehen bleibt bis zum Ende des Romans Parzivals Ausruf wÞ waz ist got? (332,1) als Frage berechtigt und unaufgelöst.
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Parzivals anhaltende Klagen über Gott – noch gegen Ende des II. Buches heißt es: got will mner vrçude niht (733,8) – verstummen zwar mit dem Eintritt in die Gralsgemeinschaft, ohne dass jedoch Gott tatsächlich zum ,Adressaten‘ des Helden wird. Im Gegenteil: Als Trevrizent einen anhaltenden Preis zu Ehren Gottes anstimmt und zu erwarten wäre, dass der neue Gralskönig sich diesem Lob ausdrücklich anschließt, heißt es ziemlich unvermittelt: Parzivl zuo sm oeheim sprach ,ich will si sehen, die ich nie gesach inre vnf jren‘ (799,1 – 3).
Trevrizent rühmt Gott, Parzival denkt an Condwiramurs. Schon im Anschluss an die Frage: wÞ waz ist got? gibt Parzival seinem Freund Gawan den Rat: Wenn du in den Kampf ziehst, vertraue eher auf eine Frau, derer du sicher bist, als auf Gott (332,9 – 14.). Gawan erinnert sich an diesen Rat: un dhte er des, wie Parzivl wben baz getrwet dan gote (370,18 f.). Dieses Strukturmuster ist von Wolfram offenkundig bewusst angelegt: Der Gralsucher vergisst seine Frau auf der Suche nach dem Gral ebensowenig wie bei seinen Kämpfen, und auf beiden Feldern tritt er allein auf. Wo andere sich mit großem Gefolge umgeben, bleibt Parzival allein, vereinzelt, auf sich – und die Liebe zu seiner Frau – gestellt. Dass der Held seine ,wahre‘ Minne den oft verzerrten, unglücklichen, tragischen, vorgetäuschten Formen der Minne am Hof vorzieht, leuchtet unmittelbar ein. Dass er jedoch nicht einmal dem Heiligen Gral gegenüber bereit ist, diesem eine eindeutige Präferenz einzuräumen, ist begründungsbedürftig. Für Parzival sind Gral und Condwiramurs nicht zu trennen. Zwar beginnt er bei der Benennung seiner Lebensziele gegenüber Trevrizent mit einer Art Rangfolge: […] mn hhstiu nt ist umbe den grl; d nch umb mn selbes wp (467,26 f.), dann aber rühmt er nur noch seine Frau und schließt mit der Feststellung nch den beiden sent sich mn gelust (467,30). Und es ist der Gral, der diese ,Wahlverwandtschaft‘ (Gral/ Condwiramurs) bestätigt: Trevrizent (478,13 – 16) weist daraufhin, dass der Gralskönig nur diejenige Frau heiraten darf, die Gott durch die Gralinschrift auswählt; nur in Parzivals Fall wird die Wahl der Ehefrau – und dies im Nachhinein – von Gott bestätigt und gut geheißen. Bei diesem sehr engen und spezifischen Ehebündnis, das in aller Unschuld begonnen und in ebenso unschuldiger wie unverbrüchlicher Ausschließlichkeit fortgesetzt wird, geht es nicht einfach um die Gur-
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nemanz von Wolfram ins pädagogische Brevier geschriebene, biblischanthropologisch26 begründete, unmittelbare Zusammengehörigkeit von Mann und Frau (vgl. 173,1 – 6) und auch um etwas anderes als das überpersönliche Sakrament der Ehe. Vielmehr deutet sich hier an, dass die Liebenden selbst ihr Bündnis heiligen: in einer Art innerweltlicher Religiosität, die allerdings noch symbolisch eingebettet ist in eine – durch den Gral und die Gralsgemeinschaft symbolisierte – höhere, kosmische Wirklichkeit. Damit stellt Wolframs Kosmologieentwurf nicht ein schlechtes, irdisches Diesseits einem vollendeten, göttlichen Jenseits abrupt gegenüber, sondern gesteht dem Diesseits eine eigene Erfüllungsdimension zu. Offensichtlich bringt so die Gralsgemeinschaft eine Übergangswelt zwischen zwei ,Wertepolen‘ symbolisch zur Anschauung: Sowohl die traditionelle höfische Gesellschaft, idealisiert in ihren signifikanten symbolischen Repräsentanten – Artus und seiner Tafelrunde –, als auch die von Säkularisierung (Friedrich II und sein ,aufgeklärter‘, multikultureller Hof) sowie Laienbewegungen (Waldenser, Katharer) bedrohte Kirche sind in Bedrängnis geraten und gezwungen, sich zu transformieren. Insofern kam Wolframs Text in einem gewissen Sinne als Dokument des Bruches zwischen dem traditionellen, religiösen Kosmos und der ,praktischen‘ Weltanschauung eines Alltags gelesen werden, in den die überkommene Religion zwar hineinreicht, den sie jedoch nicht mehr durchgehend erfasst und bestimmt. In einer solchen Situation wird anstelle der Kirche die Religiosität des einzelnen zum Garanten der Religion. Folgt man der Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion und definiert man – wie Thomas Luckmann – die „persönliche Identität als eine universale Form der individuellen Religiosität“27, dann wird erkennbar, dass Religiosität nicht nur als innerweltlicher Statthalter einer kollektiven, auf eine ,große‘, kosmische Transzendenz verweisenden Weltsicht fungieren, sondern auch eine innerweltliche, persönliche Bindungen ,heiligende‘ Ausdrucksform der Religion begründen kann. – Wenn Erving Goffman betont, „das Image eines Menschen [sei] etwas Heiliges“28, so verweist 26 Vgl. hierzu die Genesis, Die fnf Bcher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gerlingen 1979, S. 11, v. 27: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie!“ 27 Luckmann, Die unsichtbare Religion (Anm. 7), S. 109. 28 Erving Goffman, Interaktionsrituale. ber Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt/M. 1973, S. 25.
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er auf eine solche, in der persönlichen Identität eines einzelnen fundierte, Sphäre eines ,innerweltlich Sakralen‘. Die aus wechselseitiger individueller Nähe und Zuneigung entspringende Vereinigung zweier persönlicher Identitäten – Parzivals und Condwiramurs‘ – vor und in der Ehe veranschaulicht in der Unbedingtheit der in der je eigenen Religiosität verankerten, persönlichen Bindung diese Form gelebter, innerweltlicher Religiosität: eine Form, die allerdings insofern riskant ist, als sie auf einem sozial wenig abgesicherten, beinahe ausschließlich durch die beiden Individuen repräsentierten Fundament steht. Parzivals zunächst alle anderen Welt- und Gottesverhältnisse ,angehender‘ Zweifel hat hier seine strukturelle Ursache: Gewissheit und Übereinstimmung gibt es nur in der engen persönlichen Bindung. Alle anderen Kommunikationsebenen und -formen müssen entweder mühsam erarbeitet und erlernt werden (die Eingliederung in die höfische Gesellschaft) oder sie gehören einem Bereich an, der sich – wie die Prädestination für die Gralsgemeinschaft – nicht allein durch Taten oder den eigenen Willen erschließen lässt.
IV Die Interaktionstheoretiker (beispielhaft Ch. H. Cooley) nutzten die Spiegelmetapher, um mit ihr zu beschreiben, wie aus der wechselseitigen Spiegelung der Gesellschaftsmitglieder in der Interaktion die soziale Identität (hier im Gegensatz zur persönlichen Identität, s. o.) von Individuen ausgehandelt und etabliert wird. Beinahe durchgehend verwenden auch die unterschiedlichen Interpreten des Parzival-Romans diese Metaphorik, wenn es um die Freundschaft der beiden zentralen Heldenfiguren – Parzival und Gawan – geht. Die Freunde sehen sich allerdings als so eng miteinander verbunden an, dass Parzival im Kampf, als er erkennt, dass es sich bei einem ihm zunächst unbekannten Gegner um Gawan handelt, das Schwert wegwirft und beklagt, dass er die Hand gegen sich selbst erhoben habe: ich hn mich selben berstriten (689,5). Gawan stimmt ihm zu: „Mit mir hast du dich selbst in die Knie gezwungen.“ So einig sich die beiden Helden über ihre Verbundenheit und ihre ritterlichen Qualitäten sind, so unähnlich sind sie sich in ihrem Verhalten, insbesondere in dem, was man seit einiger Zeit als „kommu-
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nikative Kompetenz“29 bezeichnet und als ,Schlüsselqualifikation‘ von jedwedem ,modernen‘ Stellenbewerber fordert. Gawan ist ein Meister höfischer Kommunikation – ganz gleich, ob es sich dabei um Salonkonversation, Verhandlungsgespräche, Flirt oder Liebeswerben handelt. Am Hof aufgewachsen und erzogen, entspricht er dem Idealbild des Ritters und höfischen Herren: Wer den Roman nicht genau liest, wird demnach Gawan für nahtlos eingepasst in einen höfisch geprägten Standardlebenslauf halten. Diese Einschätzung ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn so vollendet sich Gawan einerseits in der höfischen Gesellschaft zu bewegen weiß, so scharfsichtig erkennt er andererseits deren innere Widersprüchlichkeit, die oft sinnlosen Gefechte um Leben und Tod, die Machtkämpfe, Intrigen und Verstellungen, die weit bis in die persönlichen Beziehungen reichen (vgl. das Beziehungsnetz Orgeluse, Anfortas, Gramoflanz). Insofern geht nicht einmal Gawan in der traditionellen höfischen Gesellschaft auf, sondern auch er verweist auf den Transformationsprozess, den diese Gesellschaft durchläuft und auf die Notwendigkeit, dieser Situation mit neuen Fähigkeiten zu begegnen. Insgesamt ist jedoch der Gegensatz zwischen Gawan und Parzival unübersehbar. Während Gawan als Kommunikationsvirtuose in einer ihm bekannten und von ihm durchschauten Welt brilliert, muss Parzival diese mühsam, unterbrochen durch immer neue Rückschläge, erst kennen- und in ihr sich einigermaßen angemessen zu bewegen lernen. Von Beginn an verfängt er sich in einem Netz von Missverständnissen. Selbst zwischen ihm und seiner Mutter entsteht schon früh eine ,kommunikative Kluft‘: Er kann weder sich selbst noch seiner Mutter erklären, warum er vor Sehnsucht weinen muss, wenn er den Gesang der Vögel hört. Herzeloyde wiederum, den Sohn missdeutend, lässt die Vögel töten, um dann von ihm zur Rede gestellt zu werden mit der Frage, was man den Vögeln denn vorwerfe. Dass Herzeloyde Gott als ,strahlend wie der helle Tag‘ beschreibt, führt Parzival dazu, die unstimmige Gleichung Ritter=Gott herzustellen. Auch im Folgenden nimmt er die Ratschläge der Mutter wortwörtlich und handelt dementsprechend unangemessen. Indem Herzeloyde zudem ihren Sohn präventiv in ein Narrengewand kleidet, erreicht sie, dass er sich ge29 Jürgen Habermas, „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: ders./Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M. 1971, S. 101 – 141.
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genüber anderen wie ein Narr, zumindest aber äußerst befremdend benimmt. Wie im Willehalm, dort ganz extrem30, zieht Wolfram auch im Parzival-Roman das Vereinzelungs- und Fremdheitsmotiv so zusammen, dass sich seine Helden wie Fremde in einer ihnen fremden Welt bewegen: befremdend für die anderen und zugleich sich selbst fremd. Wo Gawan mit der Fremdheit spielt31, entsteht bei Parzival eine Aura der Vereinzelung, in die – bis auf eine Person – niemand eindringen kann, nicht einmal seine Verwandten (vgl. 749,5 ff. und 814,17 ff.). Die Ausnahme ist Condwiramurs. Nur bei ihr löst sich die Aura der Vereinzelung auf. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass Wolfram in seinem Helden Parzival die interaktiven Spiegelprozesse lange Zeit versagen lässt, so dass der Held erst am Ende des Romans als König der Gralsgemeinschaft eine soziale Identität gewinnt. Aber kaum ist diese soziale Identität gewonnen, schon verlässt der Autor seinen Helden und uns, so als sei dieser Gewinn eher uninteressant. Kurz: Gawan hat und lebt durchgängig seine soziale Identität, Parzival verweigert sie eher, statt sie – wie oft interpretiert wird – zu suchen. Die Fremdheits- auch als Kommunikationsthematik zu interpretieren, legt Parzivals erster Aufenthalt auf Munsalwäsche nahe. Denn wo man dort mit ihm kommuniziert, redet man aneinander vorbei. Zunächst missversteht er einen Scherz, indem er ihn – wie so oft – wortwörtlich nimmt (229,1 ff.). Dann setzt sich Parzival in ,innerer Konversation‘ damit auseinander, ob er fragen soll oder nicht (239,10 ff.), verweigert dabei die ,öffentliche Konversation‘ und versäumt damit die entscheidende Frage. Auf der Gegenseite spricht Anfortas so mit dem Gast, dass dieser auf die Andeutungen reagieren könnte (müsste), vom Gral aber kommt keine Unterstützung, dieser bleibt stumm. Er fasziniert zwar, bildet jedoch letztlich eine auratische Leerstelle, um die herum sich ein nicht-sprachliches, rituelles Netz von symbolischen Verweisungen aufbaut, das sich später rekursiv wieder auflöst. Wolfram stellt somit drei unterschiedliche Kommunikationsmodi nebeneinander, die – für den Helden – nicht zueinander finden: inneren Monolog, öffentliche Konversation und nichtsprachlichen Ritus. Was dem Rezipienten als bis zur Redundanz überdeterminiert erscheint, wird dem Helden ebenso wenig zugänglich wie dieser seinerseits der ihm umgebenden Gralgemeinschaft und deren König. 30 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach (Anm. 2), S.41 f. 31 Vgl. ebd., S. 155 f.
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Hier – wie auch in anderen Episoden des Romans – wird deutlich, dass Wolfram auf eigentümlich ,moderne‘ und bezeichnende Weise das Vereinzelungs- und Fremdheitsmotiv als Kommunikationsproblematik darstellt: als Scheitern eines Individuums, die ,innere Rede‘ (Wilhelm von Humboldt) zur äußeren und damit gesellschaftlichen werden zu lassen. Schon als Parzival Condwiramurs begegnet, sitzt er auf dem zu seinen Ehren arrangierten Empfang stumm neben der jungen Königin, die sich dementsprechend fragt, was der Grund für dieses Schweigen sein könnte, das sie – sie ist die einzige, der dies gelingt – richtig interpretiert, indem sie die ,non-verbalen Signale‘ (die freundlichen Blicke Parzivals) angemessen deutet. Anstelle Parzivals spricht in dieser Episode der Erzähler, indem er uns teilnehmen lässt an jener inneren Rede des Helden, die – abgesehen von den Blicken – nicht nach außen dringt (vgl. 188,1 – 24). Dieses in der Begegnung mit Condwiramurs bereits gefestigte Modell der inneren Rede, die innen bleibt und damit die Aura der Vereinzelung und Distanz speist, entwickelt Parzival ausgerechnet in jener Erziehungsperiode, die ihn zum höfisch-gesellschaftlichen Wesen machen soll: in der Erziehung durch Gurnemanz. Als dieser ihn ermahnt, nicht ständig die Mutter zu zitieren, dankt Parzival dem Ratgeber mit einer stummen Verbeugung und zieht gleichzeitig für sich eine bezeichnende Konsequenz aus diesen Ratschlag: Fortan wird er nicht mehr öffentlich über seine Mutter sprechen, sondern nur noch im Inneren, im Herzen, mit ihr reden: sner muoter er gesweic mit rede, und in dem herzen niht, als noch getriuwen man geschiht (173,8 – 10). – In einer ähnlichen Haltung verschweigt Parzifal Trevrizent (vgl. Buch IX) lange Zeit seinen Aufenthalt und sein Versagen auf der Gralsburg. Die innere Rede verläuft wiederum neben der äußeren. Da, wo sie zur äußeren wird, gewinnt man den Eindruck, als spräche Parzival, wenn er über sich selbst redet, in einer merkwürdigen Distanz zu sich, so als spräche er von einem anderen. In der bereits erwähnten Blutstropfen-Episode wird das Auseinanderklaffen von innerer und äußerer Welt auf die Spitze getrieben: Würde Parzival nicht von außen abgelenkt, so drohte er in der inneren Welt zu versinken. Es ist allerdings eine innere Welt, die nun einen Fixpunkt hat: Condwiramurs. Nur bei und mit ihr wachsen innere und äußere Welt problemlos zusammen – allerdings so, dass Parzival persönliche Religiosität und gesellschaftlich tradierte Religion in ein ambivalentes Verhältnis zueinander bringt. Was (siehe oben) in der letzten Begegnung zwischen Parzival und Trevrizent noch einmal aufgegriffen
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wird, ist von Wolfram in der Schilderung des Bruderkampfes bereits pointiert herausgearbeitet worden. Dass Fremde, Brüder oder gar Vater und Sohn (Hildebrandslied) im Kampf aufeinander treffen und oft erst im Verlauf des Kampfes einander erkennen, ist in der mittelalterlichen Literatur nichts Neues. Wolfram allerdings lässt selbst seinen prototypischen Helden Gawan am Sinn solcher ,Treffen‘ zweifeln. Bei den meisten dieser Kämpfe geht es um Loyalität, Ehre, Recht, und die Kämpfer sind – so aussichtslos und schicksalhaft sich die Auseinandersetzungen auch vollziehen – eingebunden in ein Normensystem, das die Handlungsabläufe bestimmt und Sinnhaftigkeit suggeriert. Parzivals Kämpfe erhalten demgegenüber einen zusätzlichen Akzent dadurch, dass der Held es zwar lernt, bestimmte Normen zu erfüllen und Regeln einzuhalten, dass ihm diese Normenerfüllung aber eigentümlich äußerlich und der jeweilige Gegner gleichgültig ist, es sei denn, er erkennt etwas Außergewöhnliches in ihm, das sich später als Nahes: als Freund oder Bruder herausstellt. Dann jedoch lässt uns der Erzähler fast immer an zwei Erzählebenen teilnehmen: dem äußeren Kampf und der inneren Rede des Helden. Äußere und innere Auseinandersetzung werden aufeinander bezogen in einer Art intrapersonalen, kommunikativen Dramas, in das sich auch der Erzähler mit eigener Stimme einmischt. Für meine Problemstellung ist es dabei entscheidend, den äußeren Verlauf des Kampfes und die damit korrespondierenden Innenwelten zueinander in Beziehung zu setzen. Beide, sowohl Parzival als auch Feirefiz treffen im Bruderkampf zum ersten Mal auf einen Gegner, der ihnen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist. Vor allem Parzival gerät in äußerste Bedrängnis. In dieser Not vertraut er, wie Trevrizent ihm geraten hat, zunächst auf Gott. Aber der ,Heide‘ besitzt ungeahnte Kräfte, so dass der Christ unter den Schlägen des Gegners immer mehr ermattet: mich met daz der getoufte an strte und an loufte sus medet unde an starken slegen (743,9 – 11).
Weder der Gral noch Condwiramurs scheinen dem schwächelnden Helden helfen zu können. Erst der Gedanke an seine beiden Söhne – so suggeriert der Erzähler – könnte die Wende bringen. Tatsächlich erstarkt der ,Christ‘. Entscheidend wird aber, dass der Held im zentralen Augenblick seine Gedanken auf die Liebe seiner Frau konzentriert:
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er dht (des was im niht ze vruo) an sn wp die kneginne unt an ir werden minne (743,24 – 26).
Jetzt erst bricht der Fremde unter einem wuchtigen Schlag Parzivals in die Knie. Zwar zerbricht dabei – nach dem Willen Gottes – Parzivals Schwert (es ist ursprünglich das Schwert Ithers), und der Kampf wird durch Feirefiz, der nicht gegen den Wehrlosen weiterkämpfen will, ,fair‘ beendet. Aber es wird unmissverständlich deutlich, welchen Anteil Condwiramurs an der Entscheidung hat: Conwr mrs bezte durch vier knecrhe aldar sn nam mit minnen creften war (744,4 – 6).
Es gibt unterschiedliche Kräfte, die Parzival zur Hilfe kommen können: ,Objektiv‘, das heißt aus der Außensicht des erzählenden Kommentators, steht Gott das Urteil über den Kampf zu. Aus der – ebenfalls berichteten – Innensicht Parzivals ist es Condwiramurs, die ihm zur rechten Zeit zur Hilfe kommt. – ,Objektiv‘ bettet der Kommentator die Liebe der Eheleute in das kollektive System der christlichen Religion. In der individuellen Sicht Parzivals ist es die persönliche Bindung an Condwiramurs, die Kraft gibt, und formal übernimmt sogar der Erzähler – siehe das letzte Zitat – für einen Augenblick diese Perspektive: Die in innerer Rede kommunizierte Religiosität, ihrerseits verankert in der persönlichen Bindung der Eheleute aneinander, ist das Fundament, auf das der Held letztlich sein Leben gründet. Es ist, wie schon gesagt, eine riskante Lebensform. Mit ihr sind andere gesellschaftliche und kommunikative Passungsprobleme verbunden als mit kollektiv abgesicherten, normativ vorgestanzten und an gefestigten Interaktionsformen orientierten Lebensformen. Innerhalb eines derart geregelten Verhaltens- und Kommunikationssystems, das seinerseits Standardlebensläufe vorgibt, ist es sicherlich gerechtfertigt, den jungen, ungehobelten Parzival und den höfisch erzogenen Gawan als Gegensatzpaar von tumpheit und wsheit und dementsprechend auch Parzivals ,Lehrjahre‘ und Lernprozesse als Entwicklungsgang von der tumpheit zur wsheit darzustellen.32 Neben dem gemeinhin mit dem höfischen Roman verbundenen Normensys32 Vgl. ebd., S. 148.
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tem und den sich darauf stützenden Interpretationsfolien scheinen sich jedoch bei Wolfram auch andere Strukturen und Problemlagen auszudrücken. Sie entspringen – vor allem für herausragende Einzelpersonen (Gawan) oder strukturell als Außenseiter Gestempelte (vgl. beispielhaft Cundrys Parzival-Schelte und Fluch, 315,17 ff.) – dem Zwang, sich mit den sozialen Verwerfungen und Widersprüchen ihrer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Hierzu zählen sowohl die anhaltenden Konflikte zwischen Kaiser und Papst, die Krise der Kirche und die darauf reagierenden Laienbewegungen (vgl. die weitgehend durch Selbstlegitimation als heilige ,Figuren‘ beschriebenen Gestalten Sigune und Trevrizent – Letzterer erteilt, ohne je die Priesterweihe erhalten zu haben, Parzival die Absolution), als auch die in sich zerrissene höfische Gesellschaft, bei Wolfram exemplifiziert durch das am Artushof permanent herrschende Chaos. Die fiktiv-fiktional entworfene Utopie der Gralsgemeinschaft33 ist zwar eine Antwort auf diese gesellschaftliche Lage, aber zurecht stellt Joachim Bumke fest, dass beide Höfe, der Artus- und der Gralshof, als erlösungsbedürftig dargestellt werden.34 Wenn gesellschaftliche Strukturen sich verändern, führt dies in der Regel, wenn auch oft mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, zu einer Veränderung der Wahrnehmung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder und dementsprechend zu einer Umstellung der Weltsicht sowie der damit verbundenen Semantik.35 Auf der Ebene der alltäglichen Interaktion, so ist zu vermuten, drücken sich diese Veränderungen – vor allem in Konfliktsituationen – durch Kommunikationsunsicherheit aus. Die strukturell aus der Konfrontation mit dem ,Numinosen‘ oder dem Unsagbaren beim Ausdrücken/Vermitteln individueller religiöser Erlebnisse und Erfahrungen entstehende Kommunikationsbarriere ist im Vorangegangenen schon angesprochen worden. Darüber hinaus ergibt 33 Vgl. Joachim Bumke, „Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?“ in: Hiltrud Gnüg (Hrsg.), Literarische Utopieentwrfe, Frankfurt/M. 1982, S. 70 – 79 und Walter Blank, „Die positive Utopie des Grals. Zu Wolframs Graldarstellung und ihrer Nachwirkung im Mittelalter“, in: Albrecht Greule/Uwe Ruberg (Hrsg.), Sprache – Literatur – Kultur. Festschrift fr Wolfgang Kleiber, Stuttgart 1989, S. 337 – 353. 34 Vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach (Anm. 2), S. 184. 35 Vgl. hierzu die Arbeiten von Reinhart Koselleck, insbesondere die Einleitung zu Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, S. XXIII–XXVII.
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sich bei genauer Betrachtung grundsätzlich eine Differenz zwischen individuellem Erfahren und ,Bedeuten‘ einerseits und sprachlicher Kodierung der Erfahrung in kollektiven, semantischen Typologien andererseits. Unsere Schwierigkeiten bei der Kommunikation über musikalisches Erleben, Farbempfindungen, Schmerzen etc. machen dies überdeutlich. Helmuth Plessner hat in seiner philosophischen Anthropologie auf den Zwang des Menschen, sich ausdrücken zu müssen, aber dies paradoxerweise nicht immer angemessen zu können, hingewiesen und mit diesem Paradox das „anthropologische Grundgesetz“ der „vermittelten Unmittelbarkeit“36 verbunden. Wolfram führt uns in seinem ,Fall‘ Parzival einen Kommunikationstypus vor, der einen Grenzfall darstellt. Parzivals Kommunikation mit Condwiramurs setzt sich zusammen aus (1) innerer Rede, die den Helden nur mit sich selbst vermittelt, (2) Blicken, die von Condwiramurs richtig gelesen werden (vermittelte Unmittelbarkeit im Blick) und (3) aus einer unmittelbar-naiven Bindung, ne kunst (193,10), in der beide wortlos und unschuldig (selbst die ,Kommunikationsform‘ der Sexualität fehlt) in einer Ausdrucksgestalt zusammenfinden, die sich als ,unmittelbare Vermitteltheit‘ bezeichnen lässt. Grundsätzlich aber lässt sich erkennen, dass – ,unterhalb‘ der Ebene kollektiv gesicherter Kommunikationsstrukturen und Typologien – in Interaktionssituationen, die gekennzeichnet sind durch enge persönliche Bindung und Nähe der Interaktionspartner, immer wieder spezifische ,privatisierte‘ Kommunikationsmuster entstehen, die einerseits nicht mehr individuell und andererseits noch nicht kollektiv abgesichert und ratifiziert sind. Sie setzen sich zusammen aus verbalen und non-verbalen Elementen, Verhaltensgewohnheiten, Verhaltenserwartungen und tendenzieller, wechselseitiger Verhaltensgewissheit. Einige dieser ,privatisierten‘ Kommunikationsmuster, nämlich diejenigen, die so gut wie ausschließlich auf die Interaktionsphäre der beteiligten Individuen bezogen sind, werden privatisiert bleiben, nicht zuletzt deswegen, weil sie privatisierend sind und sein wollen. Andere dagegen, nämlich diejenigen, die daran orientiert sind oder sein müssen, eine spezifische, ursprünglich persönliche Bindung gesellschaftlich zu verankern und zu legitimieren (Familien oder familienähnliche Bindungsformen sind hierfür ein gutes Beispiel), müssen die Sprach- und Kommunikationsgrenzen zwischen ,Spezial‘- und Kollektivsemantik überschreiten. 36 Plessner, Die Stufen des Organischen (Anm. 9), S. 321 ff.
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Gerade dann aber, wenn es um die Anerkennung und Legitimation einer Lebensform gehen soll, die noch nicht kollektiv vorgeprägt und gebilligt ist, jedoch aus der Sicht der beteiligten Individuen oder, wie im Falle des Parzivalromans, durch einen Autor als eine – gegenüber den überkommenen – angemessenere Lebensform angesehen wird, enthält der Kommunikationskonflikt beziehungsweise die bruchstückhafte Kommunikationsstruktur zugleich einen Legitimationskonflikt. Mit dem ,Fall‘ Parzival, so ließe sich mit Lugowski sagen, entwirft Wolfram somit einen ,Typus‘, der nicht mehr durch einen kollektiven Mythos getragen, aber auch zugleich noch nicht aus dem „mythischen Analogon“37 entlassen ist: einen noch mittelalterlichen Typus der Individualität, der zugleich schon an der Schwelle zu einem modernen Typus persönlicher Identität steht.
37 Lugowski, Die Form der Individualitt (Anm. 1), S. 122.
Zur Enthierarchisierung von ,religiösem‘ und ,literarischem‘ Diskurs in der italienischen Renaissance Klaus W. Hempfer Spätestens seit dem ,Aufstand der Mediävisten‘1 spielen diese mit den Renaissanceforschern ein Diskursspiel, das in der Regel so funktioniert, dass der Renaissanceforscher ein spezifisches Phänomen, das er an Texten seines Zeitraums – in Italien wäre dies dominant das 15. und 16. Jahrhundert mit Anfängen im 14. Jahrhundert – ,entdeckt‘ hat, emphatisch als ,neu‘ deklariert, worauf ihm der Mediävist antwortet, dass sich dies alles schon viel früher und in der Regel besser in ,seinen‘ Texten fände. Nun kann es natürlich immer wieder vorkommen, dass Nichtmediävisten Fülle und Unterschiedlichkeit mittelalterlicher Literatur nicht ausreichend überblicken und deshalb fälschlicherweise späteren Erscheinungen das Neuigkeitsattribut zuordnen wie umgekehrt Mediävisten gelegentlich einfach nicht genau genug hinsehen und überall nur das finden, was sie immer schon kennen. So kontinuiert etwa für Peter von Moos Petrarcas Secretum nur die „Reihe selbst betrachtender Gespräche“ von Boethius’ Consolatio philosophiae über Hildeberts De querimonia und Albertanos da Brescia Liber consolationis 2, wohingegen die neuere Renaissanceforschung ein nicht unerhebliches Innovationspotenzial in diesem Text Petrarcas glaubt feststellen zu können.3 1
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Vgl. hierzu Wallace K. Ferguson, The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Cambridge/Mass. 1942, Kap. XI: „The Revolt of the Medievalists. The Renaissance Interpreted as Continuation of the Middle Ages“, S. 329 – 385. Peter von Moos, „Gespräch, Dialogform und Dialog nach älterer Theorie“, in: Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke (Hrsg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1997, S. 235 – 259, hier S. 247 f. Zu einer entsprechenden Sicht vgl. Joachim Küpper, „Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Francesco Petrarca, ,Secretum‘)“, in: Poetica, 23/1991, S. 424 – 475, bes. S. 471 ff.; Klaus W. Hempfer, „Sinnrelationen zwischen Texten. Petrarcas ,Secretum‘ und ,Canzoniere‘“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 45/
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Empirische Probleme der Materialbeherrschung lassen sich zumindest theoretisch lösen, viel schwieriger sind grundsätzliche Fragen der Epochentheorie und der näheren Bestimmung einzelner Epochen wie Mittelalter, Renaissance, Frühe Neuzeit und so weiter. Zu den grundsätzlichen Fragen der Epochentheorie würde für mich etwa die Differenzierung von ,Zeitraum‘ und ,Epoche‘ zählen, wobei den Epochenbegriffen der Status von Konstrukten zukommt, die auf Zeiträume anwendbar sind und Sinnsysteme temporärer Dominanz benennen, während für die Kriterien der Differenzierung von Epochen die Bedingung der Distinktivität zentral ist, die wohl nicht durch die Hypostasierung isolierter Einzelelemente, sondern nur durch die Angabe einer spezifischen Menge von Kriterien und der diese charakterisierenden Relationen einzulösen ist.4 So ist ganz offenkundig, dass eine Bestimmung der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts über das Kriterium des ,Rückgriffs auf die Antike‘ unzureichend ist, weil es einen solchen Rückgriff nicht nur das ganze Mittelalter hindurch gab, sondern weil es auch schon früher zu ,Hochzeiten‘ eines solchen Rückgriffs kam, was dann etwa zur Rede von der ,Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ führte.5 Dass die Sachlage etwas komplizierter ist, lässt sich an einem simplen Beispiel demonstrieren: Dante bezieht sich auf Aristoteles häufig mit der Antonomasie il filosofo 6, eine solche Bezugnahme wäre im 15. oder 16. Jahrhundert unverständlich, weil es nicht mehr
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1995, S. 156 – 175, bes. S. 159 f., sowie vor allem Marc Föcking, „,Dyalogum quendam‘. Petrarcas ,Secretum‘ und die Arbeit am Dialog im Trecento“, in: Klaus W. Hempfer (Hrsg.), Mçglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart 2002 (Text und Kontext 15), S. 75 – 114. Marc Föcking zeigt sehr schön, wie Petrarca einerseits in der mittelalterlichen Gattungstradition steht und diese zugleich überschreitet. Zu dem hier vorausgesetzten Verständnis von ,Epoche‘ vgl. Klaus W. Hempfer, „Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ,Wende‘“, in: ders. (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen, Stuttgart 1993 (Text und Kontext 10), S. 9 – 45, bes. S. 19 – 23. Vgl. hierzu das einflussreiche Buch von Charles H. Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge/Mass. 1927, und Ferguson, The Renaissance (Anm. 1), S. 331 ff. Vgl. hierzu etwa den Beginn des Convivio: S come dice lo Filosofo nel principio della Prima Filosofia […]; zitiert nach Dante Alighieri, Convivio, hrsg. von Franca Brambilla Ageno, 3 Bde., Florenz 1995, Bd. 2: Testo, S. 1 (im Folgenden wird das Convivio immer nach dieser Ausgabe, der einzig zuverlässig kritischen, zitiert).
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einfach ,den‘ Philosophen, sondern eine zunehmende Pluralität autoritativer Texte gab, deren Vermittelbarkeit zu erheblichen Konsistenzproblemen führte. Nicht die Antike-Rezeption als solche, wohl aber spezifische Weisen des Umgangs mit den antiken Autoren wären demnach, wenn überhaupt, als charakteristisch für die ,eigentliche‘ Renaissance auszuweisen.7 Ich kann diese grundsätzlichen methodischen Probleme hier nicht weiter diskutieren, kurz eingehen muss ich freilich auf einen Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten eine Fülle literaturwissenschaftlicher Publikationen inspiriert hat und der gleichfalls die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance schleift: Foucaults epistemologisch fundiertes Dreiphasenmodell, das er in Les mots et les choses (1966) entwickelt. So faszinierend die ,epistemologische Wende‘ ist, die Foucault der Epochenproblematik gibt, indem er die Epochisierung auf drei grundsätzlich unterschiedliche Modi der Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis – seine epistemai – zurückführt, so wenig hat mich seine Konzeption einer vorklassischen episteme überzeugt. Nicht nur, dass unklar bleibt, wann diese vorklassische episteme einsetzt (in der Antike? im Mittelalter? erst in der Renaissance?), viel problematischer noch scheint mir die Bestimmung dieser episteme, die bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts ihre Gültigkeit behalten soll8, über das Prinzip der Ähnlichkeit: Jusqu’ la fin du XVIe sicle, la ressemblance a jou un rle btisseur dans le savoir de la culture occidentale. 9 Dass allerdings analogisches Denken um 1500 nicht mehr die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt darstellt, sondern seinerseits schon expliziter Reflexionsgegenstand ist, hätte Foucault bereits Bembos Asolani (1505) entnehmen können, einem Dialog, der in drei Büchern vier unterschiedliche Liebeskonzeptionen entwickelt.10 Während Perottino als 7 Grundlegend hierzu bereits Erwin Panofsky, „Renaissance und ,Renaissancen‘“, in: ders., Die Renaissancen der europischen Kunst, Frankfurt/M. 1979, S. 57 – 117, bes. S. 112 ff. (zuerst erschienen als „Renaissance and Renascences“, in: Kenyon Review, 6/1944, S. 201 – 236). 8 Für Foucault gibt es nur „deux grandes discontinuités dans l’pistm de la culture occidentale: celle qui inaugure l’âge classique (vers le milieu du XVIIe siècle) et celle qui, au début du XIXe marque le seuil de notre modernité“ (Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, S. 13). 9 Ebd., S. 32. Zu einer ausführlicheren Kritik an Foucault vgl. Hempfer, „Probleme“ (Anm. 4), S. 26 ff. 10 Zu Bembos Asolani im Hinblick auf den vorliegenden Zusammenhang vgl. Klaus W. Hempfer, „Zum Verhältnis von Diskurs und Subjekt: von Bembo zu
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dominanter Sprecher in Buch I sein Liebeskonzept, das im Wesentlichen der petrarkistischen Schmerzliebe mit ihren contrari affetti entspricht, aus der Analogie von amaro und amore entwickelt – amare senza amaro non si pu lautet der zentrale Satz11 –, macht sich Gismondo als dominanter Sprecher des II. Buches, der ein Konzept der Liebe als gioia vertritt, über eben diese Ableitung lustig: Wenn man amore von amaro ableite und daraus das ,Wesen‘ der Liebe deduziere, dann könne man auch donne aus danno ableiten, was Perottino, so Gismondos selbstverständliche Voraussetzung, angesichts der in der Dialogsituation anwesenden Damen wohl kaum behaupten wolle.12 Die Damen quittieren denn auch Gismondos Ausführungen mit einem piacevole sorriso 13 und führen die Analogiebildung weiter, indem sie die giovani donne mit giovano [sie nützen] zusammenbringen14, wodurch ein Sprachspiel in Gang kommt, das der Erzähler explizit als solches ausweist (di giuoco in giuoco per aventura garregiando) 15 und das Gismondo mit der endgültigen Verabschiedung der somiglianze di Perottino beendet.16 Um 1500 kann das Ähnlichkeitsprinzip also zugleich argumentativ genutzt und hinsichtlich seiner argumentativen Validität negiert werden. Damit ist es aber nicht mehr episteme im Sinne Foucaults, nicht mehr unhintergehbare Voraussetzung allen Denkens und Erkennens, sondern nur mehr eines von mehreren möglichen ,Denkmodellen‘ und damit selbst Gegenstand des Erkenntnisprozesses, der seinerseits notwendig auf anderen Voraussetzungen – wie ich glaube: einer episteme der Pluralität – basiert. Diesen Prozess der Ablösung einer episteme der Ähnlichkeit durch eine solche der Pluralität möchte ich in der Folge am Beispiel der sich verändernden Hierarchisierung von ,religiösem‘ und ,literarischem‘ Diskurs skizzieren.17
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Petrarca“, in: Winfried Wehle (Hrsg.), ber die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen, Frankfurt/M. 2001 (Analecta romanica 63), S. 59 – 81, hier S. 60 ff. Bembo wird zitiert nach: Pietro Bembo, Prose e rime, hrsg. von Carlo Dionisotti, 2. erweit. Auflage, Turin 1966, ND 1978, S. 329 (Buch I, Kap. 9). Vgl. ebd., S. 386 (II, 3). Ebd., S. 386 (II, 4). Vgl. ebd., S. 387 (II, 4). Ebd. Ebd. (II, 5). Ich bin mir bewusst, dass die Begriffe ,religiöser‘ und ,literarischer‘ Diskurs moderne theoretische Termini sind, die eine Textgruppenbildung vornehmen, die sich so weder im Mittelalter noch in der Frühen Neuzeit findet. Zum einen subsumiere ich unter ,religiösem‘ Diskurs so Unterschiedliches wie den Diskurs der Bibel, den theologischen Diskurs, die Hagiographie usw., und zum anderen
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I. Dantes Convivio oder ein dichtungstheoretisches Paradigma der Hierarchisierung von religiösem und literarischem Diskurs Der im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts entstandene Text war ursprünglich als umfangreicher volkssprachlicher Kommentar zu Dantes eigener lyrischer Produktion gedacht und sollte, wie uns Dante in der Einleitung selbst sagt, 14 volkssprachliche Kanzonen einem wörtlichen und allegorischen Kommentar zuführen (Convivio, I, I, 14). Nach dem ausführlichen Kommentar von drei Kanzonen bricht Dante sein Unternehmen aus welchen Gründen auch immer ab, so dass das Convivio nur als Fragment vorliegt. Es ist gleichwohl eines der zentralen dichtungstheoretischen Zeugnisse der Zeit, das vielleicht immer noch nicht ausreichend für eine Interpretation mittelalterlicher Texte herangezogen worden ist.18 Und wenn es zitiert wird, wird mit Vorliebe eine Stelle zum mehrfachen Schriftsinn zitiert, die sich in den Handschriften so gar nicht findet, sondern eine Konjektur moderner Herausgeber darstellt – die neueste kritische Ausgabe von Franca Brambilla Ageno hat hiermit endlich ein Ende gemacht! Mir geht es im Folgenden nicht um diese viel zitierte Stelle19, sondern um die Auslegung des ersten Verses der ersten Kanzone, die bildet sich unser Literaturbegriff bekanntlich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts aus. Ich benötige diese Begriffe jedoch nicht nur zum abkürzenden Sprechen, sondern zur Theoretisierung einer Problematik, die sich in zeitgenössischer Begrifflichkeit nicht ohne weiteres formulieren lässt und die wohl nicht zuletzt deswegen auch im Titel unseres Kolloquiums in der Opposition von ,religiöser‘ versus ,literarischer‘ Kommunikation erscheint. Wie diese Opposition in anderer Terminologie gleichwohl auch schon mittelalterliches Denken bestimmt, zeigt sehr schön eine Formulierung in Dantes Convivio, wo er das Verständnis des allegorischen Sinns durch die Theologen demjenigen durch die Dichter entgegensetzt: Veramente li t e o l o g i questo senso [sc. den senso allegorico] prendono altrimenti che li p o e t i: ma per che mia intenzione qui lo modo delli poeti seguitare, prendo lo senso allegorico secondo che per li poeti usato. Dante, Convivio (Anm. 6), II, I, 5. (Bd. 2, S. 65 [Hervorhebung von mir]). Vielleicht wäre es besser gewesen, statt von ,literarisch‘ von ,poetisch‘ zu sprechen, aber dann hätten sich andere Schwierigkeiten ergeben. 18 Zur Bedeutung des Convivio als dichtungstheoretischem Traktat vgl. auch Andreas Kablitz, „Poetik der Erlösung“, in: Glenn W. Most (Hrsg.), Commentaries – Kommentare, Göttingen 2000, S. 353 – 379, hier S. 358 f. 19 Zu möglichen Konsistenzproblemen von Dantes Allegorieverständnis vgl. Antonio D’Andrea, „L’allegoria dei poeti. Nota a ,Convivio‘, II, 1“, in: Michelangelo Picone (Hrsg.), Dante e le forme dell’allegoresi, Ravenna 1987, S. 71 – 78, sowie zuletzt Selene Santeschi, „Considerazioni intorno a ,Convivio‘ II, I, 4“, in: Alighieri. Rassegna bibliografica dantesca, 23/2004, S. 29 – 45. Von Sante-
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Gegenstand des Trattato secondo ist. Dieser Vers lautet: Voi che ’ntendendo il terzo ciel movete. Wie aus dem Gesamtzusammenhang der Kanzone und aus Dantes eigenem Kommentar hervorgeht, werden mit dem Voi die Engel angeredet, und mit dem terzo ciel ist nach mittelalterlicher Kosmologie der Venushimmel gemeint. Der weitaus überwiegende Teil des Kommentars des zweiten Traktats bezieht sich nun auf eine wörtliche und allegorische Auslegung des terzo ciel beziehungsweise der gesamten hiermit vorausgesetzten Kosmologie sowie des Voi. Sowohl hinsichtlich der vorausgesetzten Kosmologie wie hinsichtlich der ,Engel‘ werden jeweils unterschiedliche Positionen referiert, die abschließend in einer definitiven Wahrheit ,aufgehoben‘ werden. Zunächst diskutiert Dante die Frage der Zahl der Himmel und konstatiert, dass del numero delli cieli e del sito diversamente sentito da molti, avegna che l a v e r i t a d e a l l ’ u l t i m o s i a t r o v a t a (Convivio, II, III, 3, Hervorhebung von mir). An unterschiedlichen Positionen werden zunächst diejenigen von Aristoteles und Ptolemäus angeführt, die sich jeweils für acht beziehungsweise neun Himmel entschieden hätten, um schließlich die Meinung der catolici wiederzugeben, die jenseits des neunten Himmels noch den cielo Empireo ansetzten (Convivio, II, III, 8), der folgendermaßen näher charakterisiert wird: Questo loco di spiriti beati, secondo che l a S a n t a C h i e s a vuole, c h e n o n p u d i r e m e n z o g n a ; e Aristotile pare ci sentire, a chi bene lo ’ntende, nel primo Di Cielo e Mondo (Convivio, II, III, 10, Hervorhebung von mir). Mir kommt es im vorliegenden Kontext nicht darauf an, was die vorherrschende Meinung mittelalterlicher Kosmologie hinsichtlich der Frage der Anzahl der Himmel war20, vielmehr geht es mir um das allgemeine Argumentationsmuster, dass die Wahrheit einer Proposition mit der Auffassung der Santa Chiesa begründet wird, die eben dadurch Wahrheit garantiert, dass sie dem Irrtumsvorbehalt grundsätzlich entzogen ist. Von den antiken Autoren kann diese Wahrheit vorgedacht werden, letztlich (all’ultimo) gefunden wird sie jedoch erst durch die Kirche. Noch ausführlicher wird dieses Argumentationsmuster zur Begründung der ,Wahrheit‘ über das Wesen der Engel herangezogen: schi nicht beachtet werden die präzisen Klarstellungen von Otfried Lieberknecht, Allegorese und Philologie. berlegungen zum Problem des mehrfachen Schriftsinns in Dantes ,Commedia‘, Stuttgart 1999, S. 5 – 17. 20 Vgl. hierzu den Kommentar in Dante, Convivio (Anm. 6), Bd. 2, S. 76 mit Anmerkungen.
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Poi ch’ mostrato nel precedente capitolo quale questo terzo cielo e come in se medesimo disposto, resta di mostrare chi sono questi che ’l muovono. ð adunque da sapere primamente che li movitori di quelli [cieli] sono sustanze separate da materia, cio Intelligenze, le quali la volgare gente chiamano Angeli. E di queste creature, s come delli cieli d i v e r s i d i v e r s a m e n t e h a n n o s e n t i t o , a v e g n a c h e l a v e r i t a d e s i a t r o v a t a . Furono certi filosofi, de’ quali pare essere Aristotile nella sua Metafisica (avegna che nel primo di Cielo incidentemente paia sentire altrimenti), [che] credettero solamente essere tante queste, quante circulazioni fossero nelli cieli, e non pi; dicendo che l’altre sarebbero state etternalmente indarno, sanza operazione: ch’era impossibile, con ci sia cosa che loro essere sia loro operazione. Altri furono, s come Plato, uomo eccellentissimo, che puosero non solamente tante Intelligenze quanti sono li movimenti del cielo, ma eziandio quante sono le spezie delle cose (cio le maniere delle cose); s come una spezie tutti li uomini, e un’altra tutto l’oro, e un’altra tutte le larghezze, e cos di tutte. E volsero che, s come le Intelligenze delli cieli sono generatrici di quelli, ciascuna del suo, cos queste fossero generatrici dell’altre cose ed essempli, ciascuna della sua spezie, e chiamale Plato ,idee‘, che tanto a dire quanto forme e nature universali. Li gentili le chiama[va]no Dei e Dee, avegna che non cos filosoficamente intendessero quelle come Plato, e adoravano le loro imagini, e facevano loro grandissimi templi: s come a Giuno, la quale dissero dea di potenza; s come a Pallade o vero Minerva, la quale dissero dea di sapienza; s come a Vulcano, lo quale dissero dio del fuoco, ed a Cerere, la quale dissero dea delle biada. Le quali cose ed oppinioni manifesta la testimonianza de’ poeti che ritraggono in parte alcuna lo modo de’ gentili e nelli sacrifici e nella loro fede […]. (Convivio, II, IV, 1 – 7, Hervorhebung von mir)
Von diesen unterschiedlichen Meinungen der ,heidnischen‘ Philosophen und Dichter setzt sich nun der christliche Dichter Dante folgendermaßen ab: Detto che per difetto d’amaestramento li antichi la veritade non videro delle creature sprituali, avegna che quello popolo d’Israel fosse in parte dalli suoi profeti amaestrato, ,nelli quali, per molte maniere di parlare e per molti modi, Dio avea loro parlato‘, s come l’Apostolo dice. Ma noi semo di ci amaestrati da colui che venne da q u e l l o , d a c o l u i che [le] fece, da colui che le conserva, cio dallo Imperadore dell’universo, che Cristo, figliuolo del sovrano Dio e figliuolo di Maria Vergine (femmina veramente e figlia di Giovacchino e d’Adamo); uomo vero, lo quale fu morto da noi, per che ci rec vita. ,Lo qual fu luce che allumina noi nelle tenebre‘, s come dice Giovanni Evangelista, e d i s s e a n o i l a v e r i t a d e d i q u e l l e c o s e che noi sapere sanza lui non potavamo, n vedere veramente. La prima cosa e lo primo secreto che ne mostr , fue una delle creature predette: ci fue quello suo grande legato che venne a Maria, giovinetta donzella di tredici anni, da parte del Sanatore celestiale. Questo nostro Salvatore colla sua bocca disse che ’l Padre li potea dare molte legioni d’angeli; questi non neg , quando detto fu che ’l Padre avea comandato alli angeli che li ministrassero e servissero.
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Per che manifesto a noi quelle creature [essere] in larghissimo numero: p e r c h e l a s u a s p o s a e s e c r e t a r i a S a n t a E c c l e s i a – della quale dice Salomone: ,Chi questa che [a]scende del diserto, piena di quelle cose che dilettano, apoggiata sopra l’amico suo‘ – d i c e , c r e d e e p r e d i c a q u e l l e n o b i l i s s i m e c r e a t u r e q u a s i i n n u m e r a b i l i . E partele per tre gerarzie, che a dire tre principati santi o vero divini, e ciascuna gerarzia ha tre ordini: s che nove ordini di creature spirituali la Chiesa tiene e afferma. (Convivio, II, V, 1 – 5, Hervorhebung von mir)
Das Zitat beginnt mit dem zumindest seit Juvencus belegten Überlegenheitsgestus des christlichen Autors über die Antike, eines Überlegenheitsgestus, der darin seine Basis hat, dass erst der christliche Autor/ Dichter über die ,wahre‘ Wahrheit verfügen kann21, während die antiken Autoren eben wegen eines difetto d’amaestramento die Wahrheit schlicht nicht sehen konnten. Wie der folgende Abschnitt ausführt, sind die Christen demgegenüber unmittelbar durch Christus erleuchtet, der als Licht der Welt die Wahrheit verkündet hat: e disse a noi la veritade di quelle cose che noi sapere sanza lui non potavamo, n vedere veramente. Die Bibel als unmittelbare Offenbarung Christi fungiert im nächsten Abschnitt nicht nur als Beleg für die Existenz von Engeln, sondern auch dafür, dass es sich dabei um eine Vielzahl handelt (molte legioni d’angeli). Im letzten Abschnitt wird für die Wahrheit der These von der Vielzahl der Engel neben der Bibel eine zweite Instanz eingeführt nämlich la sua sposa e secretaria Santa Ecclesia. Damit sind die vielen und widersprüchlichen Meinungen der gentili, der Heiden, ,aufgehoben‘. Analoge Stellen aus dem Convivio ließen sich unschwer vermehren, doch dürften die angeführten Zitate ausreichen. Worauf es mir ankommt, ist Folgendes, dass Dante nicht in einem theologischen Traktat, sondern in einem volkssprachlichen Kommentar zu volkssprachlicher Liebesdichtung ein fraglos gültiges Wahrheitskonzept aufruft, das in der dottrina veracissima di Cristo, la quale via, veritade e luce (Convivio, II, VIII, 14) seine Fundierung findet und das alles, was jemals unterschiedlich gedacht worden ist, in der Verbindlichkeit eines primum verum aufhebt. Garant für die adäquate Wahrheitsfindung ist nun wiederum eine spezifische Wissenschaft – die Theologie natürlich. In seiner allegori21 Vgl. hierzu Friedrich Ohly, „Halbbiblische und außerbiblische Typologie“, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 361 – 400, hier S. 379 ff., sowie Reinhart Herzog, Die Bibelepik der lateinischen Sptantike, Bd. 1, München 1975. Knappe Hinweise schon in Ernst Robert Curtius, Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern [u.a.] 41963, S. 453 ff. (zuerst 1948).
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schen Auslegung der zehn Himmel als zehn Wissenschaften, basierend auf drei similitudini zwischen dem jeweiligen Himmel und der jeweiligen Wissenschaft (vgl. Convivio, II, XIII, 2 – 6), kommt Dante zu folgendem Ergebnis: Alli sette primi [sc. cieli] rispondono le sette scienze del Trivio e del Quadruvio, cio Gramatica, Dialetica, Rettorica, Arismetica, Musica, Geometria e Astrologia. All’ottava spera, cio alla stellata, risponde la scienza naturale, che Fisica si chiama, e la prima scienza, che si chiama Metafisica; alla nona spera risponde la Scienza morale; ed al cielo quieto risponde la scienza divina, che Teologia appellata. (Convivio, II, XIII, 8)
Die scienza divina wird sodann folgendermaßen charakterisiert: […] lo Cielo empireo per la sua pace s i m i g l i a la divina scienza, che piena di tutta pace: la quale n o n s o f f e r a l i t e a l c u n a d ’ o p p i n i o n i o d i s o f i s t i c i a r g o m e n t i , per la eccellentissima certezza del suo subietto, lo quale Dio. E di questa dice esso alli suoi discepoli: ,La pace mia do a voi, la pace mia lascio a voi‘, dando e lasciando a loro la sua dottrina, che questa scienza di cu’ io parlo. Di costei dice Salomone: ,Sessanta sono le regine, e ottanta l’amiche concubine; e delle ancille adolescenti non numero: una la colomba mia e la perfetta mia‘. Tutte scienze chiama regine e drude e ancille; e questa chiama colomba, perch sanza macula di lite, e questa chiama perfetta perch p e r f e t t a m e n t e n e f a i l v e r o v e d e r e nel quale si cheta l’anima nostra. (Convivio, II, XIV, 19 – 20, Hervorhebung von mir)
Wie auch in den anderen neun Fällen werden ,Himmel‘ und ,Wissenschaft‘ über das Analogieprinzip (simiglia) korreliert, wobei das tertium comparationis der Begriff der pace, des Friedens und der Ruhe, darstellt: So wie das Empyreum bewegungslos in sich selbst ruht, duldet die divina scienza keinen Meinungsstreit, sie ist vollkommen, weil sie vollkommen das Wahre zur Anschauung bringt. In Dantes Convivio ist also eine explizite Verbindung des Analogie- beziehungsweise Ähnlichkeitsprinzips mit dem Insistieren auf einer absoluten Wahrheit zu konstatieren, wobei die Auszeichnung der Theologie als Leitwissenschaft gleichzeitig das Postulat eines absoluten Wahrheitsanspruches impliziert. Und dies nicht in einem theologischen Traktat, sondern, um es nochmals zu sagen, in einem volkssprachlichen Kommentar zu volkssprachlicher Dichtung. Eine eindeutigere Hierarchisierung von theologisch-religiösem und literarischem Diskurs dürfte außerhalb des doktrinär theologischen Diskurses schwerlich zu finden sein. Eben dies sollte sich im Laufe des 14. Jahrhunderts grundsätzlich zu ändern beginnen und ab dem 15. Jahrhundert einer epistemologischen Konfiguration Platz machen, die auf gänzlich andere Weise mit der immer schon
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konstatierten Pluralität von Meinungen und Diskursen umgeht. Bevor ich auf diese Veränderungen zu sprechen komme, möchte ich anhand der Vita Nova zeigen, wie sich eine spezifisch mittelalterliche Hierarchisierung von theologisch-religiösem und literarischem Diskurs in der poetischen Praxis konkretisieren kann.
II. Dantes Vita Nova als dichtungspraktisches Paradigma der Hierarchisierung von religiösem und literarischem Diskurs Es ist bekannt, dass die dichtungstheoretischen Konzeptionen von Vita Nova und Convivio nicht ohne weiteres aufeinander rückführbar sind. Dante selbst distanziert sich zu Beginn des Convivio vorsichtig von seinem Jugendwerk und begründet die unterschiedliche Konzeption mit seinem unterschiedlichen Alter (vgl. Convivio, I, I, 16 – 17). Mir geht es hier nicht um die Unterschiedlichkeit, die durch die literale und vor allem allegorische Auslegung der vorgängigen Liebeslyrik im Convivio allererst konstituiert wird, indem etwa aus der donna gentile der Vita Nova im Convivio allegorisch die Philosophie wird22, sondern um die Unterschiedlichkeit mit der die jeweils apriorisch vorausgesetzte Vorordnung des religiösen vor dem literarischen Diskurs umgesetzt wird. Die Vita Nova ist bekanntlich ein Prosimetrum, das lyrische Texte unterschiedlicher Gattung, vornehmlich Sonette und Kanzonen, in eine narrative und exegetische Prosa einbettet, die einerseits eine autobiographisch inszenierte Liebesgeschichte, verbunden mit einer expliziten Entwicklungsgeschichte der Dichtung des autobiographischen Subjekts, erzählt und die andererseits in den narrativen wie den exegetischen Passagen eine Dichtungskonzeption realisiert, deren (Er-)Findung in der Vita Nova als Prozess vorgeführt wird. Zentrale Grundlage dieser Dichtungskonzeption ist dabei eine spezifische Analogisierung von erotischem und religiösem Diskurs. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, inwiefern zwischen den beiden grundsätzlich divergenten Lektüren der Vita Nova eine 22 Vgl. Dante, Convivio (Anm. 6), II, XIII, 5 ff. gegenüber Vita Nova 24 – 27. Ich zitiere die Vita Nova nach der neuen kritischen Ausgabe von Gorni, die in neuer Weise die handschriftliche Überlieferung berücksichtigt und zu einer völlig neuen Kapiteleinteilung gelangt: Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. von Guglielmo Gorni, Turin 1996.
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fundierte Entscheidung vorgenommen werden kann.23 Dabei sprechen gegen eine literal-autobiographisch-profane Lektüre, die als zentralen Intertext neben Boethius’ Consolatio etwa Ciceros De Amicitia betrachtet, nicht nur die spiritualisierenden Lektüren eben dieses Textes im Mittelalter, die Dantes Text deutlich näher stehen als das antike Vorbild, sondern vor allem die – man möchte meinen – unübersehbaren Autoallegoresen, die eine ,spirituelle‘ Lektüre im wörtlichen Sinne ,vorschreiben‘. Nun hatte bekanntlich bereits Singleton, Ansätze von Nardi, Spitzer und anderen weiterführend, die These vertreten, dass sich in der Vita Nova eine Überwindung des höfischen Liebeskonzepts hin zur christlichen caritas vollziehe, wobei die Liebe zu Beatrice von einem Zweck zum Mittel werde, das den Liebenden zu Gott führe.24 Wenn demgegenüber De Robertis und andere nicht müde wurden, gegen diese These anzuschreiben, so hatten sie selbstverständlich auch heimische Kontrahenten, die wie Schiaffini oder Branca die Vita Nova in die Tradition der Heiligenlegende stellen.25 So unbestreitbar es ist, dass eine Mehrzahl von Vertextungsverfahren, wie insbesondere Branca gezeigt hat, auf die Hagiopraphie verweisen und damit für die Vita Nova eine Gattungsreferenz im Diskursfeld des Religiösen konstituieren26, so unbestreitbar ist auch, dass die Diskussion liebestheoretisch-poetologischer Fragen nicht zum ,normalen‘ Gegenstandsbereich hagiographischer Texte gehört. Wenngleich sich selbst Singleton explizit gegen eine allegorische Struktur der Vita Nova wendet, weil er ,Allegorie‘ mit ,Personifikation‘ identifiziert und seine Analyse ohne das theoretische Fundament ,mittelalterlicher Semantik‘ durchgeführt hat, über das wir seit Friedrich Ohly und seiner Schule verfügen, benennt er das zentrale Verfahren, auf dem die Überführung des erotisch-literarischen in den religiösen Diskurs basiert: die Analogie. So heißt es etwa zu Beatrice: „But if Beatrice 23 Vgl. hierzu Klaus W. Hempfer, „Allegorie und Erzählstruktur in Dantes ,Vita nova‘“, in: Deutsches Dantejahrbuch, 57/1982, S. 7 – 39. 24 Charles S. Singleton, An Essay on the ,Vita Nuova‘, Cambridge/Mass. 21958 (zuerst1949), bes. das Kapitel „From Love to Caritas“, S. 55 – 77. 25 Vgl. hierzu Vittore Branca, „Poetica del rinnovamento e tradizione agiografica nella ,Vita Nuova‘“, in: Alfredo Cavaliere [u.a.] (Hrsg.), Studi in onore di Italo Siciliano, Florenz 1966, S. 123 – 148 (mit Verweis auf ältere Literatur). Zur ,literal-autobiographisch-profanen‘ Lektüre vgl. Domenico De Robertis, Il libro della ,Vita Nuova‘, seconda edizione accresciuta, Florenz 1970 (zuerst 1961). 26 Vgl. Branca, „Poetica“ (Anm. 25), S. 136 ff. sowie zusammenfassend Hempfer, „Allegorie und Erzählstruktur“ (Anm. 23), S. 35 f.
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is no allegory [sc. Personifikation], she is not without a kind of ,other‘ meaning […].“27 Die ,andere‘ Bedeutung formuliert Singleton als Analogierelation zwischen Christus und Beatrice, und diese Analogie ergibt sich aus der gleichen Funktion der beiden Figuren in unterschiedlichen ,Handlungskontexten‘: „Both are actions leading to salute, to the beatitude of Heaven. And in the one Beatrice i s , as Christ i s in the other: a love which comes from Heaven and returns, t h r o u g h d e a t h , to Heaven.“28 Mit der Analogie als Ähnlichkeitsrelation benennt Singleton eben jenes Prinzip, das als analogia entis dem allegorischen Denken des Mittelalters zugrunde liegt, in der Formulierung Richards von St. Viktor: Habent corpora omnia ad invisibilia bona s i m i l i t u d i n e m 29 (Hervorhebung von mir). Welch zentrale Bedeutung der similitudo der Seinsbereiche im Convivio zukommt, haben wir bereits gesehen. Im Folgenden möchte ich skizzieren, wie über das Analogieprinzip eine Engführung des Religiösen und des literarischen Diskurses metapoetisch thematisiert und in der Struktur der Vita Nova insgesamt realisiert wird, wobei diese Engführung durch die Überführung des sensus litteralis der ,Liebesgeschichte‘ in einen sensus tropologicus vollzogen und solchermaßen eine Poetologie entwickelt wird, die Liebe als individuelles Glücksstreben mit dem Weg der einzelnen Seele zum Heil zu versöhnen und dergestalt Liebesdichtung allererst doktrinär akzeptabel zu machen versucht. Zunächst möchte ich zeigen, wie im Text eine spirituelle Exegese eines Literalsinns vorgeführt und damit eine ,Vorschrift‘ für die Lektüre der Vita Nova insgesamt geliefert wird.30 Im 15. Kapitel berichtet der Sprecher über eine ymaginatione d’Amore (15, 2) 31, in deren Verlauf er in seiner Nähe zwei Frauen sieht, die 27 Singleton, An Essay (Anm. 24), S. 112. 28 Ebd. (Hervorhebung von mir). 29 Zitiert nach Edgar de Bruyne, tudes d’esthtique mdivale [zuerst 1946], 3 Bde. (Neudruck Genf 1975), Bd. II, S. 337 (nach PL 196,90). Zur Bedeutung der Analogie für das mittelalterliche Denken und speziell für Dante vgl. auch Maria Corti, „Il modello analogico nel pensiero medievale e dantesco“, in: Picone (Hrsg.), Dante (Anm. 19), S. 11 – 20. 30 Der folgende Abschnitt greift auf meine Interpretation von Kap. 15 in Hempfer, „Allegorie und Erzählstruktur“ (Anm. 23), S. 22 – 25, zurück. 31 Träume bzw. Visionen sind ein zentrales Ingredienz hagiographischer Texte und bedürfen wegen ihrer Verschlüsseltheit der (allegorischen) Auslegung. Vgl. Wolfgang Haubrichs, „Offenbarung und Allegorese. Formen und Funktionen von Vision und Traum in frühen Legenden“, in: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien. Be-
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einander folgen (l’una apresso l’altra), wobei die erste Giovanna, die donna seines primo […] amico – eine autobiographische Anspielung auf Cavalcanti – ist, die wegen ihrer Schönheit auch Primavera genannt werde, und die ihr folgende la mirabile Beatrice (15, 3). Diese Situation, die einer konkreten Geschehenshaftigkeit bereits dadurch entzogen ist, dass sie als Bestandteil einer ymaginatione ausgewiesen wird, interpretiert nun Amor, der wörtlich zitiert wird, entsprechend der mittelalterlichen Namensexegese: ,Quella prima nominata Primavera solo per questa venuta d’oggi; ch io mossi lo imponitore del nome a chiamarla cos Primavera, cio Prima-verr lo die che Beatrice si mosterr dopo la ymaginatione del suo fedele. E se anche v li considerare lo primo nome suo, tanto quanto dire Primavera, per che lo suo nome Giovanna da quello Giovanni lo quale precedette la verace luce, dicendo: „Ego vox clamantis in deserto: parate viam Domini“‘. E anche mi parve che mi dicesse dopo queste parole: ,E chi volesse sottilmente considerare, quella Beatrice chiamerebbe Amore per molte simiglianze che meco.‘ (15, 4 f.)
In der Erklärung beider Namen der Begleiterin von Beatrice wird ein ausschließlicher Zusammenhang zwischen der kontingenten Situation, die der Sprecher in seiner Phantasie gesehen hat, und der Namengebung herausgestellt: […] nominata Primavera s o l o per questa venuta d’oggi. Diese Koppelung der Namengebung an eine vordergründig kontingente Situation mag überraschen, doch wird diese gerade durch ihre namengebende Funktion in ihrer Nichtkontingenz herausgestellt: Dies geschieht einmal explizit durch die Erwähnung der Tatsache, dass die Benennung durch den Gott Amor selbst im Hinblick auf die Situation bewirkt wurde, und implizit durch das der Exegese zugrunde liegende Prinzip des veriloquium nominis 32, das im Text an anderer Stelle als nomina richtsbände 3), S. 243 – 264. Zur spezifischen Verwendung der ,Visionen‘ in der Vita Nova vgl. Hempfer, „Allegorie und Erzählstruktur“ (Anm. 23), S. 37 ff. 32 Vgl. hierzu bes. Wolfgang Haubrichs, „,Veriloquium nominis‘. Zur Namensexegese im Frühen Mittelalter. Nebst einer Hypothese über die Identität des ,Heliand‘-Autors“, in: Hans Fromm/Wolfgang Harms/Uwe Ruberg (Hrsg.), Verbum et Signum. Beitrge zur medivistischen Bedeutungsforschung. Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, 2 Bde., München 1975, Bd. I, S. 213 – 266. Klaus Grubmüller, „Etymologie als Schlüssel zur Welt?“, in: ebd., Bd. I, S. 209 – 230, problematisiert die gängigen Anschauungen in Bezug auf die Appellative, nicht in Bezug auf die Eigennamen, hebt jedoch gleichfalls auf den kausalen Zusammenhang zwischen den proprietates rei und den voces ab (vgl. S. 224 ff. und bes. S. 226: „Die Etymologie kann nach Abälard die causa vocabulorum erschließen, nach Thomas id, a quo nomen imponitur, das heißt also nunmehr: die als Anlass für die Namengebung gewählte proprietas rei.“). Vgl. ferner Curtius, Europische Literatur (Anm. 21), S. 486 – 490. Die für das Mittelalter typische
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sunt consequentia rerum (6, 4) thematisiert wird, denn wenn eine notwendige Beziehung zwischen Namen und Sache besteht, dann kann die dargestellte Situation nichts Kontingentes sein, sondern ist Erscheinung des Wesens der Sache. Mit dieser ersten Namensexegese, die Giovanna/ Primavera ausschließlich in Funktion von Beatrice bestimmt, wird eine zunächst gegebene ,natürliche‘ Deutung des Namens zurückgewiesen: E lo nome di questa donna era Giovanna, salvo che per l a s u a b i e l t a t e , secondo che altri crede, imposto l’era nome Primavera (15, 3; Hervorhebung von mir). Die erste von Amor gegebene Auslegung bleibt nun zwar noch auf die erzählte imaginative Situation bezogen, erhält aber gleichzeitig über ihre narrativ-wörtliche Bedeutung hinaus eine Zusatzbedeutung, die sich auf die Stellung der beiden Frauen zueinander in einem nicht mehr nur wörtlichen Sinne bezieht. Diese Zusatzbedeutung hat noch keinen spezifisch spirituellen Charakter, sie ließe sich – modern gesprochen – als kontextuelle Konnotation auffassen oder – mittelalterlich, unter Rekurs etwa auf die Sprachauffassung des Thomas von Aquin – als figurale Bedeutung auf der Ebene des sensus litteralis. 33 Die Erklärung des Namens Giovanna geht dann aber entscheidend über diese Ebene hinaus. Ausgehend von einer ganz spezifischen und zwar heilsgeschichtlichen Eigenschaft des Johannes, Vorläufer Christi zu sein, die als Eigenschaft der Person über die Lautähnlichkeit der Namen auf Giovanna übertragen wird34, erhält das zunächst nur literal-figürliche Prima-verr eine spirituelle Bedeutung, die durch das Bibelzitat (Mt 1,3; Mk 2,3; Lk 3,4; Joh 1,23) noch unterstrichen wird. Die SpiritualisieSprachauffassung, nämlich dass die proprietates rei die voces ,motivieren‘, wird immer wieder fälschlich als ,realistisch‘ im Gegensatz zu ,nominalistisch‘ bezeichnet. Die Opposition von ,Realismus‘ und ,Nominalismus‘ hebt jedoch auf etwas gänzlich anderes ab, nämlich auf die Annahme bzw. die Nichtannahme der Existenz von Allgemeinbegriffen, es geht also nicht um ein linguistisches, sondern um ein ontologisches Problem. Vgl. hierzu Wolfgang Stegmüller, „Das Universalienproblem einst und jetzt“, in: ders., Glauben, Wissen und Erkennen. Das Universalienproblem einst und jetzt, zweite, überprüfte Ausgabe, Darmstadt 1965, S. 48 – 118. 33 Vgl. hierzu Christel Meier, „Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorieforschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen“, in: Fr hmittelalterliche Studien, 10/1976, S. 1 – 69, hier S. 19. 34 Dass „Assonanzen und Anklänge der Sprachzeichen […] auf Wesensverwandtschaft der bezeichneten Dinge schließen“ lassen, ist, wie Haubrichs, „Veriloquium nominis“ (Anm. 32), S. 247 f., feststellt, eine mittelalterlich verbreitete Auffassung und eine spezifische Ausprägung der zugrunde liegenden „zeichenrealistischen linguistischen Theorie“. (Dieses Zitat belegt den in Anm. 32 monierten unglücklichen Gebrauch von ,realistisch‘.)
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rung von Giovanna über die Analogie zu Johannes dem Täufer präsupponiert eine Spiritualisierung der Relation Giovanna/Beatrice und damit von Beatrice selbst. Diese wird nun jedoch nicht e x p l i z i t mit Christus analogisiert, vielmehr wird sie mittels einer direkten Thematisierung der dem allegorischen Prozess zugrunde liegenden Ähnlichkeitsrelation zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem als mit dem Namen Amor belegbar und solchermaßen, wegen der erwähnten Beziehung von Name und Sache, als wesensmäßig Amor entsprechend charakterisiert. Diese Gleichsetzung ist allerdings wohl nicht so ohne weiteres, wie De Robertis annimmt, auf das biblische Deus charitas est (1 Io 4,8) zu beziehen35, weil sich die Modifikation der profanen Personifikation des Amor zur christlichen caritas erst im Folgenden vollzieht, wobei eine entscheidende Voraussetzung für diese Modifikation die Spiritualisierung Beatrices und deren Analogisierung mit Amor ist. Hierauf ist sogleich zurückzukommen. Zunächst ging es mir nur darum, inwiefern durch die Struktur des Textes grundsätzlich eine über den Literalsinn der Geschichte hinausweisende Lektüre ,vorgeschrieben‘ ist. In unserem Beispiel verweist hierauf also einmal die explizite Thematisierung des allegorischen Prozesses, ferner die Namensexegese als solche in ihrer spezifisch typologisch-heilsgeschichtlichen Realisation, schließlich die explizite Anführung biblischer Zitate in Relation zur dargestellten Geschichte. In besonderem Maße deutlich wird die Spiritualisierungstendenz der Prosa bei einem Vergleich mit der Gedichtfassung des gleichen Vorgangs: E poco stando meco ’l mio signore, guardando in quella parte onde venia, io vidi monna Vanna e monna Bice venire inver’ lo loco l ov’io era, l’una apresso dell’altra maraviglia; e s come la mente mi ridice, Amor mi disse: ,Quell’ Primavera, e quell’ nome Amor, s mi somiglia‘. (15,8 f.)
Hier fehlt nicht nur das Bibelzitat, sondern auch die doppelte Namensexegese und die diese ermöglichende Situation des Nacheinandergehens von Giovanna und Beatrice: Gleichgültig, wie man das apresso 35 Vgl. Dante Alighieri, Vita Nuova, hrsg. von Domenico De Robertis, Mailand – Neapel 1980, S. 169.
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auffasst – ob in einem übertragenen örtlichen Sinn wie De Robertis oder in der bei Dante außerhalb der Vita Nova gängigen Bedeutung von accanto, a lato wie etwa Casini/Pietrobono36 –, die beiden Frauen sind g l e i c h e r m a ß e n ein Wunder, eine maraviglia, aber kein miracolo, wie es an anderen Stellen von Beatrice und nur von ihr heißt (12,4; 19,6). Weitgehend identisch mit der Prosa ist lediglich der Schlussvers, die Übertragung des Namens Amor auf Beatrice wegen der Ähnlichkeit beider, doch wird im Unterschied zur Prosa gerade nicht mehr ausdrücklich auf einen Auslegungsprozess Bezug genommen; es fehlt das E chi volesse sottilmente considerare […]. Indem die spirituelle Exegese qua „erzählte Allegorie“37 der Lektüre des Textes selbst vorgeschaltet ist, wird für diesen eine neue ,Gebrauchssituation‘ geschaffen, der ihn nachweislich mit religiösen Konnotaten auflädt, die der isolierte Text nicht enthält38, ja die dessen Semantik geradezu ,verbiegt‘ – am auffäl36 Vgl. Dante, Vita Nuova (Anm. 35), S. 170: Poich appresso [sic!] significa ,dopo‘, ,dietro‘ […] da notare che il titolo di ,maraviglia‘ […] tocca a l l a p a r i a monna Vanna e monna Bice (Hervorhebung von mir). Und: Dante Alighieri, Vita Nuova, hrsg. von Tommaso Casini und Luigi Pietrobono, terza edizione rinnovata e accresciuta, Florenz 1968, S. 89. 37 Ich übernehme den Begriff von Hugo Kuhn, „Allegorie und Erzählstruktur“, in: Haug (Hrsg.), Formen (Anm. 31), S. 206 – 218, hier S. 206. 38 Im Unterschied zu Rainer Warnings Lektüre der Vita Nova geht es mir nicht um den Nachweis, dass „die poetische Fiktion selbst der systematische Ort aller Dekonstruktionsarbeit ist“, wie Warning in Auseinandersetzung mit Paul de Mans Dekonstruktionskonzept formuliert, und auch nicht um eine Re-Isolation der Gedichte, um „wieder zu trennen und in eine ungelöste Widersprüchlichkeit zurückzuführen, was im narrativen Diskurs der Vita Nuova amortheologisch versöhnt erscheint“ (vgl. Rainer Warning, „Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire“, in: Klaus W. Hempfer/Gerhard Regn (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europischen Renaissance-Literatur. Festschrift f r Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1983, S. 282 – 317, die Zitate S. 291 und S. 294). Mir geht es vielmehr genau darum zu zeigen, wie Dante ,Probleme‘ des profanen Lyrikdiskurses durch die Konstitution eines neuen, exegetisch-narrativen-allegorischen Kontextes im Prosimetrum des „libello“ (Vita Nova, 1,1) zu lösen sucht. Dantes allegorisierende Kommentare werden deshalb nicht „unkritisch in die Interpretation der Lyrik“ eingebracht, um solchermaßen „die Einsicht in die immanente Spannung der Gedichte selbst“ zu verstellen (ebd., S. 301), vielmehr wird die Rekontextualisierung der Lyrik im durchkomponierten Buch als spezifisches Konstituens eben dieses Buches analysiert. Wenn man den Text nicht wieder in seine Einzelbestandteile zerlegt und damit im Paul de Manschen Sinne dekonstruiert, dann ist genau die Interdependenz der einzelnen Textkomponenten zu interpretieren, und es ist
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ligsten in der Reinterpretation des apresso, das in dem Sonett gerade keine Steigerungsrelation, sondern eine Gleichheit zum Ausdruck bringt. Diese ’Verbiegung’ erlaubt jedoch die Applikation des typologischen Auslegungsschemas auf Giovanna und Beatrice, wodurch wegen der Beziehung von Giovanna zu Cavalcanti und Beatrice zu Dante die Dichtung Cavalcantis zwar als Wegbereiter anerkannt wird, ihre Erfüllung aber gleichwohl erst im ,Antitypos‘ des Danteschen Dichtens erfährt.39 Dieses wird nun freilich selbst wiederum einem Entwicklungsprozess unterworfen, insofern die Vita Nova Konstitution und Ablösung unterschiedlicher Liebeskonzeptionen und damit unterschiedlicher Formen der ,Liebesdichtung‘ vorführt und ,bespricht‘. Dabei führt der Weg von einem Leiden an der Liebe, das aus der fälschlichen Erwartung nach einer – wenn auch nur auf Sehen und Sprechen beschränkten – Gegenliebe erwächst, über das jeglichem Zweck enthobene Lob der Geliebten bis zu deren absoluter Spiritualisierung als Führerin zu Gott. Voraussetzung für diese Spiritualisierung ist die bereits im 15. Kapitel vorgenommene Identifizierung von Beatrice und Amor, und weiter getrieben wird sie dann wesentlich ab Kapitel 19 mit dem Tod Beatrices und deren Aufnahme in die Schar der Seeligen. Beatrices Tod unterbricht dabei signifikanterweise die Abfassung einer Kanzone: diese Interdependenz, aus der ich meine Gesamtdeutung der Vita Nova als über das Schriftsinnschema realisierte Engführung von ,religiösem‘ und ,literarischem‘ Diskurs ableite. 39 Zu dieser Interpretation der Relation Dante – Cavalcanti vgl. auch Gorni in: Dante, Vita Nova (Anm. 22), S. 264. Diese Episode der Vita Nova ist ein unzweifelhafter Beleg für die von Ohly vertretene und von W. Schröder und anderen bestrittene „außerbiblische Typologie“ (vgl. hierzu Ohly, „Halbbiblische und außerbiblische Typologie“ [Anm. 21], S. 361 ff.). Dies bedeutet freilich nicht, dass man Beatrice als „figura di Cristo in terra“ (Gorni in: Dante, Vita Nova [Anm. 22], S. XLI) begreifen darf, da es zwischen Beatrice und Christus ja keine Relation von ,Verheißung‘ und ,Erfüllung‘ mit einem ,Früher‘ und ,Später‘ geben kann, typologisch ist nur die Relation von Giovanna und Beatrice und damit implicite diejenige von Cavalcanti und Dante. Ich interpretiere deshalb die Vita Nova insgesamt auch nicht t y p o l o g i s c h , sondern t r o p o l o g i s c h , insofern die Analogie zwischen Beatrice und Christus darin besteht, dass wie Christus die Menschheit Beatrice die Seele des Liebenden zum Heil führt. Zwischen Christus und Beatrice besteht also eine Analogie-, aber keine Typologierelation. Vgl. hierzu das Folgende. Zu einer konzisen Explikation des Schriftsinnschemas vgl. den grundlegenden Aufsatz von Friedrich Ohly, „Zum geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, der zum ersten Mal bereits 1958 f. erschien und wieder abgedruckt ist in: ders., Schriften (Anm. 21), S. 1 – 31, hier S. 13 ff.
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Io era nel proponimento ancora di questa canzone, e compiuta n’avea questa soprascripta stantia, quando lo Signore della iustitia chiam e questa gentilissima a gloriare sotto la ’nsegna di quella Regina benedecta Maria, lo cui nome fue in grandissima reverenzia nelle parole di questa Beatrice beata. (19,1)
Nach dem Klagen über Beatrices Tod und der erneuten Versuchung irdischer Liebe durch eine donna gentile realisiert Dante im letzten Sonett und der abschließenden Prosasequenz die weitest mögliche Überführung des literarischen in den religiösen Diskurs: Oltre la spera che pi larga gira passa ’l sospiro ch’esce del mio cuore: intelligenza nova, che l’Amore piangendo mette in lui, pur s lo tira. Quand’elli giunto l ove disira, vede una donna che riceve onore, e luce s, che per lo suo splendore lo peregrino spirito la mira. Vedela tal, che quando ’l mi ridice, io no.llo ’ntendo, s parla sottile al cor dolente, che lo fa parlare. So io che parla di quella gentile, per che spesso ricorda Beatrice, s ch’io lo ’ntendo ben, donne mie care. (30,10 – 13)
Wenn man versucht, den Text zu paraphrasieren, so ließe sich etwa Folgendes festhalten: Der Seufzer, der dem Herzen des Sprechers entspringt und damit synekdochisch für diesen steht, wird durch Amors Wirken, der ihm eine gänzlich neue Qualität einflößt, bis in das Empyreum, den zehnten Himmel als Sitz Gottes und der Seeligen, erhoben40, wo der Glanz einer Frau seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Schilderung des Anblicks der donna durch den sospiro ist nun so ,subtil‘, dass diese dem liebenden Sprecher unverständlich bleibt, dessen schmerzendes Herz gleichwohl den Seufzer erst zum Sprechen brachte. Das Einzige, was der Liebende versteht, ist, dass von Beatrice die Rede ist, da ihr Name häufig fällt. In dieser vielleicht etwas ,hilflosen‘ Paraphrase lässt sich gleichwohl das eigentlich ,Gemeinte‘ des Textes erkennen: Es ist die Liebe zur donna als einem dem Diesseits entrückten Wesen, das dem Liebenden ebenfalls den Weg zur Transzendenz eröffnet. Dass der donna für den 40 Vgl. zu dieser ,Auflösung‘ den Kommentar von Gorni, in: Dante, Vita Nova (Anm. 22), S. 228.
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Weg des Liebenden zum Heil dieselbe Funktion zukommt wie Christus für die Heilsgeschichte der Menschheit insgesamt, wird in der anschließenden Prosa durch die sprachliche Parallelisierung von Beatrice und Christus unübersehbar: Apresso questo sonetto apparve a me una mirabile visione, nella quale io vidi cose che mi fecero proporre di non dire pi di questa benedecta infino a tanto che io potessi pi degnamente tractare di lei. E di venire a.cci io studio quanto posso, s com’ella sae, veracemente. S che, se piacere sar di Colui a cui tutte le cose vivono, che la mia vita duri per alquanti anni, io spero di dire di lei quello che mai non fue detto d’alcuna. E poi piaccia a colui che sire della cortesia che la mia anima sen possa gire a vedere la gloria della sua donna, cio di quella benedecta Beatrice, la quale gloriosamente mira nella faccia di Colui ,qui est per omnia secula benedictus‘. (31,1 – 3)
Auch wenn der Text mit einem Bescheidenheitstopos schließt, den man immer im Hinblick auf das sacro poema gelesen hat, in dem die hier noch im Modus des ineffabile verbleibende Transzendenz in ganz anderer Weise ,konkretisiert‘ werden sollte41, so ist die Überhöhung Beatrices auch schon in diesem Text durch die Parallelisierung mit Christus über das zweimalige benedecta in Bezug auf Beatrice und das abschließende benedictus in Bezug auf Christus nicht zu übersehen. Außer Beatrice werden in der Vita Nova nur Personen (die Gottesmutter Maria in 19, 1) und Gegenstände (das Schweißtuch der Veronica in 29, 1) der Heilsgeschichte sowie das ewige Leben erreicht habende Seelen mit diesem Adjektiv belegt, so dass sich der ,spirituelle‘ Sinn der Vita Nova dahingehend zusammenfassen lässt, dass die Liebe zur donna b e n e d e c t a aufgrund von deren similitudo zu Christus (und Maria) den Liebenden auf den Weg des Heils führt. Die Liebeslyrik wird solchermaßen strukturell tropologisch, indem sie den Weg der einzelnen Seele zum Heil durch die ,richtige‘ Liebe zur Dame vorführt. Demnach wäre die Engführung von literarischem und religiösem Diskurs in der Vita Nova dadurch geleistet, dass das Schriftsinnschema als Auslegungsverfahren zum Verfahren der Textproduktion selbst wird.42 Dass es sich hierbei um eine theologisch höchst prekäre Lösung handelt, ergibt sich spätestens aus den Modifikationen, die der Text in 41 Vgl. hierzu Kablitz, „Poetik der Erlösung“ (Anm. 18). 42 Was Andreas Kablitz für die Divina Commedia gezeigt hat, gilt im Grundsätzlichen also bereits für die Vita Nova. Der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie das Schriftsinnschema zum Verfahren der Textproduktion wird. Diese tropologische Lektüre bedeutet natürlich nicht, dass der sensus litteralis ,verschwindet‘, er ist vielmehr die Voraussetzung für die Konstitution eines sensus spiritualis, der über den ,Buchstabensinn‘ hinausweist.
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der ersten vollständigen Druckausgabe von 1576 erfährt, wie Hugo Friedrich im Anschluss an Michele Barbi feststellt. Der Text werde dort geändert, wo „Zitate aus der Bibel oder Wörter der christlichen Sakralsprache standen“43, das heißt nicht mehr akzeptabel war gerade die Engführung von literarischem und religiösem Diskurs auf der Basis des Schriftsinnschemas. Die Kritik an Dantes Lösung setzt nun freilich nicht erst mit der Gegenreformation ein. Bevor ich auf Petrarcas Problematisierung der Danteschen ,Lösung‘ eingehe, ist noch kurz zu begründen, warum Dante überhaupt diese rcriture seiner Lyrik im libellum der Vita Nova und im Convivio unternommen hat.44 Gleich im zweiten Kapitel des ersten Traktats des Convivio verteidigt Dante seine Lyrik und deren allegorische Exegese gegen zwei macule: L’una che parlare alcuno di se medesimo pare non licito; l’altra che parlare in esponendo troppo a fondo pare non ragionevole (Convivio, I, II, 2). In unserem Zusammenhang interessiert nur der erste ,Makel‘, der im Anschluss an rhetorische Normen näher begründet wird (Convivio, I, II, 3 ff.). Wird solchermaßen das Sprechen von sich selbst generell als problematisch ausgewiesen, so ist es andererseits aus zwei necessarie cagioni (Convivio, I, II, 12) erlaubt: L’una quando sanza ragionare di s grande infamia o pericolo non si pu cesssare; der andere liegt dann vor, wenn per ragionare di s, grandissima utilitade ne segue altrui per via di dottrina. Letzterer Grund habe Augustinus zu seinen Confessiones veranlasst, ch per lo processo della sua vita, lo quale fu di [meno] buono in buono, e di buono in migliore, e di migliore in ottimo, ne diede e s s e m p l o e d o t t r i n a , la quale per [altro] s vero testimonio ricevere non si potea (Convivio, I, II, 13 f. Hervorhebung von mir). Aus diesen Formulierungen ergibt sich, dass nicht nur die Vermittlung subjektiver Erfahrungen als solche keinen Wert, sondern vielmehr einen Makel darstellt, und dass sie ihre Berechtigung immer nur in Funktion von etwas anderem erhält: subjektiv als Apologie und objektiv als über den Einzelfall hinausweisendes, lehrhaftes Exempel. Da darüber hinaus als Gründe für die Abfassung des Convivio als eines Kommentars über Liebesdichtung sowohl der timore d’infamia als auch der disiderio di dottrina dare (Convivio, I, II, 15) genannt werden, und es Dante darauf ankommt zu zeigen, dass die seinen Kanzonen zugrunde liegende movente cagione nicht passione ma vert (Convivio, I, II, 16) sei, 43 Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt/M. 1964, S. 94. 44 Zu Folgendem vgl. bereits Hempfer, „Allegorie und Erzählstruktur“ (Anm. 23), S. 14 f.
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wird ausdrücklich eine auf Affektdarstellung beschränkte Liebesdichtung als problematisch charakterisiert und gleichzeitig im Prinzip des allegorischen Textverständnisses der Weg für eine Vermittlung von – tatsächlicher oder vorgeblicher – subjektiver Erfahrung und objektiver Bedeutung aufgezeigt: Intendo anche mostrare la vera sentenza di quelle [sc. canzoni], che per alcuno vedere non si pu s’io non la conto, perch nascosa sotto figura d’allegoria (Convivio, I, II, 17). Diese Konzeption beinhaltet die grundsätzliche Umkehrung der modernen Eigentlichkeitshypothese, indem das Eigentliche gerade nicht das biographische oder pseudobiographische Faktum ist, sondern dessen ,tiefere‘ Bedeutung. Dante markiert solchermaßen einen Verständnishorizont von Literatur generell und von Liebesdichtung im Besonderen, der einsichtig macht, warum er sozusagen in einem doppelten Anlauf, in der Vita Nova und im Convivio, es unternimmt, seinen rime sparse einen ,doktrinären‘ Rahmen zu geben, der sie von möglichen maculae befreit. Dass das sacro poema, wie Dante seine Divina Commedia nicht zufällig bezeichnet (Paradiso, XXV, 1), nochmals eine andere Lösung der Engführung von literarischem und religiösem Diskurs vornimmt, insofern es nicht mehr um den Weg der einzelnen Seele zum Heil, sondern um Heilsgeschichte geht, nicht mehr um eine Tropologisierung der Liebeslyrik, sondern um eine „Poetik der Erlösung“, in der die Jenseitsreise mit ihrem Ende im Paradiso „den sensus anagogicus zum Literalsinn einer Geschichte“ macht, „welche die Anschauung jenseitiger Wirklichkeit zum Inhalt hat“45, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Eingehen möchte ich stattdessen auf die grundsätzliche Problematisierung der von Dante in der Vita Nova vorgenommenen Lösung, die Petrarca mit seiner Sammlung von rime sparse liefert.46 45 Kablitz, „Poetik der Erlösung“ (Anm. 18), S. 356. Es ist eben jene „Anschauung jenseitiger Wirklichkeit“, die am Ende der Vita Nova noch im Stadium des ineffabile verbleibt. 46 Unter anderer Perspektive betrachtet auch Gerhard Regn, „,Allegorice pro laurea corona‘. Dante, Petrarca und die Konstitution postmittelalterlicher Dichtungsallegorie“, in: Romanistisches Jahrbuch, 51/2000 [=2002], S. 128 – 152, die Auseinandersetzung des Petrarkischen Canzoniere mit Dantes Vita Nova. Stärker in meine Richtung argumentiert Franz Penzenstadler (siehe unten und Anm. 59). Gemeinsam ist unseren verschiedenartigen Argumentationen, dass Petrarcas Canzoniere als implizite Replik auf die Vita Nova angelegt ist. Vgl. hierzu auch Peter Kuon, L’aura dantesca. Metamorfosi intertestuali nei ,Rerum vulgarium fragmenta‘ di Francesco Petrarca, Florenz 2004 (Resoconti di Letteratura Italiana 3).
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III. Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta oder die Problematisierung der Vermittelbarkeit von literarischem und religiösem Diskurs Auf die Existenz von zwei nicht ohne weiteres vermittelbaren ispirazioni ideologiche im Canzoniere hat neuerdings insbesondere Marco Santagata aufmerksam gemacht.47 Er meint damit vor allem den Gegensatz zwischen der stilnovistischen Liebeskonzeption einerseits, die die Frau als Führerin zu Gott begreift, und der von Augustinus 48 im Secretum vertretenen Position andererseits, die die Liebe und damit die Frau als zentrale Heilsgefährdung versteht. Die beständige Reorganisation des Canzoniere in den uns erhaltenen Fassungen interpretiert Marco Santagata als einen Prozess der Vermittlung, der von Un cerchio che non si chiude der Fassung Correggio (1356 – 58) 49 bis zu La chiusura del cerchio des Kodex Vat. lat. 3195 und der darin vorgenommenen Umnummerierung der letzten 31 Texte führt.50 Marco Santagata hat ganz sicherlich Recht mit der Feststellung, dass der Text mit einer solch eindeutigen Positionsnahme e n d e t, doch wird gerade eine solche Positionsnahme noch in RVF CCCLX verweigert, einem Text, der erst in der allerletzten Umarbeitungsphase in die Sammlung aufgenommen wurde und durch die Umnummerierung noch weiter an das Ende rückte (von Nr. CCCLVI zu Nr. CCCLX).51 Wenn sich aus der Genese der Sammlung also die Intentionalität eines bestimmten Schlusses ableiten lässt, so lässt sich gleichermaßen die Intentionalität des hierzu Diskrepanten ableiten, indem Petrarca nicht nur die Texte, die dem ,sich schließenden Kreis‘ von RVF I über CCLXIV bis hin zur Gruppe CCCLXI bis CCCLXVI 47 Vgl. Marco Santagata, „Introduzione“, in: Francesco Petrarca, Canzoniere, hrsg. von Marco Santagata, nuova edizione aggiornata, Mailand 2004 (I Meridiani) (zuerst 1996), S. XVII–CII, bes. S. LXXXVff., hier S. XCII. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. 48 Ich kursiviere die Sprecherfiguren des Dialogtextes zur Unterscheidung von den empirischen Personen. 49 Vgl. Marco Santagata, I frammenti dell’anima. Storia e racconto nel ,Canzoniere‘ di Petrarca, Bologna 1992, (Saggi 387), S. 191 ff. 50 Ebd., S. 335 ff. 51 Vgl. hierzu Santagata, in: Petrarca, Canzoniere (Anm. 47), S. CCIX (zur Redaktion Rv6) und S. 1381 ff. den Überblick zu Datierungskonjekturen, wo die entscheidende Frage nicht gestellt wird, nämlich was es für den ,Sinn‘ der Gesamtsammlung bedeutet, dass die Kanzone 360 in der Fassung Rv6 des Canzoniere von 1373 f. zum ersten Mal erscheint und durch die handschriftliche Umnummerierung Petrarcas von Nr. 356 zu Nr. 360 wird.
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widersprechen, nicht reduziert, sondern ganz im Gegenteil zusätzliche wie CCCLX aufnimmt. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht52, wie nicht nur im Proömialsonett, dem Prolog- und Epilogfunktion und damit ein metapoetischer Charakter im Hinblick auf die Syntagmatik der Sammlung zukommt53, sondern bereits in XXXII Quando pur m’avicino al giorno extremo eine Position vertreten wird, die über die meditatio mortis eine mutatio vitae konzipiert, die aus der Einsicht in die Futilität der irdischen cose dubbiose (XXXII, 13) die Hinwendung zum ewigen Heil konzipiert: I’ dico a’ miei pensier’: Non molto andremo D’amor parlando omai, ch ’l duro et greve Terreno incarco come frescha neve Si va struggendo; onde noi pace avremo (XXXII, 5 – 8).
Das Entscheidende ist nun, dass diese Einsicht ,Episode‘ bleibt beziehungsweise dass es sich überhaupt nicht um eine als solche reflektierte Einsicht des sprechenden Subjekts handelt, sondern dass sowohl in der unmittelbaren Umgebung dieses Textes etwa in Sonett XXXIV, wo der Sprecher seinen bel desio (XXXIV, 1) weiter verfolgt, als hätte er nie von der Unsinnigkeit dieses Unterfangens gehandelt, sondern auch immer wieder noch im zweiten Teil des Canzoniere – trotz der einleitenden Canzone CCLXIV, die das Sonett XXXII amplifizierend aufnimmt – ein gänzlich anderes, abkürzend als stilnovistisch bezeichnetes Liebeskonzept vertreten wird. Zugespitzt würde ich sagen, dass der Canzoniere Petrarcas mit Ausnahme des Einleitungssonetts und der Schlusstexte von CCCLXI – CCCLXVI gerade keinen Erkenntnisprozess formuliert – weswegen auch die moderne Kategorie der Subjektivität wenig angemessen erscheint54 – , sondern unterschiedliche Möglichkeiten des Redens über 52 Vgl. Klaus W. Hempfer, „Rerum vulgarium fragmenta XXXII‘: Diskursive Antinomien und die Konkurrenz alternativer Wirklichkeitsmodellierungen in Petrarcas ,Canzoniere‘“, in: ders./Gerhard Regn (Hrsg.), Petrarca-Lekt ren. Gedenkschrift f r Alfred Noyer-Weidner, Stuttgart 2003 (Text und Kontext 17), S. 39 – 67. 53 Vgl. hierzu Alfred Noyer-Weidner, „Il sonetto I“, in: Lectura Petrarce, 4/1984, S. 327 – 353 (wieder abgedruckt in: Alfred Noyer-Weidner, Umgang mit Texten, hrsg. von Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn, 2 Bde., Stuttgart 1986 (Text und Kontext 3 f.), I, S. 262 – 288). 54 Vgl. hierzu ausführlicher Hempfer, „Rerum vulgarium fragmenta XXXII“ (Anm. 52), bes. S. 52 ff.
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Liebe, deren Positivierung als ein ,schönes Verlangen‘ und dessen beziehungsweise deren Negativierung als vaneggiare gegeneinander montiert, wie dies dann pointiert und zum ersten Mal in ein und dem selben Text unmittelbar vor Einsetzen der abschließenden ,Reuegedichte‘ in der Canzone CCCLX geschieht.55
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Quel’antiquo mio dolce empio signore fatto citar dinanzi a la reina che la parte divina tien di nostra natura e ’n cima sede, ivi, com’oro che nel foco affina, mi rappresento carco di dolore, di paura et d’orrore, quasi huom che teme morte et ragion chiede; e ’ncomincio: – Madonna, il manco piede giovinetto pos’io nel costui regno, ond’altro ch’ira et sdegno non ebbi mai; et tanti et s diversi tormenti ivi soffersi, ch’alfine vinta fu quell’infinita mia patentia, e’n odio ebbi la vita. Cos ’l mio tempo infin qui trapassato in fiamma e ’n pene: et quante utili honeste vie sprezzai, quante feste, per servir questo lusinghier crudele! Et qual ingegno s parole preste, che stringer possa ’l mio infelice stato, et le mie d’esto ingrato tante et s gravi et s giuste querele? O poco ml, molto alo con fele! In quanto amaro la mia vita avezza con sua falsa dolcezza, la qual m’atrasse a l’amorosa schiera! Che s’i’ non m’inganno, era disposto a sollevarmi alto da terra: e’ mi tolse di pace et pose in guerra. Questi m’ fatto men amare Dio ch’i’ non deveva, et men curar me stesso: per una donna messo egualmente in non cale ogni pensero. Di ci m’ stato consiglier sol esso,
55 Im Folgenden greife ich auf meine Interpretation der Kanzone 360 in ebd., bes. S. 57 ff. zurück.
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sempr’ aguzzando il giovenil desio a l’empia cote, ond’io sperai riposo al suo giogo aspro et fero. Misero, a che quel chiaro ingegno altero, et l’altre doti a me date dal cielo? ch vo cangiando ’l pelo, n cangiar posso l’ostinata voglia: cos in tutto mi spoglia di libert questo crudel ch’i’ accuso, ch’amaro viver m’ v lto in dolce uso. Cercar m’ fatto deserti paesi, fiere et ladri rapaci, hispidi dumi, dure genti et costumi, et ogni error che’ pellegrini intrica, monti, valli, paludi et mari et fiumi, mille lacciuoli in ogni parte tesi; e ’l verno in strani mesi, con pericol presente et con fatica: n costui n quell’altra mia nemica ch’i’ fuggia, mi lasciavan sol un punto; onde, s’i’ non son giunto anzi tempo da morte acerba et dura, piet celeste cura di mia salute, non questo tiranno che del mio duol si pasce, et del mio danno. Poi che suo fui non ebbi hora tranquilla, n spero aver, et le mie notti il sonno sbandiro, et pi non ponno per herbe o per incanti a s ritrarlo. Per inganni et per forza fatto donno sovra miei spirti; et non son poi squilla, ov’io sia, in qual che villa, ch’i’ non l’udisse. Ei sa che ’l vero parlo: ch legno vecchio mai non rse tarlo come questi ’l mio core, in che s’annida, et di morte lo sfida. Quinci nascon le lagrime e i martiri, le parole e i sospiri, di ch’io mi vo stancando, et forse altrui. Giudica tu, che me conosci et lui. – Il mio adversario con agre rampogne comincia: – O donna, intendi l’altra parte, che ’l vero, onde si parte quest’ingrato, dir senza defecto. Questi in sua prima et fu dato a l’arte
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da vender parolette, anzi menzogne; n par che si vergogne, tolto da quella noia al mio dilecto, lamentarsi di me, che puro et netto, contra ’l desio che spesso il suo mal v le, lui tenni, ond’or si dole, in dolce vita, ch’ei miseria chiama: salito in qualche fama solo per me, che ’l suo intellecto alzai ov’alzato per s non fra mai. Ei sa che ’l grande Atride et l’alto Achille, et Hanibl al terren vostro amaro, et di tutti il pi chiaro un altro et di vertute et di fortuna, com’a ciascun le sue stelle ordinaro, lasciai cader in vil amor d’ancille: et a costui di mille donne electe, excellenti, n’elessi una, qual non si vedr mai sotto la luna, bench Lucretia ritornasse a Roma; et s dolce ydoma le diedi, et un cantar tanto soave, che penser basso o grave non pot mai durar dinanzi a lei. Questi fur con costui li ’nganni mei. Questo fu il fel, questi li sdegni et l’ire, pi dolci assai che di null’altra il tutto. Di bon seme mal frutto mieto: et tal merito chi ’ngrato serve. S l’avea sotto l’ali mie condutto, ch’a donne et cavalier’ piacea il suo dire; et s alto salire i’ ’l feci, che tra’ caldi ingegni ferve il suo nome et de’ suoi detti conserve si fanno con diletto in alcun loco; ch’or saria forse un roco mormorador di corti, un huom del vulgo: i’ l’exalto et divulgo, per quel ch’elli ’mpar ne la mia scola, et da colei che fu nel mondo sola. Et per dir a l’extremo il gran servigio, da mille acti inhonesti l’ ritratto, ch mai per alcun pacto a lui piacer non poteo cosa vile: giovene schivo et vergognoso in acto
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et in penser, poi che fatto era huom ligio di lei ch’alto vestigio li ’mpresse al core, et fecel suo simle. Quanto del pellegrino et del gentile, da lei tene, et da me, di cui si biasma. Mai nocturno fantasma d’error non fu s pien com’ei ver’ noi: ch’ in gratia, da poi che ne conobbe, a Dio et a la gente. Di ci il superbo si lamenta et pente. Anchor, et questo quel che tutto avanza, da volar sopra ’l ciel li avea dat’ ali, per le cose mortali, che son scala al Fattor, chi ben l’estima: ch, mirando ei ben fiso quante et quali eran vertuti in quella sua speranza, d’una in altra sembianza potea levarsi a l’altra cagion prima; et ei l’ detto alcuna volta in rima, or m’ posto in oblio con quella donna ch’i’ li die’ per colonna de la sua frale vita. – A questo un strido lagrimoso alzo et grido: – Ben me la die’, ma tosto la ritolse. – Responde: – Io no, ma Chi per s la volse. – Alfin ambo conversi al giusto seggio i’ con tremanti, ei con voci alte et crude, ciascun per s conchiude: – Nobile donna, tua sententia attendo . – Ella allor sorridendo: – Piacemi aver vostre questioni udite, ma pi tempo bisogna a tanta lite. –
Gegenstand der Kanzone ist ein vor dem Richterstuhl der Vernunft ausgetragener Streitfall zwischen dem Sprecher und Amor um die Wirkungen der Liebe und damit um deren adäquates Verständnis. Während der Sprecher bis in wörtliche Formulierungen hinein die Position des Augustinus aus dem Secretum und des Sprechers aus RVF CCLXIV vertritt56, entgegnet Amor mit der stilnovistischen Liebesauffassung, die in der – richtigen – Liebe gerade nicht die Entfernung 56 Zu dieser Position und zum Verhältnis von Secretum und Kanzone CCLXIV vgl. Klaus W. Hempfer, „Sinnrelationen zwischen Texten“ (Anm. 3), S. 156 – 176.
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von, sondern die Hinführung zu Gott sieht und auf die sich auch Franciscus im Secretum gegen Augustinus beruft.57 In der einleitenden Strophe wird zunächst die Situation exponiert: Der Sprecher hat Amor (mio dolce empio signore) vor die in Vers 2 – 4 gleichfalls paraphrastisch eingeführte Vernunft zitiert, wobei sowohl in der oxymoralen Charakterisierung Amors wie in dem Ausweis der Vernunft als dem göttlichen Teil der menschlichen Natur sogleich Grundstrukturen des Canzoniere, die contrari affetti und die Negativierung des Affektischen, thematisch werden, bevor der Sprecher von Vers 9 bis Vers 75 seine explizite ,Abrechnung‘ mit Amor vornimmt. Die für Petrarca und den Petrarkismus charakteristischen contrari affetti mit pointierter Dominanz des Leidens an der Liebe (O poco ml, molto alo con fele!, V. 24) werden in der Folge durchgespielt und in Strophe 3 verbunden mit der durch die Liebe ausgelösten, verhängnisvollen Abwendung von Gott, die solchermaßen implicite das Leiden an der Liebe in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Abwendung des Menschen aus seiner Heilsbestimmung bringt. Auf diese Argumente, die, wie gesagt, vollständig denjenigen des Augustinus im Secretum entsprechen, gegen die sich Franciscus dort mit Vehemenz wendet, antwortet Amor ab Strophe 6 mit der Essenz der stilnovistischen Liebesdoktrin. Zunächst insistiert er darauf, dass erst die Liebe den Sprecher zum Dichter gemacht habe (salito in qualche fama jj solo per me, V. 98 f.) und dass Amor für ihn eine donna erwählt habe, der jeglicher penser basso o grave (V. 103) unbekannt war, so dass auch das Dichten über sie so einmalig werden konnte wie sie selbst (V. 106 – 120): […] colei che fu nel mondo sola (V. 120). Auf diese implizite Auto-Enkomiastik folgt sodann wie am Schluss der Vita Nova die genuin tropologische Funktionalisierung der donna, die den Geliebten zur Verachtung jeglicher cosa vile“ (V. 124) anleitet und ihn zu ihres Gleichen macht (fecel suo simle, V. 128), um ihm solchermaßen, das heißt über die richtig gebrauchten irdischen Dinge (per le cose mortali jj che son scala al Fattor, chi ben l’estima, V. 138 f.) den Weg zum ewigen Heil zu eröffnen: Anchor, et questo quel c h e t u t t o a v a n z a , j da volar sopra ’l ciel li avea dat’ ali (V. 136 f.; Hervorhebung von mir). Ganz wie im Schlusssonett der Vita Nova 57 Vgl. hierzu Francesco Petrarca, Secretum, in: Francesco Petrarca., Prose, hrsg. von Guido Martellotti [u.a.], Mailand – Neapel 1955, S. 22 – 214, hier S. 136. Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Santagata, I frammenti dell’anima (Anm. 49), S. 65 sowie die Anmerkungen in Petrarca, Canzoniere (Anm. 47), S. 1384 ff.
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mündet die Apotheose der irdischen Liebe in deren tropologische Refunktionalisierung. Petrarca rekurriert hier explizit auf die (neu-) platonische Stufenontologie, die das genaue Gegenteil der in der Kanzone CCLXIV vorausgesetzten Ontologie darstellt, die auf der Opposition von Diesseitsverfallenheit und Jenseitsbestimmung des Menschen basiert und die Liebe zu Laura als einer mortal cosa (CCLXIV, 99) nur als Heilsgefährdung zu begreifen vermag: quella [sc. Laura] che sol per farmi morir nacque, j perch’a me troppo, et a se stessa, piacque (CCLXIV, 107 f.). Im vorliegenden Text wird demnach nochmals etwas zur Frage, was mit CCLXIV bereits eindeutig beantwortet schien. Das eigentlich Provozierende der Kanzone CCCLX beruht jedoch gerade darauf, dass nunmehr die rationale Beantwortbarkeit der Frage überhaupt negiert wird. Nach der Aufforderung beider Sprecher an die Ragione, die Streitfrage zu entscheiden: […] ciascun per s conchiude: j – Nobile donna, tua sententia attendo. – endet der Text mit deren Nichtentscheidung: Ella allor sorridendo: j – Piacemi aver vostre questioni udite, j ma pi tempo bisogna a tanta lite (V. 155 – 157). Während in RVF CCLXIV eine explizite Opposition von Vernunft und Liebe aufgemacht wird, insofern ein leggiadro disdegno, ein edles Gefühl der Selbstverachtung, richiama jj la ragione sviata dietro ai sensi (V. 102 f.), kann in RVF CCCLX die Vernunft selbst nicht entscheiden, wie die Liebe zu bewerten sei. Wenn wir hinzunehmen, dass der Text, wie gesagt, erst in der allerletzten Umarbeitungsphase zwischen 1373 und 1374 in die Sammlung aufgenommen wurde und die endgültige Stellung erst mit der handschriftlichen Umnummerierung der Reihenfolge der 31 letzten Gedichte erhält, dann kann das Einfügen eines solchen Textes an dieser exponierten Stelle – vor der endgültigen Absage an die Liebe und der Hinwendung zu Gott ab RVF CCCLXI – nur als abschließendes ,Zurschaustellen‘ der das ,Liebesbuch‘ insgesamt charakterisierenden Heteronomie der Diskurse verstanden werden. Die am Ende von CCLXIV anzitierte Augustinische Anthropologie, wonach der Mensch trotz Einsicht in das Bessere das Schlechtere tut, ist demnach gerade nicht das verbindliche Sinnsystem, das das ,Schwanken‘ des Sprechers zwischen unterschiedlichen Positionen erklären könnte, sondern sie ist ihrerseits nur e i n e s der potentiell verfügbaren Interpretationssysteme, weil genau das, was in CCLXIV als das eindeutig Bessere erkannt – wenn auch noch nicht befolgt – wurde, in CCCLX als keineswegs notwendig richtig ausgewiesen wird, womit die Augustinische Sün-
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denlehre für CCCLX gerade nicht als verbindlich vorausgesetzt wird. Wenn demnach die in RVF CCCLX vorgenommene „Engführung konkurrierender Theorien des Eros“ einleuchtend auf „eine Heterogenität christlicher Semantik des Eros“ zurückgeführt werden kann58, so potenziert sich die bereits hieraus resultierende Wahrheitsproblematik in der Syntagmatik des Canzoniere dadurch, dass die Nichtentscheidbarkeit zwischen alternativen Modellen (in CCCLX) die bereits entschiedene Entscheidbarkeit für ein Modell (in CCLXIV) ablöst, ohne dass dies durch einen Reflexionsprozess des Subjekts motiviert würde. Petrarcas Auseinandersetzung mit Dantes Engführung von religiösem und literarischem Diskurs in der Vita Nova ist komplexer, als ich es hier darstellen kann. Neben dem ,schlichten‘ Gegeneinanderstellen von stilnovistischer ,Versöhnung‘ von religiösem und literarischem Diskurs und deren – theologisch soliderer – Negation, kommt es, wie Franz Penzenstadler ausgehend von RVF CXCI eindrucksvoll gezeigt hat59, in bestimmten Texten des Canzoniere nämlich auch zu einer Dekonstruktion der stilnovistischen Lösung, wobei der unterschiedliche Blick auf unterschiedliche Umgangsweisen Petrarcas mit dem Stilnovismus zu einem identischen Ergebnis führt, nämlich der Situierung Petrarcas in einer relativistischen episteme der Pluralität, welche die noch bei Dante eindeutig grundlegende episteme der Ähnlichkeit ablöst. In Modifikation einer früheren Formulierung60 würde ich vorschlagen, den Canzoniere als Vorführen der Nichtvermittelbarkeit diskrepanter Diskurse zu lesen. 58 Andreas Kablitz, „Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts: Zur Kanzone RVF Nr. 360 – mit einem Exkurs zur Geschichte christlicher Semantik des Eros“, in: Reto Fetz/Roland Hagenbüchle/Peter Schulz (Hrsg.), Geschichte und Vorgeschichte moderner Subjektivitt, Berlin – New York 1998, S. 567 – 611, hier S. 589. Völlig unnachvollziehbar erscheint mir die These Kuons, wonach durch Lexem- und Phonemechos die Offenheit des Streits „a livello del meta-dicorso intertestuale“ zu Ungunsten des dantesken stilnovismo aufgehoben sei; vgl. Kuon, L’aura dantesca (Anm. 46), S. 202 – 210, Zitat S. 210. 59 Franz Penzenstadler, „,Sì come eterna vita è veder Dio‘ (,Rerum vulgarium fragmenta‘ Nr. 191) – Petrarcas Dekonstruktion stilnovistischer Poetik“, in: Hempfer/Regn (Hrsg.), Petrarca-Lekt ren (Anm. 52), S. 147 – 183. 60 In Hempfer, „Rerum vulgarium fragmenta XXXII“ (Anm. 52), S. 63, hatte ich „vom Vorführen des Scheiterns der Integration diskrepanter Diskurse“ gesprochen. „Scheitern“ könnte man als ,Mangel‘ begreifen, was natürlich gerade nicht gemeint ist. Mir geht es also selbstverständlich nicht um ein ,NichtKönnen‘ Petrarcas, sondern um dessen Einsicht in die Tatsache, dass sich zeitgenössisch existente und jeweils Verbindlichkeit beanspruchende Diskurse logisch ausschließen.
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Im Vorführen der Nichtvermittelbarkeit wäre genau der Unterschied zu Dantes Vita Nova zu situieren, in der durch die spezifische Ausnutzung des – theologischen – Schriftsinnschemas religiöse und literarische Kommunikation als kompatibel, ja in der Zielsetzung, nämlich dem Menschen den Weg zum Heil zu weisen, als identisch ausgewiesen werden. Grundlage des Schriftsinnschemas, das die Engführung von religiösem und literarischem Diskurs allererst erlaubt, ist das Analogieprinzip. In dem Augenblick, wo die Möglichkeit dieser Engführung nicht nur stillschweigend außer Acht gelassen wird wie in der höfischen Lyrik61, sondern explizit negiert wird, kann die episteme der Ähnlichkeit nicht mehr als regulatives Prinzip des Diskursfeldes insgesamt fungieren, woraus freilich keineswegs die Notwendigkeit folgt, Petrarcas Canzoniere mit der Kategorie neuzeitlicher Subjektivität zu belasten. Das hierfür charakteristische Wahrheitspostulat des Subjekts und dessen im Originalitätskonzept fundierte Verfügungsmächtigkeit über das Diskursuniversum sind bei Petrarca noch nicht gegeben, vielmehr scheint das Subjekt in der Pluralität antinomischer Diskurse im doppelten Wortsinn ,aufgehoben‘.
IV. Ariosts Orlando Furioso: Enthierarchisierung als Rehierarchisierung oder Dichtung als Lüge u n d einzige ,Wahrheit‘ Rund 200 Jahre später als Dante am Convivio schreibt Ariost ab 1507 an seinem Orlando Furioso, der 1516 zu ersten Mal erscheint und in der wesentlich erweiterten Ausgabe letzter Hand von 1532 das ganze Jahrhundert hindurch in einer Vielzahl von Ausgaben ununterbrochen neu auf den Markt kommt, so dass es sich um einen der meistgelesenen Texte, wenn nicht den meistgelesenen Text des 16. Jahrhunderts überhaupt handelt.62 Ein zentraler Abschnitt dieses Textes ist die so61 Ich verstehe Dantes Engführung von religiösem und literarisch-profanem Diskurs in der Vita Nova und im Convivio als Versuch, die in der höfischen Lyrik schlicht ausgesparte Frage nach der Legitimität eines erotischen Diskurses im christlichen Verständnishorizont als solche zu stellen und zugleich einer Lösung zuzuführen. 62 Vgl. hierzu Klaus W. Hempfer, Diskrepante Lekt ren: Die ,Orlando-Furioso‘Rezeption im Cinquecento, Stuttgart 1987, S. 43 ff. (Italienische Übersetzung: Letture discrepanti. La ricezione dell’Orlando Furioso nel Cinquecento, Modena 2004 [2005], S. 35 ff.).
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genannte Mondepisode im XXXIV. und XXXV. Gesang, in der Astolfo sich auf den Mond begibt, um Orlandos aus Liebe verloren gegangenen sowie seinen eigenen Verstand wieder zu finden. Die Episode ist insgesamt als Parodie der Danteschen Jenseitsreise angelegt, doch will ich hier nicht auf diese Komisierung des sacro poema und damit die Verabschiedung der gerade in der Divina Commedia in besonderem Maße vollzogenen Engführung von theologisch-religiösem und literarischem Diskurs eingehen. Mir geht es vielmehr um die in einem Teil der Episode fiktionsimmanent entwickelte Dichtungstheorie, die die Hierarchien des zeitgenössischen Diskursfeldes grundsätzlich neu bestimmt und dabei zugleich ein Verständnis von Wahrheit impliziert, das dem von Dante im Convivio vertretenen fundamental entgegen steht. Aus den Implikaten der Dichtungstheorie ergibt sich schließlich auch, warum diese im Rahmen einer Fiktion entwickelt wird, die sich als Parodie des sacro poema konstituiert. Im XXXIV. Gesang wird Astolfos Weg durch die Hölle zum irdischen Paradies geschildert, wo er auf den Evangelisten Johannes trifft. Im Wagen des Elias (O.F., XXXIV, 3 – 8) – nicht gerade ein Signal, dass der religiöse Diskurs besonders ,ernst‘ genommen wird – begeben sich beide auf den Mond, wo der Evangelist seinen Begleiter ins Tal der auf der Erde verlorenen Dinge führt. Nachdem Astolfo den Verstand Orlandos und seinen eignen wiedergefunden hat, wird in einer ausgedehnten Allegorie, die im XXXV. Gesang weitergeführt wird, der Parzenpalast und der Lethefluss dargestellt, deren ,eigentliche‘ Bedeutung Astolfo – und dem Leser – durch den Evangelisten erklärt werden. Im Rahmen dieser Allegorie ist von den sacri cigni (O.F., XXXV, 15, 5) die Rede, die Schilder mit den Namen von Personen aus dem Lethefluss, in den sie ein übereifriger Alter, die Zeit, geworfen hatte, herausholen und einer Nymphe im Tempel der Immortalitade übergeben (O.F., XXXV, 16). Ist die Allegorie selbst mit Entschlüsselungssignalen wie dem Unsterblichkeitstempel durchsetzt, so liefert der Evangelist Johannes eine durchgängige Auslegung der einzelnen Sinnträger, wovon uns im Folgenden nur der dichtungstheoretische Teil interessiert.63 63 Ich greife im Folgenden auf eine frühere Interpretation dieser Stelle zurück, wobei ich sie in neuem Kontext zugleich stärker pointiere und rezeptionsgeschichtlich absichere; vgl. Klaus W. Hempfer, „Ariosts ,Orlando Furioso‘ – Fiktion und episteme“, in: Hartmut Boockmann [u.a.] (Hrsg.), Literatur, Musik und Kunst im bergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 1995 (Abhand-
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22 Ma come i cigni che cantando lieti rendeno salve le medaglie al tempio, cos gli uomini degni da’ poeti son tolti da l’oblio, pi che morte empio. Oh bene accorti principi e discreti, che seguite di Cesare l’esempio, e gli scrittor vi fate amici, donde non avete a temer di Lete l’onde! 23 Son, come i cigni, anco i poeti rari, poeti che non sian del nome indegni; s perch il ciel degli uomini preclari non pate mai che troppa copia regni, s per gran colpa dei signori avari che lascian mendicare i sacri ingegni; che le virt premendo, et esaltando i vizii, caccian le buone arti in bando. 24 Credi che Dio questi ignoranti ha privi de lo ’ntelletto, e loro offusca i lumi; che de la poesia gli ha fatto schivi, acci che morte il tutto ne consumi. Oltre che del sepolcro uscirian vivi, ancor ch’avesser tutti i rei costumi, pur che sapesson farsi amica Cirra, pi grato odore avrian che nardo o mirra. 25 Non s pietoso Enea, n forte Achille fu, come fama, n s fiero Ettorre; e ne son stati e mille e mille e mille che lor si puon con verit anteporre: ma i donati palazzi e le gran ville dai descendenti lor, gli ha fatto porre in questi senza fin sublimi onori da l’onorate man degli scrittori. 26 Non fu s santo n benigno Augusto come la tuba di Virgilio suona. L’aver avuto in poesia buon gusto la proscizion iniqua gli perdona. Nessun sapria se Neron fosse ingiusto, n sua fama saria forse men buona, avesse avuto e terra e ciel nimici, se gli scrittor sapea tenersi amici. lungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge 208), S. 47 – 85, hier S. 81 ff.
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27 Omero Agamennon vittorioso, e fe’ i Troian parer vili et inerti; e che Penelopea fida al suo sposo dai Prochi mille oltraggi avea sofferti. E se tu vuoi che ’l ver non ti sia ascoso, tutta al contario l’istoria converti: che i Greci rotti, e che Troia vittrice, e che Penelopea fu meretrice. 28 Da l’altra parte odi che fama lascia Elissa, ch’ebbe il cor tanto pudico; che riputata viene una bagascia, solo perch Maron non le fu amico. Non ti maravigliar ch’io n’abbia ambascia, e se di ci diffusamente io dico. Gli scrittori amo, e fo il debito mio; ch’al vostro mondo fui scrittore anch’io. 29 E sopra tutti gli altri io feci acquisto che non mi pu levar tempo n morte; e ben convenne al mio lodato Cristo rendermi guidardon di s gran sorte. (O. F., XXXV, 22, 1 – 29, 4).64
Die ihre Implikate weitgehend verschleiernde Allegorese basiert auf einer komplexen Argumentationsstruktur, die mit dem in der Renaissance überaus häufigen Immortalisierungstopos einsetzt. Ist hier zunächst in ganz traditioneller Weise davon die Rede, dass die uomini d e g n i durch die Dichter dem Vergessen entrissen werden, womit impliziert ist, dass die Dichter Garanten der historischen Wahrheit sind, indem sie eben das überliefern, was überlieferungswürdig ist, so verschiebt sich in der Folge die Argumentation völlig. Auf den Preis der sich gegenüber den Dichtern adäquat verhaltenden Fürsten folgt ein Fürstentadel, der unter anderem die signori avari für die Seltenheit wahrer Dichter verantwortlich macht (O. F., XXXV, 23). Und im Kontext dieses Fürstentadels kommt es zum entscheidenden Bruch in der Argumentation, denn nun sind es plötzlich nicht mehr die uomini degni denen die Dichter das historische Überleben sichern, sondern alle diejenigen, die es verstanden haben, die Gunst der Dichter zu erringen, und zwar unabhängig von ihrem tatsächlichen moralischen Wert (O. 64 Zitiert nach Ludovico Ariosto, Orlando Furioso, hrsg. von Emilio Bigi, 2 Bde., Mailand 1982.
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F., XXXV, 24, 6). Entscheidend ist, dass sich diese Aussage nicht auf die schlechten Dichter, sondern auf die Dichter generell bezieht, insofern diese in toto metonymisch mit Cirra (=Kirrha), einer dem Apoll geweihten Stadt auf den Abhängen des Parnass, bezeichnet werden (farsi amica Cirra). In der Schlusszeile von Strophe 24 wird schließlich klar gemacht, dass natürlich nicht die rei costumi der Fürsten der Nachwelt überliefert werden, sondern diese in idealisierender Schönung erscheinen. Belegt wird diese Tatsache in den Strophen 25 – 27 nicht mit irgendwelchen Poetastern, sondern mit den beiden Musterautoren des Epos, Vergil und Homer, denen einerseits ästhetisch Vorbildcharakter zukam, die zeitgenössisch also fraglos zu den wahren Dichtern, den degni poeti beziehungsweise den poeti rari gehörten, und deren ,Geschichten‘ andererseits im 16. Jahrhundert weitgehend als historisch wahr verstanden wurden.65 Diese Historizität wird auch durch Johannes präsupponiert, nur dass Homer und Vergil das Ergebnis der tatsächlichen Geschichte – es fällt erneut der Begriff istoria (27, 6) – in ihr Gegenteil verkehrten, wobei schon zuvor als Grund für diese Verkehrung die Käuflichkeit der Dichter angeführt worden war (O. F., XXXV, 25, 5 – 8). Für die Behauptung, dass die Dichter die historische Wahrheit in ihr Gegenteil verkehren und damit lügen, erhebt Johannes explizit den Wahrheitsanspruch: E se tu vuoi che ’l ver non ti sia ascoso (O. F., XXXV, 27, 5). Damit basiert die Argumentation des Evangelisten jedoch auf zwei kontradiktorischen Propositionen: (1) Die – ,wahren‘ – Dichter sind die einzigen Garanten historischer Überlieferung und damit geschichtlicher Wahrheit, da nur ihr Text die res gestae gegen das Vergessen zu sichern vermag, und hierfür haben sie Anspruch auf eine adäquate Remunifikation. (2) Alle Dichter, auch und gerade die ,wahren‘, lügen, und zwar deshalb, weil sie von den Herrschenden beund entlohnt werden. Auf diese Weise werden in der Rede des Apostels zeitgenössisch verfügbare, aber nicht miteinander vermittelbare Topoi des Dichtungsverständnisses gegeneinander montiert; die Horazische Positivierung der Dichtung als monumentum aere perennius (Carm., III, 30, 1) und deren platonische Negativierung als Lüge. Diese Diskrepanz darf nun weder gegen den Text harmonisiert werden66, noch ist eine der beiden 65 Vgl. hierzu Hempfer, Diskrepante Lekt ren (Anm. 62), S. 123 ff. 66 Dies unternehmen etwa Susan P. Alexander (The Poet’s Craft: Tapestry Metaphor for Poetry in Ariosto and Spenser, Ann Arbor 1982, S. 82 ff.), die gegen die expliziten Formulierungen des Textes in der Rede des Johannes „the contrast
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Positionen als die textuell intendierte zu vereindeutigen67, vielmehr spiegelt die Rede des Evangelisten die Diskrepanz, die den Text insgesamt charakterisiert68, und ist eben deswegen als mise en abyme der Textstruktur des Orlando Furioso insgesamt zu begreifen. Die in der Rede des Apostels Johannes angeschnittene Problematik darf des Weiteren nicht als eine B e d e u t u n g s theorie missverstanden werden. Hierzu tendieren insbesondere poststruktural beeinflusste Arbeiten aufgrund der theoretisch bedingten Nichtscheidung von Bedeutung und Bezug/Referenz.69 Wenn es in der Rede des Evangelisten nicht um poststruktural-postmoderne Bedeutungsprobleme geht, auch nicht um „unmeaning“70, so geht es sehr wohl um das traditionelle referenzsemantische Problem, wie sich die innersprachliche – in unserem speziellen Fall die durch Dichter konstituierte – Bedeutung zur Wirklichkeit verhält. Eine Referenzsemantik ist notwendig realistisch, sie setzt die Zuordenbarkeit von Wahrheitswerten zu Propositionen voraus. Eben dies tut der Evangelist, indem er die dichterischen Aussagen als wahr beziehungsweise als nicht wahr/erfunden einstuft. Zugleich hebt seine Rede jedoch die Voraussetzungen der Möglichkeit einer Referenzsemantik und damit einer referentiellen Wahrheitstheorie auf. Dies geschieh zum einen dadurch, dass er die dichterische Rede als zugleich wahr und nichtwahr einstuft und damit das bis zum Aufkommen moderner, mehrwertiger Logiken gültige Prinzip des tertium
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between the works of a divine spokesman and those of the poets“ (S. 82) sieht, oder Roger Baillet (Le monde potique de l’Arioste. Essai d’interprtation du ,Roland Furieux‘, Lyon 1977, S. 147 ff.), der behauptet, dass Johannes am Ende seiner Rede zur Position des Beginns zurückkomme („il existe des hommes dignes d’être loués et ce rôle revient à des poètes non indignes de le faire“ [S. 149]) und dass die Schlussworte „aucune dérision“ enthalten (S. 150) – die zeitgenössischen Rezipienten haben dies anders gesehen (vgl. hierzu unten die Zitate mit Anm. 72f.). Dies gilt etwa von David Quint, „Astolfo’s Voyage to the Moon“, in: Yale Italian Studies, 1/1977, S. 398 – 408, und Albert R. Ascoli, Ariosto’s Bitter Harmony, Princeton 1982, S. 282 f., die beide nur auf den Aspekt, die Dichter lügen, abheben und ihre gesamte Interpretation hierauf aufbauen. Dies habe ich in einer Mehrzahl von Aufsätzen der letzten zwanzig Jahre zu zeigen versucht. Vgl. etwa Hempfer, „Ariost’s Orlando Furioso“ (Anm. 63) oder die Sammelbände Klaus W. Hempfer, Testi e contesti. Saggi post-ermeneutici sul Cinquecento, Neapel 1998, oder ders., Grundlagen der Textinterpretation, hrsg. von Stefan Hartung, Stuttgart 2002. Vgl. hierzu Klaus W. Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines nouveau nouveau roman, München 1976, S. 17 ff. Ascoli, Ariosto’s Bitter Harmony (Anm. 67), S. 292.
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non datur aufgibt, und dies geschieht zum anderen durch die Schwanenallegorie, die den dichterischen Text als einzige Überlieferungsform historischer Wahrheit ausweist und damit zumindest in der Diachronie die für ein referenzsemantisches Wahrheitskonzept notwendige Differenzierbarkeit von Aussage und Sachverhalt beseitigt: Wenn es nämlich einzig die Dichter sind, die das Wissen um die res gestae tradieren, bleibt nur der Text qua Text als Wahrheitsgarant. Da dieser aufgrund spezifischer Bedingtheiten der Textproduktion keineswegs zuverlässig sein muss, gibt es keine verbindliche Wahrheit mehr, sondern nurmehr das Universum der Diskurse. Um noch etwas deutlicher zu machen, dass Ariost nicht nur eine Dichtungstheorie, sondern eine Epistemologie entwickelt oder besser gesagt: impliziert, ist auf den Schluss der Rede zurückzukommen. Mit dem anch’io (O. F., XXXV, 28, 8) ist eindeutig präsupponiert, dass der Evangelist sich in die Reihe der zuvor genannten scrittori einreiht und dass er zu denjenigen gehört, die von dem von ihnen gepriesenen Herren (mio lodato Cristo) den angemessenen Lohn erhalten haben – die noch zu Lebzeiten erfolgte Aufnahme in das irdische Paradies (O. F., XXXIV, 58 f.). Aufgrund der Ambiguität von Johannes gleichzeitigem Dichtungslob und -tadel heißt dies nun nicht einfach, diese Passage „denies the objective truth of the bible“71, vielmehr beseitigt Ariost den kategorialen Unterschied, der zwischen den Wahrheitsdiskursen einerseits und den – zumindest potentiell – fiktionalen Diskursen andererseits besteht, indem er die Bibel als d e n Wahrheitsdiskurs der christlichen Tradition mit dem hinsichtlich seines Wahrheitsstatus ambigen poetischen Diskurs identifiziert, und zwar dergestalt, dass er deren jeweilige Verfasser der nicht weiter unterschiedenen Kategorie der scrittori zuweist. Damit stellt sich jedoch nicht nur für die traditionell problematischen Texte das skizzierte Wahrheitsproblem, sondern dieses wird auf alle Texte generalisiert, da selbst derjenige Text darunter fällt, der noch gegen Galileo als letztinstanzliche Wahrheit fungiert. Dass diese Lektüre keiner modernistischen Ironiehypertrophie entspringt, lässt sich durch zeitgenössische Rezeptionsdokumente belegen. So erwähnt zum Beispiel Campanella, dass Ariost unter anderem dafür kritisiert werde per aver introdotto San Giovanni da poeta falso 72, und 71 Joan M. Webber, Milton and his Epic Tradition, Seattle – London 1979, S. 23. 72 Tommaso Campanella, „Poetica“, in: Tommaso Campanella, Tutte le opere, hrsg. von Luigi Firpo, Bd. I: Scritti letterari, Mailand 1954 (zuerst 1596), S. 315 – 430, hier S. 337.
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in einem anonymen Tadelsonett bemängelt der Verfasser neben einer Reihe anderer Punkte Folgendes: Il Vangiolista dove Astolfo sale j Verifica scrittor puro e fedele j Addorna [sc. Ariosto] di menzogne, burle e gale. 73 Zeitgenössisch verstanden wird also sehr wohl – auch wenn es daneben Versuche gibt, diese Stellen zu entschärfen74 –, dass durch die Einreihung des Evangelisten Johannes in die Reihe der hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts durchaus problematischen Dichter auch Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit eines der vier Evangelien und damit der Bibel insgesamt in Zweifel gezogen wird. Durch die Attacke auf sein Fundament verliert der religiöse Diskurs jedoch den Status eines apriorischen Wahrheitsdiskurses, über den sich die Wahrheit anderer Diskurse legitimieren kann. Der Danteschen Lösung, die Wahrheit der Fiktion durch die Anbindung an die geoffenbarte Wahrheit zu legitimieren, wird hier schlicht der Boden entzogen, weil auch die geoffenbarte Wahrheit – vielleicht – nur eine Fiktion ist. Die Wahrheit der Fiktion ist explizit gelöst von deren Referentialisierbarkeit. Es sind rari cigni wie Homer und Vergil, die ein Werk zu einem Kunstwerk machen, gleichgültig ob sie nun die faktische Wahrheit erzählen oder nicht. Wahr ist damit, was uns die großen Dichter glauben machen, das heißt Wahrheit wird zum Resultat der Glückensbedingungen literarischer Fiktion oder anders gewendet: Wahrheit ist nicht mehr etwas der ästhetischen Konstruktion Vorgegebenes, die durch diese immer nur wiederholt werden kann, sondern Wahrheit ist Produkt der ästhetischen Konstruktion, die notwendig vom Subjekt dieser Konstruktion abhängt – seien dies nun die Evangelisten oder die antiken Epiker (scrittor son anch’io): Sie ist damit eine immer schon relative. Ariost geht hier ganz entscheidend über das hinaus, was wir als Inszenierung von Fiktionalität auch schon im höfischen Roman finden75, indem die Dichotomie von Fiktion und Wahrheit als solche dekonstruiert wird: Die einzige Wahrheit, die wir besitzen, ist die Fiktion.76 73 Abgedruckt in: Giuseppe Volpi, „Una miscellanea di versi del Cinquecento“, in: Rassegna bibliografica della letteratura italiana, 10/1902, S. 234 – 241, hier S. 239. 74 Vgl. hierzu Hempfer, Diskrepante Lekt ren (Anm. 62), S. 256 f. 75 Vgl. hierzu die grundsätzlichen Ausführungen von Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionsproblem in vormoderner Literatur“, in: Poetica, 36/2004, S. 281 – 311. 76 Die von Daniel Javitch, „The Advertising of Fictionality in ,Orlando furioso‘“, in: Donald Beecher/Massimo Ciavolella/Roberto Fedi (Hrsg.), Ariosto Today: Contemporary Perspectives, Toronto 2003, S. 106 – 125, besprochenen Stellen und
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Denkbar ist ein solcher Gedanke nicht mehr im Rahmen einer episteme der Ähnlichkeit, er präsupponiert und konstituiert zugleich einen epistemologischen Relativismus, der mit Petrarca einsetzt und Strategien diskursiver Pluralisierung entwickelt, die im Lateinhumanismus des 15. Jahrhunderts und hier vor allem in der Dialogliteratur von Leonardo Bruni bis zu Pontano und Galateo auffällig dominant werden77 und die volkssprachliche italienische – wie auch die französische – Literatur des 16. Jahrhunderts wesentlich bestimmen.78 Zumindest für diese beiden Literaturen scheint mir der Renaissancebegriff, sofern man ihm eine epistemologische rinascita zubilligt, nach wie vor unverzichtbar. Mit Galileo beginnt dann gänzlich Anderes, indem der fragwürdig gewordenen Erkenntnismöglichkeit über die Auslegung von Texten die prinzipielle Erkennbarkeit der Naturgesetzlichkeiten auf der Basis von Beobachtung und theoretischer Ableitung gegenübergestellt wird.79 Die Pluralisierung von Autoritäten hat damit das Autoritätenkonzept selbst unterminiert und zu einem epistemologischen Habitus geführt, für den der naturwissenschaftliche Diskurs, wie er sich allmählich im 16. Jahrhundert herausbildete, zum neuen Leitdiskurs wurde.
Aspekte sind in nicht-englischsprachigen Publikationen längst nuancierter untersucht. Der Ariost’sche Text lässt sich nicht so schlicht auf das ,Ausstellen‘ seiner Fiktionalität reduzieren. 77 Vgl. hierzu die Beiträge in: Hempfer (Hrsg.), Mçglichkeiten des Dialogs (Anm. 2), sowie in ders. (Hrsg.), Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs, Stuttgart 2006. 78 Vgl. hierzu die in Hempfer, Grundlagen (Anm. 68), sowie in ders., Testi e contesti (Anm. 68), zusammengestellten Aufsätze. 79 Zu einer ersten Skizze mit entsprechenden Verweisen vgl. Klaus W. Hempfer, „Die Konstitution autonomer Vernunft von der Renaissance bis zur Aufklärung“, in: ders./Alexander Schwan (Hrsg.), Grundlagen der politischen Kultur des Westens, Berlin – New York 1987, S. 95 – 115, bes. S. 106 ff.
Bella menzogna Mittelalterliche allegorische Dichtung und die Struktur der Fiktion (Dante, Convivio – Thomas Mann, Der Zauberberg – Aristoteles, Poetik) Andreas Kablitz Rainer Warning zum 70. Geburtstag
I. Vom semantischen Mehrwert der Fiktion Against Interpretation: Vor inzwischen mehreren Jahrzehnten rief Susan Sonntag 1961 in einem Essay unter diesem programmatisch gewordenen Titel1 dazu auf, von der üblichen hermeneutischen Praxis zu lassen, wie sie in der akademischen Beschäftigung mit der Kunst im allgemeinen und der Literatur im besonderen üblich sei, um sie durch eine erotic of art zu ersetzen. Sie ist mit ihrem Appell gegen die „Sinnhuberei“, wie man auch sagen sollte, nicht allein geblieben.2 Vor allem die Theorie der Literatur, die sich im Zeichen des Poststrukturalismus formiert hat, war ihrerseits dezidiert anti-hermeneutisch orientiert. Mit dem Konzept der Lektüre schlug sie eine Form des Zugriffs auf den literarischen Text vor, die gerade der hermeneutischen Erwartung jenes Mehrwertes, den Interpretationen zu erschließen suchen, eine Absage erteilen sollte. Indessen lässt die Praxis des poststrukturalen Umgangs mit Literatur erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob hier wirklich jene anti-hermeneutische Programmatik den eigenen Vorgaben gemäß eingelöst ist. Denn auch, um beispielhalber etwa Paul de Mans Allergories of Reading zu zitieren, eine Lektüre, die dem literarischen Text die rhetorische Aufklärung über den grundsätzlich illusionären Charakter 1 2
Susan Sontag, Against Interpretation, New York 1961. Die derzeit bedeutendste hermeneutikskeptische Stimme zum Umgang mit aller Kunst ist zweifelsohne Hans Ulrich Gumbrecht mit seinem Band Production of Presence. What Meaning Cannot Convey, Stanford University Press 2004.
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aller Repräsentation der Wirklichkeit durch die Sprache bescheinigt, weist ihm einen Bedeutungsgehalt zu, der sich strukturell von der Deutung eines Textes als Ausdruck der Gesellschaft oder der Neurose seines Autors nicht unterscheidet. Lassen wir uns nicht dadurch täuschen, dass im Falle dieses postmodernen Theorems die dem Text zugewiesene Semantik sich auf diesen selbst bezieht. Denn auch hier wird diesem Text ein Interpretament, ein impliziter Sinngehalt zugesprochen, der vom propositionalen Gehalt seiner Sätze verschieden ist. Auch die anti-hermeneutisch konzipierte Lektüre unternimmt letztlich eine Auslegung. Sie ist Textexegese und bildet insoweit noch immer eine hermeneutische Praxis aus. Dieser Befund ist umso belangvoller, als die hermeneutische Beschäftigung mit Literatur eine uralte Praxis darstellt. Sie lässt sich von der Homer-Allegorese im alten Griechenland oder der Vergil-Deutung in Rom über die mittelalterliche Hermeneutik des literarischen Textes bis in die Gegenwart verfolgen; und sie ist, allen anderweitigen Aufrufen und Gegenvorschlägen zum Trotz, bis auf den heutigen Tag vermutlich das Hauptgeschäft der Wissenschaft von der Literatur geblieben. Die literarische Hermeneutik ist denn wohl auch neben der theologischen und der juristischen Hermeneutik die institutionell am besten etablierte Form der Textexegese. Eine solche historische Kontinuität im Umgang mit Literatur über alle anderweitigen epistemologischen Brüche hinweg gibt Anlass zur Frage, welche strukturellen Merkmale des literarischen Textes eine solche hermeneutische Praxis stets aufs Neue initiieren, und dafür scheint mir das Phänomen der Fiktionalität eine maßgebliche Ursache darzustellen. Die hier zugrunde gelegte These besagt deshalb, dass jeder Text, dessen Prädikationen nicht auf eine referentielle Funktion angelegt sind, das heißt nicht einer Repräsentation jener außersprachlichen Sachverhalte dienen, die den propositionalen Gehalt seiner Prädikationen ausmachen, semantische Zusatzerwartungen über seinen propositionalen Gehalt hinaus produziert. Denn eben dies macht den sogenannten Fiktionsvertrag aus: Der Text wird entbunden von der anderweitig grundsätzlich geltenden Verpflichtung, derzufolge die je und je bezeichneten Sachverhalte eine außersprachliche Faktizität wiederzugeben haben. Dabei macht es die Eigenheit eines jeden fiktionalen Textes aus, dass er durchaus eine Fülle von Informationen bereitstellen kann, die jeder empirischen Überprüfung standhalten. Der historische wie der realistische Roman bieten dafür eine Fülle reichhaltigsten Materials. Am anderen Ende der Skala der Möglichkeiten steht die
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Phantastik, die von Phänomenen berichtet, deren Eigenheiten als solche zu erkennen geben, dass die hier dargestellten Sachverhalte kaum faktische Begebenheiten wiedergeben können. Aber selbst für den noch so zuverlässig die historischen Fakten respektierenden Roman gilt, dass es sich eben aufgrund seiner Fiktionalität auch anders verhalten könnte, und genau dieser Umstand gibt auch dem im fiktionalen Text wahrheitsgemäß repräsentierten und empirisch nachweisbaren Sachverhalt einen anderen Status, als er ihn im historiographischen Text besitzt. Damit stoßen wir übrigens auf einen ersten wesentlichen Unterschied zwischen Fiktion und Fiktionalität. Während die Fiktion sich skalieren lässt, ein Text mehr oder minder fiktiv sein kann, dieser Begriff also ein komparativer ist, gilt dies für die Fiktionalität nicht. Sie ist ein klassifikatorischer Begriff. Ein Text ist fiktional oder nicht, eine Skalierung des mehr oder weniger fällt hier aus. Mir scheint deshalb die Besonderheit literarischer Fiktionen im Unterschied zu allen anderen Fiktionen, seien es diejenigen anderer medialer Institutionen, seien es die Träume und Tagträume der Lebenswelt oder auch die Hypothesen der Wissenschaft, auf eben dieser Relation von Fiktionalität und Fiktivität zu beruhen. Sie schafft die spezifischen Voraussetzungen wie Möglichkeiten literarischer Fiktion. Dies aber bedeutet auch, sie immer schon als ein relationales Phänomen von Diskurs und Sachverhalt zu begreifen. Wenn nun, wie hier postuliert, die für die Fiktionalität konstitutive Entpflichtung von der Repräsentation außersprachlicher Sachverhalte in wahren Sätzen die Erwartung eines semantischen Mehrwertes produziert, dann lässt sich dieser Zusammenhang vielleicht anhand einer Analyse der Sprache plausibel machen, die zweifelsohne zu den bedeutsamsten des inzwischen vergangenen 20. Jahrhunderts zählt. Roman Jakobson hat die basalen Mechanismen der Sprache bekanntlich mit Hilfe der Verknüpfung zweier Verfahren, demjenigen der Selektion und demjenigen der Kombination, beschrieben. Während jedes einzelne Sprachzeichen aufgrund von Ähnlichkeiten in einem Paradigma von Alternativen steht, zwischen denen es für die konkrete Äußerung auszuwählen gilt, wird die Kombination der Zeichen von den Kompatibilitäten ihrer Verknüpfung, anders gesagt, von den Bedingungen ihrer Kontiguitätsrelationen determiniert. Diese zweifelsohne brillante Analyse erweist sich zum anderen als ein typischer Repräsentant strukturalistischen Sprachdenkens vor der sogenannten ,pragmatischen Wende‘. Denn die Kriterien für die Selektion der Sprachzeichen wie ihre Kombination unterliegen hier allein
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innersprachlichen Kriterien. Jede Selektion aus dem Paradigma der verschiedenen Möglichkeiten erfolgt im Hinblick auf die Verknüpfung mit weiteren, ihrerseits auszuwählenden Sprachzeichen, und jede Kombination vollzieht sich in den Spielräumen, welche die jeweiligen Selektionen für Verknüpfungen eröffnen. Damit sind die beiden Operationen ausschließlich durch innersprachliche Relationen definiert. Ein wesentlicher Effekt der referentiellen Funktion der Sprache aber besteht in der Determination von Selektion wie Kombination der Sprachzeichen durch den außersprachlichen Sachverhalt, der den Inhalt einer Äußerung ausmacht und der deshalb beide Verfahren in hohem Maße steuert – und die Wahlfreiheit letztlich auf die Auswahl unter Synonyma beschränkt. Aus innersprachlicher Sicht erscheint die Referenz also wesentlich als eine Begrenzung von Selektionsmöglichkeiten. Damit aber wird bereits ein wenig transparenter, warum der Ausfall der Referenz zusätzliche semantische Erwartungen erzeugt: In dem Maße, in dem Selektion wie Kombination der Sprachzeichen nicht mehr durch die außersprachlichen Sachverhalte gesteuert werden, die den propositionalen Gehalt der jeweiligen Prädikationen konstituieren, wird die Auswahl wie die Verknüpfung dieser Sprachzeichen auf die Kriterien, denen sie jeweils unterliegen, hin befragbar. Aus diesem Grund ruft das Fehlen einer Referenz die Suche nach diesen Kriterien hervor, und eben dies produziert jene semantischen Zusatzerwartungen, die sich auf Informationen über den propositionalen Gehalt hinaus richten, welche Interpretationen zu erschließen versuchen. Wenn der literarische Text deshalb mehr als andere interpretationsbedürftig zu sein scheint, (welchem Bedürfnis nachzukommen, allen anderweitigen Beteuerungen oder Postulaten zum Trotz, wohl nach wie vor das Hauptgeschäft der Wissenschaft von der Literatur bildet), dann hat diese hermeneutische Praxis in der untersuchten Verfasstheit des literarischen Textes seinen Grund.3 Vielleicht lässt sich, ausgehend von diesen spezifischen Merk3
Die hier vorgetragene Analyse, welche aus der Verfasstheit des fiktionalen Textes selbst die Plausibilität der Erwartung eines semantischen Mehrwertes ableitet, scheint unweigerlich eine Absage an die radikal hermeneutikskeptischen Positionen Susan Sontags oder Hans Ulrich Gumbrechts zu beinhalten. Doch dem ist mitnichten so. Denn ebenso wie es, allen anderweitigen Appellen zum Trotz, eine offenkundig nicht auszurottende Praxis der Interpretation gibt, verstummen gleichwohl nicht die Stimmen, welche es als müßig erachten, mit Worten dem nachzujagen, was am Ende doch höher als alle Vernunft ist. Indessen scheint mir die Persistenz beider Positionen über alle wechselseitige
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malen literarischer Rede, auch die Besonderheit literarischer, im Unterschied etwa zu juristischer oder theologischer, Hermeneutik bestimmen. Nachzutragen bleibt noch eine Bemerkung zum Begriff der Referenz: Wenn ich das Phänomen der Fiktionalität an ihn binde und fiktionale Texte als solche beschreibe, bei denen die einzelnen Sätze von der anderweitig geltenden Verpflichtung entbunden sind, wahre Aussagen über außersprachliche Sachverhalte zu machen, wenn ich also diesen Begriff der Referenz an die Struktur der Prädikation binde, dann besagt dies durchaus nicht, dass – in einem weiteren Sinne verstanden – nicht auch fiktionale Texte auf die faktische Wirklichkeit referieren. Sie Kritik hinweg auf eine durchaus vergleichbare Berechtigung zu deuten. Hätten wir es hier nicht mit zwei alternativen Reaktionen auf die Fiktion zu tun, die jeweils dasselbe Phänomen, nämlich ihren Agnostizismus gegenüber der Referenz, in unterschiedlicher und durchaus komplementärer Weise beantworten? Die Erwartung einer semantischen Information über den propositionalen Gehalt der Sätze des Textes hinaus erscheint in diesem Sinne – abstrakt betrachtet – ebenso legitim, wie die Absage an alle Semantik, welche die Kunst als ein Präsenzerlebnis zu erfahren postuliert. Ich habe deshalb Wert darauf gelegt, die Erwartung eines semantischen Mehrwertes, den der fiktionale Text erzeugt, eben als eine Erwartung zu bezeichnen. Diese Erwartung kann von der Literatur bedient werden oder auch nicht, und sie kann in unterschiedlichem Maße bedient werden. Hier sind vermutlich auch in hohem Maße epochal variable Formen des Umgangs mit dieser Alternative in Rechnung zu stellen. Schließlich ist auch mit situationellen Alternativen zu rechnen, die ihrerseits je unterschiedlich kodiert sein mögen. Jedenfalls erscheint es mir ungleich fruchtbarer zu sein, jenes Nebeneinander beider Formen des Zugriffs auf den fiktionalen Text, welches die Erkundung seines semantischen Mehrwertes neben die Ansage an alle Sinneffekte stellt, als solches in seinen unterschiedlichen Möglichkeiten zu reflektieren, statt hier auf eine wechselseitige Exklusion der verschiedenen Positionen zu setzen. Dabei ist im übrigen, im Hinblick auf die verschiedenen Künste, mit unterschiedlichen Konstellationen zu rechnen. Formen der Kunst, wie die Musik, die mit einem primär nicht semantischen Medium operieren, haben zweifelsohne eine größere Affinität zu einem antihermeneutischen Zugriff als die auf Sprache gegründete Literatur (weshalb denn wohl auch die Musik in der Romantik zum Paradigma der Literatur als dem Modell des Absoluten erklärt wurde). Doch ist zum anderen nicht das Faktum aus der Welt zu schaffen, dass auch die Musik – in wiederum historischer Variabilität des betreffenden Interesses – seit alters her Gegenstand von Interpretationen gewesen ist. Was es also für den fiktionalen Text zu erkunden gilt, ist die Struktur des Feldes, das sich zwischen einem hermeneutischen Zugriff und einem a-semantischen Erlebnis in der Fülle der hier denkbaren Möglichkeiten eröffnet, weil beide Alternativen letztlich gleichermaßen plausible und darum auch legitime Reaktionen auf die Merkmale der Fiktion bilden.
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beziehen sich auf Normensysteme, auf theoretische Konzepte, auf Sozialverhältnisse und epistemologische Konfigurationen etc. Doch dieses Verständnis von Referenz unterscheidet sich in einer Hinsicht wesentlich von jenem Konzept der Referenz, welches sie an die Prädikation von Sätzen bindet. In diesem Fall nämlich ergibt sich die Referenz nicht durch eine Bezeichnungs-, sondern durch Bedeutungsrelation. Diese entscheidende Differenz bringt es übrigens auch mit sich, dass betreffende Referenzbezüge wesentlich weniger eindeutig und mitunter auch wesentlich weniger evident sind, als dies bei Referenzbeziehungen, die durch Prädikationen entstehen, der Fall ist. Im übrigen berühren sich solche gegenüber der Prädikation sekundäre Referenzen eben mit jenem semantischem Mehrwert, den fiktionale Texte genau deshalb erwarten lassen, weil ihre Prädikationen von der Notwendigkeit der Information über außersprachliche Sachverhalte strukturell entlastet sind. Es sind diese Überlegungen zu den strukturellen Eigenschaften aller Fiktion, welche im Folgenden den theoretischen Rahmen der Analyse von Dantes allegorischer Dichtung bilden.
II. Dantes Allegorese der Dichtung Dantes Theorie der Fiktion im Convivio Bella menzogna: Mit dieser prägnanten Formel charakterisiert Dante, was das Besondere aller Dichtung ausmacht: die Fiktion, wie wir zu sagen pflegen.4 Der uns geläufige Begriff vermeidet konsequent denjenigen der Lüge, weil von keinerlei Täuschungsabsicht die Rede sein kann, wo die Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, durch eine allgemein bekannte Konvention aufgehoben ist. Auch Dantes Bemühen zielt darauf, aller poesia eine semantische Struktur zu bescheinigen, die den Vorwurf ihrer Lügenhaftigkeit zu entkräften vermag. Doch der von ihm benutzte 4
E a ci dare a intendere, si vuol sapere che le scritture si possono intendere e deonsi esponere massimamente per quattro sensi. L’uno si chiama litterale, e questo quello che [………………………… L’altro si chiama allegorico, e questo quello che] si nasconde sotto’l manto di queste favole, ed una veritade ascosa sotto bella menzogna. Sämtliche Stellenangaben aus dem Convivio werden hier wie im Folgenden ohne Seitenangaben zitiert nach der Ausgabe: Dante Alighieri, Convivio, hrsg. von Franca Brambilla Ageno, 3 Bde., Florenz 1995, Bd. 2: Testo, hier II, I, 3 – 4.
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Begriff markiert noch immer die Rechtfertigungslast, die seit alters her, sei es von philosophischer, sei es von theologischer Warte, die Dichtung beschwert. In diesem Sinne macht es mehr als Sinn, dass Dante sich zur Charakteristik der Eigenheiten jener umstrittenen Rede, die den Namen der poesia trägt, eines semantischen Modells bedient, das sie über jeglichen Verdacht der Unwahrheit erhaben machen muss. Denn er beschreibt die Dichtung bekanntlich in Analogie zum Text der Offenbarung und ordnet ihr damit zugleich die Notwendigkeit einer Auslegung zu, wie sie eben auch dem allegorischen Text der Bibel zukommt. Es liegt in der Logik einer solchen Apologie, wenn die sekundäre Bedeutung, die Dante dem fiktiven Literalsinn der Dichtung bescheinigt, als veritade, als Wahrheit bezeichnet wird. Sinn und Wahrheit werden hier ununterscheidbar. Diese Adaptation des exegetischen Modells der Bibelauslegung aber lädt ein, nach den Unterschieden zu fragen, die zwischen Dantes Theorie der Dichtung und den Prinzipien der Bibelhermeneutik existieren. Solche Differenzen macht Dante selbst zu Beginn des zweiten Traktats des Convivio thematisch. So heißt es vom allegorischen Sinn der poesia: Veramente li teologi questo senso prendono altrimenti che li poeti; ma per che mia intenzione qui lo modo delli poeti seguitare, prendo lo senso allegorico secondo che per li poeti usato. (Convivio, II, I, 5).
Dante gibt uns in diesen Worten keinen genauen Aufschluss darüber, in welcher Weise der allegorische Sinn in Dichtung und Heiliger Schrift voneinander abweicht, und die betreffenden Divergenzen können sowohl die semantische Qualität dessen, was allegorico besagt, als auch die Voraussetzungen der Allegorisierung als solcher betreffen. Es liegt nahe anzunehmen, dass hier beides der Fall ist. Um mit Ersterem zu beginnen: Da Dante neben dem senso allegorico auch noch einen senso morale und einen senso anagogico benennt, erscheint der allegorische Sinn in seinem Modell des vierfachen (poetischen) Schriftsinns als Entsprechung des tropologischen Sinns der Bibelauslegung. Indessen zeigt Dantes Beispiel, dass die Eigenheiten seines senso allegorico von einer tropologischen Deutung doch sehr erheblich abweichen: S come quando dice Ovidio che Orfeo facea colla cetera mansuete le fiere e li arbori e le pietre a s muovere: che vuol dire che lo savio uomo collo strumento della sua voce faccia mansuescere ed umiliare li crudeli cuori, e faccia muovere a sua volontade color
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che [non] hanno vita di scienze e d’arte; e coloro che non hanno vita ragionevole alcuna sono quasi come pietre. (Convivio, II, I, 4).
Was diese Auslegung von einer tropologischen unterscheidet, ist das Fehlen des Faktors Zeit. Hier wird keine wie auch immer geartete historische Perspektive eröffnet, sondern ein anthropologischer Sachverhalt benannt. Es handelt sich dabei auch insofern um keinen moralischen Sinn, als ihm das Moment der Handlungsanweisung fehlt.5 So liegt die Annahme nicht fern, der senso allegorico bezeichne bei Dante die übertragene Bedeutung in einem generischen Sinn, ohne ihm eine weitergehende, spezifische semantische Qualität zuzuweisen. Das Beispiel legt die Definition nahe, dieser allegorische Sinn betreffe die grundsätzliche Verwandlung eines narrativen Ereigniszusammenhangs in ein theoretisches Phänomen. Ist dem aber so, dann lässt sich bei einer so allgemeinen Bestimmung eine Konkurrenz mit den verbleibenden Sinnebenen des biblischen exegetischen Schemas kaum vermeiden. Wir haben es also offensichtlich mit einer hybriden Bildung zu tun. Warum aber lässt sich Dante auf eine solche Konstruktion ein? Warum begnügt er sich nicht mit einer analogen Bildung, die sich auf nur formale Entsprechungen beschränkt? Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, müssen wir freilich noch eine weitere jener, wiewohl unausdrücklich bleibenden Differenzen betrachten, welche Dante als Unterschiede zwischen dem senso allegorico in Dichtung und Offenbarungstext benennt. Ein solcher Unterschied betrifft auch die Voraussetzungen der Notwendigkeit einer Allegorisierung im einen wie im anderen Fall. Denn kennzeichnend für die Dichtung ist, wie Dante sehr entschieden feststellt, deren fiktiver Charakter, eben die bella menzogna, während dies im Falle der Bibel offensichtlich nicht gilt. Denn in der Tat lässt hier alle Narration, die ja vom Heilsgeschehen, also den zentralen Ereignissen der Weltgeschichte berichtet, auch nicht den Hauch eines Zweifels über ihre Faktizität zu. Es ergibt sich also für die Dichtung ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem fiktiven Charakter des Dargestellten und der Notwendigkeit einer allegorischen Auslegung, welcher Sachverhalt unver5
Dies nimmt demgegenüber in Dantes eigener Charakteristik des senso morale einen zentralen Ort ein: Lo terzo senso si chiama morale, e questo quello che li lettori deono intentamente andare apostando per le scritture ad utilitade di loro e di loro discenti: s come apostare si pu nello Evangelio, quando Cristo salio lo monte per trasfigurarsi, che delli dodici Apostoli men seco li tre: in che moralmente si pu intendere che alle secretissime cose noi dovemo avere poca compagnia (Convivio, II , I, 6).
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meidlich auch die Frage aufwirft, welche alternative Begründung für die Bibelallegorese existiert. Doch bevor wir uns diesem Gesichtspunkt des näheren zuwenden, seien zunächst noch einige Beobachtungen zur Eigenart der von Dante für die Dichtung gekennzeichneten Fiktivität nachgetragen, wie sie sich aus dem Ovid-Beispiel ergeben. Grundsätzlich betrachtet, lassen sich für fiktive Texte ja zwei voneinander verschiedene Möglichkeiten bemerken. Zum einen können sie, um ihrer Fiktivität willen, risikolos auch von solchen Dingen berichten, die unseren Annahmen über das Funktionieren der Wirklichkeit kategorial widersprechen. Den bekanntesten Fall bildet hier zweifelsohne die phantastische Literatur (die sich von der Science-Fiction dadurch unterscheidet, dass hier das für den Augenblick noch technisch Unmögliche im Glauben an den Fortschritt für die Zukunft als durchaus wahrscheinlich in Aussicht gestellt wird). Zum anderen kann, und hier mag der realistische Roman das Paradebeispiel bilden, das Dargestellte eines fiktionalen Textes sich in jeder Hinsicht in Übereinstimmung mit unseren geläufigen Realitätsannahmen befinden. Markiert wird seine Fiktionalität in diesem Fall also nicht durch die Eigenheiten des Dargestellten, sondern einzig durch die Konvention der Fiktionalität. Wo Dante von der bella menzogna spricht, hat er offenkundig die erste der beiden Möglichkeiten im Sinn, diejenige, bei der die Fiktion als solche durch den Charakter dessen, was der Text zur Anschauung bringt, signalisiert wird. So widerspricht es in der Tat unseren Wirklichkeitsannahmen, dass sich mit der bloßen Gewalt der Stimme nicht nur Tiere, sondern sogar Bäume und Steine bewegen lassen. Die Geschichte ähnelt insoweit einer Wundererzählung, ist aber eben gerade keine Narration von dieser Art, weil ihr paganer Kontext es ausschließt, dass hier Übernatürliches geschieht. Es passt in diesen Zusammenhang, dass das Dargestellte im vorliegenden Fall auch weniger als eine fiktive Faktizität denn als ein Modus der Aussage erscheint. So fällt etwa auf, dass Dante das betreffende narrative Beispiel mit den Worten einleitet: s come quando dice Ovido che (Hervorhebung von mir). Fiktivität, und dafür werden wir später noch deutlichere Belege finden, ist in diesem Sinn im Grunde ein rhetorisches Verfahren der Darstellung; es entspricht weit eher den anderen Tropen als einer historischen Erzählung. So scheint in Dantes Theorie jener Fall ausgespart zu sein, bei dem die Fiktionalität des Textes keine andere Grundlage besitzt als diejenige, dass dieser Text durch konventionelle Regelungen davon ausgenommen ist, wahre Sachverhalte zur Darstellung bringen zu müssen. Gäbe es auch in einem solchen Fall einen Zusammenhang von Fiktionalität und allegorischem
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Sinn? Die Theorie selbst bleibt uns hier die Antwort schuldig; indessen werden wir sie in Dantes praktischer Anwendung seines exegetischen Modells finden können. Kehren wir jedoch zurück zur Frage nach den jeweils unterschiedlichen Bedingungen der Notwendigkeit respektive Möglichkeit einer Allegorisierung in Dichtung und Bibel. Wenn es unmöglich der fiktive Charakter der Erzählung sein kann, was eigentlich gibt dann im Text der Offenbarung Anlass zu einer Auslegung jenseits des Literalsinns, der in diesem Fall immer auch ein sensus historicus ist? Wir können hier vielleicht ein Stück Klarheit gewinnen, wenn uns dem sozusagen klassischen Text der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zuwenden, Augustins für das Mittelalter kanonischer Abhandlung De doctrina christiana. In diesem Text wirft der Kirchenvater die Frage auf, welche Teile der Schrift denn einer allegorischen Deutung bedürften, um sie wie folgt zu beantworten: Demonstrandus est igitur prius modus inveniendae locutions, propriane an figurata sit. Et iste omnino modus est, ut quidquid in sermone divino neque ad morum honestatem, neque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas. Morum honestas ad diligendum Deum et proximum, fidei veritas ad cognoscendum Deum et proximum pertinet. 6
Alles, was weder einen Glaubensinhalt noch eine Handlungsanleitung zum Inhalt hat, verfügt über einen übertragenen Sinn beziehungsweise erfordert eine allegorische Deutung. Dies besagt übrigens auch, und darauf werden wir zurückzukommen haben, dass die allegorische Auslegung des Bibeltextes dessen Selbstauslegung voraussetzt. Denn alles, was Inhalt einer allegorischen Aussage sein kann, muss sich an anderer Stelle der Heiligen Schrift explicite finden, womit zugleich postuliert ist, dass es in der Bibel auch Teile geben muss, die keiner solchen Auslegung zugänglich sind.7 Wie aber kommt es dann zu einer Begründung der allegorischen Bedeutung als solcher? Im Falle der Fiktion, den Dante geltend macht, war es das Moment der Abweichung, das eine solche Interpretation initiierte; es handelt sich 6 7
Augustinus, De doctrina christiana, in: PL 34, 15 – 122, hier 71. Diese Schlussfolgerung ergibt sich unabweislich aus der schon im zweiten Buch von De doctrina christiana von Augustinus gemachten Bemerkung: Deinde illa quae […] aperte posita sunt, vel praecepta vivendi, vel regulae credendi, solertius diligentiusque investiganda sunt: quae tanto quisque plura invenit, quanto est intelligentiae capacior. In iis enim quae aperte in Scripturis posita sunt, inveniuntur illa omnia quae continent fidem, moresque vivendi, spem scilicet atque charitatem. (ebd. 42).
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dabei also um das klassische rhetorische Kriterium der Tropen. Auch wenn sich für die Bibel viele Geschichten finden werden, bei denen das Dargestellte unseren geläufigen Wirklichkeitsannahmen widerspricht, man denke hier nur an die Wundererzählungen des Neuen Testaments, finden sich zweifelsohne auch etliche Erzählungen, für die dies nicht gilt, sich ihre Allegorisierbarkeit also nicht aus ihrem mangelnden Realismus ableiten lässt; und schließlich macht es ja gerade die Eigenheit der Wunderberichte aus, dass das nach unseren Maßstäben Unmögliche eben doch stattfindet. Was also begründet dann die Notwendigkeit einer übertragenen Auslegung? Betrachten wir in diesem Zusammenhang noch einmal das Augustinische Kriterium für die Bestimmung jener Bibelstellen, die einen allegorischen Sinn haben, etwas genauer, dann lässt sich sagen, dass dies überall dort der Fall ist, wo wir es mit ,bloßen‘ Erzählungen ohne jede doktrinale Aussage zu tun haben. Sie alle also sind zugleich zu überführen in einen theoretischen Sachverhalt respektive eine moralische Maxime, die sich in ihnen jeweils verschlüsselt findet. So liegt es nahe, die allegorische Struktur der Dichtung mit dem Modell der Inkarnation als solchem in Verbindung zu bringen. Im berühmten Satz des Prologs zum Johannesevangelium heißt es: Et verbum caro factum est. Die allegorische Struktur der Bibel realisiert im Grunde in ihren semantischen Mustern selbst diese Fleischwerdung des Wortes, die Ankunft des Wortes in unserer Welt. Indem die historischen Ereignisse, die sich in dieser materiellen Welt in einem bestimmten Augenblick abspielen, zugleich einen doktrinalen Sinn in sich tragen, verbinden sie die Materie mit dem Logos. So hat die Sinnstruktur der Bibel eine letztlich christologische Grundlage, und von hierher wird es auch verständlich, warum erst die Menschwerdung Christi und seine Erlösungstat den Blick für den allegorischen Gehalt der gesamten Bibel geöffnet und ihren Sinn erschlossen hat. Das der Zeit und damit den Gesetzmäßigkeiten der diesseitigen materiellen Welt unterworfene Geschehen repräsentiert insoweit immer auch den der Zeit enthobenen Logos. Geht man von einer solchen christologischen Basis der allegorischen Struktur des Offenbarungstextes aus, dann wird auch der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Komponenten des vierfachen Schriftsinnschemas transparenter. Dieses Modell verbindet gewissermaßen eine Geschichtstheologie mit einer christlichen Anthropologie. Der tropologische Sinn übersetzt das einmalige historische Geschehen in die dauerhaften Einrichtungen der Heilsgeschichte. Der moralische Sinn macht jene Prinzipien des Handelns geltend, deren Befolgung das
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im anagogischen Sinn verschlüsselte Jenseits zu gewinnen erlaubt. Und wenn dieser moralische Sinn aus der Deutung des sensus historicus erwächst, dann wird daraus noch einmal ersichtlich, dass es erst das historische Geschehen von Gottes Erlösungstat gewesen ist, welches den Zugang zu diesem Himmel eröffnet hat, weshalb denn auch der Himmel selbst in diesem historischen Heilsgeschehen bereits verrätselt ist. Im Grunde überkreuzen sich in diesem Modell des vierfachen Schriftsinns also der Zugang zum verborgenen Sinn und der Zugang zum Heil. Die Deutung des Bibeltextes wird selbst zu einer figura des Eingangs ins himmlische Paradies. Auch insoweit haben wir es mit einem selbstreferentiellen und selbstexplikativen System zu tun. Nicht nur muss aller allegorische Sinn sich speisen aus einer andernorts im Text der Offenbarung explizit gemachten Aussage, sondern auch die Praxis der Auslegung als solcher erweist sich als Ermöglichung und im gleichen Zug als Vorgriff auf das, was die Zielsetzung der Offenbarung ausmacht. Die Exegese löst also selbst schon ein, was ihren Zweck ausmacht; und indem sie gleich in zweifacher Weise den Weg zum Himmel öffnet, kehrt sie im Weggeleit in den Himmel für den Menschen die Bewegung der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, um, die eben hierin ihren Sinn fand. So macht die Insistenz auf der unhintergehbaren Priorität des Literalsinns in der Logik der Bibelexegese sehr entschieden Sinn, weil der sensus litteralis als ein sensus historicus die Voraussetzungen dafür bietet, dass dieser allegorische Sinn sich allererst erschließen lässt und dass seine Inhalte den Menschen nicht nur als propositionaler Gehalt, sondern auch als faktische Realität zugänglich sind. Christi Heilstat, von welcher der sensus litteralis berichtet, also hat den Himmel wie den Sinn der Bibel den Menschen geöffnet. In dieser Hinsicht fällt es deshalb auf, dass sich Dante zur Begründung der Notwendigkeit, dem Literalsinn absolute Priorität einzuräumen, auf ganz andere Argumente, nämlich logische beruft. So sei es bei allen Dingen, die ein Innen und ein Außen haben, unumgänglich, dass man das Innere nur durch das Äußere erreichen kann.8 Auch bedürfe jede forma einer Sache der materia. 9 Die semiotische 8
E in dimostrare questo, sempre lo litterale dee andare innanzi, s come quello nella cui sentenza li altri sono inchiusi, e sanza lo quale sarebbe impossibile ed inrazionale intendere alli altri, e massimamente allo allegorico. ð impossibile, per che in ciascuna cosa che ha dentro e di fuori impossibile venire al dentro, se prima non si viene al di fuori: onde, con ci sia cosa che nelle scritture [la letterale sentenza] sia sempre lo di fuori, impossibile venire all’altre, massimamente all’allegorica, sanza prima venire alla letterale (Convivio, II, I, 8 f.).
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Relation zwischen proprium und translatum wird insoweit in ontologischen Kategorien, näherhin in solchen der Aristotelischen Metaphysik expliziert; und dies bedeutet zugleich, dass eine funktionale Relation unter Zuhilfenahme struktureller Muster erläutert wird. Wir werden dieser Relation von Semiotik und Theorie in der Praxis von Dantes Selbstauslegung sehr bald wieder begegnen.
Die Selbstauslegung der Canzone Voi che ‘ntendendo il terzo ciel movete Voi che ‘ntendendo il terzo ciel movete, udite il ragionar ch’ nel mio core, ch’io nol so dire altrui, s mi par novo. El ciel che segue lo vostro valore, gentili creature che voi sete, mi tragge nello stato ov’io mi trovo. Onde ‘l parlar della vita ch’io provo, par che si drizzi degnamente a vui: per vi priego che lo mi ’ntendiate. Io vi dir del cor la novitate, come l’anima trista piange in lui, e come un spirto contra lei favella, che vien pe’ raggi della vostra stella. (Convivio, II, Canzone prima, 1 – 13)
Dass die Dichtung ganz aus Fiktion(en) bestehe und deshalb der allegorischen Auslegung bedürfe, um ihre Wahrheit zu offenbaren, hatte Dante in seinem theoretischen Vorspann am Beginn des Trattato secondo des Convivio festgestellt. In diesem Sinne fällt schon allein der Umfang auf, den die Erläuterung der senso litterale in seinem Kommentar der Kanzone, deren erste Strophe wir hier zitert haben, einnimmt und der den größten Teil dieser Interpretation ausmacht. Die deutliche Hervorhebung des Literalsinns als der Basis alles anderen aber findet in diesem Kommentar noch in einer anderen Weise eine aus Sicht der theoretischen Einlassungen durchaus überraschende Erklärung. Denn, 9
Ancora impossibile, per che in ciascuna cosa, naturale ed artificiale, impossibile procedere alla forma, sanza prima essere disposto lo subietto sopra che la forma dee stare: s come impossibile la forma dell’oro venire, se la materia, cio lo subietto, non digesta e aparecchiata; e la forma dell’arca venire, se la materia, cio lo legno, non prima disposta e aparecchiata. Onde, con ci sia cosa che la letterale sentenza sempre sia subietto e materia dell’altre, massimamente dell’allegorica, impossibile prima venire alla conoscenza dell’altre che alla sua (Convivio, II, I, 10 f.).
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wie sich nun herausstellt, besteht der senso litterale durchaus nicht nur aus einer bella menzogna. Schon die Eröffnung des Kommentars gibt dies unmissverständlich zu erkennen: Cominciando adunque, dico che la stella di Venere due fiate rivolta era in quello suo cerchio che la fa parere serotina e matutina secondo diversi tempi, apresso lo trapassamento di quella Beatrice beata che vive in cielo colli angeli e in terra colla mia anima, quando quella gentile donna [di] cui feci menzione nella fine della Vita Nova, parve primamente, acompagnata d’Amore, alli occhi miei e prese luogo alcuno nella mia mente. E s come [] ragionato per me nello allegato libello, pi da sua gentilezza che da mia elezione venne ch’io ad essere suo consentisse; ch passionata di tanta misericordia si dimostrava sopra la mia vedovata vita, che li spiriti delli occhi miei a lei si fero massimamente amici. E cos fatti, dentro [da me] lei poi fero tale, che lo mio beneplacito fue contento a disposarsi a quella immagine. (Convivio, II, II,1 – 2)
Hier ist nicht nur auf Dantes Frühwerk verwiesen, sondern zugleich eine biographische Konstellation zitiert, die kein Fiktionssignal aufweist. Im Gegenteil. Denn wir werden später, im allegorischen Teil der Auslegung, erfahren, dass erst jene andere donna, der Dante nach dem Tode Beatrices nun all seine Aufmerksamkeit und Zuneigung zu widmen beginnt, zeichenhaft zu deuten und niemand anderes als die filosofia ist: E s come essere suole che l’uomo va cercando argento e fuori della ‘ntenzione trova oro, lo quale occulta cagione presenta; non forse sanza divino imperio, io, che cercava di consolar me, trovai non solamente alle mie lagrime rimedio, ma vocaboli d’autori e di scienze e di libri: li quali considerando, giudicava bene che la filosofia, che era donna di questi autori, di queste scienze e di questi libri, fosse somma cosa. Ed imaginava lei fatta come una donna gentile, e non la poteva imaginare in atto alcuno se non misericordioso; per che s volentieri lo senso di vero la mirava, che appena lo potea volgere da quella: e da questo imaginare cominciai ad andare l dov’ella si dimostrava veracemente, cio nelle scuole delli religiosi e alle disputationi delli filosofanti; s che in picciolo tempo, forse di trenta mesi, cominciai tanto a sentire della sua dolcezza, che lo suo amore cacciava e distruggeva ogni altro pensiero. (Convivio, II, XII, 5 – 7)
Die Erscheinung der Philosophie in Gestalt einer donna gentile wird hier also ausdrücklich als Effekt einer Leistung des Vorstellungsvermögens markiert. Diese donna verdankt sich insoweit, wie schon oben im Hinblick auf den Status der Fiktion diskutiert, einem rhetorischen Verfahren, sie ist ein Modus der Aussage weit eher als fiktive Faktizität. Übrigens findet Dante denn auch eine Erklärung für die Notwendigkeit der Darstellung der Dame in allegorischer Manier, welche Unumgänglichkeit sich aus ihrer Würde ergebe, die alle ausdrückliche Rede
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verbiete.10 Dies ist die Aneignung eines der verbreiteten Legitimationsargumente zum allegorischen Status der biblischen Rede, deren Kostbarkeit es verbiete, sich jedermann ungeschützt darzubieten. Solchermaßen aber gehen aus Sicht des Kommentators proprium und translatum in der erzählten Geschichte selbst ineinander über. Ihre Differenz ist nicht nur diejenige zwischen dem Dargestellten und seiner Auslegung, sondern sie durchzieht das Dargestellte selbst. Denn, so macht es die Auslegung immer wieder deutlich, wovon die Kanzone Voi che ‘ntendendo il terzo ciel movete berichtet, ist der Übergang der Liebe des Autors von Beatrice zu filosofia, und sie erzählt von den inneren Kämpfen, welche die Ablösung der einen Liebe durch die andere ausgelöst hat. Auch die parole fittizie beziehen sich also insoweit auf ein biographisches Substrat, das in dieser Kanzone durchaus auch in nicht verschlüsselter Weise vorkommt. Wie also verhält sich der Kommentar gegenüber dieser ,Fiktion‘, die keinerlei figürlichen Status aufweist und die in der Theorie nicht vorkommt? Und welche Beziehungen lassen sich zwischen dem proprium und dem translatum in der Narration selbst bestimmen? Beginnen wir mit Ersterem. Voi che ’ntendendo il terzo ciel movete: Diesem Eröffnungsvers der im zweiten trattato des Convivio ausgelegten Kanzone widmet ihr Autor allein ganze drei Kapitel seines Kommentars, in denen er nichts Geringeres unternimmt, als wesentliche Teile der Aristotelisch-scholastischen Kosmologie recht umfänglich darzustellen, näherhin die Ordnung der Himmel und die Ordnung der Engel, welche die Himmel in Bewegung setzen. Der Stimulus, den der betreffende Vers für diese Ausführungen liefert, ist zweifelsohne sein periphrastischer Status, der Anlass gibt, das darin Umschriebene in aller Deutlichkeit zur Sprache zu bringen. Zunächst also reagiert der Kommentar auf eine rhetorische Figur, die der Erläuterung durch ein als unbekannt vorausgesetztes Wissen bedarf. Nach Abschluss dieser Darlegungen wendet sich der Autor und Kommentator in eigener Person dann den näheren Umständen der Anrede derer zu, die er zuvor ausgiebig kommentiert hat: 10 Per che io, sentendomi levare dal pensiero del primo amore alla vert di questo, quasi meravigliandomi apersi la bocca nel parlare della proposta canzone, mostrando la mia condizione sotto figura d’altre cose: per che della donna di cu’ io m’innamorava non era degna rima di volgare alcuna palesamente poetare; n li uditori erano tanto bene disposti che avessero s leggiere le [non] fittizie parole apprese; n sarebbe data [per] loro fede alla sentenza vera come alla fittizia, per che di vero si credea del tutto che disposto fosse a quello amore, che non si credeva di questo (Convivio, II, XII, 8).
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Dico adunque a quelli ch’io mostrai sono movitori del cielo di Venere: O ,voi che ‘ntendendo‘ – cio collo intelletto solo, come detto di sopra, – ,lo terzo cielo [movete], / udite il ragionare‘; e non dico ,udite‘ perch’elli odano alcuno suono, ch’elli non hanno senso, ma dico ,udite‘, cio con quello udire ch’elli hanno, ch’ intendere per intelletto. Dico ,Udite il raigionare‘ lo quale , nel mio core‘, cio dentro me, ch ancora non di fuori apparito. E da sapere che in tutta questa canzone, secondo l’uno senso e l’altro, lo ‘core’ si prende per lo secreto dentro, e non per altra spezial parte dell’anima e del corpo. (Convivio, II, VI, 2)
Diesmal ist eine semantische Anomalie, ein mögliches Missverständnis des Lesers, Anlass für die Kommentierung. Das Hören, so führt der Autor aus, lässt sich im Eingangsvers der hier besprochenen Kanzone nicht im geläufigen, akustischen Sinn verstehen, sondern ist als ein intellektuelles Verstehen zu deuten, weil die Engel, die über keine Sinneswahrnehmung verfügen, unmittelbar die Bedeutung der Worte begreifen. Das ,Hören‘ ist also in übertragenem Sinn zu verstehen. Übrigens ist es zweifelsohne von Belang, dass hier bereits das Thema des Verhältnisses zwischen körperlichem und geistigem Verstehen erscheint, welches, wenn auch in anderer Weise in der Beziehung zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn involviert ist; und schließlich kennt das Neue Testament ja die Verwendung des Hörens genau in dieser Wortbedeutung des Verständnisses des tieferen Sinnes: „Wer Ohren hat zu Hören, der höre.“ Jedenfalls ist die Frage des Unterschieds zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Sprachverständnisses von Anfang an ein offensichtliches Thema dieser Kanzone wie ihres Kommentars. Die nächste erläuternde Anmerkung gilt einer Erklärung der Selektion genau dieser Adressaten für das zu besprechende Gedicht: Poi li ho chiamati a udire ch’io dire voglio, asegno due ragioni per che io convenevolemente deggio loro parlare. L’una si la novit della mia condizione, la quale, per non essere dalli altri uomini esperta, non sarebbe cos da loro intesa come da coloro che ‘ntendono li loro effetti nella loro operazione; e questa ragione tocco quando dico: ch’io nol so dire altrui, s mi par novo. (Convivio, II, VI, 3)
Blicken wir auf unsere einleitenden Erörterungen zur Struktur der Fiktion zurück, so ist die hier vorgenommene Begründung der Auswahl des Adressaten, welche ja nicht erst der Kommentar, sondern schon die Kanzone selbst vornimmt, recht bemerkenswert. Eines der zentralen dort benutzten Argumente besagte ja, dass die von keiner Referenz determinierte Auswahl der Sprachzeichen die Frage nach den Kriterien
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dieser Selektion aufwirft, und eben diese Frage beantwortet der Kommentator in seiner Bemerkung für die Wahl der Adressaten. Auch bei dieser Begründung haben wir es wiederum mit den unterschiedlichen Möglichkeiten des Verstehens zu tun. Die Neuartigkeit und Außergewöhnlichkeit der Lebenssituation des Sprechers entziehe sich dem Verständnis der mit ihr unvertrauten anderen Menschen, und allein die besonderen Geistesgaben der Engel lassen sie die Situation des Sprechers verstehen. Dabei ist zu beachten, dass es nicht etwa nur die überlegenen Verstandeskräfte dieser unkörperlichen Wesen sind, welche das betreffende Verständnis ermöglichen. Vielmehr sind die Engel als die Verursacher der Lebensumstände des Sprechers, welche sie ja durch ihre Bewegung der Himmel mittels ihres Intellektes bewirken, sozusagen naturgemäß auch die verständigsten Adressaten. Auch hier haben wir es folglich mit einer Kreisbewegung zu tun; der Prozess des Textverständnisses, und dies ist für Dantes im Convivio entwickeltes Konzept der poesia zentral, entspricht deshalb im Grunde der kosmischen Bewegung der Himmel, welche eines der basalen Prinzipien der Ordnung des Universums ausmacht. Schon am Ende des theoretischen Vorspanns, den Dante am Beginn des zweiten trattato im Convivio der Auslegung der ersten Kanzone voranstellt, hatten wir ja bemerkt, wie er semiotische Funktionen in Gestalt von ontologischen Strukturen fasste. Nun wird auch der Vorgang des Textverstehens diesen metaphysischen Prämissen eingefügt. Dies aber verleiht der Semantik dieses Textes eine bemerkenswerte Selbstreferentialität. Während sie zum einen, wie seit der Auslegung des ersten Verses deutlich wird, nach des Autors eigenem Bekunden einer Exposition der Aristotelisch-scholastischen Kosmologie gilt, funktioniert auch ihr Verständnis selbst gemäß den Prinzipien, die im Universum regieren und welche die Kanzone eben selbst zur Darstellung bringt. Darstellung und Dargestelltes entsprechen sich solchermaßen in bemerkenswerter Weise. Die Logik des Textes wird derjenigen des Universums angeglichen. Zudem gewinnt der Kommentar in dieser Angleichung von Naturordnung und Texthermeneutik eine – unausdrückliche – Zweckbestimmung. Die Auslegung dient dazu, den unverständigen anderen Menschen ein Verständnis zu ermöglichen, welches demjenigen der Engel entspricht, die aufgrund der natürlichen Voraussetzungen von Anfang an das rechte Verständnis mitbringen. Erscheint solchermaßen die Wahl des Adressaten motiviert, so fügt der Autor in seiner Selbstauslegung indessen noch eine weitere
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Begründung hinzu, die zugleich eine Motivation für den Fortgang des Textes anbietet: L’altra ragione : quand’uomo riceve beneficio o vero ingiuria, prima de’ quello ritraere a chiliele fa, se pu, che ad altri: acci che se ello beneficio, esso che lo riceve si mostri conoscente inver lo benefattore; e s’ella [] ingiuria, induca lo fattore a buona misericordia colle dolci parole. E questa ragione tocco quando dico: El ciel che segue lo vostro valore, gentili creature che voi sete, mi tragge nello stato ov’io mi trovo. Cio a dire: l’operazione vostra, cio la vostra circolazione, quella che m’ha tratto nella presente condizione. Per conchiudo e dico che ‘l mio parlare a loro dee essere, s come detto ; e questo dico quivi: Onde ‘l parlar della vita ch’io provo, par che si drizzi degnamente a vui. (Convivio, II, VI, 4 f.)
War die erste Motivation der Adressatenwahl mit einem aus den metaphysischen Prinzipien der Natur gewonnenen Argument gegeben, so greift der Kommentar hier auf ein moralisches Prinzip zurück, das indessen in struktureller Hinsicht noch einmal bemerkenswert dem formalen Muster der natürlichen Kreisbewegung entspricht. Es ist, so heißt es, eine Verpflichtung, also auch eine Gesetzmäßigkeit, sich an den Urheber einer Gabe, sei sie Wohltat oder Beschädigung, zu wenden, sei es um ihm Dank abzustatten oder um seine Gnade zu erwirken. Nicht erst der Kommentar setzt zu einer Erläuterung an, warum die Kanzone just das, wovon sie handelt, zum Gegenstand der Rede macht, und warum ihre Aussagen in der Weise aufeinanderfolgen, in der sie es tun; solche Motivationen finden sich schon im Wortlaut des Gedichtes selbst, indessen verstärkt der Kommentar diese Tendenz offenkundig. Wesentlich aber ist damit festzuhalten, dass die hermeneutischen Operationen des Kommentars in der Tat nichts an diesen Text herantragen, was ihm grundsätzlich äußerlich wäre, sondern sie setzen fort, was schon in ihm selbst angelegt ist. In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt ein Vergleich der verschiedenen Textstimuli lehrreich, auf welche der Kommentar jeweils reagiert. Es waren bei den bislang untersuchten Textstellen drei verschiedene solcher Stimuli, zunächst eine Periphrase, sodann eine semantische Anomalie, die Abwehr eines Missverständnisses (udire), und schließlich die Motivation von Selektion und Kombination der Elemente der Rede. Damit aber fällt auf, dass der Kommentar in vergleichbarer Weise auf Abweichungen von einer ,Normalform‘ der Rede reagiert, wie sie in allen rhetorischen Figuren impliziert ist, und
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auf die Grundprinzipien der Rede, welche eben auf der Selektion und Kombination von Sprachzeichen beruhen. Im Kommentar dieser poetischen Rede werden also, und dies scheint mir das entscheidende zu sein, die betreffenden Unterschiede nivelliert, und die generellen Bauprinzipien der Rede erscheinen als ebenso kommentarbedürftig wie die Abweichungen von der Normalform. Ihr tertium comparationis aber ist in jener Entautomatisierung zu finden, welche der eingangs bereits zitierte Roman Jakobson als ein spezifisches Merkmal poetischer Rede bezeichnet hatte. Für eine solche Entautomatisierung hatte Jakobson zwei Möglichkeiten angegeben, die Überstrukturierung (wie etwa den Reim) oder die Störung (wie etwa die Elipse), welche beide die Aufmerksamkeit auf die Rede als solche lenken und insoweit den selbstreferentiellen Charakter der dichterischen Sprache begründen. Doch, wie hier zu bemerken, ist die Entautomatisierung der Rede, auf welche der Kommentar je und je reagiert, durchaus nicht an Abweichungen von der Normalform der Rede gebunden. Auch der syntaktisch in jeder Hinsicht unauffällige Satz, auch die Abfolge von Sprachzeichen, die in keiner Weise von den Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Norm abweichen, ist einen Kommentar wert. Diese Nivellierung des Unterschieds von normkonformer und anomaler Rede aber lässt sich plausibel machen, wenn man in Rechnung stellt, dass für die fiktional-literarische Rede Entautomatisierung kein okkasioneller, an deviante Formen der Sprachverwendung gebundener, sondern ein struktureller Befund ist. Jene Freiheit, die durch den Ausfall der Referenz für die Kombination und Selektion der Elemente der Sprache entsteht, weil kein außersprachlicher Sachverhalt sie mehr determiniert, setzt eben ihre gewohnten Mechanismen der Motivation außer Kraft. In dieser Entautomatisierung aber steckt der Ansatz für die Notwendigkeit oder doch zumindest der Bedarf einer Begründung, die der Kommentar bietet und die schon der Wortlaut des Gedichts selbst in Angriff nimmt. Vielleicht lässt sich in der hier vorgeschlagenen Unterscheidung von okkasioneller und struktureller Entautomatisierung auch ein Kriterium für den jeweiligen Status der poetischen Funktion im Sinne Jakobsons gewinnen. Man hat zurecht festgestellt, dass diese poetische Funktion kein für den literarischen Text distinktives Merkmal bilde, da auch der nicht-literarische Text durchaus häufig solche Muster aufweise. Indessen scheint es mir die Eigenheit des literarischen Textes auszumachen, dass die Entautomatisierung hier einen generischen Status besitzt und nicht nur die Abweichungen von der sondern auch die Bauprinzipien
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der Normalsprache als solche erfasst. Selektion und Kombination hier immer schon interpretationsfähig. Die Erläuterungen, die der Kommentar nun je und je vornimmt, besitzen zudem einen spezifischen semantischen Effekt, der das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen betrifft. Denn wo es darum geht, die Auswahl und Verknüpfung der Rede plausibel zu machen, greift der Kommentator auf allgemeine Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten zurück, welche es verständlich zu machen vermögen, warum im konkreten Fall die Selektion respektive Kombination so und so stattgefunden hat. So hat das Prinzip von Ursache und Wirkung dafür herzuhalten, warum die Engel die geeigneten Adressaten sind, und die aus demselben Verhältnis von Ursache und Wirkung geltend gemachte Dankespflicht hat zu erklären, warum der Sprecher just seine Verpflichtung gegenüber den Engeln zum Thema macht. Der Kommentar macht insoweit das singuläre dargestellte Phänomen für das allgemeine Prinzip transparent, das ihm und seiner Selektion zugrundeliegt. In diesem Sinne wirkt denn auch schon die Periphrase, mit welcher der Text einsetzt, denn ihre Erläuterung ruft jenen theoretischen Kontext auf, aus dem heraus sie sich erklären lässt, während das proprium nicht dazu genötigt hätte, ihn in aller Ausführlichkeit darzubieten. Auch hier setzt der Kommentar fort, was im Text selbst schon angelegt ist.11 Hier also entsteht jener Mehrwert der Information, der über die Repräsentation eines individuellen Falles und Ereigniszusammenhangs immer schon hinausreicht. Und so wird das Fazit der Auslegung des ersten Teils der Kanzone denn auch zum Resümee einer Theorie der Entstehung von Liebe, die von der individuellen dargestellten Situation nicht mehr zu unterscheiden ist: Ora ch’ mostrato come e perch nasce amore, e la diversitade che mi combattea, procedere si conviene ad aprire la
11 An der rhetorischen Figur der Periphrase wird denn auch der Unterschied zur Allegorie kenntlich, den Dante in seinen theoretischen Bemerkungen zur semantischen Struktur der poesia als durchgängiges Merkmal der Dichtung genannt hatte. Während die Metapher respektive ihre Verlängerung in der Allegorie die Dinge per analogiam bezeichnet, macht die Umschreibung eines ihrer Merkmale zum Instrument der Bezeichnung. Hier also ist ein Verhältnis von Teil und Ganzem involviert, die Bezeichnung operiert insoweit in derselben semantischen Sphäre wie die Sache, auf die sie sich bezieht. In einer Hinsicht freilich sind die Effekte von Umschreibung und Allegorie analog. Die Auflösung der jeweiligen rhetorischen Figur bringt jeweils einen allgemeinen Sachverhalt ins Spiel, der an der einzelnen bezeichneten Sache sichtbar wird.
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sentanza di quella parte nella quale contendono in me diversi pensamenti.“ (Convivio, II,viii,1). In dieser Hinsicht gleichen sich übrigens auch der Kommentar des Literalsinns und die Auslegung des senso allegorico. Die allegorische Deutung, mit welcher der Kommentar ja erst gegen Ende der Auslegung der Kanzone aufwartet, verwandelt die individuelle Frau, die alle Zuneigung des durch den Tod der geliebten Beatrice verwaisten Dichters an sich zu binden beginnt, in das Abstraktum der Philosophie, genauso wie das Ovid-Beispiel vom Beginn des Trattato secondo die eine Begebenheit um Orpheus in den allgemeinen Sachverhalt der Macht der Worte eines klugen Menschen transformierte. So lässt sich in letzter Konsequenz die allegorische Gestalt der Dichtung als eine Form der Herstellung von Evidenz für eine strukturelle Eigenschaft beschreiben, die den parole fittizie auch dort eignet, wo nichts dazu nötigt, sie als fiktiv zu begreifen, weil das, was sie zur Darstellung bringen, nirgends von unseren geläufigen Annahmen über das Funktionieren der Welt abweicht. Der figürliche Status macht nur sichtbar, welche Sinnerwartungen die Fiktion schlechthin begleiten. Der Kommentar des senso litterale und die Auslegung des senso allegorico sind deshalb letztlich denselben Entitäten auf der Spur.12 Sie machen beide jenen semantischen Mehrwert jenseits des propositionalen Gehaltes der einzelnen Sätze kenntlich, auf den sich die Erwartungen an einen poetischen Text richten, weil die Selektion und Kombination seiner Elemente nach einer Motivation verlangt, die in diesem propositionalen Gehalt selbst nicht explizit gemacht ist; und wenn gleichwohl ein Unterschied zwischen beiden Sinnebenen in unserem Text besteht, dann derjenige, dass die allegorische Bedeutung sozusagen die Voraussetzungen für jenes Wissen benennt, das auch der Kommentar zum senso letterale bereits in Anschlag bringt.13 12 Dies geht nicht zuletzt aus der Ähnlichkeit der kommentierenden Bemerkungen hervor, die sich in beiden Teilen der Auslegung der Kanzone finden. So hatten wir im Kommentar zum Literalsinn des ersten Verses das moralische Prinzip formuliert gefunden, dass der Mensch für alle empfangenen Gaben sich an deren Urheber zu wenden hat. Vergleichbares findet sich nun auch im allegorischen Kommentar der Kanzone, etwa in einer Bemerkung wie der folgenden: Qui si vuole bene attendere ad alcuna moralitade, la quale in queste parole si pu notare: che non dee l’uomo, per maggiore amico, dimenticare li servigi ricevuti dal minore (Convivio, II, XV, 6). 13 Vgl. in diesem Sinn etwa die allegorische Umdeutung von amore in studio: Poi nel quarto verso, dove dice: ,uno spiritel d’amore‘, s’intende uno pensiero che nasce del
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Poetische und theologische Allegorese Indessen hat es mit diesem allegorischen Sinn in unserer Kanzone ja eine besondere Bewandtnis, und sie betrifft den Sachverhalt, dass ihr Kommentar bereits für die Ebene der Darstellung selbst einen Übergang vom Wörtlichen zum Figürlichen feststellt. Denn nirgends wird die erste donna, Beatrice, allegorisiert, während die zweite Dame eben als filosofia ausgewiesen ist. Welche Informationen stecken in diesem Wechsel der Realitätsebenen innerhalb der dargestellten Situation selbst? Halten wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst fest, dass damit die Bewegung innerhalb dieser Situation dem entspricht, was der Kommentar selbst unternimmt. Wenn er die poetische Rede transparent macht für jene metaphysischen Prinzipien der Natur und ihrer Ordnung, die er allenthalben zum Verständnis des Textes bereitstellt, dann korrespondiert dem in der erzählten Geschichte der Übergang des Sprechers von der Liebe zu einer individuellen Frau zu derjenigen zur filosofia. Solchermaßen aber stellt die Geschichte des Sprechers, wie der Kommentar sie erscheinen lässt, auch die Begründung für die Kompetenz des Kommentators her. Denn, wenn die Kanzone Voi che ‘ntendendo il terzo ciel movete im Grunde basale Prinzipien des Universums exponiert, dann hat der Text, in dem dieses Wissen verschlüsselt ist, zugleich die Geschichte des Zugangs zu diesem Wissen zum Inhalt. Der Text, den der Kommentar vorstellt, macht insoweit auch dessen Selbstermächtigung zum Thema. Solche Formen der Selbstermächtigung finden sich auch andernorts im Convivio. Kaum zufällig ist ja das im theoretischen Teil zu Beginn des zweiten Traktats für den allegorischen Status der Dichtung gewählte Ovid-Beispiel auch von solcher Art, dass es die Macht der Worte sinnfällig macht. Auch hier haben wir es also mit einer Selbstbegründung des Poetischen zu tun. Und nicht zuletzt jenes metaphorische Modell, in dessen Rahmen sich das Convivio insgesamt stellt, das Modell des Gastmahls, bei dem der Reiche die Bedürftigen speist, allegorice: bei dem der Wissende den Unwissenden Nahrung gibt, macht eben die Produktion von Wissen zur Allegorie. Diese Strategien der Selbstbegründung der Auslegung der poesia durch die Legitimierung des Besitzes jenes Wissens, das zugleich den Inhalt des Kommentars ausmacht, die Deutung der in der Kanzone mio studio. Onde da sapere che per amore, in questa allegoria, sempre s’intende esso studio, lo quale applicazione dell’animo innamorato della cosa a quella cosa (Vgl. Convivio, II, XV, 10).
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erzählten Geschichte als Übergang des Sprechers zur Liebe zu jener filosofia, die sich zugleich als Quell des Wissens des Kommentars zeigt, aber korrespondiert offensichtlich einem Strukturmoment der Bibelallegorese, das wir in Augustins Charakteristik der Heiligen Schrift angetroffen haben. Auch dort war die allegorische Auslegung als Selbstauslegung der Bibel beschrieben worden, weil alles, was Inhalt allegorischer Auslegung sein konnte, an anderer Stelle explizit gemacht sein musste. Eine solche Selbstbegründung des Kommentarwissens stellt Dantes Convivio her, indem die ausgelegte Geschichte zugleich den Weg in die Begegnung mit jener filosofia zu beschreiben hat, der alle Weisheit des Kommentator entstammt. Von hierher hat es denn auch seinen Sinn, wenn das Textverständnis selbst der Ordnung des Universums eingereiht und auf jene natürlichen Prinzipien zurückgeführt wird, die gleichfalls Teil des Kommentars sind. Wir hatten eingangs dieses Kapitels die Frage aufgeworfen, warum Dante sich zur Charakteristik der semiotischen Struktur der poesia nicht mit einem der semantischen Struktur der Bibel homologen Modell begnügt, sondern warum er eine hybride Konstruktion zwischen Bibelund Dichtungsallegorese erstellt. Es scheint, als hätten wir nun die Antwort gefunden, und sie ergibt sich letztlich aus jener Identifikation von Bedeutung und veritade, die Dante schon am Beginn des trattato secondo zur Legitimation der Fiktion geltend macht. Jener Sekundärsinn, welchen die Deutung der Dichtung zutage befördert, ist mehr als eine bloße Aussage, sie ist Wahrheit, eine Wahrheit, die es mit der Offenbarungswahrheit aufnehmen kann. Von hierher stammt die Struktur der Selbstbegründung jenes Wissens, welche die narratio und die Exegese in der kommentierten Kanzone aufeinander bezieht.14 Die letzte Grundlage des allegorischen Sinnes im Buch der Offenbarung haben wir in der Inkarnation, im Eintritt des göttlichen Logos in diese Welt entdecken können, welche das Heilsgeschehen und jenes Buch, in dem es aufbewahrt ist, einander äquivalent macht. Was in der Bibel also als Voraussetzung ihrer semantischen Struktur immer schon gegeben ist, das muss die poesia erst selbst herstellen. Genau darin aber wird jene Dif14 Genau hier scheint mir denn auch die Differenz zur Commedia angelegt zu sein. Auch sie erzählt ja die Geschichte des Erwerbs jenes Wissens, das sie zugleich entfaltet. Doch hier ist solche Weisheit nicht mehr mit den Mitteln der Gelehrsamkeit zu gewinnen. Es bedarf nun des Einritts ins Jenseits, um dessen habhaft zu werden, was die Botschaft des Textes begründet. Der Weg vom Convivio scheint mir der Weg der poesia vom Wissenstext zum inspirierten Text zu sein.
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ferenz sichtbar, welche die Dichtung vom Text der Offenbarung trennt und welche zugleich eine Verschränkung mit seinen semantischen Strukturen umso wünschbarer macht. Wenn die Fiktion gemäß ihren ureigensten Prinzipien immer schon auf die Erwartung eines Mehrwertes angelegt ist, bedarf die Artikulation dieses Mehrwertes für Dante noch der Hybridisierung der Dichtungsauslegung mit der Bibelexegese, um sie allererst legitim zu machen. Dass indessen die semantischen Strukturen dieser poesia gerade nicht in den eingangs skizzierten allegorischen Mustern der Bibelinterpretation aufgehen, geht aus dem Kommentar des senso letterale hervor, der just jenen Mehrwert zum Thema macht, der alle Dichtung ganz unabhängig einer explizit ihrer allegorischen Gestalt immer schon zu verheißen scheint.
III. Die Selbstallegorese des postrealistischen Romans: Thomas Mann, Der Zauberberg Das ,epische Präteritum‘ des Zauberberg „Episches Präteritum“ – im Zeichen dieser Formel hat Käte Hamburger dereinst die Leistung des Tempus der Vergangenheit für die Fiktion analysiert.15 Ihren Ausgangspunkt bildet die in der Tat für den ersten Eindruck verblüffende Beobachtung, dass wir den Inhalt eines fiktionalen Textes im Präsens wiedergeben, obwohl die betreffende Geschichte im Roman oder der Novelle doch in der Vergangenheit erzählt wird. Der Schluss, den sie daraus gezogen hat, besagt, dass das Präteritum der Fiktion keine Vergangenheitsbedeutung habe, sondern vielmehr die Fiktivität dessen markiere, was wir durch die Erzählung als gegenwärtig erleben. An dieser These sind massive und höchst berechtigte Zweifel erhoben worden16, denen nicht zu widersprechen ist. Sieht man deshalb von Käte Hamburgers Schlussfolgerung für die Natur des epischen Präteritums ab, so bleibt doch das bemerkenswerte Faktum bestehen, dass wir den Inhalt fiktionaler Texte im Präsens referieren. Was lässt sich als Erklärung für diesen ein wenig verwirrenden Tatbe-
15 Vgl. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 21968, S. 59 ff. 16 Vgl. hierzu maßgeblich die Einwände von Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie, München 1973, S. 170 ff.
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stand benennen? Ich habe dies an anderer Stelle17 damit begründet, dass es die Verwendung des Präsens bei derlei Nacherzählungen vermeidet, einen zeitlichen Bezug zwischen dem Sprechzeitpunkt dieser Nacherzählung und dem referierten Geschehen herzustellen. Denn eine solche temporale Relation würde unweigerlich die Faktizität des betreffenden Geschehens voraussetzen und damit im gleichen Zug eine Aussage wie etwa die folgende, Hans Castorp war Gast im Sanatorium Berghof, außerhalb des Romans Der Zauberberg selbst zu einer falschen Aussage machen. Das Präsens umgeht stattdessen die Herstellung einer zeitlichen Beziehung zwischen nonciation und nonc und beschränkt deshalb das Referat des Geschehens auf eine (wahre) Aussage über den Text, in dem es erzählt wird – womit übrigens auch deutlich wird, dass die Opposition zwischen Fiktion und Realität insoweit eine ,schiefe‘ ist, als auch fiktionale Figuren und Geschehnisse eben als textuelle durchaus Realität besitzen. Ich sehe zumindest heute noch keinen Anlass, meine ohnehin erst unlängst vorgetragenen Überlegungen auch schon wieder zu revidieren, indessen gehören sie in einen weiteren Rahmen, den ich in dem zitierten Aufsatz noch nicht bedacht habe und den in Rechnung zu stellen mich Thomas Manns Roman Der Zauberberg gelehrt hat. Unter den verschiedenen Texten, die Käte Hamburger zum Beleg ihrer These zitiert, befindet sich – auffälligerweise (honni soit qui mal y pense) – derjenige nicht, der die Rolle des Tempus für die Erzählung so nachhaltig reflektiert hat wie vielleicht kein zweiter, eben Manns Zauberberg. Von dessen Vorwort an gehört das Nachdenken über die Zeitlichkeit des Erzählens zu den zentralen Anliegen des Buches. Dies beginnt schon beim Titel dieses Vorwortes, der – bezeichnenderweise – Vorsatz lautet. Die vielfältigen semantischen Effekte dieses verbalen Tausches zu reflektieren, ist hier nicht der Ort. Beschränken wir uns deshalb auf die zeitlichen Implikationen des Wechsels vom Vorwort zum Vorsatz. Denn der Vorsatz, der gemeinhin ein Vorhaben bedeutet, führt für die Erzählung auch hier eine futurische Dimension ein. In der Tat ist es ja so, dass der Erzähler, der sich anschickt, eine Geschichte zu erzählen, noch etwas vor sich hat, was – de facto oder de fictione (in diesem Punkt unterscheiden sich faktuales und fiktionales Erzählen durchaus nicht) – bereits in der Vergangenheit liegt. Und nicht anders geht es dem Leser, wenn er mit seiner Lektüre beginnt. Jener Erzähler, der im Vorsatz des Zauberberg alles daran setzt, den Vergangenheits17 Vgl. Andreas Kablitz, „,Kunst des Möglichen‘. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion“, in: Poetica, 34/2002, S. 251 – 273.
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charakter des im Folgenden berichteten Geschehens herauszustellen18, rückt also die Geschichte des Romans gleichermaßen in eine futurische Relation. Doch damit nicht genug, denn dazwischen liegt die präsentische Eigenschaft aller Geschichten. Um aber einen klaren Sachverhalt nicht knstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rhrt daher, dass sie vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Pr sens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehçrt hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. (S. 9)
Was dieser Abschnitt demonstriert, ist die Unmöglichkeit einer Vermeidung des Präsens beim Bericht über eine Geschichte, welches Tempus zu umgehen sich der Erzähler so redlich bemüht. Doch der Schlusssatz, Vorher also spielt sie, besiegelt mit seiner – hier hervorgehobenen – Umstandsbestimmung gewissermaßen die Unvermeidlichkeit dessen, was hier so gern ausgespart bliebe. Wenn hier jedoch zum anderen der Vergangenheitscharakter der erzählten Geschichte so markant durch seine Beziehung zur politischen Geschichte herausgestellt wird, die fiktionale Geschichte also konsequent als eine faktuale ausgewiesen wird, dann fragt sich auch, ob jene Eigenheit, dass ein in der Vergangenheit spielendes Geschehen angemessen durch das Gegenwartstempus wiedergegeben wird, wirklich eine exklusive Eigenheit der Fiktion ist. Ein simples, durch den Kontext nahegelegtes Beispiel, macht das Gegenteil sichtbar: Am 28. Juni 1914 tçten die Schsse von Sarajewo den çsterreichischen Thronfolger. Die durch die Wiener Regierung begonnenen Vergeltungsmaßnahmen gegen Serbien mnden in den Ersten Weltkrieg. Auch historisches Geschehen lässt sich, ungeachtet seines diesmal ganz unstrittigen Vergangenseins, unschwer im Präsens wiedergeben. Diese Möglichkeit hängt also augenscheinlich nicht an der Fiktivität des dargestellten Geschehens. Was aber begründet dann diese Möglichkeit? Was das Tempus der Gegenwart hier kenntlich macht, ist die Existenz eines Sachverhaltes, der, als solcher, in der Tat von der Zeit 18 Die Geschichte Hans Castorps, die wir erz hlen wollen, […] ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost berzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen (Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, Frankfurt/M. 52005, S. 9). Sämtliche Zitate aus diesem Roman werden im folgenden mit bloßer Seitenangabe gemäß dieser Ausgabe wiedergegeben.
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unabhängig ist und sich insoweit in der Zeitlosigkeit des Präsens wiedergeben lässt. Doch dieselben, hier beispielhalber vorgetragenen Sätze ließen sich ebenso in einem Vergangenheitstempus formulieren. Hier also existiert eine Alternative, die im Fall fiktiver Geschichten nicht gegeben ist. Damit aber kommen wir der Einsicht in die Leistung der Sprache bei fiktionalen Erzählungen ein Stück weit näher. Sprache, insoweit sie auf Prädikationen beruht, konstatiert unweigerlich Sachverhalte. Deren Geltung ist zeitunabhängig. Insofern steckt auch in jedem Vergangenheitssatz etwas Präsentisches. Fiktive Erzählungen fingieren deshalb nicht nur vergangene Ereignisse, sie produzieren unvermeidlich auch – fiktive – Sachverhalte. Über die lassen sich nun, wie gesehen, insoweit sie in Texten präsent sind, in der Zeitform des Präsens wahre Aussagen machen. Doch die Unübersetzbarkeit des Referats der fiktionalen Geschichte in die Vergangenheit zeigt an, dass fiktionale Geschichten sich, was ihren propositionalen Gehalt betrifft, auf nichts anderes als sich selbst beziehen lassen und deshalb aller Temporalisierung entzogen bleiben. Indessen verstehen es fiktionale Texte, genau diese Zeitlosigkeit für die Repräsentation von Sachverhalten zu nutzen, die sich in der Tat als zeitlose Wahrheiten präsentieren. Faktuale Erzählungen berichten von vergangenen Ereignissen und stellen gleichzeitig zeitunabhängige Sachverhalte fest, deren zeitlose Geltung daran gebunden ist, dass sie in der Vergangenheit stattgefunden haben. Fiktionale Erzählungen berichten demgegenüber über vermeintlich vergangene Ereignisse, deren zeitlose Geltung, das heißt Bezeichenbarkeit in Form von wahren Sätzen, daran gebunden ist, dass sie erzählt wurden; doch diese Zeitlosigkeit eröffnet zugleich ein Potenzial zur Repräsentation von außersprachlichen Sachverhalten, deren Geltung nicht mehr an die Zeit gebunden ist. Wie gesehen, ruft die Freisetzung der Selektion und Kombination der Elemente der Rede von ihrer Begrenzung durch referenzielle Sachverhalte die Frage nach dem Warum ihrer Kombination auf. Von hierher stammt die Affinität der fiktionalen Erzählung zur symbolischen Darstellung von Sachverhalten, deren zeitlose Geltung nicht mehr daran gebunden ist, dass sie in der Vergangenheit spielen, sondern deren Geltung die Zeit gerade überwindet.
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Ehrbare Verfinsterung: Reflexionen über das Symbolische Zu den zahlreichen Parametern der Zeit, die Der Zauberberg, explicite oder implicite, zu seinem Thema macht, gehört es auch, dass die Geschichte des Hans Castorp sich ihre eigene Zeitordnung schafft. Sie beginnt gewissermaßen mit einer neuen Zeitrechnung. Dabei ist unübersehbar, dass diese Zeitrechnung sich an jenem Modell orientiert, das in der Tat den Anfang aller Zeit sinnfällig macht, an der Genesis. Der Beginn der Zeit bemisst sich dort an der Abfolge der Tage: „Und es ward Abend, und es ward Morgen, der erste Tag.“ Diese Rechnung wird im Schöpfungsbericht bekanntlich beibehalten, bis die erste Woche vollendet ist und der Zyklus sich zu wiederholen beginnt – mit bekannt prekären Folgen.19 Anspielungen auf die Zeitrechnung der Genesis aber sind am Beginn des Zauberbergs unverkennbar. Gott, ist noch immer der erste Tag?, ruft Hans Castorp auf Joachim Ziemßens Vorhaltungen aus, als der sich ein wenig unwohl fühlende Neuankömmling mit dem Gedanken spielt, den Ort des Geschehens unverzüglich wieder zu verlassen.20 Zumal die Anrufung Gottes macht hier den Bezug zu jenem Text kenntlich, der das Muster für die Zählung der ersten Tage vorgibt.21 Auch der biblische Wortlaut zum Werden der ersten Tage wird zitiert, so als Hans Castorp wegen leichten Fiebers das Bett hüten 19 Ich sehe an dieser Stelle aus einsichtigen Gründen von jeglicher Überlegung, so verführerisch sie sein mag, zum Zusammenhang von Zeitwiederholung und Sündenfall in der Genesis ab, möchte aber auf die Beobachtung hinweisen, dass sich im Zauberberg interessanterweise die Möglichkeit, jeweils präzise die Tage zu bezeichnen, die seit Hans Castorps Ankunft in Davos vergangen sind, genau in dem Moment verliert, in dem die Woche sich für ihn zu wiederholen beginnt. Auch diesem Umstand lässt sich hier nicht des Weiteren nachgehen, nur nehme ich dies zum Anlass auf eine in Arbeit befindliche Monographie hinzuweisen, welche den Titel trägt: Zauberberg. Sprachreflexion als Wirklichkeitsrepr sentation. 20 ,Abreisen? Was f llt dir ein!‘ rief Joachim. ,Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!‘ ,Gott, ist noch immer der erste Tag?‘ (S. 117). 21 So werden denn auch die weiteren Tage nach Hans Castorps Ankunft gezählt: Der zweite Tag, den der Hospitant vollst ndig hier oben verlebt hatte, war pr chtig sommerlich gewesen (S. 131). Am dritten Tage jedoch war es genau, als ob die Natur zu Falle gebracht und jede Ordnung auf den Kopf gestellt wrde (S. 131 f.). Hier ist die Anspielung auf die Genesis mit dem Hinweis auf den Sündenfall kaum zu übersehen. An einem Dienstag war er gekommen, und so war es der fnfte Tag, ein Tag von Frhlingscharakter nach jenem abenteuerlichen Wettersturz und Rckfall in den Winter (S. 154).
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muss: Das war der Sonntag, der Montag. Aus Abend und Morgen wurde der dritte Tag von Hans Castorps Aufenthalt in der ,Remise‘, ein Wochentag ohne Auszeichnung, der Dienstag (S. 262). Die unverkennbare Ironie, mit der hier das biblische Vorbild aufgerufen ist, resultiert daraus, dass die Ereignishaftigkeit der Entstehung der ersten Tage im Schöpfungsbericht, welche noch ihre Abfolge zum Ereignis stilisiert, nun der Belanglosigkeit einer Serie von rundherum unauffälligen Tagen als Bezugspunkt dient. Diese ironische Verwendung erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass hier das Modell der Genesis ja bereits ein zweites Mal zur Charakteristik von Hans Castorps Aufenthalt herhalten muss. Das Modell des Ursprungs also wird seinerseits seriell. Von Anfang an aber ist es für die Referenz auf den Schöpfungsbericht charakteristisch, dass die zitierte Zeitordnung von jener, die sie hier zu bezeichnen hat, in spezifischer Weise abweicht. Dies fängt damit an, dass Hans Castorps Zeit im Sanatorium Berghof nicht am Morgen, sondern am Abend beginnt. Auch ist sein Ankunftstag nicht der erste Tag der Woche, sondern ein Dienstag.22 Zum Ausdruck gebracht in dieser Diskrepanz aber ist die Illusion eines jeden Anfangs. Im absichtsvoll unangemessenen Bezug auf das Modell des schlechthinnigen Beginns der Zeit wird der Anfang dieser Geschichte als ein Beginn ausgewiesen, der diesen Namen nicht recht verdient und der immer schon einer Serie der Wiederholungen zugehört, in welcher jeder Anfang sich verbietet.23 Doch was für diese Geschichte zutrifft, gilt in der Konsequenz dieser Einsicht auch für alle anderen Geschichten. Die Zeit, in der Hans Castorps Geschichte spielt, steht zu der Zeit außerhalb 22 Vgl. Anm. 21. So ist der Sonntag – ganz bibelwidrig – der sechste Tag. 23 Ich kann an dieser Stelle, ohne darauf des weiteren einzugehen, nur darauf hinweisen, dass diese systematische Infragestellung der Möglichkeit eines Anfangs der Geschichte sich auch als eine Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Poetik verstehen lässt, in welcher ja postuliert ist, dass der Beginn einer Geschichte dasjenige ist, was nicht notwendig aus etwas anderem hervorgeht. Die Plausibilität einer solchen Referenz auf die Poetik ergibt sich aus der Dichte der verschiedenen Hinweise auf diesen Text im Zauberberg. So wird der ,Held‘ Hans Castorp nicht nur als ein einfacher junger Mann vorgestellt, sondern ihm wird verschiedentlich auch das Epitheton ,durchschnittlich‘ verliehen. Einen solchen durchschnittlichen Helden, und zwar in moralischer Hinsicht, aber empfiehlt auch Aristoteles für die Tragödie; und wenn Thomas Manns Erzähler (um nicht zu sagen: er selbst) für Hans Castorps Durchschnittlichkeit deren Repräsentativität geltend macht, dann gilt auch dies schon, wiewohl in anderem Sinne, für den Helden der Tragödie in der Poetik. Ich muss es hier bei diesen Hinweisen belassen.
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seiner Geschichte, zur Zeit aller anderen, also nicht nur in einem metonymischen, sondern zugleich in einem symbolischen Verhältnis24 ; und es macht ein Kennzeichen dieser symbolischen Relation aus, dass sie auch ein analytisches Potenzial besitzt; denn sie macht Sachverhalte kenntlich, die über den einen erzählten Fall hinausreichen. Just dieses analytische Potenzial im Blick auf die Ordnungen der Zeit entfaltet in besonderer Verdichtung jenes Kapitel, welches den Titel trägt, der auch diesem Abschnitt als Überschrift vorangestellt ist: Ehrbare Verfinsterung. Zum Inhalt hat es den ersten Morgen Hans Castorps im Berghof, sein Erwachen und seine morgendliche Toilette. Zu dieser Tageszeit, zum Anbruch des hellen Tages, aber will der Titel, der eher an den Abend denken lässt, nicht recht passen. Doch im Laufe der Erzählung dieses Kapitels klärt sich auf, worauf seine Überschrift anspielt. Auf den Balkon seines Zimmers getreten, bemerkt Hans Castorp Geräusche aus dem Nebenzimmer, über deren Natur er sich nicht lange sonderliche Illusionen machen kann: Es war ein Ringen, Kichern und Keuchen, dessen anstçßiges Wesen dem jungen Mann nicht lange verborgen bleiben konnte, obgleich er sich anfangs aus Gutmtigkeit bemhte, es harmlos zu deuten. Man h tte dieser Gutmtigkeit auch andere Namen geben kçnnen, zum Beispiel den etwas faden der Seelenreinheit, oder den ernsten und schçnen der Schamhaftigkeit, oder die herabsetzenden Namen der Wahrheitsunlust und Duckm userei, oder selbst den einer mystischen Scheu und Frçmmigkeit, – von alledem war etwas in Hans Castorps Verhalten zu den Ger uschen nebenan, und physiognomisch drckte es sich aus in einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als drfe er und wolle er von dem, was er da hçrte, nichts wissen: einem Ausdruck von Sittsamkeit, der nicht ganz originell war, den er aber bei bestimmter Gelegenheit anzunehmen pflegte. (S. 59)
Hier also erklärt sich jener Titel, der so gar nicht zu dem Morgen, den das Kapitel schildert, passen wollte. Das Ehepaar vom Schlechten Russentisch gibt sich im Nachbarzimmer einer Betätigung hin, die sich ihrerseits für diese morgendliche Stunde nicht zu gehören scheint.25 Der
24 So scheint sich innerhalb der Fiktion des Romans und ihrer Zeitordnung eine Relation herauszubilden, die zugleich die Beziehung dieses Romans zur Welt außerhalb seiner selbst reflektiert. Wenn dem aber so ist, wäre dann auch die komplementäre Relation suggeriert, dass die Beziehung zwischen der Welt des Zauberbergs und der historischen Welt nicht nur eine symbolische, sondern ebenso eine metonymische ist? 25 Herrgott, Donnerwetter! Dachte er, indem er sich abwandte um mit absichtlich ger uschvollen Bewegungen seine Toilette zu beenden. Nun, es sind Eheleute, in Gottes
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für die Schilderung dieser Tageszeit ungeeignet wirkende Titel meint einen Ausdruck der Missbilligung für einen Vorgang, der moralisch anrüchig zu sein, zumindest aber den Sitten des guten Anstands zu widersprechen scheint. Die Verfinsterung, die das Licht des Morgens zu verdunkeln scheint, ist also in übertragenem Sinne zu verstehen. Der für den Morgen unpassende Titel ist also zugleich ein metaphorischer, insoweit haben wir es zugleich mit zwei semantischen Anomalien zu tun. Doch die der Tageszeit entgegengesetzte Metapher ist insoweit stimmig, als sie einem Verhalten korrespondiert, das sich seinerseits für den Morgen nicht zu ziemen scheint. Was aber bringt Hans Castorps Miene genau zum Ausdruck? In dieser Hinsicht lässt der Text bei näherem Zusehen eine gewisse Unentschiedenheit zurück: so, als drfe und wolle er von dem, was er da hçrte, nichts wissen. Die hier nebeneinander gestellten Verben werfen unweigerlich die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander auf. Wenn Hans Castorp von dem, was er hört, nichts wissen darf, will er es dann vielleicht, obwohl er es nicht darf ? Und wenn er von dem, was er bemerken muss, nichts wissen will, dürfte er es dann womöglich? Der Wortlaut im Roman setzt also mit der Kopula ,und‘ als gleichwertig nebeneinander, was sich eher auszuschließen scheint. Gerade deshalb aber haben wir allen Anlass, in dieser Gleichsetzung dessen, was sich so einfach nicht gleichordnen lässt, nicht den etwas unbedachten Sprachgebrauch eines Erzählers zu vermuten, der sich allenthalben und eben auch an dieser Stelle als ein Meister der Sprache erweist und virtuos mit ihr umzugehen versteht. Vielmehr dürfen wir darin die erlebte Rede unseres ,Helden‘ vermuten, der sich mit der doppelten Beteuerung von Verbot und Unwillen die Fragen vom Leibe halten möchte, die sich hier stellen. Denn worum geht es? Wenn er nicht hören darf, was er hört, dann verbietet der Anstand das Zuhören bei Dingen, die ihn nichts angehen. Gäbe es also ein Interesse, das zu belauschen, was der Privatsphäre anderer zugehört? Dass dies weit mehr als bloße Spekulation ist, macht der erste Satz des folgenden Absatzes durchaus kenntlich: Mit dieser Miene also zog er sich von dem Balkon ins Zimmer zurck, um nicht l nger Vorg nge zu belauschen, die ihm ernst, ja erschtternd schienen, obgleich sie sich unter Gekicher kundtaten. Die Begründung, mit der Hans Castorp sich hier das Belauschen untersagt, ist freilich nicht diejenige, die man für einen vor Namen, soweit ist die Sache in Ordnung. Aber am hellen Morgen, das ist doch stark (S. 59).
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sich selbst errötenden Voyeur erwarten müsste. (Unter den gegebenen Umständen handelte es sich freilich ohnehin um einen ,Voyeur‘, der sich mit den Wahrnehmungen des Gehörsinns zu begnügen hätte.) Zu derlei Absichten aber wollen Ernst und Erschütterung als Beweggrund für die Diskretion nicht recht passen. Dies aber führt uns zur zweiten der oben aufgeworfenen Fragen zurück. Will Hans Castorp vielleicht nicht wissen, was dem jungen Mann, als welchen ihn der Erzähler ja in dem zitierten Absatz eigens apostrophiert, zu wissen durchaus anstünde? Versagt er sich – aus Scham oder Furcht – nachzudenken über das, was er durchaus wissen sollte? In diesem Sinne fällt übrigens auf, dass die Empörung über das Ehepaar vom Schlechten Russentisch beständig die Begründung wechselt26, wodurch sie sich unvermeidlich wechselseitig in Frage stellen und darum unweigerlich die Frage aufkommt, ob hier anderes als das ausdrücklich Genannte im Spiel ist. Bezieht sich die ehrbare Verfinsterung also auf die Ungehörigkeit eines Verhaltens im Augenblick, in dem es ihm begegnet, oder gilt sie generell einem Phänomen, das von seinem Leben grundsätzlich fernzuhalten Hans Castorp fürs erste entschieden zu sein scheint? An wen schließlich richtet sich der Ausdruck der Missbilligung? An jene, die sich in seinen Augen eines unziemlichen Verhaltens schuldig machen und die doch den Tadel nicht sehen können, den seine Miene ihnen erteilt, weil eine Wand sie trennt? Denn Hans Castorp hat durchaus ein Interesse daran, dass sie auf ihn aufmerksam werden, erfuhren wir doch, dass er mit absichtlich ger uschvollen Bewegungen seine Toilette zu Ende bringt (die denn als Körperpflege auch in einer bemerkenswerten, wohl ihrerseits wiederum vieldeutigen Beziehung zu dem steht, was er selbst als „tierisch“27 empfindet). Oder wäre Hans Castorp selbst der wie heimlich auch immer zu 26 Nun es sind Eheleute, in Gottes Namen, soweit ist die Sache in Ordnung. Aber am hellen Morgen, das ist doch stark. Und mir ist ganz, als h tten sie schon gestern Abend keinen Frieden gehalten. Schließlich sind sie doch krank, da sie hier sind, oder wenigstens einer von ihnen, da w re etwas Schonung am Platze. Aber das eigentlich Skandalçse ist selbstverst ndlich, dachte er zornig, dass die W nde so dnn sind und man alles so deutlich hçrt, das ist doch ein unhaltbarer Zustand! Billig gebaut natrlich, sch ndlich billig gebaut! (S. 59 f.). Nicht allein der mehrfache Wechsel für die Begründung seiner Empörung ist von Belang, bemerkenswert erscheint auch, dass am Ende als eigentlicher Skandal nicht etwa das Verhalten der Leute selbst begriffen ist, sondern die fehlenden Vorrichtungen, die es vor ihm verbergen könnten. 27 Und plçtzlich errçtete er unter seinem Puder, denn was er deutlich hatte kommen sehen, war gekommen und das Spiel nun ohne Zweifel ins Tierische bergegangen (S. 59). Die Selbstermahnungen, vom Lauschen zu lassen, haben offenbar wenig gefruchtet.
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nennende Adressat seiner Unmutsäußerung, weil er sich selbst für sein uneingestandenes Interesse für etwas zu bestrafen hat, das zu belauschen sich nicht geziemt oder wovon Kenntnis zu nehmen, er sich unbedingt untersagen will? So steht denn hinter der ehrbaren Verfinsterung, welche die Nachbarn vom Schlechten Russentisch nicht sehen können, auch die Frage nach dem Status der moralischen Norm und ihrem Ausdruck. Ist die Missbilligung im Gesicht Hans Castorps gewissermaßen die selbstverständliche Reaktion auf einen Verstoß gegen das Sittengesetz, dessen Substanzialität sich gerade darin beweist, dass sich diese Reaktion auch dann noch – wie ein natürlicher Reflex – einstellt, wenn sie ihren Adressaten nicht erreichen kann – als gelte sie nichts anderem als dem Verstoß gegen die Moral als solchem? Oder richtete sich die verfinsterte Miene an ihren Urheber selbst, er sie freilich auch nicht sehen kann, wohl aber spüren könnte? Was hier zur Debatte steht, ist also auch die Natürlichkeit der Moral und der Mittel, sie zur Geltung zu bringen. In dieser Hinsicht aber gibt uns der Text einen nicht eben ermunternden Hinweis. Denn von Hans Castorps ehrbarer Verfinsterung erfahren wir ja auch, es handle sich um einen Ausdruck von Sittsamkeit, der nicht ganz originell war, den er aber bei bestimmter Gelegenheit anzunehmen pflegte. Gleich zweimal ist hier die Natürlichkeit von Hans Castorps Sittsamkeitsausdruck in Zweifel gezogen. Wenn er diesen Ausdruck zuweilen anzunehmen pflegte, dann erweckt dies den Eindruck, er selbst sei nichts als eine Angewohnheit. Ist dem aber so, wie steht es dann um jene Moral, die er zum Ausdruck bringt und die doch selbst beansprucht, alle Angewohnheiten – und zumal solche, wie die zum Verdruss unseres Helden im Augenblick beobachteten – im Namen eines höheren Prinzips zu kontrollieren und zu regulieren. Was also hat Hans Castorp sich konventionell angeeignet? Den Ausdruck des Sittengesetzes oder vielmehr dieses selbst? Und wenn dessen Ausdruck nur übernommen ist, dann passt es dazu auch, wenn es von diesem heißt, er sei nicht originell, will sagen: nicht authentisch, sondern eben – nur – Konvention. Freilich wirkt der hier benutzte Begriff der Originalität in diesem Zusammenhang auch ein wenig überraschend, verwenden wir ihn doch eher im Falle von Kunstwerken oder auch geistreichen Äußerungen, also dort, wo Kunstfertigkeit oder Witz verlangt ist. Sie aber scheinen gerade dort nicht am Platze zu sein, wo es um die Bestätigung dessen geht, was ganz unabhängig von der eigenen Person, eben schlechthin Geltung besitzt. Wäre hier nicht nur das ganz Übliche, das ganz und gar
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Unoriginelle das Angemessene? Wäre die Erwartung, ein Ausdruck von Empörung habe originell zu sein, am Ende nur ein Hinweis mehr auf die Labilität einer Moral, deren Geltung womöglich vom Raffinement ihres Ausdrucks abhängt? Wie also verhalten sich die Moral und ihr Ausdruck zueinander? Nun hat es mit dem Begriff der Originalität in diesem Abschnitt jedoch noch eine weitere Bewandtnis. Denn er bezieht sich nicht allein auf eine allgemeine Konvention. Für jene ehrbare Verfinsterung, die Hans Castorps Miene zeigt, lässt sich vielmehr ein sehr präziser Moment benennen, in dem sie ihm zum ersten Mal begegnet ist. Es war ein höchst prägender Augenblick seiner Kindheit, und er steht im Zusammenhang mit dem Tod des Großvaters, bei dem der kleine Hans Castorp nach dem frühen Ableben seiner Eltern aufgewachsen war. Eindrucksvoll, mit allen Attributen seiner irdischen Ehren ausgestattet, ist der Großvater aufgebahrt, und sein Anblick erinnert deutlich an denjenigen, den das Porträt des Senators Hans Lorenz Castorp im Empfangszimmer bot, in dem der Enkel stets dessen eigentliche und wirkliche [Erscheinung] (S. 41) gesehen hatte.28 Tod und Kunst sind hier in einen auffälligen Bezug zueinander gerückt. Indessen kommt es am Sarg des Großvaters zu einem kleinen Zwischenfall: Der kleine Hans Castorp betrachtete den wachsgelben, glatten, k sig-festen Stoff, aus dem die lebensgroße Todesfigur bestand, das Gesicht und die H nde des ehemaligen Großvaters. Eben ließ eine Fliege sich auf die unbewegliche Stirne nieder und begann, ihren Rssel auf und ab zu bewegen. Der alte Fiete verscheuchte sie vorsichtig, indem er sich htete die Stirn dabei zu berhren, und mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als drfe und wolle er von dem, was er tat, nichts wissen – einem Ausdruck von Sittsamkeit, der sich offenbar auf die Tatsache bezog, dass der Großvater nur noch Kçrper und nichts weiter mehr war; allein nach schweifendem Auffluge nahm die Fliege auf den Fingern des Großvaters, in der N he des Elfenbeinkreuzes, kurz aufsitzend wieder Platz. W hrend aber dies geschah, glaubte Hans Castorp deutlicher als bisher jene von frher her vertraute leise, aber so ganz eigentmlich z he Ausdnstung zu verspren, die ihn besch menderweise an einen mit einem l stigen bel behafteten und darum allseits gemiedenen Schulkameraden erinnerte, und die zu bert uben der Duft der Tuberosen unterderhand bestimmt war, ohne es bei aller schçnen ppigkeit und Strenge imstande zu sein. (S. 44) 28 So war er denn auch im Herzen einverstanden, dass der Großvater in seiner Richtigkeit und Vollkommenheit prangte, als es eines Tages hieß, Abschied zu nehmen. Das war im Saale, demselben Saal, wo sie so oft am Esstisch einander gegenber gesessen; in seiner Mitte lag Hans Lorenz Castorp nun auf der von Kr nzen umstellten und umlagerten Bahre im silberbeschlagenen Sarge (S. 41).
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So, als drfe und wolle er von dem, was er tat, nichts wissen: Das ist – fast – wörtlich die Formulierung, die auch Hans Castorps ehrbare Verfinsterung kommentiert, als er bei den bewussten Ger uschen von nebenan die Miene verzieht. Nur heißt es dort: von dem, was er da hçrte, nichts wissen. Dieser Unterschied ist nun insofern bemerkenswert, als er zu erkennen gibt, dass sich die betreffende Unmutsäußerung in der Tat auf eigenes wie fremdes Verhalten beziehen kann. Damit aber bestätigt sich jene Ungewissheit über den Adressaten der Verfinsterung, die wir bei unserer Untersuchung von Hans Castorps Reaktion auf das Geschehen im Nachbarzimmer beobachten konnten. Diese bis in die Identität von ganzen Sätzen reichende Parallele zwischen beiden Szenen aber kommt geradezu einer Aufforderung gleich, sie des Näheren miteinander zu vergleichen. Worin besteht die Gemeinsamkeit zwischen der Fliege, die sich hartnäckig auf den Körper des toten Großvaters setzen möchte, und den Geräuschen, welche das Treiben des Ehepaars vom Schlechten Russentisch verursacht? Es fällt angesichts des offensichtlichen Bezugs, der zwischen beiden Geschehnissen hergestellt ist, schwer, ein Detail der Begebenheiten an der Totenbahre nicht in einem Sinn zu deuten, der auf die offensichtlich mehr als eine eheliche Pflicht der Nachbarn bedeutende Verrichtung vorausdeutet. Denn warum sonst wäre so viel Nachdruck auf den Rüssel der unziemlichen Fliege gelegt, von dem es heißt, dass sie begann, ihn auf und ab zu bewegen? Eine Antwort auf diese Frage aber lässt sich gewinnen, wenn wir diesem nur scheinbar nebensächlichen Detail einen gewissermaßen figuralen Sinn zusprechen, der sich spätestens dann erfüllt und konkretisiert, wenn im Nachbarzimmer das Spiel nun ohne allen Zweifel ins Tierische übergeht. Mit diesem Adjektiv hat es deshalb eine komplementäre Bewandtnis. Es ist hier zunächst kaum anders als im übertragenen, also symbolischen Sinn zu verstehen. Denn so degoutant Hans Castorp die beobachteten Vorgänge auch vorkommen mögen, sie spielen sich gleichwohl zweifelsfrei unter Menschen ab; und wenn ihr Spiel ins Tierische übergeht, so gehört doch wohl auch dieses ganz unstrittig der Sphäre des Humanum an. Doch eben diese Differenz zwischen dem proprium und dem translatum wird überspielt durch die Parallele zur unbotmäßigen Fliege, die nun ganz gewiss zu jenen animalia zählt, die man kaum rationalia wird nennen wollen, und die sich deshalb unvermeidlich tierisch verhält. Und wenn sich hier also der Unterschied zwischen bios und Ethik verwischt, dann gilt dies genauso für die Reaktion des Hans Castorp. Denn, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört, der sich womöglich dabei ertappt, wie er
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belauscht, worüber er bestenfalls hinwegzuhören hätte: Er errötet. Doch die Ursache dieser Röte bleibt zwiespältig: Und hier wunderte sich Hans Castorp. Denn er bemerkte, dass die Rçte, die ihm vorhin in die frisch rasierten Wangen gestiegen war, nicht daraus weichen wollte, oder doch nicht das W rmegefhl, wovon sie begleitet gewesen, sondern fix darin stand und nichts anderes als jene trockene Gesichtshitze war, an der er gestern abend gelitten, deren er im Schlafe ledig geworden und die bei dieser Gelegenheit sich wieder eingestellt hatte. (S. 60)
Was ist die ,eigentliche‘ Ursache dessen, was sich nun nicht mehr mit Gewissheit als Effekt der Scham begreifen lässt? Die pure biologische Kausalität oder doch die Moral, oder beides zusammen? Der Unterschied zwischen ihnen verschwimmt bis zur Unkenntlichkeit. Worin besteht, so müssen wir weiterhin fragen, der Effekt jener Parallelisierung zwischen der Szene am Sarg des Großvaters und dem morgendlichen Geschlechtsakt im Nachbarzimmer? Natürlich ist hier, und das ist für den Zauberberg kaum überraschend, weil es seinen sattsam bekannten basso continuo ausmacht, der Zusammenhang von Eros und Thanatos aufgerufen, deren Körperlichkeit sie beide einander ähnlich macht; und so erklärt sich denn die ehrbare Verfinsterung im einen wie im anderen Falle denn auch als Abwehr von etwas allzu Körperlichem. Indessen wird der präzisere Sinn der hier hergestellten Parallele erst sichtbar, wenn wir in beiden Fällen den jeweiligen Kontext berücksichtigen, dessen Gemeinsamkeiten ungleich weniger evident sind und die doch der Korrespondenz der beiden Szenen ihren spezifischen und grundsätzlichen Sinn verleihen. Das Skandalon der Fliege, die sich unbedingt auf dem Körper des toten Großvaters niederlassen möchte, besteht offensichtlich darin, dass hier gerade alle Anstalten unternommen worden sind, um die Körperlichkeit des Todes zum Verschwinden zu bringen. Nicht nur ist der Senator mit allen Zeichen seiner irdischen Würden ausgestattet aufgebahrt, die Angleichung der lebensgroße[n] Todesfigur an das lebensgroße Bildnis (S. 39) aus dem Empfangszimmer scheint recht weitgehend gelungen, also die Verwandlung des Toten in ein Kunstwerk (welche übrigens die hier nicht weiter zu diskutierende Frage aufwirft, inwiefern auch das Umgekehrte gilt, inwiefern alle künstlerische Abbildung mit der Enthebung der dargestellten Person in die Zeitlosigkeit seiner Erscheinung ihn auch schon dem Tod annähert). Aber wie immer es darum bestellt sein mag, die Provokation der Fliege auf der Leiche des Hans Lorenz Castorp beruht darauf, dass sie letztlich alle Versuche, die
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Körperlichkeit des Todes mit den Mitteln, welche die Kultur bereitstellt, dementiert. Dies kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als darin, dass sie auch die Wahrnehmung auf das lenkt, was zuvor unbemerkt blieb. Denn erst jetzt beginnt Hans Castorp den Verwesungsgeruch zu spüren, den er zuvor nicht festgestellt hatte. Für die Logik dieser Beobachtung ist es nicht uninteressant, dass die Fliege die Aufmerksamkeit auf die Ursache ihres Verhaltens lenkt und erst dadurch die ganz eigentmlich z he Ausdnstung zu verspren ist, die zu bert uben dem Duft der Blumen bis zu diesem Moment gelungen war. Fast hat es den Anschein, als arbeiteten hier die verschiedenen Strategien der Kultur gegeneinander. Dass die Fliege das Interesse der Beobachter auf den Grund ihres Verhaltens ausrichtet, entspricht einem höchst rationalen Vorgehen. Doch eben diese Rationalität macht im gleichen Zug den Versuch zunichte, das unvermeidlich Gegebene zu bert uben; das rationale Verhalten zerstört den Schein. Übrigens ist hier noch einmal das Verbum von besonderem Belang, denn es ruft ja gewissermaßen eine synästhetisch falsche Sinneswahrnehmung auf. Es macht das Ohr namhaft, wo es doch um den Geruch geht. Aber damit ist wiederum auf jene akustischen Phänomene vorausgedeutet, denen Hans Castorp ganz ungeschützt ausgesetzt sein wird. Und hatte er sich nicht über die billige Bauweise des hellhörigen Sanatoriums empört, die ihn nötigt, anzuhören, wovor er lieber die Ohren verschließen möchte? Auf diese Weise aber rückt die von Hans Castorp erwartete solide Architektur, die vor allen akustischen Belästigungen zu bewahren hat, in eine auffällige Parallele zu den stark riechenden Blumen, die den Geruch des Toten zu bannen haben und denen dies doch nur so lange glückt, bis die Scharfsicht der Vernunft ihre Wirkung aufhebt. Erschiene damit in letzter Konsequenz alle Kultur als die Errichtung eines letztlich brüchigen Scheins, als Effekt von Strategien der Verdrängung von Natur und Körperlichkeit, welche dieselbe Vernunft durchschauen lässt, die sie ersonnen hat? Und setzte die Wirklichkeitsdarstellung des Romans, die Repräsentation und Analyse bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander zu verbinden scheint, insoweit nicht nur in aller Konsequenz fort, was selbst dem noch kindlichen Hans Castorp durch sein eigenes rationales Verhalten nicht mehr verborgen bleiben kann? Wenn ich diese Fragen hier erwartbar als rhetorische stelle, dann vor allem eben deshalb, weil die Korrespondenz der beiden Szenen im Text Dinge zueinander bringt, deren Zusammenhang man fürs Erste kaum vermuten möchte. In diesem Sinne hat es nun mit dem Duft der
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Blumen seine besondere Bewandtnis. Denn auch Hans Castorp versäumt es nicht, sich bei seiner Morgentoilette mit grner Lavendelseife zu waschen und für seine Rasur mit parfmiertem Schaum die Wangen zu bedecken (S. 57). Auch in der Seife steckt also der Duft von Blumen, und enthielte der parfümierte Schaum womöglich einen leisen Hinweis auf die Flüchtigkeit all solcher Bemühungen? Übrigens, was die Gerätschaften angeht, die er zu diesem Zweck einsetzt, fällt denn doch der versilberte Hobel auf, der unvermeidlich an die Bahre im silberbeschlagenen Sarge des Großvaters zurückdenken lässt. Die Morgentoilette des Hans Castorp aber weist damit zu vielfältige Gemeinsamkeiten mit jenen Anstalten auf, die man vornahm um die biologischen Effekte des Todes zu überspielen, um nicht auf ihre verborgenen Gemeinsamkeiten hinzuweisen. Hier wie dort gilt es, für die Lebenden wie für die Toten, die Wirkungen ihrer Körperlichkeit zu bert uben: Hans Castorp hatte gefrchtet, die Zeit zu verschlafen, da er so beraus mde gewesen war, aber er war frher als nçtig auf den Beinen und hatte Muße im
berfluss, seinen Morgengewohnheiten ausfhrlich nachzukommen, hochzivilisierten Gewohnheiten, unter denen eine Gummiwanne sowie eine Holzschale mit grner Lavendelseife nebst zugehçrigem Strohpinsel eine Hauptrolle spielten, – und mit den Gesch ften der S uberung und der Kçrperpflege das andere des Auspackens und Einr umens zu verbinden. (S. 57)
Da ist sie also, die Zivilisation, und in der Körperpflege steckt gleich noch ihre Schwester, die Kultur, ganz im etymologischen Sinne des Wortes; und das für den Augenblick ganz unkontroverse Neben- und Miteinander von Kultur und Zivilisation scheint allen ideologischen Zwist, der sie sonst entzweit, vergessen zu lassen. Doch im Zeichen dieser Zivilisiertheit wird auch das einander ähnlich, was man für gänzlich unterschiedlich halten mag. Seife und Parfum rücken mit einem Mal in die Nähe der Blumen am Sarg, und selbst dort, wo die Zeichen der Zivilisation keine unmittelbar domestizierenden Zwecke erfüllen, werden sie äquivalent. Zweifelsohne dient der Silberbeschlag am Sarg nicht anders als die Versilberung des Hobels, mit dem Hans Castorp sich rasiert, dem Zierrat. Hier wie dort ist das – ,rohe‘ – Holz mit kostbarem Material überzogen. So fällt denn auch bei der Fülle der Utensilien, mit denen der Neuankömmling seine Morgentoilette bestreitet, auf, dass sie von der Holzschale über den Strohpinsel bis zur Gummiwanne ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Stoffe versammeln, die jeweils auch ein verschiedenes Maß an Bearbeitung der Natur, also an Kultur, implizieren. Folglich spiegelt sich in den Instrumenten, derer sich Hans Castorp für seine Morgentoilette, für die zivilisierten
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Gesch fte der S uberung und der Kçrperpflege bedient, ihrerseits jene ,Grauzone‘ von Natur und Kultur, in der sich die morgendlichen Aktivitäten des ,Helden‘ selbst abspielen. Womöglich nimmt unter diesen Utensilien der versilberte Hobel eine geradezu emblematische Rolle ein. Denn er markiert mit den Assoziationen des Groben, wo nicht Gewaltsamen welche ein Hobel, und denen des Kostbaren und eben Zivilisierten, welche das Silber unvermeidlich auslösen, noch einmal jene Zwieschlächtigkeit, welche der kulturellen Domestizierung des Körpers unweigerlich anhaftet. Vielleicht ist deshalb die erwähnte Eintracht von Kultur und Zivilisation auch der Brüchigkeit ihrer Effekte gescheitert. Denn ebenso, wie alle zivilisatorischen Maßnahmen zur Maskierung des Todes letztlich scheitern, ebenso wird auch Hans Castorps hochkulturelle Morgenzeremonie, die gleichfalls alle Körperlichkeitseffekte aus diesem Beginn des Tages vertreiben möchte, nicht verhindern können, dass eben diese mit aller Macht in den Morgen einbrechen. In dieser Hinsicht ist es übrigens bemerkenswert, dass die Ursachen dieser Störung sehr unterschiedliche sind. Zum einen ist es ein kausal-biologischer Zusammenhang, der dazu führt, dass die Bemühungen, die Anzeichen der Verwesung unkenntlich zu machen, scheitern, weil die Fliege sich gewissermaßen an den Comment nicht hält und nicht halten kann, selbst dann nicht als sie verscheucht wird, und eben dadurch auf das aufmerksam macht, was zu verbergen man alles darangesetzt hatte. Zum anderen ist es das Sozialverhalten der Nachbarn, die sich an eine Verhaltensregel der Zivilisation nicht halten, obwohl sie es doch vermöchten, und damit die morgendliche Ordnung stören. Doch so evident die Unterschiede sein mögen, so brüchig erweist sich diese Opposition bei näherem Zusehen. Denn als Verletzung des Anstands versteht Hans Castorp das Verhalten der Nachbarn, die sich vermutlich noch nicht einmal gewiss sind, dass man sie allzu deutlich beobachten kann. Und wäre nur die Wand etwas dicker, wäre dann nicht alles in Ordnung? Und wie steht es eigentlich um ihr Treiben? Ist es am Ende auch in diesem Fall die Kausalität der Natur, die dazu führt, dass sie sich verhalten, wie sie es nun einmal tun? Wäre der Unterschied zur Fliege insoweit nicht nur ein gradueller, statt ein kategorialer zu sein – ganz im Sinne jener Doppelkodierung des Adjektivs ,tierisch‘, welche die Differenz zwischen seinem übertragenen und seinem wörtlichen Gebrauch einebnet. Und dass alle Bemühungen um das Vertreiben der Körperlichkeit auch grundsätzlich zum Scheitern verdammt sein können, belegt nicht zuletzt die Assoziation, welche der üble Geruch des verwe-
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senden Großvaters bei seinem Enkel auslöst. Denn Hans Castorp muss, so beschämend ihm dies auch erscheint, unwillkürlich an einen mit einem l stigen bel behafteten und darum allseits gemiedenen Schulkameraden denken. Bei ihm scheint alle noch so zivilisierte Bemühung vergebens zu sein, und auch dies macht die Brüchigkeit aller Kultur bei der Austreibung der Natur kenntlich. Zudem belegt diese Erinnerung, dass, was sich in der Konfrontation mit dem Tode zeigt, nur die Verdichtung dessen ist, was auch das Leben kennzeichnet: die stets nur ungenügende Domestizierung des Körperlichen. Und so bildet der übelriechende Schulkamerad gewissermaßen das Bindeglied zwischen der Szene an der Totenbahre des Senators und der morgendlichen Toilette am Tag nach der Ankunft im Sanatorium. Allseits gemieden wird der mit dem lästigen Übel behaftete Schulkamerad, welche Information übrigens einen versteckten Widerspruch erzeugt zwischen der sozialen Nähe, die der Begriff ,Kamerad‘ unweigerlich zu suggerieren scheint, und jener Distanz, in die man sich ihm gegenüber begibt, weil sein körperlicher Mangel den Umgang mit ihm unangenehm macht. Damit aber ist noch einmal das Verhältnis von Körperlichkeit und Sozialität aufgerufen, welches ja schon für die Beziehung zum – aus Hans Castorps Sicht – liederlichen Russenpaar eine Rolle spielte. Die beiden Fälle aber stehen zugleich komplementär zueinander. Das körperliche Defizit erzeugt Einsamkeit, wo die mit dem Begriff ,Kamerad‘ benannten sozialen Voraussetzungen gerade besondere Geselligkeit erwarten lassen. Umgekehrt überschreitet das Ehepaar vom Schlechten Russentisch die Grenzen der Intimität, wo besondere Diskretion gefordert ist. Doch hier wie dort scheint Unschuld im Spiel zu sein. Denn der beklagenswerte Junge kann an seinem Mangel nichts ändern und die Eheleute aus dem Nachbarzimmer ahnen vermutlich nicht, wen sie alles an ihrem Vergnügen teilhaben lassen, wobei in ihrem Falle freilich Fahrlässigkeit nicht ganz auszuschließen ist. Die Zuordnung von Körperlichkeit und Privatheit besitzt insoweit in beiden Fällen auch ganz unterschiedliche, wo nicht gegensätzliche moralische Implikationen. Die Einsamkeit des übelriechenden Schulkameraden ist letztlich ein Effekt einer der Selbstsucht geschuldeten Hartherzigkeit, während die mögliche mangelnde Rücksichtnahme beim morgendlichen Liebesspiel gerade die Überschreitung der Privatheit zum kleinen Skandal der Sitten macht. Indessen spielt unser Kapitel Ehrbare Verfinsterung auch mit den Grenzen und Brüchen jener Regel, welche Körperlichkeit und Intimität einander zuordnet, und
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diesmal ist es fatalerweise der so zivilisationsbewusste Hamburger Patrizierspross selbst, der sich womöglich nicht ganz an die Regeln hält: Indes er sich die H nde trocknete, trat er mit gepuderten Backen, in seiner fil d’cosse-Unterhose und roten Saffian-Pantoffeln auf den Balkon hinaus, der durchlief und nur vermittelst undurchsichtiger, nicht ganz bis zum Gel nder vortretender Glasw nde in einzelne Zimmerbereiche geteilt war. (S. 57)
Die Trennwände scheinen den Balkon zur Verlängerung des Zimmers zu machen, und weil sie undurchsichtig sind, scheinen sie auch jene Privatheit zu garantieren, die der eigene Raum gewährt. Nun haben wir freilich schon für die Zimmer im Sanatorium Berghof bemerken müssen, dass die Wahrung der Intimität dort empfindliche Lücken hat, und so fällt es denn auch ins Auge, wenn es heißt, dass die Glaswände nicht ganz bis zum Geländer hervortreten. Der Schutz der Privatheit ist insoweit ein brüchiger, doch die eigentliche Gefährdung, der sich Hans Castorp aussetzt, ohne angemessene Bekleidung gesehen zu werden, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Denn wie steht es um die Einsehbarkeit des Balkons vom Garten her? Eine Frau ging im Garten umher, eine ltere Dame von dsterem, ja tragischem Aussehen. Vollst ndig schwarz gekleidet und um das wirre schwarzgraue Haar einen schwarzen Schleier gewunden, wanderte sie ruhelos und gleichm ßig rasch, mit krummen Knien und steif nach vorneh ngenden Armen auf den Pfaden dahin und blickte, Querfalten in der Stirn, mit kohleschwarzen Augen, unter denen schlaffe Hauts cke hingen, starr von unten geradeaus. (S. 58)
Die trübselige Erscheinung, so werden wir schon bald aus dem Munde Joachim Ziemßens erfahren29, ist die allseits Tous-les-deux genannte Dame, deren beide Söhne an Tuberkulose erkrankt sind und die jedem, den sie trifft, in gebrochenem Französisch von ihrem unglücklichen Schicksal berichtet, und von nichts anderem – was ihr den nicht eben philanthropischen Spitznamen eingetragen hat. Was in unserem Zusammenhang aber zunächst interessiert, sind die erwähnten Details ihrer äußeren Erscheinung, Alles deutet darauf hin, dass sie aus der Perspektive Hans Castorps geschildert werden, der vom Balkon in den Garten des Berghofs hinabblickt, der denn auch ausdrücklich als Urheber dieser Beobachtungen apostrophiert wird: Ihr alterndes, sdlich blasses Gesicht mit dem großen, verh rmten, einseitig abw rts gezogenen Mund erinnerte Hans Castorp an das Bild einer berhmten Tragçdin, das ihm einmal zu Gesichte gekommen, und unheimlich war es zu sehen, wie die 29 Vgl. S. 61.
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schwarzbleiche Frau, offenbar ohne es zu wissen, ihre langen, gramvollen Tritte dem Takt der herberklingenden Marschmusik anpasste. (S. 58)
Hans Castorp sieht also sehr genau, aber das bedeutet doch wohl auch, dass er ebenso genau gesehen wird, oder zumindest gesehen werden kann. Gewiss, die Kleidungsstücke, die er trägt, sind vom feinsten, fil d’cosse und Saffian, auch sie gehören zu jenem hochzivilisierten Erscheinungsbild, auf das Hans Castorp so großen Wert legt. Doch die Unterhose ist gleichwohl kein Kleidungsstück, mit dem man sich außerhalb der Privatsphäre präsentiert, und so hat er Glück, dass die Dame so gänzlich mit sich selbst beschäftigt ist, dass sein für die Öffentlichkeit nicht sonderlich geeigneter Aufzug nicht weiter auffällt. Dass hier indessen durchaus Gefahr im Verzug ist oder doch wäre, gibt der ausdrückliche Hinweis auf die Richtung des Blicks der merkwürdigen Gestalt zu erkennen. Denn sie schaut starr von unten geradeaus, also nach oben. So unstrittig die Unterschiede zum Verhalten der Eheleute im Nachbarzimmer sind, auch Hans Castorp geht ein wenig unachtsam mit den Regeln für die Wahrung körperlicher Intimität um. Insoweit wird auch er, selbst wenn in beträchtlich anderem Ausmaß, ans Hans Casto ein wenig ,schuldig‘ in der mangelnden Diskretion beim Umgang mit dem Körperlichen, über die er sich zum anderen so gewaltig empört. Übrigens besitzt diese Unachtsamkeit in der Gegenüberstellung mit der trauernden Frau noch eine weitere Dimension. Kaum zufällig kommt Hans Castorp bei ihrem Anblick der Vergleich mit der berühmten Tragödin in den Sinn, deren Bild ihm einmal zu Gesichte gekommen war. Wenn die schwarze Erscheinung also Assoziationen an eine Schauspielerin auslöst, dann wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie ja in der Tat ihren Schmerz offensichtlich in aller Öffentlichkeit darbietet, auf dass jeder ihn wahrnehme. Sie stellt ihr Leiden zur Schau, und eben dies macht sie einer Schauspielerin ähnlich, die Hans Castorp von seinem Balkon aus beobachtet; und schon bei der ersten Anfahrt zum Sanatorium hatte er ja ein Gebäude mit lauter Balkonlogen erblickt.30 Die 30 Sie hatten die unregelm ßig bebaute, der Eisenbahn gleichlaufende Straße ein Stck in Richtung Talachse verfolgt, hatten dann nach links hin das schmale Geleise gekreuzt, einen Wasserlauf berquert und trotteten nun auf sanft ansteigendem Fahrweg bewaldeten H ngen entgegen, dorthin, wo auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau, die Front sdwestlich gewandt, ein langgestrecktes Geb ude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem lçcherig und porçs wirkte wie ein Schwamm, soeben die ersten Lichter aufsteckte (S. 17). Die Implikationen der Loge, mit welcher die Balkone
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auf das Theater zielenden Implikationen dieses Begriffs erfüllen sich also nun, und sie werden dies im Laufe der Geschehnisse, von denen Der Zauberberg erzählt, immer wieder tun. Aber diese Relation von Bühne und Zuschauerraum ist reversibel, denn auch Hans Castorp präsentiert sich, wiewohl unbedacht, all denen, die ihn in seinem für die Öffentlichkeit nicht gedachten Aufzug sehen könnten, und einzig die besonderen, aber nicht absehbaren Umstände führen dazu, dass dies nicht geschieht. So setzt sich der unvorsichtige Hans Castorp in der Unterhose gedankenlos den Blicken derer aus, die ihn so eigentlich nicht sehen sollten, während Tous-les-deux ein Unglück zur Schau trägt, das gleichermaßen in die Intimität der Privatsphäre gehört, und einzig, weil sie so mit ihrer Selbstdarstellung beschäftigt ist, bleibt die Unachtsamkeit des Hans Castorp unbemerkt. Hier wie dort bleibt das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit prekär.31 Wie die zuletzt gemachte Beobachtung belegt, beschränkt sich die Demonstration der Brüchigkeit kulturell-symbolischer Ordnungen nicht allein auf die Mechanismen und Strategien zur Domestizierung des Körpers; auch darüber hinaus erweisen sich diese symbolischen Ordnungen als labil, auch wenn die Erkundung der Relation zwischen Natur und Kultur zweifellos der Rolle des Körpers besonderes Gewicht beimisst. Das gesamte Kapitel Ehrbare Verfinsterung aber zielt letztlich auf die Problematisierung jener Semantik des Morgens, die Hans Castorp, zweifelsohne einer allgemein üblichen Überzeugung folgend, als gültig sprachlich assoziiert werden, kommen hier noch nicht in den Blick. Der Vergleich mit dem löchrigen, porösen Schwamm ruft vielmehr ein anderes assoziatives Potenzial hervor, das sich – fatalerweise – auf jene Krankheit der Lunge bezieht, deren Heilung das Sanatorium verspricht. So bringt schon sein erster Anblick jene Labilität der ärztlichen Kunst all derer, die hier wirken, zum Ausdruck, welche die Geschichte, von welcher der Roman berichtet, immer wieder bestätigen wird. 31 Natürlich führt ein entsprechender Bezug auch von Tous-les-deux zu den Eheleuten vom Schlechten Russentisch. Denn auch sie machen ja unbedacht etwas öffentlich, das ihrer eigenen Wahrnehmung vorbehalten bleiben sollte, während die Trauernde in der Öffentlichkeit inszeniert, was dort nicht hingehört. Indessen sind das Ehepaar und Tous-les-deux noch vermittels einer weiteren Opposition einander gegenübergestellt. Wenn Hans Castorp in der trübsinnigen Gestalt das Bild einer Tragödin wiedererkennt, dann impliziert diese Assoziation das Schauspiel. Mit dem Spiel aber haben auch die ausdrücklich als Szene bezeichneten Unternehmungen im Nachbarzimmer zu tun. Nur ist diese unbedachte Vorführung von provozierender Heiterkeit, während die der Tragödin gleichende Frau einen Ernst verbreitet, der alles Spielerische vergessen macht.
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voraussetzt und der er sich denn überlässt, obwohl sie von allem Anfang an in Frage gestellt ist: Sehr ausgeruht fhlte er sich eben nicht, aber frisch mit dem jungen Tage. (S. 57). Doch der junge Tag wird alles tun, um jene also von Beginn an brüchige Illusion der Frische zu zerstören, angefangen damit, dass schon die Witterungsbedingungen alles andere als diejenigen eines strahlenden Morgens sind.32 Der Auftritt von Tous-lesdeux ruft bei ihm den Eindruck hervor, als verdunkele ihre Erscheinung die Morgensonne (S. 58). Doch, wie wir wissen, ist es mit dieser morgendlichen Sonne nicht weit her, denn allenfalls fällt einmal ein „Sonnenblick“ ein. Auch hier verdankt sich der Eindruck weit mehr einer symbolischen Erwartung als den faktischen Gegebenheiten. Zugleich aber leitet diese Verdunkelung vom physischen Licht zum symbolischen über. Denn das Schwarze, das die Erscheinung der trübsinnigen Gestalt bestimmt, beschränkt sich nicht nur auf diese reichlich an ihr zu bemerkende Farbe, einen entsprechenden Effekt erzeugt auch die ostentative Traurigkeit, welche die Frau umgibt. Vollends gestört aber ist die Ordnung des Morgens in dem Moment, als Hans Castorp der Vorgänge im Nebenzimmer gewahr wird, die ihm zutiefst der Nacht zuzugehören scheinen, und so reagiert er denn mit jener ehrbaren Verfinsterung, mit der er nun selbst das – freilich ohnehin nicht recht leuchtende – Licht des Morgens vertreibt; und diesmal ist die Finsternis eine nur noch metaphorische.33 Die Ehrbare Verfinsterung, die dem Kapitel den Namen gibt und die so gar nicht zur Tageszeit zu passen scheint, erweist ihre Angemessenheit also gerade darin, dass sich die vermeintliche Diskrepanz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem in Wahrheit als der Schlüssel zu 32 Der Morgen war khl und wolkig. Gestreckte Nebelb nke lagen unbeweglich vor den seitlichen Hçhen, w hrend massiges Gewçlk, weißes und graues, auf das fernere Gebirge niederhing. Flecken und Streifen von Himmelsblau waren hie und da sichtbar, und wenn ein Sonnenblick einfiel, schimmerte die Ortschaft im Talgrunde weiß gegen die dunklen Fichtenw lder der H nge (S. 57). 33 Die Abfolge der beiden Szenen, der Auftritt von Tous-les-deux und das eindeutige Treiben im Nebenzimmer bringen denn auch noch einmal das Verhältnis von Tod und Liebe ins Spiel, das Der Zauberberg in allen möglichen Varianten erforscht. In beiden Fällen aber haben wir es mit einer gewissen ,Anomalie‘ zu tun, die noch einmal die der Natur unterstellte Regelmäßigkeit durcheinander bringt. Denn die Trauer der Mutter gewinnt ihre Heftigkeit nicht zuletzt von daher, dass sie ihre Söhne mutmaßlich überleben wird, die Arterhaltung also nicht funktioniert. Umgekehrt wirkt auf Hans Castorp die sexuelle Betätigung dort besonders unanständig, wo die Prokreation sich für Kranke zu verbieten scheint.
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jener kategorialen Brüchigkeit der Ordnungen des Symbolischen herausstellt, über welche diese Ordnungen selbst hinwegzutäuschen scheinen und die dieses Kapitel konsequent erkundet. Angesichts dieser nachgerade systematischen Infragestellung des kulturellen Kodes, der dem Morgen seinen Sinn zu geben scheint und dessen Sinn hier doch zerbricht, fällt es deshalb um so mehr ins Auge, dass sich ganz unerwartete Bedeutungseffekte einstellen, deren kontingentes Auftreten freilich nur noch einmal, sozusagen aus der Gegenperspektive, die Labilität aller kulturellen Semantik zum Vorschein bringt. Irgendwo gab es Morgenmusik, wahrscheinlich in demselben Hotel, wo man auch gestern abend Konzert gehabt hatte. Choral-Akkorde klangen ged mpft herber, nach einer Pause folgte ein Marsch, und Hans Castorp, der Musik von Herzen liebte, da sie ganz hnlich auf ihn wirkte wie sein Frhstcksporter, n mlich tief beruhigend, bet ubend, zum Dçsen berredend, lauschte wohlgef llig, den Kopf auf die Seite geneigt, mit offenem Mund und etwas gerçteten Augen. (S. 57 f.) 34
Was eigentlich besagt der Ausdruck Morgenmusik? Ist damit die aktuell zu hörende Musik bezeichnet, weil sie eben um diese Tageszeit gespielt wird? Oder gibt es eine innere Verbindung zwischen den Eigenschaften der Stücke, die man zu dieser Stunde aufs Programm setzt, und dem Morgen? Der Choral mag zum Morgen passen, obwohl er sich vermutlich ebenso für den Abend eignet, und gleiches mag von dem Marsch gelten, auch wenn man hier vielleicht wirklich eine gewisse Affinität zu der morgendlichen Tageszeit annehmen mag. Einzig der Walzer, der auch zu hören sein wird, scheint doch eher etwas für spätere Stunden zu sein, und so hatte Hans Castorp denn auch kaum zufällig schon am Abend seiner Ankunft durch die offene Balkontür seines Zimmers Tanzmusik gehört.35 Auch hier also bleibt von der Morgenmusik kaum mehr übrig also ihre bloß äußerliche Situierung in einer bestimmten Tageszeit. Dazu passt es denn auch, dass Hans Castorps Reaktion auf diese Musik gleichfalls eher den Abend konnotiert. Denn sie verleitet ihn zum Dösen; und weil der Frühstücksporter, den er 34 Wenn wir im Blick auf das Verhältnis von Hans Castorp und Tous-les-deux die Revisibilität des Verhältnisses von Zuschauerraum und Bühne bemerkt haben, dann kündigt der fast unmerkliche Wechsel der Perspektive in den hier zitierten Zeilen diese Ambivalenz von Subjekt und Objekt der Beobachtung schon an. Denn zunächst ist das Geschehen, die Wahrnehmung der Musik ganz aus der Sicht des Helden berichtet, bevor er dann selbst zum Gegenstand der Betrachtung anderer wird. Denn nur sie können seine geröteten Augen erkennen. 35 Die Balkontr stand offen; man gewahrte die Lichter des Tals und vernahm eine entfernte Tanzmusik (S. 21).
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gewohnheitsmäßig zu dieser Stunde trinkt, einen ähnlichen Effekt hat, statt, wie es zum Morgen weit eher passen würde, eine belebende Wirkung zu erzeugen, bleibt dieses abendliche Gebaren zu früher Stunde auch nicht auf die Ausnahme dieses einen Morgens, an dem er diese Musik hört, beschränkt. Auch hier geraten also die Kategorien durcheinander. Angesichts von so viel semantischen Ungereimtheiten fällt es deshalb, wie erwähnt, umso mehr ins Auge, wenn sich ganz unverhoffte semantische Korrespondenzen einstellen. Deren erster sind wird in einer der Textstellen, die vom Auftritt von Tous-les-deux berichten, schon begegnet. Denn, offenbar ohne es zu wissen, wie der Kommentar ihres Verhaltens lautet, passt sie ihre Schritte dem Takt des Marsches an, um ihn so zu einem Trauermarsch zu deklarieren, der zwar wiederum kaum zu der morgendlichen Stunde passen mag und doch auf das treffendste jene ostentative Tristesse illustriert, welche die das Schicksal ihrer Söhne, vermutlich aber vor allem ihr eigenes beklagende Mutter so demonstrativ an den Tag legt. Nachgerade grotesk wird diese Korrespondenz zwischen der Musik und dem Verhalten der dramatis personae dieses Kapitels, wenn nun auch das Treiben im Nachbarzimmer die passende Begleitmusik findet: Es war eine Jagd um die Mçbel herum, wie es schien, ein Stuhl polterte hin, man ergriff einander, es gab ein Klatschen und Kssen, und hierzu kam, dass es nun Walzerkl nge waren, die verbraucht melodiçsen Phrasen eines Gassenhauers, die von außen und fernher die unsichtbare Szene begleiteten. (S. 59) 36
Auch hier also das Wort von der Szene, das noch einmal das Theater evoziert, ganz wie im Fall der an die berühmte Tragödin gemahnenden Schwarzverkleideten; und auch diesmal gibt es die passende Musik, die 36 Übrigens setzt der hier zitierte Ausschnitt eine weitere der thematischen Isotopien fort, welche dieses Kapitel, und darüber hinaus den ganzen Roman, durchziehen. Gemeint sind die Modalitäten der Wahrnehmung, deren Möglichkeiten und Grenzen Der Zauberberg ebenfalls erkundet. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, inwieweit sich ein dominant visuell wahrnehmbares Geschehen allein über den Hörsinn erfassen lässt, und so findet sich im Text denn auch kaum zufällig die das Beschriebene ein wenig relativierende Bemerkung, wie es schien. Bei der Betrachtung von Tous-les-deux stehen demgegenüber die Möglichkeiten visueller Wahrnehmung zur Debatte. Welche Details lassen sich plausiblerweise noch erkennen über eine Distanz hinweg, die immerhin so beträchtlich sein muss, dass Hans Castorp sich nicht scheut, dieser Frau auch mit kaum öffentlichkeitsfähiger Kleidung gegenüberzutreten? Die beiden Fragen, diejenige des Verhältnisses von Körperlichkeit und Privatheit und diejenige nach den Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung sind offensichtlich miteinander verknüpft.
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Vorbereitungen zum Geschlechtsakt werden vom Walzer untermalt, zu dem die Kapelle nun mit einem Mal gewechselt hat. Wenn schon die Marschmusik die Schritte der Trauernden in der angemessenen Weise zu charakterisieren schien, dann gibt es hier freilich gegenüber der gleichfalls fast irritierend angemessenen Musik beim Liebesspiel einen nicht ganz unwichtigen Unterschied. Denn im Falle des Marsches ist es Tous-les-deux selbst, die – wie bewusst auch immer – die Schritte dem Takt der Musik angleicht. Demgegenüber ergibt sich die Korrespondenz zwischen dem närrischen Liebespaar und der Walzermusik ohne jegliches Zutun aller Beteiligten, sie ist dem schieren Zufall geschuldet. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Tanz im Dreivierteltakt nicht nur die passenden Harmonien bereitstellt, sondern – gewissermaßen nebenbei – auch noch weitere Informationen über das bereithält, was sich da im Nachbarzimmer abspielt. Denn wenn dieser Walzer mit den verbraucht melodiçsen Phrasen eines Gassenhauers aufwartet, dann fällt von dieser Bewertung auch ein Licht auf jenes Liebesspiel, das, Hans Castorps Empörung, die es zum Ereignis stilisiert, zum Trotz, selbst jene Banalität des Lebens verkörpert, an der alle Originalität zerbricht. Aber all diese Informationen stellen sich, wie gesagt, kontingent ein, und so gibt das Nebeneinander zwischen einer Symbolik des Morgens, die sich an den faktischen Gegebenheiten bricht, und einer zufälligen semantischen Korrespondenz zwischen der Musik und den Handlungen, die sie begleitet, in diesem Kapitel die grundsätzliche Labilität aller symbolischen Kodes zu erkennen, mit welchen die Kultur die Natur zu bannen versucht.
IV. Die Aristotelische Poetik und die Eigenheiten literarischer Fiktion Mit einer Periphrase eröffnet Dante seine Kanzone Voi che ’ntendendo il terzo cielmovete, deren Erläuterung den Einsieg in die Exposition einer Theorie bietet, als deren Repräsentation der Kommentar dieses Gedicht konsequent ausweist, und von dieser Theorie, die letztlich eine Theorie des ganzen Universums ist, gewinnt die Abfolge der einzelnen Teile dieses Textes ihre Konsistenz und zugleich Transparenz. Hatte die Theorie der Dichtung eine Fiktion bescheinigt, die sich als Allegorie im rhetorischen Sinne zu erkennen gab, so bleibt die allegorische Auslegung im Kommentar selbst auf nur einen Teil der Kanzone beschränkt.
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Doch auch das Nicht-Figürliche macht dieser Kommentar zum Träger eines Wissens, bei dem sich die singuläre narrative Konstellation als ein Signifikant allgemeiner Sachverhalte und Gesetzmäßigkeiten erweist. Der Kommentar nivelliert insoweit die Opposition zwischen dem Allegorischen und dem Nicht-Figürlichen der Fiktion, um hier wie dort dem Text eine Informationsfülle zu bescheinigen, die den propositionalen Gehalt des Textes deutlich übersteigt. Auch Thomas Mann eröffnet sein Kapitel Ehrbare Verfinsterung im Zauberberg mit einer semantischen Anomalie, weil die Implikationen dieses Titels zu ihrer narrativen Szenerie, die den Morgen zum Inhalt hat, zunächst nicht passen wollen. Indessen erweist sich just diese Inkongruenz als der Schlüssel zu diesem Kapitel, das die Syntagmatik ihrer Ereignisabfolge in die Demonstration der Brüchigkeit jener symbolischen Ordnungen vorführt, gegen welche die morgendliche Verfinsterung zu verstoßen schien. Aus diesem Prinzip heraus gewinnt denn auch die Abfolge der einzelnen Elemente dieser erzählerischen Konfiguration, einschließlich des Rückgriffs auf ein früheres Kapitel, ihre Logik, sind doch die paradigmatischen Beziehungen zwischen diesen Elementen wesentlicher Träger dieser Information. Auch hier also schafft die einem durchgängigen Prinzip gehorchende Motivation der Verknüpfung dieser und genau dieser Elemente des Textes einen zusätzlichen semantischen Wert über seinen propositionalen Gehalt hinaus. Und wieder verknüpft dieser semantische Mehrwert die singuläre narrative Konstellation mit einer Einsicht von allgemeiner Art. Diese Referenz auf das Allgemeine beginnt schon mit dem Zitat des Zeitmodells der Genesis, das mit der Schöpfungsgeschichte die Ordnungen der Zeit schlechthin ins Spiel bringt. Vor allem aber jene Logik, welche die Verknüpfung der einzelnen Teile bestimmt, bringt ein allgemeines Prinzip in Anschlag, welches seinerseits das Einzelne für das Allgemeine transparent macht und die Labilität aller Kultur, aller symbolischen Ordnungen, einschließlich derjenigen der Moral, zum Vorschein bringt. So korrespondieren die narrativen Verfahren des Zauberbergs in beträchtlichem Maße jenen hermeneutischen Operationen, mit denen der Kommentar des Convivio den tieferen Sinn der ausgelegten Kanzone zum Ausdruck bringt. Hier wie dort also haben wir es mit einem Response auf jenen Stimulus der Erwartung eines semantischen Mehrwerts zu tun, der, aus den eingangs dargelegten Gründen, zu den strukturellen Merkmalen fiktionaler Rede zählt. Haben wir es insoweit also mit Gemeinsamkeiten zu tun, die über alle historischen Differenzen hinweg auf die systematischen Eigen-
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schaften eines fiktionalen Textes zurückzuführen sind, so seien indes auch diese historischen Unterschiede hier nicht verschwiegen. Dantes Semantisierung der Kanzone orientiert sich am Modell des Offenbarungstextes. Sie ist Wahrheitsverkündung und so erklärt der Autor sie zur Exemplifikation einer Lehre, deren Geltung an die Autorität derer gebunden ist, auf die er sich in seinem Kommentar beruft. Jener semantische Mehrwert, den Thomas Mann im Zauberberg zu erkennen gibt, beruht demgegenüber nicht auf der Exposition vorgängiger autoritativer Rede, sondern besitzt weit eher den Charakter einer Exploration. Sein Text ist nicht thetisch, sondern analytisch – analytisch in des Wortes etymologischem Sinne: zergliedernd, auflösend. Kaum zufällig heißt denn auch Dr. Krokowskis Psychoanalyse in diesem Roman ,Seelenzergliederung‘. Nicht die Exposition der Wahrheit, sondern vielmehr die Befragung von Gewissheiten macht hier jenen semantischen Mehrwert aus, welchen das Arrangement der narrativen Sequenz produziert. Unterscheiden sich die beiden hier untersuchten Beispiele also im Hinblick auf die Funktion dieser Leistung des fiktionalen Textes, und eben dies markiert ihren jeweils verschiedenen literarhistorischen Ort, so antworten die betreffenden unterschiedlichen Strategien der Erzeugung semantischen Mehrwerts eben gleichwohl auf die systematischen Merkmale der Fiktion. Eine wesentliche Einsicht in deren semantische Eigenheiten scheint mir erstmals in der Aristotelischen Poetik formuliert zu sein. Bekanntlich ist die hidden agenda dieses Textes das 10. Buch der Platonischen Politeia mit ihrer Dichterschelte, welcher Aristoteles eine sehr entschiedene Aufwertung der poiesis gegenüberstellt. Diese Aufwertung hatte sich selbstredend auch dem gravierendsten Platonischen Verdikt gegen die Dichtung zu stellen, dem Vorwurf ihrer Lügenhaftigkeit, des mehrfachen metaphysischen Seinsverlustes, der sie zur bloßen Täuschung herabwürdigt. Bekanntlich hat der Schüler Aristoteles seinem Lehrer Platon zur Abwehr dieses Makels der poiesis die Kategorien der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit verordnet, die ihren philosophischen Rang dadurch steigern, dass sie es in der Konsequenz dieser Verpflichtung auf das Wahrscheinliche und Notwendige nicht mehr wie die Geschichtsschreibung mit dem Einzelnen, sondern mit dem Allgemeinen zu tun hat. Wie aber gelingt ihm dieser Durchbruch? Offensichtlich dadurch, dass die Frage der Referenz, der Beziehung des einzelnen Zeichens zur Wirklichkeit, ersetzt wird durch die Frage der Verknüpfung der einzelnen Elemente miteinander. Dadurch wird der Wahrheitsgehalt des Textes letztlich gleichgültig, das Dargestellte kann
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Fiktion sein oder auch nicht, es kann dem Vertrauten folgen oder sich der eigenen Phantasie anheimgeben: Aut famam sequere aut sibi conventientia finge wird Horazens Empfehlung lauten, die den betreffenden Sachverhalt aus der Poetik des Aristoteles sehr präzise wiedergibt. Verknüpfungslogik also tritt an die Stelle der Referenz, und damit ordnet Aristoteles dem poetischen Text in der Tat eine Qualität zu, die zu jener Analyse der Fiktion zurückführt, die wir eingangs skizziert haben. Wenn der fiktionale Text die Erwartung eines Mehrwertes produziert, dann deshalb, weil die Selektion und Kombination seiner Elemente nicht mehr kontrolliert wird durch einen außersprachlichen Sachverhalt, die daraus erwachsende Freiheit aber unweigerlich die Frage nach der Motivation dieser Auswahl und Verknüpfung hervorruft. Aristoteles’ Festlegung der poiesis auf Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit als Prinzip der Abfolge der dargestellten Ereignisse aber ist nichts anderes als eben eine solche Motivation ihrer Verknüpfung. Sie repliziert insoweit sehr konsequent einer Eigenschaft, welche eine der hauptsächlichen Besonderheiten der Fiktion ausmacht. Man hat Aristoteles und seiner Poetik Normativität vorgehalten. In der Tat entspricht nicht alle Dichtung jenen Gesetzen, die er hier für sie formuliert hat. Zumal die Literatur der Moderne liefert reichliches Anschauungsmaterial für das Gegenteil. Doch hinter Aristoteles‘ vordergründig normativer Festlegung steht eine tiefe Einsicht in die Natur fiktionaler Rede, die um ihrer generischen Merkmale willen eine Antwort auf die Frage verlangt, warum denn die Teile, die ihr Ganzes bilden, so und nicht anders zusammengesetzt sind – eine Frage, welche den Ansatz jener literarischen Hermeneutik bildet, die nach wie vor das Hauptgeschäft der Wissenschaft von der Literatur bildet.
Bericht über die Diskussion der Ersten Sektion Marn Schorch Die erste Sektion „Semantiken – Diskurse – Konzepte“ eröffnete die Debatte des Symposions über religiöse und literarische Kommunikation vor dem Hintergrund des grundsätzlich soziologisch wie geistesgeschichtlich zu fassenden Grundmusters von Individualität. Im Zentrum der in den Vorlagen präsentierten Analysen stehen Überlegungen zu den Konstitutionsformen von Individualität ebenso wie Strategien ihrer Vermeidung im narrativ zu bewältigenden Spannungsfeld etwa von Liebe und Sünde, Heiligkeit und Heldentum, Ich und Gott. Zwischen diesen Positionen setzen mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte immer wieder neu zu reziproker Autonomisierung beziehungsweise Heteronomisierung von literarischer und religiöser Kommunikation an. Mittels Projektion solch spannungsreichen Erzählens auf allgemeine Theorieprobleme dichotomischer Kozeptualisierungen konnten grundsätzliche systematische Vorgaben für die Diskussionen in den sich anschließenden drei Sektionen gewonnen werden. Eröffnet wurde die Sektion mit Marina Münklers Vorlage zur Bedeutung von Sündhaftigkeit als Generator von Individualität in der Historia von D. Johann Fausten und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts. Darin wird ein identitätstheoretisches Normativitätskonzept mit einem narratologischen Zugriff, der Legenden in ihrer morphologischen Bauweise zu fassen sucht, verknüpft: Legenden seien normstabilisierende Vermittlungsformen eines Modells von Heiligkeit, das sich als Verkörperung von Norm gegen alle Normalität, als ,Normübererfüllung‘ definieren lasse. Die Historia sowie deren vormoderne Bearbeitungen, in der beziehungsweise in denen die in Sünderheiligenlegenden geltende Abfolge von Normverletzung, Geständnis und Rekonziliation gerade nicht mehr funktioniere, werden vor diesem Hintergrund sodann weniger als ,Anti-Legende(n)‘ (A. Jolles1) denn als ,Legendenkontrafakturen‘ analysiert. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich auf diese beiden Beschreibungsebenen; auf die 1
André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rtsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Mrchen, Witz, 7. unveränd. Auflage, Tübingen 1999, S. 51 ff.
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Konzepte von Normativität beziehungsweise Normverletzung einerseits und auf Fragen nach Status und Geltung von Legendenerzählungen andererseits. Dabei wurde der von Münkler herangezogene Luhmannsche Normalitätsbegriff um denjenigen Simmels ergänzt, nach dem gerade auch soziale Unordnung oder Konflikte als Normtransgressionen das Verständnis von Normentstehung und -wandel bereicherten, so dass, wie auch Münkler betonte, keine Norm ohne Transgression zu denken sei: Sowohl Norm(über)erfüllung (vor allem bei Heiligen) als auch Normverletzung (etwa von Sündern und Teufelsbündnern) erfüllten Funktionen der Normstabilisierung. Allerdings sei, so Münkler, neben dem Geständnis gerade die Absolution und die anschließende Rekonziliation entscheidend, um den Sünder in den Geltungsbereich der Norm zu reintegrieren und damit die Stabilisierung der entsprechenden Norm zu gewährleisten. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang des Weiteren das der Vorlage zugrunde liegende Begriffsinstrumentarium, nämlich die Trias der Konzepte ,Norm, Heiliger und Held‘, welche, so auch Münkler, durchaus unterschiedlichen epistemischen Ebenen zugewiesen werden könnten. Es sei außerdem die Geltung einer Norm von der Gültigkeit einer Norm zu differenzieren, wobei zu diskutieren bleibe, ob in der Vormoderne die Gültigkeit einer Norm durch ihre Verletzung in Frage gestellt werde. Die Frage, inwieweit sich in Münklers Legendenbegriff, nach dem sich in der Legende die Verkörperung der Norm verwirkliche, ein sprachontologisches Konzept wie etwa bei André Jolles widerspiegle, zielte auf die vorgeschlagene Beschreibungsebene legendarischen Erzählens. Münkler betonte daraufhin die Notwendigkeit narratologischer Detailanalysen legendarischer Erzählformen, die gerade eine Abgrenzung zur Vorgehensweise bei Jolles, bei welcher es sich um eine Reduktion der Funktion von Legenden hin zu einer Geistesbeschäftigung der imitatio handle, leiste. Ein weiterer Fragenkomplex thematisierte die in der Historia erzählte Karriere des Protagonisten. Diese sei, so Münkler, vorrangig als Reputationskarriere angelegt; bei der narrativen Ausgestaltung dieser Textpassage trete die religiöse Semantik von Heil und Verdammnis zugunsten der Semantik von Karriere zurück. Fragen zu diesem Karrieremodell galten einerseits den Mitteln, anhand welcher Faust dieses realisiere, andererseits dem Erzählmodell, das dieses Karrieregeschichte organisiere: Eine Ablösung spezifischer Erzählmodelle durch ein solches Karrieremodell sei gerade im 16. Jahrhundert in verschiedenen Texten feststellbar (etwa im Knabenspiegel oder im Goldfaden). Dem weiteren
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Vorschlag, bei der Historia könne es sich außerdem um die frühe narrative Umsetzung eines ,Aufstieg und Fall‘-Schemas handeln, das von religiösen Erzählmustern durchsetzt sei, stimmte Münkler dann aber nur unter Vorbehalt zu: Es handle sich weniger um eine Aufstiegsgeschichte, deren Illegitimität im religiösen Diskurs verhandelt werde, als um einen Bruch zwischen einem innerweltlichen und einem außerweltlichen Anforderungsmodell. Dabei wurde gerade die innerweltliche Ambition des Faustus, seine intrinsische Motivation als entscheidend betont, wobei sich, wie auch Münkler bestätigte, in diesem Aspekt besonders deutliche Parallelen zu Marlowes Doctor Faustus ergeben. Anhand der Umbesetzungen und Hinzufügungen, die die Weiterverarbeitungen der Historia gerade im Hinblick auf die Karriere Faustens leisten, sei, so der Diskussionskonsens, auch eine generelle Offenheit des Textes feststellbar, die sich rezeptionsgeschichtlich in der Funktionalisierung des Stoffes sowohl durch Protestanten als auch durch Katholiken spiegle. Eine allgemeine Verortung im Rahmenthema des Symposions erfuhr die Vorlage schließlich durch die Diskussion legendarischen Erzählens als Zwischenbereich religiöser und literarischer Kommunikation, vor allem auch in Bezug auf die Frage, inwieweit der Legende durch die reformatorische Klassifikation als lgende ein literarischer Status zugeschrieben werde. Gerade diese Klassifizierung, so Münkler, sei es jedoch, die legendarische Texte dezidiert in den Rahmen religiöser Kommunikation einschreibe: Die Verurteilung als betrügerische Lügengeschichte beziehe sich nämlich nicht auf den Fiktionalitätsanspruch literarischer, sondern gerade auf den Wahrheits- und Heilsvermittlungsanspruch geistlicher Texte. Gemäß dieser Zuordnungs- beziehungsweise Grenzziehungsproblematik zwischen religiöser und literarischer Kommunikation, wie sie sich beim legendarischen Erzählen besonders prägnant stellt, wurde schließlich eine Differenzierung von Sujet-Ebene und pragmatischer Ebene bei der Textinterpretation eingefordert. Gerade nämlich Texte der religiösen Kommunikation könnten durchaus ästhetische Dimensionen aufweisen, die jedoch nichts an der ,pragmatischen Religiosität‘ dieser Texte änderten. In der zweiten Vorlage lenkt Burkhard Hasebrink mit der Analyse der deutschen Predigten Eckharts die Aufmerksamkeit auf semantische Umdeutungen von Leitbegriffen geistlicher Lebensführung, in deren Folge sich das Transzendente als ein im innersten Grund eines jeden Rezipienten selbst Realisierbares verstehe. Solche Neusemantisierungsprozesse – etwa hinsichtlich der Konzeptionen von Gehorsam,
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Armut, Demut oder ,Gelassenheit‘ – verfügten dabei über eine performative Dimension, da ihr Vollzug in der Kommunikationssituation der Predigt das Heilige gerade über diese sprachlichen Operationen präsent werden lasse. Diese performative Dynamik schreibe den Texten nicht zuletzt einen literarischen Status zu. Die Diskussion der Vorlage konzentrierte sich einerseits auf Begriff wie Konzeption der ,(absoluten) Performanz‘ beziehungsweise der ,Performativität‘, etwa hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit sich zentrale Begriffe wie ,Armut‘ oder ,Gelassenheit‘ unter einem recht weit gefassten kulturellen Dachbegriff der Performativität historisch beschreiben ließen. Hasebrink präzisierte sein Konzept des Performativen daraufhin als eines der ,Inszenierung von Heiligkeit‘, welche, um mit sinngenerierenden Diskursen verknüpfbar zu sein, eine ,absolute Performanz‘ voraussetzen müsse. Der in der weiteren Diskussion vorgeschlagene Begriff einer ,geliehenen Performanz‘ wurde von Hasebrink als produktiv beurteilt, da dadurch ein Aspekt der Partizipation, des mitewrken, der Teilhabe an der absoluten Performanz beschreibbar werde. Die Frage, ob nicht gerade Mechanismen der Schriftlichkeit Formen einer solch ,absoluten Performanz‘ inszenierten beziehungsweise inwieweit dabei doch eine konkrete Kommunikationssituation im Bereich des Mündlichen rekonstruierbar sei, lenkte den Blick auf die medialen Bedingungen der Eckhartschen Predigten: Die Inszenierung von Gegenwärtigkeit, wie sie die Predigten vornehmen, durchbreche, so Hasebrink, die Grenze von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der hierbei herangezogene Performativitäts-Begriff sei nicht an Vortragsformen der Mündlichkeit gebunden, sondern ziele auf einen Vollzug von Heiligkeit, der sich auch in Schrifttexten ereigne. Diskutiert wurde in diesem Kontext außerdem die Möglichkeit der Differenzierung eines solcherart performativen, auf Vollzug und Präsenzstiftung angelegten gegenüber einem magischen Sprachverständnis, eine kategoriale Unterscheidung, um die sich, so Hasebrink, wesentlich auch schon die mittelalterlichen Theologen, etwa im Zusammenhang der Eucharistie-Debatte, bemüht hätten. Diese in der Vorlage herausgestellte Performativität der Predigten Eckharts führte des Weiteren zur Anmerkung, Eckhart werde durch einen derartigen Beschreibungsansatz ,entmythologisiert‘, er rücke weniger als Mystiker denn als Prediger in den Blick. Hasebrink präzisierte diese Beobachtung insofern, als er, ohne eine Zuordnung zur Mystik ablehnen zu wollen, das Verständnis der Texte Eckharts aus der Pragmatik der Predigtsituation selbst heraus zu entwickeln suchte. Fragen nach der konkreten Zielgruppe, den impliziten Rezipienten der Predigten könnten jedoch weitgehend offen
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bleiben. Vielmehr richteten sich die Predigten recht allgemein an Rezipienten, welche die eigene Vervollkommnung in der unmittelbaren Gottesschau, die unmittelbare Präsenz Gottes im Menschen, anstrebten und für welche die Predigten somit als Übung, als rituelle Texte fungierten. Transzendenz wäre demzufolge, so wurde für die religiöse Kommunikation des Mittelalters generell zu bedenken gegeben, insofern eben nicht als das Unverfügbare, als der Einbruch des Anderen, sondern als ,Normalfall‘ zu beschreiben. Ein weiterer Fragenkomplex zielte schließlich auf die Situierung der Predigten Eckharts im Spannungsfeld religiöser und literarischer Kommunikation: Überlegt wurde, ob sich literarische Kommunikation hier als eine Art Grenzwert an dem Punkt manifestiere, an dem die inszenierten Paradoxiebewegungen eine Form erreicht hätten, die sich in der Terminologie religiöser Kommunikation nicht mehr einfangen lasse. Hasebrink betonte daraufhin die generelle Bedeutung von Sprache für Eckharts Texte, die eine Differenzierung von religiöser und literarischer Kommunikation hinter sich lasse. Friedrich Vollhardts Vorlage zum Prozess der Theogonie in den Schriften Jakob Böhmes thematisiert Legitimations- und Schreibverfahren der Texte Böhmes, die die Beschreibung des Verhältnisses zwischen göttlichem Nichts und der Kreatur anhand der Entwicklung einer Theorie des ,Ungrunds‘ operationalisieren. Fokussiert wird dabei auch der Widerspruch zwischen der Enigmatik der Schriften Böhmes, ihrem ,poetischen‘ oder literarischen Charakter, und ihrer exzeptionellen und vielfältigen zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte, die doch unter der Voraussetzung gestanden habe, dass gerade religiöse Kommunikation auf Plausibilität angewiesen sei. Die Diskussion der Vorlage wandte sich einerseits dem Status des ,Grund‘- beziehungsweise des ,Ungrund‘-Begriffes und seiner Metaphorizität zu, gerade in Hinblick auf die Verwendung der ,Grund‘- Metapher auch bei Meister Eckhart. ,Ungrund‘ sei, so Vollhardt, zunächst ein Neologismus Böhmes und bilde in dessen Schriften eine Art Forum, auf dem sich die Enthüllung des Göttlichen vollziehe und welches in den verschiedenen Stadien der Werkentstehung mit unterschiedlichen Denkfiguren aufgefüllt worden sei. Ein expliziter Anknüpfungspunkt zu Eckhart sei strittig, vor allem auch deshalb, weil, so der Diskussionskonsens, eine Filiation oder Ableitungskette solcher ,absoluten‘ Metaphern, die sich durch eine konstitutiv eigenständige Relation von Denotation und Konnotation auszeichneten, nicht funktioniere.
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Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion lag auf dem Status von Schrift zwischen Absolutheit und Immanenz, der Schrift somit als ,Begegnungsort‘ von religiöser und literarischer Kommunikation beschreibbar mache. Mechanismen von Aufladungen und Selbstermächtigungen, welche Transzendenz im Prinzip der Schrift immanent verfügbar machten, ließen sich dabei in zweifache Richtung entwickeln: Als Entfaltungsbewegungen (etwa als Entfaltung von Welt aus der Schrift heraus) einerseits, als Implikationsbewegungen (etwa als Einschreibungsmetaphern in die Seele) andererseits. Solche Einschreibungsbewegungen bestätigte Vollhardt für die Schriften Böhmes, die sich außerdem gerade auch dadurch auszeichneten, dass Schrift als das der Geistbelehrung, der Unmittelbarkeit der Inspiration Nachfolgende inszeniert werde. Böhmes ausdrückliche Reflexion seines Schreibverfahrens stehe somit vor dem Hintergrund der spiritualistischen Literatur des 16. Jahrhunderts beziehungsweise des darin angelegten Dreiklangs von Erleuchtung, Wahrheit und Schreibverfahren. Die Enigmatik der Schriften Böhmes, die durch eine Poetisierung hermetischen Wissens produziert werde und deren Beschreibung die Differenzierung Koyrés2 zwischen language politique und doctrine (oder, so der Vorschlag der Diskussion, zwischen signifiant und siginifi) unterlaufen müsse, war Ansatzpunkt, um im Anschluss an die Diskussion der Vorlage von Burkhard Hasebrink, nochmals die Kategorien der textuellen Repräsentation beziehungsweise der Präsenzstiftung, etwa des Göttlichen, zu präzisieren. Dabei wurden die obscuritas-Momente der Texte Böhmes mit dem Begriff der ,Präsentation‘, im Gegensatz zu ,Repräsentation‘ und ,Präsenz‘, zu fassen versucht, die ein Moment der Anwesenheit von Transzendenz erzeugten, und zugleich, seitens der Textrezipienten, immer neue Verstehensbewegungen einforderten, die jedoch gerade nicht endgültig zum (Ver-)Stehen gebracht werden könnten. Tobias Bulang und Beate Kellner akzentuieren in ihrer Vorlage zu Wolframs von Eschenbach Willehalm die Singularität der Verschränkung divergierender kulturkonstitutiver Semantiken im Willehalm, die es erlaube, diesen Text, als Gattungshybride zwischen Heldenepik, höfischem Roman und Legende angesiedelt, der literarischen Kommunikation zuzuordnen. Im Fokus steht dabei Wolframs paradigmatische Erzählweise, welche Konzepte wie Minne und Ehe, Rache oder Kreuzzugslegitimation konfrontiere beziehungsweise neu arrangiere. 2
Alexandre Koyré, La philosophie de Jacob Boehme, Paris 1929 (Bibliothèque d’histoire de la philosophie).
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Somit sei der Willehalm, beispielsweise im Bezug auf den Glaubenskrieg, eine literarische Alternative zur diskursiven Argumentation, indem religiöse Konzepte und Semantiken literarisiert und auf der discours-Ebene zu einem Erzählprinzip würden, wie dies etwa durch den leitmotivischen Einsatz des Klagegestus der Fall sei. In der Diskussion wurde zunächst die grundsätzliche Frage aufgeworfen, inwiefern es gerechtfertigt sei, den Einbruch einer Episteme der Pluralität bereits im 12. Jahrhundert und nicht erst im 15./16. Jahrhundert anzusetzen und folglich dem Willehalm ein einzigartiges Innovationspotenzial zuzuschreiben. Der grundlegende Unterschied der Inszenierung von Pluralität im Willehalm zu derjenigen etwa im Orlando Furioso sei dabei doch einerseits die Hierarchisierung pluraler Konzepte bei Wolfram, die, wie Bulang bestätigte, die Tragweite der Imaginierung pluraler Welten begrenze, wie andererseits auch die Semantisierung pluraler Konzepte als Heillosigkeit. Auf diese Heillosigkeit, die die konfligierenden Geltungsansprüche erzeugen, reagiere der Text dann gerade, so auch Bulang, mit einem dominanten Gestus der Klage. Grundlegend diskutiert wurde im Weiteren der Begriff des Literarischen und der Literarizität, die Möglichkeit seiner Profilierung als analytische Kategorie und der Differenzierungsbedarf zweier Literaturbegriffe, eines ,exklusiven‘, wertenden und eines allgemeineren. Dabei wurden Kriterien wie ,Paradigmatizität‘ oder ,Problematisierungsgestus‘ auf ihr Verhältnis zum Konzept der Literarizität hinterfragt. Paradigmatische Erzählformen etwa ließen sich doch auch in Werken wie der Bibel oder Chroniken herausarbeiten. Bulang ließ die Frage nach der Relation von Literarizität und Paradigmatik als noch ungelöst stehen, betonte jedoch gerade für den Willehalm die Bedeutung eines Erzählens im Paradigma, das durch rekurrente Wiederholungen alternative Problematisierungen verschiedener Semantiken in Form einer Reflexion in Bildern schaffe, die so etwa in der Bibel nicht gegeben sei. In diesem Kontext erfuhren auch die Leitbegriffe des Symposions eine gewisse Präzisierung: Die heuristisch unterschiedenen Kategorien von literarischer und religiöser Kommunikation müssten deutlich als reziproke markiert werden; definiere man Literarizität im Sinne von Poetizität als Formalität von Sprache, so könnten die Überschneidungen zwischen literarischer und religiöser Kommunikation, also etwa eine Instrumentalisierung poetischer Sprachmittel durch den religiösen Diskurs oder das Verfügbarmachen religiöser Erzählmuster für literarische Reflexionen, analytisch produktiv gemacht werden. Eine solche Beschreibungsebene, so Bulang, eigne sich in besonderer Weise für den
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Willehalm als Gattungshybride, in dem sowohl das Literarische religiös wie das Religiöse literarisch in Anspruch genommen werde. Die Vorlage von Hans-Georg Soeffner betrachtet unter den Leitbegriffen ,Symbolkonkurrenzen‘ und ,kommunikative Leerstellen‘ Religiosität als eine entscheidende anthropologische Konstante für die Konstitution der Identität des Einzelnen. Einerseits ordne der Einzelne sich einer religiösen Norm zu, andererseits aber erfahre er in Extremsituationen ein irreduzibles Zurückgeworfensein auf sich selbst. Am Parzival zeige sich das Scheitern unterschiedlicher Lösungsmodelle. Nachdem sowohl die Kirche, die nirgends im Text Erwähnung finde, als auch der Hof, der selbst der Erlösung bedürfe, keine geeigneten Ansätze bieten, wähle der Text die Kommunikation als Modell, das sich von der inneren Rede über die stumme Kommunikation bis hin zur öffentlichen Kommunikation auffächern lasse. Die Diskussion stellte die Frage nach der Zentralität des Protagonisten, der gerade unter dem Aspekt einer prekären Subjektposition hinter dem Erzähler zurückzutreten scheine. Dem Einwand, dass dem dargestellten Kommunikationsproblem die erfolgreiche und präzise Wahrnehmung Parzivals durch andere Figuren entgegenstehe, wurde mit der Präzisierung begegnet, dass Kommunikation aus der Perspektive des Protagonisten problematisch sei, obgleich es im Text durchaus kompetente Interpreten gäbe. Der Gedanke, dass sich im Parzival eine Vielzahl von Weltanschauungen nebeneinander zeigten, führte zum Verdacht einer anachronistischen Übertragung wissenssoziologischer Terminologien. Obwohl es sich hier, so Soeffner, nicht um eine moderne Pluralität im Sinne eines Multikulturalismus handele, seien die Probleme sich strukturell jedoch sehr ähnlich. Klaus W. Hempfer demonstriert in seiner Vorlage, dass die zentrale Opposition zwischen religiösem und literarischem Diskurs wie auch das Problem der Verbindung zwischen diesen Bereichen durchaus keine anachronistischen Rückprojektionen darstellen, sondern zeitgenössisch klar vorgedacht seien. Während in Dantes Convivio der poetische Diskurs dem primum verum der Theologie untergeordnet sei, zeige sich bei Petrarca eine Enthierarchisierung dieser Sinnsysteme als Lösungsmöglichkeit. Die Diskussion fragte nach dem Begriff der Autorität, den die beschriebene Pluralisierung impliziere. Hempfer führte aus, dass Autorität und Pluralität nicht in Opposition zueinander, sondern in einem Wechselverhältnis stehen, wobei sich Pluralität als epistemisches Problem nur zeige, solange am Begriff der Autorität festgehalten werde. Die vorgestellte Lektüre des Orlando Furioso führte zu der grundlegenden
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methodischen Frage, ob hier nicht ein literarischer Text – zumal der eines komischen Epos – zu philosophisch gesehen werde und ob Mehrdeutigkeiten und ein spielerischer Umgang mit Konzepten nicht ein definiens des Literarischen seien. Der Text sei, so Hempfer, primär ernst zu nehmen. Insbesondere sei die Enthierarchisierung unterschiedlicher Diskurse ein Befund, der durch den Text nicht als unverbindlich ausgewiesen und relativiert werde. Es wurde hervorgehoben, dass die analysierte Enthierarchisierung in der italienischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts nicht nur ein Phänomen der Spitzentexte sei, sondern sich so breit nachweisen lasse, dass man tatsächlich von einer Epochensignatur sprechen könne. Weiterhin wurde die Frage aufgeworfen, welcher epistemische Rahmen die Voraussetzung dafür sei, dass die logische Nichtvermittelbarkeit diskrepanter Diskurse überhaupt zu einem Problem werden kann und ob hier nicht ein Prozess beschrieben werden müsse, der zu einer Legitimisierung der Pluralität unvereinter Propositionen führe. Hempfer gab zu Bedenken, dass eine solche Prozesshaftigkeit leicht die Vorstellung einer teleologischen Bewegung impliziere; eine Schwierigkeit, die das Augenmerk der Vorlage auf Brüche anstatt auf Kontinuitäten, vermeide. Eine weitere Präzisierung verlangte auch die Grundlage der in der Vorlage dargelegten Enthierarchisierung. Wenn bei den Stilnovisten die Liebe zu einer Frau den Weg zu Gott weise und dagegen bei Augustin die weltliche Liebe das Heil gefährde, dann weise dies nicht auf unterschiedliche Hierarchisierungen hin. Vielmehr basierten beide Traditionen auf Versionen einer hierarchischen Herausstellung des Religiösen, das daher auch nicht in Relation zum Literarischen enthierarchisiert werde. Hempfer strich heraus, dass sich die Enthierarchisierung in Petrarcas Verbindung einer völligen Zurückweisung jedweden Liebesdiskurses mit der stilnovistischen Vindizierung eines solchen Diskurses zeige. Weiteren Bedenken, ob nicht der Liebesdiskurs insbesondere im Mittelalter immer eine Enthierarchisierung von literarischem und theologischem Anspruch beinhalte, wurde mit dem Hinweis begegnet, dass etwa im Pastoral der Liebesdiskurs die Theologie völlig außer Acht lassen könne. Der Liebesdiskurs habe sich lange von jeder Dogmatik abgegrenzt und Dantes Vita Nuova stelle genau den Punkt dar, wo sich diese Situation so ändere, daß Liebes- und Religionsdiskurs eine Verbindung eingehen. Die Vorlage von Andreas Kablitz geht aus von Dantes Legitimationsgestus der Fiktion im Convivio und führt diesen auf eine transhistorische Struktureigenschaft des Literarischen zurück. Der Ausfall von
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Referenz im literarischen Text produziere, so Kablitz, die Erwartung eines semantischen Mehrwerts. Die in der Vorlage betrachteten Texte von Augustin, Dante und Thomas Mann reagierten auf diese Struktur, indem sie anstelle des ausgefallenen Wahrheitsgehaltes des Einzelnen die Syntagmatik des Textes semantisierten. Die Diskussion fragte nach der Abgrenzung von Bedeutung und Wahrheit. Es wurde gezeigt, dass die vorgestellte Canzone von einem gefundenen Weg in die Wahrheit handelt und so die Bedeutung als Wahrheit etabliert. Des Weiteren wurde nach dem zu Grunde gelegten Referenzbegriff gefragt, da ein vollkommener Ausfall der Referenz, auch einer Referenz auf ein christliches Weltmodell, bei Dante bezweifelt werden könne. Kablitz erklärte, dass seiner Lektüre ein sehr enger Referenzbegriff zugrunde liege, der mit dem Phänomen der Prädikation verbunden sei und Bezüge auf Normen- oder Wertsysteme ausklammere. Es wurde vorgeschlagen, statt von einem Ausschluss der Referenz von einem Spannungsverhältnis zwischen referentieller und poetischer Funktion zu sprechen. Diese könne eine Irrelevanz von Referenz hervorbringen, so dass Äußerungen jenseits geläufiger Wirklichkeitsvorstellungen entstehen könnten. Ebenso wurde gefragt, ob der semantische Mehrwert von Literatur immer an den Ausfall von Referenz gebunden sei, doch sei Semantik, so Kablitz, nur eine der Erwartungen, mit denen Texten begegnet wird. Eine Fiktionstheorie sollte daher von Fragen der Wirklichkeitswahrnehmung oder Wahrheitskenntnis absehen.
II. Sektion: Rede – Text – Schrift
Einleitung Bruno Quast Die Entwicklung der jüdisch-christlichen Religion ist nicht zuletzt beschreibbar als eine Geschichte der Medialisierung von Heil, als eine Mediengeschichte des Heils. Eine für die Rekonstruktion der Religionsgeschichte bereits mehrfach bemühte Urszene, die Medien religiöser Kommunikation wie keine zweite verdichtet, liegt in der Episode des Exodusbuches vor, in der Moses die steinernen Schrifttafeln von Gott erhält (Ex 24). Zunächst spricht Gott zu Moses, indem er ihn auffordert, heraufzusteigen und ihn aus der Ferne anzubeten. Das Göttliche ist hier in der Rede präsent, eine unmittelbare Begegnung ist nicht möglich, denn die Schau des Göttlichen endet für den Menschen tödlich (Ex 33). Göttliche Präsenz ist gefährlich und daher bedarf es der medialen Vermittlung in Gestalt göttlicher Rede. Auf den Tafeln, die Moses ausgehändigt werden, zeigt sich nach Ex 32,16 ,Gottesschrift‘, also unverfügbare Schrift, die Tafeln stellen einen göttlichen Text dar. Es handelt sich um eine auratische Schrift, über deren genauere Verfertigung sich der Text in Schweigen hüllt. Vom Berg Sinai zurückgekommen, trifft Moses die Israeliten beim Tanz um das Goldene Kalb an (Ex 32). Während seiner Abwesenheit, so die Perspektive der Erzählung, ist es zu einem Rückfall in kultische Kommunikation gekommen. Im Zorn zerschmettert Moses die Tafeln, nimmt das Kalb, verbrennt es, zermalmt es zu Pulver, streut das Pulver auf Wasser und gibt es den Israeliten zu trinken. Man hat in dieser Szene, in der Moses, die Schrifttafeln in der Hand, den Tanz um das Goldene Kalb vor Augen hat, den Anfang eines medialen Umbruchs gesehen, die Ablösung der Kultreligion durch die Buchreligion, den entscheidenden Schritt zur Intellektualisierung der Religion.1 Beim gesprochenen Wort und der Schrift handelt es sich um Medien der Offenbarung eines sich verhüllenden, eines absent-präsenten Gottes, der Ritus dagegen, den der Text als sündhaftes Verhalten brandmarkt, ist der mediale Versuch, die Präsenz des Göttlichen sicherzustellen. Die Sinai-Szene malt, so gesehen, in szenischer Ver1
Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedchtnis, München 2000, S. 162.
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dichtung den historischen Kampf aus zwischen Vermittlung des Göttlichen in Rede wie Schrift und Vergegenwärtigung des Göttlichen im Ritus. Rede, Text und Schrift werden in dieser Szene des Exodusbuches als mediale Gestalten greifbar, die zumindest tendenziell einen archaischen Ritualismus hinter sich lassen. Medien der jüdisch-christlichen Religion, Heilige Bücher, sind die fünf Bücher Mose, sind die Bücher des Alten und Neuen Testaments. Rezitation, Lektüre und Auslegung dieser Bücher ersetzen la longue den getanzten Kult. Doch so sehr dies der Fall sein mag, bleibt religiöse Kommunikation noch in ihrer säkularisiert-intellektuellen Spielart mehr oder weniger an einen rituellen Vollzugsrahmen gebunden. Auch die volkssprachliche Literatur bildet im Zuge einer Institutionalisierung literarischer Kommunikation auf dem alles andere als einsinnigen Weg von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit einen solchen rituellen Vollzugsrahmen aus. Man denke nur an die pararituellen Dimensionen des höfischen Minnesangs. Solche Ritualisierung dient der Stabilisierung literarischer Kommunikation, dient der Stabilisierung literarisch präsent gehaltener kultureller Fiktionen. Wie das religiöse Ritual das Göttliche sicherzustellen sucht, so sichern textuelle wie pragmatische Ritualisierungen ein sich erst formierendes Literarisches. Vielleicht liegt gerade in dieser rituellen Dimension religiöser wie literarischer Kommunikation ein entscheidender Schnittpunkt, der sich historisch differenzierende Kommunikationssysteme verbindet. Es zeigt sich für die volkssprachliche Literatur sehr früh – ich kann hier nur für die deutsche Literatur sprechen –, dass literarische Kommunikation etwas anderes sein will als religiöse Kommunikation. Evident wird dies vor allem dort, wo liturgisch-rituell gebundene Texte wiedererzählt oder aber etwa poetisch bearbeitet werden. Dieses Wiedererzählen entwindet sich einem liturgisch-rituellen Vollzugsrahmen, es insistiert auf einem Repräsentationsstatus sui generis, den man als literarisch wird bezeichnen wollen. In religiöser wie literarischer Kommunikation unterliegen Rede, Text und Schrift zumindest tendenziell jeweils unterschiedlichen Pragmatisierungen. Und hier wird eine entscheidende Differenz greifbar. Unverfügbarkeit und Heiligkeit von Rede, Text und Schrift, Buchmagie, Bibliophagie, ruminatio und Verehrung wären da auf der einen Seite zu nennen, auf der anderen Seite, der Seite literarischer Kommunikation, stehen Machbarkeit und Gebrauch, Struktur und Analyse. Bei aller systematischen Unterscheidung greift die sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erst formierende volkssprachliche
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literarische Kommunikation indes auf Figurationen religiöser Kommunikation zurück, sei es auf Schrift-, sei es auf Lesekonzepte. Zwei weithin bekannte hochmittelalterliche Beispiele, die um Fragen der Medialität kreisen, seien hier nur stichwortartig anzitiert: zum einen das Beispiel des Parzival, der, um die Herkunft des Grals darzutun, ein wahres Schriftphantasma entfaltet. Die epiphane Gralsschrift wird darüber hinaus zu einem entscheidenden Movens der Romanhandlung. Zum anderen sei hier auf den Tristan-Prolog verwiesen, der den Lektürevorgang in einer metaphorisch anmutenden Formulierung der Einverleibung, der eucharistischen communio annähert. Umgekehrt schließt sich religiöses Erzählen über Erzählschemata und andere dezidiert intertextuelle Verweise literarischer Kommunikation an. Letzteres wird besonders in der Bibelepik des 13. Jahrhunderts augenfällig. Je profilierter literarische Kommunikation daherkommt, um so deutlicher das Bestreben primär religiöser Kommunikation, an der Erfolgsgeschichte literarischer Kommunikation zu partizipieren, ja diese gar zu überbieten. Das spannungsreiche Neben- und Gegeneinander, aber auch ein mitunter spannungsloses Ineinander von religiöser und literarischer Kommunikation beschäftigt denn auch die hier vorliegenden Beiträge. Die ersten beiden Vorlagen perspektivieren auf verschiedene Weise textgebundene rituelle Aspekte religiöser Kommunikation. Bernhard Lang entwickelt am Beispiel der Predigt das Konzept des intellektuellen Rituals, das er mit Harvey Whitehouse vom bildhaften Ritual historisch wie systematisch absetzt. Das intellektuelle Ritual entsteht im 6. Jahrhundert vor Christus als öffentliche Verlesung von Texten der Heiligen Schrift. Es wurzelt in einem profan-juridischen Ritual der Einschärfung von Rechtsbestimmungen. Kultgemeinschaften, die intellektuelle Rituale pflegen, sind Erinnerungs-, Erzähl- und gegebenenfalls auch Textgemeinschaften, letzteres in einem an Brian Stocks Begriffsverwendung angelehnten engeren Sinn, wenn das intellektuelle Ritual auf die Disziplinierung der Gemeinschaft abzielt. Kein intellektuelles Ritual komme ohne Reoralisierung aus. Intellektuelle Rituale lassen sich, so Bernhard Lang, als kreative Synthesen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auffassen. Thomas Lentes beschäftigt sich in einer Art Gegenbewegung mit der Liturgie als bildhaftem Ritual. Er widmet sich am Beispiel des Rationale divinorum officiorum des Wilhelm Durandus vom Ende des 13. Jahrhunderts dem Liturgiekommentar als Medium der christlichen memoria und fragt danach, in welchem Verhältnis biblischer Ur-
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sprungsmythos, Liturgie als kodifizierte rituelle Wiederholung des biblisch Erzählten und Liturgieallegorese zueinander stehen. In einem ersten Schritt zeigt er auf, dass der Relation von liturgischem Ritual und vorausgehender biblischer Erzählung einerseits das etwa von Mircea Eliade beschriebene strikte Abbildungsmodell von fundierender Erzählung und Ritual zugrunde liegt, andererseits diese mythische Ineinssetzung von Ursprungserzählung und Ritual historisch aufgebrochen werden kann durch Erweiterungen und Abänderungen des Rituals. Auf den Punkt gebracht: Orthodoxe Theologen des Mittelalters versuchen Heiligkeit und Historizität miteinander in Einklang zu bringen. Mit Blick auf das Kernritual des Christentums erkennt Lentes in der Historisierung, die sich freilich göttlicher Legitimierung versichere, ein deutliches Säkularisierungsmoment. In einem zweiten Schritt wendet er sich dem Liturgie-Kommentar zu. Der Kommentar, der die im kodifizierten Ritual lebendig gehaltene Überlieferung seinerseits lebendig zu halten habe, hebe keineswegs allein darauf ab, den Ablauf der Liturgie auf die einzelnen Stationen der Vita Christi hinzudeuten, erschöpfe sich also nicht in rememorativer Allegorese, sondern ziele auf eine Synthetisierung unterschiedlichster theologisch relevanter Zeitund Wirklichkeitsebenen. Im Kommentar fließen der historische Ursprung in der Vita Christi, der historisch ein für allemal geschehene Opfertod, sowie dessen sakramentale Aktualisierung zusammen. Der Kommentar zeichnet das liturgische Ritual also weder als bloß magische Wiederkehr der Passion, noch fasst er das liturgische Ritual als Dramatisierung oder theatrale Darbietung der Vita Christi, sondern als Erneuerung des ein für allemal geschehenen Opfers im Modus einer memorativen Bildlichkeit. Alle Zeichenhandlungen des Rituals würden als lebende Bilder das Gedächtnis der Teilnehmer auf die das Ritual fundierende biblische Erzählung hin orientieren. Die Beiträge von Christian Kiening und Stephan Müller sind durch Überlegungen zur medialen wie textuellen Hybridität miteinander verbunden. Kiening befasst sich mit dem Hybridensemble aus Reliquie und Text des Grauen Rocks um 1512, Müller mit Überlieferungssymbiosen, die hybride Gestalt annehmen können. Der Gegenstand von Kienings Ausführungen ist ein medialer Verbund aus Reliquie, Heiltumsschriften und ,literarischen‘ Texten, die sich gegenseitig authentifizieren. Heil, das macht das Ensemble aus Reliquie und zugeordneten Schriften deutlich, ist immer nur als medialisiertes greifbar, Präsenz ist immer nur als Präsenz in Vermittlung, als bezeugte Präsenz gegeben. Anspruch auf Präsenz wie auf Präsentation erhebt indes nicht allein die
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Reliquie. Der Graue Rock, besonders in der zugrunde gelegten Versfassung, erweist sich in seinen paradigmatischen Fluchtlinien ebenfalls als auratisch aufgeladene Re/Präsentation der Tuch-Reliquie. Die Unverfügbarkeit, die der Graue Rock bezeugt, gründet in seiner Hybridität, dem spannungsreichen Nebeneinander von heilsgeschichtlichen und genuin literarischen Mustern, etwa solchen des Brautwerbungsschemas. Erst Hybridität – in medialer Hinsicht mit Blick auf die Reliquie und deren Kontextualisierung, in literarischer Hinsicht mit Blick auf die sich im Sprachgestus manifestierende Monstrosität des Textes – ermöglicht die Bezeugung von Heil. Stephan Müller fragt anhand früher geistlich-weltlicher Überlieferungssymbiosen nach den Modi der Relationierung von Weltlichem und Geistlichem auf der Textebene wie auf der Ebene von Überlieferungsträgern. Er unterscheidet ein Ineinander von einem offenbar programmatischen divergenten Nebeneinander. Das Ineinander von Weltlichem und Geistlichem auf textueller Ebene sieht er mit Hugo Kuhn in der Artusepik realisiert, ein spannungsreiches Nebeneinander etwa in Lamprechts Alexander. Auf der Ebene der Überlieferungsträger spiegelt sich ein Ineinander in den Programmen der St. Galler Handschrift 857 und der Vorauer Sammelhandschrift, ein Nebeneinander aus nicht zu vereinbarenden Textgattungen findet sich in Fragmenten zweier Sammelhandschriften, die sich heute in Trier und Krakau befinden und die auf die Zeit um 1200 beziehungsweise Anfang des 13. Jahrhunderts datiert werden. In diesen beiden Fällen bildet der Codex, so könnte man formulieren, einen hybriden Text. Das Nebeneinander auf der Ebene der Überlieferungsträger sieht Müller nicht zuletzt den literarischen Produktionsbedingungen einer sich erst formierenden laikalen Adelskultur geschuldet. Der Beitrag von Mireille Schnyder fasst die Rezeptionsdimension religiöser wie literarischer Kommunikation ins Auge, um nicht zuletzt Prozesse der Konstituierung literarischer Kommunikation beschreiben zu können. Sie fragt nach dem Effekt, der entsteht, wenn religiöse Lesekonzepte in literarische Texte aufgenommen werden. Bei den religiösen Lektürekonzepten unterscheidet sie Mimesis und Inkarnation, die eine Verkörperlichung des Geschriebenen suchen, von Wahrheitserkenntnis und attentio, letztere stehen für ein Wahrnehmen, das die Zeichenhaftigkeit des Textes auflöst. Mit Blick auf die Praxis der Lektüre wird differenziert zwischen lautem und leisem Lesen, zwischen Vorlesen und stiller Lektüre. Der leise gelesene Text konstituiere einen den Raum um den Lesenden auflösenden Textraum, während das
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Vorlesen die anwesenden Körper zu einem Gemeinschaftsraum zusammenschließe. In Hartmanns Iwein, um nur dieses Analysebeispiel hier anzuführen, erkennt Mireille Schnyder, wenn im Prolog des Romans das Lesen arthurischer Aventiuren den Taten vorgezogen und als Remedium angepriesen wird, das Plädoyer für einen heilsamen Akt mimetischer Lektüre, ein Plädoyer, das sich damit implizit auf ein religiöses Lektürekonzept beziehe. Sie erwägt, dass die Positionierung dieses Plädoyers an herausragender Stelle einen Versuch darstellen könne, das höfische Erzählen – mit den Mitteln religiöser Kommunikation – im Sinne einer ,Textheiligung‘ zu legitimieren. Der die präsenztheoretischen Schriften von Hans Ulrich Gumbrecht aufgreifende Beitrag von Michael Stolz über eucharistische Verhandlungen beschließt die Sektion und schlägt mit Beobachtungen zur Literarisierung des christlichen Kernrituals zum einen den Bogen zu den Beiträgen über rituelle Kommunikation, vor allem zu dem dort diskutierten Komplex der Präsenz- beziehungsweise Repräsentationsqualität des Ritus, zum anderen zu Christian Kienings Überlegungen zum Verhältnis von Präsenz und Bezeugung. Stolz ruft mit seinem weit gespannten Beitrag das mediale Kerngeschehen religiöser Kommunikation in Erinnerung, denn mehr als Rede, Text und Schrift verbindet die eucharistische communio die Gläubigen; erst in ihr werden die Gläubigen zu Angehörigen des Leibs einer in Kommunikation stehenden kirchlichen Gemeinschaft. Der Beitrag untersucht Thematisierungen von Realpräsenz, eucharistischer Realpräsenz zumal, in literarischen Texten, und zwar mit der Maßgabe, diese Verhandlungen daraufhin zu prüfen, ob die dem eucharistischen Konzept seit jeher inhärente Spannung zwischen Realpräsenz und symbolischer Repräsentation sich in der Literatur wiederfindet. Bei Heinrich von Mügeln und Gottfried von Straßburg etwa lasse sich beobachten, dass die literarische Gestaltung die Präsenzhaftigkeit der Eucharistie in Form sprachlich evozierter Präsenzeffekte aufgreift, diese jedoch zugleich in der Produktion von Sinn unterläuft. In Walthers ,Alterston‘ dagegen werde in der verrätselten Verwendung des berühmten bilde Präsenz nicht nur thematisch, sondern auch diskursiv, also im Sprachgestus hergestellt. Die Ausführungen von Stolz münden in Überlegungen, inwiefern gerade die Koppelung von Bildkult und Abendmahl auch auf Diskursebene, also auf der Ebene des Erzählens, Präsenzeffekte herbeiführen kann. In Fassungen der weit verbreiteten Erzählung vom Judenknaben findet er Musterbeispiele für die Inszenierung solcher Präsenz, die allerdings in Form des hinzugefügten Kommentars des her-
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meneutischen Supplements bedürfen. Den Beitrag beschließt die Beobachtung, dass im Spätmittelalter mit Blick auf thematisch verwandte Erzählungen sich die Präsenz des Erzählens auch im narrativen Diskurs in eine Repräsentanz des Erzählens wandelt. Die systematischen Aspekte, die die Beiträge dieser Sektion miteinander verknüpfen, seien abschließend noch einmal stichwortartig genannt: (1) textgebundene religiöse Ritualität in ihrer intellektuellen und bildhaften Prägung; (2) mediale wie textuelle Hybridisierungen und deren Leistung in religiöser wie literarischer Kommunikation; (3) Modi der Konstituierung des Literarischen auf dem Hintergrund religiöser Kommunikation; und (4) der sich in religiöser wie literarischer Kommunikation abbildende Zusammenhang von Präsenz und Repräsentation, Präsenz und Bezeugung, Präsenz und Sinn.
Predigt als ,intellektuelles Ritual‘ Eine Grundform religiöser Kommunikation kulturwissenschaftlich betrachtet Bernhard Lang Gottesdienstliche Schriftlesung und Predigt gehören zu den wichtigsten und traditionsreichsten, noch heute praktizierten und bis in biblische Zeiten zurückreichenden Formen religiöser Kommunikation. Ihre wissenschaftliche Erforschung ist bis heute lückenhaft und fragmentarisch.1 Einer der Gründe für die Lückenhaftigkeit ist zweifellos darin zu sehen, dass die Geschichte der Predigt mit der Geschichte des Christentums identisch zu sein scheint und sich auf diese Weise einer für die Forschung unabdingbaren Eingrenzung entzieht. Ein weiterer Grund scheint in der traditionellen Aufteilung der theologischen Disziplinen zu liegen: Die historische Liturgiewissenschaft beschäftigt sich mit Gebet und Sakrament, um die Predigt der auf die praktischen Bedürfnisse der Predigerausbildung ausgerichteten Pastoraltheologie zu überlassen. Dem Defizit auf Seiten der traditionellen Theologie steht allerdings seit mehreren Jahrzehnten der wenn auch noch verhaltene Versuch gegenüber, Schriftlesung und Predigt religions- und kulturwissenschaftlich zu erforschen. Der vorliegende Beitrag berichtet darüber in drei Teilen: 1
Als große Handbücher sind zu nennen: Alexandre Olivar, La predicacin cristiana antigua, Barcelona 1991; Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1994; Hughes Oliphant Old, The Reading and Preaching of the Scriptures in the Worship of the Church, 6 Bde. Grand Rapids/Mich. 1998 – 2007; Otis Carl Edwards, A History of Preaching, Nashville 2004. Die auffälligste Eigenschaft dieser Darstellungen ist, dass kulturhistorische oder kulturwissenschaftliche Interpretation unterbleibt. Dementsprechend ist in diesen Werken nie von ritueller Kommunikation, ihren Bedingungen und typischen Verfahrensweisen die Rede. Der interpretatorischen Abstinenz versuche ich in der Gestalt eines ersten Versuchs abzuhelfen: Bernhard Lang, „Das tanzende Wort. Intellektuelle Rituale im Frühjudentum, im Christentum und in östlichen Religionen“, in: ders. (Hrsg.), Das tanzende Wort. Intellektuelle Rituale im Religionsvergleich, München 1984, S. 15 – 48; ders., Heiliges Spiel. Eine Geschichte des Christlichen Gottesdienstes, München 1998, S. 159 – 230.
Predigt als intellektuelles Ritual
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Der erste gibt eine theoretische Grundlegung, bei der interpretatorische Begriffe wie ,intellektuelles Ritual‘ geklärt werden; der zweite und dritte Teil erörtern die Funktion intellektueller Rituale in religiösen Kontexten, wobei einmal die Disziplinierung und einmal die Belehrung (,Indoktrination‘) im Vordergrund steht.
Vorüberlegung: Cultural performance, intellektuelles Ritual, Textgemeinschaft In den 1950er Jahren ist der in Chicago lehrende Indologe Milton Singer durch die Prägung des Begriffs cultural performance hervorgetreten; zu deutsch etwa: ,kulturelle Aufführung‘.2 Dieser kulturtheoretische Begriff bezeichnet Veranstaltungen, die der Weitergabe kulturellen Wissens innerhalb einer Gesellschaft dienen. Eine konkrete kulturelle Tradition, so führt Singer aus, wird durch bestimmte menschliche Traditionsträger weitergegeben, die sich bestimmter Medien bedienen. Dies geschieht zu bestimmten, regelmäßig auftretenden Gelegenheiten, zum Beispiel auf Hochzeiten oder im Rahmen von Tempelfesten, Spielen und Tänzen, und als Medien kommen öffentliche Rezitationen, Reden, musikalische und mimische Darbietungen in Frage. Die als cultural performances bezeichneten Darbietungen sind – manchmal ausschließlich, manchmal locker – mit bestimmten Anlässen verbunden, die, nach einem auf Hermann Gunkel zurückgehenden Ausdruck, als deren „Sitz im Leben (des Volkes oder der Gemeinschaft)“ bezeichnet werden können. Schriftlich verfügbares Traditionsgut traditionaler Gesellschaften, von der philologisch orientierten Religionswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als ,Quellenmaterial‘ bevorzugt, wird erst verständlich, wenn es auf seine ursprüngliche mündliche Verwendung innerhalb von cultural performances hin bedacht und so sein Sitz im Leben erkannt wird.3 Nach Singer sind die Mitglieder schrift2 3
Milton Singer, „Preface“, in: ders. (Hrsg.), Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, S. xii–xiii. Dort verweist Singer auch auf eine Arbeit von 1955, in der er den Ausdruck cultural performance erstmals gebrauchte. Gunkels Anliegen ist, den mündlichen Hintergrund biblischer Literatur aufzudecken und biblische Texte von diesem Hintergrund her zu begreifen. „Jede alte literarische Gattung hat ursprünglich ihren bestimmten Sitz im Volksleben Israels an ganz bestimmter Stelle. Wie noch heute die Predigt auf die Kanzel gehört, das Märchen aber den Kindern erzählt wird, so singen im alten Israel die Mädchen das Siegeslied dem einziehenden Heere entgegen; das Leichenlied
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loser Völker – und nicht nur sie – davon überzeugt, dass ihre Kultur in solchen Veranstaltungen präsent wird; sie bieten die Möglichkeit, die Kultur zu präsentieren – in erster Linie dem Einheimischen, aber auch dem Außenstehenden. Gerade dem Außenstehenden, zum Beispiel dem Ethnologen, können die cultural performances am leichtesten die Kultur eines Volkes offenbaren, da sie beobachtbare Einheiten bilden. Jede cultural performance hat nämlich eine begrenzte Dauer, einen Anfang und ein Ende, einen festgelegten Handlungsablauf, bestimmte Akteure, Zuschauer und Beteiligte, einen bestimmten Ort und Anlass der Aufführung. Mit dem Begriff der cultural performance verbunden sind eine bestimmte, unter Ethnologen verbreitete Kulturtheorie und ein bestimmtes Vorgehen bei der Feldforschung. Nach dieser Theorie trägt jede Gruppe oder Kultur ihre eigene Interpretation in sich; diese muss nur gefunden werden. Aber wie ist sie zu finden? Durch Feldforschung, näherhin durch ,teilnehmende Beobachtung‘ des Lebens. Unmöglich kann ein Forscher, der sich nur begrenzte Zeit in einem indischen Dorf oder bei einem Stamm im Busch Südamerikas aufhalten kann, alle Lebensvollzüge, denen er begegnet, ethnographisch beschreiben und erschöpfend untersuchen. Konzentriert er sich auf bestimmte cultural performances, also zum Beispiel auf ein im Dorf gefeiertes Fest, so hat er die Möglichkeit, einer prägnanten kulturellen Selbstdarstellung zu begegnen, werden doch in dieser, teils bewusst, teils unbewusst, kulturelles Wissen und Selbstdeutung an die nachfolgende Generation vermittelt. An dieser Vermittlung kann auch der beobachtende Forscher teilhaben. Nimmt er beobachtend an einer cultural performance teil, kann sich ihm – unter idealen Bedingungen – aus einem Mikrokosmos die Eigenart einer ganzen Kultur erschließen. Eine 1973 veröffentlichte Studie über stimmt das Klageweib an der Bahre des Toten an; der Priester verkündet die Tora [Verhaltensregel] dem Laien am Heiligtum; den Rechtsspruch führt der Richter vor Gericht zur Begründung seiner Entscheidung an; der Prophet erhebt seinen Spruch etwa im Vorhof des Tempels; am Weisheitsspruch erfreuen sich die Alten am Tore; usw. Wer die Gattung [eines Textes] verstehen will, muss sich jedes Mal die ganze Situation deutlich machen und fragen: Wer ist es, der redet? Wer sind die Zuhörer? Welche Stimmung beherrscht die Situation? Welche Wirkung wird erstrebt? Oft wird die Gattung je durch einen Stand vertreten, für den sie bezeichnend ist; wie heutzutage die Predigt durch den Geistlichen, so damals die Tora durch den Priester, der Weisheitsspruch durch den Weisen, die Lieder durch den Sänger usw. So mag es auch einen Stand der wandernden Volkserzähler gegeben haben.“ (Hermann Gunkel, Reden und Aufstze, Göttingen 1913, S. 33).
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den Hahnenkampf auf der Insel Bali ist ein vielzitiertes Beispiel einer ethnologischen Arbeit, die diesem Ansatz verpflichtet ist.4 Beobachten wir den Hahnenkampf auf Bali, so zeigt Clifford Geertz, lernen wir einen Mikrokosmos der balinesischen Kultur kennen und gewinnen einen Einblick in den Ehrbegriff und das Männlichkeitsideal dieser Gesellschaft. Nun gibt es unter den cultural performances bestimmte rituelle Veranstaltungen, bei denen die didaktische Absicht besonders deutlich hervortritt. Das von Milton Singer im Jahr 1959 herausgegebene Buch Traditional India: Structure and Change enthält mehrere Beiträge, die sich mit der Weitergabe traditioneller Hindu-Erzählungen beschäftigen. Norvin Hein stellt das im Norden Indiens gefeierte Râm Lîlâ-Fest vor, bei dem ein Epos über mehrere Tage hinweg von Laienschauspielern nach der Art eines Theaters aufgeführt wird.5 Ein weiterer Beitrag desselben Bandes erörtert die Tätigkeit von Geschichtenerzählern und Predigern der Hindus.6 Ich habe vorgeschlagen, solche der Darstellung traditioneller Mythen und der Vermittlung traditioneller Lehren dienende cultural performances als intellektuelle Rituale zu bezeichnen7; in dem einschlägigen, 1984 veröffentlichten Buch ist indisches und anderes ethnographische Material mit Schriftlesung und Predigt in Judentum, Christentum und Islam zusammengestellt. In den drei monotheistischen Buchreligionen spielen heilige Texte eine große Rolle im Kult.8 Besonders der Protestantismus beschränkt seinen Gottesdienst oft auf das intellektuelle Ritual, weil die Theologen in diesem den Höhepunkt und das Wesen ihrer Religion erkennen. Fragen wir soziologisch nach den Trägern intellektueller Rituale, so drängen sich die Begriffe Erinnerungsgemeinschaft, Erzählgemeinschaft und Textgemeinschaft auf. Die Kultgemeinschaft, die intellektuelles 4
5 6 7 8
Clifford Geertz, „Deep play – Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“, in: ders., Dichte Beschreibung. Beitrge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt von Brigitte Luchesi und Ralf Bindemann, Frankfurt/M. 1983, S. 208 – 260. Norvin Hein, „The Râm Lîlâ“, in: Singer (Hrsg.), Traditional India (Anm. 2), S. 73 – 98. V. Raghavan, „Methods of Popular Religious Instruction in South India“, in: ebd., S. 130 – 138. Lang, Das tanzende Wort (Anm. 1), 9 – 14 und 15 – 48. Bernhard Lang, „Buchreligion“, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 143 – 165; ders., Heiliges Spiel (Anm. 1), S. 161 – 171.
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Ritual pflegt, ist zugleich Erinnerungs-, Erzähl- und Textgemeinschaft, wenngleich – wie wir sehen werden – in unterschiedlichem Maße. Auszugehen ist von der Erinnerungsgemeinschaft, denn diese darf als die elementarste Form der Gemeinschaft gelten, die uns hier beschäftigt.9 Familien und die Mitglieder einer ehemaligen Schulklasse sind Beispiele für Erinnerungsgemeinschaften; die Erinnerungen werden auf Familien- beziehungsweise Klassentreffen – zum Beispiel auf Geburtstagen, Hochzeitsfeiern, Abitursjubiläen – ausgetauscht und aufgefrischt; bekannte Namen werden wieder in Erinnerung gerufen, gemeinsam Erlebtes und Erlittenes wird gewöhnlich in wiedererzählten Anekdoten lebendig. Erlebtes wird erinnert, und man kann sagen, dass sich die Gemeinschaft nicht nur durch die in der Vergangenheit liegenden gemeinsam erlebten Ereignisse, sondern noch mehr durch die in der Gegenwart lebendig werdende, in Anekdoten und Episoden fixierte Erinnerung konstituiert. Da das Erzählen Erinnertes lebendig werden lässt, können wir die Erinnerungsgemeinschaft als Erzählgemeinschaft auffassen. Allerdings betreten wir mit dem Stichwort Erzählgemeinschaft bereits einen anderen Bereich, denn nicht jede Erzählgemeinschaft ist zugleich in dem angegebenen Sinne auch Erinnerungsgemeinschaft. Wenn die Volkskunde (offenbar seit 1933) bei ihrer Beschäftigung mit mündlicher Märchen- und Sagenüberlieferung von Erzählgemeinschaften10 spricht, müssen diese keineswegs auch Erinnerungsgemeinschaften sein. „Erzählgemeinschaften, das heißt vorwiegend abendliche Zusammenkünfte, an denen zur Unterhaltung Geschichten – Märchen, Sagen, Legenden, Novellen, Schwänke, Schnurren und anderes mehr – erzählt wurden, gab es einst wohl allenthalben“, schreibt eine Volkskundlerin, und fügt hinzu, solche Gemeinschaften des „kleinen Volkes“ der Bauern und Handwerker, die 9 Harald Welzer, „Gedächtnis und Erinnerung“, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, hrsg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, Stuttgart 2004, S. 155 – 174, hier S. 157 f. und 162. 10 Ein früher Beleg ist Otto Brinkmann, Das Erzhlen in einer Dorfgemeinschaft, Münster 1933, S. 10: „Zur Erzählgemeinschaft gehört das ganze Dorf, die jeweilige Zusammensetzung der erzählenden Gruppe ist von untergeordneter Bedeutung.“ Das Wort „Erzählgemeinschaft“ ist in der Volkskunde geläufig; vgl. Linda Dégh, Mrchen, Erzhler und Erzhlgemeinschaft. Dargestellt an der ungarischen Volksberlieferung, Berlin 1962; Modellfall dieser Autorin ist die dörfliche Erzählgemeinschaft, doch verweist sie auch auf Handwerker, Soldaten, Schiffer, Menschen im Krankenhaus oder Gefängnis, die Erzählgemeinschaften bilden können.
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sich in Spinnstube, Kaffeehaus oder um den häuslichen Ofen versammeln, seien seit drei oder vier Generationen im Abendland zerfallen.11 (Dagegen gibt es noch die Erzählgemeinschaften – oder besser gesagt: Konversationsgemeinschaften12 – der feinen Salons, die sich über literarische, politische und kulturelle Fragen austauschen). Nach Leza Uffer, auf deren Aufsatz ich mich hier beziehe, scharen sich die kleinen Erzählgemeinschaften regelmäßig um einen besonders begabten Meistererzähler, der eine große Zahl von Geschichten kennt und kunstvoll vorzutragen vermag. Diesem Begriff der konkreten, kleinen, örtlich definierten Erzählgemeinschaft steht eine erweiterte Semantik gegenüber, wenn Harald Weinrich den oft zitierten Satz prägt: „Das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft“13 ; damit will er sagen: Das Erzählen ist eine grundlegende, die Überlieferung pflegende Kommunikationsform innerhalb des Christentums, in der Theologie wird sie, zu Unrecht, zugunsten argumentierender Kommunikationsformen vernachlässigt. Wie Weinrich richtig beobachtet, kommt dem Erzählen innerhalb des Christentums – gerade innerhalb des intellektuellen Rituals – eine grundlegende Bedeutung zu. Ambivalent ist allerdings das Verhältnis der Erzählgemeinschaft zur Erinnerungsgemeinschaft. Beim Christentum des Neuen Testaments ist die Erinnerungsgemeinschaft, die, sich an Jesus erinnernd, von ihm Geschichten erzählt und Aussprüche wiedergibt, noch weithin identisch mit der Erzählgemeinschaft; doch bereits die Tatsache der Aufzeichnung durch Evangelisten, die Jesus nicht mehr gekannt haben, zeigt den Übergang zur Erzählgemeinschaft, die nicht mehr in der primären Erinnerungsgemeinde wurzelt. Das Erinnerte wird zum Wissensschatz, der, wie in der 11 Leza Uffer, „Von den letzten Erzählgemeinschaften in Mitteleuropa“, in: Rainer Wehse (Hrsg.), Mrchenerzhler – Erzhlgemeinschaft, Kassel 1983, S. 21 – 38, hier S. 21. 12 Die Einführung des Wortes „Konversationsgemeinschaft“ scheint mir an dieser Stelle sinnvoll. Der von Leza Uffer genannte literarisch-philosophische Salon lässt sich nämlich nur mit Mühe mit dem Begriff der „Erzählgemeinschaft“ erfassen. Musterbeispiel einer Konversationsgemeinschaft ist der sich mehrmals wöchentlich um 18 Uhr im Couvent Saint-Joseph in Paris treffende Kreis um Madame du Deffand, wo in den 1750er und 1760er Jahren unter anderen die Philosophen D’Alembert und Montesquieu verkehrten. Auch wenn die klassische französische Salonkultur untergegangen ist, bestehen intellektuelle Gesprächskreise bis heute. 13 Harald Weinrich, „Narrative Theologie“, in: Concilium, 9/1973, S. 329 – 333, hier S. 330.
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volkskundlich erforschten Märchen-Erzählgemeinschaft, durch begabte Tradenten ausgebreitet wird. Folgt man neueren Forschungen, so eignet dem Unterschied zwischen Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft allergrößte Relevanz, da die Erstere auf einer grundsätzlich anderen Form des Gedächtnisses und des Wissens als die Letztere beruht. Die Gesamtheit der expliziten intentionalen Akte des Erinnerns innerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft, wie zum Beispiel einer Familie, bildet das episodische Gedächtnis, das sich durch ein hohes Maß an Emotionalität auszeichnet. Die Emotionalität fehlt beim semantischen Gedächtnis, das kontextfrei jene Wissensstoffe speichert, die wir als abfragbares Wissen in Schule und Studium erlernen.14 Legen wir den Ansatz von Harvey Whitehouse zugrunde, müssen wir die eine Erinnerung pflegende Erinnerungsgemeinschaft dem lebendigen episodischen (autobiographischen) Gedächtnis zuordnen, während die einem Wissensschatz verpflichtete Erzählgemeinschaft auf das semantische Gedächtnis zurückgreift.15 Whitehouse benutzt den Unterschied von episodisch-emotionalem und semantischem Gedächtnis zur Unterscheidung zweier elementarer Ritualformen. Zum episodisch-emotionalen Gedächtnis gehört jener archaische, den menschlichen Körper mit einbeziehende Ritualtyp, der durch Stammesinitiationen vertreten wird; dieser schafft kleine Gruppen von Mitgliedern, die sich durch gemeinsames, mitunter traumatisches Erleben sehr eng miteinander verbunden fühlen. In diesem Falle spricht Whitehouse von ,bildhafter Religiosität‘ (imagistic religiosity). Die in der Geschichte der Menschheit jüngeren wissensvermittelnden (in meiner Terminologie: intellektuellen) Rituale sprechen das semantische Gedächtnis an; sie zielen auf die Bildung großer Gruppen, deren emotionaler Zusammenhalt gering ist. Sie gehören zur ,lehrhaften 14 Welzer, „Gedächtnis und Erinnerung“ (Anm. 9), S. 157 f; Harvey Whitehouse, Arguments and Icons: Divergent Modes of Religiosity, Oxford 2000, S. 5 – 9. – Bereits Friedrich Nietzsche trägt in seiner Genealogie der Moral (1887) Überlegungen zu dem heute so genannten episodischen, stark körperbestimmten Gedächtnistyp vor. Neuerdings bestimmt Franz Maciejewski (in seinem unveröffentlichten Manuskript „Trauma und Tradition. Zur Dialektik von Schrift- und Körpergedächtnis“) „Körpergedächtnis“ und „Schriftgedächtnis“ als die beiden tragenden Säulen des kulturellen Gedächtnisses, fügt jedoch noch das „Bildgedächtnis“ hinzu; vgl. Franz Maciejewski, Der Moses des Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder, Göttingen 2006, S. 210. 15 Whitehouse, Arguments and Icons (Anm. 14); ders., Modes of Religiosity. A Cognitive Theory of Religious Transmission, Walnut Creek/Cal. 2004.
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Religiosität‘ (doctrinal religiosity). Die beiden Ritualformen stellt Whitehouse auch tabellarisch einander gegenüber, um ihren Charakter zu verdeutlichen16 : Kriterium Vollzug emotionale Beteiligung Art des Gedächtnisses
bildhaftes Ritual selten hoch episodisches Gedächtnis
Herkunft des vermittelten Wissens von innen Eigenart des Wissens
bildhaft, vieldeutig
sozialer Zusammenhalt der Gruppe stark Führerschaft ausgeprägt Grenzen der Gruppe exklusive Gruppe Weitergabe der Überlieferung
langsam, schleppend
Gruppengröße Homogenität Struktur
klein niedrig dezentral
lehrhaftes Ritual häufig gering semantisches Gedächtnis von außen erlernt narrativ, rhetorisch gering diffus inklusive, offene Gruppe schnell, effizient groß hoch zentralistisch
Lehrhafte Rituale vermitteln einen Wissensschatz. Da dieser dem vergesslichen Gedächtnis leicht zu entschwinden droht, werden Lehrrituale oft wiederholt, wie das Beispiel der Predigt belegt. Der Befestigung im Gedächtnis dient nicht nur die häufige mündliche Wiederholung, sondern auch die schriftliche Fixierung. Wird der Wissensschatz schriftlich verfügbar, entsteht die Textgemeinschaft. Tatsächlich pflegen die Mitglieder von Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften nicht nur mündlichen Verkehr, sondern beziehen sich seit ältester Zeit auch auf schriftliche Zeugnisse. Das ist besonders dann der Fall, wenn erzählte Ereignisse weit zurückliegen und niemand mehr lebt, der sich unmittelbar erinnert; dann verwandelt sich die Erinnerungsgemeinschaft in eine Erzählgemeinschaft und wird, zumindest der Tendenz nach, zur wissensvermittelnden Institution. An dieser Stelle kommt der Begriff der Textgemeinschaft ins Spiel, der in zwei Varianten begegnet: einer, die an relativ kleine Gruppen denkt, und einer, der ganze Religionsund Kulturgemeinschaften umfassen kann. Den Begriff textual community hat der kanadische Mediävist Brian Stock geprägt und in einem 1983 erschienenen Buch zur Charakterisierung mittelalterlicher Re16 Ebd., S. 74.
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form- und Sektenbewegungen verwendet.17 Er untersucht die Funktion autoritativer Texte und deren Interpretation in kleinen Gemeinschaften, die sich um mittelalterliche Textgelehrte scharen. Damit können wir die – recht abstrakte – theoretische Grundlegung abschließen. Es gilt nun, sie mit Anschauungsmaterial aus der historischen Forschung zu füllen. Dazu ist es zuerst nötig, uns die primären Ziele zu vergegenwärtigen, die sich in der kirchlichen Tradition mit Predigt und Schriftlesung verbinden. Die Taufe, so belehrt uns diese Überlieferung, stellt den Menschen in den Bereich göttlicher Gnade und macht ihn zu einem Glied des Leibes Christi, der Kirche. Dadurch wird ewiges Heil ermöglicht, aber nicht verbürgt. Ewiges Heil gilt nämlich nicht als von selbst eintretende Folge von Taufe und daraus resultierender Mitgliedschaft in der Kirche. Was immer Theologen über den Geschenkcharakter des Heils sagen, es besteht Einigkeit darüber, dass das Heil in einem lebenslangen, bewussten Prozess erworben werden muss. Die intellektuelle Seite des Gottesdienstes – Schriftlesung und Predigt – soll diesen Prozess anstoßen und erleichtern. Allerdings bestehen unterschiedliche Vorstellungen über die Eigenart des vom Gläubigen zurückzulegenden Wegs, und dementsprechend setzen sich die Prediger unterschiedliche Ziele. Die einen sehen in moralisch einwandfreier Lebensführung die wichtigste Voraussetzung für den Erwerb ewigen Lebens. Dementsprechend gilt die Vermittlung sittlicher Werte und Weisungen als Hauptaufgabe der Predigt. Andere heben das Wissen hervor: Nur eine ausreichende Kenntnis der biblischen Botschaft, wie in der Bibel niedergelegt und in der Predigt gelehrt, kann zum ewigen Leben führen; dementsprechend gilt die pädagogische Vermittlung von Heilswissen als vorrangig.18 Die Wertschätzung von Heilswissen wird von manchen Theologen dahin präzisiert, dass nicht das Wissen als solches für den Heilserwerb entscheidend ist, sondern die rechte Glaubenshaltung; nach dieser Auffassung will die Predigt zur Glaubensentscheidung einladen und anleiten. Wir unterscheiden demnach drei Idealtypen der Predigt: die den sündigen Menschen auf den rechten Weg leitende sittliche Ermahnung; die das Heilswissen vermittelnde 17 Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983. 18 Diesen für die Geschichte des christlichen Bildungswesens relevanten Gedanken entfaltet etwa Adam H. Becker, Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and Christian Scholastic Cultur in Late Ancient Mesopotamia, Philadelphia 2006, S. 22 – 40.
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Instruktion; und die den Hörer zur Glaubensentscheidung drängende Einladung.19 Die nachfolgende Erläuterung dieser Zielbestimmungen ist so angelegt, dass sie zuerst von Predigt und Schriftlesung (gemäß dem ersten Predigtziel) als disziplinierendem Ritual handelt, um dann in einem zweiten Schritt von Wissensvermittlung und Anleitung zum Glauben zu sprechen.
Schriftlesung und Predigt als disziplinierendes Ritual Die frühesten Zeugnisse über intellektuelles Ritual, die wir besitzen, erhellen die Früh- und Vorgeschichte jener Einrichtung, die im ersten nachchristlichen Jahrhundert ins Licht der Geschichte tritt: den auf Schriftlesung und Predigt beruhenden Gottesdienst der jüdischen Synagoge. Wir können davon ausgehen, dass es im Kult des alten Israel zunächst kein Buch, keine Schriftlesung und keine Predigt gab. Im Zentrum des Kultus stand das allenfalls durch Gebet begleitete Tieropfer. In der Spätzeit Israels trat der Gottesdienst der entstehenden Synagoge an die Seite des Opferkults. In der Synagoge werden keine Opfer dargebracht; sie ist bis heute ein Haus des Gebets, der Schriftlesung und der texterläuternden Predigt. Zu den frühen Zeugnissen gehört jener Bericht über Jesus, von dem Lukas weiß, er sei am Sabbat in die Synagoge seiner Heimatstadt Nazaret gegangen, wo man ihn aus der Schrift vorlesen und ein erläuterndes Wort sprechen ließ.20 Wie immer es um die historische Zuverlässigkeit des Berichts bestellt sein mag, eines ist sicher: im 1. Jahrhundert gibt es Synagoge, Heilige Schrift und wöchentlich vollzogenes intellektuelles Ritual, bestehend aus Schriftlesung und Predigt. Über den Ursprung des intellektuellen Rituals der Synagoge habe ich eine eigene, wie ich hoffe plausible These entwickelt, zu der es zumindest derzeit keine ernsthaft zu erwägende Alternative gibt. Mein Ausgangspunkt ist folgende Beobachtung: In den meisten frühen Quellen, die sich auf den synagogalen Gottesdienst beziehen, ist vom öffentlichen Vorlesen speziell von Gesetzen die Rede. So heißt es in der griechischen Theodotosinschrift (aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.), eine Jerusalemer Synagoge sei gestiftet worden „zur Vorlesung des Gesetzes und zum Unterricht in den Geboten“ (eQr !m[\c]mys[im] m|lou Áa· eQr 19 Lang, Heiliges Spiel (Anm. 1), S. 172 f. 20 Lk 4,16 – 22.
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[d]idaw[µ]m 1mtok_m).21 Im alttestamentlichen Buch Nehemia wird ein öffentlicher Lesegottesdienst geschildert; im Bericht heißt es: „Man las aus dem Buch, dem Gesetz (torah) Gottes, in Abschnitten vor und gab Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.“22 Ein weiteres biblisches Buch, das Deuteronomium, berichtet von Mose, er habe angeordnet, man solle aus der „Weisung“ (torah) vorlesen; versammeln sollen sich Männer und Frauen, Kinder und Greise, „damit sie hören und auswendig lernen und Jahwe, euren Gott, fürchten und darauf achten, dass sie alle Bestimmungen dieser Weisung halten“.23 Solche Belege lassen auf einen juridischen Brauch schließen, dem zufolge rechtliche Bestimmungen jenen, für die sie gelten, immer wieder aus Urkunden vorgelesen und erläutert wurden. Tatsächlich lässt sich das regelmäßige öffentliche Vorlesen von Rechtsurkunden als alte Tradition nachweisen. Die dafür in Frage kommenden Belege weisen in das Zweistromland des 2. vorchristlichen Jahrtausends zurück, also in die bronzezeitliche Keilschriftkultur und deren Rechtspraxis. Einige Textbelege seien angeführt: Ein in Nuzi (in der Nähe von Kirkuk, Irak) gefundenes Dokument bestimmt, dass ein Erlass, der die Palastangehörigen betrifft, diesen in jedem dritten oder vierten Jahr zur Kenntnis gegeben wird; ein hethitischer Vasallenvertrag schreibt vor, dass der Vertragstext dem Vasallen dreimal jährlich vorzulesen ist.24 Dem hethitischen Thronfolger soll man das Testament seines Vaters oft in Erinnerung rufen: „Diese Tafel soll man dir stets Monat für Monat vorlesen; so wirst du dir meine Worte und meine Weisheit immer wieder ins Herz einprägen.“25 In der Bibel steht das Buch Deuteronomium mit dem Rechtswesen der Keilschriftkulturen noch in engem Kontakt, so dass der zeitliche Abstand zwischen der Entstehung der Synagoge und den altorientalischen Rechtstexten kein 21 Text der Theodotos-Inschrift zitiert nach: Wolfgang Schrage, „Synagogê“, in: Theologisches Wçrterbuch zum Neuen Testament, Bd. 7, Stuttgart [u.a.] 1964, S. 798 – 850, hier S. 820. 22 Neh 8,8. 23 Dtn 31,12. 24 Robert H. Pfeiffer/E. A. Speiser, One Hundred New Selected Nuzi Texts, New Haven 1936, S. 103; Gary Beckman, Hittite Diplomatic Texts, Atlanta 21999, S. 91 und S. 46. 25 Ferdinand Sommer/Adam Falkenstein, Die hethitisch-akkadische Bilingue des Hattusili I. [Labarna II.], München 1938 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung N.F. 16), S. 15
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unüberwindbares Problem ist. Das Buch Deuteronomium ist in seinem kanonischen Textbestand wohl im 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden; in diese Zeit würde ich auch die Entstehung des intellektuellen Rituals ansetzen. Im Buch Deuteronomium findet sich bereits ein umfassendes Programm jüdischer Identitätsbildung mittels Disziplinierung, das auf drei Säulen ruht – heiligem Buch, Weitergabe der Lehre durch öffentliche Schriftlesung, strenger religiöser Kontrolle aller Mitglieder der Glaubensgemeinschaft; den Kontrollgesetzen fehlt dabei die Festsetzung der Todesstrafe für Abweichler nicht.26 Als Ergebnis möchte ich festhalten: Die öffentliche Verlesung von Texten der Heiligen Schrift, in einem profanen juridischen Ritual wurzelnd, dient im Judentum ursprünglich der Proklamation und Einschärfung von Rechtsbestimmungen. Die wichtigste dieser Bestimmungen ist das Gebot, nur den einen Gott zu verehren. Schriftlich festgehalten, darf es nicht in der Ruhe eines Archivs schlummern; vielmehr muss es immer wieder, durch Verlesung ,vermündlicht‘, zu Gehör gebracht werden. 26 Dtn 1,5; 4,2; 13,1 (heiliges Buch); 13,2 – 6; 17,2 – 7 (Kontrolle); 31,12 (öffentliche Lesung). Die entsprechenden Bestimmungen haben das politische System des spätassyrischen Reiches zur Voraussetzung, ein System, das sich durch Überwachung der Untertanen vor Aufständen zu schützen suchte. Das Deuteronomium ahmt das staatliche Vorbild nach, um es auf die monotheistische Religionsgemeinschaft anzuwenden, denn auch diese galt es vor Gegnern und Abtrünnigen zu schützen. Da eine zusammenfassende Analyse der deuteronomischen Texte und ihres Hintergrundes fehlt, ist es nötig, Einzelstudien anzuführen: Bernhard Lang, „George Orwell im gelobten Land. Das Buch Deuteronomium und der Geist kirchlicher Kontrolle“, in: Ernst Walter Zeeden/Peter Th. Lang (Hrsg.), Kirche und Visitation. Beitrge zur Erforschung des frhneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984, S. 21 – 35; ders., „Das früheste Christentum im Konflikt mit dem jüdischen Strafrecht“, in: Johannes Neumann/Michael W. Fischer (Hrsg.), Toleranz und Repression, Frankfurt 1987, S. 155 – 169; ders., „Segregation and Intolerance“, in: Morton Smith/R. Joseph Hoffmann (Hrsg.), What the Bible Really Says, Buffalo 1989, S. 115 – 135; Paul-Eugène Dion, „Deuteronomy 13: The Suppression of Alien Religious Propaganda in Israel during the Late Monarchical Era“, in: Baruch Halpern/Deborah W. Hobson (Hrsg.), Law and Ideology in Monarchical Israel, Sheffield 1991 ( Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 124), S. 147 – 216; Bernard M. Levinson, „But you shall surely kill him! The Text-critical and Neo-Assyrian Evidence for MT Deuteronomy 13:10“, in: Georg Braulik (Hrsg.), Bundesdokument und Gesetz. Studien zum Deuteronomium, Freiburg/Br. 1996 (Herders biblische Studien 4), S. 37 – 63. Christoph Koch, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronium, Berlin – New York 2008 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 383), S. 108 – 170.
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Die sozialer und moralischer Disziplinierung dienende Predigt ist besonderes für das Mittelalter charakteristisch. Einen ersten Hinweis – und geradezu eine Definition – gibt uns die sogenannte Bullierte Regel des heiligen Franziskus (1223) in einem Abschnitt, der den Mitgliedern des Ordens die Predigt zur Pflicht macht : „Dringend ermahne ich die Brüder, dass sie in der Predigt, die sie halten, wohlbedacht und lauter reden zum Nutzen und zur Erbauung des Volkes, indem sie zu ihnen sprechen von den Lastern und Tugenden, von der Strafe und Herrlichkeit. Dabei sollen sie sich kurz fassen, wie der Herr auf Erden sein Wort kurz gefasst hat.“27 Inhaltlich wird die Predigt als Moralpredigt bestimmt, und zwar in einer Formulierung, die, mittelalterliches Predigen in der frühen Neuzeit noch einmal zusammenfassend, das Konzil von Trient 1546 aufgegriffen hat: Aufgabe der Bischöfe ist es, „zu lehren, was für alle zu wissen heilsnotwendig ist, indem sie ihnen kurz und leicht verständlich die Laster darlegen, die sie meiden, und die Tugenden, nach denen sie streben sollen, damit sie der ewigen Strafe entgehen und die himmlische Herrlichkeit erlangen können“.28 Wie das solcher Zielvorgabe entsprechende Predigen aussieht, soll anhand zweier Gestalten veranschaulicht werden: an Gregor dem Großen (ca. 540 – 606) und Humbertus a Romanis (ca. 1200 – 1277).29 Von beiden sind einflussreiche Anleitungen zur Predigt überliefert. Gregors Pastoralregel (Regula pastoralis, 590 – 591) und Humberts Ausbildung der Prediger (De eruditione praedicatorum, nach 1263) belehren den Prediger über seine Aufgabe und leiten ihn zu einem differenzierten Umgang mit seiner Zuhörerschaft an. Gregors Predigtlehre beruht auf der Unterscheidung zwischen Glaubenslehre und moralischer Ermahnung. Während die Glaubenslehre für alle gleich sein muss, für Männer und Frauen, für Gebildete und Ungebildete, für Adlige und Bauern, kann das bei der sittlichen Unterweisung nicht der Fall sein. Der Pre27 Moneo quoque et exhortor eosdem fratres, ut in praedicatione quam faciunt sint examinata et casta eorum eloquia, ad utilitatem et aedificationem populi, annuntiando eis vitia et virtutes, poenam et gloriam, cum brevitate sermonis, quia verbum abbreviatum fecit Dominus super terram. („Regula Bullata“ Kap. 9, in: Regula et constitutiones Generales Fratrum Minorum, Rom 1913, S. XVII). 28 […] docendo ea, quae scire omnibus necessarium est ad salutem, annuntiandoque eis cum brevitate et facilitate sermonis vitia quae eos declinare, et virtutes quas sectari oporteat, ut poenam aeternam evadere et coelestam gloriam consequi valeant. (Konzil von Trient, Sitztung vom 17. Juni 1546, in: Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der çkumenischen Konzilien, Bd. 3, Paderborn 2002, S. 669). 29 Lang, Heiliges Spiel (Anm. 1), S. 184 – 187.
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diger hat Rücksicht darauf zu nehmen, ob er zu Männern oder Frauen, Untergebenen oder Herren, Sklaven oder Freien, Gebildeten oder Ungebildeten, Verheirateten oder Unverheirateten spricht. Doch nicht nur Geschlecht und Stand, sondern auch Charakter sowie seelischer und körperlicher Zustand verdienen Berücksichtigung. Die Zuhörer mögen froh oder traurig, gesund oder krank, geduldig oder aufbrausend, demütig oder stolz, faul oder fleißig, friedliebend oder streitsüchtig sein. Auch allerlei moralische Defekte sind in Rechnung zu stellen, neigen doch einige zum Stehlen, andere zu Völlerei oder Ungeduld. Die Handbücher von Gregor und Humbert bieten eine Anleitung zur wirkungsvollen Predigt für die verschiedenen Gruppen, Berufe und Charaktertypen unter den Zuhörern. Jeder wird an seine Pflichten erinnert und vor seinen besonderen Versuchungen gewarnt. Humberts Buch enthält hundert Predigtentwürfe für verschiedene Zuhörergruppen (für Frauen, Laienbrüder des Dominikanerordens, dem Humbert angehört usw.), hundert weitere für bestimmte Zeiten des Kirchenjahres, sowie fünfundzwanzig für Tage, an denen der Jungfrau Maria, der Maria Magdalena und verschiedener Kirchenlehrer und Heiliger gedacht wird. In den Entwürfen begegnen wir immer wieder neuen und interessanten Menschen und Situationen. Da ist der pflichtvergessene Benediktiner, der anderen keine gastliche Aufnahme gewährt und es unterlässt, Almosen zu verteilen; der adlige Herr, der prächtige Turniere veranstaltet und so Besitz und Familie ruiniert; die Stadt, die sowohl großen Menschenmengen als auch der Sünde Heimat bietet; die reichen Städter, die nicht zur Kirche gehen und den Feudalherren den geschuldeten Tribut verweigern; der Trinker und der Fresser und andere, die sich auf Hochzeiten dem Wein, der Völlerei und noch schlimmeren Lastern hingeben. Nach Humbert ruft die Predigt zur Umkehr, zur Änderung des Lebens und zur Abkehr von den Sünden und Lastern der Welt, wie sie besonders die Stadtkultur Frankreichs beherrschen. Der mittelalterlichen Theorie galt das Abfassen einer Predigt als anspruchsvolle geistige Tätigkeit. Auf die Abfassung musste aber die öffentliche Darbietung folgen. Gregor der Große spricht von dieser gerne als der Verabreichung von Arznei, wobei er auf eine Metapher zurückgreift, die sich über Augustinus und Ambrosius bis zu den antiken Popularphilosophen zurückverfolgen lässt. Der Vergleich zwischen dem Prediger und dem Arzt war besonders in der hellenistischen Ethik
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verbreitet30, in der Spätantike begegnet er noch bei Boethius, der in seinem Trostbuch die ihn tröstende Philosophie als Ärztin auftreten lässt, die ihm ihre Lehre als Medizin verabreicht. Wie der stoische und kynische Popularphilosoph, so fühlt sich auch der christliche Prediger als Arzt, der mit seiner Medizin die Seelen seiner Zuhörer von unangemessenen Erregungen – Wollust, Zorn, Habgier – kuriert. Die Predigt lindert moralische Schmerzen und heilt die Wunden der Sünde. Humbert greift die Sprache Gregors auf, wenn er sagt, Prediger seien Ärzte. Hat nicht der Herr selbst gesagt: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“? 31 „Mangelt es an Predigt“, fügt er hinzu, „dann ist die Ausbreitung von Seuchen nicht mehr aufzuhalten“.32 Der Predigerorden (die Dominikaner) gilt ihm als „die Gesundheit der Welt“.33 Die Predigt dient als wirkungsvolle, vielfältig einsetzbare Medizin. Auffällig ist bei diesem Predigtkonzept die strenge Aufteilung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Die theoretische, auf Bibel und theologische Abhandlungen zurückgreifende, die Predigt hervorbringende Tätigkeit ist Sache der Theologen; die Mitteilung erfolgt mündlich, und der Zuhörer, stets in dieser Rolle verbleibend, wird nicht zum Leser. Verlassen wir nun Gregor und Humbert, um uns einer weiteren Predigergestalt zuzuwenden: Arialdus von Varese. Die Beschäftigung mit ihm wird uns die Textgemeinschaft als weitere, mit disziplinierender Predigt verbundene Erscheinung erschließen. Ariald war ein Aufsehen erregender und in seiner Tätigkeit einflussreicher Prediger. Zum Diakon geweiht, wirkte er um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Mailand, bis er 1067 von Gegnern ermordet wurde. Ariald ist einer der Führer einer Bewegung, welche den Klerus reformieren wollte und, gegen Klerikerehe und Kauf kirchlicher Ämter predigend, in Mailand und darüber hinaus große Anhängerschaft fand, so dass heutige Historiker von einer milanesischen Volksbewegung sprechen. Ariald weist dem Kleriker und dem Laien verschiedene Rollen in der Kirche zu, und diese sind für das Verständnis der Bewegung 30 Abraham J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis/ Min. 1989, S. 121 – 136; Martha C. Nussbaum, A Therapy of Desire, Princeton 1994, S. 13 – 16 und S. 51 – 53. 31 Mt 9,12. 32 Humbertus de Romanis, „De eruditione praedicatorum“, in: Simon Tugwell (Hrsg.), Early Dominicans. Selected Writings, New York 1982, S. 179 – 370, hier S. 189. 33 Ebd., S. 189.
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grundlegend. Die Kleriker sind die literati, die Gebildeten, die sich mit der Heiligen Schrift beschäftigen und denen von Gott das Verständnis dieser Bücher geschenkt ist; sie sind „frei von weltlichen Sorgen und belehrt durch unablässige Betrachtung des heiligen Gesetzes“.34 Dagegen gelten die Laien als illiterati, als Ungebildete – Menschen, welche die Heilige Schrift nicht kennen. Beiden Gruppen kommen verschiedene Aufgaben zu: Dem Volk predigend, gehen die Kleriker einer intellektuellen Tätigkeit nach; das Volk orientiert sich am Lebenswandel des Klerus, der für sie eine Art Text (lectio) für das ihnen mögliche Studium bildet.35 Gegenstand der sich an Laien wendenden Predigt ist jedoch nicht die Verbesserung der Moral der Zuhörer; vielmehr geht es um die zerfallene, nicht mehr vorbildliche Moral des Klerus. Ariald predigt gegen das verbreitete Konkubinat der Kleriker sowie den Kauf kirchlicher Ämter; auch will er, dass die Kleriker ihren seelsorgerischen Pflichten nachkommen und sich nicht als Händler, Geldverleiher, Betreiber von Kaufläden und dergleichen betätigen oder der Jagd nachgehen; mit anderen Worten: Ariald sagt dem korrupten Klerus den Kampf an und sucht und findet in der milanesischen Bürgerschaft breite Unterstützung. Rückhalt findet er vor allem bei einer kleinen Schar gebildeter Kleriker, mit denen er sich regelmäßig bespricht.36 Tatsächlich ist Ariald recht erfolgreich; seinen Anhängern gelingt es, verheiratete Kleriker aus der Stadt zu vertreiben. Wiederholt kommt es zu Unruhen. In zeitgenössischen Berichten lösen sich Szenen von gewaltsamer Auseinandersetzung und intellektuelle Diskussionen ab.37 Aufgerieben durch die Auseinandersetzungen in der Stadt, verzichtet schließlich der langjährige Erzbischof von Mailand, Wido, auf sein Amt (im Jahr 1070). Die Ereignisse im Mailand des 11. Jahrhunderts sind für Brian Stock exemplarisch; ihrer Struktur nach sind alle von ihm untersuchten anderen Bewegungen – so besonders die als häretisch verfolgten Armutsbewegungen der südfranzösischen Häretiker – analog. Stock charakterisiert solche Bewegungen als ,Textgemeinschaften‘ (textual communities). Was eine Textgemeinschaft ausmacht, lässt sich stichwortartig wie folgt zusammenfassen38 : 1) Grundlage bildet ein Text, der in der 34 35 36 37 38
Stock, The Implications of Literacy (Anm. 17), S. 225. Ebd., S. 219. Ebd., S. 226 f. Ebd., S. 202. Ebd., S. 522.
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Überlieferung kanonisches Ansehen besitzt; ein Text also, dem Prestige eignet. 2) Diesem Text wird eine bestimmte, klar umrissene Botschaft entnommen oder zugeschrieben. 3) Ein Gelehrter oder eine kleine Gruppe von Gelehrten verbürgt das korrekte Textverständnis. 4) Um den Text und seine gelehrten Interpreten schart sich eine Gruppe von Gelehrten und Ungelehrten, die in ihrem eigenen Leben die Botschaft des Textes verwirklichen und den Text als dauernd verhaltensregulierend betrachten. Die literati vermitteln die Botschaft des Textes den Laienmitgliedern der Textgemeinschaft insbesondere durch die Predigt. Brian Stock stellt auch eine Reihe theoretischer Überlegungen über das Wesen dieser mittelalterlichen Textgemeinschaften an: In this sense they were ‘textual communities [Textgemeinschaften].’ The term is used in a descriptive rather than a technical sense; it is intended to convey not a new methodology but a more intensive use of traditional methods, and, in particular, their use by groups hitherto dependent on oral participation in religion. What was essential to a textual community was not a written version of a text, although that was sometimes present, but an individual, who, having mastered it, then utilized it for reforming a group’s thought and action. The text’s interpreter might, like St. Bernard, remain a charismatic figure in his own right, whose power to motivate groups derived from his oratory, gestures, and physical presence. Yet the organizational principles of movements like the Cistercians were clearly based on texts, which played a pre-dominant role in the internal and external relationships of the members. The outside world was looked upon as a universe beyond the revelatory text; it represented a lower level of literacy and by implication of spirituality. Within the movement, texts were steps, so to speak, by which the individual climbed towards a perfection thought to represent complete understanding and effortless communication with God. Also, if a reformist group organized itself around a primitive text, let us say the words of Jesus or St. Paul, it could, by invoking precedent, demand that society as a whole abandon ‘customary’ principles of moral conduct and adopt a more rigorously ascetic model. The inevitable result was conflict, either within religious communities or in society at large.39
Texte werden entdeckt, von Gelehrten in ihrer charismatischen Qualität erkannt und der Reform bestimmter Gruppen zugrunde gelegt. Das im Zitat angeführte Beispiel ist der Zisterzienserorden, der sich von der benediktinischen Mönchsgemeinschaft lossagt und, die Regel verschärfend, konsequenten Besitzverzicht fordert und so eine Ordensreform auslöst. Mit Absicht spreche ich, über Brian Stock hinausgehend, 39 Ebd., S. 90.
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von der charismatischen Qualität eines als kanonisch verstandenen Textes, wird doch die Autorität dem Text selbst und nicht dem mittelalterlichen Interpreten zugeschrieben. Die Textgemeinschaft gruppiert sich um einen charismatischen Text, dem sie sich unterwirft – ähnlich wie es schon, nach dem biblischen Bericht, König Joschija getan hat. Im Alten Testament wird erzählt, wie ein heiliges Buch im Jerusalemer Tempel gefunden und dem König vorgelesen wird. Sich der Botschaft des Buches bedingungslos unterwerfend, führt der König eine einschneidende religiöse Reform durch. Der biblische Fundbericht40, der ein wirkliches Ereignis aus dem Jahre 623 vor Christus idealisiert, darf als Paradigma für den ganzen Vorgang gelten, wollen doch der König und der hinter diesem agierende Priester das ganze biblische Volk in eine Textgemeinschaft verwandeln – in eine Gemeinschaft, die ihre Identität und ihr Richtmaß in einem Buch findet, dem Gesetzbuch des Mose. Solche Erzählungen bleiben keineswegs vereinzelt; immer wieder treten sie auf. Es mag genügen, ein weiteres Beispiel anzuführen: Nach dem Bericht des Augustinus sollen in Trier zwei kaiserliche Beamte, als sie zufällig auf ein Buch mit der Lebensgeschichte des heiligen Antonius stießen, sofort ihren Dienst quittiert und Einsiedler geworden sein.41 Auch hier ist das Buch Träger eines bezwingenden Charismas. Aufschlussreich ist ein weiterer Abschnitt aus Brian Stocks Buch, denn dieser führt uns zur Bedeutung der Textgemeinschaft für gesellschaftliche Disziplinierung: Finally, the textual community was not only textual; it also involved new uses for orality. The text itself, whether it consisted of a few maxims or an elaborate programme, was often re-performed orally. Indeed, one of the clearest signs that a group had passed the threshold of literacy was the lack of necessity for the organizing text to be spelt out, interpreted, or reiterated. The members all knew what it was. As a consequence, interaction by word of mouth could take place as a superstructure of an agreed meaning, the textual foundation of behaviour having been entirely internalized. With shared assumptions, the members were free to discuss, to debate, or to disagree on other matters, to engage in personal interpretations of the Bible or to some degree in individualized meditation and worship. And the uses of what was so to speak a literate’s orality could be extended beyond the group, mainly by preaching. If this were done, a two-tiered structure resulted: a small inner core of literates, semi-literates, and nonliterates followed the interpretation of the text itself. But the literates within the heretical or reform group could also preach outside it to nonliterates whose 40 2 Kön 22. 41 Augustinus, Confessiones, VIII, 6,15.
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only bond with the founders was by word of mouth. Yet, these nonliterates had already begun to participate in literate culture, although indirectly. They were made aware that a text lay behind a sermon and they were given an indirect understanding of the principles of authentication, that is, of legal precedence and legitimation through writing. Although remaining unlettered, they could thereby comprehend how one set of moral principles could logically supersede another. In a sense, it was they rather than the spectacular leaders of movements who were the real avatars of change.42
Stock beschreibt, wie sich der Text mittels intellektueller Rituale auf die Gesellschaft auswirkt. In einem Prozess, der über eine Kerngruppe und Prediger verläuft, vermag der charismatische Text auf die Gesellschaft einzuwirken und diese umzugestalten. Eine kleine Kerngruppe entdeckt einen kanonischen Text, welcher der großen Tradition der Gebildeten und der Theologen entstammt, sie interpretieren diesen auf radikale Weise und machen sich zum Anwalt des Textes und seiner neu verstandenen Botschaft; so lässt sich das Wesen der Textgemeinschaft erfassen.43 Besondere Bedeutung kommt den analphabetischen Laien zu, die sich das Gedankengut der Textausleger aneignen und zur gesellschaftlichen Verwirklichung beitragen. Ihnen wird der Textbezug des auf Reform zielenden Gedankenguts immer deutlicher. Vielleicht ist es hilfreich, eine für Stock wichtige, aber in seinem Werk nicht immer deutliche allgemeine Fragestellung hervorzuheben. Stock setzt die Kategorien ,Kirche‘ und ,religiöse Bewegung‘ in einem der Religionswissenschaft geläufigen Sinne voraus: Die Kirche umfasst die gesamte Gesellschaft und beruht auf schriftlich fixiertem Recht, während die Bewegung auf mündlich wirkendem Charisma gründet. Der Kirchentypus ist beispielsweise in weiten Teilen des Judentums im ersten Jahrhundert verwirklicht, einer Buchreligion, während es neben der buchorientierten Richtung innerhalb des Judentums auch charismatische Gruppen gibt, die von mündlicher Kommunikation leben – so die Bewegung um Johannes den Täufer und um Jesus. Innerhalb der frühesten Kirche stehen sich auch alsbald zwei Formen der Kommunikation gegenüber: eine schriftliche und eine mündliche. Während die Kirche mit den Evangelien und der Didache Schriften hervorbringt, besteht noch einige Zeit lang jene missionarische Wanderinstitution, die Gerd Theißen als „Wandercharismatikertum“ bezeichnet; typisch für
42 Stock, The Implications of Literacy (Anm. 17), S. 91 f. 43 Ebd., S. 523.
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diese ist die mündliche Weitergabe von Jesusworten.44 Stock versucht, den Begriff der Bewegung historisch genauer zu bestimmen, indem er Reformbewegungen als ,Textgemeinschaften‘ beschreibt, denn auch sie berufen sich schließlich auf Bücher. Den entsprechenden Gedankengang hat jüngst auch Jörg Rüpke angedeutet. „Die letzte Folge von Schriftlichkeit“, schreibt er, ist die Entstehung von ,Sekten’, von ,Häresien’. Beides sind Begriffe, die nichts anderes sagen als dass Personen einer anderen Person folgen, zunächst gebraucht von Philosophenschulen. Das sind ,Textgemeinschaften’, sind Gemeinschaften, die sich konstituieren durch den Bezug auf das ursprünglich schriftliche oder dann verschriftlichte Wort, das komplexe Gedankengebäude einer Person.45
In einem Essay hat sich Stock auch zu der Frage geäußert, ob das antike Judentum und das antike Christentum als Textgemeinschaften bezeichnet werden können.46 Dies bejahend glaubt er allerdings, einen Unterschied zwischen seinen Reformbewegungen und entsprechenden antiken Gruppen feststellen zu können. Er meint, antike Textgemeinschaften hätten einen höheren allgemeinen Anteil literarisch Gebildeter besessen als die mittelalterlichen Textgemeinschaften. Das scheint mir eine problematische Annahme; in der Antike wie im Mittelalter ist der Text zunächst Eigentum einer kleinen, literarisch gebildeten Elite, die von analphabetischen Laien umgeben ist. Auf diese Weise ist der Begriff der Textgemeinschaft ohne Schwierigkeit auch auf antike Verhältnisse anwendbar. Dabei fällt der Blick jedoch nicht nur auf die großen Gemeinschaften wie Judentum und Christentum, sondern auch – und in erster Linie – auf kleinere Gruppen. Viele der von Stock herausgestellten Kennzeichen der Textgemeinschaften gelten nicht nur für mittelalterliche häretische oder fast häretische Bewegungen, sondern „bereits für die Gemeinde von Qumran und für zahlreiche ähnliche Gruppierungen wie Orphiker, Pythagoräer, Gnostiker, Urchristen, 44 Gerd Theißen, „Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung der Worte Jesu im Urchristentum“, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 19), S. 79 – 105. 45 Jörg Rüpke, „Heilige Schriften und Buchreligionen. Überlegungen zu Begriffen und Methoden“, in: Christoph Bultmann [u.a.] (Hrsg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, S. 191 – 204 und 250 f., hier S. 203 f. 46 Brian Stock, „Textual Communities: Judaism, Christianity, and the Definitional Problem“, in: ders., Listening for the Text, Baltimore 1990, S. 140 – 158.
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Hermetiker usw., die sich im Hellenismus und in der Spätantike typischerweise auf der Basis eines Grundbestands normativer Literatur zusammenschlossen“.47 Jan Assmann, dem wir diesen Hinweis verdanken, charakterisiert das Wesen solcher Textgemeinschaften wie folgt: Kennzeichen einer textual community ist einerseits die identitäts-definierende Bedeutung eines solchen Grundtexts, zum andern die Struktur von Autorität und Führerschaft, die sich aus der Kompetenz im Umgang mit Texten ergibt. Philologische und politische Kompetenz fallen hier zusammen. Die Führung gebührt dem, der die umfassendste Kenntnis und die einleuchtendste Deutung der Texte besitzt.48
Folgt man dem Gedankengang Assmanns, dann erscheinen nicht nur Orphiker, Gnostiker und Urchristen – alles Gruppen mit Verhaltenskodex und streng geregeltem Leben – als Textgemeinschaften, sondern auch christliche Ordensgemeinschaften. Man muss nicht lange suchen, um auch bei ihnen spezielle intellektuelle Rituale zu finden. Ein solches führt Benedikt von Nursia ein, indem er in seiner Mönchsregel vorschreibt: „Diese Regel soll in der Klostergemeinde des Öfteren vorgelesen werden, damit sich keiner der Brüder mit Unkenntnis entschuldigen kann.“49 Derselben Technik bedient sich im 14. Jahrhundert der südfranzösische Inquisitor Bernard Gui (Bernardus Guidonis, 1261 – 1331); hat der Anhänger einer Ketzerbewegung – etwa der Waldenser oder Albigenser – seinem Irrglauben abgeschworen, erhält er einen lateinischen Schriftsatz überreicht. Es wird vorausgesetzt, dass der Ketzer wenig gebildet und des Lateinischen unkundig ist; das geht aus folgender Bestimmung hervor: An jedem ersten Sonntag im Monat soll er das vorliegende Schriftstück seinem Pfarrer oder einem anderen des Lesens mächtigen kirchlichen Amtsträger vorlegen; dieser soll ihm den Text vorlesen und in der
47 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedchtnis, München 2000, S. 92. Die am Toten Meer in der Nähe von Qumran gefundene Gemeinderegel (Sektenregel, ca. 100/75 v. Chr.) schreibt allen Vollmitgliedern der Gemeinde vor, jeden Abend sich in Gemeinschaft drei Stunden mit Bibelstudium zu beschäftigen, vermutlich unter der Leitung eines Experten. Vgl. Benedict T. Viviano, „Study and Education“, in: Lawrence H. Schiffmann/James C. VanderKam (Hrsg.), Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls, New York 2000, S. 896 – 898. 48 Assmann, Religion (Anm. 47), S. 92. 49 Regula Benedicti 66, angeführt nach: Die Bendiktusregel lateinisch und deutsch, hrsg. von Basilius Steidle, Beuron 41980, S. 179.
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Volkssprache genau erklären, damit er auf diese Weise genau erfährt, was er zu tun und zu lassen hat.50
Der mit der Kirche wieder Versöhnte muss also in regelmäßigen Abständen eine private Katechese über sich ergehen lassen; diese soll die Umkehr des Sünders befestigen und dem Rückfall des Reuigen in die Ketzerei vorbeugen. Dazu gehört als weitere Maßnahme die Pflicht, der Hauptmesse ihrer Kirche beizuwohnen, und zwar der ganzen Messe; falls eine Predigt stattfindet, ist auch dieser beizuwohnen.51 – Ich möchte an dieser Stelle eine Parallele aus einer ganz anderen Zeit nicht unerwähnt lassen: Im Jahr 1772 hat Diderot, der französische Literat und Intellektuelle, seiner Tochter einen langen Brief in die Ehe mitgegeben, in welchem er ihr darlegt, wie eine Ehe gelingen kann. Darin heißt es: Je vous ordonne de serrer cette lettre, et de la relire au moins une fois par mois – „Ich heiße dich diesen Brief sorgfältig zu verwahren und ihn wenigstens einmal jeden Monat zu lesen.“52 Nur regelmäßig wiederholte Lektüre stellt die Aneignung des väterlichen Ratschlags sicher. Überblicken wir die beigebrachten Belege – von der altorientalischen Kultur des 2. vorchristlichen Jahrtausends die Einführung öffentlicher Thora-Lesungen im frühen Judentum bis zur Benediktsregel und zur Inquisition, so erkennen wir, dass wir es mit einer vielfältig einsetzbaren, jedoch stets auf dasselbe zielenden Kulturtechnik zu tun haben. Ihr Ziel ist die geistige und rechtliche Disziplinierung und Kontrolle von Einzelnen, kleinen Gruppen und ganzen Völkern. Schriftlesung und Predigt dienen deshalb oft jenem politischen Programm, das auf die totale – und manchmal totalitäre – Beherrschung der Gesellschaft zielt. Dass diese Geschichte lange vor der Neuzeit beginnt – nämlich in der altorientalischen Rechtskultur und in jener Ausprägung, die diese im antiken Judentum bekommen hat –, sei hier noch einmal 50 Item dominica prima cuiuslibet mensis presentes litteras proprio sacerdoti vel alteri persone litterate et ecclesiastice presentet, et eas sibi legi et exponi faciat in vulgari, ut per hoc efficiatur certior quid facere et a quibus debeat abstinere. (Bernardus Guidonis, Practica inquisitionis heretice pravitatis, hrsg. von Célestin Douais, Paris 1886, S. 38). Zur Sache vgl. Thomas Lentes/Thomas Scharff, „Schriftlichkeit und Disziplinierung. Die Beispiele Inquisition und Frömmigkeit“, in: Frhmittelalterliche Studien, 31/1997, S. 233 – 251. 51 Et missam majorem ex integro et sermonem, si fiat ibidem, audiant utrobique („und die Hauptmesse sollen sie ganz hören, auch die Predigt, wenn eine solche gehalten wird“). (Bernardus Guidonis, Practica inquisitionis [Anm. 50], S. 97). 52 Denis Diderot, Correspondance, hrsg. von Georges Roth, Bd. 12, Paris 1965, S. 126 – Brief vom 13. September 1772.
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betont. Auf das biblische Buch Deuteronomium wurde bereits hingewiesen; wie Platons große Staatslehre in der Politeia stellt es die utopische Vision einer kontrollierten Gesellschaft dar. Die platonische Utopie hat Karl Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde einer eingehenden, auch rezeptionsgeschichtlichen Analyse unterzogen; was bei Platon Wunschbild bleibt, hat in totalitären Systemen seine Verwirklichung gefunden. Entsprechende Forschungen über die Neuzeit stammen von Michel Foucault (Surveiller et punir) und Gerhard Oestreich (Geist und Gestalt des frhmodernen Staates); sie kommen zur Auffassung, dass nicht nur totalitäre Staatsgebilde, sondern die neuzeitliche Staatsidee und gesellschaftliche Praxis insgesamt einem Programm vollständiger Kontrolle aller Mitglieder der Gesellschaft verpflichtet ist.53 Die moderne Welt bedient sich disziplinierender Kulturtechniken in so großer Zahl, dass Widerstand nicht ausbleiben kann. Das ihm verhasste Netz staatlicher Kontrolle charakterisiert der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) wie folgt, wobei er die Predigt54 nicht vergisst: Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden …, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.55
53 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 8. Auflage hrsg. von Hubert Kiesewetter, Tübingen 2003; Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frhmodernen Staates, Berlin 1969; Michel Foucault, Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975. In diesem Zusammenhang ist auch die These vom in der Neuzeit fortschreitenden „Prozess der Zivilisation“ zu bedenken; zu diesem Prozess hat die Begegnung des Adels mit der christlichen Buchreligion wesentlich beigetragen; dazu: Arnold Angenendt, „Prozess der Zivilisation – Prozess der Religiosität. Norbert Elias und die Kirchengeschichte“, in: Wilhelm Geerlings/Max Seckler (Hrsg.), Kirche sein. Nachkonziliare Theologie im Dienst der Kirchenreform, Freiburg/Br. 1994, S. 77 – 90. 54 Disziplinierung als Ziel frühneuzeitlicher Predigt lässt sich aus mehreren Studien über die lutherische Predigt in Süddeutschland erheben: Monika Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614 – 1639, Baden-Baden 1991; Norbert Haag, Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm 1640 – 1740, Mainz 1992; Sabine Holtz, Theologie und Alltag. Lehre und Leben in den Predigten der Tbinger Theologen 1550 – 1750, Tübingen 1993. 55 Zitiert nach Oestreich, Geist und Gestalt (Anm. 53), S. 195 f.
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Wir mögen Proudhons Zorn auf sich beruhen lassen. Fest steht: Ein Studium der Kulturen gesellschaftlicher Disziplinierung kommt ohne ein Studium der Predigt als elementarer religiöser Kommunikation nicht aus. Doch wäre es einseitig, den Sinn des intellektuellen Rituals auf Disziplinierung festzulegen. Daher unsere weitere Überlegung:
Schriftlesung und Predigt als rituell vollzogene Wissensvermittlung Wie wir sehen werden, tritt der wissensvermittelnde Aspekt besonders dann hervor, wenn die Predigt die biblische Botschaft und Geschichte erklärt, aber auch dann, wenn sie zur Glaubensentscheidung drängt. Das gilt es nun zu erläutern; als Beispiele sollen die Predigttätigkeit des Kirchenvaters Origenes und die des Reformators Martin Luther dienen. Demgegenüber steht bei der moralischen Predigt die Disziplinierung im Vordergrund – davon war bereits die Rede. Der Typ der Heilswissen vermittelnden Predigt lässt sich besonders gut am Wirken eines der bedeutendsten Denker des antiken Christentums verdeutlichen: an der Predigttätigkeit des Origenes (185 – 254). Seine in beträchtlicher Zahl überlieferten Predigten enthalten Hinweise auf die Organisation des Wortgottesdienstes und vermitteln ein lebendiges Bild von der Tätigkeit des Kirchenvaters.56 Die auffälligste Erscheinung im Leben der Kirche von Caesarea in Palästina – der Stadt, in der Origenes lebte, seine Bücher schrieb und predigte – war ihr täglicher Gottesdienst. Die Gläubigen versammelten sich jeden Morgen in der Kirche. Ein Lektor las zwei oder drei Kapitel aus einer alttestamentlichen Schrift vor; danach setzte sich Origenes auf den Predigtstuhl, um fast eine Stunde lang zu sprechen. In einem Zeitraum von drei Jahren sollte das ganze Alte Testament vorgelesen und durchgepredigt werden. Von allen Christen, auch den sich auf die Taufe vorbereitenden Katechumenen, wurde der regelmäßige Besuch der täglichen Schriftauslegung erwartet. Der Sonntagsgottesdienst unterbrach die Abfolge des Unterrichts durch die Eucharistiefeier (die natürlich auch eine Wortfeier enthielt: offenbar zwei Schriftlesungen und drei Ansprachen). In der täglichen Versammlung genoss das Alte Testament den Vorzug 56 Bernhard Lang, „Homiletische Bibelkommentare der Kirchenväter“, in: Jan Assmann/Burkhard Gladigow (Hrsg.), Text und Kommentar, München 1995 (Archäologie der literarischen Kommunikation 4), S. 199 – 218.
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vor dem Neuen, denn die anwesenden Taufbewerber wurden mit den Evangelien noch nicht vertraut gemacht. Schriftlesung und Predigt gab es auch in den beiden eucharistischen Wochentagsfeiern am Mittwoch und Freitag. Caesarea besaß ein sehr reges, von der Predigt beherrschtes liturgisches Leben. Die Kirche galt als Schule der christlichen Philosophie. Tatsächlich eignet sich der Ausdruck ,Schule‘ für die Beschreibung der täglichen Versammlung. Vor seiner Bekehrung zu dem neuen Glauben war Origenes als ,heidnischer‘ Lehrer tätig gewesen, und in seiner täglichen Versammlung ging es nicht anders zu als in einer gewöhnlichen Unterrichtsstunde, in der ein antiker Lehrer mit seinen Schülern Texte studierte. In der antiken Schule versammelte sich die Klasse jeden Morgen. Zuerst las ein Assistent einen Textabschnitt vor, dann hatte der Meister das Wort. Auf seinem Stuhl sitzend, erklärte er einzelne Wörter, ging auf abweichende Lesarten der Manuskripte ein, machte auf stilistische Besonderheiten aufmerksam, erläuterte den Inhalt und fand gelegentlich noch Zeit für eine moralisierende Deutung. Ein guter Grammatiklehrer, bemerkt Origenes einmal, bemühe sich, „Gedichte philosophisch aufzufassen und zu jedem Gedicht das hinzuzufügen, was für die jungen Leute heilsam und nützlich ist“.57 In der alten Welt zielte der Literaturunterricht auf sittliche Bildung; der Grammatiker „sucht in den Annalen der Vergangenheit nach Helden als Vorbilder menschlicher Vollkommenheit“.58 Seit langem wissen die klassischen Philologen, dass die Gattung der einfachen biblischen Homilie mit ihrem Verzicht auf rhetorischen Schmuck aus dem antiken Unterricht stammt, in welchem der grammaticus einen Text erläutert. Tatsächlich besaß die griechische Sprache in den Tagen des Origenes kein eigenes Wort für den liturgischen Prediger. Didaskalos bezeichnete beides: den gewöhnlichen heidnischen Schulmeister wie den christlichen Prediger. Ein Unterschied zwischen Kirche und Schule ist allerdings nicht zu übersehen. Die meisten Zuhörer des Predigers konnten nicht lesen, und kein Prediger wäre auf den Gedanken gekommen, den Gottesdienst in einen Schreibunterricht zu verwandeln. Der Prediger 57 Origenes, Contra Celsum, 3,58; Ausgabe: Contre Celse 2, hrsg. von M. Borret, Paris 1968 (Sources chrétiennes 136), S. 137. Zum auch sonst in der Antike nachweisbaren Unterschied zwischen philologischer und philosophischer Textinterpretation vgl. Burkhard Gladigow, Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, Stuttgart 2005, S. 276 – 279. 58 Henri-Irénée Marrou, Histoire de l’ducation dans l’antiquit, Paris 61981, Bd. 2, S. 253.
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orientierte sich zwar an den Methoden schulischer Unterweisung, zeigte aber wenig Neigung, etwas für die allgemeine Bildung der Zuhörerschaft zu tun. Obwohl die Predigt des Origenes den Methoden des antiken Unterrichts verpflichtet war, wurden dessen Bildungsziele nicht übernommen. Als unvollständige Schule beschränkte sich die Kirche auf mündliche Unterweisung; weder die Kunst des Lesens noch die des Schreibens wurden vermittelt. An der Weitergabe weltlicher Fähigkeiten war Origenes wenig interessiert, es kam ihm allein auf das religiöse, heilsnotwendige Wissen an. Dies wollte er an die Gemeinde weitergeben, indem er den Text erläutert, ,re-oralisiert‘, zu Gehör brachte. Man kann die Frage stellen, ob nicht doch einige der Hörer des Origenes auch Lesen konnten. Etwa einhundertfünfzig Jahre nach Origenes setzt Johannes Chrysostomus in seinen Homilien tatsächlich voraus, dass es lesende Christen gibt. Einmal hat man den Eindruck, er fordere jene in seiner Zuhörerschaft auf, die einen Kodex des Matthäusevangeliums besitzen, den Predigttext aufzuschlagen; ein anderes Mal ermahnt er, nach der Predigt zu Hause den Text aufzuschlagen und das, was der Prediger erklärt hat, noch einmal zu wiederholen, damit auch Frau und Kinder etwas davon haben.59 Man wird nur in ganz vereinzelten Fällen mit solcher Verbindung von Literalität und Glaubenseifer rechnen dürfen. Auch die Gemeinde des Johannes Chrysostomus bestand zum größten Teil aus Analphabeten. Wenden wir uns einem weiteren Typ der Predigt zu, der zum Glaubensvollzug einladenden Rede, dann bildet Martin Luther (1483 – 1546) das historisch wirksamste Beispiel. Obwohl Luther seine Ansichten über Wesen und Aufgabe der Predigt nie systematisch darlegt, ergeben seine verstreuten Äußerungen ein klares Bild.60 Die Predigt, wie er sie versteht, verfolgt drei Ziele, wobei jedes an das andere anknüpft: Sie soll christliches Grundwissen lehren, sie soll zum erlösenden Glauben führen, und sie soll zum christlichen Leben anleiten. Das erste 59 Johannes Chrysostomus, „Homilien zum Matthäusevangelium“, 1. Homilie 5 und 5. Homilie 1, in: Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des hl. Matthus, übersetzt von J. C. Baur, Kempten 1915 (Bibliothek der Kirchenväter 23), Bd. 1, S. 21 und S. 84. 60 Lang, Heiliges Spiel (Anm. 1), S. 187 – 195. Vgl. auch Holger Flachmann, Martin Luther und das Buch. Eine historische Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators, Tübingen 1996 (Spätmittelalter und Reformation N.F. 8), S. 226 – 275.
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Ziel, die Vermittlung christlichen Grundwissens, liegt Luther sehr am Herzen. Die gemeinen Leute sind – so Luther – ungebildet und „leben dahin wie das liebe Vieh und unvernünftige Säue“.61 Dennoch darf man sie nicht verachten und in Unkenntnis lassen. Sie bedürfen der Unterweisung. Luther trennt die elementare Katechismuspredigt von der Predigt des gewöhnlichen Sonntagsgottesdienstes. Er will, dass die Gemeinde zweimal im Jahr eingehende Unterweisung erfährt. Zu diesem Zweck soll sie sich zwei Wochen lang viermal wöchentlich um zwei Uhr nachmittags treffen, um die „Elemente und Grundlagen des christlichen Wissens und Lebens“ erklärt zu bekommen.62 Diese Grundlagen sind im Glaubensbekenntnis, den Zehn Geboten, dem Vaterunser und den Sakramenten Taufe und Abendmahl enthalten. Luther verpflichtet alle Familienmitglieder, den gesamten Haushalt auf die Teilnahme – Erwachsene, Kinder und Gesinde. Nachdem Luther den katechetischen Kurs mehrmals in Wittenberg gehalten hat, fasst er ihn in zwei 1529 gedruckten Katechismen zusammen, einem großen für die Pfarrer und einem kleinen für das Volk. Nach Luther soll die Vermittlung christlichen Grundwissens vor allem in der katechetischen Predigt geschehen, doch soll auch jede gottesdienstliche Ansprache belehren. Hören die Gläubigen dem Prediger jeden Tag zu, werden sie „in der Schrift verständig, bewandert und kundig“, also, wie man später sagt: bibelfest.63 Das zweite und zentrale Anliegen der Predigt ist, das christliche Wissen für den Einzelnen existenziell zu machen. Der Wissenserwerb soll keine intellektuelle Angelegenheit bleiben. Wie seine humanistischen Zeitgenossen verstand auch Luther Wissen als „eine ganzheitliche Bildung, die das Gefühl mit einschließt, das Herz durchdringt, den Willen formt und den ganzen Menschen zu einer aktiven Antwort herausfordert“.64 Diese ganzheitliche Erfahrung wird lateinisch fides, ,Glaube‘, genannt. Nach Auffassung der damals von Humanisten ge-
61 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff., Bd. 30/1, S. 347. 62 Ebd., Bd. 27, S. 444. 63 Ebd., Bd. 12, S. 36. 64 William J. Bowsma, „The Spirituality of Renaissance Humanism“, in: Jill Raitt (Hrsg.), Christian Spirituality. High Middle Ages and Reformation, London 1987, S. 236 – 251, hier S. 238.
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schätzten antiken Rhetorik wird der Mensch durch das wirksame Wort des Redners zum Glauben bewegt.65 Diese Ansicht teilt Luther. Luther unterscheidet zwischen ,historischem Glauben‘, das heißt der bloßen Kenntnis der biblischen Geschichte von Christi Geburt, Leben und Tod, und ,wahrem Glauben‘. Wahrer Glaube entsteht, wenn ein Mensch erkennt, dass Gott seinen Sohn um jedes Einzelnen willen gesandt hat und dass er in der Vergebung der Sünden ein einzigartiges Geschenk gemacht hat: Das Hauptstck und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus […] entgegennehmest und anerkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen ist. So dass du, wenn du ihm zusiehst oder hçrst, dass er etwas tut oder leidet, nicht zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein, und darauf kçnntest du dich nicht weniger verlassen, als wenn du es selbst getan httest, ja, als wenn du eben dieser Christus wrest. 66
Der Prediger muss daher von der elementaren Darlegung biblischer Ereignisse zu einer tieferen Deutung fortschreiten. Es gengt nicht und ist nicht christlich, wenn wir die Werke und das Leben Christi rein historisch predigen. […] Es muss mit dem Ziel gepredigt werden, den Glauben an Christus zu wecken und zu fçrdern. Es ist nicht nur zu sagen, dass er Christus ist, sondern dass er das fr dich und fr mich ist und das in uns wirkt, was von ihm gesagt wird und wie er heißt [ Jesus = Erlçser]. Dieser Glaube aber entsteht dadurch und wird dadurch erhalten, dass gepredigt wird, warum Christus gekommen ist, was er gebracht und gegeben hat und mit welchem Nutzen er zu empfangen ist. 67
Nach Luther kommt dem existenziellen Anliegen der Predigt der Vorrang vor allen anderen Zielen zu. In einem seiner Tischgespräche bemerkt er, das „erste Ziel [der Predigt] ist, das Gewissen zu Boden zu werfen“ (primo est deicienda conscientica).68 Die Predigt soll das Gewissen, das Herz, die Mitte jedes einzelnen Zuhörers treffen. Verstanden als Antwort auf das Wort des Predigers ist Glaube nichts anderes als Vertrauen auf Gott, verbunden mit existenziell bedeutenden Wissensinhalten. In der Bibel niedergelegt, wird dieses Wissen in der Predigt vorgebracht. Bibel und Predigt „zeigen dir Christus und lehren alles, was zu wissen not[wendig] und selig ist“.69 65 Klaus Dockhorn, „Rhetorica movet: protestantischer Humanismus und karolingische Renaissance“, in: Helmut Schanze (Hrsg.), Rhetorik. Beitrge zu ihrer Geschichte in Deutschland, Frankfurt/M. 1974, S. 17 – 42. 66 D. Martin Luthers Werke (Anm. 61), Bd. 10/1, Teil 1, S. 11. 67 Ebd., Bd. 7, S. 58 f. 68 Ebd., Bd. 4, S. 479 (Nr. 4765). 69 Ebd., Bd. 6, S. 11.
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Heilswissen spielt also eine große Rolle in Luthers Konzeption der den Glauben erweckenden Predigt. Vergleichen wir seine Auffassung mit der des Origenes, so hat man den Eindruck, dass Luther einen Gegensatz zwischen bloß äußerlich bleibendem Heilswissen und Aneignung des Heilswissens empfindet, einen Gegensatz, der Origenes noch fremd war. Bei Luther führt das Heilswissen nicht mehr gleichsam von selbst zur Erlösung, sondern bedarf noch einmal der Aneignung durch den Akt des Glaubens. Glauben aber kommt vom Hören der Predigt. Fasst Luther den Pfarrer vor allem als Prediger auf, so sieht er den gewöhnlichen Gläubigen als Zuhörer. Der Spruch „die Ohren allein sind die Organe des Christenmenschen“ (solae aures sunt organa Christiani homines) fasst diese Meinung prägnant zusammen.70 Allerdings hat Luther diesen Satz nicht absolut verstanden, denn eigentlich trifft er mehr für Origenes zu als für den deutschen Reformator. Eine wenigstens elementare Schulbildung soll nach Luther jeden Gläubigen dazu befähigen, die Heilige Schrift oder wenigstens den Katechismus selbst zu lesen.71 Dieser Gedanke liegt Origenes noch völlig fern.
Abschließende Bemerkung Unsere Ausführungen schließend, wollen wir zurückblicken. Wir haben Schriftlesung und Predigt in ihren historischen Anfängen in biblischer Zeit aufgesucht, in den Kontext einer Theorie des intellektuellen Rituals und der Textgemeinschaft gestellt sowie ihre Funktion anhand mehrerer Beispiele aufgezeigt. Auffällig und von kulturhistorischer Bedeutung ist das Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Stets haben wir es bei Schriftlesung und deutender Predigt mit einem Vorgang zu tun, bei dem die Schriftlichkeit der Fixierung einer Identität dient und sie über lange Zeiträume hinweg sichern soll, während der mündliche Vortrag durch die Erläuterung einer Re-Oralisierung oder ,Vermündlichung‘ gleichkommt. Kein intellektuelles Ritual kommt ohne Re-Oralisierung aus. Intellektuelle Rituale lassen sich als kreative Synthesen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf70 Ebd., Bd. 57, Teil 3/Hebr S. 222. 71 Der reformatorische Impuls zur Schaffung von Schulen hat allerdings zunächst weniger Erfolg gezeitigt als es das traditionelle Geschichtsbild will; vgl. Gerald Strauss, Luther’s House of Learning: Indoctrination of the Young in the German Reformation, Baltimore 1978.
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fassen, die der Wissensvermittlung und zu einem großen Teil auch der Disziplinierung dienen, der Steuerung von Denken und Handeln, der Formung konformer Menschen. Die Konformität steht dabei unterschiedlichen Deutungen offen: Was den einen als Vermittlung des Heils erscheint, erleben andere als die menschliche Freiheit einschränkenden Druck.
Anhang: Kurze Übersicht über ,Gemeinschaften‘ Gemeinschaften mögen sich durch Erinnerung, Erzählen, Texte, oder auch durch andere Gemeinsamkeit stiftenden Handlungen, Interessen oder Medien konstituieren. Die im vorstehenden Essay gebrauchten Ausdrücke Erinnerungs-, Erzähl- und Textgemeinschaft werden nachstehend noch einmal kurz erläutert. Hinzugefügt werden drei verwandte, von mir im Essay nicht berücksichtigte Begriffe: diskursive Gemeinschaft, Interpretationsgemeinschaft und Gefühlsgemeinschaft. Als gemeinsames Merkmal dieser Begriffsbildungen lässt sich hervorheben, dass sie jeweils auf kleine, überschaubare, aber auch auf große, nur noch vorstellbare Gemeinschaften angewandt werden. Je nach Gruppengröße verändert sich der Bezug auf das Gemeinsame, das die Gemeinschaft begründet. Diskursive Gemeinschaft: Der von Linda Hutcheon 1994 eingeführte Ausdruck discursive community soll eine Gemeinschaft bezeichnen, deren Kommunikation durch gemeinsames Wissen, gemeinsame Ideologie, gemeinsame Werte und kommunikative Gepflogenheiten geprägt ist; als Beispiele werden Familien und Berufsgruppen genannt, doch auch sehr vage Gruppen, zum Beispiel Volksgruppen und Gruppen, die durch bestimmte Vorlieben oder Lebensumstände entstehen. Nach Hutcheon ist jeder Mensch in sich überlappende diskursive Gemeinschaften verstrickt. Als „Kanadierin italienischer Herkunft, Hochschullehrerin, abgefallene Katholikin, Weiße, Frau, Angehörige der Mittelschicht, kinderlose Ehefrau, enthusiastische, wenn auch unfähige Pianistin, begeisterte Radfahrerin, Liebhaberin der Oper“ gehört die Autorin jeweils einer anderen diskursiven Gemeinschaft an (die sie nicht als ,discourse community‘ – Diskursgemeinschaft – bezeichnen möchte).72 Erinnerungsgemeinschaft: Der Ausdruck lässt sich sowohl für größere Gruppen (z. B. das Judentum) als auch für kleinere Gruppen (Familien, ehemalige Schulklassen) verwenden. Lebens- und identitätsprägende Erinnerungen werden im wiederholten Austausch wachgerufen und erneuert. Besonders im Falle größerer Gruppen wird die Erinnerung auch – als kollektive Erinnerung – von Generation zu Generation weitergegeben.73
72 Linda Hutcheon, Irony’s Edge: The Theory and Politics of Irony, London 1994, S. 89 – 101; das Zitat übersetzt nach S. 100. 73 Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis, München 21997, S. 202; Welzer, „Gedächtnis und Erinnerung“ (Anm. 14).
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Erzhlgemeinschaft: Mündliches Erzählen ist eine grundlegende, die Überlieferung pflegende Kommunikationsform innerhalb traditioneller dörflicher Gemeinschaften, in denen ein Meistererzähler oder eine -erzählerin Märchen, Sagen, Legenden und ähnliches vorträgt. Auch Handwerker, Soldaten, Schiffer, Menschen im Krankenhaus oder Gefängnis können Erzählgemeinschaften bilden. Nicht zuletzt auch in größeren Gemeinschaften hat das Erzählen seinen Ort; das seine Tradition pflegende Christentum lässt sich als Erzählgemeinschaft auffassen. Der Ausdruck ,Erzählgemeinschaft‘ lässt sich seit 1933 nachweisen.74 Gefhlsgemeinschaft: Barbara Rosenwein versteht unter emotional community eine Gemeinschaft, die, größer als eine Kernfamilie und kleiner als (beispielsweise) die Christenheit, sich durch einen der Beschreibung zugänglichen emotionalen Stil auszeichnen: den Gebrauch eines bestimmten Repertoires emotionaler Äußerungen wie Liebe, Leiden, Ablehnung, Tränenvergießen, Wut, Furcht und so weiter in bestimmten alltäglichen oder religiösen Situationen und Kontexten. Auch die Unterdrückung bestimmter Gefühle und die Privilegierung bestimmter Weisen und Situationen und Arten der Äußerung sind einschlägig. Die betreffenden emotionalen Muster gehören zu dem, was das Gemeinsame einer Gemeinschaft ausmacht – zu gemeinsamen Interessen, Überzeugungen und Werte, wie sie etwa für eine Textgemeinschaft charakteristisch sind.75 Interpretationsgemeinschaft: Der von Stanley Fish 1980 eingeführte Ausdruck interpretive community bleibt in der Literaturwissenschaft sehr vage. Darunter wird die Gemeinschaft jener verstanden, die sich in einem (akademischen) Seminarraum um das Verständnis eines Textes bemühen, aber auch die unscharf abzugrenzende Gemeinschaft der an Hochschulen tätigen Literaturwissenschaftler oder, noch weiter ausgreifend, eine von einer bestimmten Kultur geprägte Leserschaft. Eine Interpretationsgemeinschaft ist sich über die Standards eines ,korrekten‘ Textverständnisses grundsätzlich einig.76 Textgemeinschaft: Der Mediävist Brian Stock prägte diesen Ausdruck 1983 zur Bezeichnung der besonderen Eigenart bestimmter mittelalterlicher Bewegungen. Um einen Text und seine gelehrten Interpreten schart sich eine Gruppe von Gelehrten und Ungelehrten, die in ihrem eigenen Leben die Botschaft dieses Textes verwirklichen und den Text als dauernd verhaltensregulierend betrachten. Der vielfach aufgegriffene Ausdruck bezeichnet heute auch andere Gruppen, in denen Texte eine besondere Rolle spielen; antike
74 Brinkmann, Das Erzhlen (Anm. 10), S. 10; Dégh, Mrchen (Anm. 10); Weinrich, „Narrative Theologie“ (Anm. 13). 75 Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006. 76 Robert Scholes, Textual Power: Literary Theory and the Teaching of English, New Haven 1985, S. 163 f.; Evelyne Keitel, „Interpretive communities“, in: Michael Payne (Hrsg.), A Dictionary of Cultural and Critical Theory, Oxford 1996, S. 258; Heinz Antor, „Interpretationsgemeinschaft“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 32004, S. 298 f.
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philosophische und religiöse Gruppen, sogar ganze (Buch-)Religionen – Christentum, Judentum, Islam – werden als Textgemeinschaften bezeichnet.77
77 Stock, The Implications of Literacy (Anm. 17); ders., „Textual Communities“ (Anm. 46); Jan Assmann, Religion (Anm. 7), S. 91 – 96.
A maioribus tradita Zur Kommunikation von Mythos und Ritus im mittelalterlichen Messkommentar Thomas Lentes Communicare idem est quod participare, quia sanctorum et angelorum pascuis communicare debemus. […] Memoriam uenerari idem est quod memoriam honorabiliter colere, quod beata Maria uirgo, per aduentum Spiritus sancti, genetrix facta est Filii Dei Iesu Christi, Domini nostri, qui Deus et homo est.
Diese wenigen Sätze aus dem Rationale Divinorum Officiorum des Wilhelm Durandus († 1296) 1, die das communicantes et memoriam venerantes des eucharistischen Hochgebetes kommentieren, deuten schlaglichtartig an, wie Kommunikation und Gedächtnis in der Liturgie der Messe zusammengedacht wurden. Die Messfeier war allem anderem voran Erinnerungsakt, memoria passionis, und stiftete als solche Gedächtnisfeier eine Kommunikationsgemeinschaft ganz eigener Art: die nämlich zum einen zwischen vergangener Heilszeit, Jetztzeit und Ewigkeit und zum zweiten die zwischen dem Stifter des Christentums, den Feiernden sowie allen Lebenden und Verstorbenen dieser einen communio sanctorum. 1
Wilhelm Durandus, Rationale Divinorum officiorum, hrsg. von Anselme Davril und Timothy M. Thibodeau, Turnholt 1995 – 2000 (Corpus Christianorum. Continuatio Medieaeualis 140, 140A, 140B), hier lib. IV, cap. 38 (Davril/ Thibodeau 140, S. 428 f.). Zum Rationale divinorum vgl. die Arbeiten von Kirstin Faupel-Drevs, Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im ,Rationale Divinorum Officiorum‘ des Durandus von Mende (1230/1 – 1296), Leiden [u.a.] 2000 (Studies in the history of christian thought 89); Pierre-Marie Gy (Hrsg.), Guillaume Durand. vÞque de Mende (1230 – 1296), Paris 1992; Timothy M. Thibodeau, „Enigmata Figurarum: Biblical Exegesis and Liturgical Exposition in Durand’s Rationale“, in: Harvard Theological Review, 86/1993, S. 65 – 79; ders., „Les sources du Rationale de Guillaume“, in: Gy, Guillaume Durand, S. 143 – 153; ders., „Western Christendom“, in: Geoffrey Wainwright (Hrsg.), The Oxford History of Christian Worship, Oxford 2006, S. 216 – 253, bes. S. 237 – 242; Barton Brown, Enigmata Figurarum. A study of the third book of the Rationale Divinorum officiorum of William Durandus and its allegorical treatment of the christian liturgical vestments, (Diss. Masch.) New York 1983.
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Rituelle Kommunikation als Erinnerungsakt ist denn auch das Thema des vorliegenden Beitrags. Dabei freilich geht es vor allem darum, welchen Anteil das Ritual selbst an der Kommunikation der in ihm begangenen Heilsereignisse hatte. In einem ersten Schritt steht deshalb das Verhältnis zwischen der Messe als einem rituellen Geschehen und dem sie begründenden kanonischen, biblischen Text im Vordergrund. Den Modus der Verhältnissetzung von liturgischer Feier und gefeiertem Geschehen fasste das Mittelalter ja gerade als memoria, bei der es freilich nicht um einen diskursiven Erinnerungsakt ging, sondern um die Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens selbst. Dabei gilt es vor allem zu klären, ob und inwieweit das Ritual den biblischen Text als Skript benutzt, oder aber ob das Ritual diesen Text erst durch seine Kommentierung als Subtext unterlegt bekommt. Das Verhältnis von Mythos und Ritus, von fundierendem Ursprungsgeschehen (Sterben, Tod und Auferstehung Jesu Christi) und seiner rituellen Wiederholung in der Liturgie, so wird sich zeigen, wird durch die Kommentierung nochmals verdoppelt. Immerhin dürften die liturgischen Kommentare zur Messe wiederum in ein Verhältnis von Ritus und Mythos getreten sein. Während das Ritual selbst das Opfer Christi am Kreuz im Modus der Erinnerung (memoria passionis) darstellte, banden die Kommentare ihrerseits den Ablauf des Rituals an die historia Christi zurück. Zu diesem Zweck deuteten sie die einzelnen Teile der Messe als Figurationen von Leben, Sterben, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Die Kommentierung erscheint so als ikonographische Repräsentation des Handlungsablaufs der Messe. War das Ritual an sich eigener Überlieferungsträger seines biblischen Urtextes, so bedurfte seine Tradierung seinerseits der Sicherung durch die Kommentierung. Fragt der erste Abschnitt mithin vornehmlich nach der kommunikativen Achse von erinnertem vergangenen Heilsgeschehen und seiner rituellen Vergegenwärtigung, so wendet sich der zweite Abschnitt dem Verhältnis von Ritual und Kommentar zu und fragt danach, wie der Kommentar das Ritual seiner Gegenwart überlieferte. Dabei soll vor allem gezeigt werden, dass und wie das rituelle Handeln im Modus der Bildlichkeit gedeutet wurde. Das Rationale Divinorum Officiorum des Wilhelm Durandus vom Ende des 13. Jahrhunderts liegt der Untersuchung als vornehmliche Quelle zu Grunde. Während liturgische Kommentare sowohl in der theologischen als auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang lediglich als Negativfolie betrachtet werden, soll versucht werden, sie als eine produktive Quelle zum Verständnis mittelalterlicher
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Liturgie zu etablieren. Mit wenigen Ausnahmen gelten Liturgiekommentare der theologischen Forschung bis heute als jene liturgiegeschichtliche Textgattung, die eine Abkehr vom ,Eigentlichen‘ der Liturgie – insbesondere von der frühchristlichen Eucharistiefeier – begründeten und manifestierten. Da das Ritual der Messe in sich nicht mehr verstehbar gewesen sei, hätten die Kommentare ihm sekundär Bedeutungen zugeschrieben. Für die theologische Literatur gab Josef Andreas Jungmann die bis heute gültige Position vor: „Die Messe wird aufgefaßt als dramatische Darstellung eines heilsgeschichtlichen Vorgangs, vor allem des Leidens, Sterbens und Auferstehens Christi, beginnend mit den Sehnsuchtsrufen der Patriarchen und Propheten und schließend mit der Himmelfahrt des Herrn.“2 Das Individuell-Subjektive gefährde den objektiven Geist der Liturgie; das „begierig schauende Auge“ sowie „nachahmende Symbolik“, ja sogar „Spieltrieb“ bestimme die „Messe im Zeitalter der Gotik“.3 Letztlich – so hat es sich vor allem in der jüngeren Forschung durchgesetzt – bot die allegorische Messauslegung nur „fragwürdigen Ersatz für das aktualpräsentische Verständnis der Gegenwart des Heilshandelns Gottes, insbesondere des Heilswerkes Christi“.4 Schließlich hätten die liturgischen Kommentare das ursprünglich anamnetisch-vergegenwärtigende Gedächtnis der liturgischen Feier verkürzt: Die Memoria würde „historisiert und psychologisiert“5 und ziele statt auf Vergegenwärtigung lediglich auf Passionsbetrachtung und moralische Nutzanwendung.6 Wenn diese Betrachtung der mittelalterlichen Messauslegung in vielem auch aus liturgiegeschichtlicher und theologisch-systematischer Perspektive sachgerecht sein mag: Sie beschreibt die liturgischen Kommentare aus der Perspektive der Neuzeit, insbesondere mit der Brille der liturgischen Erneuerungsbewegung wie auch der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Eine eigentliche Auseinandersetzung mit den Texten der Kommentare dagegen steht aus. Ähnlich einseitig erscheint die literatur- und kunstgeschichtliche Beschäftigung mit den Liturgie2 3 4 5 6
Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklrung der rçmischen Messe, 3. Bde., Wien 1948 ff., Bd. 1, S. 139. Ebd., S. 132, 137 mit Anm. 22 und S. 138. Hans B. Meyer, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral, Regensburg 1989 (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 4), S. 228. Reinhard Messner, „Zur Hermeneutik allegorischer Liturgieerklärung in Ost und West“, in: Zeitschrift fr katholische Theologie, 115/1993, S. 284 – 319 und S. 415 – 434, hier S. 424. Ebd., S. 418.
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kommentaren. Diese hat sich in der Regel die Position der Theologieund Liturgiegeschichtsschreibung zu Eigen gemacht, und immer wieder die Dramatisierung der Liturgie durch den Kommentar betont. Der liturgische Kommentar wurde dann zu einer Folie, um die Unterschiede zwischen liturgischer und theatraler Performanz – zumal mit Blick auf das geistliche Spiel – zu beschreiben.7 Wenn auch dies durchaus sachgemäß sein dürfte, so fällt freilich auf, dass mit wenigen Ausnahmen bis heute Untersuchungen fehlen, die monographisch die produktive Leistung von Liturgiekommentaren zu beschreiben versuchen. Im Folgenden wird der Kommentar des Wilhelm Durandus, insbesondere seine Proömien sowie das Buch IV des Rationale, das ausschließlich der Messe gewidmet ist, verstanden als eine historische Quelle, die Aufschluss über die intendierte Rezeptionshaltung während der Messe gibt. Dabei steht außer Frage, dass Wilhelms Rationale, das man zurecht als „liturgische Enzyklopädie“8 beschrieben hat, einen theologisch-theoretischen Text bietet, der normativ ist. Doch will er ja gerade die Rezeptionshaltung der Akteure des Rituals, insbesondere der Priester, normieren. Durch seinen Kommentar will er in das Verstehen der himmlischen Mysterien einführen, um die Priester und Prälaten als Verwalter der Sakramente von den Sakramenten, die sie feiern, zu erleuchten, damit sie ihrerseits die anderen Teilnehmer am Ritual zu erleuchten in der Lage seien.9
7
8 9
Vgl. hierzu den jüngsten Ansatz von Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125), der sich gerade auch mit der Dramatisierungs-These kritisch auseinandersetzt und weit über die gängige Forschung hinausführt; vgl. insbesondere den ersten Teil der Studie „Ritual und theatrale Deutung – Messallegorese“, S. 17 – 75. Fraupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1), S. 23. Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 3 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 4,31 – 37): Sacerdotes igitur et prelati Ecclesie, quibus datum est nosse mysteria, prout in Luca habetur, et sacramentorum portitores, et dispensatores existunt, sacramenta intelligere et uirtutibus que per illa significantur fulgere debent, ut ex eorum luce ceteri similiter illuminentur; alioquin ceci sunt et duces cecorum, iuxta illud propheticum: Obscurentur oculi eorum ne uideant.
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I. Den Mythos kommunizieren: Das Ritual als Überlieferungsträger Der Prolog zum vierten Buch des Rationale Divinorum Officiorum, das ganz der Messe gewidmet ist, lässt sich als ein einziger Versuch der Bestimmung des Verhältnisses von Ritual und fundierendem Text des Evangeliums lesen. Nachdem Wilhelm die Messe zu Beginn als repræsentans Ecclesiae convivium des göttlichen Opfers charakterisiert, beschreibt er ihre Einsetzung durch Christus selbst und die verschiedenen Etappen ihrer Entstehung. Daran schließt er Überlegungen zu Ort, Zelebranten und Gültigkeitsbedingungen, Zeit und Häufigkeit, Sprache, Teilnehmern, Teilen und Name der Messe an. Insgesamt soll dadurch die Ordnung des Offiziums der Messe als Repräsentation der gesta Christi von der Inkarnation bis zur Himmelfahrt sowohl in Worten als auch in Zeichen (tam uerbis quam signis) erwiesen werden.10 Damit wird freilich keineswegs nur die rememorative Allegorese für alle Handlungsbezüge der Messe begründet. Vielmehr wird diese im Prolog in ein höchst komplexes Beziehungsgeflecht zwischen biblisch-kanonischem Text und Ritual eingeordnet. Zunächst geht es ihm dabei vor allem darum, den biblischen Text auch historisch als fundierenden Text des Rituals und das Ritual seinerseits als Medium der Überlieferung (transmissio) des biblischen Textes zu erweisen. Für den Prozess dieser transmissio spielt die rememorative Allegorese dann eine herausragende Rolle.
II. Fundierung und Verkörperung: formam seruantes in uerbis et materiam tenentes in rebus Mircea Eliade hat beschrieben, dass „jede rituelle Handlung ein göttliches Modell, ein Urbild“ habe.11 Rituale wiederholten entsprechend paradigmatische Handlungen der Götter im Hier und Jetzt. Letztlich sei
10 Rationale, lib. IV, cap. 1, par. 11 (ebd., S. 242,86 – 90): Porro misse officium tam prouida reperitur ordinatione dispositum, ut que per Christum et in Christum, ex quo de celo descendit usque dum in celum ascendit, gesta sunt magna ex parte contineat, et ea, tam uerbis quam signis, admirabili quadam specie representat. 11 Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt/M. 1984, S. 34. Zu einer Neubewertung der Positionen Eliades vgl.
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das Ritual imitatio des Mythos im Sinne eines „Wie im Himmel, so auf Erden“ oder aber eines „Wie am Anfang, so auch jetzt“. Im Ritual reaktualisiere sich so die mythische Ursprungszeit.12 Das Verhältnis von Mythos und Ritual ist freilich weit mehr als ein bloßes Inszenierungsverhältnis. Während Eliade immer wieder vorgeworfen wurde, er deute den Mythos lediglich als Skript und Handlungsanweisung des Rituals, betont die neuere Forschung, dass es ihm vielmehr um die Beschreibung des Rituals als einer „archetypischen“ Handlung gehe: Archetypische Handlungen sind die konkret artikulierten Strukturen und Formen menschlicher Existenz. Der Mensch verwirklicht sich selbst, wenn er sie aufnimmt und in seinem Verhalten wiederholend und nachahmend vergegenwärtigt. Er stellt die Wirklichkeit am eigenen Leib und im eigenen Leben dar, eine Wirklichkeit, die sonst nicht ,existieren‘ würde, nicht einmal als Erzählung. Der Mythos ist also nicht als vorgegebenes Skript aufzufassen, da der Mythos ohne rituelle Verkörperung gar nicht ,verstanden‘ werden könnte. Mythos ist nicht Literatur, sondern Handlungswissen und damit ein untrennbarer Teil rituellen Wissens.13
Genau diese Komplexität des Ritualverständnisses lässt sich bei Wilhelm Durandus in gleicher Weise zeigen; repräsentiert für ihn doch die christliche Messliturgie in ihren Worten und Zeichen die gesta Christi. 14 Die Messe wird so zur Verkörperung des christlichen Ursprungsmythos von Leiden, Tod und Auferstehung Christi, wobei freilich die Verkörperung geradezu wörtlich zu nehmen ist: Wird doch in der Messe das Leben Jesu nicht einfach hin nachgespielt, vielmehr wird sein corpus selbst im Akt der consecratio rituell vergegenwärtigt. Freilich sichert Wilhelm dieses realpräsentische Repräsentationsverhältnis auch noch historisch. So sehr die Messe als ganze die Verkörperung Jesu darstellt, sie geht als Ritual zudem auf seine Einsetzung und seinen Erinnerungsbefehl zurück. So jedenfalls beginnt Wilhelm seinen Prolog: Hoc autem officium ipse Christus instituit cum nouum condidit testamentum, disponens heredibus suis regnum, sicut Pater suus sibi disposuit, ut super mensam eius edant et bibant in regno quod Ecclesia consecrauit. Cenantibus enim illis accepit Iesus panem et gratias agens benedixit ac fregit deditque discipulis suis dicens: Accipite et comedite, hoc est corpus meum quod pro uobis tradetur, hoc facite in meam commemorationem. Hac igitur institutione formati, ceperunt apostoli sacrosanctum freAndréa Belliger/David J. Krieger, „Einführung“, in: dies. (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einfhrendes Handbuch, Wiesbaden 32006, S. 7 – 34, bes. S. 27 f. 12 Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiçsen, Frankfurt/ M. 1990, S. 65 f. 13 Belliger/Krieger, „Einführung“ (Anm. 11), S. 28. 14 Vgl. Anm. 10.
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quentare misterium propter causam quam Christus expresserat, et formam seruantes in uerbis et materiam tenentes in rebus, sicut Apostolus Corinthiis protestatur dicens: Ego accepi a Domino quod et tradidi uobis, quoniam Dominus Iesus in qua nocte tradebatur accepit panem etc. 15 (Dieses Amt [= die Messe] hat Christus selbst eingerichtet, als er den neuen Bund schuf, um seinen Erben das Reich zu verfügen, wie es der Vater ihm verfügte, damit sie in seinem Reich essen und trinken auf seinem Tisch, was die Kirche geweiht hat. Als er nämlich mit ihnen [= den Aposteln] Mahl hielt, nahm Jesus das Brot, sagte Dank, segnete und brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: ,Nehmt und esst, das ist mein Leib, der für euch ausgeliefert wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis.‘ Durch diese Einsetzung aber belehrt, begannen die Apostel das allerheiligste Mysterium zu begehen aufgrund dessen, was Christus ausgedrückt hat, und bewahrten seine Form in den Worten und seine Materie behielten sie in den Dingen, wie es der Apostel den Korinthern bezeugte und sprach: ,Ich habe vom Herrn erhalten, was ich auch euch weitergegeben habe: Denn in der Nacht, als er verraten wurde, nahm der Herr Jesus das Brot etc.)
Deutlicher könnte das Verhältnis von biblischem Text und Ritual kaum charakterisiert werden: Zum einen fundiert das biblische Ursprungsgeschehen das Ritual. Die höhere Dignität der Messe im Vergleich zu allen anderen Ritualen16 wird zudem auf den dortigen Erinnerungsbefehl (hoc facite in meam commemoratione) zurückgeführt. Damit wird der Ursprung des Rituals ganz als göttlicher bestimmt, worin auch seine herausragende Heiligkeit gründet. Darüber hinaus werden die Handlungen und Worte des biblischen Abendmahls normierendes Modell für das Ritual selbst. Immerhin hätten die Apostel seine Form in den Worten bewahrt und seine Materie in den Dingen beibehalten. Schließlich wird die Verbindung zwischen Mythos und Ritual noch dadurch gestärkt, dass beim performativen Schlüsselakt der Messe, der Konsekration, der biblische Einsetzungsbericht wörtlich rezitiert wird. Was im biblischen Text den Status einer Erzählung des Letzten Abendmahles hat, wird im Ritual zum Konsekrationswort mit performativem Geltungsanspruch. Mit dem Qui pridie (= „Am Abend vor seinem Tod“) des Kanon beginnt der Teil der Messe, der darstellt (re-
15 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 2 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 240,10 – 22). 16 Ebd., S. 240,22 – 24: Quia igitur misse officium ceteris diuinis officiis dignius et sollempnius est; ideo de illo, prius quam de aliis officiis, est in hac quarta parte dicendum.
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praesentat), was Christus beim Letzten Abendmahl tat.17 Doch bleibt die innere Dynamik des Rituals bei der Repräsentation nicht stehen. Durch das Segnen der Hostie sowie die Rezitation (prolatio) des Hoc est corpus meum beziehungsweise Hic est sanguis meus nämlich kippt die Repräsentation in Präsenz: Segen und Wirkkraft des Wortes (virtute verbi) verwandelten das Brot in die Substanz des Leibes Christi18 und der Priester erstelle (conficere), was auch Christus mit diesen Worten erstellt habe.19 Zusammenfassend lässt sich mithin festhalten: Kanonischer Text und Ritual stehen zueinander in einem Fundierungsverhältnis. Das Ritual wird in doppelter Weise an den biblischen Text zurückgebunden: Das biblische Geschehen erscheint als sein historischer Ursprung; darüber hinaus aber wird der biblische Text selbst im Ritual als performative Rede rezitiert. Allerdings versteht Wilhelm das Ritual dabei nicht als eine einfache rituelle Inszenierung beziehungsweise Wiederholung der biblischen Ursprungserzählung. Obschon es die biblischen Handlungen abbildet, bleibt es bei der repraesentatio nicht stehen. Vielmehr wird es zur Verkörperung – nicht nur der biblischen Erzählung, sondern des Handlungsträgers dieser Erzählung, nämlich Christus selbst.
III. Das Ritual und sein Modell: Eius actio – nostra instructio Insofern das Ritual freilich als Verkörperung des biblischen Textes wie des corpus Christi selbst galt, nimmt es nicht Wunder, dass noch sein Text in den Rang eines heiligen Textes erhoben wurde. Entsprechend zählt Wilhelm im Laufe seines Kommentars nicht nur verschiedene übliche Vorschriften hinsichtlich der Einhaltung der genauen Ordnung des Rituals als conditio sine qua non des Zustandekommens der Realpräsenz auf. Darüber hinaus zeigen sich strukturelle Ähnlichkeiten von Ritual 17 Rationale, lib. IV, cap. 41, par. 1 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 440,4 – 6): Quod autem ab hoc logo agitur representat illud quod Christus in cena fecit. 18 Ebd., par. 14 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 445,189 – 446,191): Benedixit [sacerdos] enim benedictione celesti et uirtute uerbi qua conuertitur panis in substantiam corporis Christi, scilicet: ,Hoc est corpus‘ etc. 19 Ebd., par. 15 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 446,202 – 204): Cum autem ad prolationem uerborum istorum: ,Hoc est corpus meum, Hic est sanguis meus‘, sacerdos conficiat, credibile iudicatur quod et Christus eadem uerba dicendo confecit.
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und biblischem Text hinsichtlich der Vorstellungen über ihre jeweilige Genese wie auch über ihren gnoseologischen Status. Das erste Problem, dem sich Wilhelm Durandus im Prolog nach der Beschreibung des Einsetzungsbefehls zur Messauslegung stellt, ist das der historischen Genese der Messe. So sehr Wilhelm auf dem göttlichen Einsetzungsbefehl insistiert, so muss er doch eingestehen, dass die Messe keineswegs so gefeiert wird, wie dies am Anfang der Kirche der Fall war.20 Vielmehr sei die Messe seit apostolischer Zeit immer weiter angewachsen. Während Christus selbst lediglich die Einsetzungsworte gesprochen habe, hätten die Apostel diese durch das Pater Noster erweitert. Schließlich habe Petrus als Patriarch von Antiochien weitere Gebete eingeführt und über die Jahrhunderte hätten die Päpste das Ritual immer weiter ausgebaut: Gelasius, Cölestin, Gregor und „andere verschiedene Väter“ fügten das hinzu, was ihnen dem wachsenden Kult der christlichen Religion am würdigsten zu entsprechen schien.21 Die religiöse Brisanz eines solchen Anwachsens liegt ebenso auf der Hand wie das religionsgeschichtlich Spezifische des Christentums, das in der Betonung der historischen Genese des Rituals zum Ausdruck kommt. Wenn für religiöse Rituale gilt, dass sie in jeder Handlung einem göttlichen Vorbild folgen, dann hängt die Kraft des Ritus und des Wortes davon ab, dass sie diese „primordiale Handlung“ des jeweiligen Gottes auch exakt – ohne Hinzufügung und Veränderung – nachbilden.22 Wo der Ursprung des Rituals hingegen nicht in einer göttlichen Offenbarung oder Einsetzung (institutio) liegt, geraten seine Legitimität wie auch die performative Kraft seiner Ausführung in Frage. Die gleiche religiöse Logik von modellhaftem göttlichem Handeln und dieses abbildendem Ritual bringt Wilhelm Durandus an drei Stellen auf die Formel: eius (Christi) actio nostra debet esse instructio.23 Entsprechend muss 20 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 5 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 241,38 – 40): In primordio ergo nascentis Ecclesie missa aliter dicebatur quam modo. 21 Ebd., par. 5 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 241,43 – 48): Subsequenti tempore, Celestinus instituit introitum ad missam cantari, prout sub Introitu dicetur. Cetera, diuersis temporibus ab apostolis et a Gelasio, Celestino, Gregorio et alliis diuersis patribus leguntur adiecta, prout, christiane religionis cultu crescente, uisa sunt decentius conuenire. 22 Vgl. Eliade, Kosmos und Geschichte (Anm. 11), S. 34 ff. 23 Rationale, lib. IV, cap. 41, par. 15 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 446,207 f.): quoniam eius actio nostra debet esse instructio; lib. IV, cap. 54, par. 13 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 552,177): quia omnis Christi actio nostra debet esse instructio; lib. VI, cap. 28, par. 6 (Davril/Thibodeau 140A [Anm. 1], S. 249,119 f.): cum ipsius actio nostra debeat esse instructio.
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er alle Abweichungen der Liturgie gegenüber dem fundierenden Text des Evangeliums jeweils legitimieren. Gefährlich werden Abweichungen vor allem hinsichtlich des Kanons und insbesondere der Einsetzungsworte. Gleich zweimal wird dies im Kanon zum Problem: nämlich hinsichtlich des biblischen Ursprungs der Worte und deren Abfolge sowie hinsichtlich des Verhältnisses von Letztem Abendmahl als erster Konsekration und dem eigentlichen Einsetzungsbefehl an die Jünger. Bei den Einsetzungsworten, die die actio Christi beim Letzten Abendmahl vom Qui pridie bis zum Mysterium fidei rezitieren, beschreibt Wilhelm, dass darin dreier Teile gedacht würde, die von keinem Evangelisten beschrieben werden: nämlich das Elevatis oculis in celum bis zu discipulis suis, weiter das Eterni testamenti sowie schließlich das Misterium fidei.24 Gegen den möglichen Einwand, dass damit die Kirche von der Form der Worte abweiche, die die Apostel von Christus empfangen haben, betont Wilhelm: Sicherlich hätten die Apostel die formam istam uerborum von Christus selbst empfangen und von ihnen die Kirche. Doch haben die Evangelisten vieles von den Worten wie von den Taten Christi (tam de uerbis quam de factis) der Kürze wegen ausgelassen; dies hätten allerdings die Apostel wieder hinzugefügt, was Paulus selbst im Korintherbrief bezeuge.25 Schon untereinander gäben die Evangelisten zudem nicht in gleicher Weise den Wortlaut wieder: Während drei der Evangelisten das Hoc est corpus meum erinnerten, habe lediglich Lukas das Quod pro nobis tradetur hinzugefügt; während Matthäus und Markus pro multis sagen, heiße es bei Lukas pro uobis, einzig Matthäus füge zudem hinzu In remissionem peccatorum.26 Die fehlende Evidenz aus der Schrift wird mithin durch die Berufung auf die apostolische Überlieferung und deren Autorität ausgeglichen. Damit folgt 24 Rationale, lib. IV, C. 41, par. 13 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 445,167 – 170): Hic autem tria commemorantur que nullus euangelistarum describit, uidelicet: ,Eleuatis oculis in celum‘ etc., usque ,discipulis suis‘; item: ,Eterni testamenti‘; item: ,Misterium fidei‘. 25 Ebd.: Sane formam istam uerborum ab ipso Christo acceperunt apostoli, et ab ipsis Eccelsia; multa quidem, tam de uerbis quam de factis dominicis, propter breuitatem, pretermiserunt euangeliste, que tamen apostoli suppleuerunt, ut est illud quod Apostolus ait in epistola ad Corinthios: Visus est plus quam quingentis fratribus simul; deinde uisus est et Iacobo, deinde apostolis omnibus; nouissime autem, tanquam abortiuo, uisus est et michi. 26 Ebd.: Nam et inter ipsos euangelistas quedam omittuntur ab uno que supplentur ab alio. Vnde cum tres euangeliste commemorent: Hoc est corpus meum, solus Lucas adiecit: Quod pro nobis tradetur; et cum Matheus et Marcus dicant: Pro multis, Lucas dicit: Pro uobis, sed Matheus addit: In remissionem peccatorum.
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die Liturgie zwar nicht wörtlich der Heiligen Schrift. Sie bleibt dennoch dem Modell der göttlichen Einsetzung durch Christus verpflichtet, wobei Legitimation und Tradierung nicht durch die Schrift, sondern durch Augenzeugenschaft gesichert werden. Problematischer gestaltet sich die Harmonisierung mit dem biblischen Modell der Liturgie bei den Einsetzungsworten und den mit ihnen verbundenen Handlungen. Im biblischen Text wird die Abfolge beim Abendmahl nach der Vulgata mit folgenden Worten beschrieben: Cenantibus autem eis Iesus accepit panem et benedixit ac fregit deditque discipulis suis et ait accipite et comedite hoc est corpus meum. Während hier auf den Segen die Brechung des Brotes erfolgt, dann das Brot an die Jünger weitergereicht und schließlich erst das Hoc est corpus meum gesprochen wird, reiht die Liturgie jedenfalls auf der Handlungsebene anders an: zwar wird im Kanon die Abfolge der Worte beibehalten, die eigentliche Brechung der Hostie erfolgt allerdings erst an viel späterer Stelle, lange nach der Konsekration. Ein solches Abweichen vom biblischen Modell erscheint Wilhelm in hohem Maße gefährlich, denn: „Wenn der Herr zuerst (das Brot) brach, bevor er es konsekrierte, dann zeigt sich wirklich, dass die Kirche, die zuerst konsekriert und dann (das Brot) bricht, anders handelt, als Christus es aufgesetzt hat, und somit sündigt; denn sein Handeln muss unsere Anweisung sein.“27 Entsprechend bemüht er sich biblisches Modell und liturgisches Schema zu harmonisieren. Bevor er eine eigene Lösung vorschlägt, beschreibt er die beiden einander widersprechenden Positionen in dieser Frage. Die erste Meinung ist, dass Christus erst konsekrierte und dann das Brot brach, um es an die Jünger weiterzugeben. Dabei deuten sie die biblische Abfolge der Worte folgendermaßen: Accepit panem et benedixit – wobei sie annehmen (subaudiendum), dass er sagte: Hoc est corpus meum, danach brach er (das Brot) und gab es (seinen Jüngern) und sprach: Accipite et comedite; und wiederholte: Hoc est corpus meum. Zuerst also sprach er diese Worte, um ihnen die Kraft der Wandlung zuzuteilen (ut eis uim conficiendi tribueret), danach wiederholte er sie, um die Apostel die Form der Konsekration zu lehren (formam conficiendi doceret).28 Die Tatsache, dass in der Liturgie die Brotbrechung erst auf die Konsekration folgt, wäre durch die Doppelung der Einsetzungsworte mithin geklärt: Beim ersten Sprechen des Hoc est corpus meum – das beim Accepit panem et benedixit vorauszusetzen sei – erteilte Christus den Wandlungsworten überhaupt erst ihre 27 Ebd., S. 446. 28 Ebd.
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Wirkkraft, während das zweite Sprechen lediglich auf die Weitergabe der Form an die Apostel zielte. Damit handelt die Kirche richtig, wenn sie erst die Konsekrationsworte spricht und dann das Brot bricht, vollzieht sie doch in der Liturgie den Akt der Wandlung, nicht aber den Akt, mit dem Christus den Wandlungsworten ihre Wirkkraft verlieh. Dagegen behaupteten andere, dass er zuerst das Brot gebrochen habe und dann erst konsekrierte. Diese Position versucht offensichtlich die biblische Reihenfolge beizubehalten: Christus habe zunächst gesegnet (benedixit), danach das Brot gebrochen (fregit) und schließlich die Worte Hoc est corpus meum gesprochen (protulit uerba illa). Der Akt der ersten Konsekration durch Jesus und die Einsetzung der Form der Liturgie fielen demzufolge in dem einen Akt der Segnung des Brotes und des Sprechens der Worte zusammen (et sacramentum confecit et formam instituit post benedictionem cum dixit: Hoc est corpus meum). Diese Position weist Wilhelm allerdings zurück, da sie die Zeichen- (signum quod super panem impressit) und Worthandlung (uerbum quod super panem expressit) bereits beide im benedixit vollzogen sehe, was aber mit der Reihenfolge, dass er zuerst das Brot gebrochen und dann die Worte Hoc est corpus meum gesprochen habe, nicht zu vereinbaren wäre. Zudem sei abzulehnen, dass er zuerst das Brot weitergereicht und dann erst konsekriert habe. Wilhelm selbst übernimmt – ohne die Abfolge des Rituals wie auch des biblischen Abendmahles weiter zu diskutieren – anscheinend die erste Position: Mit Gewissheit kann gesagt werden, dass Christus – durch uns verborgene göttliche Kraft – zuerst konsekrierte (primo confecit) und danach die Form ausdrückte (postea formam expressit), unter der die Nachfolger segnen sollten (sub qua posteri benedicerent); er selbst nämlich segnete aufgrund seiner eigenen Kraft, während wir aus jener Kraft segnen, die er diesen Worten verlieh. Wenn also der Priester diese Worte Christi ausspricht: Hoc est corpus meum, und Hic est sanguis meus, werden Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt durch die Kraft des Wortes.29 Offenbar unterstellt Wilhelm gleichermaßen wie die zuerst beschriebene Position, dass beim biblischen Abendmahl ein doppelter Akt stattfand – der nämlich der Konsekration durch Christus und der der Weitergabe beziehungsweise des Einsetzungsbefehls an die Jünger. Anders freilich als erstere führt Wilhelm nicht mehr das Argument ex silentio, dass das Hoc est corpus meum dann zweimal hätte gesprochen werden müssen, sondern zieht sich auf ein Handeln Christi uirtute diuina nobis occulta zurück. Dadurch vernachlässigt er in folgen29 Ebd., S. 447.
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reicher Weise die Abbildhaftigkeit des rituellen Handlungsgeschehens. Ihn interessiert weniger die Wirkkraft der Handlung, sondern einzig die Wirkkraft des Wortes: „Durch die Verkündung des Wortes (ad prolationem uerborum) geschieht die Transsubstantiation des himmlischen Brotes in das Fleisch.“30 Diese Wirkkraft freilich ist für ihn durch das biblische Modell gesichert, da Christus selbst die Konsekrationsworte mit Wirkkraft erfüllt habe.
IV. Historizität und Heiligkeit: Göttliche Einsetzung und menschlicher compositor So sehr er somit versucht, das Ritual an sein biblisches Modell zurückzubinden, so sehr beharrt Wilhelm – wie mit ihm die meisten Liturgiker des 12./13. Jahrhunderts – auf der Legitimität eines Veränderns und Anwachsens der Liturgie in der Geschichte der Kirche.31 Die christliche Liturgie der Messe habe zwar im Kern ihren Beginn beim Einsetzungsbefehl Christi, sie sei aber seit der Zeit der Apostel immer weiter ausgearbeitet worden. Schon die Apostel hätten den uerba premissa des Einsetzungsbefehls weitere Teile hinzugefügt; wie die Messe zu Anfang der Kirche überhaupt anders gefeiert worden sei als heute.32 Manche Handschriften des Rationale betonen entsprechend, dass das Offizium von den Vätern nicht von Anfang an und auf einmal in all seinen Teilen angeordnet wurde, „sondern unterschiedliche [Väter] ordneten Unterschiedliches zu unterschiedlichen Zeiten an“ (sed diuersi diuersa diuersis temporibus ordinauerunt).33 Innerchristlich war eine solche 30 Ebd., S. 447,243 f. 31 Eine Untersuchung der unterschiedlichsten „Ursprungserzählungen“ über die Liturgie steht aus und kann hier nicht weiter bearbeitet werden. Offenbar waren solche Ursprungserzählungen aber für alle Theoretiker der christlichen Liturgie ein Problem, galt es doch immer göttlichen Auftrag und menschliche Komposition miteinander in irgendeiner Weise zu versöhnen, ohne die Dignität des Rituals zu gefährden. Dass Wilhelm – wenn nicht die opinio communis, so zumindest – eine weitverbreitete Position wiedergibt, zeigt sich schon am Quellenapparat der kritischen Edition zu den im folgenden zu verhandelnden Stellen. Seine gesamte Darstellung von Werden und Wachsen der Messe arbeitet seine wichtigsten Vorgänger ein. 32 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 4 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 240,32 – 34): Apostoli autem hanc missam adauxerunt, dicentes in missa non solum uerba premissa, uerum etiam dominicam orationem superaddentes. 33 Ebd., lib. V, cap. 2, par. 4 (Davril/Thibodeau 140 A [Anm. 1], S. 15,206).
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Position keineswegs unhinterfragt. Im Gegenteil zählt Wilhelm etliche Argumente von Ketzern (perfidi heretici) auf, die aufgrund der historischen Genese und der damit einhergehenden Veränderungen gegenüber dem biblischen Ursprung die Legitimität der Liturgie bestritten.34 Wilhelm beschreibt eine ganze Fülle von Kritikpunkten aus häretischen Kreisen, die obschon ihre Herkunft bislang nicht eindeutig geklärt werden konnte, womöglich die Kritik von Albigensern und Katharern am kirchlichen Ritus widerspiegeln.35 Im Einzelnen wird dabei vorgeworfen, dass das Evangelium in der Messe nur in zerstückelten Teilen verlesen wird und der ursprünglichen Messe (primitiva missa) andere Teile hinzugefügt worden seien. Zudem seien über das Neue Testament und die Vorschriften der Apostel hinaus andere Gebräuche und neue Doktrinen eingeflossen. Desweiteren hätte die Ecclesia Christi weder die Messe noch die Matutin gesungen, weder Christus noch die Apostel hätten diese eingesetzt, noch aber wäre sie in apostolischer Zeit gesungen worden. Selbst der Name „Messe“ sei illegitim, weil er Erfindung der Kirche sei, während das, was die Messe darstellt, im Evangelium cena genannt würde. Ferner habe weder die Kirche in ihren Anfängen noch aber die Apostel die Messe weder mit Instrumenten begangen noch aber mit lauter oder sanfter Stimme gesungen. All dies seien in den Augen der Ketzer eindeutige Verstöße gegen biblische Mahnungen. In der Apokalypse des Johannes heiße es etwa: „Wer zu diesem etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, die in diesem Buch beschrieben sind“ (Off 22,18). Christus selbst habe sich gegen jede eigene Traditionsbildung verwahrt, wenn er bei Matthäus sagt: „Dadurch dass ihr eurer Überlieferung dient, habt ihr die Vorschrift Gottes aufgehoben“ (Mt 14,6). Zudem habe er gesagt: „Jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerissen“ (Mt 15,13). Und Paulus habe festgehalten: „Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren irreführen“ (Hebr 13,9), sowie: „Einen anderen Grundstein kann niemand legen als der, der gelegt ist, welcher Christus ist“ (1 Kor 3,11). Die den Häretikern unterstellten Argumente gegen eine historische Veränderung des Rituals folgen alle der Vorstellung, dass die Liturgie – selbst noch in ihrer Namensgebung und Performanz (laut/leise; singen/ sprechen) – exakt in ihrer biblisch oder wenigstens apostolisch fun34 Ebd., lib. IV, Prohemivm, par. 8 und 9 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 241,59 – 242,82). 35 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 7), S. 68 f.
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dierten Form durchgeführt werden müsste. Damit passen sich die Argumente gänzlich dem aus der Religionsgeschichte weithin bekannten Ritualschema „Wir müssen tun, was die Götter am Anfang taten“36 ein. Jede Abweichung, gar das Eingeständnis einer historischen Veränderbarkeit des Rituals, gefährde nicht nur dessen Wirkkraft, sondern ziehe auch noch die göttliche Strafe (Plagen; ausreißen) nach sich. Wilhelm – wie viele andere Liturgiekommentatoren – betont und rechtfertigt dagegen die Historizität der Liturgie. In der Auseinandersetzung mit der Häresie werden bei ihm Anerkennung und Legitimität der historischen Genese des Rituals geradezu zum Signum der Orthodoxie, während das Insistieren auf seiner Unveränderlichkeit wie die Beschränkung auf ihr biblisches Vorbild als Signum der Heterodoxie erscheint. Im Gegensatz zu den Häretikern, die die historischen Veränderungen als Argument gegen die Sakralität des Rituals ins Feld führten, versuchen die orthodoxen Theologen Historizität und Heiligkeit miteinander in Einklang zu bringen. Dafür bedienen sie sich wie Wilhelm jener Vorstellung, die in der Exegese des 13. Jahrhunderts für die Heilige Schrift und deren Urheber ausgearbeitet wurde; nämlich eines Ineinanders von göttlicher und menschlicher Autorschaft: „Die Lösung [der Exegeten des 13. Jahrhundert] bestand vor allem darin, zwischen dem Hauptautor (Gott) und dem instrumentellen Autor (was wir den Autor des Buches nennen), oder aber zwischen der Erstursache (Gott) und der Zweitursache (dem menschlichen Autor) zu unterscheiden.“37 Nicht anders verfuhren die Liturgiker mit der Autorschaft der Liturgie. Bereits im 12. Jahrhundert beschrieb dies Rupert von Deutz († 1129): Hauptautoren der Liturgie waren nach ihm Gott, Christus sowie der Heilige Geist, die „in Aufbau und Sinngehalt einheitliche Gestalt der liturgischen Ordnung und ihrer Messformulare (hingegen) sei das Werk einer schöpferischen Persönlichkeit, des compositor officii der Kirche“.38 Die Kriterien für die Legitimität von Erweiterung und Veränderung der Liturgie nennen Rupert wie Wilhelm in gleichem Maße: Im Hinblick auf die Autoren beziehungsweise Kompositoren sind dies die heiligen Väter und Päpste und im Hinblick 36 Eliade, Kosmos und Geschichte (Anm. 11), S. 34. 37 Gilbert Dahan, L’exgse chrtienne de la Bible en Occident mdival (XIIe–XIVe sicle), Paris 1999, S. 41. 38 Helmut Deutz/Ilse Deutz, „Einleitung“, in: Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis – Der Gottesdienst der Kirche 1, auf der Textgrundlage der Edition von Hrabanus Haacke neu hrsg., übers. und eingel. von Helmut und Ilse Deutz, Freiburg/Br. [u.a.] 1999 (Fontes Christiani 33.1), S. 74 f.
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auf die Heiligkeit und Dignität des Ritus die Erhöhung seines Schmuckes wie seiner Würde. Entsprechend hatte Wilhelm, wie wir bereits sahen, sich in der Auflistung der Erweiterungen des Rituals zu Beginn des Prologs zur Messauslegung gänzlich auf die Apostel und Päpste beschränkt und als Kriterium ihrer Erweiterungen das decentius conuenire bestimmt.39 Rupert von Deutz zog ausdrücklich den Vergleich zwischen der Heiligkeit des Rituals und seiner durch die Erweiterung gesteigerten Würde: Seither ist das Opfer zwar nicht heiliger, als es vorher war, als es allein mit den Worten des Herrn und allein mit dem Gebet des Herrn vollzogen wurde, doch war es in höchstem Maße geziemend, daß der Glaube, der bis dahin zu jener Zeit noch roh war […], daß der Glaube vergoldet wurde […], vornehmlich in diesem Teil (sc. dem heiligen Messopfer), gleichsam an seinem Haupt, und daß er durch die verehrungswürdige Gleichnishaftigkeit solcher Ausschmückungen […] glanzvolle Würde erhielt.40
Ästhetische (ornari, deaurari) sowie Konvenienzkriterien (decere, veneranda similitudine fulgere) stellen mithin die Legitimationskriterien für eine Veränderung der Liturgie dar. Sie treten dabei keineswegs in Konkurrenz zur Heiligkeit der Liturgie, sondern unterstreichen diese vielmehr durch die Erhöhung ihrer Würde. Mit dem ästhetischen Argument kann dann auch noch die Vielheit von unterschiedlichen Gebräuchen in der Liturgie – gegen ein einheitliches normierendes Formular – begründet werden. Schon Wilhelm von Auvergne († 1249) hatte mit der varietas pulchritudinis die Unterschiedlichkeit von Ritualen am Anfang des 13. Jahrhunderts legitimiert.41 In ähnlicher Weise behandelt Wilhelm Durandus das Problem von Vielfalt und Norm der Liturgie und plädiert für den Erhalt der 39 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 3 – 7 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 240 f.). 40 Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis, I, cap. 21 (Deutz/Deutz [Anm. 38], S. 310): Non quidem sanctius, hinc est quam erat prius, cum ad sola verba Domini solamque dominicam orationem consecrabatur, sed maxime decuit, ut fides, quae adhuc erat illo tempore rudis et, […] ubi ornari potuit, maxime in hac parte, tamquam in capite suo, deauraretur, et earum rerum, […] veneranda similitudine fulgeret. (Übersetzung ebd., S. 311). 41 Dazu ausführlicher Thomas Lentes, „Idolatrie im Mittelalter. Aspekte des Traktats ,De idolatria‘ zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert“, in: Gudrun Litz [u.a.] (Hrsg.), Frçmmigkeit – Theologie – Frçmmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden – Boston 2005 (Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 31 – 45.
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Verschiedenheit in den unterschiedlichen Orts- und Ordensliturgien.42 Insgesamt – so Wilhelm – sei die Vielfalt der unterschiedlichen Gebräuche von der Kirchenleitung als rechtmäßig zu tolerieren (in […] administratione de iure consuetudinis uarietas toleretur).43 Dabei stützt er seine These auf die unterschiedlichen Quellen der Liturgie, die er mit einem fälschlich Augustinus zugeschriebenen Zitat aus De spiritu sancti des Basilius belegt. Die Einsetzung der heiligen Offizien komme zum einen aus der Heiligen Schrift, ferner aber von den Aposteln ohne die Schrift sowie durch deren Nachfolger, die diese bestätigt hätten; andere durch die Gewohnheit übliche Praktiken könnten in ihrer Genese nicht mehr geklärt werden.44 Eine Handschrift des 14. Jahrhunderts führt für die Verschiedenheit ausdrücklich ein ästhetisches Argument ein. Wie die Braut, die sich für den König schmückt (Ps 44,10), so sei die Ecclesia triumphans mit der varietas umkleidet. Die Legitimation der Verschiedenheit wird schließlich noch durch eine Bedeutungszuschreibung unterstrichen, die wiederum ästhetische Kategorien einschließt: Viele Gewohnheiten trügen einen moralischen oder mystischen Sinn in sich, andere wollten auf die congruitas oder differentia von Altem und Neuem Bund hinweisen, andere erklärten sich aus conuenientia oder aber seien als Steigerung von Feierlichkeit und Ehrfurcht (propter maiorem ipsorum officiorum celebritatem et reuerentiam) zu deuten.45 Die apostolische Tradition sowie die apostolische Sukzession der Päpste, heilsgeschichtliche Sinnbezüge und Steigerung von Feierlichkeit und Ehrfurcht waren mithin die Strategien, die zum einen ein Abweichen des liturgischen Formulars vom biblischen Leittext legitimierten. Gleichzeitig aber – und religionsgeschichtlich wohl bedeutsamer – wurde damit die Historizität von Ritualen behauptet. Religiöse Rituale, selbst die Messe, erhielten so nicht nur ein biblisches Modell, 42 Vgl. dazu Rudolf Suntrup, „Norm oder Modell? Zentralismus und einzelkirchliche Vielfalt der römischen Messliturgie des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit“, in: ders./Jan R. Veenstra (Hrsg.), Normative Zentrierung – Normative Centering, Frankfurt/M. [u.a.] 2002 (Medieval to Early Modern Culture – Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 2), S. 125 – 146, hier S. 131 – 133. 43 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 13 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 8). 44 Ebd.: Ecclesiasticarum institutionum in diuino officio quasdam Scripturis accepimus; quasdam uero apostolica traditione sine scriptis, confirmatas per successores; quasdam etiam, quarum institutio ignoratur, consuetudine roboratas approbat usus, quibus par ritus seu obseruantia debetur. 45 Ebd., par. 14 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 9).
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dem sie in Wort und Handlung zu folgen hatten. Vielmehr wurden die Menschen selbst zum Träger und Autor der Rituale erhoben. Insofern damit dem Ritual eine menschliche Miturheberschaft zuerkannt wird, wird man im Religionsvergleich kaum umhinkönnen, dem Christentum selbst im Bezug auf sein Kernritual ein Säkularisierungsmoment zuzusprechen. Der Ritus ist christlich nicht einfachhin mythischen Ursprungs und hat auch nicht nur im biblischen Erinnerungsbefehl seinen historischen Anfang bei Christus selbst. Darüber hinaus hat das Ritual in seiner Gestalt auch eine (menschliche) Geschichte. Allerdings blieb die Historizität bei Wilhelm Durandus – wie auch bei anderen – göttlich zurückgebunden. Alleine schon die Anbindung an apostolische Tradition und Sukzession bindet die historische Genese des Ritus in einen heils- und kirchengeschichtlichen Prozess ein. In der Auseinandersetzung mit den Häretikern steigert Wilhelm zudem noch die göttliche Sanktionierung dadurch, dass er sie geradezu auf die Materialität des liturgischen Kodex überträgt. Im Streit um den Vorrang zwischen Missale ambrosianum und Missale gregorianum, so gibt er die Vita Eugenii aus der Legenda aurea wieder, habe Papst Eugen ein Konzil zusammengerufen. Um zu einer Entscheidung zu kommen, wurde ein Gottesurteil herbeigeführt. Die Konzilsväter legten beide Missale auf den Altar des heiligen Petrus, hätten sie mit mehreren bischöflichen Siegeln versehen und von außen die Kirche verschlossen. Während der folgenden Nacht beteten sie darum, dass Gott durch irgendein Zeichen zu erkennen gebe, welches der beiden von der Kirche beachtet werden sollte. Am Morgen lagen beide Missale geöffnet auf dem Altar. Während das Ambrosianum freilich genau auf dem Platz lag, wo sie es hingelegt hatten, wäre das Gregorianum gänzlich aufgelöst und in der ganzen Kirche zerstreut gewesen. Daraus hätten die Väter die göttliche Lehre gezogen, dass das Gregorianum durch den gesamten Erdkreis verbreitet werden sollte, während das Ambrosianum lediglich von seiner Ortskirche bewahrt werden sollte.46 Zu einer Legitimierung der Historizität der Liturgie wird diese Geschichte erst im Kontext von Wilhelms Argumentation. In der Vita Eugenii der Legenda aurea, aus der sie Wilhelm übernimmt, diente sie lediglich zur Begründung der beiden unterschiedlichen Liturgien, insbesondere der ambrosianischen Eigenliturgie der Mailänder Kirche und der Übernahme des Gregorianum durch die Karolinger. Wilhelm hingegen erzählt sie im Zusammenhang mit der historischen Genese der 46 Rationale, lib. V, cap. 2, par. 5 (Davril/Thibodeau 140A [Anm. 1], S. 15 f.).
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Liturgie im Prolog seines fünften Buches über das Stundengebet. Im Prolog des vierten Buches jedoch, wo er die Gegenargumente der Häretiker gegen die historische Genese beschreibt, deren Widerlegung aber unterlässt, verweist er genau auf den Prolog des fünften Buches. Dort werde er die Häretiker offen widerlegen.47 Damit erhält die Geschichte einen ganz neuen Sinn, weil sie nun am Beispiel des ambrosianischen und gregorianischen Missale illustriert, dass Gott selbst das historische Werden sowie die varietas von Eigenliturgien bestätigt. Insofern erhält das Ritual der Messe bei Wilhelm eine dreifache Fundierung: Eingesetzt durch Christus wurde es von Menschen ausgestaltet und schließlich in Form des Missale Gregorianum von Gott selbst bestätigt.
V. Textus und Corpus: Die beiden Repräsentationskörper Christi im Ritual Jan Assmann und mit ihm etliche religionswissenschaftliche Ritualtheorien haben das Verhältnis von Heiligem Text einer Religion und deren Ritual so gedeutet, dass der Heilige Text das Primäre, das Ritual hingegen ihm gegenüber sekundär sei. „Ein heiliger Text“, so Assmann, „ist eine Art sprachlicher Tempel. Der heilige Text verlangt keine Deutung, sondern rituell geschützte Rezitation unter sorgfältiger Beobachtung der Vorschriften hinsichtlich Ort, Zeit, Reinheit usw.“.48 Obschon die mittelalterliche Messe dem funktional – etwa in der Rezitation biblischer Texte wie auch in der Mahlfeier selbst – zu entsprechen scheint, wurde die Messe doch keineswegs einfachhin als ein dem biblischen Text sekundärer ritueller Überlieferungsträger verstanden. Ganz im Gegenteil charakterisiert ja bereits der Erinnerungsbefehl des Neuen Testamentes Hoc facite in meam commemorationem („Tut dies zu meinem Gedächtnis“) das Ritual der Messe als genuinen und primären Überlieferungsträger der christlichen Botschaft beziehungsweise der in der Bibel erzählten Heilsgeschichte. Dadurch erhält das Ritual im
47 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 9 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 242,81 f.): Illorum tamen error apertissime confutatur ex hiis que in prohemio quinte partis dicentur. 48 Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, München 1992, S. 94.
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Verhältnis zu seinem fundierenden Heiligen Text eine ganz eigenständige religiöse Dignität. Gerade für das Mittelalter wird man dies noch zuspitzen müssen: Die christliche Überlieferung von ihrem historischen Beginn über die Generationen hinweg geschah nicht vornehmlich im Buch, etwa durch Lektüre der Bibel, sondern eben im Ritual. Nicht nur, dass der Zugang zur Bibel in hohem Maße begrenzt war: Bis wenigstens zum 13. Jahrhundert wurde der biblische Text vor allem in liturgischen Bezügen vernommen und weit mehr in liturgischen Büchern (Lektionaren, Epistolaren, Evangeliaren, Evangelistaren, den unterschiedlichen Psalterienformen etc.) überliefert denn als biblischer Volltext. Erst im 12./ 13. Jahrhundert etablierte sich dann eine universitäre Kommentartradition jenseits von liturgischem Gebrauch und Überlieferung. Doch blieb auch danach die Liturgie sowohl qualitativ als auch quantitativ der vornehmste Ort der Überlieferung des biblischen Textes. Auf keine zweite Epoche des Christentums wie für das Mittelalter dürfte entsprechend so sehr zutreffen, dass das Christentum nicht primäre, sondern eben sekundäre Buchreligion war.49 Der mittelalterlichen Religion, wenn man dies so pauschal sagen darf, ging es nicht vornehmlich um Überlieferung oder Aneignung des biblischen Textes, sondern vielmehr um die Tradierung, Vergegenwärtigung des seit der Himmelfahrt absenten corpus Christi sowie um die Integration in diesen. Dessen auch materielle Präsenz aber leisteten weder Lektüre der Bibel noch Kommentar, sondern eben nur das Ritual, insbesondere durch seine Realpräsenz in der Messe. Die zentrale Aufgabe des Rituals, das conficere corpus Christi, ging freilich noch auf den materiellen Textkörper des Evangeliums über. Der textus Evangelii, so die Bennenung der liturgischen Kodizes für die Verlesung des Evangeliums seit dem 11./12. Jahrhundert50, galt während des Lesegottesdienstes als die alle anderen Medien (Kreuz, Altar etc.) überragende Repräsentation des corpus Christi. Im Textus war nicht nur die Stimme des Autors präsent, vielmehr galt dieser als Kodex als Verkörperung Christi selbst. „In seiner Güte“, so etwa Issac von Stella 49 Eugen Biser, Einweisung ins Christentum, Düsseldorf 1997, S. 92. 50 Ausführlicher dazu Thomas Lentes, „Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie“, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hrsg.), ,Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 216), S. 133 – 148.
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(† 1169), „gab er uns sein Heiliges Evangelium, damit der Text des Heiligen Evangeliums der gegenwärtige Körper des sichtbaren Wortes sei (ut sit quasi visibilis Verbi praesens corpus sancti Evangelii textus)“.51 Entsprechend wurde das Evangeliar in der Messe auch als Repräsentationskörper Christi behandelt und gedeutet.52 Beim Introitus etwa wurde es in Form des herrschaftlichen Adventus in die Kirche geführt, es wurde inzensiert und zu Beginn der Messe wie auch bei der Verlesung geküsst. Wie sehr es dabei auf den materiellen Textkörper ankam, belegen viele Ordinarien des späten Mittelalters, die das Evangelium gar nicht mehr erwähnen, sondern – so etwa im Liber Ordinarius von Lüttich aus dem Jahre 1287 –53 nur noch vom „Kuss des textus“ sprechen. Auch inhaltlich überragte das Evangelium alle anderen Texte des Lesegottesdienstes. Mit Rupert von Deutz führt Wilhelm das Evangelium als caput der anderen membra der Messe ein: „Auch soll man wissen, dass wie das Haupt die übrigen Glieder des Körpers überragt, und die übrigen Glieder ihm dienen, so ist auch das Evangelium das Wichtigste von allem, was im Offizium der Messe gesprochen wird. Und es überragt alles im Offizium der Messe, und alles was dort gesungen und gelesen wird, stimmt mit ihm in seinem geistigen Sinn überein.“54 Der caput-und-membra Vergleich bezog sich freilich nur auf die Stellung des Evangeliums gegenüber den übrigen Lesetexten der Messe sowie den Texten des Propriums; diese sollten sich durch Sinnbezüge auf den jeweiligen Evangelientext beziehen. Das Verhältnis von Lesegottesdienst und Kanon blieb davon unberührt. Mit Beginn nämlich des zweiten Hauptteils der Messe, in dem es um das conficere corpus Christi ging, tritt das Evangelienbuch nicht mehr in Erscheinung. Wo das corpus realpräsent gesetzt wurde, verlor der 51 Isaac von Stella, Sermo 9,8, in: Issac de l’Étoile, Sermones, hrsg. von Anselm Hoste, Paris 1967 (Sources Chrétiennes 130), S. 211. 52 Belege bei Lentes, „Textus Evangelii“ (Anm. 50), S. 136 – 138. 53 ,Liber Ordinarius‘ des Ltticher St. Jakobsklosters, hrsg. von Paulus Volk, Münster 1923 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens 10), c. 23, S. 26: Cum autem venerit processio modicum extra monasterium, si sit tempus serenum, mox episcopus incensatur et oblato textu ad osculandum scilicet ab eo loco, quo continetu ,Ego sum pastor‘. 54 Rationale, lib. IV, cap. 24: De evangelio, par. 3 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 341): Et est sciendum quod sicut caput preeminet ceteris corporis membris, et illi cetera membra seruiunt, sic et euangelium principale est omnium que ad officium misse dicuntur, et toti preeminet officio misse, et quecumque ibi cantantur et leguntur illi consentiunt intellectuali ratione. Die Vergleichsstelle fast wörtlich bei Rupert von Deutz, De divinis officiis, I, cap. 37 (Anm. 38), S. 236 ff.
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textus als dessen Repräsentation seine Geltung. In diesem Wechsel vom textus zum corpus erkannten mittelalterliche Liturgiker nicht weniger als eine Hierarchie der Heiligkeit zwischen den beiden Hauptteilen der Messe. „Nach der Verlesung des Evangeliums“, so schon Rupert von Deutz, „verlangt der folgende Teil der Messe höhere Aufmerksamkeit, weil er nämlich höhere Zeichen (maiora sacramenta) unseres Heils enthält“.55 Wilhelm Durandus spricht ausdrücklich von zwei verschiedenen Sphären der Sakralität: „In der Tat bestand einst der Tempel aus zwei durch einen Schleier getrennten Teilen. Der erste Teil wurde heilig (sancta) genannt, der innere Teil aber Allerheiligstes (sancta sanctorum). Das also, was im Offizium der Messe vor der Sekret [= im Lesegottesdienst] begangen wird, geschieht sozusagen im ersten Teil des Tempels; das aber was in der Sekret [= Kanon] begangen wird, geschieht innerhalb des Allerheiligsten.“56 Dass im Ritual die Evangelientexte verlesen wurden, war mithin das eine; entscheidender dagegen war, dass durch die rituellen Handlungen im Kanon, insbesondere der Wandlung, das corpus selbst gegenwärtig gesetzt wurde.
VI. Missa quasi transmissa: Das Ritual als Überlieferung Damit freilich war die Messe weit mehr als ein gegenüber dem biblischen Text sekundärer Überlieferungsträger; sie war vielmehr Überlieferungsträger eigenen Rechts. Entsprechend charakterisiert Durandus die Messe in ihrer Gesamtheit als Transmissions- und Sendungsritual, das die Totalität des christlichen Heilskosmos von der Inkarnation über Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi, das heilswirksame Opfer Christi und noch die Nachfolge des einzelnen Christen umfasst. Ausgehend vom Namen missa entwirft er eine geschlossene rituelle Überlieferungstheorie. Das Wort missa stamme aus dem Entlassungsruf Ita missa est am Ende der Messe. Auf der Handlungsebene bedeute die missa die Entlassung und Aussendung der Gläubigen. Wird der Name als nomen collectiuum verstanden, beziehe er sich entweder auf die gesamte 55 Ebd., S. 242: Lecto evangelio maiore quae sequuntur egent intentione, quia videlicet maiora continent salutis nostrae sacramenta. 56 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 13 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 8): Sane olim templum erat in duas partes, interposito uelo, diuisum; pars prior uocabatur sancta, interior uero sancta sanctorum. Quicquid ergo in officio misse ante secretam agitur, quasi in ede priori est; quod autem in secreta agitur, intra sancta sanctorum est.
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Messe vom Introitus bis zum Ita missa est oder aber lediglich auf den Beginn des Kanons bis zur Entlassung, was richtiger sei, weil dort die Hostie (= Christus) entsandt werde. Wenn aber missa auf die gesamte Messe bezogen wird, seien damit der Priester, dessen Amt und Handeln gemeint, da er ja als mediator inter Deum et homines über dem Altar den Namen Gottes quasi transmissa anrufe und damit die Gebete der Gläubigen dem Allerhöchsten übermittele (transmittit). Wird in der Deutung als nomen collectiuum vor allem das rituelle Geschehen als Sendung beziehungsweise Aussendung der Gläubigen sowie als Mittlerfunktion des Priesters verstanden, entwirft die Deutung von missa als nomen proprium das Ritual als heilsgeschichtlichen Überlieferungsprozess. Missa repräsentiere dann nämlich „Christus, der vom Vater in diese Welt gesandt wurde, und auch den Engel, der gesandt wurde, dass durch seine Hände die Hostie auf dem höchsten Altar Gottes dargebracht wird. Dieses Opfer also, das ist die Hostie, wird missa genannt, als sei es gesandt (quasi transmissa): zuerst vom Vater an uns, damit er (Christus) unter uns sei; danach von uns an den Vater, damit er für uns eintrete und für uns bei ihm sei. Weiter wurde zuerst uns vom Vater durch die Inkarnation Christi sein Sohn übersandt, danach wurde er von uns durch die Passion dem Vater übersandt.“ Genau diesen Kreislauf der transmissio bilde das Ritual seinerseits ab: „In ähnlicher Weise geschieht es im Sakrament, denn zuerst wird uns durch den Vater die Heiligung gesandt, damit diese beginnt, bei uns zu sein; danach wird sie von uns dem Vater durch das Opfer (per oblationem) gesandt, damit er beim Vater für uns eintritt; denn allein diese missio oder legatio ist hinreichend und würdig, um die Feindschaft und Beleidigung zwischen Gott und den Menschen zu lösen.“ Schließlich wird die Entlassung noch als Überlieferung im Sinne der Nachfolge verstanden: „Wenn also der Diakon am Ende der Messe spricht: Ita missa est, so ist dies, als sage er: ,Kehrt zurück zu den Euren‘ oder ,Folgt Christus nach‘, denn die Oblate oder die heilbringende hostia ist für uns gesandt, damit wir Gott dem Vater gefallen.“57 Der Begriff der transmissio bedürfte noch weiterer Klärung. Doch deutet sich an, dass er durchaus im Sinne des französischen Kulturwissenschaftlers Regis Debray als kulturelle beziehungsweise religiöse Überlieferung (transmission) verstanden werden kann. Nicht nur, dass sich die Teilnehmer der Liturgie in den Überlieferungsprozess des bi57 Diese wie alle folgenden Zitate dieses Abschnittes finden sich in Rationale, lib. IV, cap. 1, par. 48 f. (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 257).
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blischen Mythos eingliedern, das Ritual selbst wird hier zum Vollzug einer theologisch gefassten transmissio von Gott zu den Menschen und wiederum von diesen – in Form der Opfergabe – zurück an Gott. Insofern der Kommentar die Messe in diesem umfassenden Sinne als jene Feier begreift, in der diese transmissio geschieht, wird man jedenfalls für Wilhelm Durandus kaum davon sprechen können, dass er der Messe kein anamnetisch-vergegenwärtigendes Gedächtnis mehr zuweise. Ganz im Gegenteil versteht er das Ritual als das Heilshandeln Gottes an den Menschen und die Opferfeier als dessen Aktualisierung. Dabei kommt es gar noch zur Einheit von himmlischer und irdischer Liturgie, insofern die Engel das Opfer der Menschen auf dem himmlischen Altar darbringen. Die Leistung des Kommentars besteht mithin keineswegs einzig darin, den Ablauf der Liturgie auf die einzelnen Stationen der Vita Christi hinzudeuten. Vielmehr versucht Wilhelm die unterschiedlichsten theologisch relevanten Zeit- und Wirklichkeitsebenen zu verbinden: den historischen Ursprung in der Vita Christi und den historisch ein für allemal geschehenen Opfertod, zudem dessen sakramentale Aktualisierung und schließlich noch die irdische und himmlische Liturgie.
VII. Das Ritual kommunizieren: Der Kommentar als Überlieferungsträger Ist das Ritual so an sich bereits Träger und Medium von Überlieferung, so muss es seinerseits – durch Kommentierung – im Überlieferungsfluss lebendig gehalten und erklärt werden. Entsprechend beschreibt Wilhelm Durandus die Aufgabe des Kommentars an den Schlüsselstellen seines Prologs zum Rationale mit der Semantik von Gedächtnisspeicherung (scrinium, pectus, conservare) und -überlieferung (tradere): Sein Werk trage den Titel Rationale nach der Lostasche (rationale iudicii) des Hohenpriesters. Wie der alttestamentliche Hohepriester diese Tasche mit der Beschriftung manifestatio et veritas auf seinem Herzen trug, so wolle er die Vernunftgründe der verschiedenen göttlichen Offizien beschreiben und offenbaren, „welche die kirchlichen Prälaten und Priester treu im Schrein ihres Herzen bewahren sollen (quas in scrinio pectoris sui ecclesairum prelati et sacerdotes debent fideliter conseruare)“.58 58 Rationale, Prohemivum, par. 16 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 10,214 – 219).
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Möglichst alles, was von den Älteren überliefert wurde (que a maioribus tradita), will er folglich erklären.59 Notwendig wird diese Kommentierung, weil sich das Ritual nicht mehr aus sich selbst erklärt; vielmehr bedarf es als heiliger und kodifizierter Text seinerseits wie die Bibel des Kommentators, der als aufmerksamer Untersucher (diligens inspector) seine himmlische Ordnung (ordo) erkennt und seine rationes auf der Erde auslegt.60 Die Methode und Technik der Auslegung entnehmen die Liturgiekommentatoren entsprechend der biblischen Exegese, wobei jedenfalls Wilhelm allegorisches Auslegungsverfahren mit der spezifischen Semiotik der Liturgie, dem Sakramentenbegriff, in Einklang zu bringen versucht. Während die Messe insbesondere durch die rememorative Allegorese zu einem Mnemotopos der Passion Christi gerät und damit alle Handlungen der Messe geradezu zur ikonographischen Repräsentation des vergangenen Heilsgeschehens werden, scheint der Sakramentenbegriff wie der Akt des consecrare dessen Realpräsenz zu sichern. Figura und sacramentum, commemoratio und consecratio, memoria im Sinne ikonischer Repräsentation und memoria im Sinne einer realpräsentischen Erinnerung erscheinen dabei weit komplementärer als dies bis heute vor allem die theologische Forschung betont. Bis heute fehlt es an eingehenden Studien zur causa scribendi wie auch zur Funktion liturgischer Kommentare. Seit dem monumentalen Werk Die Messe im deutschen Mittelalter von Adolph Franz erklärt die Forschung den Grund ihres Entstehens vor allem mit einem verlorengegangenen Verständnis der Liturgie. Im Folgenden kann weder eine ausführliche Kritik an dieser Sicht noch eine umfassende Untersuchung der eigentlichen Entstehungsgründe geleistet werden. Es sollen lediglich in Auseinandersetzung mit der Forschung einige Thesen vorgetragen werden, die sich als ein Plädoyer für eine Neubewertung der Liturgiekommentare verstehen. So sehr die mittelalterlichen Kommentatoren selbst immer wieder das Nicht-Verstehen des Ritus als einen Grund ihres Schreibens angeben, so sehr dürfte der eigentliche Grund jedoch darin zu suchen sein, dass sie die Liturgie als einen heiligen und kanonischen Text verstehen, der entsprechend – folgt man Jan Assmann – gerade einem Zwang zur Kommentierung unterliegt, um überhaupt über die Generationen hinweg überliefert zu werden. Dass dies nicht ohne Folgen für das Ritual blieb, wird in der Forschung immer wieder betont. Bis heute halten sich dabei zwei Vorurteile, die genauer befragt 59 Ebd., par. 1, S. 3. 60 Ebd.
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werden müssen: zum einen nämlich hätte die rememorative Allegorese den anamnetisch-vergegenwärtigenden Grundcharakter der Messe auf ein reines Erinnern von Tod, Sterben und Auferstehung Jesu reduziert, und zum anderen sei erst durch die rememorative Allegorese die Messe dramatisiert worden, so dass sie zu einem rein mimetischen Nachspielen geworden sei. Dagegen scheinen die folgenden Gegenpositionen wesentlich sachgerechter: 1. Die Liturgiekommentare werden nicht geschrieben, weil die Kommentatoren beziehungsweise ihre intendierten Leser den Ritus nicht (mehr) verstehen, sondern weil sie den Ritus als heiligen und kanonischen Text in der Überlieferung halten wollen. 2. Die rememorative Allegorese steht keineswegs dem anamnetisch-vergegenwärtigenden Grundcharakter der Messe entgegen, sondern will vielmehr durch die Verknüpfung der liturgischen actiones mit den biblischen gesta Letzteren noch verstärken. Das recolere gesta/historia des Lebens Jesu erscheint – jedenfalls bei Wilhelm Durandus – als komplementär zum consecrare panem et vinum in corpus et sanguinem Christi. Schließlich 3. zielt die rememorative Allegorese weniger auf eine mimetische Dramatisierung der Liturgie als vielmehr auf deren figurative und ikonische Repräsentation, mit der die gesamte Liturgie zu einem Mnemotopos der Passion wird.
VIII. Sakralisierung und Kodifizierung der Liturgie und der Zwang zur Kommentierung Religions- und kulturgeschichtlich lässt sich die Entstehung liturgischer Kommentare am plausibelsten mit einem Prozess der Sakralisierung und Kodifizierung des Rituals erklären. Das festgeschriebene Ritual bedurfte der Kommentierung, weil es – einmal dem kommunikativen Gedächtnis enthoben – nicht mehr aus sich selbst heraus verstehbar war. Nicht zufällig jedenfalls entstand der erste allegorische Liturgiekommentar des Amalar von Metz († um 850) zu jener Zeit, als „die Liturgie in ihren geronnenen Zustand eingetreten war und nun im Zuge der karolingischen Renovatio neuer Erklärungen bedurfte“.61 Während sich die christliche Liturgie bis ins 4./5. Jahrhundert hinein weithin ohne feste Formulare entfaltete, steht das Bemühen der Karolingerzeit nach 61 Arnold Angenendt, Liturgik und Historik. Gab es eine organische Liturgie-Entwicklung? Freiburg/Br. [u.a.] 2001 (Quaestiones Disputatae 189), S. 139.
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festen Ritualtexten und korrekten Liturgiekodizes am Ende einer Entwicklung, die man schlagwortartig als „from freedom to formular“ bezeichnet hat.62 In dem Moment, da das Ritual kodifiziert war und zudem religiös noch als sakrosankt galt, war es nicht mehr nur Überlieferungsträger des heiligen Textes der Bibel, sondern wurde nun selbst in den Rang eines heiligen Textes erhoben. Als solcher verlangte das Ritual zum einen eine korrekte Ausführung, zum anderen bedurfte es zunehmend der Erklärung, um losgelöst vom Kontext seiner historischen Entstehung überhaupt noch verstehbar zu bleiben. Erhöht wurde die Notwendigkeit des Kommentars offenbar noch zu Zeiten liturgischer Reformen und neuer liturgischer Kodizes, was freilich bis heute kaum untersucht worden ist. Immerhin schreibt Amalar von Metz zu Zeiten der karolingischen Liturgiereform, die den römischen Ritus im Frankenreich übernahm, und dazu verpflichtete, „dass in den Kirchen die richtigen offiziellen Bücher (libri canonici veraces) benutzt werden“.63 Nicht anders bei manch späterem Kommentator: Rupert von Deutz etwa schrieb seine Liturgieerklärung wohl in der Absicht, „zu einem gründlicheren Verständnis der in St. Laurentius [seinem Heimatkloster] durch die Anregungen aus Cluny erneuerten […] Liturgiefeiern beizutragen“.64 Auch bei Wilhelm Durandus ist der reformerische Impetus nicht zu übersehen. Schuf er doch nicht nur neue Texte für die Kirche von Mende, sondern legte mit seinem Pontifikale noch einen liturgischen Kodex vor, der bis weit in die Neuzeit für die liturgischen Bücher Roms vorbildhaft sein sollte. Sakralisierung, Kodifizierung und Reform der Liturgie dürften mithin die wesentlichen Impulse für die Entstehung von Liturgiekommentaren gewesen sein. Wenn Wilhelm Durandus folglich in seinem Prolog beklagt, dass diejenigen, die heute die Liturgie feierten, nur noch wenig über deren Bedeutung wüssten, so ist dies zum einen die topische Klage über unzureichende Bildung des zeitgenössischen Klerus.65 Andererseits aber zeigt sich darin vor allem das Bemühen, das Wissen der Heutigen (ipsi hodie) an die a maioribus tradita anzuschließen. Deshalb will er aufweisen, 62 Allen Bouley, From Freedom to Formular. The Evolution of the Eucharistic Prayer from Oral Improvisation to Written Texts, Washington 1982 (Studies in Christian Antiquity 21). 63 Capitulare missorum 802 – 813, can. 1, S. 1472 ; Angenendt, Liturgik und Historik (Anm. 61), S. 122. 64 Deutz/Deutz, „Einleitung“ (Anm. 38), S. 52. 65 Faupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1), S. 156 – 158.
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was alle Einzelheiten der Liturgie bedeuten und warum sie eingesetzt wurden (quid significent, et quare instituta sint).66 Der Kommentar kommuniziert mithin das einmal festgelegte Ritual an seine Gegenwart, um diese an die Tradition anzubinden.
IX. Der Kommentator als Offenbarer und Erleuchter Die Sakralisierung des Rituals begründet freilich weit mehr als die Notwendigkeit des Kommentars. Vielmehr wird damit der gnoseologische Status des Rituals als Medium der Offenbarung dem biblischen Text geradezu gleichgestellt. Schon Amalar hatte entsprechend das Ritual mit der lectio verglichen: „Wir danken Gott, der es im Herzen seiner Diener gewährte, dass sie unsere Offizien in der Ordnung einrichteten, dass dem Volk Gottes daraus verkündigt werden kann, gleichsam wie aus einer Lesung.“67 Mit ihrer Kodifizierung wird die Liturgie selbst neben der Heiligen Schrift zur zentralen Offenbarungsquelle.68 Entsprechend verfährt Wilhelm Durandus mit der Liturgie wie die Exegeten mit dem biblischen Text, indem er allen Teilen der Liturgie (Personen, Handlungen, Worte und Gegenstände) 69 Zeichenund Offenbarungscharakter zuspricht: Quecumque in ecclesiasticis officiis, rebus ac ornamentis consistunt, diuinis plena sunt signis atque misteriis, ac singula celesti sunt dulcedine redundantia, si diligentem
66 Rationale, Prohemivm, par. 3 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1] S. 4): Sed, pro dolor, ipsi hodie, ut plurimum de hiis que usu cotidiano in ecclesiasticis contractant rebus, et proferunt officiis, quid significent, et quare instituta sint, modicum apprehendunt aut nichil, adeo ut impletum esse ad litteram illud propheticum uideatur: Sicut populus, sic sacerdos. 67 Amalar von Metz, Liber Officialis, 4,23,23, in: ders., Opera Liturgica II, hrsg. von Johannes M. Hanssens, Rom 1967 (Studi e Testi 139), S. 479: Agimus Deo gratias, qui dedit in corde servorum suorum ut eo ordine statuerent officia nostra, quo possit populus Dei pradicare ex eo, propemodum sicut ex lectione. 68 Zu Amalar vgl. Wolfgang Steck, Der Liturgiker Amalarius – eine quellenkritische Untersuchung zu Leben und Werk eines Theologen der Karolingerzeit, St. Ottilien 2000 (Münchener Theologische Studien. I. Historische Abteilung 35), S. 26 f. 69 Rationale, lib. IV, cap. I, Prohemivm, par. 12 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 242): Ipsum autem officium in quatuor consistit: uidelicet in personis, in operibus, in uerbis et rebus.
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tamen habeant inspectorem qui norit mel de petra sugere oleumque de durissimo saxo. 70 (Alles was es in den kirchlichen Offizien, Dingen und schmückenden Gegenständen gibt, ist voller göttlicher Zeichen und Geheimnisse und jedes strömt über von himmlischer Süßigkeit, wenn sie bei alledem nur einen liebend-sorgfältigen Betrachter haben, der Honig aus dem Felsen und Öl aus härtestem Stein zu saugen versteht.)
Die sacramenta des Ritus gelten Wilhelm als Zeichen oder Sinnbilder (signa uel figurae), die man, um sie zu verstehen, wie die Schrift gebrauchen muss.71 Dabei treten Ritual und Kommentar geradezu in ein Verhältnis von Verhüllung und Enthüllung. Der tiefere Sinn des Rituals liegt nämlich in den Zeichen verborgen72, so dass ihn allein der diligens inspector zu enthüllen vermag. Spätestens mit dem Liturgiekommentar des Rupert von Deutz war diese Vorstellung ausgearbeitet. Die Väter, so Rupert, hätten in der Liturgie die sacramenta des Heils verhüllt dargeboten, als signa altissimarum rerum, Zeichen der erhabensten Wirklichkeiten. Wie die Söhne Noahs „seinen Mantel genommen und, rückwärts gewandt, die Blöße des Vaters in ehrerbietiger Scheu verhüllt hatten“, so hätten die Väter die Menschheit Christi mit dem ehrenhaften Mantel der Sakramente umhüllt.73 Der Mantel der Liturgie weist auf deren zeichenhafte Gestalt, unter der die verborgene Wirklichkeit des Gottmenschen Christi verhüllt bleibt. Wie dem diligens inspector Wilhelms so bleibt es bei Rupert dem Kommentator als Führer und Lenker vorbehalten, die verborgenen Zeichen sichtbar zu machen. Kommentieren wird damit zum Akt des Enthüllens und Offenbarens. Aufgabe des Kommentators ist es mithin, die Zeichen zu entziffern und die in ihnen verborgene Wirklichkeit aufscheinen zu lassen. Diese Arbeit freilich kann der Kommentator nicht aus sich selbst heraus leisten, vielmehr bedarf er dafür der göttlichen Inspiration. Sie erlaubt ihm, den Honig vom Felsen zu saugen, und öffnet ihm die Tür zur Weinzelle, in der ihm das göttliche Modell (exemplar) gezeigt wird, wie es Mose am Sinai offenbart worden war. Erst dadurch wird der Kommentator in die Lage 70 Rationale, Prohemivm, par. 1 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 3); Übersetzung nach Faupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1), S. 9. 71 Ebd., par. 2 (ebd. S. 4): Sane hic sacramenta pro signis accipimus seu figuris, que siquidem figure non sunt uirtutes, sed uirtutum signa, quibus tanquam scripturis docentur utentes. 72 Rationale, lib. I, cap. 9, par. 3 (ebd. S. 113): Dicitur etiam sacramentum sacre rei signum, uel sacrum secretum. 73 Rupert von Deutz, Liber de divinis officiis, Prolog (Anm. 38), S. 146,5 f.
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versetzt zu enthüllen (revelare), was die einzelnen Dinge der kirchlichen Offizien bedeuten und figürlich darstellen.74
Der so inspirierte Kommentator wird schließlich zum Mystagogen, der seine Leser in die Geheimnisse einzuweihen vermag. Er zeigt ihnen nicht nur die Bedeutung und die Entstehung der einzelnen Riten auf. Vielmehr führt das Rationale im Sinne von manifestatio et veritas, Offenbarung und Wahrheit, die Priester und Prälaten der Kirche in die Erkenntnis der Mysterien der Liturgie (nosse mysteria) ein. Entgegen allem Ritualismus der Liturgie, den Wilhelm durchaus kennt, wird hier ein spirituelles Moment eingeklagt: Der Kommentar will nicht einfach die richtige Ausführung der Liturgie darlegen, um deren Gültigkeit zu sichern. Weit darüber hinaus zielt er auf die Erleuchtung (illuminatio) der Sakramentenverwalter, damit diese ihrerseits die Gläubigen zu erleuchten in der Lage sind.
X. Semantisierung und Kumulation von Bedeutung im Dienste der Sakralisierung des Rituals Zu diesem Zweck schreibt Wilhelm Durandus jeder Einzelheit des Rituals eine Vielzahl von Bedeutungen zu. Wo immer es geht, vermerkt er die historischen Ursprünge einzelner Ritualsequenzen wie auch der zu sprechenden Texte und legt sie mit Hilfe des vierfachen Schriftsinnes auch aus. Darüber hinaus aber stellt er juristische und theologische Überlegungen an und gibt vielerorts noch genaue Anweisungen für die liturgische Praxis. Letztlich scheint der gesamte Kommentar auf eine Überdeterminierung der liturgischen Zeichen zu zielen, bei der noch die geringste Bewegung innerhalb einer Ritualsequenz in ein vielschichtiges Bedeutungsgewebe eingebunden wird. Dabei lässt sich nur schwerlich ein einziges Ordnungskriterium erkennen. Die Methode seines Vorgehens weist nur wenige Konstanten auf, die freilich kaum konsequent durchgeführt werden. In aller Regel werden zunächst der rituelle Ablauf und gegebenenfalls seine historische 74 Rationale, Prohemivm, par. 1 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 3): pulsans pulsabo ad ostium, si forte clauis Dauid aperire dignetur, ut introducat me rex in cellam uinariam in qua michi supernum demonstretur exemplar quod Moysi fuit in monte monstratum; quatenus de singulis que in ecclesiasticis officiis, rebus ac ornamentis consistunt, quid significent et figurent, eo ualeam reuelante clare et aperte disserere et rationes ponere.
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Genese geschildert. Darauf folgt dann ausgehend von einem Ähnlichkeitsverhältnis eine erste Interpretation auf die Vita Christi, an die sich dann die unterschiedlichsten weiteren Bedeutungen anschließen. Dies wird aber immer wieder durch Aussagen zur Genese oder zur Praxis des Rituals unterbrochen. Zudem wechselt er immer wieder den Stil; so können etwa predigtähnliche Passagen durch ausführliche, in ihrer Form geradezu scholastische Diskussionen theologischer Probleme unterbrochen werden. Die durchgängig zu findende rememorative Allegorese auf das Leben Jesu hat in der Forschung zu dem Vorurteil geführt, dass diese den Text dominiere. Dabei macht sie jedenfalls quantitativ den geringeren Teil innerhalb des Textes überhaupt aus. Nehmen wir als Beispiel seine Exegese der fractio panis sowie der commixtio: Im rituellen Ablauf der Messe gehören die Brechung der geweihten Hostie sowie ihre Mischung mit dem Wein zum Kommunionkreis der Opfermesse und stehen zwischen Wandlung und Pater Noster einerseits und den folgenden Teilen (Friedensgruß, Agnus Dei und der Kommunionfeier) andererseits.75 Theologisch waren Brechung und Mischung im Mittelalter von großer Bedeutung, weil sich an der Dreiteilung der Hostie die ganze Frage nach dem triforme Corpus Christi entzündete.76 Wilhelm beschreibt zunächst den genauen Ablauf: Nach Abschluss des vorhergehenden Gebetes, dem Embolismus nach dem Pater Noster, sowie der Enthüllung der Patene mit der geweihten Hostie enthüllt der Diakon den Kelch, nimmt das Korporale von ihm und schaut in den Kelch hinein. Darauf nimmt der Priester die Hostie vom Altar, legt die Patene unter, hält die Hostie über die Öffnung des Kelches und bricht sie in der Mitte. Nach dieser ersten Brechung legt er das Partikel in seiner Rechten auf die Patene und spricht Qui uiuit. Den Teil in seiner Linken dagegen bricht er wiederum in der Mitte. Nun wird das Partikel in seiner Linken wiederum auf die Patene mit dem ersten Partikel zusammengelegt (coniungit), wobei er In unitate Spiritus etc. spricht. Das nun in seiner rechten Hand verbleibende Partikel hält er mit Daumen und Zeigefinger über den Kelch, erfasst diesen gleichzeitig mit beiden 75 Zum rituellen Ablauf und der historischen Genese von Brechung und Mischung vgl. Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia. Eine genetische Erklrung der rçmischen Messe, 2 Bde., Wien [u.a.] 51962, Bd. 2, S. 375 – 399. 76 Zur Geschichte der Vorstellung vom triforme corpus Christi vgl. Henri De Lubac, Corpus Mysticum. Kirche und Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie, Einsiedeln 1969.
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Händen, erhebt ihn und spricht mit lauter Stimme Per omnia secula seculorum. Darauf stellt er den Kelch mit der Hostie ab, spricht Pax Domini sit semper uobiscum und schlägt 3 Kreuze mit der Hostie über den Kelch. Schließlich lässt er diesen dritten Teil der gebrochenen Hostie in den Kelch hinein und spricht Fiat commixtio corporis etc. Abschließend spricht der Bischof den feierlichen Segen. Nach der Schilderung des Verlaufs erläutert Wilhelm minutiös jede Einzelheit des Rituals. In insgesamt zwanzig Punkten, die ihrerseits wiederum mehrfach untergliedert werden, beantwortet er jeweils Fragen nach dem Warum, Was und Wann des jeweiligen Geschehens: 1. Warum enthüllt der Diakon den Kelch und schaut in ihn hinein? 2. Warum hält der Priester die Hostie zunächst über der Patene und bricht sie dann über dem Kelch? 3. Warum wird die Hostie gebrochen? 4. Warum wird die Hostie in der Mitte gebrochen? 5. Warum behält der Priester nach der (ersten) Brechung ein Partikel in seiner linken Hand, legt das in seiner Rechten jedoch auf die Patene? 6. Warum bricht er das Partikel in seiner Linken ein zweites Mal? 7. Warum wird das Partikel, das nun in seiner Linken verbleibt, auf die Patene gelegt und mit dem ersten Teil so zusammengebracht? 8. Warum werden die beiden Teile außerhalb des Kelches auf der Patene aufbewahrt? 9. Warum hält er das Partikel, das in seiner Rechten bleibt, über die Öffnung des Kelches (os calicis)? 10. Warum spricht er Per omnia secula seculorum und richtet sich dabei auf ? 11. Warum spricht er diese Worte mit erhobener Stimme und hebt dabei den Kelch? 12. Warum vollzieht er diese Elevation und das Abstellen des Kelches mit beiden Händen? 13. Warum spricht er sofort das Pax Domini mit lauter Stimme? 14. Warum macht er nach dem Pax Domini ein dreifaches Kreuzzeichen mit der Hostie über dem Blut? 15. Warum antwortet ihm darauf der Chor Et cum spirito tuo? 16. Warum lässt er das besagte Partikel in das Blut ein? 17. Wann soll diese Mischung geschehen (wobei vier unterschiedliche Positionen diskutiert werden)? 18. Warum werden drei Teile erstellt? 19. Was bedeuten diese Teile (die ausführlichste Antwort mit 6 Unterpunkten)? 20. Warum wird nun der feierliche Segen gegeben? Eine Handlungssequenz, die im rituellen Verlauf kaum länger als wenige Minuten dauert, wird im Kommentar minutiös zergliedert und nach allen Seiten befragt. Alle handelnden Personen (Diakon, Priester, Chor/ Volk, Bischof), jeder Gegenstand (Korporale, Kelch, Patene), jede Geste (Aufdecken, Blick, Brechen, Handhaltung, Kreuzschlagen etc.) sowie die jeweils zu sprechenden Texte sind Gegenstand der Interpretation. Auslegung im Sinne einer Dekodierung des in den einzelnen Elementen
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verborgenen Sinnes führt dabei zur semantischen Überdeterminierung des Rituals. Das Auslegungsverfahren folgt dem klassischen Muster der Bibelexegese, der Interpretation nach dem vierfachen Schriftsinn (sensus historicus, allegoricus, tropologicus oder anagogicus) 77: Gliederungsprinzip ist eindeutig das liturgische Handeln. Dieses wird auf einer ersten Auslegungsebene mit der Vita Christi parallelisiert: Der Diakon, der den Kelch abdeckt und in ihn hineinschaut, bedeutet den Engel am leeren Grab; das Aufheben des Kelches Christi Erhebung bei der Auferstehung von den Toten; das Brechen des Brotes die biblische Emmaus-Szene, bei der die Jünger den Auferstandenen am Brechen des Brotes erkannten; der Friedensgruß bedeutet seine Erscheinung vor den Jüngern in Jerusalem und das folgende Agnus Dei die dabei erteilte Vollmacht zur Sündenvergebung. Während die rememorative Ebene der Auslegung vor allem den einzelnen Handlungselementen des Rituals (blicken, brechen, erheben) folgt, beziehen sich die anderen Schriftsinne vornehmlich auf die Gegenstände: die Rundung der Patene bedeutet die Vollkommenheit der guten Werke, die einzelnen Partikel der Patene die unterschiedlichen Stände der Menschen vor oder bei der fruitio der himmlischen Schau etc. Inhaltlich werden dabei der Opfertod Christi sowie sein Tod und seine Auferstehung als Erlösungshandeln gedeutet und die liturgische Feier als Vorwegnahme beziehungsweise Verweis auf die fruitio der ewigen Seligkeit sowie als Handeln des gesamten corpus mysticum der Ecclesia militans und triumphans sowie aller lebenden und verstorbenen Gläubigen verstanden. An alle Ebenen können sich zusätzlich noch moralische Auslegungen anschließen. Obschon eine gewisse Stringenz in der Verbindung der unterschiedlichen Ebenen der Interpretation nicht zu übersehen ist, bleibt die Kohärenz des Textes eher lose. Auf der Ebene der Erzählung des Lebens Jesu kommt es entsprechend immer wieder zu Rückblenden. Auf inhaltlicher Ebene tritt zudem das Prinzip des Kumulierens von Bedeutung in Konkurrenz zur textuellen Kohärenz. Kohärenz scheint auch gar nicht das Ziel Wilhelms zu sein. Bei der Frage, warum zwei Partikel außerhalb des Kelches bewahrt, eine dritte aber in den Kelch eingesenkt werde, kommt er ausdrücklich darauf zu sprechen. Nach seiner Antwort, die die drei Partikel auf die drei Stände der Guten (die im 77 Zur Anwendung des Vierfachen Schriftsinns bei Wilhelm sowie zu seiner gesamten figurativen Hermeneutik ausführlich Faupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1), S. 178 – 198.
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Himmel, im Purgatorium und auf der Erde) sowie auf die himmlische fruitio beziehungsweise die auf Erden noch nicht stattfindende fruitio bezieht, stellt er fest, dass seine Antwort inkohärent zu dem davor Gesagten gewesen sei (sed hoc ratio non concordat cum premissis). Statt aber den eigentlichen Widerspruch zu erläutern und aufzulösen, fügt er weitere Begründungen an (et ideo alia ratio assignatur). Dieses Vorgehen scheint symptomatisch für den gesamten Text: Eine Kohärenz der Bedeutungen ist nicht wirklich erstrebt. Worum es vielmehr geht, ist die Kumulation von Bedeutungen. Dies erklärt sich vornehmlich aus dem enzyklopädischen Interesse Wilhelms und dürfte zudem das Anliegen der scholastischen Summenliteratur nach umfassender Erklärung widerspiegeln. Darüber hinaus aber wird das Ritual in seinen einzelnen Sequenzen durch das Ansammeln unterschiedlichster Bedeutungen dermaßen überdeterminiert, dass ein ritualistischer Impetus kaum zu übersehen ist: Jede Einzelheit wird mit einer Fülle von Sinnschichten versehen, so dass die Sakralität des Rituals nur noch gesteigert wird. Dies kann so weit gehen, dass aufgrund der Interpretation eine exakte Einhaltung des Rituals und aller notwendigen Vorsichtsmaßnahmen eingeklagt wird. Die Hostie, so Wilhelm, solle über dem Kelch und nicht über der Patene gebrochen werden, weil die Patene zu klein sei, um zu verhindern, dass nichts von der Hostie zerstreut würde. Begründet wird dies rememorativ: Weil Christus darauf geachtet habe, bei der Brotbrechung (Abendmahl, Emmaus) auch nicht den kleinsten Teil zu zerstreuen, müsse der Priester, da er in der Messe wie Christus handelt, sich gleichermaßen verhalten. Die semantische Überdeterminierung der liturgischen Handlungen durch den Kommentar steht mithin im Dienste der Sakralisierung des Rituals.
XI. Misse officium dispositum: Die rememorative Allegorese und die Einheit der Liturgie Bei alldem kommt der rememorativen Allegorese fraglos eine herausgehobene Stellung zu. Doch dominiert sie den Text keineswegs quantitativ. Ganz im Gegenteil nehmen die Interpretationen mit Bezug auf Heilsgeschichte und Leben Jesu dem Umfang nach einen relativ geringen Raum ein. Funktional allerdings ist ihre Dominanz nicht zu übersehen: Im Vergleich zu den anderen Auslegungsebenen stellt die Erzählung der Heilsgeschichte und der Vita Christi geradezu den roten
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Faden dar, der sich durch den gesamten Kommentar zieht. Die anderen Auslegungsebenen dagegen werden der rememorativen Allegorese entweder vorgeschaltet oder aber an diese angeschlossen. Exemplarisch hierfür kann wiederum der Abschnitt über die Fractio gelten: Jeder Auslegung vorgeschaltet sind Angaben zur historischen Genese des Rituals sowie zu seinen Differenzen in unterschiedlichen Liturgiefamilien. Dann werden die einzelnen Ritualsequenzen der Vita Christi parallelisiert, worauf sich nach der üblichen Proprietätenlehre anagogische oder tropologische Auslegungen anschließen; so etwa, wie wir bereits sahen, wenn die Rundung der Patene auf die Vollkommenheit bezogen wird. Während mithin die anderen Auslegungen sich lediglich okkasionell auf einzelne Ritualelemente beziehen, charakterisiert die rememorative Allegorese das Ritual als ganzes und bestimmt es als Repräsentation von Heilsgeschichte und Vita Christi. Dabei werden beide geradezu zum Gliederungs- und Ordnungsprinzip des Rituals. Gleich mehrfach führt Wilhelm die rememorative Allegorese entsprechend ein. Betont bereits der Prolog zum gesamten Rationale ganz generell, dass die Messe als Figuration des Leidens Christi zu verstehen sei, so expliziert dies der Prolog zum vierten Buch, das ausschließlich der Messe gewidmet ist. Das Offizium der Messe sei so angeordnet, dass es in Worten und Zeichen den Weg Christi von seinem Abstieg aus dem Himmel bis zu seiner Wiederauffahrt repräsentiere. Schließlich übernimmt er das Gliederungsschema des Amalar von Metz fast wörtlich: Der Introitus bedeute den Chor der Propheten, das Kyrieeleison die Erwartung der Ankunft des Herrn. Die erste Kollekte beziehe sich auf den zwölfjährigen Jesus im Tempel, die Lesungen auf die Predigt Johannes des Täufers. Mit dem Alleluja-Ruf vor dem Evangelium geschieht der Überschritt zum Handeln und zur Predigt Jesu selbst. Mit der Sekret beginnt dann die Leidensgeschichte. Die Mischung von Brot und Wein stelle die Wiederzusammenführung von Leib und Seele Christi nach der Auferstehung und schließlich die Fractio die nachösterliche Erscheinung in Emmaus dar.78 Die Funktion der rememorativen Allegorese reicht freilich weit über eine inhaltliche Bestimmung der einzelnen Teile der Messe hinaus. Bezeichnend sind die Orte, an denen sie eingeführt wird: Der erste Prolog führt sie als Argument gegen das „Judaisieren“ im Sinne einer rein historischen Auslegung der Messe ein. Auch wenn mit Christus die 78 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 40 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 254).
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Wahrheit erschienen und dadurch die Figuration aufgehoben sei, so seien die Handlungen der Liturgie dennoch figurae, deren Wahrheit die Auslegung auf die Vita Christi zum Vorschein brächte.79 Ausdrücklich stellt das Proömium zum Buch über die Messe schließlich einen Zusammenhang von historischer Genese des Rituals und rememorativer Allegorese her. Wie wir sahen, beschreibt Wilhelm die einzelnen Etappen des Anwachsens des Rituals und die Herkunft seiner einzelnen Teile. Daraufhin setzt er sich mit Argumenten von Häretikern auseinander, die sich gegen historische Veränderungen des Rituals wenden. Diese behaupteten, dass die Kirche im Ritual die Einheit des Evangeliums zerstückele und die Messe unrechtmäßig mit nicht biblischen Handlungen und Texten angereichert habe. Genau gegen dieses Argument wendet sich im anschließenden Abschnitt die Einführung der rememorativen Allegorese: Die Anordnung des Rituals erkläre sich einzig daher, dass sie in Worten und Zeichen den Weg Christi von seinem Abstieg aus dem Himmel bis zu seiner Himmelfahrt repräsentiere. Damit wird die Einführung der Leben Jesu-Interpretation geradezu zu einem Argument der Disposition: Angesichts des historischen Anwachsens der Messe durch divergierendes Material sowie der Kritik an dieser historischen Genese dient die rememorative Auslegung der Sicherung und Stabilisierung der inneren Einheit und der Schlüssigkeit des Rituals. Darüber hinaus bleibt zu fragen, warum der rememorativen Liturgie-Allegorese gerade seit dem 12./13. Jahrhundert ein Erfolg beschieden war, der noch Amalar von Metz im 9. Jahrhundert versagt blieb. Zwar meldeten sich auch im späteren Mittelalter kritische Stimmen – wie etwa Albertus Magnus – zu Wort, doch konnten diese den Erfolg einer Auslegung der Messe auf die Vita Christi hin nicht schmälern. Im Gegenteil legten ja bekanntlich die Kommentare des 12./ 13. Jahrhunderts den Grundstock, der im Laufe des späteren Mittelalters zu einer Verbreitung der rememorative Auslegung bis in die populärsten Medien führen sollte. Literarisch stellten sich die Kommentatoren durchaus in die Nachfolge eines Amalar von Metz. Jedenfalls dürfte es 79 Rationale, Prohemivm, par. 6 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 5): Porro non uidetur quod ea que in ecclesiasticis fiunt rebus atque officiis, figuraliter fiant, tum quia non debemus iudaizare. Sed licet reuera figure quarum hodie ueritas apparuit recesserint, tamen adhuc multiplex ueritas latet, quam non uidemus propter quod utitur Ecclesia figuris. Verbi gratia per uestimenta candida intelligimus aliquo modo decorem animarum nostrarum […] quam uidere non possumus manifeste, et in missa a prefatione in antea Christi passio representatur, ut tenacius et fidelius memorie teneatur.
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nicht zufällig sein, dass Wilhelm Durandus das Schema seiner Auslegung von der Vorhölle bis zur Himmelfahrt wörtlich von Amalar übernahm80 ; und entsprechend werden die Kommentare des 12./13. Jahrhunderts auch immer in einer Kontinuität zu Amalar von Metz gesehen. Doch erklärt dies noch keineswegs ihre Blüte. Vielmehr dürften Renaissance und Akzeptanz der rememorativen Allegorese in einem fundamentalen Wandel begründet liegen, den Theologie und Frömmigkeit seit Beginn des 12. Jahrhunderts vollzogen: Theologiegeschichtlich lag dies in einer Wiedergewinnung eines Bildbegriffs begründet, der Bild und Wahrheit – wie wir sehen werden – so miteinander verband, dass auch die rememorative Auslegung fortan legitimiert erschien.81 Für die Frömmigkeitsgeschichte hat bereits Kurt Ruh beschrieben, dass Gebet und Meditation nun zunehmend als Akte der Memoria aufgefasst wurden.82 Bernhard von Clairvaux lieferte die Theorie. Die Vergegenwärtigung des Sühneleidens Christi nannte er memoria passionis.83 Aelred von Rievaulx hat dies dann für seine Gebets- und Meditationsmethode fruchtbar genutzt.84 Beim Beten soll der Mensch das Leben und Leiden Christi vor sein inneres Auge stellen. Ist ihm dies gänzlich gegenwärtig, so darf er hoffen, dass etwa der imaginierte Blutschweiß Christi auf ihn überfließt und er dadurch von seiner Sünde gereinigt wird. Diese Memorialstruktur der Frömmigkeit ermöglichte, dass die Exegeten der Liturgie nun mit Erfolg auf die rememorative Allegorese zurückgriffen. So sehr sie mithin literarisch in der Kontinuität zu Amalar stehen, so trafen sie jetzt freilich auf ein gewandeltes Bedürfnis der Frömmigkeit. Während die Auslegung des Amalar im 9. Jahrhundert noch befremdete, trifft sie nun den Kern der aktuellsten Frömmigkeitsform und dient den Liturgie-Kommentatoren dazu, die Liturgie in den Verstehenshorizont der eigenen Zeitgenossen zu integrieren.
80 Vgl. Anm. 78. 81 Vgl. den letzten Abschnitt zu Ritual und Bildlichkeit. 82 Kurt Ruh, Abendlndische Mystik im Mittelalter. Die Grundlegung durch die Kirchenvter und die Mçnchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 331 ff. 83 Ebd., S. 238 f. 84 Ebd., S. 331 – 338.
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XII. Commemoratio, non iteratio: Renovatio versus Re-Mythisierung Dabei ändert sich freilich im Vergleich zu Amalar auch die Verhältnisbestimmung von biblischem Ursprungsmythos und dessen ritueller Wiederholung. Rainer Warning etwa sah bei Amalar von Metz einen „Prozeß unvermerkter Mythisierung der Heilsereignisse“85 beginnen und übernahm die Position von dessen Antipoden, Florus von Lyon: Die rememorative Allegorese hebe die Differenz zwischen historischem Geschehen und ritueller Wiederholung auf und drohe, den Ritus zu einer „magischen Wiederkehr“ zu verkürzen.86 In der Tat wurde seit den Auseinandersetzungen um die Allegorese des Amalar von Metz gegen eine allzu enge Anbindung des liturgischen Geschehens an die Vita Christi eingewandt, dass dadurch die Messe – zumal die täglich gefeierte – zu einer bloß abbildlichen Wiederholung des Opfertodes Christi gerate. Gegen eine solche Re-Mythisierung des Ritus stand aber die Annahme der Theologen, das tägliche Opfer der Messe ahme nicht einfach das historische Geschehen im Abendmahl sowie den historischen Kreuzestod nach. Die Messe sollte weder im Gedenken an das historische Opfer noch aber an die historische Einsetzung der Messe aufgehen, sondern das ein für allemal auf Golgotha geschehene Opfer Christi am Kreuz in der täglichen Feier aktualisieren und erneuern. Schließlich sollte so die Einmaligkeit des historischen Opfertodes gewahrt bleiben und verhindert werden, dass er in der Liturgie zu einer mythischen Zeitenthobenheit geriet.87 Genau auf diese Auseinandersetzung nimmt Wilhelm Durandus Bezug, wenn er mit Rückgriff auf das Decretum Gratiani den Status der rituellen Memoria bei der Messe bestimmt: Cotidianum ergo sacrificium […] est commemoratio, non iteratio passionis. Damit zog er eine eindeutige Differenz zwischen dem historischen Geschehen und dessen ritueller Vergegenwärtigung. Das Ritual wiederholte nicht die Geschichte, sondern vergegenwärtigte diese im Modus der commemoratio. Rituelle Erinnerung und Vergegenwärtigung waren damit nicht einfachhin als rituell-mythische Wiederholung bestimmt, sondern als eine die Teil85 Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen 35), S. 49. 86 Ebd. 87 Jungmann, Missarum Solemnia (Anm. 2), Bd. 1, S. 233 – 256.
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nehmer an der Liturgie transformierende renovatio. Die tägliche Wiederholung des Ritus (nicht des Mythos!), so Wilhelm, geschehe, damit der Tod Christi alle erlöse. Den Arbeitern im Weinberg des Herrn diene die tägliche Feier zur Stärkung, den Neophyten zur Eingliederung in den Leib Christi und allen Gläubigen als Ansporn zur Nachfolge. Schließlich sollte das tägliche Opfer das Gedächtnis an Leiden und Tod Christi erneuern.88 Verbunden damit ist eine spezifische Fassung des liturgischen Zeitverständnisses: Das liturgische hodie ist nicht nur der aktualisierende Rückgriff auf das historische Geschehen der biblischen Zeit. Vielmehr wird dabei ein Ewigkeitskonzept mitgedacht, durch das das Ritual in eine Spannung zwischen historischem Ursprung, dessen fortwährender ritueller Vergegenwärtigung und seiner zukünftigen Erfüllung gestellt wird.89 Prägend wurde die Fassung des Beda Venerabilis. Für das Weihnachtsfest hielt er fest: „Heute noch, und jeden Tag bis zum Ende der Zeiten, wird der Herr fortwährend in Nazaret empfangen und in Betlehem geboren.“90 Die Messe galt ihm entsprechend als pascha perpetuum.91 Im Ritual fielen mithin alle Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Ganz ähnlich bestimmt Wilhelm Durandus den Status der liturgischen Zeit als ein Zusammenfall von historischer und Ewigkeitszeit. Das Offizium der Weihnachtsmesse etwa bestimmte er als Feier der einen nativitas eterna et temporalis. Im liturgischen hodie fielen die generatio eterna wie die historische generatio Christi zusammen. Nach Augustinus bedeute hodie ja Gegenwart (presentia) und das Ewige sei immer präsent (et quod eternum est, semper praesens est).92 Für seine Mess- und Opferkonzeption gilt 88 Rationale, lib. IV, cap. 42, par. 31 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S, 479,567 – 580): Et nota quod licet Christus semel credentes sua morte redemerit, Ecclesia tamen hoc sacramentum cotidie necessario repetit, ob tres precipue causas. Primo, quia in uinea laborantes eo cotidie reficiuntur. Secundo, ut neophyti per illud incorporentur. Tertio, ut memeoria passionis Christi cotidie mentibus fidelium ad imitandum infigatur; cotidie enim egemus, ideoque panis cotidianus uocatur. Cotidianum ergo sacrificium, ut probat Paschasius papa, est commemoratio, non iteratio passionis. Et ideo sequitur: ,In mei memoriam facietis‘, id est: in hoc sacramento uobis cotidie passionis et mortis Christi memoria renouatur, unde I ad Cor. X: Quotiienscumque manducaueritis panem hunc et calicem biberitis, mortem Domini annuntiabitis, donec ueniat, propter quod ipse dicebat apostolis: Hoc facite in meam commemorationem. 89 Ähnlich Warning, Funktion und Struktur (Anm. 85), S. 26. 90 PL 92,330. 91 PL 92,593A. 92 Rationale, lib. VI, cap. 13, par. 19 (Davril/Thibodeau 140A [Anm. 1], S. 187 f.): Notandum est autem quod hec missa et lauds matutine terminatur, in plerisque locis, una
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nichts anderes: Das Ritual aktualisiert im Modus der commemoratio die historisch einmalige Opfer- und Erlösungstat Christi (semel Christus passus) und weist – wie wir sahen – zugleich auf das noch zukünftige convivium Ecclesiae in regno voraus.93 Im Wechsel der Auslegungsebenen bildet der Kommentar diese Spannung der Zeitebenen noch ab: Wie das Beispiel der fractio panis zeigt, stellt die rememorative Auslegungsebene im Sinne der commemoratio den Rückbezug auf das Leben Jesu dar, während die sich an sie anschließenden anagogischen und tropologischen Ebenen den Bezug zur Ewigkeitszeit beziehungsweise in den moralischen Deutungen den Bezug zur Gegenwart der Gläubigen herstellen. Sieht man – ohne die rememorative Auslegung zu isolieren – alle Ebenen der Auslegung als Einheit, lässt sich die Vorstellung von einer Remythisierung der Liturgie durch die Allegorese nicht länger halten. Ganz im Gegenteil bleibt gerade durch die Mehrschichtigkeit der Auslegungsmethode die rituelle Dynamik von Erinnerung an die Vergangenheit, Vergegenwärtigung in der Jetztzeit und Vorausdeutung auf die Ewigkeit gewahrt.
XIII. Ritual und Bildlichkeit: Mnemonik versus Mimesis. Ikonographische Repräsentation versus Dramatisierung Doch beschränken wir uns auf die rememorative Allegorese, da diese seit dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der Forschung die größte Beachtung gefunden hat. Durch sie, so immer noch die opinio communis der Forschung, setzten die liturgischen Kommentare Ritual und Leben Jesu in ein Inszenierungsverhältnis. Die rememorative Allegorese dramatisiere die Messe und verkürze sie fortan zu einem mimetischen Nachspielen des Lebens Jesu. In jüngster Zeit fand die Dramatisierungsthese vor allem durch die Arbeit von Christoph Petersen Ritual und Theater eindeutige Kritik.94 Schon einige Jahre zuvor schlug Timothy M. Thibodeau, obschon selbst der Dramatisierungsoratione, ad ostendendum quod totum illud officium idem indicat, scilicet natiuitatem eternam et temporalem. Vnde ipsa missa incipit: ,Dominus dixit ad me‘ etc., quod tantum de genereatione eterna, seu de generatione Christi intelligitur. Quod uero sequitur: ,ego hodie genui te‘, de utraque est, et exponitur ,hodie‘, id est eternaliter. Nam, secundum Augustinum, ,hodie‘ presentiam significat, et quod eternum est semper presens est. 93 Ebd., lib. IV, Prohemivm, par. 1 (ebd., S. 240). 94 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 7), bes. S. 75.
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these verpflichtet, eine andere Verhältnisbestimmung vor: Liturgische Kommentare setzten nach ihm Ritual und Leben Jesu in das Verhältnis einer „ikonographischen Repräsentation“.95 Beide Ansätze erfordern es, die genaue Rolle der rememorativen Allegorese neu zu untersuchen und zu fragen, wie die liturgischen Kommentare das Verhältnis von Ritual und Vita Christi bestimmen. Es gilt zu zeigen, dass jedenfalls Wilhelm Durandus dieses Verhältnis nicht im Modus der Inszenierung, sondern vielmehr in einem der Bildlichkeit verhandelt. Gegen die These von einer Dramatisierung der Liturgie spricht schon die Tatsache, dass Wilhelm Durandus zwar an einer Parallelisierung von liturgischem Ablauf und Erzählung des Lebens Jesu gelegen ist, er aber höchst selten in den liturgischen Ablauf eingreift. Nur gelegentlich begründet er liturgische Veränderungen, wie wir es bei der fractio panis sahen, mit der Vita Christi. Die fehlende performative und visuelle Evidenz des liturgischen Rituals wird dabei keineswegs durch dramatisierende Anweisungen für die liturgische Praxis ausgeglichen. Wie wenig es Wilhelm Durandus um Dramatisierung ging und wie wenig er die Messe als theatrale Aufführung der Vita Christi verstand, zeigt sich vor allem an jenen Stellen, an denen er das Performanzmodell der Messe reflektiert. Während in einer seiner wichtigsten Quellen, der Gemma Animae des Honorius Augustodunensis (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts), die Liturgie in die Nähe einer theatralen Aufführung gerät und der Priester zum Tragöden stilisiert wird96, fehlt dies bei Wilhelm Durandus. Den Modus der Performanz der Messe bestimmt er nicht als Inszenzierung der Vita Christi, sondern als sacrificium, pugna und iudicium.97 Damit wird die Messe gerade nicht als Nachspiel des Lebens Jesu interpretiert, sondern dessen Leiden und Sterben theologisch gedeutet als Opfer, Kampf und Gericht. Der Priester wird – so beim iudiciumVergleich – nicht zur Rollenfigur des historischen Jesu, sondern tritt in der Rolle des Anwaltes und Verteidigers (aduocatus et defensor) auf.98 Die rituelle Handlung besteht mithin für den Kommentator nicht in einer Nachahmung des Handelns der historischen Christus-Gestalt; vielmehr 95 Thibodeau, „Western Christendom“ (Anm. 1), S. 239. 96 Petersen, Ritual und Theater (Anm. 7), S. 20 – 34; Rudolf Suntrup, Die Bedeutung der liturgischen Gebrden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts, München 1978 (Münstersche MittelalterSchriften 37), S. 86 – 89. 97 Rationale, lib. IV, Prohemivm, par. 43 f. (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 256). 98 Ebd., par. 44 (ebd. S. 256,499 f.).
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erklärt er die Messe als imitatio eines iudicium.99 Umso auffälliger ist dies, weil er von Honorius zwar den iudicium-Vergleich übernimmt, die sich dort indes sofort anschließende Vorstellung vom Priester als Tragöden hingegen weglässt. Noch die Gliederung seines eigenen Textes zeigt, wie wenig er an eine theatrale Aufführung denkt. Lässt er doch die Modelle von Kampf und Gericht direkt auf seine Einführung der rememorativen Allegorese folgen. Der performative Akt der Messe bestand für ihn offenbar nicht so sehr in der wiederholenden Inszenierung der Vita Christi. Vielmehr setzte die Messe die theologische Interpretation dieser Vita als Opfer Christi, Kampf zwischen Christus/Priester und Teufel sowie als Gericht vor Gott, bei dem Christus beziehungsweise der Priester als Verteidiger auftraten, in Szene. Will man folglich die Messe überhaupt als Drama beschreiben, so inszenierte sie nicht die Vita Christi, sondern das mit dieser zur Erfüllung gebrachte heilsgeschichtliche Drama der Erlösung und Entsühnung des Menschen. Der rememorativen Allegorese fiel dabei die Aufgabe zu, die Versöhnungstat Christi nicht einfachhin an dessen Geschichte zurückzubinden, sondern das Gedächtnis an seine Heilstat zu sichern. Nicht Mimesis ist mithin bei Wilhelm ihre Funktion, sondern Mnemonik. Schon die Liturgie selbst galt ihm als Memoriale, Medium der Memoria, neben anderen: Und bedenke, dass wir ein dreifaches Gedächtnis (triplex memoriale) der Passion des Herrn haben: Zum ersten soweit es das Sehen von Bildern und Malereien betrifft, und darum wird das Bild des Gekreuzigten im Buch und in den Kirchen gemalt. Zweitens soweit es das Gehör anbelangt, denn die Passion Christi wird gepredigt. Drittens soweit es den Geschmack betrifft, das heißt auch hinsichtlich des Sakraments des Altars, in dem das Leiden Christi selbst klar ausgedrückt wird.100
Gehört die Liturgie damit neben Bild und Predigt zu den Trägermedien der christlichen Erinnerung schlechthin, so bietet der Liturgie-Kommentar mittels der rememorativen Allegorese die Mnemotechnik zur Sicherung des das gesamte christliche Gedächtnis fundierenden Ereignisses. Obschon die Liturgie-Kommentare dies nicht ausdrücklich reflektieren, lehnen sie sich an das Modell der Ars memorativa an. Letztlich stellen Handlungen und Gesten des Rituals die klassischen imagines
99 Ebd. (ebd. S. 256,496): Rursus missa quasi quoddam iudicium imitatur, unde et canon actio uocatur, est enim actio causa in iudicium deducta. 100 Ebd., lib IV, cap. 42, par. 32 (ebd., S. 480).
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agentes der Ars memorativa dar101: Alle Zeichenhandlungen des Rituals werden geradezu zu tableaux vivants, die das Gedächtnis der Teilnehmer auf die das Ritual fundierende Erzählung hin orientieren. Die liturgischen Kommentare verstehen mithin das Ritual allem anderen voran als Mnemotopos und bieten dem Leser die Mnemotechnik, mit deren Hilfe er sich während des Ablaufs des Rituals die einzelnen Stationen der Heilsgeschichte bis zur Auferstehung und Himmelfahrt Christi vergegenwärtigen konnte. Im Kontext der mittelalterlichen Messtheologie kann dieses Vorgehen als völlig sachgemäß gelten. Die Messe, die insgesamt als memoria passionis galt, wurde vom Kommentar zu einem einzigen Mnemotopos der Geschichte des Heils stilisiert. Die Bildlichkeit des Rituals tritt dabei weit mehr in den Vordergrund als seine dramatisierenden Aspekte. Gleich mehrfach tritt das Verhältnis von Ritual und Bildlichkeit im Rationale divinorum officiorum zu Tage: Zunächst erscheint die Liturgie als bildgenerierende Handlung, zudem selbst als Bild, und schließlich betont Wilhelm noch den Wahrheitsanspruch der sakramental-rituellen Bildlichkeit. Die Liturgie als bildgenerierende Handlung zeigt sich vor allem bei der Verbindung von liturgischer Handlung und rememorativer Allegorese. Im Sinne der Ars memorativa wird das Ritual nicht einfach mit der Vita Christi illustriert. Vielmehr scheint das Vorgehen umgekehrt zu sein: Das Ritual wird selbst zum Bildspender und Trägermedium von Bildern. Sein Verlauf, seine Handlungen und Gesten, Personen und Gegenstände sollen innere Bilder der Heilsgeschichte und des Lebens Jesu generieren. Wie bei den späteren Passionsmeditationen und womöglich hier grundgelegt, soll auch die Liturgie zu einer imaginativen Vergegenwärtigung des gefeierten Geschehens führen. Dabei belässt es Wilhelm Durandus keineswegs bei den inneren Bildern; war er doch derjenige mittelalterliche Liturgietheoretiker, der sich am meisten mit Bildern befasste und deren Bezug zu Liturgie und Verehrung bedachte.102 Noch im Rahmen des liturgischen Handelns selbst spricht er dem Bild die Aufgabe der Vergegenwärtigung zu. So jedenfalls beschreibt er die Funktion der sogenannten Kanontafeln in Missalen: „Deswegen ist auch in den meisten Sakramentaren zwischen Präfation und Kanon das Bild des Gekreuzigten gemalt, damit nicht allein der Intellekt durch den 101 Exemplarisch zur Ars memorativa Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber (Hrsg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedchtniskunst 1400 – 1750, Tübingen 1993 (Frühe Neuzeit 15). 102 Faupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1).
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Buchstaben, sondern auch der Blick durch das Bild die Erinnerung an die Passion des Herrn anregt.“103 Zeigt dies, wie das Ritual einerseits Bilder generieren sollte und andererseits Bilder im Ritual zum Zwecke der Vergegenwärtigung genutzt werden konnten, so reflektiert Wilhelm schließlich ausdrücklich die der Liturgie eigene Medialität und Bildlichkeit. Alle sakramentalen Handlungen sind signa seu figura, die die Heilsgeschichte in Bildern, Gestalten und Figurationen (sed ymaginem tantum et speciem et figuram) zur Anschauung bringen.104 Schon im zweiten Abschnitt des Prologs zum Rationale wird der bildhafte Charakter des liturgischen Handelns ausdrücklich betont: Gewiss, hier fassen wir die Sakramente als Zeichen oder Sinnbilder (signa seu figura) auf, wobei diese Sinnbilder allerdings nicht die göttlichen Kräfte selbst, sondern Zeichen der göttlichen Kräfte sind, über die man belehrt wird, wenn man sie wie Schriften gebraucht.105
Auch wenn mit Christus die Wahrheit erschienen und damit alle Figuration beendet sei, bedürfe die Kirche dennoch der figurae, um nämlich das Gedächtnis der Gläubigen an die Passion Christi zu festigen106, und – wie es an anderer Stelle heißt – die Eucharistie sei selbst wiederum Bild des himmlischen Brotes und des wahren Leibs Christi.107 Genau in dem Verhältnis von Bild und Wahrheit bestanden aber die Diskussionen um die allegorischen Kommentare seit der Kontroverse um Amalar von Metz im 9. Jahrhundert. Wahrheit und Bild wollte Amalars Gegner Florus streng voneinander geschieden sehen und konnte eine figurative Hermeneutik der Liturgie entsprechend nur ablehnen. Diese strenge Scheidung lag in jenem bekannten frühmittelalterlichen Verlust eines Symbolbegriffs begründet, dessen Folgen für das Bildverständnis in den Libri Carolini Kurt Flasch prägnant beschrieb: „Statt der neuplatonischen Durchdringung der Sphären des Geistigen und Stofflichen betonte Karl den dinghaften Charakter von Bildern, ja, mit Berufung auf Aristoteles, ihre Lügenhaftigkeit.“108 Wilhelm Durandus hingegen konnte für seine bildhafte Fassung der Messe im Rationale, lib. IV, cap. 35, par. 10 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 416). Ebd., cap. 42, par. 20. Anm. 71. Anm. 79. Rationale, lib. IV, cap. 41, par. 4 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 441); Faupel-Drevs, Gebrauch der Bilder (Anm. 1), S. 262 f., 266 und 270. 108 Kurt Flasch, Einfhrung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987, S. 22. 103 104 105 106 107
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13. Jahrhundert auf einen Bildbegriff zurückgreifen, der seit Hugo von St. Victor wieder mit dem Wahrheitsbegriff zusammengedacht wurde.109 Am Ende seiner Auslegung zum Misterium Fidei thematisiert er dies ausdrücklich mit einem Zitat Innozenz’ III.: Etliche meinten, dass im Altarsakrament die Wahrheit von Leib und Blut Christi nicht bestehen könne, da es lediglich imago, species et figura sei. Dagegen richtet er dann die Frage, ob denn nicht Wahrheit sein könne, was Bild sei. Wäre dem so, dann ist der Tod Christi nicht Wahrheit, weil er Bild ist; und die Auferstehung Christi ist nicht Wahrheit, weil sie Bild ist; dass nämlich Tod und Auferstehung Christi Sinnbild (figura), Bild (imago) und Ähnlichkeit (similitudo) ist, hat der Apostel deutlich erklärt: ,Christus ist gestorben wegen unserer Sünden und auferstanden zu unserer Rechtfertigung.‘ […] Der Tod Christi ist also exemplum gewesen, damit wir der Sünde sterben; und seine Auferstehung war exemplum dafür, dass wir in Gerechtigkeit leben.110
Die Schlussfolgerung für die Messe könnte deutlicher nicht ausfallen: „Das Sakrament des Altars ist also Wahrheit und Bild [zugleich] (veritas et figura).“111 Der Bildlichkeit des Rituals wird damit ein Wahrheitsstatus zuerkannt, der gerade von den Gegnern des Amalar von Metz immer in Abrede gestellt worden war. Dabei bleibt allerdings durchaus eine Ambivalenz der Bildhaftigkeit des Rituals bestehen. Einerseits macht es zwar die Wahrheit des Leibes Christi ansichtig, ja sogar fühlbar und schmeckbar, andererseits aber stellt es gleichzeitig auch dessen Verhüllung dar. Dadurch kommt der Liturgie der Kirche ein Zustand zwischen der Zeit des Alten Testaments und der Jenseitsschau zu. So jedenfalls brachte es ein Schüler Hugos von St. Victor zum Ausdruck: Tria sunt tabernacula; Synagoga, Ecclesia, caelum … Primum fuit in umbra et figura, secundum in figura et veritate, tertium in sola veritate. In primo ostenditur vita, in secundo datur, in tertio possidetur. 112 Die Bildwahrheit des Rituals der Kirche bleibt damit zwar gegenüber dem Tempelkult Wahrheit, aber 109 Zur Tradition des Diskurses um Wahrheit und Bild in der Eucharistielehre vgl. De Lubac, Corpus Mysticum (Anm. 76), S. 229 – 275, sowie Burkhard Neunheuser, Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit, Freiburg/Br. [u.a.] 1963 (Handbuch der Dogmengeschichte IV.4b), S. 14 – 23 (zum frühen Mittelalter) und S. 30 – 33 (insbesondere zu Hugo von St. Victor). 110 Rationale, lib. IV, cap. 42, par. 20 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 474 f.). 111 Ebd. 112 Miscellanea, lib. 7, tit. 55 (PL 177,896CD); zum Ganzen de Lubac, Corpus Mysticum (Anm. 76), S. 237 – 245.
Kommunikation von Mythos und Ritus im Messkommentar
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gegenüber der himmlischen Liturgie ist diese Wahrheit noch bildhaft verhüllt. Damit steht die Messe auf der Schwelle von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Präsenz und Repräsentation. Zwar setzt sie das corpus Christi als verum corpus real gegenwärtig, doch bleibt es eben unter den Gestalten von Brot und Wein verhüllt.113 Für das Ritual als ganzes wie auch für das sakramentale corpus wird dadurch eine ästhetisch paradoxale Identitätsdifferenz behauptet. Das corpus sacramentale ist zwar real sichtbares Zeichen und gilt als verum corpus, das in sich corpus historicum wie auch corpus celeste oder transcendentale vereint. Da es aber unter den Gestalten von Brot und Wein verhüllt ist (sub speciem panis velatur), setzt es als vera imago gleichzeitig eine ikonische Differenz. Für das Ritual als ganzes gilt nichts anderes. Zwar scheinen historische Zeit und himmlische Liturgie in ihm auf, bleiben aber dennoch getrennt. Die Liturgie hält ja die Heilsmysterien, um es mit Rupert von Deutz zu sagen, unter dem Mantel des Rituals verborgen114, aber gerade durch diesen Mantel werden die Heilsmysterien in Zeit und Geschichte überhaupt erst präsent. Damit freilich hat die Liturgie an einem Bildkonzept teil, das für die gesamte christliche Bildgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eigentümlich sein dürfte. Das Bild wird dabei, folgt man dem Kunsthistoriker Klaus Krüger, verstanden als „Membran zu einer imaginären und letztlich inkommensurablen Wirklichkeit, die von ihm verhüllt und zugleich offenbart wird. Indem das Gemälde nicht als transparente Projektionsfläche benutzt wird, sondern als ein Medium der Präsentation, hält es die ikonische Äquivalenz des Dargestellten immer zugleich als eine Funktion der Darstellung bewusst“.115 Auch das Ritual der Messe verhüllt und offenbart doch zugleich. Zwar setzt das Ritual das corpus Christi präsent; insofern dies aber in Form des corpus sacramentale geschieht, das veritas et imago ist, bleibt das ZeichenhaftRituelle immer bewusst. Genau an dieser eigentümlichen Konzeption von Bildlichkeit und Medialität des Rituellen setzen die Liturgiekommentare an. Von Beginn seines Prologs an betont Wilhelm immer wieder, dass die Heilsmysterien unter den liturgischen Handlungen 113 Rationale, lib. IV, cap. 41, par. 34 (Davril/Thibodeau 140 [Anm. 1], S. 451 f.): […] sicut uisibiliter gestabat et inuisibiliter gestabatur. Inuisibiliter, inquam, quantum ad formam corporis, non quantum ad speciem sacramenti; nam in eo quod gestabat, quod erat hoc apparebat; in eo uero quod gestabatur, quod erat ipse non uidebatur, quia forma panis et uinis uelabat formam carnis et sanguinis. 114 Anm. 73. 115 Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. sthetische Illusion in der Kunst der frhen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 80.
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Lentes, Mythos und Ritus
verhüllt sind. Freilich gibt er sodann die Mnemotechnik an die Hand, die vela der Liturgie mit inneren Bildern zu füllen. Entsprechend wäre zu überlegen, ob der Memoria-Begriff, so wie er jedenfalls von Liturgikern gebraucht wird, nicht immer schon mit dieser Identitätsdifferenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verbunden war. Wie dem auch sei: In der Konzeption des Wilhelm Durandus wird der Kommentator letztlich zum pictor, der das Ritual als verhüllendes velum verstand und ihm mittels der rememorativen Allegorese ein bildgenerierendes Potenzial zu verleihen versuchte. Schlussendlich ging es dabei um nichts anderes als um eine einzige Bildtransformation. Noch die communio, die Einverleibung der Hostie, beschreibt er als einen einzigen Bild-Akt: In die Hostie seien Bild und Name Christi eingeschrieben, „damit wir durch ihn in das Bild Gottes verwandelt werden (quia per eum in ymaginem Dei reformamur)“.116 Diesen Prozess der Reform des inneren Bildes, der imago Dei im Menschen, will Wilhelms Kommentar stimulieren.
116 Rationale, lib. IV, cap. 41, par. 8 (Davril/Thibodeau [Anm. 1], S. 443).
Hybriden des Heils Reliquie und Text des Grauen Rocks um 1512 Christian Kiening I Reliquien und Texte gehören, epistemisch gesehen, verschiedenen Ordnungen an: hier die Ordnung der Dinge, der Relikte, der Spuren, dort die Ordnung der Zeichen, der Überlieferungen, der Sinngefüge; hier die Formen der Präsenz, dort die Formen der Repräsentation.1 Auch die Relikte oder Spuren allerdings bilden, semiotisch gesehen, eine Zeichenklasse, nämlich jene der natürlichen Zeichen, bei der interpretandenbezogen Signifikant und Signifikat durch Beziehungen der Berührung, der Teilhabe und des Grundes verbunden sind. Dieser Klasse können für das Mittelalter auch Schriftstücke angehören, sofern sie als materielle und anschauliche selbst Aura und Präsenz beanspruchen.2 Umgekehrt können Reliquien auch als artifizielle oder re-prä1
2
Vgl. Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147. Horst Wenzel, „Die Schrift und das Heilige“, in: ders./Winfried Seipel/ Gotthart Wunberg (Hrsg.), Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frhen Neuzeit, Mailand – Wien 2001 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 5), S. 15 – 57; Klaus Schreiner, „Buchstabensymbolik, Bibelorakel, Schriftmagie. Religiöse Bedeutung und lebensweltliche Funktion heiliger Schriften im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: ebd., S. 58 – 103; ders., „,Göttliche Schreib-Kunst‘. Eigenhändige Aufzeichungen Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kontexten“, in: Frhmittelalterliche Studien, 36/2002, S. 95 – 132; ders., „Litterae mysticae. Symbolik und Pragmatik heiliger Buchstaben, Texte und Bücher in Kirche und Gesellschaft des Mittelalters“, in: Christel Meier [u.a.] (Hrsg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums, 26.–29. Mai 1999, München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), S. 277 – 337; Erika Greber/Konrad Ehlich/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Materialitt und Medialitt von Schrift, Bielefeld 2002 (Schrift und
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sentative Zeichen gelten, die nicht durch Kontiguität, sondern durch Konventionalität mit dem Bezeichneten verbunden sind – und dies nicht nur dort, wo ihre Authentizität in Frage steht. Eine Klassifikation ist insofern nur ergiebig, wenn sie sich am Gebrauch orientiert, haben doch, pragmatisch gesehen, beide, Reliquien wie Texte, teil an kommunikativen Zusammenhängen, die sich verschiedener Mittel der Symbolisierung und der Desymbolisierung bedienen und sich nicht zuletzt dadurch bilden, dass sie ihre eigenen Grenzen reflektieren: als aus der Kommunikation ausgeschlossene und doch nur in ihr fassbare Bedingungen von Kommunikation. Auch das mystische Schweigen steht dementsprechend im Rahmen einer paradoxierenden Arbeit an der (Aufhebung der) Trennung von Transzendenz und Immanenz.3 Während in ihm aber die Paradoxie die Rede selbst betrifft, ergibt sie sich im Verhältnis zwischen Reliquien und Texten aus einer wechselseitigen Implikation, die nicht allein epistemisch bestimmt, sondern auch pragmatisch und historisch beschrieben werden muss: Pragmatisch hinsichtlich der Situationen, in denen die einen wie die andern begegnen, historisch hinsichtlich der Bedingungen, die ihre Beziehung bestimmen. Was diese Bedingungen angeht, lässt sich zum Beispiel vermuten, dass erst aus dem Blickwinkel einer entzauberten, rationalisierten, ausdifferenzierten Welt die Opposition zwischen Magie und Rationalität gedacht und bezeichnet werden kann. Erst vom protestantischen „Fortfall kirchlich-sakramentalen Heils“ her kann Säkularisierung als universalhistorische Evolution erscheinen: „Jener große Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier [im Protestantismus] seinen Abschluß.“4
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Bild in Bewegung 1); Peter Strohschneider, „Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt im Problemfeld vormoderner Textualität“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 124/2005: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 309 – 344, Christian Kiening/Martina Stercken (Hrsg.), Schrifträume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008. Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 70 – 100. Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ [kritische Ausgabe nach Gesammelte Aufstze zur Religionssoziologie, 1920], in: ders., Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, Gütersloh 1975 u.ö., S. 27 – 277, hier S. 123. Zur Auseinandersetzung mit Weber: Marcel Gauchet,
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Die evolutionsgeschichtliche Teleologie basiert auf der hermeneutischen Zirkularität, dergemäß von seinem (vermeintlichen) Ende her die Etappen des historischen Prozesses identifizierbar werden. In diesem Prozess wäre das Mittelalter tatsächlich ein mittleres Zeitalter auf dem Weg vom ,Mythos‘ zum ,Logos‘, ein Zeitalter, in dem Elemente einer archaischen und einer aufgeklärten Religiosität, magische und semiotische Praktiken der Heilsvergewisserung nebeneinander stünden. Doch wäre das Bild dieses Prozesses mit einem Blick gewonnen, der im Fremden vor allem das Eigene, hier: im Vergangenen vor allem das Fehlen geläufig gewordener Differenzen entdeckt. Unbeachtet bliebe, welche Eigenlogiken die religiöse Kultur des Mittelalters besitzt und welche Modifikationen deren genaue Analyse wiederum für die historischen Modelle mit sich bringt. Darauf das Augenmerk zu lenken heißt, die Makrohistorie der abendländischen Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesse und die Dichotomie zwischen der protestantisch-kritischen und der katholisch-affirmativen Sichtweise des Heiligen- und Reliquienkults für den Moment beiseite zu stellen und stattdessen den Blick auf mediale Erscheinungsformen und historische Semantiken zu richten. Sie geben zu erkennen, was man ein Paradigma der ,anwesenden Abwesenheit‘ oder der ,heilsgeschichtlichen Zeichenintensität‘ nennen könnte – ein Paradigma, das dadurch charakterisiert scheint, dass Präsentisches und Zeichenhaftes begrifflich und unbegrifflich ebenso in vielschichtigen Durchdringungen und Ergänzungen wie in Grenzziehungen und Differenzsetzungen zueinander steht.5
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Le dsenchantement du monde. Une histoire politique de la religion, Paris 1985; Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt/M. 1988; Hartmann Tyrell, „Potenz und Depotenzierung der Religion. Religion und Rationalisierung bei Max Weber“, in: Saeculum, 44/1993, S. 300 – 347. Zum Verhältnis von Präsentischem und Zeichenhaftem Georges Didi-Huberman, Fra Angelico. Unhnlichkeit und Figuration [frz. 1990], München 1995. Zur Verbindung von Symbolischem, Rituellem und Magischem anhand von Liturgie und Kult Alfons Kirchgässner, Die mchtigen Zeichen. Ursprnge, Formen und Gesetze des Kultes, Basel [u.a.] 1959; vgl. auch Annemarie Lange-Seidl (Hrsg.), Zeichen und Magie, Tübingen 1988.
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II Historisch gesehen verkörpern Reliquien eine Realpräsenz der Heiligen, deren Geltung gleichwohl an Bedingungen der Repräsentation gebunden ist.6 Sie stellen, nach mittelalterlichem Verständnis, Gegenwärtigkeit (praesentia) her und besitzen Wunderkraft (virtus). Sie machen als Körperreliquien den ,ganzen‘ Heiligen im verbliebenen Teil anwesend und als Kontaktreliquien die ,vollständige‘ Heilskraft für die Gemeinschaft wirksam. Sie ermöglichen Übertragungsvorgänge aller Art: durch Wasser ebenso wie durch Erde oder durch Luft, durch Körperteile ebenso wie durch Objekte. Zugleich aber bedürfen sie ständiger Sicherung – gegen Verfall und Verlust, Konkurrenz und Entwertung. Virtuelle Ubiquität des Heils und faktische Kontrolle seiner Geltung gehen Hand in Hand. Dass alles Erscheinungsform des Heils sein kann, erlaubt und erzwingt die Ausbildung von Institutionen, welche die verschiedenen Formen verwalten – durch Auseinandersetzung mit Authentizität, Regelung von Abläufen, Formalisierung von Kanonisierungsverfahren.7 6
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Vgl. Stephan Beissel, Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter [zuerst 1890/92]. Mit einem Vorwort zum Nachdruck hrsg. von Horst Appuhn, Darmstadt 1976; Henri Leclerq, „Reliques et reliquiaires“, in: Dictionnaire d’archologie chrtienne et de liturgie, 14/1948, Sp. 2294 – 2359; Peter Brown, Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit [engl. 1981], Leipzig 1991, Kap. V (,Praesentia‘); Peter Dinzelbacher, „Die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquien und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen“, in: ders./Dieter R. Bauer (Hrsg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 115 – 174; Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frhen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994; Anton Legner, Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklrung, Darmstadt 1995; Luigi Canetti, Frammenti di eternit. Corpi e reliquie tra Antichit e Medioevo, Rom 2002 (sacro/santo 6). Klaus Schreiner, „,Discrimen veri ac falsi‘. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters“, in: Archiv fr Kulturgeschichte, 48/1966, S. 1 – 53; ders., „Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen und Reliquienwesen des Mittelalters“, in: Saeculum, 17/1966, S. 131 – 169; Klaus Guth, Guibert von Nogent und die hochmittelalterliche Kritik an der Reliquienverehrung, Ottobeuren 1970 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige. Ergänzungsband 21); Nicole Herrmann-Mascard, Les reliques des saints. Formation coutumire d’un droit, Paris 1975 (Société d’historie du droit. Collection d’histoire institutionelle et sociale 6); Thomas Wetzstein, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europischen Sptmittelalter, Köln [u.a.] 2004 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 28).
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Reliquien im Gebrauch sind dementsprechend komplexe Gefüge, zusammengesetzt etwa aus mehreren Teilen, überformt durch Gefäße und Imitate, Schreine und Aufbauten, versehen mit sprachlichen und bildlichen Zeichen, eingebettet in kultische Handlungen ebenso wie in diskursive Prozesse. Sie lassen sich nicht schlichtweg als magische Objekte begreifen, die in sympathetischen Beziehungen (der Berührung, der Ähnlichkeit, des Kontrastes) zu anderen Elementen der Welt stehen.8 Sie besitzen vielmehr ihren Ort in der je neuen Spannung zwischen der ,Berührung‘ durch den Ursprung, die sie verheißen, und dem ,Verlust‘ des Ursprungs, den sie in den Akten der Übertragung ebenso markieren wie kaschieren.9 Reliquien sind Verkörperungen der mit einem oder einer Heiligen verbundenen Geschichte. Sie sind Medien der Herrschaftskommunikation und des politischen Diskurses, Grundlagen lokaler und regionaler Machtkonzentration: [N]achdem die praesentia einmal verfügbar geworden war, verbürgte die imaginative Dialektik, die die Person des Heiligen umgab, daß das Heiligtum mehr war als bloß eine Mahnung an die ideale Einheit einer früheren Zeit. Die Kultstätte, das Heiligtum, wurde zu einem Festpunkt, an dem das feierliche, notwendige Spiel der ,reinen Macht‘ […] in Akten der Heilung, des Exorzismus und rauher Gerechtigkeit aufgeführt wurde.10
Reliquien sind auch symbolische Formen, anhand derer sich zum Beispiel ein Ereigniszusammenhang rememorieren lässt: der Rock Christi mit seinen Blutspuren als Manifestation der Passion, die sich in ihm je neu abzeichnet und abspielt.11 Multidimensional ist die Bezie-
8 Zu solchen Beziehungen Marcel Mauss, „Theorie der Magie“ [zuerst frz. 1902/ 03], in: ders., Soziologie und Anthropologie 1. Mit einer Einleitung von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt/M. 1989, S. 45 – 179. 9 Vgl. Georges Didi-Huberman, hnlichkeit und Berhrung. Archologie, Anachronismus und Modernitt des Abdrucks [frz. 1997], Köln 1999, S. 10. 10 Brown, Die Heiligenverehrung (Anm. 6), S. 103; vgl. auch Uwe Geese, Reliquienverehrung und Herrschaftsvermittlung. Die mediale Beschaffenheit der Reliquiare im frhen Elisabethkult, Darmstadt 1984; Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen in Sachsen im 9. Jahrhundert. ber Kommunikation, Mobilitt und ffentlichkeit im Frhmittelalter, Stuttgart 2002 (Beihefte der Francia 48). 11 Vgl. Der ungenhte graue Rock (Anm. 56), V. 77 f.: In allen den geberden, j Als er erst gemartelt were; Johan Oldecop, Chronik, hrsg. von Karl Euling, Tübingen 1891 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 190), S. 39 zum Jahr 1517 zur Erhebung von des hern unses zalichmakers rock, dar he sin hiliges crutze umme unser sunde und unser zalicheit willen up gedragen hadde dar ok noch sichtbar is
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hung zwischen den Heilsquellen und ihren Trägern oder Umkleidungen: Reliquiare vervielfachen die den Reliquien inhärente Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit, Materialität, Semiotizität und Ästhetizität, indem sie zusätzliche Bedeutungsrahmen schaffen. Sie verleihen den an und für sich oft unscheinbaren Stücken kostbare Einfassungen und glanzvolle, durch Gold, Silber, Edelsteine und Elfenbein geadelte Sichthüllen. Sie verweisen auf die im Fragment enthaltene Totalität des corpus incorruptum 12 und vermitteln zwischen konkretem Einzelding und heilsgeschichtlichem Gesamtzusammenhang.13 Damit kommt es einerseits zu einem Oszillieren zwischen Mimetischem und Nicht-Mimetischem: Während Architekturformen den institutionellen oder spirituellen Ort sichtbar machen, an dem und durch den sich die Heilsvermittlung vollzieht, ermöglichen Körper(teil)formen eine Übertragung, die sich an das Gestalthafte knüpft und spezifische Wirkungen eröffnet – das Fußreliquiar in Schuhform umkleidet das Körperteil und verkörpert selbst jene Verbindung durch Berührung, die für den Partizipationsgedanken des Reliquienkults zentral ist.14 Andererseits kommt es zu einem Oszillieren zwischen Anikonischem und Ikonischem: Die Skulptur stellt dar, was die Reliquie nicht darstellen kann. Sie wird aber ihrerseits ergänzt durch Bilder, die, wie sie, an der Potenz der Reliquie partizipieren und diese zugleich zur Wirkung bringen.15 Reliquien fungieren zwar als materielle Met-
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de stede up siner hiligen schuldern gelegen, dar dat durbar blot unses heren dorchgedrungen is. Arnold Angenendt, „Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Heiligenverehrung“, in: Saeculum, 42/1991, S. 320 – 348. Eindrucksvolle Beispiele bei Anton Legner (Hrsg.), Ornamenta ecclesiae. Kunst und Knstler der Romanik, Bd. 3, Köln 1985, und in: Historisches Museum Basel (Hrsg.), Der Basler Mnsterschatz, Basel 2001; grundlegend zu Reliquiaren Joseph Braun, Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung, Freiburg/ Br. 1940; Geese, Reliquienverehrung (Anm. 10); Bruno Reudenbach, „Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis. Grundzüge einer problematischen Gattung“, in: Wolfgang Kemp [u.a.] (Hrsg.), Vortrge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4, Berlin 2000, S. 1 – 36; Gia Toussaint, „Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung“, in: Das Mittelalter, 8/2003: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europischen Mittelalter, S. 41 – 66; Bruno Reudenbach und Gia Toussaint (Hrsg.), Reliquiare im Mittelalter, Berlin 2005 (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5). Reudenbach, „Reliquiare“ (Anm. 13), S. 21. Legner, Reliquien (Anm. 6), S. 220 – 231.
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onymien, doch das, wofür sie stehen, lässt sich nur erkennen, wo ihr metonymischer Status als solcher markiert ist. Sie sind zwar Radiatoren, die von welchem Ort auch immer aus strahlen, aber ihre Strahlen wirken nur dort, wo der Glaube herrscht, den sie befördern sollen. Sie sind also immer schon Teil von Situationen und Konstellationen und müssen in diesen gekennzeichnet und zugeordnet werden. Sie benötigen Zeichen und Figuren, Namen und Geschichten, um ihre Funktion zu erfüllen. Das begründet die Notwendigkeit der Schrift: Selbst nicht-mimetisch (als Codierung) und mimetisch (als Einschreibung), selbst anikonisch (als Buchstabenfolge) und ikonisch (als gestaltete Fläche), vermittelt sie zwischen Reliquie, Form und Bild. Sie versieht die Reliquie mit Evidenz und versieht sich selbst mit Evidenz durch die Nähe zu jener. Sind es bei den byzantinischen Reliquien Eingravuren in die schmückenden Metallfassungen16, so sind es bei den abendländischen Authentiken aus Stoff oder Pergament, die den Objekten die Bedeutungen liefern, ohne die ihr heilsvermittelnder Status nicht möglich wäre, und zugleich die Bedingungen schaffen, ohne die Bedeutung nicht möglich wäre. Die grundsätzliche Faktizität ist wichtiger als die konkrete Referenz: Authentiken dienen auch dort der Erzeugung von Authentizität, wo sie keine klare Angabe liefern können – bei Relikten unsicherer Herkunft oder Objekten unsicherer Funktion, bei Unleserlichkeit oder Verblasstheit der Schrift.17 Während die cedulae aufgrund ihrer eigenen Materialität Alter oder gar Gleichursprünglichkeit mit der Reliquie beanspruchen können, können Elevations- und Translationsberichte, Märtyrer- und Heiligenlegenden Heil nur aufgrund ihrer
16 Gia Toussaint, „Konstantinopel in Halberstadt. Alte Reliquien in neuem Gewand“, in: Das Mittelalter, 10/2005, S. 38 – 62, hier S. 42. 17 Zu einem Kieferreliquiar aus dem 10. Jahrhundert aus Kloster Aldeneik heißt es auf der Authentik: Maxilla alicujus sancti vel sanctae; Katalog: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklçstern, München 2005, S. 268, Nr. 144; Zum Trierer Heiltumsschatz heißt es bei Scheckmann, Der Heilige Rock (Anm. 26), S. 18: Ouch zeigt man ein messer yetzundt in silber gefast/ dar bey fandt man den titel. das messer cristi iesu/ warzu sich aber der her iesus daz messer gebraucht hat/ weis man nit eigentlich. Eß ist aber an zweiffel heilthum. Eß wer sunst nit bey dem Rock funden; ebd., S. 26: vil ander heilthum da die zedel von verblichen vnd vnleßlich sein. Ausgespart sind die Reliquienbeschriftungen bei Gertrud Blaschitz, „Schrift auf Objekten“, in: Wenzel/Seipel/Wunhart (Hrsg.), Verschriftlichung (Anm. 2), S. 144 – 179.
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spezifischen Diskursivität zur Sprache bringen.18 Sie können sich zwar durch Emphase oder Verstummen, Paradoxierung oder Transzendierung, Teilhabe an und Steigerung von kultisch-rituellen Vollzügen zu Erscheinungsformen des Heils machen. Ihr genuiner Anspruch aber liegt darin, zu kontextualisieren, was die Objekte nur zeigen, und zugleich im Bezug auf die Objekte sich als nicht nur Zeichengefüge, sondern auch Materialitäten und Handlungsformen zu erweisen. Medien des Heils sind immer auch Hybriden des Heils.19 Nicht nur koppeln sie Heil an mediale Bedingungen, die immer diejenigen der Immanenz und nicht die der Transzendenz sind. Auch bestehen sie aus medialen Verbünden, die ihrerseits verschiedene Funktionsprinzipien transportieren: Anschaulichkeit und Lesbarkeit, Evokation und Signifikation, Simultanerfahrung und Verlaufserfahrung, diskursive, narrative und performative Entfaltung. Hybridität meint in diesem Zusammenhang also nicht so sehr allgemeine kulturelle Unschärfen, Übergänge oder Vermischungen und nicht so sehr die zahllosen Übergangsformen zwischen Geistlichem und Weltlichem, Adligem und Klerikalem, Höfischem, Heroischem und Asketischem, die vor allem in volkssprachigen Texten ausgelotet werden.20 Das Interesse gilt vielmehr dem Interagieren medialer Prinzipien, das unter bestimmten Umständen stattfindet und seinerseits im späten Mittelalter eine enorme Dynamisierung und vielfältige Institutionalisierung erfährt. In der sich entwickelnden Laienfrömmigkeit intensiviert sich die Spannung zwischen inneren und äußeren Bildern, körperlichen und spirituellen Erfahrungen, individuellen und kollektiven Memorialakten.21 Mit dem sich seit 18 Vgl. Martin Heinzelmann, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes, Turnhout 1979 (Typologie des sources du moyen âge occidental 33); Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 1), S. 114 f. 19 Zu Medien als Hybridbildungen: Arbeitsgruppe Wahrnehmung, „Über das Zusammenspiel von ,Medialität‘ und ,Performativität‘“, in: Erika FischerLichte/Christoph Wulf (Hrsg.), Praktiken des Performativen, Berlin 2004 (Paragrana 13/1), S. 128 – 185, hier S. 132 f. (Sybille Krämer). 20 Vgl. Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000. 21 Vgl. Fritz Otto Schuppisser, „Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio moderna und bei den Augustinern“, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Sptmittelalters, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 169 – 210; Thomas Lentes, „Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses“, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hrsg.),
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etwa 1200 verstärkenden Sichtbarmachen der (nicht wie im byzantinischen Bereich ,nackten‘) Reliquien verbindet sich eine Betonung des Heilscharakters der Wahrnehmung und der sie ermöglichenden Medien.22 Zu beobachten sind zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen: die Entwicklung einer Schaufrömmigkeit, die auf der physisch-realen Präsenz von Heiltümern in öffentlichen Räumen basiert, und die Entwicklung einer Privatfrömmigkeit, die psychisch-imaginative Vergegenwärtigungen in der privaten Andacht kultiviert. Nur scheinbar gegenläufig sind diese Tendenzen, weil sie darin zusammentreffen, dass sie eine Popularisierung des Heils ermöglichen, die zugleich liturgisch und dogmatisch kontrolliert wird, und dass sie dabei äußere Effekthaftigkeit und innere Affizierung zu wechselseitiger Steigerung einsetzen. Dem dienen auch die neuen Medien des Heils: Andachtsbilder, Pilgerzeichen und Einblattdrucke entbehren zwar, mechanisch vervielfältigt, der Individualität, sie fungieren aber gleichwohl nicht nur als potentielle Heilsträger, sondern auch als konkrete Heilsquellen, die, im Gebrauch personalisiert, am Urbild teilhaben – ob im magischen Sinne des apotropäischen Begleiters oder im touristischen des religiösen Andenkens. Überdies dienen sie als Memorialbilder sowohl individuellreligösen wie kollektiv-politischen Gebrauchs – auch hier greifen Symbolisierung und Desymbolisierung ineinander.23 Zwar mag man Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhltnis von mentalen und realen Bildern in der frhen Neuzeit, Mainz 2000, S. 21 – 46; ders., „Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters“, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Frçmmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis und kçrperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 179 – 219. 22 Gia Toussaint, „Die Sichtbarkeit des Gebeins im Reliquiar – eine Folge der Plünderung Konstantinopels?“ in: Reudenbach/Toussaint (Hrsg.), Reliquiare (Anm. 13), S. 89 – 106; vgl. auch Christof L. Diedrichs, Vom Glauben zum Sehen. Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar. Ein Beitrag zur Geschichte des Sehens, Berlin 2001. 23 Verschiedene Beispiele im Katalog des Germanischen Nationalmuseums (Bearb. Frank Matthias Kammel): Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frçmmigkeit im Sptmittelalter, Nürnberg 2000, sowie bei Volker Honemann [u.a.] (Hrsg.), Einblattdrucke des 15. und frhen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000; außerdem Sabine Griese, „Bild – Text – Betrachter. Kommunikationsmöglichkeiten von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert“, in: Nikolaus Henkel/Martin R. Jones/Nigel F. Palmer (Hrsg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter, Tübingen 2003, S. 315 – 335; dies., „Vervielfältigung und Verfestigung. Einblatt-Druckgraphik des 15. und frühen 16. Jahrhunderts“, in: Eckart Conrad Lutz/Johanna Thali/René Wetzel (Hrsg.), Literatur und Wandmalerei II.
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global im späten Mittelalter eine Verschiebung materieller Übertragungsmodelle (z. B. im Bereich der Memoria) hin zu spirituellen, intentionellen und interiorischen beobachten.24 Doch erhöht sich dadurch vor allem die Komplexität, in der Medien Verinnerlichung und Veräußerlichung engführen. Die ostensiones reliquiarum etwa arbeiten daran, Reliquien und Reliquiare so zu inszenieren, dass Teilhabe und Betrachtung, Nah- und Fernsicht sich ergänzen: Präsentationen, Weisungen und Prozessionen machen die Objekte sichtbar, versetzen sie in äußere Bewegung und nutzen sie für das System der Sündenverminderung (Ablass). Repräsentationen stellen aber auch die Heilsvermittlung auf Dauer, erzeugen innere Bewegung und dienen der individuellen Frömmigkeit. Die im Umkreis des Ereignisses zirkulierenden Heiltumsschriften, Weisungsordines und Ausrufungsformulare dokumentieren jenes. Gleichzeitig stellen sie Muster zur Verfügung, um die reale Begegnung mit den Heiltümern imaginativ und meditativ nachzuvollziehen oder sogar zu steigern – eröffnet doch erst die bildliche und sprachliche Wiedergabe jene Möglichkeit der Nähe, die aufgrund der hohen Besucherzahl beim Ereignis selbst meist verwehrt war.25 Die heilsvermittelnde Kraft des Sehens, die im Spätmittelalter immer wieder betont wird, erlaubt die Umwandlung von Distanzerfahrung in Naherfahrung unter gleichzeitiger Verwandlung von körpergebundener Materialität in körpertranszendierende Intensität. Diese wiederum, charakteristisch für die vormoderne Medialität, will in der Transzendierung zugleich ein punktuelles Immanentwerden des Transzendenten bewirken. Beispielhaft bringt der Beginn einer Trierer Heiltumsschrift die Verknüpfung der präsentischen und der historischen, der exponierenden und der rekapitulierenden, der öffentlichen und der privaten Dimension zum Ausdruck: Ein Holzschnitt zeigt die Weisung der Reliquie durch den Klerus, ein Gedicht überblendet das ,Erzählen‘ (im Sinne von ,Verkünden‘) des Heiltums mit einer aus Erzählen und Aufzählen kombinierten schriftlichen Evidenzstiftung: Konventionalitt und Konversation, Tübingen 2005, S. 335 – 359; Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Bchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert, Köln [u.a.] 2003 (pictura et poesis 16). 24 Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 21), S. 24 – 26, passim. 25 Umfangreiches Material bei Hartmut Kühne, ostensio reliquiarum. Untersuchungen ber Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im rçmisch-deutschen Regnum, Berlin – New York 2000 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 75); vgl. auch Nine Robijntje Miedema, Rompilgerfhrer in Sptmittelalter und Frher Neuzeit. Die ,Indulgentia ecclesiarum urbis Romae‘ (deutsch/niederlndisch). Edition und Kommentar, Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 72).
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Hie findestu du die weiß form vnd gstalt Wie manß heilthumb im thum erzalt Auch die war historien da bey Wie daß selb gen Trier komen sey So klrlich als werst gewesen dort Vnd die wort hetst selbs gehort. 26
Die Heiltumsschriften lassen sich als paradigmatische Vertreter der neuen Hybriden des Heils begreifen. Im Spannungsfeld geistlicher und weltlicher Institutionen situiert, steht ihre Ausbreitung in Zusammenhang mit der spätmittelalterlichen Residenzbildung und der Zentralisierung der Territorialherrschaft, der sie durch das Auratische der Reliquien ein zugleich materielles wie spirituelles, geschichtliches wie heilsgeschichtliches Fundament geben.27 In der Kombination von Holzschnitten und Texten bieten sie abbreviaturhaft zentrale Momente und Stationen des Schauvorgangs, anhand derer sich die äußere in eine innere Performativität überführen lässt. Zugleich integrieren sie, zumindest in den ausführlicheren Modellen, verschiedene Darstellungsformen, die ihre je eigene Logik mit sich bringen: Berichte des Reliquienfundes und des Ablaufs der Weisung neben Abrissen zur Geschichte einzelner Reliquien und Inventaren des Heiltumsbestandes einer Kirche. Präsentative, diskursive und narrative Verfahren vermengen sich ebenso wie verschiedene Zeitstufen. Es entsteht der Effekt einer sich perpetuierenden, potentiell endlosen Ereigniskette: vom Tod des Heiligen über die Auffindung der Reliquien, ihre Elevation und Translation bis hin zur Einrichtung einer Heiltumsschau und deren Nachvollzug in der privaten Andacht – eine Ereigniskette indes, die, achronologisch präsentiert, auf jene zeitlich-überzeitliche Gegenwärtigkeit des Ursprungs zielt, um die es auch bei der Reliquie selbst geht. Das Beispiel der Trierer Situation, das schon anklang, ist dabei nicht nur deshalb von Interesse, weil sich hier der Ursprung einer spektakulären Heiltumsschau genau fassen lässt und eine Fülle von Zeugnissen das multimediale Ereignis dokumentiert. Auch existieren Texte, die zum Ereignis selbst in eigentümlicher Beziehung stehen – nämlich 26 Johannes Scheckmann, Der Heilige Rock von Trier. ,Ein wahrhafftiger Traktat‘ aus dem Jahre 1513 ber die Auffindung und Ausstellung der ,Tunika Christi‘ samt einer Auflistung smtlicher damals bekannter Reliquien im Trierer Dom. FaksimileNachdruck der Postinkunabel mit einer Übertragung in die Sprache unserer Zeit von Charlotte Houben und einem Nachwort von Michael Embach, Trier – Briedel 1996 (Sonderausgabe zur Wallfahrt), S. 6. 27 Kühne, ostensio (Anm. 25), bes. S. 645 – 680.
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dieses nicht so sehr darstellen als zum Bezugspunkt einer narrativen Entfaltung machen: einer Entfaltung mit sowohl legendarischen wie heroischen, präsentischen wie narrativen, heilsvermittelnden wie heilsgeschichtlich bedenklichen Zügen.
III Die entscheidenden Momente liegen im Frühling 1512.28 Am 14. April, einem Mittwoch nach Ostern, wurde auf erzbischöflichen Befehl der Hochaltar des Trierer Doms geöffnet; man fand drei Truhen mit Reliquien, unter ihnen die berühmte Tunika Christi, der Heilige Rock. Am 22. April wurde auch der auf dem Altar stehende Reliquienschrein geöffnet und die in ihm enthaltene Menge an Personenreliquien am Sonntag, den 2. Mai, verkündet und gezeigt. Am folgenden Tag, dem Fest der Kreuzauffindung, kam es zu einer Ausstellung der Heiltümer in silbernen Kästen auf einem eigenen Altar, die sich wohl auch am nächsten Tag fortsetzte. Am 30. Mai erfolgte eine weitere Weisung des Heiligen Rocks und anderer Reliquien im Rahmen der Pfingstwallfahrt, die bis zu 100.000 Menschen angezogen und bis zu 14 Tage gedauert haben soll. Zahlreiche Heiltumsschriften berichteten von den Ereignissen und den Reliquien.29 Ein als Einblattdruck vervielfältigtes Lied besang die Auffindung als Staatsaktion zwischen Kaiser und Papst.30 28 Grundlegend Wolfgang Seibrich, „Die Trierer Heiltumsfahrt im Spätmittelalter“, in: Archiv fr mittelrheinische Kirchengeschichte, 47/1995, S. 45 – 125, hier S. 73 – 96. 29 Wolfgang Seibrich, „Die Heiltumsbücher der Trierer Heiltumsfahrt der Jahre 1512 – 1517“, in: Archiv fr mittelrheinische Kirchengeschichte, 47/1995, S. 127 – 147; Wolfgang Schmid, „Die Wallfahrtslandschaft Rheinland am Vorabend der Reformation. Studien zu Trierer und Kölner Heiltumsdrucken“, in: Bernhard Schneider (Hrsg.), Wallfahrt und Kommunikation. Kommunikation ber Wallfahrt, Mainz 2004 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 104), S. 17 – 195, hier S. 28 – 114; Michael Embach, „Die Trierer Heiltumsschriften des 16. Jahrhunderts zwischen Wallfahrtspropaganda und Maximiliansapotheose“, in: ebd., S. 229 – 244. 30 Abdrucke: Emil Weller, „Ein Lied vom Heiligen Rock“, in: Germania, N.F. 17/1872, S. 445 – 449; [Gerhard] Hennen, „Eine bibliographische Zusammenstellung der Trierer Heiligtumsbücher, deren Drucklegung durch die Ausstellung des heiligen Rockes im Jahre 1512 veranlasst wurde“, in: Centralblatt fr Bibliothekswesen, 4/1887, S. 481 – 550, hier S. 510 – 514. Eine Abschrift nach der Klosterneuburger Handschrift 1228 bei Rochus von Lilien-
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Eine Heilig-Rock-Bruderschaft warb um Mitglieder. Ein Heilig-RockOfficium verschaffte der Verehrung einen liturgischen Rahmen.31 Metallene Tunica-Domini-Zeichen waren als Souveniere zu erwerben, gemalte in Stundenbüchern zu betrachten.32 Jährliche Weisungen fanden in den Jahren zwischen 1513 und 1517 statt, siebenjährliche, abgestimmt auf den Aachener Zyklus, in den Jahren bis 1545, vereinzelte und unregelmäßige zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, zuletzt 1996 – zum 800. Jahrestag der Konsekration des Hochaltars im Ostchor des Trierer Doms, in dem die Reliquie bis 1512 eingemauert war.33 Die Erhebung von 1512 war eines der aufsehenerregendsten Frömmigkeitsereignisse der Zeit. Sie machte jene Herrenreliquie sichtbar, die zwar nicht zu den spärlichen (und umstrittenen) Körperreliquien des Auferstandenen (Blut, Vorhaut) zählte, aber unter den Berührungsreliquien mehr noch als Splitter der Dornenkrone oder des Kreuzes eine sinnfällige Manifestation des irdischen Daseins Christi bot.34 Die Erhebung verwandelte in eine Heilsschau, was ursprünglich Erfüllungswort war. Der Heilige Rock ist dem Johannes-Evangelium gemäß jenes durchgewebte, nahtlose Untergewand Christi, das die Soldaten nach der Kreuzigung nicht zerteilen wollten und um das sie deshalb das Los warfen ( Joh 19,23) – damit die Aussage des Psalmisten erfüllend: „Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los
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cron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Bd. 3, Leipzig 1867, Nr. 266, S. 63 – 66. Andreas Heinz, „Die älteste Messe zur Verehrung des Heiligen Rocks in Trier (1512)“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 485 – 515. Kurt Köster, „Wallfahrtsmedaillen und Pilgerandenken vom Heiligen Rock zu Trier“, in: Trierisches Jahrbuch, 10/1959, S. 36 – 57; Isabel von Bredow-Klaus, „Die Verbreitung des Tunica-Christi-Pilgerzeichens in flämischen Stundenbüchern des Spätmittelalters“, in: Schneider (Hrsg.), Wallfahrt und Kommunikation (Anm. 29), S. 197 – 227. Eine monumentale (im Auftrag des Bischöflichen Generalvikariats zusammengestellte) Dokumentation bietet: Erich Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zu Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995. Bibliographie: Tunica Domini. Eine Literaturdokumentation zur Geschichte der Trierer Heilig-Rock-Verehrung, bearbeitet von Helmut Krämer, hrsg. von Michael Embach, Trier 1991 (Mitteilungen aus der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars zu Trier 6). Berent Schwineköper, „Christus-Reliquien-Verehrung und Politik. Studien über die Mentalität der Menschen des früheren Mittelalters, insbesondere über die religiöse Haltung und sakrale Stellung der früh- und hochmittelalterlichen deutschen Kaiser und Könige“, in: Bltter fr deutsche Landesgeschichte, 117/1981, S. 183 – 281; Angenendt, Heilige und Reliquien (Anm. 6), S. 214 – 217.
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um mein Gewand“ (Ps 22).35 Seit dem 4. Jahrhundert wurde die Einheitlichkeit des Rocks, der als von Maria gewebt galt, auf die Einheit der Kirche oder die Inkarnation des Gottessohnes bezogen.36 Chronisten berichteten, wie das Gewand, einem göttlichen Schriftstück ähnlich, vom Himmel gekommen sei und die Heilige Familie auf abenteuerliche Weise begleitet habe.37 Mehrere Orte beanspruchten, die Reliquie zu besitzen38, und knüpften damit die Heilsvermittlung an ein Stück, das ähnlich paradoxe Züge trägt wie manche Kultbilder: Geschaffen und ungeschaffen, Kunstwerk und Abdruck in einem, ist der Rock zugleich ein Kleid Christi und, als mit dem Erlöser mitwachsend gedacht, ein Stück von dessen Existenz.39 Fülle (durch die Teilhabe am Passionsgeschehen) und Leere (durch die Abwesenheit des Erlösers) verschränken sich in ihm und wecken jene charakteristische Mischung aus Sehnsucht und Erfüllung, die Arnould Greban in seinem großen Passionsspiel in den Worten der Veronika, bezogen auf das Schweißtuch, auf den Punkt brachte: „Der Abdruck aber des kostbaren heiligen Antlitzes ist mir geblieben, und so fühle ich mich hochgeehrt, ein so heilsames Juwel zu besitzen. Überaus groß wird mein Verlangen sein, es in meiner Macht zu behalten: wegen des süßen gnadenvollen Herrn, dessen Abbild es mir zeigt.“40 Die Spannung von Ähnlichkeit und Berührung41 bezieht sich 35 Vgl. Jost Eckert, „Die johanneische Erzählung vom nahtlosen Gewand Jesu ( Joh 19,23 f.)“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 13 – 37. 36 Vgl. Ekkart Sauser, „Die Tunika Christi in der Vätertheologie“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 39 – 66; Franz Ronig, „Die Tunika Christi – ,Heiliger Rock‘ – in der theologischen Literatur des Mittelalters“, in: ebd., S. 67 – 79. 37 Stark ausgeschmückt durch Gottfried von Viterbo in seiner Weltchronik: Beissel, Geschichte der Trierer Kirchen (Anm. 42), S. 154 f., Anm. 3. 38 J. Gildemeister/H. von Sybel, Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenhten Rçcke, Düsseldorf 21845; Annegret Plontke-Lüning, „Ost und West – Über die Traditionen zum Gewand Christi in Mzcheta und Trier“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 139 – 162; Bernhard Schmitt, „,Heilige Röcke‘ anderswo. Die außerhalb der Trierer Domkirche vorkommenden sogenannten ,Tuniken Christi‘“, in: ebd., S. 549 – 605. 39 Vgl. zuletzt u. a. Herbert L. Kessler/Gerhard Wolf (Hrsg.), The Holy Face and the Paradox of Representation, Bologna 1998 (Villa Spelman Colloquia 6); Michele C. Ferrari/Andreas Meyer (Hrsg.), Il Volto Santo in Europa. Culto e immagini del Crocifisso nel Medioevo, Lucca 2005; Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005. 40 Arnould Greban, Le Mystre de la passion, hrsg. von Omer Jodogne, 2 Bde., Bruxelles 1965/1983 (Académie royale de Belgique. Classe des Lettres; Mémoires coll. in 48, 2ème série 12/3, 13/2), hier Bd. 1, S. 324 f. (V. 24221 –
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im Falle des Heiligen Rocks nicht auf die transparente Materialität des Gesichtsabdrucks, sondern auf die manifeste Materialität der Körperhülle, die statt der Sehnsucht nach dem Blick von Angesicht zu Angesicht die Sehnsucht nach dem Eindringen in die ,zweite Haut‘ des Messias nährt. Die Geschichte des Heiligen Rocks verbindet sich seit dem frühen 12. Jahrhundert mit derjenigen Helenas, der Kreuzauffinderin, und einer Reliquientranslation nach Trier, wo zu dieser Zeit, um den Primatsanspruch des Trierer Erzbistums über Gallien und Germanien zu unterstreichen, eine systematische Aufwertung sakral-politischer Traditionen stattfand.42 Doch blieb trotz einer von der Fortsetzung der Gesta Treverorum erwähnten Umbettung im Jahre 1196 die Tunika drei Jahrhunderte im Trierer Dom verborgen – nicht vergessen, aber ungezeigt. Vorschläge des Propstes von St. Paulin, Friedrich Schavard, den Rock auszustellen, fanden Anfang des 15. Jahrhunderts keine Gegenliebe bei Domkapitel und Erzbischof, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil es zahlreiche Anwartschaften auf den Besitz der wahren Tunika Christi gab und zusätzliche Evidenzen hätten nötig werden können. Erst das im Laufe des Jahrhunderts allgemein wachsende Bedürfnis nach Reliquienpräsenz und die zwischen einzelnen Orten zunehmende Reliquienkonkurrenz schufen wohl die Voraussetzungen, das kostbare Stück der Öffentlichkeit auszusetzen.43 Dass es konkret dazu kam, scheint wiederum verschiedenen Momenten geschuldet: einerseits einer spezifisch labilen politischen Konstellation, in der das Domkapitel, zwischen Stadt und Erzbischof lavierend, sich vom Zeigen der Reliquie etwas versprach, andererseits dem Interesse Maximilians I., durch das sich die Reliquie und die sie besorgenden Institutionen mit der Auto24228): ,Or m’est l’emprainte demouree j du saint v aire prec eulx, j dont je me tien bien honnoree j d’avoir joyau tant vertueux. j Si sera mon corps cur eux j a le garder de ma puissance j pour le doulx patron grac eux j dont il me monstre la semblance’; Ernst von Dobschütz, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, Leipzig 1899, Bd. 2, S. 323 (mit abweichendem Text). 41 Didi-Huberman, hnlichkeit und Berhrung (Anm. 9). 42 Stephan Beissel, Geschichte der Trierer Kirchen, ihrer Reliquien und ihrer Kunstschtze, Teil 2: Geschichte des Heiligen Rockes, Trier 1889 (Volksausgabe 1891); Hans A. Pohlsander, „Der Trierer Heilige Rock und die Helena-Tradition“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 119 – 127; Uwe Meves, Studien zu Kçnig Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock (Orendel), Frankfurt/M. – Bern 1976 (Europäische Hochschulschriften I,181), S. 227 – 243. 43 Vgl. Schmid, „Wallfahrtslandschaft“ (Anm. 29), S. 68; zum Folgenden Seibrich, „Die Trierer Heiltumsfahrt“ (Anm. 28), S. 61 – 91.
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rität des Kaisers verbinden konnten. Maximilian, der im Frühjahr 1512 aus Anlass des Reichstags in Trier weilte, gilt nach den Zeugnissen als treibende Kraft sowohl der Erhebung, die mit seinem gelehrten Wissen um den Aufbewahrungsort in Verbindung gebracht wird, wie der ersten Ausstellung, die in Zusammenhang mit jenem Gottesdienst erfolgte, in dem er seiner 1510 verstorbenen zweiten Gemahlin Maria Bianca Sforza gedachte.44 Auch seine autobiographischen Werke nehmen auf das Ereignis Bezug: In der Ehrenpforte verknüpft ein Holzschnitt Albrecht Altdorfers die Rockauffindung mit der Kanonisierung Leopolds (Abb. 1) 45, im Weißkunig bietet Hans Burgkmair d. Ä. eine Präsentation, bei der der Rock von zwei infulierten kirchlichen Würdenträgern zugleich Maximilian und dem Betrachter gezeigt wird (Abb. 2).46 Das erwähnte Lied stellt den Kaiser ganz ins Zentrum: als Mittler des göttlichen Willens und zugleich Vermittler der Ablassgewährung durch den Papst.47 Anspielend auf eine frühere Situation der Rocker-
44 Vgl. Michael Embach, „Die Rolle Kaiser Maximilians I. (1459 – 1519) im Rahmen der Trierer Heilig-Rock-Ausstellung von 1512“, in: Jahrbuch fr westdeutsche Landesgeschichte, 21/1995, S. 409 – 438; ders., „Im Spannungsfeld von profaner ,Spielmannsepik‘ und christlicher Legendarik – Der Heilige Rock im mittelalterlichen Orendel-Gedicht“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 763 – 797, hier bes. S. 777 – 781. 45 Thomas Ulrich Schauerte, Die Ehrenpforte fr Kaiser Maximilian I. Drer und Altdorfer im Dienst des Herrschers, München – Berlin 2001 (Kunstwissenschaftliche Studien 95), S. 329 (mit plausibler Argumentation für eine Zuschreibung an Altdorfer und nicht Dürer), S. 394 (Abb.), S. 403 (mit Text der Clavis: erfindung unsers schçpfers vnd hailmachers Jhesu Cristi clidung oder Rocks, sovil hundert iar zu Trier verporgen gelegen ist). 46 Kaiser Maximilians I. Weisskunig. In Lichtdruck-Faksimiles nach Frühdrucken […] hrsg. von H. Th. Musper in Verbindung mit Rudolf Buchner, Heinz-Otto Burger und Erwin Petermann, Stuttgart 1956. Die Darstellung des Rocks schließt an entsprechende Darstellungen im Rahmen der Heiligen Familie an (z. B. Veit Stoß, Die Heilige Familie im Zimmer, um 1480); vgl. Robert L. Wyss, „Die Handarbeiten der Maria. Eine ikonographische Studie unter Berücksichtigung der textilen Techniken“, in: Michael Stettler/Mechthild Lemberg (Hrsg.), Artes Minores. Dank an Werner Abegg, Bern 1983, S. 113 – 188. Zu Handlungselementen, die auf den Grauen Rock bezogen werden können, JanDirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 2), S. 115, 323 f., Anm. 25 f. 47 Vgl. Embach, „Im Spannungsfeld“ (Anm. 44), S. 781 – 784; Text zitiert nach Hennen (Anm. 30).
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hebung, die ohne Legitimation gewesen sei48, versucht der Text eine eben solche für die gegenwärtige Situation zu sichern und damit die eigene imaginative Anverwandlung der historischen Ereignisse zu legitimieren. Dem Lied gemäß zieht Maximilian nämlich aus den Niederlanden ins Rheinland statt umgekehrt, er findet den Rock in der Liebfrauenkirche statt im Dom, der Wunsch, in Köln die Reliquien der Heiligen Drei Könige zu sehen, führt ihn in die Gruft, in der ihm ein Engel die Aufgabe der Rockerhebung stellt: Den rock den Maria gespunnen hat, jrem kindt Jesu christ dem hçchsten hort, den muste zu Trier erheben, der ligt bey unser lieben frawen in jrem altar wirst jn anschawen, Keyser es muss geschehen (8,1 – 6).
Damit ist die Rockerhebung den kontingenten irdischen Interessen entzogen. Überdies sorgen mirakulöse Erscheinungen für eine überirdische Aura: Am Marienaltar weisen 15 nicht von Menschenhand angebrachte brennende Kerzen auf den Ort des Heiligtums hin, während der Messe tritt aus dem Rock selbst das Gewand derer hervor, die ihn herstellte: Da man das Sanctus thet heben an, ein gross mirackel solt jr verstan, Maria hemmet zu dem rock auss brach, ein guldene zettel daran ware, darinn Jesu christ entpfangen warde, geborn an der weynacht nacht (21,1 – 6).
Der Rock erweist sich als Medium, das die Christusgeschichte nicht nur in der Passion, sondern auch der Inkarnation aufscheinen lässt, als Reliquie, die ihrerseits andere Reliquien hervorbringt: hier das Marienkleid, das auch noch die passende Authentik mit sich bringt und nach Aachen geschickt wird. Damit ist das Trierer Heiltum in der Reliquienkonkurrenz mit bedeutenden anderen Heiltümern der Region profiliert: auf der einen Seite die Kölner Drei-Königs-Reliquien – von ihnen wird der Kaiser auf Trier verwiesen, wo der Kölner Erzbischof 48 26,1 f.: Wann ein Bischoff war es vor verkundt j der hette von got kein rechten grundt; im Blick ist damit die Bischof Johann I. zugeschriebene (aber in der Publizistik um 1512 nicht unumstrittene) Umbettung des Rocks im Jahre 1196.
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selbst das ,bessere Heiltum‘ (16,5) findet; auf der anderen Seite die Aachener Marienkleid-Reliquie, die ihrerseits als von Trier kommend erscheint.49 Diese nicht wenig brisanten Ansprüche werden untermauert durch Auratisierungen eigener Art: Bindung der Ereignisse an den Kaiser, Betonung der wunderbaren Umstände der Erhebung und Herausstellung der Formen autoritativer Schriftlichkeit. Zu diesen Formen gehören: (1) ein eigenhändiger Brief des Kaisers an den Papst, (2) eine Schrift auf der Reliquientruhe, (3) ein geheimnisvolles Buch, das nur der Kaiser lesen und aus dem er gçtliche ding zu entnehmen vermag, schließlich (4) der guldene zettel, der eine kühne Form der Reliquiengenealogie authentisiert. Auch die Heiltumsschriften erwähnen verschiedentlich die cedulae der Reliquien. Diese bilden ein Bindeglied zwischen den Sakralität enthaltenden Objekten und den Sakralität darstellenden Texten. Sie liefern jene primäre und elementare Kontextualisierung, die für die Authentizität der Heiltümer wesentlich ist50 und der andere Kontextualisierungen zur Seite treten: die enge Verbindung des Rocks mit dem Würfel der Soldaten und dem Messer Christi sowie die lose mit Stücken des Kreuzholzes und der ebenfalls von Maria angefertigten Kinderhose Jesu, die sich in einem anderen Reliquienkasten befinden51 – sie steigern allesamt den Eindruck, in den Reliquien sei ein Stück urchristlicher Lebenswelt eingefangen. Das durch die Überlieferung nicht erklärte verrostete Messer, begleitet von etlichen unleslichen schrifften 52, zeigt aber auch: Es gibt Abstufungen in der Heilspotenz, und die Wechselbezie49 Vgl. das Aachener Ausrufungsformular zur Weisung: Man sal uch zounen das heyinde, das helige cleit, das Maria, de moder Gotz an hatte uf die heilge Cristnacht, doe unse lieve her Jesus Christus god und mynsche van ere geboren wart (Kühne, ostensio [Anm. 25], S. 175). Auch in anderen Trierer Kirchen wurden im Zuge des Heilig-Rock-Kults verschiedene ,Marienkleider‘ hervorgeholt, in St. Maria ad Martyres 1512, in St. Paulin 1515; vgl. Seibrich, „Die Trierer Heiltumsfahrt“ (Anm. 28), S. 85 – 91, hier S. 86 auch die Feststellung: „Offensichtlich wollte man in Trier den jahrhundertealten Vorsprung Aachens in wenigen Tagen wettmachen und es mit der Heiligkeit der Stadt noch übertreffen.“ 50 Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 21), S. 31. 51 Scheckmann, Der Heilige Rock (Anm. 26), S. 26: Item in obgemeltem kasten ist funden ein seiden secklein von mancherley farben/ in welchem ist gewesen ein gebund dar an in einem zedel klrlich geschriben stond/ hie in ist von den hosen vnsers hern iesu die gemacht hat die heilge gots gebererin vnd iungfraw maria/ vnd von dem holtz des heiligen creutz/ vnd die zwey obgerrten stu˚ck worden auch in dem secklein bey einander funden/ vnd nit mer darin. 52 Ebd., S. 21.
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hung von Reliquien und Texten hat prinzipiell zirkulären Charakter. Die Texte schaffen Geltung, indem sie an eine vorgängige Geltung anzuschließen behaupten, und bedürfen deshalb ihrerseits der ,Authentiken‘, die den Behauptungscharakter eliminieren. Solche ,Authentiken‘ können im gegebenen Fall sein: institutionalisierte Anordnungsmuster oder räumliche und zeitliche Deiktiken, welche die Texte an das Weisungsereignis rückbinden, transzendente Phänomene (Erscheinungen, Visionen, Mirakel), welche die Authentizität der Macht des Imaginären unterstellen – und sich selbst damit dessen Risikohaftigkeit aussetzen.53
IV Das lässt sich an jenen Texten verfolgen, die noch über das Lied hinaus den Rand der Trierer Heiltumsschriften bilden: den Versionen des Grauen Rocks. Sie kursierten, lässt man das germanistische Fantasma einer ,Spielmannsepik‘ des 12. Jahrhunderts einmal beiseite54, auf jeden Fall schon im 15. Jahrhundert. Die Abschrift einer Bücheranzeige aus der Werkstatt des Diebold Lauber (um 1450) 55 bezeugt ebenso die Popularität der narrativen Stoffgestaltung wie die auf eine illustrierte 53 Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 1), S. 121 – 128: ,Profanierungsrisiken‘. 54 Vgl. noch Alfred Ebenbauer, „,Orendel‘ – Anspruch und Verwirklichung“, in: ders./Fritz Peter Knapp/Peter Krämer (Hrsg.), Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie gewidmet Blanka Horacek zum 60. Geburtstag, Wien – Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1), S. 25 – 63; Gisela Vollmann-Profe, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfngen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. I: Von den Anfngen zum hohen Mittelalter, Teil 2: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60 – 1160/70), Frankfurt/M. 1986, S. 220 – 223; Bernward Plate, „Orendel – König von Jerusalem. Kreuzfahrerbewußtsein (Epos d. 12. Jhs.) und Leidenstheologie (Prosa von 1512)“, in: Euphorion, 82/1988, S. 168 – 210; Michael Curschmann, „Orendel“, in: Verfasserlexikon, Bd. 7, Berlin – New York 1989, Sp. 43 – 48 (hier auch die Angaben zu den weiteren, in der Regel rekonstruierend verfahrenden Editionen); Achim Masser, „Orendel“, in: Enzyklopdie des Mrchens, Bd. 10, Berlin – New York 2002, Sp. 358 – 362. 55 Heidelberg, Universitätsbibl., cpg 314, f. 4r: ain hbsch bu˚ch genant der graw rok vnd knk alexander; Handschrift zwischen 1443 und 1447, Eintrag von Sigismund Gossembrot; vgl. Christian Kiening, Schwierige Modernitt. Der ,Ackermann‘ des Johannes von Tepl und die Ambiguitt historischen Wandels, Tübingen 1998 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 113), S. 60 f., 493 – 496 (weitere Literatur), Abb. 4.
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Tradition zurückgehende elsässische Handschrift (1477) 56 oder die ganz vom Rock absehende Herogonie am Anfang der Heldenbuchprosa (um 1480).57 Wie auch immer die einzelnen Versionen genau ausgesehen haben mögen, ob als abenteuerliche Heroengeschichte oder als ,Buch‘ vom grauen Rock – sie beziehen sich explizit oder implizit auf etwas, was im klerikalen oder erbaulichen Schrifttum der Zeit (noch) keinen Ort hat und auch als Objekt (noch) unsichtbar bleibt. Sie arbeiten an jenem Imaginären der Reliquie, das die autoritative historiographische Tradition (Christusleben, Helenatranslation) ergänzt und sich selbst genau zu dem Zeitpunkt neu formiert, da auch das Heiltum ans Licht tritt. Der Graue Rock, schon begrifflich sowohl Reliquie wie Protagonist wie Text, bietet eine ,Vorgeschichte‘, die zugleich den sich ausbildenden Trierer Heiltumsdiskurs medial und formal hybridisiert: medial, indem ein anwesend-abwesendes Objekt zum Movens textueller Bewegungen wird; formal, indem (helden-)epische Elemente unterschiedlicher Provenienz (Brautwerbung, Kreuzzug, Riesenkampf) eine Ursprungsgeschichte prägen, die vor die historiographischen und die kultisch-rituellen Institutionalisierungen zurückzugehen verspricht. Zwei Augsburger Drucke, der eine in Versen, der andere in Prosa, schließen im Jahr 1512 an das Ereignis der Rockerhebung an.58 Beide 56 Straßburg, Stadtbibl., Cod. B 92 (1870 verbrannt), S. 1 Überschrift: Dis buch saget uns, wie unsers herren groger rock funden wart, und wie er eim knige von Trier wart, vnd in dem rock das heilige grap gewan, und wie er dar inne ein frouw erwarb, und vil wonders vol brocht hat; Abdruck (mit Ergänzungen aus dem Druck): Der ungenhte graue Rock Christi: wie Kçnig Orendel von Trier ihn erwirbt, darin Frau Breiden und das heilige Grab gewinnt, und ihn nach Trier bringt. Altdeutsches Gedicht, aus der einzigen Handschrift, mit Vergleichung des alten Drucks, hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1844. 57 Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreis Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Meist aus einzigen Handschriften zum erstenmal gedruckt oder hergestellt von Friedrich Heinrich von der Hagen, Bd. 1, Leipzig 1855, S. CXI: Kfflnig Erendelle von Triere, der was der erste heilt, der ie geborn wartt; der fu˚r fflber mer, vnd do er vff das mer kam, do hette er gar vil kiele, wanne er was gar ein richer kinig. do gingen ym die kiele alsamen vnder; doch kam er mitt sim lib vsz, vnd kam ein vischer faren vnd halff dem heren vs. vnd also wz er lang by dem vischer vnd halff ym vischen; vnd hinden nach kam er gon Jherusalem vnd kam zu˚ dem heilgen grab. do was sin frowe einz kingez dohtter, die was geheissen frowe Bride, vnd wz ouch die sch =nstte ob aln wiben. Vnd do nach wartt ym geholffen von andern grossen heren, vnd kam wider gen Triere, vnd starp ouch zu˚ Triere vnd litt ouch zu Triere. vnd also ertrfflncken ym al sin diener, vnd verlor grosz gu˚tt vff dem mere. 58 Orendel (Der Graue Rock). Faksimileausgabe der Vers- und der Prosafassung nach den Drucken von 1512, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Ludwig De-
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greifen mit dem Holzschnitt des von Engeln gehaltenen Rocks die Tradition der Heiltumsschriften auf (Abb. 3 f.) 59, und beide beziehen sich auf die gerade erfolgte Auffindung unter Präsenz des Kaisers. Während die von Hans Froschauer gedruckte Versfassung, mit 32 Holzschnitten versehen, weitgehend der handschriftlichen Tradition folgt, stellt Hans Othmar, der 1509 den Fortunatus gedruckt hatte, in seiner Prosafassung einen stilistisch eingängigeren, weniger redundanten, spärlich illustrierten Text her, der durch einen am Ende hinzugefügten Auszug aus einer Heiltumsschrift die Nähe zur Trierer Situation betont.60 Hier bietet bereits die Titelseite ausführliche Hinweise zum Geschehen im Rahmen des Reichstags, wo die Versausgabe nur darauf verweist, das Stück sei yetz bey kayser Maximilians zeit erfunden worden. Diese Versausgabe lässt einen enormen Grad an Hybridisierung erkennen: die Mischung literarischer Typen, die Augenfälligkeit fehlender (kausaler) Motivationen, die Häufung erzählerischer Neuansätze, die Wiederverwendung von Textbausteinen, die Dürftigkeit in Sprache und Reimtechnik – sie begegnen in solchem Ausmaß, dass der Text der Altgermanistik geradezu als Paradigma eines ,schlechten Textes‘ gelten konnte.61 Will man Urteile wie diese historisieren62, bleibt nichts anderes, als das Funktionieren der heterogenen Elemente und kombinierten Muster zu analysieren und auf jene Problemkonstellation von Reliquie und Text zu beziehen, die sich am Rande der kultisch-rituell geregelten Vollzüge in besonderer Weise darbietet.63
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necke, 2 Bde., Stuttgart 1972. Zu den beiden Drucken siehe auch HansJoachim Koppitz, Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, München 1980, S. 202 – 208. Der Druck der Versfassung ist in einem Exemplar erhalten (München, BSB, 48 P.o.germ.161n), der der Prosafassung in dreien (Berlin, Staatsbibliothek, Yu 1731; London, British Library, C.175.d.29; München, BSB, 48 P.o.germ.161 m). Kühne, ostensio (Anm. 25), S. 869 – 872. Abdruck in der Ausgabe: Orendel, ein deutsches Spielmannsgedicht. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Arnold E. Berger, Bonn 1888, S. 183 – 186. Michael Curschmann, Der Mnchener Oswald und die deutsche spielmnnische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultgeschichte und Dichtungstradition, München 1964 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 6), S. 125 f.: ,Rückschritt‘, ,reaktionäres Denken‘, ,literarischer Verfall‘. Vgl. Renate von Heydebrand/Simone Winko, Einfhrung in die Wertung von Literatur, Paderborn – München 1996; Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 51/2004: Schlechte Literatur. Zusammenfassend, aber nicht immer präzise Walter Johannes Schröder, Spielmannsepik, Stuttgart 21967, S. 65 – 72. Ich zitiere im Folgenden die Drucke nach
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Das Epos beginnt im Legendenton mit einem Hinweis auf die Rolle Christi und Mariä für die Erlösung der Menschheit, und im Stil volkssprachiger Bibelergänzungen mit einem Bericht der Schicksale des Rocks nach der Kreuzigung, einem Bericht, der Momente der Kreuzholzgeschichte aufnimmt.64 Wie dort spielt das Wasser eine Rolle, wie dort sind es die Juden, die das fragliche Stück behalten beziehungsweise den Christen vorenthalten wollen, und wie dort sind sie es, durch die sich die Macht der Gottessohnschaft zeigt, das Stück in Bewegung kommt und zur Reliquie wird. Ins Meer geworfen, von einem Siren gefunden, ein Stück weit auf dem Wasserweg mitgenommen, unter einem Strand verborgen, von einem Pilger wiedergefunden, wieder dem Meer preisgegeben, von einem Wal verschlungen, ist der Rock von vornherein Subjekt und Objekt in einem. Seine Bewegungen im mittelmeerischen Raum rufen exotisch-abenteuerliche wie hagiographisch-erbauliche Sinndimensionen auf, ohne dass diese aber entfaltet würden. Schon nach etwa hundert Versen bricht die Rockgeschichte ab, was zugleich ein Wiedererscheinen des heiligen Objekts ermöglicht – ein Wiedererscheinen in der Welt der Erzählung, aber auch ein Wiedererscheinen gemäß den Modalitäten des literarischen Textes. Auf das ,erste Buch‘, dessen Ende mit dem neuerlichen Verschwinden des Rocks angezeigt wird, folgt nämlich kein ,zweites‘, vielmehr scheint es überhaupt nur eines zu geben: Es spricht an dem bu˚ch also. Vom ,ersten Buch‘ zu sprechen zielt offensichtlich weniger auf eine Strukturierung des Textes als auf dessen Ursprünge. Der eigentliche Beginn der Erzählung war mit dem Verweis auf ein deutsches ,Buch‘ von Judas eingeleitet worden: Nun h =rent an disen stunden Es ward an ainem Teutschen bu˚ch gefunden Wie das der arme elende Judas Vnsers herren verrter was (D 4, H 43 – 46). den Faksimile-Ausgaben von Denecke (P = Prosatext mit Seite und Zeile; V = Verstext mit Seite) und füge mit Sigle H die Verszahlen nach von der Hagens Ausgabe der verbrannten Handschrift hinzu (die Verszahlen bei Denecke beziehen sich auf die Ausgabe: Orendel, [hrsg.] von Hans Steinger, Halle/S. 1935 [Altdeutsche Textbibliothek 35], die aufgrund ihrer Überlieferungsferne nicht als Bezugspunkt dienen sollte). 64 Vgl. Richard Heinzel, ber das Gedicht von Kçnig Orendel, Wien 1892 (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Philologisch-historische Classe CXXVI), S. 83.
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Von hier war auf einen Juden überblendet worden, der als Belohnung von Herodes den Rock verlangt, diesen aber, da er das Blut nicht herauswaschen kann, wieder hergeben muss – was den Impuls lieferte zur Wanderungsbewegung des Rocks. Gerade indem offen bleibt, ob der vorliegende Text selbst die Geschichte des ,Judasbuches‘ bietet, wird die Suggestion genährt, dieses sei als eine Art Spolie integriert, nämlich einerseits gekennzeichnet, andererseits mit dem Vorliegenden verschmolzen. In die gleiche Richtung gehen auch die zahlreichen weiteren Buchverweise: Sie beziehen sich auf die Autorität, die dem vorliegenden Bericht von sich aus fehlt, und stellen diese zugleich her – aus vorhandenen oder als vorhanden behaupteten Materialien, deren Kombination die Textur des Grauen Rocks bestimmt. Der eingangs gesetzte Einschnitt geht mit einem räumlichen und thematischen Sprung einher: In Trier will Orendel, der jüngste Sohn König Eigels, der gerade den Ritterschlag empfangen hat, sich verheiraten; sein Vater kennt in dreizehn Königreichen keine geeignete Braut außer der edlen Königin Bride, gesessen vil ferre j Vber den wilden sees flu˚t (D 13, H 222). Muster von Brautwerbungserzählungen sind auch im Fortgang des Textes relevant: Der als reicher König Ausgezogene kommt als armer Pilger nach Jerusalem, wo Bride die Tempelherrn und das Heilige Grab befehligt; er muss sich durch Rittertaten beweisen; er löst sein Inkognito erst nach einem entscheidenden Sieg gegen die Heiden; er macht sich, zwischenzeitlich nach Trier zurückgekehrt, ein zweites Mal nach Jerusalem auf, um das neuerlich an die Heiden verlorene Grab zurückzugewinnen.65 Doch die Doppelung profiliert nicht verschiedene Facetten von Herrschaftssicherung, sondern die unablässige Dienstbereitschaft des Helden für seine Sache – eine primär religiöse, dergegenüber traditionelle Bestandteile der Brautwerbungshandlung zurücktreten: Weder gibt es ein Problem der Herrschaftskontinuität noch einen feindlichen Brautvater; das Unternehmen wird von vorn herein unter die Obhut der Gottesmutter gestellt und auf das Heilige Grab ausgerichtet; der Vollzug der Ehe wird auf Geheiß eines Engels mehrfach aufgeschoben (was die Besiegung unzähliger Heiden und die Christianisierung des schon aus dem Kçnig Rother bekannten
65 Vgl. Christian Schmid-Cadalbert, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verstndnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28); Christian Kiening, Zwischen Kçrper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003, Kap. 5.
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Wüsten-Babylon erlaubt) und am Ende ganz aufgehoben (was den raschen Übergang ins Himmelreich erlaubt). Auch in den Oswald-Dichtungen erfolgen ähnliche Transformationen des feudal-genealogischen Übertragungsmodells in ein transzendent-spirituelles, das die ,horizontalen‘ Bewegungen immer wieder blockiert, um die ,vertikalen‘ sichtbar zu machen.66 Ähnlich wie dort erfolgt im Grauen Rock schon der Auszug mehr im Sinne eines Kreuzzugs als eines Brautwerbungszuges, eines Kreuzzugs allerdings, bei dem die Auszugswilligen nicht das Kreuz nehmen, sondern kostbare goldene Sporen, von Goldschmieden hergestellt – Zeichen der Ritterschaft und zugleich Opfergaben für das Heilige Grab, die sich in einer Vision Orendels in ein Bild der Marter Christi verwandeln.67 So kommt denn sowenig wie eine schematypische Brautwerbung ein eigentlicher Kreuzzug zustande: Nachdem Gott den Seinen erst aus der Not geholfen hat, lässt er alle Schiffe untergehen und nur Orendel mit dem Leben davonkommen. Dieses legendentypische Moment der Herauslösung und Heraushebung des Helden unterstreicht hier indes nicht die Opposition zwischen Heiligem und Nicht-Heiligem, sondern die Unbegreiflichkeit des göttlichen Heilshandelns: Der Erzengel Gabriel erklärt Orendel später, Gott hätte die christlichen Ritter alle schnell bei sich im Himmel haben wollen (D 32 f., H 724). Zugleich kommen mit der gefährlichen Überfahrt weitere Muster ins Spiel: Das Klebermeer (= Lebermeer), in dem die Helden drei Jahre lang feststecken, ruft die Tradition der Herzog-Ernst-Abenteuer auf, der Schiffbruch, nach dem der Held sich nackt an einem Strand wiederfindet und als Knecht bei einem Fischer verdingt, die des Apollonius66 Vgl. Nikolaus Miller, „Brautwerbung und Heiligkeit. Die Kohärenz des Münchner Oswald“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 52/1978, S. 226 – 240; zum Modell des Erzählschlusses Corinna Biesterfeldt, Moniage – Der Rckzug aus der Welt als Erzhlschluß. Untersuchungen zur ,Kaiserchronik‘, ,Kçnig Rother‘, ,Orendel‘, ,Barlaam und Josaphat‘, ,Prosa-Lancelot‘, Stuttgart 2004; Klaus Gantert, „Erzählschema und literarische Hermeneutik. Zum Verhältnis von Brautwerbungsschema und geistlicher Tradition im ,Wiener Oswald‘ und in der ,Hochzeit‘“, in: Poetica, 31/1999, S. 381 – 414; Christian Kiening, „Heilige Brautwerbung. Überlegungen zum Wiener Oswald“, in: Christine Pfau/Kristy´na Slámová (Hrsg.), Deutsche Literatur und Sprache im Donauraum, Olomouc 2006, S. 87 – 99. 67 D 18 (H 326 – 330): Ein bild gleissen do began j Von dem roten sch =nen goldt j Als ers zu˚ Jerusalem zum opffer haben wolt j Es was ain pild so herlich j Vnsers herren pild der marter was es gleich.
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romans.68 Auch sie dienen primär der Markierung der Abweichung: Statt königlich eingekleidet und am Hof aufgenommen zu werden, bleibt Orendel wochenlang nackt beziehungsweise mit dürftigen Kleidern versehen. Dank himmlischer Hilfe kann er schließlich den Grauen Rock erwerben, nur um in ihm, kaum hat er sich wieder auf den Weg zum Heiligen Grab begeben, sogleich von einem Riesen gefangen genommen zu werden. Das bildet den Auftakt zu einer scheinbar endlosen Serie von abenteuerlichen Kämpfen und Schlachten, Befreiungs- und Taufaktionen, einer Serie von Begegnungen mit Riesen und Zwergen, Heiden und Templern, bei der auch mechanische Kunstwerke und fantastisch geschmückte Rüstungen nicht fehlen. Zwar schließt diese Serie eine Verbindung des Helden mit der ausgesuchten Braut, eine Gewinnung des Heiligen Grabes und eine Überführung des Rockes nach Trier ein, im Ganzen aber dominiert ein helden- und kreuzzugsepisches Iterationsprinzip, das nur deshalb irgendwann an ein Ende kommt, weil die himmlischen Mächte Orendel und seine engsten Vertrauten schließlich abberufen.69 Die Fülle von Erzählelementen und -einsätzen erweist sich als Ansammlung von Schemazitaten, die in zu konsequentem Maße Erwartungen weckt und verschiebt, als dass sie einfach als unbeholfene bricolage abzutun wäre.70 Es herrscht der Grundzug der geistlichen Umbesetzung: Ob als Orientfahrer oder Schiffbrüchiger, Brautwerber, Heidenkämpfer oder Pilger, Orendel rettet sich aus den schwierigen 68 Zusammenfassend Ebenbauer, „,Orendel‘“ (Anm. 54), S. 54 – 58. 69 Das iterierende Prinzip wird im Text dadurch unterstrichen, dass bei den drei Kämpfen gegen den Riesen Liebmann (D 63 ff.), den Riesen Pellian (D 74 ff.) und den Heiden Durian (D 103 ff.) jeweils die gleiche (auch sprachlich teilweise wiederholte) Aktionsfolge abläuft: Anziehen des Rockes, Anlegen von Schwert und Helm, Sprung ohne Stegreif in den Sattel, Ausrüstung mit Schild (und Speer), Kampf, Sieg. Zur Auseinandersetzung mit der Heldenepik Stein, „Orendel 1512“ (folgende Anm.). Das Erzählprinzip lässt sich demjenigen anderer Epen der Zeit zur Seite stellen; vgl. etwa Ute von Bloh, Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Grfin Elisabeth von Nassau-Saarbrcken: ,Herzog Herpin‘, ,Loher und Maller‘, ,Huge Scheppel‘, ,Kçnigin Sibille‘, Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 119). 70 Vgl. auch Peter K. Stein, „Orendel 1512. Probleme und Möglichkeiten der Anwendung der theory of oral-formulaic poetry bei der literaturhistorischen Interpretation eines mittelhochdeutschen Textes“, in: Montfort, 3/1980: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied, S. 148 – 163 (322 – 337), hier S. 151 – 153 (325 – 327).
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Situationen, in die er gerät, nie allein durch Kraft und Geschick, sondern vor allem durch das Gebet und die Hilfe der himmlischen Instanzen, die je neu aufgefächert werden: Maria als Erhörende, Christus als Verfügender, Engel als Ausführende. Die Welt des Textes ist solchermaßen eine, in der einerseits die Immanenz ständig zur Transzendenz hin ,drängt‘, andererseits die Transzendenz ständig in die Immanenz hineinwirkt – in einer Handgreiflichkeit, die über legendarisches Normalmaß hinausschießt: Der Erzengel, der Engel der Verkündigung, übergibt Orendel persönlich die dreißig Goldpfennige für den Kauf des Rocks und die goldenen Schuhe fürs Turnier; Gabriel, Michael und Raphael stehen Orendel in seinen Schlachten bei; Maria schreibt einen Brief, der, bei der Messe von einer Turteltaube auf dem Altar niedergelegt, den Priester vom üblichen Gang der Messe abweichen lässt und im folgenden Kampf als Reliquie vorangetragen wird.71 Auf diese Weise erscheint das Geschehen als ein durch und durch heilsgeschichtlich sensationelles, in dem die Heilsmächte ebenso konkret gedacht sind wie das Heilsobjekt, das sie verkörpert und dessen Geschichte sich ihrerseits aufs Engste mit der des Protagonisten verflicht.
V Präzise Zeitangaben stellen schon in der Eingangspartie eine ,historische‘ Kontinuität von Rock- und Orendelgeschichte her: Nach dem Tod Christi und der Übergabe des Rocks an den Juden durch Herodes vergehen acht Jahre, in denen der Rock sich im Wasser befindet, im neunten kommt er zu einem Pilger, der ihn jedoch wieder ins Wasser wirft, wo er weitere acht Jahre im Magen eines Wales zubringt, bis der Fischer Ise den Rock dort findet und nolens volens Orendel überlässt. Wo Jacobus de Voragine im Hinblick auf die Kreuzauffindung die Unwahrscheinlichkeit betont hatte, dass der Vater des in der Überlie-
71 D 135 f. (H 3677 – 3688): […] die knigin sandt Maria j Einen brieff schreyb j Den fu˚rt ein turteltaub gemayt j Sy bracht in auff den selben stunden vnd tag j Do des grawen rockes h =re lag j Die weil ward nit zu˚ lang j Ein priester sein messe sang j Do schu˚ff des herre gottes krafft j Das die durtheltaub die botschafft j Ließ fallen des priester auff den altar j Als mir das pu˚ch h =ren sagen frwar [Also dis buch noch inhaltet H] j Do er den brieff auff prach j Dem ewangelium er ab gesprach. Zur Tradition der Himmelsbriefe Schreiner, „Göttliche Schreib-Kunst“ (Anm. 2).
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ferung genannten Judas zur Zeit Christi gelebt habe72, nimmt der Autor des Grauen Rocks genau diese Anknüpfung vor: Der Rock kam dem knig Orendel zu˚ troste (D 4). Zugleich überblendet er aber die Kontinuität mit einer Synchronizität: Orendel empfängt die Schwertleite mit dreizehn Jahren, bis ins dritte Jahr hinein dauert der Bau der Schiffe, drei Jahre stecken die Recken im Klebermeer fest; die Lebensdauer des Protagonisten läuft also etwa parallel zu der des Rockes. Zeitliche Folge und überzeitliche Bedeutung sind ineinander verwoben: Indem Orendel Bride, die Tochter König Davids, gewinnt, verbindet sich mit ihm die Aura des großen alttestamentlichen Herrschers, indem in das Davids-Schwert eine Brandans-Reliquie eingeschlossen ist, diejenige des frühmittelalterlichen irischen Reise-Heiligen. In Orendel laufen die Linien des Heils zusammen: Der von Gott selbst stammende Geldbetrag, um den er den Rock erwirbt, entspricht nominell jenem des Judaslohns73, und an Judas knüpfte sich auch der Beginn der Erzählung; der gegenwärtige Heilsakt steht also vor dem Hintergrund des früheren Unheilsaktes. Mit den verschiedenen Bezugsgrößen verschränken sich auch verschiedene Typen sukzessiver und simultaner Verkettung. Was sich syntagmatisch vollzieht, wird paradigmatisch mit Bedeutung aufgeladen – mit der Konsequenz einer Überdetermination der Narration, die von allem Anfang an ihren Rezipienten verheißt, die Geschichte sei mehr als nur eine Geschichte, eine universale Heilsgeschichte nämlich, in der sich Transzendentes zum Vorschein zu bringen vermöchte. Dieses Transzendente knüpft sich an den Rock, der von vornherein als überdeterminiertes Dingsymbol fungiert: Er ward gewrcket zware Von aines sch =nen lemleins hare Den hat gespunnen die edel vnd frey Die edele kniginne sandt Marey 72 Jacobi a Voragine Legenda aurea, hrsg. von Theodor Graesse, Erlangen 31890, S. 308 (cap. LXVIII): Non videtur autem multum probabile, quod pater istius Judaei tempore passionis Christi esse potuerit, cum a passione Christi usque ad Helenam, sub qua Judas fuit, flexerint plus quam ducenti septuaginti anni, nisi forte diceretur, quod tunc homines plus quam modum vivebant. (Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 101984, S. 354 f.); der Passus fehlt in der Elsssischen Legenda aurea, Nr. 65. 73 D 34 (H 759 – 762): Er gab in im vil geringe j Vmb xxx. gulden pfenninge j Als vil was auch der erst schatz j Do got vnser herr vmb verkaufft ward (H 762 expliziter Hinweis auf Judas).
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Mein fraw sandt Maria in selber span Sandt Helena in selber wrcken began Er ward gewrcket vnd nit genat Das selbige edelminnigkliche wat Vnd ward auch gewrcket mit fleissen Der grawe rock sol nit brechen noch schleissen Er ward gewrcket auff dem berg Oliueti Cristus der herr schloff selber darein Do der grawe rock ward beraydt Vnser herr in selber an seinen leyb leyt Darjnnen vastet er die hayligen .xxxx. tag (D 4, H 23 – 37).
Hergestellt ist der Rock aus der Wolle eines Lammes – für den, der selbst das ,Lamm‘ Gottes ist. Hergestellt ist er durch Weben und nicht durch Nähen – Ausdruck einer Einheitlichkeit, die auch durch die Passion nicht zerstört wird und die Zeiten überdauert. Hergestellt ist er auf dem Ölberg – in ihm ist das ganze Passionsgeschehen spurenhaft aufbewahrt. Hergestellt ist er für die Fastenzeit Jesu (die eigentlich die Zeit der Versuchungen durch den Teufel ist; Mt 4,2; Lk 4,2) – und gilt damit als Ursprung eines Fastengewands.74 Hergestellt ist er von Maria und von Helena – in seiner Entstehung ist sowohl die vorangegangene Menschwerdung wie die spätere Wiederauffindung und Übertragung impliziert. Mit diesem letzten Stichwort zwingt der Text zusammen, was ansonsten getrennt erscheint. Er partizipiert an der in der historiographischen Tradition verbreiteten und von den Heiltumsschriften übernommenen Helenatranslation, öffnet aber gleichzeitig den Raum für eine ,eigensinnige‘ Neubesetzung des Übergangs – durch Einführung einer zweiten Erlöserfigur, für die der Rock bestimmt ist: „Als einziger unter den Lebenden wird Orendel das göttliche Gewand tragen.“75 Erschien dieses zunächst blutfleckig oder verfault, wo man es zu waschen oder auf dem Markt zu verkaufen suchte, so erscheint es in den Händen Orendels neu wie am ersten Tag76, bereitstehend für eine
74 Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Berlin – New York 2003, 446,14 f.: bÞdiu ber bl zen l p j truogen grwe rçcke herte. 75 Ernest Tonnelat, „König Orendel und Christi nahtloses Gewand“ [zuerst frz. 1924], in: Walter Johannes Schröder (Hrsg.), Spielsmannsepik, Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 385), S. 145 – 167, hier S. 155. 76 D 6 (H 77 f.): In allen den geperden j Als er aller erst gemartert were; D 9 (H 141 f.): Vnd in allen den geperden j Also er desselben tages gemartert were; D 33 f. (H 755 f.):
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Wiederholung des Passionsgeschehens, die allerdings nicht stattfindet: Orendel erleidet kein Martyrium im Kampf gegen die Heiden, der Rock wird nicht aufs Neue befleckt, er bleibt ein übernatürliches Ding, das auch dann noch die Passion verkörpert, wenn deren Zeichen in einem bestimmten Augenblick verschwunden scheinen – so wie in Reliquien generell Verfall der irdischen Materie und Unzerstörbarkeit des heiligen Körpers zusammengehen. Der Begriff für den ursprünglichen Herstellungsvorgang ist wrcken (,wirken‘/,weben‘), und er benennt auch die weiteren Handlungen, die am Rock vollzogen werden: die erste Deponierung durch Herodes in einem steinernen Schrein (sarg), der dem Meer, und die zweite durch Orendel in einem ebensolchen, der den Priestern in Trier übergeben wird. Wieder treten in der syntagmatischen Folge paradigmatische Beziehungen hervor, die die überzeitliche Dimension des Heiligen Objekts nicht nur verdeutlichen, sondern sprachlich evident machen: Im Ursprung soll bereits die Geschichte enthalten sein, in der anfänglichen ,Versenkung‘ die spätere ,Niederlegung‘. Als Quelle und Träger des Heils ist der Rock gemäß den Markierungen des Textes alles, was nur sein kann: Materie und Prinzip, Prinzip und Manifestation, Manifestation und Symbol, Symbol und Geschichte. Um aber durch die Geschichte und als Geschichte wirken zu können, muss zur Zirkulation die Imitation hinzutreten, die personale Anverwandlung des universalen Musters, die garantiert, dass nicht nur Potenzen übertragen werden, sondern auch Normen und Werte. Sind Reliquien als Teil von Heiligungsprozessen immer mit Verhaltens- und Handlungsmodellen verbunden, so verbindet sich auch hier die Verkörperung mit einer Wiederverkörperung. Der Rock steht sowohl für eine reale Präsenz wie eine reale Absenz: Als Metonymie des Passionsgeschehens (sichtbares Blut) und des Auferstehungsgeschehens (fehlender Körper) vertritt er ein in der Zeit einmaliges Ereignis, das zugleich durch die (Fortdauer der) Zeit der Wiederholung bedarf.77 Er vertritt eine Transzendenzhoffnung, die sich in der Immanenz materialisieren soll und die Paradoxie dieses Verhältnisses gerade an einem Stück deutlich machen kann, das zugleich einmalig und wiederverwendbar ist. Die ,Leere‘ des Rocks, die an den Titelholzschnitten sichtbar wird, prädestiniert diesen für ,Besetzungen‘, In allen den geperden j Als er faul were; D 34 (H 769 f.): In allen den geperden j Als ob er erst von dem tu˚ch kommen were. 77 Generell zur Bedeutung von Absenz für die christliche Kultur Michel de Certeau, La fable mystique, Paris 1982, S. 107 – 121.
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in denen wiederum der Text seine spezifische ,Besetzung‘ der Leerstellen der Tradition realisiert. Die Koppelung zwischen Held und Gewand zeigt sich strukturell als Chiasmus der Handlungsfolge: Der Rock befindet sich zu Beginn in Jerusalem, am Ende in Trier, Orendel zu Beginn in Trier, am Ende in Jerusalem. Zwischen diesen Polen durchläuft die Geschichte drei Phasen: (1) zunächst sind Rock und Held getrennt und befindet sich das Heilige Grab in heidnischer Hand, (2) dann sind beide vereint, wird das Heilige Grab für die Christenheit gewonnen und nimmt Orendel den Rock mit nach Trier, (3) schließlich sind beide wieder getrennt, der Rock deponiert in Trier, der Held beschäftigt im Orient mit der Verteidigung des Heiligen Grabes. Zwei für das christliche Abendland zentrale Momente werden damit zusammengeführt: der Anspruch auf einen Besitz der realen Orte des Heils und die Erwartung einer realen Übertragung der Heilskräfte. Zusammengeführt werden auch zwei Typen der Präsenz Christi in der Geschichte: hier die loca sancta, dort die sacrae reliquiae, beide dadurch charakterisiert, dass sie zwar angeschaut, vielleicht berührt werden können, vor allem aber als Quellen des Heils zu gelten haben, aus denen sich ihrerseits die Repräsentationen speisen. Überdies wird Orendel im Zuge der Abfolge nicht nur zum Träger und Transportmedium des Rocks, sondern auf gewisse Weise zu diesem selbst. In Jerusalem spricht man ihn mangels Kenntnis seines richtigen Namens als ,grauer Rock‘ an: ,Got gru˚ß euch herr grawer rock Ich kan euch nit anders genennen wayß got Ob ich euch herr nun erkante Wie gern ich euch anders nante‘ (D 38, H 857 – 860).
Dieser erste Nennakt78, im Folgenden durch stereotype Wiederholungen bewusst gehalten, zielt nicht nur darauf, dass Orendel, aus seiner Herkunftswelt ausgetreten, wie manche roten und grünen Ritter der Artusepik seinen Ort finden, hier: in der Welt des Heiligen Grabes seinen königlichen Status neu gewinnen muss. Er kreiert auch eine Identität zwischen Träger und Hülle, die die Potenz des Heiligen Stücks sowohl in Bewegung versetzt wie überträgt, ohne dass es aber zu einer völligen Verschmelzung käme: Orendel legt den Rock, nachdem er eine neue standesgemäße Kleidung erhalten hat, jeweils neu für seine 78 D 38 (H 861 f.): Der was der allererste man j Der dem kunig Orendel seinen namen benam.
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Kämpfe an und braucht trotz der unverwundbar machenden Kraft die Unterstützung der Engel – die ihn wie auch Maria und Jesus niemals als ,grauer Rock‘ apostrophieren. Die Identität ist also weniger eine personal-magische als eine realsymbolische, bezogen auf die Bedingungen einer irdischen Welt, in der sich die überirdische nur zum Vorschein bringen kann. Demgemäß ist Orendel der graue Rock und bezeichnet er gleichzeitig den von diesem verkörperten heilsgeschichtlichen Zusammenhang. So wie er selbst nicht einfach nach Trier zurückkehrt, sondern am Ende in Jerusalem bleibt, sorgt er dafür, dass der Rock nicht einfach zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern ein neues Kraftzentrum mitbegründet. Die Verweigerung der Heimkehrstruktur dynamisiert das Verhältnis von Zentrum und Peripherie: Das Prinzip des Rocks wird über den Moment hinaus weiter getragen, da dieser in Trier zurückbleibt, und ist zugleich Bedingung der Möglichkeit für die nunmehr an Trier gebundene Wirksamkeit des Rocks. Derjenige, dem der Rock zubestimmt ist, ist auch dazu da, ihn seinem Bestimmungsort zuzuführen: nicht Jerusalem, nicht irgendeine Wildnis (in der der Rock sich lieber neun Klafter unter der Erde ,verbirgt‘; D 7), sondern eben Trier, nach mittelalterlicher Historiographie die älteste deutsche Stadt.79 Sie steht im Zentrum der auch raumsemantisch codierten Symmetrie der drei Phasen. Sie wird über einander weitgehend entsprechende Stationen erreicht und wieder verlassen (Bari, Apulien, Tiber, Rom, Frankreich, Metz – Frankreich, Rom, Tiber, Apulien, Bari, Akkon), wird wie Jerusalem gegen Heiden verteidigt und in einer Engelerscheinung Orendel als Ort des Jüngsten Gerichts enthüllt (D 119, H 3187). Sie wird damit wie der Rock und dank diesem zu einem Ort des Heils, an dem die zentrale Reliquie der Heilsgeschichte mit dieser auch den zentralen Ort des Heilsgeschehens selbst, Jerusalem, gegenwärtig macht. Der Text operiert mit einer Homologie zwischen Trier und dem Heiligen Rock auf der einen, Jerusalem und dem Heiligen Grab auf der anderen Seite, einer Homologie indes, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Heilige Grab, dem die Sehnsüchte gelten, sich immer wieder entzieht: Anfangs ist es schon in Blickweite, als die Schiffe allesamt untergehen; dann ist 79 Vgl. Heinz Thomas, Studien zur Trierer Geschichtsschreibung des 11. Jahrhunderts, insbesondere zu den ,Gesta Treverorum‘, Bonn 1968; Ilse Haari-Oberg, Die Wirkungsgeschichte der Trierer Grndungssage vom 10. bis 15. Jahrhundert, Bern [u.a.] 1994 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 607).
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Orendel, nach seiner Knechtstätigkeit unter Ise, endlich wieder auf dem Weg und wird von einem Riesen gefangen; als er das Grab erreicht hat, muss er es gegen immer neue Gegner verteidigen und nach dem zwischenzeitlichen Trieraufenthalt den Heiden wieder abgewinnen. Das Heilige Grab ist ein Fantasma ohne Konkretheit, profiliert weder im Blick auf das ,Original‘ in Jerusalem noch auf eine seiner zahlreichen Nachbildungen80, behütet von einer Königin, die mal als Minnedame, mal als Kämpferin erscheint, umgeben von Heiden und Christen, vor allem den Tempelherren, die, selbst ganz im Unscharfen belassen, den Vorzeitcharakter der Handlung unterstreichen.81 Am Ende wird dieser Ort, der Kaiser Maximilians Kreuzzugstraum bestimmte, neu mit heiligen Objekten ausgestattet. In Analogie zu Orendel, der bei seinem ersten Eintreffen in Jerusalem sich selbst dem Heiligen Grab geopfert hatte, opfert seine Gemahlin Bride, als sie dieses wieder erreicht hat, eine Reihe von Reliquien: Do gieng die maget all zu˚handt Do sy das grab vnsers herren fandt Sy opfert in das minnigklich grab Do got fr vnser snd jnnen lag Sy opffert auff die drey nagel Die got durch sein hend vnd fu˚ß wurden geschlagen Sy opffert auff das sper vnd die kron Die got tru˚g zu˚ seiner marter fron (D 140, H 3809 – 3816).
Die massive Donation zentraler Herrenreliquien, die auf spätmittelalterlichen Bildern und Einblattdrucken (z. B. im Kontext der Gregorsmesse oder der Arma Christi) häufig als Ensemble abgebildet sind, markiert den vergangenen Charakter des Geschehens, befinden sich doch zumindest im Bewusstsein der Zeit um 1500 manche der Reliquien nicht mehr in Jerusalem, sondern in Deutschland: Die Heilige 80 Vgl. im Umkreis des Textes: Markus Maisel, Sepulchrum domini. Studien zur Ikonographie und Funktion großplastischer Grablegungsgruppen am Mittelrhein und im Rheinland, Mainz 2002 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 99). 81 Anders Embach, „Im Spannungsfeld“ (Anm. 44), S. 772: „recht detailgetreu dargestellt“. Das Argument, dass aufgrund der Erwähnung der Templer und nicht der diese als Verteidiger des Heiligen Grabes um 1300 ablösenden Johanniter „die Erzählung eine gewisse Zeit vor dieser ,Wachablösung‘ fertiggestellt“ sein dürfte (ebd.), ist grundsätzlich aporetisch und im konkreten Fall schon deshalb wenig stichhaltig, weil der Text offensichtlich verschiedene Zeitreferenzen vermischt.
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Lanze etwa steht im Zentrum Nürnberger Heiltumsweisungen.82 Die Donation bildet im Text den Gegenpart zur Übergabe des Rocks an die Priester in Trier. Sie sichert, dass das Heilige Grab weiterhin ein Ort der metonymischen Präsenz des Heilands und ein Ort der abendländischen Sehnsucht nach den Objekten der Präsenz ist. Zugleich löst sie jene Vision ein, in der sich anfangs bei Orendels Auszug nach Jerusalem die goldenen Sporen in Opferzeichen und ein strahlendes Bild der Marter Christi verwandelten. Es ist bezeichnend, dass am Ende Bride, die schon im ersten Teil als mutige Streiterin hervorgetreten war und schon bei der Rückfahrt nach Jerusalem die Pilgerrolle Orendels aus dem ersten Teil übernommen hatte, die Kämpfe führt und die Reliquien niederlegt, während Orendel erst durch die Stimme Gottes aus einem ausdauernden Schlaf geweckt wird. Identität und Differenz der Protagonisten werden auf diese Weise gleichzeitig sichtbar: Bride spielt nur die Pilgerrolle und bringt doch als Übermittlerin der Bitte eines ungenannten verstorbenen Fürsten, das man in anschreib, die Intention Orendels zur Geltung: der Anspruch auf Nähe zum Heil durch die ,Magie‘ des Namens, auf Einschreibung in die mit dem Heiligen Grab verbundene ,Ordnung des Heils‘.83 Die Paarbildung, die sich im Grauen Rock vollzieht, ermöglicht nicht jene exogame Ehe, die anfangs als Notwendigkeit anklang.84 Sie ermöglicht eine Engführung der Protagonisten, die sich in der Orientierung aufs gleiche Ziel hin ergänzen und auch durch die Geschlechterdifferenz kaum mehr getrennt werden: Das zunächst temporär, dann definitiv durch höheren Befehl gesetzte Verbot des Ehevollzugs macht die Einheit jenseits des Geschlechtlichen evident.85 Es macht aber auch un82 Kühne, ostensio (Anm. 25), S. 149 und Abb. 83 Verschiedene Möglichkeiten der Liste oder des Totengebetverzeichnisses diskutiert Carmen von Samson-Himmelstjerna, Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzhlenden Dichtung, Berlin 2004 (Berliner Historische Studien 37), S. 195 f. Plausibler wohl noch ist die Tradition religiöser Graffiti, die durch Anbringung des Namens in der Nähe des Heiligen (Objekts) eine (Übertragungs-)Beziehung zwischen dem Individuum und der transzendenten Macht stiften; vgl. Peter Schmidt, „Beschriebene Bilder. Benutzernotizen als Zeugnisse frommer Bildpraxis im späten Mittelalter“, in: Schreiner (Hrsg.), Frçmmigkeit (Anm. 21), S. 347 – 384, hier S. 348 – 351. 84 D 13 (Eygel zu seinem Sohn; H 214 – 217): ,Nun enwayß ich aller frawen kein j Durch dreyzehen Knigreichen j Die dir mgen geleichen j Sy seind dir alle syppen.‘ 85 Während Curschmann, Der Mnchener Oswald (Anm. 54), S. 120 – 123, von einer Minnebindung ausgeht, die im Keuschheitsgebot aufgehoben würde,
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übersehbar, dass die Figuren des Textes als Aktanden fungieren. So wie die Riesen, die Heiden und die Tempelherren überwiegend untereinander austauschbar sind, so gibt es auch auf der Seite der Heroen funktionale Überlagerungen: Ise, der Fischer(könig), bei dem Orendel sich als Fischer(knecht) verdingt, wird schließlich zum Herzog und Begleiter des neuen Grabkönigs. Sein Kampfeseinsatz wird mit den gleichen Worten geschildert, die auch bei Orendel und Bride zur Anwendung kommen.86 Wiederholungen gehören generell zu den auffälligsten Merkmalen des Textes. Sie halten das, was in der Vielheit der verwendeten Muster und Motive auseinander zu brechen droht, zusammen in einem Netz von Beziehungen. Das kausal- und psychologisch Untermotivierte erscheint final- und heilslogisch verbunden, indem Verschiedenes wiederkehrt oder sich spiegelt: der Pilger Tragemunt in den späteren Pilgern Orendel und Bride, der Fischer Orendel im Fischer Ise, die Gefährdung Jerusalems in der Gefährdung Triers, die Kämpfe gegen Heiden und Riesen, die Gefangenschaften und Befreiungen, die Gebete und Hilfeleistungen, die Angriffe auf Brides Keuschheit und die Gänge zum Heiligen Grab. Doch nicht nur die erzählte Welt wird auf diese Weise zusammengeschlossen. Auch die Erzählsituation erhält den Anstrich von Einheitlichkeit87, indem Wortmaterial wiederverwendet wird: formelhafte Verspaare (fraw Breyden j die schçnst ob allen weyben) ebenso wie bis zu zwölfzeilige Blöcke. Verschiedenen Sprechern in den Mund gelegt, erlauben sie es, Differenzierungsmomente und Wiedererkennungseffekte zu verbinden. Zugleich wird der textuelle Prozess als ein Gewebe zelebriert, dessen Elemente sich in der Suggestion von Bedeutsamkeit durchdringen. Die oben zitierten Eingangsverse über die Herstellung des Rocks sind charakteristisch: In elf Versen ist fünfmal vom ,Wirken‘ des Rocks die Rede, dreimal in identischem Versanfang (Er ward gewrcket); die zweifache, unmittelbar aufeinander folgende Nennung Marias scheint tautologisch, erzeugt aber zugleich eine Bebetont Ebenbauer, „Orendel“ (Anm. 54), S. 62, zu Recht die Überhöhung eines Modells keuscher Ehe. 86 D 90: Do satzt er auff sein haubte j Einen helm sch =n gepawte j Do hieß er bald entspringen j Vnd im ain gu˚t roß bringen j Mayster Eyse der weigant j On stegraiff in den satel sprang; vgl. D 45, 66, 79, 81 f.,104. 87 Vgl. Walther Vogt, Die Wortwiederholung, ein Stilmittel im Ortnit und Wolfdietrich A und in den mittelhochdeutschen Spielmannsepen Orendel, Oswald und Salman und Morolf, Breslau 1902 (Neudruck 1977) (Germanistische Abhandlungen 20), S. 58 f.
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ziehung zwischen Erhabenheit und Teilhabe und eine Ausdehnung auf die in gleicher Konstruktion angeschlossene Helena: Die edele kniginne sandt Marey j Mein fraw sandt Maria in selber span j Sandt Helena in selber wrcken began.
VI Es ist verführerisch, die Worte und Wendungen im Grauen Rock als Fäden zu sehen, die sich unaufhörlich verschlingen und eine paradoxe Einheit in der Vielheit hervorbringen: ein textiler Text als (Re-)Präsentation einer lange nur textuell verfügbaren Textilie.88 Diese metaphorische Analogisierung von Gegenstand und Machart der literarischen Rede ist keine erst moderne, sondern eine durchaus schon zeitgenössische: Die Vorstellung, durch Gotteslob eine spirituelle ,Einkleidung‘ zu erhalten oder durch Gebete den Heiligen Gewänder zu ,weben‘, ist zum Beispiel in der Nonnenspiritualität belegt.89 Sie steht womöglich wie vieles andere im Grauen Rock im Hintergrund. Unübersehbar ist jedenfalls, dass der Text eine Präsenz der Oberfläche schafft, die sich nicht aus dem Reichtum rhetorischer Mittel speist, sondern aus der Verheißung paradigmatischer Verknüpfungen. Die literarischen Muster werden nicht allegorisiert, sondern paradigmatisiert. Sie werden zu Teilen einer Textur, die dadurch monströse Züge gewinnt, aber in ihrer Monstrosität auf das Erscheinen von oder die Aufladung mit Transzendenz zielt – gemäß einem geläufigen Prinzip 88 Zum theoretischen Feld dieser Beziehung Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln [u.a.] 2002. 89 Vgl. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung, hrsg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 100), S. 42 (II,4): Der mantel was gezieret mit golde und ouch mit einem liede, das sang alsust: ,Ich sturbe gerne von minnen‘; ein anderes Beispiel bei Thomas Lentes, „Die Gewänder der Heiligen. Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination“, in: Gottfried Kerscher (Hrsg.), Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, Berlin 1993, S. 120 – 151, hier S. 120 f.; vgl. jetzt auch Hedwig Röckelein, „Vom webenden Hagiographen zum hagiographischen Text“, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hrsg.), ,Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), S. 77 – 110.
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christlicher Ästhetik, das Unverfügbare durch Unähnliches, Nicht-Mimetisches, Deformiertes verfügbar zu machen.90 Indem im Grauen Rock die Verfugung des Objekts mit dem Protagonisten, die Einbeziehung von auratischer Schriftlichkeit und die ostentative Herausstellung von Korrespondenzen sich verbinden, wirken auch ,Präsenzeffekte‘ und ,Sinneffekte‘ so zusammen, dass ein Pendant entsteht zu der Reliquie, zu deren Geschichte der Text eine eigenwillige Vorgeschichte liefert. Das Heiltum, historisch-überhistorisch wie der Protagonist, ist Bezugspunkt und Fluchtpunkt des Textes: abwesend-anwesend in Trier wie das Heilige Grab in Jerusalem. Zwar verweist der Titel auf das ,Jetzt‘ der Rockerhebung, doch im Text ist der Rock, was er bis 1512 war: ein zugleich reales und imaginäres Objekt, das auszustellen und zugleich zu verbergen die Aura des Textes begründet. Die Prosafassung von Hans Othmar weicht genau in diesem Punkt von der Versfassung ab. Zwar gehört auch sie, wie der andere Text in Augsburg gedruckt (Trier besaß zu diesem Zeitpunkt noch keine eigene Offizin), wohl nicht ins unmittelbare Umfeld des Trierer Ereignisses. Doch gibt schon der Titel eine Reihe von Präsenzsignalen.91 Auch weist ein Einschub genau an der Stelle, an der die Deponierung des Rocks in Trier berichtet wird, auf eine ununterbrochene, durch Gott selbst organisierte Bewachung des Rocks hin: Sie tradiert und kontrolliert das Wissen um diesen und integriert die Gegenwart in jene Dauer, die eingangs dem Rock zugeschrieben wurde.92 Am Ende leitet eine Nachbemerkung des Druckers zu einer Liste der bei der Weisung präsentierten Reliquien und der dabei anwesenden Fürsten über. Im Rahmen solcher Zusätze verändert sich auch der Status auratischer Schriftlichkeit. Die Episode, in der Marias Brief die Christen vor der heidnischen Gefahr warnt, bleibt erhalten, doch die Verwandlung in eine Reliquie, dem magischen Schutz im Heidenkampf dienend, entfällt. Statt der vielen unkonkreten Buchverweise, die den Text kontinuierlich mit einer autoritativen Vorlage engführen, findet sich am 90 Vgl. Didi-Huberman, Fra Angelico (Anm. 5). 91 P 1: yetzo bey vnnsern zeitten/ von der gepurt Christi in dem Fnfftzehenhundert vnd zwelfften jare/ auff dem grossen Reichstag zu Trier/ in gegenwertigkait R =mischer Kaiserlicher majestat vnsers allergnædigsten herren. auch Churfrsten/ Frsten/ herren vnd anderer Stende des hailigen Reichs erfunden. 92 P 60,29 – 34: Darnach wurden von gott dem herrn dartzu˚ geordnet vier mann/ die deß Rockes pflagen/ vnd wenn ainer abgieng so ward ain anderer darzu˚ geordnet. Also das jr allweg vier warn/ vnd nit meer die vmb den rock weßten. Vnd als ich in diser Hystori funden hab/ ist er noch zu˚ Trier/ soll auch daselbst beleiben.
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Ende der Verweis auf ein gar alte[s] bchlin/ das fast maisterlich vnd mitt grossem fleiss geschriben ist (P 73,5 f.) – eine Handschrift also, die materialiter Authentizität ermöglicht. An die Stelle einer sich durch formelhafte Wiederholungen ausstellenden Textur tritt eine unauffällige, pragmatisch organisierte, die das Exempel einer weltliches und geistliches Rittertum vereinenden Haltung bietet.93 Auch Plausibilitäten spielen nun eine Rolle. Im Hinblick auf die Situation, in der Bride und Orendel, obwohl an unterschiedlichen Orten weilend, plötzlich doch zusammentreffen, kommentiert der Erzähler/Redaktor: Nun m =cht man fragen wie dise dinng alle allso m =chten geschehen sein/ vnd besonder das junckfraw Breid die sch =n christenlich knigin/ vor der stat Jerusalem gefangen wær/ vnd sy doch Arenndel fand in der w Fsten Babilonia. Hirauff zu˚ antwurten/ vnd besonder auff das Erst/ So sag ich das gott dem herrn alle ding mglich vnd leicht tzu˚ thu˚n seind. Auch vindet man in allen geschrifften/ gaistlich vnd weltlich/ das der kainer nye verlassen noch betrogen sey worden/ der da gehoffet hatt in gott den herren vnd zu˚ seiner werden mu˚tter/ wes wolt er dann dise sein getrew diener vnd lieb Bilgrin gezygen haben/ die doch ye vnd ye in allen n =ten bey jm gestanden seind. Zu˚ dem andern/ so ist die knigin zu˚ næchst bey Jerusalem gefangen worden/ vnd ein [weil] da geleget darnach erst gef Frt in die w Fsten Babiloni (P 67,4 – 17).
Neben eine transzendente, providenzielle Rationalität tritt eine immanente, narrative, die Sinn nicht so sehr im Raum des Imaginären aufscheinen lässt denn durch Verweis aufs Reale geltend macht. Der Rock sei in gegenwärtigen Zeiten gefunden worden, wie dann die Hystori in disem b Fchlin anzaigt. so ist leichtlich zu˚ glauben vnd zu˚ halten/ das diser Rock sey der hailig rock/ in dem vnser erl =ser vnd sæligmacher vnser hayl gewrckt (P 73,12 – 15). Der beiläufige Ton kann nicht das prekäre Moment überspielen, das hier im Blick ist: die fragile Authentizität nicht nur des Textes, sondern auch der Reliquie. Der Text kann zwar die Erhebung des Rocks ,anzeigen‘, dessen Geschichte aber eben nur erzählen; die Reliquie kann durch Weisung präsent gemacht werden, nur durch zusätzliche Evidenz aber als Herrenreliquie erwiesen werden. Indem der Graue Rock dem spektakulären Heiltum eine spektakuläre (Vor-)Geschichte zur Seite stellt, schafft er zwar die Möglichkeit einer Äquivalenz, enthüllt er aber auch die Ungewissheit, auf der diese ruht. Wo eine Geschichte geglaubt werden kann, kann sie auch nicht geglaubt werden. 93 P 72,13 – 30; vgl. Plate, „Orendel“ (Anm. 54), S. 205 – 208. Zu den verschiedenen kleinteiligen Unterschieden zwischen Vers- und Prosatext Orendel (Anm. 60), S. XII–XXXIII.
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So mag zwar die Prosa die präsentische Textur des Verstextes pragmatisieren, den Risiken profaner Heilsentwürfe entkommt auch sie nicht. Ein annähernd zeitgenössischer Benutzer eines Druckexemplars notierte sich zu der zitierten Stelle am Rand: ficticium est, et non verum. Sollte er damit tatsächlich die Identität des in Trier gezeigten Rockes mit der wahren Tunika Christi gemeint haben, hätte er jenen Zweifel zum Ausdruck gebracht, der auch andere beschäftigte. Schon bei den ersten Weisungen wurde massive Kritik laut und die Vermutung geäußert, es handle sich bei der Reliquie um eine Erfindung des Trierer Klerus.94 Auch darf die hohe Zahl der Besucher nicht darüber hinwegtäuschen, wie prekär die Einführung einer derart ambitiösen Heiltumsweisung war. Historiographisch sprechen die Anstrengungen, die authentische Geschichte des Heiltums zu rekonstruieren, zumindest indirekt von der Sorge, dass dies nicht möglich sein könnte. Sie versuchen den Wald der historischen Zeugnisse zu lichten und dabei auch einige gefährlich wuchernde Gewächse auszureißen. Der Arzt und Humanist Johann Adelphus Muling wandte sich 1513 in seiner Declaration vnnd erclerung der warheit des Rocks Jesu christi gegen ein fabulöses gedicht mit Rymen harfr kommen von knig Orendel, dessen Figuren weder gelebt noch regiert hätten vnd in keiner hystorien funden werden, und kündigte eine Widerlegung an.95 Der Universitätsprofessor und Domprediger Johannes Enen polemisierte 1514 in seiner Medulla Gestorum Treverensium gegen ein tractatel oder bu˚chelin von einem k =nig genant Arendel welches doch gar falsch erdicht vnd (alls ich glaub) vmb eigents nutz wille angefangen sey So es gar in keinem ber Fmbten angenommenden historiographen schrifften fonden wrt. 96 Ausgeschlossen wird, was ,gesicherter‘ Historiographie entgegensteht, und erfasst dabei durchaus treffend der ,eigenwillige‘ Charakter der Geschichten vom Grauen Rock, bewegen sich diese doch so zwischen den Diskursen, dass ihre Zugehörigkeit schillert. Im Hinblick auf Traditionen profaner Epik, die allenthalben als Bezugspunkt aufscheinen, nehmen sie Überhöhungen vor, die sie zu Texten besonderer Geltung machen, umgekehrt aber nicht dazu führen, dass sie sich dem Heiltumsdiskurs tatsächlich einschreiben könnten. Sie bleiben am Rande, weil sie ganz offensichtlich nicht nur das Abenteuerliche 94 Schmid, „Wallfahrtslandschaft“ (Anm. 29), S. 75. 95 Plate, „Orendel“ (Anm. 54), S. 195. 96 Ebd., S. 201. Zu Enens Medulla Schmid, „Wallfahrtslandschaft“ (Anm. 29), S. 55 – 103.
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heilsgeschichtlich durchdringen, sondern auch die Heilsgeschichte abenteuerlich kolorieren und dadurch zu Kippfiguren werden. Sie bleiben singulär, weil sie sowohl in ihrer Klitterung profaner Elemente über die zeitgenössische Epik wie in ihrer Ausgestaltung sakraler Dimensionen über die zeitgenössische Herrenreliquien-Legendarik (z. B. Veronikalegende) hinausgehen. Sie bleiben suspekt, weil sie das Imaginäre in genau jenem Ausmaß zu nutzen wissen, der sie zu nächsten und gefährlichsten Fremden macht – ist doch, strukturell gesehen, das historiographische Vorgehen vom poetischen wenig verschieden. Muling konstruiert die selbst abenteuerliche und nicht widerspruchsfreie Geschichte der Wanderungsbewegung des Rockes von Jerusalem nach Trier über Pilatus, Konstantin, Athanasius, Pelagius II., Mauritius und einen bischoff zu Trier – die Differenz zum Grauen Rock liegt vor allem in der Historizität der Protagonisten.97 Enen hält dem die kirchliche Sicht entgegen: Konzentriert auf die Heiltumsweisung, folgt er der Tradition, dergemäß die Reliquie durch den von Helena gesandten Bischof Agritius nach Trier gebracht worden sei, ohne neue historiographische Evidenz beizubringen. Sein wichtigster Punkt ist: Diszer rock betzeugt sich selbs – durch seine geheimnisvolle, nicht recht identifizierbare Materialität.98 Aufgegriffen ist damit das Verständnis von Christus als primärem und erhabenstem Zeugen des christlichen Heilswerks und übertragen auf die Metonymie des Erlösers – auf der Basis eines wiederum zirkulären Verhältnisses von Reliquie und Text, bei dem jeweils das eine zur Autorisierung des anderen dient. Das zeigt auch: Weisungs- und Wallfahrtspraxis, laikal-poetisches, kirchlich-affirmatives und historiographisch-kritisches Schrifttum – sie alle operieren mit ,Hybriden des Heils‘. Sie verwenden heterogene Argumentationsmuster und tautologische Geltungsstrategien, die immer voraussetzen müssen, was sie beweisen oder auszustellen wollen. Sie spielen mit vielschichtigen Austauschbeziehungen zwischen textuellen, ikonischen und dinglich-relikthaften Elementen, die die ersteren als ,Aufpfropfungen‘ der letzteren sowohl der Darstellung wie der Übertragung des Heils dienstbar machen. Die Unterschiede zeigen sich vor allem an der Art und der Auffälligkeit der kombinatorischen Akte. 97 Plate, „Orendel“ (Anm. 54), S. 198 – 200. 98 Ebd., S. 204. Zur tatsächlichen materiellen Zusammensetzung des Rocks Mechthild Flury-Lemberg, „Das Reliquiar für die Reliquie vom Heiligen Rock Christi“, in: Aretz [u.a.] (Hrsg.), Der Heilige Rock (Anm. 33), S. 691 – 708.
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Während die pragmatisch orientierten, das heißt auf einen gegebenen Situationsrahmen bezogenen Texte die semantischen Überschüsse zu drosseln versuchen, zeichnen sich die ,entpragmatisierten‘ Texte dadurch aus, dass in ihnen der Rahmen an ,Eigensinn‘ gewinnt. Durch die Vermehrung der Referenzen entstehen Kippfiguren zwischen heilsgeschichtlicher Potenz und literarischer Form. Durch die Übertragung der metonymischen Dimension der Reliquien auf die metonymischen Operationen des Textes erwächst diesem die Möglichkeit einer Auratisierung und einer Präsenzstiftung eigenen Charakters. Die eingangs angesprochene heilsgeschichtliche Zeichenintensität erfährt, wie es scheint, Steigerungen gerade dort, wo das prekäre und das chancenreiche Moment der Distanz zum Kult im Wechselspiel entfaltet werden. Zumindest dürfte es kein Zufall sein, dass die textuellen ,Exzesse‘ des Grauen Rocks sich gerade an jenes Objekt anlagerten, dessen Verborgenheit zunächst die Imagination nährte und dessen Wiedererscheinen dann nicht nur die Sehnsucht nach Heilsweisung befriedigte, sondern auch die Probleme der ihr zugrundeliegenden Heilsökonomie sichtbar machten. Die kultischen ,Exzesse‘ wurden schnell in geordnete Bahnen gelenkt, reformatischer Kritik unterzogen oder schlicht banalisiert: Yetzund ist Christy rock alt worden, man muß in flicken, das kostet auch vil tausent guldin. 99 Wo das Epos vorführte, dass die Textilie monetäre Äquivalenzen auf eine heilsgeschichtliche Gabenlogik hin transzendiert, holt die Zeitgeschichte sie wieder ins System des Berechenbaren zurück. Schon 1512 aber erscheint die hybride Engführung von Reliquie und Text vor einem Horizont, der ihre weitere Wirkung beschränken wird. Sie lässt genau von diesem Moment her aber auch die Bedingungen erkennen, unter denen die Verbindung zwischen den Übertragungsmedien des Heils und den Kontrollmechanismen der Heilsübertragung in einer Kultur, die Transzendenz und Immanenz verschränkte, über Jahrhunderte hin funktionierte.
99 So der Prediger Heinrich von Kettelbach aus Ulm in einer Flugschrift von 1522; Seibrich, „Trierer Heiltumsfahrt“ (Anm. 28), S. 114.
Der Codex als Text Über geistlich-weltliche Überlieferungssymbiosen um 1200 Stephan Mller Als Friedrich Heinrich von der Hagen 1816 die Stiftsbibliothek in St. Gallen besuchte, fielen ihm zwei Texte in die Hände, die mindestens bis zum Jahr 1769 den Schlussteil des heutigen Sangaller Codex 857 gebildet hatten. Wie nach detaillierter Detektivarbeit in den letzten 20 Jahren plausibel gemacht wurde, hatte der Sangaller Fürstabt Beda die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen (Fragment L) und Unser vrouwen hinvart Konrads von Heimesfurt (Fragment E) aus dem Codex entfernen lassen.1 Grund war vermutlich der apokryphe, rufschädigend bibelferne Inhalt dieser Texte, der den Abt dazu veranlasste, die geistlichen Versepen von Wolframs Parzival, vom Nibelungenlied, Strickers Karl und Wolframs Willehalm zu trennen, mit denen sie wohl schon früh eine Bindeeinheit gebildet hatten.2 Solcherart entwurzelt, waren die
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Ausführlich zu diesem Fall (mit aller Literatur): Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Abbildung des ,Willehalm‘-Teils von Codex St. Gallen 857 mit einem Beitrag zu neueren Forschungen zum Sangallensis und zum Verkaufskatalog von 1767, hrsg. von Bernd Schirok, Göppingen 2000 (Litterae 119), sowie von Joachim Heinzle, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 130/2001, S. 358 – 362. Schiroks letztes Argument gegen die Vermutungen von Klaus Klein und auch Nigel F. Palmer, dass der Codex im Mittelalter noch keine Bindeeinheit darstellte – was freilich die Beschreibung eines Programms der Handschrift zumindest bezüglich der Textreihenfolge problematisch machen würde – waren alte Heftlöcher, die für eine Bindung „wahrscheinlich bereits im 13. Jahrhundert“ sprechen; Schirok, Willehalm (Anm. 1), S. XV. Eine Restunsicherheit wird wohl bleiben. Doch auch wenn die Teile nicht schon früh verbunden waren, Schreiberhände, Format, Aufmachung und Inhalt verweisen auf einen gemeinsamen Entstehungs- und Aufbewahrungsort. Es wäre zu fragen, ob analog zum hier vorgestellten Konzept, das den Codex als Sinneinheit versteht, in bestimmten Fällen nicht auch Buchbestände, Sammlungen und ganze Bibliotheken als eine solche Sinneinheit zu verstehen sein könnten.
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Stephan Müller
Texte ein leichtes Opfer für von der Hagen, der in dem Ruf stand, gerne einmal Handschriften zu entfremden.3 Nachdem inzwischen die Texte wieder als Einheit erkannt und aufgefunden wurden, hat man sich daran gemacht, nach einem Programm der Handschrift zu fragen, das das Nebeneinander von klassischweltlicher Epik und geistlicher Kleinepik erklären könnte. Hans Fromm plädierte dabei für ein heilsgeschichtlich dimensioniertes Konzept, in das einzig das Nibelungenlied nicht so recht passen wollte.4 Bernd Schirok dagegen sah auch dieses in Fromms Konzept aufgehen, wenn man nur Nibelungenlied und Klage – wie jüngst geradezu Mode geworden – als konzeptionelle Einheit verstehe.5 Fromm wies überdies auf spätere Vergleichsbeispiele weltlich-geistlicher Überlieferungseinheiten hin, so dass der Sangaller Codex kein singulärer Fall ist, sondern häufiger, „als man nach der anachronistischen Gliederung unserer Literaturgeschichten glauben sollte“.6 Aus dieser Geschichte lernen wir vielerlei: Zunächst einmal bezeugt der Sangallensis 857 die Existenz unseres Untersuchungsgegenstandes, nämlich weltlich-geistlicher Überlieferungssymbiosen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die man – und auch das zeigt das Beispiel deutlich – retrospektiv als ein explizites Nebeneinander von ,weltlich‘ und ,geistlich‘ empfunden hat. Fürstabt Beda war offensichtlich gegenüber den laikal-höfischen Texten wesentlich geduldiger als gegenüber den geistlichen, die er wegen ihrer fehlenden Bibeltreue entfernen ließ. Dass die Trennung von ,weltlich‘ und ,geistlich‘ sich in diesem Fall erst retrospektiv ergab, zeigt die von Fromm und Schirok beschriebene programmatische Geschlossenheit des Codex; sie spricht gegen eine 3
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Zu von der Hagen siehe Volker Schupp, „Joseph von Laßberg als Handschriftensammler“, in: Felix Heinzer (Hrsg.), Bewahrtes Kulturerbe. ,Unberechenbare Zinsen‘. Katalog zur Ausstellung der vom Land Baden-Wrttemberg erworbenen Handschriften der Frstlich Frstenbergischen Hofbibliothek, Stuttgart 21994, S. 14 – 33. Hans Fromm, „Überlegungen zum Programm des St. Galler Codex 857“, in: Der Ginkgo Baum, 13/1995, S. 181 – 193. Bernd Schirok, „Der Codex Sangallensis 857. Überlegungen und Beobachtungen zur Frage des Sammelprogramms und der Textabfolge“, in: André Schnyder [u.a.] (Hrsg.), Ist mir getroumet mn leben? Vom Trumen und vom Anderssein. Festschrift fr Karl-Ernst Geith, Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 632), S. 111 – 126. Die dort entwickelte These, die Texte seien gegenchronologisch angeordnet, bedarf wohl noch einer weiteren Plausibilisierung. Fromm, „Überlegungen“ (Anm. 4), S. 190.
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konzeptionelle Zweiheit schon für die Zeit seiner Herstellung, ein Befund, der ja damit korrespondiert, dass man auch abseits der Überlieferungsgeschichte gezeigt hat, wie ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ in den volkssprachigen Erzählentwürfen um 1200 ineinander greifen können.7 Für die folgende Argumentation ist darüber hinaus entscheidend, dass Fromm und Schirok mit einer Kohärenzerwartung an den Überlieferungsträger herangehen, die oberhalb der Ebene des Einzeltextes liegt. Der Codex wird als Sinneinheit verstanden und steht damit neben der hermeneutischen Standardgröße, neben dem Text.8 Diese Aspekte will ich aufgreifen und anhand älterer Überlieferungsträger weiterentwickeln, aber auch problematisieren. Es geht mir dabei darum zu zeigen, wie uns jene Literatur, die wir ,weltlich‘ zu nennen pflegen, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der etablierten Schreibkultur begegnet, denn überspitzt formuliert ließe sich vermuten: Die neue Literatur der laikalen Adelskultur einerseits war, anders als vorgängige mündliche Traditionen, untrennbar mit dem Medium der Schrift verknüpft, so sehr man auch ihren Charakter als Vortragstexte betonte und betont.9 Das Medium der Schrift andererseits lag in den Händen der klerikalen Institutionen. Der Blick auf die frühesten Überlieferungsträger deutschsprachiger höfischer Texte richtet sich also auf einen Raum der möglichen Begegnung zwischen laikaler Textproduktion und klerikaler Schrifttradition und verspricht deshalb für die Beschreibung des Verhältnisses von ,weltlicher‘ und ,geistlicher‘ 7
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Vgl. dazu Nikolaus Henkel, „Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur. Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen, Konrad von Heimesfurt“, in: Timothy R. Jackson/Nigel F. Palmer/Almut Suerbaum (Hrsg.), Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium, Roscrea 1994, Tübingen 1996, S. 1 – 21. Ein weiteres Beispiel, geradezu das Musterbeispiel für ein kohärentes Sammlungskonzept aus der Zeit um 1200, ist die Vorauer Sammelhandschrift (vgl. auch Anm. 14), für die Hugo Kuhn das Programm einer „histoire moralisée“ beschrieben hat. Hugo Kuhn, „Frühmittelhochdeutsche Literatur“, in: ders., Text und Theorie, Stuttgart 1969, S. 141 – 157, hier S. 144. Für die materielle Evidenz auch von Lektürepraktiken, die im Zuge einer gewissen – und grundsätzlich ja auch berechtigten – Performanzbegeisterung aus dem Blick gerieten, vgl. Nigel F. Palmer, „Manuscripts for Reading: The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse“, in: Mark Chinca/Christopher Young (Hrsg.), Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 67 – 102.
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Kultur aufschlussreich zu sein. In diesem Sinne sollen hier zunächst zwei Codices untersucht werden, in denen ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ in der Zeit um 1200 nebeneinander stehen. Es handelt sich dabei um Fragmente zweier Sammelhandschriften, die heute in Trier und Krakau liegen: Die Trierer Fragmente (Trier, Stadtbibliothek, Mappe X, Fragm. 13 und 14) datiert Karin Schneider10 auf die Zeit um 1200 oder eventuell schon an den Anfang des 13. Jahrhunderts. In den Resten dieser Sammelhandschrift sind der Trierer Floyris, der Trierer Aegidius und der Trierer Silvester vereint.11 Dabei steht der Floyris-Roman auf 2 Querstreifen von 2 Doppelblättern (Fragment 13) und die Legenden direkt aufeinander folgend auf 4 Doppelblättern (Fragment 14) mit der Abmessung von ca. 210x160 mm. Die Blätter sind mit nicht abgesetzten Versen zweispaltig mit 48 bis 49 Zeilen pro Spalte beschrieben. Die codikologisch zusammengehörenden Teile12 repräsentieren verschiedene Schreibsprachen: Die Legenden weisen einen mitteldeutschen, eventuell westthüringischen Sprachstand auf, während der Floyris-Roman niederrheinisch mit oberdeutschem Einschlag ist.13 Würde man die Frage nach der Herkunft stellen, so ergäbe sich also sicher keine einheitliche ,Wurzel‘ der Texte, so wie ja oft in Sammelhandschriften verschiedene Sprachstände auf uneinheitliche Herkunft oder voraus liegende Sammlungen verweisen.14 Für die vorliegende Argumentation geht es jedoch nicht um die Herkunft, sondern allein um den Befund, dass um 1200 diese Texte in einem Codex zusammengetragen wurden. Das zweite Beispiel sind ehemals Berliner Fragmente (Krakau, Bibliotkeka Jagiellon´ska, Berol. mgq 1418), die man auf den Anfang des
10 Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Teil I: Vom spten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 119. 11 Erstabdrucke: Elias Steinmeyer/Max Roediger, „Trierer Bruchstücke. I Floyris. II Aegidius“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 21/ 1877, S. 307 – 412; Max Roediger, „Trierer Bruchstücke. III Silvester“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 22/1878, S. 145 – 209. 12 Palmer, „Manuscripts for Reading“ (Anm. 9), S. 98 (Nr. 64). 13 Schneider, Gotische Schriften (Anm. 10), S. 118 f. 14 Als prominentes Beispiel, das etwa zeitgleich zu den Trierer Fragmenten entstand, sei hier die Vorauer Sammelhandschrift genannt. Vgl. Kurt Gärtner, „Vorauer Handschrift 276“, in: Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin – New York 1999, Sp. 516 – 521.
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13. Jahrhunderts datiert.15 Es handelt sich um zwei Doppelblätter, wohl die äußeren Blätter einer Lage. Den Anfang der Lage bildet Eilharts Tristrant (1r–2v), das Ende der Lage ein Tagzeitengedicht (3ra–3rb), an das unmittelbar die Tobiaslegende des Pfaffen Lambrecht anschließt. An den unteren Rändern von Blatt 1r, 3r und 3v finden sich stark verderbte Sangsprüche, die in der Schriftgestalt nicht sehr von den Haupttexten abweichen und kaum später als diese eingetragen wurden. Mit ca. 225x160 mm ist die Handschrift von vergleichbarer Größe wie die Trierer. Die Texte sind hier allerdings einspaltig ohne Versabsetzung geschrieben und mit 38 bis 39 Zeilen großzügiger auf der Seite arrangiert. Zweispaltig ist allein das Tagzeitengedicht, was auf eine zweite Vorlage hinweist, so wie auch der auf die Ränder aller Texte verteilte Nachtrag der Sangsprüche für die Verwendung nicht nur einer Vorlage spricht. Zudem sind auch in den Krakauer Fragmenten die Texte dialektalisch uneinheitlich16, so dass es wieder nicht um die Ermittlung eines einheitlichen Ursprungs gehen kann, sondern nur um das Faktum der Gleichzeitigkeit und des Nebeneinanders des scheinbar so Ungleichen. Von ihren Entstehungszusammenhängen und den Orten ihrer anzunehmenden primären Rezeption – so unsicher man da im Detail auch sein mag – verweisen die Texte in verschiedene Sphären: in höfischlaikale (Tristrant, Floyris, Sangsprüche) und in monastisch-klerikale (Tagzeitengedicht, Legenden), denn bei aller Problematisierung einer Dichotomie ,weltlich‘-,geistlich‘ wird man die grundsätzliche Existenz verschiedener Lebensbereiche deutschsprachiger Texte des Hochmittelalters nicht völlig in Abrede stellen können.17 Andererseits ist aber auch festzustellen, dass die Texte aus den beiden Sphären gerade in der frühen Überlieferung häufig vereint sind. Die Trierer und Krakauer Fragmente stehen für ein solches Nebeneinander der Traditionen, stehen für ein Zusammenrücken des Höfischen und des Monastischen in einem Überlieferungsträger und sind dabei, wie noch zu zeigen sein 15 Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur berlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen [u.a.] 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 23. 16 Hermann Degering, „Neue Funde aus dem zwölften Jahrhundert“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 41/1916, S. 513 – 553, hier S. 546. 17 Burghart Wachinger, „Einleitung“, in: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 1 – 15.
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wird, kein Einzelfall im Kontext der frühesten erhaltenen schriftlichen Zeugen der höfischen Erzählliteratur.18 Die Frage, die ich an diesen Befund anschließen will, ist nun, wie man dieses Nebeneinander als literarhistorischen Sachverhalt beschreiben kann. Eine Beschreibungsmöglichkeit böte – analog zum Sangallensis 857 – die Rekonstruktion eines gemeinsamen konzeptionellen Rahmens, eines Sammlungsprogramms. Hierfür scheinen sich jedoch keine Anknüpfungspunkte zu ergeben. Sicher, auf einen gemeinsamen heilsgeschichtlichen Fluchtpunkt hin lassen sich wohl alle Erzählungen des Mittelalters lesen – und sei es, dass ein solcher durch seine Negation affirmiert wird. Das scheint mir allerdings doch ein zu vages Konzept zu sein und mit den erwähnten, konzeptionell elaborierten Programmen des Sangallensis 85719 oder der Vorauer Sammelhandschrift 20 nicht vergleichbar. Sucht man weiter, könnte man am ehesten der Geschichte von den am gleichen Tag geborenen Liebenden Floire und Blancheflor, die ihre Liebe trotz verschiedener Religionen verwirklichen, etwas ,Legendarisches‘ abgewinnen; aber von den dominanten Merkmalen der Legende als Lebensbeschreibung eines Heiligen, wie sie in gidius und Sylvester in derselben Handschrift entfaltet ist, ist dann doch nichts zu greifen. Noch unwahrscheinlicher ist eine konzeptionelle Verbindung zwischen der Tristrant-Minne und der Legende des alttestamentarischen Tobias, die der Pfaffe Lambrecht ohne Zusätze ganz aus biblischen Quellen kompilierte.21 Gänzlich diametral verhalten sich schließlich die Spruchpassagen der Krakauer Handschrift: Die Sangspruch-Fragmente sind von deutlich weltlicher Natur, wenn von vru˚tschaft (1,1) 22 die Rede ist, und Mahnungen, dass es nicht darauf ankomme, dass einer wol gecleidet es (3,2), wären für einen monastischen Kontext redundant.23 Das Tagzeitengedicht dagegen ist als Horendichtung 18 Vgl. dazu Ernst Hellgardt, „Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Abriß“, in: Volker Honemann/Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 35 – 81. 19 Vgl. Anm. 4 und 5. 20 Vgl. Anm. 8. 21 Werner Schröder, „Der Pfaffe Lambrecht“, in: Verfasserlexikon, Bd. 5, Berlin – New York 1985, Sp. 494 – 510. 22 Die Zählung nach der Ausgabe von Degering, „Neue Funde“ (Anm. 16). 23 Ich sehe dabei von jener späteren Tradition ab, die die Frage der rechten Kleidung im Kloster auch in der Volkssprache zum Thema macht, denn die Sangspruch-Fragmente stehen mit dieser in keiner erkennbaren Beziehung.
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ganz im Rhythmus monastischen Lebens verankert und entfaltet nur in dieser Situation seinen Sinn – in einer Situation also, in der die Beschäftigung mit der Tristrant-Minne nun alles andere als nahe gelegen haben dürfte. Wir haben es also nicht mit einem konzeptionellen Ineinander zu tun. Mit was aber dann? Mein Angebot einer Antwort, das ich ganz grundsätzlich auf das Verhältnis von ,Weltlichem‘ und ,Geistlichem‘ in der Kultur des Hochmittelalters beziehen will, lautet: mit einem divergenten Nebeneinander; und ich will vorschlagen, gerade in der Divergenz der Texte das Programmatische der Handschrift zu verstehen. Um dies näher zu beschreiben, gehe ich von folgender Prämisse aus: Wenn in der Literatursituation des Hochmittelalters ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ nebeneinander stehen, so ist dieses Nebeneinander ein spannungsreiches. Auch wenn die Dichotomie in der Forschung sicherlich zu stark gemacht wurde, ist festzuhalten, dass es zumindest in einem institutionellen Sinne klare Differenzen zwischen ,weltlich‘ und ,geistlich‘ gibt, die man nicht vorschnell aus der Welt schaffen sollte. In den folgenden Überlegungen soll es deshalb zunächst um die Frage gehen, wie ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ in einem spezifischen Spannungsverhältnis zueinander stehen; ja, mehr noch, ob ein solches Spannungsverhältnis für die volkssprachige Literatur vor allem des 12. und 13. Jahrhunderts geradezu als konstitutiv angesehen werden könnte. Ansatzpunkt ist dabei die Überlegung, dass das, was aus diesen verschiedenen institutionellen Sphären stammt, nicht in unterschiedlichen Sphären überliefert oder in strikt voneinander trennbaren textuellen Entwürfen behandelt wird, so dass in den bislang besprochenen Beispielen die Grenzen zwischen weltlich und geistlich überschritten wurden. Vor dem Hintergrund solcher Fälle will ich der Frage nachgehen, wie man auf solche Überschreitungen reagierte. Man muss dabei auf zwei Ebenen ansetzen: auf jener der Texte und – damit greife ich den vom Sangallensis 857 nahe gelegten Gedanken vom Codex als Sinneinheit auf – auf jener der Überlieferung. Ich beschränke meine Beobachtungen, wie schon bei den ersten Beispielen, weiterhin auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts bis um die Zeit kurz nach 1200, also auf jene Phase der deutschen Literaturgeschichte, für die man die Etablierung der höfischen Literatur einer neuen Adelskultur ansetzt.24 24 Für die Folgezeit – spätestens ab der Mitte des 13. Jahrhunderts –, für die man eine etablierte Schreibkultur in der Volkssprache auch im laikalen Bereich
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Zuerst zu den Texten dieser Zeit: In seinem allbekannten ErecAufsatz – und zwar im weniger beachteten Schlussteil, in dem der berüchtigte „doppelte Cursus“ bereits abgehandelt ist – bringt Hugo Kuhn den Zusammenhang von ,weltlicher‘ und ,geistlicher‘ Sphäre auf eine brillante Formel für das Verhältnis von ,Weltdienst‘ und ,Gottesdienst‘ in der neuen höfischen Kultur und ihren Erzähltexten: „Nicht der Einbruch einer neuen ,Weltlichkeit‘ und ,Diesseitigkeit‘ einer ,höfischen Klassik‘, aber auch nicht eine direkte Vereinigung von Weltdienst und Gottesdienst ist der Grund des neuen höfischen Lebensideals, das sich hier auftut – sondern eine Vereinigung beider, als getrennter Lebensgebiete, durch die gleiche innere Struktur, die hier wie dort waltet: eine analogia entis im wahrsten Sinne des Wortes“25 – eine Vereinigung also, die Trennung bleibt. Es ist aber doch eine Vereinigung auf struktureller Ebene, die Kuhn in seiner Analyse mit der Beschreibung von Doppelweg und doppeltem Cursus aufgedeckt hatte. Ganz abgesehen davon, dass der Struktur damit eine Entität zuerkannt wird, die man ihr heutzutage kaum mehr zusprechen wird, beschreibt Kuhns Schluss doch sehr subtil unser Problem: Das Nebeneinander von Weltund Gottesdienst als ein Spannungsverhältnis, an dem sich die frühe höfische Kultur abzuarbeiten hatte. Den textuellen Entwürfen der Artusepik gelingt es, diese Spannung abzubauen. Ihnen gelingt eine Vermittlung, ein konzeptionelles Zusammenwirken von Weltdienst und Gottesdienst, das sich als Programm der neuen höfischen Kultur lesen lässt. Man könnte die Geschichte der höfischen Literatur geradezu als Geschichte dieses Vermittlungsprozesses verstehen und seltsam hybride Formen, wie etwa die ,höfische Legende‘ wären deutliche literarische Reflexe dieser Bemühungen. Aber schon die Hybridität der ,höfischen Legende‘ zeigt, dass das von Kuhn beschriebene Modell der „Klassiker“ nicht nur ein Modell der Vermittlung sein muss. Ohne hier vorschnell eine Entwicklungslogik zu behaupten, lassen sich doch andere Formen der frühen höfischen Literatur nennen, in denen das Spannungsverhältnis zwischen ,weltlich‘ und ,geistlich‘ deutlich wird. Lambrechts Alexander – auf den später noch näher einzugehen sein wird – bezeichnet Thomas Cramer etwa als „unbewältigte Aufpfropfung einer ansetzen kann, wäre das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Text- und Überlieferungskultur wohl anders zu beschreiben. 25 Hugo Kuhn, „Erec“ [zuerst 1948], in: ders., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 133 – 150, hier S. 150.
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geistlichen Thematik auf ein Abenteuergeschehen“.26 Wie gesagt, es scheint mir fraglich zu sein, ob hier etwas noch nicht ,bewältigt‘ wird, für das bei Chretien dann eine Lösung gefunden wird, deutlich ist aber doch, dass dieselbe Spannung den textuellen Entwurf prägt. Wie beim Vergleich von Sangallensis 857 mit den Trierer und Krakauer Fragmenten haben wir es also einmal mit einem konzeptionellem Ineinander in der Artusepik zu tun und einmal mit einem spannungsreichen Nebeneinander bei Lambrecht. Wir haben also zwei Modalitäten vor uns mit dieser Spannung umzugehen, die eine steht uns näher, nämlich die konzeptionelle Schlüssigkeit der klassischen Artusepen, die andere dagegen ist uns (zumindest literarästhetisch) suspekt, die „unbewältigte Aufpfropfung“ im Alexander. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass sehr viele Texte gerade der frühhöfischen Zeit im 12. Jahrhundert von einem solch suspekten Nebeneinander geprägt sind. Ich nenne exemplarisch nur zwei prominente Fälle: Der Kçnig Rother endet mit dem moniage des Protagonisten.27 Der Gang ins Kloster harmonisiert den Konflikt zwischen der Dimension des kriegerischen Heldentums und der heilsgeschichtlichen Fundierung feudaler Herrschaft, zwischen Heros und Herrscherheil.28 Die Geschichte, die von einer erfolgreichen Brautwerbung erzählt, die explizit der genealogischen Kontinuierung der Herrschaft Rothers dient, der droht ohne Erbe zu sterben29, die Geschichte lässt einen Sohn entstehen, der kaum zufällig zum Ahnherrn Karls des Großen wird. Sie entfernt aber im Gegenzug dessen Eltern aus der höfischen Welt. Die Ehe, die ganz der Herrschaftssicherung diente, umweht mit dem monastischen Lebensabend der Partner der Hauch des Transzendenten. 26 Thomas Cramer, „Der deutsche höfische Roman und seine Vorläufer“, in: Henning Krauss (Hrsg.), Europisches Hochmittelalter, Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), S. 323 – 356, hier S. 324. 27 Corinna Biesterfeldt, Moniage – Der Rckzug aus der Welt als Erzhlschluß. Untersuchungen zu ,Kaiserchronik‘, ,Kçnig Rother‘, ,Orendel‘, ,Barlaam und Josaphat‘, ,Prosa-Lancelot‘, Stuttgart 2004. 28 Systematisch beschäftigt sich mit solchen Fällen seit dem 1.7.2005 das von JanDirk Müller und Peter Strohschneider betreute DFG-Projekt ,Helden und Heilige. Aporien und Paradoxien kultureller Integrationsfiguren in der Adelsliteratur von 1150 – 1300‘ im Rahmen des Schwerpunktprogramms der DFG ,Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter‘. 29 Diese Gefahr wird explizit im Text erwähnt: Kçnig Rother, hrsg. von Theodor Frings und Joachim Kuhnt, Bonn [u.a.] 1922 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 3), V. 29.
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Welt- und Gottesdienst stehen nebeneinander,30 beziehungsweise folgen sukzessive aufeinander. Noch deutlicher ist das Verhältnis im erst spät überlieferten Kçnig Oswald: Die Brautwerbung des Königs wird ganz zum Missionsereignis; ein Aspekt der bei der Heirat einer Heidenprinzessin immer schon einen Nebeneffekt christlicher Herrschaftsausdehnung darstellte31, wird zum Hauptpunkt, der den König zum Heiligen macht. In einer solchen Herrscherehe, die nicht zum Zwecke der genealogischen Machtsicherung dient, wird die Spannung zwischen ,weltlicher‘ und ,geistlicher‘ Bedeutungsdimension überdeutlich und ist im Text nur im Modus des Komischen darstellbar: Oswald führt eine Josefsehe, deren Gelingen dadurch abgesichert wird, dass neben dem ehelichen Bett ein Zuber mit kaltem Wasser steht, in den die Partner im unerwünschten Fall libidinöser Gereiztheit springen können.32 Was in der Artusepik konzeptionell ineinander geführt wird, kann also auch divergierend aufeinander treffen und in Unstimmigkeiten und Brüchigkeiten der Erzählführung einen Ausdruck finden. Blicken wir aus diesem Winkel wieder auf die frühe Überlieferung der deutschen Texte. Hier lässt sich zunächst einmal festhalten, dass man die neuen Texte nicht in prachtvollen Handschriften findet; eine aufwendige Überlieferungskultur bleibt anscheinend zunächst noch – und natürlich mit Ausnahmen – der alten gewohnten Texttradition des ,Geistlichen‘ vorbehalten, ein Verhältnis, das sich grundsätzlich erst gegen Mitte des 13. Jahrhunderts ändert.33 An vielen Beispielen ließe 30 Auch sonst bestimmt den Kçnig Rother eine evidente Brüchigkeit, die aber geradezu als konstitutiv für die Aporien frühen höfischen Erzählens zu verstehen ist; so Stefan Fuchs-Jolie, „Gewalt – Text – Ritual. Performativität und Literarizität im ,König Rother‘“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 127/2005, S. 183 – 207, bes. S. 203 – 206. 31 Zum Schema der gefährlichen Brautwerbung vgl. Christian Schmid-Cadalbert, Der ,Ortnit‘ AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verstndnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern [u.a.] 1985 (Bibliotheca Germanica 28), S. 25 – 100. 32 Ausführlich dazu Stephan Müller, „Oswalds Rabe. Zur institutionellen Geschichte eines Heiligenattributs und Herrschaftszeichens“, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionalitt und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln [u.a.] 2001, S. 451 – 475. 33 Vgl. dazu Christa Bertelsmeier-Kierst, „Aufbruch in die Schriftlichkeit. Zur volkssprachlichen Überlieferung im 12. Jahrhundert“, in: Wolfram-Studien, 16/ 2000, S. 157 – 174; dies./Jürgen Wolf, „,Man schreibt Deutsch‘. Volkssprachliche Schriftlichkeit im 13. Jahrhundert. Erträge des ,Marburger Repertoriums
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sich zeigen, dass aufwendige Handschriften in deutscher Sprache eher auf jene Sphäre verweisen, die wir ,geistlich‘ nennen. Ich demonstriere das hier nur an zwei Fällen aus dem Anfang der Epenüberlieferung in deutscher Sprache: Das legendenhafte Rolandslied 34, in dem ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ vom Text her gesehen sich nahe stehen, ist bis um 1200 in drei Handschriften überliefert, die sämtlich bebildert oder zur Bebilderung vorgesehen sind (Hs. A, P und S).35 Danach ist es in weiteren vier Fragmenten aus dem frühen 13. Jahrhundert überliefert, die eventuell auch zur Bebilderung vorgesehen waren (Hs. T, W, E und M).36 Die kalligraphische Qualität und die Durchführung von Bebilderung und Buchschmuck nehmen dabei chronologisch ab, bis die Überlieferung ganz ausläuft, was sicher auch damit zusammenhängt, dass nun Strickers Karl den Platz von Konrads Text einnimmt. Ein gegenläufiges Bild zeigt die Überlieferung des Kçnig Rother, die ebenfalls wohl noch im 12. Jahrhundert, beziehungsweise um 1200 einsetzt. Am Anfang stehen hier das Münchener Fragment (cgm 5249/1) 37 und die – einzige (fast) vollständige – Heidelberger Handschrift (cpg 390) aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts.38 Beide sind einspaltige (Vor-)Lesehandschriften mit unabgesetzten Versen. Erst in der Folgeüberlieferung des 13. und 14. Jahrhunderts begegnet der Text dann in kalligraphisch aufwendigeren und mit Buchschmuck ausgestalteten Codices: Am Ende des 13. Jahrhunderts in den Ermlitzer ( jetzt Münchner cgm
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deutschsprachiger Handschriften des 13. Jahrhunderts‘“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 12/2000, S. 21 – 34. Zur Rolandslied-Überlieferung siehe Barbara Gutfleisch-Ziche, „Zur Überlieferung des deutschen ,Rolandsliedes‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 125/1996, S. 142 – 186. Hs. A: Straßburg (1870 verbrannt), Ende des 12. Jahrhunderts, bebildert (ebd., S. 148); Hs. P: Heidelberg, Universitätsbibl., cpg 112, um 1200, bebildert (Schneider, Gotische Schriften [Anm. 10], S. 80); Hs. S: Schwerin, Landesbibl., ohne Sign., Ende des 12. Jahrhunderts, zur Bebilderung vorgesehen (Gutfleisch-Ziche, Rolandslied [Anm. 34], S. 184). Hs. T: Sondershausen, Schlossmuseum, Germ. lit. 1 (olim Hs.-Br. 2), Anfang des 13. Jahrhunderts (ebd.); Hs. W: Privatbesitz Eduard Kausler, Stuttgart (verschollen), 1. Viertel 13. Jahrhundert (ebd., S. 173 f.); Hs. E: Erfurt, Universitätsbibl., Cod. Ampl. 48 65, Einlage, nicht vor 1220 (ebd., S. 178); Hs. M: Marburg, Staatsarchiv, Best. 340 von Dörnberg, H 1 Nr. 2, 2. Viertel 13. Jahrhundert (ebd., S. 182). Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek Mnchen. Die mittelalterlichen Fragmente cgm 5249 – 5250, Wiesbaden 2005 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V, 8), S. 19. Schneider, Gotische Schriften (Anm. 10), S. 113.
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8797) und Nürnberger (Germanische Nationalmuseum, Hs. 27744) Fragmenten39, in abgesetzten Versen, zweispaltig und mit zahlreichen roten Zierinitialen ausgestattet, und schließlich im 14. Jahrhundert in einem Berliner Fragment einer „Prachthandschrift“40 (mgf 923 Nr. 20), in abgesetzten Versen zweispaltig geschrieben, mit ausgestellten kleinen Initialen vor jedem zweiten Vers versehen und mit weiteren roten und blauen Großinitialen sowie roten und blauen Paragraphenzeichen an den Versenden ausgezeichnet. Das können nur zwei Beispiele für eine allgemeine Tendenz sein, die zeigt, dass der Weg der neuen laikalen Textkultur erst langsam an die Standards der bestehenden klerikalen Codexkultur herankommt und noch lange in deren Schatten steht. Dieser Schatten bietet jedoch auch eine Chance und ist ein Ausgangspunkt für die Etablierung einer laikalen Schriftkultur. Für die Zeit, bevor sich ein effektiver Schriftbetrieb an den Adelshöfen herausbildet, darf man davon ausgehen, dass man im laikalen Bereich sich der klerikal-monastischen Institutionen bedient. Auch wenn die Spuren sehr dezent sind41, dürften Hofgeistliche wohl eine wichtige Rolle in der Schriftkultur der Fürstenhöfe und damit auch für die Produktion literarischer Texte und Handschriften gespielt haben. Es darf uns deshalb nicht wundern, wenn wir feststellen, dass die frühesten Überlieferungszeugen ,höfischer‘ Texte in ,weltlich-geistlichen‘ Überlieferungskonvois auftauchen.42 Neben den Trierer und Krakauer Fragmenten, den deutlichsten Zeugnissen für ein „Nebeneinander“, sind für die frühe Zeit hier noch die Colmarer Bruchstücke zu nennen, die den – im mit archaischer Dichtungsterminologie betitelten – Scopf von dem lone
39 Ebd., S. 233, Anm. 117. 40 Kçnig Rother (Anm. 29), S. 11*. 41 Timo Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln [u.a.] 2003 (Kölner Germanistische Studien N.F. 4). 42 Dies indes nicht undifferenziert; so ist etwa die Artusepik auffällig spät überliefert und es finden sich mit Veldekes Eneid auch schon im 12. und frühen 13. Jahrhundert höfische Texte außerhalb von geistlich-weltlichen Überlieferungsverbünden. Vgl. dazu Stephan Müller, „,Erec‘ und ,Iwein‘ in Bild und Schrift. Entwurf einer medienanthropologischen Überlieferungs- und Textgeschichte ausgehend von den frühesten Zeugnissen der Artusepen Hartmanns von Aue“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 127/ 2005, S. 414 – 435.
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neben einer Crescentia und Cantilena de conversione S. Pauli beinhalten43, sowie die 1870 in Straßburg44 verbrannte Fassung von Lambrechts Alexander, die neben Pilatus, dem Credo des Armen Hartmann sowie Heinrichs Litanei stand. Diese Fälle, sowohl der Scopf als auch der Alexander – auf dessen Vorauer Fassung noch zurückzukommen sein wird – und Hartmanns Credo, lassen sich natürlich als Schwellentexte auffassen: Die Didaxe des Scopf ist ebenso ausschließlich ,höfisch‘, wie das Credo rein ,geistlich‘ ist, und Alexander der Große ist immerhin eine biblische Figur (vgl. 1 Mcc 1,1 – 10). Wir sehen also, dass die Überlieferungspraxis ,weltliche‘ und ,geistliche‘ Texte – fast könnte man sagen, zwangsläufig – nebeneinander stellt und wir sehen, dass eine dabei entstehende Spannung einerseits tendenziell durch eine inhaltlichkonzeptionelle Schlüssigkeit der Sammlungen abgebaut wird, dass aber auch ein radikales Nebeneinander wie in den Trierer und Krakauer Fragmenten akzeptiert wurde, das man nicht als einfachen Überlieferungszufall abtun sollte.45 ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ stehen also sowohl auf der Ebene des Einzeltextes als auch auf der Ebene der Überlieferungsträger nebeneinander, und es waren nicht nur die ,geistlichen‘ Aspekte, die den genannten Texten ihren Platz in so frühen Handschriften gesichert haben. Dass bei diesem Nebeneinander die Ebenen ,Text‘ und ,Codex‘ nicht immer getrennt voneinander zu sehen sind, können wir am Beispiel des Alexander sehen, den man als ,weltlichen‘ oder zumindest heilsgeschichtlich suspekten Kasus auch in der Vorauer Sammelhandschrift findet. Klaus Grubmüller hat gezeigt, dass der abrupte Schluss der Vorauer Fassung nicht zwangsläufig für die Fragmentarizität der Fassung sprechen muss. Vielmehr harmonisiert er mit dem heilsgeschichtlichen 43 Colmar, Archives départ. du Haut-Rhin, Fragments de Ms nos 559 – 560. Ende des 12. Jahrhunderts (vgl. Hellgardt, „Die deutschsprachigen Handschriften“ [Anm. 18], Nr. 164). 44 Straßburg, Seminarbibliothek, Cod. C.V.16.6.48 (1870 verbrannt), „bald nach 1187“ (ebd., Nr. 156.) Nach Auffindung einer Schriftprobe spricht sich Christoph Mackert jetzt für eine Datierung „kaum vor der Wende zum 13. Jahrhundert“ aus (Christoph Mackert, „Eine Schriftprobe aus der verbrannten ,Straßburg-Molsheimer Handschrift‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 130/2001, S. 143 – 165, hier S. 159). 45 Allein die Tatsache, dass die Anlage einer Sammlung eine aufwendige und auch kostspielige Praxis gewesen sein dürfte, spricht gegen die Annahme, dass wir es nur mit Überlieferungszufällen zu tun haben, auch wenn das für die spätere Zeit durchaus vorkommen kann, vgl. Fromm, „Überlegungen“ (Anm. 4), S. 188 – 190.
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Konzept der Sammlung, indem er konsequent abbricht, nachdem Alexander das Persische Reich zu seinem Ende geführt hat und in einem Akt der Translatio das griechische Weltreich beginnen lässt – mit der (ahistorischen) Tötung des Darius durch Alexander selbst.46 Ansonsten steht der Vorauer Text, bei allen Unsicherheiten im Detail, Lambrecht sicher am nächsten. Die Straßburger Fassung dagegen gilt als „,modernere‘ literarische Stilisierung“47 und geht dabei, was man bislang nicht erwähnenswert fand, nicht im Konzept eines Codex auf, sondern behauptet sich als Einzeltext einer neuen höfischen Kultur. Ziehen wir ein Fazit: ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ sind in der frühen höfischen Kultur offensichtlich nicht zu trennen, doch ihr Nebeneinander ist nicht von Anfang an harmonisch. An den Texten und Handschriften dieser Kultur war – bei aller Skizzenhaftigkeit – zu zeigen, dass eine Spannung zwischen ,Weltlichem‘ und ,Geistlichem‘ bestand, und es sind verschiedene Modi zu beobachten, mit dieser Spannung umzugehen: in den Texten im Modus konzeptioneller Verklammerung – wie in der Artusepik –, aber auch im Modus eines unvermittelten Nebeneinanders, das sich in der Erzählung nur mit Mühe verarbeiten lässt und in den Brüchen, Unstimmigkeiten und spontanen Wendungen der Erzählung sich ausdrückt – ich erinnere nur an den Wasserzuber im Schlafzimmer des heiligen Königs Oswald. Aber auch auf der Ebene der Überlieferung, und darum geht es mir im Besonderen, lassen sich diese beiden Modi beobachten: Eine weltliche Überlieferungskultur sui generis finden wir im 12. Jahrhundert noch nicht vor. So begegnet sich in der Praxis der Codifizierung zwangsläufig ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘, und wir sahen am Beispiel des Alexander, dass dies Folgen sowohl für die Ausgestaltung des Einzeltextes hatte, wie beim Straßburger Alexander, als auch für die Ebene eines schlüssigen Sammlungskonzepts, in das der Text eingepasst wird, wie in der Vorauer Fassung. In dieses Bild passt nun auch der Sangallensis 857. In 46 Klaus Grubmüller, „Die Vorauer Handschrift und ihr Alexander. Die kodikologischen Befunde: Bestandsaufnahme und Kritik“, in: Jan Cölln/Susanne Friede/Hartmut Wulfram (Hrsg.), Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000, S. 208 – 221, hier S. 215 – 220. 47 Jan Cölln, „Arbeit am Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschriftliche Überlieferung“, in: ebd., S. 162 – 207, S. 197. Alexander als Figur wird dabei jedoch keinesfalls höfisiert (siehe S. 206). Von der erst spät überlieferten Prosafassung, dem Basler Alexander, kann ich für meine Argumentation absehen.
Geistlich-weltliche Überlieferungssymbiosen
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seinem heilsgeschichtlichen Programm steht ,Weltliches‘ und ,Geistliches‘ harmonisch nebeneinander. Wie auf der Ebene der Einzeltexte ist aber auch auf der Ebene der Überlieferung am Beispiel der Trierer und Krakauer Fragmente eine Brüchigkeit nachzuvollziehen, eine Brüchigkeit, die das spannungsreiche Verhältnis von ,weltlich‘ und ,geistlich‘ nicht kompensiert, sondern affirmiert. Der Tristrant steht neben dem Tobias wie der Wasserzuber neben Oswalds Ehebett. Für die Beschreibung des Verhältnisses von ,Weltlichem‘ und ,Geistlichem‘ scheint mir dies von Bedeutung zu sein: Der Normalfall nämlich, retrospektiv auf die konzeptionellen Brüche und unverarbeiteten Spannungen in narrativen Texten zu reagieren, besteht darin, diese Verhältnisse analytisch einzufangen. Man sucht nach der historischen Logik, nach dem verlorenen roten Faden im scheinbar Disparaten, und man kann sehen, dass das erfolgreich sein kann, wie bei der Beschreibung der Konzeption des Sangallensis 857. Mein Beitrag versteht sich darüber hinausgehend aber auch als Plädoyer, jenen Unvereinbarkeiten, an denen unsere analytische Phantasie scheitert, einen eigenen Stellenwert einzuräumen, denn für die höfische Text- und Überlieferungskultur stellten diese Fälle keine Ausnahme dar, sondern eine alternative Antwort auf ein und dieselbe Frage. So sehr uns eine solche Geduldigkeit gegenüber Inkohärenzen auch fremd sein mag, sie scheint mir auf der Ebene der Textpraxis geradezu eine Möglichkeitsbedingung der neuen höfischen Kultur zu sein, in der Gottes- und Weltdienst – wie es Kuhn sagt48 – als getrennte Lebensgebiete zur Vereinigung gebracht werden. Die Spannung zwischen ,Weltlichem‘ und ,Geistlichem‘ wird also entweder in einem konzeptionellen Nebeneinander abgebaut, oder aber ist in Brüchen zu greifen, in Brüchen, in denen beide Dimensionen manifest werden, ohne eine Harmonie anzustreben. Dies geschieht innerhalb einzelner Texte in offen hybrider Form wie in der ,höfischen‘ Legende, im abrupten Wechsel oder überraschenden Ende der narrativen Entwürfe, oder in den neuen literarischen Konzepten, wie sie etwa die Artusepik hervorbringt. Dies lässt sich aber nun auch in den Textsammlungen innerhalb einzelner Überlieferungsträger beobachten, entweder in schlüssigen Sammlungskonzepten, oder eben im Nebeneinander von Liebesroman und Legende, im Nebeneinander von paraliturgischem Tagzeitengedicht und Spruchdichtung; einem Nebeneinander also, das die Spannung zwischen unantastbarem Leben der 48 Vgl. Anm. 25.
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Heiligen und den Aporien höfischer Liebe, die Spannung zwischen heilsgewissem allegorisiertem Lebensverlauf und weltlicher Didaxe repräsentiert. Gerade diese Spannungen in einen Bezugsrahmen zu setzen, ohne sie kommunikativ abblenden zu können und zu wollen, das scheint mir das Signum der neuen literarischen Kultur im 12. Jahrhundert zu sein.
Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten Mireille Schnyder Die Zeichenschrift blht im Licht der Begabung zu einer wundersamen Welt auf. Als ein rechtes Wunder geschieht das nur, wo Einfalt, Ehrfurcht und Glaube vorhanden sind. 1
Dass Lektüreerlebnisse eng an religiöses Erleben gekoppelt und oft im Rückgriff auf religiöse Terminologie beschrieben werden, ist seit der Genieästhetik und dem romantischen Kunstverständnis fast topisch. Die Bücher sind „einsame Kapellen“, in denen ein „andres Sein als das rein sinnliche“ bedacht werden kann,2 und „Lesen kann auch eine Form von Exerzitien sein“.3 Dass diese Sakralisierung des Lesens und diese Stilisierung des literarischen Buches zum Schrein einer Wahrheit eine Geschichte hat, die in die Vormoderne weist, soll hier aufgezeigt werden. Und es stellt sich dann auch die Frage, inwiefern der enge Literaturbegriff, wie er sich in der Literaturgeschichtsschreibung seit ihren Anfängen etabliert hat und wie er in jüngerer Zeit – nach einer relativ kurzen Phase der kritischen Erweiterung – wieder neu relevant 1 2
3
Peter Suhrkamp, „Über das Lesen (1947)“, in: ders., Der Leser. Reden und Aufstze, Berlin – Frankfurt/M. 1960, S. 9 – 21, hier S. 11. „Die Bücher sind einsame Kapellen, die der Mensch in den wild-romantischen Gegenden des Lebens auf dem höchsten und schönsten Standpunkt errichtet und auf seinen Wanderungen nicht bloß der Aussicht wegen, sondern hauptsächlich deswegen besucht, um sich in ihnen von den Zerstreuungen des Lebens zu sammeln und seine Gedanken auf ein andres Sein als das rein sinnliche zu richten.“ (Ludwig Feuerbach, „Abälard und Héloise oder Der Schriftsteller und der Mensch“, in: ders., Frhe Schriften, Kritiken und Reflexionen (1828 – 1834). Mit einem Vorwort zu den Gesammelten Werken Ludwig Feuerbachs von Werner Schuffenhauer, Berlin 1981 [Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. von Werner Schuffenhauer], S. 533 – 638, hier S. 543 f.) Suhrkamp, „Über das Lesen“ (Anm. 1), S. 14.
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wird,4 nicht genuin mit Lesekonzepten zusammenhängt, über die sich gewisse säkulare Texte („literarische Texte“) an sakrale Texte angleichen. Literatur würde sich so weniger über die Funktion des Textes definieren lassen, als vielmehr über die quasi-religiösen Lesekonzepte, die sich mit einem spezifischen Text realisieren lassen oder nicht. Damit verbunden ist die Frage, inwiefern es nicht gerade über diese (ursprünglich religiösen) Rezeptionsmuster und -vorstellungen zu einer Sakralisierung der aus dem religiösen Diskurs scheinbar ausgegliederten und ausdifferenzierten „Literatur“ kommen konnte. Wobei nicht hermeneutische Methoden, deren religiöse Tradition vielfältig reflektiert ist, in den Blick genommen werden, sondern die Vorstellung des physisch-psychischen Leseaktes als einer spezifischen Haltung des Lesers dem Text gegenüber.5 Die Lese- und Leserforschung hat sich seit einigen Jahren auch in der Mediävistik etabliert. Forschungsgeschichtlich verortet sie sich im Schnittpunkt von Alltagsgeschichte, Rezeptionstheorie, Literatursoziologie und Mediengeschichte. Entsprechend übernimmt sie methodischtheoretisch ganz unterschiedliche Fragestellungen und Zugehensweisen. Im Rahmen des schillernden Feldes der ,Präsenzforschungen‘ hat sich in jüngster Zeit, an die Rezeptionstheorie anknüpfend, das Interesse an der Lektüre unter imaginationstheoretischen Aspekten verstärkt.6 4
5
6
Vgl. z. B. Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München [u.a.] 2002; Zur Diskussion um Wertung und Kanon: Renate von Heydebrand (Hrsg.), Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte sthetischer Kanonbildungen, Stuttgart – Weimar 1998 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 19); Stefan Neuhaus, Revision des literarischen Kanons, Göttingen 2002; Wolfgang Braungart, „Gute Texte, schlechte Texte“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes, 51/2004: Schlechte Literatur, S. 292 – 303. Hier wird die so scharf gezogene Grenze zwischen einer „neuen“ Literalität seit dem 18. Jahrhundert und einem vormodernen, sich über die Pragmatik definierenden Literaturbegriff durchlässig. Vgl. zu der Grenzziehung: Braungart, „Gute Texte“ (Anm. 4), S. 297. Christina Lechtermann, Berhrt werden. Narrative Strategien der Prsenz in der hçfischen Literatur um 1200, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 191). Dabei wurden die Fragen nach Lektürepraxis, Lektüremethoden, Lektüretheorien, die zuerst im Rahmen literatursoziologischer Forschungen gestellt wurden, in jüngerer Zeit von kulturanthropologischen und epistemologischen Fragestellungen ergänzt. Für Präsenzeffekte in monastischer Lektürepraxis vgl. die neueren Arbeiten von Niklaus Largier, u. a. „Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung“, in: Poetica, 37/2005, S. 393 – 412.
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Das Hauptinteresse der Forschung hat sich nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage auf die monastische und scholastische Lektürepraxis gerichtet, neben Einzelstudien zu lesenden Frauen, wobei auch hier in erster Linie im klösterlichen Umfeld.7 Die Forschungen beziehen sich auf Lektürepraxis (lautes, leises, kursives, intensives Lesen), Lektüreinhalte (Bibliothekskataloge, Lektürevorschriften), Materialität des Lesens (Schriftrolle, Codex, Layout, Buchformate, Text-Bild-Relationen) und Lektüremethoden (in erster Linie die Differenz von lectio divina und scholastischem Lesen).8 7
8
Vgl. u. a.: Gabriela Signori, „Die lesende Frau. Metapher oder Wirklichkeit? (13.–15. Jahrhundert)“, in: Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Strukturierung von Wissen und die symbolische Ordnung der Geschlechter, Münster 2004, S. 92 – 119; Max Grosse, „Lectures pieuses, lectures amoureuses – Observations sur les lectrices dans la littérature française du Moyen Age“, in: Angelica Rieger/JeanFrançois Tonard (Hrsg.), La lecture au fminin / Lesende Frauen. La lectrice dans la littrature franÅaise du Moyen Age au XXe sicle, Darmstadt 1999 (Beiträge zur Romanistik 3), S. 49 – 76; Lesley Smith/Jane H. M. Taylor (Hrsg.), Women and the Book. Assessing the Visual Evidence, London – Toronto 1997; Susann ElKholi, Lektre in Frauenkonventen des ostfrnkisch-deutschen Reiches vom 8. Jahrhundert bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Würzburg 1997; Roberta Krueger, Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance, Cambridge 1993 (Cambridge Studies in French 43). Malcolm Parkes, „Klösterliche Lektürepraktiken im Hochmittelalter“, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/M. – New York 1999, S. 135 – 153; Jacqueline Hamesse, „Das scholastische Modell der Lektüre“, in: ebd., S. 155 – 180; Paul Saenger, „Lesen im Spätmittelalter“, in: ebd., S. 181 – 217; ders., „Silent Reading. Its Impact on Medieval Script and Society“, in: Viator, 13/ 1982, S. 367 – 414; ders., „Books of Hours and the Reading Habits of the Later Middle Ages“, in: Roger Chartier (Hrsg.), The Culture of Print. Power and the Uses of Print in Early Modern Europe. Transl. L. G. Cochrane, Princeton 1989, S. 141 – 173; ders., Space Between Words. The Origins of Silent Reading, Stanford 1997; Hermann Hauke, „Der Stellenwert des nichtliturgischen Lesens im Mönchsleben des Mittelalters“, in: Clemens M. Kasper/Klaus Schreiner (Hrsg.), ,Viva vox‘ und ,ratio scripta‘. Mndliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mçnchtum des Mittelalters, Münster 1997 (Vita regularis 5), S. 119 – 134; Frank Olaf Büttner, „Mens divina liber grandis est. Zu einigen Darstellungen des Lesens in spätmittelalterlichen Handschriften“, in: Philobiblion, 16/ 1972, S. 92 – 126; Mary Carruthers, „Reading with Attitude, Remembering the Book“, in: Delores Warwick Frese/Katherine O’Brian O’Keefe (Hrsg.), The Book and the Body, Notre Dame/Ind. 1997, S. 1 – 33; Peter Ganz (Hrsg.), Das Buch als magisches und als Reprsentationsobjekt, Wiesbaden 1992 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5); Volker Honemann, „Der Laie als Leser“, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Laienfrçmmigkeit im spten Mittelalter: Formen, Funktio-
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Hier versuche ich nun, trotz der schwierigen Quellenlage, den Blick auf säkulare Lektüren literarischer, das heißt nicht didaktischer und nicht pragmatisch religiöser Texte zu richten mit der Frage, inwiefern das Lesekonzept, das an diese Texte herangetragen wird und von diesen Texten eingefordert, zumindest aber ermöglicht wird, sich an religiösen Lesekonzepten orientiert und es darüber zu einer „Textheiligung“9 kommen kann. Methodisch ist dies nicht ganz einfach. Denn während religiöse Lektürepraxis, -methodik und -theorie in zeitgenössischen Texten immer wieder reflektiert und vorgestellt ist, von den Leseanleitungen eines Augustinus, den Lektürebestimmungen der BenediktusRegel bis zu den ausführlichen Anleitungen richtigen und fruchtbringenden Lesens im Didascalicon Hugos von St. Victor, auch zum ,wissenschaftlichen‘ Lesen ausführliche und zum Teil großartige Reflexionen, Ratschläge, Regeln, Erlebnisberichte vorliegen,10 gibt es Ähnliches zum weltlich-unterhaltenden Lesen nicht.11 Lediglich didaktische Texte kommen mehr oder weniger ausführlich auf das Lesen zu sprechen, auf nen, politisch-soziale Zusammenhnge, München 1992 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 20), S. 241 – 251; Yvonne Johannot, Tourner la page. Livre, rites et symboles, Grenoble 1994; Thomas Kock/Rita Schlusemann (Hrsg.), Laienlektre und Buchmarkt im spten Mittelalter, Frankfurt/M. 1997; Richard H. Rouse, „L’évolution des attitudes envers l’autorité écrite: le développement des instruments de travail au XIIIe siécle“, in: Geneviève Hasenohr/Jean Longére (Hrsg.), Culture et travail intellectuel dans l’Occident mdival. Bilan des ,Colloques d’humanisme mdival‘, Paris 1981, S. 115 – 144; Jacques Rousse/Hermann Josef Sieben, „Lectio divina et lecture spirituelle“, in: Dictionnaire de spiritualit asctique et mystique, Bd. 9, Paris 1976, Sp. 470 – 496. 9 Den Begriff übernehme ich von Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147. 10 Vgl. neben Hugo von St. Victor, Didascalicon de Studio Legendi. Studienbuch, übersetzt und eingeleitet von Thilo Offergeld, Freiburg/Br. [u.a.] 1997 (Fontes Christiani 27), vor allem Richard de Bury, Philobiblon. The Text and Translation of E. C. Thomas, hrsg. mit einem Vorwort von Michael Maclagan, Oxford 1970. 11 Vgl. aber: Manfred Günter Scholz, Hçren und Lesen. Studien zur primren Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980; Michael Curschmann, „Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 106/1984, S. 218 – 257; Dennis H. Green, Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800 – 1300, Cambridge 1994.
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Vorteile und Gefahren desselben und geben Anweisungen, was von den weltlichen Texten zu lesen ist und was nicht. Die dort zu findenden expliziten Lesevorschriften und Lektüreanleitungen jedoch reduzieren das Lesen auf einen erziehungspragmatischen Umgang mit Literatur. Sie haben entsprechend im Rahmen kulturgeschichtlicher Untersuchungen Beachtung gefunden, haben aber auch das Verständnis der mittelalterlichen Literatur als im Rahmen der Didaxe zu sehender Texte nachhaltig geprägt.12 Das in diesen Texten vermittelte Lesekonzept für weltliche Literatur lehnt sich stärker an homiletische Vorstellungen einer Wahrheitsvermittlung an (exempla, integumentum) als an Konzepte intensiver Lektüre, wie sie unter anderem in der lectio divina realisiert sind.13 Es handelt sich um eine Instrumentalisierung literarischer Texte für die hove-zuht, damit aber auch um eine Negierung und Ausschließung von anderen in ihnen angelegten Lesemöglichkeiten. Diese anderen Lesekonzepte, komplexer und schwieriger beschreibbar, sind für die weltlichen Texte nur implizit fassbar, da, wo Lektüreszenen thematisiert werden, da, wo der Lesevorgang selber zur Sprache gebracht wird, da, wo das Publikum (auch als Lesepublikum) konstituiert wird, oder da, wo der Erzähler selber sich als Leser ins Spiel bringt.14 Es sind Szenen, die in erster Linie Illustrationsmaterial für literatursoziologische Thesen lieferten und in einem allgemeineren Rahmen, vor allem unter dem Aspekt des Erzählens und dessen Ver-
12 Klaus Düwel, „Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugendlehre des 13. Jahrhunderts“, in: Fabula, 32/1991, S. 67 – 93; Horst Wenzel, „zuht und êre. Höfische Erziehung im ,Welschen Gast’ des Thomasin von Zerclaere (1215)“, in: Alain Montandon (Hrsg.), ber die deutsche Hçflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den deutschsprachigen Lndern, Bern – Frankfurt/M. 1991, S. 21 – 42. 13 Auf diese entscheidende Differenz der Textgattungen und ihres Anspruchs weist auch von Moos hin, wenn er sozusagen von der anderen Seite her die Frage nach dem Literarischen stellt: Peter von Moos, „Was galt im lateinischen Mittelalter als das Literarische an der Literatur? Eine theologisch-rhetorische Antwort des 12. Jahrhunderts“, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991, Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 431 – 451, hier S. 451. 14 Rhetorische Strategien der Leserlenkung und Konstituierung einer bestimmten Leserhaltung (Rezipientenhaltung) in Beschreibungen z. B., sollen hier aus methodischen Gründen vorerst nicht Thema sein. Vgl. dazu die Analysen bei Lechtermann, Berhrt werden (Anm. 6).
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ortung in höfischen Interaktions- und Kommunikationsmustern, gesehen wurden.15 Im Folgenden soll anhand von solchen Lese-Szenen, Lese-Reflexionen und Lese-Handlungen die kulturelle Praxis des Lesens in den Blick genommen werden. Da sich diese Praxis im religiösen Kontext zu einer raffinierten Form der Selbstkonstituierung und Wahrheitssuche entwickelt hat, wird zuvor in skizzenhafter Schematik auf einige Aspekte religiösen Lesens hingewiesen, die für die Analyse weltlicher Leseszenen relevant sind.16
I. Religiöses Lesen Religiöse Lektürekonzepte und -methoden zielen alle in der einen oder anderen Art auf eine Realisierung, eine Vergegenwärtigung des Geschriebenen. Die dabei verfolgten Strategien kann man unter die Begriffe ,Mimesis‘ und ,Inkarnation‘ einerseits, ,Wahrheitserkenntnis‘ und ,Aufmerksamkeit‘ (attentio) andererseits fassen;17 wobei Wahrheits-Er15 Vgl. den Sammelband von Ludger Lieb/Stephan Müller (Hrsg.), Situationen des Erzhlens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin – New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20); Manfred Kern, „Iwein liest ,Laudine‘. Literaturerlebnisse und die ,Schule der Rezeption’ im höfischen Roman“, in: Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwrfe in der Literatur des Hoch- und Sptmittelalters. Festschrift fr Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 385 – 414; Adrian Stevens, „Memory, reading and the renewal of love: on the poetics of invention in Gottfried’s Tristan“, in: Volker Honemann [u.a.] (Hrsg.), German narrative literature of the twelfth and thirteenth centuries. Studies presented to Roy Wisbey, Tübingen 1994, S. 319 – 335. 16 Dass die gleichen Szenen sowohl für Fragen nach einer Pragmatik und Performanz des Erzählens wie für Fragen nach Lesekonzepten herangezogen werden können, zeigt deutlich die Schwierigkeit, literarische Texte des Mittelalters in ihrer Rezeptionssituation medial zu bestimmen. Vgl. dazu auch die grundlegenden Überlegungen von Dieter Kartschoke, „Erzählen im Alltag – Erzählen als Ritual – Erzählen als Literatur“, in: Lieb/ Müller (Hrsg.), Situationen (Anm. 15), S. 21 – 39, hier S. 22 f. und S. 35 – 39. 17 Zur mimetischen Lektüre vgl. u. a. Jean Leclercq, L’amour des lettres et le dsir de Dieu. Initiation aux auteurs monastiques du Moyen-Age, Paris 1990. Zum hier gebrauchten attentio-Begriff vgl. Peter von Moos, „Attentio est quaedam sollicitude. Die religiöse, ethische und politische Dimension der Aufmerksamkeit im Mittelalter“, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.), Aufmerksamkeiten, München 2001 (Archäologie der literarischen Kommunikation 7), S. 91 – 127; Zur inkarnierenden Lektüre: Klaus Schreiner, „Marienverehrung, Lesekultur,
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kenntnis ein die Zeichenhaftigkeit des Textes auflösendes Wahrnehmen meint, über das eine neue Erkenntnisqualität möglich wird, während attentio – eng damit verbunden – die totale Hingabe der Geistes- und Sinneskräfte an den Text bezeichnet, was zu einer Konzentration führt, in deren gebündelter Energie auch eine Realisierung und Konstituierung des Ichs erfolgt. ,Mimesis‘ und ,Inkarnation‘ suchen in je eigener Art eine Verkörperlichung des Geschriebenen. Wahrheits-Erkenntnis und attentio dagegen zielen je auf eine Abstrahierung und Loslösung aus dem Handlungsrahmen einerseits sowie anderseits auf eine Erkenntnis, die die an Zeichenhaftigkeit und Medialität gebundenen Wahrnehmungsmöglichkeiten negierend übersteigt.18 Was die Praxis der Lektüre betrifft, ist zu unterscheiden zwischen lautem und leisem Lesen, in erster Linie zwischen Vorlesen und stiller Lektüre des Einzelnen (legere sibi, tacite legere).19 Die für die Frage nach dem Lesekonzept relevanten Unterschiede lassen sich folgendermaßen skizzieren: Über den vorgelesenen Text konstituiert sich ein Raum, in dem sich die darin anwesenden Körper zu einer Hörer-Gemeinschaft zusammenschließen. So hat Vorlesen auch immer den Charakter einer Inszenierung, in religiösem Kontext auch des Rituellen.20 Durch die Lautfolge des gesprochenen Wortes sowie die Kontinuität der Erzählung und Logik des Gehörs ist der Raum der Lektüre durch eine lineare Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Darstellung von ,Mariä Verkündigung’“, in: Frhmittelalterliche Studien, 24/1990. S. 314 – 368. In jüngster Zeit hat Niklaus Largier in verschiedenen Studien Praktiken meditativer Lektüre im Sinne einer sinnlich intensivierten Rezeption dargestellt und dabei die rhetorische Komponente sehr deutlich gemacht. Vgl. u. a. Largier, „Präsenzeffekte“ (Anm. 6); ders., „Rhetorik des Begehrens. Die ,Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität“, in: Martin Baisch [u.a.] (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivitt in der Literatur des Mittelalters, Königstein/Ts. 2005, S. 249 – 270. 18 Inwiefern diese Negation eher eine „Übertragung“ ist im Sinne einer „Technik virtueller Transformation der Sinneserfahrung“ macht Largier, „Präsenzeffekte“ (Anm. 6) deutlich. 19 Zu dieser Thematik vgl. Malcolm Beckwith Parkes, Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West, Aldershot 1992; Ursula Schaefer, Vokalitt. Altenglische Dichtung zwischen Mndlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1992 (ScriptOralia 39); Josef Balogh, „,Voces paginarum‘. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens“, in: Philologus, 82/1927, S. 84 – 199 und S. 202 – 240. 20 Zu Momenten der Anknüpfung an ritualistische Inszenierungen in der Einzellektüre vgl. Mireille Schnyder, „Initiationsriten am Anfang des Buches“, in: Corina Caduff/Joanna Pfaff (Hrsg.), Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwrfe, Berlin 1999, S. 191 – 218.
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Zeitstruktur geprägt. Im Gegensatz dazu löst der leise gelesene Text den Raum um den Lesenden auf und konstituiert primär über die visuelle Wahrnehmung des Geschriebenen einen Textraum, in dem sich der Körper des Lesenden aus dem Kontext der Gesellschaft löst. Und über die durch die Logik des Auges ermöglichte Simultaneität kann die lineare Zeit durchkreuzt werden. Während sich im Akt des Vorlesens der geschriebene Text in einer Stimme verkörpert und darüber eine physische Berührung des Zuhörers durch das Gelesene im Ohr möglich wird,21 hält die im Visuellen geschlossene Lektüre einerseits Distanz, indem der gelesene Text zum Objekt wird, wird aber gerade darüber anderseits die physische Präsenz der Schrift über das Taktile erfahrbar. Und durch die Wiederholung, die selbstbestimmte Unterbrechung, die punktuelle Lektüre, wird gleichzeitig eine (meditative) Intensivierung möglich. Der vorgelesene Text, der in der Regel sorgfältig und situationsbezogen ausgewählt ist, situiert das Ich des Zuhörers in einem Kollektiv und konstituiert es auf dieses hin. Dagegen ist der Einzelleser in eine direkte Konfrontation mit dem von ihm mehr oder weniger frei wählbaren Text gestellt,22 die ihm nicht nur den Dialog, sondern auch die vollkommene Hingabe, die gern erotisch konnotiert wird, ermöglicht.23 Anders als das sich über das Kollektiv identifizierende Ich, bleibt in der Konstituierung des Leser-Ichs durch den Text in der Einzellektüre auch immer das Moment des Gegenüber-Seins bewahrt, in dem die übersteigende Negierung des Ichs im Akt des Lesens zur Selbst-Reflexion werden kann. Instrumentelles Lesen Als „prophetisches Lesen“ bezeichnet Hugo von Sankt Victor das Vorlesen des vom Bischof durch ein Ritual eingesetzten Lectors in der Kirche. Sein Amt verlangt eine vollkommene Disziplinierung des ei21 Zur Vorstellung der physischen Übertragung des Klangs vgl. Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen hçfischen Roman um 1200, Göttingen 2003, S. 50; Lechtermann, Berhrt werden (Anm. 6), S. 78 f. 22 Ein schönes Beispiel dafür findet sich am Anfang des Livre de la cit des Dames: Christine de Pisan, Livre de la cit des Dames. A critical edition, hrsg. von Maureen Cheney Curnow, Nashville/Tenn. 1975. 23 Zur erotischen Konnotation und Parallelisierung vgl. von Moos, „Attentio“ (Anm. 17), letztlich aber auch die Liebessprache der Mystik.
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genen Körpers und der eigenen Sprache: Er darf keine Geste zu viel machen, weder im Körper noch in der Stimme (vox lectoris auribus et cordi consulere debet, non oculis) und muss so ausgebildet sein, dass er den vorzutragenden Text korrekt artikulieren und gliedern kann.24 Dadurch wird er zu einem Instrument, mit dem die göttliche Rede unverfälscht wiederholt werden kann (estote Verbi Dei relatores). Das bedingt aber einen Körper, der bis zu einem gewissen Grad dem sich in ihm verstimmlichenden Text adäquat ist. Als Vorbild für dieses Amt wird denn auch Christus selber gesehen, wie er vor einer Versammlung aus Jesaia vorliest (Lk 4,18). Daraus soll erkannt werden, dass diejenigen, die Gottes Wort vorlesen, in geistiger Anmut glänzen müssen.25 So sind neben der notwendigen grammatischen Ausbildung ein tadelloser Lebenswandel sowie Glaubensstärke die Voraussetzungen dafür, dass man durch den Bischof überhaupt für dieses Amt ausgewählt werden kann. Ähnlich sind auch die Anforderungen an den Vorleser bei Tisch, wie sie sich in der Regel des Hl. Benedikt finden.26 Er soll zwar dem Gelesenen die Stimme leihen, darüber aber sich selber negieren. Damit dies gelingt, muss rituell durch das Kollektiv die Gefahr der superbia für den aus der Gemeinschaft herausgehobenen Lector gebannt werden. Deshalb bittet der Lector die Gemeinschaft für ihn zu beten, dass der Geist der Überheblichkeit von ihm ferngehalten werde. Dazu stimmt er den dreimal wiederholten Psalmvers an, Domine, labia mea aperies et os meum annuntiabit laudem tuam, und bietet so seinen Körper (os meum) Gott als Instrument an (labia mea aperies).
Inkarnierendes Lesen Im religiösen Kontext ist es die intensive, in die meditatio führende Lektüre, die sich die Worte einverleibt, sie wiederkäuend zu einem Teil des Selbst macht. Grundbild dieser Art der Lektüre, in der sich das Wort im Lesenden verfleischlicht und einnistet, ist einerseits der das Buch verschlingende Prophet Ezechiel, anderseits aber, und hier in einer 24 Hugo von St. Victor, De sacramentis. 2. Buch, 3. Teil, Kap. VII, in: PL 176, Sp. 424B–D. 25 Ex quo lectoribus intelligi datur, quod gratia spirituali clarere debent, qui populo verbum Dei annuntiant (ebd., 424 D). 26 Benedikt von Nursia, Regula Benedicti, Die Benediktusregel, hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 1992, Kap. 38. Vgl. dazu auch: Hauke, „Der Stellenwert“ (Anm. 8), S. 126 – 129.
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eindringlicheren, den Körper noch stärker verändernden Form, Mariae Empfängnis.27 Inkarnierende Lektüre heißt, dass sich im Akt des Lesens das Gelesene im eigenen Körper manifestiert. Wobei dieser gerade nicht zum Instrument des Textes wird und auf die Funktion des Sprachrohrs reduziert werden soll, sondern zu einem Tresor des heiligen Wortes, das in der Schweigsamkeit verwahrt, den Körper selber durchdringend verändert und über die Manifestationen im Physischen sich erst in der Gemeinschaft artikuliert.28 Dies kann sowohl im Sinne einer mimetischen Pragmatik geschehen, dass sich die eigene Handlungspraxis nach der über den Text verinnerlichten Wahrheit richtet, oder als sich auf die im Text vermittelte Wahrheit hin verändernde Physis des Lesers oder der Leserin. Dieses Konzept einer physischen Aufnahme des Gelesenen manifestiert sich nicht zuletzt in der reichen Speisemetaphorik, die sich in Reflexionen zur meditativen Lektüre findet. Nicht nur die als ruminatio bezeichnete Methode der wiederholenden Artikulation einer Textstelle, sondern auch die Rede vom „Gaumen des Herzens“ oder „Mund des Herzens“, über die der Geschmack des Gelesenen wahrgenommen wird, weisen auf ein Konzept der Textaneignung hin, das die Lektüre in Analogie zur physischen Stärkung des Körpers durch Nahrung sieht. Bei der monastischen Tischlesung sollen die Zuhörer das vom Vorleser unverändert weitergegebene Wort so aufnehmen, dass es sie neben der leiblichen Nahrung als geistige Nahrung stärkt. Es ist ein meditatives Aneignen des Textes, das sowohl auf eine Umsetzung im Handeln, als auch auf eine Stärkung der Tugenden und des Glaubens, auf innere Erbauung, zielt.29 Dabei steht der Text nicht zur Diskussion, was das Verbot von Fragen deutlich macht, sondern es geht in erster 27 Vgl. dazu u. a. Bernhard von Clairvaux, „In laudibus virginis matris“, in: ders., Smtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 4, hrsg. von Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1993, IV,11 (S. 56 – 59). Zur lesenden Maria vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994; ders., „Marienverehrung“ (Anm. 17). 28 Extremes Bild für diese Art inkorporierender Lektüren sind im religiösen Bereich die Herzensinschriften. Vgl. dazu u. a. Heinrich Seuse, „Seuses Leben“, in: ders., Deutsche Schriften, hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 7 – 195, hier Kap. 3 f., S. 11 – 17. Wobei in dieser Darstellung sehr deutlich wird, wie erotisches und geistliches Begehren in der den ganzen Körper erfassenden aufmerksamen Hinwendung zum Gehörten/dem Text ineinander fallen. 29 Zum Inhalt monastischer Tischlesungen vgl. Hauke, „Der Stellenwert“ (Anm. 8), S. 128 f.
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Linie um eine noch nicht in die Reflexion gebrochene Einverleibung des Wortlauts, die die ganze Aufmerksamkeit verlangt, weshalb auch eine vollkommene Stille gefordert ist, durch die der vorgelesene Wortlaut geschützt wird: Et summum fiat silentium, ut nullius musitatio vel vox nisi solius legentis ibi audiatur.30
Gefahren des Lesens Ist im Konzept der inkarnierenden Lektüre der Körper zum Mittel und Objekt eines Lesens geworden, das über die Aneignung des Gelesenen eine Veränderung des Lesers in seiner physisch-affektiven Präsenz bewirkt, kann im Vorgang der Lektüre auch eine Gefährdung der körperlichen Integrität des Lesers liegen. Denn ihre direkte Beeinflussung des Körpers kann im moralischen wie ethischen Sinn, abhängig von der Kompetenz des Verstehens, den Körper zum Guten oder Schlechten deformieren. Das Augenmerk richtet sich entsprechend auf die Adäquatheit der Lektüre, wobei nicht nur die Fähigkeiten des Lesers, sondern auch Zeit und Raum in Betracht gezogen werden. So gilt die Lektüre in den Abendstunden als besonders heikel, da zu dieser Zeit, vor der nächtlichen Stille und Einkehr in sich selbst, das Gelesene stärker auf die memoria und imaginatio wirkt als bei der Lektüre mitten im Tagesablauf.31 Explizit wird in Bezug auf die abendliche Lektüre vor gewissen biblischen Büchern des Alten Testaments gewarnt.32 Denn wird die imaginatio stimuliert, ohne dass sie durch den Verstand zur Reflexion geleitet wird, findet der Körper des Lesers nicht aus einer physischen, rein sinnlichen Einbildung heraus. Dabei ist es nicht der Inhalt der Bücher, der gefährdet, sondern die Schwäche einzelner Zuhörer, die das Gelesene nicht adäquat aufnehmen können.33 Es sind Texte, die der Erläuterung bedürfen und einen nicht entsprechend erudierten und 30 Regula Benedicti (Anm. 26), Kap. 38,5. 31 Et nocte magis quam interdiu maturius excitari memoriam manifestum est, cum et late silentium iuuat, nec foras a sensibus auocatur intentio (Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii liber IX, hrsg. von Lucio Cristante, Padova 1987 [Medioevo e Umanesimo 64], V. 539 [S. 269,20 – 23]). 32 Regula Benedicti (Anm. 26), Kap. 42,3 – 4. 33 […] et legat unum collationes vel vitas patrum aut certe aliud, quod aedificet audientes, j non autem eptaticum aut regum, quia infirmis intellectibus non erit utile illa hora hanc scripturam audiere; aliis vero horis legantur (ebd., Kap. 42,3 – 4).
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vorbereiteten Geist im Verständnis regelrecht auf der Strecke lassen.34 Die Warnung Hugos von St. Victor, biblische Geschichten nicht zur Unterhaltung als Wundergeschichten zu lesen und darüber deren Wahrheitsgehalt zu vergessen, zielt auf dasselbe Problem: ohne Erkenntnis der im Text verhüllten Wahrheit, sind auch heilige Texte durchaus gefährlich.35 Die Gefahr der Lektüre nimmt zu, wenn sich der Leser nicht in einem durch einen ausgewählten Text konstituierten Kollektiv und Raum befindet, sondern allein für sich liest (legere sibi).36 Im Kloster findet diese Art der Lektüre an verschiedenen Orten statt, unter anderem auch auf dem eigenen Bett. Die Zeiten dafür sowie der Inhalt der Lektüre sind mehr oder weniger genau bestimmt; und doch braucht dieses Lesen Aufsicht. Lässt sich das Objekt der Lektüre relativ einfach kontrollieren, indem die Bücher nicht frei verfügbar sind, sondern je einzeln herausgegeben werden, ist das eigentliche Lesen schwieriger zu beaufsichtigen. Denn die Lenkung der imaginatio, die meditative Arbeit des Lesens, entzieht sich dem Blick von außen.37 Es besteht immer die Gefahr der fehlenden oder falschen Aufmerksamkeit und damit eines nicht auf die Wahrheit des Textes hinführenden Verstehens, in dem die imaginative Wahrnehmung des Gelesenen in einem „fleischlichen“ Nachvollzug stecken bleibt.38
II. Weltliches Lesen Wenn im Folgenden nun Thematisierungen des Lesens in weltlicher Literatur in den Blick genommen werden, gilt die Aufmerksamkeit den darin aufgerufenen religiösen Lesekonzepten und deren Auswirkung auf das Verständnis des literarisch-säkularen Textes. 34 So spricht Augustinus in Bezug auf das Verständnis der Hl. Schrift von einer „fleischlichen Lektüre“, die sich da einstellt, wo figürliche Rede eigentlich verstanden wird: Nam in principio cavendum est ne figuratam locutionem ad litteram accipias. […] Cum enim figuratae dictum sic accipitur, tanquam proprie dictum sit, carnaliter sapitur (Augustinus, De doctrina Christiana, III, V. 9, [PL 34,16 – 121]). 35 Hugo von St. Victor, Didascalicon (Anm. 10), 5. Buch, Kap. 10. 36 Regula Benedicti (Anm. 26), Kap. 48. 37 Es sind ähnliche Kontrollprobleme wie sie sich durch das Schweigegebot ergeben. Vgl. dazu Schnyder, Topographie (Anm. 21), S. 138 f. 38 Jean Leclercq, L’amour des lettres (Anm. 17), S. 74 f.
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Vorlesen wunsch leben: Konstituierung des Raums Auch wenn es vielleicht etwas abgegriffen ist, beginne ich meine Beobachtungen zum weltlichen Lesen mit Hartmanns Iwein-Prolog.39 Da heißt es nach der Beschreibung des alle bisherigen und künftigen Hoffeste übertreffenden Pfingstfestes von Artus: mich jmert wærlchen, unde hulfez iht, ich woldez clagen, daz n b unsern tagen selch vreude niemer werden mac, der man ze den zten pflac. doch mezen wir ouch n genesen. ichn wolde d niht sn gewesen, daz ich n niht enwære, d uns noch mit ir mære s rehte wol wesen sol: d tten in diu werc vil wol. (V. 48 – 58)
In unserem Zusammenhang interessiert die Opposition von Werk und Wort, die hier aufgetan wird, um aber gleich – im Blick auf die Auswirkung in der gelebten Situation, im hic et nunc der Lektüre – negiert zu werden. Denn über das Wort kann ein Wohlsein erreicht werden, das dem Wohlsein, wie es sich über das reale Erleben einstellte, äquivalent ist, ja dieses ersetzt. Die in ihrer Einmaligkeit schon je aus der Zeit gefallene höchste Freude der Artusgesellschaft (weder vorher noch nachher ist sie je wieder erreicht, V. 35 – 37), kann über das erzählende Wort im Moment der Lektüre wieder realisiert werden. Darüber wird nicht nur der zeitenthobene absolute Moment des arturischen Pfingstfestes in die Gegenwart geholt, sondern diese auch in einem „heilsamen“ Akt der mimetischen Lektüre aus der heillosen, beklagenswerten Zeit gehoben: doch mezen wir ouch n genesen (V. 53).40 Dieser Vorgang 39 Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt/ M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6). Ich zitiere nach dieser Ausgabe. 40 Damit ist natürlich auch der Topos der therapeutischen Lektüre zitiert, das senften swærer stunde, wie es in unzähligen Prologen der weltlichen Literatur sich findet. Vgl. dazu u. a. Hubert Herkommer, „Das Buch als Arznei. Von den therapeutischen Wirkungen der Literatur“, in: Henriette Herwig/Irmgard Witz/Stefan Bodo Würffel (Hrsg.), Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in
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vollzieht sich im durch das Gelesene geschaffenen Raum des arturischen Festes, an dessen Freude die Leser/Zuhörer durch einen affektiven Nachvollzug teilhaben, die sich so zu einer Festgemeinschaft konstituieren. Indem das Geschilderte nun aber als wunsch leben (V. 44) beschrieben ist, löst es sich aus jeder Tatsächlichkeit und wird zum imaginierten Wunschobjekt, dem ewig Begehrten. Entsprechend kann sich die damalige vreude im Kollektiv der Zuhörer verkörpern, die sich so als exklusive Gruppe von einer Zeit und einem Umfeld abgrenzen, wo solche Freude an sich nicht mehr zu finden ist (V. 49 – 52).41 Damit geht es um einen performativen Akt des Sprechens, der sich im Vorlesen vollzieht und das Erzählte (ir mære) affektiv erlebbar macht, also nicht (nur) um eine handlungsbezogene Nachahmung, sondern ein regelrechtes Anverwandeln einer Erlebniswelt.42 Ist aber das wunsch leben des arturischen Festes als Lohn gesehen für die ethisch-moralisch ausgezeichneten Ritter (ouch wart in d ze l ne gegeben j in allen ws ein wunsch leben, V. 43 f.), wird das sich über die Lektüre konstituierende Wohlsein implizit auch zum Lohn für entsprechend gute Leser/Hörer. Am Anfang des Iwein wird Artus als Exempel-Figur eingeführt: des gt gewisse lÞre j knec Art s der guote (V. 4 f.). Damit wird ein didaktischmimetisches Lektürekonzept erinnert, wie es sich unter anderem in der Legende findet.43 Die handlungsbezogene mimetische Lektüre dieses Raum und Zeit. Festschrift fr Peter Rusterholz, Tübingen – Basel 1999, S. 87 – 111. 41 Die hier inszenierte Exklusivität des Lese- und Erzählraums, als eines sowohl temporal wie lokal aus dem Umfeld herausgehobenen Bezirks, betonen auch Lieb und Müller in ihrer Analyse von Situationen höfischen Erzählens: Ludger Lieb/Stephan Müller, „Situationen literarischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von ,Kaiserchronik‘ und Konrad Flecks ,Flore und Blanscheflur‘“, in: Wolfram-Studien, 18/2004: Erzhltechnik und Erzhlstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters, S. 33 – 57, hier 50 f. 42 Diese Art der Teilhabe nun aber, die Mimesis, ist die in der religiösen Lektüre geforderte affektive Nachahmung Christi. Sie ist es, die über die imaginatio den Körper erfasst und entsprechend die Wahrnehmung beeinflusst. Vgl. dazu Hauke, „Der Stellenwert“ (Anm. 8), S. 123; Leclercq, L’amour des lettres (Anm. 17), S. 22 f. 43 Bei Thomasin von Zerclære wird die Literatur als Didaxe zitiert, wird die Lektüre zum Ort der Erziehung im Sinne des Kennenlernens von Vor-Bildern. Damit erfüllt sie den Zweck der Exempla. Entsprechend ist sie da gefährlich, wo ein negatives Exemplum zu wenig deutlich als solches gekennzeichnet ist – ein rein inhaltliches Phänomen. Vgl. dazu u.a. Wenzel, „zuht und êre“ (Anm. 12); Düwel, „Lesestoff“ (Anm. 12); Christoph Huber, „Höfischer Roman als
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weltlichen Textes führt diesem Konzept gemäß auch zu einer Absicherung der eigenen Ehre: er ist lasterlcher schame iemer vil gar erwert, der noch nch sinem site vert. (V. 18 – 20)
Im Moment aber, wo das Wort an die Stelle des Werks tritt, die Erzählung die Handlung ersetzt und das kollektiv imaginierte WunschLeben zum Erlebnisraum der Rezipienten der Geschichte wird, wird dieses Lektürekonzept in seiner pragmatischen Konsequenz in Frage gestellt. Dass es trotzdem so prominent am Anfang des Iwein, der sich weder als heiliger noch von Gott inspirierter Text darstellt, zitiert wird, mag ein Versuch sein, dieses weltlich-höfische Erzählen zu legitimieren, das von den Rezipienten eine Aufmerksamkeit und reflektierende Hingabe verlangt, wie dies sonst nur von religiösen Texten bekannt ist. Das aufmerksame Lesen, in dem sich über das für diese Art der Lektüre konstitutive Begehren eine affektive Teilhabe einstellt, ist auch das Lesen, über das ein eigener, unvergleichlicher und letztlich zeitloser Raum als Raum der Lektüre konstituiert wird, der explizit aus der gegenwärtigen Handlungswelt ausgeschlossen ist. des der wunsch an wbe gert: Der höfische Körper des Textes Die Inszenierung des gelesenen Wortes im Raum und in einer Gesellschaft ist in kleinem Rahmen auch in der Leseszene auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer gegeben, da, wo Iwein seine Schlussventiure zu bestehen hat.44 In einem großen Baumgarten findet Iwein das schönste alte Paar, das man sich denken kann. Der Mann liegt auf einem Bett, die Frau sitzt vor ihm. Zum Zeitvertreib liest ihnen ein Mädchen aus einem französischen Buch vor: unde vor in beiden saz ein magt, diu vil wol, ist mir gesagt, wlsch lesen kunde: diu kurzte in die stunde. ouch mohte si ein lachen Integumentum? Das Votum Thomasins von Zerclaere“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 115/1986, S. 79 – 100. 44 Zu dieser Leseszene vgl. auch Kern, „Iwein liest ,Laudine‘“ (Anm. 15), S. 395 – 397.
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lhte an in gemachen: ez d hte si guot swaz si las, wande si ir beider tohter was. ez ist reht daz man si krœne diu zuht unde schœne, h he geburt unde jugent, gewizzen unde ganze tugent, kiusche und wse rede ht. daz was an ir, unde gar der rt des der wunsch an wbe gert. ir lesen was et d vil wert. (V. 6455 – 6470)
Hier fällt auf, dass der gelesene Text vollkommen verschwindet hinter der Gestalt der Lesenden, die über ihre höfischen Tugenden beschrieben wird, zu denen die äußerliche Schönheit als Ausdruck ihrer Vollkommenheit gehört. Damit wird sie zur perfekten Leserin. Als vorbildlich höfische Gestalt ist sie die adäquate Vermittlerin des höfischen Textes.45 Sie erfüllt situationsbezogen die Anforderungen, die im religiösen Umfeld an den Vorleser gestellt werden: sind es dort Vorbildlichkeit im Lebenswandel und im Glauben sowie Fähigkeit zur fehlerlosen Lektüre, sind es hier hohe Geburt, Jugend, Verständigkeit und vollkommene Tugend, Keuschheit und Beredsamkeit, neben Schönheit und Erziehung. Der perfekte, durch Lesekompetenz noch überhöhte höfische Frauenkörper ist nicht nur adäquates Gefäß für die Realisierung eines aus der Fremde stammenden Textes, sondern dieser Text erhält seine Qualität erst über die Lesende. In ihr erfährt der gelesene Text eine Verkörperung, über die sich sein Wert erst definiert. Anders als in der religiösen Lektüre, wo der Vorleser lediglich Sprachrohr des Textes sein soll, nicht für die Augen, sondern nur für die Ohren und Herzen, ist hier eine Leserin gezeichnet, die auch über eine affektive Wirkung zur perfekten Leserin wird. Sie evoziert verschiedene Arten der Liebe, über deren Wirkung der durch sie gelesene Text seine 45 Zur Verkörperung der Geschichte in der Vorleserin oder Erzählerin vgl. auch die Inszenierung der Geschichte von Flore und Blanscheflur bei Konrad Fleck, wo sich die Erzählung in der schönsten und redegewandtesten Frau (aus einem fremdem Land) verkörpert, die damit zum Äquivalent des Textes wird. Ihr Körper tritt an die Stelle des Verweises auf die Buchquelle, wie sie in der französischen Vorlage noch als Anfang der tradierten Geschichte angeführt wird. Vgl. dazu Ludger Lieb, „Essen und Erzählen. Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen“, in: ders./Müller (Hrsg.), Situationen (Anm. 41), S. 41 – 67, hier S. 55.
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Qualität erhält. Einerseits ist es die Elternliebe, die bewirkt, dass die zwei Alten gut dünkt, was immer sie liest (ez d hte si guot swaz si las, V. 6461), anderseits ist es die Begehrensspannung, die sich auf sie, als Verkörperung aller Wünsche, richtet, die ir lesen wertvoll macht. So, wie sich die affektive Aneignung der arturischen Festfreude ganz eigentlich im wunsch ereignet hat, ist es hier die allen Wünschen entsprechende, begehrenswerte Leserin, über die das Gelesene et d vil wert wird (V. 6470). Über dieses perfekte, dem Wunsch entsprechende und so die Aufmerksamkeit bindende Lesen, kommt es zu einer Realisierung des Textes im Raum der Lektüre. Dass hier ein höfischer, französischer Text gelesen wird, assoziiert die ventiure-Erzählung, wie sie sich im Artusroman findet und den Rahmen dieser Leseszene bildet. Im innersten Kern der ventiure von Iwein vollzieht sich die Lektüre einer ventiure, als Moment eines Handlungsstillstands und einer höfischen Unterhaltungsfreude. Im Augenblick aber, wo der Protagonist einer solchen Erzählung auf den Plan tritt und dieser Szene ansichtig wird, bricht die Lektüre ab und realisiert sich das Gelesene.46 Auffallend ist, dass der Text Iweins Blick auf diese Leseszene ausspart. Sein Blick bleibt im Baumgarten stecken. Dafür macht sich der Erzähler Gedanken über das Gesehene (V. 6450, 6456). Iwein kommt erst wieder ins Spiel, als ihn die Leserin und ihr Publikum entdecken und ihm entgegengehen (V. 6471). Diese Szene wird so aus ihrer scheinbar intradiegetischen Situierung in eine extradiegetische Position gehoben. Im Herz der ventiure-Handlung, im Kern der Diegese, wird die Lektüre ebendieser ventiure thematisiert, als Moment einer durch den Liebesaffekt gesteigerten Aufmerksamkeit. Am Anfang des Iwein wurde die Situation des Erzählens und der Lektüre als neue Realisierung der Festfreude am Artushof inszeniert. Hier nun wird das aufmerksame, durch einen Liebesaffekt qualifizierte Aufnehmen eines perfekt höfisch-erotisch verkörperten Textes als Kern eines ventiure-Geschehens vorgeführt. Es fällt auf, dass diese, durch eine im Affekt gesteigerte Aufmerksamkeit konzentrierte Lektüre im weltlichen Kontext häufig mit dem Begriff der kurzewle als einer zeitverkürzenden Unterhaltung verbun46 Kern nennt diesen Umschlag von Lesen in Begegnung mit dem Helden eine „Fiktion der Unmittelbarkeit“. Kern, „Iwein liest ,Laudine‘“ (Anm. 15), S. 396.
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den wird.47 Darin unterscheidet sie sich scheinbar zentral von der religiösen Lektüre, die diese Charakterisierung nicht kennt. Interessant ist aber, dass im Blick auf den Unterhaltungscharakter nicht die affektive Erheiterung oder didaktische Aspekte betont werden, sondern die Überwindung des Zeitlichen. Es geht um ein Ausschalten der Zeit. Damit wird der unterhaltende Zeitvertreib als der Aspekt weltlich-höfischer Lektüre erkennbar, der sich im religiösen Lesen da findet, wo im meditativen Lesen die zeitlich-räumliche Verortung des Ich aufgehoben wird. Geht es da aber um eine Perspektivierung der Ewigkeit, geht es im weltlichen Leseprozess um den gesteigerten Augenblick, in dem über die Konstituierung von Raum und Zeit des Lesens die Verortung im Jetzt und Hier eines lebensweltlichen Kontextes verloren gehen kann. So stellt sich die Frage, ob das kurzweilige, die Zeit negierende Lesen mit dem meditativen, attentiven Lesen nicht enger zusammenhängt, als es der Blick auf den Inhalt der Texte vorerst zu denken erlaubt. Stille Lektüre Bei heiligen Texten führt die meditierend-inkarnierende Lektüre zu einer Veränderung des Körpers auf eine sowohl affektive wie handlungs-pragmatische imitatio Christi hin. Anders ist dies bei säkularen Texten, die über die aufmerksame und affektive Lektüre genauso den Körper angreifen können, da aber Spuren hinterlassen, die nicht unbedingt dazu gemacht sind, das ewige Heil zu erlangen. Im Gegensatz zu der Verkörperung im Raum des Vorlesens, wie wir es an den zwei ersten Beispielen gesehen haben, realisiert sich bei der stillen Lektüre das Geschehen aber im Innern des Lesenden. Und hier wird Lektüre gefährlich. enzndet und gesÞret: affizierendes Lesen Worin die Gefahr der intensiven stillen Lektüre bestehen kann, zeigt sich deutlich an einer kleinen Erzählerbemerkung in Heinrichs von dem 47 Ich danke Burkhard Hasebrink, der in der Diskussion auf diesen hochinteressanten Aspekt weltlichen Lesens hingewiesen hat. Die kurzen Ausführungen hier sind als Anfang einer Antwort zu verstehen.
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Türlîn Diu Cr ne.48 Eigentlich handelt es sich um eine Leserbemerkung, die sich in einer mit erotischem Begehren höchst aufgeladenen Szene findet: Der in Liebe zu Amurfina entbrannte Gawein wird zu dieser geführt, die ihrerseits ganz ungeduldig auf ihren Gast wartet. Da heißt es nun: Als Gwein in die kamer gienc, Sie stuont f von ir stat, Einen schrit sie vr daz bette trat Und gap im einen solhen gruoz, D von mn herze lange muoz Enzndet und gesÞret wesen; Als ich ez en franzois hn gelesen, Sie kust in an der stunde. (V. 8140 – 8147)
Der Erzähler bringt sich hier als Leser ins Spiel, der durch seine Lektüre der französischen Vorlage an dieser Stelle dermaßen affiziert wurde, dass sein Herz nachhaltig entbrannte. Die Wirkung dieser Lektüre ist nicht mehr die Veränderung des Raumes oder die Vergegenwärtigung einer Handlung im Raum, sondern die Involvierung des eigenen Körpers in das Gelesene. Es ist keine auf Handlung gerichtete imitatio, sondern ein affektives Erleben im Moment des Lesens. Der Leser tritt für einen Augenblick an die Stelle des Protagonisten, so dass sein Körper stellvertretend die affektive Reaktion des Protagonisten erlebt. Sehr direkt ist hier vorgestellt, wie der Leser im Akt des Lesens dem Protagonisten seinen Körper leiht im Augenblick gesteigerter Affekte und darüber zu einem Teil der Handlung wird. Entsprechend ist der Körper des Lesers dann so betroffen von dem Geschehen, wie es intradiegetisch dem Protagonistenkörper zukommt. Ist nun aber der Moment der Affizierung mit dem Moment der Lektüre dieser Stelle identisch, wird die Wirkung auf Dauer gesetzt. Noch jetzt, im Augenblick des Wiedererzählens, ist der Effekt dieser früheren Lektüre wirksam, was dieser die 48 Heinrîch von dem Türlîn, Diu Cr ne, hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl, Stuttgart 1852 (Neudruck Amsterdam 1966) (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 27). Ich zitiere nach dieser Ausgabe. Knapp und Niesner konjizieren in der Neuausgabe gegen die Handschriften, aber mit Samuel Singer mein/myn in V. 8144 zu ein, was meines Erachtens die Stelle unnötig abschwächt; Heinrich von dem Türlin, Die Krone (v. 1 – 12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zlatloukal und Horst P. Pütz, hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (Altdeutsche Textbibliothek 112).
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Qualität des physischen Erlebnisses gibt. Darüber wird die rhetorische Qualität dieser Lektürebeschreibung deutlich: Die topische Quellenberufung zur Wahrheitsbeteuerung und Absicherung eines Erzählten wird hier noch gesteigert durch die Authentizitätsformel des eigenen Erlebens. Anders aber als der Unsagbarkeitstopos, über den erotische Szenen gern der Imagination der Leser/Hörer überlassen werden, wird hier durch das Dazwischenkommen des Erzählerkörpers affektiv-mimetische Lektüre in ihrer den Leser-Körper erotisierenden Wirkung vorgeführt. Und so führt der Prozess des Lesens denn auch wieder aus diesem Rollentausch hinaus und es wird wieder die Grenze eingezogen zwischen dem Leser-Ich und dem Protagonisten. Da, wo die Ursache dieses Erlebens im narrativen Zusammenhang genannt wird, ist der Protagonist nicht mehr das Leser-Ich, sondern in der dritten Person benannt: si kust in ander stunde. Über dieses Bloßlegen des Verfahrens, dieses Aufzeigen des an diesem Text realisierten Lesekonzepts, wird aber gerade die aus moraldidaktischer Sicht gefährliche Unmittelbarkeit der entzündenden Lektüre für den textexternen Leser gebrochen. Indem nicht Gaweins Affekt beschrieben wird, sondern der des stellvertretenden Lesers, wird die Verkörperlichung im Sinne eines Mit-Lebens, über das die affektive Aufladung der Protagonistenfigur im Leser geschieht, zum Objekt der Imagination und Nachahmung des Rezipienten von Heinrichs Text. Was hier im Kleinen geschieht, dass eine intensive, den Körper des Lesers affizierende Lektüre vorgeführt wird, so dass der sozusagen sekundäre Rezipient in mimetischem Leseprozess den Vor-Leser nachahmt und so dessen Imaginations-Kraft übernimmt, wird ausführlicher noch vorgeführt und reflektiert in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn. schouwen unde spehen: meditierendes Lesen Eine der eindrücklichsten Leseszenen findet sich am Anfang von Konrads von Würzburg Der Welt Lohn. 49 Es ist eine Lektüre, die als stille Lektüre inszeniert ist, ihrerseits aber auch schon Objekt einer Lektüre des Erzählers war, über die sich die Geschichte nicht nur in ihrer 49 Vgl. dazu auch: Lechtermann, Berhrt werden (Anm. 6), S. 73 – 77. Sie betont auch die Lektüresituation, die in anderen Interpretationen eher ausgeklammert wird.
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Wahrhaftigkeit legitimiert, sondern auch zum Exempel wird, dessen Befolgung eine mimetische Lektüre initiieren soll.50 Wirnt von Grafenberg, der perfekte Ritter und Minneritter, aber auch bekannter Autor des Wigalois, den er der werlt ze minnen, deren gruoz er gewinnen will, geschrieben hat,51 wird vorgestellt, wie er sich einen ganzen Tag lang in einer geschlossenen Kemenate mit einer Liebeserzählung vergnügt: Sus saz der h chgelobte in einer kementen, mit frçuden wol berten, und hæte ein buoch in sner hant, dar an er ventiure vant von der minne geschriben. dar obe hæte er d vertriben den tag unz f die vesperzt; sn frçude was vil harte wt von sezer rede die er las. (V. 52 – 61)
Die Lektüre ist es, die seine Befindlichkeit bestimmt und seine Kemenate üppig mit Freuden ausstattet (V. 54). Sie konstituiert einen Raum, wie sie auch am Anfang des Iwein die im Text evozierte arturische Festfreude in den Raum des Lesens hereinholt. Der zuvor geschilderten, sowohl in Ritter- wie in Minneangelegenheiten erstaunlichen Handlungslust des Protagonisten wird die Leselust gegenübergestellt, die durch die von ihm im Buch gefundene Minne-ventiure geweckt wird; so, wie am Anfang des Iwein der ,Werk‘-Freude am Artushof die ,Wort‘-Freude der Geschichte als Äquivalent – wenn nicht sogar als gesteigerte Form des Vergnügens – gegenübergestellt ist.52 In diese Lektüresituation hinein nun tritt die Frau an ihn heran, die seinem Wunschbild entspricht, ein wp nch snes herzen ger (V. 64). Auch hier spielt das imaginative Begehren, die attentio in ihrem erotischen Sinn, eine entscheidende Rolle in dem Moment, wo es in der Lektüre 50 Zu den Vermutungen, dass der Text im Zusammenhang mit dem „Oberrheinischen Kreuzzug“ von 1267 stehe vgl. Rüdiger Brandt, Konrad von Wrzburg. Kleinere epische Werke, Berlin 2000 (Klassiker Lektüren 2), S. 105 f. 51 Wirnt von Grafenberc, Wigalois, Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin – New York 2005, V. 141 – 144. Dieser Text inszeniert sich seinerseits als ein gelesener und eröffnet eine Lektüresituation, indem der Texte beginnt: Wer ht mich guoter f getn? (V. 1). 52 Iwein, V. 54 – 58. Vgl. dazu oben.
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zu einer Vor-Stellung, einer Verkörperlichung des Gelesenen kommt. War es zu Beginn des Iwein das wunsch leben, das sich über die Lektüre im Raum der Lesenden/Hörenden realisierte, im Garten der Burg zum Schlimmen Abenteuer das Wunschbild einer Jungfrau, in dem sich der ventiure-Text im Lesen verkörperte, ist es hier die Wunschfrau, die sich in der Lektüresituation einstellt. Sie ist jedoch durch ihre anfangs ausschließlich visuell erfahrene Präsenz deutlich als Erscheinung gezeigt. Die Beschreibung ihrer blendenden Schönheit ist durch den Überbietungstopos gerahmt: daz man nie schœner wp gesach (V. 67) und ez wart nie minneclicher wp j beschouwet f der erde (V. 90 f.). Der ganze Raum ist von ihrem Glanz so ausgefüllt, dass es zu einer regelrechten Blendung kommt (V. 80 – 83). Genauso entziehen sich ihre Attribute, die Kleider, der Wertschätzung, indem sie unbezahlbar, also auch nicht (er)zählbar sind. Sie tritt in die durch Freude ausgestattete Kemenate, wird dadurch zu einem Teil dieses Freudenraums und reagiert auf ein Herzensbegehren des Ritters (ein wp nch snes herzen ger j ze wunsche wol geprevet gar, V. 64 f.). Der lesende Ritter erschrickt und staunt über die Tatsache, dass hier sein Wunschobjekt plötzlich scheinbar leibhaftig vor ihm steht (V. 101 – 107). Wenn die Frau dann beruhigend sagt, dass sie nur das letzte Ziel seines Dienens sei, er also nicht erschrecken, sondern sie besser mal genau anschauen solle, kippt die über die Lektüre provozierte imaginative Präsenz des Wunschobjekts ins Objekt einer Erkenntnis, besser: eines Erkenntnisprozesses. Dies ist der Moment, in dem eine meditative und auf Selbst- wie Gotteserkenntnis angelegte Lektüre beginnt. Diese soll zwar von Begehren geleitet sein (nach dnes herzen ger, V. 146), soll aber kein geblendetes Betrachten, sondern ein hin- und herwendendes, ein reflektierendes Beschauen sein. Mit Bezug auf die grundlegende Vorstellung, dass am Anfang aller Weisheit und Erkenntnis die Furcht und das Staunen stehen, markiert der Schreckmoment den Anfang der meditativen Lektüre und der Erkenntnissuche.53 dar umbe bin ich komen her, daz d nch dnes herzen ger mnen lp von h her kr beschouwest wider unde fr (V. 145 – 148).
53 Vgl. u.a. E. Jain/T. Trappe, „Staunen, Bewunderung, Verwunderung“, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 116 – 126.
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Die genaue Betrachtung soll ihm letztlich zeigen, was für einen Lohn er für seinen Dienst zu erwarten hat: den solt du schouwen unde spehen (V. 153). In diesem Moment der genauen Betrachtung, die die Reflexion fordert, wird die Szene zu einem tegedinc, einer durchaus auch juristisch konnotierten Zusammenkunft und Besprechung. Und der Ritter wundert sich, dass er mit dieser Frau, die er mit eigenen Augen noch nie gesehen hat (V. 162 und 168), irgendwelche Dienstbindungen gehabt haben soll. Indem sich das Wunschbild aus der durch die Lektüre provozierten Erscheinung löst und in eine verbale Interaktion tritt, wird nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers gefordert, sondern auch eine allgemeine, alles Konkrete übersteigende Vorstellung in die Konkretisierung des Erfahrbaren hereingeholt. Gleichzeitig wird die bisher nur als blendende Erscheinung wahrgenommene Frau über die Anrede durch den Ritter in der Suche nach ihrer Identifizierung auch mit Tugenden und sælde ausgestattet: ir hnt s h her sælden vil j und als
manicvalte tugent (V. 176 f.). Die reine Oberflächenstruktur der ersten Erscheinung (durliuhtec als ein spiegelln, V. 79) wird im Blick auf die Individuation zum Spiegel ethischer Werte. Hinter der Frage nach Land und Name steckt der Versuch, die Gestalt in ein soziales Gefüge einzuordnen. Durch die Preisgabe ihres ,Namens‘ unterläuft sie aber gerade die Individualisierung, indem sie sich als Allegorie zu erkennen gibt: diu Werlt bin geheizen ich (V. 212). Mit dieser Selbstbestimmung gibt sie, durch eine Drehung ihres Körpers, den Blick frei auf den wahren Lohn, den der Ritter von ihr zu erwarten hat: Moder und Tod. Hie mit, mit dieser Drehung und dem sich in Gestank auflösenden Vergänglichkeitsbild, verschwindet sie. Das Herz des Ritters aber, das ihn zuvor die Frauen begehren ließ, rät ihm nun von diesen abzulassen und sich Gott zuzuwenden, was er durch Teilnahme an einem Kreuzzug auch tut. Diese Umkehr des Ritters, eine Wendung seiner Lebenshaltung, ist als Wende der Lese-Haltung gezeigt. Die intensiv-affizierende MinneLektüre, die zur Erscheinung des Begehrten führt, wird durch die geistlich-allegorische Lektüre abgelöst, über die sich die Erscheinung schließlich in ein stinkendes Nichts auflöst. Was hier thematisiert wird, ist der Umschwung einer im Literalsinn sich vergnügenden fleischlichen Lektüre zu einem reflektierten Bedenken des über die Lektüre Vorgestellten bis hin zu einer Wahrheitserkenntnis, in der sich die Scheinbarkeit des Zeichenhaften ent-
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larvt.54 Die über die Lektüre provozierte verführerische Erscheinung funktioniert rein im Visuellen. Da, wo der Dialog ins Spiel kommt, erfolgt eine erste Distanznahme durch die Reflexion des Gesehenen, und im Moment, in dem sich die Erkenntnis der Wahrheit ereignet, löst sich das verflüchtigende Bild in Gestank auf. Der Erzähler inszenierte sich zu Anfang als einer, der diese Geschichte selber in einem Buch gelesen hat. Hier nun stellt er sie als Exempel vor, das zu mimetisch erkennender Lektüre anregen soll. Dadurch wird die mimetische, dann meditierende, dann erkennende Lektüre des Ritters zum Exempel einer mimetischen Lektüre seiner eigenen Geschichte.55 Dieses letzte Beispiel eines sich über die Lektüre von Minneromanen bekehrenden Ritters zeigt sehr deutlich, dass hier ein Lektürekonzept im Spiel ist, das auf die meditative, reflektierende und auf Wahrheitserkenntnis zielende Lektüre rekurriert. Dass der Minneroman über seine Rezeption zur Bekehrungsliteratur werden kann,56 verlangt vom Text spezifische Eigenschaften. Abgesehen davon, dass eine exklusive Rezeptionssituation konstituiert werden muss, muss er eine gesteigerte Aufmerksamkeit (attentio) auf sich ziehen können, über die eine affektive Aneignung ermöglicht wird, die ganz direkt den Körper beeinflusst und formt. Es sind Legitimierungsstrategien notwendig, die den Text mit einem Wahrheitskern ausstatten, der als Lohn für die Anstrengungen meditativer Lektüre versprochen wird. Der Text wird zum Wahrheitstext, der vor verfälschendem Lesen bewahrt werden muss und zu dem lügenhafte Leser keinen Zugang haben sollten. Die Lektüre wird zur anstrengenden Kunst, die verschiedene Tugenden verlangt, allen voran stæte und triuwe. 57 Das aber sind genau die text-
54 Ich denke nicht, dass von einem „gegen den Strich“-Lesen die Rede sein kann, wie das Brandt meint, sondern von verschiedenen Methoden des Lesens; Brandt, Konrad von Wrzburg (Anm. 50), S. 107. 55 Man kann sich fragen, inwiefern sich der Text von Konrad von Würzburg nicht gerade über diese Veränderung des Lektürekonzepts von literarischen Texten wie den Minneromanen absetzt. Es geht nicht mehr um intensive, meditative Lektüre, sondern um auf Handlung bezogene mimetische Lektüre. 56 Folgt man nun aber der Idee, dass der Text von Konrad von Würzburg, in dem sich dieses Lektüreerlebnis findet, in engem Zusammenhang mit dem „Oberrheinischen Kreuzzug“ von 1267 steht, wird der Text zum propagandistischen Text. Vgl. Anm. 50. 57 Vgl. dazu die Prologtopik, zu der die Verwahrung gegen Fälscher und Neider gehört, die durch eine nicht richtige Lektüre, was in der Regel ein nicht
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und leserkonstituierenden Topoi der Prologe höfischer Erzählungen. Aus der Perspektive der Erzählforschung kann man darin „Reflexe einer ritualisierten Erzählpraxis sehen“.58 Ich möchte es weniger „Reflexe“ nennen als Konstituenten eines Lesekonzepts, das sich an ritualisierte, institutionalisierte Lesekonzepte aus dem geistlichen Bereich anschließt, diese nun aber nicht mehr über textexterne Inszenierungen, sondern im Text selber zu verwirklichen sucht.59
Schluss Die ,religiöse‘ Suche nach Wahrheit, die weltlich-literarische Texte vom Leser verlangen, löst dessen Erkenntnisbegehren aus dem liturgischen oder monastischen Rahmen, in dem es durch Ritualisierungen, Regeln und feste Praktiken gefasst, geleitet und kontrolliert ist. Entsprechend muss der literarische Text selber nicht nur eine Wahrheit für sich beanspruchen, sondern auch den Zugang zu ihr, das Lesen regeln. Dies geschieht im Rückgriff auf Mechanismen religiöser Lektürerituale und -gesten. Anders als bei religiösen Texten, wo der Leser durch die Situierung in einem spezifischen, institutionalisierten und ritualisierten Kontext geführt wird, sind diese leserleitenden Regulierungen beim weltlichen Text in ihm selber enthalten. Damit wird die Ritualisierung, Regulierung und Institutionalisierung des Textes in den Text selber hereingeholt. Das heißt aber auch, dass diese Texte, gerade weil sie aufmerksames Lesen/Hören meint, den Text in seinem Wahrheitsgehalt beeinträchtigen. 58 Kartschoke, „Erzählen im Alltag“ (Anm. 16), S. 35. 59 Der Text, an dem sich die hier sehr skizzenhaft vorgeführten Überlegungen ganz deutlich zeigen, ist der Tristan von Gottfried von Strassburg. Ich habe ihn hier bewusst ausgespart, da seine Komplexität eine eigene Untersuchung verlangt, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann. Dass in ihm religiöse Lesekonzepte reflektiert werden und für das Werk konstituierend sind, hat jüngst auch Eckart Conrad Lutz deutlich gemacht. Er definiert den Text von Gottfried „als Gegenstand meditativer Aneignung“. Wobei ich die in seiner Analyse vollzogene Rückbindung der Tristanlektüre in eine letztlich doch wieder didaktisch-moraltheologisch zu verstehende moraliteit-Vermittlung nicht sehen kann; Eckart Conrad Lutz, „,lesen – unmüezec wesen‘. Überlegungen zu lese- und erkenntnistheoretischen Implikationen von Gottfrieds Schreiben“, in: Christoph Huber/Victor Millet (Hrsg.), Der ,Tristan‘ Gottfrieds von Strassburg. Symposion Santiago de Compostela, 5.–8. April 2000. Tübingen 2002, S. 295 – 315.
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außertextuelle Mechanismen der Lektüreleitung und Lesekonzeption textimmanent konstituieren und sichern wollen, diese forcieren müssen. Ein Text, der so funktioniert, schafft sich eine Absolutheit in dem Sinn, dass er keinen spezifischen Rezeptionskontext mehr braucht. Der weltliche literarische Text ist damit gerade der von der Welt unabhängige Text, der sich seinen quasi-sakralen Rezeptionsraum selber konstituiert. Es stellt sich hier nun die Frage, ob intradiegetische Erzählsituationen sich nicht gerade deshalb einer kulturgeschichtlichen Interpretation entziehen und ihre verschiedentlich schon festgestellte Unalltäglichkeit nicht gerade Mittel ist, die Textlektüre selber als exklusiven Raum zu konstituieren.60 Interessant ist, dass diese Unabhängigkeit des Textes, zu der auch der scheinbar freie Zugang gehört, mit verschiedenen Mitteln, vor allem Paratexten wie Lektüreregelungen in den didaktischen Schriften und Reflexionen über Nutzen und Schaden der Lesefähigkeit von Frauen, wieder beschränkt werden soll. In diesen Versuchen der Reglementierung manifestiert sich ein neues Problem: Wie geht man mit einer grundsätzlich frei zugänglichen Textwelt um, über die sich Leser in einer nicht ritualisierten und institutionalisierten Form zu exklusiven Gruppen zusammenschließen können oder außerhalb des Handlungsraumes Hof – damit aber auch außerhalb der darin sich konstituierenden sozialen und ethisch-moralischen Ordnung – zu affektiven Erlebnissen finden, die aus gesellschafts-, macht- und geschlechterpolitischer sowie moralischer Perspektive ihren Körper und ihre Person gefährden können? Das nun aber ist eine Frage, die im Blick auf die didaktisch-reglementierende Literatur, auf Zensur und den Literaturbetrieb zu beantworten wäre.
60 Vgl. zur Problematik der Analyse der Leseszenen: Kartschoke, „Erzählen im Alltag“ (Anm. 16), bes. S. 26 f. und 32 f.
Kommunion und Kommunikation. Eucharistische Verhandlungen in der Literatur des Mittelalters Michael Stolz Der vorliegende Beitrag versteht sich als Baustein eines Forschungsvorhabens, das auf einer sehr viel umfassenderen Materialbasis entwickelt werden müsste, als dies im Rahmen der folgenden Seiten geschehen kann. Was dieses Projekt zu leisten hätte, wäre die Beschreibung der Eucharistie als konstantes Thema und wichtiges Subsystem literarischer Kommunikation im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Als zentraler Bestandteil der vorreformatorischen Messfeier ist das Abendmahl1 ein Gemeinschaft stiftendes Ritual, in dem sich Kleriker und Laien begegnen, also eben jene sozialen Gruppen, deren Interaktion – bei durchaus asymmetrischen, in ihrer Anlage aber prinzipiell dynamischen Kompetenzverteilungen – die Entfaltung volkssprachiger Literaturen bedingt. Die Eucharistie ist in ihrer Bedeutung so grundlegend, dass sich ihr kein Angehöriger der christlichen Welt des Mittelalters entziehen kann. Sie ermöglicht und garantiert Teilhabe am corpus mysticum der Kirche, grenzt aber zugleich aus, indem sie Andersgläubigen und (vermeintlichen) Renegaten den Zugang zum Heil verweigert. Sie ist an bestimmte Normen und Tabus gebunden, deren 1
Dazu grundlegend: Burkhard Neunheuser, Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit, Freiburg/Br. [u.a.] 1963 (Handbuch der Dogmengeschichte IV.4b); Erwin Iserloh/Joachim Staedtke, „Abendmahl. III/2. Mittelalter. III/3. Reformationszeit“, in: Theologische Realenzyklopdie, Bd. 1, Berlin [u.a.] 1977, S. 89 – 131; Peter Browe, Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einführung hrsg. von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer, Münster [u.a.] 2003 (Vergessene Theologen 1). Für die folgenden Ausführungen sind ferner zentral: Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge [u.a.] 1991; Arnold Angenendt/ Thomas Kaufmann, „Abendmahl. II. Kirchengeschichtlich. 2. Mittelalter. 3. Reformation“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwçrterbuch fr Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 21 – 28; Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, 2., überarb. Auflage, Darmstadt 2000, S. 488 – 515.
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Transgression (etwa im Hostienfrevel) Formen kulturellen Vorverständnisses der sich über die Eucharistie definierenden Gemeinschaft erst sichtbar macht. Seit der Patristik ist die Eucharistie Konvergenzpunkt von Zeichenlehren, welche die aus dem biblischen Abendmahl abgeleitete Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi – vereinfacht ausgedrückt – in einer Polarität von Realpräsenz und Symbolhaftigkeit zu bestimmen versuchen. Die Messe kann dabei als „Passionsspiel“2 betrachtet werden, das je nach theologischem Standpunkt die Gegenwärtigkeit des geopferten Leibs Christi verbürgt oder eine repraesentatio passionis leistet.3 Im Rückgriff auf den neutestamentlichen Wortlaut wird im Spätmittelalter zunehmend die Funktion der Eucharistiefeier als Gedächtnis des Leidens Christi (nach Lk 22,19) relevant4 ; zugleich verlagert sich der Begriff der communio vom Verständnis eines Einswerdens mit Christus zugunsten einer Teilhabe an der christlichen Gemeinschaft.5 Diese Tendenzen kulminieren in dem (seinerseits durchaus vielfältigen) Eucharistieverständnis der Reformationszeit, das sich mit seinen Vorläufern seit dem 15. Jahrhundert neben jenes der etablierten ,katholischen‘ Kirche stellt. Als grundsätzliche, letztlich nicht aufhebbare Spannung bleibt dabei die Tatsache bestehen, dass der wie auch immer präsente beziehungsweise re-präsentierte Leib Christi dem Leib der Gläubigen inkorporiert wird und diese damit zu Angehörigen des Leibs einer in Kommunikation stehenden kirchlichen Gemeinschaft macht. Diese Formen des körperlichen Einverleibens und Eindringens in andere Körper sind zuletzt von Hans Ulrich Gumbrecht als Kategorien einer „Präsenzkultur“ beschrieben worden. Gumbrecht konfrontiert dabei die auf Körperlichkeit ausgerichtete Befindlichkeit der „Prä2 3 4
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Iserloh, „Abendmahl“ (Anm. 1), S. 90. Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Lentes im vorliegenden Band. Vgl. Thomas Lentes, „Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts“, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hrsg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhltnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frhen Neuzeit, Mainz 2000, S. 21 – 46. Vgl. dazu neben den in Anm. 1 genannten Arbeiten Régis Debray, Les communions humaines. Pour en finir avec ,la religion‘, Paris 2005, bes. S. 59 – 64, wo in Fortführung dieser reformatorischen Auffassung der Gedanke entwickelt wird, dass der Begriff der ,Glaubensgemeinschaft‘ (communion) besser geeignet sei, religiöse Phänomene zu beschreiben, als dies der Begriff der ,Religion‘ vermöge.
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senzkultur“ mit Kategorien einer stärker geistig orientierten Weltaneignung, die er dem der „Präsenzkultur“ entgegengesetzten Pol einer „Sinnkultur“ zuschreibt. Für Letztere führt er Stichworte wie „Mystik oder Mystizismus“ (verstanden als Kombination ritualisierter Körperpraktiken mit der Wahrnehmung transrealer Phänomene) sowie „Interpretation und Kommunikation“ (verstanden als die Produktion von Sinn par excellence) an.6 Der auf diese Weise eröffneten Basisopposition von „Präsenzkultur“ und „Sinnkultur“ werden weitere Dichotomien zugeordnet, so unter anderem jene von Körper versus Subjektivität, offenbartem Wissen versus begrifflichem Wissen, aristotelischer versus Saussurescher Zeichendefinition (Substanz-Form versus Signifikant-Signifikat), kosmologischem versus dynamischem Rhythmus, Raum versus Zeit, Bewahrung versus Innovation, Fehlen beziehungsweise Vorhandensein von Fiktion.7 Diese Gegenüberstellungen kulminieren in der Unterscheidung zwischen der am Abendmahl als „prototypische[m] Ritual“ orientierten „Präsenzkultur“ des Mittelalters und der im Gestus der Parlamentsdebatten konkretisierten „Sinnkultur“ der Moderne.8 Das mittelalterliche Eucharistieverständnis erweist sich dabei als ein zentraler Bezugspunkt der von Gumbrecht beschriebenen „Präsenzkultur“9, wobei Gumbrecht durchaus sieht, dass sich die Produktion von Präsenz nicht auf das Mittelalter beschränkt (wenn sie auch dort besonders ausgeprägt ist) und dass sich bereits im Mittelalter (wie auch in der nachmodernen Gegenwart) Komponenten der „Präsenzkultur“ mit jener der „Sinnkultur“ in einer mitunter oszillierenden Weise verschränken. Diese Auffassung berührt sich auffällig mit jüngeren Forschungsergebnissen zur Semiotik der vormodernen Abendmahlslehre, wie sie von Vertretern einer kulturwissenschaftlich orientierten Mediävistik und Frühneuzeitforschung, namentlich von Sergiusz Michalski, Thomas Lentes und Hans Belting, vorgelegt wurden. Auffällig ist in diesen Arbeiten eine konsequente Koppelung des Eucharistieverständnisses an jeweils zeitgenössische Konzepte von Bilderkult und Bildtheorie (besonders die Diskussionen um das biblische Bilderverbot und um die vera icon, das ,wahre Bild‘). Wie die genannten Autoren zeigen konnten, 6 7 8 9
Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Prsenz, Frankfurt/M. 2004, S. 107 – 110. Vgl. ebd., S. 100 – 104. Ebd., S. 105. Vgl. neben S. 105 bes. S. 46 – 48.
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werden im Zusammenhang mit Abendmahl und Bildverehrung Fragen verhandelt, die auf den realen beziehungsweise symbolischen Status göttlicher Gegenwärtigkeit zielen und die dabei letztlich „das gesellschaftliche Symbolsystem als Ganzes“ im Blick haben.10 Die Vergleichbarkeit der Argumente und Kontroversen um Abendmahl und Bildkult erweist sich dabei bereits im vorreformatorischen Mittelalter als so schlagend, dass getrost von einer „Parallelisierung“11 ausgegangen werden kann. Im Abendmahlsstreit des frühen und hohen Mittelalters setzt die offizielle Lehrmeinung der Kirche gegen den antirealistischen Symbolismus (vertreten durch Theologen wie Rathramus oder Berengar von Tours) die Materialidentität zwischen den sakramentalen Zeichen von Brot und Wein und dem damit bezeichneten Opfer von Christi Leib und Blut durch.12 Diese Auffassung gipfelt in der anlässlich des vierten Laterankonzils von 1215 dekretalisch formulierten Transsubstantiationslehre: „Sein Leib und sein Blut sind im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten, nachdem durch Gottes Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesensverwandelt sind“.13 Hinter dieser Lehre steht ein aristotelischer Zei10 So Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 42, ähnlich S. 38: „Abendmahls- und Bilderfrage“ als „intellektuelle Modelle“ und „Schlüssel“ für „den gesamten Komplex symbolischen Verhaltens zumal im späten Mittelalter“. Vgl. auch Sergiusz Michalski, „Bild, Spiegelbild, Figura, Repraesentatio. Ikonitätsbegriffe im Spannungsfeld zwischen Bilderfrage und Abendmahlskontroverse“, in: Annuarium Historiae Conciliorum. Internationale Zeitschrift fr Konziliengeschichtsforschung, 20/1988, S. 458 – 488; ders., The Reformation and the visual arts. The Protestant image question in Western and Eastern Europe, London – New York 1993; sowie die Arbeiten von Hans Belting, zuletzt: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, hier bes. S. 86 – 93 und 168 – 172. Verwiesen sei ferner auf die Beiträge von Gerhard Wolf, „Vera icon. Das Paradox des wahren Bildes“, in: Christoph Geissmar-Brandi/Eleonora Luis (Hrsg.), Glaube Hoffnung Liebe Tod, 2., korr. Auflage, Klagenfurt 1996 (Katalog der Kunsthalle Wien. Graphische Sammlung Albertina), S. 430 – 433; und ders., „Veronika mit der Veronika. ,Das unbegreiflich Heraufgekommene von etwas noch Abwesendem‘“, in: ebd., S. 434 – 437; Bruno Quast, „Vera Icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst in der Veronika des Wilden Mannes“, in: Jan-Dirk Müller/Horst Wenzel (Hrsg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart – Leipzig 1999, S. 197 – 216. 11 Michalski, „Bild“ (Anm. 10), S. 460. 12 Vgl. Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 23 f. 13 Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sanguinem potestate
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chenbegriff, der die Substanz von den sinnlich wahrnehmbaren Akzidenzien unterscheidet: Die Substanzen von Brot und Wein wandeln sich in die Substanzen des Leibs und Bluts Christi, doch bleiben dabei die Akzidenzien wie äußere Form, Farbe, Geschmack erhalten.14 Die auf diese Weise dogmatisch festgeschriebene, wenn auch theologisch nie unumstrittene „materielle Präsenz“15 findet ihre Entsprechung in einer, ihrerseits kontrovers diskutierten, Auffassung von der Bildidentität mit dem Dargestellten, die regelrecht zu einer „Allianz von Reliquie und Bildwerk“16 führen kann. Erst im Spätmittelalter und in der Reformationszeit wird jene Auffassung dominant, der zufolge die den eucharistischen Gaben gleichwie den Bildern zugesprochene Präsenz in das Gedenken einer vergangenen Heilszeit verlagert wird.17 Messfrömmigkeit und Bildkult verschieben sich dabei zunehmend in die „Sphäre des Subjektiven“.18 Die Überblendung der in der jüngeren Forschung, insbesondere von Lentes, gewählten Begriffe mit jenen von Gumbrecht (Materialität als Merkmal der „Präsenzkultur“, Subjektivität als Merkmal der „Sinnkultur“) ist hier besonders deutlich. Einen historischen Gipfelpunkt erreicht die antirealistische Haltung in den innerreformatorischen Auseinandersetzungen. Während Martin Luther in dem liturgischen Satz hoc est corpus meum die durch die Wandlung bewirkte ontologische Identität des Brots (auf das der Priester mit dem Demonstrativpronomen hoc deiktisch verweist) mit Christi Leib sieht, versteht Huldrych Zwingli das Verbum est im Sinne einer
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divina. Lateinischer Wortlaut und deutsche Übersetzung zit. nach Iserloh, „Abendmahl“ (Anm. 1), S. 93, 103; vgl. auch Neunheuser, Eucharistie (Anm. 1), S. 29 f. So wird es bereits im 11. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit Berengar von Tours formuliert, etwa von Guitmund von Aversa in der Schrift De corporis et sanguinis Christi veritate in eucharistia: rerum quidem substantias mutari, sed […] priorem saporem, coloremque et cætera quædam accidentia ad sensus duntaxat pertinentia retineri (PL 149, Sp. 1427 – 1494, hier Sp. 1481). Vgl. Iserloh, „Abendmahl“ (Anm. 1), S. 92, 103; ferner Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), S. 46 f. Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 24. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 336 – 339 (Zitat S. 338); auch zitiert bei Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 24. Mitunter wird die Transsubstantiation mithilfe des Bildbegriffs (figura) erläutert, so etwa bei Thomas von Aquin; vgl. Iserloh, „Abendmahl“ (Anm. 1), S. 95. Vgl. Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 24 – 26. Ebd., S. 25.
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bedtung […] des lychnams Christi. 19 Diese Auffassung lässt es verständlich erscheinen, dass in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit die Begrifflichkeiten von zeichen und bedtnis einen zentralen Stellenwert einnehmen.20 Sie spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Verlagerung des Schwerpunkts von der mittelalterlichen „Präsenzkultur“ zur frühmodernen „Sinnkultur“. Auffällig ist, dass bei Zwingli das semiotische Verständnis von Abendmahl und Bildrepräsentation mit einer expliziten Aufwertung narrativer Vorgänge einhergeht. In der Kurzen christlichen Einleitung zu den Akten der zweiten Disputation vom 26.–28. Oktober 1523 erklärte er das Abendmahl mit Bezug auf Paulus (1 Kor 11,26) als widergedchttnus: Und wie die gedechtnus sçlle verhandlet werden, truckt Paulus hie eigenlich us und spricht: Denn so offt ir das brot essen werdend und das dranck trincken, sçllend ir den tod des herren verknden. 21 Im Gedächtnis des Abendmahls sollen die Gläubigen verknden unnd predigen das lyden und tod Christi; da e r z e l l e n, was es uns g Gtes und frydens gebracht hat. 22 Wie in der Eucharistie keine Realpräsenz Christi gegeben ist, so kommt nach Zwingli auch den Personendarstellungen in Bildern „keine Präsenzstiftung im Sinne einer Vermittlung von Heilskraft“23 zu: den glouben, darus alle ding bschehen m Fssend, mçgend uns die bild nit machen. 24 Deshalb seien die Bilder aus den Kirchenräumen zu verbannen: sie seien in den templen unlydenlich. Nur außerhalb der Gotteshäuser könne ihre Verwendung gestattet werden, sofern sie ohne kultische Absicht und nach Art von Geschichten erfolge: Wo sy in g e s c h i c h t e s w y ß ieman
19 Vgl. ebd., S. 26, mit Verweis auf Zwinglis Schrift ,Eine klare Unterrichtung vom Nachtmahl Christi‘, in: Huldreich Zwinglis smtliche Werke, Bd. 4, hrsg. von Emil Egli und Georg Finsler, Leipzig 1915 – 1927 (Corpus Reformatorum 91), S. 789 – 862, hier S. 794, Z. 1 f. Zum Verfahren ferner Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), S. 47, wo die Akzidenzien als (akzidentelle) „Form“ beschrieben werden. 20 Belege zu Zwingli, Calvin, Martin Bucer und dem altgläubigen Pfarrer Martin Steinlin aus Schaffhausen bei Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 25 – 28. Vgl. ferner Michalski, „Bild“ (Anm. 10), bes. S. 471 f. Auch hier wäre wieder an begriffliche Überschneidungen mit den Ausführungen bei Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), S. 47, zu erinnern. 21 Huldreich Zwinglis smtliche Werke, Bd. 2, hrsg. von Emil Egli und Georg Finsler, Leipzig 1906 – 1908 (Corpus Reformatorum 89), S. 662. 22 Ebd. Hervorhebung von mir. 23 Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 32. 24 Huldreich Zwinglis smtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 21), S. 657.
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hette one anleytung der eerenbietung usserthalb den templen, mçchte geduldet werden. 25 Diese Betonung des Narrativen dürfte symptomatisch für den semiotischen Prozess im Verständnis von Eucharistie und Bildkult sein: Das Erzählen seinerseits spielt eine Rolle in jenen symbolischen Vorgängen, die in den Abendmahls- und Bildkontroversen verhandelt werden. Es erscheint damit angebracht, die Vorgänge der „Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht“26 um die Dimension des Narrativen zu ergänzen und damit zugleich den Status des Erzählens in die von Gumbrecht entworfene Spannung von „Präsenzkultur“ und „Sinnkultur“ einzubinden. Narrative Formen fügen sich unter dieser Voraussetzung in die Polarität von körpergebundener Kommunion einerseits und sinnstiftender Kommunikation andererseits ein. Dieser Ansatz kann sich bis zu einem gewissen Grad auf Bruno Quasts Monographie Vom Kult zur Kunst 27 berufen, in der Quast, angeregt durch Hans Beltings kunstgeschichtliche Untersuchungen zu Bild und Kult 28, die spannungsreiche Dynamik von ritueller Gebundenheit und literarischer Repräsentation in volkssprachigen Texten mit religiöser Thematik aus dem 11. bis 16. Jahrhundert analysiert hat. Im Gegensatz zu Quast, der das mittelalterliche Eucharistieverständnis nur marginal einbezieht29, soll gerade dieses im Rahmen des vorliegenden Beitrags als Muster narrativer – und im weiteren Sinne literarischer Verfahren – herausgestellt werden. In einem zeitlichen Zurückschreiten von den im vorliegenden Abschnitt angeführten Texten der frühen Neuzeit zu solchen des Spätund Hochmittelalters gliedern sich die nachfolgenden Ausführungen wie folgt: (I.) Zunächst soll am Beispiel eines Strophenbars Heinrichs von Mügeln das zwischen Realpräsenz und zeichenhafter Repräsentation oszillierende Eucharistieverständnis im Spiegel eines literarischen (hier: lyrischen) Textes betrachtet werden. Davon ausgehend sind kurz Alternativen dieser Symbolauffassung, wie sie in heterogenen Gattungen wie dem spätmittelalterlichen geistlichen Spiel und dem Reisebericht begegnen, in den Blick zu nehmen. (II.) Anschließend soll am Beispiel 25 Ebd., S. 658. Hervorhebung von mir. 26 So der Untertitel von Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4). 27 Vgl. Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. ffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Frher Neuzeit, Tübingen – Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48). 28 Vgl. Anm. 27. 29 Vgl. Quast, Vom Kult zur Kunst (Anm. 27), S. 176.
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epischer und lyrischer Texte des hohen Mittelalters (Thomasins Welschem Gast, Gottfrieds Tristan, Walthers Alterston) beschrieben werden, wie die Symbolik von Abendmahl und Bildkult regelrecht in literarische Kontexte ,hineinerzählt‘ wird. (III.) Schließlich soll die Spannung von Eucharistieverständnis, Bildverehrung und Konzepten des Erzählens an kleineren Verserzählungen des Hoch- und Spätmittelalters verfolgt werden, welche die Konfrontation der Eucharistie mit außerchristlichen Religionen zum Thema haben (Der Judenknabe, Die Jdin und der Priester und Der Litauer).
I Um die Mitte des 14. Jahrhunderts widmet sich Heinrich von Mügeln in dem Strophenbar 15 – 17 seines Spruchwerks dem Geheimnis der eucharistischen Zeichenhaftigkeit.30 Zu Beginn von Strophe 15 stellt er an einen ungenannten Adressaten die Frage: Dich wundert, wie das brot wirt gotes lichnam her und es doch nicht getichten mag naturen ler, ab es got selber si ader ein zeichen? (15,1 – 3)
Mit der einleitenden Formel Dich wundert wird dem Adressaten unterstellt, dass er sich zwei Fragen widmet: Die erste betrifft die Auffassung, dass sich das Brot des Abendmahls – gegen die Lehre der Natur – durch Transsubstantiation in Gottes Leib wandle. Die zweite gilt dem theologischen Problem, dass das Brot (es) entweder mit Gott identisch ist (got selber) oder zeichenhaft auf ihn verweisen kann. Damit ist die Kernproblematik der Alternative von Realpräsenz oder zeichenhafter Repräsentation unmittelbar ausgesprochen. 30 Zitiert wird nach dem kritischen Text der Ausgabe: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mgeln. Erste Abteilung: Die Spruchsammlung des Gçttinger Cod. Philos. 21, hrsg. von Karl Stackmann, 3 Teilbände, Berlin 1959 (Deutsche Texte des Mittelalters 50 – 52), Teilbd. 1, S. 23 und 25. Vgl. zu den Strophen auch Johannes Kibelka, ,der ware meister‘. Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mgeln, Berlin 1963 (Philologische Studien und Quellen 13), S. 312 – 314; Dietlind Gade, Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fnfzehnten Jahrhunderts, Tübingen 2005 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 130), S. 296 – 312; Deutsche Lyrik des spten Mittelalters, hrsg. von Burghart Wachinger, Frankfurt/M. 2006 (Bibliothek deutscher Klassiker 191; Bibliothek des Mittelalters 22), S. 925 – 928.
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Im folgenden Vers liefert der Sprecher mit einem aus der zeitgenössischen Sprachlogik entlehnten Beispiel eine vermeintlich plausible Erklärung: ein zirkel ist ein zeichen und bedtet win (15,4). Damit zielt er, auch wenn die sprachtheoretische Diskussion der Zeit selbst stark im Fluss ist31, auf eine repräsentativ-symbolische Zeichenhaftigkeit der Eucharistie ab, wie sie später auch von einzelnen Reformatoren behauptet wird. Doch wird diese Position bereits in den folgenden Versen entschieden bestritten: wie gotes brot im zirkel nicht ein zeichen sin sal unde mag, kanstu des nicht erreichen, nim zeichen der naturen stark, die in der meit zurcke wart gedrungen. (15,5 – 8) 32
Der Abschnitt beginnt mit einem durch die Konjunktion wie eingeleiteten Nebensatz (wie … mag), der sich für die mittelalterlichen Rezipienten33 zunächst an den in Vers 4 enthaltenen Hauptsatz konzessiv anschließen lässt: Das sprachtheoretische Beispiel gilt, a u c h w e n n es nicht für den theologischen Sachverhalt herangezogen werden kann. Der eucharistische Leib Gottes (gotes brot) ,darf und kann‘ im zirkel kein Zeichen sein. Das Wort zirkel bedeutet in diesem Zusammenhang nämlich etwas anderes, wie sich erst in Strophe 17 offenbart: Es bedeutet die zirkelie, ein Sinnbild der umfassenden Wesenseinheit, die das
31 Der als Tavernenschild genutzte Fassreifen (zirkel; lateinisch: circulus vini) wird in der Regel für eine durch Konvention gewonnene, willkürliche Bezeichnung (significatio secundum placitum) herangezogen. Doch nutzen Vertreter der modistischen Sprachauffassung das Beispiel auch, um eine durch die Eigenschaften des bezeichneten Gegenstands motivierte Bezeichnung zu behaupten. Vgl. Michael Stolz, ,Tum‘-Studien. Zur dichterischen Gestaltung im Marienpreis Heinrichs von Mgeln, Tübingen – Basel 1996 (Bibliotheca Germanica 36), S. 423 – 425. 32 Das in Stackmanns Edition (sowie bei Gade, Wissen [Anm. 30], S. 296, 301, und in der Ausgabe von Wachinger, Deutsche Lyrik [Anm. 30], S. 454) nach zirkel gesetzte Komma streiche ich mit Kibelka, ,der ware meister‘ (Anm. 30), S. 313. 33 Zu rechnen ist mit einem mündlichen Vortrag oder vielleicht auch mit einer Lektüre in einer Handschrift, deren Interpunktion mehr Spielräume für das Verständnis lässt als die notwendig vereindeutigende Zeichensetzung einer modernen textkritischen Edition. Vgl. zur Problematik auch Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mgeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualitt, Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte 3), S. 162.
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himelische brot mit der Trinität eingeht (17,1 – 7).34 Unter der Voraussetzung dieser sich für den Rezipienten erst verspätet einstellenden Einsicht kann der wie-Satz in modaler Bedeutung – über die syntaktische Konstruktion einer Apo koinu – auch an den in Vers 6 folgenden Konditionalsatz angebunden werden: ,Wenn du nicht verstehen (erreichen) kannst, w i e sich die Eucharistie der repräsentativen Zeichenhaftigkeit entzieht, so nimm dir ein Beispiel an dem zeichen, durch das die gewaltige Natur bei dem im Zusammenhang mit der Inkarnation an der Jungfrau Maria (der meit) bewirkten Geschehen überwunden wurde.‘ Wie das Wort zirkel, so erhält hier auch das Wort zeichen eine neue Bedeutung: Es verweist anhand der Menschwerdung Christi auf die menschliche Logik übersteigende Ontologie der eucharistischen Verwandlung.35 Neben der Inkarnation (15,9) werden als typologischallegorische Beispiele für dieses natürliche Kräfte bannende Wunder die Verwandlung von Lots Frau (15,11 f., nach Gen 19,26) und die alchimistische Verwandlung von Quellwasser in Quarz (15,15) genannt. Abschließend wird dem Adressaten empfohlen, von Gottes lichnam her (15,16), das heißt ausgehend von dem inkarnierten Leib Christi ebenso wie dem in der Eucharistie präsenten corpus Christi (vgl. gotes lichnam her, 15,1), an das eucharistische Wunder der Wandlung zu glauben. Das Spiel mit den Mehrdeutigkeiten setzt sich dabei in dem Wort her fort, das in 15,1 Adjektiv (,erhaben‘), in 15,16 dagegen als lokales Adverb Bestandteil eines Kausativums (von … her) ist.36
34 Gade, Wissen (Anm. 30), S. 301 f., und Wachinger, Deutsche Lyrik (Anm. 30), S. 926, halten es für möglich, dass das Wort zirkel dabei auf die „runde Gestalt der Hostie“ (Gade, S. 302) anspielt. 35 Zu diesem Vorherrschen einer „ontologisch zurückgebundenen Zeichentheorie“ Lentes, „Auf der Suche“ (Anm. 4), S. 44, Anm. 47, in Auseinandersetzung mit Michalski, „Bild“ (Anm. 10), S. 470, und dem älteren Aufsatz von Hennig Brinkmann, „Die Zeichenhaftigkeit der Sprache, des Schrifttums und der Welt im Mittelalter“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 93/1974, S. 1 – 11. 36 Gade, Wissen (Anm. 30), S. 303, und Wachinger, Deutsche Lyrik (Anm. 30), S. 926 f., verzichten auf ein kausatives Verständnis des Syntagmas von dem lichnam her (15,16) und gehen bei her (wie für 15,1) von einer Adjektivform (,erhaben‘) aus. Sie nehmen deshalb in Bezug auf den folgenden Vers (wie das sin wandel ist in got, 15,17) „eine Staffelung im Eucharistiegeschehen“ (Gade), „eine verschobene Zeitperspektive“ (Wachinger) bei der Wandlung des Brotes in den Leib Christi an, ja vermuten „eine übergreifende Bedeutung […], etwa ,Sakrament‘“ (Wachinger). Dieser Ansatz scheint mir angesichts der vorgeschlagenen Interpretation verzichtbar.
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Strophe 16 wirft (in der anaphorisch wiederkehrenden Formel Dich wundert) die Frage auf, wie das eucharistische Brot die schlechten Menschen nicht daran hindert, eines ewigen Todes zu sterben, während es die guten Menschen gerade vor dem ewigen Tod errettet.37 Die Antwort erfolgt unter anderem erneut mit einem typologischen Beispiel: Der Sprecher verweist darauf, dass die Israeliten (als Typoi der guten Menschen) vor der Flucht aus Ägypten ihre Pforten mit dem Blut des Opferlamms ,bezeichneten‘, damit Gott an diesen Häusern nicht den Mord an den Erstgeborenen vollzog (Ex 12,12 f.) 38 : welch tor da nicht gezeichent wart mit sinem tren blute, zuhant darinne wart verlorn das erst geborn. (16,15 f.) Dabei kommt erneut der in Strophe 15 entwickelte – übernatürliche – Zeichenbegriff ins Spiel, wenn von der Bezeichnung der Türen mit dem Blut des Opferlamms die Rede ist, das hier auch auf das eucharistische Agnus Dei zielt.39 Zugleich setzt sich in der Assonanz von tor (,Tor‘) und tren (Adjektiv: ,teuer‘, ,kostbar‘, aber nicht ,Türen‘) das Spiel mit semantischen Mehrdeutigkeiten fort. Strophe 17 treibt diese aus der Typologie entwickelte Argumentation weiter und bringt dabei vom ersten Vers an die zentrale These von der eucharistischen Realpräsenz zum Ausdruck: Ein ding mit gote wirt das himelische brot. Der mit dem Blut des Opferlamms angedeutete Gedanke der Passion Christi, der zusammen mit der Präsenz des himmlischen Brots zugleich Gegenstand der eucharistischen Argumentation ist, wird nun in den Eckversen der Strophe über metaphorische Umschreibungen des Kreuzestodes evoziert (gespannen an den schrank, 17,2; gezwicket zu dem aste, 17,17). Um den nunmehr prominent platzierten Zentralbegriff der zirkelie (der ,umfassenden Wesenseinheit‘ von eucharistischem Brot und Trinität, 17,6 f.) gruppieren sich sodann alttestamentliche Typoi für die Perichorese und die unversehrte Göttlichkeit bei der 37 Vgl. zur theologischen Tradition Gade, Wissen (Anm. 30), S. 304. 38 Auch im Wortlaut der Vulgata begegnet der Zeichenbegriff, wenn Gott sagt: erit autem sanguis vobis in signum in aedibus in quibus eritis et videbo sanguinem ac transibo vos nec erit in vobis plaga disperdens quando percussero terram Aegypti (Ex 12,13). Zit. nach Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hrsg. von Robert Weber, 4., verbess. Auflage, Stuttgart 1994. 39 Zum Passahlamm als „Präfiguration des Opfertodes Christi und der Eucharistie“ auch Wachinger im Kommentar der Ausgabe Deutsche Lyrik (Anm. 30), S. 927. Noch in der Malerei des 17. Jahrhunderts wird diese Präfiguration vorausgesetzt; vgl. Belting, Das echte Bild (Anm. 16), S. 123, am Beispiel des Agnus-Dei-Gemäldes von Francisco de Zurbarán, welches „das Corpus Christi in einer reinen, animalischen Körperlichkeit zur Erscheinung“ bringt.
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Inkarnation: Angeführt werden die Epiphanien Gottes in Gestalt der drei Gäste Abrahams zu Mamre (17,3 f., nach Gen 18,1 f.) und in Gestalt zweier menschenähnlicher Engel anlässlich der Errettung Lots (17,7 – 9, nach Gen 19,1 ff.).40 Bei dem zweiten Beispiel wird die Unversehrtheit Gottes anlässlich seiner Erscheinung in Menschengestalt durch ein als Apposition gebrauchtes Syntagma zum Ausdruck gebracht: in menschen bild verrnet got – ,der in ein menschliches bilde gesperrte Gott‘ (17,9). Diese hochartifizielle Konstruktion macht deutlich, worum es (dem Autor Mügeln) im Zusammenhang mit der eucharistischen Wandlung geht: Es geht nicht nur um die Präsenz des Göttlichen im Abendmahl, sondern eben auch um die göttliche Epiphanie, bei der das bilde das letztlich nicht darstellbare Wesen Gottes zur Erscheinung bringt. Das so verstandene bilde ließe sich treffend mit dem lateinischen Terminus figura wiedergeben, der, wie Sergiusz Michalski betont hat, seit den frühchristlichen Schriftstellern genau diese dialektische Urbild-AbbildRelation zum Ausdruck bringt.41 Nicht von ungefähr ist die in Strophe 17 Gott zugesprochene Eigenschaft des in-menschen-bild-verrnet-Seins engstens mit typologischen Vorbildern verwoben, die im lateinischen Sprachgebrauch des Mittelalters ebenfalls mit dem Begriff der figura gefasst werden. Zugleich aber ist figura ebenso wie das deutsche Wort bilde der Terminus für handwerklich ausgeführte Malereien und Illustrationen schlechthin.42 Mügelns Strophenbar kann damit als Schlüsseltext für die Spannung von literarisierter Kommunion und Kommunikation, für im Medium dichterischer Sprache vorgebrachte Präsenz- und Sinneffekte gelten. Auf der Ebene der verhandelten Thematik spricht sich der Dichter (am deutlichsten in den Versen 15,5 f. und 17,1) für die Realpräsenz Gottes im himelischen brot der Eucharistie aus. Die Art und Weise, wie diese Überzeugung sprachlich vermittelt wird, aber scheint der Aussage wenn nicht zu widersprechen, so diese doch mehrfach zu unterlaufen: Die 40 Zu Einzelheiten Gade, Wissen (Anm. 30), S. 308 f., und Wachinger, Deutsche Lyrik (Anm. 30), S. 927 f. 41 Vgl. Michalski, „Bild“ (Anm. 10), S. 461, 479 – 481, mit wiederholten Verweisen auf den grundlegenden Beitrag von Erich Auerbach, „Figura“, in: Archivium Romanum, 22/1939, S. 436 – 489. 42 Vgl. ebd., S. 482. Belege für bilde als künstlich hergestelltes Bild bei Mügeln (z. B. in Strophe 5,5) in: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mgeln. Zweite Abteilung, hrsg. von Karl Stackmann, mit Beiträgen von Michael Stolz, Berlin 2003 (Deutsche Texte des Mittelalters 84), Glossar, S. 220.
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Erkenntnis, dass das göttliche Wunder über die Natur siegt, erfolgt in einem dem Adressaten offenkundige Uneinsichtigkeit unterstellenden Umweg über die repräsentative Zeichenhaftigkeit der Sprache secundum placitum: Man könnte den Vers ein zirkel ist ein zeichen und bedtet win (15,4) sogar momenthaft als Antwort des unkundigen Adressaten lesen. Über die inszenierte Mehrdeutigkeit einzelner Wörter – wie zeichen, zirkel(ie), her, tor/tren – simuliert der Sprecher sodann eine semantische Präsenz, die von den Polysemien sogleich wieder unterlaufen wird. Die wiederholt und gezielt eingesetzten Typologien stellen ihrerseits hermeneutische Distanzen her: Sie schaffen Abstand zwischen der alttestamentlichen Verheißung und deren neutestamentlicher Erfüllung, aber auch zwischen den biblischen Vorlagentexten und deren Aktualisierung im dichterischen Gebilde der Strophen. Damit werden die Typoi zu sprachlich-rhetorisch vermittelten figurae oder bilden, deren Wirkkraft ihrerseits im Zusammenhang mit den über die Typoi dargestellten göttlichen Epiphanien thematisiert wird. Der Text oszilliert auf diese Weise ständig zwischen einer göttlichen Präsenz und einer sprachlichen Repräsentanz, wobei Letztere das, was die göttliche Präsenz ausmacht, weder zu beschreiben noch mit ihren Mitteln zu leisten vermag. Die Sprache kann nur über mediale Repräsentanz wirken, sie ist (in der von Mügeln vorgeführten Form) ihrem Wesen nach der ,Sinnkultur‘ zugehörig, während allein die göttliche Epiphanie im Abendmahl den Status einer ,Präsenzkultur‘ erreichen kann. Die sprachliche Kommunikation, die hier konkret in der Ansprache des Adressaten (Dich wundert) greifbar ist, umspielt dabei Wirkweisen der Kommunion – als Präsentwerden von Bedeutetem –, ohne diese je einholen zu können. Diese Beobachtung ließe sich freilich auch umkehren: Der Dichter hebt, besonders in den ersten, stark adressatenorientierten Versen von Strophe 15, zu einem symbolisch-repräsentativen Verständnis der Eucharistie an, wie es später Reformatoren wie Zwingli propagieren werden, schwenkt dann aber doch auf die Position der Realpräsenz ein. Die Strophen lassen damit letztlich – nicht nur in ihrem Sprachgestus, sondern auch thematisch – ein Schwingen des Eucharistieverständnisses zwischen ,Präsenzkultur‘ und ,Sinnkultur‘ erkennen. Die literarische Gestaltung lässt sich auf die Präsenzhaftigkeit der Eucharistie ein und unterläuft diese doch in ihrem Streben nach der Produktion von Sinn. Damit drückt sich ein Zweifel aus, der zwar thematisch auf der Textoberfläche geleugnet wird (vgl. den Schluss von Strophe 15, V. 17: laß zwivels orden bannen), in der – tiefer liegenden – Machart des Textes aber nur umso deutlicher zum Ausdruck kommt. Aus diesem Zweifel
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resultiert ein narrativer Impetus, der sich – der lyrischen Gattungszugehörigkeit zum Trotz – in einem nachgerade predigthaften Ton an den Adressaten wendet. Zu diesem Ton gehören nicht nur die zu Exempeln geronnenen Beispiele aus Alchemie (Quarz) und Bibel (Typologien aus dem Umfeld von Abraham und Lot), sondern auch die in allen drei Strophen wiederkehrenden Mahnungen an den Adressaten: nim zeichen der naturen stark,/ die in der meit zurcke wart gedrungen: […] nu sich, wie got naturen hab betwungen (15,7 – 10); stçßt dich zwivel von miner lere wegen,/ du fellest endelosen grunt (16,10 f.); du macht ertrinken in dem Rin,/ flgstu zu wit uß miner lere maße (17,13 f.).
In dieser Hinwendung an den Adressaten, die mitunter sogar zu einer hybriden Dialogisierung43 tendiert (vgl. 15,4), scheint der Sprecher nachgerade das ,zirkuläre‘ Verhältnis der in Strophe 17 evozierten Perichorese zu imitieren, ohne doch diese kommunikative Verschränkung mit dem Adressaten letztlich zu erreichen.44 Was sich hier jedoch greifen lässt, ist jene Kategorie des erzellens, die Zwingli für die Verkündigung des eucharistischen Geschehens einfordert. Spätmittelalterliche Beispiele für diese Faszination einer am Göttlichen orientierten Präsenz, die im Rahmen der Sinn produzierenden literarischen Gestaltung angestrebt ist, aber nicht eingeholt werden kann, ließen sich mehren.
43 Begriff nach Bachtin, der damit, in Bezug auf die Gattung des Romans, die „Bewegung des Themas durch Sprachen und Reden, deren Aufspaltung in Elemente der sozialen Redevielfalt“ beschreibt. Vgl. Michail M. Bachtin, Die sthetik des Wortes, hrsg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 157. 44 Eine psychoanalytisch-medientheoretische Inanspruchnahme des theologischen Begriffs der Perichorese hat Peter Sloterdijk mit dem Kapitel „Mir näher als ich selbst. Theologische Vorschule zur Theorie des gemeinsamen Innen“, in: ders., Sphren, Bd. 1: Blasen (Mikrosphrologie), Frankfurt/M. 1998, S. 549 – 631, vorgeführt: „Der seltsame Ausdruck steht für nicht weniger als für den anspruchsvollen Gedanken, dass die Personen nicht in äußeren, bei der Physik geliehenen Räumen lokalisierbar sind, sondern dass sie den Ort, an dem sie sind, selber durch ihre Beziehung zueinander stiften“ (S. 619). „Orte Gottes – untheologisch gesprochen, Orte der Ko-Subjektivität oder der Ko-Existenz oder der Solidarität – sind etwas, was es nicht einfachhin im äußeren Raum gibt. Sie entstehen erst als Wirkstätten von Personen, die ,a priori‘ oder in ,starker Beziehung‘ zusammenleben. Die Antwort auf die Frage ,Wo?‘ lautet hier also: Ineinander. Die Perichorese macht, daß das Lokal der Personen ganz die Beziehung selbst ist“ (S. 621).
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Zu erinnern wäre etwa an Verfahren im geistlichen Spiel, wie sie zum Beispiel in den Bühnenanweisungen der Frankfurter Dirigierrolle aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Universitätsbibliothek Frankfurt, Ms. Barth. 178) dokumentiert sind.45 Die Angaben lassen hier deutlich erkennen, dass die Vergegenwärtigung der Passion Christi zwar als eine liturgischen Gebrauchszusammenhängen entwachsene Präsenz des göttlichen Körpers gedacht ist, die jedoch um zunehmend illusionistisch ausgefeilte Verfahren nicht umhinkommt.46 So soll Christi Tod am Kreuz in der Weise veranschaulicht werden, dass dieser bei gesenktem Haupt wie tot ,erscheint‘: inclinato capite mortuus appareat. 47 Der Darsteller des Longinus soll so tun, als ob er Christi Seite mit der Lanze öffne: fingat se fixura(m) facere. 48 Die Seitenwunde und alle anderen Wundmale werden dem Christus-Darsteller – offenbar auf einem eng anliegenden, fleischfarbenen Kleid – aufgemalt, damit sie wie echte Wunden erscheinen – ut quasi wln(er)a videant(ur). 49 In solchen Aussagen dokumentiert sich durch Verben wie apparere, videre, fingere oder durch die Vergleichspartikel quasi eine Ebene des ,Als-ob‘. Sie bezeugt, dass sich das spätmittelalterliche Schauspiel seiner illusionistischen Möglichkeiten bewusst wird, ohne doch schon einen eigentlich fiktionalen Darstellungsanspruch zu entwickeln. Die liturgischen Hintergründe des geistlichen Spiels bedingen, dass sich das mittelalterliche Drama in einer Grenzzone zwischen kultischer Feier und 45 Diplomatischer Abdruck: Die hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck, hrsg. von Johannes Janota, Bd. 1: Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der ,Frankfurter Dirigierrolle‘, des ,Alsfelder Passionsspiels‘, des ,Heidelberger Passionsspiels‘, des ,Frankfurter Osterspielfragments‘ und des ,Fritzlarer Passionsspielfragments‘, Tübingen 1996, S. 7 – 33. Dazu Klaus Wolf, Kommentar zur ,Frankfurter Dirigierrolle‘ und zum ,Frankfurter Passionsspiel‘, Tübingen 2002 (Die hessische Passionsspielgruppe. Ergänzungsband 1). 46 Vgl. zu diesem Phänomen allgemein mit weiterer Literatur Michael Stolz, „Mysterienreligion, III. Kunstgeschichtlich, 1. Geistliches Spiel“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwçrterbuch fr Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 5, Tübingen 2002, Sp. 1643 f.; sowie ( jeweils mit weiterer Literatur) JanDirk Müller, „Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel“, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frhen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 113 – 133; Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125). 47 Die hessische Passionsspielgruppe (Anm. 45), S. 24, Nr. 237. 48 Ebd., S. 24, Nr. 241. 49 Ebd.
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anschaulicher Spielhandlung bewegt. In der kultischen Feier des Gottesdienstes geht es um das Präsent-Machen Christi, ja um seine geheiligte Vergegenwärtigung, so besonders im Sakrament der Eucharistie. Das spätmittelalterliche Spiel hingegen will Szenen und Handlungsabläufe unter Ausnutzung bühnentechnischer Mittel vor einem Publikum re-präsentieren.50 Ein weiteres Beispiel liefern spätmittelalterliche Reise- und Pilgerberichte. In ihnen lässt sich beobachten, wie die Auffassung einer Realpräsenz der an der Wegstrecke zu besuchenden Reliquien51 zunehmender Skepsis weicht, die gerade auch im Erzählverfahren eine Vergegenwärtigung der heiligen Gebeine nicht mehr zu leisten vermag. Einen aussagekräftigen Beleg bietet die Reise nach Santiago de Compostela, die der niederrheinische Ritter Arnold von Harff kurz vor 1500 als Abschluss einer mehrjährigen Expedition unternommen und in einem Tagebuch beschrieben hat.52 Die Fahrt, die Arnold von Köln aus 50 Vgl. auch Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), der im Zusammenhang mit dem Entstehen einer neuzeitlichen ,Sinnkultur‘ betont, dass es „im Bereich des Theaters zu einem Wechsel in der Aufmerksamkeitsrichtung der Zuschauer“ kam, „die ihr Augenmerk nicht mehr so sehr auf die Körper der Schauspieler selbst richteten, sondern zunehmend auf die von den Schauspielern verkörperten Personen“ (S. 48). 51 Greifbar etwa im Pilgerführer des Liber Sancti Jacobi aus der Zeit um 1140: Le Guide du plerin de Saint-Jacques de Compostelle. Texte latin du XIIe sicle, édité et traduit en Français d’après les manuscrits de Compostelle et de Ripoll, hrsg. von Jeanne Vielliard, 5. Auflage, Paris 1984, deutsche Übersetzung mit Kommentar: Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerfhrer unterwegs nach Santiago de Compostela, ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Klaus Herbers, 7., unveränd. Auflage, Tübingen 2001. 52 Vgl. Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff von Cçln durch Italien, Syrien, Aegypten, Arabien, Aethiopien, Nubien, Palstina, die Trkei, Frankreich und Spanien, wie er sie in den Jahren 1496 bis 1499 vollendet, beschrieben und durch Zeichnungen erlutert hat, hrsg. von E[berhard] von Groote, Cöln 1860 (Nachdruck Hildesheim 2004 [Bewahrte Kultur]). Englische Übersetzung mit Kommentar: The Pilgrimage of Arnold von Harff, knight, from Cologne through Italy, Syria, Egypt, Arabia, Ethiopia, Nubia, Palestine, Turkey, France and Spain, which he accomplished in the years 1496 to 1499, translated from the German and edited with notes and an introduction by Malcolm Letts (Works issued by the Hakluyt Society. Second series, Bd. 94), London 1946 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967). Dazu: Michael Stolz, Sptmittelalterliche Spanienfahrten. Studien zum Form-InhaltAspekt am Beispiel ausgewhlter deutschsprachiger Reiseberichte des fnfzehnten Jahrhunderts, Lizentiatsarbeit Universität Bern (masch.) 1987, S. 116 – 119; Hartmut Beckers, „Die Reisebeschreibung Arnolds von Harff“, in: Klaus Herbers (Hrsg.), Deutsche Jakobspilger und ihre Berichte, Tübingen 1988 ( Jakobus-Studien
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nach Rom und ins Heilige Land führte, wird in den Aufzeichnungen durchgehend pylgrymmacie (,Pilgerreise‘) genannt.53 Wiederholt nimmt der mit soziologischen, ökonomischen, natur- und sprachkundlichen Beobachtungen angereicherte Bericht zu Eigenarten des Reliquienwesens Stellung. So vermerkt der weit gereiste Arnold mit Skepsis, dass dieselben Reliquien oft an verschiedenen Orten gezeigt würden. Selbst den Leichnam des heiligen Jakobus würden einige Leute nicht für den Wallfahrtsort Santiago, sondern für die französische Stadt Toulouse beanspruchen.54 Als Arnold in Santiago genauere Auskunft erhalten will, weist man ihn scharf zurecht und droht damit, dass jeder, der über die Jakobus-Reliquien im Zweifel sei, „augenblicklich wahnsinnig werden würde wie ein rasender Hund“.55 Der Ritter musste sich, wie er eingesteht, mit dieser Antwort zufriedengeben.56 In anderen ähnlichen Fällen begnügt sich Arnold von Harff in seinem Tagebuch mit der lakonischen Formel: „Ich überlasse es aber Gott, die Irrtümer der Geistlichen zu entscheiden.“57 Die geschilderten Vorfälle sind mehr als bloße Anekdoten. Sie bezeugen, dass sich die Präsenz der Kultorte in der spätmittelalterlichen Perspektive zunehmend in Repräsentation verwandelt. Die an den heiligen Stätten aufbewahrten Reliquien verlieren gewissermaßen ihre lokale Stabilität und können im Akt des Erzählens auf dem Wegenetz verschoben werden. Die literarische Darstellung zeigt sich damit an der – nach hochmittelalterlicher Auffassung – in den Reliquien verkörperten Präsenz interessiert, doch wird sie ihrer nicht mehr recht habhaft,
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1), S. 51 – 60; Klaus Herbers/Robert Plötz, Nach Santiago zogen sie. Berichte von Pilgerfahrten ans ,Ende der Welt‘, München 1996 (dtv 4718), S. 210 – 228. Vgl. Beckers, „Die Reisebeschreibung“ (Anm. 52), S. 52. Item man wilt sagen dat der lijchanam sent Jacobs des meirrer apostel sulde sijn ader lijgen in deme hoigen altaer (sc.: der Kathedrale von Santiago, M.St.). etzliche sagen waerafftich neyn, as er lijcht zo Tolosa in Langedock, dae van ich vur geschreuen hane (Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff [Anm. 52], S. 233, Z. 28 – 31). Zu den historischen Hintergründen Andreas Meyer, „Von Santiago nach Toulouse. Ein Apostel verlegt sein Grab“, in: Francia, 26/1999, S. 209 – 237. [S]oe wer nyet gentzlich geleufft, dat der heylige corper sent Jacobs des meirre apostel in deme hoigen altaer leege ind dae an tzwyuelt ind dat corper dan sien wurde, van stunt an moiste er vnsynnich werden wie eyn raesen hunt (Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff [Anm. 52], S. 233, Z. 33 – 37). Neuhochdeutsche Übersetzung nach Herbers/Plötz (Hrsg.), Nach Santiago zogen sie (Anm. 52), S. 225. [D]ae mit hat ich der meynonghe genoich ind vir gyngen voert vff die sacrastie (Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff [Anm. 52], S. 233, Z. 37 f.). [I]ch laesse aber der paffen irrunge got scheyden (ebd., S. 228, Z. 31 f.). Ähnlich ebd., S. 17, Z. 7 f., passim. Vgl. Beckers, „Die Reisebeschreibung“ (Anm. 53), S. 56.
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verfolgt sie vielmehr im Akt des Erzählens auf dem Wegenetz der Pilgerroute. Dabei kommt es zu diskursiven Analepsen gegenüber dem im Vorgang des Pilgerns und Erzählens abgeschrittenen Raum, wenn der Bericht ein und denselben Reliquienkörper zwei Orten zuweist und dabei auf dem gegenwärtigen Schreibakt vorgängige Schreibakte mit Formeln wie dae van ich vur geschreuen hane 58 Bezug nimmt. Das vielleicht ratlose, vielleicht ironisch gemeinte Geständnis der paffen irrunge got scheyden zu lassen, bemüht hier die Pseudo-Präsenz eines Gottesurteils, die sich letztlich an die Leser des Berichts wendet und es diesen anheimstellt, im Rahmen eigener Sinn-Findungsprozesse eine Entscheidung über die Realpräsenz der Reliquien zu fällen. Nach diesen Schlaglichtern auf das Oszillieren von thematisch vergegenwärtigter ,Präsenzkultur‘ und diskursiv vorgeführter ,Sinnkultur‘ in literarischen Zeugnissen des Spätmittelalters sollen im folgenden Abschnitt mit einem fortgesetzten zeitlichen Zurückschreiten prominente Texte der deutschen Literatur des Hochmittelalters angegangen werden. Dabei ist zu überprüfen, ob sich auch hier das Schweben zwischen thematisierter Realpräsenz und diskursiver Repräsentation bestätigt.
II Gottfrieds von Straßburg um 1210 entstandener Tristan-Roman enthält am Ende seines Prologs bekanntlich eine rhetorisch aufwändig inszenierte Brotmetapher, deren Bezug zur Eucharistie bis in die jüngste Forschung strittig blieb.59 Es handelt sich um die berühmten Verse: Deist aller edelen herzen brt. hie mite s lebet ir beider tt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tt, unde ist uns daz seze alse brt. Ir leben, ir tt sint unser brt. sus lebet ir leben, sus lebet ir tt. sus lebent si noch und sint doch tt,
58 Vgl. auch Anm. 54. 59 Vgl. mit Forschungsbericht Eva Willms, „,Der lebenden brôt‘. Zu Gottfried von Straßburg Tristan 238 (240)“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 123/1994, S. 19 – 44, die den Eucharistiebezug ablehnt.
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und ist ir tt der lebenden brt. (V. 233 – 235, 235a, 236, 236a, 237 – 238) 60
Unabhängig von den Argumenten, die gegen eine eucharistische Bezugnahme ins Feld geführt werden könnten61, lässt sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass die beiden Strophen „assoziative Spielräume“ für religiöse Konnotationen eröffnen, wie sie für Gottfrieds Erzählen grundsätzlich charakteristisch sind.62 Schon nur die rhetorisch-stilistische Machart der Verse bezeugt, dass die Rezipienten hier über einen sprachmagischen Sprachakt in ein quasi-sakrales Geschehen ,hineingelockt‘ werden sollen: Der durchgehende Reim, die Oxymora von ,Leben‘ und ,Tod‘, die Assonanzen von leben und lesen, die Mehrdeutigkeit des Adjektivs seze (im Mittelhochdeutschen neben ,lieblich‘, ,angenehm‘ auch: ,heilig‘) 63 machen deutlich, dass der Verfasser hier auf
60 Zit. nach Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 1: Text, hrsg. von Karl Marold, unveränd. 5. Abdruck nach dem 3., mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verb. krit. App. besorgt und mit einem erw. Nachw. vers. von Werner Schröder, Berlin – New York 2004, S. 6. Variantenapparat und Versbezifferung zeigen die Uneinheitlichkeit und Unvollständigkeit der Überlieferung an, die erschwerend zu den Interpretationsproblemen hinzutreten. 61 Willms, „Der lebenden brôt“ (Anm. 59), betont anhand zahlreicher Belege, dass mittelhochdeutsch brt hauptsächlich im Sinne von Brot als „Grundnahrungsmittel“ (S. 28) begegne, während das „konsekrierte Brot […] höchst selten als Brot [sondern meistens als gots lchnam u.ä.] bezeichnet“ werde (S. 41). Doch lässt sich mit dem volkssprachigen Belegmaterial die liturgische ,Gegenwärtigkeit‘ der eucharistischen Substanzen von Brot und Wein im Bewusstsein der zeitgenössischen Gläubigen, zumal der in den Produktions- und Rezeptionskontexten des Gottfriedschen Tristan stehenden Kleriker für die Jahre um das mit der Transsubstantiationslehre befasste Laterankonzil von 1215 nicht leugnen. Die Auffassung, dass die Kommunion „im Leben der Gläubigen um 1200 eine bemerkenswert geringe Rolle“ gespielt habe (S. 44), ist für diese Kreise nicht zu halten. Die mit dem Reimwort tt verbundene brt-Metapher dürfte damit bereits bei den Zeitgenossen eucharistische Konnotationen ausgelöst haben und nicht erst bei den Interpreten – den „Konfirmanden“ und „Kommunionkinder(n) des 20. Jahrhunderts“ (S. 28). 62 So das jüngste, sorgfältig abwägende Urteil von Tomas Tomasek in: Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 2. Übersetzung von Peter Knecht, mit einer Einführung in das Werk von Tomas Tomasek, Berlin – New York 2004, S. XII. 63 Vgl. Friedrich Ohly, „Geistige Süße bei Otfried“, in: Stefan Sonderegger [u.a.] (Hrsg.), Typologia Litterarum. Festschrift fr Max Wehrli, Zürich 1969, S. 95 – 124, Nachdruck in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 93 – 127.
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,Präsenzeffekte‘64 abhebt, die der nachfolgenden Erzählung von Tristan und Isolde den Rang einer ontologischen Vergegenwärtigung verleihen sollen. Es geht also – zumindest in diesen beiden Prologstrophen – um ein jenseits von Sinnproduktion angesetztes, nichtsemantisches Präsentmachen von Erzähltem und Erzählen. Dass dieses Vorgehen in einem gewissen Widerspruch zu der gerade in Gottfrieds Tristan zum Thema gemachten Beziehung von dichterischer Rede und ihrer Bedeutung (rede – meine) 65 steht, macht eine der ästhetischen Qualitäten des Textes aus. Gesteht man diese Vorannahme einer über die Analogien zur Eucharistie erwirkten Präsenz ein, so lassen sich innerhalb des Prologs weitere Komponenten erkennen, welche die sich im bisherigen Argumentationsgang verfestigende Ansicht bestätigen, dass sich über die Thematisierung des Abendmahls Vorgänge des Erzählens konstituieren und konsolidieren können, ohne dass der narrative Diskurs in seinem Streben nach Sinnproduktion deshalb die eucharistische Präsenz einholen kann. Anzuführen wäre in diesem Zusammenhang vorab die erste Prologstrophe, der in dem strophisch-stichischen Versgeflecht des Prologs die zuletzt wieder strophisch gegliederten Verse antipodisch gegenüberstehen: Gedenkt man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, s wære ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht. (V. 1 – 4) 64 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), S. 84, macht diese Betonung der „nichtsemantischen Merkmale“ und „materiellen Komponenten literarischer Texte“ an einem Gespräch, das der späte Gadamer führte, fest. Vgl. Carsten Dutt (Hrsg.), Hermeneutik, sthetik, Praktische Philosophie. Hans-Georg Gadamer im Gesprch, 3. Auflage, Heidelberg 2000, S. 63, mit einer Bemerkung zur Lektüre von Gedichten: „Doch – ist es denn wirklich bei solchen Texten nur ein sinnorientiertes Lesen? Ist es nicht ein Singen? Der Prozess, in dem ein Gedicht spricht – nur von einer Sinnintention getragen? Spricht nicht aus ihm gleichzeitig eine Vollzugswahrheit?“. 65 Vgl. zu den Sprachreflexionen Gottfrieds (besonders im Literaturexkurs des Tristan) Christoph Huber, „Wort-Ding-Entsprechungen. Zur Sprach- und Stiltheorie Gottfrieds von Straßburg“, in: Klaus Grubmüller [u.a.] (Hrsg.), Befund und Deutung. Zum Verhltnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Festschrift fr Hans Fromm, Tübingen 1979, S. 268 – 302, sowie die Ausführungen in Tomaseks Einführung zu: Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 2 (Anm. 62), S. XVIIf.
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Die Exordialsentenz der Strophe besagt, dass diejenigen, von denen der Welt Gutes geschieht, nur Bestand haben, wenn ihrer ,im Guten‘ gedacht wird. Was die Pluralform ir einschließt – Tristan und Isolde, die über sie erzählte Geschichte, das Erzählen selbst (und damit auch den Verfasser) –, bleibt offen. Vom Ende des Prologs her aber lassen die Verse auch das eucharistische Gedenken assoziieren, jenes hoc facite in meam commemorationem, das in der Messe zelebriert wird (nach Lk 22,19).66 Lässt man diese assoziative Sinndimension gelten, so verbindet sich die Narration des Tristan mit einer eucharistischen Konzeption. Die dadurch erwirkte ,Präsenz‘ des Erzählens aber wird zugleich in ihrer Künstlichkeit offenbar, denn sie erschließt sich ja erst innerhalb einer – von den Rezipienten zu leistenden – Sinnproduktion. Gottfrieds Tristan, so könnte man folgern, inszeniert damit von Anfang an eine Pseudo-Präsenz, die sich ausschließlich durch Vorgänge der Sinnherstellung nährt. Der Aufwand, der für die Herstellung dieser Pseudo-Präsenz betrieben wird, ist nicht gering. Er umfasst die gerade im Prolog auffällig gehäuften Appelle an die sensitiven Kräfte der Rezipienten, die neben den akustischen Eindrücken der Wortspiele auch visuelle Effekte, wie sie im Initialenspiel der Prolog-Akrosticha zutage treten, beinhalten. Ausdrücklich heißt es in der Schlussstrophe, dass die Rezipienten für die Aufnahme der Erzählung herze und ren (V. 241), also gleichermaßen sinnliche wie emotional-intellektuelle Kräfte darbieten müssten. Die idealen Rezipienten der Dichtung werden am Beginn des stichischen Prologs bekanntlich als edele herzen (V. 47, passim) bezeichnet. Dieses Epitheton wird denjenigen zuerkannt, die in der Lage sind, die gegensätzlichen Empfindungen von Freude und Kummer (herzeliep – senede nt, V. 61) zu ertragen. Die hier massiv gehäufte Verwendung des herze-Begriffs, der mit der Qualität edele auch auf einzelne Romanfiguren übertragen wird67, könnte auf einer assoziativen Ebene ihrerseits mit pseudo-eucharistischen Vorstellungen, etwa jener vom ,gegessenen Herzen‘, in Zusammenhang gebracht werden.68 Zugleich wird die 66 Vgl. zu diesem Ansatz auch ebd., S. XIf. – Zugleich weist Vers 237, der das – literarische – Nachleben von Tristan und Isolde thematisiert (sus lebent si noch und sint doch tt), zurück auf das in der ersten Prologstrophe thematisierte Gedenken. 67 Vgl. Klaus Speckenbach, Studien zum Begriff ,edelez herze‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg, München 1965 (Medium Aevum 6). 68 Vgl. Sloterdijks Kapitel „Herzoperation oder: Vom eucharistischen Exzeß“, in: ders., Sphren (Anm. 44), S. 101 – 140, wo sich unter anderem eine Analyse des
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Bezeichnung edele herzen eng an den Begriff der werlde gekoppelt, der bereits in der ersten Prologstrophe erscheint. In den Versen des stichischen Prologs wird deutlich, dass damit letztlich eine nur im Medium der Erzählung vergegenwärtigbare ander werlt (V. 58) gemeint ist, in der sich die edelen herzen den widersprüchlichen Empfindungen von liebe und nt hinzugeben vermögen. Diese Welt aber ist keine haptische, in der die Dinge unmittelbar greifbar sind und die Emotionen spontan ausgelebt werden können. Es ist eine Welt, die von dem Wesen einer nur körperlich erfahrenen Präsenz deutlich geschieden ist.69 Gottfried demonstriert damit in seinem Tristan auf eindrucksvolle Weise, wie die Erzählung – unter Ausbeutung eucharistischer Assoziationen – Präsenzeffekte aufruft, um gerade damit das Erzählen als ein überaus artifizielles Verfahren kenntlich zu machen, ja zu vergegenwärtigen. Die Wort- und Schrift-Spiele des Prologs, der pseudo-eucharistische Gedächtnisvorgang, das Konzept der edelen herzen und der Entwurf einer ,anderen‘ Welt jenseits der Verfügbarkeit des körperlichen Seins tragen zum Konstrukt eines künstlichen Erzählgebildes bei, das zu seiner Erschließung des hermeneutischen Akts einer gesteigerten Sinnproduktion bedarf. Auf der diegetischen Ebene seines Romans führt Gottfried dieses Verfahren der Sinnsuche und des Sinnverlusts wiederholt vor, etwa in der spielerischen Einführung des mehrdeutigen Wortes lameir (,Bitterkeit‘, ,Meer‘, ,Liebe‘), das Isoldes Liebesgeständnis erst ermöglicht (V. 11989 – 12014), oder in der verwirrenden SynonyHerzmaere Konrads von Würzburg findet. Die Erzählung ist gegen 1260 entstanden und damit etwa 50 Jahre jünger als Gottfrieds Tristan, doch gibt es in der europäischen Literatur (etwa bei Marie de France) wie in außereuropäischen Traditionen (bis in die indische Kultur) zahlreiche ältere Versionen des Stoffs. – Zurecht betont Bruno Quast, „Literarischer Physiologismus. Zum Status symbolischer Ordnung in mittelalterlichen Erzählungen vom gegessenen und getauschten Herzen“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 129/2000, S. 303 – 320, gegen Sloterdijks Betonung einer im Herzmaere wirksamen „eucharistischen Logik“ (S. 318) gerade die Zeichenhaftigkeit des gegessenen Herzens: „Die eucharistische Logik akzentuiert die Produktion der Präsenz, die Realpräsenz des Leibes, Konrad dagegen die Produktion des Symbols, den Leib als Zeichen“ (S. 319). 69 Ich lehne mich hier an Überlegungen von Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 6), S. 96 f., an, der im Anschluss an Martin Heidegger und Martin Seel von der „Ausschließung der ,Welt‘ aus dem Bereich des Seins“ spricht und die „Welt“ als „Konfigurationen von Dingen im Kontext spezifischer kultureller Situationen“ versteht, indem er sie von der „Erde“ abgrenzt, welche die „Dinge, die unabhängig von ihren spezifischen kulturellen Situationen gesehen werden“, umfasse.
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mie des Namens der Isolde Weißhand (V. 18991 – 19044) gegen Schluss des unvollendet gebliebenen Romans. Damit wird ein dialektisches Verfahren offenkundig, das der in zeitgenössischer Logik und Scholastik bewanderte Dichter souverän handhabt: Im Prolog erzählt er die eucharistische Zeichenhaftigkeit auf assoziativem Wege in den TristanStoff ,hinein‘, um sie für eine in hohem Maße künstlich literarisierte Erzählwelt nutzbar zu machen. Ein vergleichbares, wenn auch weitaus weniger artifiziell vollzogenes ,Hineinerzählen‘ sakraler Zeichenhaftigkeit in literarische Kontexte begegnet nur wenige Jahre nach der Entstehung von Gottfrieds Tristan in Thomasins Welschem Gast. 70 Das 1215/16 im friulischen Aquileja angefertigte Lehrgedicht behandelt zwar nicht die Eucharistie, doch nimmt Thomasin auf Diskussionen zur Zeichenhaftigkeit von Bildern71 Bezug, die es im Folgenden näher zu betrachten gilt. Thomasin führt aus, dass sich der Kleriker zu seiner Belehrung der Schrift bedienen möge (der pfaffe sehe die schrift an, V. 1103), während der ungebildete Laie sich mit den Bildern begnügen könne: s sol der ungelÞrte man diu bilde sehen, st im niht diu schrift zerkennen geschiht. (V. 1104 – 1106)
Die Verse stellen die volkssprachige Umschreibung eines Dictums Gregors des Großen aus dem Jahr 600 dar, der damit im Bilderstreit seiner Zeit Stellung bezogen hatte: Denn was für diejenigen, die lesen können, die Schrift ist, das bietet den Schriftunkundigen das Bild, wenn sie es genau ansehen, denn im Bild sehen die Unwissenden, was sie befolgen sollen, im Bild lesen diejenigen, die die Buchstaben nicht verstehen.
70 Im Folgenden zit. nach Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms, Berlin – New York 2004. 71 Vgl. Michael Curschmann, „,Pictura laicorum litteratura‘? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse“, in: Hagen Keller [u.a.] (Hrsg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen (Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989), München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 211 – 229.
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(Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa ignorantes vident, quod sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt).72
Wenig später greift Thomasin dieses Thema nochmals auf und äußert sich dabei zur Art und Weise, wie die Bilder ,Bezeichnung‘ herstellen: ein hlzn bilde ist niht ein man. swer ave iht verstÞn kan, der mac daz verstÞn wol, daz ez einen man bezeichen sol. (V. 1127 – 1130)
Betont wird hier – wiederum vergleichbar den Positionen der Reformatoren im 16. Jahrhundert – die Nicht-Identität von Bild und der damit ,bezeichneten‘ Person. Auffällig ist dabei, dass die Ausführungen über das zweimal eingebrachte Wort verstÞn klar auf eine hermeneutische Dimension abzielen. Der kleine Passus erweist sich mithin deutlich als ein Zeugnis der ,Sinnkultur‘. Warum der Akt des Verstehens hier eine zentrale Rolle einnimmt, wird deutlich, wenn man den Kontext der beiden Abschnitte betrachtet: Thomasin geht es nicht eigentlich um eine Bildtheorie, vielmehr erläutert er mit ihrer Hilfe ein an literarischen Texten geübtes Auslegungsverfahren – die nach seiner Ansicht angemessene Lektüre höfischer Aventiure-Romane.73 Thomasin unterscheidet zwei Leseweisen, die man grob als ,naiv‘ und ,gelehrt‘ umschreiben könnte. Darin liegt für ihn denn auch die Vergleichbarkeit mit der Rezeption von Bild und Schrift begründet: Der Bildrezeption durch die ungelehrten Laien entspricht eine Lektüre derjenigen Jugendlichen (kint, V. 1080, passim), die in den Gestalten der höfischen Romane Vorbilder, ja vielleicht sogar „Identifikation“74 suchen (bilde nemen, V. 1092). Der Schriftrezeption durch die Kleriker hingegen korrespondiert die Fähigkeit, in den Aventiure-Romanen eine bezeichenunge zu erkennen, die über den buchstäblichen Sinn hinaus auf gute Erziehung und Wahrheit (zuht unde … w rheit) weist (V. 72 Zit. ebd., S. 214, nach Gregorii I papae registrum epistolarum, Bd. 2, hrsg. von Ludwig M. Hartmann, Berlin 1957 (Monumenta Germaniae Historica. Epistulae 2), Brief XI,10, S. 269 – 272, hier S. 270. 73 Vgl. zum Folgenden mit der Bilanz einer ausführlicheren Forschungsdiskussion Christoph Huber, „Zur mittelalterlichen Roman-Hermeneutik. Noch einmal Thomasin von Zerklaere und das Integumentum“, in: Volker Honemann [u.a.] (Hrsg.), German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday, Tübingen 1994, S. 27 – 38. 74 Ebd., S. 31.
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1124 f.). In diesem Kontext steht der zweite Passus der oben zitierten Verse. Thomasins Ausführungen sind dabei im Einzelnen nicht ganz kohärent. So wird das Betrachten der Bilder zunächst mit der ,naiven‘, auf Nachfolge und Identifikation mit den Romanfiguren abzielenden Lektüre verglichen. Der in diesem Zusammenhang begegnende Ausdruck bilde nemen zielt auf eine Urbild-Abbild-Relation, bei der Urbild und Abbild nahezu deckungsgleich werden. Erst als die Zeichenhaftigkeit der Aventiure-Romane ins Spiel kommt, gibt der Verfasser zu erkennen, dass offenbar nicht nur im Gebrauch der Schrift, sondern auch im Bildgebrauch eine Unterscheidung von Darstellungsform (hlzn bilde) und dargestellter Person (ein man) zu veranschlagen ist. Ohne dass dies ausdrücklich gesagt wird, dürfte zu folgern sein, dass eine solche Art der Bildanschauung nicht durch die ungelehrten Laien, sondern durch die gelehrten Kleriker (die aber zuvor gar nicht mit den Bildern in Zusammenhang gebracht wurden) geleistet wird. Dieser Bruch in der Argumentationslogik ist symptomatisch für den gesamten Textabschnitt, der auch sonst nicht frei von Unklarheiten und Widersprüchen ist.75 Gerade hieraus hat sich eine Forschungskontroverse entwickelt, etwa im Zusammenhang mit der Frage, ob Thomasin das hermeneutische Verfahren der platonistischen integumentum-Lehre kannte, der zufolge verhüllende Techniken der Textgestaltung im Prozess der Lektüre durch eine (moralisierende) Lesart entschlüsselt werden konnten. Darauf scheint Thomasin zumindest in einem Vers anzuspielen (daz w r man mit lge kleit, V. 1126). Das ,Einkleiden‘ der Wahrheit in die Lüge der Aventiure-Geschichten (der ventiure maere, V. 1115) gilt dem Verfasser als legitime Methode, solange die Lüge in ihrer Schmuck- und Bezeichnungsfunktion (als gezierde krne und bezeichenunge, V. 1120 und 1124) wahrgenommen wird. Gleichwohl gesteht Thomasin ein, dass derjenige, der ein fortgeschritteneres Verständnis besitzt (der vrbaz verstÞn mac, V. 1113), der Aventiure-Geschichten gar nicht bedarf und unmittelbar den Lehren der guten Erziehung, der Verstandeskräfte und der Wahrheit folgen soll (er sol volgen der zuht lÞre j und sinne unde w rheit, V. 1116 f.). Die Ausführungen sind für die höfische Epik der Zeit nicht zuletzt insofern relevant, als in ihrem Umfeld explizit auf Aventiure-Romane wie Erec, Iwein, Parzival, Tristan und deren Hauptpersonen (unter an75 Vgl. ebd., S. 36: „[D]ie mittelhochdeutsche Terminologie ist – wie oft – nicht eindeutig, die Gedankenführung läßt Zuordnungen offen“.
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derem auch die Negativfigur Keie) verwiesen wird (V. 1041 – 1078). Das Beispiel Thomasins zeigt mithin, wie die theologische Diskussion um den Stellenwert der Bilder in den Kontext einer Erörterung narrativer Verfahren und deren Auslegung eingebaut wird. Ähnlich wie bei Gottfried führt dieses ,Hineinerzählen‘ einer theologischen Positionsbestimmung in narrative Zusammenhänge nicht zu einer diskursiven Präsenz des Erzählens. Mehr noch: Thomasin unternimmt noch nicht einmal den Versuch, den Akt des Erzählens künstlich zu vergegenwärtigen. Die Aventiure-Erzählungen erschließen sich nur über die Distanz der bezeichenunge; Präsenz stellt sich allenfalls im Verzicht auf der ventiure maere her, der allein den unvermittelten Zugang zu guter Erziehung, Vernunft und Wahrheit garantiert. Ein anders, aber ebenfalls für literarische Zwecke funktionalisierter Bild-Begriff findet sich bei Thomasins Zeitgenossen Walther von der Vogelweide. Die letzte Strophe seines sogenannten Alterstons lautet wie folgt76 : Ich h te ein schœne bilde erkorn, und owÞ, daz ichz ie gesach und ouch s vil zuo ime gesprach! ez h t schœne und rede verlorn. D was ein wunder inne, daz fuor ich enweiz war. d von gesweic daz bilde ies . sn lilienrsevarwe wart s karkervar, daz ez verls smac unde schn. Mn bilde, obe ich gekerket bin in dir, s l mich z als, daz wir ein ander vinden fr, wan ich muoz aber wider in.
Der Sprecher klagt hier darüber, dass er sich einst ein schœne bilde erwählt hätte, das nun seine Schönheit (schœne) und Sprache (rede) verloren habe (V. 1,4). Er bedauert, dass er sich einst auf dieses ,Trugbild‘ eingelassen habe, indem er sich ihm betrachtend und sprechend zuwandte (V. 2 f.). Ferner wird dem Bild eine wunderbare Eigenschaft (wunder) zugestanden, die nun aus ihm entwichen sei (V. 5). Dies hätte dazu geführt, dass das Bild seine sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten eingebüßt habe: Stimme, die weiß-rote Farbe von Lilie und Rose, Geschmack und 76 Zit. nach Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprche, 14., völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin – New York 1996, S. 149.
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Glanz (V. 6 – 8). Zuletzt wird das Bild, eingeführt durch das Possessivpronomen mn, direkt angesprochen: In einem konditionalen Satzgefüge (obe) macht das Ich geltend, dass es in das Bild eingekerkert sei und dass es unter dieser Voraussetzung entweichen wolle. Das Wort als am Ende von Vers 10 kann als Vergleichspartikel aufgefasst werden und sich auf das in Vers 5 genannte wunder beziehen: Wie dieses wunder aus dem Bild entwichen sei, so wolle das Ich aus dem Kerker entfliehen. Der anschließende Finalsatz formuliert dann den Wunsch, dass sich Bild und Ich dereinst wieder finden mögen, weil oder wenn (wan) das Ich wieder in das Bild eindringen wird. Das Wort als in Vers 10 kann aber auch zusammen mit dem nachfolgenden daz von Vers 11 ein Konsekutivgefüge bilden. Unter dieser Voraussetzung möchte das Ich so aus dem Kerker entweichen, dass sich Ich und Bild dereinst wieder finden und das Ich wieder in das Bild eindringen kann. Der Wortlaut der Strophe ist rätselhaft und wohl auch bewusst als Rätsel intendiert. Für das zweimal auftretende Wort bilde (V. 1 und 9: ,Bild‘, ,Abbild‘, ,Ebenbild‘, ,Gleichnis‘, ,Vorbild‘, ,Figur‘, ,Gestalt‘, ,Bildwerk‘?) ist eine eindeutige Sinnzuweisung nahezu unmöglich. Entsprechend divergent sind die in der Forschung vorgebrachten Interpretationsvorschläge (unter anderem: Minnedame, Frau Minne, Frau Welt, Körper, Leib, irdische Minne, Ideal, Walthers lyrisches Werk).77 Es kann hier nicht darum gehen, die vielfältigen Deutungsvorschläge um einen weiteren zu bereichern. Stattdessen soll der Frage nachgegangen werden, ob sich die Strophe in die bislang angestellten Überlegungen zu Sinn- und Präsenzeffekten eingliedern lässt. Dabei scheint sich anzudeuten, dass der Begriff bilde hier einer nichtsemantischen Funktion, wie sie Gumbrecht im Zusammenhang mit seinen Ausfüh77 Wegweisend ist der Ansatz von Jan-Dirk Müller, „Walther von der Vogelweide: ,Ir reinen wîp, ir werden man‘“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 124/1995, S. 1 – 25, Nachdruck in: ders., Minnesang und Literaturtheorie, hrsg. von Ute von Bloh [u.a.], Tübingen 2001, S. 151 – 176: Walther nutze „die Ambiguitäten von bilde, […] um eine fundamentale Aporie höfischer Minnekultur zu dekonstruieren“; er „treibt […] die Widersprüche hervor, die dem höfischen Frauendienst, seinem eigenen Singen und seiner eigenen Rolle innewohnen“, er „bringt sie als unaufhebbare Widersprüche zur Sprache“ (Nachdruck, S. 170 f.). Vgl. zu älteren Deutungen neben den Anmerkungen bei Müller auch Horst Brunner [u.a.], Walther von der Vogelweide. Epoche – Werk – Wirkung, München 1996 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 128; Walther von der Vogelweide, Werke. Gesamtausgabe. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, Bd. 2: Liedlyrik, Stuttgart 1998, S. 772.
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rungen zur ,Präsenzkultur‘ nachzuweisen sucht, vergleichsweise nahekommt. Das bilde ließe sich hier im Sinne von lateinisch forma als akzidentelle Form78 verstehen, die gemäß dem aristotelischen Zeichenbegriff eine Substanz erst wahrnehmbar macht.79 Wie bereits erwähnt, wird mit diesem Zeichenbegriff auch die Transsubstantiation im Abendmahl erklärt.80 Das bilde aber hat bei Walther all seine Akzidenzien, seine visuellen, akustischen, geschmacklichen Eigenschaften bis hin zur ,Erscheinung‘ (schn) verloren. Neben diesem Verlust der sinnlichen Wahrnehmbarkeit hat das bilde aber auch jenes wunder eingebüßt, das sich analog zum in der Eucharistie gegenwärtigen Leib Christi als die Substanz verstehen lässt. In seiner Rede an das Bild, die als sprachlicher Gestus den Aussagen von Vers 3 f. widerspricht, versucht das Ich nun, sich entsprechend der Dissoziation von wunder (Substanz) und bilde von ,seinem‘ bilde loszusagen. Diese Abspaltung soll ,wie‘ jene des wunders vom bilde erfolgen (als als Vergleichspartikel), zugleich aber auch ,so dass‘ (als in Konsekutivkonstruktion) das Ich und sein bilde sich dereinst wieder miteinander verbinden können. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass diese Vorgänge der Dissoziation und Resoziation im eucharistischen Verständnis der Zeit häretisch wären; gleichwohl bietet sich das anhand des aristotelischen Zeichenbegriffs wieder und wieder diskutierte ,Wunder‘ der Transsubstantiation hier als Modell an. Fasst man die Strophe in dieser an der Eucharistie orientierten Abstraktheit auf, dürfte sich ihre Eigenart, wenn auch nicht ihre Deutung erschließen. Gemäß der Dissoziation von wunder und bilde beschreibt das Ich auch die Dissoziation seiner selbst von seinem bilde, um die Strophe zuletzt mit dem glücklichen Einander-Wiederfinden von Ich und bilde, mit dem Wunsch nach dem Wiedereindringen des Ichs in das bilde ausklingen zu lassen. Dieses Zusammengehen entspricht dem Präsentwerden des Leibs Christi im eucharistischen Brot. Der 78 Vgl. zum Verständnis von forma als akzidentelle Form und damit als Akzidens Neunheuser, Eucharistie (Anm. 1), S. 28; Josef de Vries, Grundbegriffe der Scholastik, 3. Auflage, Darmstadt 1993, S. 44 – 47. 79 Vgl. zum Verständnis von lateinisch forma als ,Bild‘ Michael Stolz, Artes-liberalesZyklen. Formationen des Wissens im Mittelalter, 2 Bde., Tübingen – Basel 2004 (Bibliotheca Germanica 47), Bd. 1, S. 106 f. So erwähnt etwa Alanus ab Insulis in seinem Liber in distinctionibus dictionum theologicalium (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), PL 210, Sp. 687 – 1012, die symbolicas formas, id est figurativas, quæ sine materia esse non possunt (Sp. 796). 80 Vgl. oben, S. 457 mit Anm. 14.
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Dichter inszeniert damit eine Erscheinung reiner Präsenz, die hier aber das Eingehen des Ich in ,sein‘ bilde betrifft. Indem das bilde aber im Eingang der Strophe als akzidens- und substanzlos beschrieben wird, ist es selbst nichts als bedeutungslose Präsenz. Die Undeutbarkeit dieses Bilds (das hier nicht nur objektsprachlich bilde, sondern auch funktional ,Bild‘, ,Chiffre‘ ist) provoziert die Angehörigen einer ,Sinnkultur‘ – und zu ihnen dürften wohl nicht nur die neuzeitlichen Exegeten, sondern auch die von Walther intendierten Rezipienten zählen –, das bilde mit Sinn zu versehen. Und damit stehen die vielfältigen, in der Forschung bislang erwogenen Deutungen zu Gebote: das bilde als Körper, in den die Seele (am jüngsten Tag?) wieder eingeht81; das bilde als Minnedame oder allegorisiert als Frau Minne, Frau Welt, in die das Ich (erotisch?) eindringen möchte; das bilde als Werk, dem sich das Ich des Dichters (im Tod?) verbindet. Der Akt des Ausfahrens und Neu-Eindringens wäre damit auf die letztlich nur als (textliche) Präsenz denkbare (körperliche) Absenz des Dichters in der Zeichenhaftigkeit des literarischen Œuvres bezogen worden. Dieser Gedankengang aber wäre, sofern er nicht nur ein Resultat der – letztlich unmöglichen – Interpretation dieser Strophe ist, außerordentlich kühn. Die drei in diesem Kapitel behandelten Beispiele bezeugen damit auf unterschiedliche Weise das ,Hineinerzählen‘ eucharistischer Präsenzkonzepte in literarische Kontexte: Gottfried von Straßburg stellt über die Brot-Metaphern des Prologs eine höchst artifizielle Vergegenwärtigung des literarischen Kunstwerks her. Thomasin von Zerklaere überträgt die Zeichenhaftigkeit von (sakralen) Bildern auf Lektüre- und Deutungsmöglichkeiten höfischer Aventiure-Erzählungen und ist damit einigermaßen weit von dem entfernt, was Gumbrecht ,Präsenzkultur‘ nennt. Walther von der Vogelweide hingegen kommt diesem Konzept sehr nahe, indem er mit dem bilde seines Alterstons nicht nur thematisch, sondern auch diskursiv eine Erscheinung reiner Präsenz herzustellen sucht.
81 Hier wäre an die Leib-Seele-Thematik zu erinnern, um die es in der (in der Ordnung aller drei Handschriften A B C) vorausgehenden Strophe geht, ferner an die sich in den Versen 9 f. andeutende platonische Vorstellung vom Körper als Kerker der Seele. Vgl. zu Einzelheiten der Überlieferung und Deutbarkeit die Ausgaben von Cormeau (Anm. 76), S. 147, 149 und Schweikle (Anm. 77), S. 767 – 772.
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Im folgenden Kapitel sollen die bislang ermittelten Befunde eucharistischer Verhandlungen in der mittelalterlichen Literatur nunmehr verbindend weiterverfolgt werden. Zwei Aspekte werden dabei im Vordergrund stehen: Zum einen soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Thematisierung von Abendmahl und Bildkult in einer Narration tatsächlich zusammengehen. Zum anderen ist zu eruieren, inwiefern die Koppelung beider Themen auf der Ebene der erzählten Geschichte auch auf Diskursebene zu Präsenzeffekten führt, wie sich dies bei Walther anhand des bilde-Begriffs andeutete. Als ein passendes Untersuchungsobjekt bieten sich in diesem Zusammenhang Erzählungen an, die Abendmahl und Bildkult mit außerchristlichen Religionen konfrontieren – so insbesondere Der Judenknabe, ferner Die Jdin und der Priester und Der Litauer.
III Der Stoff der in den mittelalterlichen Literaturen weit verbreiteten Mirakelerzählung Der Judenknabe 82 ist schriftlich erstmals am Ende des sechsten Jahrhunderts greifbar, dies in griechischer Sprache bei Euagrios Scholastikos und in lateinischer Sprache bei dem fränkischen Geschichtsschreiber Gregor von Tours.83 Da die Fassung des Letzteren am Beginn einer verzweigten westeuropäischen Tradition steht, sei nach ihr der Gang der Erzählung zusammengefasst. Als wichtigste Komponenten lassen sich benennen: das christliche Abendmahl, eine als Bild vorgestellte Erscheinung Marias, ein durch göttliche (beziehungsweise auf Maria übertragene) Macht unwirksames Feuer, die Erzählungen über 82 Eine Aufarbeitung der Stofftradition mit Angaben zur Überlieferung und mit Editionen bieten die folgenden Arbeiten: Eugen Wolter, Der Judenknabe. 5 Griechische, 14 Lateinische und 8 Franzçsische Texte, Halle/S. 1879 (Bibliotheca Normannica 2); Adolf Mussafia, „Studien zu den mittelalterlichen Marienlegenden“, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 113/1886, S. 917 – 994; 115/1887, S. 5 – 92; 119/ 1889, S. 1 – 66; 123/1890, S. 1 – 85; 139/, S. 1 – 74; Theodor Pelizaeus, Zur Geschichte der Legende vom Judenknaben, Diss. phil. Halle/S. 1914 (mit einer Übersicht der Fassungen auf S. 9 – 11); Heike A. Burmeister, Der ,Judenknabe‘. Studien und Texte zu einem mittelalterlichen Marienmirakel in deutscher berlieferung, Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 654). 83 E} acqíom swokastixoO ’Exxkgsiastixµ Rstoqía, Buch 4, Kap. 36, abgedruckt bei Wolter, Der Judenknabe (Anm. 82), S. 28 f.; Gregor von Tours, De Gloria Martyrum, Buch I, Kap. 10, abgedruckt ebd., S. 40 f., nach PL 71, Sp. 714 f.
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Abendmahl und Feuerwunder. Diese Komponenten verbinden sich zu folgender Erzählung: An einem Ort im Orient (dieser wechselt in den verschiedenen Fassungen) besucht ein jüdischer Knabe eine christliche Schule und geht eines Tages mit seinen Kameraden in der Marienkirche zur Messe, bei der er an der Eucharistie teilnimmt (ad participationem gloriosi corporis et sanguinis […] accessit). In sein Elternhaus zurückgekehrt, berichtet, ja ,hinterbringt‘ er erfreut seinen Empfang des Abendmahls (quae acceperat cum gaudio refert), woraufhin ihn sein Vater wegen des Frevels gegen das mosaische Gesetz (ad ulciscendam Mosaicae legis injuriam) töten will, indem er ihn in einen Feuerofen wirft.84 Doch dank der göttlichen Barmherzigkeit (misericordia) wird der Knabe gerettet (hier erfolgt ein typologischer Bezug auf die Jünglinge im Feuerofen, Dan 3). Als die Mutter von der Tat erfährt und zu dem Feuerofen eilt, um ihrem Sohn zu Hilfe zu kommen, bricht sie angesichts der lodernden Flammen in großes Wehklagen aus. Die Christen, die ihrerseits von dem Schicksal des Knaben erfahren haben, gelangen zu der Stätte und sehen den Knaben unversehrt ,wie auf weichsten Federn‘ (super plumas mollissimas) liegen. Sie holen ihn aus dem Ofen und werfen stattdessen den Vater hinein, der sogleich verbrennt. Auf die Frage, wie er denn die Feuersbrunst unbeschadet überstanden habe, antwortet der Knabe, dass ihn die Frau, die in der Kirche, in der er das Brot empfangen habe, ein kleines Kind im Schoß halte, mit ihrem Mantel vor den Flammen beschützt habe. Diese Aussage wird von den Christen als Marienerscheinung interpretiert (beatam ei Mariam apparuisse). Zusammen mit seiner Mutter wird der Knabe im ,Wasser der Taufe‘ gewaschen (salutaribus aquis ablutus); viele Juden folgen diesem Beispiel und konvertieren zum Christentum. Die Erzählung gehört damit in den konfessionsgeschichtlich schwierigen Bereich der Konfrontation des christlich-jüdischen Glaubens; in der christlichen Perspektive wird das Geschehen als Marienmirakel interpretiert. Dieser wichtige, in der Forschung bereits bearbeitete Aspekt85 ist in den folgenden Ausführungen zu berücksichtigen, doch soll er nicht im Zentrum stehen. Ebenso wenig kann die kom84 Vgl. Dtn 13,6 – 11(Vulgata), mit dem Gebot, „auch engste Verwandte zu töten, wenn sie einen anderen Gott verehren“ (Burmeister, Der ,Judenknabe‘ [Anm. 82], S. 143). 85 Vgl. zum Zusammenwirken von Marienverehrung und Judenverfolgung im Mittelalter Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, revidierte Ausgabe, München 1996, S. 411 – 462 (zur Erzählung vom Judenknaben S. 440 – 442); Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 11 – 28.
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plexe Filiation der verschiedenen Fassungen, die neben dem Griechischen und Lateinischen in verschiedenen europäischen Volkssprachen, aber auch im Äthiopischen und Arabischen erhalten sind, auch nur ansatzweise nachgezeichnet werden.86 Stattdessen muss sich die Darstellung mit einigen wenigen repräsentativen Beispielen und gelegentlichen punktuellen Verweisen auf Einzeltexte begnügen. Der Schwerpunkt soll insgesamt auf der Frage liegen, wie in verschiedenen Ausformungen der Erzählung die Konstellation der Komponenten von Abendmahl, Marienerscheinung im Bild, intradiegetischem Erzählen und diskursiver Vergegenwärtigung des Erzählten bewältigt wird. Ein Text, der sich als aufschlussreiches Zeugnis der mittelalterlichen ,Präsenzkultur‘ lesen lässt, ist in zwei steirischen Handschriften überliefert: Zisterzienserstift Rein, Cod. 35 (12. Jahrhundert), Bl. 130v – 134v, und Chorherrenstift Seckau, heute Universitätsbibliothek Graz, Cod. 1432 (Zeit um 1200), Bl. 99v.87 Das in 39 Hexametern abgefasste Gedicht steht Prosafassungen des Paschasius Radbertus und Honorius Augustodunensis nahe, in denen ein im Kirchenraum befindliches Marienbild in die eucharistische Handlung einbezogen ist.88 Der un86 Vgl. dazu die schematischen Überblicksdarstellungen bei Pelizaeus, Legende vom Judenknaben (Anm. 82), S. 9 – 11; Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 33 – 36. 87 Vgl. den Abdruck nach der Reiner Handschrift im Anhang, S. 505. Zur Handschrift aus Rein Anton Weis, OCist Rein, „Handschriften-Verzeichnis der Stifts-Bibliothek zu Reun“, in: Die Handschriften-Verzeichnisse der Cistercienser-Stifte, Bd. 1: Reun, Heiligenkreuz-Neukloster, Zwettl, Lilienfeld, Wien 1891 (Xenia Bernardina II,1), S. 1 – 114, hier S. 26 – 28; Initia carminum ac versuum Medii Aevi posterioris latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfnge mittellateinischer Dichtungen, unter Benutzung der Vorarb. Alfons Hilkas bearb. von Hans Walther, Göttingen 1959, Ergänzungen und Berichtigungen zur ersten Auflage, Göttingen 1969 (Carmina medii aevi posterioris latina 1,1), Nr. 16306, S. 850. Zur Handschrift aus Seckau Anton E. Schönbach, „Miscellen aus Grazer Handschriften“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur 29, 17/1885, S. 350 – 354, hier S. 350 f. (mit Abdruck); Mussafia, „Studien“ (Anm. 82), 119/1889, S. 20 f.; Anton Kern, Die Handschriften der Universittsbibliothek Graz, Bd. 2: Ms. 713 – 2066, Wien 1956 (Handschriftenverzeichnisse österreichischer Bibliotheken. Steiermark 2), S. 316 f.; Initia carminum ac versuum Medii Aevi posterioris latinorum (wie oben), Nr. 16306, S. 1332. 88 Paschasius Radbertus (Radbert von Corbie), Liber de corpore et sanguine domini (9. Jahrhundert), Kap. 9, Nr. 8, abgedruckt bei PL 120, Sp. 1255 – 1350, hier Sp. 1298 f.; vgl. Pelizaeus, Legende vom Judenknaben (Anm. 82), S. 20, und Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 33 (mit weiterer Literatur). Honorius Augustodunensis, Speculum ecclesiae (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts),
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bekannte Autor führt ebenfalls die oben, im Zusammenhang mit der Fassung des Gregor von Tours erwähnten Komponenten an, setzt dabei aber folgende Akzente: Die Marienerscheinung wird hier explizit in ihrer ,bildlichen‘ Eigenart vorgeführt. Den Altar in der Kirche ziert ein Bildnis, das Maria mit dem Jesusknaben im Schoß zeigt (picta fuit super aram j cum nato proprio Christi genitricis imago, V. 4 f.). Dieses Bild wird für den jüdischen Teilnehmer zur ,Erscheinung‘, als der Priester die Kommunion an die Gläubigen verteilt. Er schaut hin (intuitus) und berichtet, dass ihm schien (retulit sibi visum), der Priester schnitte den Jesusknaben, den Maria – als Bildnis – im Schoß hielt, in Stücke, ,so wie er war‘ (cultro quod puerum sacrifex in frusta secaret j talem, qualis erat, quem sancta Maria tenebat j depictum gremio, V. 8 – 10). Auffällig ist dabei, dass der Jesusknabe zunächst als quasi-real begegnet (puerum, V. 8), während die Tatsache, dass es sich um ein Bildnis handelt, erst spät durch ein nachgetragenes Adjektiv (depictum, V. 10) deutlich wird. Die Erscheinung des Jesusknaben beim Messopfer gehört in den Kontext der Diskussionen um die eucharistische Realpräsenz Christi, die im vierten Laterankonzil von 1215 dogmatisch festgeschrieben wird.89 Die Gegenwart Christi bei der Konsekration findet seit dieser Zeit Ausdruck im Legenden- und Bildtyp der sogenannten Gregoriusmesse, dem zufolge Papst Gregor der Große eine Hostie in einen blutigen Finger (oder nach späterer Auffassung in die Erscheinung Christi als Schmerzensmann) verwandelt haben soll.90 Seit dem 12. Jahrhundert ist in Text- und Bildzeugnissen auch zunehmend die Verwandlung des eucharistischen Brots in den Leib des Jesuskinds nachweisbar.91 Die Hostienverehrung abgedruckt bei PL 172, Sp. 807 – 1108, hier: In purificatione sanctae Mariae, Sp. 852, und bei Wolter, Der Judenknabe (Anm. 82), S. 43; vgl. Pelizaeus, Legende vom Judenknaben (Anm. 82), S. 25, und Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 34 (mit weiterer Literatur). 89 Vgl. oben S. 456 f. 90 Vgl. Peter Browe, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters, Breslau 1938 (Breslauer Studien zur historischen Theologie, N.F. 4), S. 97 f., 113 – 115; A[lois] Thomas, „Gregoriusmesse“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg/Br. [u.a.] 1970, Sp. 199 – 202; Karsten Kelberg, Die Darstellung der Gregorsmesse in Deutschland, Diss. phil. Münster 1983; Rubin, Corpus Christi (Anm. 1), S. 116, 121 – 123, 308 – 310; Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 67; Esther Meier, Die Gregorsmesse. Funktionen eines sptmittelalterlichen Bildtypus, Köln – Wien 2006; Thomas Lentes/Andreas Gormans (Hrsg.), Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2006 (KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne 3). 91 Vgl. Browe, Die eucharistischen Wunder (Anm. 90), S. 100 – 111; J. J. M. Timmers, „Eucharistie“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Freiburg/Br.
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des 13. Jahrhunderts gipfelt in der Einführung des Fronleichnamsfestes durch Papst Urban IV. im Jahr 1264.92 Das Changieren der Epiphanie des Jesusknaben zwischen Erscheinung und Bild lässt sich vor diesem Hintergrund erklären. Ähnlich offen bleibt der Bildcharakter bei der wunderbaren Errettung des Knaben. Wie er nach dem glücklichen Verlassen des Ofens berichtet, habe die Retterin inmitten der Flammen sicher Platz genommen (illa, j […], jin mediis domina flammis secura sedebat, V. 22 und 24), ihn in ihrem Schoß aufgenommen und mit ihrem Kleid vor dem Feuer bewahrt (ipsa suo gremio pie me suscepit et ignem j veste sua repulit, V. 25 f.). Im Verweis auf die Jünglinge im Feuerofen (vgl. auch V. 20) betont der Erzähler, dass die ungenannte Dame keine andere als Maria gewesen sei (genitrix illius sancta Maria j qui fuit in fornace trium custos puerorum, V. 28 f.). Die Bezugnahme auf das zuvor erwähnte Bildnis erfolgt über die Aussage des Knaben, dass er die Gottesmutter als ,Gemalte auf dem Altar‘ gesehen habe (quam vidi prius ecclesia pictam super aram, V. 23); sie wird unterstützt durch Rekurrenzen der marianischen Begriffe genitrix (V. 5 und 28) und gremium (V. 10 und 25). Dass der Juden-,Knabe‘ (puer, V. 2, 7, 19, 22, 36) wie der Jesus-,Knabe‘ (puer, V. 8) bei seiner Errettung in Marias Schoß sitzt, führt zu einer – aus christlicher Perspektive – beinahe häretischen Annäherung beider Gestalten. Sie rechtfertigt sich über die Christus-Typologie der drei Jünglinge im Feuerofen (tres pueri, V. 20, 29) sowie durch die Tatsache, dass der Knabe nach der Teilnahme am Abendmahl den Leib Christi ja seinerseits in sich trägt. Auf diese Weise wird der Knabe, im Feuer durch Marias Schoß geborgen und von ihrem Kleid beschützt, gleichsam in Maria ,inkarniert‘. Sowohl das Kleid als auch das Feuer sind verbreitete Sinnbilder der Menschwerdung Christi.93 Der Körper des Judenknaben tritt so zwischen die an der Inkar[u.a.] 1968, Sp. 687 – 695, hier Sp. 691; Rubin, Corpus Christi (Anm. 1), S. 117, 135 – 139. 92 Vgl. Angelus A. Häußling, „Fronleichnam“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München [u.a.] 1989, Sp. 990 f.; Rubin, Corpus Christi (Anm. 1), S. 164 – 212. 93 Vgl. zur Bildlichkeit des Kleids Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Bercksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie, Linz 1893, S. 87 f., 330 f.; zur Bildlichkeit des Feuers ebd., S. 21 f. und 116 mit Anm. 5 ( Jünglinge im Feuerofen), S. 60 – 63 (Naturbeispiel des Phönix), S. 324 – 327 (Fackel, Flamme, Feuer, Lampe). Zu erinnern ist ferner an das prominente Sinnbild des brennenden Dornbuschs (Ex 3,2; vgl. ebd., S. 12 – 14, 114 mit Anm. 6), das seinerseits in der Tradition der Erzählung vom Judenknaben begegnet, so in der Fassung der Marienmirakel einer Handschrift der British
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nation beteiligten Körper von Christus und Maria: Er hat den Leib Christi inkorporiert, wird aber zugleich vom Leib Marias umgeben. Die eigentliche Pointe der Erzählung aber besteht darin, dass diese das sich anbahnende Wunder als ein Ereignis inszeniert, das ständig zwischen Bild, Typologie und Erscheinung oszilliert. Diese schillernde Offenbarungsform basiert auf eben jenem Gedanken, dass der Judenknabe den Jesusknaben nach der Teilnahme am Abendmahl regelrecht ,in sich trägt‘: Hat er zunächst davon berichtet, was er in der Vision geschaut hat (retulit sibi visum, V. 7) – nämlich den intakten Körper des Jesuskinds (talem, qualis erat, V. 9) –, so ,hinterbringt‘ der Knabe im Elternhaus das Gesehene (refert quid viderit, V. 12). Ja mehr noch: er nimmt ein Stück des in Christi blutendes Fleisch gewandelten Brots in den Mund (suscepit et ipse j ore suo partem carnis crude, V. 10 f.) und zeigt dem Vater, was er nach Hause gebracht hat (quid […] attuleritque/ ostendit patri, V. 12 f.). Der Bericht über das Gesehene wird damit wiederholt im Wort referre (V. 7 und 12) gefasst, während sich das Mitführen des Brots in dem verwandten Verbum afferre (V. 12) konkretisiert: Das Berichten (referre) ist wörtlich genommen ein ,Zurückbringen‘ und damit konvergent mit dem ,Herbeibringen‘ (afferre). Damit macht der Judenknabe den Leib Christi nicht nur narrativ, sondern auch dinglich im Elternhaus gegenwärtig – und genau darin besteht für den Vater das Skandalon. Dieser Gestus der Vergegenwärtigung wird auf einer extradiegetischen Ebene auch vom Erzähler für seine Tätigkeit beansprucht. So beginnt der Text mit folgendem Vers: Quod refero res est, mihi credite, fabula non est. Explizit leitet hier mithin das Verbum referre die nachfolgende Mirakelerzählung ein, wobei die Alliteration mit dem unmittelbar folgenden Wort res zugleich den Realitätscharakter des Erzählten verbürgt: ,Glaubt mir, was ich erzähle, ist Tatsache und keine Dichtung‘ – ,was ich erzähle, ist wahr und nicht falsch‘. Eine eigenwillige Durchdringung dieser extradiegetischen Ebene mit der Erzählung zeichnet sich im Schriftbild der Seckauer Handschrift ab: Der Text ist hier mit abgesetzten Versen zweispaltig eingetragen, wobei Vers 1 als erster Vers von Spalte a neben Vers 23 als erstem Vers von Spalte b steht. Die Überlänge von Vers 1 führt dazu, dass Vers 23 im Vergleich zu den darunter eingetragenen Versen weiter nach rechts Library in London, Cotton MS, Cleopatra C.X (12. Jahrhundert), abgedruckt bei Wolter, Der Judenknabe (Anm. 82), S. 46 – 49: Et ecce res mira ac post rubum a Moyse visum pene inaudita oculis omnium comprobata apparet! Nam cernunt puerum in medio flammarum letum et alacrem sedentem […] (S. 48, Z. 100 – 103).
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rückt, was nahelegt, Vers 1 und 23 gemeinsam als Überschrift zu lesen94 : Quod refero res est, mihi credite, fabula non est, j quam vidi prius ecclesia pictam super aram. Vers 23, der aus der Rede des Judenknaben stammt, würde damit zur Rede des Erzählers. Das Relativpronomen quam könnte sich auf die Feminina fabula oder res in Vers 1 beziehen; damit würde der Erzähler sagen, dass er die Erzählung oder die in ihr mitgeteilte Tatsache früher in der Kirche über dem Altar als Bildnis gesehen habe. Die visuelle Wahrnehmung, wie sie der Knabe mitteilt, würde damit auch von dem Erzähler beansprucht. Das Beispiel zeigt, wie die Präsenz des Erzählens hier regelrecht in die Repräsentation des Erzählten eindringt. Unabhängig davon, ob eine solche ,Verskonjunktion‘ nur zufällig erfolgt und das Produkt neuzeitlicher Textkonstitution ist95, bleibt festzuhalten, dass der Erzähler (wie auch der Judenknabe) seine eigene Tätigkeit als referre und damit als einen Akt realer Präsentation ausgibt: Das Erzählen vollzieht sich in ,Realpräsenz‘ und besitzt damit eine Qualität, die dem im Körper des Judenknaben gegenwärtigen Leib Christi vergleichbar ist. Diese Auffassung ist von dem seit Plato (Der Staat, X) tradierten Vorwurf, dass die Dichter lügen, weit entfernt. Ebenso wenig aber lässt sie sich mit der aristotelischen Position, dass die Dichter das ,Wahrscheinliche‘ erzählen (Poetik, Kap. 9), vereinbaren. Erklärbar wird sie durch den aristotelischen Zeichenbegriff, wie er in den EucharistieDiskussionen der Zeit begegnet: Die Substanz des Leibs Christi verbindet sich mit sinnlich wahrnehmbaren akzidentalen Formen. Über sie wird das Wunder der Präsenz Christi in der Eucharistie und in Maria zur sichtbaren res picta und zur hörbaren res relata. Die Fassung der Erzählung vom Judenknaben in den Handschriften aus Rein und Seckau kann damit als ein in der Tradition selten mit dieser Intensität erreichtes Musterbeispiel für die Inszenierung von Präsenz gelten. Es erstaunt nicht, dass diese extreme Ausformung des Präsenzcharakters Deutungsbedarf provoziert, der in der Reiner Handschrift durch einen Kommentar eingelöst wird. Die Erzählung wird auf diese Weise zum Prätext lehrhafter Ausführungen. Diese richten sich an unkundige Hörer, die an den erzählten Inhalten (auch hier begegnet das Verbum referre) Schaden nehmen könnten: Possunt hec, que de corpore domini versa 94 Diesen Text stellt Schönbach, „Miscellen aus Grazer Handschriften“ (Anm. 87), S. 350, her. Vgl. auch die Abbildung auf S. 505. 95 Vgl. Schönbach, „Miscellen“ (Anm. 87), S. 305 f..
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hic referuntur, infirmis auditoribus plus nocere quam prodesse (Bl. 131r).96 Der Tenor des Kommentars liegt auf Erklärungen zur Transsubstantiation und zur Unteilbarkeit der göttlichen Substanz angesichts des akzidentell teilbaren Brots, dessen Brocken ja in der Erzählung eine Rolle spielen (frusta, V. 8). Obwohl der Gedankengang nicht im Einzelnen nachvollzogen werden soll, seien im Folgenden doch einige Kernaspekte herausgegriffen. So betont der Kommentator, dass in den sichtbaren Gestalten von Brot und Wein das ,wahre Fleisch Christi‘ unsichtbar, aber wesenhaft gegenwärtig sei (sub illa visibili specie panis et vini in altari invisibiliter, essentialiter presens assit vera caro Christi, Bl. 131v). In der Transsubstantiation könne das wahrhaft Anwesende nicht gesehen werden, während das wahrhaft Abwesende gesehen werde (ea non videntur, que ibi vere sunt, et quidem ea videntur, que ibi vere non sunt, Bl. 132r). Das Fleisch Christi werde den Menschen in Gestalten dargebracht, die ihren Sinnen zusagten (in speciebus, que arrident humanis sensibus, caro Christi datur hominibus, Bl. 132v). Bei der Wandlung gehe die Substanz des Brots in die Substanz Christi über, der zur Rechten des Vaters sitzen werde (substantia panis in illam transierit substantiam, que sedet in dextra patris, Bl. 132v/133r). Wie in der Erzählung dargestellt, bleibe der Leib Christi trotz der Teilung des Brots intakt (Perinde infans ille in partes circumcidi et per singulos dividi visus est, nichilominus tamen in partibus illis totus et integer sine sui lesione Christus divisus manducatus est, Bl. 133v). Der Kommentar zeigt, dass die in den Hexameterversen inszenierte Präsenz ohne ein hermeneutisches Supplement nicht auskommt. Die ,Sinnkultur‘ holt auf diese Weise die ,Präsenzkultur‘ ein. Im Folgenden soll nunmehr anhand deutschsprachiger Reimpaarerzählungen des Judenknaben und einiger thematisch vergleichbarer Stoffe untersucht werden, wie sich die in den Fassungen aus Seckau und Rein begegnende Präsenz des Erzählens auch im narrativen Diskurs zunehmend in eine Repräsentanz des Erzählens wandelt. Die Fassungen setzen hier an jenen Komponenten an, die der Erzählung des Judenknaben als res picta und res relata von Anfang an inhärent sind: der Wahrnehmung des Geschehens durch Sehen und dessen Wiedergabe durch Erzählen. Heranzuziehen ist hier vorab die Erzählung Das Jdel (458 Verse), deren Entstehung im bairisch-österreichischen Raum im 13. Jahrhun-
96 In den folgenden Zitaten werden Abkürzungen stillschweigend aufgelöst und Satzzeichen eingefügt, die Schreibung von v und u wird normalisiert.
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dert (erstes Viertel oder zweites/drittes Viertel) anzusetzen ist.97 Gegenüber den älteren lateinischen Fassungen werden hier die Schwerpunkte verschiedentlich anders gesetzt: So begegnet insbesondere ein positiver gezeichnetes Bild der jüdischen Gemeinde; der Vater des Judenknaben gerät mit seiner Entscheidung, den Sohn zu strafen, in einen tragischen Konflikt (V. 230 – 279) und empfängt – wie sich andeutet (V. 368 f.) – später die Taufe.98 Die Errettung des Judenknaben durch Maria wird wesentlich dadurch motiviert, dass jener das Bild der Gottesmutter einst von Spinnweben gereinigt hat (V. 88 – 100, 300 – 306). Insgesamt lässt sich gegenüber den älteren Versionen ein starker Anstieg der Redeund Dialogabschnitte erkennen; mitunter wechseln die Redepartien innerhalb eines Verses (zum Beispiel beim Geständnis des Judenknaben vor seiner Familie, V. 178). Auffällig ist die intensive Thematisierung des Sehens. Sie konkretisiert sich in der Erwähnung der Augen – so anlässlich der Erscheinung des Jesuskinds beim Messopfer (V. 116, 119, 127) und im Zuge der wunderbaren Errettung (der Judenknabe sagt: meiniu ougen wunder sahen, V. 400; den Zeugen werden vor Rührung die ougen naz, V. 413). Thematisiert werden aber auch visuelle Akte: So rettet die Gottesmutter den Knaben in den Flammen, indem sie sich schæimberlichen sehen lässt (V. 297). Ein Zeuge berichtet dem Vater davon, dass der Sohn auf wunderbare Weise überlebt, mit den Worten: ,ich selbe sach die warhæit‘ (V. 348). Im anschließenden Dialog zwischen dem Vater und dem in den Flammen befindlichen Sohn wird deutlich, dass die Taufe Voraussetzung für das Ansichtig-Werden der Gottesmutter ist (nur der Knabe ist auf wunderbare Weise von dieser Regel befreit): wa, nu? la mich sei sehen! – nu toufe dich, so mag ez geschehen! – wie chumt daz du sei sihest/ unt tu noch ungetoufet bist? (V. 363 – 366).
Als der Bischof mit einer Gruppe von Klerikern zu der Stätte eilt, an der sich das Wunder ereignet, gerät der Knabe aus der anonymen Per97 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung sowie zu den Lokalisierungs- und Datierungsfragen zuletzt Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 46 – 71. Zitiert wird im Folgenden nach dem Textabdruck ebd., S. 256 – 289. 98 Vgl. zu Einzelheiten die Textanalyse ebd., S. 71 – 82, bes. S. 76 – 78, wo zugleich die Problematik älterer Versuche, eine stringente Textgenealogie nachzuzeichnen (etwa bei Pelizaeus, Legende vom Judenknaben [Anm. 82], S. 38 – 48), deutlich wird.
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spektive der umstehenden Schaulustigen in den Blick: Daz chint man in dem fiwer sach (V. 391). Der eindringlichen Thematisierung des Sehens stehen Akte der Rede und des (unterlassenen) Schweigens gegenüber. Sie betreffen das Geständnis des Sohns gegenüber dem Vater (do verjach im daz chint sa j unt verswæig im niht, V. 148 f.), aber auch die Beratungen des Vaters mit seinen jüdischen Verwandten (rates vragen, V. 156; beraten, V. 206). Darin werden die Aussagen des Sohns (von sein selbes munde, V. 164) geprüft. Für den Fall des Abschwörens (wes ez dar umbe vergihet, V. 165) wird dem Sohn Schonung in Aussicht gestellt (V. 167 – 171). Die Weigerung des Sohns wird mit einem Schweigegebot geahndet (V. 180). Wiederholt werden Wahrheit und Falschheit der Reden von Vater und Sohn erwogen (vgl. V. 166, 200). In der offenkundig von der Stofftradition des Jdel abhängigen Fassung des Judenknaben (568 Verse) im Passional (entstanden im späteren 13. Jahrhundert, möglicherweise im Umfeld des Deutschen Ordens) 99 sind die Akzente des Sehens und Erzählens anders gesetzt. Grundsätzlich zeichnet sich diese Fassung durch eine negativer gestaltete Zeichnung der Judengemeinde (bedingt unter anderem durch die Kürzung der Ratsszene) aus. Wie im Jdel bereitet der Knabe seine Rettung durch die Reinigung des Marienbilds vor. Doch pointiert die Fassung des Passionals die kultische Verehrung, die dem Bildnis entgegengebracht wird: Es besteht ein Verneigungsgebot, dessen Nichtbeachtung bestraft wird (V. 56 – 63), weshalb sich auch der Judenknabe an diese strenge Regel hält. In der erläuternden Beschreibung eines Kameraden ähnelt die Verehrung einem Vasallenverhältnis, gemäß dem die Schüler der vrowe (V. 81) Maria getruwen dienst leisten (V. 89). Der Judenknabe befolgt diese Verehrung alsbald und betet vor dem Bildnis regelmäßig ein Ave Maria. Auffällig ist, dass in dem Marienkult des Knaben ein hoher Grad an Identität von Bild und der damit bezeichneten Person zum Ausdruck kommt. So bekennt der Knabe in Bezug auf das Bildnis, er wolle ir (Maria) dienen baz danne e (V. 102, in einigen Handschriften ist das Verbum dienen durch nigen ersetzt).100 Auch aus der Perspektive des Erzählers wird diese Haltung 99 Vgl. zur handschriftlichen Überlieferung sowie zu Datierung und Lokalisierung zuletzt Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 87 – 118. Zu Quellenfragen zusammenfassend ebd., S. 125. Zitiert wird im Folgenden nach dem Textabdruck ebd., S. 290 – 318. 100 Vgl. die textkritischen Angaben ebd., S. 295.
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übernommen, so wenn dieser betont, dass der Judenknabe mit seiner Bildverehrung bestrebt gewesen sei, dass sein Herz Marien were holt (V. 167), und wenn er im Epilog auch dem Rezipienten empfiehlt, es dem Judenknaben gleichzutun: daz er dicke und dicke mit reines herzen blicke, nige und ouch si gruze (V. 561 – 563).
Der Umgang mit dem bilde soll auf diese Weise Vorbildfunktion haben – so betont es der Erzähler bereits innerhalb der Erzählung, wenn er sagt, dass Gott den mit dem Bildkult erwirkten Beistand Marias uns zu einem bilde (V. 159) eingerichtet habe. Vor diesem Horizont entwirft die Erzählung eine ,Poetik des Sehens‘, die sich gleichermaßen auf das von dem Judenknaben geschaute Messwunder wie auf die Marienerscheinung im Feuer und die abschließende Mahnung an die Gläubigen erstreckt. In enger Anlehnung an das Jdel wird die Epiphanie des Jesuskinds auf dem Altar beim Messopfer beschrieben: daz aller schonste kindelin sach ez aldar uffe sin, daz ie ouge me gesach (Fassung des Passionals, V. 185 – 187) untz im uf dem alter erschæin der aller schonist chinde æin, daz dehæin ouge ie ubersach ( Jdel, V. 117 – 119).
Die Marienerscheinung im Ofen wird in der Fassung des Passionals mit deutlichen Anklängen an diese Szene gestaltet; hier heißt es von dem Knaben: daz kint sach offen und bloz, als ez wol mochte schowen, di aller schonsten vrowen, di ie kein mensch ie gesach (V. 366 – 369).
Die Häufung von Verben des Sehens (gesach, schowen) ist in diesem Abschnitt besonders offensichtlich. Sie wird kontrastiv noch dadurch gestützt, dass der bestürzte Vater außerstande ist, den jamerlichen mort, den seine Glaubensgenossen an dem Sohn begehen, durch eigene Augenzeugenschaft zu verfolgen: Er kann ihn nicht beschowen (V. 351 f.).
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Später wird der Vater seinerseits durch einen visuellen Akt zur Bekehrung zum Christentum motiviert (durch dit wunderliche zeichen, j daz er an sime kinde sach, V. 472 f.). Auf einer extradiegetischen Ebene leitet der Erzähler seinerseits den Beginn der Marienvision mit dem an sein Publikum adressierten Imperativ seht ein (V. 358). Im Epilog setzt sich dieser Gestus in der Weise fort, dass der Erzähler den Gläubigen empfiehlt, sie sollten Cristum unde Marien […] vur ougen haben (V. 554 f.). Gegenüber dieser auf das Publikum ausgreifenden Bildvision nimmt sich die in der Fassung des Passionals vorgeführte Redetechnik vergleichsweise bescheiden aus. Dies mag an den gegenüber dem Jdel stark gekürzten Ratsszenen liegen, die ein ausführliches Abwägen der in Reden vorgebrachten Positionen von Vater und Sohn nicht recht zulassen. Die Beratung beschränkt sich hier auf das Angebot an den Sohn, seinen Frevel zu bereuen und Maria zu verfluchen (was dieser verweigert, V. 277 – 289), sowie auf die Erwägung, wer die Todesstrafe ausführen soll (was der Vater ablehnt, V. 310 – 333). Auch die Berichte des Sohns über den Empfang der Kommunion (V. 238 – 243) und über die Rettung im Ofen (V. 450 – 469, 509 – 521) stehen mit ihren statischen Beschreibungen gegenüber den aufwändig inszenierten ,Schaupassagen‘ zurück. Diese narrative Zurückhaltung ändert sich in verwandten Erzählungen, die ebenfalls den Empfang der Kommunion zum Thema haben. Zu nennen ist hier vorab die Mirakelerzählung Die Jdin und der Priester, die mit der Erzählung vom Judenknaben das Thema des Konsekrationswunders teilt. Der wiederum in Reimpaaren abgefasste Text (260 Verse) ist in der für die spätmittelalterlichen Verserzählungen wichtigen Sammelhandschrift Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. 408, überliefert, die um 1430 aufgezeichnet wurde.101 Die Vorlage der dort überlieferten Erzählung dürfte noch im 14. Jahrhundert im ostfränkisch-ostmitteldeutschen Raum angefertigt worden sein.102 101 Vgl. Codex Karlsruhe 408, bearbeitet von Ursula Schmid, Bern – München 1974 (Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelalters 1; Bibliotheca Germanica 16). 102 Vgl. Rolf Max Kully, „Die Jüdin und der Priester. Versuch einer Interpretationsvertiefung durch Symbolzahlen“, in: Wirkendes Wort, 22/1972, S. 133 – 142; ders., „Die Jüdin und der Priester“, in: Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin [u.a.] 1983, Sp. 897 – 899; Johannes Janota, Vom spten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit, Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90 – 1380/ 90), Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III,1), S. 249. Der Text ist abgedruckt in: Der mnch
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Die Erzählung handelt von einem Geistlichen, der mit einem jüdischen Mädchen ein Liebesverhältnis eingegangen ist. Nur widerwillig gibt sich die junge Frau dem Priester an einem Sabbat hin. Sie vergilt die Schmach, indem sie den Priester ihrerseits am Vorabend einer Messe versucht. Am kommenden Morgen nimmt sie in christlichen Kleidern an der Messe teil und wird eines Wunders ansichtig: Sie erblickt in der Hand des Priesters, der das Brot hält, den Jesusknaben (dies in deutlicher Anlehnung an die entsprechenden Formulierungen in Jdel und Passional).103 Dieser Vision aber geht eine andere Erscheinung voraus: Die junge Frau sieht zwei Engel, die den Priester vor der Wandlung von seinen Sünden reinwaschen; ein dritter Engel fängt die Sünden des Priesters in einem Becken auf und gießt sie ihm nach der Konsekration wieder über den Kopf.104 Aufgrund dieser Erscheinung bekehrt sich die Jüdin zum christlichen Glauben, lässt sich taufen und widmet sich fortan besonders dem Dienst der Gottesmutter (auch diese Motive finden sich in der Erzählung vom Judenknaben). Der Priester bereut seine Sünde und unterlässt sie fortan (wobei offen bleibt, ob sich dies auf die Keuschheit vor dem Messopfer oder auf eine grundsätzliche Enthaltsamkeit bezieht, vgl. V. 227).105 Eine Eigenheit der Erzählung besteht darin, dass von dem Wunder zweimal berichtet wird: zunächst aus der Perspektive des Erzählers und dann nochmals aus jener des jüdischen Mädchens. Der Erzähler schildert zunächst den Ablauf der Vision, welche die junge Frau zu einem in mit dem genßlein. 13 sptmittelalterliche Verserzhlungen aus dem Codex Karlsruhe 408, hrsg. und erläutert von Rolf Max Kully und Heinz Rupp, Stuttgart 1972, S. 131 – 139, und in: Codex Karlsruhe 408 (Anm. 101), S. 363 – 369 (im Folgenden zitiert; dabei wird stillschweigend Schrägtrema als Trema, geschwänztes z als z wiedergegeben, Großschreibung am Versanfang wird in Kleinschreibung geändert, wenn das Zitat in einen Satz integriert ist). 103 Die Auffassung, dass die Konsekration vermittelt durch die Hand des Priesters erfolgt, findet sich in Messerklärungen seit dem 8./9. Jahrhundert. Vgl. HansChristian Seraphim, Von der Darbringung des Leibes Christi in der Messe. Studien zur Auslegungsgeschichte des rçmischen Messkanons, Diss. theol. München 1970, S. 125 – 128. 104 Die Vorstellung von der Mitwirkung der Engel bei der Konsekration ist im Mittelalter weit verbreitet; vgl. D[om] B[ernard] Botte, „L’ange du sacrifice et l’épiclèse de la messe romaine au Moyen Age“, in: Recherches de Th ologie ancienne et m di vale, 1/1929, S. 285 – 308. 105 Kirchenrechtlich wurde der Verstoß gegen den Zölibat seit dem vierten Laterankonzil von 1215 mit strengen Strafen geahndet. Vgl. H[artmut] Zapp, „Zölibat“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, München 1998, Sp. 663 – 666, hier Sp. 666.
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direkter Rede mitgeteilten Gebet motiviert, in dem sie sich zum christlichen Glauben bekehrt (V. 155 – 164). Anschließend wendet sich das Mädchen an den Priester und fragt ihn, ob er kein zeichen sehe (V. 177), was dieser verneint. Die junge Frau aber erwidert, dass sie grçßer zeichen nye gesehen habe (V. 181), und berichtet nun ihrerseits von dem Konsekrationswunder. Die darin wiederholten Fakten sind aus der von dem Erzähler mitgeteilten Darstellung bereits bekannt. Anstelle des Bekehrungsgebets im vorausgehenden Abschnitt mündet der Bericht des Mädchens nunmehr in die an den Priester gerichtete Bitte, sie zu taufen und ihr die Beichte abzunehmen (vgl. V. 214 und 216). Die in der Rede der jungen Frau wiederholte Erzählung bekräftigt, dass diese einen Vorgang beobachtet hat, der dem sündigen Priester verborgen blieb. Wie im Prolog (V. 1 – 46) und im Epilog (V. 237 – 260) des Mirakels betont wird, soll das Wunder letztlich verdeutlichen, dass sich die Konsekration unabhängig von dem Lebenswandel des Priesters vollziehe (Die priester mßen snden auch, V. 39; Wie bel n der priester tt, j Sein messe ist reyne vnd gt, V. 253 f.).106 Dieser Sachverhalt wird durch das Wunder gewährleistet, das sich an dem Priester ereignet, jedoch nur von dem Mädchen wahrgenommen wird. Die Exklusivität der Vision motiviert die doppelte, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven heraus gestaltete Schilderung des Vorgangs. Die diskursive Anlage der Verserzählung tendiert dabei dazu, Messfrömmigkeit und Visualität in die „Sphäre des Subjektiven“ zu verlagern, wie dies die Forschung an der spätmittelalterlichen, insbesondere reformatorischen Frömmigkeitspraxis nachgewiesen hat.107 Dieses Anliegen kommt bereits im Prolog zum Ausdruck, wo der Erzähler seinerseits die Hoffnung ausspricht, bei der Konsekration Gott in der Hand des Priesters zu schauen: Daz ich schier mß sehen j Den waren got jn seiner hant (V. 22 f.). Innerhalb der Erzählung ist dann das jüdische Mädchen Subjekt solcher Vorgänge des Sehens. Diese werden zunächst durch den Erzähler referiert: Da sach die arm judein (bezogen 106 Die Auffassung begegnet bereits in Augustins Schrift Contra hereticos; vgl. Kully, „Die Jüdin und der Priester“, in: Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin [u.a.] 1983, Sp. 898. Sie wird von Theologen der Hochscholastik in der Weise bekräftigt, dass der Priester die Wandlung „immer, auch als Exkommunizierter oder als Sünder“, vornehmen könne. Vgl. Neunheuser, Eucharistie (Anm. 1), S. 43, sowie Josef Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im allgemeinen. Von der Schrift bis zur Scholastik, Freiburg/Br. [u.a.] 1980 (Handbuch der Dogmengeschichte IV.1a), bes. S. 54 – 58. 107 Vgl. oben S. 457 mit Anm. 18.
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auf die Engel, V. 123, vgl. auch V. 134); Daz aller mynneclichste kynt j Sahe jn dez priesters hende (V. 150 f.). Später werden sie in der Rede des Mädchens wiederholt: Da sahe ich sndiges weip (bezogen auf die Engel, V. 185; vgl. auch V. 197); Daz aller schçnst kyndelin […] Daz sahe ich hete jn ewer hant (V. 192 und 196). Die jeweils hyperbolisch beschriebene Erscheinung des Jesuskinds (aller mynneclichste – aller schçnst) steht besonders in der Rede der jungen Frau den Darstellungen der deutschsprachigen Erzählungen vom Judenknaben nahe.108 Während sich die Einzigartigkeit dort jedoch an dem von den Augen empfangenen Sinneseindruck bemisst (daz dehæin ouge ie ubersach, Jdel, V. 119), bringt das Mädchen in seiner Rede einen Bildbegriff ins Spiel: Daz so later noch so klare j Mir nye py¨lde wart bekant (V. 194 f.). Das Gesehene wird auf diese Weise zum geschauten Bild; zugleich arbeitet das Mädchen in seiner Rede an der visuellen Vergegenwärtigung des Engelwunders, indem es dieses dem Priester durch einen Imperativ nachgerade vor-stellt: Seht, da gçß der engel wieder (V. 199 – 201). Die subjektiv empfangene Vision wird auf diese Weise in ihrer Repräsentierbarkeit vorgeführt. Dieser Gestus umfasst auch eine Negierung des Sehens, die an der im Mittelalter verbreiteten Auffassung von der ,Blindheit‘ des jüdischen Glaubens gegenüber der christlichen Offenbarung festgemacht wird.109 Das entsprechende Adjektiv ist seinerseits in die Wiederholungsstruktur eingebunden. Es begegnet zunächst im Bericht des Erzählers und dann in der Rede des Mädchens: Daz sie waz an gelaben blynt (V. 149) – Jch byn an der warheit plynt (V. 217). An diesem Punkt lassen sich die diskursiven Unterschiede gegenüber den älteren Erzählungen vom Judenknaben deutlich erkennen. Die geschauten Erscheinungen (des im Brot der Eucharistie sichtbaren Jesusknaben, der das Wunder bewirkenden Engel) werden durch die zweifach vorgenommene Darstellung als subjektive Erfahrung vorgeführt – als eine Erfahrung, die sich in der Repräsentation als py¨lde (V. 195) beziehungsweise als zur Sprache gekommene Vision vergegenwärtigen lässt. Ein letztes im Folgenden zu betrachtendes Textbeispiel 108 Vgl. oben S. 492. 109 Nach Röm 11,25 (caecitas ex parte contigit in Israhel). Ein verbreitetes Motiv der mittelalterlichen Ecclesia-Synagoge-Ikonographie sind der herab gezogene Schleier oder die Augenbinde der Synagoge. Vgl. Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 4,1: Die Kirche, 2., durchges. Auflage, Gütersloh 1988, S. 45 – 68, hier S. 51 f.; Franz Böhmisch, „Exegetische Wurzeln antijudaistischer Motive in der christlichen Kunst“, in: Das Mnster. Zeitschrift fr christliche Kunst und Kunstwissenschaft, 50/1997, S. 345 – 358.
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treibt diese Repräsentationspraxis – wiederum im Kontext eines als Fremderfahrung vergegenwärtigten Eucharistiegeschehens – weiter. Es handelt sich um die Reimpaarerzählung Der Litauer (324 Verse) eines Dichters mit Namen Schondoch, die vermutlich im 14. Jahrhundert (vielleicht im letzten Drittel) angefertigt wurde. Die Erzählung ist als Nachtrag des 15. Jahrhunderts in der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Handschrift Basel, Öffentliche Bibliothek der Universität, B VIII 27, Bl. 304v–307r, überliefert.110 Der außer durch eine weitere Verserzählung (Die Kçnigin von Frankreich) nicht näher bekannte Dichter könnte aufgrund des in beiden Texten begegnenden Sprachgebrauchs von Nordostschweizer Herkunft sein. Die Thematik des Litauers deutet an, dass der Verfasser möglicherweise Kontakt zu einem der oberrheinischen Deutschordenshäuser hatte.111 Die Erzählung handelt von der Bekehrung eines litauischen Königs, der zusammen mit russischen und tartarischen Truppen ins Ordensland Preußen kommt, um gegen die Angehörigen des Deutschen Ordens zu kämpfen. Die Konversion wird durch ein Konsekrationswunder ausgelöst, das dem König zunächst durch einen ritterlichen Kundschafter mitgeteilt wird, ehe er es selbst erlebt. Wie in den Erzählungen vom Judenknaben und von der Jdin und dem Priester erfolgt der Blick auf die
110 Der Codex enthält außerdem Hugos von Langenstein Martina (Bl. 1r–292v) und die Mainauer Naturlehre (Bl. 293r–304r). Vgl. Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit, Bd. 6, hrsg. im Auftrage der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung von Walther Hubatsch, bearbeitet von Udo Arnold, mit einer Einleitung von Erich Maschke, Frankfurt/M. 1968, S. 50. Textedition ebd., S. 53 – 60 (im Folgenden zitiert). 111 Vgl. zum Verfasser und zu der Erzählung zuletzt Udo Arnold, „Deutschordenshistoriographie im Deutschen Reich“, in: Zenon Hubert Nowak (Hrsg.), Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica 3), Torun 1985, S. 65 – 87, hier S. 69 – 71; ders., „Schondoch“, in: Verfasserlexikon, Bd. 8, Berlin [u.a.] 1992, Sp. 820 – 823; Edith Feistner, „Selbstbild, Feindbild, Metabild. Spiegelungen von Identität in präskriptiven und narrativen Deutschordenstexten des Mittelalters“, in: Horst Brunner/Werner Williams-Krapp (Hrsg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Sptmittelalters. Festschrift fr Johannes Janota, Tübingen 2003, S. 141 – 158, bes. S. 150 – 156; Janota, Vom spten Mittelalter (Anm. 102), S. 249. – Die von Arnold vorgenommene Datierung auf das letzte Drittel des 14. Jahrhunderts geht von dem nicht gesicherten Bezug auf die Taufe des litauischen Großfürsten Butawt 1365 aus.
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christliche Religion und deren Zeichen dabei anhand der Inszenierung einer nicht-christlichen Außenperspektive.112 Das Konsekrationswunder wird auf diese Weise insgesamt dreimal erzählt: Am Anfang steht der Bericht des Erzählers über die Beobachtungen, die der litauische Ritter macht, als er heimlich der christlichen Messe beiwohnt (V. 64 – 86). Dieser Darstellung folgt der Rapport, den der Kundschafter gegenüber dem König abgibt (V. 92 – 128). Ein letzter Erzählblock schildert den Messbesuch des Königs und dessen anschließende Bekehrung (V. 166 – 319). Auffällig sind dabei die Darstellung des Geschehens als sinnlich erfahrbares zeichen (vgl. V. 66, 166, 251 und 282) und die ins Groteske gehende Verzerrung des Konsekrationswunders: Das im eucharistischen Brot erscheinende Jesuskind der älteren Erzählungen mutiert im Litauer zur trinitarischen Gruppe dreier Riesen. Der erste der drei Berichte pointiert die sinnlichen Qualitäten des Gottesdienstes: Der Kundschafter lauscht dem Kirchengesang und den Gebeten; was dabei in sne ren dringt, hört er mit lust (vgl. V. 69), obwohl er – so der Erzähler – die w rheit dieser Sinneseindrücke nicht versteht (V. 70). Ebenso verhält es sich mit den visuellen Wahrnehmungen, die der Kundschafter offenbar begierig in sich aufnimmt (sach, V. 74 und 76).113 Der Ritter beobachtet, wie der Priester einn starken man d brach in dr (V. 78) und wie z iedem teil ein rise wart (V. 79). Nachdem der Priester diese Speise gekostet hat (die schoup er alle in snen munt, V. 81; vgl. auch V. 74), tun es ihm seine Mitbrüder gleich. Behutsam rückt der Erzähler die berichteten Geschehnisse aus einer christlichen Perspektive zurecht und betont, dass es sich bei dem verzehrten Leib um den göttlichen Schöpfer handelt (vgl. V. 75 und 85). Der im zweiten Anlauf wiedergegebene Bericht des Kundschafters vor dem König wiederholt die Darstellung, verzichtet dabei jedoch auf 112 Im Anschluss an psychosoziale Forschungen benutzt Feistner, „Selbstbild, Feindbild, Metabild“ (Anm. 111) in diesem Zusammenhang den Begriff des Metabilds: „das Selbstbild in den Augen des Feindes“ (S. 141). Vgl. auch ebd., S. 157, zu Schondochs Metabild im Litauer: „Es reflektiert zwar das Selbstbild ,von außen‘, doch der Feind, der seinen Spiegel dem Selbst vorhält, ist dessen eigenes Produkt: Die Selbstbezüglichkeit bleibt im Metabild notwendig erhalten.“ 113 Vgl. bes. Vers 76: diz sach der ungetoufte luof. Die Bedeutung von luof ist nicht ganz geklärt, dürfte aber in die Richtung von ,Abgrund‘, ,Schlund‘ (hier als Personifikation) gehen. Vgl. die Anmerkung in Scriptores rerum Prussicarum (Anm. 110), S. 54.
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die theologischen Erläuterungen und unterstreicht stattdessen die Fremdperspektive: Der Beobachter beschreibt den Priester (einn starken bruoder frisch, V. 103) vor allem in den äußerlich sichtbaren Qualitäten seines Ornats. Das Konsekrationswunder vollzieht sich in der Weise, dass der Ritter aus jedem Teil des in drei Stücke gebrochenen Brots einn unverzagten fromen helt (V. 117) wachsen sieht, ehe sich diese der Priester einverleibt (die schoup er mit ein ander n, V. 120). Auffällig sind die Bekräftigungsformeln, mit denen der Kundschafter seinen Bericht umrahmt. Darin wird jeder Lügenvorwurf im Keim erstickt, dies mit dem zweimal vorgebrachten Argument, dass der Ritter, wenn er denn die Unwahrheit sagte (liug[e] ich, V. 94 und 127), die gerechte Strafe erdulden wolle (mit Verlust von Leben, Besitz und muot oder – in hintergründiger Anspielung auf die im Hostienwunder erscheinende Trinität – mit der Bereitschaft, sich in drei Stücke hauen zu lassen). Das im ersten Bericht des Erzählers angemahnte Defizit an christlicher w rheit (V. 70) kontrastiert auf diese Weise mit den Wahrheitsbeteuerungen des Kundschafters. Der dritte Abschnitt, der von der Bekehrung des litauischen Königs und seines Kundschafters handelt, rückt die bislang in unchristlicher Verzerrung wiedergegebenen Wahrnehmungen mittels einer theologisch korrekten Sichtweise zurecht. Das Geschehen offenbart sich nunmehr vor dem König selber (V. 166) als Zeichen göttlichen Wirkens: In dem gebrochenen Brot erkennen die beiden Ungetauften Gottes menschlche nat re (V. 168). Die Epiphanie Gottes in Menschengestalt und sein eucharistisches Opfer werden dabei in einer Häufung von Verben versprachlicht, die semantisch ein ,In-Erscheinung-Treten‘ zum Ausdruck bringen (erougete – erzougete, V. 169 f.). Die Vision der Riesengestalt wird – vorsichtiger – über einen Vergleich vergegenwärtigt (gelch alsam ein rise stark, V. 171). Die auf diese Weise erwirkte Annäherung an eine theologisch korrekte Sichtweise des Geschehens wird wiederholt durch annähernd humoristische Einwürfe durchbrochen, so, wenn der König den Priester bittet, ihn nunmehr auch drei oder gar vier der im Brot sichtbaren Gestalten kosten zu lassen (schiup mir ouch dr in mnen munt, V. 188; schiup in mich ouch der manne vier, V. 232). Behutsam lenkt der Priester dieses unbeholfene Interesse am christlichen Glauben in die rechte Bahn. Er gibt eine Belehrung über die Trinität (V. 245), mahnt zu Beichte (V. 236), Buße (V. 240 – 249) und Taufe (V. 252 f.). Das Gebot wasch ab dner snden schimel (V. 248) könnte – auch wenn es
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sich um einen verbreiteten Topos114 handelt – als eine Reminiszenz an das Reinigungswunder in der Erzählung Die Jdin und der Priester lesbar sein. Mit dieser Erzählung teilt der Litauer den mehrfach gestaffelten Bericht über das Konsekrationswunder. Durch diese Schichtung wird die göttliche Erscheinung in ihrer Repräsentierbarkeit vorgeführt. Gegenüber der Erzählung von der Jdin und dem Priester intensiviert sich im Litauer die Mittelbarkeit des geschauten Geschehens: Diese Steigerung wird nicht nur durch den nunmehr auf drei Erzählvorgänge angewachsenen Bericht hergestellt. Ergänzend tritt die Entfaltung einer fortgeschrittenen Zeichenhaftigkeit hinzu, die ausgehend von den anfänglich nur sinnlich wahrnehmbaren Zeichen (vgl. V. 66) zunehmend deren christliche Bedeutung erschließt (vgl. V. 166, 251 und 282; der Begriff bediuten begegnet explizit in V. 126). Als weitere Verfahren einer mehr und mehr ins Repräsentative verweisenden Vergegenwärtigung des Geschehens begegnen explizite Vergleiche (wie alsam in V. 171) und eine beinahe ironisch zu nennende Distanz des Erzählers gegenüber den dargestellten Figuren. Letztere kommt durch wiederholt thematisierte grobe Gesten (etwa das In-den-Mund-Schieben des Brots, V. 188 und 232) oder durch Übertreibungen (die Erweiterung der drei Riesen auf vier, V. 232) zustande. Auf diese Weise zeigt sich, wie das aus einer Fremdperspektive gestaltete Erzählen von der Eucharistie zunehmend in den Sog seiner Repräsentierbarkeit gerät. Diese Beobachtung soll als Ausgangspunkt einer kurzen Schlussbetrachtung der in dem vorliegenden Beitrag behandelten Textgruppen dienen. Wie sich zeigte, ist die Problematik eines zwischen Realpräsenz und zeichenhafter Repräsentation oszillierenden Eucharistieverständnisses bei Autoren des 14. Jahrhunderts wie dem Spruchdichter Heinrich von Mügeln voll ausgeprägt. Entsprechungen zu dieser Haltung finden sich aber auch in spätmittelalterlichen Texten, die Repräsentationsvorgänge anhand verwandter Themen wie etwa den Bühnenanweisungen im Schauspiel (Frankfurter Dirigierrolle) oder der Reliquienverehrung (Arnold von Harff zu Santiago) problematisieren. Der Schritt zurück zu ausgewählten Textbeispielen der Zeit um 1200 zeigt, dass bereits hier ein Bewusstsein literarischer Reprä114 In Anlehnung an die Bildlichkeit der Sintflut (Gen 6 – 9). Vgl. Meinolf Schumacher, Sndenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Snde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters, München 1996 (Münstersche Mittelalter-Schriften 73), S. 488 – 492, passim.
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sentation und literarischer Präsenz besteht, das sich in Analogie zu zeitgenössischen Auffassungen von Eucharistie und Bildkult verstehen lässt: Thomasin erschließt die Lehrhaftigkeit zeitgenössischer Aventiure-Romane anhand der Diskussion um die Zeichenhaftigkeit der Bilder. Gottfried von Straßburg inszeniert in seinem Tristan-Roman das Erzählen als eucharistische Präsenz. Walther von der Vogelweide schließlich entwirft in seinem Alterston den Begriff eines seiner Akzidenzien entkleideten bilde, dessen Rätselhaftigkeit sich im Rekurs auf das zeitgenössische Eucharistieverständnis wenn nicht lösen, so doch beschreiben lässt. Auf eine Präsenz des narrativen Diskurses, wie sie sich bei Gottfried und Walther andeutet, zielt auch die lateinische Hexametererzählung vom Judenknaben, die um 1200 in den zwei steirischen Handschriften aus Rein und Seckau aufgezeichnet wurde. Die hier ins Erzählen hereingeholte Gegenwärtigkeit des eucharistischen Geschehens (quod refero res est) weicht in den betrachteten deutschsprachigen Fassungen der Erzählung aus dem 13. Jahrhundert zunehmend Verfahren der Repräsentation. Die res relata und res picta des Konsekrationswunders werden in ihrer ikonisch und sprachlich darstellbaren Eigenart vorgeführt. Der Trend zur Repräsentation verstärkt sich in thematisch verwandten Erzählungen des 14. Jahrhunderts wie der Jdin und dem Priester und dem Litauer, in denen die leibliche Präsenz Christi im Konsekrationswunder durch mehrfach gestaffelte Erzählvorgänge explizit in ihrer narrativen Darstellbarkeit vorgeführt wird. Das an ausgewählten Beispielen behandelte Thema einer Durchdringung der ,Präsenzkultur‘ durch die ,Sinnkultur‘ in eucharistischen Verhandlungen der Literatur des Mittelalters müsste auf einer breiteren Textbasis weiterverfolgt werden. Hierzu böte sich vorab ein Blick auf die Fortsetzung der Stofftradition des Judenknaben an, die sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckt. In ihr begegnen Bearbeitungen aus der Zeit der Reformation und Gegenreformation. In einer 1564 in Neuburg an der Donau gedruckten Sammlung katholischer Mirakel nimmt der reformatorische Theologe Hieronymus Rauscher auch eine Kurzfassung der Erzählung vom Judenknaben auf und bemängelt in einem beigefügten Kommentar (Erinnerung), dass das stainere bilt Marie kein Wunder vollbringen könne und Erzählungen dieser Art nichts als greffliche Lgen seien.115 Die Position der katholischen Reformer aus der Zeit des 115 Vgl. den Abdruck bei Burmeister, Der ,Judenknabe‘ (Anm. 82), S. 328, und die Ausführungen ebd., S. 190 – 197.
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Konzils von Trient vertritt der Theologe Valentin Leucht. In einer 1590 in Mainz unter dem Titel Speculum Miraculorum SS. Eucharistiae gedruckten Mirakelsammlung ist die Erzählung ebenfalls aufgenommen und mit einem Kommentar versehen.116 Leucht stellt darin die wundertätige Wirkung der (usserliche[n] Gestalt des Marienbildnisses hintan und betont stattdessen, dass den jüdischen Knaben die Krafft des heyligen Sacraments gerettet habe. In der Betrachtung von Erzählungen dieser Art dürfte sich die dynamische Spannung von Komponenten der ,Präsenzkultur‘ und der ,Sinnkultur‘ in der frühen Neuzeit weiterverfolgen lassen. Die komplexe Zuordnung von eucharistischer Thematik, Bildkonzeption und einschlägigen Erzählverfahren dürfte dabei als eine Diskursform eigener Prägung sichtbar werden, die parallel zu den theologischen Kontroversen der Zeit besteht. Was in Bezug auf das zur Disposition stehende Eucharistieverständnis verhandelt wird, sind basale Strukturen gesellschaftlicher Kommunion und Kommunikation, die das kulturelle und damit auch literarische Leben der Zeit grundsätzlich prägen.117
116 Vgl. den Abdruck ebd., S. 329 f., und die Ausführungen ebd., S. 198 – 205. 117 Für praktische Hilfen bei der Literaturbeschaffung und bei der Einrichtung dieses Beitrags, der während eines Semesters mit Lehrverpflichtungen an den Universitäten Göttingen und Bern entstand, danke ich Herrn Hendrik Kuschel M.A. (Göttingen) und Frau lic. phil. Eva Wilde (Bern).
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Anhang Erzählung vom Judenknaben, überliefert in zwei steirischen Handschriften: Zisterzienserstift Rein, Cod. 35 (12. Jahrhundert), Bl. 130v–134v (R); Chorherrenstift Seckau, heute Universitätsbibliothek Graz, Cod. 1432 (um 1200), Bl. 99v (S). Der unten stehende Abdruck folgt der Handschrift aus Rein. Die Schreibung von i und j, u und v wird normalisiert. Der Apparat verzeichnet Varianten in S sowie Abweichungen von dem Abdruck bei Anton E. Schönbach, „Miscellen“ (Anm. 87), S. 350 – 354, hier S. 350 f.
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Quod refero res est, mihi credite, fabula non est. Judeus quidam puer olim, christicolarum conludens pueris et eorum tactus amore, ibat in ecclesiam qua picta fuit super aram cum nato proprio Christi genitricis imago. cumque sacerdos divideret populis sacra Christi judeus puer intuitus retulit sibi visum, cultro quod puerum sacrifex in frusta secaret talem, qualis erat, quem sancta Maria tenebat depictum gremio. propians suscepit et ipse ore suo partem carnis crude rediitque tecta paterna. refert quid viderit attuleritque ostendit patri. pater indignatus in ira succendi iussit clybanum, proiecit in ignem natum. quod cernens mater tolerare nequibat (pronior est mater quam sit pater ad pietatem) accurrens igitur amens exclamat in altum. undique vicini mox concurrere foresque infringunt clausas puerum flammis rapiuntque in nullo lesum pro more trium puerorum. sed mirantibus et querentibus omnibus istud, quomodo sit factum, respondit eis puer: ,illa, quam vidi prius ecclesia pictam super aram, in mediis domina flammis secura sedebat, ipsa suo gremio pie me suscepit et ignem veste sua repulit, totum me refrigeravit.‘ quid, fratres dominique mei, miramur ad ista? est et enim genitrix illius sancta Maria qui fuit in fornace trium custos puerorum. hoc mater potuit, potuit quod filius eius: ille tamen per se potuit, sed mater in illo. his populus visis mirabilibus benedixit magna voce deum sanctamque dei genitricem. patri vero nequam suadebant fonte lavari, babtismum renuit, quem dant flammis sine mora. matrem cum puero baptizabant reliquosque judeos, sancta celebris fit laude Maria.
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Michael Stolz
sic nos eripiat incentivis vitiorum sancta dei mater, sit laus et honor sibi semper.
_______________ 4 qua] quo Schçnbach. 8 quod] qui Schçnbach. 11 crude] offenbar durch Rasur (aus crudis?) hergestellt R, crudis S. 16 (pronior … pietatem)] RS; amor est matris, cum sit pater ad pietatem Schçnbach. 23 Der Vers steht in S, wo der Text mit abgesetzten Versen zweispaltig eingetragen ist, als erster Vers von Spalte b neben Vers 1. Die berlnge von Vers 1 fhrt dazu, dass Vers 23 im Vergleich zu den darunter eingetragenen Versen weiter nach rechts rckt, was es erlaubt, Vers 1 und 23 gemeinsam als berschrift zu lesen: Quod refero res est, mihi credite, fabula non est, quam vidi prius ecclesia pictam super aram (so auch Schçnbach, S. 350). 30 quod] qui Schçnbach. 33 dei] fehlt in S, ejus Schçnbach. 35 baptismum] baptismi S.
Kommunion und Kommunikation
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Bericht über die Diskussionen der Zweiten Sektion Ulrich Hoffmann Ein Schwerpunkt des Symposions waren die medialen Bedingungen der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz sowie des Neben-, Mit- und Gegeneinanders von literarischer und religiöser Kommunikation im historischen Prozess der Ausdifferenzierung von Religion auf der einen, Literatur auf der anderen Seite. Auf beiden Seiten begegnen dabei textuelle wie habituelle Ritualisierungen, die der jeweiligen Geltung und Stabilität des Religiösen und des Literarischen zuarbeiten. Insbesondere solche rituellen Dimensionen suchten die Beiträge zur Zweiten Sektion „Rede – Text – Schrift“ analytisch zu fassen. Als am Schnittpunkt von Schriftlichkeit und Mündlichkeit angesiedelte kreative Synthese von Sicherung kollektiver Identität und Reoralisierung der Heilsvermittlung beschreibt Bernhard Lang die Predigt, indem er sie als ,intellektuelles Ritual‘ im Rahmen von cultural performances versteht. Dieses Ritual werde von Kultgemeinschaften getragen, die jeweils zugleich Erinnerungs-, Erzähl- und Textgemeinschaft seien, diese Funktionen indes jeweils unterschiedlich ausprägten und relationierten. In der Diskussion wurde zunächst der zugrunde gelegte Ritualbegriff kritisch hinterfragt. Nicht jede gemeinschaftliche Handlung könne als Ritual bezeichnet werden, bei diesem spiele zumal auch Traditionalität eine wichtige Rolle, überdies müsse der Ritualbegriff auch historisch spezifiziert werden, weil er anders zu einer Leerformel gerate. Weniger in einer spezifischen Ritualfunktion, wohl aber allgemeiner als ,kommunikatives Ereignis‘ begegne die Predigt auch außerhalb liturgischer Rahmungen, etwa auf kommunalen Plätzen oder selbst in der Form der individuell rezipierten Lesepredigt. Insofern machte die Frage nach den Trägern des ,intellektuellen Rituals‘ vor allem auch auf ein methodisches Problem aufmerksam. Die an Arbeiten Brian Stocks1 angelehnte begriffliche Unterscheidung von Erinnerungs-, Erzähl- und Textgemeinschaft erscheine insofern als problematisch, als etwa Erinnerung stets auch narrativ konstituiert werde; 1
Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983.
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Lang verwies in diesem Zusammenhang auf Barbara H. Rosenwein2, deren Konzept einer ,emotional community‘ jüngst auf vergleichbare Schwierigkeiten begrifflicher Distinktion aufmerksam gemacht, sie allerdings gleichfalls nicht präzise gelöst habe. Auch seien Textgemeinschaften stets Erinnerungsgemeinschaften, denn die Lesung und Erklärung zum Beispiel biblischer Texte verweise stets auf normativ verbindliche Vergangenheiten, derer sich ein kommunizierendes Kollektiv versichere. Überdies werde in der Vorlage der dem ,intellektuellen Ritual‘ zugrunde liegende Text insofern überbetont, als vielmehr dem Prediger als der Instanz von Reoralisierung die entscheidende Funktion zukomme. Nur mit Bezug auf ihn, nicht aber hinsichtlich des Predigttextes könne von Charisma gesprochen werden; und zwar ganz unabhängig davon, ob Charisma mit Max Weber als Interaktionsprodukt oder mit der theologischen Tradition als Gnadengabe verstanden werde. In diesem Zusammenhang führte Lang weiter aus, in der christlichen Tradition könne nicht streng geschieden werden zwischen Wirkmächtigkeiten, die kanonischen Texten ,von außen‘ zugeschrieben werden, und solchen, die ihnen genuin eignen. In diesem Zusammenhang wurde geltend gemacht, dass man, schließe man von der Wirkmacht eines Predigttextes auf die Funktion des ,intellektuellen Rituals‘, schwerlich gleichzeitig die Wissensvermittlungsfunktion dieses Textes betonen könne, da Predigten weniger neues Wissen vermittelten, als vielmehr bereits Gewusstes repetierten. Auch die von Lang vorgenommene Betonung der Disziplinierungsfunktion der Predigt wurde kritisiert, da eine solche Funktion jene Reduktion semantischer Vielfalt bereits voraussetze, die durch das Ritual erst bewirkt werde. Die genannten Funktionen der Wissensvermittlung und der Disziplinierung, so entgegnete Lang, vollzögen sich jedoch in Akten der Reflexion, weshalb er eben die Predigt als ,intellektuelles Ritual‘ zu beschreiben versuche. Als solches sei sie bereits in der Antike angelegt und erweise sie sich auch noch in den Predigten Luthers, denen unverkennbar und unabhängig davon eine Disziplinierungsfunktion eigne, dass in ihnen die Leistung der reformatorischen Heilszusage dominiere. Die Vorlage von Thomas Lentes widmet sich der Liturgie als dem vornehmsten Ort der Vermittlung biblischer Inhalte und zeigt anhand des Rationale Divinorum Officiorum des Wilhelm Durandus, wie ihre 2
Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006.
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Position im Spannungsfeld von Mythos und Ritus zu bestimmen sei. In der rememorativen Allegorese sieht Lentes den Versuch des Kommentators, die Differenz zwischen der Erinnerung an biblisches Heilsgeschehen und dessen ritueller Vergegenwärtigung bewusst zu halten. Die Messe werde daher auf der Schwelle zwischen Repräsentation und Präsenz angesiedelt, weswegen Durandus sie weniger als dramatische Inszenierung auffasse, sondern vielmehr einem Bild vergleiche. Die Diskussion konzentrierte sich demgemäß zunächst auf das Konzept von ,Bildlichkeit‘ sowie auf den Wandel ihrer Formen im Mittelalter, für den beispielhaft auf Intensivierungsmöglichkeiten verwiesen wurde, wie sie etwa spätmittelalterliche bewegliche Christusfiguren realisierten. Lentes gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass solcher Wandel ausschließlich an den Rändern des Messrituals ansetze. In dessen Zentrum setze demgegenüber die Realpräsenz des Heiligen, so wurde argumentiert, geradezu einen Verzicht auf anschauliche Bildlichkeit, auf sinnlich Wahrnehmbares voraus. Zwar mag eine Entsubstanzialisierung des Unsichtbaren die Folge reformatorischer Kritik an der eucharistischen Realpräsenz gewesen sein. Allgemein aber lasse sich – etwa an der Liturgie der Karwoche – feststellen, dass Mimetisches in der Messe vielmehr in dem Maße an Bedeutung gewinne, in welchem die reale Präsenz des Heiligen prekär werde. Dies freilich sei nicht eine Leistung des Messkommentars. Er trage nicht zu einer Dramatisierung des Rituals und auch nicht zu einer Aushöhlung seiner Funktionen bei, während die von ihm begründete rememorative Allegorese allerdings bis in die Ikonographie der Messe hinein wirke. Lentes führte weiter aus, die These von der Dramatisierung des Messrituals sei bezeichnender Weise im Zusammenhang mit derjenigen von einer wachsenden Bedeutung der Schaufrömmigkeit im späteren Mittelalter entwickelt worden. Doch sei nicht zu übersehen, dass die elevatio, ungeachtet ihrer zentralen Bedeutung für die mittelalterliche Messe, bei Wilhelm Durandus vergleichsweise wenig relevant sei. Mit Blick auf weitere Funktionen des Liturgiekommentars sei das Rationale des Durandus auch von spätmittelalterlichen Übersetzungen von Messerklärungen abzugrenzen. Jene erläuterten die arkanen Geschehnisse der Liturgie für Laien, dieses hingegen sei ein eindeutig klerikaler Text. Veränderte Funktionen des Liturgiekommentars könnten sich allerdings in späteren Rezeptionsformen abzeichnen; im dominikanischen Katharinenkloster in Nürnberg etwa könne so etwas wie eine sekundäre Ritualisierung von Kommentartexten im Rahmen der Tischlesung stattgefunden haben. Lentes bestätigte, dass in solchen
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Fällen zumindest eine Liturgisierung von Alltagsvollzügen, eine Perpetuierung von Liturgie sich ausmachen lasse, wie sie allgemein für die Liturgiegeschichte des 15. Jahrhunderts anzunehmen sei. Zugleich bleibe allerdings festzuhalten, dass solche Veränderungsprozesse für die mittelalterliche Theologie kein Problem darstellten, da sich für diese im Verlauf der Glaubensgeschichte nichts weiterentwickele, sondern dogmatisch wie liturgisch immer schon Vorhandenes lediglich neu sich entfalte. Ausgehend von der auf wechselseitige Beglaubigung zielenden zirkulären Beziehung von Reliquie und Reliquientext zeigt Christian Kiening in seiner Vorlage, wie im Grauen Rock paradigmatische Bedeutungskonstitutionen zu narrativen Überdeterminationen führen, welche Präsenz- und Sinneffekte in einer Weise zusammenwirken lassen, die derjenigen von Reliquien durchaus vergleichbar sei. Der Graue Rock reagiere, so die These, mit gesteigerter „heilsgeschichtliche[r] Zeichenintensität“, wo der Status der Reliquie prekär werde und die ihr zugrunde liegende Heilsökonomie in Frage stehe. Diese Prekarität des Heilsobjekts wurde zunächst im Bezug auf jenes Heilsgeschehen diskutiert, das die Reliquie des Grauen Rocks im paradoxen Zugleich von Präsenz und Absenz verkörpere. Dieses Zugleich werde im Wechsel von Ostension und Verbergung der Reliquie wahrnehmbar und enthalte Möglichkeiten einer immer wieder erneuerten Reinszenierung, von denen noch im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts Gebrauch gemacht worden sei. Die Formen der Präsentation und Wahrnehmung der Reliquie spielten dabei eine entscheidende Rolle auch für die Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens, zumal der Christuskörper selbst abwesend sei, die Kontaktreliquie also eine Leerstelle besetze. In dieser Funktion erscheine der Rock dann beispielsweise auch in Darstellungen der Gregorsmesse, wobei es zu ikonographischen Überblendungen mit dem Vera-icon-Typus komme. Mit vergleichbaren ikonographischen Mustern, so führte Kiening aus, ließen sich also ganz unterschiedliche Autorisierungsstrategien verfolgen, wie sich bereits an den Holzschnitten zum Grauen Rock zeige, die neben der zentralen Heilsverheißung auch das Skandalon der Verschränkung von Präsenz und Absenz zeigten und damit ganz unterschiedliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffneten. Wenn Texte, wie Kiening in seiner Vorlage zeigt, auf den prekären Status von Heilsobjekten zu reagieren im Stande sind, dann sei mit einer solchen Möglichkeit sowohl unter den Bedingungen religiöser wie unter denjenigen literarischer Kommunikation zu rechnen. Übergänge
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zwischen Texten und Heilsobjekten seien allerdings allein über die Differenz von Zeichenhaftem und Nichtzeichenhaftem zu fassen; Ausdrücke wie ,Oszillieren‘ oder ,Hybridität‘ dienten lediglich der metaphorischen Markierung dessen, was eigentlich zu analysieren wäre. Bezogen auf die Leitbegriffe des Symposions wurde betont, dass das Religiöse dem Literarischen nicht einfach gegenübergestellt werden könne, sondern, einem Vorschlag Kienings zufolge, diese Unterscheidung auf jeder ihrer Seiten noch einmal vorgenommen werden müsse. Dabei seien Metaphern übrigens heuristisch unumgänglich, überdies könnten sie – wie zum Beispiel die Gewebemetaphorik gegenüber literaturtheoretischen Konzepten der Montage, Bricolage oder Klitterung – historisiert werden. Ins Grundsätzliche führte in diesem Zusammenhang die Frage, ob das 1215 auf dem IV. Laterankonzil formulierte christliche Paradigma einer Ästhetik der dissimilis similitudo überhaupt theoriesprachlich reformuliert werden könne. Wenn man das Ineinander von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, von Lebendigkeit und Abstraktion in den Blick nehmen wolle, dann stelle jedenfalls Körperlichkeit ein ebenso zentrales Problem dar wie Konzepte der figura. In seiner Vorlage geht Stephan Müller auf eine Reihe von Sammelmanuskripten aus der Zeit um 1200 ein und richtet dabei den Fokus sowohl auf die Ebene der Einzeltexte wie diejenige des Überlieferungsträgers, um das spannungsreiche Nebeneinander von geistlicher und weltlicher Kommunikation zu analysieren und überdies vor dem Hintergrund gegenseitiger Beeinflussungen von höfisch-laikaler und monastisch-klerikaler Literatur zu konturieren. Schwerpunkte der Diskussion bildeten zum einen die Probleme des Status von Überlieferungseinheiten, ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen inneren Widersprüchlichkeiten und möglichen Kohärenzen. Andererseits ging es um die historische wie systematische Tragfähigkeit der die Analysen der Vorlage tragenden Begriffspaare. Müller führte zunächst aus, dass bei Bindeeinheiten wie dem Sankt Galler Codex 857 die Frage nach deren Produzenten im Vordergrund stehe, die stets eine Frage auch nach deren spezifischen, mit der Handschriftenproduktion verbundenen Bedürfnissen sei. Schrift und Buch seien im Mittelalter prinzipiell in hohem Maße orts- und situationsgebunden; mehr noch als für etablierte lateinische Traditionen gelte dies für die frühe volkssprachige Schriftproduktion. Einschlägige Forschungsergebnisse über Produzenten und Produzentenbedürfnisse stünden für letztere allerdings bislang erst in geringem Umfang zur Verfügung. Im allgemeinen sei durchaus damit zu rechnen, dass ein Sammlungskonzept auch scheinbar Widersprüch-
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liches integrieren könne; mit einem Ausdruck von Claude Lévi-Strauss könne man dann von Bricolage sprechen. Disparates oder Widersprüchliches in einer handschriftlichen Textsammlung müsse also nicht unbedingt als zufällig angesehen werden. Als ein methodisches Problem wurde es diskutiert, dass die von Müller angesetzten Sammlungsprogramme einstweilen allein gebrauchsfunktional bestimmt seien, während andere als von den Gebrauchsfunktionen der Handschriften her entwickelte Kriterien für Kohäsionen zwischen den Texten einer Sammlung noch fehlten. Dies sei allerdings ein generell ungelöstes Problem der Überlieferungshistorie. Zwar könne die Gemeinsamkeit von religiösen und literarischen Texten wie der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen und des Parzival Wolframs im Sangallensis 857 etwa in einer Kategorie wie historia gefasst werden. Die Verwendung anderer ,profaner‘ Texte in monastischer Umgebung erkläre sich damit jedoch noch keineswegs. Grundsätzliche Fragen berührte die Diskussion, wo sie den kategorialen Rahmen der Vorlage, die mit Begriffspaaren wie Transzendenz/Immanenz, sakral/profan und geistlich/weltlich operiert, als dichotomisch kritisierte: Das Literarische zeige sich auf der Seite religiöser Kommunikation als ästhetische Dimension, als Geformtheit des sprachlichen Ausdrucks. Demgegenüber könnten Sprachformen des Religiösen auf der Seite der literarischen Kommunikation für Strategien der Geltungsproduktion in Dienst genommen werden. Überdies liegen die genannten Begriffspaare auf verschiedenen kulturellen Ebenen: In Lebensordnungen, Institutionen, Wissensformen oder Sprachspielen manifestiere sich die Spannung von Transzendenz- und Immanenzbezügen in je eigener Weise. Mireille Schnyder untersucht in ihrer Vorlage intratextuelle Verfahren einer von religiösen Lesekonzepten deutlich unterschiedenen Leserlenkung, vermittels derer weltlich literarische Texte einen quasisakralen, aus der ,Welt‘ sozusagen herausgeschnittenen Rezeptionsraum eröffneten. Damit sind einzelne intradiegetische Erzählsituationen in den untersuchten Texten ebenso angesprochen wie der allgemeinere Rahmen historischer Lektürekonzepte. Schnyders Ausführungen wurden in diesem Zusammenhang zunächst dahingehend ergänzt, dass didaktischen Schriften des 12. Jahrhunderts zufolge die Lektüre, wenn sie denn zugleich ,im eigenen Herzen‘ erfolge, als Möglichkeit individueller Heilssicherung verstanden werden konnte; der ,äußerlichen‘ Lektüre habe man also eine verinnerlichende Form der Textaneignung zur Seite gestellt. Von solchen geistlich-didaktisch angelegten Lese-
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konzepten wollte Schnyder Formen einer inkorporierenden Lektüre weltlicher Literatur unterschieden wissen. Bei diesen gehe es nicht um eine didaktische imitatio des Gelesenen oder um ein überbietendes Nacherleben. Lektüre sei hier vielmehr ein Sichhineinfinden ins Gelesene, das es ermögliche, heilloser Gegenwart zu entkommen. In den untersuchten Texten stelle sich in Situationen affektiver Teilhabe jeweils das Risiko einer ,gefährlichen Präsenz‘ ein, welches Risiko die monastischen Lektürevorschriften demgegenüber gerade zu domestizieren versuchten. Deswegen sei auch gegenüber einer Übertragung religiöser Lektürekonzepte auf die Wirkungsmodalitäten weltlicher Literatur Skepsis angezeigt. In diesem Zusammenhang wurde in der Diskussion vor allem eine weitere Präzisierung und Historisierung des ,gefährlichen‘, Präsenz stiftenden ,Textes‘ diskutiert. Insbesondere gab man zu bedenken, dass erst in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts religiöse Lektüre und Gefühl theoretisch gekoppelt worden seien und man für das Mittelalter vermutlich besser von einer spezifischen Form der Erfahrung ausgehe, die Schnyder als Vorgang der affektiven Aufladung des Körpers des Lesenden im Akt der Lektüre beschrieb. Die Diskussion wandte sich auch den in der Vorlage entwickelten Einzelinterpretationen zu. In Konrads von Würzburg Der Welt Lohn werde der intradiegetische Lektüreakt allegorisch gebrochen, was Schnyder als Übergang zu einer reflexiven Art des Lesens deutete, vermittels welcher Erkenntnis an die Stelle inkorporierender Aneignung trete. Bei der von Schnyder untersuchten Lektüreszene im Iwein wurde insbesondere auf den ambivalenten Raum der ventiure aufmerksam gemacht, der dieser Szene ihre scheinbare Eindeutigkeit nehme. Generell wurde zu bedenken gegeben, dass eine an der Geschichte des Lesens interessierte Isolierung von Episoden intradiegetischer Lektüre stets mit der Gefahr von Zirkelschlüssen verbunden sei. Hinweise auf weltliche Lesekonzepte seien nicht allein dort zu finden, wo ausdrücklich von Buchlektüren erzählt werde. Mindestens indirekt werde stets literarische Rezeption mitverhandelt, wo es überhaupt um das Erzählen gehe. In der letzten Vorlage der Sektion behandelt Michael Stolz eine Reihe mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, in denen Realpräsenz und Repräsentation eine systematisch wichtige Rolle spielen, um das den Texten jeweils zugrunde liegende Verhältnis von Eucharistie und Bildkult näher zu bestimmen. Wie Abendmahlslehre und Bildtheologie könne auch die narrative Dimension literarischer Texte als ein Feld verstanden werden, auf welchem sich die Durchdringung
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von Präsenzkultur und Sinnkultur (Gumbrecht3) beobachten lasse. Die Diskussion fokussierte zunächst dieses letztgenannte, in der Vorlage aufgegriffene Konzept. Es sei aus soziologischer Sicht schon deswegen problematisch, weil es dichotomisch angelegt sei und für ,Sinn‘ kein Gegenbegriff zur Verfügung stehe. Auch sei Präsenz, gleich ihrem möglichen Gegensatz, ihrerseits eine Sinndimension und liege stets in zeichenhafter Vermittlung vor. Dies könne man besser zur Geltung bringen, wenn man etwa im Anschluss an Cassirer4 mit Langer5 zwischen präsentativen und diskursiven Symbolen unterscheide. Richte sich das Interesse also auf Übersetzungen von Außersemiotischem in Semiotisches, so sei das ganze Spektrum von magischer Teilhabe über metonymische Relationen bis hin zu arbiträren Zeichen zu untersuchen. Stolz erwiderte hierauf, ein solches Programm lasse sich für Texte wie den Grauen Rock sicherlich leichter durchführen als für die im Zentrum seiner Vorlage stehenden Eucharistieverhandlungen. Bei der Frage nach dem Status des Präsentischen seien etwa auch die Terminologien der mittelalterlichen Texte eingehender zu berücksichtigen, als dies bisher geschehen sei. So sei in Texten zu Reliquien häufiger von praesentia die Rede als etwa in Eucharistietraktaten, die gerade nicht Probleme von Realpräsenz, sondern die Simultaneität von ontologisch Unterschiedenem verhandelten. Im Eucharistiediskurs könne daher Präsenz auch durch das Substantiv veritas bezeichnet werden, welches, seit Hugo von St. Victor mit imago gleichgesetzt, ein Versuch zur Lösung derjenigen Probleme des Zeichenbegriffs gewesen sei, die sich für die mittelalterliche Theologie mit dem Wegfall des griechischen Konzeptes des symbolon ergeben hatten. Während in der Diskussion auch bestritten wurde, dass sich der aristotelische Zeichenbegriff als derjenige einer genuinen Zeichentheorie auffassen lasse, führte Stolz aus, dass die eben über die aristotelische Zeichenkonzeption vermittelte Unterscheidung von Substanz und Form für die hochmittelalterliche Transsubstantiationslehre durchaus relevant gewesen sei und dass man die von ihm untersuchten Texte vor diesem Hintergrund zu verstehen habe. So 3 4 5
Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Prsenz, Frankfurt/M. 2004. Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, hrsg. von Birgit Recki, Bd. 11 – 13: Philosophie der symbolischen Formen, Text und Anmerkungen bearb. von Claus Rosenkranz, Hamburg 2001. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Mittenwald 21979.
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Hoffmann, Diskussionsbericht
sei etwa im sogenannten ,Alterston‘ Walthers von der Vogelweide der Verlust der sinnlichen Eigenschaften des Bildes im Verhältnis von ich und bilde beschreibbar, ohne dass man sich dabei auf eine Interpretation festlegen müsse, die letztlich auf die Behauptung der dichterischen Reflexion eines Alterungsprozesses hinauslaufe. Im Gegenzug machte die Diskussion auch darauf aufmerksam, dass die Sinnpotentiale des Judenknaben mit Nachweis und Analyse des in ihn eingeschriebenen Eucharistieverständnisses keineswegs schon ausgeschritten seien; ältere Fassungen des Sujets brächten etwa die Schutzmächtigkeit Mariens in der Mantelmetaphorik zu Darstellung. Zum Abschluss der Diskussionen der zweiten Sektion wurde noch einmal das zuvor bereits anhand der Vorlage von Kiening diskutierte Problem einer metaphorischen Analysesprache für die Paradoxien im Verhältnis von religiöser und literarischer Kommunikation aufgegriffen. An Gottfrieds von Straßburg Tristan-Prolog, der sich des Modells der Eucharistie weder explizit bediene noch diesem ausdrücklich sich verweigere, seien diese Paradoxien ganz konkret aufzuweisen. Wenn sie sich begriffssprachlich nicht wirklich fassen ließen, dann seien doch immerhin die Bildlogiken der verfügbaren Metaphern sorgfältig zu prüfen; anders als ,Hybridisierung‘ könne etwa die Metapher der ,Oszillation‘ die mit derartigen Paradoxien gegebenen intellektuellen Bewegungsdynamiken zum Ausdruck bringen.
III. Sektion: Kommunikative Instanzen und Institutionalisierungen
Einleitung Gert Melville Auf Grund der Annahme, dass Gott überall anwesend sei, weil er – wie Augustinus formulierte1 – nirgends abwesend sei, tranzendierte die Welt des Mittelalters immer auf das Göttliche, das sich zugleich als unverfügbar zeigte. Es ist dies eine Struktur, welche die Welt als etwas wesenhaft Defizientes erfahren ließ, als etwas Transitorisches, das es zu überwinden galt im paulinisch-augustinischen Sinne einer via ad Deum, und welche somit das Weltliche dieser Welt immer als legitimationsbedürftig erscheinen ließ. Religiosität kann dabei als der Versuch verstanden werden, sich das Transzendente durch Übersteigung des Immanenten anzueignen – verfügbar zu machen. Dazu – so kann man vermuten – war eine genauere Bestimmung dessen nötig gewesen, was ,Immanenz‘ bedeute. Mit anderen Worten: Man hatte das Immanente aus dem Begreifen von Transzendenz zu bestimmen; eine kulturelle Leistung, die zu bemerkenswerten Dichotomien führte, deren fundamentalste wohl die der civitas terrena und der civitas Dei war, aus welcher sich wiederum Binarismen wie das Profane und das Geistliche, Babylon und Jerusalem, Sünder und Heiliger extrapolieren ließen.2 Aber es waren eben Binarismen, deren beider Elemente zwar nie ohne das jeweils andere zu denken waren, von denen aber immer das eine, das sich auf das Immanente bezog, durch das andere, das das Transzendente vertrat, überwunden oder zumindest sublimiert werden musste. Damit ist der systematische Ort der religiösen Kommunikation genannt. Kommunikation über Gott und Kommunikation mit Gott – beides heißt ,religiöse Kommunikation‘ – waren das selbstversichernde Mittel, um das Immanente aus dem Begreifen von Transzendenz zu bestimmen und es zu überwinden oder zumindest zu sublimieren. Aus dieser vorsichtigen Formulierung mag deutlich werden, dass das Ver1 2
Augustinus, De praesentia Dei, in: PL 33,838. Vgl. im Überblick Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, Darmstadt 22000.
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fahren einer solchen Kommunikation nicht eindeutig zu bestimmen ist. Die Grenzen von Weltlichem und Göttlichem blieben im Mittelalter unscharf: trotz eines Investiturstreites, trotz einer Umformung der Kirche zur Anstalt eines Heilsmonopols, trotz einer Sektorierung von weltlichem und kanonischem Recht und so fort. Der Beitrag von Klaus Grubmüller zeigt diese Struktur deutlich anhand der Spruchdichtung auf, die sowohl textliche Kommunikation mit Gott (Gebet) als auch Kommunikation über Gott (Präsentation von Glaubenssätzen) war. Für deren Autoren, die Laien waren, stellte sich die Frage nach der Legitimation als kommunikative Instanz nicht, denn ihnen war die Unterscheidung zwischen weltlich/geistlich irrelevant, angesichts der Absicht, „Lebenslehren“ verkünden zu wollen, die eo ipso des Transzendenzbezugs bedurften. Bei Christian Schneider geht es um eine analoge Problemstellung – jedoch nicht um den Autor als kommunikative Instanz, sondern um institutionalisierte Räume, die einerseits von kirchlichen Wertvorstellungen, andererseits von Leitbildern einer ritterlich-höfischen Aristokratie bestimmt waren. Schneider bezieht höfische Identität und religiöse Kommunikation am Beispiel des weltlichen Habsburger und des geistlichen Salzburger Hofes des 14. Jahrhunderts einleuchtend aufeinander. Es sei ein Schlüsselsatz aus seiner Zusammenfassung zitiert, um die formale Parallelität zu verdeutlichen: Es ist „die an Formen religiöser Kommunikation […] orientierte religiöse Ethik am und für den Hof, die Konzepte der konkreten lebensweltlichen Orientierung und individuell-heilsbezogenen Selbstvergewisserung zur Verfügung stellt“. (S. 605) Gleichwohl wurde prinzipiell einerseits um die Festlegung der Grenzen von Weltlichem und Göttlichem gerungen, geopfert und geheiligt, getötet und gesündigt, wurde über diese Grenzen mehr geschrieben und gelesen als über alles andere, andererseits waren sie zugleich mit der Herausforderung verbunden, überwunden zu werden. Dieses bemerkenswerte Spannungsfeld galt für jeden Einzelnen ebenso wie für Gemeinschaften, Stände oder gar ganze kulturelle Formationen. Mit Sicherheit lag in ihm sogar einer der entscheidenden Motoren der mittelalterlichen Kultur. Im Frömmigkeitsraum der vita religiosa – im Kloster wie im Heremum also – hatte dieses Spannungsfeld zu einer Form der Institutionalisierung gefunden, wo es in denkbar höchster Konsequenz zu einer Auflösung gebracht werden sollte.3 Weil er zu3
Vgl. ausführlicher Gert Melville, „Im Zeichen der Allmacht. Zur Präsenz
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gleich eine Perspektive klar gezeichneter Konturen eröffnet, mag dieser Frömmigkeitsraum hier zunächst als heuristisches Koordinatensystem für den Einstieg in die Entwürfe der folgenden Sektion herangezogen werden. Männer und Frauen des Mittelalters, denen es auf die höchst mögliche Perfektionierung ihrer Seele ankam, gingen davon aus, dass jegliche Akte religiöser Kommunikation nur durch eine scharfe Trennung von Irdischem und Göttlichem möglich waren. Im Klaustrum oder im Heremum schufen sie sich das Instrument und das Symbol einer Exklusion aus dem Irdischen. Diese Exklusion ließ sich nur durch den Versuch bewerkstelligen, zugleich Gott stringent zu inkludieren. Folgt man der Benediktsregel, in welcher über diese Konditionierung insinuative Dialoge zwischen Gott und Mensch in direkter Rede wiedergegeben sind – „Und der Herr sucht in der Volksmenge […] einen Arbeiter für sich und sagt wieder: ,Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht?‘ Wenn du das hörst und antwortest: ,Ich‘, dann sagt Gott zu dir: ,Willst du wahres und unvergängliches Leben, bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Wende dich ab vom Bösen und tu das Gute; suche den Frieden und jage ihm nach! […]‘“4 –, so zeigt sich, dass die unmittelbare Kommunikation von Gott zum Menschen und umgekehrt, die vor allem im Kloster möglich war, diesem eine privilegierte Stellung als sicherster Ort der Eröffnung richtigen Handelns verlieh, denn eben nur diese Kommunikation wiederum ließ Gott präsent und damit inkludiert erscheinen. Diesem Sachverhalt aber stellte sich ein grundlegendes Problem: Gott mochte zwar in seiner Allmacht überall und immer präsent sein, diese Präsenz aber erschloss sich nicht unmittelbar den menschlichen Sinnen. Gottes Wort selbst stand gegen die Möglichkeit, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen: „Kein Mensch wird mich sehen und dabei leben“ (Ex 33,13). Das Kloster war also derjenige institutionelle Ort, an dem sich die Ferne Gottes deshalb zeigte, weil gerade dort Gott wie nirgendwo sonst so stark kommunikativ präsent war, und wo eben diese Ferne dann wiederum unentwegt verlangte, ihn kommunikativ präsent zu halten.
4
Gottes im klösterlichen Leben des hohen Mittelalters“, in: ders. (Hrsg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln [u.a.] 2005, S. 19 – 44. Regula Benedicti, Die Benediktusregel. Lateinisch/deutsch, hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 1992, Prolog, 14 ff.
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Aus dieser paradoxen Situation schien nur ein Weg herauszuführen: Insbesondere zwei der prinzipalen Regeln des Mittelalters – die Augustinus- und die Benediktsregel – betonten, dass die Vorsteher klösterlicher Gemeinschaften in Stellvertretung dieses unsichtbaren Gottes eingesetzt seien. Die unsichtbare Personalität göttlicher Macht gewann also sichtbare Verkörperung in menschlichen Personen, denen gehorcht werde könne wie Gott selbst. Hier ist der Punkt, an dem der Beitrag von Cristina Andenna ansetzt. Ihr geht es um Viten charismatischer Begründer von religiösen Gemeinschaften, welche sich zu institutionalisierten Klosterkonventen beziehungsweise zu Orden umgeformt hatten. Die Viten lassen sich als stabilisierende Gedächtnisspeicher verstehen, die diesen Transformationsprozess nicht nur beschrieben oder affirmierten, sondern ihn auch legitimierten, indem sie das aus der Heiligkeit erwachsene Charisma jener Gründergestalten auch in seiner institutionalisierten Form gleichsam zu perennieren suchten. Diesen Viten kam ebenso eine normative wie eine kommunikative Kraft zu. Die normative Kraft bestand darin, dass durch sie dem „in Gottesfurcht“ gewählten und dann (gegebenenfalls ,nur‘) mit Amtscharisma ausgestatteten Vorsteher eines Klosters oder erst recht dem mit persönlichem Charisma versehenen Begründer einer religiösen Bewegung aufgezeigt wurde, seine Verkörperung göttlicher Macht weise stets über sich hinaus auf eben diese selbst und beschränke sich somit auf die Rolle einer kommunikativen Instanz zwischen Mensch und Gott.5 Die kommunikative Kraft dieser Viten selbst bestand indes darin, dass sie die invisible Präsenz der unbegrenzten Macht Gottes zu vermitteln vermochten durch die narrative Darstellung der körperlich visiblen, aber begrenzten Macht des Vorstehers einer religiösen Gemeinschaft. Der entscheidende Schritt zu Gott wurde jedoch nicht einfach im Kloster als äußerliche domus Dei, sondern dort wiederum nur in der Seele jedes Einzelnen, in der domus interior, vollzogen.6 Man war sich durchaus bewusst, dass jene schriftlich wie mündlich geführte religiöse Kommunikation, die die Religiosen zur rechten Gesinnung führen und 5
6
Vgl. Franz J. Felten, „Herrschaft des Abtes“, in: Friedrich Prinz (Hrsg.), Herrschaft und Kirche. Beitrge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, Stuttgart 1988, S. 147 – 296; Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville (Hrsg.), Charisma und religiçse Gemeinschaften im Mittelalter, Münster [u.a.] 2005. Vgl. Ineke van ’t Spijker, Fictions of the Inner Life. Religious Literature and Formation of the Self in the Eleventh and Twelfth Centuries, Turnhout 2004.
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ihnen diese erhalten sollte, Erfolg nur dann hatte, wenn jeder Einzelne der von ihnen Angesprochenen sie eben nicht wie juridische Vorgaben behandelte, für deren Befolgung äußerliche Verhaltenspraktiken hinreichend gewesen sein mögen, sondern wenn die normativen Inhalte auch tatsächlich ,verinnerlicht‘ wurden. Emphatisch brachte ein anonymer Autor des 12. Jahrhunderts diesen Sachverhalt auf den Punkt: „Was nützen diese Schriften, das Gelesene und Verstandene, wenn du dich nicht selbst liest und verstehst?“7 So ist das Innere des Selbst, die eigene domus interior des Einzelnen mit Gott Kommunizierenden also, der eigentliche Ort der Exklusion aus dem Irdischen; einer Exklusion, die konsequenterweise dann auch die Kommunikation mit dem Exkludierten untersagt. Hier ist der Beitrag von Margreth Egidi über die verborgene Heiligkeit systematisch verortet. Bei Alexius – diesem Typus eines Individuums vor Gott – kann heiligmäßiges Leben vor allem als Versuch des Heiligen verstanden werden, der Erwählung durch Gott zu entsprechen, was ihm aber wiederum nur mit Gottes gnadenhafter Hilfe möglich ist. Dies geschieht durch eben jene scharfe Grenzziehung zwischen Profanem und Göttlichem, wo die ursprüngliche soziale Identität verlassen und der Weg in die Verborgenheit vor der Welt, in die Unverfügbarkeit des Nichtmehraufzufindenden beschritten wird. Das Gotteswort der Exklusion vom Weltlichen in die Inklusion des Göttlichen – nämlich des „Verlasse alles und folge mir nach“ – wurde radikal befolgt, die Haut des alten Menschen in der Symbolik der Kleider wurde abgelegt und ein Leben begonnen, das gleichsam als unsichtbares Rückgeben der Gnadengabe Gottes geführt wurde. Alexius’ forma vitae war die des Anachoreten, nicht des Zönobiten, aber er steigerte seine Demut vor Gott durch unerkannte Rückkehr in die Sozialität des Hauses seiner Herkunft. Die Überwindung des Weltlichen durch Exklusion profilierte sich durch erneute Inklusion als Instanz des Überwundenen. Beim von Armin Schulz untersuchten epischen Einander-Erkennen im Spannungsfeld literarischer und religiöser Identitätskonstruktionen, wie es in den Romanen Die gute Frau, Mai und Beaflor sowie Wilhelm von Wenden beobachtbar ist, geschehen analoge Vorgänge der Exklusion und Inklusion, obgleich das Klösterliche nicht im Mittelpunkt steht. Das Bemerkenswerte aber ist, dass diese Vorgänge zwar einerseits ebenso genau an jenem systematischen Ort zu verankern sind, der als intimste 7
Meditationes piissimae de cognitione humanae conditiones, in: PL 184,506.
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Form religiöser Kommunikation das introvertierte Zurückziehen zu Gott hin bedeutete, dass sie andererseits aber gerade nicht zwangsläufig eine radikale conversio einschließen. Die „vorgängige soziale Identität der Protagonisten“ wird – wie Armin Schulz formuliert – zwar „erschüttert […] und führt zum Verzicht auf die angestammte Identität, was seinen Ausdruck […] im Verschwinden aus den feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘ findet“ (S. 665), aber es kommt ebenso – wenn auch unter symbolisch hoch aufgeladenen Erschwernissen – zum erneuten Wiedererkennen und zu einem Zurückkehren, so dass (zumindest bei Mai und Beaflor) diese Art exkludierende Pilgerschaft als Vorgang der Katharsis verstanden sein mag. „Die frommen Romane konfrontieren den feudalen Anspruch auf Herrschaft, herrscherliche Repräsentation und genealogische Prokreation mit dem radikalchristlichen Imperativ der Armut, Weltabgewandtheit und Geringschätzung von Ehe und Sippe“ (S. 666), erläutert Schulz. Meines Erachtens kann man hier gerade im Kontrast zur vita religiosa deutlich die eingangs hervorgehobene Unschärfe zwischen Weltlichem und Göttlichen erkennen, wo es nicht unbedingt um einen Akt der Überwindung, sondern ebenso einen der Sublimierung gehen konnte. Kehren wir zurück zum Modell ,Kloster‘: Dem Religiosen war vorgegeben, Gott spirituell als Kommunikationspartner gleichsam einzufangen und ihn so zu umfangen, dass dieser sogar in den Menschen selbst kam. Die Öffnung dieses Innen aber sei nur zu vollziehen, hieß es lapidar im paränetischen Schrifttum, wenn die Seele abließe, „durch die Augen, die Ohren und die anderen Sinne des Körpers hinauszuschreiten und sich an Äußerlichkeiten zu erfreuen“, um beispielhaft eine einschlägige Formulierung zu zitieren.8 Mit Gott könne nur kommuniziert werden, wenn die körperlichen Sinne zugunsten von spirituellen, die ihn erkennen ließen, unterdrückt würden. Hier wohl findet die scheinbar skandalöse Geschichte in den Vie des Pres – analysiert von Nikola von Merveldt – eine systematische Verankerung. Die sexuellen Verführungsversuche des frommen Eremiten in Malaquin und Brlure markieren eine entscheidende Kippstelle der Überwindung des Weltlichen, die sich selbstverständlich gerade am Körper des Heiligen festmachen lässt. Der Körper ist die Grenzzone, denn der Körper gilt als Grab der Seele. Die Sinne des Körpers herauszufordern bedeutet, die spirituellen Sinne, die allein die Kommu8
Tractatus de interiore vita, in: PL 184,509 f.
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nikation mit Gott erschließen, abzutöten. Es ging bei den ausführlich dargestellten Verführungsakten tatsächlich um einen ,Tötungsversuch‘, der nur verhindert werden konnte, indem man sich von jeder Kommunikation mit den Irdischen exkludierte: Der Eremit biss sich die Zunge ab beziehungsweise verstümmelte seine Hand. Doch erneut zurück zu den klösterlichen Strukturen der Kommunikation mit Gott, wo man insistierend vortrug, dass einzig derjenige, welcher die Imago Dei sei – Gottes Sohn also, der Fleisch gewordene (incarnatus) Logos –, alle, die noch nicht geübt und fähig wären, die erhabenen Geheimnisse des Himmels mit den spirituellen Sinnen zu betrachten, hinwegzutrösten vermochte über die abwesende Anwesenheit Gottes. Mit der Inkarnation habe Gott in der Tat sich unserer sinnlichen Wahrnehmung übergeben – wie affirmierend bei Johannes zu lesen sei: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“ ( Joh 1,14). Damit war denjenigen ermöglicht, die „die Vorschule der sinnlichen Eindrücke noch nicht hinter sich gelassen haben“ – führte Wilhelm von St. Tierry, sich selbst dazu zählend, aus –, die Einbildungskraft ihres Geistes auf die Demut Christi zu richten, um die noch schwache Seele zu üben: nämlich im Umfangen der Krippe des Neugeborenen, in der Anbetung des heiligen Kindes, im Küssen der Füße des Auferstandenen, im Betasten der Nagelwunden – und dann auszurufen: „Mein Herr und mein Gott“.9 In einer bemerkenswerten Weise sollte die möglichlicherweise allzu sinnliche Wirkung der unmittelbaren Präsenz des inkarnierten Gottes in folgender Geschichte, die der Cisterzienser Caesarius von Heisterbach überliefert, eingedämmt werden: Ein Novize wurde vom Teufel in die Versuchung gebracht, die Inkarnation Gottes anzuzweifeln. Als er eines Tages im Chorgestühl saß, sahen seine Augen, wie sich das Bild des Gekreuzigten ihm näherte und zu ihm sprach: „Warum zweifelst Du? Hier bin ich, der für Dich geboren und getötet wurde.“ Über eine Stunde stand dieses Bild vor ihm – und eigentümlicherweise war Christus nur von der Hüfte an aufwärts zu sehen. Später befragt von den Mitbrüdern, warum dies wohl so gewesen sei, antwortete der Novize: „Der Herr gab mir diese Gnade, damit ich nichts Unkeusches oder etwas, was mein Gemüt verletzen würde, über ihn zu denken ver-
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Wilhelm von St. Thierry, Meditativae orations, in: PL 180,235.
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mochte. Und so habe ich verstanden, daß er mir nur die oberen, nicht auch die unteren Teile seines Körpers zeigen wollte.“10 Es mag blasphemisch wirken, aber genau hier sehe ich den systematischen Ort eines der Schwänke, die Hans Jürgen Scheuer unter der Fragestellung „Weltliche Formen religiöser Kommunikation?“ zur Diskussion gestellt. Sie erscheinen ihm – ich zitiere verkürzt – „als Radikalisier[ung] des weltimmanenten Standpunktes“ unter gleichzeitigem „Bemühen […] das Transzendente überhaupt zur Sprache zu bringen“ (S. 738). Dies wiederum gelingt nur, wenn man sich – wie der erste der angesprochenen Schwänke anhand einer inszenierten ,Liturgie‘ der Allegorese zur Vertuschung eines Ehebruches zeigt – analog zum mehrfachen Schriftsinn der Bibel nicht nur des oculus exterior, sondern auch des oculus subtilior bediene. Man betrachte zudem den zweiten Schwank, der auf amüsante Weise Petrus und Christus zu Zeugen und Mithandelnden einer sexuellen Betrugsaffäre macht, und wundere sich nun nicht, dass der Inkarnierte hier persönlich einfach so auf einem Spaziergang vorbeikommt. Selbstverständlich ist das Parodistische nicht zu verkennen, aber andererseits wird auch sehr eindrücklich der Grund der Inkarnation vor Augen geführt: Der Gottessohn ist als Gnadenbringer in diese Welt gekommen; er verzeiht und wird immer wieder verzeihen und ist in eben diesem Verzeihen auch den Menschen gegenwärtig. In Form einer Invektive gegen die Amtskirche wurde hingegen Petrus als der „Gelackmeierte“, die figura der Kirche, stilisiert, der nur äußerliche Normen vollziehen kann. Jene von Wilhelm aufgerufene „Einbildungskraft des Geistes“ betraf die visio spiritualis, die similitudines eröffnet und vor den geistigen Augen (spirituales oculi) körperlich gegenwärtig macht, was gemäß den körperlichen Sinnen nicht gegenwärtig ist. Der einst Körper gewordene, doch nicht mehr Körper seiende Gott war dann anwesend, wenn man – wie Aelred von Rievaulx es so plastisch ausdrückt – „durch eine innige Verehrung der fleischlichen Natur unseres Erlösers seine Freude daran hat, mit den Augen des Geistes den Herrn der Herrlichkeit zu betrachten, wie er sich bis zur Enge der Krippe herabneigt, nach der Brust der Jungfrau verlangt, von den Umarmungen der Mutter umfangen und
10 Caesarius von Heisterbach, Dialogus Miraculorum, hrsg. Josephus Strange, 2 Bde., Köln [u.a.] 1851, hier Bd. 1, S. 218.
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von einem zitternden Greis, dem heiligen Simeon, mit seligen Lippen geküßt wird“.11 Hier könnte man den obszönen Schwank mit dem Phallus im Frauenkloster einordnen. Die dem „frommen“ Mittelalter gerade auch in geistlichen Institutionen so präsente „verkehrte Welt“ verleitet mich zur Annahme, dass unbenommen gelehrterer germanistischer Ausdeutungen hier auch eine Parodie eben jener spirituellen, im Objekt aber durchaus ganz fleischlichen visiones vorliegt. Zumal da der Phallus bereits als Exkludierter eingeführt worden war, der nun in einer Art Epiphanie unter den Nonnen auftaucht, liegt die parodistisch markierte Analogie zum oftmalig nachweisbaren Umgang von Nonnen etwa mit Figuren des Christuskindes oder des Bräutigams Christus nahe. Um die Grenzen von Weltlichem und Göttlichem wurde – wie ich eingangs hervorhob – im Mittelalter fortwährend gerungen, ungeachtet dessen, dass man durchaus wusste, man habe sie eigentlich zur Versicherung des Heils zu überwinden. Die so üppige Generierung von religiöser Kommunikation, welche sich angesichts der dominierenden lateinischen Gelehrtenliteratur in beachtlich hohem Maße auch in volkssprachlichen Texten institutionalisierte, erklärt sich funktional aus diesem mittelalterlichen Ringen, sich das Transzendente durch Übersteigung des Immanenten verfügbar zu machen.
11 Aelredus Rievalliensis, Speculum caritatis, hrsg. Anselm Hoste und C. H. Talbot, Teil I: Opera omnia, Turnhout 1971 (CCCM I), S. 111.
Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels Cristina Andenna Für die Erforschung religiöser Kommunikation stellt die Hagiographie ein besonders geeignetes Feld dar. Der hagiographische Text zeigt sich als Medium der Vermittlung des göttlichen Wirkens in der Welt, der überdies in seiner spezifischen literarischen Form die Kommunikation im religiösen Kontext ermöglicht. Unter Hagiographie werden im allgemeinen Texte verstanden, die der Erinnerung an Heilige gewidmet sind. Dazu gehört ein breites Spektrum unterschiedlicher Textsorten: Märtyrerakten, Heiligenviten und -legenden, Wunderberichte, Berichte über Erhebung und Übertragung von Heiligengebeinen, aber auch Kalendare und Martyrologien. Manche dieser Texte erzählen ausführlich, andere berichten in kürzesten Tagesnotizen oder teilen in unterschiedlicher Weise etwas über Heilige mit. „Gegenstand aller dieser Werke sind Heilige, Menschen, die ihre Zeitgenossen, aber auch Vor- und Nachlebenden, übertroffen haben und über sie emporgehoben worden sind.“1 Eine besondere Textsorte innerhalb der hagiographischen Gattungen sind die Heiligenlegenden oder -viten. In den Legendae, oder präziser formuliert, in den Vitae der Heiligen geht es um die Vergegenwärtigung des Heiligen und des göttlichen Heilswirkens in Gestalt einer Erzählung, die als ,Zeichen‘ auf etwas Abwesendes und Transzendentes hindeutet.2 In einer systematischen Perspektive erscheint der hagiographische Text in einer Grenzzone, in der vom Hereinragen der Transzendenz in Für die Hilfe bei der sprachlichen Überarbeitung danke ich Mirko Breitenstein, Ramona Sickert und Juri Haas, für die Korrekturen Peter Dänhardt, Kai Hering, Kathrin Korn und Christian Jostmann. 1 Dieter von der Nahmer, Die Lateinische Heiligenvita. Eine Einfhrung in die lateinische Hagiographie, Darmstadt 1994, S. 3. 2 Über die Bedeutung der hagiographischen Texte vgl. jetzt auch Dieter R. Bauer/Klaus Herbers (Hrsg.), Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Mçglichkeiten historischer Auswertung, Stuttgart 2000 (Beiträge zur Hagiographie 1).
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die Immanenz und vom Wirksamwerden der Transzendenz in der Geschichte erzählt wird. Es offenbart sich eine paradoxe Erzählstruktur, die „die Zeitlichkeit der vergangenen Immanenz (die Geschichte des Heiligen) und die Zeitlosigkeit der ewigen Transzendenz (die Geschichte des Heiligen)“ miteinander verkoppelt. Das legendarische Erzählen „beweist und dokumentiert die Geschichtlichkeit seines Protagonisten, dessen Existenz in der Immanenz, und es bezeugt zugleich die sanctitas seines Protagonisten“, also die Zeitlosigkeit ewiger Transzendenz.3 Die literarische Form der religiösen Kommunikation, also die Hagiographie, offenbart die Verschmelzung aber auch die dynamische Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Paradoxerweise erzählt sie durch die Herstellung und Bewältigung des Unverfügbaren genau das, was sie im Akt des Erzählens als eigentlich unerzählbar konstituiert. Der Gestus des hagiographischen Erzählens ist in der mittelalterlichen Literatur – sowohl der volkssprachlichen als auch der lateinischen – nahezu allgegenwärtig; hagiographische Texte wurden während des gesamten Mittelalters verfasst und auf unterschiedlichste Weise umgeschrieben und überarbeitet. Im Sinne der Vorgaben des Symposions soll der Fokus auf einem speziellen Moment und Ort der mittelalterlichen hagiographischen Textproduktion liegen: den im 11. und 12. Jahrhundert in Frankreich und Italien neu entstehenden, von eremitischen Idealen geprägten Formen der Religiosität.4 Diese neuen ,religiösen Bewegungen‘ – um einen von Herbert Grundmann benutzten Begriff aufzugreifen – fügten sich nach einer radikalen eremitischen Anfangsphase fast immer in die kirchlichen Strukturen ein, mit der Folge, dass diese institutionellen Wandlungen legitimiert werden mussten.5 Meis3
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Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147, hier S. 113. André Vauchez (Hrsg.), Ermites de France et d’Italie (XIe–XVe sicle), Rome 2003 (Collection de l’École française de Rome 313). Zur Thematik der eremitischen Bewegungen hier auch der noch immer grundlegende Mendola-Tagungsband L’eremitismo in occidente nei secoli XI e XII. Atti della seconda settimana internazionale di studio (Mendola, 30 agosto – 6 settembre 1962), Milano 1965. Siehe speziell für Italien die Ausführungen von Gregorio Penco, „L’eremitismo irregolare in Italia nei secolo XI e XII“, in: Benedictina, 32/1985, S. 201 – 221. Herbert Grundmann, Religiçse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen ber die geschichtlichen Zusammenhnge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der reli-
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tens wurden diese Wandlungen als Kontinuität der Ursprungsideale ausgewiesen. Es handelte sich um Lebensweisen, die auf ein streng eremitisches Leben ausgerichtet waren und die von den kirchlichen Beobachtern wegen des mehr oder weniger ausgeprägten ,a-institutionellen‘ Impetus ihrer Urheber aufmerksam wahrgenommen wurden. Diese Religiosen, die oft eine traditionelle klerikale Erziehung durchlaufen hatten, entschieden sich an einem bestimmten Punkt ihres Lebens für ein Leben in solitariis locis außerhalb der etablierten kirchlichen Organisationsstrukturen6, oder aber für eine Existenz als Wanderprediger.7 Sie suchten die Einsamkeit und zogen in den desertus, verzichteten auf alle Güter und zogen sich vollkommen aus der Welt zurück, um das Ideal der Nachfolge Christi anders zu verwirklichen als im traditionellen Mönchtum. Im 11. und 12. Jahrhundert wurde das religiöse Leben Europas immer stärker von einer neuen Form eremitischen Lebens geprägt. Quasi altera Aegyptus florebant multitudine eremitarum, es waren viele Eremiten in den vastae solitudines in der französischen Region der Bretagne, die in dieser Zeit per diversas cellulas habitantium, virorum sanctorum ac propter excellentiam religionis famosorum […] postea fundatores exstiterunt multarum atque magnarum congregationum. 8 Die Vita des Bernhard von Tiron († 1114) etwa beschreibt die neuen Eremiten als prophetae novi a Deo missi, die ihren Wohnsitz im desertus wählten und mit den
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giçsen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und ber die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Berlin 1935 (Historische Studien 237). Henrietta Leyser, Hermits and the New Monasticism. A Study of Religious Communities in Western Europe 1000 – 1150, London 1984; jetzt auch Gert Melville, „,In privatis locis proprio jure vivere‘. Zu Diskursen des frühen 12. Jahrhunderts um religiöse Eigenbestimmung oder institutionelle Einbindung“, in: Werner Chrobak (Hrsg.), Kulturarbeit und Kirche. Festschrift Paul Mai zum 70. Geburtstag, Regensburg 2005 (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 39), S. 25 – 38. Als Überblick immer noch maßgeblich Johannes von Walter, Die ersten Wanderprediger Frankreichs. Studien zur Geschichte des Mçnchtums, 2 Bde., Leipzig 1903 und 1906 (ND Aalen 1972). Die von Gaufredus Grossus verfasste Vita Bernhards von Tiron ist mit französischer Übersetzung ediert in: Bernard Beck, Saint Bernard de Tiron. L’ermite, le moine et le monde, Cormelles-Le-Royal 1998, S. 321 – 461, hier Kap. 20, S. 336.
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Konventionen einer im wirtschaftlichen Wandel befindlichen Gesellschaft brachen.9 Diese neue eremitische Lebensweise war jedoch insofern ein Paradoxon, als sie Nachfolge hervorrief, und sich den Eremiten und Wanderpredigern schon nach kurzer Zeit Gleichgesinnte anschlossen. Henrietta Leyser hat unterstrichen, dass diese vita religiosa einer Jüngerschaft sogar bedurfte, um ihr eigenes propositum zu verwirklichen. Die unerwartete Folge war, dass diese Eremiten trotz ihres Rückzuges aus der Welt auf diese Wirkung ausübten. Ihre Entscheidung, in Einsamkeit zu leben, bedeutete nun nicht mehr, vor allem ohne Gefährten zu sein, sondern in erster Linie, die Welt und die städtische Gesellschaft zu verlassen und eine Existenz in absoluter Armut nach dem Modell der sequela Christi zu beginnen.10 Wie Gert Melville an anderer Stelle thematisiert hat, war die Beziehung zu Gott für diese Religiosen dabei eine individuelle in dem Sinne, dass sie – anders als im herkömmlichen Mönchtum – am Anfang keiner Vermittlung durch Institutionen bedurfte. In dieser latenten Kritik und Negation etablierter institutioneller Gefüge aber lag eine ernste Bedrohung für die Amtskirche selbst: In letzter Konsequenz lief sie Gefahr, überflüssig oder zumindest ihrer Funktion beraubt zu werden.11 Andererseits führte aber die Anziehungskraft des exemplarischen Lebens dieser charismatisch wirkenden Eremiten zur Entstehung von Gemeinschaften und neuen religiösen Gruppierungen, die auf lange Sicht zwangsläufig einer institutionellen Ausformung und organisatorischen Einrahmung bedurften: et hic finis eremitarum, wie zu Beginn des 13. Jahrhunderts der zisterziensische Verfasser des De Institutione coenobii de Fontanis et successione praelatorum ejus 12 lapidar über die Regularisierung der um den Eremiten Geoffroy versammelten Gemeinschaft und 9 Vgl. Giles Constable, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, Cambridge 1995 und ders., The Reformation of the Twelfth Century, Cambridge 1996. 10 Leyser, Hermits and the New Monasticism (Anm. 6), S. 19: „[…] unlike traditional hermits the new hermits both expected and welcomed companions; solitude did not mean for them to be without the company of fellow religious, but to be apart from secular society, from ,the bustle of everyday existence‘, not to be involved in litigation, in buying and selling.“ 11 Melville, „In privatis locis“ (Anm. 6). 12 Historia monasterii de Fontanis Albis, in: André Salmon, Recueil des chroniques de Touraine, Bd. 1, Paris [u.a.] 1854, S. 257 – 291. Über die Eremiten um Geoffroy siehe Guy-Marie Oury, „L’érémitisme dans l’ancien diocèse de Tours au XIIe siècle“, in: Revue Mabillon, 58/1970, S. 43 – 92, hier bes. S. 50 – 58.
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deren Integration in das zisterziensische Kloster Savigny feststellte: Die Institutionalisierungsprozesse der experimentellen eremitischen Lebensformen fielen dabei mit dem Ende der eremitischen Orientierung des Lebens selbst zusammen.13 So entstanden im Laufe des 12. Jahrhunderts kleinere religiöse Gemeinschaften, die sich zu Anziehungspunkten für neue Formen der vita religiosa entwickelten, von denen einige der Kategorie des nuovo monachesimo, wie sie in der italienischen Ordensforschung entwickelt wurde, zugeordnet werden können.14 Von Seiten der amtskirchlichen Hierarchie war es nun nicht mehr möglich, diese Gemeinschaften zu ignorieren. Um in die Institution ,Kirche‘ integriert werden zu können, mussten diese religiösen Gruppen allerdings einen Anpassungsprozess durchlaufen und ihre ursprünglichen Ideale nach und nach den herrschenden institutionellen Erfordernissen angeglichen werden. Beispiele für die Regularisierung eremitischer Gemeinschaften von seiten der römischen Kurie sind das von Robert von Turlande gegründete Kloster 13 Vgl. Cécile Caby, „,Finis eremitarum‘? Les formes régulières et communautaires de l’érémitisme médiéval“, in: Vauchez (Hrsg.), Ermites de France et d’Italie (Anm. 4), S. 47 – 80. 14 Zur Anwendung der Adjektive vecchio und nuovo auf das neue Mönchtum siehe Pietro Zerbi, „,Vecchio‘ e ,Nuovo‘ monachesimo alla metà del secolo XII“, in: Istituzioni monastiche e istituzioni canonicali in occidente (1123 – 1215). Atti della settima settimana di studio (Mendola, 28 agosto – 3 settembre 1977), Milano 1980, S. 3 – 24, jetzt auch in: ders., ,Ecclesia in hoc mundo posita‘. Studi di storia e di storiografia medioevale, Milano 1993 (Bibliotheca erudita. Studi e documenti di storia e filologia 6), S. 305 – 331, und die kritischen Anmerkungen von Giovanni Grado Merlo, „Tra ,vecchio‘ e ,nuovo‘ monachesimo (metà XII – metà XIII secolo)“, in: Studi storici, 28/1987, S. 447 – 469; ebenfalls ediert in: Dal Piemonte all’Europa: esperienze monastiche nella societ medievale. Relazioni e comunicazioni presentate al XXXIV Congresso storico subalpino nel millenario di San Michele della Chiusa (Torino, 27 – 29 maggio 1985), Torino 1988, S. 175 – 198. Vgl. auch ders., „Le riforme monastiche e la ,Vita Apostolica‘“, in: André Vauchez (Hrsg.), Storia dell’Italia religiosa, Bd. 1, Bari 1993, S. 270 – 291, bes. S. 273 – 278. Die Klassifizierung in ,altes‘ und ,neues‘ Mönchtum schließt die Überlegungen über den Begriff ,Krise‘ ein, siehe dazu Leyser, Hermits and the New Monasticism (Anm. 6); Derek Baker, „,The Whole World a Hermitage‘: Ascetic Renewal and the Crisis of Western Monasticism“, in: Marc-Anthony Meyer (Hrsg.), The Culture of Christendom. Essays in Medieval History in Commemoration of Denis L. T. Bethell, Londres-Rio Grande 1993, S. 207 – 224; Constable, The Reformation (Anm. 9), S. 125 – 167. Einen Literaturüberblick bietet Cristina Sereno, „La ,crisi del cenobitismo‘: un problema storiografico“, in: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 104/ 2002, S. 31 – 84.
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La Chaise-Dieu15 und das von Gualterius eingerichtete Kanonikerstift Lesterps.16 Es handelt sich in diesen Fällen um charismatisch fundierte Gemeinschaften, die später beide in einem je traditionellen monastischen und einem kanonikalen Zweig aufgegangen sind. Einige Jahrzehnte später gab es dann aber auch congregationes, denen es gelang, ihre Besonderheiten in die kirchlichen Strukturen einzubringen, wie zum Beispiel die von Robert von Arbrissel († 1116) gegründete Gemeinschaft von Fontevraud17 oder der auf Norbert von Xanten († 1134) zurückgehende Prämonstratenserorden.18 Einige dieser auf eine Gründerpersönlichkeit zurückzuführenden Lebensformen konnten sich dauerhaft in eigenständigen Gemeinschaften behaupten – wie zum 15 Grundlegend für die historische Entwicklung der Kongregation von La ChaiseDieu bleibt die Monographie von Pierre-Roger Gaussin, L’abbaye de la ChaiseDieu (1043 – 1518). L’Abbaye en Auvergne et son rayonnement dans la Chrtient, Paris 1962. Einige ergänzende Informationen findet man bei dems., „Sur quelques bulles pontificales relatives à la Chaise-Dieu“, in: Cahiers d’histoire, 18/ 1973, S. 19 – 37; Michel Huglo, „Les livres liturgiques de la Chaise-Dieu. I. Inventaire des livres liturgiques casadéens II. Analyse des livres liturgiques casadéens“, in: Revue Bndictine, 87/1977, S. 62 – 96, 289 – 348. Eine kritische Edition der Vita beati Roberti mit italienischer Übersetzung, in: Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti, hrsg. von Antonella Degl’Innocenti, Firenze 1995 (Biblioteca del ,Medioevo Latino‘ 2), auf den S. LXXIII–LXXIV findet man den Stand der Forschung und weitere Literatur. 16 Jean Becquet, „Les chanoines réguliers de Lesterps, Bénévent et Aureil en Limousin aux XIe et XIIe siècles“, in: ders., Vie canoniale en France aux XIe et XIIe sicles, London 1985, S. 80 – 135. 17 Jacques Dalarun, Robert d’Arbrissel, fondateur de Fontevraud, Paris 1986; ders., „L’indignité au pouvoir“, in: Sebastien Barret/Gert Melville (Hrsg.), ,Oboedientia‘. Zu Formen und Grenzen von Macht und Unterordnung im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2005 (Vita regularis. Abhandlungen 27), S. 3 – 68; und neuerdings auch Jacques Dalarun (Hrsg.), Robert d’Arbrissel et la vie religieuse dans l’ouest de la France. Actes du colloque de Fontevraud (13 – 16 décembre 2001), Turnhout 2004 (Disciplina monastica 1). 18 Für die umfängliche Literatur über Norbert verweise ich nur auf den rezenteren Aufsatz von Franz J. Felten, „Zwischen Berufung und Amt. Norbert von Xanten und seinesgleichen im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts“, in: Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville (Hrsg.), Charisma und religiçse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte“ […] (Dresden, 10.–12. Juni 2004), Münster 2005 (Vita regularis. Abhandlungen 26), S. 103 – 149. Um einen Gesamtüberblick der Literatur über die Prämonstratenser zu erhalten vgl. Irene Crusius/Helmut Flachenecker (Hrsg.), Studien zum Prmonstratenserorden, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 185. Studien zur Germania Sacra 25).
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Beispiel die ebenso neu- wie einzigartige religio von Grandmont19 –, während andere bereits nach wenigen Jahren in etablierte Orden integriert wurden, wie etwa die Eremitengruppen um Stephan von Obazine20 und Vitalis von Savigny21, die jeweils in den Zisterzienserorden aufgenommen wurden. 19 Jean Becquet, tudes grandmontaines, Paris 1998 (Mémoires et documents sur le Bas-Limousin 22); Carole A. Hutchison, The Hermit Monks of Grandmont, Kalamazoo 1989 (Cistercian Studies Series 118); Geneviève Durand/Jean Nougaret (Hrsg.), L’Ordre de Grandmont. Art et histoire. Actes des Journées d’études de Montpellier (7 – 8 Octobre 1989), Carcassonne 1992; Gert Melville, „Von der ,Regula regularum‘ zur Stephansregel. Der normative Sonderweg der Grandmontenser bei der Auffächerung der vita religiosa im 12. Jahrhundert“, in: Hagen Keller/Franz Neiske (Hrsg.), Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit. Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231 (22.–23. Februar 1996), München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 74), S. 342 – 363. Einige interessante Bemerkungen über die institutionelle Entwicklung des Ordens: Maire M. Wilkinson, „The ,Vita Stephani Muretensis‘ and the Early Life of Stephen of Muret“, in: Judith Loade (Hrsg.), Monastic Studies. The Continuity of Tradition, Liverpool 1990, S. 102 – 126; dies., „The ,Vita Stephani Muretensis, and the Papal Re-Constitution of the Order of Grandmont in 1186 and thereafter“, in: Monastic Studies, Bangor 1991, S. 133 – 155; dies., „La vie dans le monde d’Étienne de Muret et la ,Vita Stephani Muretensis‘“, in: Durand/Nougaret (Hrsg.), L’Ordre de Grandmont (wie oben), S. 23 – 41; Gert Melville, „,In solitudine ac paupertate‘. Stephans von Muret Evangelium vor Franz von Assisi“, in: Annette Kehnel/Gert Melville (Hrsg.), In proposito paupertatis. Studien zum Armutsverstndnis bei den mittelalterlichen Bettelorden, Münster [u.a.] 2001 (Vita regularis 13), S. 7 – 30; Cristina Andenna, „Dall’esempio alla santità. Stefano di Thiers e Stefano di Obazine: modelli di vita o fondatori di ordini?“, in: Gert Melville/Markus Schürer (Hrsg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster [u.a.] 2002 (Vita regularis 16), S. 177 – 224. 20 Bernadette Barrière, L’abbaye cistercienne d’Obazine en Bas-Limousin. Les origines – le patrimoine, Tulle 1977; Gert Melville, „Stephan von Obazine: Begründung und Überwindung charismatischer Führung“, in: Andenna/Breitenstein/Melville (Hrsg.), Charisma (Anm. 18), S. 85 – 101; Andenna, „Dall’esempio alla santità“ (Anm. 19), S. 216 – 224; und kürzlich auch Alexis Grélois, „Les origines contre la réforme: nouvelles considération sur la Vie de saint Étienne d’Obazine“, in: crire son histoire. Les communauts rgulires face leur pass. Actes du 5e Colloque International du C.E.R.C.O.R. (Saint-Étienne, 6 – 8 Novembre 2002), Saint-Étienne 2005 (Travaux et Recherches 18), S. 369 – 388. 21 Ein Gesamtüberblick und detaillierte Literatur in: Terrence M. Deneen/Francis R. Swietek, „The roman ,curia‘ and the merger of Savigny with Cîteaux. The import of the papal documents“, in: Revue Bndictine, 112/2002, S. 323 – 355; Francis R. Swietek, „The Role of Bernard of Clairvaux in the Union of
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Derartige Regularisierungs- und Institutionalisierungsprozesse sind Folge einer komplexen dynamischen und synergetischen Interaktion: Es geht dabei einerseits um die Ansprüche religiöser Gemeinschaften, ein Leben gemäß ihres selbst gewählten propositum und ihrer eigenen Vorstellungen von Vollkommenheit zu führen, und andererseits um die unvermeidliche Konfrontation mit der römischen Kurie und ihren im 12. Jahrhundert sich ausbildenden kirchlichen Einrichtungen. Die Folge dieses Spannungsverhältnisses ist ein notwendig fortschreitender Angleichungsprozess im Sinne einer Normierung des eigenen propositum, um innerhalb der kirchlichen Strukturen Anerkennung zu finden. Eine sehr interessante Perspektive, um diese dynamischen Auseinandersetzungen zu beobachten, bieten die hagiographischen Schriften, lassen sich doch hier Interaktion und Prozesshaftigkeit dieser Wandlungen exemplarisch nachvollziehen. Die Heiligenviten geben nicht einfach die Lebensgeschichte eines Heiligen wieder, sondern sie verschleiern in der textlichen Ausführung bestimmte, für die Gemeinschaft grundlegende institutionelle Wandlungsvorgänge. In diesem Sinne kann die Rolle der hagiographischen Texte als wichtige Medien der Kommunikation im religiösen Kontext kaum überbewertet werden. Diese Texte sind sozusagen ein „Depot für ausgelagerte Kommunikate“ innerhalb einer religiösen Gemeinschaft; sie fassen eine Kommunikation für ,außen‘ und können als „metakommunikativer“ Raum jenseits der Kommunikation verstanden werden.22 Heiligenviten sind dabei stets Produkte eines bestimmten kulturellen Kontextes und stellen eine spezielle literarische Form für Normen, Werte und Leitideen dar, die ihren Ursprung in eben diesem Kontext haben und die von einer beispielhaften Gründerfigur beziehungsweise der Gründergeneration ausgehen.23 Als solche sind sie im Rahmen reSavigny with Cîteaux. A Reconsideration“, in: John Robert Sommerfeldt (Hrsg.), Bernardus Magister. Papers presented at the nonacentenary celebration of the birth of Saint Bernard of Clairvaux (Kalamazoo [Michigan], 10 – 13 May 1990), Spencer/Mass. 1992 (Cistercian Studies Series 135), S. 289 – 302. 22 Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, München 1992, S. 91 – 93, bes. S. 91, Anm. 4. 23 Pierre Bourdieu, Ce que parler veut dire. L’conomie des changes linguistiques, Paris 1982, S. 124 – 184. In Bezug auf dieses Problem sind auch die Beobachtungen Stephen Greenblatts aufschlussreich, der das Vorhandensein eines Kreislaufs sozialer Energie im Text unterstreicht: der Text sei nämlich zugleich soziales Produkt einer Gesellschaft, wie er für diese auch wesentliche Funktionen ausübe; Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988.
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ligiöser Gemeinschaften wesentliche Bezugspunkte für nachfolgende Generationen; sie vermitteln notwendige Grundkenntnisse, indem sie die Vorbildlichkeit und Heiligkeit des Meisters, des charismatischen Führers, schildern und seine Jüngerschaft zu dessen imitatio motivieren. Die Erzählungen des Lebens der Gründerfiguren als Produkte der Memoria einer späteren Generation können als wichtige Indikatoren für bestimmte institutionelle Wandlungen innerhalb der Gemeinschaft gelten. Sie dienen in diesem Zusammenhang aber auch als Legitimationsstrategien und können zu Instrumenten für die Durchsetzung einer angestrebten Resistenz der Gemeinschaften gegen äußere Einflüsse werden. Als Beschreibungsmodell für solche Phänomene eignet sich sehr gut das Konzept der ,fundierenden Geschichte‘, wie es Jan Assmann im Rückgriff auf die Arbeiten von Maurice Halbwachs24 entwickelt hat: Assmann zeigt auf, dass und inwiefern die Vergangenheit und insbesondere die Abläufe von Gründungen sozialer Gemeinschaften niemals auf gleichsam ,naturgegebene‘ Art oder ,so wie es gewesen war‘ erinnert werden, sondern das Ergebnis komplexer Strategien der Konstruktion, Etablierung und gegebenenfalls Umordnung von Tradition sind.25 Im Folgenden möchte ich aus dem Spektrum der eremitischen Lebensformen des 11. und 12. Jahrhunderts die institutionelle Entwicklung dreier neu entstehender religiones näher betrachten: das von Robert von Turlande gegründete Kloster La Chaise-Dieu, die durch die charismatische Anziehungskraft Stephans von Obazine gebildete Religiosengemeinschaft und den außergewöhnlichen Fall der religio Stephans von Muret. Jede dieser religiones war einer jeweils eigenen institutionellen Entwicklung unterworfen und verwirklichte die Einordnung in die bestehenden kirchlichen Strukturen auf unterschiedlichen Wegen. Die im Umfeld dieser drei religiones entstandenen Vitentexte wurden in der Regel nach dem Ableben des charismatischen Gründers verfasst, das heißt nach einer Phase der kontinuierlichen und beständigen Anwesenheit, in der die Protagonisten sich als charismatische Figuren verbo et exemplo in Szene gesetzt und bis dahin als legislativer und sinnorientierender Handlungsmaßstab gegolten hatten. Durch die hagiogra24 Der grundlegenden, von Maurice Halbwachs (Das kollektive Gedchtnis, Frankfurt/M. 1985 [orig. Titel: La mmoire collective, Paris 1950]) entwickelten Theorie des kollektiven Gedächtnisses, widmet Jan Assmann ein eigenes Kapitel: Assmann, Das kulturelle Gedchtnis (Anm. 22), S. 51 – 58. 25 Assmann, Das kulturelle Gedchtnis (Anm. 22), S. 29 – 86.
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phische Darstellung sollte dieses normative Potential kodifiziert werden, um es zu sichern und zu perpetuieren.26 Die Verschriftlichung der Vita des Gründers und ihre erzählerische Inszenierung gewinnt daher eine doppelte Funktion. Die Lesung und beständige Wiederholung in rituellen und liturgischen Zusammenhängen garantiert die Veralltäglichung des normativen Handelns innerhalb der Gemeinschaft und übernimmt so eine wichtige kommunikative Funktion für alle nachfolgenden Generationen. Gleichzeitig rückt die Konstruktion der Vita das Leben des Gründers in den Bereich eines geschichtlichen Ursprungsmythos, also in die Nähe absoluter Vergangenheit, welche vom kulturellen Gedächtnis der Gemeinschaft aufgenommen wird und als prospektives Interpretationsinstrument bestimmte institutionelle Wandlungen zu legitimieren vermag. Es ist die Schaffung einer Tradition, einer ,fundierenden Geschichte‘, die zum Motor der Entwicklung der Gemeinschaft wird und dadurch deren historisches Werden legitimiert.27 Die Vita wird sozusagen ein ,Gedächtnisspeicher‘ von ausgewählten Erinnerungen, um mit ihnen bestimmte normative Transformationen durch die Bestätigung eines mythischen Ursprungs akzeptabel zu machen. In diesem Zusammenhang sollen die Heiligenviten in zwei Typen eingeteilt werden, wobei diesbezüglich weder eine elaborierte Theorie präsentiert werden kann noch Vollständigkeit im Hinblick auf eine eventuelle Typologie von Heiligenviten angestrebt wird: Die erste Form ist diejenige, die als Produktion eines kulturellen Gedächtnisses das Ergebnis sowohl einer internen als auch einer externen Überarbeitung der Memoria darstellt. Texte dieser Art reagieren auf die Bedürfnisse der sogenannten ,zweiten Generation‘; sie werden von Autoren verfasst, die aus einer institutionell externen Perspektive das in26 Eine entsprechende Bemerkung liegt in der Lebensbeschreibung Stephans von Obazine vor: Interea fratres Obazine nullis adhuc scriptis legibus teneantur, sed instituta magistri pro lege habebant, que tam districta et ardua erant ut cujuslibet regule asperitas eis in discipline rigore addere nihil posset. ,Quia vero breves dies hominis sunt‘ et tamdiu humana magisteria vigent quamdiu preceptor vixerit aut presens fuerit, placuit alicuius ordinis eorum qui in ecclesia auctorisati sunt professionem assumerent, ut deficientibus magistri, scripte legis auctoritas eis indeficiens permaneret (Vita Sancti Stephani Obaziniensis, in: Vie de Saint tienne d’Obazine. Texte établi et traduit par Michel Aubrun, Clermont-Ferrand 1970 [Faculté des Lettres et Sciences Humaines de l’Université de Clermont-Ferrand. Publication de l’Institut d’Études du Massif Central 6], Zitat S. 96). 27 Assmann, Das kulturelle Gedchtnis (Anm. 22), S. 78.
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terne Gedächtnis der Gemeinschaft rekonstruieren. Die zweite Form wird durch Texte repräsentiert, die ein ,internes Gedächtnis‘ ohne externe Überarbeitung darstellen. Zum ersten Typus gehören Texte, die von ,professionellen‘ Hagiographen verfasst wurden, das heißt in diesem Falle von Klerikern, die nicht der jeweiligen Gemeinschaft angehörten (wie etwa die von Marbod geschriebene Vita Roberts von Turlande), oder von Mönchen, die ihre ursprünglichen spirituellen Ideale in einem veränderten institutionellen Rahmen umsetzten. Sie haben eine gewisse Distanz zur Gründergeneration gewonnen, und ihre Werke zeigen sich als stabilisierende Verfestigung institutioneller Wandlungen und ausgefeilte Auswertung der Tradition. Die Texte des zweiten Typs hingegen entstanden innerhalb der eigenen Gemeinschaft; ihre Kompilation wurde den Gefährten und Anhängern des verstorbenen Protagonisten anvertraut und von den nachfolgenden Generationen vertieft und modifiziert, um auf gewisse Resistenzen, Spannungen und Druck von außen einzugehen.
I. Der institutionell externe Blickwinkel auf ein ,internes Gedächtnis‘ Ein professioneller Hagiograph: Marbod von Rennes Zur Gruppe ersten Typs gehört die Lebensbeschreibung des Robert von Turlande († 1067) 28, die von Marbod († 1123), dem Archidiakon der Domschule von Angers und späteren Bischof von Rennes, auf der Basis
28 Über Robert von Turlande vgl. Marcellin Boudet, „Saint Robert de Turlande fondateur de la Chaise-Dieu. Ses origines et sa famille d’après les Cartulaires“, in: Bulletin historique et scientifique de l’Auvergne, 25/1906, S. 47 – 62, 82 – 116; Pierre-Roger Gaussin, Saint Robert de Turlande, fondateur de la Chaise-Dieu, Paris 1964; Joseph van de Straeten, „Saint Robert de la Chaise-Dieu. Sa canonisation – sa date de fête“, in: Analecta Bollandiana, 82/1964, S. 37 – 56; George T. Beech, „A previously Unknown Epitaph of Saint Robert of Turlande, Founder of La Chaise-Dieu († 1067)“, in: Revue Mabillon, 5/1994, S. 29 – 35; siehe jetzt auch Cristina Andenna, „Roberto di Turlande fra nuove forme di vita religiosa e monachesimo tradizionale“, in: Archivi e reti monastiche tra Alvernia e Basilicata: il priorato di Santa Maria di Juso e la Chaise-Dieu. Convegno internazionale di studio (Matera-Irsina 21– 22 aprile 2005), Galatina 2007, S. 37 –57.
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bereits vorhandener Texte verfasst wurde.29 Die Vita des Robert von Turlande ist außerordentlich aufschlussreich, besonders unter Berücksichtigung des religiösen Klimas, in welchem sie entstand. Marbod, ein konservativer Vertreter des Klerus von Angers, entsprach dreißig Jahre nach dem Tod Roberts von Turlande der Bitte der Mönche von La Chaise-Dieu, die Vita ihres ersten Abtes zu schreiben. Die Amtskirche, deren Sprecher Marbod war30, zeigte sich sehr skeptisch gegenüber den radikalen Formen des Eremitentums und der Wanderpredigt31, da diese – wie bereits angemerkt – eine existenzielle Gefahr für die kirchliche Hierarchie und Ordnung darstellten.32 Alle folgenden Informationen über Robert – dies sei hier betont – stammen aus der Feder Marbods. Es ist deshalb nur bedingt möglich, das tatsächliche Leben Roberts von den hagiographischen Überformungen in der Vita beati Roberti zu trennen. Nachfolgend soll dennoch versucht werden, die Darstellungsabsichten Marbods aus der von ihm verfassten Lebensbeschreibung zu rekonstruieren, um so Rückschlüsse auf die Funktion der Heiligenvita als stabilisierender Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels zu ziehen. Robert wurde um 1001 in der Region der Auvergne geboren. Es folgten die ersten Schritte seiner geistlichen Ausbildung bis zur Priesterweihe im Kanonikerstift von Brioude, wo er für eine gewisse Zeit die priesterlichen und seelsorgerischen Tätigkeiten in einer domus elemosinaria ausübte. Schon in dieser frühen Zeit hob sich Robert durch sein beispielhaftes Verhalten gemäß einem kanonikalen Muster hervor: Sein 29 Reinhard Düchting, „Marbod von Rennes“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Berlin [u.a.] 1998, Sp. 217 f., und Antonella Degl’Innocenti, L’opera agiografica di Marbodo di Rennes, Spoleto 1990 (Biblioteca di ,Medioevo latino‘ 3), S. 1 – 18. 30 Das konservative Umfeld der Kathedralschule von Angers, in der Marbod seine kirchliche Karriere begann, war stark von der Schule von Chartres beeinflusst; vgl. dazu Steven C. Fanning, A Bishop and his World before the Gregorian Reform: Hubert of Angers 1016 – 1047, Philadelphia 1988. Über die Schule von Chartres verweise ich allgemein auf Pierre Riché, „Fulbert de Chartres et son école“, in: Le temps de Fulbert: enseigner le Moyen Age partir d’un monument, la cathdrale de Chartres. Actes de l’Université d’eté (8 – 10 Juillet 1996), Chartres 1996, S. 27 – 32. 31 Als Beispiel mag an dieser Stelle die Warnung des Bischofs Marbod an den Wanderprediger Robert von Arbrissel genügen; vgl. dazu Melville, „In privatis locis“ (Anm. 6), S. 35. Der Brief befindet sich in: PL 171,1480 – 1486, Ep. 6, aber auch in: von Walter, Die ersten Wanderprediger Frankreichs (Anm. 7), Bd. 1, S. 181 – 189, bes. S. 186. 32 Melville, „In privatis locis“ (Anm. 6), S. 25 – 38, bes. S. 34 – 36.
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Leben war von der Gnade Gottes erfüllt und viele Menschen wurden durch seine Worte und sein Vorbild ad bene vivendum angezogen (verbo pariter et exemplo).33 Die Vollkommenheit von Roberts Handeln prägte seine äußerliche Erscheinung, denn auch ohne in Worte gefasst zu werden, übten seine Taten eine charismatische Anziehungskraft auf die Mitmenschen aus: Wenn er schwieg, sprach er durch sein Leben, obgleich, wenn er sprach, er von seinem Leben schwieg […] er zeigte durch sich selbst die Weise, richtig zu leben, ohne aber sich zur Schau stellen […] sein Angesicht enthüllte die Rechtschaffenheit seines Verhaltens, sein Gang und seine Kleidung die Einfachheit seines Geistes.34
Die Verwendung des Binoms verbo pariter et exemplo in der Erzählung aus den Anfangsjahren seines religiösen Lebens verweist auf einen bestimmten kulturellen und spirituellen Hintergrund, nämlich das Modell der Vollkommenheit, welches zuerst von den Regularkanonikern und dann von den Vertretern der eremitischen Bewegung des 11. und 12. Jahrhunderts angestrebt wurde.35 33 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, IV, S. 8. 34 Ebd., V, S. 10: sed et cum voce taceret, vita loquebatur, quamvis cum voce loqueretur, vitam taceret. Nam cum bene vivendi formam ostenderet in se ipso, se ipsum nullatenus ostendebat. Morum gravitatem preferebat in vultu, modestiam mentis incessu et habitu fatebatur. Auch die äußerliche Erscheinung und das Handeln Stephans von Obazine sind in dessen Vita besonders aussagekräftig dargestellt: Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 58: Sed tamen oribus silentibus, opera non tacent, que auctore Deo ipsorum religiositatis evidens testimonium reddunt. Est autem unus inter eos qui ceteris preest, cujus magisterio edocti et informati exemplo ita refulgent. Sermo ejus quasi ignis ardens ita audientium mentes accendit et tanto amore inebriat ut […] vite eorum morumque qualitas immutetur. Sed et habitus ejus et incessus vel cuncta que agit quasi quidem sermo sunt, nihilque aliud incidant quam vite ordinem morumque et actuum disciplinam. Unde mirum non est tales esse discipulos qui talem habent magistrum, qui eos et absque verbo sufficienter potest docere. Vgl. dazu die Bemerkungen von Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 88. In größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen betrachtet Peter von Moos, „Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel“, in: ders. (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persçnliche Identitt und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln [u.a.] 2004 (Norm und Struktur 23), S. 123 – 146, das äußere Erscheinungsbild als Symbol; vgl. auch ebd. den Aufsatz von Renate Lachmann, „Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis“, S. 379 – 410. 35 Über die Bedeutung dieses Binoms vgl. Caroline Walker-Bynum, ,Docere verbo et exemplo‘. An Aspect of Twelfth-Century Spirituality, Ann Arbour 1979 und dies., „The Spirituality of Regular Canons of the Twelfth Century“, in: dies., Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley [u.a.] 1982, S. 22 – 58.
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In Roberts Vita heißt es hierzu, dass er den Wunsch besaß, „nach dem Guten das Bessere und nach dem Besseren das Beste“ zu erreichen. Und so fing er an, sich nach der Einsamkeit zu verzehren, in der er soli Deo ein kontemplatives Leben führen konnte.36 Da in der monastischen Tradition das klösterliche Leben die notwendige Vorstufe zur eremitischen Lebensweise – dem höchsten Grad der Vollkommenheit – darstellte, traf Robert die Entscheidung, zunächst in ein cluniazensisches monasterium einzutreten, um sich hier auf das eigentliche Ziel, das eremitorium, vorzubereiten.37 Gottes Wille hatte aber entschieden, dass Robert seine Berufung zu Gott an einem anderen Ort finden sollte, an dem er nützlicher sein konnte. Marbod berichtet hierüber, dass die große Zahl derjenigen Menschen, die ihn liebten, ihn an seiner Weltflucht hinderte und ihn zwang, zu seinem bisherigen Leben zurückzukehren. Er unternahm eine Pilgerreise, bei der ihm sein irrevocabiliter urgens propositum durch die Inspiration der Apostelfürsten offenbart wurde.38 Der Autor greift auf das traditionelle Bild der peregrinatio zurück, das auch in anderen Heiligenviten die innerliche Suche nach einem adäquaten Lebensentwurf demonstriert. Diese Pilgerschaft verweist auf die ideale Form der imitatio Christi nach dem Vorbild der Apostel, die von Heimatlosigkeit charakterisiert war und schon das Leben der monachi peregrini des Frühmittelalters geprägt hatte.39 In den Vitae der Eremiten des 11. und 12. Jahrhunderts wird das Motiv der peregrinatio durch das der Flucht in die Waldeinsamkeit abgelöst. Der idealtypische Ort der Rückkehr zu einem eremitischen 36 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, V, S. 10: Inter hec contemplationis amore flagrabat, ut qui semper bonis meliora, melioribus optima vellet adiungere. Gustaverat velut in transitu quam suavis est Dominus et totis medullis cordis desiderabat vacare soli Deo, ut quasi prelibatam dulcedinem pleno gutture mentis hauriret. 37 Marbod begründet die Wahl des Cluniazenserklosters mit der religionis ac discipline loci fama: Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, VI, S. 10. Über das eremitische Leben in Cluny vgl. Jean Leclerq, „Pierre le Vénérable et l’érémitisme clunisien“, in: Giles Constable/James Kritzeck (Hrsg.), Petrus Venerabilis 1156 – 1956. Studies and texts commemorating the eighth centenary of his death, Romae 1956 (Studia Anselmiana philosophica, theologica 40), S. 99 – 120 und Germane Chachuat, „L’érémitisme à Cluny sous l’abbatiat du Pierre le Vénérable“, in: Annales de l’Acadmie de M con, 358/1982, S. 89 – 96. 38 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, VI, S. 12. 39 Arnold Angenendt, ,Monachi peregrini‘. Studien zu Pirmin und den monastischen Vorstellungen des frhen Mittelalters, München 1972 (Münstersche MittelalterSchriften 6).
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Leben nach Gottes Vorstellungen wurde durch „Dornen und Stacheln, Schrecken und Einsamkeit“, mit anderen Worten: als ein trostloser Ort charakterisiert. Es war dabei für die Religiosen von Vorteil, keine Güter zur Verfügung zu haben, denn „je mehr sie sich von den Menschen entfernten, umso näher glaubten sie sich Gott und je mittelloser sie waren, desto mehr geistige Güter konnten sie erwerben“.40 Marbod beschreibt das propositum Roberts von Turlande folgendermaßen: Quod desiderabat hoc erat, ut ab hominum frequentia remotus edificare posset in solitudine monasterium, ubi sub religionis habitu canonicam vitam cum duobus vel tribus duceret, soli Deo professus. 41 Wichtig sind hier vor allem die Phrase sub religionis habitu canonicam vitam und der Begriff monasterium, mit denen Marbod klar zum Ausdruck bringt, dass die Gruppe um Robert – wenn auch in solitudine – bereits von Anbeginn in einer Weise gelebt hätte, die mit der kirchlichen Tradition überaus konform war. Die Initiative des Handelns geht dabei nie von Robert selbst aus; stets ist es Gott, der Robert zu seinen Taten anregt. So auch in der für die nachfolgende Gemeinschaftsbildung zentralen Begegnung mit einem namenlosen Ritter, der mit Robert – und nur mit Robert – zur Umkehr von seinem bisherigen Lebensweg bereit war. Die voluntas Dei hatte dafür gesorgt, dass dieser Mann, „der ihm als Kamerad und Agens seines Willens zugeführt wurde“, den Vorsatz, alles zu verlassen (relictis omnibus) am liebsten in Gemeinschaft mit Robert erfüllen wollte und konnte.42 Ihm verrät Robert seine Absichten und sein propositum, und ihn betraute er mit der Aufgabe, einen zweckmäßigen Ort und einen weiteren Gefährten zu finden.43 Roberts Weggefährte war in beiden Angelegenheiten erfolgreich. Er fand eine kleine verlassene und verfallene Kirche, eine Pfarrei, in der es möglich war, sich durch das, was man fand, aber auch durch Handarbeit, mit Essen zu versorgen.44 40 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, XI, S. 20: Inveniunt spina et vepres, horrorem simul ac solitudinem, postremo locum bonis omnibus indigentem, nisi quod eis bonum erat bonis omnibus indigere. Nam quanto longe fierent ab hominibus, tanto se Deo propinquiores credebant, et quanto pluribus indigerent temporalibus, tanto pluribus recepturos eterna. 41 Ebd., VI, S. 12. 42 Ebd., VII, S. 12. 43 Ebd., S. 12. 44 Ebd.: ecclesiolam scilicet aliquam in eremo, desertam licet ac dirutam, tamen parrochialem, ubi de labore manuum vel herbarum radicibus victus qualiscumque posset acquiri und Liber I, VII, S. 14: ecclesiam veteram vasta cinctam solitudine, votis suis in omnibus respondentem.
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Die Entscheidung für diese Pfarrkirche musste dabei für Marbod argumentativ doppelt wertvoll sein: Zum einen konnte sich Robert so weiterhin priesterlichen Aufgaben und der Seelsorge widmen und zum anderen verhinderte die Wahl eines verlassenen, rechtmäßig vom Besitzer erhaltenen Ortes die Konflikte, die der Bau einer domus ex-novo mit benachbarten Klostergründungen provoziert hätte. Die kleine Gruppe führte ein eremitisches Leben ohne Landbesitz in einer Umgebung, die allen Vorstellungen von einem neuen Leben im eremus entsprach.45 Der Tagesablauf der Gemeinschaft war durch die Liturgie und die gemeinschaftlich eingenommenen Mahlzeiten strukturiert. Wenigstens zu Beginn gab es jedoch eine klare Aufgabenteilung: Die Gefährten arbeiteten, um die Gruppe mit Nahrung zu versorgen, während Robert sich ausschließlich der Lektüre und dem Gebet widmete. „Jene arbeiteten mit den Händen, er durch häufige Kniebeugen. Die körperliche Anstrengung ließ sie schwitzen, während die Reue seines Herzens ihn mit Tränen erfüllte. Ruhe ließ sie sich von der Mühe erholen, Lektüre ihn von seiner Müdigkeit.“46 In der Zeit, als ihre Gemeinschaft noch keine regula besaß, war Robert beständig bei seinen Gefährten, und seine Ratschläge und Ermahnungen waren für sie eine wertvolle Hilfe: Gott […] hatte für ihre Schwäche vollkommen Sorge getragen, weil er sie einem ausgezeichneten Meister anvertraut hatte, der sie durch sein Wort belehren und durch sein Vorbild bestärken konnte. Denn er kannte nicht nur die nächsten notwendigen Handlungen, sondern wusste auch, wie sie auszuführen waren.47
Robert „ermunterte die müden Geister seiner Gefährten, während er weder die Last der gemeinsamen Anstrengungen spürte, noch seine eigene Sorgfalt gegenüber den Brüdern“.48 Das Vorbild ist Christus 45 Ebd., IX–XI, S. 16 – 22. Das Motiv, die Gefahr eines Streites mit anderen benachbarten Klöstern zu vermeiden, findet sich ebenfalls in der Vita beati Hugonis Lacerta; Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta, in: Scriptores ordinis Grandimontensis, edidit Johannes Becquet, Turnhout 1968 (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 8), 27, S. 123. 46 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber I, XII, 2, S. 22. 47 Ebd., X, 3 – 5, S. 18: Preterea Deum infimitati et ignorantie sue penitus providisse, qui talem sibi dedisset magistrum, cuius et verbo doceri et exemplo posset firmari. Nam et insinuare facienda et facere noverat insinuata. 48 Ebd., XI, 17, S. 22: His et aliis talibus fatigatos quandoque sociorum animos reparabat, cum se nec laboris communitas nec fraterne sollicitudinis proprietas fatigaret.
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selbst, der „Urheber und Vollender des Glaubens, […] welcher an Stelle der ihm angebotenen Freude das Kreuz ertragen hatte, die Schmach verachtend“.49 Die Beispielhaftigkeit eines solchen Lebens war für andere attraktiv: viele, sowohl Laien als auch Kleriker, fühlten sich von einem derartigen Leben angezogen und schlossen sich der Gemeinschaft an, die trotz des starken Zulaufs der Jünger immer perfekter in der observantia religionis wurde, wobei die Ursache hierfür weniger die Strenge des Zwangs als die Vollendung der gegenseitigen barmherzigen Liebe war.50 In diesem Abschnitt der Legenda lässt sich der Verweis auf eine Marbod sicher gut bekannte Polemik erkennen: die am Ende des 11. Jahrhunderts verbreitete Wahrnehmung der herkömmlichen vita monastica als eine erzwungene Existenz gegenüber jener Lebensweise, welche die neuen Religiosen als die bessere Alternative einer freiwilligen und individuellen Dienerschaft Gottes anpriesen.51 Denn auch Christus war, als er beten und dem Vater nahe sein wollte, in die Wüste gegangen.52 Als Bischof Ivo von Chartes († 1116) einige Erimiten wegen ihrer Lebensweise heftig angriff, antworteten sie, dass es die wirkliche libertas des Willens nur nach Überwindung der Sünden des Fleisches und der Versuchungen schlechter Gedanken geben könne, indem alle weltlichen Dinge verlassen würden, was das herkömmliche Mönchtum offensichtlich nicht mehr gewährleisten könne.53
49 Ebd., 16, S. 22: Quapropter aspicerent in remunerationem, aspicerent‘ in auctorem fidei et consummatorem Iesum, qui, proposito sibi gaudio, sustinuit crucem, confusione contempta‘. 50 Ebd., XIV, 4, S. 26: Crescente igitur numero discipulorum crevit & religionis observantia, quam non tantum extorquebat censurae districtio, quantum offerebat perfectio caritatis. 51 Der Bischof Ivo von Chartres hatte einen Eremiten namens Rainald aufgefordert, in die vita communis der Ecclesia beati Joannis Baptistae zurückzukehren, in der er seine Profess abgelegt hatte. Ein Leben auf der Grundlage der vita communis war gegenüber einer freiwilligen Entscheidung für eine vita in solitudine zu bevorzugen. Vgl. dazu Melville, „In privatis locis“ (Anm. 6), S. 25 – 38. Der Brief Ivos von Chartres in: PL 162,198 – 202, Ep. 192; das Antwortschreiben Rainalds in: Germain Morin, „Rainaud l’éremite et Ive de Chartres: un épisode de la crise du cénobitisme au XIe–XIIe siècle“, in: Revue bndictine, 40/ 1928, S. 99 – 115, hier S. 101 – 104. 52 Vgl. auch Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber II, VI, 17, S. 50 – 52: Iesus ergo nunc ,ascendit in monte solus orare‘. 53 Morin, „Rainaud l’éremite“ (Anm. 51), S. 102.
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Warum aber akzeptierte der konservative Kleriker Marbod die Bitte der Mönche von La Chaise-Dieu, dreißig Jahre nach dem Tod Roberts von Turlande dessen Vita zu schreiben? Man kann sagen, dass die religio Roberts ihrer Zeit partiell noch fremd war, auch wenn sie mit dem spirituellen Klima am Ende des 11. Jahrhunderts auffallend korreliert: Robert hegte den Wunsch nach Kontemplation, er vollzog die Rückkehr zu einer vita in solitariis locis in absoluter Armut, er pflegte eine individuelle und exklusive Beziehung zu Gott in der rigorosen Nachfolge Christi und zeichnete sich überdies durch charismatisches Handeln aus, das Gleichgesinnte anzog. Dies alles sind Eigenschaften, die als charakteristisch für den Typus des ,neuen‘ Heiligen gelten können.54 Marbod, der mit einigen Anliegen der Kirchenreform Gregors VII. (1073 – 1085) konform ging, nutzte als Vorlage für seinen Text eine uns unbekannte ältere Fassung der Vita Roberts von Turlande.55 Die Überarbeitung dieses Textes nun erlaubte es dem kundigen Hagiographen Marbod, ein neues Modell von Heiligkeit zu entwickeln, das eine adäquate hagiographische Entsprechung zu den neuen Strömungen innerhalb der vita religiosa darstellen, und dennoch mit den kirchlichen Traditionen übereinstimmen sollte. So vereinigt Robert von Turlande in Marbods Prolog zum zweiten Buch in vollendeter Art und Weise die vita contemplativa und die vita activa und nimmt einen anderen als den traditionellen Weg zur Heiligkeit: Robert läßt nicht die Welt und mit ihr die vita activa hinter sich, um sich ausschließlich der vita contemplativa – dem höchsten Grad der Vollendung – zu widmen. Vielmehr verkörpert er die Möglichkeit, beide Optionen religiösen Lebens miteinander zu verbinden. Bei Marbod heißt es: „Obwohl beide Lebensformen in ihren Verdiensten voneinander geschieden sind, können dennoch beide in ein und derselben Person vorhanden sein.“56 Robert vereint in sich vollkommen die beiden Leitideen religiösen Lebens, die 54 Andenna, „Roberto di Turlande“ (Anm. 28); vgl. Leyser, Hermits and the New Monasticism (Anm. 6), und Constable, The Reformation (Anm. 9), hier bes. S. 125 – 167. 55 Der Name des Autors der ersten Fassung der Vita Roberti wird im Liber tripartitus de miraculis sancti Roberti (Bernardus, Liber tripartitus de miraculis sancti Roberti, in: AA. SS., Aprilis, III, S. 331) mit einem Geraldus denique cognomento de Venna, einem der ersten Gefährten Roberts und dessen cappellanus, identifiziert. 56 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber II, IV, 10, S. 46: ita igitur cum due vite suis ab invicem meritis sint discrete, ab eodem tamen communiter lege queunt vicaria possideri.
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vita contemplativa und die vita activa, die kontemplative Neigung Marias und die aktive Tätigkeit Marthas.57 Es ist dies eine Ansicht, die einige von Marbods Zeitgenossen – wie beispielsweise Ivo von Chartres – aufs heftigste kritisierten. Roberts Handeln evozierte also auch kritische Stimmen, die meinten, er habe den traditionellen Weg des Religiosen verlassen, der aus dem monasterium in den eremus führe, und stattdessen die Stufen der perfectio umgekehrt. Marbod zeigt am Beispiel Roberts, dass die zwei unterschiedlichen Ausprägungen der vita religiosa nicht entgegengesetzte, sondern vielmehr gleichberechtigte Teile der einen religio sind. Die Zuwendung zu einer Form schließt die andere nicht aus und verbietet auch nicht, sich beiden gleichzeitig zu widmen. Die Rückkehr zur vita activa stellt für den kontemplativ Lebenden keine Verletzung der Konventionen dar, sondern ist Ausdruck von Mitgefühl und Mitleid mit den Nächsten.58 „Er [Robert] hatte nicht sein propositum gebrochen, sondern im Gegenteil mit seiner Hingabe den Auserwählten und Christus nachgeeifert.“59 „Jesus steigt auf den Berg, um alleine zu beten, aber er erreicht auch die Jünger, die er zwischen den Wogen in Schwierigkeiten sieht; er predigt der Menschenmenge das Wort Gottes und heilt die Kranken […] er lehrt das, was er durch seine Taten zeigt.“60 In seiner Charakterisierung durch eine individuelle Beziehung zu Gott und das aus dieser Beziehung entspringende charismatische Handeln gleicht Robert von Turlande durchaus anderen Protagonisten der ,neuen‘ Religiosität wie etwa Stephan von Obazine, Robert von Arbrissel und Stephan von Muret. Und dennoch existiert ein gewichtiger Unterschied: In Marbods Darstellung steht nie außer Zweifel, daß der göttliche Wille den Protagonisten stets im stabilen Kontext etablierter kirchlicher Institutionen handeln läßt. Durch die Strenge seiner Disziplin, die Anziehungskraft seines Handelns und durch seine Wunder war die Gemeinschaft um Robert stark angewachsen. Weder die Lokalität noch der Lebensstil der ursprünglichen Gemeinschaft waren dem Wachstum noch länger angemessen. Die sequela seines Beispiels, die lange Zeit genügt hatte, reichte nicht mehr, um das Zusammenleben so vieler Menschen zu gewähr57 Giles Constable, „The Interpretation of Mary and Martha“, in: ders., Three studies (Anm. 9), S. 1 – 141. 58 Marbodo di Rennes, Vita beati Roberti (Anm. 15), Liber II, V, 8, S. 48. 59 Ebd. 60 Ebd., VI, 17 – 20, S. 50 – 52.
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leisten. So wurde Robert gezwungen, eine neue Lösung zu finden: Man kam zu dem Entschluss, ein Kloster zu gründen, in dem die neue Gemeinschaft wie die Schafe in Gottes Herde sich unter einer Regel versammeln und in monastischer Disziplin (sub regulari et monastica disciplina) zusammenleben konnte.61 Das Kloster wurde mit Einverständnis des Diözesanbischofs von dem Geld gebaut, das die Gläubigen zur Verfügung stellten. Die Neugründung bekam die Unterstützung des Bischofs und erlangte eine gewisse politische Stabilität durch päpstliche und königliche Privilegien.62 Es handelte sich um einen weiteren Schritt eines Institutionalisierungsprozesses, den Robert – wie auch die vorangegangenen – nicht beabsichtigt hatte und der die Gemeinschaft – so die Sicht Marbods – wieder auf den Weg der monastischen Tradition brachte. Wenn Robert „seinen Seelenfrieden (proprie quietis respectu) der Erlösung derjenigen vorgezogen hätte, die um ihn versammelt waren, so hätte er auch die Erlösung seiner eigenen Seele gefährdet“.63 Mit diesen Worten wird eine tiefgreifende Wandlung gegenüber dem ursprünglich von Robert gewählten propositum zum Ausdruck gebracht. Robert wurde für Marbod zum Exempel für die Sinnsetzungen der neuen religiösen Lebensweisen, an dem er allerdings zugleich veranschaulichen konnte, wie wichtig es war, diese Sinnsetzungen mit der Tradition abzugleichen. Die Vermittlung von Erneuerung und Herkommen ist nach Marbod der göttlichen voluntas anvertraut, welche Robert auf seinen Wegen leitet und ihn zu einem Sprachrohr des Heilsplans macht.64 Die voluntas divina wird so aus der Sicht des Hagiographen zur Hauptdarstellerin der Geschichte. Gott – zur gleichen Zeit Drehbuchautor und Regisseur der Geschichte – macht sich durch das szenische Handeln seiner Darsteller sichtbar und verwirklicht seinen Heilsplan. Robert fungiert als Prototypus, der die Geltung der neuen Formen religiösen Lebens aufzeigt, aber zugleich belegt, dass diese sich durchaus in die Tradition des herkömmlichen Mönchtums einfügen. 61 Ebd., Liber I, XVII, 4, S. 30: ibi scilicet construeretur monasterium, in quo, velut ovili dominico, sub regulari et monastica disciplina quos Deus colligeret unanimiter habitarent. Ad quod construendum viam pandebat fidelium non paucorum devotio, qui certatim in hos usus predia et pecunias ultronei conferebant. 62 Ebd., XVIII, 1 – 2, S. 32. 63 Ebd., XVII, 5, S. 32: […] sciensque veraciter ad sue periculum anime pertinere si tam multorum saluti, proprie quietis respectu deesset […]. 64 Ebd., XVIII, 5, S. 32.
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Die zahlenmäßig kleine Gruppe um Robert von Turlande führte ein kanonisches Leben sub habitu religionis fern von allen weltlichen Dingen, in dem das einzige normative Element das charismatische Vorbild Roberts war. Mit der Veränderung der ursprünglichen Bedingungen war die wachsende Gemeinschaft allerdings gezwungen, sub habitu religionis gemäß einer Mönchsregel zu leben. Die zu Mönchen gewordenen Eremiten waren erneut weltlichen Dynamiken ausgesetzt, denn das päpstliche Privileg, die Gewährung von Immunität seitens des Herrschers und die Annahme von Eigentum bildeten die Voraussetzung für ihre Lebensweise.65 Einer der kritischsten Punkte der Memoria der Gemeinschaft, die Aufgabe des Armutsideals, wird von Marbod in der Gesamtheit des Heilsplans als Gehorsam Roberts gegenüber dem göttlichen Willen gerechtfertigt. So erzählt Marbod an anderer Stelle: Einst hatte Robert den Wunsch gehabt, ein einsames Lebens in Begleitung nur weniger zu führen, und er hatte entschieden, von niemandem Geld oder Besitz anzunehmen. Da er dies aber dank des göttlichen Großmuts empfangen hatte und immer mehr davon erhielt, vollendete er den einmal begonnenen Klosterbau mit den Spenden der Gläubigen, um sich nicht als undankbar gegenüber den himmlischen Wohltaten zu erweisen.66
Auf diese Weise wurden die ursprünglichen Zielsetzungen der Einsamkeit und der Armut abgewandelt und gleichsam in die institutionellen Koordinaten des traditionellen Mönchtums überführt. Die ,institutionelle Wende‘, die Robert in der von Marbod verfassten Vita vollzieht, korrespondiert mit einem Institutionalisierungsschub, den die zweite Generation der von Robert begründeten Gemeinschaft durchlief, und zwar zunächst unter dem Abbatiat Durandos, der für zwei Jahre gleichzeitig das Amt des Bischofs von Clermont sowie das Amt des Abtes von La Chaise-Dieu ausübte, und danach unter dem Abbatiat von Seguin (1078 – 1094), der aufgrund seiner guten Beziehungen zu den politischen Autoritäten und den kirchlichen Institutionen für eine erhebliche Erweiterung der Gemeinschaft und die Arrondierung ihres Besitzes sorgte.67 Damit einher ging allerdings eine immer weiter voranschreitende Entfernung von den ursprünglichen 65 Ebd., 1 – 5, S. 32. 66 Ebd., XVII, 6, S. 32: Optaverat olim vitam cum paucis solitariam decreveratque nichil pecuniarum vel possessionis a quoquam accipere; sed cum et hec adeptus esset et ex divine largitatis affluentia fecundiora succederent, ne supernis beneficiis videretur ingratus, ex fidelium oblationibus, quas vel sponte propria vel ipso adhorante contulissent, ceptum opus prospere consummavit. 67 Gaussin, L’abbaye de la Chaise-Dieu (Anm. 15), S. 128 – 139.
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Idealen der Gemeinschaft. Abt Seguin besaß offenbar ein ausgeprägtes organisatorisches Geschick, das letztlich wohl den Ausschlag dafür gab, dass man in La Chaise-Dieu die vita activa nur mehr in einem sehr eng administrativen Sinne verstand und den Gedanken der Armut und Einsamkeit – die Voraussetzungen für eine neue authentische Praktizierung der vita contemplativa – vernachlässigte. Analog hierzu wurde die Heiligkeit Roberts in ein Konzept der vita activa eingebunden, das primär von der Verwaltung weltlicher Güter gekennzeichnet war. Jene Mönche, die Marbod gebeten hatten, sich der Hagiographie ihres Gründers erneut anzunehmen, gehörten einer späteren Generation an. Es waren also diejenigen, welche nicht mehr in persönlichem Kontakt zu Robert von Turlande hatten leben können. Die von der Gemeinschaft La Chaise-Dieu dem Archidiakon der Kirche von Angers anvertraute Revision des Ursprungsideals könnte also als die bewusste Konstruktion einer Tradition interpretiert werden. Im theoretischen Ansatz Jan Assmanns würde es sich in erster Linie um ein Produkt des ,kulturellen Gedächtnisses‘ der Gemeinschaft von La Chaise-Dieu handeln. Im Falle Roberts werden die Erinnerungen an die Anfänge von Marbod ausgewählt, neu interpretiert und nach Gesichtspunkten eines nunmehr gewandelten institutionellen Kontextes herangezogen. Die im Text fixierte Memoria symbolisiert den Bewusstseinswandel der Gemeinschaft als Ergebnis einer institutionalisierten Selbstdeutung.68 Die Performanz der Memoria, die auf der Inszenierung bedeutsamer Episoden in Roberts Leben beruht, garantiert die Stabilität der Institution, weil sie den Wandel zu legitimieren vermag.69 Dadurch nimmt Robert auf der einen Seite tatsächlich die Funktion eines ,neuen Heiligen‘ an, der durch sein propositum und seine Beispielhaftigkeit der Gemeinschaft, welche sich um ihn gebildet hat, eine besondere Prägung zu geben 68 Über die Konstruktion von memoria als Basiselement der Identitätsstiftung einer Gesellschaft vgl. Aleida Assmann, „Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis. – Zwei Modi der Erinnerung“, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hrsg.), Generation und Gedchtnis. Erinnerungen und kollektive Identitten, Opladen 1995, S. 169 – 185, vgl. auch das Kapitel mit dem selben Titel bei Aleida Assmann, Erinnerungsrume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedchtnisses, München 1999, S. 129 – 145. 69 Vgl. dazu die Einleitung zu einem projet collectif der École française de Rome: Cécile Caby, „La mémoire des origines dans les institutions médiévales. Présentation d’un projet collectif“, in: Mlanges de l’cole franÅaise de Rome, 115/ 2003, S. 133 – 140.
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vermag. Andererseits nahm Marbod – und hinter ihm stand die zweite Generation der Gemeinschaft, die ihn beauftragt hatte – auch solche Passagen und Episoden aus dem Leben Roberts auf, die es erlaubten, ihn dem traditionellen Mönchtum zuzurechnen. Die dabei getroffene Auswahl und anschließende Inszenierung der dicta et facta aus Roberts Leben ermöglichten es, die institutionellen Veränderungen der Gemeinschaft als Ausdruck und Wirken der voluntas divina zu verstehen.
Eine ,monastische‘ Verfassung Der zweite Text, der innerhalb dieses ersten Typus betrachtet werden soll, ist die Vita des Stephan von Obazine († 1159). Wie sich bereits an den Lebensdaten ersehen lässt, gehörte Stephan einer späteren Eremitengeneration als Robert von Turlande an. Seine Vita wurde von einem anonymen Mitbruder (frater) verfasst, der zuerst Oblate in einem Priorat von La Chaise-Dieu gewesen war und dann, nachdem er in die Welt zurückgekehrt war, von Stephan erneut bekehrt wurde. Nach dieser zweiten Bekehrung lebte er auf Wunsch Stephans zwei Jahre in Cîteaux unter dem Abbatiat von Rainard de Bar († 1150). Anschließend ging er nach Obazine, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Wie der Autor in den zwei Prologen berichtet, wurde die Vita in mehreren Etappen verfasst: Eine erste Redaktion bis zur Gründung von Obazine wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit noch zu Lebzeiten Stephans begonnen und dann seit dem Jahre 1159, kurz nach dem Tod Stephans, unter dem Abbatiat von Géraud I. fortgesetzt. Der Tod des Abtes Géraud im Jahre 1164 unterbrach die Abfassung des Textes. Im Prolog des zweiten Buches informiert uns der Autor, dass er die Arbeit an der Vita Stephani Obazinensis erst nach 14 Jahren wieder aufnahm. Alexis Grélois hat kürzlich in einer Studie diese komplizierte Textgeschichte rekonstruiert. Hierauf aufbauend scheint es gerechtfertigt zu behaupten, dass es sich bei der Vita des Stephan von Obazine um einen ,stratifizierten‘ Text handelt, dessen Teile mehrere Redaktionsstufen durchlaufen haben.70 Die vorliegende Fassung des Textes wurde 70 Grélois, „Les origines contre la Réforme“ (Anm. 20), S. 386 – 388. Die Erwähnung Bernhards von Clairvaux und Malachias von Armagh als Heilige im ersten Prolog bezeugt, dass auch dieser Teil der Vita 1190 noch weitergeschrieben wurde – Bernhard und Malachias wurden 1174 bzw. 1190 heiliggesprochen; Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 38 – 41.
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erst 1190 fertiggestellt.71 Aus diesen Problemen der Datierung einzelner Abschnitte folgen notwendigerweise auch Unklarheiten hinsichtlich der Konstruktion der Memoria, die in der Gemeinschaft von Obazine nach deren Übergang in den Zisterzienserorden für die nachkommenden Generationen fixiert werden sollte. Der Zustand des Textes verschleiert seine verschiedenen Abstufungen in der Konstruktion der memoria. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der Verfasser der Vita erst nach der Inkorporation der Gemeinschaft in den Zisterzienserorden nach Obazine kam. Zuvor hatte er – wie schon gesagt – auf Stephans Geheiß zwei Jahre im Kloster Cîteaux verbracht, dort das Noviziat durchlaufen und seine monastische Formung erhalten, weshalb man ihn ohne Frage als Zisterzienser bezeichnen muss.72 Die Aufgabe des Autors ist demnach nicht nur darauf beschränkt, kollektive Erinnerungen zu sammeln und zu speichern (,Speichergedächtnis‘). Stephans Vita kann mit Aleida Assmann zugleich als ,Funktionsgedächtnis‘ interpretiert werden, das heißt als ein „angeeignete[s] Gedächtnis, das [aus] einem Prozess der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstruktion […] der Rahmenbedingung hervorgeht“.73 Es entsteht ein Sinn, der eine bestimmte Vergangenheitskonstruktion ins Leben ruft und Identität stiftet. Es handelt sich um ,fundierende Geschichten‘, in denen die Vergangenheit und die ,mythischen‘ Ursprünge als sinnorientierende Elemente für die Gegenwart dargestellt werden. Diese Form der Heiligenvita lässt sich daher ohne Frage als polyfunktionaler Gedächtnisspeicher ansehen. Der Vitenschreiber zählt zu einer Generation, die Stephan zwar noch kennen gelernt hat, gleichzeitig jedoch unter den Bedingungen einer sich institutionalisierenden Gemeinschaft lebte, in der neue Lebensgewohnheiten erlernt werden mussten. Aufgrund seiner guten Kenntnisse des zisterziensischen Lebens ist der anonyme Verfasser vermutlich einer derjenigen gewesen, die den Identitätswandel der Gemeinschaft von Obazine nicht nur erduldeten, sondern auch aktiv begleiteten; dennoch unterließ er es nicht, die Erfordernisse der Gegenwart mit den Eigenheiten des Ursprungs zu harmonisieren. Er legitimierte damit sowohl die internen Wandlungen als auch die Integrationsbemühungen der Zisterzienser. Man kann zudem vermuten, dass dem Text auch eine nicht unwesentliche Funktion innerhalb des Zisterzienserordens zukam. Mit ihm konnte man der Dominanz der 71 Grélois, „Les origines contre la Réforme“ (Anm. 20), S. 370. 72 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 110 – 112. 73 Assmann, „Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis“ (Anm. 68), S. 137.
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Heiligkeit Bernhards von Clairvaux und ihres großen Einflusses auf die zisterziensische Lebensweise einen weiteren zisterziensischen Heiligen entgegenhalten – nicht zuletzt um die Rolle von Cîteaux gegenüber derjenigen von Clairvaux zu behaupten.74 In der Vita Stephans von Obazine ist die Entscheidung, dem „armen Christus selbst als Armer und Nackter […] beständig nachzufolgen“75, die Konsequenz aus den religiösen Bestrebungen, die schon seit der Zeit seiner pastoralen Tätigkeiten seinen Geist in der „Verachtung des Gegenwärtigen“ und in der „Sehnsucht nach dem Zukünftigen“ erfüllten.76 Wie bei Robert von Turlande – obwohl Marbods Beschreibung im Tonfall gemessener klingt – werden das äußere Erscheinungsbild und die asketischen Verhaltensweisen Stephans als sichtbare Zeichen dieser inneren Haltung veranschaulicht.77 Die Beschreibung greift auf konventionalisierte Darstellungsmuster zurück, um Erwartungen anzusprechen, die man – wie Gert Melville jüngst betont hat – ausnahmslos an solche charismatischen Persönlichkeiten anlegte und die gerade der konkrete Grund für ihre Anziehungskraft auf andere Menschen waren.78
74 Vgl. dazu Elke Goez, „,… erit communis et nobis‘. Verstetigung des Vergänglichen. Zur Perpetuierung des Charismas Bernhards von Clairvaux im Zisterzienserorden“, in: Andenna/Breitenstein/Melville (Hrsg.), Charisma (Anm. 18), S. 173 – 215, bes. S. 202 – 206. 75 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 46: […] pauperem Christum pauper ipse ac nudus […] continuo sequeretur. Ich zitiere hier die Übersetzung von Gert Melville in: Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 91. Zur Problematik der Nachfolge Christi: Matthäus Bernhard, „Nudus nudum Christum sequi“, in: Wissenschaft und Weisheit, 14/1951, S. 148 – 151; Réginald Grégoire, „L’adage ascétique ,nudus nudum Christum sequi‘“, in: Studi storici in onore di Ottorino Bertollini, Bd. 1, Pisa 1972, S. 395 – 409; Giles Constable, „,Nudus Nudum Christum Sequi‘ and Parallel Formulas in the Twelfth Century“, in: Frank Forrester Church/Timothy George (Hrsg.), Continuity and Discontinuity in Church History. Essays Presented to George Huntston Williams on the Occasion of his 65th birthday, Leiden 1979 (Studies in the History of Christian Thought 19), S. 83 – 91; Lachmann, „Der Narr in Christo“ (Anm. 34), S. 379 – 410. 76 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 46: ad despectum presentium et desiderium futurorum. 77 Ebd., S. 44 und S. 58; vgl. oben Anm. 34. 78 Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 91, Anm. 21: „Diese mag man als topisch bezeichnen, aber es sollte nicht übersehen werden, daß damit Verhaltenserwartungen angesprochen sind, die man zwar generell – wenn man will, kann man auch sagen: topisch – an solche Persönlichkeiten anlegte, die aber – falls eingelöst – gerade der konkrete Grund waren, daß sich eine große Jüngerschar angezogen fühlte“. Die Vita berichtet, dass sich Betrüger mit er-
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Im Text lässt sich eine starke Sympathie des Autors zu Person und Verhalten Stephans spüren und in der Tat hatte der Verfasser – anders als im Falle Marbods und seines Protagonisten Robert – ja sein eigenes religiöses Leben Stephan zu verdanken. Stephans Absichten sind in der Vita wie folgt geschildert: Talibus desideriis inflammatus, quotidie abrenunciare seculo, disponebat ut, terrenis curis abjectis, pauperum Christum pauper ipse ac nudus, expedito gressu, continuo sequeretur. 79 Der Autor der Vita interpretiert die Entscheidung als noch immer der Tradition verpflichtet, da Stephan „aus Furcht, waghalsig und ohne Rat zu handeln“ sich an Stephan von Mercœur, zu dieser Zeit Abt von La Chaise-Dieu80, wandte, der ihm sein propositum eröffnete: „Folge durch von göttlicher Eingebung inspiriertes Begehren (desiderium divinitus inspiratum) […] Christi Spuren in glücklichem Laufe, damit Viele durch dein Beispiel zu Gott bekehrt werden.“81 Diese Offenbarung des propositum genügte Stephan jedoch nicht; was ihm fehlte, war ein öffentlicher ritueller Akt, der seine conversio zur vita religiosa manifestierte: Gemeinsam mit einem Gefährten namens Petrus, einem Mann von bewundernswerter Einfachheit (mire simplicitatis virum), versammelte er die Menschen, die ihn bis jetzt begleitet hatten, um Abschied zu nehmen und verteilte das, was er noch hatte, unter den Armen. Die folgende Nacht verbrachte er im Gebet versunken, bevor er die religiosa vestis anzog.82 Stephan war auf der Suche nach einer angemessenen Lebensform, durch die sich eine solch ambitionierte Art der vita religiosa realisieren ließ. Gemeinsam mit der um ihn gescharten Gruppe begann er eine peregrinatio zu verschiedenen religiösen Gemeinschaften, um die beste Lebensform zu finden.83 Nach einer gewissen Zeit stellten die
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folgreicher Verehrung unter dieser gleichsam äußeren ,Maske‘ eines religiösen Zeloten verbergen konnten; Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 53. Ebd., S. 46 – 48. Vgl. Gaussin, L’Abbaye de La Chaise-Dieu (Anm. 15), S. 147 f. Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 46 – 48: ut desiderium tibi divinitus inspiratum […] Christi vestigia, felici cursu insequere, ut tuo exemplo multi convertantur ad Deum. Ebd., S. 48. Ebd. Zum Begriff der peregrinatio im Religiosentum vgl. oben Anm. 39. Die peregrinatio auf der Suche nach der besten Form der vita religiosa stellt hier eine ,topische’ oder idealtypische Beschreibung dar. Der Topos ist ein wichtiges Instrument der Kommunikation in hagiographischen Texten. Das traditionelle Verständnis der Anwendung von Topoi im Rahmen eines literarischen Textes als rein technisches Element mit ästhetisch und stilistisch indifferentem Charakter ist nach Lothar Bornscheuers Studie einem Beschleunigungsprozess untergezogen worden. Bornscheuer versteht die Topik als eine Methode der inventio, als Element, dessen Hermeneutik „die Einbildungskraft im Horizont
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Gefährten allerdings fest, dass es die vollkommene Einrichtung, durch die man Gott vollendet hätte dienen können, in der umliegenden Region nicht gab. Die vom Hagiographen vorgebrachte Begründung ist höchst aufschlussreich: „Der allmächtige Gott wollte nicht, dass sie dem Lehramt von irgend jemandem unterworfen seien, um das, was er mit dem heiligen Mann vorgesehen hatte, zu erfüllen“,84 und so ist es am Ende – wie schon bei Robert von Turlande – die voluntas divina, die den Brüdern den richtigen Weg zeigt. Sie zogen sich in die Waldeinsamkeit zu einem eremitischen Leben zurück. Einige Zeit später reiste eine kleine Gruppe nach Limoges zu Bischof Eustorgius, um von diesem die Erlaubnis zu erbitten, Messen zu lesen und ein Kloster zu bauen. Der Vita zufolge gestand ihnen der Bischof dies zu, forderte aber die Annahme einer bestehenden Norm. Seine vage Anweisung an die Eremiten, „in allem dem von den Vätern überlieferten Brauch“ zu folgen85, verweist auf den Lebensstil der Kanoniker. Im 12. Jahrhundert begann sich auf Seiten der Diözesanbischöfe und der römischen Kurie eine bestimmte Vorstellung von regelgemäßem Leben herauszubilden. So konkretisierte sich allmählich der Anspruch der römischen Kirche, dass die neu entstehenden religiösen Kongregationen festen, nicht nur vom Diözesanbischof, sondern auch von der Amtskirche in Rom anerder gesellschaftlichen Praxis“ erlaubt. Die „[t]opische Gestalt eines Kunstwerks [bedeutet] nicht einen Mangel, sondern eine conditio sine qua non jeder kulturgeschichtlich relevanten Produktivität. Nur mittels seiner Topik stellt sich das einzelne Werk gleichzeitig in einen gesellschaftlichen wie ästhetischen Bedeutungs- und Rezeptionszusammenhang“. Der unter der Verwendung von Topoi verfasste Text erlaubt den Zugriff auf eine Realität, die eigentlich verborgen ist; durch die Anwendung von Topoi spricht der Verfasser einen bestimmten sozio-kulturellen Horizont an, welcher wiederum Substrat kollektiver Erinnerungen und Erfahrungen bestimmter sozialer Gruppen ist; Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/ M. 1976, S. 20 und ders., „Zehn Thesen zur Ambivalenz der Rhetorik und zum Spannungsgefüge des Topos-Begriffs“, in: Heinrich F. Plett (Hrsg.), Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung, München 1977 (Kritische Information 50), S. 23 – 44. 84 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 48: Sed Deus omnipotens noluit eos tunc alicujus magisterio subdi, ut quod de beato viro predestinaverat adimpleret. Ich zitiere hier die deutsche Übersetzung von Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 92. 85 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 54: morem a patribus traditum per omnia sequerentur. Für die wohlwollende, aber pragmatische Einstellung der Bischöfe gegenüber dem Eremitentum vgl. Jean Becquet, „L’érémitisme clérical et laïc dans l’ouest de la France“, in: L’eremitismo in Occidente (Anm. 4), S. 182 – 211, hier bes. S. 196.
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kannten Lebensgewohnheiten folgen sollten.86 In der ersten Zeit wurden die consuetudines der Kanoniker von Stephan und seiner Gemeinschaft nur auf den liturgischen Bereich angewendet; darüberhinaus orientierten sie ihre Lebensführung an der vita eremitica, so wie es ihr propositum war, weil Stephan – abgesehen von den Chorgebeten – den Lebensstil der Kanoniker abschreckend (abhorrens) fand. Er strebte eine strikte Lebensform an, in der Handarbeit und tägliche Beschäftigung ebenso vorgesehen waren wie Gebete, Fasten, Schweigen und Buße.87 Das Begehren, die Welt zu verlassen, um allein Christus nachfolgen zu können, war für die Gemeinschaft entscheidend. Dabei orientierten sich Stephans Gefährten an seiner Art zu leben und machten ihn zur ihrem Vorbild: Er stand allen vor, seine Jünger wurden in seiner Lehre unterwiesen und von seinem Beispiel geformt.88 Die zunehmende Zahl der Religiosen machte es aber nötig, einen neuen Ort zu suchen. Die neue Einsiedelei in Obazine, nahe dem Fluss Corrèze, markierte einen bedeutenden Schritt im Institutionalisierungsprozess: Petrus und Bernhard, die beim Bischof die Genehmigung zur Errichtung eines Klosters eingeholt hatten, werden in der Vita als Befürworter einer kanonikal ausgerichteten religio geschildert; Stephan hingegen als Verfechter einer rein eremitischen Lebensweise.89 Die Darstellung der Vita suggeriert, dass die Gruppe in der Folge in eine interne Krise geriet. 86 Diese Ansprüche sind Ergebnisse eines komplexen Institutionalisierungsprozesses auch der kirchlichen Strukturen im Rahmen der vita religiosa, deren Kulminationspunkt beim 4. Laterankonzil (1215) erreicht war und im Kanon 13 schriftlich niedergelegt wurde. Vgl. dazu Michele Maccarrone, „Le costituzioni del IV concilio lateranense sui religiosi“, in: ders., Nuovi studi su Innocenzo III, hrsg. von Roberto Lambertini, Roma 1995 (Nuovi studi storici 25), S. 1 – 45, und auch Gert Melville, „Ordensstatuten und allgemeines Kirchenrecht. Eine Skizze zum 12./13. Jahrhundert“, in: Peter Landau/Jörg Müller (Hrsg.), Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law (Munich, 13 – 18 july 1992), Città del Vaticano 1996 (Monumenta Iuris Canonici, Series C: Subsidia 10), S. 691 – 712. 87 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 54. 88 Ebd., S. 58, vgl. Anm. 34. Zum charismatischen Handeln Stephans vgl. Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 87 – 90. 89 Vgl. auch Grélois, „Les origines contre la Réforme“ (Anm. 20), S. 372 – 374. Die spätere Trennung des Petrus von der Eremitengruppe kann als ein weiterer Hinweis auf die Existenz verschiedener Auffassungen über die Lebensweise innerhalb der Gemeinschaft angesehen werden. Allerdings wurden nach dem Tod von Petrus die signa und prodigia im Orden wieder anerkannt – ein Beleg, dass seine Heiligkeit wieder angenommen wurde; vgl. Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 108 – 110.
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Weder Stephan noch Petrus war bereit, die Führung der Gruppe zu übernehmen – der Autor spricht von einem Wettstreit um das Maß der Demut, bei dem keiner den anderen übertreffen wollte. Die Intervention Geoffroys de Lèves († 1149) 90, Bischof von Chartres und damals päpstlicher Legat in Frankreich, zwang Stephan zur Übernahme der Führungsrolle, wodurch die zukünftig eremitische Ausrichtung der Gemeinschaft determiniert wurde. Die forma vivendi orientierte sich am Beispiel Stephans: Die Anhängerschaft befolgte nicht die Regeln anderer Orden, sondern die Gebote des Meisters (instituta magistri pro lege erant), die nichts anderes als Demut, Gehorsam, Armut, Disziplin und vor allem Nächstenliebe beinhalteten; dies – so die Vita – genügte den Religiosen. Solange die Gruppe der Jünger überschaubar war und solange keine Frauen zur Gemeinschaft gehörten91, war es möglich, eine solche Lebensweise einzig durch Imitation des Gründers zu erlernen. An dieser Stelle bricht der Biograph seine Arbeit an der Vita vorerst ab, um sie, wie im Prolog erwähnt, etwa 14 Jahre später wieder aufzunehmen. Abt Géraud, der ihm den Auftrag gegeben hatte, war inzwischen gestorben und innerhalb der Gemeinschaft hatte sich – wie 90 Zur Legation in Frankreich vgl. Wilhelm Janssen, Die ppstlichen Legaten in Frankreich vom Schisma Anaklets II. bis zum Tode Coelestins III. (1130 – 1198), Köln [u.a.] 1961, S. 18 – 30. 91 Man kann an dieser Stelle vielleicht darauf hinweisen, dass die spontane Entstehung von Gemeinschaften, die auch mulieres religiosae aufnahmen, von Seiten der römischen Kurie im Laufe des 12. Jahrhunderts immer mehr als suspekt wahrgenommen wurde. Selbst der Prämonstratenserorden hatte im Generalkapitel des Jahres 1137 (vgl. Micheline De Fontette, Les religieuses l’ ge classique du droit canon: recherches sur les structures juridiques des branches fminines des ordres, Paris 1967, S. 18; John F. Hinnebusch, The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A critical Edition, Fribourg 1972 [Spicilegium Friburgense 17], S. 134 f.) die Annahme von sorores mit der Begründung untersagt, dass es „tempora periculosa wären, in denen die Kirche in große Schwierigkeiten geraten war“ (ecclesia supra modum gravatur). Diese Konstellation war häufig anzutreffen und konnte von der Kirche nicht ignoriert werden. Der Kanon 26 des 2. Laterankonzils im Jahre 1139 (siehe Decrees of the Ecumenical Councils, Bd. 1: Nicea I to Lateran V, ed. by Norman P. Tanner S. J., London [u.a.] 1990, can. 26, S. 203) proklamierte die Abschaffung der Gemeinschaften von mulieres, die ohne eine feste Regel, d. h. neque secundum regulam beati Benedicti, neque Basilii aut Augustini, lebten. Die Inkorporation in einen Orden, dessen Struktur eine feste Position in den kirchlichen Einrichtungen besaß, war für einige kleine Gemeinschaften die einzige Lösung, um sich eine gewisse Überlebenschance zu sichern. Zum Problem der Frauenklöster in Obazine vgl. Barrière, L’Abbaye (Anm. 20), S. 70 f.
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der Anonymus freimütig bekennt – allgemein Unzufriedenheit über die Vita entwickelt: Viele Leser hätten den Stil, die Fülle der Fehler und der unnützen Details kritisiert. Versteht man den Text als Produktion eines kulturellen Gedächtnisses, fällt indes auf, dass die Unzufriedenheit der Kritiker mit der Vita weder am Stil noch an der Qualität der Arbeit liegen konnte, sondern an der Wahrnehmung des Autors durch die Leser und an der von ihm vorgenommenen geschichtlichen Rekonstruktion, die nur eine gewisse Auswahl der Erinnerungen aus dem Bestand der kollektiven Memoria übernommen hatte. Die dazwischen liegende Zeit war für die neue religio entscheidend: es ist ein Wandel der Wahrnehmung und der Bedeutung der Heiligkeit Stephans festzustellen. Innerhalb der kollektiven Memoria fungiert der Text als ,Gedächtnisspeicher‘ ausgewählter Erinnerungen der Gruppe, die durch eine gezielte Selektion ins Leben gerufen und durch die Verschriftlichung fixiert werden. Die Erzählung erfüllt eine doppelte kommunikative Funktion: Sie reflektiert die Selbstwahrnehmung und legitimiert gleichzeitig bestimmte institutionelle Entwicklungsprozesse innerhalb der Gemeinschaft. Nach außen (und innen) hingegen vermittelt der Text die Identität der religio. In diesem Sinne waren die Beschuldigungen gegen die Auswahl der Informationen durch den Autor ein Signal, dass die Vita nicht die Zustimmung der gesamten Gemeinschaft fand. Der Verfasser rechtfertigte sich hier de falsitate calumnia. Er betonte, dass die von ihm gesammelten Nachrichten vertrauenswürdig seien; es handele sich um Episoden, deren Zeuge er selbst gewesen sei oder die er sich von Augenzeugen habe erzählen lassen. Die Veränderungen, das Hinzufügen und das Weglassen von Begebenheiten im Text seien der Freiheit des Autors (licentia scribendi) zuzuschreiben, nicht der Falschheit der Erzählung. Ein perfekter Verfasser sei nicht, wer de verbo ad verbum referiert, sondern wer den Sinn der Ereignisse (sensum ex sensu) wiedergibt.92 Die Darstellung Stephans im ersten Buch ist von seinem charismatischen Handeln geprägt, das genügend normative Kraft entfaltete, solange die Gemeinschaft noch keine kritische Größe erlangt hatte. Das zweite Buch betont demgegenüber die Notwendigkeit einer normati92 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 92 – 94. Zu einer spezifischen Funktion der Texte vgl. Gerd Althoff, „,Causa scribendi‘ und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde und andere Beispiele“, in: Michael Borgolte/Herrad Spilling (Hrsg.), Litterae medii aevi. Festschrift fr Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 117 – 133.
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ven Entwicklung der Gemeinschaft: „Indessen waren die Brüder in Obazine keinerlei geschriebenen Gesetzen unterworfen, vielmehr hatten sie die Anweisungen ihres verehrungswürdigen Meisters als Gesetz, die so strikt und hart waren, dass die Rauheit einer beliebigen Regel ihnen nichts an disziplinärer Strenge hinzufügen könnte.“ Obwohl Stephan wie ein liebender und geliebter Vater in aller Demut für die Brüder sorgte und das tägliche Kapitel als Kontrollinstrument vorgesehen war, gelangt der Anonymus zu der Feststellung: Weil aber die Tage des Menschen kurz sind [Ijob 14,5] und menschliche Belehrung nur so lange von Wirkung ist, wie der Belehrende lebt und gegenwärtig ist, beschlossen sie, das Bekenntnis einer jener Ordnungen, die in der Kirche autorisiert sind, anzunehmen, auf dass auch nach dem Ende des Lehrmeisters die Autorität des geschriebenen Gesetzes ihnen als eine nie zu Ende gehende bleibe.93
Exemplarisch wird diese charismatische Autorität Stephans vom Verfasser seiner Vita in der Sterbeszene verdeutlicht: Die angesichts des bevorstehenden Todes ihres Meisters verzweifelten Gefährten fragen: Warum verlässt du uns, Vater? Oder vielmehr, wen lässt du uns Verlassenen zurück? Unsere Armut reichte uns hin, um es als Reichtum zu 93 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 70: Cumque nulla alicujus ordinis lex posita haberetur, instituta magistri pro lege erant que nihil aliud quam humilitatem, obedientiam, paupertatem ac disciplinam et super hec, caritatem continuam edocebant. Hec erat tunc beati viri vera sanaque doctrina, que privatim et publice sibi ad herentibus ingerebat. Hec lex tunc promulgabatur et pharisa ce traditiones non curabantur. […] ,Quia vero breves dies hominis sunt‘ et tamdiu humana magisteria vigent quandiu preceptor vixerit aut presens fuerit, placuit ut alicujus ordinis eorum qui in ecclesia auctorisati sunt professionem assumerent, ut, deficientibus magistris, scripte legis auctoritas eis indeficiens permaneret. Zitiert nach der Übersetzung von Gert Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 94 – 95. Vgl. zu einer ähnlichen Problemstellung Franz J. Felten, „Herrschaft des Abtes“, in: Friedrich Prinz (Hrsg.), Herrschaft und Kirche. Beitrge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, Stuttgart 1988 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33), S. 147 – 296, hier bes. S. 256 f. Zum Übergang von persönlichem charismatischen Handeln zur schriftlichen Fixierung in eine Norm siehe Gert Melville, „Zur Funktion der Schriftlichkeit im institutionellen Gefüge mittelalterlicher Orden“, in: Frhmittelalterliche Studien, 25/1991, S. 391 – 417; Klaus Schreiner, „Verschriftlichung als Faktor monastischer Reform. Funktionen von Schriftlichkeit im Ordenswesen des hohen und späten Mittelalters“, in: Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 37 – 75; Caby, „,Finis eremitarum‘?“ (Anm. 13), S. 51 – 64.
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ermessen, dich als unseren Hirten und Lenker unserer Seelen zu sehen. Und was werden wir nach dir tun oder zu wem werden wir uns flüchten in unserer Drangsal? 94
Die gewiss konventionalisierte Darstellung dieser Szene erhält ihre Bedeutung von der Antwort Stephans von Obazine. Nachdem er seine Jünger so gut wie möglich getröstet hatte, gab er ihnen als letzte Weisung auf, „neben der Pflege von Gehorsam, Demut und Armut strikt die Statuten derjenigen heiligen Ordnung zu befolgen, die sie nunmehr angenommen hätten“.95 Es handelt sich bei diesen wenigen Worten um eine Rekapitulation seines Lebens und eine Offenbarung des eigenen propositum, dessen Perpetuierung Stephan in einer formellen, transpersonal geltenden Ordnung verankert wissen wollte. Eine derartige Darstellung entsprach dabei dem Bestreben des Papsttums. Das wachsende Bemühen der römischen Kirche, die neuen Formen der vita religiosa institutionell zu integrieren, schien auch im Fall der Gemeinschaft von Obazine Wirkung zu entfalten. Die Forderung nach der Dauerhaftigkeit von Normen musste die Annahme einer von der Kirche autorisierten Ordnung zur Folge haben. Offen war jedoch die Frage, ob ein kanonikales oder ein monastisches Lebensmodell angenommen werden sollte. Noch einmal taucht hier in der Vita die Stellung der Äbte von La Chaise-Dieu auf, zu denen Stephan in den entscheidenden Momenten seines Lebens gegangen war, um sich beraten zu lassen, welche Entscheidung in Fragen der vita religiosa zu treffen wäre. Auf Empfehlung von Aimeric, Bischof von Clermont, der in seiner früheren Zeit auch Abt von La Chaise-Dieu gewesen war96, wandte man sich der monastischen Lebensform zu.97 1142 wurde Ste94 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 196: Cur nos pater deseris? Aut cui nos desolatos relinquis? Sufficiebat nobis paupertas nostra, ut divitias computaremus quod te videremus pastorem et gubernatorem animarum nostrarum. Et nunc post te quid faciemus vel ad quem in tribulatione nostra confugiemus? Ich zitiere die Übersetzung von Gert Melville in: Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 99. 95 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 196: Porro ipse in quantum poterat eos consolabatur. […] Cumque illum rogarent ut fratribus Obazine quos orbatos utique relinquebat ultima saltim mandata dirigeret, ipse nihil aliud eis precipiebat nisi ut sancti ordinis quem susceperant statuta firmiter custodirent […]. Vgl. Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 100. 96 Aimeric, Bischof von Clermont (1111 – 1150), war als Abt von La Chaise-Dieu der Vorgänger von Stephan von Mercœur gewesen; vgl. Gaussin, L’Abbaye de La Chaise-Dieu (Anm. 15), S. 145 – 147. 97 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 96: Cumque diu de his hesitatum fuisset, dum quidam monachorum, quidam canonicorum regulam magis amplecterentur, tandem in-
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phan monachus und von Bischof Géraud zum Abt geweiht; in derselben Zeremonie wurden die Kleriker unter den fratres ebenfalls monachi. 98 Stephan wusste um seine Verantwortung für die Zukunft seiner religio, da die „Tage des Menschen kurz sind“.99 Auf der Suche nach der besten und sichersten institutionellen Lösung, mit der er seinen Orden in den Rahmen der kirchlichen Ordnung einbringen konnte, versuchte er, seine Gemeinschaft zunächst dem Kartäuserorden anzuschließen, was von diesem jedoch abgelehnt wurde.100 Stephan begab sich daraufhin 1147 zum Generalkapitel der Zisterzienser, auf dem auch Papst Eugen III. (1145 – 1153) weilte, der vor Antritt seines Pontifikats selbst Zisterzienserabt gewesen war. Auf der Äbteversammlung, so berichtet der Verfasser der Vita, bat Stephan mit Unterstützung des Papstes um Aufnahme in illius ordinis societas. 101 In der Schilderung dieser Episode werden Papst Eugen III. und der damalige Abt von Cîteaux, Rainald de Bar, als die eigentlich treibenden Kräfte hinter der anschließenden Inkorporation von Obazine in den Zisterzienserorden und direkten filialen Unterstellung unter Cîteaux beschrieben:102 Papst Eugen, „der
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spirante Deo et sapientum interveniente consilio, precipue domni Aimerici, Avernorum episcopi, qui illis familiarissimus erat, omnes in monachorum regulam assensum dederunt. Vgl. dazu Barrière, L’Abbaye (Anm. 20), S. 63 – 69. Die erste Einführung der monastischen Disziplin wurde vom benachbarten Kloster Dalon aus durchgeführt. Das von Gérard de Sales um 1114 gegründete Kloster Dalon war zunächst eremitisch eingerichtet, nahm jedoch nach dem Tod Gérards die Benediktsregel an und strebte danach, diese nach Art der Zisterzienser wörtlich zu befolgen. Vgl. Barrière, L’Abbaye (Anm. 20), S. 63 – 66; Melville, „Stephan von Obazine“ (Anm. 20), S. 97 – 98. In Obazine, berichtet der Verfasser der Stephansvita, sollten die Eremiten nun Mönche werden, „obgleich sie in der himmlischen Miliz Veteranen waren, so zeigten sie sich doch bislang ungebildet im monastischen Streben; sie stellten unerfahrene Mönche dar, die bereits in der Frömmigkeit perfekt waren.“ (Vie de saint tienne [Anm. 26], S. 106: Interea fratres Obazine monachi ex eremitis effecti, novis legibus novisque institutionibus quotidie informabantur et quamquam essent in celesti militia veterani, monasticis tamen studiis adhuc videbantur indocti erantque rudes monachi qui iam fuerant in religione perfecti). Vgl. oben Anm. 93. Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 112; siehe zu den folgenden Vorgängen in Ausführlichkeit Barrière, L’Abbaye (Anm. 20), S. 69 – 76. Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 110. Die religio von Obazine war übrigens nicht die einzige Gemeinschaft, von der auf dem Kapitel des Jahres 1147 die Rede war: Auf Empfehlung des Papstes wurde auf dem gleichen Kapitel auch über die Aufnahme zweier weiterer Gemeinschaften verhandelt: die des Vitalis von Savigny und die des Gilbert von Sempringham (zu letzterer vgl. The Book of St. Gilbert, ed. by Raymonde
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Vater von allen, übergab an Rainald den heiligen Mann (Stephan) wie einen Sohn dem Vater“ (ut patri filium ipse pater omnium commendavit), damit dieser ihn zum Generalkapitel bringe und er dort in den Orden aufgenommen (sociari) werden konnte. In der Vita wird betont, dass der Abt von Cîteaux Stephan freudig und dankbar aus den Händen des Papstes empfangen habe und er ab universi concorditer abbatibus in societatem ordinis receptus et domui cisterciensi specialiter assignatus [est]. Der Vitenverfasser bemerkt darüber hinaus, dass vor allem zwei Argumente das Generalkapitel überzeugt hätten: Stephans Heiligkeit und die Willensbekundung des Papstes.103 In der Vita lassen sich in diesem Zusammenhang auch Hinweise auf eine Kontroverse finden, die bei den Zisterziensern gerade zur Mitte des 12. Jahrhunderts geführt wurde, und die Fragen der uniformitas zum Gegenstand hatte.104 In Generalkapitelsbeschlüssen und Statuten wurde auf das Verständnis und die Observanz der Regel sowie die Befolgung einer einheitlichen Lebensweise und gleicher liturgischer Gewohnheiten großer Wert gelegt.105 Für Foreville/Gillian Keir, Oxford 1987, S. 40 – 42). Die Kongregation von Savigny erhielt wie diejenige von Obazine die Erlaubnis, zisterziensisch zu werden; der Wunsch der Mönche von Sempringham hingegen wurde abgelehnt, weil sie, so das Kapitel, einer anderen religio angehörten und überdies auch Frauen zu ihrem Orden gehören würden. Über die Rolle Eugens III. bei der Inkorporation von Savigny berichten Robert von Torigny: Hic [Serlo] quia pro velle suo ei non obtemperabant monasteria sibi subdita, auctoritate Eugenii Romani pontificis, subdidit se et omnia sua Cisterciensi ordini [Robertus de Monte (sive de Torineio), Tractatus de immutatione ordinis monachorum (PL 202,1312)] und Peregrino von Vendôme: Impetrata licentia et auctoritate summi pontificis [Serlo] suum monasterium cum caeteris omnibus ad illud pertinentibus ordini Cisterciensi contradidit et subjecit in manu Sancti Bernardi abbatis Clarae Vallis (Peregrinus abbas monasterii Beate Marie de Fontanis Albis, Historia praelatorum et possessionum ecclesie Beate Marie de Fontanis Albis, in: Recueil des historiens des Gaules et de la France, XIV, Paris 1877, S. 496B). Vgl. auch Swietek, „The role of Bernard of Clairvaux“ (Anm. 21), S. 299 – 301; Deneen/Swietek, „The roman curia“ (Anm. 21), S. 323 – 355; neuerdings Christopher Holdsworth, „The Affiliation of Savigny“, in: Marsha L. Dutton/Daniel M. La Corte/Paul Lockey (Hrsg.), Truth as Gift. Studies in Medieval Cistercian History in Honor of John R. Sommerfeldt, Kalamazoo 2004 (Cistercian Studies Series 204), S. 43 – 88. 103 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 112. 104 Goez, „, … erit communis et nobis‘“ (Anm. 74), S. 202 – 206. 105 Carta Caritatis prior, in: Narrative and legislative texts from early Cteaux, ed. by Chrysogonus Waddell, Abbaye de Cîteaux 1999 (Cîteaux. Commentarii cistercienses. Studia et documenta 9), S. 276, rr. 3 – 7: Ut autem inter abbatias unitas indissolubilis perpetuo perseveret stabilitum est primo quidem ut ab omnibus Regula beati Benedicti uno modo intelligatur, uno modo teneatur. Dehinc ut iidem libri, quantum dumtaxat ad Divinum petinet Officium, idem victus, idem vestitus, idem denique per
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Obazine ist der Prozess, in dem die zisterziensischen Gewohnheiten übernommen wurden, in der Vita Stephans gut dokumentiert: fünf Zisterzienser – Chormönche und Laien – seien nach Obazine gesandt worden, um dort die neue Lebensordnung zu lehren (ad docendum ordinem).106 Die liturgischen Bücher, die man bei einem vorangegangenen, von Stephan von Obazine selbst initiierten Reformversuch durch das nach zisterziensischen Gebräuchen lebende Kloster Dalon mühsam kopiert hatte, mussten an vielen Stellen korrigiert, in manchen Fällen radiert oder gar komplett neu geschrieben werden.107 Der Grund für diese Differenzen lag möglichweise in den zwischenzeitlich von Bernhard von Clairvaux begonnenen Reformen, die nicht überall im Zisterzienserorden akzeptiert worden waren.108 In der Vita Stephani Obazinensis wird Bernhard nie explizit erwähnt, und doch können seine Einflüsse festgestellt werden. Der Vitentext besitzt deshalb gleichsam eine doppelte Funktion: einerseits als Versuch, in Obazine eine lokale omnia mores atque consuetudines inveniantur […]. Vgl. noch ebd., S. 276, rr. 1 – 7: Ut idem libri ecclesiastici et consuetudines sint omnibus. III. Et quia omnes monachos ipsorum ad nos venientes in claustro nostro recipimus, et ipsi similiter nostros in claustris suis, ideo oportunum nobis videtur, et hoc etiam volumus, ut mores et cantum et omnes libros ad horas diurnas et nocturnas et ad missas necessarios, secundum formam morum et librorum novi monasterii possideant, quatinus in actibus notris nulla sit discordia, s e d u n a c a r i t a t e , u n a r e g u l a , s i m i l i b u s q u e vivamus moribus. Vgl. Florent Cygler, Das Generalkapitel im hohen Mittelalter: Cisterzienser, Prmonstratenser, Kartuser und Cluniazenser, Münster 2002 (Vita regularis 12), S. 31 – 34. 106 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 114: Isti quidem magistri, non ut priores inculti et asperi erant, sed blandi, suaves atque domestici et ad docendum ordinem idonei atque discreti. Die subtile Kritik an Dalon, dessen offizielle Integration in den Zisterzienserorden erst 1162 vollzogen wurde, wurde vom Verfasser mit Absicht eingefügt, damit das Kloster Obazine zurückfordern konnte; Grélois, „Les origines contre la réforme“ (Anm. 20), S. 377. 107 Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 114: Illud certe molestissimum videbatur, quod libros quos secundum ordinem monachorum nuper multo labore confecerunt, deponere cogebantur et ad formam cisterciensem revocare. Itaque alios ex ipsis a fundamentis incipiebant, alios radebant et denuo rescribebant, alios ex integro dimittebant, alios, paucis immutatis, sibi iterum retinebat. 108 Ebd.: Sed cum et ipsi primitus per Dalonenses a Cistercio fuissent delati, mirum videtur quod tam discordes inter se tamque dissimiles esse potuerint. Sed sciendum quod libri quibus primo Cistercienses in divinis officiis usi sunt, valde corrupti ac vitiosi fuerunt et usque ad tempora sancti Bernardi sic permanserunt. Tunc enim abbatum communi decreto ab eodem sancto abbate ejusque cantoribus sunt correcti et emendati et sicut modo habentur dispositi. Solche Widerstände gegen die liturgischen Reformideen Bernhards zeigen sich auch dort, wo Stephan zum Beispiel den Fleischdispens für Kranke, den er erst schweigend zu akzeptieren scheint, dann doch als Neuerung ablehnt; Vie de saint tienne (Anm. 26), S. 116.
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Memoria zu konstruieren, andererseits als Bemühen von Seiten des Mutterhauses Cîteaux, neue Heilige zu finden, die als Gegenpole zur schier übermächtigen Heiligkeit eines Bernhard von Clairvaux etabliert werden konnten, um mit ihnen die Rolle von Cîteaux gegenüber derjenigen von Clairvaux zu stärken.109 Stephans Andenken bot somit die Möglichkeit für Obazine, eine eigene Identität innerhalb der neuen Gemeinschaft zu profilieren, ohne sich dadurch in Opposition zur kollektiven Memoria des Ordens zu begeben. Allerdings war die Heiligkeit Stephans von Obazine wohl zu originell und zu atypisch, als dass man ihn konfliktfrei als „Heiligen der Abtei Cîteaux“ etablieren konnte.110
II. Das ,Interne Gedächtnis‘ Als ein Beispiel für jene Texte, die eingangs mit der Konstruktion eines ,internen Gedächtnisses‘ in Verbindung gebracht wurden, soll im folgenden eine Gruppe von hagiographischen Werken über den Stifter der religio von Grandmont, Stephan von Muret, vorgestellt werden.111 Auch er ist ein Vertreter der eremitischen Strömungen des ausgehenden 11. und des beginnenden 12. Jahrhunderts. Stephan, ein aus der Auvergne stammender Kleriker, hatte um 1076 in der Waldeinsamkeit von Muret im Limousin eine Eremitengemeinschaft ins Leben gerufen, um mit ihr in der radikalen Nachfolge des Evangeliums zu leben.112 Bis zu seinem Tod (ca. 1124/25) lebten die Jünger gemäß dem Vorbild Stephans. Die Quellen über die Geschichte der religio und die wichtigsten Informa109 Dieselbe Bemerkung in: Goez, “, … erit communis et nobis‘“ (Anm. 74), S. 202 – 206; Grélois, „Les origines contre la riforme“ (Anm. 20), S. 387 – 388. 110 Im Jahre 1191 wurde Petrus II. von Tarentaise als Konsensfigur heiliggesprochen. Er hatte seine Profess im Kloster Bonnevaux, einem Tochterkloster von Cîteaux, abgelegt und war mit Bernhard befreundet – die perfekte Konstellation für einen Ausgleich innerhalb des Ordens. Vgl. Grélois, „Les origines contre la riforme“ (Anm. 20), S. 387; René Locatelli, „Un modale d’évêque au XIIe siècle: Pierre II de Tarentaise“, in: Papaut, Monachisme et Thories politiques. tudes d’histoire mdivale offerte Marcel Pacaut, Bd. 2, Lyon 1994, S. 717 – 736. 111 Vgl. Anm. 19. 112 Bei Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 13, S. 173 heißt es über Stephan: Manducandi, ieiunandi, dormiendi ac vigilandi tuam relinques voluntatem, multarumque rerum aliarum; et hoc quod in saeculo diligis continget tibi odio habere.
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tionen über Stephans Leben sind zwar reich überliefert, aber aufgrund der komplexen Entstehungsgeschichte zeitlich nur schwer einzuordnen. Stephans Biographie kann deshalb nur in Umrissen skizziert werden; die Darstellung der Episoden in den verschiedenen von der religio produzierten Texten wiederholen sich häufig, werden modifiziert und widersprechen sich mitunter. Im folgenden sollen diese Texte daher nur im Hinblick auf die Konstruktion eines ,internen‘ Gedächtnisses – das sich erst allmählich herausbildete – sowie im Hinblick darauf untersucht werden, wie sich dieses ,interne‘ Gedächtnis aufgrund der Spannungen veränderte, die den institutionellen Wandel der religio von Grandmont begleiteten. Hugo Lacerta († 1157), einer der frühen Gefährten Stephans, betrachtete am Ende seines Lebens die nova nemora fratresque novitios als die größte Gefahr für die religio, wie der Autor seiner Vita berichtet.113 Zu seinen Lebzeiten hatte Stephan von Muret, im Gegensatz zu Robert von Turlande und Stephan von Obazine, keine Entscheidung darüber getroffen, ob und wie seine Gemeinschaft in die kirchlichen Strukturen zu integrieren sei. Die zunehmende Zahl der cellae aber, so wurden die Einsiedeleien genannt, stellte nicht nur ein Problem für die interne gemeinschaftliche Organisation, sondern auch für das Verhältnis zur Amtskirche dar. Bereits kurze Zeit nach dem Tod Stephans, während der Amtszeit des zweiten Priors Petrus von Limoges (1124 – 1137), wurde die Eremitengruppe von Muret nach Grandmont umgesiedelt, dem für den späteren Orden namensgebenden Ort.114 Der Ortswechsel könnte ein Hinweis darauf sein, dass innerhalb der Gemeinschaft einige Kontroversen um Stephans Vermächtnis und die Zukunft der sancta societas entbrannt waren. Zudem verließ Hugo Lacerta die Gruppe, um ein neues Eremitorium in Plania (La Plaine) im Périgord aufzubauen115, was wohl ebenfalls als Indiz für innerhalb der Gemeinschaft entstandenen Spannungen gedeutet werden kann.116 Die Spaltung der ursprünglichen Gemeinschaft kann auf die Entstehung zweier verschiedener Traditionen zurückgeführt werden: Einerseits eine Memoria der ersten Gefährten um Hugo Lacerta, die sich am konkreten Handeln und 113 Ebd., 51, S. 206. 114 Becquet, tudes grandmontaines (Anm. 45), S. 91 – 118, hier bes. S. 92 – 93. 115 Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 30, S. 185: […] post transitum domni Muretensis summi et memorabilis viri, de cuius vita atque doctrina, magna ut dictum est apud nos habentur volumina, succedente beatae memoriae Petro Lemovicense, domnus Hugo, opitulante Deo, Planiam dirigitur […]. 116 Becquet, tudes grandmontaines (Anm. 19), S. 197.
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den consilia Stephans orientierten und gegen eine Vergrößerung der religio waren; andererseits die Memoria der Gemeinschaft, die mit dem Leichnam Stephans nach Grandmont zog, sich aber immer mehr von seinem Beispiel entfernte und versuchte, sich an die kirchlichen Traditionen anzupassen.117 Angesichts der Expansion des Verbandes waren allgemein gehaltene spirituelle Leitideen, wie sie von der Gruppe um Hugo befolgt wurden, nicht mehr ausreichend. Es wuchs die Notwendigkeit, neben konkreten Verhaltensnormen, die den klösterlichen Alltag auch künftig einheitlich und bis ins Detail präzise regelten, verbindliche organisatorische Strukturen zu schaffen. Der aus diesem Bedürfnis heraus entstandene normative Text, der als regula bezeichnet wird, wird dem ersten Organisator der religio, Stephan von Liciac (1139 – 1163), zugeschrieben, von dem es in den Epigrammata priorum Grandimontensis heißt: Stephanus successit, uir quidem magnificus / Cuius uultu expavescit etiam rex Anglicus / Ipse regulam confecit et constrixit ordinem. 118 Bei diesem Text handelt es sich um eine Regel, die den Fortbestand der religio gewährleisten sollte. Diese sogenannte Regula venerabilis viri Stephani wurde nachfolgend von Papst Urban III. (1185 – 1187) bestätigt – ein bis dahin unübliches Verfahren.119 Die Basis der erstgenannten Memoria der Gruppe um Hugo Lacerta war das ,kulturelle Gedächtnis‘ der unmittelbar nachfolgenden Generation seiner Gefährten, die bei ihm blieben und in ihm den authentischen Jünger Stephans sahen. Diese Tradition, deren Fundament lediglich mündliche Über-
117 Indiz für eine Entfernung der religio von Stephan ist die totale Vergessenheit, in die seine signa et prodigia und seine Reliquien innerhalb der Gemeinschaft gerieten. Diese signa und prodigia wurden als Gefahr wahrgenommen. Unter Prior Pierre Bernard setzten der Reliquienkult Stephans und die Anerkennung seiner Wunder zu derselben Zeit wieder ein, in der die Gebeine Stephans vom Kloster in die Kirche von Grandmont transloziert wurden. Vgl. dazu Andenna, „Dall’esempio alla santità“ (Anm. 19), S. 211 – 216; Pierre André Sigal, „Les miracles de saint Étienne de Muret († 1124) au XIIe siècle“, in: L’ordre de Grandmont (Anm. 19), S. 43 – 50, hier bes. S. 47 f. 118 Epigrammata, in: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 239. Siehe auch Hutchison, The Hermit Monks (Anm. 19), S. 55 – 57. Zu Verbindungen des Ordens mit dem angevinischen Königshaus, vgl. Elizabeth M. Hallam, „Henry II, Richard I and the Order of Grandmont“, in: Journal of Medieval History, 1/ 1975, S. 165 – 186. 119 Jean Becquet, „Le Bullaire de l’Ordre de Grandmont“, in: Revue Mabillon, 46/ 1956, S. 156 – 158, Urk. 22 – 25; vgl. auch Andenna, „Dall’esempio alla santità“ (Anm. 19), S. 187 f. bei Anm. 36.
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lieferungen und einige Texte der doctrina waren120, wurde später wieder nach Grandmont übertragen, wo Guillaume Dandina von Saint-Savin seine Vita beati Hugonis verfasste.121 Das Anliegen dieses Textes könnte die Zusammenführung beider Gruppierungen gewesen sein: derjenigen, die sich mit Hugo an der authentischen doctrina orientierte, und derjenigen, welche die Expansion und die notwendige Organisation der neuen congregatio in Grandmont vollzogen hatte. Einige Jahre zuvor hatte der Prozess der Anerkennung der religio Grandmonts von Seiten der Amtskirche begonnen. Spätestens 1159 hatten die fratres de Grandimonte von der römischen Kirche in der Person des Papstes Hadrian IV. (1154 – 1159) die Approbation ihrer religio et conversatio und, mit einigen Korrekturen, auch die Bestätigung ihrer institutiones erhalten, nicht aber der sogenannten regula.122 Im Fokus der Vita beati Hugonis, die im Auftrag des fünften Priors Pierre Bernard (1163 – 1170), eines der Gefährten Hugos123, verfasst worden war, steht nicht nur Hugo, sondern auch Stephan von Muret, da die Vita als zentralen Teil eine hagiographische Darstellung über ihn und sein Leben enthält. Die im Text beschriebenen Ursprünge der Gemeinschaft offenbaren dabei eher eine Hinwendung Stephans zum eremitischen Leben. Um ihn hatten sich Jünger gesammelt, die seine Predigten und seine doctrina hören wollten und ihn als magister und Vater ansahen. Die radikale Form des religiösen Lebens Stephans und die von ihm bevorzugte Art des Lehrens im Verhältnis von magister und discipulus erinnert an die Formen des frühmittelalterlichen Eremitentums. Im Unterschied zu diesen sollen die neuen Eremiten aber die vita activa in der Welt „als Notwendigkeit und Berufung“ ansehen.124 Stephan von 120 Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 29 – 30, S. 185; 50, S. 204. Zur Umarbeitung der hagiographischen Texte vgl. auch Wilkinson, „La vie dans le monde“ (Anm. 19), S. 23 – 41. 121 Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 54, S. 210. 122 In der Forschungsliteratur wird das päpstliche Privileg überwiegend auf das Jahr 1156 datiert. Becquet, „Le Bullaire de l’Ordre“ (Anm. 119), S. 87, Urk. 4 – 5; Wilkinson, „The ,Vita Stephani Muretensis‘“ (Anm. 19), S. 142 – 143. 123 Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 31, S. 186 f. 124 Vgl. André Vauchez, La spiritualit dell’occidente medioevale, Milano 1978 (Cultura e storia 1) [ders., La spiritualit du Moyen Age occidental, Paris 1975]. Ich zitiere aus der italienischen Ausgabe, S. 102 f.: „gli eremiti nel secolo XII sono dei penitenti, il loro vestiario consunto, la loro apparenza trasandata e la loro spiritualità ne porta il segno. Gli eremiti in realtà cercano luoghi sinistri, dormendo per terra nelle grotte o costruendosi delle capanne di frasche. Si nutrono di legumi e di prodotti del raccolto, mai di carne e di vino. Vivono soli
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Muret gilt als der Bezugspunkt all dieser Menschen, die von seinem Lebenswandel fasziniert waren und sich durch seine conversatio angezogen fühlten. Stephan redete mit den Jüngern und den Menschen, die sich um ihn versammelten, erteilte seine Ratschläge wie ein Vater und magister. Er war der pastor bonus, der den Mitbrüdern Auskunft gab, „wenn er von ihnen zu besonderen verschiedenen necessitates befragt wurde“.125 Auch die Entscheidung Hugos, Stephan zu folgen, wird als Konsequenz einer solchen evangelischen Berufung beschrieben. Dieser Schritt war dabei weniger ein Eintritt in eine religio. Viel mehr ging es Hugo Lacerta darum, an der congregatio der pauperes Christi teilzunehmen. Nach der Erzählung seines Hagiographen entsagte der miles illitteratus aufgrund von Stephans Empfehlung jeglichem Besitz und begab sich gemeinsam mit einem socius an den Ort, an dem Stephan mit seinen Jüngern lebte. Weiter heißt es, Stephan habe ihn aufgenommen und er sei dessen Schüler in der Gemeinschaft geworden. Dort habe er sich wie ein Diener Gottes verhalten und secundum paupertatis votum gelebt, nach modus und regula wie von Stephan festgelegt.126 Modus et regula, so wiederholt der Verfasser, bestanden in einem Leben in vollkommener Armut, auf der Grundlage der vita evangelica: Fasten, Gebete, Werke der Nächstenliebe und ununterbrochene contemplatio. 127 Der Verfasser der Vita legt besonderen Wert darauf zu zeigen, dass Hugo unter den Jüngern der bevorzugte discipulus und derjenige war, der sich aufgrund des kontinuierlichen Kontakts zu Stephan mit der doctrina und der forma religionis am besten auskannte.128 So erscheint in der wichtigen Episode, in der Stephan Besuch von zwei Kardinälen erhält, Hugo als der vertrauteste Jünger. Die zwei apostolischen Legaten129 waren gekommen,
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e non sono aiutati da nessuno, per questo motivo devono raddoppiare la vigilanza di fronte alle tentazioni del demonio. Così nonostante l’ascetismo al quale si condannano essi conducono una vita attiva, e non puramente contemplativa, come i reclusi e le recluse che vivono in celle adiacenti ai monasteri. Per necessità e per vocazione devono lavorare con le loro mani, portano la barba e si spostano a piedi e con un asino.“ Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 20, S. 179: […] pastor bonus cum fratribus consueverat communicare, ab eisdem consultum super quadam quandoque quaesivit necessitate […]. Ebd., 15, S. 175. Ebd.: […] ieiuniis et orationibus et operibus bonis, in lege Dei meditans die ac nocte […] quidquid proprium in illa sancta societate habere, vel ad dexteram et sinistram declinare, minime licebat. Ebd., 14, S. 175. Die beiden Kardinäle waren Gregor Papareschi, der spätere Papst Innozenz II. (1130 – 1143), und Pietro Pierleoni, der zukünftige Gegenpapst Anaklet II.
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um sich über die voluntas Stephans zu informieren und baten ihn, sich mit ihnen allein zu unterhalten. Stephan jedoch bestand darauf, dass sein discipulus bonusque filius Hugo anwesend sein durfte. Er begründete dies damit – so betont der Biograph Hugos –, dass er seinem Schüler später ohnehin erzählen würde, was die Kardinallegaten ihm „im Geheimen“ (in secreto) gesagt hätten. Hugo war nach den Worten Stephans ein weiser und vertrauensvoller Berater.130 Hugo, der divina repletus eruditione und ausgezeichnet in der religio war, sollte als der noch von Stephan selbst Auserwählte auch nach dessen Tod die consilia des Meisters offenbaren, und verbo et exemplo eine neu gegründete Dependenz führen.131 Hugo ist nach Meinung der Forschung auch derjenige, der die Ermahnungen und die Vorschriften Stephans vor seinem Tod 1157 in einem kodifizierten Buch, dem Liber de Doctrina, zusammenstellte.132 Die Vita beschreibt die Kodifizierung der doctrina und die folgende schriftliche Fixierung als schwerste und wichtigste Aufgabe im Leben (1130 – 1138). Der Besuch fand nach Guillaume Dandina im Jahre 1119 statt; Maire M. Wilkinson, „Laïcs et convers de l’Ordre de Grandmont au XIIe siècles: la création et la destruction d’une fraternité“, in: Les mouvances la ques des ordres rligieux. Actes du 3e Colloque International du C.E.R.C.O.R. (Tournus, 17 – 20 Juin 1992), Saint Etienne 1996, S. 34 – 50, bes. S. 36 – 38; dies., „The ,Vita Stephani Muretensis‘“ (Anm. 19), S. 134 – 135. 130 Guillelmus Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 17, S. 176 – 177, hier S. 177: domnum Hugonem pastor ad se vocavit, eumque secum sedere praecepit; quibus vir Domini, ut consederunt, ait: ,Domini mei et amici, super hoc nolite conqueri et admirari; hunc enim meum discipulum bonumque filium ideo retineo mecum, quoniam quidquid in secreto dicetis mihi, totum ipse postmodum indicarem ei; tantum autem in eo consilii et bonitatis quantum et in me procul dubio invenire potestis; est enim in consilio valde providus et in commisso fidelis‘. 131 Ebd., 21, S. 179: audiens eum fideliter et interrogans super sententiis ceterisque vitae nostrae mandatis, ne spiritalia semina quae procedebant de ore eius absque multiplicatione, insolentia auditorum et negligentia deperirent; Dei quicque benignitas electum hunc de tot millibus unum, qui et audita humiliter sciret suscipere, eademque futuris saeculis in suo tempore fideliter revelare; ebd., 30, S. 185 f.: Igitur post transitum domni Muretensis summi et memorabilis viri […] succedente beatae memoriae Petrus Lemovicense, domnus Hugo opitulante Deo Planiam dirigitur […] Erat autem divina repletus eruditione, insignis religione […] Religionis praeterea ornamentum, sicut a magistro suo et domino beato Stephano didicerat, et verbo et exemplo multum benigne gerebat. 132 Zur Datierung des Buches vgl. Becquet, tudes grandmontaines (Anm. 19), S. 258 – 260. Die Edition „Liber de doctrina vel liber sententiarum seu rationum beati viri Stephani primi patris religionis Grandimontis ab Hugone de Lacerta et socii eius collectus ante annum 1157“, in: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 1 – 62.
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Hugos in einer Zeit, als er dem Tod schon nahe war.133 Das pädagogisch-spirituelle Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Stephan und Hugo Lacerta wird in einer programmatischen bildlichen Darstellung deutlich, die sich heute im Musée National du Moyen Âge in Paris befindet. Diese Bildtafel, ein Relikt des Hauptaltars der Klosterkirche von Grandmont, wurde im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts angefertigt. Die kompositorische Ordnung der zwei Protagonisten stellt zum einen Hugo als Träger von Stephans Vermächtnis dar, zum anderen wird verdeutlicht, dass die ursprünglich mündliche Tradition der Botschaft des Heiligen nun „bereits in die symbolische Form eines Buches gefaßt“ wurde.134 Die in Grandmont verfasste Vita zeigt sich als Produkt einer Memoria, die zwischen den Interpretationen der Nachfolge Stephans einen Mittelweg gefunden hatte. Die Erinnerungen jener Gefährten, die noch mit ihm gelebt hatten, verfestigten sich hier mit den veränderten normativen Bedürfnissen. Die Verschriftlichung von modus et regula benötigte noch die starke Anbindung an die Handlungen und den Willen Stephans, um ihre normative Kraft innerhalb der Gemeinschaft durchsetzen zu können. Da Hugo Lacerta Stephans bevorzugter discipulus war und schließlich auch zum Hüter der doctrina und Kodifikator der schriftlichen Form der consilia Stephans wurde, war die Vita beati Hugonis die beste Grundlage, um die Geltungsansprüche der neuen normativen Texte auf Dauer zu garantieren. Abgeschlossen war dieser Prozess damit aber noch nicht: Ein Experte des jus canonicus stellte noch um 1178/1180 fest, dass sich die Grandmontenser den kirchlichen Einrichtungen nur schwer zuordnen ließen.135 Verantwortlich dafür sei 133 Hugo Lacerta wird als Architekt bezeichnet, der mit seiner Verschriftlichung der doctrina Stephans ein solides Fundament für die nachfolgenden Generationen gelegt habe, denn solummodo parietes aedificii firmi sunt, cum a fundamento non discrepant, quod sapiens posuit architectus (Liber de doctrina vel liber sententiarum, S. 3). Vgl. Becquet, tudes grandmontaines (Anm. 19), S. 4 – 10; Guillaume Dandina, Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45), 51, S. 205 – 207. 134 Vgl. Melville, ,„Von der ,Regula regularum‘, zur Stephansregel“ (Anm. 19), S. 348 f., bes. Anm. 36. Siehe dazu Hutchison, The hermit monks (Anm. 19), S. 97 – 102 und die Abbildung auf der ersten Umschlagsseite. 135 So wurde die religio von Grandmont mit polemischen Worten von Stephan von Tournai († 1203) zugeordnet; Stephanus Tornacensis episcopus, „Epistolarium“, in: PL 211,361 – 370, Ep. 71, hier 369: Ipsi autem non Augustinum, sed quemdam, ut dicunt, bonum hominem Stephanum de Mureto magistrum suum profitentur. Libellus etiam qui eorum constitutiones continent, non regula appellatur ab eis, sed vita. Inde est quod sicut a regula quam observent canonici nostri, dicuntur regulares;
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die Unrechtmäßigkeit ihrer normativen Texte sowie die Eigenart der rechtlichen Gleichstellung von Laien und Klerikern, die in dieser Zeit zu Schwierigkeiten und Spannungen in der religio geführt hatten. Zwei Merkmale der grandmontensischen religio waren für die römische Kirche besonders schwer zu akzeptieren: absoluter Verzicht auf jede Form von materiellem Besitz sowie das gleichberechtigte Zusammenleben von Klerikern und Konversen.136 In Zeiten religiösen Wandels wie dem 12. Jahrhundert, scheint Grandmont ein bemerkenswertes ,normatives Laboratorium‘ gewesen zu sein. Man darf vermuten, dass die Krise, die in den 1170er Jahren im Verhältnis zwischen Konversen und Klerikern entstand, eine Neubewertung der sogenannten regula des Stephan von Liciac zur Folge hatte.137 Im Angesicht dieser Kontroverse wurde man sich in der Gemeinschaft bewusst, dass die Neuartigkeit der regula die Bindung an eine auctoritas nötig machte, um Geltung und Akzeptanz von Seiten der Amtskirche zu erlangen.138 Die Folge war ein langsamer Institutionalisierungsprozess, der von Widerstand und Anpassungsversuchen seitens der religio geprägt war, die damit oft die Grenzlinie zum Außerinstitutionellen überschritt und gleichzeitig Korrekturen und Bestrafungen durch die kirchlichen Instanzen hinnehmen musste. Welche Rolle aber übernahmen die hagiographischen Schriften innerhalb dieses rechtlichen und normativen Laboratoriums? Die Gesic etiam ipsi necesse est a vita quam profitentur, dicantur clerici, seu laici vitales […] Credimus quia necdum tradita erat a domino Stephano de Mureto regulam istorum; aut, si tradita erat, Sanctae Romanae Ecclesiae incognita erat. Et quomodo poterat summus pontifex privilegium dare his qui necdum erant, vel in notitia suam nondum venerant? Zu diesem Brief Stephans an den Zisterzienserabt Robert von Pontigny vgl. Peter Landau, Officium und libertas christiana, München 1991 (Sitzungsberichte. Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1991, 3), S. 89 – 91. 136 Vgl. Wilkinson, „Laïcs et convers de l’Ordre“ (Anm. 129), S. 34 – 50. Jacques Dalarun hat kürzlich bemerkt, dass im Liber de Doctrina, d. h. in der Zeit des Ursprungs, sich die zwei Kategorien der clerici und der Konversen noch nicht in Opposition gegenüber stehen. Dies wäre ein Indiz „que le temps des origines fut celui d’une fluidité bien supérieure, où le principe d’obéissance réciproque n’avait pas encore à s’exprimer par le renversement abrupt de catégories rigides“ (Dalarun, „L’indignité au pouvoir“ [Anm. 17], S. 25). 137 Zu der als grave scandalum bezeichneten Krise vgl. Becquet, tudes grandmontaines (Anm. 19), S. 119 – 160; Volkert Pfaff, „,Grave scandalum‘. Die Eremiten von Grandmont und das Papsttum am Ende des 12. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fr Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, 75/1989, S. 133 – 154; Wilkinson, „The ,Vita Stephani Muretensis‘“ (Anm. 19), S. 133 – 155. 138 Zur Neuartigkeit dieses normativen Textes siehe Melville, „Von der ,Regula regularum‘ zur Stephansregel“ (Anm. 19).
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meinschaft konnte die auctoritas ihres Regeltextes nur durch den Verweis auf eine direkte Zuschreibung an Stephan von Muret begründen. Gerade diese Zuschreibung sei aber nur eine Fiktion – so Stephan von Tournai; denn wenn es tatsächlich ein authentischer Text sei, wäre dies der römischen Kurie nicht verborgen geblieben.139 Die Konstruktion einer Memoria führte die Initiative und die Entstehung eines normativen Textes auf Stephan zurück. Die Auswahl der Erinnerungen und ihre daraus folgende Gestaltung in der Lebensbeschreibung des Heiligen wird also stark vom Legitimationsbedürfnis der Gemeinschaft gesteuert. Es lässt sich beobachten, wie das Andenken an die Heiligkeit des Gründers durch die Verschriftlichung in einem hagiographischen Text einen Prozess der Fixierung und Stilisierung durchläuft, der es dem konkreten Handeln Stephans entfernt. Das Ergebnis ist die Vita venerabilis viri Stephani Muretensis. 140 Sie wurde während der Amtszeit Stephans von Liciac verfasst, später umgearbeitet und in einer neuen revidierten und ausgeweiteten Fassung, der sogenannten Vita ampliata, von dem siebten Prior Gérard Ithier am Ende des 12. Jahrhunderts fertiggestellt.141 In dem von Hugo beeinflussten Text waren die individuellen Erinnerungen teilweise nach mündlichen Überlieferungen der Gefährten fixiert. Der von der Gemeinschaft von Grandmont produzierte hagiographische Text wird nun zum Medium einer neuen Memoria, die die Ursprünge der Gemeinschaft neu auslegt. Die stark überarbeiteten Episoden wollen die Einzigartigkeit dieser religio rechtfertigen und die zwischenzeitlich eingetretenen institutionellen Veränderungen verteidigen. Der Fokus ist nicht mehr auf die Wirkung der Worte und des Handelns Stephans bei dessen Jüngern gerichtet, sondern auf die biographischen Etappen seiner conversio und seiner religiösen Ausbildung bis zur Entscheidung für ein Leben in solitudine ac paupertate. Die Anfänge dieser Form von religio werden neu erzählt und fest in der kirchlichen Tradition verankert. Das streng asketische Leben Stephans wird an einem locus fern von der frequentia hominum et copia rerum angesiedelt, an den er sich ad serviendum Deo et agendam paenitentiam zurückzog.142 An einem einsamen Ort in der ,Waldwüste‘ des Limousin 139 Stephanus Tornacensis episcopus, „Epistolarium“ (Anm. 135), 369. 140 „Vita venerabilis viri Stephani Muretensis“ in: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 101 – 137. 141 Die Änderungen der Vita ampliata in: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 138 – 160. 142 Vita venerabilis viri Stephani Muretensis (Anm. 140), 11, S. 111.
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legte Stephan allein vor Gott sein Gelübde ab. Die Inszenierung dieser Episode folgt einer bestimmten Liturgie: zuerst spricht Stephan die Professformel, um seine Bekehrung vor Gott zu bekennen: Ego Stephanus abrenuntio diabolo, et omnibus pompis eius, et offero atque reddo meipsum Deo Patri et Filio et Spiritui sancto trino et uni Deo vivo et vero, anschließend schreibt er dieses Versprechen nieder und legt es sich auf den Kopf.143 Der gesamte Akt des Gelübdes geschieht in neuartiger Weise als ein individuelles Versprechen vor Gott, wie schon Henrietta Leyser betont hat.144 Die Verschriftlichung des Privatgelübdes und das symbolträchtige Ablegen der Urkunde auf dem Kopf erinnern gleichwohl an die konventionelle Form des Eintritts in die vita religiosa, bei der die Chartula promissionis auf dem Altar niedergelegt wird.145 Nachdem Stephan das erste Jahr allein in heremo verbracht hatte, bildete sich dann in suam […] custodiam suamque disciplinam eine Gemeinschaft.146 Die Kapitel des zweiten Teils der Vita schildern die wichtigsten Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens147 und die dazugehörenden notwendigen Tugenden auf der Basis der evangelischen sententiae und der Kirchenväter. Die Episode des Besuchs der zwei Kardinäle findet nun – wie der Kompilator der Vita venerabilis Stephani Muretensis und auch Gérard Ithier berichten – erst kurz vor dem Tod Stephans statt. Die Episode nimmt in der Vita venerabilis Stephani Muretensis und später auch in der Vita ampliata von Gérard Ithier eine andere Bedeutung an und wird neu inszeniert. Die Legaten kamen nach Muret aufgrund des hervorragenden Rufs Stephans und wollten die dort gepflegte Lebensweise und religio kennenlernen.148 Auf die Fragen der Besucher lässt der Hagio143 Ebd., 12, S. 112: Ego frater Stephanus promitto tibi me amodo serviturum in hac heremo in fide catholica. Et propter hoc pono chartam istam super caput meum, et annulum istum in digito meo, ut in die obitus mei sit mihi haec promissio et haec charta scutum et defensio contra insidias inimicorum meorum […]. Amen. 144 Vgl. Leyser, Hermits and the New Monasticism (Anm. 6), S. 18 – 28. 145 Die Verschriftlichung der Professio und ihre Ablegung auf dem Altar gehören zur traditionellen benediktinischen Form des Mönchsgelübdes (Regula Benedicti, Beuron 1992, 58, S. 206), vgl. dazu Matthäus Rothenhäusler, Zur Aufnahmeordnung der Regula Bendicti, Münster 1912, S. 1 – 19; Uwe Kai Jacobs, Die Regula Benedicti als Rechtsbuch. Eine rechtshistorische und rechtstheologische Untersuchung, Wien 1987 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 16), S. 70 – 85. 146 Vita venerabilis viri Stephani Muretensis (Anm. 140), 20, S. 116. 147 Ebd., S. 111 – 121. 148 Diese Episode findet sich – wenn auch in einer etwas anderen Überlieferung – in der Erzählung der Vita beati Hugonis Lacerta (Anm. 45) und mit einigen
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graph Stephan mit einem Bericht der wesentlichen Stationen seines Lebens antworten, die nicht in der Vita Hugonis genannt werden. Es wird von einer Pilgerfahrt nach Süditalien, der Ausbildung in Benevent bei Erzbischof Milo, der Bekanntschaft mit den kalabrischen Eremiten und vom Aufenthalt an der päpstlichen Kurie berichtet. Diese Ereignisse waren die Ursprünge seiner Lebensentscheidung, die auch vom Papst während Stephans Aufenthalt in Rom anerkannt wurden: a romano pontifice in cuius curia […] fueramus, prout melius potuimus, nostram suscepimus paenitentiam, et cum ipsius praecepto et oboedientia in remissionem peccatorum nostrorum huius paupertatis et abiectionis viam sequi proposuimus. Stephans Leben wurde nach dem Beispiel der fratres geformt, die in Kalabrien sine pecudibus et possessionibus Deus serviunt. 149 Die Kardinäle erkannten Stephans Lebensweise als Ausnahme an: „in ihm habe der Heilige Geist gesprochen“.150 Die Anerkennung durch die Amtskirche wurde perfekt in das Leben Stephans eingepasst: Es war ein Papst, der am Beginn Stephans Vorhaben approbierte, und es waren die Kardinäle, die am Ende seines Lebens den Bestand der Gemeinschaft bestätigten.151 Dabei bestand Gérard Ithier in seiner Fortsetzung der Sterbeszene auf der Besonderheit und Neuartigkeit der religio Stephans, die, wie er selbst erklärt, keineswegs in die traditionellen Schemata der vita religiosa eingeordnet werden könne: Stephan von Muret sei kein Eremit, kein
Varianten in der Vita ampliata. Die Texte sind ediert: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 121 – 124, und die Fortsetzung in der Vita ampliata (Anm. 45), S. 141 – 143. 149 Vita venerabilis viri Stephani Muretensis (Anm. 140), 22, S. 121 – 123, bes. S. 122. Diese Hinweise auf die Eremiten von Kalabrien lassen eine Vorbildwirkung der dort niedergelassenen griechische Einsiedlermönche vermuten. Auch bei Stephan von Obazine werden die Kartäuser als ein Vorbild für eremitisches Leben bezeichnet. Gerade deswegen sollte die kartäusische Lebensweise nur für kleinere Gemeinschaften geeignet sein, wie der Prior der Grande Chartreuse an Stephan antwortete: Nobis enim, ait, et in personis est numerus et in possessionibus terminus est prefixus. Tu vero qui plures ad die congregasti et adhuc ampliores suscipere decrevisti, cenobialem magis expetere debes professionemque et multis eque patet et paucis, quia non numero, sed religione, pensatur et virtutibus non possessionibus extimatur. (Vie de Saint tienne [Anm. 26], S. 82 f.). 150 Vita venerabilis viri Stephani Muretensis (Anm. 140), S. 122 f.: huic viro similem nusquam invenimus, sanctus enim Spiritus loquitur in eo. 151 Ebd., S. 123: Voluit enim Christus Iesus ut servuus suus qui a suo vicario apostolico, scilicet in exordio propositi sui bene agendi habuerat praeceptum, a viris apostolicis vicarii sui vicariis in fine suae conversationis sanctitatis haberet testimonium.
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Mönch und auch kein Kanoniker gewesen.152 Im Verlauf der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde der Institutionalisierungsprozess mit der Anerkennung einer Regel und der institutiones durch die römische Kurie abgeschlossen.153 Auf dieser Grundlage versuchte die Amtskirche auch den schweren institutionellen Krise, welche die Gemeinschaft in diesen Jahren erschütterte, entgegenzuwirken und eine langsame Klerikalisierung innerhalb des Ordens zu erreichen. Die Heiligsprechung Stephans von Muret im Jahre 1189 beschließt den Sonderweg dieser religio, deren Entwicklung durch die verschiedenen hagiographischen Texte beeinflusst wurde.154 * Für die neuen Formen der vita religiosa des 11. und 12. Jahrhunderts dienten hagiographische Texte als Medien der Speicherung und Kommunikation relevanten Wissens. In ihnen wurden Geltungsansprüche zum Ausdruck gebracht, die die Institutionalisierungsprozesse dieser neuen religiösen Lebensformen darstellen, legitimieren, stabilisieren und gegenüber der Amtskirche verteidigen sollten. Dabei begründen diese hagiographischen Texte eine Art der Memoria, die Ergebnis der Überarbeitung in der zweiten Generation ist. Der Text fungiert hier als fixierender ,Gedächtnisspeicher‘ der Memoria, deren Geltung über die Texte hinaus für die Zukunft gesichert wird, und gleichzeitig als Medium der Legitimation von Institutionalisierungsprozessen und dem damit verbundenen Wandel der vita religiosa. Es konnten zwei Typen hagiographischer Texte unterschieden werden: die externe Bearbeitung eines internen Gedächtnisses (z. B. die von Marbod von Rennes angefertigte Vita des Robert von Turlande und die von einem anonymen Autor verfasste Vita Stephans von Obazine) und die innerinstitutionelle Bearbeitung des internen hagiographischen Gedächtnisses (z. B. die Konstruktion der Memoria in der religio von Grandmont). In beiden Fällen wurden religiöse Kenntnisse selegiert, 152 Vgl. Melville, „Von der ,Regula regularum‘ zur Stephansregel“ (Anm. 19), S. 342 – 363. 153 Becquet, „Le Bullaire de l’Ordre“ (Anm. 119), S. 156 – 158, Urk. 22 – 24. 154 Der Bericht über die Kanonisation befindet sich in: Gerardus Iterius, „De revelatione beati Stephani“, in: Scriptores ordinis Grandimontensis (Anm. 45), S. 275 – 311; vgl. dazu Andenna, „Dall’esempio alla santità“ (Anm. 19), S. 177 – 224.
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aufbereitet und vermittelt, die durch den kulturgeschichtlichen Kontext, in dem sie entstanden, ihre ganz spezifische Prägung erhielten. Dabei verschleierten beide Formen hagiographischen Erzählens auf je verschiedene Weise die Wandlungsprozesse innerhalb der vita religiosa, die die Protagonisten des ,neuen‘ religiösen Lebens in Gang setzten – Wandlungsprozesse, die letztlich einer Integration der neuen religiones in das Spektrum der etablierten Formen der vita religiosa dienten. Die einzelnen Episoden der Gründerviten wurden auf jeweils besondere Weise topisch beziehungsweise idealtypisch gestaltet; so konnten sie als Medium der Kommunikation des verschleierten Wandels fungieren und letztlich auf die Affirmation und Legitimation dieses Wandels und der durch ihn hervorgebrachten Lebensweisen hin wirken.
Religiöse Kommunikation und höfische Identität Zum ethischen Diskurs in der Literatur um Herzog Albrecht III. von Österreich und Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365 – 1396) Christian Schneider Die viel zitierte Wendung Walter Maps, er befinde sich zwar am Hof, doch wisse er nicht, was der Hof sei, hat in der jüngeren mediävistischen Forschung eine überraschende Zuspitzung erfahren: Versuchte man lange, das Phänomen des Hofs als eines der zentralen Orte des Mittelalters wie der Frühen Neuzeit funktional, personell oder institutionell zu begreifen (um sich dann – wie Walter Map – doch immer wieder mit dem schillernden, unfasslichen Charakter dieses Phänomens konfrontiert zu sehen), so zeichnet sich inzwischen ab, dass der mittelalterlichfrühneuzeitliche Hof weit eher kommunikationspragmatisch zu fassen sein könnte: als eine Instanz und Ordnung, die sich ihrer Kohärenz und Kontinuität über die Ebene des Symbolischen und damit nicht zuletzt über literarische Kommunikation versichert.1 Und wie der Raum des Hofs sich wesentlich auf symbolischem Weg und über literarische Kommunikation konstituiert, so ist offensichtlich, dass er dabei institutionell wie personell in einem Nahverhältnis zu verschiedenen Räumen religiöser Kommunikation steht: zu Kloster und Klerus, zu Kirche und Universität. Der Hof, besonders der des späteren Mittelalters, markiert so eine Schnittstelle, in der sich literarische und religiöse Kommunikation begegnen. Diese wechselweise Begegnung von Räumen und Kommunikationen wird besonders virulent, wenn es um die Frage nach einer ,richtigen‘ Lebensführung, nach einem idealen höfischen Sein und Verhalten und um die Konzepte geht, die dafür jeweils 1
Zu einem solchen Entwurf des Hofs als „symbolischer Ordnung“ siehe Gert Melville, „Agonale Spiele in kontingenten Welten. Vorbemerkungen zu einer Theorie des mittelalterlichen Hofes als symbolischer Ordnung“, in: Reinhardt Butz/Jan Hirschbiegel/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Hof und Theorie. Annherungen an ein historisches Phnomen, Köln [u.a.] 2004 (Norm und Struktur 22), S. 179 – 202.
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bereitstehen. Denn in dieser Frage drohen verschiedene Entwürfe aufeinander zu stoßen: hier die Wertvorstellungen von Kirche und Klerus mit dem Postulat einer christlichen Lebensgestaltung, dort die Leitwerte und Leitbilder einer ritterlich-höfischen Aristokratie mit ihrem Anspruch auf standesgemäße gesellschaftliche Repräsentation und Kommunikation. Dabei erhält diese Konfrontation potenziell auseinander driftender normativer Konzepte ihre Virulenz dadurch, dass gerade diese Konzepte es sind, über die in der Kommunikation der höfischen Eliten die Stabilität und Kohärenz, und das heißt: die Identität des Sozialgefüges ,Hof‘ auf symbolischem Weg hergestellt werden kann. Die Ausdifferenzierung von literarischer und religiöser Kommunikation im Blick auf die jeweiligen Konzepte von höfischer Lebensführung und Identitätsbildung lässt sich für das späte Mittelalter exemplarisch an der Literatur um den Habsburgerherzog Albrecht III. (1365 – 1395) in Wien und Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365 – 1396) thematisieren. Beide Fürstenhöfe treten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als Räume einer verdichteten literarischen Kommunikation hervor, und beide sind in dieser Zeit durch ein je spezifisches Verhältnis von literarischer und religiöser Kommunikation am Hof charakterisiert. Am Fall der literarischen Szene am österreichischen Herzogshof in Wien und am erzbischöflichen Hof in Salzburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts soll daher im Folgenden das Neben- und Ineinander literarischer und religiöser Kommunikation profiliert werden: jener ,intercuriale Diskurs‘, wie er aus der Begegnung zwischen Eliten von Klerikern und Laien an beiden Höfen entsteht.2 Zur Analyse stehen Texte des Wiener Reimsprechers Peter Suchenwirt, des Mönchs von Salzburg sowie der sogenannten ,Wiener Schule‘. Anhand der darin formulierten Prinzipien einer idealen Lebensführung und der Entwürfe von höfischer Identität, die darin zum Ausdruck kommen, soll gefragt werden: Wie verhalten sich literarische und religiöse Kommunikation an geistlichen und weltlichen Fürstenhöfen des späten Mittelalters zueinander? Wie etwa erklärt sich das Nebeneinander monastisch geprägter Frömmigkeitsdichtung und explizit erotischer Literatur in einem Milieu wie dem des erzbischöflichen Hofs zu Salz2
Zum Begriff des ,intercurialen Diskurses‘ Eckart Conrad Lutz, „Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung“, in: Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 29 – 51, bes. S. 41.
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burg unter Pilgrim von Puchheim? Welchen Funktionen folgt eine literarische Kommunikation bei Hof, die einerseits traditionelle ritterliche Tugenden beschwört, andererseits durch religiös-klerikale Gegenkonzepte konterkariert wird, wie zeitgleich in der Literatur im Umfeld des Wiener Hofs Albrechts III.? Die Frage nach dem Verhältnis von literarischer und religiöser Kommunikation am Hof stellt sich mithin auch als Frage nach der Funktionalität der jeweiligen konzeptuellen Aussagen und ihrer Relevanz für die Herstellung individueller wie kollektiver höfischer Identität. Dazu sollen zunächst einige begriffliche Vorbemerkungen vorausgeschickt werden. Dann wird es um eine Charakterisierung der literarischen Szene an den Höfen von Wien und Salzburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehen. An sie schließt sich die Textinterpretation an, bevor zum Schluss die Ergebnisse der Detailuntersuchung thesenhaft verallgemeinert werden sollen.
I. Begriffliche Vorbemerkungen Kommunikation und Identität Wenn man den Hof des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als eine „symbolische Ordnung“ begreift, die sich über die Ebene des Symbolischen ihrer Stabilität, inneren Geschlossenheit und Kohärenz zu versichern sucht – „gerade auch dann, wenn (was das Wahrscheinlichere ist) diese eigentlich nicht vorliegen“ –, so zielt eine solche Beschreibung auf den Hof als zentralen Ort der Kommunikation.3 Als solcher ist er zu unterscheiden von dem Hof als zentralem Ort der Administration. Was diese, die funktional-organisatorische Seite des Hofs betrifft, ist der Hof im Laufe des Mittelalters einer zunehmenden institutionellen Verfestigung und Verstetigung unterworfen: Feste Residenzen bilden sich heraus, die Ämter, Gremien und Hierarchien des Hofs werden immer präziser gefasst, funktional ausdifferenziert und systematisiert.4 Das ist aber nur die eine Seite des facettenreichen Phänomens ,Hof‘. Von einer 3 4
Melville, „Agonale Spiele“ (Anm. 1), S. 183. Dazu in systemtheoretischer Sicht etwa Rudolf Schlögl, „Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung“, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, Frankfurt/M. – New York 2004 (Campus Historische Studien 37), S. 185 – 225.
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anderen her stellt der Hof sich als ein vielschichtiges Sozialgefüge dar, dessen oberste Ebene die der stratifizierten Adelsgesellschaft bildet.5 Auf dieser Ebene gehören zum Hof auch diejenigen, die nicht fortlaufend am Hof präsent und fest in seine funktional-organisatorische Struktur eingebunden sind: der hohe Adel des Landes, auswärtige Berater, die Inhaber von Ehrenämtern. Auf dieser Ebene des Hofs konstituiert sich das, was man als ,höfische Eliten‘ bezeichnet. Die höfischen Oberschichten repräsentieren den Hof jedoch keineswegs als scharf umrissenes Gebilde, sondern als ein wechselndes, der räumlichen und zeitlichen Fluktuation ausgesetztes Sozialgefüge.6 Die Adelsgesellschaft des Hofs ist zwar durch Stratifikation als Elite herausgehoben, aber sowohl die schichtinterne Differenzierung als auch die Kontinuität und Kohärenz des Hofs sind auf dieser Ebene – der der ,höfischen Gesellschaft‘ – prinzipiell fragil und wechselhaft. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich der Hof in einem besonderen Sinn als zentraler kommunikativer Ort ab. Das wird deutlich, wenn man zugrunde legt, dass die Stabilisierung der Stratifikation, die Regelung von Mitgliedschaft, die Herstellung von Stabilität und Dauer angesichts der prinzipiellen Fragilität und Kontingenz des höfischen Lebens durch die Suggestion von Kohärenz und innerer Geschlossenheit erreicht wird und dass das Mittel dafür Kommunikation ist.7 So hat Gert Melville am Beispiel des agonalen Spiels bei Hof – der Tjosten, Pas d’armes und Turniere – demonstriert, wie das Kampfspiel und die darin praktizierte Regelhaftigkeit und Ordnung dazu beitragen kann, auf einer symbolischen Ebene jene Stabilität und Kohärenz des sozialen Gefüges ,Hof‘ zu inszenieren – und damit der Wahrnehmung zugänglich zu machen –, 5
6 7
Vgl. ebd., S. 201; zum Begriff der Stratifikation, d. h. der Schichtung als primärem Einteilungsprinzip vorneuzeitlicher Gesellschaften, und einer Theorie ihrer Symbolik siehe vor allem Niklas Luhmann, „Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 21998, S. 72 – 161. Siehe dazu – mit zahlreicher Literatur – den Überblick bei Werner Paravicini, Die ritterlich-hçfische Kultur des Mittelalters, München 1994 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 32), S. 65 – 71. Zu einem solchen Ansatz bereits Luhmann, „Interaktion“ (Anm. 5); weiter Jan-Dirk Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ,Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 58/ 1984, S. 38 – 73, bes. S. 56 f.; Schlögl, „Der frühneuzeitliche Hof“ (Anm. 4); Melville, „Agonale Spiele“ (Anm. 1).
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die dem höfischen Leben in seiner Kontingenz tatsächlich verweigert bleibt. Zugespitzt formuliert Melville: [E]s [geht] hier (vielleicht sogar wesentlich mehr als bei anderen sozialen Arrangements) um eine Welt des Scheins zur Erzielung einer Realität – in jedem Fall aber um die Konstruktion einer Wirklichkeit, die nur durch Inszenierungen des zu Erreichenden als bereits Erreichtes hergestellt werden konnte.8
Symbolisch kann diese Form der Herstellung von Stabilität und Kohärenz deshalb genannt werden, weil sie sich nicht in der Realität, sondern in einer zeichenhaften Inszenierung verwirklicht, die gleichwohl in die Wirklichkeit des höfischen Lebens zurückwirkt. Diese zeichenhafte Inszenierung vollzieht sich in verschiedenen Modi der Kommunikation, und zwar einer Kommunikation, für die kennzeichnend ist, dass sie im Wesentlichen eine Kommunikation unter körperlich Anwesenden ist: Interaktion also.9 Das gilt nicht nur für das agonale Spiel bei Hof, sondern auch für sein literarisches Leben. Die Einsicht, dass die Rezeption volkssprachlicher Literatur im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit in der Regel gebunden ist an interaktive Situationen der ,Aufführung‘, das heißt an den Rahmen einer „überschaubaren Öffentlichkeit, in die jeder Anwesende mit allen seinen Sinnen einbezogen ist“, hat sich in der jüngeren mediävistischen Forschung durchgesetzt.10 Den Rahmen einer solchen „überschaubaren Öffentlichkeit“, in der sich literarische Rezeption als Interaktion ereignet, bietet der Hof. Dabei bedeutet die – über das agonale Spiel oder die literarische Rezeption bei Hof – symbolisch vermittelte Herstellung von Stabilität und Kohärenz immer auch ein Bemühen um die Herstellung von höfischer Identität. Denn, so könnte man den hier anvisierten Identitätsbegriff formaltheoretisch definieren, Identität meint jene Einheit und Nämlichkeit einer Person oder einer Gemeinschaft, die auf aktive Synthetisierungs- und Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die betreffende Person oder gesellschaftliche Gruppe der 8 Ebd., S. 183. 9 Zum Begriff der Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden im Kontext von Hof und stratifizierter Adelsgesellschaft nur Schlögl, „Der frühneuzeitliche Hof“ (Anm. 4), bes. S. 188 und 193 f. 10 Vgl. die konzise Zusammenfassung des Themenkomplexes bei Jan-Dirk Müller, „Vorbemerkung“, in: ders. (Hrsg.), ,Auffhrung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Frher Neuzeit, Stuttgart – Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände), S. XI–XVIII, hier S. XI.
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Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis, ihres Selbst- und Weltverständnisses zu vergewissern sucht.11 Der personalen und kollektiven Identität, die hier gemeint ist, entspricht im Unterschied zur individuellen Identität kein körperliches Substrat. Sie ist vielmehr ein gesellschaftliches Konstrukt, eine imaginäre Entität, und das heißt, sie ist immer symbolisch vermittelt.12 So konstituiert sich kollektive Identität – im Sinne „reflexiv gewordene[r] gesellschaftliche[r] Zugehörigkeit“ – in der Verwendung eines je gemeinsamen Zeichensystems, zu dem vor allem Wörter, Sätze und Texte gehören, aber auch Riten, Habitus, Monumente, Bilder etc.13 Dass literarische Kommunikation bei Hof nicht zuletzt darauf gerichtet ist, solche (kollektive) Identität zu formulieren, zeigt sich darin, dass die mittelalterliche höfische Literatur über weite Strecken eine bestimmte Lebensform zu propagieren bemüht ist, die in der Mediävistik und Frühneuzeitforschung unter dem Begriff der cortoisie, hçvescheit oder auch curialitas diskutiert wird.14 Der Begriff zielt auf ein spezifisches Ensemble von Werten und diesen 11 Diese Begriffsbestimmung im Anschluss an Jürgen Straub, „Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hrsg.), Identitten, Frankfurt/M. 1998 (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), S. 73 – 104, hier S. 75. Straub wiederum bezieht sich in seiner Theoretisierung des Begriffs auf Erik H. Erikson. 12 Zur Unterscheidung zwischen ,individueller‘, ,personaler‘ und ,kollektiver‘ Identität und der symbolischen Vermitteltheit von personaler und kollektiver Identität Jan Assmann, Das kulturelle Gedchtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, München 42002, S. 130 – 160, bes. S. 130 – 133. 13 Das Zitat ebd., S. 134; vgl. darüber hinaus S. 133 – 140. 14 Vgl. zum Problem- und Forschungsstand Klaus Schreiner, „,Hof‘ (,curia‘) und ,höfische Lebensführung‘ (,vita curialis‘) als Herausforderungen an die christliche Theologie und Frömmigkeit“, in: Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Hçfische Literatur, Hofgesellschaft, hçfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 67 – 139; Josef Fleckenstein (Hrsg.), Curialitas. Studien zu Grundfragen der hçfisch-ritterlichen Kultur, Göttingen 1990 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100); Aldo Scaglione, Knights at Court. Courtliness, Chivalry, & Courtesy from Ottonian Germany to the Italian Renaissance, Berkeley [u.a.] 1991; Joachim Bumke, „Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 114/1992, S. 414 – 492. – Genau genommen sind curialitas und courtoisie freilich nicht dasselbe: Der Begriff der curialitas bezieht sich auf ein spezifisch klerikales Konzept von Lebensführung, courtoisie hingegen auf den höfischen Welt- und Gesellschaftsentwurf, wie er insbesondere im vulgärsprachlichen Roman entfaltet wurde; dazu vor allem C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939 – 1210, Philadelphia 1985.
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entsprechenden Verhaltensweisen, zu dem unter anderem zählen: Adel der Abstammung, Tapferkeit verbunden mit Stärke, Freigebigkeit, Affektbeherrschung, formgeprägtes Verhalten, Schönheit der Erscheinung, Wohlerzogenheit im Umgang mit den Frauen, höfische Liebe.15 Als solches Wertensemble beansprucht das Konzept der hçfischheit, für die Eliten an den weltlichen Zentren der europäischen Adelsgesellschaft ein verbindliches Konzept einer ,höfischen Lebensführung‘ zu entwerfen. Man kann den courtoisen Lebens- und Gesellschaftsentwurf insofern auch als fortgesetzten Diskurs um die Sicherung einer höfischen Identität lesen. Ein Kommunikationsmedium in diesem Diskurs war die Literatur. Literarische und religiöse Kommunikation am Hof Kommt der Hof so mit der Literatur, die von höfischen Eliten gefördert und am Hof rezipiert wird, als ein zentraler kommunikativer Ort des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Blick, so ist er gleichwohl nicht nur ein Ort der literarischen, sondern auch der religiösen Kommunikation. Was für den geistlichen Hof von vornherein gilt, trifft im späten Mittelalter auch auf den weltlichen Fürstenhof zu. Als ein solches weltliches höfisches Zentrum, das zugleich zum Raum einer verdichteten religiösen Kommunikation wird, lässt sich im 14. Jahrhundert der Hof der Habsburgerherzöge in Wien beschreiben. Dabei geht es nicht so sehr um Religion als soziale Praxis bei Hof – in Gottesdienst, (Hof-) Predigt, Beichte etc. Es geht vielmehr um religiöse Kommunikation als Teil der literarischen Kommunikation des Fürstenhofs. Daraus wird schon deutlich, dass die beiden Begriffe nicht auf derselben Ebene liegen, jedenfalls dann nicht, wenn man sie nicht nur vom Begriff der Kommunikation, sondern auch von ihrer jeweiligen Adjektivattribuierung her bestimmt. Das Adjektiv ,religiös‘ unterscheidet sich von ,literarisch‘ dadurch, dass es eine inhaltliche Bestimmung trifft, während ,literarisch‘ den Begriff der Kommunikation in 15 Siehe zu den Facetten des ritterlich-höfischen Verhaltenscodes im Einzelnen Joachim Bumke, Hçfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 81997, S. 382 – 389, 399 – 409, 416 – 425 und 451 – 470; Jaeger, The Origins (Anm. 14); sowie den Sammelband von Fleckenstein (Hrsg.), Curialitas (Anm. 14); zur Konzeption der sogenannten ,höfischen Liebe‘ nur den Aufsatz von Rüdiger Schnell, „Die ,höfische‘ Liebe als ,höfischer‘ Diskurs über die Liebe“, in: Fleckenstein (Hrsg.), Curialitas (Anm. 14), S. 231 – 301.
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formaler Hinsicht näher definiert: Literarische Kommunikation ist Kommunikation, die sich über einen mündlich oder schriftlich niedergelegten ,Text‘ zu verstehen gibt.16 Während ,literarische Kommunikation‘ also vornehmlich auf eine bestimmte Medialität von Äußerungen verweist, so bezeichnet der Ausdruck ,religiöse Kommunikation‘ einen bestimmten Gegenstand von Kommunikation, nämlich Religion (der Gegenstand literarischer Kommunikation ist hingegen nicht Literatur, sondern Literatur ist nur ihre Form).17 Er zielt damit auf eine zentrale anthropologische Kategorie, der man sich nähern kann, indem man sie von dem Begriffspaar Immanenz/Transzendenz aus zu bestimmen versucht. Das Adjektiv ,religiös‘ zielt dann auf eine Kommunikation, mit der Menschen sich als in einen Zusammenhang integriert wahrnehmen und zu verstehen geben, der die immanenten Grenzen der Welt, der sichtbaren Wirklichkeit in eine Sphäre des Numinosen hinein überschreitet. Um eine zentrale anthropologische Kategorie handelt es sich dabei insofern, als das Bedürfnis nach einem kollektiv geteilten Orientierungssystem und einem Objekt der Hingabe tief in den Bedingungen des menschlichen Daseins verwurzelt zu sein scheint. Religion stellt den Menschen aus der Enge und Besonderheit des Subjekts in Bezug zu einem Allgemeinen und Höchsten und entfaltet, wie Georg Simmel meint, im Aufblick zu dem für alle Menschen gleichzeitig wahrnehmbaren Himmel eine „vergemeinsamende soziologische Wirkung“.18 Nicht zuletzt aus dieser Hierarchisierung, aus der auch visuellen Vergegenwärtigung als einer höchsten, diese Welt überschreitenden Totalität bezieht Religion ihre normative beziehungsweise Normativität legitimierende Kraft. Auch der religiöse Diskurs verhandelt Fragen, die den Bereich des Normativen (,Was sollen wir tun?‘) und den Bereich des Formativen (,Wer sind wir?‘) betreffen. Sie ist deshalb 16 Wobei ein rigider Textbegriff zugrunde gelegt ist, der nicht schon jede kulturelle Formation schlechthin als ,Text‘ bezeichnet wissen möchte. 17 Siehe zum Begriff ,religiöse Kommunikation‘ vor allem Hartmann Tyrell, „Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt“, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Frçmmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, kçrperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 41 – 93. 18 So hält Simmel – zitiert nach Tyrell (ebd., S. 53) – fest: „Wo ausnahmsweise auch das Auge für eine große Menschenzahl solche Gleichheit des Eindrucks gewährt, tritt auch die vergemeinsamende soziologische Wirkung ein. Daß alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können und die Sonne, das ist, wie ich glaube, ein wesentliches Moment des Zusammenschlusses, den jede Religion bedeutet.“
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stets auch eine Form der Selbstdefinition und Identitätsvergewisserung; Identität wird hier zu einer Sache des Bewusstseins und der Gesinnung, sie wird „Herzenssache“.19 Das ist der Punkt, an dem literarische und religiöse Kommunikation am Hof sich überschneiden. Der höfische Lebens- und Gesellschaftsentwurf, den der volkssprachliche Roman des 12./13. Jahrhunderts formuliert, und derjenige, der sich im Mittelalter von der christlichen Religion her entfaltet, sind beide auf personale wie kollektive Selbstdefinition und Identitätsvergewisserung hin angelegt. Aber, und das ist das Entscheidende, sie sind dies in je unterschiedlicher Weise, denn ihre Ansprüche sind nicht deckungsgleich: Der höfische Welt- und Gesellschaftsentwurf, der eine Welt des Höfischen von einer Gegenwelt der dçrperheit abgrenzt und ethisch anspruchsvoll auflädt, ist spezifisch laikal geprägt. Das heißt nicht, dass er sich religiösen Anforderungen verschließen würde, im Gegenteil: Er versucht aristokratische Werthaltungen mit kirchlich-religiösen Imperativen zu harmonisieren, stößt darin aber auch auf Grenzen (z. B. in der Beurteilung höfischer Geselligkeit und ihrer Ausdrucksformen – Musik, Tanz, Literatur – oder der demonstrativen Prachtentfaltung bei Hof). Das Bewusstsein für diese Grenzen zeigt sich in der vor allem von klerikaler Seite vorgetragenen Hofkritik.20
II. ,Verquere‘ Verhältnisse? – Literarische Szenerien am Wiener und am Salzburger Hof 1365 – 1396 Umso auffälliger ist vor diesem Hintergrund das Bild, das in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Literatur im Umfeld der Höfe von Wien und Salzburg bietet. Das soll im Folgenden exemplarisch veranschaulicht werden. Beide Fürstenhöfe – hier derjenige eines weltlichen Herrschers, dort der eines geistlichen Fürsten – treten in dieser Zeit zunächst als Zentren einer verdichteten literarischen Kommunikation hervor. Dabei kann die Residenzstadt Wien und insbesondere der Wiener Hof des Habsburgerherzogs Albrecht III. geradezu als „Modell literarischer Interessenbildung“ im späten Mittelalter angesprochen 19 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis (Anm. 12), S. 158. 20 Konzise zur mittelalterlichen Hofkritik das entsprechende Kapitel bei Bumke, Hçfische Kultur (Anm. 15), S. 583 – 594.
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werden.21 In beiden Residenzstädten ist der Hof – nicht die Stadt – das stimulierende Zentrum des Literaturbetriebs.22 Zugleich agiert der Hof als Mittelpunkt einer intensivierten literarischen Kommunikation (in der Volkssprache) in Wien und in Salzburg in einem Nahverhältnis zu verschiedenen Räumen der religiösen Kommunikation: zu Kirche und Kloster, aber auch zur Universität, in der die Theologie eine herausragende Stellung einnimmt. In Wien hatte Herzog Rudolf IV. 1365 erstmals eine Universität gegründet. Zu einer vollgültigen Hohen Schule wurde sie allerdings erst 1384. In diesem Jahr gelang es Albrecht III., der seinem älteren Bruder nach dessen frühem Tod in der Herrschaft gefolgt war, von Papst Urban IV. die Erlaubnis zur Einrichtung einer theologischen Fakultät zu erhalten.23 Albrechts Interesse an der Universität scheint von Anfang an auf mehr gerichtet gewesen zu sein als auf herrscherliche Selbstdarstellung oder die Gewinnung einer akademisch gebildeten Elite für anspruchsvolle Aufgaben in der Verwaltung des Herzogtums. Deutlich wird das an der literarischen Produktion der Wiener Schule. Sie stellte ein wichtiges Bindeglied zwischen Herzogshof und Universität dar. Hier entstand eine Literatur, die die an den Hohen Schulen Wiens entwickelte und auf Lateinisch formulierte Frömmigkeitstheologie in volkssprachliches Prosaschrifttum zur moraltheologischen Unterweisung eines laikalen Publikums übertrug. Die Träger dieser literarischen Produktion waren Geistliche, von denen die meisten vermutlich selbst an der Wiener Universität studiert hatten oder 21 So Johannes Janota in seiner Literaturgeschichte des 14. Jahrhunderts: Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfngen bis zum Beginn der Neuzeit, hrsg. von Joachim Heinzle, Bd. 3: Vom spten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit, Teil 1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90 – 1380/ 90), Tübingen 2004, S. 32 – 58; außerdem die einschlägigen Kapitel in Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters in den Lndern sterreich, Steiermark, Krnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, Bd. II/2: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzçge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358 – 1439), Graz 2004 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2). 22 Dass das auch im 15. Jahrhundert noch so bleibt, hat für München Klaus Grubmüller herausgearbeitet: Klaus Grubmüller, „Der Hof als städtisches Literaturzentrum. Hinweise zur Rolle des Bürgertums am Beispiel der Literaturgesellschaft Münchens im 15. Jahrhundert“, in: ders. [u.a.] (Hrsg.), Befund und Deutung. Zum Verhltnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft, Tübingen 1979, S. 405 – 427, bes. S. 418. 23 Als Überblick über die Gründungsgeschichte der Wiener Universität: Alois Niederstätter, sterreichische Geschichte 1278 – 1411: Die Herrschaft sterreich. Frst und Land im Sptmittelalter, Wien 2001, hier S. 362 – 370.
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zumindest über persönliche Verbindungen zum Professorenkollegium verfügten. Gleichzeitig standen sie in engem Kontakt zum Hof, als Hofkapellan Albrechts III. wie Leopold von Wien oder als Hofprediger wie etwa Johannes Bischoff. Entscheidend ist, dass Albrecht III. und die Personen in seinem Umfeld sowohl die Auftraggeber und Mäzene als auch die Rezipienten dieser Literatur waren. Dabei richtete sich das intensive theologische Interesse der Wiener Hofgesellschaft vorrangig auf die katechetische Erbauungsliteratur. Das demonstrieren die beiden wirkmächtigsten Texte der Wiener Schule: das Bußbuch von der Erkenntnis der Snde sowie Thomas Peuntners Bchlein von der Liebhabung Gottes. 24 Gerade an der Erkenntnis der Snde kann das Interesse der höfischen Gesellschaft um Herzog Albrecht III. an religiöser Kommunikation veranschaulicht werden – im Medium einer Literatur, die sich im ,Lesen oder Lesenhören‘, im Vorlesen, mitteilte.25 Die geistlich orientierte Literatur der Wiener Schule prägt das literarische Profil des Wiener Hofs unter Albrecht III. schon rein quantitativ. Ihr gegenüber tritt die weltliche Literatur, für die der Reimsprecher Peter Suchenwirt (ca. 1325 – 1407) steht, zurück, obwohl Suchenwirt in Herzog Albrecht einen persönlichen Gönner gefunden zu haben scheint: Die Lage seines (seit 1377 belegten) Hauses legt nahe, dass er als „Hofdichter“26 zur herzoglichen Dienerschaft gehörte. Suchenwirt steht für eine Literatur, die einerseits in heraldisch-panegyrischen Preisreden die Taten und virtutes habsburgischer Gefolgsleute (die 24 Peuntners Text gehört freilich nicht mehr in das 14. Jahrhundert, sondern entstand zwischen 1428 und 1433; er wird daher im Folgenden ausgeklammert. – Zur Wiener Schule, die zuletzt verstärkt in den Blickpunkt der altgermanistischen Forschung geraten ist, vor allem Thomas Hohmann, „,Die recht gelerten maister‘. Bemerkungen zur Übersetzungsliteratur der Wiener Schule des Spätmittelalters“, in: Herbert Zeman (Hrsg.), Die çsterreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfngen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050 – 1750), Teil 1, Graz 1986 (Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung), S. 349 – 365; Michael H. Shank, ,Unless you believe, you shall not understand‘. Logic, University, and Society in Late Medieval Vienna, Princeton/N. J. 1988; Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), bes. S. 197 – 247. 25 Heinrich von Langenstein, Erchantnuzz der sund, nach österreichischen Handschriften hrsg. von Rainer Rudolf, Berlin 1969 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 22): Diselb gothait muezz mir des helfen, daz alle die, dy¨ das puchel lesent oder hœrent lesen, sich dauon also pessern, daz sy¨ von den ewigen frewden ny¨mmer geschaiden werden (23,10 – 12). 26 Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 603.
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zumeist über Anwesen im Wiener Herrenviertel verfügten) rühmt, andererseits in historisch-politischen, didaktischen und Minnereden kritisch zu aktuellen Ereignissen und Verhältnissen Stellung nimmt. Mit diesem Profil liegt die literarische Szene um Albrecht III. gleichsam quer zu jener, die sich in Salzburg am Hof Erzbischof Pilgrims II. darbietet. Hier ist die Lyrik des Mönchs von Salzburg repräsentativ für die literarische Kommunikation des Hofs. „Selten“, so hat es Ingo Reiffenstein formuliert, ist die Repräsentation einer bestimmten Gesellschaft durch ihren Dichter, die gesellschaftliche Bezogenheit der mittelalterlichen Lieddichtung und ihre Aufführungspraxis so sicher bis in die handschriftliche Überlieferung hinein greifbar wie bei ihm.27
Das Œuvre des Mönchs teilt sich bekanntlich in ein Corpus geistlicher und in ein Corpus weltlicher Gedichte. Jedoch gibt es, so Fritz Peter Knapp, „keinen plausiblen Grund, für die weltlichen Lieder eine grundsätzlich andere Zielgruppe anzunehmen als für die geistlichen“.28 Der Ort ihrer Aufführung und Rezeption war die höfische Gesellschaft um Erzbischof Pilgrim II. Vor allem die Arbeiten von Heinz Dopsch haben gezeigt, dass diese Hofgesellschaft sich vorrangig aus Geistlichen zusammensetzte.29 Es war eine Elite gebildeter, vielfach akademisch geschulter Kleriker, die die wichtigsten Ämter am erzbischöflichen Hof besetzte: das Hofkapellanat, das Kanzleramt, das Amt des Hofmeisters. Von den hohen Hofämtern standen im 14. Jahrhundert lediglich die Ämter des Hauptmanns und des Hofmarschalls Nichtklerikern offen; aber auch sie mussten adelig sein. Die klare Dominanz des Klerus am Hof Erzbischof Pilgrims von Puchheim setzte sich im erzbischöflichen Rat fort: Ein engerer Rat aus dem Vizedom von Salzburg, dem Obersten Schreiber, dem Hauptmann, dem Kanzler, dem Hofmarschall sowie einigen weiteren Personen (bis auf Vizedom, Hauptmann und Hofmarschall allesamt Geistliche) bildete nicht nur das Zentrum der 27 Ingo Reiffenstein, „Die deutsche Literatur“, in: Heinz Dopsch (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 1: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, Teil 2, Salzburg 1983, S. 1097 – 1106, hier S. 1100. 28 Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 469. 29 Siehe zum Folgenden insbesondere Heinz Dopsch, „Salzburg, Erzbischöfe von (mit den Salzburger Eigenbistümern Gurk, Seckau, Chiemsee, Lavant)“, in: Werner Paravicini/Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Hçfe und Residenzen im sptmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Teil 1: Dynastien und Hçfe, Ostfildern 2003 (Residenzenforschung 15 I,1), S. 484 – 495 (mit weiterführender Literatur).
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Hofhaltung, sondern auch die engste gesellschaftliche Umgebung des Erzbischofs; zu ihr gehörte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit dem Domdekan auch der Leiter des Salzburger Domkapitels. Aber nicht nur das Übergewicht des Klerus unterscheidet das Milieu des Salzburger Hofs von der Residenz der Habsburger in Wien im 14. Jahrhundert. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass der Hof des Puchheimers eine offenere soziale Struktur als der Habsburgerhof aufwies. Während im Rat Pilgrims II. Herren und Ritter gleichermaßen vertreten waren, lässt der Hof Albrechts III. diesbezüglich Tendenzen der Integration und Desintegration erkennen: Indem der Herzog nur wenige ritterbürtige Adelige in seinen Rat berief, nutzte er die ämterorganisatorische Struktur des Hofs nach innen hin zur schichtspezifischen Integration des Landherrenadels, nach außen hin dagegen zur Abgrenzung von der empordrängenden Gruppe des ritterständischen Adels.30 Demgegenüber zielte die Politik der Salzburger Erzbischöfe im 14. Jahrhundert gerade auf die Aufweichung der sozialen Grenzen zwischen Herren- und Ritterstand (und im weiteren auf die Ablösung des weltlichen Adels als Herrschaftsträger).31 Tritt so bereits für die funktional-organisatorische Seite des Salzburger Hofs die Dominanz des Klerus deutlich hervor, so prägt sie durch die Lyrik des Mönchs von Salzburg auch die höfische Geselligkeit um Pilgrim II. Christoph März beschreibt die Lyrik des Mönchs-Corpus, und zwar der geistlichen wie der weltlichen Lieder, als das Produkt eines Männerzirkels, eines Kreises gebildeter, literarisch versierter Kle30 Das legt die sozialgeschichtliche Analyse des Hofs Herzog Albrechts III. von Christian Lackner nahe: Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der çsterreichischen Herzoge (1365 – 1406), Wien – München 2002 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 41); Lackner hält die Konkurrenz zwischen Landherren und Rittern im Rat für besonders markant: „Wir stehen vor der Tatsache, daß der Herrenadel im herzoglichen Rat sukzessive an Boden verlor, bis schließlich um 1400 die Ritter ein zahlenmäßiges Übergewicht erlangten. Während im Rat Herzog Albrechts III. ritterbürtige Adelige wie Albrecht Schenk von Ried, oder Hans von Dietrichstock noch eher vereinzelte Ausnahmen darstellten, rekrutierten sich die Räte Wilhelms bereits mehrheitlich aus dem Ritterstand. Parallel dazu rücken die Ritter vermehrt in landesfürstliche Spitzenpositionen ein, die bis dahin dem Herrenadel vorbehalten gewesen waren“ (S. 135). 31 Vgl. Heinz Dopsch, „Die innere Entwicklung“, in: ders. (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 1: Vorgeschichte, Altertum, Mittelalter, Teil 1, Salzburg 1981, S. 347 – 418, hier S. 399 und 402 f.
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riker.32 Schon aus der anonymisierenden Verwendung von Abbreviaturen für die Namen von Frauen in den Mönch-Liedern W 7 und W 33 wird allerdings deutlich, dass diese Lyrik den größeren Rezeptionskreis einer höfischen Gesellschaft verlangt, an der nicht nur Frauen, sondern wohl auch die stadtbürgerlichen Oberschichten Salzburgs teilhatten. Literatur wird hier zum Gegenstand musikalischer Unterhaltung und literarischer Rollenkonversation, „eines verbalen Maskenballes, wo sich Mitglieder des Hofs zur festlich-galanten Unterhaltung mit den Worten des Sängers verkleiden“.33 Dadurch erscheint die literarische Kommunikation des Salzburger Hofs der klerikal-monastischen Sphäre „rätselhaft“ entrückt.34 Hier wird eine weltliche Liedkultur gepflegt und gefördert, die in ihrer mehr oder minder expliziten Erotik im Widerspruch zu den moraltheologischen Imperativen einer klerikalen Lebensführung zu stehen scheint. Aber dieser Widerspruch wird nicht thematisiert. In der Liebeslyrik des Mönchs tritt an die Stelle der Darstellung des Antagonismus zwischen einem ausschließlich von Innennormen her gedachten Ideal rechten Liebens und den kirchlichen und adelig-feudalen Außennormen der Gesellschaft – eines Konflikts zweier Wertwelten, die im klassischen und nachklassischen Minnesang spannungsreich aufeinander bezogen waren – die vitale Sinnlichkeit der Liebe in einer konfliktfreien Liebesbeziehung. So inszeniert das Sänger-Ich in W 50 ein anspielungsreiches allegorisches Wechselspiel zwischen einem Blumenkranz und den einzelnen Blumen, die er sich von seiner Liebsten wünscht, und einer anatomischen Beschreibung der Dame: Dye plemlein stent czum frwdental; ir puschlein das ist nyden smal vnd oben prait noch rechter wal, mit ganczem lust gekrispelt vnd gepogen. (2,1 – 4) 35 32 Vgl. März in der Einleitung zu seiner Edition der weltlichen Lieder des Mönchs: Mönch von Salzburg, Die weltlichen Lieder. Texte und Melodien, hrsg. von Christoph März, Tübingen 1999 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 114), S. 3 – 8; zur höfischen Gesellschaft um Pilgrim von Puchheim und der Rolle des Autors in diesem Kreis überdies Burghart Wachinger, Der Mçnch von Salzburg. Zur berlieferung geistlicher Lieder im spten Mittelalter, Tübingen 1989 (Hermaea N.F. 57), S. 119 – 137. 33 Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 632. 34 Ebd., S. 615. 35 Zitiert nach der Ausgabe Mönch von Salzburg, Die weltlichen Lieder (Anm. 32).
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Die positiv konnotierte sexuelle Aufladung des Begriffs der lust – in der Doppelbedeutung von ,Freude‘ und ,Verlangen‘ – kann am deutlichsten auf die Diskrepanz verweisen, die im Hinblick auf die Bewertung höfischer Werthaltungen zwischen den geistlichen und den weltlichen Liedern des Mönchs besteht. Der ,lustvollen‘ Anknüpfung an traditionelle Themen und Motive des Minnesangs und der höfischen Liebe hier kontrastiert die Aversion gegen jedes weltliche Vergnügen oder Verlangen dort. Letztere artikuliert sich klar in dem geistlichen Lied G 10, in dem der Sänger Maria direkt um Hilfe gegen solches Verlangen anspricht: sndlich begir an uns erwend, j das werltlich lust den leib icht plend (V,8 f.).36 Aus den beiden Versen erhellt, worin die Gefahr ,weltlicher Lust‘ gesehen wird: Indem sie personifiziert, das heißt als handelnde Person, die ,blenden‘ kann, eingeführt wird, erscheint sinnliches Verlangen als eigenständige, dem Menschen entgegengesetzte und für ihn nicht kontrollierbare Macht. Zugleich wird mit dem Verb blenden die Dichotomie von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit aufgerufen. Lust, so wird aus dem Zusammenhang der Stelle deutlich, entzieht dem Menschen die Fähigkeit, sich in seiner Lebensführung auf Gott hin zu orientieren. Die literarischen Szenen am Wiener und am Salzburger Hof führen somit eine paradoxe chiastische Konstellation vor: In Wien verschreibt sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein weltlicher Fürstenhof zuallererst der Pflege und Förderung religiös orientierter Literatur; in Salzburg hingegen setzt der Hof eines geistlichen Fürsten auf eine literarische Gesellschaftskunst, die in hohem Maße weltlich geprägt ist. Gleichzeitig deutet sich an, dass sich aus dem Ineinander von literarischer und – literarisch vermittelter – religiöser Kommunikation am Hof Konfrontationen ergeben, die sich in besonderer Weise im Bereich der Konzepte höfischer Lebensführung und Identitätsvergewisserung niederschlagen. Das soll nun anhand zweier Aspekte näher in den Blick genommen werden: anhand des sogenannten ,Aufrichtigkeitsproblems‘37 und anhand des Problemzusammenhangs von höfischer Identität und individuell-religiöser Selbstvergewisserung.
36 Mönch von Salzburg, Die geistlichen Lieder, hrsg. von Franz V. Spechtler, Berlin – New York 1972 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 51). 37 Vgl. Tyrell, „Religiöse Kommunikation“ (Anm. 17), S. 75.
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III. Die Analogie von Innerem und Äußerem oder: Das ,Aufrichtigkeitsproblem‘ Die Bedeutung des religiösen Diskurses über das ideale Verhalten für die literarische Kommunikation des Hofs lässt sich zunächst an der Charakterisierung des Verhältnisses von Subjektivem und Objektivem, von Innerem und Äußerem verdeutlichen. In den Texten des Wiener Reimspruchdichters Peter Suchenwirt wird in diesem Zusammenhang das Ideal einer unmittelbaren Übereinstimmung, einer analogischen Beziehung zwischen dem Inneren eines Menschen und seiner Darstellung im Äußeren postuliert. Diese Analogie wird oft ex negativo eingefordert, das heißt über die Kritik an der Abweichung. Dies entspricht dem moraldidaktischen Gestus der lehrhaften Reden des Sprechers. So wird in der lehrhaften Minnerede Von der Minne (Pr. XXIII) 38 der valsche[] rumær (42) gerügt, der von rainen vrawen chlaffet (43), und zwar: des er nie gesach (49), der also durch Äußerungen diskreditiert, deren Wahrheitsgehalt nicht durch Augenzeugenschaft beglaubigt ist. An anderer Stelle kritisiert die Rede diejenigen, die durch das Tragen eines blauen Gewandes – Blau als die Farbe der Beständigkeit – den höfischen Haltungswert stæte simulieren. Im Zusammenhang damit äußert die allegorische Gestalt der stæte nun gegenüber ihren Gesprächspartnerinnen, Minne und Gerechtigkeit: Stæt wont im hertzen, wizzet daz, j Daz si nicht von der varbe chumt (92 f.). In der moralisierenden Emphase der Inversion wizzet daz wird hier die Rückbindung einer aufrichtigen, verlässlichen Haltung an das Herz, das Innere, verdeutlicht; eine Rückbindung, die durch den metaphorischen Gebrauch des Verbs wonen als eine kontinuierliche Präsenz dargestellt wird, die nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen wirkt. Vor allem aber wird durch die solcherart postulierte Unmittelbarkeit von Innerem und Äußerem – wobei das Innere als das Authentizitätsverbürgende nach außen wirkt – eines signalisiert: die Sensibilität des Sprechers für die Manipulierbarkeit dieses analogischen Verhältnisses. Beständigkeit wohnt im Herzen. Sie ist dem Blick entzogen, kann sich nur in einem entsprechenden äußeren Verhalten manifestieren: der welt ze schein! (45) Daraus aber ergeben sich zwangsläufig Möglichkeiten der Simulation wie der Dissimulation, der Vortäuschung wie der Verschleierung, die 38 Peter Suchenwirt, Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein Beytrag zur Zeitund Sittengeschichte, hrsg. von Alois Primisser, Wien 1827 (Nachdruck Wien 1961).
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einen Schein erzeugen, dem kein Sein entspricht. Von hier her stellt sich das Problem der Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit wird zum Problem, weil dem Inneren keine anderen Chancen der Authentifizierung zu Gebote stehen, als sich nach außen hin ,glaubhaft‘ sichtbar zu machen. Suchenwirt thematisiert dieses Problem insbesondere am Typus des Heuchlers oder Schmeichlers, an den losen (z. B. in Pr. XII,59). Dabei verweist die Kritik an diesem Typus auf zwei Seiten des Aufrichtigkeitsproblems: Der Reimsprecher stellt es einerseits als ein individuellreligiöses, andererseits als ein kollektiv-gesellschaftliches Problem dar. In religiöser Hinsicht irritiert es die individuelle Heilsperspektive: Der klaffære ist des Teufels (Dez muozz er in der helle dach j Versmeltzen und verprennen, Pr. XXIII,50 f.). In gesellschaftlicher Hinsicht irritiert es die Möglichkeiten, die Komplexität und potenzielle Kontingenz der Umwelt zu reduzieren. Indem die Rede Von der Minne nämlich am Beispiel der Frauen die negativen Folgen gezielter Falschaussagen klarmacht – sie geraten zu rainer vrawen ungewin (73) –, verdeutlicht sie zugleich die eminente Bedeutung des sogenannten ,guten Rufs‘. Denn der ,Schwätzer‘ kann den Damen nur deshalb schädlich werden, weil in der Sozialität, auf die der Autor sich bezieht, der Leumund die einzige oder zumindest die zuverlässigste Möglichkeit der Informationsgewinnung und Umweltorientierung bietet; hier ist das Individuum in der Gesellschaft daher am verletzlichsten. Gleichzeitig basiert der gute Ruf auf dem – unausgesprochenen – Prinzip der Analogie von Innen und Außen: auf dem Vor-Urteil, dass das Äußere dem Inneren entspricht.39 Für Suchenwirt stellt sich das so beschriebene Aufrichtigkeitsproblem besonders im Hinblick auf Sprache und Gebärde. In einer weiteren allegorischen Minnerede – Die Minne vor Gericht (Pr. XXIV) – wird die personifizierte Minne von dem Vorwurf entlastet, selbst an der von ihr beklagten Treulosigkeit der jungen Liebenden schuld zu sein. Der Ich-Sprecher verteidigt sie: Di Minn di hat nicht schulden, Ob si m Gz chumer dulden, Daz machen, di unstæte sint, Der maniger noch in minne print Mit gepær, als er sei g Gt. (Pr. XXIV,264 – 268) 39 Hinzu kommt, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, dass es gerade die Bereiche von Körperlichkeit und Sexualität – und wiederum insbesondere in Bezug auf Frauen – sind, in denen das Aufrichtigkeitsproblem in Suchenwirts Texten in besonderem Maße virulent wird.
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Gegen die Möglichkeit der Manipulation, die in der Als-ob-Formulierung als er sei g Gt enthalten ist, setzt der Sprecher daher gerade im Bereich der verbalen Kommunikation das Analogiemodell. Deutlich ausgesprochen wird dies in zwei seiner panegyrischen Reden, in denen an den gepriesenen Personen – Herzog Albrecht II. von Österreich und Herzog Heinrich von Kärnten – jeweils hervorgehoben wird, ihnen sei daz hertz al sam der munt (Pr. III,68; VI,70). Die Kommunikation, die hier als vorbildhaft apostrophiert wird, ist eine, in der das Herz unmittelbar zum Mund, zur Sprache und damit Abbild des Innern ist. Es geht um eine Unmittelbarkeitssuggestion, die, wie das Vergleichswort alsam verdeutlicht, auf die Analogie, mehr noch: auf die Identität von Herz und Mund, von Innen und Außen setzt und auf diese Weise jede mögliche Dissonanz zwischen ,Herz‘ und ,Mund‘, alle Möglichkeit von Lug und Trug ausschließen möchte.40 Hartmann Tyrell hat darauf hingewiesen, dass solche Kommunikation, die auf die „,Synchronschaltung‘ zwischen ,Innen‘ und (kommunikativer) ,Äußerung‘“ zielt, ein Modus von ,Glaubenskommunikation‘ ist. Dabei erklärt sich die Präferenz der Glaubenskommunikation für eine Kommunikation der Unmittelbarkeit zwischen dem Inneren und dem Äußeren daraus, dass Glaubenskommunikation immer bestätigungsbedürftig ist, oder: aus einem Bedürfnis der „gesteigerten ,Abnahmesicherung‘“. Es geht um die Herstellung von Glaubwürdigkeit und Überzeugungsfähigkeit durch die Suggestion der Unmittelbarkeit von Innen und Außen.41 Insofern ist das Analogiemodell, das Peter Suchenwirt in seinen Texten für die Gesellschaft des Wiener Hofs Albrechts III. entwirft, nicht nur eine ethische Kategorie (im Sinne von Aufrichtigkeit). Sondern es beschreibt zugleich ein Modell der Kommunikation, das größtmögliche Authentizität zu suggerieren versucht, indem es auf die Unmittelbarkeit vor allem der mündlichen Mitteilung setzt. Die religiöse Kategorie des Glaubens – und das ihr zugrunde liegende Kommunikationsmodell der Unmittelbarkeit – erhält so eine 40 Letztlich führt die Propagierung dieses Analogiemodells freilich in eine aporetische Situation: Der Erfolg der unredlichen Prahler, die Tatsache, dass sie überhaupt erfolgreich sein können, ist nicht nur an ein striktes Moralsystem gebunden, sondern gerade auch an die Geltung des Analogieprinzips: dass das, was scheint, für das, was ist, gehalten wird. Suchenwirt kritisiert im Typus des den guten Ruf verunglimpfenden Heuchlers die Konsequenzen dieses Systems. Gleichzeitig jedoch perpetuiert und stützt er es, indem er das ihm zugrunde liegende Prinzip – nämlich das Analogiemodell – affirmiert. 41 Tyrell, „Religiöse Kommunikation“ (Anm. 17), S. 89.
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gesellschaftliche Relevanz: Auch in der Sozialität, die Suchenwirt vor Augen hat, wird Glaubwürdigkeit als hoher Wert gesetzt, der durch die Fiktion der Identität von Innen und Außen gesichert wird. Zugleich wird er auf eine Weise vermittelt, die in der Unmittelbarkeit der literarischen Kommunikation – es handelt sich bei Suchenwirts Texten zunächst um interaktive Kommunikation – die geforderte Unmittelbarkeit zwischen Innen und Außen gewissermaßen vorexerziert. Die „,Synchronschaltung‘ zwischen ,Innen‘ und (kommunikativer) ,Äußerung‘“ ist in ethischer Hinsicht, das heißt im Blick auf die höfischen Wertvorstellungen, die darin ausgesagt sind (Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit etc.), zwar keineswegs spezifisch religiös.42 In kommunikativer Hinsicht erscheint dieses Analogiemodell jedoch eindeutig in einen religiösen Kommunikationszusammenhang eingebettet, der dann auch – wie zu sehen sein wird – Rückwirkungen auf den ethischen Gehalt der in den Texten verhandelten Lebens- und Verhaltenskonzepte hat. Diese Rückbindung der Innen-Außen-Analogie an einen religiösen Kommunikationszusammenhang lässt sich bereits für die literarische Szene um Herzog Albrecht III. beobachten. In seinem Auftrag und für seinen Hof entstehen zwei Texte, die in besonderer Weise religiös geprägt sind: der eine ein Fürstenspiegel – Der Frsten Regel –, dem die Vulgata-Fassung der pseudo-philippischen Version des arabischen Secretum secretorum zugrunde liegt43 ; der andere das bereits 42 So hat Walter Haug darauf hingewiesen, dass die Idee einer analogischen Beziehung zwischen Innerem und Äußerem, die dem klerikalen Ethos der curialitas zugrunde liegt, auch im höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans des 12./13. Jahrhunderts relevant wird; allerdings in einer Brechung, die bei genauerer Betrachtung gerade die Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Gott und Welt bewusst mache und dann in der spätmittelalterlichen Rezeption des höfischen Romans wieder banalisiert und vereindeutigt worden sei. Haug entfaltet seine Thesen als Kritik an C. Stephen Jaegers Modell der Genese des höfischen Lebens- und Verhaltensentwurfs: Walter Haug, „Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der Curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans?“, in: Christoph Huber/Henrike Lähnemann (Hrsg.), Courtly Literature and Clerical Culture. Selected Papers from the Tenth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, Tübingen 2002, S. 57 – 75. 43 In der von Gerd Brinkhus publizierten Fassung, die den ersten Teil einer bayerischen Fürstenspiegelkompilation aus der Mitte des 15. Jahrhunderts einnimmt: Gerd Brinkhus, Eine bayerische Frstenspiegelkompilation des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen und Textausgabe, Zürich – München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 66), hier
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genannte Bußbuch von der Erkenntnis der Snde, das in der handschriftlichen Überlieferung vielfach dem prominenten Wiener Universitätstheologen Heinrich von Langenstein zugeschrieben wird.44 Auch hier handelt es sich nicht um einen deutschen Originaltext, sondern um eine selbständig auswählende Übertragung, die aus dem lateinischen moraltheologischen und kanonistischen Schrifttum des 13. Jahrhunderts schöpft, vor allem aus der Summa de vitiis Wilhelms von Peyrault und der Summa de poenitentia Raimunds von Peñafort.45 In seiner Übertragung unterzieht der Autor von Der Frsten Regel die lateinische Vorlage einer tiefgreifenden religiösen Überarbeitung und stellt die grundsätzlich weltliche Ethik des Secretum secretorum auf eine bibeltheologische Grundlage. Dies wird schon aus der Prämisse klar, unter der der Text antritt – ,Der Weisheit Anfang ist Gottesfurcht‘ (Z. 13 – nach dem Psalmwort 110,10) –, und aus dem Postulat einer Gesamtausrichtung der Lebensführung auf Gott hin. Dabei liegt der in dem Text entfalteten Fürstenlehre das beschriebene Prinzip der Analogie zwischen Innerem und Äußerem zugrunde. Zum Ausdruck kommt das – unter anderem – in der Metaphorik der Durchleuchtung, die das Innere auf das Äußere hin transparent macht: also gibt er – der Fürst – sich zu erkennen gar durchleucht mit loblichen tugenten (Z. 431 f.). Die Metaphorik des Leuchtens, die das Präfix durch im Sinne einer Totalität superlativisch steigert, hebt nicht nur den Körper des Fürsten sinnlichvisuell hervor. Sie verweist auch auf eine Helligkeit und Transparenz des Körpers, und zwar vermittels der positiven Eigenschaften, der Tugenden, die den Fürsten in seiner Eigentlichkeit – man könnte auch sagen: in seiner Identität – zu erkennen geben. So ist es der Text selbst, der mit den Mitteln verbaler Kommunikation – im Lesen oder Vorgelesenwerden – eine Visualität inszeniert, die die Identität von Innerem und Äußerem sinnlich wahrnehmbar und damit glaubhaft macht. Dass das Modell der Analogie zwischen Innerem und Äußerem im ethischen Diskurs an Albrechts Hof in kommunikativer Hinsicht religiös durchdrungen ist, kann zum andern die Erkenntnis der Snde klarS. 81 – 101; dazu Schreiner, ,Hof‘ und ,hçfische Lebensfhrung‘ (Anm. 14), S. 71; Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 209 – 211. 44 Diese Zuweisung bleibt indes fraglich. Fritz Peter Knapp vermutet, dass sie erst nach dem Tod des berühmten Theologen von einem anonymen Verfasser – wohl einem Seelsorger aus dem Umkreis des Wiener Hofs – vorgenommen wurde, um der Schrift mehr Gewicht zu verleihen; siehe ebd., S. 214. 45 Zu den Quellen des Textes siehe Rainer Rudolf in Heinrich von Langenstein, Erchantnuzz der sund (Anm. 25), S. 19 – 25.
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machen. Die entscheidende Stelle findet sich im 15. Kapitel des pastoraltheologischen Traktats, Wem der svnder peichten schol. Hier heißt es, der Sünder solle beichten, darvmb daz in niemant anders versech, wenn wer er ist (15,4 f.). In diesem Sinne versteht die Beichte sich als Werk der Tugend, daz wider dy¨ gleichsner ist (15,2 f.). Wieder ist es – nun in einem eindeutig religiösen Kontext – das Wort, das die Identität zwischen dem Sichtbaren, dem Äußeren, und dem Inneren herstellen soll. Und wieder wird, wie bei Peter Suchenwirt, die durch die Unmittelbarkeit der verbalen Kommunikationssituation der Beichte hergestellte Versicherung, dass das Äußere dem Inneren entspricht, gegen eine Strategie des Vortäuschens, der Simulation wie der Dissimulation, gestellt, die sich im Typus des gleichsner[s] personifiziert. Am Beispiel der Analogie von Innen und Außen, von Haltung und Verhalten, so wie Suchenwirt sie in seinen Reimreden für die weltlichen Eliten im Umfeld des Wiener Hofs propagiert, kann gezeigt werden, dass ein zentraler Aspekt des höfischen Verhaltensentwurfs im literarischen Diskurs sich an einem religiösen Kommunikationsmodell orientiert. Oder, um es allgemeiner zu sagen: dass ein zentraler Aspekt des höfischen Verhaltenscodes, der sich in literarischer Kommunikation zu verstehen gibt, hinsichtlich seiner Beglaubigungsstrategien die Authentifizierungsverfahren religiöser Kommunikation teilt. So ist auch nicht auszuschließen, dass Suchenwirt besonders von dem religiösen Wertediskurs in der literarischen Produktion der Wiener Schule beeinflusst war. In seiner Fürstenlehre Daz sind Aristotiles rÞt beruft er sich selbst auf Herzog Albrecht III., der ihn auf das Secretum secretorum hingewiesen habe: Er sagt mir, es st Fnt geschriben In secret secretorum, In der epistel beliben Der f Frsten ordenung tze frum. (Pr. XXXVIII,345 – 348)
Wolfgang Achnitz hat in einem 1998 erschienenen Beitrag auf inhaltliche Verbindungen zwischen Lehrgedichten Peter Suchenwirts und der volkssprachlichen Aufbereitung lateinischer Texte aus dem Umkreis der Universität durch die Wiener Schule hingewiesen.46 Die Verbindung
46 Vgl. Wolfgang Achnitz, „Peter Suchenwirts Reimtraktat ,Die Zehn Gebote‘ im Kontext deutschsprachiger Dekaloggedichte des Mittelalters. Mit Textedition und einem Abdruck der Dekalog-Auslegung des Johannes Künlin“, in: Beitrge
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zwischen Hof und Universität hebt Suchenwirt auch selbst hervor: Im Epilog zu seiner Rede über Die sieben Freuden Mariens beruft er sich explizit auf diejenigen Theologen, die es ihm ermöglicht hätten, die Heilige Schrift und ihre Auslegung zu rezipieren (Pr. XLI,1522 – 1532). Vor allem aber ist wichtig: Durch die Beglaubigungsfunktion des Analogiemodells wird ein Problemzusammenhang aufgerufen, auf den schon der bereits zitierte Satz aus der Erkenntnis der Snde, beichten solle der Sünder darvmb daz in niemant anders versech, wenn wer er ist, verwies: auf den Problemzusammenhang von individuell-religiöser Selbstversicherung und kollektiver höfischer Identität. Das soll nun näher ausgeführt werden, denn auch hier erweisen sich literarische und religiöse Kommunikation am Hof in besonderer Weise aufeinander bezogen.
IV. Individuell-religiöse Selbstvergewisserung und kollektive höfische Identität Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass die Diskussion höfischer Verhaltens- und Seinskonzepte in der höfischen Literatur immer auch unter dem Aspekt der Herstellung von höfischer Identität gesehen werden kann. Dabei lässt sich an Texten wie den moraldidaktischen Reden Peter Suchenwirts, die sich dezidiert an eine adelige Hofgesellschaft richten, zeigen, wie der religiöse Diskurs in den literarischen bei Hof hineinwächst. Was hier am Aufrichtigkeitsproblem demonstriert wurde, ließe sich in der Wiener Literaturszene auch an anderen Leitwerten des courtoisen Verhaltenscodes zeigen: etwa an einer Übersteigerung der traditionellen ritterlichen Forderung, sich für den Schutz der Schwachen, Witwen und Waisen einzusetzen, hin zu einer Ethik der Askese, Leidensbereitschaft und Selbstaufopferung, welche den Ritter gewissermaßen in eine Nachfolge der Passion Christi stellt.47 Oder an der Marginalisierung des Konzepts des hhen muotes, das bei Suchenwirt kaum mehr thematisiert wird, offenbar weil es nun durch zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 120/1998, S. 53 – 102, hier S. 80 – 82. 47 Aus zahlreichen Beispielen sei nur eines aus Suchenwirts zweitem Panegyricus auf Burkhard von Ellerbach den Jüngeren – es handelt sich um eine heraldische Totenklage – angeführt, das die Leidensmetaphysik verdeutlicht, um die es hier geht: G =tleicher lieb inhitzig vrisch j Was er durchpr Fnstig als ein gl Gt, j In gotes d þnst mit rainem m Gt j Dem leib durch we, der sel durch wol (Pr. X,220 – 223).
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die klerikale Tradition als superbia negativ besetzt ist.48 Oder auch an der Interpretation des Scham-Begriffs: Scham erscheint nun zunehmend als ein religiös gefärbter Begriff, der als weltliches Pendant zur Gottesfurcht fungiert und auf Gott hin vermittelt ist.49 Zugleich bleiben freilich, was die Konzepte einer ,richtigen‘ Lebensführung betrifft, in den Texten im Umfeld des Wiener und des Salzburger Hofs Ambivalenzen bestehen. Allerdings stellen sie sich je unterschiedlich dar. In Salzburg ist es der Mönch von Salzburg, der in seinen geistlichen Liedern, so wurde demonstriert, gegen die Verführung durch beziehungsweise die Hingabe an weltliches Vergnügen oder Verlangen plädiert. Gleichzeitig thematisiert derselbe Autor in seinen weltlichen Liedern, die den größeren Teil seines bekannten dichterischen Œuvres ausmachen, weltliche Lust gerade in der Tradition weltlicher literarischer Muster und Sujets. Dass es ein und derselbe Autorenkreis ist, der dergleichen für die höfische Gesellschaft am Salzburger Hof Erzbischof Pilgrims II. ins Werk setzt, verweist darauf, dass sich Sakrales und Profanes hier scheinbar problemlos in einen gemeinsamen Horizont höfischer Kommunikation einfügen. Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint, wird in der literarischen Szene um den Erzbischof offenbar nicht als solcher wahrgenommen; die Widersprüchlichkeit erweist sich insofern als VorUrteil einer Ex-post-Perspektive, die Kohärenz einfordert, wo diese weder verlangt noch beabsichtigt war. Anders stellt sich dies für die Literatur im Umfeld des Wiener Hofs unter Herzog Albrecht dar: Hier führt das Hineinwachsen des religiös-heilsgeschichtlichen Diskurses in den literarischen zu Brüchen und Verschiebungen. Die Behandlung des Aufrichtigkeitsproblems und die intertextuellen Bezüge zwischen den Texten Peter Suchenwirts und der Wiener Schule zeigen, dass die Texte und die in ihnen ausgeprägten Entwürfe in Wien dort aufeinander reagieren, wo sie in Salzburg unvermittelt nebeneinander stehen. Am deutlichsten zeigt sich das etwa am Thema der Gott- und Weltgefälligkeit ritterlich-adeligen Seins, an der Adelsthematik oder an dem Bild der Frau: Wieder soll hier ein Blick auf die Texte Peter Suchenwirts und der Wiener Schule geworfen werden. So schreiben die 48 Vgl. dazu auch Haug, „Gibt es einen Zusammenhang?“ (Anm. 42), S. 65. 49 Was der herausgehobenen Rolle des Scham-Konzepts in der Beichte, wie es die Erkenntnis der Snde darstellt, entspricht; zum Scham-Begriff in der mittelalterlichen Literatur allgemein David N. Yeandle, ,schame‘ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1200: Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Bercksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung, Heidelberg 2001 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte).
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Reden des Reimsprechers das traditionelle Postulat der höfischen Ritteridee fort, Gott und der Welt zugleich gefallen, das heißt: religiöse und weltliche Imperative miteinander harmonisieren zu können.50 Der Fürstenspiegel Der Frsten Regel teilt dieses Konzept: Die Formel also gevellt er got und der werlt wird hier, auf den Fürsten bezogen, allenthalben verwendet (z. B. Z. 188 – 190, 296, 399, 489). Demgegenüber spricht ein Text wie die Erkenntnis der Snde die genau entgegengesetzte Haltung aus und erteilt, Mt 6,24 zitierend, dem ritteradeligen Anspruch, Gott und der Welt zugleich dienen zu können, eine Absage: Ir mgt got vnd der werlt nicht mit einander gedienen (36,36 f.). Dieselbe Haltung wird auch noch einmal im Blick auf die höfische Dame, oder allgemeiner: die höfische Geschlechterbeziehung, formuliert: Vnd dauon scheint wol, das dy¨ frawn nicht edel sind, dy¨ ir lieb gerner legent an ainen armen ritter diser werlt, wenn an den rechten knig der ern; vnd dy¨ ritter scheinent nicht edel sein, dy¨ ir lieb an das erdreich legent und versmÞhent das himelreich. (53,35 – 38)
An dieser Stelle wird in scharfen Antithesen davor gewarnt, eine Balance zwischen geistlichen und weltlichen Imperativen, zwischen Gottesliebe und Liebe zur Welt auch nur für möglich zu halten. Zugleich deutet sich bereits an, was das für die Vorstellung von Adel impliziert: Die Erkenntnis der Snde vertritt einen Adelsbegriff, der an das gelehrt-theologische Konzept des Tugendadels anknüpft und den Geburtsadel zumindest deutlich in Frage stellt.51 Dabei wird der Geburtsadel mit dem bekannten Argument hinterfragt, dass von Natur aus alle Menschen gleich seien und geschieden nur nach ihrer jeweiligen Sündbeziehungsweise Tugendhaftigkeit.52 Die Möglichkeit einer Rechtfertigung des Geburtsadels ergibt sich allenfalls aus dem Seneca-Zitat: Wer 50 Wenngleich sich auch hier eine stärkere Betonung der Gottgefälligkeit ergibt: siehe nur Pr. VIII,28 – 32, 211 f.; X,220 – 223; XXIII,100 – 103. 51 Wichtig zum mittelalterlichen Adelsdiskurs: Volker Honemann, „Aspekte des ,Tugendadels‘ im europäischen Spätmittelalter“, in: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Sptmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), S. 274 – 288; Fritz Peter Knapp, „,Nobilitas Fortunae filia alienata‘. Der Geblütsadel im Gelehrtenstreit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert“, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 88 – 109. 52 So heißt es in Kap. 43,27 – 30: Von natur seind alle lewt eben genos vnd geleich, vnd chain mensch ist genidert fr den andern, es geschech dann von sunten wegen, dy¨ ein mensch tut, darumb in got ny¨dert; siehe darüber hinaus vor allem die Kap. 51 – 53.
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ist edel? Der zu tugenten von natur wol geschiket ist (52,2 f.). Man könnte dies so verstehen, dass von einer geburtsmäßigen Begabung zur Tugendhaftigkeit ausgegangen wird, die so vermittelt wiederum zur Begründung eines Geburtsadels führen könnte; deutlich expliziert wird das aber nicht. Suchenwirt demgegenüber begreift Adel als eine Qualität, die durch Abstammung vorgegeben ist, auch wenn sie dann der tätigen Bewährung bedarf 53, und er plädiert in seinen Minnereden für den Minnedienst als zentrales Element einer konservativen Adelsethik.54 Die Beispiele, die noch vermehrt werden könnten, zeigen deutlich die Antagonismen und Differenzen zwischen den verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsentwürfen: zwischen monastischen und curialen, zwischen klerikalen und ritterlich-adeligen Leitbildern und Wertvorstellungen. Und zwar in der Weise, dass in der Literatur um Erzbischof Pilgrim II. Geistliches und Weltliches sich offenbar fraglos-unvermittelt in der literarischen Kommunikation bei Hof nebeneinander stellt, während sich in der literarischen Szene um Albrecht III. die teilweise sehr gegensätzlichen Entwürfe gegenseitig beeinflussen und aufeinander reagieren: mit der Tendenz zu einer religiösen Durchdringung der ritterlich-laikalen Adelsethik. Wichtig aber ist: Diese Tendenz äußert sich bei Peter Suchenwirt vor allem in jener moraldidaktisch-zeitkritischen Spruchdichtung, der der Dichter sich widmete, nachdem er – um 1377 – in Wien ein Haus erwerben und sesshaft werden konnte. Davor war er als lohnabhängiger fahrender Berufsdichter für verschiedene Auftraggeber tätig, für die er panegyrische Gedichte zu Ehren lebender oder verstorbener Angehöriger vor allem des österreichischen Landherrenadels verfasste.55 Für diese panegyrischen Texte wiederum ist kennzeichnend, dass in ihnen die tradierten Wertemuster und Begriffe eines ritterlich-höfischen Seins und Verhaltens, wie sie vornehmlich im höfischen Roman des 12./13. Jahrhunderts narrativ entfaltet werden, in stereotyp-schemati53 In seiner heraldischen Totenklage auf Herzog Heinrich von Kärnten sagt der Sprecher: Sein edel muot mit ern hat j Peweret adel und gepurt (Pr. VI,138 f.). Widerspruchsfrei ist seine Haltung in dem mittelalterlichen Streit um Tugendund Geblütsadel indes nicht. In der Minnerede Der widertail lässt er Frau Venus apodiktisch formulieren: Wer tugent phligt, der ist edel j Und niemen mer, auf mein ait. (Pr. XXVIII,334 f.) Indem der Sprecher diese Aussage jedoch der personifizierten Venus in den Mund legt, erzielt er mit rhetorischen Mitteln eine Distanzierung, die seine eigene Meinung in der Streitfrage verschleiert. 54 Vgl. dazu auch Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 100. 55 Ebd., S. 89 – 91 zu Suchenwirts Biographie.
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scher Weise reproduziert werden. Begriffe wie zuht, schame, mze, milte, st #te, triuwe, bescheidenheit oder auch manheit sind in den Texten allgegenwärtig. Sie dienen dem Tugendlob der Geehrten und sind mit Tatenschilderungen verbunden, aber nicht im Sinne einer narrativen Ausdifferenzierung und problematisierenden Vermittlung zwischen Tugendzuschreibung und Handlungsschilderung, die erst jene Dynamik erzeugt, die für die Entfaltung des höfischen Verhaltenscodes im klassischen höfischen Roman charakteristisch ist. Vielmehr kann bei Suchenwirt jeder Herr und jeder Ritter mit quasi denselben Attributen und Epitheta belegt werden; Modifikationen ergeben sich allenfalls aus der sozialen Stellung der Akteure. Man kann die Texte insofern zwar – wie Claudia Brinker – als Ritterspiegel im Sinne einer an den Adeligen gerichteten „Anleitung für das seinem Stand entsprechende Leben“56 oder – wie Johannes Janota – als exemplarische Aufforderung an den Adel zur Nachfolge im Dienst der österreichischen Herzöge lesen.57 Doch gehen sie darin nicht auf. Ihre Exempelhaftigkeit ist vielmehr als Ausdruck dessen zu verstehen, dass es in erster Linie um die Demonstration des gesellschaftlichen Selbstdeutungskonzepts einer höfisch-aristokratischen Oberschicht geht. Und die postulierte Verbindlichkeit dieses Selbstdeutungskonzepts, sein Charakter als eine standardisierte Oberschichtenmoral wird gerade in der statisch wirkenden Stereotypie der Aufzählung ritterlichhöfischer Verhaltensmaßstäbe und in dem damit einhergehenden Verzicht auf Feinregulierungen deutlich. Hinzu kommt, dass die Preisreden und Totenklagen nicht Fiktion, sondern Darstellung historischer Wahrheit sein wollen.58 Die Stereotypie und Topik der Texte kann daher – gerade aufgrund des distanten Verhältnisses zur historischen Wirklichkeit, das mit der (mit einem Wort Max Webers) ,Stereotypierung‘ einhergeht – interpretiert werden als Ausdruck einer freien Verfügung über das, was als Wirklichkeit wahrgenommen werden soll. Indem bestimmte literarische Schemata frei zur Darstellung historischer 56 Claudia Brinker, Von manigen helden gute tat. Geschichte als Exempel bei Peter Suchenwirt, Bern [u.a.] 1987 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 30), S. 216. 57 Janota, Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 21), S. 350 f. 58 So in einer Totenklage auf Burggraf Albrecht von Nürnberg: Wer adel hab, der merke, j Ob ich hie di warhait sag j Von dem, den ich mit trewen chlag j Auz meines sinnes phorten. j Chund ich nu wol mit worten j Dy warhait von im machen chunt! (Pr. VII,20 – 25); weitere Belege für diesen Wahrheits- oder Authentizitätsanspruch des Sprechers: Pr. V,9 – 14; XV,30 f.
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Wirklichkeit funktionalisiert werden, vollzieht sich eine Aneignung dieser Wirklichkeit und ihrer Kontingenz, und zwar über die Ebene des Symbolischen. Im Rückgriff auf literarische Topoi wird in den Panegyrici Peter Suchenwirts so eine Form der Kommunikation innerhalb der Eliten des Hofs vorgeführt, die eingespielte und nur einer literarisch informierten Schicht eingängige Termini und Schemata aufruft und damit auf die Stabilität und Kohärenz oder – mit einem anderen Wort – die kollektive Identität der höfischen Oberschichten im Umfeld des Wiener Hofs gerichtet ist.59 Wenn dies zutrifft, dann verweist das In- und Nebeneinander von Geistlichem und Weltlichem, von Religiösem und Profanem, von religiöser und literarischer Kommunikation am Hof auf unterschiedliche Funktionalisierungen der jeweiligen kommunikativen Räume. Es wäre dann von dem Problem der Konstitution höfischer Identität her neu zu interpretieren. Denn die Kehrseite jener stereotyp-schematischen Reproduktion des courtoisen Wertecodes, die sich in Suchenwirts panegyrischer Lyrik beobachten lässt und die auf die symbolisch vermittelte Herstellung der Stabilität und Kohärenz der höfischen Oberschichten um Herzog Albrecht III. (als eines tatsächlich eher instabilen Kommunikationsgefüges) zielt, besteht freilich darin, dass die Texte nicht eigentlich mehr Lebens- und Verhaltenslehre bieten. Die Chancen der literarischen Welt- und Selbsterfahrung, die der klassische höfische Roman durch die problematisierende Entfaltung des höfischen Wertecodes in einem fiktionalen Raum eröffnet, werden durch die Negation der Fiktionalität und die schematisch-stereotype Reaktualisierung der höfischen Wertebegrifflichkeit bei Suchenwirt gerade abgeschnitten. Lebens- und Verhaltenslehre bietet nun vielmehr der religiöse Wertediskurs. Das Beispiel der literarischen Szene am österreichischen Herzogshof in Wien macht deutlich, dass dieses Angebot von den laienadeligen Eliten nun auch verstärkt nachgefragt wird. Dabei setzen die einschlägigen Texte, wie die Erkenntnis der Snde – der ,erfolgreichste‘ Text der Wiener Schule, der zeigt, was die Laien am 59 Näher zu dieser Interpretation von Suchenwirts panegyrischen Reimreden Christian Schneider, „Eliten des Hofes – Eliten der Stadt. Ständische Verhaltenskonzepte und gesellschaftliche Identitätsbildung im Reflex der Literatur um Herzog Albrecht III. von Habsburg (1365 – 1395)“, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hrsg.), Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Sptmittelalter und Frher Neuzeit, Ostfildern 2006 (Residenzenforschung 20), S. 449 – 470.
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Wiener Hof auf theologischem Gebiet erwarteten –60 oder Der Frsten Regel, auf spezifisch religiöse Formen der Kommunikation und Identitätskonstitution. Diese können dann auch in der weltlichen Literatur Suchenwirts, wie aus seiner Behandlung des Aufrichtigkeitsproblems erhellt, relevant werden. Wichtig ist dabei, dass es sich um Modi der Identitätskonstitution und Vergewisserung über das ,Selbst‘ handelt, die nicht auf die Herstellung kollektiver Identität gerichtet und daher zur Stabilisierung von Stratifikation weniger geeignet sind. Die moraltheologischen Texte der Wiener Schule, um die es hier geht, thematisieren den Menschen nicht in Bezug auf eine bestimmte Gruppe, der er angehört, sondern zunächst in Bezug auf Gott: Das Verhältnis, in dem der Einzelne zu Gott und Kirche steht, bestimmt auch die Art und Weise, in der der Einzelne sich als er selbst erfährt. Bezeichnend dafür ist die in den Texten formulierte Vorstellung der Entfernung des Menschen von sich selbst, der ,Selbst-Entfremdung‘ durch die sündhafte Abweichung von einem normgemäßen Verhalten. So in der Begründung der Schädlichkeit der Sünde, für die die Erchantnuzz der sund als dritten Grund anführt: Sünde benimpt dem menschen im selben, und daz ist zwiualtichleichen: zdem ersten, wann mit der sund vert der mensch in des veincz dienst und aigenschaft, als geschriben ist: Des aigen und chnecht ist ainer, von dem er wirt uberbunden. (24,86 – 89)
Die Selbstentfremdung des Menschen drückt sich im Bild der Teufelsknechtschaft, des Sich-Begebens in die Hände des Teufels aus, das mit der Todsünde einhergeht.61 Daraus ergibt sich jedoch auch eine bestimmte Vorstellung davon, was das ,Sich-selbst-Haben‘ des Menschen begründet, und daraus wiederum folgt ein bestimmter Identitätsentwurf. Sich selbst zu haben bedeutet, in Übereinstimmung mit dem zu leben, was als konstitutiv für die Personalität des Menschen beschrieben wird, nämlich Gott und Welt, Transzendenz und Sozialität. Identität wird mithin wesentlich normativ bestimmt, aber ihre Normativität ist nicht auf ein kollektiv-gemeinschaftliches, sondern auf ein individuell-personales Selbstverständnis gerichtet. Der Mensch ist bei sich und er selbst, so stellt es die Erkenntnis der Snde dar, wenn er in 60 So Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 214. 61 Insofern spielt in die Aussage, die Todsünde des Zorns „benehme mich mir selbst“ (41,62 f.) zweierlei hinein: zum einen die Erfahrung des Außer-sichSeins im Zorn, zum andern die theologisch gefolgerte Gottes- und mithin IchFerne im Stand der Todsünde.
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Übereinstimmung mit den sittlichen Geboten Gottes und damit zwangsläufig auch seiner Umwelt lebt (vgl. 24,89 f.). Als Ausgangspunkt dafür führt der Beichttraktat die Selbsterkenntnis ein und formuliert damit eine grundlegende Voraussetzung für Identität, nämlich Selbstreflexivität.62 Die Beichte institutionalisiert und formalisiert die Reflexion des Menschen auf sich selbst, die insofern gesellschaftsrelevant ist, als die Beichte – als ein Werk der Tugend betrachtet – den Menschen vor der Gesellschaft als er selbst ausweist (und damit Verlässlichkeit suggeriert beziehungsweise lebensweltliche Orientierung, ,Komplexitätsreduktion‘ ermöglicht). Das ist der Sinn der bereits zitierten Stelle, wonach der Sünder beichtet, darvmb daz in niemant anders versech, wenn wer er ist (15,4 f.). Der Beichte wird somit die Funktion zugewiesen, den Menschen in seinem Sosein zu zeigen. Hier liegt eine bestimmte Vorstellung von Identität zugrunde; sie setzt auf die Essentialität von Identität, auf Identität als etwas, das ist. Vor allem aber ist diese Sichtbarmachung des Menschen als der, der er ist, kommunikativ vermittelt durch das Analogiemodell, das heißt die Suggestion der Unmittelbarkeit von Innen und Außen, die durch die interaktive Kommunikationssituation der Beichte gestützt wird. Der ethische Diskurs in der moraltheologischen Literatur um Albrecht III. setzt somit auf eine nicht kollektiv, sondern personal-normativ geprägte Vorstellung von Identität, die sich in einem spezifisch religiösen Kommunikationsmodell zu verstehen gibt. Das Analogiemodell authentifiziert den Menschen vor Gott – es bestärkt ihn in der Beichte in seiner Heilsperspektive – und zugleich vor seiner Umwelt. Es ist insofern auch darauf gerichtet, Sozialität zu ermöglichen oder zu erleichtern. Anders als in der stereotyp-statischen Reaktualisierung der tradierten höfischen Wertenomenklatur etwa in der panegyrischen Dichtung Peter Suchenwirts geht es in den Texten der Wiener Schule tatsächlich um die Anleitung zu einer ,richtigen‘ Lebensführung. Diese wird vermittelt über einen Identitätsentwurf, der nicht kollektiv bestimmt, nicht auf die Konstruktion kollektiver Identität oder die Stabilisierung der gesellschaftlichen Stratifikation gerichtet ist. Er ist auch nicht in einem modernen Sinne individualistisch, sondern er bestimmt die Einheit und Nämlichkeit des Menschen normativ von seiner Bezogenheit auf Gott her. Daraus folgt, dass die ,richtige‘ Lebensführung 62 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis (Anm. 12), S. 130: „Identität ist eine Sache des Bewußtseins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewußten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben.“
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über die Versicherung der Übereinstimmung mit Gott und seinen Geboten erfolgt, und dies wiederum geschieht über den Blick nach innen. Im Blick nach innen erkennt der Mensch sich als der, der er ist, und vergewissert sich so seiner Identität. Introspektion wird als Mittel der Identitätsbildung vorgeführt. Das ist ein ganz anderer Modus der Identitätskonstitution als der, den die weltliche Literatur eines Peter Suchenwirt anbietet. Das Entscheidende ist, dass es dieser spezifisch religiöse und an religiöse Kommunikation gebundene Modus der Identitätskonstitution ist, aus dem heraus nun konkrete lebensweltliche Orientierung vermittelt, die ,richtige‘ Lebensführung – auch für den Adel – konzeptualisiert und, wie sich zeigen ließe, kasuistisch entfaltet wird. In der Erkenntnis der Snde wird der introspektive Modus der Identitätsherstellung schon im Titel ausgesprochen und im Kapitel über die Hoffart näher ausgeführt: Die Sünde der Hoffart sei schwer zu heilen, weil der Mensch sie nicht an sich selbst erkenne. Aber: Ein anuankch des hails ist erchantnuzz der svnd (41,168 f.). Dass Erkenntnis der Sünde wesentlich Selbsterkenntnis heißt, wird dann deutlich, wenn es als die Hoffart des Verständnisvermögens (verstantnuzz) beschrieben wird, die Grenzen der eigenen Fähigkeiten nicht zu erkennen oder auch wider besseren eigenen Wissens Schmeichlern zu glauben (Also gelaubt der hoffartig vnder weilen den zuottlÞrn und den smaikern pas wenn im selben, vnd wÞnt, er hab das, das er furbas weis, das er sein nicht hat, 42,46 – 48). Ganz ähnlich wird auch in dem Fürstenspiegel Der Frsten Regel die durchgreifende Selbsterforschung als konstitutiv für den Herrscher formuliert. Die Liebe Gottes bringe dem Fürsten sein selbs erkantnuß von anfanck pis an das end, das in got von nichte uber vil reiche weis und starck gewirdigt hat, in seinem wolgeschickten leib, er und gt, auch aller gerechten hercz zu im genaigt. (Z. 28 – 30)
Die Fähigkeit zur introspektiven Selbstreflexivität erscheint damit zugleich als ein aus einer positiven Gottesbeziehung resultierendes, durch Gott vermitteltes Vermögen.
V. Ergebnisse Im Ergebnis bietet sich so ein vielschichtiges Bild. Die literarischen Szenen am Hof Herzog Albrechts III. in Wien und Erzbischof Pilgrims II. in Salzburg verhalten sich gewissermaßen quer zueinander: An dem
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geistlichen Fürstenhof des Salzburger Erzbischofs entfaltet sich im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts ein Literaturleben, das sich in den Liedern des Mönchs von Salzburg als eine wenn auch nicht ausschließlich, so doch sehr stark weltlich geprägte literarische Gesellschaftskultur darstellt. An dem weltlichen Hof des Habsburgers bildet sich zur gleichen Zeit ein nicht minder aktiver Literaturbetrieb heraus, in dem jedoch mit der literarischen Produktion der Wiener Schule geistlich-religiöse Texte überwiegen. Diese Unterschiede setzen sich in den jeweiligen Diskursen über eine ideale höfische Lebensführung fort. Am Salzburger Hof werden in dieser Hinsicht von ein- und demselben Autorenkreis ganz entgegengesetzte Haltungen formuliert, die offenkundig unvermittelt nebeneinander stehen können. In der Literatur um Albrecht III. hingegen wird deutlich, dass die hier verhandelten Lebensund Gesellschaftsentwürfe intertextuell aufeinander bezogen sind und aufeinander reagieren. Damit gewinnen auch die Antagonismen und Ambivalenzen zwischen den verschiedenen Lebenskonzepten an Spannung: zwischen monastischen und curialen, zwischen klerikalen und ritterlich-adeligen. Das bleibt nicht ohne Folgen für das Verhältnis von literarischer und religiöser Kommunikation am Hof. Es ist auffällig, dass sich in der literarischen Szene um Herzog Albrecht III. in Wien ein gesteigertes Bedürfnis nach lebensweltlicher Orientierung artikuliert, wie es für die Literatur um Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg so nicht festzustellen ist. Gleichzeitig lässt sich an verschiedenen Beispielen zeigen, wie der Einfluss religiöser Konzepte und Kommunikationsmodelle im ethischen Diskurs des Hofs zunimmt. Als besonders dringendes Problem wird dabei im literarischen ,Lebensführungsdiskurs‘ am Wiener Hof das Problem von Aufrichtigkeit verhandelt. Dabei lässt sich zeigen, dass die Lösung dieses Problems durch eine Synchronschaltung zwischen Innen und kommunikativer Äußerung – so wie sie in zentralen moraltheologischen Texten der Wiener Schule und bei Suchenwirt postuliert wird – in besonderer Weise auf Modelle religiöser Kommunikation bezogen ist. Jedoch führt das Hineinwachsen des religiösen Wertediskurses in die literarische Kommunikation des Wiener Hofs in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht zu einer Verdrängung der tradierten ritteradeligen Wertebegrifflichkeit. Vielmehr kommt es – so die These – zu einer Umfunktionalisierung: In einer stereotyp-schematischen Fortschreibung der tradierten ritterlich-höfischen Wertemuster wird courtoisie zur symbolischen Vermittlung von Kohärenz, Kontinuität und innerer
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Geschlossenheit des Sozialgefüges eingesetzt; mittels einer bestimmten Symbolik wird eine kollektive höfische Identität propagiert, wo diese auf der Ebene der stratifizierten Adelsgesellschaft tatsächlich fragil war. Die Topik der tradierten courtoisen Wertebegrifflichkeit kann so zur Sicherung der Stratifikation funktionalisiert werden. Demgegenüber ist es die an Formen religiöser Kommunikation, besonders dem Analogiemodell, orientierte religiöse Ethik am und für den Hof, die Konzepte der konkreten lebensweltlichen Orientierung und individuell-heilsbezogenen Selbstvergewisserung zur Verfügung stellt. Solche Konzepte werden von den laienadeligen Eliten des Hofs nun offenbar verstärkt nachgefragt. Hier geht es um eine Identitätskonstitution, die stärker personal-normativ geprägt und durch eine bibeltheologische Normierung der Adelsethik, durch Selbstreflexivität und Introspektion gekennzeichnet ist. Dass literarische und religiöse Kommunikation am Hof im Spätmittelalter in der beschriebenen Weise neu funktionalisiert werden, lässt möglicherweise darauf schließen, dass sich das geistlich-religiöse Weltbild und die daraus abgeleiteten Konzepte einer ,richtigen‘ Lebensführung – zumindest in der Theorie – im 14. Jahrhundert als konkurrenzlos objektivieren können.63 Gleichwohl lässt sich jene auf den ersten Blick paradoxe chiastische Konstellation, die für die Literaturgesellschaften Wiens und Salzburgs zwischen 1365 und 1396 festgestellt werden kann, nicht allein ideengeschichtlich erklären. Vielmehr spricht das unvermittelte Nebeneinander konträrer hofethischer Positionen in den Liedern des Mönchs von Salzburg dafür, dass auch unabhängig von den je verschiedenen literarischen Gattungen Konzepte höfischer Lebensführung und Identitätsvergewisserung für die Gesellschaft des Salzburger Hofs nachrangig waren. Das dürfte sich am ehesten literatursoziologisch erklären lassen. Eine solche Erklärung kann auf die unterschiedliche Zusammensetzung und Schichtung der höfischen Eliten des Wiener beziehungsweise des Salzburger Hofs verweisen: etwa darauf, dass am Wiener Hof der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Konkurrenz zwischen herrenständischen und ritterbürtigen Schichten um Ämter und Einfluss bei Hof stark war, während ein ständisch herausgehobener Herrenadel im Erzbistum Salzburg Ende des 14. Jahrhunderts schon nicht mehr existierte. Sie kann weiter verweisen auf die klare Dominanz der Geistlichkeit am Salzburger Hof oder auf die persönlichen literarischen Interessen Erzbischof Pilgrims II. Aus all dem 63 So etwa Knapp, Die Literatur des Sptmittelalters (Anm. 21), S. 217.
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ergaben sich Freiräume, so scheint es, in denen literarische Kommunikation sich jenseits soziologisch beschreibbarer Funktionalisierungen als höfische Gesellschaftskultur entfalten konnte.
Verborgene Heiligkeit Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende1 Margreth Egidi I. Einleitung Im Zentrum der Vita des Asketen Alexius steht die heiligmäßige Selbstverleugnung. Diese meint hier nicht nur asketischen Verzicht und Verneinung des eigenen Willens im umfassenderen Sinne, sondern ist spezifischer auf die Negation der ursprünglichen sozialen Identität bezogen, deren Ablegung, und das ist entscheidend, nicht öffentlich demonstriert wird, sondern selbst verborgen bleibt.2 Die Selbstverleugnung als Form der Heiligkeit möchte ich unter anderem mit dem Begriff der Gabe diskutieren, für dessen aporetische Struktur der Widerspruch zwischen ,totaler Gabe‘ und Tausch grundlegend ist. Am Beispiel mittelhochdeutscher Texte des 13. bis 15. Jahrhunderts, die vom Leben des Alexius erzählen3, werde ich fragen, inwiefern die totale 1 2 3
Ich danke Henning Danckert, Heiko Droste, Thomas Lentes und Katharina Philipowski für vielfältige Hilfe, meinem Mann Franz Arlinghaus für seine unbestechliche Kritik. Es versteht sich, dass Selbstverleugnung im hier gemeinten Sinne einen Teilaspekt der umfassenden asketischen Loslösung und Selbstverneinung bildet. Zur Alexiuslegende und zur Problematik legendarischen Erzählens vgl. vor allem Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147; ders., „Unlesbarkeit von Schrift. Literaturhistorische Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin – New York 2003 (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 1), S. 591 – 627: Heiligenlegenden verdoppeln in ihren Grundvoraussetzungen das Repräsentationsparadox, insofern die narrative Repräsentation von Heiligkeit selbst, ihre Einspeisung in die Raum-Zeit-Kategorien des Diesseits, per se nicht möglich ist; am Alexius Konrads von Würzburg lässt sich beobachten, wie sich der Text selbstreflexiv an den Aporien der Rede vom Heiligen abarbeitet und
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Gabe als ,Fluchtpunkt‘ der Handlung, den erzählend zu erreichen weder möglich noch notwendig ist, diese perspektiviert.4 Charakteristisch für die Alexiuslegende sind ferner weitere Spannungsfelder, in die das Erzählen von der ,Gabe‘ des Heiligen gerät. Eines von ihnen ist mit den Kategorien von Rückkehr und Rückkehrlosigkeit markiert; ein zweites mit den Extremen des absoluten Andersseins des Heiligen, dessen Ausdruck die Gabe der Selbstverneinung ist, und der Vergleichbarkeit oder sogar Entsprechung zwischen ihm und seiner Braut. Der Widerspruch zwischen Asymmetrie und Symmetrie kann schließlich mit den Spielmöglichkeiten des Literarischen und der Dynamik des Wiederund Weitererzählens in Verbindung gebracht werden.
II. Gabenlogik Ökonomisches und anökonomisches Denken meint, in äußerster Verkürzung, einerseits die Ordnung von Rückkehr, Verschuldung und Wiedergutmachung, Reziprozität, Verrechen- und Substituierbarkeit, andererseits die ,totale Gabe‘, die nicht zurückkehrt und nicht vergolten
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welchen Lösungsmöglichkeiten er das Problem ihres generellen Geltungsdefizits zuführt. An die Arbeiten Strohschneiders knüpft der vorliegende Beitrag in vielen Aspekten an. – Zu Konrads Alexius ferner: Ulrich Wyss, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), S. 216 – 233; Timothy R. Jackson, The Legends of Konrad von Wrzburg. Form, Content, Function, Erlangen 1983 (Erlanger Studien 45); Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 185 – 193; zu allen volkssprachlichen Versionen Gabriel H. Decuble, Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heiligenlegende als literarische Gattung, Unter besonderer Bercksichtigung der Alexius-Legende, Konstanz 2002; zu Vorlagenfragen Roland Löffler, Alexius. Studien zur lateinischen Alexius-Legende und zu den mittelhochdeutschen Alexius-Dichtungen, Diss. Freiburg/Br. 1991. – Zur Gattung der Legende: Hans Ulrich Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie“, in: Christoph Cormeau (Hrsg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 37 – 84; Hans-Peter Ecker, Die Legende. Kulturanthropologische Annherung an eine Gattung, Stuttgart – Weimar 1993 (Germanistische Abhandlungen 76). ,Perspektivierung‘ ist hier nicht mehr als ein Hilfsbegriff, der die Trennschärfe und Präzision narratologischer Termini nicht für sich in Anspruch nehmen kann.
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wird, Verschwendung, Maßüberschreitung und Asymmetrie.5 Das wäre insofern eine unzulässige Vereinfachung, als sie ein symmetrisches Gegenüber oppositiver Begriffe suggeriert. Die Aporien der Gabe im Sinne Derridas schließen es jedoch aus, das Verhältnis von ökonomischer und anökonomischer Logik als Binarismus zu fassen6, da diese Logiken nicht nur miteinander unvereinbar, sondern zugleich nicht voneinander ablösbar sind. Derrida führt dies aus mit der Explizierung und Engführung zweier einander aufhebender Vorverständnisse des Gabenbegriffs7, die gleichwohl nie unabhängig voneinander existierten und den ,Anthropologien der Gabe‘ zugrunde lägen8 : Dem ersten Vorverständnis zufolge gibt es keine Gabe ohne Erwartung einer Gegengabe welcher Art auch immer, sei es in Gestalt des Dankes oder der Ehre – mit einem Wort: keine Gabe jenseits des Tausches.9 Das zweite Vorverständnis 5
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Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben 1, aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993 (frz.: Donner le temps 1: La fausse monnaie, Paris 1991); ders., „Wenn es Gabe gibt – oder: ,Das falsche Geldstück‘“, in: Michael Wetzel/Jean-Michel Rabaté (Hrsg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993 (Acta humaniora), S. 93 – 136. Vgl. Bernhard Waldenfels, „Das Un-Ding der Gabe“, in: Hans-Dieter Gondek/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Einstze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/M. 1997, S. 385 – 409, hier S. 405. Hierzu und zum Folgenden der grundlegende Aufsatz von Waldenfels, „Das Un-Ding der Gabe“ (Anm. 6). Zu Derridas Gabenbegriff vgl. ferner weitere Beiträge in: Gondek/Waldenfels (Hrsg.), Einstze des Denkens (Anm. 6), und in: Wetzel/Rabaté (Hrsg.), Ethik der Gabe (Anm. 5); Ulla Haselstein, „Poetik der Gabe: Mauss, Bourdieu, Derrida und der New Historicism“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus – Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart – Weimar 1997 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 18), S. 255 – 272. Derrida bezieht sich auf Marcel Mauss’ epochemachenden Essai sur le don, Paris 1950; dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorwort von Edward E. Evans-Pritchard, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 41999. – Kritisch zum Verfahren der Herleitung dieser Axiome bei Derrida: Waldenfels, „Das Un-Ding der Gabe“ (Anm. 6), S. 387 f. Hierzu klärend Waldenfels, ebd., S. 399: „Die Reziprozität des Gebens und Nehmens, die jedes Geben zur Phase eines Austauschgeschehens macht, hat zunächst nichts zu tun mit jenen ,Anthropologien‘ oder ,Metaphysiken der Gabe‘, auf die Derrida sich kontrastierend bezieht. Sie resultiert vielmehr aus dem Gesichtspunkt der Gleichheit, aus dem Prozeß des Gleichmachens und Ausgleichens, der für jede Ordnung konstitutiv ist.“ – Im Sinne des erwähnten ,Gleichmachens‘ müssen im Übrigen Gabe und Gegengabe, damit von Tausch und Reziprozität die Rede sein kann, gerade nicht per se ,gleichwertig‘ sein, wovon auch Mauss nicht ausgeht.
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besagt dagegen, dass es die Gabe, wenn überhaupt, ausschließlich jenseits des Tausches gibt: „Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.“10 Sie wird nicht erst durch ihre Erwiderung annulliert, „sondern bereits dadurch, […] daß sie als Gabe gesagt, bezeugt, anerkannt“ wird11, da dies unweigerlich die Logik der Zirkulation und der Rückkehr der Gabe erzeugen würde: „Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen.“12 Dies impliziert auch, dass der Gabenbegriff seine eigene Repräsentationsproblematik erzeugt: Wenn die Gabe in irgendeiner Form als Gabe zur Sprache kommt, wird sie aufgrund der Problematik ihres ,Erscheinens‘ aufgehoben. In der radikalen Verneinung des Gebens aber gibt es, so Derrida, keine Gabe. Insofern die Gabe sich in dieser Weise selbst auslöschen muss, um sich zu bewahren, hat sie keine ,Präsenz‘. Keineswegs bestreitet er, dass das, was durch diesen fundamentalen Widerspruch konstituiert wird – eben der Mauss’sche ,Gabentausch‘ – auf der Phänomenebene beobachtbar ist.13 Derrida richtet 10 Derrida, Falschgeld (Anm. 5), S. 22 f. 11 Waldenfels, „Das Un-Ding der Gabe“ (Anm. 6), S. 389 (Hervorhebung im Original). 12 Derrida, Falschgeld (Anm. 5), S. 25 (Hervorhebung im Original). „Aber auch der, der gibt, darf davon nichts merken oder wissen [sc. vom Gabencharakter der Gabe], sonst genehmigt er sich schon an der Schwelle, sobald er die Absicht hat zu geben, eine symbolische Anerkennung“ (ebd). 13 Ebd., S. 54; vgl. Waldenfels, „Das Un-Ding der Gabe“ (Anm. 6), S. 390 f.: Der reale Widerstreit, so pointiert er die Grundthese von Mauss, macht „genau das aus […], was man Gesellschaft nennt“, wobei „der Widerspruch zwischen Gabe und Tausch mitsamt der Unmöglichkeit der Gabe, wenn es sie gibt, […] in archaischen oder traditional gesteuerten Gesellschaften anders [existiert] als in modernen Individualgesellschaften“. – Von der Diskussion um den GabenEssay sei nur genannt: Maurice Godelier, Das Rtsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, aus dem Französischen von Martin Pfeiffer, München 1999 (frz.: L’nigme du don, Paris 1996), zum Verhältnis zwischen dem Tausch austauschbarer Gaben und der Unveräußerlichkeit ,heiliger Objekte‘. Die kritische Rezeption in den Geschichtswissenschaften dokumentieren mit Blick auf vormoderne Gesellschaften: Gadi Algazi/Valentin Groebner/Bernhard Jussen (Hrsg.), Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 188) (hierzu Anm. 29). – Germanistischerseits zu diesem Problemfeld insbesondere Harald Haferland, Hçfische Interaktion. Interpretationen zur hçfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), der sich ausführlich mit höfischer Reziprozität befasst und durch die Einführung eines Hiats zwischen Gabe und Gegengabe, Leistung und Lohn ,höfische Reziprozität‘ von einfacher Reziprozität abzugrenzen sucht; zur
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sich lediglich gegen die Verunklärung des „semantische[n] Widerspruch[s] zwischen Gabe und Tausch“14, gegen Anthropologien der Gabe, die nach Derrida deren grundsätzliche Problematik einebnen. Mein Beitrag versucht, sich von derartigen Denkfiguren anregen zu lassen, und setzt die skizzierte Begrifflichkeit in pragmatischer Zurichtung ein; dass ihr die für Derridas Schreiben charakteristischen selbstreflexiven Schleifen größtenteils zum Opfer fallen, ist wohl legitim.15 So wird, wenngleich es auf der Hand liegt, dass die ,totale Gabe‘ per se nicht diskursivierbar ist, zunächst ,naiv‘ nach dem Verhältnis von ökonomischer und anökonomischer Logik, Tausch und Gabe, in der Alexiuslegende gefragt; dass damit die oben verworfenen Binarismen (wie Symmetrie/Asymmetrie etc.) wiederkehren, lässt sich rechtfertigen, wenn die Unablösbarkeit beider Seiten im Blick bleibt. Ziel ist es, sich auf Umwegen der Frage anzunähern, wie der Gabe-Tausch-Widerspruch in den Texten produktiv wird. Die Valenz des Gabenbegriffs und die implizite Abwertung von Tausch und Reziprozität in solchen Diskussionen der ,Postmoderne‘, die von der Gabe mit uneingeGabe in der höfischen Literatur: Marion Oswald, Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frhhçfischen Erzhlliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7); ferner die germanistische Diskussion um die milte: z. B. Beate Kellner/Peter Strohschneider, „Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum ,Wartburgkrieg‘ C“, in: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollman-Profe (Hrsg.), Wolfram-Studien XV. Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996, Berlin 1998, S. 143 – 167; Peter Strohschneider, „Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9, V [L. 20, 4]“, in: Ernst Hellgardt/Stephan Müller/Peter Strohschneider (Hrsg.), Literatur und Macht im mittelalterlichen Thringen, Köln [u.a.] 2002, S. 85 – 107; jüngst Berenike Krause, Die ,milte‘Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Darstellungsweisen und Argumentationsstrategien, Frankfurt/M. [u.a.] 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 9). 14 Derrida, Falschgeld (Anm. 5), S. 54. – Mauss’ Buch kann als der großartige Versuch beschrieben werden, Reziprozität unter den Bedingungen von Reziprozität zu durchbrechen. Was er als utopisches Modell entwirft, beschreibt Derrida als Aporie. 15 Auch wird ausgeblendet, dass Derridas Paradigma in seinem Denken der Gabe der Text ist: „Die Voraussetzung dafür, die An-Ökonomie der Gabe zu denken, bildet die Verschiebung von den Subjekten und ihrer Handlungslogik hin zum Text.“ (Haselstein, „Poetik der Gabe“ [Anm. 7], S. 286 – 288, hier S. 286). Vgl. hierzu auch, mit Bezug auf mittelalterliche religiöse Dichtung: Bruno Quast, Vom Kult zur Kunst. ffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Frher Neuzeit, Tübingen – Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48), S. 146 – 154.
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schränkter Emphase sprechen16, ist dabei zu hinterfragen. Letztere stellt nicht nur eine ideologische Arretierung dar, die die aporetische Struktur des Derridaschen Gabenbegriffs verfehlt, sondern ist zugleich auch Texten, die einer traditionalen Kultur wie der des Mittelalters entstammen, nicht adäquat.17 Es ist nun allerdings offensichtlich, dass die Gaben-Aporie, wo sie auf die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz bezogen wird, sich aufzulösen scheint. Evident ist dies schon im Verborgenheitsmotiv18 in Mt 6,3 f.19, auf das etwa der mittelalterliche Almo-
16 Vgl. etwa Michael Wetzel, „Liebesgaben. Streifzüge des literarischen Eros“, in: Wetzel/Rabaté (Hrsg.), Ethik der Gabe (Anm. 5), S. 223 – 247. 17 Das betrifft nicht nur die postmoderne Begeisterung für die ,totale Gabe‘, sondern auch das Unbehagen gegenüber der Ambivalenz dessen, was als Tausch bezeichnet werden kann – ein Unbehagen, das dem Mittelalter wohl eher fremd ist, insbesondere in der soziologischen Forschung aber gelegentlich zur begrifflichen Aufspaltung in den ,wertvollen‘, soziale Beziehungen konstituierenden Tausch und dem auf seine Objekte konzentrierten Warentausch führt. Dabei handelt es sich nicht nur um die Erhaltung einer freilich notwendigen analytischen Trennschärfe der Begriffe. Die Spaltung des Tauschbegriffs dient, sofern die erwähnten Wertimplikationen im Hintergrund stehen, vielmehr dazu, die eine Spielart des Tausches, die Sozialität stiftet bzw. erhält, von Aspekten des negativ konnotierten ,ökonomistischen‘ Tausches rein marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften frei zu halten. Mit dem Begriff des Gabentauschs insistiert Mauss auf der Verpflichtung zur Gegengabe, rückt ihn aber zugleich vom Tausch im Sinne der ,kalten Ökonomie‘ der Moderne ab (Die Gabe [Anm. 8], S. 172 f., passim); vgl. hierzu Haselstein, „Poetik der Gabe“ (Anm. 7), S. 285. Mit Bezug auf Georg Simmel versucht Aldo J. Haesler, die Begriffe ,Wechselwirkung‘ und ,Tausch‘, die bei Simmel selbst nicht immer mit gleicher Schärfe voneinander getrennt seien, durch das Begriffspaar ,symbolischer/ökonomischer Tausch‘ in ihrer Relation zueinander zu vereindeutigen; Aldo J. Haesler, „Grundelemente einer tauschtheoretischen Soziologie: Georg Simmel“, in: Simmel Studies, 10/2000, H. 1, S. 5 – 30. 18 Gregor der Große fasst das unblutige Martyrium, die Askese, in Abgrenzung vom blutigen Martyrium als ,verborgenes‘ Opfer auf: „Es gibt […] zwei Arten von Martyrium, ein verborgenes und ein öffentliches. […] so ist doch das Verdienst des Martyriums im Verborgenen da, wenn es die Seele zu leiden verlangt“; „[…] daß sie sich innerlich dem allmächtigen Gott als Opfer darbrachten.“ (Des heiligen Papstes und Kirchenlehres Gregor des Grossen ausgewhlte Schriften, übersetzt von Joseph Funk, Bd. 2: Vier Bcher Dialoge, München 1933, Kap. XXVI, S. 157 f.) 19 Te autem faciente eleemosynam, nesciat sinistra tua quid faciat dextera tua, ut sit eleemosyna tua in abscondito, et Pater tuus, qui videt in abscondito, reddet tibi.
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sendiskurs rekurriert.20 Das Wissen um die Gabe soll zwar getilgt werden, doch wird sie zugleich in eine „höhere Ökonomie eingeschrieben“21, in der die Ordnung der Normalität aufgehoben wird zugunsten eines ,höheren Lohnes‘ – eines Lohnes, der der Bewertung Gottes, „insofern er ins Verborgene sieht, überlassen ist“.22 Da Gott lohnt, weil die Gabe verleugnet und verborgen wurde, können Verleugnung und Verbergung nie vollständig sein. Die höhere Ökonomie gewährleistet eben gerade für die exuberante, die ,Ordnung der Normalität‘ übersteigende Leistung überreichen Lohn im Jenseits (Abschnitt III). Dass der verdiente Lohn nicht eingefordert werden darf, schränkt die Geltung der höheren Ökonomie nicht ein, sondern entspricht ihr vielmehr und findet seinen gesteigerten Ausdruck in der Demut als Zentraltugend des Heiligen.23 Dem Einwand, dass also alles auf irgendeine Weise in einen Tauschzirkel eingespeist, ökonomisiert werde, wäre allerdings dreierlei entgegenzuhalten: Zum einen ist auf der Differenz zwischen ,einfacher‘ und ,höherer‘ Ökonomie, die nicht einfach nur deren Wiederholung ist, zu beharren24 : Letztere bricht als eine „Ökonomie des Maßlosen“ mit der strengen Ökonomie, mit Symmetrie und Reziprozität, und schließt „den Verzicht auf den kalkulierbaren Lohn“ und „den abso20 Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, 2., überarb. Auflage Darmstadt 2000, S. 581. – In der volkssprachlichen Literatur vgl. z. B. Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, hrsg. von Friedrich Wilhelm von Kries, Bd. 1, Göppingen 1984 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 425), V. 14589 – 14608: Im Gegensatz zur höfischen milte sollen Almosen heimlich gegeben werden (Versangaben nach der alten Zählung von Rückert). 21 Hans-Dieter Gondek, „Zu geben, was man nicht hat“, in: RISS. Zeitschrift fr Psychoanalyse, 35/1996, S. 91 – 114, hier S. 97, mit Bezug auf Derrida. 22 Jacques Derrida, „Den Tod geben“, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331 – 445, hier S. 432 (Hervorhebung im Original). 23 Zur Demut sei in diesem Zusammenhang auch auf den Guten Gerhard Rudolfs von Ems verwiesen: Der Kaufmann Gerhard (zweifellos ein wser koufman, j der als kluoclch wehseln kan; Alexius B, V. 519 – 522) erzählt, wie man mit guten Taten Reichtum, Ansehen und Gottes Gnade erwerben kann, wenn man, anders als Kaiser Otto in der Rahmenhandlung, sich dessen nicht rühmt und den verdienten Lohn nicht einfordert (den man gleichwohl zurecht erhält!); Der guote GÞrhart von Rudolf von Ems, hrsg. von John A. Asher, 2., rev. Auflage Tübingen 1971 (Altdeutsche Textbibliothek 56). 24 Wenngleich Derrida diese Differenz insbesondere gegen Ende des Textes polemisch aufzulösen scheint; „Den Tod geben“ (Anm. 22), z. B. S. 437.
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luten Verlust mit ein“.25 Überschuss und Entgrenzung der Gabe sind – zweitens – grundsätzlich keineswegs nur jenseits einer ökonomischen Logik zu denken; das Zeitintervall zwischen Gabe und Gegengabe sorgt als entscheidendes Moment vielmehr dafür, dass „das ausgeschlossene Andere der symbolischen Ökonomie – Überschuss, Verschwendung, Gabe – innerhalb des Systems selbst wirksam“ sein kann.26 Drittens kann eine sinnvolle Verwendung des Gabenbegriffs für die Textlektüre nicht darin liegen, gewissermaßen primär vom Ergebnis her zu denken. Es ist für das Erzählen von der Gabe des Heiligen keineswegs irrelevant, auf welchem Weg schließlich die Einlösung einer ökonomischen Ordnung erreicht wird. Es scheint mir, dass – im Sinne jener ,Ökonomie des Maßlosen‘, die den Verlust mit einschließt und gerade deswegen auch den Lohn – das Konzept der totalen Gabe im Horizont des Erzählens unverzichtbar ist, als Fluchtpunkt nämlich, der gar nicht erzählend erreicht werden muss (und auch nicht kann). Auf ihn hin sind die Beschreibungen der heiligmäßigen Entfremdung und Selbstverleugnung perspektiviert, ohne ihn verlören sie ihre eigentliche Pointe. Ich versuche eine erste Annäherung an diese Problematik über die Thematisierung des absoluten Andersseins des Heiligen und der mortificatio (Abschnitte IV und V). Dem Erzählen von der Selbstverleugnung (Abschnitt VI) verleiht das Handlungsmuster von Auszug und Rückkehr eine doppelte Perspektivierung (Abschnitt VII). Zentral schließlich die Spannung zwischen Inkommensurabilität und Entsprechung, zwischen Asymmetrie und Reziprozität, insofern die vielfältigen Alternativen des Erzählens, die die einzelnen Versionen erproben, auf sie verweisen (Abschnitt VIII).
III. Leistung und Lohn Die Alexiuslegende, wie sie etwa in der frühesten lateinischen Prosavita27 wiedergegeben ist, erzählt vom Sohn des reichen und adeligen Römers Eufemian, eines mächtigen Senators, und seiner Gemahlin 25 Ebd., S. 432 und 428. 26 Haselstein, „Poetik der Gabe“ (Anm. 7), S. 285 f., hier S. 286. 27 Als ,(lateinische) Prosavita‘ bezeichne ich (insbesondere in Abgrenzung zu der im Magnum Legendarium Austriacum überlieferten Vita) die Textgruppe, zu der auch die Version der Acta Sanctorum gehört und die u. a. von Sprissler ediert wurde (siehe Anhang).
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Aglaes, der als Erbe eines großen Besitzes und zur Sicherung genealogischer Kontinuität mit einem Mädchen aus dem kaiserlichen Geschlecht verheiratet wird. Das genealogische Denken wird durchkreuzt, als Alexius nach der Eheschließung seiner Braut in der Hochzeitsnacht eröffnet, dass er entschlossen ist, sein Leben in Armut, Keuschheit und fern seiner Familie Gott zu widmen; er gibt ihr einen Ring und verlässt sie. Er gelangt zur Pilgerstadt Edessa, vertauscht sein Gewand mit ärmlicher Kleidung und lebt dort als Bettler von Almosen, betend, fastend, wachend und sich kasteiend. Die vom Vater ausgesendeten Boten, die ihre Suche dorthin führt, geben ihm Almosen, erkennen ihn aber nicht und kehren zum Schmerz der Eltern und der weiterhin bei ihnen lebenden Braut unverrichteter Dinge wieder zurück. Nach 17 Jahren will Gott die Heiligkeit des Alexius offenbaren; ein sprechendes Marienbild weist den Messner auf ihn hin. Die der Offenbarung folgenden Ehrungen durch Fromme vertreiben ihn, sein Fluchtschiff wird jedoch, statt ihn, wie er möchte, nach Kilikien zu bringen, nach Rom verschlagen. Hier sucht er seinen Vater auf und bittet ihn unerkannt, ihn als Bettler in sein Haus aufzunehmen. Ein wiederum siebzehnjähriges asketisches Leben unter der Treppe im Elternhaus beschert ihm außer Leiden und Entbehrungen zur Vervollkommnung der Christusnachfolge noch Erniedrigungen durch die Dienerschaft. Kurz vor seinem Tod schreibt er die Ereignisse seines Lebens nieder. In einem zweiten Offenbarungswunder preist eine Stimme den hominem Dei als Fürbitter der Stadt Rom. Nach zunächst vergeblicher Suche findet man den verklärten Körper des Toten im Haus des Eufemian. Niemand kann das Schriftstück aus seiner Hand lösen, bis sie sich dem Papst öffnet; die Enthüllung der Identität des Alexius hat ausgedehnte Klagen zur Folge. Bei der Aufbahrung und Grablegung erweisen zahlreiche Wunder seine Heiligkeit. In jeder Heiligenlegende erwartbar ist die Exponierung einer ,ökonomischen Logik‘, zumal mit der in erbaulicher religiöser Literatur des Mittelalters allgegenwärtigen Lohnformel, die die Relation zwischen Leistung und Lohn, Gabe und Gegengabe28, festschreibt. Mit ihr stellt sich neben die unhinterfragbare Lehre von der Unverfügbarkeit göttlicher Gnade die ebenso selbstverständliche Annahme, dass sie – in 28 Dass damit die Gabe-Gegengabe-Relation weit gefasst wird, lässt sich z. B. mit dem entsprechend weiten Verständnis von munus in lateinischen Texten des 12. Jahrhunderts begründen und hat forschungsgeschichtlich eine bis auf Mauss zurückgehende Tradition; vgl. Anm. 29.
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Entsprechung zu Vorstellungen, die in der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis zum Ausdruck kommen29 – verdient werden könne.30 Der Verdienstgedanke konkretisiert sich in den Texten der Alexiuslegende31 29 Vgl. Arnold Angenendt [u.a.], „Gezählte Frömmigkeit“, in: Frhmittelalterliche Studien, 29/1995, S. 1 – 71, zu dem seit dem Frühmittelalter zu beobachtenden Ausgleichs- und Vergeltungsdenken, das sich u. a. in der Tarifierung der Bußleistungen und in ihrer Kompensation durch als Almosen verstandene materielle Leistungen in den Kommutationslisten zeigt. – Die allgemeine Vorstellung eines Tausches, der etwa mit Schenkungen Seelenheil sichert, ist breit erforscht; vgl. z. B. Angenendt, Geschichte der Religiositt (Anm. 20), S. 375 – 378, 581 – 583, 592 – 594 und 713 – 716; hierzu Eliana Magnani SoaresChristen, „Transforming Things and Persons: The Gift ,pro anima‘ in the Eleventh and Twelfth Centuries“, in: Algazi/Groebner/Jussen (Hrsg.), Negotiating the Gift (Anm. 13), S. 269 – 284, hier S. 270 und Anm. 1; ihrer Kritik an dieser zum Teil von Mauss inspirierten Forschungsrichtung liegen ihrerseits Missverständnisse des Mauss’schen Konzepts von Gabentausch und Reziprozität zugrunde, das weder auf den einfachen Tausch zwischen nur zwei Beteiligten und auf die unmittelbare Vergeltung reduzierbar ist (zur weiträumigen Zirkulation vgl. Mauss, Die Gabe [Anm. 8], S. 59 f., passim), noch mit der Idee der Transformation von Gaben (hier: irdischer in himmlische Gaben) unvereinbar zu sein scheint. Bernhard Jussen, „Religious Discourses of the Gift in the Middle Ages: Semantic Evidences“, in: Algazi/Groebner/Jussen (Hrsg.), Negotiating the Gift (Anm. 13), S. 173 – 192, beobachtet in seinen präzisen und ertragreichen Textanalysen lateinischer Predigten und Traktate von der Patristik bis zum 12. Jahrhundert, dass das, worauf die göttliche remuneratio antwortet, nie als munus, sondern als opera bezeichnet wird; er leitet daraus ab, dass die hier vorliegende Reziprozität zwischen opera und göttlicher Belohnung scharf abzugrenzen sei von Gabe-Gegengabe-Relationen. Dagegen ist geltend zu machen, dass auch die opera ja durchaus als Gaben verstanden werden können, zumal auch munus in den Texten ganz weit gefasst wird (etwa als vollkommene Liebe, Gebet, Gehorsam, compassio oder mortificatio; vgl. den weiten Gabenbegriff bei Mauss, Die Gabe, S. 22, 39 und 118). Mir scheint symptomatisch zu sein, dass es gerade aufgrund des allgegenwärtigen Vergeltungsdenkens auch einen Diskurs geben muss, in dem ein Zusammenhang zwischen Verdienst und göttlicher Gnade bestritten wird (vgl. Jussen, „Religious Discourses“, S. 184 f., zum göttlichen munus), dass zugleich aber die explizit verworfene munus-remuneratio-Relation in der opus-remuneratio-Relation wiederkehrt und dass sich schließlich beides im lateinisch-gelehrten Schrifttum in einer genauen Ökonomie der Begriffe niederschlägt. 30 Beides muss nicht zwingend aufeinander bezogen und problematisiert werden. Den komplexen Strategien der Auflösung dieser Spannung in der patristischen und mittelalterlichen Gnadentheologie kann hier nicht nachgegangen werden (siehe unten, Anm. 67). 31 Über sie und die verwendeten Editionen informiert der Anhang; im Sinne besserer Lesbarkeit benutze ich die gängigen Siglen nur bei den Texten, die
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auf unterschiedliche Weise. An den Nebenfiguren exemplifiziert, wird er – erstens – zur ,Ordnung der Normalität‘32, die als Hintergrund der Schilderung heiligmäßiger Askese fungiert und für die Leistung eines frommen Lebens diesseitigen wie jenseitigen Lohn vorsieht. So etwa bei folgenden Motiven, die zum allbekannten Fundus von Heiligenlegenden gehören: Im Alexius I stiften die Eltern nach dem Tod des Sohnes eine Kirche und geben ihren gesamten Besitz für weitere Stiftungen und für die Armen, auf dass sich got ruechte uber sev erparmen (V. 117 – 139, hier V. 135); nach ihrem Tod geleiten Engel ihre Seelen auf ze himelreich (V. 147). Das Vterbuch fasst in der Szene der Hochzeitsnacht, in der Alexius nicht durch Autornamen oder Zuordnung zu einem Legendar spezifiziert werden können, also bei Alexius A, B, C, F, I und K. – Zur ungefähren Chronologie der Entstehungszeiten (siehe Anhang): Die meisten der besprochenen Texte stammen aus der zweiten Hälfte des 13. bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts (F, der Alexius Konrads von Würzburg, A, B, die Vterbuch- und die Mrterbuch-Version, C), älter ist nur I. Von ca. 1350 bis um 1400 entstanden: die Versionen Hermanns von Fritzlar, der Elsssischen Legenda Aurea, K, Der Heiligen Leben, ins 15. Jahrhundert führen die Texte Jörg Zobels und Jörg Preinings (sowie der Großteil der handschriftlichen Überlieferung der Einzellegenden). Angesichts dieser Zeitspanne stellt sich die Frage, ob hinsichtlich des Erzählens von Gabe und Tausch in der Alexiuslegende keine ,Entwicklungstendenzen‘ auszumachen sind. Die Textlektüre hat dies nicht bestätigt. Allenfalls sind im breit ausgefächerten Feld der mittelhochdeutschen Alexius-Versionen verschiedene Traditionslinien des Erzählens erkennbar, die zum Teil auf Vorlagenverhältnisse verweisen, jedoch nicht sauber voneinander abgrenzbar sind. – Nur die wichtigsten Ergebnisse der philologischen Forschungen zu Vorlagenverhältnissen seien knapp resümiert: Konrad von Würzburg hat sich nach Nigel F. Palmer („Eine Prosabearbeitung der Alexiuslegende Konrads von Würzburg“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum, 108/1979, S. 158 – 180, hier S. 176) an einer Version der lateinischen Prosavita (Nr. II bei Sprissler) orientiert; zu derselben (der ,päpstlichen‘) Erzähltradition gehört auch die Alexiuslegende der Legenda Aurea, auf die sich diejenigen des Vterbuchs (vgl. Dorothea Borchardt/Konrad Kunze, „Väterbuch“, in: Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin [u.a.] 1999, Sp. 164 – 170, hier Sp. 166) und der Elsssischen Legenda Aurea beziehen; ähnlich ferner die Version Hermanns von Fritzlar. Einer von drei Bezugstexten des Alexius A steht dem MLA (siehe Anhang) nahe, ein weiterer der lateinischen Prosavita (Löffler, Alexius [Anm. 3], S. 243); am Alexius A orientiert sich, außer am Mrterbuch und einem dritten Bezugstext, die Legende in Der Heiligen Leben (Feistner, Historische Typologie [Anm. 3], S. 285), nach der sich wiederum Jörg Preining richtet. – Bei der Thematik von Leistung und Lohn (Abschnitt III) sind keine grundsätzlich unterschiedlichen Akzentsetzungen der Texte zu beobachten, weshalb die Textbeispiele in systematischer Anordnung besprochen werden. 32 Vgl. Matthias Waltz, Rolandslied – Wilhelmslied – Alexiuslied. Zur Struktur und geschichtlichen Bedeutung, Heidelberg 1965, S. 188 – 190.
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seiner Braut den lon der Keuschheit vor Augen hält, die Leistung-LohnRelation als Kauf auf: ir geliebete der couf, in dem sie für ein keusches Leben die edele[] crone der Jungfrauen erhalten wird (V. 39180 – 39192, hier V. 39187 und 39184). Noch häufiger ist – zweitens – von solchen Leistung-Lohn-Zirkeln die Rede, in die Alexius selbst als Gabe oder auf andere Weise involviert ist. Die meisten Versionen beginnen die Vorgeschichte der Eltern mit dem Motiv der Gebete eines frommen, kinderlosen Paares um einen Nachkommen, das auch aus der höfischen Epik bekannt ist.33 Eufemian und seine Frau geben durch got reiche Almosen34, um einen Erben zu bekommen, der ihre Reichtümer ja seinerseits der Sippe erhalten soll35 ; eine weitere Leistung der Eltern besteht im Fasten, Beten und Wachen.36 Dies führt vor allem der Alexius A sehr breit aus, der das gesamte Gefolge mit einbezieht (V. 97 – 136); im Ablegen kostbarer Kleidung und in der Kasteiung (V. 126 f. und 130) deutet sich der Hintergrund als Buß- beziehungsweise asketische Praxis an37 – hier jedoch nicht als bis zum Lebensende geübte Praxis, sondern als in dieser Welt belohnte 33 So etwa in Johanns von Würzburg Wilhelm von sterreich, aus der Gothaer Handschrift hrsg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3), V. 173 – 592, wo das Motiv verdoppelt wird. – Von den mittelhochdeutschen Texten haben nur der Alexius F und die Prosabearbeitung B von Konrads Text die Bitten um einen Nachkommen nicht. 34 Z.B. Konrad von Würzburg, V. 108 – 114; Alexius C, V. 31 – 36. 35 Vgl. Konrad von Würzburg, V. 112 f. Dass das Negationsprinzip von Heiligkeit sich auch hierauf bezieht, verdeutlicht ein Vers des altfranzösischen Alexiusliedes (52,3): A grant poverte deduit sun grant parage („Zu großer Armut führt er sein großes Geschlecht“); vgl. hierzu die Erläuterung in der zweisprachigen Ausgabe, S. 25. – Zur Vie de saint Alexis vgl. unter vielen anderen: Hans Sckommodau, „Das Alexiuslied. Die Datierungsfrage und das Problem der Askese“, in: Heinrich Bihler/Alfred Noyer-Weidner (Hrsg.), Medium aevum Romanicum. Festschrift fr Hans Rheinfelder, München 1963, S. 298 – 324; Louise Gnädinger, Eremitica. Studien zur altfranzçsischen Heiligenvita des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1972 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 130), bes. S. 28 – 90; Ulrich Mölk, „Saint Alexis et son épouse dans la légende latine et la première chanson française“, in: Willy van Hoecke/Andries Welkenhuysen (Hrsg.), Love and marriage in the twelfth century, Leuven 1981 (Mediaevalia Lovanensia I/8), S. 162 – 170; Udo Schöning, „electio oder imitatio? Bemerkungen zum Alexiuslied (Hs. L)“, in: Zeitschrift fr franzçsische Sprache und Literatur, 92/1982, S. 233 – 242. 36 Der Heiligen Leben, Bd. 1, 251,1 f. (Beten, Wachen und Almosengeben), ähnlich das Meisterlied Jörg Preinings, VII, 2,12 f. 37 Zur Trias Fasten, Beten und Almosengeben vgl. Angenendt, Geschichte der Religiositt (Anm. 20), S. 627.
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Leistung. In Handschrift S von Konrads von Würzburg Text38 lässt Agleis goldene und silberne Figuren eines Kindes als Geschenk an Kirchen herstellen, damit Gott ihr ein Kind schenke39 ; der materielle Wert der figürlichen Gaben verbindet sich mit ihrem Stellvertreterstatus. Zwar ist der ersehnte Nachkomme „ein Gnadengeschenk Gottes“40, insofern das Geben Gottes aufgrund der fundamentalen Asymmetrie zwischen Geber und Beschenkten nur als gnadenhaft gedacht werden kann, doch wird es keineswegs grund- und bedingungslos erteilt, sondern nach dem Maß der Frömmigkeit der Bittenden und ihrer Leistungen, und damit einer Belohnung gleich.41
38 Benediktinerstift Engelberg, cod. 240, aus St. Andreas in Sarnen, aus dem Jahr 1478. 39 Es handelt sich um eine der Plusstellen von S gegenüber A und J (16 Verse nach V. 113, hier V. 5 – 15); in der gängigen Ausgabe Gerekes sind sie nicht ediert, nur in den Anmerkungen der älteren Edition von Henczynski (siehe Anhang). Die Eigenständigkeit des Textes, den S bietet, ist aufgrund einer Editionspraxis, die in der Regel A bevorzugte (vgl. Palmer, „Prosabearbeitung“ [Anm. 31], S. 176 f.) und für J und S als spätere Textzeugen nur geringes Interesse hatte, in der Forschung wenig beachtet worden; vgl. lediglich Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 375 – 379; Wyss, Theorie (Anm. 3), S. 221 – 233. 40 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 130. 41 Vgl. Derrida, „Den Tod geben“ (Anm. 22), S. 422. – In der Euphrosynenlegende (vgl. Anm. 98), die ebenfalls von verborgener Heiligkeit erzählt, findet sich ein entsprechendes Gabe-Gegengabe-Verhältnis in institutionalisierter Form: Nicht nur teilt das kinderlose Paar im Wunsch nach einem Erben seinen Reichtum mit den Armen und bittet die Nutznießer seiner Mildtätigkeit, sein Gebet bei Gott zu unterstützen (prägnant in der Elsssischen Legenda Aurea, Bd. 2, 245,18 – 26; vgl. Vterbuch, V. 27647 – 27689; Der Heiligen Leben, Bd. 1, 487,11 – 15). Darüber hinaus beauftragt Pafnutius einen Konvent, dem er ein reiches Geschenk übergibt, zu Gott um einen Erben für ihn zu beten; der Tauschzusammenhang wird vor allem in der Elsssischen Legenda Aurea deutlich: vnd brohte jn grosse gobe vnd svnderlichen schatz, […] vnd bat sy daz sy jm hilfent vmb got erwerben, daz er jn ein kint verlih (Bd. 2, 246,4 – 10, hier 4 – 6; vgl. Vterbuch, V. 27704 – 27709 und 27728 – 27731; Der Heiligen Leben, Bd. 2, 487,17 – 23). Als später der Vater, der auch noch bei anderer Gelegenheit Gaben bringt, den Konvent bittet, um göttliche Offenbarung der Existenz der scheinbar verschollenen, nun als Bruder Smaragdus in demselben Kloster lebenden Tochter zu beten, darf es nicht zur Erfüllung der Bitte kommen, da Euphrosynes Identität verborgen bleiben muss und sie selbst an Gott die Gegenbitte richtet, ihr hierin auch weiterhin zu helfen; wohl deshalb wird in diesem Fall auch von keiner Gabe des Vaters an den Konvent erzählt.
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Auf die basale Vorstellung der an sein Verdienst gebundenen Fürsprache des Heiligen42, die gleichsam Teil eines dreischrittigen LeistungLohn-Zirkels ist, weist der Alexius F hin: Die Stimme Gottes spricht von dem Nutzen, den disiu stat j unt rœmisch rche vom grzen dienest des gerade Verstorbenen haben wird (V. 1301 – 1303).43 Der Fromme kann hierzu seine eigene Leistung beitragen, wie die legendentypischen Schlussformeln besagen: Wer Alexius mit Fasten, Beten und Almosengeben verehrt, der erhält, so zum Beispiel Jörg Preining, jenseitigen wie diesseitigen Lohn, dem wirt gnad, er und gt gemert j und gat im dçster bass in diser zeit (VII, 19, 18 f.).44 Die Behandlung des Almosenmotivs lässt sich vielleicht noch auf eine weitere Form von Zirkularität hin deuten, und zwar in Zusammenhang mit der Selbstverleugnungsthematik: Nach Rom zurückgekehrt, bittet Alexius, ohne sich zu erkennen zu geben, den Vater, sich seiner, eines armen Pilgers, zu erbarmen und ihn in sein Haus aufzunehmen, auf dass Gott sich auch seines als Pilger im ellende lebenden Sohnes erbarmen möge.45 Die implizite Behauptung des Heiligen, dass er nicht jener sei, wird eingekleidet in den Vergeltungsgedanken, der sich hier zumindest in der Perspektive genealogischen Denkens andeutet – für ein Konzept von ,Verwandtschaft‘ als überindividueller Einheit46, für das die Eltern stehen. Bei Konrad von Würzburg verspricht Eufemian dann seinerseits dem Diener, dem aufgetragen ist, für den Fremden Sorge zu tragen, es ihm mit lne zu danken: Er soll frei 42 Vgl. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frhen Christentum bis zur Gegenwart, München, 2., überarb. Aufl. 1997, S. 106 – 108; zum Gnadenschatz der Kirche (thesaurus ecclesiae), den (zusammen mit dem Verdienst Christi) die Verdienste der Heiligen bilden: Kirsten Huxel, „Verdienst V.“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwçrterbuch fr Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 950 f., hier Sp. 951. 43 Zur Fürbitte für die Stadt Rom vgl. ferner Konrad von Würzburg, V. 822 f. 44 Vgl. ebd., V. 1378 – 1380 (1380: der mac von snden werden vr); vgl. V. 1400 – 1406; der Text der Handschrift D des Alexius B bittet für all die, Dy do schriebin, leesin odder horen dis buch (V. 281; Handschrift: Dessau, Zweigstelle der UB und LB Sachsen-Anhalt, Hs. Nr. 24 88 Georg; zwischen 1420 und 1442). 45 So schon die lateinische Prosavita, 124 f.,35; Konrad von Würzburg, V. 595 – 600; Elsssische Legenda Aurea, Bd. 1, 427,21 – 23; Alexius K, V. 130 f.; Jörg Zobel, V. 195 – 199; variiert im Mrterbuch, V. 18420 – 18422 (auf dass Gott ihm seinen Sohn, der im ellende lebt, bald zurücksende), und im Vterbuch, V. 39467 – 39471 (auf dass Gott sich des Vaters erbarme, denn auch er sei auf Erden ein Pilger). 46 Vgl. Beate Kellner, Ursprung und Kontinuitt. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, bes. S. 119 – 127.
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werden und einen Teil seiner Reichtümer erben – auch dies eine Gabenzirkulation, denn, so der Vater, sn [des Fremden] kunft ist mir ein hhiu gebe. 47 Schließlich wird diese Form der Zirkularität im Alexius F auf göttlichen Lohn hin perspektiviert, wenn der Protagonist bei seiner ungewollten Rückkehr nach Rom zu sich sagt: ,st dich nu got hie haben wil, s ist ez zw re bezzer vil, daz dn vater mit dir lde unt daz er nt vermde 48, er gediene an dir gotes ln dan anders iemen.‘ […] (V. 971 – 976)
Die Entscheidung, sich an seinen Vater zu wenden49, verbindet Alexius mit der Absicht, sich selbst gleichsam als ein Mittel ins Spiel zu bringen, das dem Vater (und lieber ihm als jemand anderem) eine Möglichkeit bietet, gotes ln zu erwerben, der dann, so ließe sich der Gedanke weiterspinnen, in der Familie bliebe. Angesichts einer Theologie der Verdienste, oder besser: angesichts der „großen mittelalterlichen Spannung zwischen einem verdienstorientieren virtus-Ideal des Heiligen und der Gegenkonzeption einer radikalen Gnadenhaftigkeit von Heil und Heiligkeit“50 überrascht es – drittens – kaum, dass der eschatologische Lohngedanke schließlich auch auf den Heiligen selbst bezogen wird. Das wird in den mittelhochdeutschen Versionen merklich häufiger expliziert als etwa in der lateinischen Prosavita und im MLA. Allgegenwärtig ist das Motiv der Himmelskrone als Lohn51, formelhaft auch die Zusammenstellung von
47 Konrad von Würzburg, V. 611 – 640, hier S. 634 f. und 636; vgl. Alexius A, V. 481 f. 48 „[…] und dass er Not (von dir) fernhalte“. 49 Sie wird sonst damit begründet, niemand anderem zur Last fallen zu wollen; z. B. Konrad von Würzburg, V. 548 – 553; Alexius A, V. 549 – 551. 50 Bernd Hamm, „Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben“, in: Nine Miedema/Rudolf Suntrup (Hrsg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift fr Volker Honemann zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. [u.a.] 2003, S. 627 – 645, hier S. 639. 51 Zurückgehend auf 1 Petr 5,4; Jak 1,12; Offb 2,10. – Der häufige Reim crone:lone z. B. im Alexius A, V. 43 f.; Vterbuch, V. 39177 f. – Vgl. ferner unten, zum Alexius F.
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arebeit und ln 52 und die Rede vom verdienten Lohn.53 Das Verlangen nach Letzterem wird bei Konrad ausdrücklich zur Motivation des asketischen Lebens54 :
f den vil hhen gotes ln stuont s vaste sn gerinc, daz sich der reine jungelinc quelte deste harter.
Ganz gängig ist auch das Motiv, dass Alexius, wie in A, aufgrund der Ehrungen durch die Gläubigen, denen Gott seine Heiligkeit offenbart hat, seinen Lohn zu verlieren fürchtet55 ; Lohn in dieser Welt würde jenen zunichte machen. Der Alexius B fragt im Anschluss an die Grablegung des Heiligen: Welch ln sol nu diu sÞle haben? (V. 494), und schließt mit der Kaufmannsmetaphorik56 : er ist ein wser koufman, der als kluoclch wehseln kan, der ein ungemachez leben kan um lange frçude geben!
Der Kauf impliziert natürlich die Vergeltung des Leidens, wie zum Beispiel Jörg Preining ausführt (sein leid ward im vergolten hundertfach) 57, der mit Mt 19,29 ein in der asketischen Tradition zentrales Schriftwort zitiert.58
52 Z.B. Jörg Zobel, V. 222 f. und 237 f.; zum Lohnmotiv ferner Jörg Preining, VII, 13,2. 53 Alexius h t verdienet harte wol, dass ihm Þr unde ganziu heilekeit zuteil werden: Konrad von Würzburg, V. 464 und 466; vgl. Jörg Zobel, V. 218 und 415 – 418. 54 V. 426 – 429; vgl. auch V. 682 f.; noch stärker betont in der Prosabearbeitung B, 162,22 – 28 und 163,59 – 63. 55 Alexius A, V. 524 f., mit der Formel verliesen sn arbeit (vgl. Mittelhochdeutsches Wçrterbuch, mit Benutzung des Nachlasses von Georg Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Mller und Friedrich Zarncke, 3 Bde., Leipzig 1854 – 1866 [= BMZ], Bd. 1, S. 1032 f., hier S. 1032: „bes. thue vergeblich, komme um den erwarteten erfolg einer sache“); vgl. Der Heiligen Leben, Bd. 1, 252,33 f.: Alexius vorht, er verl Fr seinen lon vnd sein arbeit vnd floche die ere; Jörg Preining, VII, 8,23. 56 Alexius B, V. 519 – 522 (mit A und R). 57 Jörg Preining, VII, 17,23; vgl. auch das Vterbuch, V. 39560. 58 Et omnis, qui reliquit domos vel fratres aut sorores aut patrem aut matrem aut filios aut agros propter nomen meum, centuplum accipiet et vitam aeternam possidebit; vgl. Arnold Angenendt, Monachi peregrini. Studien zu Pirmin und den monastischen Vor-
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Hervorhebenswert ist die eklatante Anhäufung verschiedener Löhne im Alexius F. Einen ersten Lohn erörtert ein längerer Erzählerkommentar zum asketischen Leben im Elternhaus, der – in Umkehrung der gängigen Hierarchie – das weiße Martyrium des Asketen dem blutigen Martyrium nicht nur gleichstellt, sondern sogar überordnet59 : Das ,innere‘, täglich neu durchlebte Leiden (zu dem etwa auch die Erniedrigung zählt) sei weitaus furchtbarer als das kurze physische Martyrium (V. 1187 – 1210) – d von er h t verdienet schne j den marteler ln und treit die krne (V. 1209 f.).60 Außerdem habe er sich aufgrund seiner Keuschheit der meide kranz erstritten und schließlich auch noch den Frieden der Pilger und der freiwillig Armen (V. 1211 – 1218). Folgerichtig steht, als die Einlösung der Belohnung naht, der Plural: D im n
um sn heilec leben j got dise lœne wolde geben (V. 1219 f.). Das Lohnmotiv rückt nun wiederholt in den Vordergrund61, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufnahme der Seele in den Himmel: d lnt im got vçlleclch, swaz er hie leit f ertrch, wand er die krnen alle treit, von den ich h n d vor geseit, und ouch die lœne alle h t besezzen in der himelstat. (V. 1277 – 1282)
Die Vita des Alexius wird aufgefächert in verschiedene Dimensionen religiösen Lebens, die sie als Kristallisationspunkt vereinigt und deren Einzellöhne kumuliert werden. Die Reihe beginnt mit zwei Ständen der Heiligen (Märtyrer, Jungfrauen) und erweitert sich dann; entsprechend scheint die Himmelskrone, Attribut der Märtyrer und bisweilen
stellungen des frhen Mittelalters, München 1972 (Münstersche MittelalterSchriften 6), S. 130 – 132. 59 Zum weißen Martyrium als asketischer mortificatio mit Christus und als Kreuzigung des eigenen Willens, die „die Möglichkeit [bietet], auch in Friedenszeiten die palma martyrii zu erlangen“: ebd., S. 133 f., hier S. 133; Angenendt, Heilige und Reliquien (Anm. 42), S. 55 f. und 66; Maura M. Walsh, „Askese V.“, in: Theologische Realenzyklopdie, Bd. 4, Berlin [u.a.] 1979, S. 225 – 229, hier S. 226. Gregor der Große betont in seinen Dialogi die Gleichwertigkeit des roten und des weißen Martyriums; Gregor, Dialoge (Anm. 18), Kap. XXVI, S. 157 f.; Kap. XXVIII, S. 159. 60 Vgl. schon V. 1195 f. Der Epilog der Handschrift D des Alexius B sieht Alexius in der merterer schar (V. 279). 61 Außer im folgenden Zitat noch in V. 1226 – 1228 und 1292 f.
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auch der Jungfrauen62, auf die Pilgerasketen63 und die freiwillig Armen übertragen zu werden. Doch damit nicht genug: dem lbe ouch wolde lnen got, der hie lden unde spot het geliten daz ist w r […]. (V. 1283 – 1285)
Es geht um eine Vergeltung der Entbehrungen und der Erniedrigungen, die zuvor mit ,sm cheit‘ mehrfach auf den Begriff gebracht werden (V. 1201, 1242 und 1255). Diese Dimension des Lohnes fasst der Alexius C als von Gott dem lbe verliehene Þre, die zum Lohn der Himmelskrone, den die Seele erhält, noch hinzukomme. Sie wird den Bewohnern Roms sinnlich wahrnehmbar als Duft, der dem Grab entsteigt. Das topische Duftwunder wird so kommentiert: die Þre got ze lne gap dem lbe umb al die bitterkheit, die er in dirre werlde leit, n des himelrches ln. d treit diu sÞle der Þren krn […]. (V. 442 – 446)
Ausdrücklich ist also die Rede von einer Belohnung des Toten in dieser Welt (da sie vom jenseitigen Lohn abgegrenzt wird, V. 445), und die göttlich geschenkte Þre umfasst offensichtlich auch die Wiedergutmachung der sm cheit, von der F spricht. In ihr kehrt die Þre wieder, die der Heilige zu Lebzeiten verschmäht und flieht. Abermals wird der Leistung-Lohn-Konnex durch die Vervielfältigung des Lohnes exponiert.
62 Neben dem Kranz; vgl. A. Müsseler, „Jungfrau (Virgo), heilige“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Freiburg/Br.1990, Sp. 247 – 251, hier S. 248 und 250. 63 Zur asketischen peregrinatio s.u. bei Anm. 109 – 114. – Das Motiv der Pilgerkrönung ist ikonographisch vereinzelt belegt; vgl. Konrad Kunze, Himmel in Stein. Das Freiburger Mnster. Vom Sinn mittelalterlicher Kirchenbauten, Freiburg/ Br. [u.a.] 31983, S. 68; S. Kimpel, „Jakobus der Ältere (Major)“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Freiburg/Br. 1990, Sp. 23 – 39, hier Sp. 38.
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IV. Das Anderssein des Heiligen Von dieser gemeinsamen und umfassenden Orientierung auf den Leistung-Lohn-Zirkel hin hebt sich Heiligkeit jedoch zugleich als radikales Anderssein des Heiligen ab64, das damit in charakteristischen Widerspruch gerät zur oben skizzierten Vorstellung von Heiligkeit als (im Rahmen einer ökonomischen Logik) vergleichbarer Größe. Das an sich nicht relationierbare Anderssein65 gründet immer schon auf der Erwählung des Heiligen durch Gott, die dieser unverdient schenkt, die als unbegründbar und damit als ,totale Gabe‘ gilt, gemäß der paulinischen Konzeption der Gnade als bedingungslose Gabe, als „jeder menschlichen Initiative zuvorkommende[s] Heilshandeln Gottes“66, das die „alleinige und radikale Initiative“ hat.67 Das heiligmäßige Leben ist der Versuch des Heiligen, der Erwählung zu entsprechen, was ihm wiederum nur mit Gottes gnadenhafter Hilfe möglich ist. Eine ,höhere
64 Sofern man Heiligkeit nicht theologisch oder ethisch bestimmt, sondern eben als absolutes Anderssein; vgl. Strohschneider, der mit Referenz auf René Girard und Niklas Luhmann das Heilige als das Unvertraute und Inkommensurable, „als das aus der Immanenz Ausgeschlossene“ auffasst, das gleichwohl als Ausgeschlossenes auch in der Immanenz sein kann, und es differenztheoretisch definiert „als das, was jenseits aller Unterschiede ist […]: das Nichtunterschiedene“; „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 111 – 113, hier S. 111; vgl. ders., „Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ,Gregorius‘“, in: Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105 – 133, hier S. 105 – 107. 65 Vgl. ebd., S. 105, zu dem Paradox, dem gemäß Heiligkeit als das Inkommensurable zugleich eine Relationskategorie und nur als solche zu denken ist. 66 Dieter Sänger, „Gnade/Gnade Gottes III.“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwçrterbuch fr Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1025 – 1027, hier Sp. 1026; die Engführung von göttlicher Gnade und Gabe wird u. a. bei Augustinus weitergeführt, auch mit der Etymologie von gratia als gratis datur; Alfred Schindler, „Gnade B.IV.“, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 1, Stuttgart 1950, Sp. 386 – 446, hier Sp. 426. 67 Gisbert Greshake/Eva-Maria Faber, „Gnade V.“, in: Lexikon fr Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. [u.a.] 1995, Sp. 761 – 789, hier Sp. 774; zur augustinischen Konzeption und zur mittelalterlichen Weiterführung der Problemstellungen, etwa der Relation zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit: Sp. 774 – 776. Die Hinwendung des Menschen zu Gott und damit auch der Glaube ist nach Augustinus bereits selbst Wirkung der göttlichen Gnade, die dem Menschen seine genuine Freiheit des Willens erst zurückgibt; Schindler, „Gnade“ (Anm. 66), Sp. 428 f.
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Vergeltungslogik‘ wird damit durch die Gnadenwahl erzeugt: mit der Verpflichtung zur Gegengabe.68 Das Anderssein des Heiligen liegt, da mit seiner Heiligkeit die Kluft zwischen Transzendenz und Immanenz in die Welt kommt69, selbstverständlich jeder Legende zugrunde70, wird aber im Fall des verborgenen Heiligen auf spezifische Weise thematisiert: insofern sich nämlich die Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits nicht unmittelbar in der Raumstruktur der Textwelt wiederholt71, etwa als Grenze zwischen Welt und eremus beziehungsweise Insel.72 Alexius geht nicht in die Wüste, und aus der Fremde kehrt er zurück. Dass er unter den einfach nur Frommen lebt, ermöglicht es, seine Einzigartigkeit auf andere Weise zu thematisieren, als wenn, wie in den Eremitenlegenden, die erzählte Welt raumstrukturell eine entsprechende Unterscheidung zwischen verschiedenen Teilwelten aufwiese. In diesem Sinne sind auch die Totenklagen der Eltern und der Braut einzuordnen, die beweinen, dass Alexius sich ihnen (mit seiner Flucht und dadurch, dass er sich nicht zu erkennen geben wollte) entzogen hat: Es wird auf diese Weise weder
68 Wie überhaupt die Schöpfung als erste Gabe Gottes den Menschen Verpflichtung auferlegt; Jussen, „Religious Discourses“ (Anm. 29), S. 186. 69 Vgl. Strohschneider, „Inzest-Heiligkeit“ (Anm. 64), S. 105 f. 70 Zur Auserwähltheit des Heiligen führt der Alexius F aus, dass ihm got in sner kintheit j mit snen gn den was bereit (V. 43 f.); Alexius C, V. 37 f.: den Eltern wart ein gn den rchez kint, j des himel und erde gesæleget sint. Auf der Ebene der histoire wird sein Anderssein ferner indiziert mit dem Erzählmotiv der wunderbaren Erfüllung des Kinderwunsches durch Gott nach langer Kinderlosigkeit, das die Einzigartigkeit des Protagonisten anzeigt (Anm. 33). – Inkommensurabilität und ,nicht relationierbares Anderssein‘ können allerdings als solche nicht diskursiv eingeholt werden und sind zumal in erzählenden Texten nur wieder als Relationskategorien fassbar. 71 Zur Raumstruktur als Basis der Sujetbildung in literarischen Texten: Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 41993, S. 329 – 340. 72 Vgl. Strohschneider, „Inzest-Heiligkeit“ (Anm. 64), S. 109 – 112, zum Gregorius Hartmanns von Aue und seiner komplexen Struktur; als einfaches Strukturelement ist diese Zweiteilung der erzählten Welt für die Eremitenlegenden generell grundlegend. Frömmigkeitsgeschichtlich zu eremus und Insellage z. B.: Angenendt, Monachi peregrini (Anm. 58), S. 158 – 160; Volker Mertens, Gregorius eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption, München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 67), S. 50.
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die ,Unmenschlichkeit‘ des Heiligen zum Ausdruck gebracht73 noch spirituelle Blindheit der Angehörigen74, sondern der unüberbrückbare Hiat zwischen ihnen markiert, der Vergleichbarkeit ausschließt.75 Im Vergleich der Versionen lassen sich hier Unterschiede ausmachen; das Anderssein akzentuieren besonders die Fassungen F, A, C und Konrads Text. So unterstreicht der Alexius F die Unbeugsamkeit des Heiligen in der Hochzeitsnacht, von der die verschiedenen Versionen zum Teil mit erheblichen Abweichungen erzählen: Den beharrlichen Bitten der in ein keusches Leben einwilligenden Braut, sie nicht zu verlassen76, setzt Alexius hier sein Verlangen nach Christusnachfolge im Leiden und Verzicht sowie den Wunsch entgegen, seinen Verwandten unkensam zu werden (V. 572 – 580). Er wünscht sich die Nichterkennbarkeit, und so ist es später auch „genau die Differenz zwischen dem Profanen und dem Heiligen […], die Alexius für Vater, Mutter und Braut unerkennbar, nichtwahrnehmbar“ machen wird.77 Als er 73 So z. B. Melitta Hürsch, „Alexiuslied und christliche Askese“, in: Zeitschrift fr franzçsische Sprache und Literatur, 58/1934, S. 414 – 418; Gerhard Eis, „Alexiuslied und christliche Askese“, in: ebd., 59/1934, S. 232 – 236. 74 Das Urteil, „Alexius’ family […] lack spiritual insight“, insofern sie seine Heiligkeit nicht erkenne und sie, als sie offenbar geworden ist, der Sippenbindung unterordne, lässt jene Kluft unberücksichtigt; Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 370 f., hier S. 370; vgl. hierzu auch Waltz, Rolandslied (Anm. 32), S. 181 – 190. 75 Für Wüstenväterlegenden ist eine andere Relation zwischen Heiligem und Nebenfiguren strukturprägend: die generelle Vergleichbarkeit der Eremiten untereinander (etwa bei der Auffindung des ,vergessenen‘ Heiligen kurz vor seinem Tod durch einen anderen Eremiten) und die klare Opposition zwischen ihnen und den Weltkindern, zu denen häufig jeglicher Kontakt vermieden wird. 76 Der Text lässt das deutliche Bemühen erkennen, den Einspruch der Braut als legitimen darzustellen: Sie begründet ihn mit ihrer prekären sozialen Situation, wenn er sie verließe; dann nämlich könnte die Familie ihr, die zudem noch Waise ist, die Schuld an seiner Flucht geben (Alexius F, V. 561 – 569 und 584 – 589). 77 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), Vgl. S. 135; S. 132 – 140 zur Nichtwahrnehmbarkeit als Merkmal von Heiligkeit, die sich der Beobachtung entzieht und deren Wahrnehmung sich nur übergangshaft ereignen kann (am Beispiel der Botenszene, des ersten Offenbarungswunders, des asketischen Lebens im Elternhaus und der Auffindung des Toten). – Wenn Alois Hahn, der Grenzfälle der Identifikation am Motiv des zunächst nicht erkannten Heimkehrers analysiert, ausführt: „Die Unidentifizierbarkeit ist […] ein Nebenaspekt von Fremdheit“ („Wohl dem, der eine Narbe hat: Identifikationen und ihre soziale Konstruktion“, in: Peter von Moos [Hrsg.], Unverwechselbarkeit. Per-
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unerkannt unter denen lebt, die täglich seinen Verlust beklagen, hört er dies mit unbewegtem Herzen: sn herze glch eim steine j was, daz er sn niht enwielt. 78 Konrad setzt ähnliche Akzente – der Erzähler spricht von dem wunder wilde, dass der Heilige, obwohl ihm dies strengez leit verursacht, nie mit der Braut spricht und sich den Eltern auch angesichts ihrer Klagen nicht offenbart (V. 720 – 733, hier V. 721 und 732). In den ausgedehnten Klagemonologen über den toten Sohn erhebt die Mutter daher den Vorwurf der Härte und Grausamkeit.79 All diese Beispiele implizieren ( jenseits der Figurenperspektive) keine Wertung, sondern zielen auf die basale Differenz und Nichtvergleichbarkeit. Außer vom topischen Verfall der Schönheit aufgrund asketischer Entbehrungen und Kasteiungen, die damit auch die sichtbaren Merkmale adeliger Identität beseitigen, ist in Heiligenlegenden überdies gelegentlich von einem umfassenderen Unähnlich-Werden die Rede, wie etwa im Alexius A: vil unerkennec wart sn lp j als in nie hæte getragen ein wp (V. 325 f.); oder in C: er lac n dort, er lac n hie, j als obe er mensche wær worden nie (V. 229 f.).80 Das Anderssein des Heiligen wird als Verlust der Menschenähnlichkeit deutlichster Ausdruck der asketischen mortificatio 81 und damit der Gottverähnlichung.
V. Sterben als Gabe Mit dem Aspekt der Inkommensurabilität stellt sich die Frage, ob die heiligmäßige Askese, insbesondere in den Aspekten der Entfremdung und Selbstverleugnung, als Gabe aufgefasst werden kann82, die Ausdruck
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sçnliche Identitt und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln [u.a.] 2004 [Norm und Struktur 23], S. 43 – 62, hier S. 57), so ließe sich dies unter veränderten Vorzeichen auch als Aussage über Heiligkeit lesen, bei der Unidentifizierbarkeit als unmittelbarer Ausdruck von Fremdheit aufzufassen wäre; zur Identifikation Gottes: ebd., S. 61 f. Alexius F, V. 1056 f.; vgl. auch V. 1122 f. (zur Unempfänglichkeit des Alexius für die Schönheit der Braut). Konrad von Würzburg, V. 1156 – 1163 und 1193 – 1205; vgl. auch V. 1132 – 1143. So auch Jörg Zobel (V. 206 – 208): mit vasten lesen daz er tet j kestiget er s sÞre sich, j daz er k me eim menschen was gelch. Zum asketischen ,Absterben‘ als Kreuzesnachfolge vgl. Angenendt, Monachi peregrini (Anm. 58), S. 133 f.; ders., Heilige und Reliquien (Anm. 42), S. 55 – 60; vgl. auch Anm. 59. Dass die mortificatio grundsätzlich als Gabe verstanden werden kann (noch unabhängig von der Frage, welcher Logik diese folgt), zeigt z. B. Aelred von
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des Andersseins wäre; ob das Geben des Heiligen ungeachtet der gemeinsamen Orientierung an einer ökonomischen Logik zugleich ein radikal anderes sein kann. Oder besser: Gibt es Hinweise auf eine Thematisierung des Gebens, die sich an der totalen Gabe als unerreichbarem Fluchtpunkt orientiert? Solche Indizien meine ich in der spezifischen Akzentuierung der mortificatio finden zu können, wie sie an der Sprachgestalt des Alexius A beobachtbar ist. In der Hochzeitsnacht deutet Alexius seiner Braut die vor ihnen stehende brennende Kerze nicht, wie im MLA, als vita nostra, que cupiditatum flammis circumdata quotidie perit et deficit (S. 307), sondern auf die Vergänglichkeit83 ; er fährt, und zwar nur in diesem Text, mit einem Hiob-Zitat (Ijob 14,2) fort: ,der mensche ist niht wan ein schat, […] unt niht wan ein blemeln, dem g hes benomen wirt sn schn unt sn liehtiu varwe rt. als tuot dem menschen der tt: der hiute ist schœne unde kl r, der ist morgen missevar unt der erden gelche.‘ (V. 262 – 271)
Das Rot der Blume ist hier ganz allgemein die Farbe des Lebens und nicht, wie bei Konrad von Würzburg, auf die Schönheit der Braut bezogen (V. 216 f.). Was Alexius in seiner Abschiedsrede verallgemeinernd vorwegnimmt, ist sein eigener körperlicher Verfall als eine Dimension der asketischen mortificatio: ouch vil snelle von im entweich sn liehtiu varwe, diu wart bleich, sn antlitze blach unt missevar, sn reidez h r dnne gar. er hete verkÞrt lp unt gewant, Rievaulx, der ausführt, dass sich mit dem munus der Abtötung des Fleisches die göttliche Gnade gewinnen lässt; Aelredi Rievallensis sermones I–XLVI, hrsg. von Gaetano Raciti, Turnhout 1989 (CCCM 2A), Sermo 4, S. 45, zitiert nach Jussen, „Religious Discourses“ (Anm. 29), S. 181. 83 Alexius A, V. 252 – 260 (so auch in Der Heiligen Leben, in Handschrift D des Alexius B und bei Jörg Preining); zwar ist im Alexius A etwas später auch vom Feuer der irdische[n] suht die Rede (V. 276), d. h. von der cupiditas, doch tritt die Vergänglichkeitsthematik sehr viel stärker in den Vordergrund.
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sn munt, der Þ als rsen bran. (V. 321 – 324 und 406 f.)
Die topische körperliche Verwandlung des Asketen erwähnen zwar mit derselben Motivik auch andere Versionen, doch fast stets als Begründung dafür, dass er von den Boten beziehungsweise der Familie nicht erkannt wird84, selten als selbstständiges Motiv. Vor allem aber wird die mortificatio sonst, wie es der gängigen Vorstellung entspricht, in den Aspekten der asketischen Übungen (Beten, Fasten und Wachen) thematisiert, der regelmäßigen Teilnahme an Messe und Eucharistie, der Kasteiung und des Verzichts85 – mithin als festes Programm von Leistungen. Am ausführlichsten beschreibt dies Konrad von Würzburg86 ; seinen Text dem Alexius A gegenüberzustellen, bietet sich daher an. Bei Konrad wird das sich queln, die marter, der Kampf gegen die Leiblichkeit und gegen das eigene Ich am explizitesten87, Dimensionen des weißen Martyriums, in denen der Leistungsaspekt besonders deutlich hervortritt und die ausdrücklich mit dem Lohngedanken verknüpft werden.88 Im Alexius A dagegen, der diese Aspekte in den Hintergrund treten lässt, wird der körperliche Verfall durch die Querverweise zum HiobZitat (wiederum topisch: die leuchtende Farbe, das Rot der Blume, das Verblassen) auf die Vergänglichkeitsthematik bezogen.89 An der mortificatio wird hier weniger die Bejahung des Leidens als Kampf denn eher die Vorstellung von einem tatsächlichen ,Sterben im Leben‘ betont, sichtbar im Verfall – von einem Weggeben oder gewollten Verlieren des Lebens, worauf auch das Motiv der beschleunigten Alterung hindeutet (V. 548 f.). Auch in der topischen Beschreibung des verklärten Körpers des Toten erhalten die Farbe Rot und der Rosenvergleich90 84 Alexius F, V. 737 – 741; Konrad von Würzburg, V. 310 – 315; Alexius B, V. 279 – 286; Vterbuch, V. 39326 – 39335; Alexius K, V. 121 – 124; Jörg Preining, VII, 5,18 – 23. Jenseits dieser Funktionalisierung nur beiläufig: Konrad von Würzburg, V. 414 f. und 670 f.; Alexius B, V. 296 f. 85 Abgesehen vom Aspekt der Erniedrigung durch die Dienerschaft. 86 Konrad von Würzburg, V. 408 – 431 und 648 – 671. 87 Ebd., V. 418 f. und 425 – 529; 430 f.; 650 f.; zum strt-Motiv vgl. auch Alexius B, V. 196. 88 Konrad von Würzburg, V. 426 – 429 und 682 f. 89 Anders im MLA (das einem der Bezugstexte des Alexius A nahe steht); es hat weder das Hiob-Zitat noch allgemein die Farb-Choreographie des Alexius A. 90 daz antltze im vor rœte gluot j als ein rse, diu d bluot (Alexius A, V. 817 f.). Der Rosenvergleich findet sich auch im Alexius F, V. 1366, bei Konrad von Würzburg, V. 953, und im Alexius K, V. 194.
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aufgrund der Farb-Choreographie in A diese Implikationen; und dass, anders als in den anderen Versionen, die Farbe des Antlitzes aussieht, als ob er wære niender alt j rehte als ein kint von einem j r (V. 820 f.), suggeriert, dass mit der Verklärung das Sterben im Leben und die asketische Alterung wieder aufgehoben sind. Mir scheint, dass mit einer solchen Akzentuierung der mortificatio der Leistungscharakter und der unmittelbare Konnex von Leistung und Lohn zurücktritt; das gewollte Verlieren des Lebens interpretiere ich daher als ein (negativ definiertes) Geben, das zwar wie jedes Geben des Heiligen nicht über die Grenzen der ,höheren Ökonomie‘ hinausführen kann, aber auf die totale Gabe als Horizont des Erzählens hin perspektiviert ist.
VI. Selbstverleugnung Die Selbstverleugnung im engeren Sinne ist damit noch nicht angesprochen. Sie sei zunächst als Konstituens einer kleinen Gruppe von Heiligenlegenden untersucht, zu der mit Einschränkungen auch die Alexiuslegende zu zählen ist. Ihr kommt allerdings schon insofern eine Sonderstellung zu, als die anderen Legenden sich auf die Monachoparthenia konzentrieren, auf das Motiv der unerkannt als Mönch im Kloster lebenden weiblichen Heiligen.91 Gemeinsam ist ihnen allen indes die Selbstverleugnung als spezifische Dimension der Askese, die Heiligkeit auf besondere Weise begründet. Hierin unterscheiden sie sich, im Gegensatz zu den nicht-distinktiven Dimensionen der asketischen Verzichtleistungen und der mortificatio, von anderen Asketenlegenden. Doch lässt sich verborgene Heiligkeit noch präziser von verwandten thematischen Legenden-Strukturen abgrenzen. So ist auf der einen Seite das heiligmäßige Leben der Wüstenheiligen Paulus Eremita und Maria Aegyptiaca zwar ebenfalls ein verborgenes; doch sind sie, in vollständiger Weltferne lebend, von der Welt vergessen und können nur mit göttlicher Hilfe von einem anderen Eremiten wiederaufgefunden
91 G. Kaster, „Monachoparthenia“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 8, Freiburg/Br. 1990, Sp. 21 f. Zum gemeinsamen Handlungsnexus dieser Legenden vgl. Hippolyte Delehaye, Les lgendes hagiographiques, Brüssel 41955, S. 186 – 195.
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werden.92 Das Motiv des vergessenen Heiligen ist an die für Eremitenlegenden basale zweiteilige Raumstruktur gebunden, an die Aufteilung in eine diesseitige und eine jenseitige Welt (Wüste); die Grenze, die sie trennt, ist scharf ausgeprägt.93 Diese Raumstruktur schließt die Thematisierung der Selbstverleugnung bis zum Lebensende und der damit verbundenen Selbsterniedrigung vor den Menschen aus (und für die Legenden, die hiervon erzählen, ist sie ja auch nicht konstitutiv): nur ,diesseits der Grenze‘ ist die Negation der Herkunft möglich94, nicht in der eremus. Auf der anderen Seite ist das Verlassen der ursprünglichen sozialen Identität zum Beispiel auch zentral für die Legenden der mittelalterlichen Heiligen Franz von Assisi und Elisabeth von Thüringen – nur hier eben als öffentlich inszeniertes Ablegen der bisherigen Identität. Selbstverleugnung profiliert sich somit in zweifacher Abgrenzung von totaler Isolation und öffentlichem Bekenntnis.95 Narrativ konstituiert sie sich in einem gemeinsamen Handlungsnexus, der, als kleinster gemeinsamer Nenner der genannten Legenden, darin besteht, dass die Heiligen im frommen, asketischen Leben ihre Identität verbergen, die
92 Paulus Eremita: z. B. Vterbuch, V. 1837 – 2104; Maria Aegyptiaca: z. B. Vterbuch, V. 33488 – 35786. – Die Existenz des Paulus Eremita offenbart Gott dem hl. Antonius, der ihn daraufhin sucht; der Sünderheiligen Maria Aegyptiaca, die in der Wüste lebt, begegnet Zosimas nach einem Gebet um geistliche Unterweisung. 93 Zur Raumstruktur s. o., Anm. 72. Die Grenze zu einer jenseitigen Welt wird in der Paulus Eremita-Legende durch Zentaur, Satyr und Wolf markiert; in der Legende der Maria Aegyptiaca durch den Jordan. 94 Das gilt auch für die Klostergemeinschaft; das Kloster ist in erzählstruktureller Hinsicht keine ,jenseitige‘ Welt. Den deutlichsten Gegensatz zur eremus bildet jedoch die Stadt, in der Alexius als Bettler lebt. 95 Zu dieser Alternative vgl. am Beispiel freiwilliger Armut im zönobitischen Kontext Gert Melville, „,In solitudine ac paupertate‘. Stephans von Muret Evangelium vor Franz von Assisi“, in: ders./Annette Kehnel (Hrsg.), In proposito paupertatis. Studien zum Armutsverstndnis bei den mittelalterlichen Bettelorden, Münster 2001 (Vita regularis 13), S. 7 – 30; er stellt die verborgene Armut in der Waldwüste bei Stephan von Muret der Demonstration der Armut und eines Lebens nach dem Evangelium in der Stadtöffentlichkeit bei Franz von Assisi gegenüber (bes. S. 28 f.). – Ein weiterer Modus der Nachfolge, von dem sich die Selbstverleugnung im engeren Sinne systematisch abgrenzen ließe, ist die Askese der Christusnarren, deren distinktives Moment die Maskierung und Simulation ist; vgl. Renate Lachmann, „Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis“, in: von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit (Anm. 77), S. 379 – 410.
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erst nach ihrem Tod (bei Euphrosyne kurz vorher) enthüllt wird96, wodurch nun erst auch die Verleugnungsleistung als spezifische Begründung ihrer Heiligkeit offenbar wird. In drei der ,Verkleidungslegenden‘ geht es zwar lediglich um das Verbergen der geschlechtlichen Identität des als Mönch im Kloster lebenden Mädchens (Margareta/ Pelagius, Marina und Theodora) 97, ein Verbergen, das zweifellos einen anderen Status hat als das des Alexius, da es sich auf eine Konstante bezieht und nicht auf die alte, abgelegte Identität. Es wird jedoch über das Erzählmotiv der unverdienten Bestrafung in die Selbstverleugnungsproblematik eingebunden: Die Heilige wird beschuldigt, ein Mädchen verführt zu haben und Vater ihres Kindes zu sein; geduldig erträgt sie den Ausschluss aus dem Kloster und schwerste Buße beziehungsweise ein Leben als Bettler. Das Verbergen der geschlechtlichen Identität wird daher als Ausweis ihrer Demut und Geduld gepriesen. Über das Keuschheitsmotiv schließen sich die Legenden von Alexius, Euphrosyne98 und Margareta enger zusammen: Hier gehen der Entschluss zu einem keuschen Leben und die in Heiligenlegenden häufig erzählte99 heimliche Flucht vor der ungewollten Ehe100 der Selbstverleugnung voraus. Die größte Nähe zur Alexiuslegende zeigt dabei die der Euphrosyne, die weit mehr als ihre geschlechtliche Identität geheim hält. Der Topos der Gebete der Eltern um einen Erben kann für sich genommen nicht als auffällige Parallele gelten. Er betont aber zusammen mit anderen Erzählmotiven die Opposition zwischen
96 Margareta schreibt wie Alexius kurz vor ihrem Tod ihr Leben nieder; die Identität und Heiligkeit der Theodora offenbart Gott dem Abt in einer Vision. 97 Margareta (Pelagius): z. B. Vterbuch, V. 35787 – 36230; Elsssische Legenda Aurea, Bd. 1, S. 673 f.; Der Heiligen Leben, Bd. 2, S. 49 f.; Marina (Marinus): Passional, S. 305 – 307; Elsssische Legenda Aurea, Bd. 1, S. 374 f.; Der Heiligen Leben, Bd. 1, S. 153 f.; Theodora (Theodorus): Passional, S. 319 – 326; Elsssische Legenda Aurea, Bd. 1, S. 419 – 422; Der Heiligen Leben, Bd. 1, S. 225 – 229. – Zu den Monachoparthenia gehören ferner noch die Legenden der Sünderheiligen und Eremitin Pelagia und der Märtyrerin Eugenia. 98 Euphrosyne: Vterbuch, V. 27569 – 29419; Elsssische Legenda Aurea, Bd. 2, S. 245 – 259; Der Heiligen Leben, Bd. 2, S. 487 – 495. 99 Z.B. in der Legende des Johannes Evangelista; auf sie bezieht sich der Alexius F, V. 11 – 22; weitere Beispiele bei Baudouin de Gaiffier, „Intactam sponsam relinquens. A propos de la vie de S. Alexis“, in: Analecta Bollandiana, 65/1947, S. 157 – 195, hier S. 163 – 183. 100 Margareta wird wie Alexius verheiratet und flieht in der Hochzeitsnacht; Euphrosyne verlässt ihre Eltern schon vor ihrer Verheiratung.
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heiligmäßiger Selbstverleugnung und Sippenbindung101, die auch im zentralen Motiv der Suche und in den ausgreifenden Klagen des Vaters um den Verlust seiner Tochter zum Ausdruck kommt.102 Die Verborgenheitsthematik wird breit auserzählt: Der Vater klagt dem ihm befreundeten Abt des Klosters, in dem Euphrosyne als Mönch Smaragdus lebt, seinen Kummer. Als die Gebete des Konvents um göttliche Offenbarung ihrer Existenz nichts fruchten, da sie an Gott das Gegengebet richtet, sie verborgen zu halten103, empfiehlt der Abt dem Vater zur geistlichen Tröstung den Bruder Smaragdus. In Gesprächen über die verloren geglaubte Tochter redet sie, die unkenntlich geworden ist, zu ihm über das von Christus gewollte Aufgeben der Liebe zwischen Verwandten, das jene zur Flucht aus dem Elternhaus bewegt haben müsse.104 Ganz ähnlich spricht in einigen Versionen der Alexiuslegende, von denen noch die Rede sein wird, der Heilige unerkannt mit der Braut über den vermeintlich im ellende lebenden Ehemann. In der Elsssischen Legenda Aurea preist der Vater zuletzt die Selbstverleugnung der Euphrosyne als exzeptionelle Leistung: ,[…] Ach, j zarte jvnpfr >we Evfrosina, min liebe dohter, wie wunderet mich daz dv min grosse betrpnisz ie mçhtest erliden vnd dich nie geoffenbortest keinem mçnschen jn der zit. Do mitte hest dv wol verdient die cron des himels.‘ 105 101 Zur Gefährdung von Genealogie durch das Negationsprinzip von Heiligkeit: Christian Kiening, „Gewalt und Heiligkeit. Mittelalterliche Literatur in anthropologischer Perspektive“, in: Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004 (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 19 – 39, hier S. 28 – 30. – In der Legende der Euphrosyne scheint sich das, was durch Heiligkeit negiert wird, von Genealogie zu personaler Bindung zu verschieben (hier zwischen Vater und Tochter); Ähnliches ist in einigen Versionen der Alexiuslegende zu beobachten. 102 Z.B. Vterbuch, V. 28580 – 28683. 103 Ebd., V. 28753 – 28757; Sie bleib von im [sc. Gott] wol virswigen, V. 28734; vgl. Anm. 41. 104 Im Vterbuch, V. 28998 f., zitiert sie Mt 10,37 (Qui amat patrem aut matrem plus quam me, non est me dignus; et, qui amat filium aut filiam super me, non est me dignus); vgl. zuvor in V. 28169 – 28175 die Christusworte Lk 14,26 und 33. 105 Elsssische Legenda Aurea, Bd. 2, 258,28 – 31. – Eine andere Funktion erhält das Verborgenheitsmotiv in der Theodoralegende der Elsssischen Legenda Aurea (Bd. 1, 419,16 – 420,2), wo es in den Kontext von Sünde und Vergeltung eingebunden wird: Die fromme Ehefrau Theodora lässt sich in der Meinung, Gott sähe nur die im Tageslicht begangenen Sünden, auf das ehebrecherische Verlangen eines Mannes ein. Eine Äbtissin belehrt die Reuige, Gott bleibe keine Sünde verborgen. Ihrer Fehlsicht entspricht ihre Buße mit der (nur Gott
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In der Alexiuslegende kristallisiert sich die Selbstverleugnung zunächst in der Geste einer Bitte um Gabe: In der Initialszene, in der Alexius in Edessa seinen Dienern bettelnd die Hand hinhält106 und die später in der entsprechenden Bitte an den Vater eine Fortsetzung findet, kehrt er, seine alte soziale Identität als Sohn eines reichen Adligen negierend, das Herrschaftsverhältnis um; die Bedeutung der Szene wird in seinem Dank an Gott für diese Erniedrigung deutlich. Der Alexius A expliziert hierzu den Vorsatz des Heiligen, die Selbstverleugnung nach dem Evangelium leben zu wollen, und zitiert mit Mt 16,24 eines der ,Berufungsworte‘ zum asketischen Leben107: […] got selbe sprichet als: ,swer mn junger welle wesen unde an der sÞle genesen, der muoz sn selbes verlougen offenlche unt tougen.‘ (V. 312 – 316)
Da unmittelbar vor diesem Schriftzitat vom Kleiderwechsel des Alexius im ellende erzählt wird, erhält die Formel sn selbes verlougen hier tatsächlich die spezifische Bedeutung des heimlichen Ablegens der alten Identität. Nicht nur diese negiert der Heilige jedoch, sondern die Selbstverleugnung bleibt – im Leben unter Bettlern wie im Elternhaus – auch selbst verborgen. Die Verborgenheit der Heiligkeit kommt im verdoppelten Erzählmotiv der zunächst vergeblichen Suche nach dem durch Gott geoffenbarten Heiligen zum Ausdruck: Der Messner findet ihn beim ersten Offenbarungswunder in der Fremde zunächst nicht, ebensowenig die Geistlichkeit und das Volk von Rom bei der zweiten Offenbarung.108 Verzicht und Preisgabe jeglicher Beziehungen zur ,Welt‘ werden, sofern sie mit der alten Identität verknüpft waren, als solche nicht offenbar. nicht) verborgen bleibenden Selbstverleugnung. Entfernt vergleichbar mit der Alexiuslegende ist hier auch die Thematisierung der ehelichen Bindung in der Klage des Ehemanns und im Motiv der Wiederauffindung der toten Ehefrau; er führt nach ihrem Tod ein gottesfürchtiges Leben im Kloster (ähnlich wie in der Nachgeschichte einiger Alexius-Versionen die Braut). 106 Als Bitte bzw. bittende Geste besonders deutlich in: Alexius F, V. 734 – 736; Alexius B, V. 183 f.; Alexius C, V. 131 – 134. 107 Vgl. Angenendt, Monachi peregrini (Anm. 58), S. 133 f.; Mt 16,24 (Tunc Iesus dixit discipulis suis: Si quis vult post me venire, abneget semetipsum et tollat crucem suam et sequatur me) wurde insbesondere auf die mortificatio bezogen. 108 Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 132 – 140, bes. S. 135.
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Die Potenzierung der Verborgenheitsproblematik lässt an die Aporien der totalen Gabe denken, die sich, sobald sie in irgendeiner Form als solche erscheint, als Gabe aufhebt, die sich aber in der Verneinung und im Vergessen auslöscht. Die Selbstverleugnung kann als ,Gabe‘, so scheint es, ihrer Aufhebung nur entgehen, wenn auch die Gabe selbst der Offenbarung entzogen wird. Eine Grenze findet dies jedoch im offensichtlichen Wissen des Heiligen um seine Selbstverleugnung. In diesem Sinne ist auch das Aufgeben der alten Identität, das sich selbst nicht zeigt, keine Gabe ohne Geber, die nichts geben will und sich selbst auslöscht – die totale Gabe liegt als Fluchtpunkt der Handlung jenseits der Selbstverleugnung. Doch ist die in der Schilderung des Selbstverlustes liegende Perspektivierung auf die totale Gabe hin unverzichtbar, sie ist die Bedingung der Vorstellung einer höheren Ökonomie.
VII. Rückkehrlosigkeit und Rückkehr Von den vier erwähnten Legenden weiblicher Heiliger setzt sich die Alexiuslegende nun allerdings deutlich genug ab – und zwar nicht nur darin, dass es nicht um die geschlechtliche Identität geht und dass der klösterliche Kontext fehlt. Erstens wird das Konzept der asketischen peregrinatio, der freiwilligen Heimatlosigkeit als weiterer Form der Christusnachfolge, erzählend umgesetzt. Es ist weder auf eine einmalige Pilgerfahrt noch auf den Akt des Verlassens von Elternhaus und Heimat zu reduzieren, sondern meint das mit freiwilliger Armut verbundene, dauerhafte In-der-Fremde-Sein als konkrete Erfahrung der Weltentfremdung.109 Der Begriff der xeniteia kann neben vielen anderen As-
109 Grundlegend hierzu Angenendt, Monachi peregrini (Anm. 58), am Beispiel des irofränkischen Mönchtums im Frühmittelalter (bes. S. 144 – 151); von den Schriftstellen, die in der asketischen Überlieferung als Berufungsworte fungieren, rufen Gen 12,1 und Mt 19,29 zum Verlassen der Heimat, der Angehörigen und des Besitzes im Sinne der völligen Loslösung von der Welt auf; die „peregrinatio-Spritualität“ lässt sich in der Kurzformel patriam et parentes relinquere zusammenfassen (S. 150). Das In-der-Fremde-Sein im umfassenden Sinne kann auch dauerhaft an ein und demselben Ort in der Fremde gelebt werden und muss nicht notwendigerweise mit Wanderschaft verknüpft sein (S. 147 f. und 150). Von der älteren Forschung vgl. Hans von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frhmittelalterlichen Mçnchtum, Tübingen 1930 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge 149); Jean Leclercq, „Mönchtum
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keseformen „auch das Leben des Asketen als eines Fremdlings unter ihm ganz fremden Menschen bedeuten, w o n i e m a n d i h n k e n n t “, so dass er „noch nicht die Kulturwelt überhaupt verläßt, wohl aber die heimische Kulturwelt mit einer fremden vertauscht, in der er leben kann, ohne irgendwie in die menschlichen Beziehungen verstrickt zu werden“.110 Das Pilgermotiv verwenden fast alle mittelhochdeutschen Versionen der Alexiuslegende.111 Zentral ist es im Alexius F: In einem groben Mantel will der Heilige dur got inz ellende kÞren, als ein ellender bilgern; im kotzen und mit dem Pilgerstab in der Hand verlässt er seine Braut.112 Eine prominente Rolle spielt das Pilgermotiv ferner in den Gesprächen mit der Braut über den Ehemann, dessen Pilgertasche und -stab er vorweist.113 Bei Jörg Zobel wird aus dem Pilgerstand ein Namenszusatz: Das Schlussgebet nennt den Heiligen Alexius den pilgern. 114 Mit dem Konzept der peregrinatio wird das Asketenleben des Alexius, anders als etwa die Anachorese in den Wüstenväterlegenden115, nicht primär aus dem Sündenbewusstsein hergeleitet und als Versuch verstanden, die Gefahr der Sünde zu verringern116, sondern die umfassende Ablösung
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und Peregrinatio im frühen Mittelalter“, in: Rçmische Quartalschrift fr christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 55/1960, S. 212 – 225. Karl Heussi, Der Ursprung des Mçnchtums, Tübingen 1936, S. 208 (Hervorhebung im Original). Nur das Mrterbuch, Hermann von Fritzlar sowie der Alexius K nicht; wiederkehrende Szenen mit dem Pilgermotiv sind die Bitte des Alexius um Aufnahme in das Haus des Vaters (er bezeichnet sich und den Sohn als Pilger), die Gespräche mit der Braut, die Erwähnung seines Pilgerlebens in der Niederschrift seines Lebens und, nach seinem Tod, der Hinweis des Dieners, der sich an ,unseren Pilger‘ erinnert. Im Alexius A wird der Weg des Heiligen zum Wanderleben; er führt (ähnlich wie im MLA) von Rom über Pisa, Edessa und Jerusalem nach Lucca. Alexius F, V. 504, 550, 609 und 623; ferner V. 1215, zum Lohn der guoten bilgern. Im Alexius A, in Der Heiligen Leben und bei Jörg Preining (sowie schon im MLA). Jörg Zobel, V. 428; so auch schon V. 398 über den toten Heiligen. Beispiele: Macarius, Johannes der Abt, Moyses der Abt und Agathon in der Legenda Aurea; vgl. Reglinde Rhein, Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in ,Historia‘ und ,Doctrina‘, Köln [u.a.] 1995 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 40), S. 178 – 182, 186 und 190 f. So auch Gnädinger, Eremitica (Anm. 35), S. 55 f., zum altfranzösischen Alexiuslied.
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selbst wird betont.117 Die abstrakte Kategorie des Andersseins, das religiöse Konzept der peregrinatio und das Erzählmotiv des Auszugs in die Fremde greifen hier ineinander. Dem Leben im ellende schließt sich – das ist die zweite Differenz gegenüber den anderen Selbstverleugnungs-Legenden – eine Rückkehr an. Das Motiv der Rückkehr, das im Kontext legendarischen Erzählens anders als in höfischen Erzähltypen durchaus nicht erwartbar ist118, verleiht der Thematisierung der peregrinatio, die an sich Rückkehrlosigkeit impliziert, eine Eigenlogik. Einerseits treibt dies die Loslösung und Selbstverneinung auf die Spitze und erhöht den Wert der ,Gabe‘. „In jeder Hinsicht ,von außen‘ kommend“119, kehrt Alexius als Fremder in das Elternhaus zurück, und die Entfremdung von seiner alten Identität zeigt sich auch in der ,Verdoppelung‘ der Figur in den Gesprächen mit der Braut über den Ehemann. Eine zusätzliche Dimension des asketischen Leidens entsteht daraus, dass er sich auch angesichts der Trauer um ihn nicht offenbart.120 Die Erniedrigungen durch die Diener schließlich121 sind mehr als nur eine Umkehrung der sozialen Hierarchie: Sie bedeuten Schande und vollenden die soziale Desintegration122, 117 Zwar spielt in der Szene der Hochzeitsnacht die Vermeidung der unkiusche eine wichtige Rolle, doch bleibt dies im Textganzen insofern marginal, als die fraglose Tugendvollkommenheit im Verlauf der Vita nie einer Gefährdung ausgesetzt ist. 118 Vgl. jedoch die Erzählung De constantia fidelis anime in den Gesta Romanorum, in welcher der Ritter Guido aus dem Heiligen Land als armer Pilger unerkannt zurückkehrt und mehrere Jahre als Eremit vom Almosen seiner Ehefrau lebt; Gesta Romanorum, hrsg. von Hermann Oesterley, Berlin 1872 (Nachdruck Hildesheim 1963), cap. 172 (vgl. Jackson, The Legends [Anm. 3], S. 54); ferner Decuble, Die hagiographische Konvention (Anm. 3), S. 77, Anm. 226, zur Vita Johannes des Bettlers. Von einer Rückkehr nach vorausgehender Restituierung der alten Identität und nach Anagnorisis-Szenen erzählt die Eustachius-Legende (z. B. Elsssische Legenda Aurea, Bd. 1, S. 698 – 703). 119 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 132. 120 Vgl. z. B. Konrad von Würzburg, V. 716 – 733. 121 Sie gießen das Waschwasser über ihm aus oder geben es ihm zu trinken, geben ihm Essensreste oder bewerfen ihn mit Brot, beschimpfen, verspotten, schlagen und speien ihn an (ausführlich etwa bei Konrad von Würzburg und im Alexius K). Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 133, zur Umkehrstrategie, die das Erniedrigtsein erhöht. 122 Im Alexius F fällt in der Schilderung der Erniedrigungen und in der Niederschrift des Lebens fünfmal der Begriff der smacheit (V. 1085, 1093, 1201, 1242 und 1255); er wird wie ein Wurm zertreten (Alexius B, V. 304 – 306); auf die Demütigungen geht auch die oben zitierte ,Entmenschlichung‘ (Alexius C, V. 229 f.) zurück.
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seit jeher eine mögliche Dimension des weißen Martyriums; im Elternhaus erlitten gilt sie der Familie, wie ihr Nachvollzug in den Klagemonologen verdeutlicht, als besonders schmachvoll.123 Andererseits aber gerät auf der Ebene des Erzählens das Verhältnis des Heiligen zu allem, was er verlassen hat, durch das „epische[] Basisschema von ,exile and return‘“124 bis zuletzt nicht in Vergessenheit. Strohschneider weist auf die für den Ausgangspunkt der Handlung konstitutive Doppelfunktion des Alexius hin – als Heiliger und zugleich als einziger Nachkomme eines Herrengeschlecht, der genealogische Kontinuität gewährleisten soll: „Zu Anfang gehört Alexius zwei einander ausschließenden Ordnungen an.“125 Auf der Ebene der Figurenlogik löst sich dieser zweifache Bezug im weiteren Verlauf des Geschehens auf: Fraglos hat die Figur ihr Zentrum in der vollständigen, endgültigen und irreversiblen Ablösung, dies indizieren allein schon Gewandwechsel126 und körperliche Verwandlung. Auf der Ebene des Erzählens bleibt dagegen das Bezugssystem feudalen Denkens mit den Parametern Sippenbindung, adelige Geburt, Herrschaft und Reichtum, ohne welches die Selbstverleugnung weder Gabe noch Leistung wäre, präsent – und zwar aufgrund des Schemas von Auszug und Rückkehr in gesteigerter Form.127 Damit deutet sich auf struktureller Ebene eine potentielle doppelte Bezogenheit an, mit der Alternativen bewusst gehalten werden – keine Alternativen für eine religiöse Logik, sondern im Sinne abstrakter Ka123 In der Klage der Mutter: Konrad von Würzburg, V. 1206 – 1217; Alexius A, V. 981 – 988; Jörg Zobel, V. 336 – 340. 124 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 129; zum Motiv der Rückkehr vgl. auch Donald F. Maddox, „Pilgrimage Narrative and Meaning in Manuscript L and A of the ,Vie de Saint Alexis‘“, in: Romance Philology, 27/1973, S. 143 – 157. 125 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 130 f., hier S. 131. – Ähnlich in der Legende von Euphrosyne, siehe oben. 126 Diesen vollzieht Alexius in den meisten Versionen erst in der Fremde (nur im Alexius F und bei Jörg Preining bereits im Elternhaus); ferner legt er in der Elsssischen Legenda Aurea, in Der Heiligen Leben und bei Preining beim Abschied von der Braut den Gürtelriemen ab, der zur Befestigung des Schwertes dient und den er ihr zusammen mit dem Ring überreicht. Zum Ablegen des Gürtels als Ablegen der adelig-höfischen Identität vgl. Beate Schmolke-Hasselmann, „Ring, Schwert und Gürtel im Albani-Psalter“, in: Zeitschrift fr franzçsische Sprache und Literatur, 87/1977, S. 304 – 313, hier S. 307 f. 127 Vgl. Kiening, „Gewalt und Heiligkeit“ (Anm. 101), S. 37, zur Zusammenführung von Mutter und Sohn am Schluss der Gregoriuslegende: „Die genealogische Situation wird damit zwar ,aufgehoben‘, bleibt aber präsent.“
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tegorien. Ein Reflex hierauf ist vielleicht die zweifache Vorgeschichte im Alexius A; sie erzählt von der Weltflucht des Oheims in die eremus und von Brautsuche und Heirat des Vaters.128 Von hier aus ließe sich die Geschichte des Alexius als Synthese mit jeweils charakteristischen Abwandlungen lesen (einerseits Askese unter Menschen, andererseits jungfräuliche Ehe129 und Trennung), als deren Hintergrund jedoch die beiden Modelle in ihrer Unterschiedenheit sichtbar bleiben. Auf eine im Hintergrund stehende doppelte Logik130 verweisen auch Details der Darstellung. Die Herausstellung des Sohnesverhältnisses in einem Monolog des Alexius131 ist dabei noch vergleichsweise wenig aussagekräftig. Anders verhält es sich mit Aussagen über die ,eigentlichen‘ Herrschafts- und Besitzverhältnisse, die in der Figurenlogik ja nicht mehr gelten können: So wird der Bettler Alexius der frste guot genannt (Alexius F, V. 647). Das Almosen er ouch enphie s j von sner knehte hende 132 ; von ihnen enphie er sn selbes guot (Alexius A, V. 398 f. und 401). Die Erniedrigungen fügen ihm die Diener zu, die doch sn eigen w ren (ebd., V. 601). Die Mutter äußert in ihrem Klagemonolog: hæten s dich rehte erkant, j si hæten ab dir gezogen ir hant (V. 991 f.). Ähnlich kommentiert der Erzähler im Vterbuch, dass jetzt nur noch Wenige imstande wären, so lange ein solches Leiden zu ertragen, Den mit großer reichait Ein solich er vor der tur Lg nach irr willechur. (V. 39542 – 39544) 128 Alexius A, V. 35 – 44 (der Oheim Arsenius als Wald-Eremit); V. 69 – 90 (Verehelichung des Eufemian). 129 Dass auch das altfranzösische Alexiuslied keinen Zweifel daran lässt, dass die eheliche Bindung nach der Trennung weiterhin besteht, betonen Gaiffier, „Intactam sponsam relinquens“ (Anm. 99); Schmolke-Hasselmann, „Ring, Schwert und Gürtel“ (Anm. 126), S. 310 f.; Mölk, „Saint Alexis“ (Anm. 35). – Zur jungfräulichen Ehe: A. Schminck, „Josephsehe“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart [u.a.] 1999, Sp. 634; Angenendt, Heilige und Reliquien (Anm. 42), S. 91, passim; insbesondere Gaiffier (Anm. 99), S. 164 – 182, zu dem Motiv in Heiligenlegenden. 130 Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 55, spricht von „the paradoxical summit of the life of seclusion“. 131 Konrad von Würzburg, V. 556 – 559; Alexius A, V. 549 – 551 (vereindeutigend jedoch im Sinne der Negierung der Kindschaft V. 546: der kint ich wlent was genant). 132 Ferner Alexius F, V. 751 f.; Konrad von Würzburg, V. 328 f.; Alexius B, V. 186 f.
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Es versteht sich, dass derartige Aussagen die Funktion haben, die heiligmäßige Leistung des Heiligen und die Kluft zwischen ihm und den anderen hervorzuheben, doch hat dies eben zugleich den Effekt, dass die Parameter der alten sozialen Identität als negierte mitgeführt werden. Schließlich bleibt der Heilige auch Erbe: In A verfügt er in dem Schriftstück, in welchem er sein Leben festhält, dass mit seinem Erbteil durch got eine Schenkung gemacht werden soll (V. 705 – 711).133 Im Hintergrund des Erzählens von Rückkehrlosigkeit, von irreversibler Loslösung, die mit der ,Gabe‘ des Heiligen, falls sie so genannt werden kann, einhergeht, bleibt die Rückkehr gegenwärtig – nicht als tatsächliche Option in der Logik der Figur, sondern als abstrakte Kategorie. Das verbreitete Erzählmotiv des lange unerkannt bleibenden Heimkehrers, der sich schließlich doch offenbart134, mag hierzu beitragen.
VIII. Die Braut Erzählt werden Alternativen indes nicht an der Figur des Alexius, sondern – mit einer charakteristischen Verschiebung – an der der Braut.135 Ist die auf die totale Gabe perspektivierte Selbstverleugnung Ausdruck des absoluten Andersseins des Heiligen, so verlagern sich die Akzente zum Teil gravierend in den unterschiedlichen Ansätzen des Weitererzählens, die fast ausschließlich das Verhältnis zwischen Alexius
133 So schon im MLA, S. 312; ebenso: Der Heiligen Leben, Bd. 1, 254,13 f.; Jörg Preining, VII, 13,11 f. 134 In der mittelhochdeutschen höfischen Literatur etwa in Minne- und Aventiureromanen, die legendarische Erzählformen integrieren (vgl. Werner Röcke, „Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane“, in: Volker Mertens/Ulrich Müller [Hrsg.], Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 394 – 423, hier S. 415 – 419); z. B. kehrt im Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach der Protagonist nach langer, religiös motivierter Trennung von Frau und Söhnen ebenfalls unerkannt als Pilger heim; die Logik des Erzählmusters mündet hier jedoch in das anagnorismos-Motiv und die Wiedervereinigung. Wie die Gute Frau verwendet der Wilhelm von Wenden das Handlungsmuster der Eustachiuslegende (Trennung und Wiedervereinigung der Familie). 135 Zum Verhältnis des Alexis zu seiner Braut in der Vie des saint Alexis: Gaiffier, „Intactam sponsam relinquens“ (Anm. 99), insbesondere zu Abschiedsgespräch und -gaben in der Hochzeitsnacht; Mölk, „Saint Alexis“ (Anm. 35).
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und der von ihm Verlassenen betreffen.136 Zur Spannung zwischen Rückkehrlosigkeit und Rückkehr tritt diejenige zwischen Inkommensurabilität und radikalem Anderssein des Heiligen einerseits und genereller Vergleichbarkeit der Eheleute oder sogar Entsprechung und Reziprozität andererseits, genauer: Es wird eine doppelte Perspektivierung erkennbar, eine ,Mehrgleisigkeit‘, die als Merkmal von Literarizität in erzählenden Texten gelten kann. Insofern die ,Gabe‘ des Heiligen in der völligen Ablösung und Selbstverleugnung besteht, gerät das Erzählen von ihr durch derartige Akzentverschiebungen in Spannungsfelder, ohne dass (im Sinne der Unterscheidung von histoire und narration) sie selbst in Frage gestellt oder ambiguisiert würde. Für die in diesem Zusammenhang interessanten Versionen des Alexius ist gelegentlich auf Berührungen zwischen Legende und höfischen Erzähltypen hingewiesen worden.137 Um Gattungsfragen soll es hier jedoch nicht gehen; vielmehr lässt sich im Vergleich der Versionen beobachten, wie die je unterschiedliche Engführung einander widersprechender Logiken dem Literarischen einen Spielraum erschließt: Die Vielfalt der in den Texten erprobten Alternativen des Erzählens138 ist gleichsam ein Symptom dieser doppelten Logik. Die ,fragilen System136 Je wichtiger die Relation zwischen Alexius und seiner Braut wird, desto mehr tritt das Prinzip der Genealogie als Gegenpol von Heiligkeit zugunsten der personalen triuwe-Bindung zurück. 137 Decuble, Die hagiographische Konvention (Anm. 3), S. 85 f., spricht von „motivische[r] Kontamination mit höfisch-ritterlichen und märchenhaften Vorstellungen“ in den Handschriften S und M2 der Vie de saint Alexis; vgl. Janice M. Pinder, „Transformations of a Theme: Marriage and Sanctity in the Old French St Alexis Poem“, in: Karen Pratt (Hrsg.), Shifts and Transpositions in Medieval Narrative. A Festschrift for Dr. Elspeth Kennedy, Cambridge 1994, S. 71 – 88, hier S. 72. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist für Heinrich Schneegans ,romanhaft‘ gleichbedeutend mit ,poetisch‘, und seine zentrale Kategorie des Poetischen ist das Rührende: „Die mittelmässigen Köpfe […] gingen an ihr [der Braut] kalt vorüber. Nur die poetisch begabten merkten, dass aus der Rolle dieser armen Verlassenen etwas zu machen war […].“ („Die romanhafte Richtung der Alexiuslegende in altfranzösischen und mittelhochdeutschen Gedichten“, in: Modern Language Notes, 3/1888, Sp. 247 – 256 und 307 – 327, hier Sp. 315.) – Grundlegend zu Legende und höfischem Roman: Max Wehrli, „Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter“, in: ders., Formen mittelalterlicher Erzhlung. Aufstze, Zürich – Freiburg/Br. 1966, S. 155 – 176; vgl. ferner Anm. 134. 138 Anders als in Abschnitt III gelten die folgenden Beobachtungen dem Profil der einzelnen Versionen, die innerhalb der ,päpstlichen‘ und ,bräutlichen‘ Gruppe in ungefährer chronologischer Abfolge besprochen werden.
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stellen‘, an denen die Versionen divergieren, verweisen nicht zufällig auf eben jene Spannung zwischen Asymmetrie und Entsprechung. Alternativen werden nicht nur bei der Schriftwunder-Szene realisiert, auf die die Unterscheidung zwischen ,päpstlicher‘ und ,bräutlicher‘ Version zurückgeht (der tote Heilige überlässt das Schriftstück dem Papst bzw. der Braut).139 Der Spielraum des Erzählens geht weit darüber hinaus; er umfasst insbesondere das Abschiedsgespräch, die Gespräche nach der Rückkehr, die Nachgeschichte mit dem Leben der Braut und auf sie bezogenen Wundern.140 Kombinatorische Vielfalt führt dazu, dass bei den mittelhochdeutschen Texten keineswegs nur zwei Hauptversionen zu unterscheiden sind, wie die erwähnte Begriffspraxis suggeriert141, sondern ein breit ausgefächerten Feld von Variationen 139 Vgl. Sanct Alexius Leben in acht gereimten mittelhochdeutschen Behandlungen, nebst geschichtlicher Einl. so wie dt., griech. und lat. Anhängen hrsg. von Hans Ferdinand Massmann, Quedlinburg – Leipzig 1843, S. 26 – 28. 140 Zu den verschiedenen Versionen der Alexiuslegende, insbes. zu den ,bräutlichen‘: Schneegans, „Die romanhafte Richtung“ (Anm. 137); Jackson, The legends (Anm. 3), S. 48 – 51; Vergleiche zwischen dem Text Konrads und dem Alexius A bei Wyss, Theorie (Anm. 3), S. 228 – 233, und Feistner, Historische Typologie (Anm. 3), S. 185 – 193; Decuble, Die hagiographische Konvention (Anm. 3), S. 90 – 155, untersucht die mittelhochdeutschen und altfranzösischen Versionen; zu vergleichbaren Tendenzen in der Spätüberlieferung des altfranzösischen Alexiusliedes außer Schneegans und Decuble z. B. noch Karl D. Uitti, „The Old French ,Vie de Saint Alexis‘. Paradigm, Legend, Meaning“, in: Romance Philology, 20/1967, S. 263 – 295; Pinder, „Transformations“ (Anm. 137), S. 75 – 88, die die Akzentverschiebungen bezüglich der Braut jedoch primär als Ausdruck veränderter Ehekonzepte auffasst. – Nach Schneegans (wie oben), Sp. 307 – 314, sind diese Versionen des altfranzösischen Textes und die mittelhochdeutschen ,bräutlichen‘ Versionen unabhängig voneinander entstanden, wie die Differenzen hinsichtlich der verwendeten Erzählmotive zeigen; auch findet sich in den altfranzösischen Versionen keines der auf die tote Braut bezogenen Wunder, ebensowenig das Schriftwunder der ,bräutlichen‘ Gruppe. 141 Aus pragmatischen Gründen wird sie auch im vorliegenden Beitrag beibehalten; nicht ganz glücklich ist sie schon insofern, als sie die übrigen ,bräutlichen‘ Motive wenig oder gar nicht berücksichtigt, so dass bei Texten wie dem Alexius A, B, F oder der Mrterbuch-Version entweder die Spezifika nivelliert würden oder auf problematische Kategorien wie ,Kontamination‘ oder ,Mischform‘ zurückgegriffen werden müsste. Neukombinationen tangieren in der altfranzösischen wie mittelhochdeutschen Spätüberlieferung sogar die als Unterscheidungskriterium fungierende Schriftwunder-Szene selbst, für die mit der Einführung des Ringmotivs in zwei Fällen eine Möglichkeit gefunden wird, dem Papst und der Braut eine entscheidende Rolle zuzuweisen (s.u. bei Anm. 175–178).
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entsteht, die sich in der handschriftlichen Überlieferung einzelner Texte noch weiter verästeln. Aufgrund der zum Teil auffälligen konzeptionellen Differenzen, mit denen eine Dimension der mouvance mittelalterlicher Schriftkultur sichtbar wird, die das Erzählen betrifft, erweisen sich die Texte als eigenständige Entwürfe der Alexius-Vita. Im plot der oben paraphrasierten Fassung, dem zum Beispiel auch derjenige bei Konrad von Würzburg, im Vterbuch und in der Elsssischen Legenda Aurea entspricht142, erhält die Figur der Braut am wenigsten Profil. Andere Texte setzen sich hiervon in einzelnen Szenen ab, und erst recht betonen die ,bräutlichen‘ Versionen ihre Rolle zum Teil so sehr, dass die Legende „belongs to her as much as to Alexius“.143 Von der ,päpstlichen‘ Gruppe, in der in fast allen Fällen die Braut in der Hochzeitsnacht-Szene nicht zu Wort kommt144 und auch der Abschiedsrede des Alexius nicht viel Raum gegeben wird145, hat beispielsweise nur der Alexius F ein ausführliches, dramatisch ausgestaltetes Gespräch zwischen den Brautleuten, das den Gegensatz der Positionen betont.146 Ferner schließt dieser Text in einer kurzen ,Nachgeschichte‘ mit der Grablegung der Braut: Als man sie im Grab des Alexius beisetzen will, streckt der Tote einen Arm nach ihr aus, und man legt sie zu ihm. Das ließe sich als Bestätigung der Legitimität des Ehebündnisses erzählen. Der Erzähler deutet das Wunder jedoch als Vorausdeutung auf himmlischen Lohn – die Geste des Toten wird zum Zeichen dafür, dass auch die Braut Anteil an der Heiligung hat: hie b ich wol verstanden h n, daz s vertriben hæte ir leben in gotes dienste n widerstreben unt daz ouch si Þwiclch habe frçude in himelrch. (V. 1510 – 1514)
142 Vgl. ferner die Legende bei Hermann von Fritzlar und Alexius K. 143 Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 50. 144 So schon in der lateinischen Prosavita, wo die Abschiedsszene äußerst knapp gehalten ist; ferner bei Konrad von Würzburg, im Vterbuch, Mrterbuch, in der Elsssischen Legenda Aurea, im Alexius C und in K (hier fehlt die Abschiedsszene ganz). 145 Anders in der Prosabearbeitung B des Konradschen Textes, wo Alexius eine predigtartige längere Ermahnung an die Braut richtet. 146 S.o. bei Anm. 76–78; vgl. ferner Handschrift S von Konrads Alexius.
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Dieses Wunder wird auch im MLA sowie in weiteren mittelhochdeutschen Texten erzählt.147 Im frühen Fragment I, das nur den Schluss überliefert, erhält es eine andere Akzentuierung; hier geht ihm das Verlangen der klagenden Braut voraus, im Sarg bei ihrem gesellen zu liegen, daz dv iht ligest hie ain (V. 54 f.). Sie stirbt bald darauf, bei der Graböffnung bedeutet der Tote wieder gestisch, sie zu ihm zu legen, und umarmt sie.148 von diesem grozem zaihen begvnde manich h ttze waichen, wer iz gewesen von stainen, daz iz da ser mvest wainen.
Während das Grabwunder sonst als Ereignis, in dem Heiligkeit unmittelbar offenbar wird, bei den Zeugen Freude und Lobpreisung Gottes evoziert, macht hier das Weinen, insbesondere mit dem Topos des Steinerweichens149, das Geschehen zumindest in einer seiner Dimensionen zur öffentlichen Bezeugung der triuwe und stæte des Paares, die durch kein Hindernis zerstört werden kann, und der Vereinigung im Tod: Als Reaktion auf die Offenbarung des Göttlichen wäre das Weinen der Umstehenden unverständlich. Mit der triuwe kommt die zentrale Form höfischer Reziprozität ins Spiel. triuwe einerseits und Heiligung der Braut andererseits sind Optionen, die auch in anderen Texten durchgespielt werden. Wieder eine andere Kombination und Akzentuierung einzelner Szenen bietet die Mrterbuch-Version. Lapidar heißt es in der Hochzeitsnacht-Szene nur, Alexius habe der Braut, die hier Sabina heißt, viel von Gott gesagt, und ihr bey iren trewen geboten, daz sy sein peitten wolde, j alsi z recht irem chonman solde (V. 18340 – 18342). Die Keuschheitsthematik wird mit keinem Wort gestreift, vielmehr die Wahrung ehelicher Treue eingefordert; das zielt weniger auf den Wert der triuwe als Wechselseitigkeit als darauf, dass die Gültigkeit der Ehe durch die peregrinatio des Heiligen in keiner Weise in Frage gestellt wird. Die 147 Außer im Alexius F und I noch im Alexius A, in Der Heiligen Leben und bei Jörg Preining. 148 Alexius I, V. 77 – 82 (sparsame Interpunktion von mir). 149 Zentral ist dieses Motiv beispielsweise in Konrad Flecks Flore-Roman, der nach dem für Minne- und Aventiureromane konstitutiven Muster von langer Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden erzählt; Flore und Blanscheflur. Eine Erzhlung von Konrad Fleck, hrsg. von Emil Sommer, Quedlinburg – Leipzig 1846 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur 1/12), V. 1486 – 1489, 6410 f. und 7196 – 7199; vgl. V. 6978 f. und 7390 f.
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Bestätigung des Ehebündnisses kommt ja grundsätzlich schon in der Überreichung des Ringes als anulus fidei zum Ausdruck150, von der fast alle Versionen erzählen. Auch das Motiv der Rückkehr des Ehemanns wird im Mrterbuch angedeutet – ganz im Gegensatz etwa zur kategorischen Verweigerung eines Wiedersehens in F (Er sprach , f erden niemmer mÞ‘; V. 615). Eine ausführliche Nachgeschichte geht außerdem auf das asketische Leben Sabinas seit seinem Fortgehen ein, die sich von eigener Arbeit ernährt und ihr gesamtes Erbe weggibt (Mrterbuch, V. 18565 – 18589). Bei der Grablegung wird ihre Heiligkeit unzweifelhaft151 – nicht durch das Grabwunder mit dem toten Heiligen, sondern durch legendentypische Wunder (duftendes Grab, Himmelslicht und Engelsgesang), die ausführlicher erzählt werden als bei Alexius. Eufemian, der zuvor zu Ehren seines Sohnes mit der Hälfte seines Besitzes ein Münster gestiftet hat, nimmt dies wahr und gründet ein zweites Münster zu Ehren seiner Schwiegertochter. Evident ist hier die Betonung von Symmetrie und Entsprechung in Bezug auf Alexius und seine Braut. Auch in der Schlussbitte kommt das zum Ausdruck152, in die auch noch der Vater mit einbezogen wird: Die Gnade eines seligen Todes zu erfahren, helf uns Sabina und Epymian j und Allexius, der rain mann (V. 18643 f.). Den Status einer Doppellegende erweist schließlich die Überschrift im Mrterbuch, Von sand Allexio und Sabina, sowie die Tatsache, dass die Legende auf den 29. August, den Tag der hl. Sabina, platziert wird.153
150 Bei Konrad von Würzburg erhält die Braut zusammen mit dem Ring auch das Gebende der verheirateten Frau (vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ [Anm. 3], S. 131, Anm. 71); ebenso in der Prosabearbeitung B, wo Alexius sie außerdem ermahnt: dis behalt, vnd gedenck min do mitte (163,86; vgl. Alexius F, V. 605 f.; Jörg Zobel, V. 81 f.). Vgl. zum Ring im altfranzösischen Alexiuslied: Gaiffier, „Intactam sponsam relinquens“ (Anm. 99), S. 186; Schmolke-Hasselmann, „Ring, Schwert und Gürtel“ (Anm. 126), S. 306. – Zur zunächst üblichen einseitigen Ringgabe an die Braut und zur allmählichen Durchsetzung des Ringtausches im mittelalterlichen Ehezeremoniell: B. Deneke, „Hochzeit“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stuttgart [u.a.] 1999, Sp. 60 – 62, hier Sp. 61. 151 Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 130, Anm. 69. In Der Heiligen Leben wird dies explizit: Vnd da Eufemianus seiner schn Fr groszew hailikait vnd zaichen sach […] (Bd. 1, 256,8 f.). 152 Vgl. auch Der Heiligen Leben: Nu helf vns der lieb herr sant Alexius vnd sein gemaheln (Bd. 1, 256,11 f.). 153 Vgl. Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 50.
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Die späteste der ,päpstlichen‘ Versionen, der Text Jörg Zobels, betont im zärtlichen Zureden des Alexius in der Hochzeitsnacht wiederum die triuwe-Thematik: wie freuntlich er d mit ir rett und bat die zarten wandels rein mit sezen worten niht ein klein ,nun bis getriwe unt stæte an mir. des gelche wil ich an dir, wan ich muoz varn in fremdiu lant. […] nun halt dich kiusche des bittich dich (des gelche verheizich dir), daz dich got behete mir in reinekeit zart liebste mn.‘ (V. 74 – 87)
Ermahnung zur Keuschheit und Bestätigung wechselseitiger triuwe sind im Duktus höfischer Liebessprache kaum voneinander zu trennen, die Reziprozität formelhaft beschwört. So verspricht auch die Braut: ,[…] j s sÞ hin mn triwe ze pfant, j daz ich dir wart, die wle ich lebe j […]‘ (V. 90 f.). Der Alexius A gehört mit B, Der Heiligen Leben und dem Meisterlied Jörg Preinings zu den Texten, die – wie bei den lateinischen Viten die des MLA – nach der Rolle der Braut beim Schriftwunder üblicherweise als ,bräutliche‘ Versionen bezeichnet werden. In seiner Abschiedsrede fordert Alexius die hier Adiatica genannte Braut zur Bewahrung kiuschlcher zuht auf: vrouwe, mit mir d des phlige! (V. 275 und 278), was sie ihm, die auch seinem Vorsatz fortzugehen zustimmt, zu halten verspricht.154 mit kiuschlcher zuht si wielten j unde unz an irn tt behielten (V. 237 f.), heißt es schon vorher; und auch hier deutet sich die Gemeinsamkeit eines bindenden Gelübdes an.155 In den Gesprächen, die der Heilige unerkannt mit Adiatica führt156, kreisen ihre Fragen nach dem vermeintlich im ellende Gebliebenen um die uneingelöste Wechselsei154 ,[…] j daz mir niemÞr sol werden kunt j mannes bette vrbaz.‘ (Alexius A, V. 290 f.). – Vgl. Gaiffier, „Intactam sponsam relinquens“ (Anm. 99), S. 164 – 182, zu Beispielen aus Heiligenviten mit dem Erzählmuster, nach dem der bzw. die Heilige von der Braut (dem Bräutigam) in der Hochzeitsnacht die Einwilligung in eine jungfräuliche Ehe erlangt. 155 Feistner, Historische Typologie (Anm. 3), S. 190, weist darauf hin, dass beim Keuschheitsgelübde in A „die Braut […] noch stärker als in der Vorlage einbezogen“ ist. 156 Vgl. MLA, S. 310 f.
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tigkeit einer triuwe-Bindung: sie sprach: ,ged hte er iender mn?‘; si sprach: ,h t iht ged ht er ze komen?‘ (V. 639 und 657). Während zwar seine Standhaftigkeit, die auch angesichts ihres Schmerzes nicht schwankt, gepriesen wird, ist er doch andererseits für den Trost, der in ihrer triuwe liegt, nicht unempfänglich157: doch was im daz ein grzer trst, der in ofte von j mer lst, diu triuwe, die sn gemahel zu im 158 hiet, diu vil selten von im schiet. (V. 683 – 686)
Noch eindeutiger in der Lesart von P (V. 685 f.): Es habe ihn getröstet, Das sein gemachel selten von ym schied j vnd solchew trew zu im hiet. Dies als Inkonsequenz des Textes zu beschreiben, da uneingeschränktes Leiden und vollständige Loslösung doch eigentlich das sei, was der Asket suche, wäre nicht weiterführend. Vielmehr scheint der Alexius A, indem er Gemeinsamkeit im Keuschheitsgelübde und (im Anschluss an das MLA) Wechselseitigkeit der ehelichen triuwe andeutet – nicht als tatsächlich erreichte, sondern wiederum im Sinne einer Perspektivierung –, Strategien zu erproben, mit denen sich (selbstverständlich mit sehr ungleicher Gewichtung) neben das Paradigma der Ablösung und des absoluten Andersseins das der Vergleichbarkeit und Entsprechung stellt.159 Schließlich das Schriftwunder: Als eine der frühesten mittelhochdeutschen Versionen lässt A nach vergeblichen Versuchen des Vaters, der Kaiser und des Papstes die Braut den Versuch wagen: diu hant entslz sich an der stat j unt rahte ir den brief her (V. 882 f.). Für die andere Option hat Strohschneider plausibel gemacht, dass der heilig-magische Status des Schriftstücks, das gleichsam aus dem Körper des Heiligen hervorgeht und eins mit ihm ist, es notwendig macht, dass die heilige Hand des Papstes es erhält.160 Die bräutlichen Versionen verlassen freilich die 157 Vgl. ebd., S. 311: Sola tamen ei relinquebatur consolacio fides sponse et sedulitas circa se. 158 Das vereindeutigende zu im (G) wurde von Massmann emendiert (vgl. auch MLA). 159 Grundsätzlich ist dies nicht anders als etwa im Mrterbuch; doch wird in A die Heiligkeit der Braut weniger deutlich herausgearbeitet (im Alexius B gar nicht); auch das abschließende Grabwunder wird nicht explizit in diesem Sinne gedeutet. 160 Wodurch sie den Übergang von der heiligen Schrift zum ,lesbaren‘ Text sakralisiert; Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 144 f.; ders., „Unlesbarkeit von Schrift“ (Anm. 3), S. 605 f.
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„mythopoetische Dimension der Erzählung“161; das Deutungsmuster für dieses Wunder ist auf einer ganz anderen Textebene zu suchen. Es wäre aber, meine ich, nicht hinreichend, im Schriftwunder nur ein Motiv zu sehen, das die eheliche triuwe szenisch verdichtet zum Ausdruck bringt. Vielmehr scheint die Qualifizierung der Braut als der einzigen, die geeignet ist, das Schriftstück zu erhalten, ein Indiz für ein Entsprechungsverhältnis zwischen Braut und Bräutigam auf struktureller Ebene zu sein, das für sich genommen grundsätzlich keiner anderen Logik folgt (die eben nur in der Alexiuslegende nicht die einzige bleibt) als die strukturelle Zusammengehörigkeit zwischen einzigartigem Heilbringer und einzigartiger, zu ihm passender Braut in weltlichen Erzählkontexten.162 Das Wunderbare zeigt die zentrale Bedeutung des Geschehens an, durch das die Braut, die als einzige berechtigt ist, das Schriftstück von der Hand des Toten entgegenzunehmen, im Sinne struktureller Entsprechung und Zusammengehörigkeit im Nachhinein ,legitimiert‘ wird.163 Von den späteren Texten übernimmt Der Heiligen Leben in selbstständiger Neukombination164 aus A und dem Mrterbuch systematisch nahezu alle Szenen und Motive, die der Figur der Braut Gewicht verleihen: die Gespräche mit ihr, das Schriftwunder, die Nachgeschichte mit ihrem frommen Leben, dem Grabwunder und den ihre Heiligkeit erweisenden Wundern. Die Tendenzen der Entsprechung in der Heiligkeit und der angedeuteten Reziprozität der triuwe sowie schließlich auch die Signalisierung struktureller Zusammengehörigkeit werden damit zusammengeführt. Jörg Preining, der sich in seinem Meisterlied in fast allen Details an Der Heiligen Leben orientiert, ändert bezeichnenderweise nur bei der einzigen Szene, die dort gegenüber dem Alexius A gekürzt ist: bei der Hochzeitsnacht; er korrigiert im Sinne größerer Konsequenz das dort nur beiläufig erwähnte Keuschheitsgelübde beider.165 Nur das Meisterlied nämlich erzählt von einem 161 Ebd., S. 607. 162 Vgl. Hugo Kuhn, „Tristan, Nibelungenlied, Artusstruktur“, in: ders., Liebe und Gesellschaft, hrsg. von Wolfgang Walliczek, Stuttgart 1980 (Kleine Schriften 3), S. 12 – 35 und 179 f. 163 Ebd., S. 19. 164 Vgl. Feistner, Historische Typologie (Anm. 3), S. 272 und 285 f. 165 Vgl. Der Heiligen Leben, Bd. 1, 251,25 – 27: Da von sch Fllen wir […] keuschleichen vnd rain[105ra]cleichen vnd g =tlichen leben, alz wir paide got gelobt haben; Hermann von Fritzlar, 161,40: […] und gelobite si mit ime.
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Gelübde, das das Mädchen ihrerseits schon vor ihrer Verheiratung abgelegt hat, zu dem sie also nicht erst von Alexius aufgefordert wird: ein junkfraw glopt man im frware, die het ir keisch gelobet gott und hielt si stet. sie dienet gott mit aller kraft. (VII, 3,5 – 7)
Als er ihr mitteilt, wie er hçt sein keischeit j gelobet gott und Maria, der meid (VII, 3,14 f.), ist sie daher froh und dankt Gott. Wenn hier Alexius schließt: nun lass uns keischlich leben j als wir beide hoben gelopt (VII, 4,10 f.), so bezieht sich das auf zwei selbstständig geleistete Gelübde. Das Entsprechungs- und Symmetrieverhältnis ist evident. Zugleich aber bleibt, wie in allen anderen Texten, aufgrund der peregrinatio und Selbstverleugnung des Heiligen auch die Relation der Asymmetrie konstitutiv. Der Alexius B, der die Nachgeschichte knapp hält und nicht von Wundern erzählt, die die Heiligkeit der Braut erweisen166, verleiht dem Abschiedsgespräch in der Hochzeitsnacht eigene Akzente. Wie in einigen anderen Versionen fordert zunächst der Heilige die Braut zu einem keuschen Leben auf: ,s hœre, liebiu frouwe mn, du solt kiusche biz an dn ende sn, denselben orden wil ich tragen.‘ daz begunde der frouwen wol behagen. si sprach ze ime al berl t: ,mn sÞle werde gotes br t unt dn alsam, als wir verscheiden.‘ daz wart gelobet von in beiden. daz gelobete ir beider munt als, daz br hte in sorge unt frçude d. (V. 107 – 116)
Alexius teilt ihr nicht sein längst abgelegtes Keuschheitsgelübde mit, sondern leistet es mit ihr gemeinsam; sie wiederum spricht von der beiderseitigen Gottesbrautschaft.167 Das Verbindende des Gelübdes wird so sehr betont, dass die (nur zuletzt von ihr beklagte) Situation des Verlassenwerdens in den Hintergrund rückt – es ist die Frömmigkeit 166 Auch die Gespräche mit der Braut fehlen hier. 167 Zur Gottesbrautschaft vgl. auch die beiden Eingangsverse der nach V. 220 einsetzenden Plusstelle von Handschrift S von Konrads Alexius: Er sprach ,uil liebes hertze drut, j Du solt wesen gottes brut. j […]‘ (sparsame Interpunktion in den Zitaten aus S von mir).
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und Gottesliebe eines Paares, die im gemeinsamen Entschluss zur jungfräulichen Ehe in Szene gesetzt wird und wiederum ein Entsprechungsverhältnis zum Ausdruck bringt. Vielleicht kann die sich unmittelbar anschließende Ringgabe an die Braut hier als Besiegelung der jungfräulichen Ehe verstanden werden168, so dass sie sich sowohl auf das gemeinsam geleistete Keuschheitsgelübde wie auch auf die wechselseitige Bindung bezöge, die durch die bevorstehende Trennung nicht in Frage gestellt wird. Letzteres bekräftigen die die Ringgabe begleitenden Worte des Alexius, die das Motiv der Rückkehr beziehungsweise des Wiedersehens im Jenseits anklingen lassen: ,[…] j kume ich niemer zuo dir sider, j s gip mir’z in dem himel wider.‘ (V. 123 f.). Gerade diese Szene erweist sich in der handschriftlichen Überlieferung des Alexius B als ausgesprochen unfest.169 V verstärkt die Initiative der Braut, insofern die Ermahnung zum keuschen Leben (siehe oben, V. 107 f.), die in Handschrift A ihrem Bekenntnis zur Gottesliebe vorausgeht, hier fehlt. Ganz anders der kürzere Text von R, der von der Rede des Alexius nach einleitenden Worten nur eine formelhaftknappe Ermahnung überliefert (frouwe, ich bitte dich niht mÞ, j wan alles, daz dir wol anstÞ; R, V. 103 f.) und sofort die Ringgabe folgen lässt; weder Keuschheitsthematik noch triuwe-Bindung werden damit berührt. Fragment D schließlich inszeniert nach der Ermahnung zur Keuschheit und der Zustimmung der Braut (siehe oben, V. 107 – 110) den Abschied als Trennung eines Liebespaares: Nu horet, wie sich desse liebin j Mit armen umbe fingen (D, V. 34 f.). Nach der Ringgabe des Alexius überreicht die Braut ihm ihrerseits einen Ring: Sie sprach ouch: ,liebir herre myn, j Nempt ouch hin dis vingerlin! j […]‘ (D, V. 42 f.). Der Ring wird später als malschatcz 170 bezeichnet (siehe unten), besiegelt also das Ehebündnis. Zugleich verweist der in ihm eingefasste Edelstein mit seinen magischen Eigenschaften (er leuchtet in der Nacht und schützt den Träger) auf den in der höfischen Epik vielbemühten Karfunkel, wie überhaupt die Szene, in der die Ringgabe zum Pfändertausch geworden ist, mit ihrem gesamten Duktus in die Nähe eines Abschiedes zweier 168 Vgl. Schmolke-Hasselmann, „Ring, Schwert und Gürtel“ (Anm. 126), S. 306 f. 169 Ich orientiere mich am kritischen Apparat der Ausgabe des Alexius B von Blau (siehe Anhang). Die Handschriften: Annaberg/Erzgeb., Hs. D 187, 1447 (A); Königsberg, Universitätsbibliothek, Hs. Nr. 900, 15. Jh. (R); Wien, cod. 3007; 1472 (V); vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld, „Alexius“, in: Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin [u.a.] 1978, Sp. 226 – 235, hier Sp. 227. 170 Als „brautgabe, bes. verlobungsring“ empfängt eigentlich die Braut den mahelschaz vom Bräutigam (vgl. die Belege in BMZ, Bd. 2, Abt. 2, S. 90).
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Liebender gerät, wie er in einem höfischen Roman erzählt werden könnte. Sie betont weniger die Entsprechung im gemeinsamen Gelübde, das hier fehlt, als vielmehr triuwe und Reziprozität einer, wenn man so will, Minneehe. Beim Wiederauffinden des Alexius nach seinem Tod lässt das Fragment D auch den Ring der Braut wieder auftauchen. Nach dem Schriftwunder […] vant man in synir wat, Das im syne trutynne ggebin hat Czu eyme rechten malschatcz. Das was vornad in synir wad, Is luchte also eyn sterne. 171
Zwar ist die Identität des Alexius bereits durch das Schriftstück gesichert, doch scheint der Ring, an das anagnorismos-Motiv in Heimkehrer-Erzählungen erinnernd172, sie nochmals zu bestätigen.173 Vor allem aber unterstreicht seine Erwähnung als malschatcz der Braut und die sorgfältige Aufbewahrung im Gewand – der Heilige hat ihn also stets an seinem Körper getragen – die durch Trennung und Tod nicht in Frage gestellte triuwe-Bindung; auch als triuwe-Symbol verweist der aufbewahrte Ring ja auf das Muster der Heimkehrer-Erzählung und hält damit die Option der Wiederzusammenführung der Ehegatten (als nicht realisierte Alternative des Erzählens) präsent. Auch in Handschrift S des Konradschen Textes, der ansonsten ganz der ,päpstlichen‘ Erzähltradition verpflichtet ist, wird von einem 171 Alexius B, Handschrift D, V. 216 – 220. 172 Vgl. Stith Thompson, Motif-Index of Folk Literature, 6 Bde., Kopenhagen 21966, H 94 („Identification by ring“) und H 94.5 („Identification by broken ring“); Decuble, Die hagiographische Konvention (Anm. 3), S. 120 f., zum anagnorismosMotiv generell sowie zur Spätüberlieferung der Vie des saint Alexis, in der es konsequenter als im Alexius B eingesetzt wird: In S, M2 und P halbiert Alexius seinen Ring. Die Ringhälften fungieren (außer in P) später tatsächlich als Wiedererkennungsmerkmale, die nach dem Verlesen des Schriftstücks endgültig die Identität des Toten bestätigen. In De constantia fidelis anime in den Gesta Romanorum (Anm. 118) sendet Guido vom Sterbebett seiner Ehefrau den Ring als Erkennungsmerkmal. 173 Erst nach dem Wiederfinden des Rings wendet sich der Papst lobpreisend an Eufemian und setzen die Totenklagen ein. – Anders als bei der die Identifizierung ermöglichenden Niederschrift des Lebens (vgl. hierzu die lateinische Prosavita, 130,45) geht es im Fall des Rings um ein Wiedererkennen des Gegenstandes; dies ist in Handschrift S des Alexius Konrads von Würzburg noch deutlicher (siehe das Zitat bei Anm. 176).
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Ringtausch erzählt, den hier die Braut eröffnet: Si gab im an ein g Gtt vingerlin: j ,Behalt das lieber herre min!‘ 174 In der Auffindungsszene erhält ihr Ring allerdings eine andere Funktion als in Handschrift D des Alexius B. Niemand kann ihn dem Toten vom Finger ziehen (Dz wolt er niema¯ lassen do, j Des wart der babst uil unfro175), bis die Braut den Ring erkennt176 : ,Owe‘, sprach si, ,diss vingerlin Dz gab ich nu¯ in der selben zitt, Do er uil gar ane allen nid Mir dz aller beste riett Vnd er sich von mir schied.‘ Mit disen177 worte¯ vn- alsus Dett uff die hand allexius Vnd lies das vingerlin ira do.
Damit realisiert der Text eine Möglichkeit, die ,päpstliche‘, den heiligmagischen Charakter des brieves betonende Variante des Schriftwunders beizubehalten und durch die variierende Wiederholung des Erzählmotivs, nun mit dem Ring, den der tote Heilige niemandem als der Braut überlässt, zugleich beider strukturelle Zusammengehörigkeit in Szene zu setzen.178
IX. Fazit Zwar wird im Rahmen einer ,höheren Ökonomie‘ jede Gabe des Heiligen aufgehoben, zwar kann die totale Gabe grundsätzlich als solche nicht zur Sprache kommen. Gerade deshalb aber ist auf einer für das Erzählen unabdingbaren Dynamik zu insistieren, die, wie allerdings nur momenthaft und an einzelnen Versionen der Alexiuslegende beobachtbar wird, auf die ,totale Gabe‘ als ihren unerreichbaren Fluchtpunkt 174 Am Schluss der mit 129 Versen längsten Plusstelle von S nach V. 220 (vgl. Anm. 39); erst nach der Ringgabe der Braut überreicht Alexius seinen Ring. 175 Konjekturvorschlag von Henczinsky (und fro S); V. 3 f. der Plusstelle nach V. 1012. 176 V. 6 – 13 der Plusstelle nach V. 1290. 177 disem S. 178 Vgl. das Schriftwunder im altfranzösischen Alexiuslied in S und M2: Zunächst kann zwar der Papst der Hand des Toten das Schriftstück entnehmen, dieses fliegt dann aber zur Braut, und in ihm findet sich die von Alexis aufbewahrte Ringhälfte; vgl. Pinder, „Transformations“ (Anm. 137), S. 76 f.; Decuble, Die hagiographische Konvention (Anm. 3), S. 144 f.
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ausgerichtet ist: so im umfassenden Verlust der Menschenähnlichkeit; in der spezifischen Akzentuierung der mortificatio als ,Sterben im Leben‘; in der Selbstverleugnung, die (innerhalb der erwähnten Grenzen) mit der Potenzierung der Verborgenheitsproblematik an die Aporien rückhaltlosen Gebens denken lässt – all dies Gaben, die zwar selbst nie über die Grenzen einer höheren Ökonomie hinausführen, aber auf die totale Gabe als Horizont des Erzählens hin perspektiviert sind. Konstitutiv für das Erzählen von Heiligkeit ist ferner das Spannungsverhältnis zwischen Verallgemeinerbarkeit und Vergleichbarkeit der Gabe einerseits und Unwiederholbarkeit und Unvergleichbarkeit andererseits, zwischen der gemeinsamen Orientierung aller an einer höheren Ökonomie von Leistung und Lohn, die die Heiligkeit des Heiligen zur vergleichbaren Größe macht, und seinem nicht relationierbaren Anderssein, seiner grundlosen Erwähltheit durch Gott. Ist die Gleichzeitigkeit von Inkommensurabilität und Vergleichbarkeit für legendarisches Erzählen generell konstitutiv, so erhält sie in der Alexiuslegende eine neue Qualität: indem sie sich mit der Spannung zwischen Rückkehr und Rückkehrlosigkeit verbindet, mit der eine weitere Perspektivierung legendarischen Erzählens erkennbar wird. Die Gabe des Heiligen impliziert an sich – abgesehen von ihrer Aufhebung in einer höheren Ökonomie – Rückkehrlosigkeit, die hier auf der Ebene des Erzählens mit dem Motiv der Rückkehr enggeführt wird. Das dadurch entstehende narrative Potential nutzen die Texte, indem sie im Hintergrund des Erzählens von Rückkehrlosigkeit, Loslösung und irreversibler Entfremdung die verworfene Alternative mitführen: die Möglichkeit der Wiederkehr und der Restituierung der verlassenen Identität als Adliger, Sohn und Bräutigam – eine Alternative, die in der Negation präsent bleibt. Derartige Spannungsfelder lassen schließlich eine Dynamik des Wieder- und Weitererzählens entstehen, die am Textfeld der verschiedenen Alexius-Versionen beobachtbar wird: Sie divergieren nicht zufällig an den instabilen Systemstellen, die auf eben jene Spannungen verweisen.179 Dies wird insbesondere an der Figur der Braut sichtbar, mit der die Texte eine ganze Skala von Möglichkeiten abdecken: von der Randfigur bis hin zur Heiligen, die in ein Entsprechungs- und Reziprozitätsverhältnis zu Alexius tritt. Einander ausschließende Logiken – Inkommensurabilität und Entsprechung, Asymmetrie und Re179 Vgl. Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 3), S. 141, Anm. 87 zum Schriftwunder.
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ziprozität, Rückkehrlosigkeit und Rückkehr – setzen im Erzählen von der Gabe der Selbstverleugnung das Spiel mit den Möglichkeiten in Gang. Legendarisches Erzählen bleibt somit, ohne dass dadurch die ,einsinnige‘ Logik auf der Ebene des Erzählten (die heiligmäßige Selbstverneinung) in Frage gestellt würde, nicht unberührt von einer doppelten Logik als Grundierung des Erzählens. Im Einzeltext wird ein Denken in Alternativen beobachtbar, eine doppelte Bezogenheit oder ,Mehrgleisigkeit‘ des Erzählens, die als Merkmal der Literarizität narrativer Texte gelten kann. Symptomatisch ist aber auch die Vielfalt der in den Texten erprobten Alternativen: Mit dem Auserzählen von Alternativen gerät legendarisches Erzählen in die Austauschprozesse literarischer Kommunikation.
Anhang: Textausgaben 1 Lateinische und mittelhochdeutsche Vers- und Prosalegendare Legenda Aurea: Jacobi a Voragine Legenda aurea, vulgo historia Lombardica dicta, hrsg. von Johann Georg Theodor Graesse, Bratislava 31890 (Nachdruck Osnabrück 1969). Elsssische Legenda Aurea: Die ,Elsssische Legenda Aurea‘, Bd. 1: Das Normalcorpus, hrsg. von Ulla Williams und Werner Williams-Krapp, Bd. 2: Das Sondergut, hrsg. von Konrad Kunze, Tübingen 1980/1983 (Texte und Textgeschichte 3/10). Der Heiligen Leben: Der Heiligen Leben, Bd. 1: Der Sommerteil, hrsg. von Margit Brand, Kristina Freienhagen-Baumgardt, Ruth Meyer und Werner Williams-Krapp, Bd. 2: Der Winterteil, hrsg. von Margit Brand, Bettina Jung und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1996/2004 (Texte und Textgeschichte 44/51). Hermann von Fritzlar, Heiligenleben: Hermann von Fritzlar – Nikolaus von Straßburg, hrsg. von Franz Pfeiffer, Leipzig 1845 (Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts) (Nachdruck Aalen 1962). Mrterbuch: Das Mrterbuch. Die Klosterneuburger Handschrift 713, hrsg. von Erich Gierach, Berlin 1928 (Deutsche Texte des Mittelalters 32). Passional: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, hrsg. und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke, Quedlinburg – Leipzig 1852 (Nachdruck Amsterdam 1966). Vterbuch: Das Vterbuch, aus der Leipziger, Hildesheimer und Strassburger Handschrift hrsg. von Karl Reissenberger, Berlin 1914 (Deutsche Texte des Mittelalters 22).
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2 Die Versionen der Alexiuslegende 2.1 Lateinische Texte MLA: Vita Sancti Alexii confessoris, in: Magnum Legendarium Austriacum; zitiert nach: Gerhard Eis, Beitrge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik. Untersuchungen und Texte, Berlin 1935 (Germanische Studien 161) (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 304 – 315. Prosavita: Vita Sancti Alexii confessoris, in: Acta Sanctorum Bollandorium, Bd. IV, S. 251 – 253; zitiert nach: Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht ,Pater deus ingenite‘ (11. Jh.) und das altfranzçsische Alexiuslied, Münster 1966 (Forschungen zur Romanischen Philologie 18), S. 107 – 153. Legenda Aurea: siehe oben, 1, S. 403 – 406.
2.2 Das altfranzösische Alexiuslied Sanct Alexius. Altfranzçsische Legendendichtung des 11. Jahrhunderts, hrsg. von Gerhard Rohlfs, 5., verb. Auflage Tübingen 1968 (Sammlung romanischer Übungstexte 15). Das Leben des heiligen Alexius, aus dem Altfranzösischen übersetzt von Klaus Berns, München 1968 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 6). The ,Vie de Saint Alexis‘ in the Twelfth and Thirteenth Centuries, edition and commentary by Alison Goddard Elliott, Chapel Hill 1983 (North Carolina Studies in the Romance Languages and Literatures 221).
2.3 Mittelhochdeutsche Texte (Die Angaben in eckigen Klammern zur Datierung der Einzeltexte folgen: Hans-Friedrich Rosenfeld, „Alexius“, in: Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin [u.a.] 1978, Sp. 226 – 235; zur Datierung von Hermanns von Fritzlar Heiligenleben, Mrterbuch und Vterbuch vgl. die entsprechenden Artikel im Verfasserlexikon.) Alexius A: in: Eis, Beitrge (siehe oben, 2.1, MLA), S. 256 – 303 [um 1300]. Alexius B: Max Fr. Blau, „Zur Alexiuslegende. II“, in: Germania, 34/1856, S. 156 – 187, hier S. 174 – 187 [vermutlich Ende des 13. Jahrhunderts]. ––– Handschrift D: Hans-Friedrich Rosenfeld, „Eine Bearbeitung des Alexius B aus dem 15. Jh.“, in: Neuphilologische Mitteilungen, 66/1965, S. 91 – 107, hier S. 99 – 107. Alexius C: in: Sanct Alexius Leben in acht gereimten mittelhochdeutschen Behandlungen, nebst geschichtlicher Einl. sowie dt., griech. und lat. Anhängen hrsg. von Hans Ferdinand Massmann, Quedlinburg – Leipzig 1843, S. 77 – 85 [vermutlich Anfang des 14. Jahrhunderts]. Alexius F: in: Massmann (siehe oben, Alexius C), S. 118 – 139 [2. Hälfte des 13. Jahrhunderts]. Alexius I: W. Toischer, „Sanct Alexius“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum, 28/ 1884, S. 67 – 72, hier S. 69 – 72 [vermutlich noch 12. Jahrhundert]. Alexius K: Hans-Friedrich Rosenfeld, „Eine mittelhochdeutsche Alexiuslegende (K)“, in: Kurt Rudolph (Hrsg.), Festschrift Walter Baetke, Weimar
Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende
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1966, S. 284 – 297, hier S. 290 – 297 [2. Hälfte des 14. Jahrhunderts: ebd., S. 290]. Elsssische Legenda Aurea: siehe oben, 1, Bd. 1, S. 426 – 429 [um 1350180]. Der Heiligen Leben: siehe oben, 1, Bd. 1, S. 250 – 256 [handschriftlich Ende des 14. Jahrhunderts?]. Hermann von Fritzlar: siehe oben, 1, S. 160 – 164 [1343 – 1349]. Konrad von Würzburg, Alexius [Alexius D]: in: Konrad von Würzburg, Die Legenden, hrsg. von Paul Gereke, Bd. 1, Halle/S. 1925 (Altdeutsche Textbibliothek 19), S. 3 – 63 [vor 1275181]. Konrad von Würzburg, Das Leben des heiligen Alexius, hrsg. von Richard Henczynski, Berlin 1898 (Acta Germanica 6,1). ––– Prosabearbeitung B: Nigel F. Palmer, „Eine Prosabearbeitung der Alexiuslegende Konrads von Würzburg“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum, 108 (1979), S. 158 – 180, hier S. 161 – 171. Mrterbuch [Alexius MB]: siehe oben, 1, V. 18287 – 18646 [handschriftlich noch 13. Jahrhundert?]. Preining, Jörg [Alexius H] (im Langen Ton Regenbogens): in: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, hrsg. von Thomas Cramer, 4 Bde., München 1982, Bd. 3, S. 62 – 73, VII, 1 – 19 [1488]. Vterbuch [Alexius E]: siehe oben, 1, V. 39035 – 40050 [letztes Drittel des 13. Jahrhunderts]. Zobel, Jörg [Alexius G]: in: Massmann (siehe oben, Alexius C), S. 140 – 146 [um 1450].
180 Vgl. Konrad Kunze, „Jacobus a Voragine“, in: Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin [u.a.] 1983, Sp. 448 – 466, hier Sp. 460. 181 Vgl. jedoch Jackson, The Legends (Anm. 3), S. 3.
Hybride Epistemik Episches Einander-Erkennen im Spannungsfeld höfischer und religiöser Identitätskonstruktionen: Die gute Frau, Mai und Beaflor, Wilhelm von Wenden 1 Armin Schulz I. Heuristische Vorbemerkungen: Hybride Texte und hybride Epistemiken Es gehört zu den Gemeinplätzen altgermanistischer Literaturgeschichtsschreibung, dass die spätmittelalterliche Epik von einer starken Tendenz zur Gattungsmischung geprägt ist. Ausgehend von Karlheinz Stierles Beobachtungen zur „Verwilderung des Romans“2 in der Romania hat die jüngere Forschung diese Tendenz mit dem Etikett der ,Hybridität‘ versehen.3 Bachtins Begriff zielt auf die Überlagerung beziehungsweise Überschneidung unterschiedlicher, intertextuell präfigurierter Semantiken im Wortlaut oder in der Struktur einer literari-
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Die Vorlage führt Überlegungen aus meiner Habilitationsarbeit fort; vgl. Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 135). Ich hatte ursprünglich geplant, im Folgenden auch die späte Heldenepik am Beispiel des Wolfdietrich D mit einzubeziehen. Darauf sei jedoch aus Platzgründen verzichtet. – Für kritische Vorablektüre danke ich Olga Seus. Karlheinz Stierle, „Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit“, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Literatur in der Gesellschaft des Sptmittelalters, Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters 1), S. 253 – 313. Vgl. etwa Stephan Fuchs, Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beitrge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frhen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31); Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: ,Willehalm von Orlens‘ – ,Partonopier und Meliur‘ – ,Wilhelm von sterreich‘ – ,Die schçne Magelone‘, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161).
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schen Äußerung.4 Wo von der Hybridität spätmittelalterlicher Epik die Rede ist, meint dies also eben nicht nur, dass diese Texte mehr oder weniger geschickt aus dem bestehenden literarischen Inventar zusammenmontiert sind, im Sinne ihrer syntagmatischen Integration, sondern vor allem, dass ihre narrativen Syntagmen teilweise doppelt codiert sind, im Sinne einer paradigmatischen Überdetermination.5 Karl Bertau hat, etwas überspitzt, für die Literatur um 1220 von einem „[h]istorische[n] Diskurswechsel von den Feinen zu den Frommen“ gesprochen. Gemeint ist die zunehmende Infiltration narrativ vermittelter höfischer Lebensentwürfe, die darauf angelegt sind, wie man „Gott und dem Hofe gefallen“ kann, durch einen spirituellen Rigorismus: „Das Schicksal der Einzelseele, das Schicksal des Nächsten vor Gott, ohne Rücksicht auf Hof und Welt, nur davon kann jetzt glaubhaft gehandelt werden.“6 Dieser Diskurswechsel korreliert zeitlich dem Aufstieg der Bettelorden im 13. Jahrhundert, die steigenden Einfluss an den Höfen gewinnen.7 Offenbar muss nun der Geltungsanspruch höfischer Literatur neu verhandelt werden, selbst dort, wo sie von weltlichen Helden und Liebespaaren handelt, wie in der Guten 4
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„Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ,Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es […] keine formale – kompositorische und syntaktische – Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente […].“ (Michail M. Bachtin, „Das Wort im Roman“, in: ders., Die sthetik des Wortes, hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 154 – 300, hier S. 195). Vgl. Annette Keck/Armin Schulz, „Überdetermination“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin [u.a.] 2003, S. 715 – 717. Karl Bertau, ber Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der hçfischen Epik um 1200, München 1983, S. 107. Die Faszination der Adelsgesellschaft durch das geistliche Armutsideal ist freilich älter; vgl. Volker Mertens, Gregorius eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption, Zürich – München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 67), S. 42 – 58. Vgl. auch den Beitrag von Christina Andenna, „Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels“, in diesem Band.
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Frau, in Mai und Beaflor oder Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden. 8 In diesen und anderen höfischen Romanen finden sich massiert legendarische Motive und Strukturen9, das christliche Armutsund Demutsgebot bestimmt die Lebensentwürfe der Hauptfiguren, und doch zielen die Texte nicht oder nicht primär darauf, von Heiligkeit zu erzählen. Im Gegenteil wird zuletzt gerade „der bewußte Verzicht auf weltliche Macht und weltlichen Reichtum mit eben dieser Macht und mit noch größerem Reichtum belohnt“.10 Es geht um weltliche Protagonisten, die zugleich christliche Exempelfiguren sind und damit an dem konnotativen ,Mehrwert‘ religiöser Lebensentwürfe und Identitätskonstruktionen partizipieren. Die legendarischen Romane des 13. 8 Vgl. zu den Texten vor allem Dieter Kartschoke, „Armut in der deutschen Dichtung des Mittelalters“, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Armut im Mittelalter, Ostfildern 2004 (Vorträge und Forschungen 58), S. 27 – 78, hier S. 63 – 69 (zur Guten Frau); Volker Honemann, „,Guillaume d’Angleterre‘, ,Gute Frau‘, ,Wilhelm von Wenden‘. Zur Beschäftigung mit dem Eustachius-Thema in Frankreich und Deutschland“, in: Martin H. Jones/Roy Wisbey (Hrsg.), Chrtien de Troyes and the German middle ages. Papers from an international symposium, Cambridge – London 1993 (Arthurian Studies XXVI), S. 311 – 329; Volker Mertens, „Herrschaft, Buße, Liebe: Modelle adliger Identitätsstiftung in ,Mai und Beaflor‘“, in: Volker Honemann [u.a.] (Hrsg.), German narrative literature of the twelfth and thirteenth centuries. Festschrift fr Roy Wisbey, Tübingen 1994, S. 391 – 410; Wolfgang Walliczek/Armin Schulz, „Heulende Helden. ,Sentimentalität‘ im späthöfischen Roman am Beispiel von ,Mai und Beaflor‘“, in: Thomas Betz/Franziska Mayer (Hrsg.), Abweichende Lebenslufe, poetische Ordnungen. Fr Volker Hoffmann, München 2005, Bd. 1, S. 17 – 48; Hans-Joachim Behr, Literatur als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am bçhmischen Kçnigshof im 13. Jahrhundert, München 1989 (Studien zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 9), S. 175 – 206 (zum Wilhelm von Wenden); Ute von Bloh, „Unheilvolle Erzählungen: Zwillinge in Geschichten des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begrndungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Medivistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 3 – 20; Werner Röcke, „Die Macht des Wortes. Feudale Repräsentation und christliche Verkündigung im mittelalterlichen Legendenroman“, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hrsg.), Hçfische Reprsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 209 – 226. 9 Vgl. etwa Werner Röcke, „Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane“, in: Volker Mertens/Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 395 – 423, hier S. 415 – 419; Joachim Heinzle, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfngen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2: Vom hohen zum spten Mittelalter, Teil 2: Wandlungen und Neuanstze im 13. Jahrhundert (1220/30 – 1280/90), Königstein/Ts. 1984, S. 145 – 150. 10 Kartschoke, „Armut“ (Anm. 8), S. 66 (zur Guten Frau).
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Jahrhunderts versuchen sich so an – nicht immer konfliktfreien – Kompromissen, wie das standes- und selbstbewusste Leben in der Welt, in der Pracht der höfischen Gesellschaft, und eine gottgefällige, demütige, tendenziell gesellschaftsabgewandte, am Ideal der Armut11 orientierte Existenz am besten miteinander vereinbart werden können. Weil Identität im Mittelalter idealiter durch soziale Inklusion bestimmt wird und die entsprechenden Zugehörigkeiten vor allem an der ,sozialen Oberfläche‘ abgelesen werden, sind Identität und äußere Kenntlichkeit untrennbar miteinander verbunden.12 In diesem Sinn wirkt sich die Kompromissstruktur auch auf die epistemischen Ordnungen der Texte aus: auf die Kenntlichkeit der Figuren und die Regeln, aufgrund derer sie einander als Standes- und auch als Einzelwesen erkennen. Die soziale Epistemik der laikalen Adelskultur basiert auf der Grundannahme, dass das sichtbare Äußere einer Person untrennbar mit ihrem Inneren, ihrem ,Kern‘ oder ihrem ,wahren Wesen‘ verbunden ist, entweder im Sinne einer Entsprechung oder im Sinne eines Gegensatzes; keinesfalls aber ist es bloß zufällig.13 Der höfische Roman, dessen 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. die Beiträge in: Peter von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persçnliche Identitt und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln [u.a.] 2004 (Norm und Struktur 23). Zur basalen Unterscheidung von sozialer Inklusion und Exklusion für die Herausbildung von Identität und Individualität vgl. allgemein Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, S. 149 – 258. 13 Zum Folgenden vgl. Schulz, Schwieriges Erkennen (Anm. 1), mit ausführlichen Herleitungen. Vgl. außerdem vor allem Ingrid Hahn, „Zur Theorie der Personerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 99/1977, S. 395 – 444; Jan-Dirk Müller, „Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ,Willehalm‘, dem ,Nibelungenlied‘, dem ,Wormser Rosengarten A‘ und dem ,Eckenlied‘“, in: Gertrud Blaschitz [u.a.] (Hrsg.), Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift fr Harry Khnel, Graz 1992, S. 87 – 111; Dieter Kartschoke, „,Der ain was grâ, der ander was chal‘. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter“, in: Johannes Janota [u.a.] (Hrsg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1 – 24; Horst Wenzel, „Hören und Sehen. Zur Lesbarkeit von Körperzeichen in der höfischen Literatur“, in: Helmut Brall/Barbara Haupt/Urban Küsters (Hrsg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 191 – 218; Wolfgang Haubrichs, „,Habitus Corporis‘. Leiblichkeit als Problem einer hi-
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Weltentwurf ein (freilich prekäres) Kalokagathie-Ideal propagiert, ist diesem Modell am konsequentesten verpflichtet, während Legende und Heldenepik gegenüber der Inszenierung solcher „Sichtbarkeitszusammenhänge“14 eine ambivalente Position einnehmen. Zwar sind sie von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem schönen Schein des Höfischen geprägt (der im Roman immer mehr als nur schöner Schein sein muss), doch sind auch für sie die Rahmenbedingungen der mittelalterlichen ,Kultur der Sichtbarkeit‘ nicht dispensierbar: Dies zeigt sich, wenn sie die Heiligkeit oder Exorbitanz ihrer Protagonisten durch die literarische Inszenierung strahlender, verklärter Körper evident zu machen suchen; es zeigt sich auch e negativo, wenn ihre Figuren für die adelige Welt gewissermaßen unsichtbar werden, weil sie eine neue Identität annehmen. Im legendarischen Modell der conversio findet ein solcher Identitätswechsel statt: Wo nicht allein die Pracht des höfischen Lebens, sondern dieses selbst zugunsten einer hoffernen Existenz in Armut aufgegeben wird, geht dies mit einem Verlust der sozialen Kenntlichkeit einher; die Heiligen verschwinden, nachdem sie sich ärmliche Gewänder übergezogen haben, aus den feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘; die feudale Welt nimmt sie nicht wahr, weil man in ihr nur auf seinesgleichen achtet.15 Erstaunlicherweise sind nun sogar die orischen Semantik des Mittelalters. Ein Beispiel physiognomischer Körperdarstellung in der ,Limburger Chronik‘“, in: Otto Langer/Klaus Ridder (Hrsg.), Kçrperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum fr interdisziplinre Forschung der Universitt Bielefeld (18. bis 20. Mrz 1999), Berlin 2002 (Körper – Zeichen – Kultur 11), S. 15 – 43; Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004; von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit (Anm. 12). 14 Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien literarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147, hier S. 139, Anm. 85. 15 Die soziale Epistemik der Legende setzt christliche Demut gegen superbia und Weltverfallenheit. Das heldenepische Misstrauen gegen die höfische Epistemik wird hingegen von einer archaisierenden, in gewissem Sinn ,romantizistischen‘ Weltsicht bestimmt, die hinter glanzvollem schn, hinter affektkontrollierter zuht und schönen Worten nichts als Intrige und Betrug wittert. Dagegen setzt sie das heroische Ideal unbedingter Authentizität, welche sich gewissermaßen unterhalb der Ebene manipulierbarer Zeichen und Oberflächen ,von selbst‘ mitteilt: in der puren körperlichen Präsenz des Heros, der sich nicht verstellen kann und bei dem Äußeres und Inneres noch ungeschieden sind. Das Ar-
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nächsten Verwandten nicht mehr in der Lage, sie von Angesicht zu Angesicht zu erkennen. Feudale Vergesellschaftungsformen basieren auf der Vorstellung einer ,transpersonalen Identität‘, die im wesentlichen durch die gemeinsame Teilhabe an einem nicht bloß metaphorisch, sondern ganz konkret gedachten Sippenkörper bestimmt wird. Vor allem die Heldenepik arbeitet sich an dem kulturellen Phantasma ab, dass die solcherart merkmalsgleichen Glieder eines Sippenkörpers einander eigentlich besonders leicht erkennen sollten(!), wo sie einander begegnen.16 Doch dieser Modus der Weltorientierung wird den Protagonisten des höfischen Romans und der Legende zumeist verweigert: in der Legende, weil hier ,künstliche‘, spirituell begründete Gemeinschaften gegenüber ,natürlichen‘ Ordnungen wie etwa der Sippe privilegiert werden und diese im narrativen Verlauf ablösen – und weil hier Erkenntnisfähigkeit keine erlernbare oder von vornherein vorhandene, sondern eine exklusiv von Gott verliehene Eigenschaft ist; im Roman, weil die personale Identität hier nicht bloß punktuell zweckrational verborgen wird (wie im Heldenepos), sondern systematisch, um zu zeigen, dass man sich den Rang, der einem qua Geburt zukommt, jederzeit auch durch eigene Leistung verdienen kann. Dementsprechend müssen hier die intuitiven Modi des Einander-Erkennens weitgehend suspendiert werden: Die anderen bleiben – wie auch der Held selbst – auf die Deutung äußerer Zeichen angewiesen. Wenn die frommen Romane des 13. Jahrhunderts unterschiedliche Erzählmodelle hybridisieren, involviert dies auch die Entwürfe von Identität, sozialer Kenntlichkeit und ,Personerkenntnis‘17, die, wie eben skizziert, den jeweiligen Erzählmustern anhaften. Dies wirft narrative chaische wird sozusagen als ,Reflexionsform‘ der modernen höfischen Kultur funktionalisiert. 16 Letzlich geht dies auf archaische Vorstellungen zurück, wie sie von der Ethnologie beschrieben werden: „Verwandte fühlen sich ,zueinander hingezogen‘. Die Übereinstimmungen, die zwischen ihnen bestehen, stiften Vertrauen und Sicherheit – oder allgemeiner: zwischen ähnlichen Dingen, Eigenschaften, Phänomenen und Vorgängen waltet ,Sympathie‘.“ Dabei fließen „die Impulse oder ,Informationen‘ unter nahen, also Blutsverwandten immer rascher: Ihr Weg ist gleichsam kürzer, die Kommunikation begegnet weniger Hindernissen. Segen wie Fluch wirken unmittelbar – ebenso aber auch böse Gedanken, Unmutsgefühle oder gar Haß, die ein Verwandter einem anderen gegenüber hegt“ (Klaus E. Müller, Das magische Universum der Identitt. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt/M. – New York 1987, S. 251 und S. 206). 17 Begriff von Hahn, „Zur Theorie der Personerkenntnis“ (Anm. 13).
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Probleme auf und produziert Widersprüche, die die Forschung bislang eher irritiert zur Kenntnis genommen hat. Aber es bietet auch die Chance, Fragen nach historisch fremd gewordenen Techniken des literarischen Bedeutungsaufbaus mit solch einer historischen Anthropologie zu verbinden. Ich möchte dies im Folgenden exemplarisch an den genannten Texten zeigen.
II. Identitätskrise und äußere Kenntlichkeit Die frommen Romane, von denen im folgenden gehandelt werden soll, weisen eine gewisse ,Familienähnlichkeit‘ auf.18 Ihre Grundstruktur ist dem hellenistischen Liebes- und Abenteuerroman entlehnt, nach dem Muster der Trennung und Wiederfindung zweier Liebenden, die sich allerdings zwischenzeitlich, als Bettler, Pilger und Büßer, radikal dem christlichen Armuts- und Demutsgebot unterwerfen. Dabei werden nicht bloß Einzelmotive aus dem Gattungszusammenhang der Legende syntagmatisch in den Erzählablauf integriert, sondern es zeigt sich durchgängig eine legendarische Überformung, die zu hybriden Überdeterminationen führt.19 In der Guten Frau und im Wilhelm von Wenden geht es um junge Fürstenpaare, die nach einem religiösen Erweckungserlebnis alles aufgeben und als Bettler beziehungsweise Pilger durch die Welt ziehen, wobei die Frau unterwegs zwei Söhne zur Welt bringt. Alle Familienmitglieder werden dann voneinander getrennt, die 18 Zitierte Ausgaben: „Die Gute Frau. Gedicht des dreizehnten Jahrhunderts“, hrsg. von Emil Sommer, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 2/1842, S. 385 – 481; Mai und Beaflor, Leipzig 1848 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 7); Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden, hrsg. von HansFriedrich Rosenfeld, Berlin 1957 (Deutsche Texte des Mittelalters 49). Vgl. inzwischen die diplomatisch orientierten Ausgaben (nach Leithandschrift A) von Mai und Beaflor durch Albrecht Classen (2006; offensichtlich unzuverlässig) sowie durch Christian Kiening und Katharina Mertens Fleury (2008; online erreichbar auf Kienings Homepage an der Universität Zürich; Vorstufe einer ATB-Edition). 19 Eine solche Überformung begegnet seit den frühesten christlichen Adaptationen des Musters (etwa in der Eustachiuslegende); vgl. allgemein Harald Haferland, „Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden“, in: Euphorion, 99/2005, S. 323 – 364, hier S. 348 – 356; Honemann, „Guillaume d’Angleterre“ (Anm. 8); zum Wilhelm von Wenden vgl. Behr, Literatur als Machtlegitimation (Anm. 8), S. 175 – 206.
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Kinder wachsen unstandesgemäß bei Pflegeeltern auf, der Mann zieht weiter durch die Welt. Die weiblichen Tugenden der Frau, vor allem ihre Demut und ihre Schönheit, verhelfen ihr zu einem ungewollten sozialen Wideraufstieg. Sie wird in der Fremde Landesherrscherin, wobei sie, selbst wenn sie sich (in der Guten Frau) mehrfach wiederverheiraten muss, ihre Keuschheit bewahren kann. Zuletzt treffen die Familienmitglieder wieder unerkannt aufeinander. Es ist die Frau, die dann aufgrund von Geschichten und Gnorismata die Identität der anderen aufdecken kann, bevor sie im Einklang mit den Mächtigen ihres Reiches die Familie wieder zusammenführt. Fragen der Identität und der äußeren Kenntlichkeit sind hier untrennbar miteinander verbunden. Dies zeigt sich an den beiden Positionen des Erzählsyntagmas, wo die vorgängige soziale Identität der Protagonisten erschüttert wird und dann zugunsten einer anderen aufgegeben wird: Im ersten Fall führt das Erweckungserlebnis zum Verzicht auf die angestammte Identität, was seinen Ausdruck im vestimentären Code und im Verschwinden aus den feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘ findet. Im zweiten Fall geht es darum, dass die Protagonisten einander wiedererkennen müssen, um gemeinsam in das weltliche Leben zurückzufinden und die adelige Familie erneut als herrscherliche Prokreationsgemeinschaft zu etablieren. Beide Male erweist sich jedoch die vorgängige Identität als widerständig: Zuerst stellt es sich als unmöglich heraus, die körperliche Evidenz der angestammten Adelsexistenz vollständig zum Verschwinden zu bringen; zuletzt gibt es merkwürdige Verzögerungen und Asymmetrien des Einander-Erkennens, in denen die Möglichkeit aufscheint, dass die Trennung der Familie irreversibel sein könnte. Diese beiden Schlüsselstellen lassen die Kompromissstruktur der frommen Romane offen zutage treten. Ähnliche, funktional analoge Krisenmomente prägen auch Mai und Beaflor, obwohl der Text die Opposition zwischen christlichen und feudalen Lebensentwürfen weniger radikal ausspekuliert. Hier muss die Erbin des Römischen Reiches ihre angestammte Identität hinter sich lassen, weil das inzestuöse Verlangen ihres Vaters sie aus dem Land vertrieben hat. Das geplante Leben als Bettlerin, als arme und demütige Dienerin Gottes bleibt ihr jedoch verweigert, weil ihre Fluchthelfer darauf bestehen, dass sie die Reise – in einem verschlossenen Schiff, ähnlich wie Gregorius20 – in glanzvoller Pracht und mit allen ihren 20 Überhaupt rekurrieren die frommen Romane ausgesprochen oft auf Motive aus dem Gregorius. Dem kann hier jedoch nur punktuell nachgegangen werden.
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Reichtümern antritt, um in der Fremde nicht als ehrlos angesehen zu werden. Obwohl Beaflor sich extrem demütig verhält und ihren Willen zur Weltentsagung in Armut immer wieder formuliert, wird sie ihrer äußeren Pracht und Schönheit gemäß behandelt. So heiratet sie der junge griechische Landesfürst Mai – auch hier kommt es zu einem ungewollten sozialen Wideraufstieg der Frau –, aber die prekär ungeklärte Identität Beaflors führt letztlich dazu, dass sie nach der Geburt eines Sohnes zum Opfer einer Verleumdung wird, die ihre erneute Flucht nötig macht. Zum armen Pilger wird hier ihr Mann, der glaubt, am Tod von Frau und Sohn schuldig zu sein. Er kann aber schließlich dazu überredet werden, seine Herrscherpflichten wieder zu erfüllen und als prächtiger Büßer nach Rom zu ziehen, um Absolution beim Papst zu finden. Dabei trifft er auf Frau und Sohn, ohne sie zu erkennen, und die Wiedervereinigung der Familie muss erst von Beaflors ,Ersatzvater‘, bei dem sie abgeschieden von der Welt lebt, umständlich arrangiert werden. Zuletzt können Mai und Beaflor die Herrschaft über das Reich antreten, nachdem der schuldbewusste Kaiser abgedankt und sich aus der Welt zurückgezogen hat. Die frommen Romane konfrontieren den feudalen Anspruch auf Herrschaft, herrscherliche Repräsentation und genealogische Prokreation mit dem radikalchristlichen Imperativ der Armut, Weltabgewandtheit und Geringschätzung von Ehe und Sippe. Die konkurrierenden Identitätsentwürfe und Rollenkonstrukte schließen einander zunächst aus, können aber dann doch miteinander harmonisiert werden. Der Widerspruch wird in der Guten Frau und im Wilhelm von Wenden durch Temporalisierung, das heißt durch narrative Sukzession, nur vordergründig aufgelöst: Wilhelm etwa ist nacheinander Herrscher, armer Pilger, Heidenkämpfer, hochrangiger Berater einer Herrscherin, wiederum Herrscher und schließlich, im Alter von 60 Jahren, eine Art Klosterbruder (oder Heros im moniage). Ein jedes hat seine Zeit, und doch nicht ganz: In all diesen transitorischen Rollen, die aus dem Repertoire des höfischen Romans, der Legende und der Chanson de geste stammen, agiert er nach außen perfekt, aber dennoch bedeutet das noch lange nicht, dass alle sukzessive entfalteten Teilidentitäten in sich konfliktfrei blieben. Als Herrscher gerät er in Widerspruch zu seinem Proto-Christentum, als Pilger verstößt er gegen seine Pflichten gegenüber Frau und Kindern, und dann zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass sein Christentum die Wiedervereinigung mit seiner Familie vereiteln könnte, weil er nicht als Gatte einer heidnischen Frau über ein heid-
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nisches Reich herrschen möchte. Erst zuletzt stimmen die Dinge wieder zusammen. Weit stärker als die Gute Frau und der Wilhelm von Wenden sucht Mai und Beaflor den Kompromiss zwischen christlichen und feudalen Lebensentwürfen weniger diachron über die krisenhafte Abfolge disjunkter transitorischer Identitätskonstrukte herzustellen als vielmehr synchron im Versuch ihrer Vereinbarkeit. Wer radikal alles Weltliche aufgibt oder aufgeben will, wird – mit Ausnahme des inzestuösen Vaters – alsbald von den positiven Instanzen des Textes zurückgepfiffen. Der Ort christlicher Demut liegt hier schon von Anfang an idealerweise in der höfischen Welt, nicht zunächst außerhalb von ihr. Dennoch finden sich auch hier die beiden Krisenmomente, in denen Identitätsprobleme anhand der äußeren Kenntlichkeit der Figuren ausspekuliert werden. Auch hier geht es um die Wahrnehmbarkeit der Merkmale ,Adel‘ und ,Sippe‘, die für die feudale Welt identitätskonstitutiv sind, während sie im Rahmen radikalen Christentums völlig gleichgültig sind. Auch wenn die Texte die Widersprüche letztlich handlungslogisch harmonisieren, geht es in ihnen doch um ein ernsthaftes Identitätsproblem, weil die religiöse Neuorientierung der Figuren sie zunächst in die soziale Exklusion führt. Diese erscheint nicht wie in der Neuzeit als Chance zur wahren Bestimmung des Selbst zu seiner Individualität, sondern als dessen Bedrohung, weil das Aus-der-Rolle-Fallen die Vereinzelung bedeutet, den Verlust der sozialen Einbindung. Und dennoch sind Armut, Demut, Asozialität und Antifamiliarität faszinierend, weil sie einen direkten Weg zum göttlichen Heil eröffnen. Es geht hier jedoch nicht darum, von Heiligen zu erzählen, deren Kompromisslosigkeit man nur staunend bewundern kann, sondern darum, gerade die Vereinbarkeit weltlicher und göttlicher Ansprüche vorbildhaft vorzuführen. Deshalb führt das christliche Leben in Armut paradoxerweise zur weltlichen Erhöhung.
III. Von der Unmöglichkeit, den eigenen Adel unsichtbar zu machen Fromme Weltflucht bedeutet, sich selbst sozial zum Verschwinden zu bringen. Höfischer Pracht und Repräsentation wird mit einem Mal entsagt, weil man in ihnen eine Gefährdung des eigenen Seelenheils sieht. In der Guten Frau stößt der junge Graf bei einem Jagdausflug auf
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ein Armenhospiz, das seine Frau selbst eingerichtet hat, und ist fortan fest davon überzeugt, daz niht s gr zen schaden tuot als Þre unde guot. daz ist ein mortgalle zem Þwigen valle (V. 1531 – 1534).
Er will Þre unde ruon j durch got vil schiere f geben (V. 1564 f.) und in vil kurzer vrist j die werlt lzen durch got (V. 1578 f.). Der heimliche Aufbruch des Ehepaares wird als eine Art frommer Alternative zu Erecs und Enites weltlicher Bußfahrt nach dem verligen inszeniert: Der junge Graf wacht nachts vor riuwe (V. 1548) auf. Von seinen Plänen wider sich selben er d rette (V. 1550), davon erwacht auch seine Frau, und das, was er sagt, entspricht völlig ihrer eigenen Gesinnung. Augenblicklich legt man drftige gwant (V. 1600) an. Das Paar verschwindet heimlich aus der Burg; der Identitätswechsel involviert auf wundersame Weise auch die äußere Kenntlichkeit: d sich verwandelte ir gewant, verwandelt sich ouch zehant ir hr und ouch ir varwe: […] swer si d vor hete gesehen, der enhete niemer gejehen, wrdens hundert jr alt, daz sie iemer wrden s gestalt (V. 1607 – 1616).
Graf und Gräfin scheinen wie Legendenheilige aus den feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘ zu verschwinden. Das freilich ist noch nicht das letzte Wort. Im Wilhelm von Wenden geht dem heimlichen Aufbruch des Paares ein längerer Vorspann voraus, der in manchem an Hartmanns Gregorius erinnert. Anfänglich zieht sich der 18-jährige, noch heidnische Landesfürst Wilhelm, dem Pilger von Christus erzählt haben, immer wieder vom Hofleben zurück und streift sich in seiner Kammer heimlich Pilgerkleider über. Kleidungssemantik und Raumverhalten sind miteinander korreliert, im Sinne eines metonymischen Ausdrucks krisenhafter Identitätsspaltung.21 Innen und Außen treten auseinander wie das öffentliche Leben am Hof und das ,private‘ in der Kammer: 21 Leider erschien die neueste einschlägige Arbeit zur Kleidungssemantik in der
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er bar als ein mandel die sezen fruht in herter schl: alsam truoc er sunder ml ein sezez herze in heidenschaft, frhtic an aller tugende kraft. mit gebr was er der werlde kint, in dem herzen sam die guoten sint (V. 650 – 656).
Wilhelms Frau Bene verwundert sich über seine häufige Abwesenheit, entdeckt gemeinsam mit ihrer meisterinne (V. 776) das Pilgergewand und stellt ihn zur Rede. Noch kann er sie mit harmlosen Ausreden beruhigen, doch eines Nachts beobachtet die Hochschwangere ihn, der endlich heimlich nach Jerusalem aufbrechen will, dabei, wie er dazu den Pilgerrock anlegt. Sie presst ihm die Wahrheit ab und drängt ihm ihre Begleitung auf, weil er sie nicht allein zurücklassen dürfe. Identität und Kleidung hängen eng zusammen: Dass die junge Frau selbst während des Gesprächs explizit nackt ist, zeigt nicht nur ihre Schutzlosigkeit an, sondern auch, dass auch sie für einen neuen Lebensentwurf bereit ist.22 Gemeinsam mit einem Kämmerer macht man sich während eines Hoftags heimlich auf und davon – alle Nachforschungen bleiben ergebnislos. Auch im Wilhelm von Wenden lässt man so die feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhänge‘ vorerst hinter sich. Doch die Radikalität der Weltflucht wird hier wie in der Guten Frau immer wieder aufgeweicht – durch Kompromisse zugunsten der angestammten adeligen Lebensform: Anfänglich verzichtet man nicht auf die Kernfamilie. Auch führt Wilhelms Kämmerer Geld mit sich. Später, in Jerusalem, erfährt der Pilger Wilhelm, dass er durchaus nch mner art (V. 3344), also standesgemß, getauft werden könne. Entsprechend reitet(!) er zum Patriarchen in einem prächtigen Taufkleid, das er dann – in der ihm sozial angemessenen Rolle – als bester christlicher Heidenkämpfer zu seinem Wappenrock macht. In der Guten Frau bringt die mittelhochdeutschen Literatur zu knapp vor dem Abgabetermin meines Manuskripts, um noch ausführlich berücksichtigt werden zu können: Andreas Kraß, Geschriebene Kleider. Hçfische Identitt als literarisches Spiel, Tübingen – Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50). Kraß versteht das Muster ,Devestitur – Investitur‘ analog zu den rites de passage als identitätsmodellierend. Das stimmt mit den hier vorgetragenen Überlegungen zusammen. 22 Nach mittelalterlicher Vorstellung bedeutet Nacktheit nicht allein Schutzlosigkeit, sondern auch den Verlust der sozialen Identität, weil diese vorrangig an den Kleidern hängt; vgl. Renate Lachmann, „Der Narr in Christo und seine Verstellungspraxis“, in: von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit (Anm. 12), S. 379 – 410.
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Frau während des gemeinsamen Bettlerdaseins nacheinander zwei Söhne zur Welt – Weltentsagung scheint hier nicht mit dem Gebot zur sexuellen Enthaltsamkeit gekoppelt zu sein; enthaltsam sind die Gute Frau und Wilhelms Bene explizit erst dann, wenn sie genötigt werden, in die höfische Welt zurückzukehren: wenn sie in der Fremde zu Landesherrscherinnen aufsteigen und in diesem Zusammenhang mit anderen Männern verheiratet werden oder verheiratet werden sollen. Alles, wogegen sich der radikale Entwurf der Legende richtet – Sexualität, die adelige Familie als genealogische Prokreationsgemeinschaft, das standesgemäße Leben –, all das wird in den frommen Romanen niemals völlig aufgegeben. Doch auch wenn sich die Weltflucht deshalb weitgehend darauf beschränkt, dass man zeitweise lediglich der höfischen Pracht und der höfischen Gesellschaft entsagt, so bedeutet dies immer noch eine radikale Verleugnung des adeligen Selbstverständnisses. In der höfischen Kultur ist prachtvolle Statusrepräsentation niemals etwas nur Äußerliches, weil sie Þre herstellt – Þre ist identitätskonstitutiv, und die soziale Epistemik der feudalen Welt ist darauf gegründet, dass sie dem Gegenüber vom Leib abgelesen werden kann. Der epistemische Entwurf der Legende baut gleichermaßen darauf, dass von der ,sozialen Oberfläche‘ einer Figur auf ihr wahres Wesen rückgeschlossen werden kann, doch ist es hier nicht die Þre vor den Menschen, sondern die diemete vor Gott, die durch das sichtbare Äußere hergestellt und signifiziert wird. Explizit formuliert wird dieser Widerspruch in Mai und Beaflor, als die Protagonistin, die vor ihrem inzestuösen leiblichen Vater fliehen will, von ihren Pflegeeltern Roboal und Benigna daran gehindert wird, die Reise ins Ungewisse ohne edle Kleider und ohne das Erbgut ihrer Mutter anzutreten. Das christliche Armutsideal prallt gegen das Gebot feudaler Statusrepräsentation; Resultat ist – wie in den beiden anderen Texten auch – die Konfrontation zweier Epistemiken. Für die höfische stehen Benigna und Roboal. Für sie kann nur ein prächtiges Äußeres die moralische Integrität der Person zur Anschauung bringen: d verst ze vremeden gesten: kumst swachlchen dar, s wirdest d verspotet gar. d muost in edelm gewande varn ne schande. sw d dann hin kÞrest, uns unt dich d Þrest (36,24 – 30).
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Roboal fordert Beaflor deshalb auf, in keiserlcher wt (37,29) zu reisen. Nur so werde deutlich, dass man sie nicht schändlich verstoßen habe (ez s durch laster niht geschehen. j daz schnet an der rcheit, 37,32 f.). In unstandesgemäßer Kleidung hingegen riskiere sie einen Ehrverlust: s mçhtest d niht bewarn dnen lp und dn Þre. man wrde dich mejen sÞre und sprechen, d sst umb ungeschiht verst zen, swie des wære niht (37,38 – 38,2).
Dagegen beklagt Beaflor, dass man von ihr h chvart, die got vervluochet (37,4), verlange, wo sie doch diemeticlchen varn wolle, daz ich die sÞle mge bewarn (37,7 f.), falls sie unterwegs der Tod ereile. Für sie ist äußere Pracht der Ausdruck von innerer superbia, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Beide Epistemiken gründen auf einer Entsprechung zwischen dem Inneren, dem ,Kern‘ der Person, und ihrem Äußeren. Doch dasjenige, für das das Äußere stehen soll, unterscheidet sich deutlich: Integrität gegenüber der Welt oder gegenüber Gott. Die feudalen Ehrbegriffe erweisen sich in Mai und Beaflor gegenüber dem christlichen Demutsideal als resistent. Der radikalchristliche Verhaltensentwurf liefert hier nur ein passendes Muster, in dem Beaflors Versuche, ihre Þre zu retten, angemessenen Ausdruck finden können. Sie will sich in ihrer ostentativen Demut sozial zum Verschwinden bringen und als ein armez betelwp (54,19) leben, doch wird sie, als sie in Griechenland strandet, zunächst ausschließlich aufgrund ihrer äußeren Pracht und Schönheit taxiert und behandelt: al gemeine si jhen, daz si nie geshen dehein wp, diu s gar an ir hete den Wunsch vr wr (57,23 – 26).
Sie steigt so in der Fremde – wie auch die Gute Frau und Wilhelms Bene – ungewollt zur Landesherrin auf, weil ihre Tugenden ebenso evident sind wie ihr Adel. Sie kann nach ihrer Flucht vor dem Inzest tatsächlich nicht guten Gewissens erzählen, wer sie ist und was ihr zugestoßen ist, denn dies bedeutete für sie nichts anderes als große Schande. Zwar trägt sie selbst keinerlei Schuld daran, doch weil die öffentliche Schande ihren Vater stigmatisieren würde, würde sie auch das Römische Reich, ihr ganzes Geschlecht und damit sie selbst tref-
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fen.23 Die insgesamt exzessiv vorgeführte Leidenskompetenz Beaflors schlägt zwar deutlich ein legendarisches Register an, doch bleibt ihr Verhalten durchweg von einem feudalen Ehre-Schande-Mechanismus bestimmt. In den frommen Romanen ist es nicht der Mann, der sich als unbekannter chevalier errant in der Fremde ein Reich erstreitet, sondern es ist die völlig passive, völlig demütig lebende Frau, der man trotz ihrer Identitätslosigkeit die Eignung zur Landesherrin vom Leib ablesen und sie deshalb dazu machen kann. Insofern gehen die Leistungskonzepte des höfischen Romans (Evidenz adeliger Tugend) und der Legende (Leidenskompetenz) hier auf merkwürdig hybride Weise zusammen. Die feudale Epistemik behält jedoch die Oberhand, selbst dann, wenn die Protagonisten, wie in der Guten Frau und im Wilhelm von Wenden, ihre prächtigen Kleider tatsächlich ablegen und zunächst völlig aus den feudalen ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘ zu verschwinden scheinen. Denn hochadeliges Herkommen ist nach der Ideologie der Texte grundsätzlich evident und lässt sich – anders als in der Legende – nicht vollständig tilgen. Nur begegnen die Protagonistenpaare der Guten Frau und des Wilhelm von Wenden anders als Beaflor nicht schon sehr bald einem Adeligen, der auf sie achten würde. Es sind zuerst Nichtadelige, die bemerken, dass der vor allem über den vestimentären Code behauptete soziale Status der Evidenz des Körpers widerspricht. In der Guten Frau stößt das bettelnde Grafenpaar auf den Unmut des Landvolks: s si nch der spse giengen, d sprchen de [sic!] alten und diu kint ,sw s starke liute sint die solten dienen umbe br t[‘] (V. 1620 – 1623).24 23 Vgl. die Reaktion der Pflegeeltern, als Beaflor ihnen nach langem Widerstreben vom inzestuösen Gelüst ihres Vaters erzählt: ,owÞ dirr unÞre‘ j spchen si zehande, j ,und der houbetschande! j wie ist rœmisch rche geschant! j ez erhillet ber elliu lant j und wirt ein vingerzeigen j f den Þreveigen. j ob im diu untt geschiht, j wir mezen der schanden pfliht j mit im alle gelche nemen j ez mçhte eim heiden missezemen.‘ (32,4 – 14) In der Forschung findet sich mitunter die Ansicht, Beaflor verhalte sich in ihrer Demut so, als habe sie gendertypische Klischees internalisiert, nach denen die Frau eine Mitschuld trifft, wenn der Mann sich an ihr vergehen will. Da der Text nicht den allergeringsten Hinweis auf eine solche Mitschuld gibt, halte ich dies für eine unzutreffende Erklärung. 24 Dies erinnert an Hartmanns Gregorius, in dem ja ebenfalls Biographiemuster des höfischen Romans mit solchen der Legende hybridisiert werden: Gregorius
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Wie im Wilhelm von Wenden kollidiert nun der Versuch der Weltentsagung mit dem Entwurf der feudalen Familie als einer Prokreationsgemeinschaft: Die hochschwangere Frau bringt unterwegs zwei Söhne zur Welt, und der Mann sieht sich dazu gezwungen, die Familie zu trennen, um das Überleben der Nachkommen zu garantieren. In der Guten Frau verkauft er seine Gemahlin an eine adelige vrouwe (V. 1738), die sich des sichtbar schoenen l[bes] (V. 1741) der Mutter erbarmt und in ihr immerhin ein ehedem s berlchez wp (V. 1743) erkennen möchte. Er selbst zieht mit dem Gelderlös und den Söhnen weiter und wird dann von allem getrennt. Im Wilhelm von Wenden verkauft der Mann seine Zwillinge einzeln an christliche Kaufleute, weil er fürchtet, dass die Mutter nicht genügend Milch für sie haben könnte, und sucht mit seiner Frau Obdach bei einer reichen Bürgerswitwe, bevor er sie dann heimlich verlässt. Die Witwe ist in der Lage, den beiden ihren Adel vom Leib abzulesen25, wie es auch später, in Jerusalem, ein bürgerlicher Kaufmann ist, der den Adel des Pilgers Wilhelm erkennt26 – und wie es auch ein reicher Bürger ist, der Bene als geeignete Landesherrin vorschlägt und dies auch mit ihrem wahrnehmbar hochadeligen Leib begründet.27 In verlässt seine Ehefrau und Mutter mit drftigem gewande (V. 2750). Als er nach drei Tagen Fußmarsch durch die Wildnis bei einem Fischer um Herberge bittet, bemerkt dieser snen schœnen lp und beschimpft ihn als trgenære (V. 2785 und 2787), als gr z geb re (V. 2791), dem ein houwe und ein gart (V. 2805) besser anstünden als seine Bettelfahrt (Hartmann von Aue, Gregorius, hrsg. von Hermann Paul, 13., neu bearb. Auflage besorgt von Burghart Wachinger, Tübingen 1984 [Altdeutsche Textbibliothek 2]). 25 Diese Kompetenz ist nicht voraussetzungslos. Die Bürgersfrau hat sie erlernt, weil sie einen adeligen Liebhaber hatte: ir sinnic herze ir s verjach j daz sie in armer wæte j vil wirde geh set hæte (V. 2404 – 2406); sie engulten niht der armen wt j dar inne sie wrn komen dar. j ir gebære nam sie war; j sie hielt sie nch der wæte niht, j als tumbem speher noch geschiht, j der merkt daz kleit und niht den man j und wil in darnch wirde hn. j des was diu wirtin gar bewart. j an ir gelæze h hen art j sie kos und wirdeclchen ruom, j daz sie von gr zem rchtuom j und von gr zer hÞrschaft j komen sn in armuot kraft (V. 2444 – 2456). 26 d er Willehalmen ane sach, j sin und herze im s verjach, j sich hæte in swacher wt bewart j ein edel h her sezer art. j Wilhalm het ritterlich gestalt. j […] j an im lac sezer frçuden vunt, j sn anblic lieht und wol gevar (V. 2883 – 2893). 27 ichn gesach nie so schœnen lp: j sie ist benamen ein edel wp, j geborn von h her frsten art (V. 4285 – 4287). – Ebenso ist es ein Kaufmann, der den Adel der beiden Zwillingssöhne gegenüber seiner Frau bemerkt: swie s sie ellende sn j und sus in armete varn, j sie sint doch werder muoter barn j und z reinem gesclehte. j hst
gemerket rehte: j wie liutsælic und genæme, j wie hbsch und wie gezæme j ist allez ir gebren j b kintlchen jren (V. 5403 – 5410).
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den neuen Kleidern drückt sich ein Wechsel der sozialen Identität aus, doch dieser Wechsel ist nicht vollständig und nicht irreversibel, weil die Evidenz des adeligen Körpers widerständig bleibt. Die alte soziale Identität wird so im Körper fundiert und damit gewissermaßen naturalisiert. Das ist im höfischen Roman nichts Ungewöhnliches. Im Wilhelm von Wenden aber ist diese Evidenz vorerst nur hochrangigen Nichtadeligen zugänglich. Sie sind es, die andere Adelige darauf aufmerksam machen müssen, wer hier vor ihnen steht: er ist von arte ein vrste rch. j n merket snen klren lp (V. 3516 f.), sagt Wilhelms Gastgeber zum Patriarchen von Jerusalem. In der Semantisierung der äußeren Kenntlichkeit zeigt sich die Kompromissstruktur des Wilhelm von Wenden: Legendenheilige können aus der sozialen Wahrnehmung vollständig verschwinden, so dass niemand mehr sie erkennen kann, weder als Person noch als Standeswesen, wie etwa im Fall des Alexius, der jahrelang unerkannt und von den Knechten gedemütigt im Haus seines hochadeligen Vaters lebt. Die Protagonisten des höfischen Romans jedoch sind grundsätzlich außerstande, ihren Adel dauerhaft zu verbergen, weil ihr körperlicher Habitus (gebaerde) und – bei guter Ernährung und strapazenlosem Leben – die helle varwe ihrer Haut, ihr liehter schn oder ihr clrer lp sie dem Kundigen verraten.28 In den frommen Romanen überschneiden sich beide Modelle: Um den Identitätswechsel zu ermöglichen, muss die legendarische Epistemik zunächst greifen, dennoch muss ein Rest der alten Identität sichtbar bleiben, damit dieser Identitätswechsel dann schließlich doch zur Voraussetzung weltlicher Erhöhung werden kann. Der Kompromiss äußert sich darin, dass Wilhelm und Bene für ihresgleichen, für andere Adelige, ,unsichtbar‘ werden, dass jedoch Nichtadelige, denen der Zugang zur feudalen Welt erlaubt ist, nämlich reiche Bürger, durchaus in der Lage sind, das körperliche Fundament ihres Daseins, den adeligen Leib, zielsicher zu erkennen, um sie in der Folge wieder an die höfische Welt weiterzuvermitteln. Die hybride Konstruktion signalisiert die Reversibilität des Identitätswechsels. In der Guten Frau wird das Problem etwas anders gelöst, indem der Mann der legendarischen Epistemik gänzlich unterworfen wird und völlig verschwindet, während die Frau sukzessive wieder in die höfischen ,Sichtbarkeitszusammenhänge‘ eingegliedert wird. Auch dazu bedarf es der Vermittlung eines Bürgers. Das Äußere des Mannes verwandelt sich durch die Unbilden der Witterung so sehr, dass ihn nicht 28 Vgl. Schulz, Schwieriges Erkennen (Anm. 1), Kap. III.4.3.
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einmal mehr seine eigene Frau erkennen könnte29, während diese unter (nicht völlig unstandesgemäßen) edlen Handarbeiten und als meisterinne (V. 1953) der Töchter ihrer Herrin ihre alte Schönheit wiedergewinnt (d wart si schœne, reht als Þ, V. 1969). Noch lebt sie als Unfreie in einem feudalen Umfeld. Über einen koufman (V. 1982) dringt der Ruf ihrer Vollkommenheit schließlich zum Grafen von Blois, der sie zu heiraten begehrt. Dies tut er dann auch, doch wird er auf wundersame Weise in der Hochzeitsnacht impotent, was nach seinem Tod auch seinem Nachfolger, dem französischen König, widerfährt. In der Fremde wird die identitätslose, aber evident tugendhafte Frau zum begehrten Heiratsobjekt und steigt schließlich zur Landesherrin auf. Bene kann sich im Wilhelm von Wenden allerdings anders als die Gute Frau aller Brautwerber erwehren. Dass die Frau sich womöglich wiederverheiraten müsste, markiert jedoch auch hier eine neue Gefahr: dass die adelige Kernfamilie, die ohnehin schon in alle Winde zerstreut worden ist, nun endgültig zerschlagen wird. Der vorgängige Identitätswechsel folgte dem legendarischen Modell der conversio, die Heldinnen verhalten sich seither wie Heilige völlig passiv und zeigen enorme Leidenskompetenz.30 Paradoxerweise gerade deshalb setzt sich gegen ihre heiligmäßigen Absichten nun doch das Leistungsprinzip des höfischen Romans durch: dass nämlich der Adelige sich im Idealfall nur durch die Evidenz seines Körpers und seiner in Taten sich manifestierenden Tugenden incognito dasjenige erwerben kann, was ihm qua Geburt ohnehin zustehen würde. In den frommen Romanen geht es dabei allerdings nicht um chevaliers errants, sondern um duldende Frauen, die sich durch ihre Tugenden ein Reich ,verdienen‘.31
29 er muose tuon unde varn j als ein gendel ser, j ze winter ervr ser, j ze sumer verbran im diu h t, j schiere wart der gotes tr t j gestalt z ungeræte, j ob in sn wp hæte j vor ir hin gesehen gn, j sine mçht es niht erkennet hn (V. 1932 – 1940). 30 Der Widerstand gegen eine (neue) Ehe ist allerdings – wenigstens in der Guten Frau – nicht derart massiv wie etwa in den Märtyrerlegenden. Auch das ist Resultat der Kompromissstruktur. 31 Man muss sich vor Augen halten, dass es im Mittelalter nur wenige narrative Muster gibt, die es ermöglichen, eine Frau als positive Heldin darzustellen. Die höfische Literatur – und selbst die Heldenepik – bedient sich dabei durchweg legendarischer Erzählmodelle, die freilich paradigmatisch umbesetzt werden; vgl. Kerstin Schmitt, Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualitt in der ,Kudrun‘, Berlin 2002 (Philologische Studien und Quellen 174), S. 177 – 196.
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Nur in Mai und Beaflor wird dabei die ungeklärte Identität der Frau zum Problem.32 Als Graf Mai Beaflor heiraten möchte, verweigern ihm die h hen in snen rt (73,16) zunächst die Zustimmung: wer diu vrouwe mge sn, der gewizzen sn wir vr. daz si ein edel vrouwe s, daz geloube wir iu wol (74,6 – 9).
Doch ihr Anblick, ihre visuelle Präsenz, lässt augenblicklich allen Zweifel in sich zusammenfallen: ir durchliuhtic blendiu jugent hete s gar vil h her tugent, daz man si neben ir schœne maz (76,13 – 15).
Alle wollen Beaflor zur Landesherrin haben, selbst dann noch, als sie selbst den voraufgehenden Zweifel zum Anlass nimmt, dem Fürsten zu einer anderen Frau zu raten, der sich niht sne liute schemen (77,16). Der Widerstand auf beiden Seiten macht deutlich, wo das Problem liegt: Beaflor hat alles, was sie zur guten Heiratspartie macht: äußere Schönheit, innere Tugend, sichtbaren Adel und großen Reichtum. Dennoch ist ihre soziale Identität defizitär, weil sie kein Herkommen und keine Vorgeschichte vorweisen kann. Auch in Mai und Beaflor wird die neugegründete Fortpflanzungsfamilie auseinandergerissen und in ihrem Fortbestehen bedroht. Der Grund liegt letztlich in der Identitätslosigkeit der Frau. Während alle anderen von Beaflors sichtbarer Schönheit, ihrer prachtvollen Kleidung, ihrer weiblichen Tugend und ihren mitgebrachten Schätzen tief beeindruckt sind, opponiert Mais Mutter massiv gegen die Verbindung, zunächst offen, dann mit teuflischen Intrigen, die für das Herrscherpaar und seinen Sohn beinahe tödlich enden und zunächst zur Trennung der Familie führen. Im Gegensatz zu allen anderen hat die Mutter Beaflor 32 Im Wilhelm von Wenden hingegen scheint gerade die Identitätslosigkeit der Frau sie zur geeigneten Landesfürstin zu qualifizieren, weil sie in der Konkurrenz um die verwaiste Herrschaft keiner der Konfliktparteien zugehört; vgl. Jan-Dirk Müller, „Landesherrin ,per compromissum‘. Zum Wahlmodus in Ulrichs von Etzenbach ,Wilhelm von Wenden‘ v. 4095 – 4401“, in: Karl Hauck [u.a.] (Hrsg.), Sprache und Recht. Beitrge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift fr Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, Bd. 1, Berlin – New York 1986, S. 490 – 514.
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nach ihrer Ankunft nackt im Bad gesehen, ohne die Zeichen äußeren Reichtums, die zwar nicht ihr Herkommen, aber ihren sozialen Status anzeigen. Nun erfüllt sich, was die Pflegeeltern befürchtet und durch die Ausstattung des Mädchens abzuwenden gesucht hatten: Der nackte, nicht standesgemäß gekleidete Körper steht jeder Fehldeutung offen. Die Mutter hält Beaflor für ein verkebset wp […] diu mit zouber ht den lp. si ist verst zen durch b sheit (67,29 – 31)
beziehungsweise umb untt (68,8), während Mai zu Recht der Evidenz der äußeren Statuszeichen vertraut: wer hæte ir geben s h hez guot, ob si umb wandel swære als verst zen wære? daz ist ninder dar an schn (68,12 – 15).
Der ,richtige‘ Blick ist derjenige auf den bekleideten Körper. Doch die Mutter lässt sich davon nicht überzeugen; sie schlägt zu, als Mai im Heidenkampf außer Landes ist. Beaflor muss, als Ehebrecherin verleumdet, mit ihrem Sohn außer Landes fliehen, um dem Tod zu entgehen, und findet schließlich heimlichen Unterschlupf bei ihren Pflegeeltern in Rom. Die Heldin zeigt zwar allergrößte Leidenskompetenz, aber sie ist allenfalls eine Märtyrerin der Minne und der Þre, weil der Text religiöse Muster nur nutzt, um sie nach adeligem Selbstverständnis paradigmatisch umzubesetzen. Man ist zwar fromm, bleibt aber dem Mechanismus von Ehre und Schande eng verpflichtet. Mai und Beaflor sucht den Kompromiss zwischen adeligen und christlichen Normorientierungen, aber der Text sucht ihn weniger als die beiden anderen Romane in einem Nacheinander als von vornherein in einem ,Alles zugleich‘.33 Die 33 Der Welt entsagt nicht das Paar, sondern zuletzt der inzestuöse Brautvater. Beaflor gibt trotz aller Willensbekundungen ihr weltliches Gut niemals auf. Der exzessiv für seine vermeintliche Schuld büßende Mai wird vor allem vom Bischof Huc darauf aufmerksam gemacht, dass sein unvernünftiges und nicht standesgemäßes Verhalten dem ganzen Land Schande mache (198,12 – 18). Stattdessen solle er vrstenlchen lebe[n] und sein schäbiges Gewand ablegen: des habe wir an iu schande j daz ir s swachlchen gt; er solle leben nch iuwer art und
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konkurrierenden Heilswege feudaler Repräsentationspracht und christlicher Selbsterniedrigung und damit auch die konkurrierenden Epistemiken werden im Rahmen dessen miteinander versöhnt, was Harald Haferland ,kontrastive Konversion‘ genannt hat: Weil nach dem Vorbild Christi derjenige erhöht wird, der sich zuvor erniedrigt hat, könnte sich aus dem Wissen darum eine Regel des Ausdrucks daraus ableiten lassen. Sie würde den Ausdruck majestätischer Allgewalt durch eine paradoxe Umkehr ermöglichen: Demut wäre nun Ausdruck von Majestät. Die Regel ist die der kontrastiven Konversion, und sie macht den Ausdruck unentscheidbar doppeldeutig. Denn etwas wird durch sein Gegenteil ausgedrückt, oder aber dieses Gegenteil schiebt sich nur davor, um es vergessen zu machen. Ob Demut echt ist oder nur Mittel zur Steigerung des Ausdrucks, ist nicht mehr auszumachen, weil sie den Ausdruck dann und nur dann steigert, wenn sie für echt angesehen wird. […] Demut drückt einmal mehr den höchsten Status aus, indem sie sich ihm als höchster denkbarer Ausdruck zugesellt.34
In den frommen Romanen gilt dies vor allem für die Frauen, bei denen die christliche Verhaltensnorm mit der geschlechtsspezifisch erwarteten zusammengeht. Mittelalterliche Erziehungslehren propagieren die Disziplinierung des weiblichen Körpers im Sinne eines extrem zurückgenommenen Auftretens.35 Die leidensfähige Beaflor zeichnet sich besonders durch ihre ostentative Demut aus; bei der Hochzeit mit Mai wird ihr Verhalten als idealtypisch weiblich gepriesen: der vrouwen man gemeine jach, d si gebrte s wplch, daz nindert lebte ir gelch. des muosten alle die jehen, die zuht und schœne kunden spehen (87,6 – 10).
In diesem Sinne ist die ,märtyrerhafte‘, die leidensfähige und demütige hochadelige Dame nichts anderes als die perfekte höfische Landesherbeim Papst Absolution suchen: swer ze R me varn wil j der muoz haben guotes vil (199,7 – 18). Der Text propagiert die Konvergenz feudaler Statusrepräsentation und christlicher Demut (als wre riuwære, 209,24). 34 Harald Haferland, Hçfische Interaktion. Interpretationen zur hçfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 255. 35 Vgl. Ingrid Bennewitz, „Der Körper der Dame. Zur Konstruktion von ,Weiblichkeit‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), ,Auffhrung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Frher Neuzeit, Stuttgart – Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 222 – 238.
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rin36, und dies gilt auch für die Gute Frau und die Bene des Wilhelm von Wenden. Die ,kontrastive Konversion‘ setzt voraus, dass die äußere Demut auch in der und durch die feudale Gesellschaft bemerkt und taxiert wird, und dies hat auf der Ebene der sozialen Epistemik die Folge, dass es für die Demütige wider Willen unmöglich ist, auf Dauer aus der feudalen Wahrnehmung zu verschwinden. Gerade ihr idealtypisches demütiges Verhalten sichert ihr die Þre und die Aufmerksamkeit, die sie braucht, um auch vor der Welt wieder erhöht zu werden. Anders als in der Legende ist die zentrale Beobachterposition, auf die alles zielt, nicht Gott, sondern die höfische Gesellschaft.
IV. Familienstrukturen und Epistemik In den frommen Romanen wird die Ehe als Kompromissmodell zwischen höfischer Liebe, feudaler Prokreation und christlicher Askese profiliert. Während voreheliche Sexualität abgelehnt beziehungsweise abgewiesen wird (in der Guten Frau und in Mai und Beaflor), erscheint die Ehe durchaus als gottgewollte Lebensform. Sexuelle Enthaltsamkeit scheint eher das Resultat der Trennung als das Ziel der Protagonisten zu sein. Allerdings bekommt nur die Gute Frau (die schon während des gemeinsamen Bettlerlebens einen zweiten Sohn zur Welt gebracht hat) nach der Wiedervereinigung der adeligen Kernfamilie noch ein weiteres Kind. Diese Wiedervereinigung und damit auch die Herrschaftssicherung für das weltlich erhöhte Paar und seine Nachkommen bilden in allen drei Fällen den vorläufigen Zielpunkt der Handlung. Letzlich bestimmt der feudale Horizont die Konzeption von Ehe und Familie. Allerdings zeigt sich in den Texten zuvor gegenläufig eine auffällige, dem Entwurf der Legende geschuldete Tendenz zur Bildung von nichtprokreativen Ersatzgemeinschaften. Die Gute Frau muss sich zunächst mit dem Grafen von Blois, nach dessen Tod mit dem König von Frankreich verheiraten, doch führt man aufgrund der plötzlichen Impotenz der Männer nur innig-freundschaftliche Josefsehen. Nachdem ihre Söhne auch noch vom Vater getrennt worden sind, werden sie von 36 Als Mai seinem Fürstenrat Beaflor als seine künftige Gattin schmackhaft zu machen sucht, preist er neben ihrem guot (74,21) besonders ihre christliche Demut, ihre Hingabe an Gott, die er als Ausweis adeliger Vollkommenheit begreift: naht unde tac si trahtet j nch dem himelrche. j ir tugende ist niht gelche (74,32 – 34).
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einem Grafen und einem Bischof adoptiert. Wilhelm von Wenden wird zum geistlchen sun (V. 3571) des Patriarchen von Jerusalem; für seine Frau Bene ist ihre Wirtin zu einer muoter (V. 4557) geworden; ihre Zwillinge werden von christlichen Kaufleuten adoptiert und dann verstoßen, und das reiche Kaufmannspaar, bei dem sie dann gemeinsam Aufnahme finden, beklagt schließlich ihre Abreise, als ob sie von in wærn geborn (V. 5635). Nachdem Eltern und Kinder wieder zusammengefunden haben, leben sie miteinander wie eine solche Ersatzfamilie, solange die einen nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben, und die anderen nicht sagen, was sie wissen. In Mai und Beaflor wird die Heldin nach dem Tod ihrer Mutter in die Obhut des Senatorenpaares Roboal und Benigna gegeben, die für sie nun die Elterninstanz bilden.37 Nach ihrer Flucht aus Griechenland wird sie wieder von ihnen aufgenommen und vor der Gesellschaft versteckt; ihr Sohn wird als derjenige Roboals und Benignas ausgegeben. Nachdem Beaflors wahrer Vater, der römische Kaiser, der Welt entsagt hat, erklärt Mai Roboal zur offiziellen Vaterinstanz: d muost unser vater sn immer mÞr die wle wir leben. d solt lhen unde geben swem d wilt: des habe gewalt (241,28 – 242,2).
Das legendarische Modell ist tendenziell radikal antifamilial; gegen die Blutsfamilie als Fortpflanzungsgemeinschaft wird hier die Bildung spirituell geprägter Ersatzfamilien propagiert. Dieses Modell beeinflusst auch die frommen Romane, doch bleiben die Ersatzfamilien hier zumeist nur Episode. Gegenüber der prokreativen Adelsfamilie, in der starke affektive Bindungen herrschen, erweisen sie sich dann doch als defizitär (mit Ausnahme von Mai und Beaflor, wo der inzestuöse Brautvater und die intrigante Mutter des Helden zugunsten der Ersatzeltern Beaflors weichen müssen; hier gibt es zuletzt einen Kompromiss zwischen ,natürlicher‘ und Ersatzfamilie). Allerdings erweist es sich als mehr oder minder schwierig, die ,natürliche‘ Familie wieder zusammenzuführen, weil die Schluss-Anagnorisis von massiven Asymmetrien geprägt ist und immer wieder aufgeschoben wird. Nicht einmal Mann und Frau ist es möglich, einander spontan zu erkennen, obwohl 37 Über Roboal heißt es: daz wren vterlche site. j er veterte ir michels baz, j danne ir vater, wizzet daz. j er was ir getriuwer vil j (daz ich wol sprechen wil) j danne ir rehter vater was, j von dem si k me genas (40,6 – 12).
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sie einander niemals vergessen haben. Sie scheinen derartig evident perfekt in ihrer neuen Rolle aufzugehen, dass diese sich gegenüber den alten Bindungen als resistent erweist. Aufschub und Asymmetrie des Einander-Erkennens konturieren eine Alternative, die dann doch narrativ abgewiesen wird: dass das Büßerleben die Wiedervereinigung der Adelsfamilie unmöglich machen könnte. In diesem Sinne werden auch hier die Epistemik des höfischen Romans und diejenige der Legende gegeneinander ausgespielt. Aber der Entwurf des höfischen Romans behält letztlich die Oberhand, allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass man sich nicht mehr unbedingt darauf verlassen kann, dass die feudalen Muster des Einander-Erkennens auch tatsächlich funktionieren. Gnorismata, die sonst die zielsichere Identifikation einer Person garantieren, können zwischenzeitlich jede Aussagekraft verlieren.38 Weitgehend unproblematisch verläuft die Angelegenheit nur in der Guten Frau. Aber auch hier gibt es eine markante Asymmetrie. Nach dem Tod des Königs von Frankreich wird die Heldin von ihren Ratgebern zur Wiederverheiratung gedrängt. Sie erbittet sich ein Trauerjahr aus. Zu einem Hoftag lädt sie auch alle Bettler und Bedürftigen des Landes; unter denen, die zur Armenspeisung und -einkleidung kommen, ist auch, völlig unkenntlich, ihr Mann. Er bittet sie um ein Almosen, sieht aber nicht, mit wem er es zu tun hat, obwohl die Gute Frau laut Text ihre alte Schönheit längst wiedergewonnen hat. Sie jedoch identifiziert ihn an einem Gnorisma: an einem krummen Finger, einer alten Kampfverletzung, die aus seinen früheren ritterlichen Kämpfen stammt und die sie selbst ihm versorgt hatte. Sie lässt ihn waschen und in feudaler Pracht neu einkleiden, und während sie sich bei ihren Fürsten versichert, dass sie jeden neuen König akzeptieren würden, den sie selbst sich erwählt, lässt sie ihrem erstaunten Mann ausrichten, wer sie sei, und kann ihn schließlich den Fürsten als neuen König präsentieren. Als sie sich dann öffentlich bei ihrem Mann nach dem Schicksal der Kinder erkundigt und er erzählt, wie er sie verloren hat, erkennt ein Graf an dieser Geschichte, dass er einen Sohn der 38 In literarischen, historiographischen und anderen Texten aus dem Mittelalter werden solche Einzelzeichen gegenüber der Physiognomie oder dem Gesamteindruck einer Person privilegiert, wo es darum geht, sie zu identifizieren (selbst unter eng Vertrauten); vgl. Alois Hahn, „Wohl dem, der eine Narbe hat. Identifikation und ihre soziale Konstruktion“, in: von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit (Anm. 12), S. 43 – 62; Groebner, Der Schein der Person (Anm. 13).
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Königin adoptiert hat und ein Bischof den anderen. So kann die Familie wieder zusammengeführt werden. Dieses Zutrauen in die identitätsverbürgenden äußeren Zeichen findet sich in den beiden anderen Texten jedoch nurmehr deutlich abgeschwächt. Im Wilhelm von Wenden und in Mai und Beaflor haben die Männer zwar – wie in der Guten Frau – in der Trennungszeit ihr Äußeres stark verändert39, doch gilt dies auch hier nicht für die Frauen. Dennoch bemerkt Wilhelm an Benes Hof nur, dass die Landesherrin snem wbe glche (V. 6024) sei, ohne daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.40 Auch Graf Mai wird von der Ähnlichkeit einer vermeintlich Unbekannten mit seiner Frau vexiert. Er bemerkt die Ähnlichkeit der Erscheinung, des Kleides und der Krone. Aber sie selbst erkennt er nicht, weder an ihrem Gesamtbild noch an einzelnen Gnorismata: [,]dirre liehten vrouwen schn gelchet sich der vrouwen mn, und allez, daz si an ht, daz ist ouch gelch ir wt die si vrœlch b mir truoc. mnes jmers ist genuoc. diu kr ne, die si fe treit, diu prevet mir ouch herzenleit: si ist jener gar gelch.‘ (MuB 217,21 – 29)
Mai kommt über das Konstatieren von Ähnlichkeit nicht hinaus, weil Beaflor allgemein für tot gilt. Auch zwei Grafen aus seinem Gefolge betrachten die Frau eingehend und debattieren darüber, ob sie die frühere Landesherrin sei. Die Frage wird durch die Behauptung des einen entschieden, viele Römerinnen sähen einander nun einmal ähnlich (die vil gelch ein ander sint, 218,17); zudem verstehe man sich hier darauf, solche Kleider zu machen. Eindeutige Gnorismata werden augenblicklich uneindeutig, sobald man sie nur dafür hält. Der Gastgeber muss dann als Agent Beaflors die Familien-Anagnorisis erst umständlich und komödienhaft arrangieren. Wie im Wilhelm von Wenden sind selbst 39 Wilhelm ist in jungen Jahren grau geworden, d von er unkentlich was (V. 5941); Mai hat sich als büßender Pilger einen Bart wachsen lassen: er nam niht abe von sner klage, j biz daz er im selben wart j ungelch, und im der bart j was gewahsen ber die brust (196,40 – 197,3). 40 Reziprok erkennt Benes Herz zwar den Gatten, aber dies ist nicht bewusstseinsfähig. Sie selbst stellt nur eine große Ähnlichkeit in seinem äußeren Habitus fest: ei wie diser man j glch dnem friunde gebren kan (V. 5955 f.).
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Ehemänner zunächst unfähig, ihre Frauen wiederzuerkennen. Derlei ist im höfischen Roman nichts Ungewöhnliches; ungewöhnlich in den frommen Romanen ist nur, dass die Erkennungszeichen, die dann die Anagnorisis garantieren, hier ihre Eindeutigkeit verloren haben. Damit werden auch ansonsten sichere Verfahren des Einander-Identifizierens kontingent. Für ihre Männer blieben die äußerlich unveränderten Frauen wie sozial ,untergetauchte‘, äußerlich verwandelte Legendenheilige unkenntlich, gäben sie sich ihnen nicht selbst oder durch ihre Agenten zu erkennen. Beim Erkennen zwischen Vätern und Söhnen offenbaren sich analoge Verzögerungen. Auch dies scheint mir ein Resultat der Hybridisierung zu sein: In der Legende wird – wie im Fall des Alexius – der Identitätswechsel der conversio gewissermaßen e negativo ,naturalisiert‘, indem der radikale Bruch sich darin äußert, dass die Glieder des transpersonalen ,Sippenkörpers‘ einander nicht mehr erkennen, ja nicht einmal mehr die verbindende Gemeinsamkeit erahnen können.41 Die frommen Romane setzen hingegen durchaus auf das Konzept des Sippenkörpers. Wilhelm von Wenden etwa sagt von seinen Kindern, dass sie ensamt mir und der muoter sint j an vier stcken doch ein lp (V. 2696 f.).42 Allerdings äußert sich diese konkret leibliche Verbindung nur darin, dass Väter und Söhne, wenn sie einander wiederbegegnen, zwar augenblicklich großes Wohlgefallen aneinander finden, doch nehmen sie dies nicht unbedingt zum Anlass, deshalb auch Nachforschungen anzustellen. Und selbst wenn sie es tun, ziehen sie daraus keine Konsequenzen, sondern erstarren nur im Sentiment. Mai trifft in Rom auf die Empfangsdelegation Roboals, zu der auch sein eigener Sohn Schoifloris/Lois gehört:
41 Zwar klammert auch der höfische Roman die epistemische Relevanz dieses Modells aus erzähltaktischen Gründen oft genug ein, aber die Logik der körperlich fundierten Merkmalsgleichheit scheint dennoch zu den kollektiven Wissensbeständen zu gehören, die ihm vorausgesetzt sind. – Zu den unterschiedlichen Fassungen des Alexius-Stoffes vgl. den Beitrag von Margreth Egidi, „Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende“, in diesem Band, der auch Fragen des Einander-Verkennens thematisiert. 42 Die ,Natur‘ hat etwa dafür gesorgt, dass die getrennt und in unangemessenem Umfeld aufgewachsenen Zwillinge Boizlabe und Danus nicht allein gleich aussehen, sondern auch in Auftreten und Benehmen völlig ununterscheidbar sind (glcher gebre unde site j an h her geburt die klren j von sezer nat re wren, V. 5192 – 5194).
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daz kint geviel dem vater s wol, daz im diu ougen wurden vol zher, und s fte sÞre (213,3 – 5).
Dennoch denkt Mai keinen Augenblick daran, womöglich seinem Sohn wiederbegegnet zu sein. Weil er zu wissen glaubt, dass Frau und Kind nicht mehr leben, bedauert er nur, selbst keine Kinder mehr zu haben. Der unvertraut-vertraute Anblick führt ihn bloß, wie dann auch derjenige seiner Frau, zu einer affektiven Lähmung: grve Meien pruofte herzenleit snes sunes angesiht, swie er sn erkande niht (213,36 – 38).
Zwischen dem krypto-kognitiven Affekt und der Ratio gibt es hier keine Verbindung. Die Lösung muss erst von außen arrangiert werden. Als Wilhelm von Wenden als Unterhändler zu den Räubern geschickt wird, die das Land Benes in Aufruhr versetzen, verspüren auch er und die beiden Anführer, die niemand anderes als seine beiden Söhne sind, unwillkürlich die heftigste Sympathie füreinander: diu nat re seite in daz (V. 6431 – 6439, hier V. 6433). Die Stimme der nat re führt aber noch nicht zum Einander-Erkennen. Erst nachdem die Brüder unabhängig voneinander Wilhelm ihre Lebensgeschichte erzählt haben und ihm die Rockschöße, in die er sie nach ihrer Geburt gewickelt hatte, gezeigt haben, weiß er aufgrund dieser Gnorismata, dass es sich um seine Söhne handelt. Aber er selbst sagt darüber kein Wort zu ihnen; er sorgt nur dafür, dass sie bei Bene Hofämter antreten dürfen. Verwandte, die einander unerkannt begegnen, sind einander augenblicklich sympathisch – aber darüber hinaus geschieht nichts. Lebensgeschichten und Gnorismata gewährleisten die personale Identifikation von Figuren – aber der Erkenntnisakt bleibt einseitig und wird nach außen verborgen. Wie Mai verhält sich Wilhelm völlig passiv; erst als Bene die affektive Lähmung bemerkt, die ihn jedesmal befällt, wenn er seine Söhne am Hof sieht, stellt sie ihn zur Rede. Sie entlockt ihm seine Geschichte sowie die ihrer Söhne – und erfährt, dass er lieber auf seine Frau als auf sein Christentum verzichten würde. Nun weiß sie alles, aber auch sie verbirgt ihr Wissen, bis sie bei einem großen Hoftag die ganze Angelegenheit aufklären und zum guten Ende wenden kann. Auch Mai, der beim Anblick seines Sohnes und seiner Frau immer wieder von Affekten gelähmt wird, bleibt völlig auf die Arrangements
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von Beaflors Pflegevater Roboal angewiesen. Vor allem die männlichen Protagonisten der frommen Romane erscheinen kurz vor der Wiedervereinigung der Familie weitgehend neutralisiert – analog zu Legendenheiligen: Mai erkennt nichts, und Wilhelm handelt nicht. Aber nicht Gott sorgt nun für die Wiedervereinigung, sondern das Gemeinschaftshandeln allerhöchster weltlicher Kreise, unter Beteiligung (Beaflor) oder Federführung (Bene) der Frauen. Die affektive Lähmung der Männer scheint hierfür geradezu die unabdingbare Voraussetzung zu sein. Das sichtbare, nicht mehr willkürlich zu steuernde und zu verbergende Leid lenkt die Aufmerksamkeit der anderen auf sie und fungiert als sozialer Imperativ, den Grund von ihnen in Erfahrung zu bringen. Zudem garantiert es für diejenigen, die nun herausgefunden haben, weshalb die Figuren leiden, die Authentizität ihrer Gegenüber, und liefert ihnen deshalb den Anstoß dafür, ihnen zu helfen. Interaktionsmuster der Legende (Passivität) und des höfischen Romans (Solidarhandeln) werden so ineinandergeblendet; insofern bildet die Tränenseligkeit vor allem der männlichen Protagonisten ihren Schnittpunkt. Die Texte umspielen beständig die Möglichkeit eines EinanderErkennens, verweigern dieses jedoch lange. Anders als in Mai und Beaflor geht es im Wilhelm von Wenden dabei vor allem darum, die Ansprüche eines radikalen Christentums mit denjenigen der höfischen Gesellschaft zu vereinen. Die Identität der Beteiligten bleibt hier defizitär, solange sie nicht auf das gemeinsame Fundament des Christentums gestellt wird. Die Voraussetzungen, die Familie wiederzuvereinigen, sind gegeben, aber dennoch tut man es erst nach langem Hin und Her. Der Text kann so den antifamilialen Identitätsentwurf der Legende und das feudale Konzept transpersonaler, auf Merkmalsgleichheiten gegründeter Identitäten lange in der Schwebe halten, bis endlich eine ideologisch gewünschte Entscheidung gefallen ist: Die Konversion Benes, ihres eigenen Landes und desjenigen Wilhelms zum Christentum ist unabdingbare Voraussetzung für die Wiedervereinigung der adeligen Familie als Herrschaftsgemeinschaft. Der Aufschub und die damit verbundene Tränenseligkeit lassen das Identitätsproblem umso deutlicher hervortreten.
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V. Zusammenfassung und Ausblick In den frommen Romanen wird erzählt, wie man durch Armut und Askese nicht allein sein ewiges Seelenheil bewahren kann, sondern zu weltlichem Heil gelangt. Es geht dabei vor allem um Demut im Sinne einer ,kontrastiven Konversion‘, womit gerade die Weltentsagung zur Voraussetzung der höchsten weltlichen Würden wird. Der Versuch geht dahin, einen Kompromiss zwischen den konkurrierenden Ansprüchen Gottes und der Welt zu finden. Dazu greift man auf die unterschiedlichen Identitätsentwürfe der Legende und des höfischen Romans zurück. Deren Vermittung erscheint am leichtesten bei den weiblichen Figuren, da von der adeligen Dame per se ein extrem zurückgenommenes, duldsames, bescheidenes Verhalten erwartet wird. Insofern gehen hier weltliche und geistliche Identitätskonstrukte bald zusammen. Schwieriger allerdings ist es, im Falle männlicher Protagonisten den Anspruch auf aktive Ausübung der Rolle als Landesherrscher und als Ritter mit dem christlichen Ideal von Askese und Demut oder mit einer Buße zu vereinbaren. Dementsprechend führt dieser Widerspruch bei den männlichen Figuren zur krisenhaften Spaltung der Identität, wobei den konkurrierenden Verhaltensanforderungen und psychischen Zuständen unterschiedliche Kleider, Räume und Zeiten zugewiesen werden. Das Problem wird dann vorrangig durch Prozessualisierung beziehungsweise Temporalisierung gelöst, durch die Abfolge und Ablösung unterschiedlicher transitorischer Identitätsentwürfe, die jedoch je für sich unvollständig bleiben, vor allem, weil sie mit den vorgängigen interferieren. Bei den Heldinnen und Helden bleibt die Weltentsagung auf einen einzelnen Lebensabschnitt begrenzt, der zeitlich mit der Phase nach der erfolgreichen Familienbildung und Fortpflanzung zusammenfällt. Somit scheint die Weltflucht zunächst, besonders wenn die Familienmitglieder dann auch noch voneinander getrennt werden, auch den Fortbestand des jeweiligen Geschlechts zu gefährden. Dieses antifeudale und antifamiliale Bedrohungsphantasma wird jedoch nur entworfen, um zuletzt zurückgewiesen zu werden. Ebenso scheint es zunächst nur so, als verlören die hochadeligen Protagonisten als Folge ihrer Hinwendung zu asketischen Lebensentwürfen alle Bindungen an die feudale Welt, indem sie aus ihren ,Sichtbarkeitszusammenhängen‘ ausscheiden. Denn die Evidenz des adeligen Leibs kann nicht vollständig getilgt werden, das solchermaßen ,naturalisierte‘ Fundament feudaler Existenz bleibt kenntlich und ermöglicht letztlich die Wiedereingliederung in die an-
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gestammte Welt und sogar die Erhöhung dort. Allerdings sind die Figuren dabei weithin passive Objekte der göttlichen Fügung und mehr noch des hilfreichen Arrangements anderer. Diese Entmächtigung, die sich strukturell dem Einfluss der Legende verdankt, findet ihren Ausdruck auch auf der Ebene der Kognition und im Zusammenhang zwischen Empfinden, Erkennen und Handeln. Wenn die Familienmitglieder einander nach langer Trennung wiederbegegnen, erweisen sich die Männer als unfähig, ihre Frauen trotz eindeutiger Gnorismata und Hinweise wiederzuerkennen. Und selbst wenn sie, wie Wilhelm von Wenden, immerhin ihre Söhne identifizieren, so heißt dies noch lange nicht, dass sie dies zum Anlass nehmen, die Zusammenhänge aufzuklären. Es sind die Frauen und ihre Agenten, die die Sache in die Hand nehmen müssen, um den merkwürdigen Paralysierungen ihrer Männer und den Aufschüben und Asymmetrien des Einander-Erkennens ein glückliches Ende zu bereiten. Damit setzt sich schließlich der Entwurf der adeligen familia gegenüber den legendarischen Mustern der Antifamiliarität und der Bildung künstlicher Ersatzfamilien durch. Die Radikalität des legendarischen Modells wird zwar fulminant ausspekuliert, doch letztlich nur, um im Rahmen des Höfischen eingehegt und damit bewältigt zu werden. Dies gilt auch auf der Ebene der Epistemik. Die Familienmitglieder bleiben zum guten Schluss dann doch füreinander kenntlich, selbst wenn die dafür nötigen semiotischen Operationen zunächst ins Leere laufen. Dennoch scheint dabei allzudeutlich die Möglichkeit auf, dass man einander trotz aller Ahnungen und Zeichen nicht erkennen könnte, dass also, wenn man das Problem von einer systematischeren Ebene aus betrachtet, die soziale Epistemik der feudalen Gesellschaft ihre Geltung verlieren könnte, weil das Äußere einer Person keinen eindeutigen Hinweis mehr auf ihr ,wahres Sein‘ liefern könnte, der Nexus zwischen der Person selbst und ihrem Äußeren also kontingent würde. Das Problem ist nicht neu, es findet sich in der höfischen Epik seit Anbeginn, und doch scheint es mir so, als handele es sich hier um ein Epochenthema der späten Texte. Dies ließe sich für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts besonders anhand des Œuvres Konrads von Würzburg beobachten.43 Solange die soziale Epistemik auf öffentliche Evidenzen und ,Sichtbarkeitszusammenhänge‘ baut, sind Alternativen nicht denkbar, wohl aber Immunisierungsversuche. In diesen Zusammenhang gehört auch die Tränenseligkeit der frommen Romane, das 43 Hierzu Schulz, Schwieriges Erkennen (Anm. 1), Kap. V.
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affektive Übermaß, das an den Figuren immer wieder in Augenblicken des Leids sichtbar wird. Denn es handelt sich zugleich um Figuren, die aufgrund ihrer partiellen Identitätsspaltung immer wieder, wenn auch mit den besten, nämlich christlichen Intentionen zur Verkleidung, zur Täuschung und zur Lüge gezwungen sind. In diesem Sinne sehe ich in diesen Affektausbrüchen ein narratives Mittel, trotz allem die unbedingte Authentizität der Protagonisten herauszustellen: Ihr Leiden ist echt und keine bloße Pose, Innen und Außen entsprechen einander.44 Das affektive Übermaß immunisiert gegen jeden Täuschungsverdacht, und es sorgt dafür, dass die Anagnorisis-Prozesse überhaupt richtig in Gang kommen. Nur so können die ,Sichtbarkeitszusammenhänge‘ ihre Geltung behalten.
44 Vgl. Walliczek/Schulz, „Heulende Helden“ (Anm. 8).
Autorität und meisterschaft Zur Fundierung geistlicher Rede in der deutschen Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts Klaus Grubmller In der mittelhochdeutschen Spruchdichtung werden in formal anspruchsvollen Strophen, also im Regelsystem handwerklicher ,Künstlichkeit‘ und mithin dessen, „was die Literaturwissenschaft als ,Literatur‘ kennt“1, Themen behandelt wie die Geschichte von David und Goliath, die Zehn Gebote, die Prädestination oder Trinität und Jungfrauengeburt. Das Spektrum reicht von Grundtatsachen der christlichen Geschichtsüberlieferung und Praktiken des Glaubenslebens bis zu dogmatischen Herausforderungen. Literarische und religiöse Kommunikation fallen scheinbar unproblematisch zusammen, jedenfalls bei dem in diesen Gedichten besprochenen immanenten Wissen über geistliche, das heißt auf die Transzendenz orientierte Sachverhalte (die vermutlich sehr viel problematischere Kommunikation religiöser Erfahrung steht in ihnen nicht zur Debatte). Das entspricht der geläufigen und wohl auch richtigen Vorstellung von einer ,archaischen‘ Einheit von Literatur und Religion, wenn nicht gar vom Ursprung der Poesie im Kult. Die Themenformulierung dieses Symposions könnte also (so sehr sie sich auch auf die geläufige Praxis der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung berufen kann) den Verdacht einer modernistischen Rückprojektion aufkommen lassen, verbände sich der suggerierte Antagonismus nicht mit einem für das abendländische Christentum fundamentalen bildungs- und sozialhistorischen Faktum: der Bindung von Heilswissen und Heilsmitteln an die Kaste der gelehrten, das heißt lateinisch gebildeten Kleriker. Das verändert die Fragestellung. In dem Maße, in dem sich kodierte Redeformen (Literatur) außerhalb der lateinischen Bildungssphäre entwickeln und etablieren, wird die eigentlich selbstverständliche Allzuständigkeit der Literatur fragwürdig, weil es 1
„Ankündigung eines Symposions. Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (DFG-Symposion 2006)“, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur,134/2005, S. 138 – 142, hier S. 138.
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für die intellektuelle Ausrüstung der Laiendichter, denen der Zugang zum kirchlich verwalteten und damit auch gesicherten Wissen verschlossen ist, keine Gewähr gibt. Wie können sie verantwortlich über geistliche Gegenstände sprechen? (Von der Formulierung geistlicher Erfahrungen kann vorerst ohnehin noch nicht die Rede sein; sie sucht sich andere Ausdrucksformen.) Die deutschen Spruchdichter entwickeln aus diesem Dilemma das Konzept der meisterschaft. Es speist sich aus einer – wie auch immer erworbenen, zumeist einfach vorgeführten – Sachkenntnis und der Beherrschung aufwendiger künstlerischer Gestaltungsmittel, die gewissermaßen eine Kompetenz demonstrieren, der man zumuten darf, sich nicht auf die Sprachgestaltung zu beschränken. Dies ist – pointiert zusammengefasst – der Forschungsstand. Er steht hier zur Debatte.
I Dem Werk des Marners2, der wohl der Spruchdichter-Generation nach Walther von der Vogelweide zuzurechnen ist (datierbare Gedichte zwischen 1230/1231 und 1266/1267) 3, weist die (einzige) Handschrift C das folgende eher unauffällige Gedicht (XII 3) 4 zu: Got hÞrre, vater unser, der d in dem himel bist, geheileget s dn nam an uns, getriuwer reiner Krist, zuo kum an uns daz rche dn, dn will hie werde als in dme rche. Dn gçtlich brt daz gip uns hiute sunder zwfels wn, vergip uns unser schult, als wir unsern schuldern hn, bekorung uns lz ænic sn, lœs uns von disen beln al gelche. AvÞ! den gruoz der engel sprach, Mar, mit den worten er dich gruozte, gar vol genden er dich sach. 2 3 4
Zitiert nach Der Marner, hrsg. von Philipp Strauch, Strassburg 1876 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 14), hier S. 99. Vgl. Burghart Wachinger, „Der Marner“, in: Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin [u.a.] 1987, Sp. 70 – 79. Zur Echtheitsfrage Jens Haustein, Marner-Studien, Tübingen 1995 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 109), S. 96 – 100. Sein Fazit: „Nichts spricht explizit gegen die Annahme, daß […] vor allem die Strophe XII, 3 ins Marner-Oeuvre gehör[t]“ (S. 99).
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got ist dir mite, der al unser erbesnde buozte. d bist gesegent vor allen frouwen immer mÞ … die fruht des reinen lbes dn, die meze wir mit frçuden noch gesehen!
Es handelt sich unverkennbar um eine ,poetische‘ Paraphrase zweier zentraler christlicher Gebete: des Paternoster und des Ave-Maria, beide biblisch bezeugt als Rede Christi und des Verkündigungsengels Gabriel (Lk 1,28) beziehungsweise der Elisabeth, der Frau des Zacharias (Lk 1,42). Der künstlerische Aufwand, mit dem die Prosa des biblischen Textes in ein Gedicht übersetzt wird, ist gering; er beschränkt sich auf die der Auslegungstradition entsprechende Aufteilung der Aussagen des Vaterunsers auf die beiden Stollen des Aufgesangs.5 Der ,Dichter‘ benützt einen bekannten und auch von anderen verwendeten Ton Stolles (Alment) 6 und teilt die beiden Gebete säuberlich auf die beiden Teile des Tones auf: das Paternoster bildet den Aufgesang, das Ave-Maria den Abgesang. Syntaktische oder gedankliche Verknüpfung der beiden Gebete, die ja allenfalls ihre Prominenz (und wenig später allerdings auch die Gebetspraxis, v. a. der Bettelorden) 7 zusammenbringt, gibt es keine.8 Sie sind einfach aneinandergereiht; nur die Struktur des Tones fügt sie zusammen. Versmaß und Reimschema legen dem Dichter keine großen Beschränkungen auf; ganz nah an der Prosa, scheinbar ohne Formulierungsaufwand und ohne auffällige Texteingriffe, wird aus zwei Prosagebeten eine Sangspruchstrophe. Warum und für wen ist dieses Gedicht gemacht? Als „Privatgebet“9 brauchte es nicht versifiziert zu werden; die Spruchstrophe lebt im Vortrag vor anderen. Für eine Verwendung „im liturgischen Raum“ lässt sich nur anführen, dass „das Doppelgebet […] sogar vereinzelt (!) vor allem bei den Orden (Dominikaner, Serviten, Franziskaner) Einzug in die Messe“ hält.10 Aber als Sangspruchstrophe, in der Volkssprache? 5 Vgl. ebd., S. 96 – 98. Den Rückbezug des Schlussverses „mit seiner impliziten Gerichtsthematik“ auf den Beginn der Strophe (ebd., S. 98) kann ich nicht erkennen. 6 Dazu Gisela Kornrumpf/Burghart Wachinger, „Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung“, in: Christoph Cormeau (Hrsg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 356 – 411. 7 Vgl. die Hinweise bei Haustein, Marner-Studien (Anm. 4), S. 98. 8 Anders Haustein, ebd. 9 Ebd. 10 Ebd.
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Der Text gibt keinerlei Hinweise auf Verwendungssituation, Funktion, Legitimierungshintergrund. Niemand ist angesprochen. Die gängigen Spruchdichter-Rollen des kundigen Vermittlers, des Kommentators, des Mahners sind nicht aufgenommen und beim gegebenen Inhalt auch nicht vorauszusetzen. Beide Gebete sollten nicht bekannt gemacht werden müssen, und wenn schon, dann doch nicht in künstlerischer Bearbeitung, sondern in der biblischen Formulierung. Wie sieht der Dichter seine Rolle? Als eine Art Vorbeter oder als stellvertretender Beter? Aber wiederum: warum dann in dieser Form? Wer soll beeindruckt werden? Es ist keinerlei handwerklicher Aufwand zu erkennen, nicht das Bemühen um Auratisierung durch Kunst; zum Ausweis künstlerischer Virtuosität taugt die Strophe nicht (es sei denn, es soll – schwer vorstellbar – ein Musterstück an müheloser Schlichtheit vorgewiesen werden). Gebete sind durch eine besondere Kommunikationssituation bestimmt. In ihnen wendet sich der Sprecher „an ein höheres Wesen“11, im christlichen Gebet an Gott oder an Heilige, mit Vorzug an Maria. Das Gebet gehört seit den Anfängen der Sangspruchdichtung zum Repertoire der Spruchdichter. Bei Herger12 findet es sich schon in seinen beiden wichtigsten Ausprägungen, als Bitte und als Preis: Ich hn gedienet lange leider einem manne, der in der helle umbe gt. der brevet mne missett. Sn ln der ist boese. hilf mir, heiliger geist, daz ich mich von sner vancnisse erloese. (MF 29,6) Wurze des waldes und erze des goldes und elliu abgrnde diu sint dir, hÞrre, knde, Diu stÞnt in dner hende. allez himelschlchez her 11 Andreas Kraß, „Gebet“, in: Klaus Weimar [u.a.] (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin – New York 1997, S. 662 – 664, hier S. 662. 12 Zitiert nach Des Minnesangs Frhling, […] bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, I. Texte, 36., neugestalt. und erweit. Auflage, Stuttgart 1977 [MF].
Fundierung geistlicher Rede in der Spruchdichtung
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daz enmçhte dich niht volloben an ein ende. (MF 30,27)
Walther von der Vogelweide13 wendet sich an Gott und bittet ihn um seinen Schutz (24,18: Mit saelden meze ich hiute f stÞn, j got hÞrre, in dner huote gÞn j und rten, swar ich in dem lande kÞre); Reinmar von Zweter bettet den Preis Gottes ein in die Aufforderung, sich den Menschen zuzuwenden (N sich z dner goteheit j her nidere, hÞrre, in dne tiure gekouften Cristenheit, j durch die dn eineborner sun wart an dem criuze wunt!).14 Friedrich von Sonnenburg feiert zur Weihnacht die Menschwerdung Gottes, preist die Gottesmutter Maria und schließt mit der Bitte um den Beistand Gottes15 : Sit vro und vrçut iuch algemeine dirre saelicheit: hiute ist ein kint geborn ze troste uns, daz wil wenden unser leit! sin kraft ist groz, wit unde breit, gar vil daz kint vermac. Gebenediet si des kindes muoter unde ir lip, gelobet und geret meze sin diuz kint truoc maget und niht wip! ez ist der werlde leitvertrip, daz in ir libe lac, Der kiuschen megede von der got hiute ist und wart geborn. enwaere sin nativitas wir waeren gar verlorn! Got du bist guot unde also guot daz diner gete ist niht gelich, durch diner brte willen hilf uns an daz himelrich!
Alle diese Gebete sind individuell formuliert, so sehr sie auch die gängigen Vorstellungen nutzen. Das Ich des Dichters wendet sich an Gott (oder auch an Maria, vgl. etwa Reinmar von Zweter, Nr. 18; Konrad von Würzburg, 32, 46), es gibt die Rede als die seine aus. Es bittet für sich (Herger, Walther, V. 14: als pflig ouch mn), und auch wenn es für alle bittet (Friedrich von Sonnenburg, Reinmar von Zweter, V. 11: den sulen wir mit samt dir loben), so tut es das als ein Einzelner, der sich zum Sprachrohr der Gemeinschaft macht. Und umgekehrt: Wenn er für sich 13 Zitiert nach Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprche, 14., völlig neubearb. Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin – New York 1996. 14 Zitiert nach: Die Gedichte Reinmars von Zweter, hrsg. von Gustav Roethe, Leipzig 1887, hier Nr. 7. 15 Zitiert nach: Die Sprche Friedrichs von Sonnenburg, hrsg. von Achim Masser, Tübingen 1979 (Altdeutsche Textbibliothek 86), S. 22 (Nr. 32). Vgl. auch Nr. 11.
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bittet und dies dann öffentlich vorträgt, dann kann dies nur als stellvertretende Rede zu verstehen sein. So etabliert der Spruchdichter seine Rolle: als Teil des Ganzen, der für alle sprechen kann, aber doch als ein ausgezeichneter Teil, den die Gabe der kunstfertigen Rede dazu befähigt, für alle zu sprechen, einer der heraustritt aus der Gruppe (Friedrich von Sonnenburg, 32,1: Sit vro und vrçut iuch algemeine) und ihr gleichzeitig inkorporiert bleibt (32,12: hilf uns an daz himelrch!). Wie aber verhält sich dazu das Gebetsgedicht des Marners? Paternoster und Ave-Maria sind vorformulierte Texte. Es spricht immer schon die Gruppe, alles betrifft vom ersten Satz an uns. Für das Ich des Spruchdichters bleibt kein Platz, es tritt nicht in Erscheinung. Wie kann es unter diesen Umständen überhaupt zur Rede legitimiert sein? Warum sagt es das, was allen bekannt ist, in Worten, die alle kennen?
II In das Werk des Alemannen Boppe16, vielleicht eine gute Generation jünger als der Marner17, reiht die Minnesang-Handschrift C die folgende Strophe (I 11) ein: Ob al den wundern merket wol ein wunder grz: daz ist geselle des schepfaers erdeklz und ouch ze rechter sippeschaft gebunden. diz wunder uns in iemer wernde vrçude schielt, und wie er sich in einer megde wambe vielt und b der wart got und mensche vunden. wie si’n enpfienc und sn genas, rein ungemeilet, des tt von tde uns lste, und er an sich nam, daz er nicht was, und beleip, daz er was Þ, vil manigem ze trste (an im wart der natre kraft in wernde wirde erhoehet unt erniuwet: geselle und gesippeschaft, des toufes Þ versigelt unt vertriuwet); und wie er z dem hoechsten trne kam in diz ellende; und wie er sich lphaftic birget in ein brt
16 Zitiert nach Heidrun Alex, Der Spruchdichter Boppe. Edition – bersetzung – Kommentar, Tübingen 1998 (Hermaea N.F. 82), I 11. 17 Ebd., S. 1: „Boppes Wirkungszeit läßt sich […] in den 80er und 90er Jahren des 13. Jahrhunderts festmachen.“
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durch unser nt f dem altr in eines priesters hende.
Die Strophe ,bespricht‘ zentrale Lehrsätze des christlichen Glaubens: die Menschwerdung Gottes, seine Geburt aus der Jungfrau, die Einheit von Gott und Mensch in Christus, die damit gestiftete Verwandtschaft Gottes mit dem Menschen in seiner minderen Materialität, die Präsenz Gottes in der Hostie des Eucharistie-Sakraments. Der Dichter benennt diese Glaubensinhalte in präzisen Stichworten und kommentiert nur knapp: die Gemeinschaft des Menschen mit Gott bringt immerwährende Freude (V. 4); die Menschwerdung ist paradox in ihrer Grundstruktur (V. 9 f.); sie adelt und bestätigt die Kraft der Natur (V. 11 f.). Der Dichter spricht als Kundiger, seine präzisen Sätze setzen Kennerschaft voraus und suggerieren sie. Er gibt sich als einer aus, der in der Lage ist, andere am Fundus seines Wissens teilhaben zu lassen und ihre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche zu lenken: ob allen wundern merket wol ein wunder grz! Woher nimmt er die Ermächtigung zu solcher Rede? Was erlaubt es dem Fahrenden, sich die Rolle des Lehrers in geistlichen Dingen, des Gelehrten anzumaßen, als Ungelehrter oder zumindest in der Sprache der Ungelehrten und in einer poetischen Form, die keinen Ort hat im Redeinventar der lateinisch geschulten Sachkenner? Die Strophe gibt darauf keine Antwort. Wie selbstverständlich erlaubt sich dieser Laie, mit autoritativem Gestus die höchsten Geheimnisse des christlichen Glaubens zu bereden. Das unterscheidet diese Strophe von anderen aus dem gleichen Corpus, an denen zuletzt Tobias Bulang18 gezeigt hat, wie sorgsam der Spruchdichter Boppe Autorität aufzubauen versucht: – In I 5 durch die Umlenkung einer PhysiologusBeobachtung (die Eigenschaften des Vogels Galadrius) aus der geistlichen Tradition, in der er sich damit als bewandert ausweist, in die Herren- und Hofkritik, also aus der Welt der Gelehrten in die der Spruchdichter. Aus jener leiht er sich so die Autorität für sein kritisches Geschäft gewissermaßen aus. – In VII 1–VII 4 durch die Berufung auf die Gelehrten (meisterpfaffen) und zugleich auf ein volkssprachiges Buch (Tirol und Fridebrant) bei der Besprechung eines weiteren Geheimnisses 18 Tobias Bulang, „,wie ich die gotes tougen der werlte gar betiute.‘ Geltungspotentiale änigmatischen Sprechens in der Sangspruchdichtung“, in: Beate Kellner/Peter Strohschneider/Franziska Wenzel (Hrsg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 43 – 62.
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des christlichen Glaubens: dass Gott als der allmächtige, allwissende und zeitenthobene Schöpfergott seine, das heißt Christi, Mutter schon vor dem Beginn der Schöpfung ,gesehen‘ hat: […] ob ich hn wr gesungen, daz wil ich an die werden, wsen meisterpfaffen ln und an des kniges Tirols buoch, daz saget uns sunder wn. (VII 1, V. 6 – 8)
Wiederum wird Autorität ,entliehen‘: für den besprochenen Sachverhalt aus dem dafür zuständigen Zirkel der Gelehrten, für die Redeweise und das ,Rederecht‘ aus der volkssprachigen Didaxe. Die Autorität der Laiendidaxe und die Autorität der Gelehrten werden zusammengeführt und erst in ihrer Überlagerung befähigen sie den Dichter zu seinen Aussagen, ermöglichen sie seine kunst (VII 2, V. 8).19 Die Mühe ist erwartbar, die Boppe in diesen Strophen aufwendet, um das ,Bebildern‘20 letzter theologischer Geheimnisse in der Volkssprache und mit den poetischen Mitteln fahrender Dichter zu rechtfertigen. Sie hat Tradition: seit Otfrids von Weißenburg ambitionierten Begründungsversuchen für ein volkssprachiges Evangelienbuch21 hat sich das Problem nicht grundsätzlich verändert. Nicht zu erwarten ist hingegen die lakonische Selbstverständlichkeit, mit der der gleiche Autor an anderer Stelle das Recht zu theologischer Handreichung in Anspruch nimmt.
19 „Der Sänger inszeniert, daß er über ein exklusives Wissen verfügt, und behauptet die Fundierung dieses Privilegs in seiner kunst, worunter sowohl sein Wissen als auch eine spezifische Kompetenz des Sängers verstanden werden kann“ (Bulang, „wie ich die gotes tougen“ [Anm. 18], S. 52). Vielleicht sollte man ergänzen, dass diese Kompetenz nicht nur in der Kunstfertigkeit des Sängers besteht, sondern auch in seiner Fähigkeit, sich in Traditionen einzureihen. 20 Ebd., S. 50 21 Zuletzt Beate Kellner, „Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ,Evangelienbuch‘“, in: dies./Strohschneider/Wenzel (Hrsg.), Geltung der Literatur (Anm. 18), S. 139 – 162.
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III Die Paternoster-/Avemaria-Paraphrase des Marners und der wunderSpruch Boppes sind zwei extreme Beispiele für die Rollenkompetenz der Spruchdichter. Die schlichte Wiederholung zweier durch die Bibel gestützter Gebetstexte und die Präsentation schwierigster christlicher Glaubenssätze treffen sich in der Selbstverständlichkeit, mit der sie präsentiert werden. Keine Spur ist in diesen Strophen von „Ermächtigungsstrategien“ zu erkennen, mit denen der Kampf um „Deutungshoheiten im Bereich von Wissen und Normen“22 einhergehe, keine Spur von den „Feldern möglicher Einsprüche und Bestreitungen“23, auf denen der Spruchdichter sich behaupten müsse. Handelt es sich um unrepräsentative Sonderfälle? Oder um Enden einer Skala, die erst noch ausgemessen werden muss? Ich versuche mich einer Antwort zu nähern, indem ich die geistlichen Sprüche eines ungefähren Zeitgenossen von Boppe und Marner prüfe, diejenigen Reinmars von Zweter (datierbare Sprüche zwischen 1227/1230 und 1248), des produktivsten Spruchdichters des 13. Jahrhunderts. Damit soll die Vermengung unterschiedlicher Entwicklungsphasen einerseits, unterschiedlicher Autorpositionen andererseits vermieden werden. Reinmars ,geistliches‘ Oeuvre weist ein reiches Spektrum auf. Es reicht von Gebeten (siehe oben zu Nr. 7 und 18) und mahnenden Aufrufen (z. B. Nr. 219, siehe unten S. 702) über Gleichnisse (z. B. über den rechten Zugang zum Christentum [Nr. 85, siehe unten S. 700]) und Allegoresen (z. B. der Evangelistensymbole [Nr. 8 und 9, siehe unten S. 698 f.]) bis hin zur spekulativ ausgreifenden Deutung des Namens Maria in einer ausladenden, freilich in ihrer Echtheit bestrittenen24 Spruchreihe (Nr. 235 – 239, siehe unten S. 701). Die hier zur Debatte 22 Bulang, „wie ich die gotes tougen“ (Anm. 18), S. 43. 23 Ebd. 24 Roethe, Reinmar von Zweter (Anm. 14), S. 526 – 528, reiht sie unter die „Sprüche von zweifelhafter Gewähr“ ein. Sie sind aber immerhin in der Reinmar-Sammlung der Großen Heidelberger Liederhandschrift C überliefert, und „formell sind die Strophen merkwürdig unanstössig, weder mit der forcierten Strenge der Meistersinger gebaut, noch die Eigenheiten der Strophenform irgendwo ignorierend“ (ebd., S. 121). Er argumentiert ausschließlich mit dem Inhalt gegen die Echtheit: „Wir sind durchaus in scholastischer Atmosphäre, auf gelehrt meisterlichem Boden, herausgetreten aus dem Gesichtskreis, der Reinmars Dichtung beherrscht“ (ebd.).
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gestellten Sprüche stehen alle im gleichen Ton (Frau-Ehren-Ton), das heißt sie sind ganz unabhängig von Thema und Sprechhaltung mit gleichem formalem Aufwand gestaltet. Reinmar weist sich seinen Hörern gegenüber nicht aus. Selbstverständlich tritt er ihnen, den ungelÞrten liuten, bei der Erklärung der Evangelistensymbole als Kenner gegenüber. Aus dieser Kennerschaft leitet er die Pflicht zur ,Aufklärung‘ ab. Seine Erläuterungen seien geeignet, die Menschen, also hier die ungelehrten Laien, von Zweifeln zu befreien: JÞsus, d Gotes underbot, JÞsus, d menschenkint unt Got und ebenmehtic Got, d himelsippe vaterhalp, d erdensippe muoterhalp, D vaterhalp Jhannes ar, d lewe Marcus, d muoterhalp MathÞus mensche gar, hie mit bezeichenunge an Lcas stat geformet als ein kalp! Die vier Þwangelisten unt ir bilde sint ungelÞrten liuten gar ze wilde. waz ar, waz lewe, waz mensche meine, waz kalp betiute an Lcas stat, der ane Crist ie missetrat, wær im daz kunt, der wurd gar zwvels eine. 25
Der Zugang zu diesem Wissen und damit die Legitimität des Deuters sind nicht an institutionelle Voraussetzungen gebunden. Sie sind vielmehr gegründet auf Gottes Wort (V. 3: diu got selber sprach durch snen munt) und zugänglich durch die schrift (V. 6 und 8), was hier im doppelten Sinne verstanden werden kann: als das Überlieferungsdokument der Bibel und als Konservierungstechnik. Mit der Berufung auf Schriftlichkeit markiert Reinmar die Distanz zu den Ungelehrten, stellt er sich ihnen gegenüber, ohne doch mehr in Anspruch zu nehmen als gerade diese Kenntnis der Schrift: MathÞus menschen bilde ht: wie Got ein mensche wart, von im uns daz geschriben stt in manegem Þwangelj, diu Got selber sprach durch snen munt. Wie Got alsam ein kalp vertruoc den tt an der menscheit, wie man in an daz criuze sluoc, daz machet Lcas kalp mit sner schrift von Cristes tde uns kunt. Wie er von tde erstuont mit lewen crefte, daz schrbet Marcus lewe mit meisterschefte: 25 Ebd., Nr. 8.
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Jhannes ar von der gotheite die hhen wsheit niht enspart: in arn ws Gotes himelvart d gap unt gt noch maneger sÞle geleite. 26
Aus seiner Positionsbestimmung leiten sich Pflichten ab, vor allem – ganz entsprechend der Pflicht des geistlichen Lehrers – die Pflicht, die Menschen vom Irrtum zu befreien. Ihnen den zwvel zu nehmen, war schon das Ziel des Evangelisten-Spruches. Was dort durch Erklärung, durch das Zugänglichmachen von Wissen erreicht werden soll, das kann auch durch Appelle (nieman sol, wir suln, diun solte) erstrebt werden. Der Spruchdichter wird zum Prediger: Sw s die liute geordent sint, ez sn die himelbæren oder ez sn der helle kint, daz was Gote allez kunt, Þ ie wart zt, tac, woche oder jr. Dar umbe nieman sprechen sol: ,swaz ich getuon, bin ich genislich, ich genise wol: bin ich dem valle ergeben, son hilfet mich mn woltuon niht ein hr.‘ Swer sich als mit rede verketzeret, von dem ist der zwvel niht gevret. wir suln den zwvel z uns rmen. diu Gotes vorgewizzenheit diun solte uns niht hres breit, unt ist daz wir uns selben niht versmen. 27
Reinmar von Zweter schreibt sich, so können die besprochenen Strophen verstanden werden, ohne besondere Begründung eine Kompetenz zu, die ihn als geistlichen Lehrer erscheinen lässt. Er verfügt daneben aber auch – ähnlich wie später Boppe – über Strategien, die geeignet sind, diesen Anspruch als begründet erscheinen zu lassen. Dazu gehören Verweise auf eigenes, aber doch allgemein zugängliches Wissen (so z. B. im Evangelisten-Spruch), und auch subtilere Ermächtigungsstrategien. So beherrscht er zum Beispiel die Geste des Rätsellösers, der mit der Fähigkeit, Unbegreifbares aufzulösen, seine Überlegenheit ausstellt28, etwa dann, wenn er die paradoxe Behauptung präsentiert, es gebe ein Gewässer, das das Lamm durchwaten, der Elefant aber nur durchschwimmen könne, weil es für ihn zu tief sei. Mit der überraschenden 26 Ebd., Nr. 9. 27 Ebd., Nr. 87. 28 Zu dieser Haltung generell Bulang, „wie ich die gotes tougen“ (Anm. 18), S. 44 f.
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Lösung präsentiert er sich als jemand, der die Verfahren geistlicher Allegorese beherrscht (und als einer, der den Ungelehrten das ihnen gemäße Wissen zuteilt): Ez ist ein wc, der lt sich waten daz lamp unt muoz der helfant d b swimmen mit unstaten: der wc ist dem helfande gar ze tief, dem lambe vrtic wol. Der wc daz ist der Cristentuom, den man einvaltic waten sol ne ppiclchen ruom. der helfant ist der tumbe man, der mÞr wil wizzen, dan er sol, Swer mit dem lambe einvalticlchen wete, der wurde nimmer swimmend in der vlete der grundelsen Gotes tiefe. der helfant ist der tumbe man, der mÞr wil wizzen, dan er kan, unt swimmen wil, d er wol trucken liefe. 29
Nicht nur solche Verweise auf geistliche Wissensbestände und gelehrte Argumentationsformen dienen der Autoritätsbehauptung des Spruchdichters Reinmar gegenüber den Ungelehrten, sondern – von der Gegenseite aus – ebenso der Ausweis von Vertrautheit mit volkssprachlichen Redeweisen. Reinmar rühmt Maria, die Gottesmutter, als die überlegene Minnedame, weil die Liebe zu ihr keine Rivalität und keine Eifersucht weckt. Wo der weltliche minner auf der Exklusivität der Beziehung bestehen müsse und daraus Leid zu entstehen drohe, vereinten sich die Liebhaber Mariens in gemeinsamer Verehrung: Ez ist vil manegem minner leit, ob ieman sner vrouwen dienet f genædikeit: wand er wil eine ir einer dienen umb ir hulde unt umb ir gruoz. N grfen alle Cristen zuo unt dienen mner vrouwen, dienen spte, dienen vruo, mit mnem guoten willen si tuot in allen aller sorgen buoz. Der diener keiner sol den andern nden, si suln alle unkiusche ouch gar vermden: sist rein, sin muotet niht wan reines, ir wont diu wre minne b, si ist allen wandels vr: er sælic man, dem si gewinket eines! 30
29 Roethe, Reinmar von Zweter (Anm. 14), Nr. 85. 30 Ebd., Nr. 19.
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Auch wenn es sich beim Hinweis auf Themen und Haltungen des Minnesangs nicht um einen Wissensvorsprung handelt, sondern um die Beanspruchung von Redelizenzen, um die Freiheit zur Überschreitung von Domänen, so vermag sich in dieser Beweglichkeit eine Überlegenheit des Spruchdichters über den auf seinen Wissensbereich festgelegten Gelehrten zu manifestieren: dem lesemeister tritt er als lebemeister gegenüber. Solche Markierung der volkssprachlichen Kompetenz mag man auch in der Auslegung des Namens Maria sehen.31 Der Dichter präsentiert sich hier als Übersetzer: er überträgt die lateinische Namensdeutung, die dem Muster der Initialwörter folgt: MARIA = Mediatrix – Auxiliatrix – Reparatrix – Illuminatrix – Adiutrix. 32 Mara ist ein sezer nam, aller sælden vrhtic unt s rehte wunnesam: zuo dem suln wir gedingen, an dem lt unser sælden hch gewin. Der Þrste buochstap ist genant ein M, d von uns schuldehaften wesen sol bekant, daz si Medjtrix heizet, daz spricht entiutschen sust: ein senærn. Ir milte senet uns vil mange schulde, ir gete ist aller gete ein bergulde: si macht ir kindes zorn uns linde unt gt vr snde guoten rt: si tilget unser missett: des loben wir die muoter mit dem kinde! 33
Strophe für Strophe übersetzt Reinmar so in der fünfstrophigen Spruchreihe (Roethe, Nr. 235 – 239) eines der Deutungsinterpretamente ins Deutsche (Str. 2: Auxiliatrix: […] helfaern genennet; Str. 3: Reparatrix: sist ein widerbringaern j vil maneger armen sÞle; Str. 4: Illuminatrix: d vil saeldenrche bist j erliuhtaern genennet; Str. 4: Adjutrix man si nennen sol, j schirmaern genennet) und erläutert es dann aus den Eigenschaften Mariens. Der Spruchdichter tritt hier als Vermittler auf, als Übersetzer geistlicher Wissensbestände in die Volkssprache, und als seine Legitimation wird – ohne alle Inszenierungselemente, in der Selbstverständ31 Zur Echtheit siehe oben Anm. 24. 32 Die Deutung folgt dem geläufigen Verfahren der expositio-Etymologie, vgl. dazu Roswitha Klinck, Die lateinische Etymologie des Mittelalters, München 1970 (Medium Aevum 17). 33 Roethe, Reinmar von Zweter (Anm. 14), Nr. 235.
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lichkeit des Vollzugs – seine Teilhabe an beidem sichtbar: am gelehrten Wissen und an den Formulierungsspielräumen der Volkssprache. Aber Reinmar greift keineswegs in allen seinen geistlichen Strophen auf solche mehr oder (zumeist) weniger elaborierte Ermächtigungsstrategien zurück; oft, vielleicht sogar in der Mehrzahl der Fälle, ist es allein die Geste, die die Legitimierung trägt. Das gilt zum Beispiel für den Spruch über Gottes Vorwissen (Nr. 87, siehe oben) oder in besonderem Maße für seinen agitatorischen Mahnruf (Nr. 219) 34 : Wache, Cristen, ez wil tagen, der han ht zwir gecræt, ich wilz iu wærlchen sagen: ez nhet gegen dem morgen, daz Got wil rechen alliu sniu leit. Er wil uns alle lzen sehen, swaz im grzer marter durch uns snder ist geschehen: daz solten wir besorgen: s wær sn helfe gegen uns gar bereit. Swenne er uns zeiget sper, criuze unde crne, der gewaltic sitzet in dem trne, s kan im nieman widerstrten: erst gewaltic ber elliu lant. ir Cristen, dar an st gemant unt warnet iuch gein im in kurzen zten!
Wie kann das funktionieren? Werden – von den Hörern – die begründenden Aspekte aus den – so oder so legitimierten – Strophen übertragen? Dehnen sie sich aus auf die Figur, den Namen? Das setzte voraus, dass die Hörer eine Vorstellung vom Gesamtwerk des Vortragenden haben, vielleicht auch, dass Vortragseinheiten strategisch so kombiniert werden, dass der Hintergrund sichtbar wird. Darüber wissen wir nichts; es blieben nur Spekulationen auf höchst unsicherem Grund. Basis aller Argumentation kann nur die Einzelstrophe sein. Von ihr aus gesehen spricht Reinmar von Zweter im Spruch über das Problem der Vorbestimmtheit aller menschlichen Handlungen und auch im sogenannten ,Weckruf‘ mit gleicher Selbstverständlichkeit jenseits seiner Kompetenz als Laie wie Boppe im Spruch über die Geheimnisse des christlichen Glaubens. Als Übersetzer und Vermittler aus der Welt der 34 Bei diesem Spruch wäre zu überlegen, wie weit die Anspielung auf Walther von der Vogelweide, 21,25: N wachet! Uns gÞt zuo der tac (Walther [Anm. 13], S. 42) legitimatorisch wirken kann. Aber dies wäre dann keine Stütze in einer geistlichen Autorität. Im Gegenteil: Walther benützt die Warnung vor dem Jüngsten Gericht zu einer politischen Mahnung; Reinmar münzt sie um in einen Aufruf zum bußfertigen Leben.
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geistlichen Gelehrsamkeit in die Lebenswelt der volkssprachigen Laien scheint Reinmar sich dabei vor allem zu sehen, als Deuter christlicher Geheimnisse, als Warner und geistlicher Führer, als Lehrer und auch als Zensor. Seine Kompetenz, gegründet auf unaufwendigen, weithin als selbstverständlich ausgegebenen oder vorausgesetzten Sachverstand, reicht bis zur Entscheidung über zuträgliches und unverträgliches Wissen: Der helfant ist der tumbe man, der mÞr wil wissen, dan er sol. An diese Maxime hält er sich auch selbst. Sein Amt als Lehrer und Warner bleibt in den Grenzen einfacher oder doch in die Vereinfachung überführter Wahrheiten. Der Spruchdichter bewegt sich also, so muss man folgern, zur Zeit Reinmars von Zweter, des Marners, Boppes keineswegs „immer in einem Feld […] mögliche[r] Bestreitung“.35 Es steht ihm eine prinzipiell nicht begründungsbedürftige (wenn auch nicht selten durch begründende Verweise gestützte) Autorität zu geistlicher Mahnung und Belehrung zur Verfügung. Er konkurriert mit dem Bußprediger, nicht mit dem Theologen.
IV Die Identifikation mit der Predigerrolle, die fraglose, einer Absicherung nicht mehr bedürftige Usurpation des Bußprediger-Amtes, wie sie vor allem im ,Weckruf‘ sichtbar wird, ist in der Spruchdichtung weit verbreitet, sie gehört zu ihren Grundlagen. Karl Stackmann hat schon vor Jahren Beispiele dafür zusammengestellt, wie Spruchdichter „mit der Selbstverständlichkeit des Gleichberechtigten in theologischen Fragen Stellung bezieh[en]“.36 Wenn zum Beispiel Muskatblut Herzog Albrecht von Österreich aufrufe, sich nach des Dichters Anweisungen Gott zuzuwenden, beanspruche er „bei allem Respekt vor der Würde des rechten Glaubens, ein Lehrer dieses Glaubens zu sein so gut wie der von der Kirche verordnete Priester“.37 Das muss als Skandalon erscheinen: Es war den Priestern verständlicherweise nicht angenehm, wenn sich die Laien auf das Feld geistlicher Spekulation wagten. Gerade dies taten aber die meister, und so kann man wohl die Warnung Bertholds von Regensburg 35 Bulang, „wie ich die gotes tougen“ (Anm. 18), S. 52. 36 Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mgeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualitt, Heidelberg 1958, S. 179. 37 Ebd., S. 177.
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vor solchem Hochmut und seine Klage über das Fehlen guoter meister, die rechtgläubige Lieder sängen, auf die Spruchdichter beziehen. Sie werden immer wieder im Verdacht der Ketzerei gestanden haben.38
Die Rivalität zwischen dem Klerus und den Spruchdichtern ist seit langem bekannt. Die klerikale Polemik richtet sich aber kaum jemals auf die Zuständigkeit der Spruchdichter für geistliche Lehren. Im Zentrum steht – neben vereinzelten Kontroversen um bestimmte Aussagen – offensichtlich die Konkurrenz um Entlohnung, in der die Fahrenden (die im übrigen nicht eigentlich als Spruchdichter benannt sind) vor allem mit den wandernden Bettelmönchen wetteifern.39 Die Berechtigung der Spruchdichter, als Lehrer in geistlichen Dingen aufzutreten, scheint nicht in Zweifel gezogen zu werden. Was also begründet eine solche Konkurrenz der Laien mit den Repräsentanten des kirchlichen Lehramtes? Wie ist eine solche Anmaßung zu verstehen? Oder: woher bezieht der Spruchdichter seine Autorität? Für den benachbarten Reimpaarspruch hat schon Eberhard Lämmert diese Frage gestellt40 und speziell für den Teichner mit dem Hinweis auf eine Art Selbstermächtigung zur Laienmissionierung wegen der besonderen Gefährdung Österreichs durch das Eindringen häretischer Irrlehren im mittleren 14. Jahrhundert zu beantworten versucht. Das greift so gewiss zu kurz, aber die Rechtfertigungsreden des Teichners41 gehen durchaus auch ins Grundsätzliche: „Wie mancher sage ihm, er habe seinen Kasten doch nun endlich geleert; aber Sittenpredigt tut jederzeit not, und heute mehr als zu Neidharts Zeiten, wo man es mit der Bauernrüge bewenden lassen konnte.“42 Gegen den Verfall der Sitten habe jeder einzuschreiten, das sei Gottes (!) Auftrag. 38 Ebd., S. 176. 39 Ausführlich dargestellt von Hannes Kästner, „Sermo vulgaris oder Hçvischer Sanc. Der Wettstreit zwischen Mendikantenpredigern und Wanderdichtern um die Gunst des Laienpublikums und seine Folgen für die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. (Am Beispiel Bertholds von Regensburg und Friedrichs von Sonnenburg)“, in: Michael Schilling/Peter Strohschneider (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 13), S. 209 – 243. 40 Eberhard Lämmert, Reimsprecherkunst im Sptmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden, Stuttgart 1970, bes. S. 172 – 182. 41 Zitiert nach: Die Gedichte Heinrichs des Teichners, hrsg. von Heinrich Niewöhner, 3 Bde., Berlin 1956 (Deutsche Texte des Mittelalters 44, 46, 48). 42 Lämmert, Reimsprecherkunst (Anm. 40), S. 174, als Paraphrase der Teichnerrede Nr. 595, vgl. dort V. 5: recht als sich die sit verkerent, j also ist min kunst sich merent.
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Denn so wie der Habit des Priesters nicht vor Verfehlungen schütze (Nr. 500, V. 12 – 15: wer sich mit der ku˚ten vilt, j wer der gerechtikait nit wart, j der ist gotes widerpart. j er ist in der ku˚ten verlorn), so liege in ihm nicht die eigentliche oder gar einzige Rechtfertigung für die geistliche Rede, vielmehr liegt sie im unerschrockenen Widerstand gegen das Böse, zu dem jeder berechtigt und verpflichtet sei: […] wer du˚rch niemantz zorn wil die rechtikait verswigen uff dem væld und uff den stigen oder waz er trag von klaiden, er ist von der welt geschaiden und bewært ain gaistlich leben. da von haizt die welt uff geben wer sich in ain kloster geit, daz er sol verschmæhen seit liegen, triegen, valschen gelt. smæchlich ding, daz ist di F welt. wer dem selben ist wider sagent, der ist ain gaistlich leben tragent, er sy ritter oder knecht. 43
Mit diesen Versen ist aber auch schon die spezifische Stoßrichtung der Teichnerreden und damit auch die Beschränkung der Redeermächtigung markiert: dem Bösen entgegentreten, den Verfall der Sitten geißeln, zur richtigen Glaubensausübung und damit auch zur richtigen Lebensführung anleiten, das sind seine Ziele und dazu fühlt er sich ermächtigt, so wie jedermann sich dazu ermächtigt fühlen sollte.44 Das Themenspektrum der Sangspruchdichter lässt sich so nicht eingrenzen; es ist – wie schon die Beispiele gezeigt haben – sehr viel breiter aufgefächert. Und überdies ist ihre Redeweise nicht in gleicher Weise auf den polemischen, aufrüttelnden Appell konzentriert. Sie konstatieren eher, als dass sie geißeln. Für Gustav Roethe heißt das, sie langweilen: Zu Reinmars schwächsten Leistungen gehören seine religiösen Sprüche. Die gesammte Spruchpoesie kann mit dieser Gattung keinen Staat machen. Von den mächtigen epischen und lyrischen Wirkungen, die der religiöse 43 Teichner, Nr. 500, V. 16 – 29. Zu diesem Spruch auch Lämmert, Reimsprecherkunst (Anm. 40), S. 174. 44 Vgl. ebd., S. 181: „Der Auftrag zu praktischer Auslegung der Glaubenswahrheiten und allgemeinen Sittenregeln und insbesondere zur Befestigung der Bußpraxis steckt, wenn wir wenige Einsprengungen ausnehmen, den gesamten Horizont der Teichnerreden bereits ab.“
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Stoff zulässt, sind jene durch die Spruchform nahezu ausgeschlossen und diese durch den traditionellen Lehrton, der sich wie Mehltau auf alle natürliche Herzensfrische legt, zum mindesten gröblichst verkümmert. Da bleibt denn wenig übrig als versificierte Predigt und gereimter Katechismus.45
Das ist, wenn man die falschen Erwartungen an das, was Poesie sei, abzieht, nicht falsch beobachtet. Das Stereotype und Allgemeine ist ein Grundzug der geistlichen Spruchdichtung, jedenfalls der des 13. Jahrhunderts. Aus ihm muss man sie zu begreifen versuchen: Man hat sich öfter gewundert, weshalb diese ,Lehrdichter‘ so erstaunlich wenig faktisches Wissen mitteilen. Den eigentlichen Inhalt ihrer Strophen bilden – neben der Erinnerung an fundamentale Tatsachen des Glaubens wie das Trinitätsdogma – unermüdlich wiederholte Verhaltungsmaßregeln von der allerallgemeinsten Art: ,Achte die Tugend‘, ,Hasse die Lüge‘, ,Sei freigebig‘, ,Überlege, was du sagst‘, ,Betrink dich nicht‘, ,Laß dich nicht mit zweifelhaften Burschen ein‘, ,Halte dein Haus in Ordnung‘, ,Bereue deine Sünden‘ usw. […] Sie meinten sich ihrer Aufgabe augenscheinlich am besten zu entledigen, indem sie an etwas erinnerten, was jeder anständige Christenmensch schon vorher wußte oder hätte wissen sollen. Ihre Bestrebung war es nicht, Erstaunen über eine grundstürzende Veränderung überkommener Anschauungen zu erregen, sondern sich der freundlichen Zustimmung aller rechtlich Denkenden beim Wiedererkennen einfacher Grundwahrheiten zu versichern.46
Die Erinnerung an „einfache Grundwahrheiten“ steht, wie ich das früher einmal zu zeigen versucht habe47, am Beginn der deutschen Spruchdichtung. Sie knüpft an Sprichwortweisheiten an und nimmt Sprichwortstrukturen auf. Sprichwörter sind in ihrer Anwendung stets Kommentare zu aktuellen Vorfällen, sie subsumieren den aktuellen Fall einer allgemeinen Regel, zumeist einer aus Erfahrungswissen gewonnenen Regel. Erfahrungsregeln berufen sich notwendig auf das allgemein Bekannte und Akzeptierte; wenn sie ernst genommen werden sollen (und nicht etwa parodistisch eingesetzt werden), dürfen sie nicht überraschen (überraschen kann höchstens die Anwendung auf den bestimmten Fall). Die Erkenntnis, die sie stiften, zielt auf die Gültigkeit des Bekannten und Allgemeinen. Eine Gattung, der diese Struktur zugrunde liegt, baut auf Wiederholung und Einordnung in das allgemein und unbefragt Gültige. Der „traditionelle Lehrton“ (Roethe) ist 45 Roethe, Reinmar von Zweter (Anm. 14), S. 235 f. 46 Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 108 f. 47 Klaus Grubmüller, „Die Regel als Kommentar. Zu einem Strukturmuster in der frühen Spruchdichtung“, in: Wolfram-Studien, 5/1979, S. 22 – 40.
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Instrument dieser Selbstversicherung im ,Konventionellen‘. Seine gattungskonstitutive Verbindlichkeit lässt sich leicht daran erkennen, dass die Formulierung persönlicher religiöser Erfahrung (die im 13. Jahrhundert ja durchaus zu den brisanten Gegenständen gehört) im Rahmen der Spruchdichtung eine wunderliche Vorstellung wäre. Das als wahr und richtig Erkannte beschränkt sich nicht auf das Erfahrene, sondern bezieht selbstverständlich das Offenbarte, seine Inhalte, seine Konsequenzen mit ein. Aus dieser Perspektive stehen die Warnung vor Leichtsinn, das Paternoster und die Struktur der Trinität auf einer Ebene. Sie fügen sich zusammen zu dem, „was jeder anständige Christenmensch schon vorher wußte oder hätte wissen sollen“ (Stackmann). Die ,geistlichen‘ Themen innerhalb der Spruchdichtung haben keinen grundsätzlich anderen Status als die weltlichen. Beides fällt im Anspruch der Anleitung zu einem rechten Leben zusammen. So beantwortet sich auch die Frage nach der Legitimation des Laien für geistliche Belehrung: Er bedarf ihrer nicht, weil er aus seiner traditionellen Rolle zur ,Lebenslehre‘ befugt ist, und diese schließt – in einer aus transzendenten Wahrheiten fundierten Welt – notwendig die geistlichen Belange ein. Für den Aufgabenbereich der ersten Spruchdichter-Generationen ist die Unterscheidung geistlich/weltlich und damit auch die zwischen literarischer und religiöser Kommunikation irrelevant: das eine schließt das andere in einem sehr konkreten Sinne, zum Beispiel in den Argumentationsfiguren, immer ein. Beispiele erübrigen sich (Walthers Sprüche im Wiener Hofton böten ergiebiges Material), aber auch Unterscheidungsbemühungen jeder Art. Das heißt auch, dass auf dieser Ebene (nicht aber zum Beispiel für das Preisgedicht, für das im Leich eine Prunkform zur Verfügung steht) religiöser Kommunikation kein besonderer oder auch spezifischer Gestaltungsaufwand zukommt. Die Auflösung dieser Einheit, die jedenfalls noch weit jenseits der Meistersänger des 16. Jahrhunderts liegt, wird man als Kriterium für eine Epochengrenze in Betracht ziehen müssen.
V Als Verkünder des allgemein Bekannten und Akzeptierten, als Mahner zum rechten Leben, bedarf der Spruchdichter keiner Legitimation. Sie liegt in seiner Rolle, wie sie sich im späten 12. Jahrhundert und mit Walther von der Vogelweide etabliert hat. Seine Autorität muss sich nicht „in einem Feld ihrer möglicher Bestreitung“ behaupten, und er
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begründet sie nicht damit, „daß er über ein exklusives Wissen“ zu verfügen vorgibt48, ganz im Gegenteil. Spruchdichter, die dies tun, verfolgen ein gänzlich anderes Konzept. Ihnen ist das Vertrauen in das allgemein Bekannte, in die Alltagserfahrung abhanden gekommen, oder besser: es nützt ihnen nicht, denn sie konkurrieren nicht mehr mit dem Prediger, sondern mit dem Theologen. Das ist das Konzept des Wartburgkrieges, besonders des ,Rätselspiels‘ mit seiner prototypischen Konfrontation des Laien Wolfram mit dem meisterpfaffen Klingsor49, ebenso Frauenlobs, Heinrichs von Mügeln und der meisterlichen Dichtung des späten 14. und des 15. Jahrhunderts50 ; es ist das Konzept der meisterschaft, die einen eigenen Erkenntnisanspruch impliziert: „Nicht nur der Kenner moralischer Lehrsätze gilt als meister, auch derjenige, der in die Geheimnisse der Theologie und des Glaubens eingeweiht ist“.51 Der meister löst die Rätsel des Glaubens auf: ,Do minne menschen muot besaz, wen hete si da vor besezzen, saget meister, daz, unt varet uf der straze spor endelich unde ane wank, so tuot mir die warheit kunt.‘ – Des du nu vragest ane haz, nach vres herzen kor, 48 Bulang, „wie ich die gotes tougen“ (Anm. 18), S. 52, siehe oben S. 697. 49 Dazu Beate Kellner/Peter Strohschneider, „Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum ,Wartburgkrieg‘ C“, in: Wolfram-Studien, 15/1998, S. 143 – 167. Noch stärker profiliert wird der Gegensatz in den in der Kolmarer Liederhandschrift überlieferten Versionen von ,Zabulons Buch‘ (,Oberkrieg‘) und ,Rätselspiel‘, vgl. Peter Strohschneider, „Der ,Oberkrieg‘. Fallskizze zu einigen institutionellen Aspekten höfischen Singens“, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450, Stuttgart – Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 482 – 505; und Franziska Wenzel, „Formen der Geltungsbehauptung im Klingsor-Wolfram-Streitgedicht ,Der Stubenkrieg‘“, in: Margreth Egidi/Volker Mertens/Nine Miedema (Hrsg.), Sangspruchtradition. Auffhrung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder, Frankfurt/M. [u.a.] 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 5), S. 45 – 72. 50 Dazu zahlreiche Beispiele bei Dietlind Gade, Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie und Astronomie in der meisterlichen Lieddichtung des vierzehnten und fnfzehnten Jahrhunderts, Tübingen 2005 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 130). 51 Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 95. Vgl. auch Strohschneider, „Der Oberkrieg“ (Anm. 49), S. 501 (Wettstreit als Wissenskampf), und Wenzel, „Formen der Geltungsbehauptung“ (Anm. 49), S. 69 (der Dichter als Philosoph und Theologe).
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so wil ich dich bescheiden baz, sich in din selbes herzen tor. – ,meister, suoche den gedank, wen ie die erste minne enzunt haete in sinem muote, den soltu mir sagen an: was ez Adam, der erste, daz la mich verstan.‘ – nein, du solt raten baz. – ,so was ez liht der zarte Got, der rehter minne nie vergaz.‘ – nu hastu in vunden, dem diu minne was bekant gar unzetrant, wariu minne in bant zuo eines kiuschen herzen want; daz was diu keiserliche maget, die er gar unverseret vant: seht, der minne volget nach, so wert ir niht in schanden wunt. (Ps. Marner, XV 28) 52
„Alles das, was dem Namen meister Inhalt und Würde gibt, liegt in dem Worte meisterschaft beschlossen. Es umspannt die ganze Vielzahl vorbildlicher Fähigkeiten, die zusammengenommen den meister ausmachen. Wer meisterschaft besitzt, sticht durch glänzende Gaben des Verstandes ebenso hervor wie durch sein Lehrtalent, er lebt ein beispielhaftes Leben und weiß andere dazu anzuhalten; er ist ein frommer Mann, ein gescheiter Theologe(!) und ein Mahner zum rechten Glauben. Diese Vorzüge verbindet er, und das ist bald das Entscheidende, mit einem unvergleichlichen Geschick im Anfertigen von Gedichten.“53 In der früheren Spruchdichtung ist meisterschaft 54 als Selbstzuschreibung noch kein hervorgehobener Begriff. Walther redet eher beiläufig 52 Hinweis bei Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 95 Anm. 164. Text nach Minnesinger. Manessische Sammlung aus der Pariser Urschrift, nach G. W. Maßmanns Vergleichung ergänzt und hergestellt von Friedrich Heinrich von der Hagen, Bd. 2, Leipzig 1838, S. 253 f. Die Strophe ist in der Heidelberger Handschrift cpg 350, im Rahmen der um die Mitte des 14. Jahrhunderts niedergeschriebenen Sammlung H überliefert, einer der „wichtigsten Quellen für die spärlich überlieferte Sangspruchdichtungstradition des 14. Jh.s“ (Burghart Wachinger, „Heidelberger Liederhandschrift cpg 350“, in: Verfasserlexikon, Bd. 3, Berlin [u.a.] 1981, Sp. 597 – 606, hier Sp. 602. Vgl. zum weiteren Zusammenhang Frieder Schanze/Burghart Wachinger (Hrsg.), Repertorium der Sangsprche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Katalog der Texte, Älterer Teil: G–P, Tübingen 1988, S. 293 f. 53 Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 96 f. 54 Ausführliche Belegsammlung bei Julius Schwietering, „Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter“, in: ders., Philologische Schriften, hrsg. von Friedrich Ohly und Max Wehrli, München 1969, S. 140 – 215, bes. S. 183 – 199; zahlreiche Ergänzungen bei Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 94 – 98 und S. 128 – 130.
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davon: im Bogener-Ton (80,27) distanzierend und verschleiernd, im Zweiten Philippston (18,15) durch den Mund eines Dritten und ebenfalls distanzierend im Plural. Reinmar von Zweter nennt gerade einmal denjenigen einen meister, der das geistliche und das weltliche Schwert geschmiedet hat (213,1) und verwendet meisterschaft als Bezeichnung für „jegliche Art der Überlegenheit“55, zum Beispiel die einer bösen Frau über ihren Mann (105,3 und 11) oder des Hahnes über seine vielen Hennen (104,3). Zumeist ist der meister gerade der andere, derjenige von dem man sich Autorität borgt, derjenige also, der sie im Gegensatz zum Sprecher besitzt und auf den man sich zur Legitimation berufen muss: so bei Bruder Wernher zur Rechtfertigung von Tiergleichnissen (16,8: daz habe wir von der wsen meister lÞre) oder beim Marner zur Kennzeichnung von Gottes Schöpferkraft (I 2), zur Legitimation seiner Rühmung der Scham (XV 10: sagent uns meister und die buoch) und in ironischer Verkehrung (XIII 3) für den Besserwisser (den Meißner?).56 In gleichem Sinne beruft sich Boppe für seine Aussagen auf den wse[n] meister Aristtiles (I 29) oder überhaupt auf die meister ws: Diu triuwe ist ein diu beste tugent, j sagent uns die meister ws (VIII 1,1 f.) 57, und auch die meisterpfaffen (VII 1,7; vgl. VII 3,1) sind nicht Identifikationsfiguren, sondern Autoritäten, die den Spruchdichter erst zu seiner Rede befähigen. meisterschaft tritt also, wie das schon Stackmann festgestellt hat, im Laufe des 13. Jahrhunderts in das Blickfeld der Spruchdichter.58 Aber es ist ganz und gar nicht die eigene meisterschaft, die zum Dichten befähigt, weder die besondere Kunstfertigkeit noch die eigene Einsicht in die Zusammenhänge der Welt und die Geheimnisse Gottes. Es ist die meisterschaft der anderen und der – häufig geradezu ängstlich abgesicherte – Versuch, an ihr zu partizipieren. Dieses Bedürfnis zur Absicherung im ,gelehrten‘ Wissen ist neu; den Spruchdichtern des 13. Jahrhunderts ist es prinzipiell fremd und gerade erst in einzelnen Beispielen (im Wartburgkrieg, bei Boppe) in seinen Anfängen zu beobach55 Ebd., S. 96, Anm. 173. 56 Haustein, Marner-Studien (Anm. 4), S. 39 – 41; gleichfalls nach außen gewendet, auf andere als Vorbild bezogen ist der Begriff in XIV 280: sanges meister lebent noch; vgl. noch IX 3; XIV 4; XV 2. 57 Alex, Der Spruchdichter Boppe (Anm. 16), S. 118. In gleicher Weise verwendet Boppe meisterschaft nicht zur Kennzeichnung der eigenen Fähigkeiten, sondern für die Leuchtkraft eines Kometen (I 26,9) oder die Wirkungen des Steines Kamahu (I 24,5). 58 Stackmann, Heinrich von Mgeln (Anm. 36), S. 94 f.
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ten. Es breitet sich langsam aus und tritt in Konkurrenz zur Wiederholung des unbefragt und allgemein Gültigen. Die Stadien, die das neue Konzept durchläuft, bis die Selbstermächtigung des Dichters aus seiner eigenen meisterschaft in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erreicht ist59, sind erst noch zu bestimmen. Erst auf dieser Stufe löst sich der Dichter aus seiner Einbettung in das Wissen anderer, das Wissen aller oder das Wissen der Experten; dann erst tritt er der Gesellschaft als Deuter der Welt und als selbstverantworteter Künstler gegenüber.
59 Zu den markanten Fixpunkten Frauenlob und Heinrich von Mügeln vgl. Karl Stackmann (Hrsg.), Wçrterbuch zur Gçttinger Frauenlob-Ausgabe, Göttingen 1990, S. 235, und Gade, Wissen – Glaube – Dichtung (Anm. 50), bes. S. 189 – 197. Zur späteren Entwicklung zahlreiche Beispiele ebd., passim.
Transgression und Transzendenz Der Skandal der fabliaux dvots aus der Vie des Pres Nikola von Merveldt I Transgression – das Überschreiten einer Grenze, die Verletzung einer Norm – stellt zugleich einen semiotischen Prozess und eine kulturelle Praxis dar.1 Das Ziehen von Grenzen ist die Gründungsgeste jeder Kultur und schafft die Struktur literarischer Texte.2 Ihr Überschreiten nimmt in Ritualen, Zeremonien und Erzählungen Form an. Im Gestus des Überschreitens markiert die Transgression die Grenze und macht sie dadurch allererst sichtbar und verfügbar. In dieser analytischen Eigenschaft kann Transgression als ein literaturwissenschaftliches „Wahrnehmungs-, Beschreibungs- und Verstehensmuster“ fungieren, das das Allgemeine kultureller Ordnungen und das Spezifische literarischer Texte offenzulegen und die Dynamik ihrer Strukturen nachzuzeichnen hilft.3 Transgression ist nach Jurij M. Lotman auch und besonders das Signum von Narration, der Bedeutungskern von Erzählungen. Seinem strukturalistisch-semiotischen Textmodell zufolge ist die räumliche Ordnung der erzählten Welt durch (im Prinzip) unüberschreitbare Grenzen in disjunktive Teilräume aufgeteilt, die mit semantischen Gegensatzpaaren (z. B. gut versus böse; lebendig versus tot) besetzt und meistens topographisch konkretisiert sind (z. B. Himmel versus Hölle; 1 2 3
Oliver Jahraus, „Rezension zu Gerhard Neumann/Rainer Warning (Hrsg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie“, Freiburg/Br. 2003, in: literaturkritik.de, 10/2003 (Letzter Zugriff: 28. 07. 2007). Vgl. Yurij M. Lotman, Universe of the Mind: A Semiotic Theory of Culture, Bloomington/Ind. 1990, Kap. ,The notion of boundary‘, S. 131 – 142, hier S. 131; ders., Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Gerhard Neumann/Rainer Warning (Hrsg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg/Br. 2003 (Litterae 98), S. 11. Zum Verständnis von Kultur als Text vgl. Doris Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wnde in der Literaturwissenschaft, Stuttgart 2004.
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Wald versus Stadt). Der literarische Text ist also ein „Kulturmodell im kleinen“4, das soziale und kulturelle Normen textuell um Grenzen organisiert. Als sujetkonstitutives Ereignis beschreibt Lotman die Überschreitung einer solchen semantischen (und, in der Regel, topographisch markierten) Grenze. Literatur erscheint somit als „bevorzugte[r] Ort von Transgressionen“.5 Auch der Transzendenzbegriff lässt sich über das Strukturmuster der Transgression erfassen. Transzendenz, als Gegenbegriff zur Immanenz, so Luhmann, „hat keine Existenz für sich. Sie ist die Überschreitbarkeit jeder Grenze in Richtung auf ein Anderes“.6 Es geht hier also nicht um eine (letztendlich unmögliche) Grenzüberschreitung, sondern um ihre Konzeptionalisierung, „weil man sich das Überschreiten einer Grenze vorstellen muß, wenn man sie [die Transzendenz] bezeichnen will“.7 Transzendenz ist somit „zunächst eine Richtungsangabe, sie verweist auf ein Überschreiten von Grenzen“8, auf ein Jenseits der Immanenz. Ihre spezifische Funktion besteht in der Sinngebung, so dass man mit Luhmann sagen kann „daß eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“.9 Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass die an sich unverfügbare Transzendenz nur aus dem Blickwinkel der Immanenz betrachtet werden kann. Will man von Transzendenz (z. B. Gott) sprechen, muss man dies mit immanenten Mitteln tun und gerät dadurch in paradoxe Kommunikationsstrukturen (etwa: Christus ist Gott und Mensch zugleich), die narrativ entfaltet und kulturbildend werden können.10 Das Besondere an dem Kommunikationssystem Religion ist nach Luhmann, dass seine Doppelcodierung transzendent/immanent nicht wie andere binäre Modelle, die kategorisch zwischen profan/sakral (Durkheim) oder alltäglich/nichtalltäglich (Weber) unterscheiden, statisch und zweipolig bleibt, sondern durch die „Figur des Wieder-
4 Rainer Warning, „Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im Tristan“, in: Neumann/Warning (Hrsg.), Transgressionen (Anm. 3), S. 175 – 212, hier S. 183. 5 Jahraus, „Rezension“ (Anm. 1). 6 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 77. 7 Ebd., S. 79. 8 Ebd., S. 79 f. 9 Ebd., S. 77. 10 Ebd., S. 83.
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eintritts einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene“11 dynamisiert wird. Durch die wiederholte Unterscheidung der Unterscheidung kommt es zu Paradoxien (verstanden als Einheit von Differenz), die zum Beispiel in mythologischen Erzählungen narrativ entfaltet werden.12 Diese transgressive Figur des immer wieder wiederholten Wiedereintritts (in Luhmanns Terminologie: re-entry) wäre somit als das Strukturmuster von Religion zu verstehen. Für die christliche Tradition ist das Kulturmuster der Inkarnation, das das Paradox der Menschwerdung Gottes formuliert und es erlaubt, von Christus als transzendentem Gott und als immanentem Menschen zu sprechen, strukturbildend geworden. Im Konzept der Inkarnation wird Transgression zum Muster und zum Programm, das, wie Kablitz schreibt, „eine der signifikantesten Eigenheiten christlicher Rhetorik, eine markante Affinität zu paradoxen und oxymoralen Wendungen“ hervorbringt.13 So mag das Erzählen von Transzendenz zwar an sich ein paradoxes Unternehmen sein14, doch liegt offenkundig genau darin seine „enorme kulturelle Dynamik“.15 Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, das strukturalistische und tendenziell statische Modell Lotmans durch Luhmanns systemtheoretische Überlegungen zu religiöser Kommunikation zu dynamisieren. Was bei Luhmann die Figur des Wiedereintritts ist, das wird in religiösen Erzähltexten zur Wiederholungsfigur einer narrativ insze11 Ebd. Vgl. auch Detlef Krause, Luhmann-Lexikon. Eine Einfhrung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart 2001, S. 191. 12 Luhmann, Die Religion (Anm. 6), S. 56, passim. 13 Vgl. dazu Andreas Kablitz, „Inkarnation. Überlegungen zur Institution eines Kulturmusters (Novum Testamentum – Dante: Vita nova, Commedia)“, in: Neumann/Warning (Hrsg.), Transgressionen (Anm. 3), S. 39 – 79. Eine psychoanalytische Deutung des Musters bietet Alexandre Leupin, Fiction et incarnation: littrature et thologie au Moyen ffge, Paris 1993. 14 Grundlegend zu den Paradoxien legendarischen Erzählens vgl. Peter Strohschneider, „Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ,Gregorius‘“, in: Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler/ Christoph Huber (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105 – 133; ders., „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ,Alexius‘“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. ber die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln [u.a.] 2002, S. 109 – 147; ders., „Text-Reliquie. Über Schriftgebrauch und Textpraxis im Hochmittelalter“, in: Sibylle Krämer (Hrsg.), Performativitt und Medialitt, München 2004, S. 249 – 267. 15 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 14), S. 115.
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nierten Transgression, die jedoch nie ihr Ziel einholen kann und letztendlich sujetlos – kommunikativ aber nicht folgenlos – bleiben muss. Auf die Frage, wie Transzendenz erzählerisch zu vermitteln sei, gibt eine Sammlung von breit überlieferten altfranzösischen Kurzerzählungen aus dem frühen 13. Jahrhundert eine befremdliche Antwort: durch die möglichst lustvolle erzählerische Inszenierung vor allem sexueller Transgression. Die als Vie des pres bezeichnete Sammlung bietet pointierte Kurzerzählungen, die in Form und Inhalt den skandalösen fabliaux näher stehen als dem lateinischen Original der Vitae patrum. 16 Diese irritierende Mischung von eklatanter Immanenz und gleichzeitigem Anspruch auf erbauliche Darstellung von Transzendenz trug den Erzählungen der Vie des Pres im 19. Jahrhundert den Namen fabliaux dvots ein, der in seiner widersprüchlichen Formulierung der strategischen Verquickung von literarischer und religiöser Kommunikation treffend Ausdruck verleiht.17 Das Interesse der Vie des Pres scheint mir in der aus heutiger Sicht skandalösen Art zu liegen, in der durch die Engführung von religiöser und literarischer Kommunikation Transzendenz erzählt wird. Die geistliche Vereinnahmung weltlicher Erzählinhalte erfolgt hier nicht wie in vielen mittelalterlichen Texten über Allegorese. Vielmehr wird durch narrative Zuspitzungen der Versuch gemacht, den Text rein erzählerisch-immanent auf Transzendenz und auf einen moralisch-paräneti16 La Vie des Pres, hrsg. von Félix Lecoy, 3 Bde., Paris 1987, 1993, 1999. Im Folgenden werden die Bandzahlen in römischen Ziffern angegeben. La Vie des pres umfasst etwa 30,000 Verse und ist in 45 Handschriften überliefert. Grundlegend ist immer noch der Aufsatz von Edouard Schwan, „La Vie des anciens pères“, in: Romania, 13/1884, S. 233 – 263. Erst in jüngster Zeit stoßen die Texte in der Forschung wieder auf Interesse; vgl. Michel Zink, Posie et conversion au moyen ffge, Paris 2003, S. 203 – 250, Adrian Tudor, Tales of Vice and Virtue: The First Old French ,Vie des Peres‘, Amsterdam – New York 2005 (Faux titre 253), und Claudio Galderisi, Diegesis: tudes sur la potique des motifs narratifs au Moyen ffge (de la ,Vie des Peres‘ aux lettres modernes), Turnhout 2005. 17 Zur ambivalenten Einteilung und Gattungsbezeichnung der Vie des Pres vgl. den aufschlussreichen Forschungsbericht von Adrian Tudor, „The one that got away: the case of the ,Vie des Pères‘“, in: French Studies Bulletin, 55/1995, S. 11 – 15. Die Gattungsfrage ist für die französischen Kurzerzählungen genauso umstritten wie bei den mittelhochdeutschen Kurzerzählungen von Mære, Bîspel, Exempel usw. Vgl. dazu Walter Haug, „Entwurf einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: ders. (Hrsg.), Brechungen auf dem Weg zur Individualitt. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 427 – 454.
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schen Sinn hin zu öffnen. Paradoxerweise erfolgt diese Öffnung auf Transzendenz durch einen Skandal (meist ein Akt sexueller Transgression) beziehungsweise durch dessen mirakulöse Verhinderung. Der radikale Übersprung ins Transzendente bedarf radikaler erzählerischer Maßnahmen, die oft zu Verstümmelung, Ohnmacht oder Tod führen. Entscheidend jedoch ist, dass diese erzählte Grenzüberschreitung in den fabliaux dvots nicht nur Handlungselement auf der Oberflächenstruktur bleibt, sondern zur zentralen Figur der Textkonstitution selbst wird und auf diese Weise die Grenze zum Transzendenten im Akt des anekdotenhaften Erzählens performativ konturiert. Im Folgenden möchte ich von drei Erzählungen aus dem ersten Vie des pres ausgehen18, bei denen das Motiv der sexuellen Versuchung eines Eremiten eine zentrale Rolle spielt, wenn es auch nicht ihr Sinnzentrum darstellt.19 Das Verführungsmotiv als Sonderform der Transgression ist in mehrfacher Hinsicht besonders aufschlussreich. Zunächst verweist es auf den Sündenfall – die Verführung Evas durch die Schlange beziehungsweise die Verführung Adams durch Eva. So ist es auch kein Zufall, dass sämtliche Verführer im Vie des pres entweder der Teufel selbst oder (vom Teufel angestachelte) Frauen sind. Das Erzählen von Verführung erfolgt also stets vor dieser mythischen Folie und ist allen Paradoxien, die aus dem Kulturmuster der Inkarnation folgen, ausgesetzt. Dank der einfachen Struktur des Verführungsmotivs – entweder man widersteht oder erliegt der Versuchung – wird es zudem oft als Probe inszeniert, die zum Kristallisationspunkt semanti18 Das Vie-des-Pres Korpus, das sich im Laufe des 13. Jahrhunderts ausgebildet hat, teilt sich in drei Teile. Zum ersten Vie gehören 42 Erzählungen, die ca. 1215 – 1230 entstanden sind, vor allem auf die Vitae Patrum und Verba Seniorum zurückgehen und anders als die restlichen Erzählungen sowohl als Sammlung als auch jeweils einzeln von einem Pro- und Epilog gerahmt sind. Dieser erste Teil weist die größte stilistische Einheit auf und scheint auf einen Autor zurückzugehen. Vgl. dazu Göran Bornäs, Trois contes franÅais du XIIIe sicle tirs du recueil des Vies des Pres, Lund 1968 (Études romanes de Lund 15), S. 7 – 23; Schwan, „La Vie des anciens pères“ (Anm. 16), und Tudor, Tales of Vice and Virtue (Anm. 16), S. 15 – 24. 19 Niklaus Largier, „Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung“, in: Poetica, 37/2005, S. 393 – 412, betrachtet das Modell der Verführung des Antonius unter dem Aspekt von Präsenzeffekten und geht von einem phänomenologischen Verständnis der Sinne aus, „das gleichzeitig die Sinnlichkeit als Ort einer evozierten und produzierten ,diabolischen‘ Verführung und als Ort ,himmlischer‘ Transformation eröffnet.“ (S. 397, Hervorhebung von mir).
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scher Oppositionen und zum Umschlagspunkt der Handlung wird. Vor allem aber erlaubt das Motiv der Verführung – ähnlich wie das des Begehrens – beziehungsweise seine narrative Entfaltung, ein Erzählen auf der Grenze, ein Erzählen im Spannungsfeld von Oppositionen: ein erzählerisches Vor-Augen-Führen ihrer Grenzen und Überschreitbarkeit (aber eben nicht ihrer Überschreitung) und damit möglicherweise eine Öffnung oder zumindest eine Orientierung der erzählerischen Immanenz hin auf Transzendenz. Diese Überlegungen sollen an den beiden ,frommen Mären‘ Malaquin und Brlure entwickelt werden (II. und III.). Schließlich stellt die erotische Verführung ein Motiv dar, das sich auch in der höfischen Dichtung, insbesondere in der Schwanktradition, großer Beliebtheit erfreut, dort aber ganz andere Funktionen übernimmt. Insofern lädt es zum Vergleich von frommen und weniger frommen Kurzerzählungen ein – in diesem Fall Fornication imite und Das Gnslein – und führt zu Fragen nach den möglichen Unterschieden von religiöser und literarischer Kommunikation (IV.).
II Malaquin 20 und Brlure 21 spielen das Verführungsszenario in zwei Varianten desselben Handlungsschemas durch: Ein frommer Eremit, der vor der Welt in die Einsamkeit der Wüste (Malaquin) oder des Waldes (Brlure) geflüchtet ist, um dort ein Leben der Askese zu führen, steht im Ruch der Heiligkeit. Doch sein religiöses Virtuosentum22, das die Grenzen des Wahrscheinlichen überschreitet, provoziert einen bösen Heidenfürsten (Malaquin) und im andereren Fall eine verdorbene Frau (Brlure) dazu, den Eremiten auf die Probe zu stellen und zur Sünde des Fleisches zu verführen. An seine Grenzen getrieben widersteht der Eremit schließlich der Versuchung, indem er sich in einer heroischen Geste die Zunge abbeißt (Malaquin) oder vier Finger seiner Hand (Brlure) verbrennt.
20 La Vie des Pres, II, V. 10662 – 11079. Vgl. dazu auch Adrian Tudor, „Sexe et salut dans la première Vie des Pres“, in: Reinardus, 12/2002, S. 189 – 203; ders., Tales of Vice and Virtue (Anm. 16), S. 430 – 437. 21 La Vie des Pres, II, V. 13298 – 13723. 22 Zum Begriff des religiösen Virtuosentums vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 309 f.
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Beide Erzählungen gehen auf Episoden aus den Vitae Patrum zurück, doch unterscheiden sie sich von den lateinischen Vorbildern abgesehen von ein paar Details, auf die noch zurückzukommen sein wird, vor allem durch eine auffällige amplificatio der Verführungsszenen. Während Hieronymus im Vorspann zur Vita des heiligen Paulus, den er als ersten Eremiten feiert, in einem kurzen Abschnitt berichtet, wie im Rahmen der Christenverfolgungen unter Decius und Valerian ein junger Mann in der Blüte seiner Jugend mit Seidenstricken an ein Bett gefesselt und von einer schönen Prostituierten gereizt wird23, setzt der Erzähler der Vie des pres in Malaquin zu einer graduellen, dreifachen Steigerung der Verführung an: Einer Frau, bele et jonete, simple et cointe (V. 10837), die verführerisch mit ihrem Kopfschmuck wackelt (V. 10836 – 10859), folgt eine zweite damoisele, die den Eremiten nicht nur mit aufreizender Schönheit, sondern auch mit List (enging) in Form von verführerischen Komplimenten und pseudotheologischen Argumenten betört (V. 10860 – 10937). Genügte beim ersten Angriff noch der Gedanke an Gott, so hilft hier nur noch Flucht. Doch der Eremit wird aus seinem Versteck gezerrt, entblößt und mit Armen und Beinen an ein Bett gefesselt. Eine dritte Frau wird hereingeführt, die ihn mit Worten belagert (de parole bastonant, V. 10959) und nach der einleitenden Aufforderung „Regardez“ in einem detaillierten Katalog ihre Vorzüge vom Scheitel über den rosenroten Mund und die mameletes, j qui sont petites et duretes (V. 10968 f.) bis zum sorplus (V. 10970) anpreist und schließlich handgreiflich wird (V. 10938 – 11007). Nicht nur die Angriffe auf die Tugend werden immer intensiver und die Bildlichkeit immer expliziter, auch der Versumfang verdreifacht sich von 23 zu 69 Versen in der dritten Verführungssequenz. Die Episode wird durch Dialog belebt, mit rhetorischen Mitteln ausgeschmückt und mit sichtlicher Freude am Erzählen bis zum letzten ausgereizt. Widersteht der Eremit auch der Versuchung, so wird der Leser oder Hörer kaum den Verführungskünsten des Textes sich entziehen können oder wollen. Er wird sich aber angesichts dieser Erzähllust die Frage stellen, wie ,fromm‘ diese Erzählung noch ist und ob sie mit dieser amplificatio nicht weit über ihr erbauliches Ziel hinausschießt. Wie ist diese ausgeprägte erzählerische Lust an der Verführung zu erklären und in den Zusammenhang religiöser Kommunikation zu
23 PL 23,19 f.
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bringen? 24 Warum diese Faszination für den Körper? Versteht man das Erzählen von Verführung als ein Erzählen auf der Grenze, so erscheint der eremitische Körper als Schnittpunkt sämtlicher Grenzen, die das Spannungsfeld von Transzendenz und Immanenz semiotisch gestalten und den Text strukturieren: die Grenzen zwischen Wüste/Welt, Natur/Kultur, Jenseits/Diesseits, Sünde/Gnade, Erlösung/Verdammnis. Gleich zu Beginn der Erzählung wird die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz topographisch markiert und auf den Körper projiziert: En la Noire Montaigne ot ja un ermite qui s’i loja Por metre son cors a essil. l’ame ot chier et le cors vil. (V. 10718 – 10721) 25
Der christliche Körper wird als Zeichensystem lesbar, in dem sich der Grundkonflikt der christlichen Existenz verdichtet und in Paradoxien artikuliert.26 Der hässliche Körper des Eremiten steht im Kontrast zu seiner inneren Schönheit; den Deliz dels cors, den Freuden des sterblichen Körpers, werden die ewigen Freuden und die joie seinte im Paradies entgegengehalten.27 Unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet werden alle Werte radikal umgewertet. Insofern steht auch die Umbesetzung des schönen Jünglings aus den Vitae patrum in einen alten, hageren, vom Wachen und Fasten entstellten Eremiten im Dienst der narrativen Entfaltung der christlichen Paradoxie der Körper-SeeleDualität. Da man nicht von der Seele erzählen kann, muss man sich ihr vom Körper her nähern. „Cette représentation“, schreibt Jean-Claude Schmitt, „est fondamentale, puisque la double dimension de la per-
24 Zur Irritation dieses anscheinend widersprüchlichen Sachverhalts vgl. Tudor, Tales of Vice and Virtue (Anm. 16), S. 437. 25 ,In der Noire Montaigne lebte einst ein Eremit, der sich dorthin zurückgezogen hatte, um seinen Körper zu exilieren. Er schätzte seine Seele und verachtete seinen Körper.‘ (Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Altfranzösischen von mir). 26 Peter Robert Lamont Brown, The Body and Society: Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988. Christian Kiening, „Körper und Zeichen“, in: ders., Zwischen Kçrper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003, S. 179 – 198. 27 Grant delit et la grant joie j que Deus, li rois de paradis, garde et otroie (V. 10781).
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sonne, son double destin de mort de d’éternité sont la matrice de la représentation chrétienne du divin“.28 In einer Art Umkehrung des Kulturmusters der Inkarnation scheint der Eremit selbst die durch den Sündenfall entstandene Grenze zwischen Natur und Kultur überwinden zu wollen und tilgt an seinem Körper alle Reste von Kultur.29 Durch diese Abtötung von Kultur verdient er sich das Epitheton ,heilig‘, und von dem saint hermite wird behauptet, er lebe von nichts.30 Allerdings begibt sich der Eremit mit dieser asketischen Praxis der Auflösung der Unterschiede aber auch an die Grenze des Erzählbaren.31 So bedarf es der Intervention einer Außenfigur, um die Erzählung wieder in Gang zu bringen. Diese Figur ist der Heide Malaquin, der das Paradox christlicher Weltflucht aufdeckt: In einem Raum, in dem Grenzen und Differenzen verschwinden, provoziert er den Eremiten, bestehe keine Gefahr der Transgression und sei Enthaltsamkeit keine Tugend. Ein hohler, leerer Bauch sei für die Sünde der luxuria nicht anfällig, quar la char froide n’en a cure (V. 10759).32 Der wahre Beweis seiner Heiligkeit könne erst in der Welt erbracht werden.33 Schaffe der Eremit es, sündenfrei in der Welt zu leben, dann wolle er, Malaquin, seine Heiligkeit anerkennen. Das Argument überzeugt, und ermutigt durch eine göttliche Stimme nimmt der Eremit die Herausforderung an, verlässt sein Exil und begibt sich in den Palast seines Versuchers, der 40 Tage lang mit Wein und Fleisch und einem weichen Bett dessen Widerstandskräfte zu brechen hofft, bevor er die drei Frauen zu ihm schickt. Widerstehen kann der Eremit, in welchem die Differenz zwischen Leib und Seele wieder aufgebrochen ist, der 28 Jean Claude Schmitt, Le corps, les rites, les rÞves, le temps: essais d’anthropologie mdivale, Paris 2001, S. 39. 29 Sexualität ist in diesem Zeichensystem also gerade nicht der Natur (vor dem Sündenfall), sondern der Kultur (und somit der gefallenen Natur) zugeordnet. Wenn sich die zweite Verführerin in Malaquin auf Gott beruft, der Home et fem ensemble mist j por ce que li hom connest j la feme si con il dest (V. 10903 – 10905), und in Anklang an das biblische Et vidit Deus quod esset bonum formuliert „Tele assemblee bien avient“ (V. 10906), so verschweigt sie listig, dass diese Vereinigung erst nach der Vertreibung aus dem Paradies erzählt wird (Gen 4,1). 30 de neiant se vivoit, V. 10741. 31 Vgl. Strohschneider „Inzest-Heiligkeit“ (Anm. 14). 32 Weil das kalte Fleisch sich nicht darum kümmert. 33 Malaquin wirft dem Eremiten geradezu vor, sich in Nichts aufzulösen: Mes par ce vos en metez hors j que trop veilliez et jenez j si qu’a neiant le cors menez. j Mes se largement vesquissiez j et sanz pechi vos tenissiez, j je loaisse mout vostre vie (V. 10765 – 10771).
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letzten Versuchung nur, indem er sich auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen beruft und Gott aufgrund dieser Ähnlichkeit um Hilfe anruft: Deus rois qui tant m’amas, qui a ta forme me formas […] gardez si mon cors a cest tor que je ne perde vostre amor (V. 10980 f. und 10988 f.).
Nur indem er die Differenz zwischen menschlichem und göttlichem Körper nivelliert, gewinnt er die Kraft, sich die Zunge abzubeißen und auf diese Weise den Verlockungen der Welt standzuhalten. Dass ausgerechnet Erzählen auf der Körpergrenze zwischen Askese und Ekstase34 als Medium dienen kann, Transzendenz erfahrbar zu machen, scheint – dank des Kulturmusters der Inkarnation – eine spezifische Leistung religiöser (und christlich mittelalterlicher) Kommunikation zu sein. In der Moderne dagegen erschließen das Sprechen über Sexualität und die Erfahrung der Transgression einen ganz anderen – entgrenzten – Raum, in dem das Ich auf sich selbst und die eigenen Grenzen zurückgeworfen wird. In seinem Aufsatz „Préface à la transgression“ beschreibt Foucault Transgression als ein kulturelles Szenario der Moderne, das in der Aufklärung aus der Erfahrung von Gottes Tod und der Entdeckung des Unbewussten (ermöglicht durch das Sprechen über Sexualität) hervorgeht.35 Durch den Tod Gottes kommt es, so Foucault, zu einer Entgrenzung des Unbegrenzten, zu einem entgrenzten Reich der Grenze und der Grenzüberschreitungen, die eben nicht mehr Transzendenz, sondern nur ihre Abwesenheit erfahrbar machen.36 Insofern werden im Sprechen über Sexualität auch Epochengrenzen oder Paradigmenwechsel sichtbar: Ist das Strukturmuster der sexuellen Transgression im Mittelalter gerade ein privilegierter Ort, Transzendenz erfahrbar – oder zumindest erahnbar – zu machen (man denke insbesondere an die Hoheliedmystik), so führt es den modernen 34 Zu Ekstase und Askese als „Heilsmethodiken“ vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 22), S. 307 (Ekstase) und S. 311 f. 35 Michel Foucault, „Préface à la transgression“, in: ders., Dits et crits: 1954 – 1988, Bd. 1: 1954 – 1969, Paris 1994, S. 233 – 250. Vgl. dazu auch Gerhard Neumann, „Traum und Transgression. Schicksale eines Kulturmusters: Calderón – Jean Paul – E. T. A. Hoffmann – Freud“, in: ders./Warning (Hrsg.), Transgressionen (Anm. 3), S. 81 – 122. 36 Foucault, „Préface“ (Anm. 35), S. 235.
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Menschen an seine eigenen psychologischen und sprachlichen Grenzen.37
III Wird in Malaquin durch die Verdreifachung und graduelle Steigerung der Verführungsszene erzählerisch Spannung erzeugt, so geschieht dies in Brlure durch eine Ausdifferenzierung des Raumes, die Distanz und Nähe reguliert.38 Das Zeichensystem Körper ist hier in eine konzentrisch organisierte Raumsemantik eingebunden, die auf der Grundopposition von Welt (sicle) und Klause beruht. Mitten im Wald (en mi un bois, V. 13340), heißt es, hat sich der Eremit in seiner Zelle niedergelassen. Um sich vollkommen von der (Um)welt abzugrenzen, errichtet er zusätzlich noch einen Zaun (aceinte) und schafft damit einen autarken Raum, den er nicht mehr verlässt.39 Der Verführungsversuch der vom Teufel angestachelten Frau kann nun als eine gestaffelte Serie von Grenzverletzungen erzählt werden. Die Frau verlässt das Schloss und durchquert den Wald. Am Zaun bricht sie in ein Klagegeschrei aus, das den Eremiten aus seiner Zelle lockt. Aus Mitleid mit der Frau, die sich in der Nacht als verloren gibt, lässt er sie in seine Umzäunung herein, bereitet ihr vor der Zelle ein Strohlager und zieht sich dann wieder in seine Zelle zurück und schließt die Tür fest hinter sich zu.40 Als sie sich ausgeschlossen sieht, fängt sie von neuem an zu klagen und bittet den Eremiten, sie in seine Zelle einzulassen, da sie sich allein fürchte. Wieder bewegt ihn das Mitleid, sie 37 Foucault (ebd., S. 233), erkennt das erotische Potential religiöser Kommunikation: „Jamais pourtant la sexualité n’a eu un sens plus immédiatement naturel et n’a connu sans doute un aussi grand ‘bonheur d’expression’ que dans le monde chrétien des corps déchus et du péché. Toute une mystique, toute une spiritualité le prouvent, qui ne savaient point diviser les formes continues du désir, de l’ivresse, de la pénétration, de l’extase et de l’épanchement qui défaille; tous ces mouvements, elles les sentaient se poursuivre, sans interruption ni limite, jusqu’au cœur d’un amour divin dont ils étaient le dernier évasement et la source en retour.“ 38 Zur Raumsemantik in Brlure vgl. Tudor, „Sexe et salut“ (Anm. 20). 39 Une aceinte entor lui ferma j dedenz l’aceinte labora j ce dont il sostenoit son cors j por ce q’aller ne voloit hors (V. 13348 – 13351). 40 Der Text erwähnt gleich zwei Mal, dass die Tür geschlossen ist: […] dedenz sa ciaule s’en entra, j son huis ferma. Quant ferm l’ot j por versillier s’assist tantost. (V. 13501 – 13503) (Er kehrte in seine Zelle zurück und schloss und die Tür hinter sich. Als er sie geschlossen hatte, setzte er sich nieder, um Psalmen zu beten.)
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auch diese Grenze überschreiten zu lassen, setzt ihr aber zugleich klare Schranken: Amie, je l’otroi. Venez avant. Mes bien vos di j que vos n’i avrez ne que ci (V. 13535 – 13537).41 Vergeblich, denn sie setzt sich neben ihn und unterbricht seine Psalmenlektüre mit verführerischen Worten, die das eremitische Lebensideal in Frage stellen. Den Worten folgen Taten, die den Eremiten, genau wie in Malaquin, an seine Grenzen treiben, und nur die eigenhändige radikale Verletzung der Körpergrenzen – die Verbrennung seiner Hand – bewahrt ihn vor der sexuellen Transgression, die ihn das Seelenheil gekostet hätte. Die amplificatio der Verführungsszene dient also der wiederholten emphatischen Markierung der Grenze zwischen Heil und Verdammnis (hier in topographischer Codierung) und zugleich der erzählerischen Intensivierung: Die Annäherungsversuche der Frau folgen in abnehmender Distanz (von einer halben Meile über ein paar Meter und Zentimeter bis schließlich zur Berührung) und zunehmender Geschwindigkeit (von einer halben Wegstunde über Minuten bis hin zu Sekunden), so dass es zu einer dramatischen Steigerung kommt, die die wachsende innere Bedrängnis des Eremiten nachvollziehbar macht. Vor allem aber öffnet jede Grenzverletzung gerade durch die wachsende Bedrohung des Seelenheils den Ausblick auf das Transzendente, das den Fluchtpunkt alles Erzählens darstellt.42 Es ist zugleich irritierend und bemerkenswert, wie hier anscheinend versucht wird, mit rein immanent-erzählerischen Verfahren Transzendenz zu vermitteln. Das wird ganz besonders deutlich in der weitgehenden Verweigerung allegorisierender Sinnstiftung. Der Einsatz des erlösenden Verbrennungsmotivs liefert ein prägnantes Beispiel für diese erzählerische Abstinenz. In der Vitae Patrum-Fassung wird dem Eremiten die rettende Idee, seine Hand in die Flamme zu halten, von einem Psalmvers eingegeben (Ps 34,6), der als Hilfeschrei der bedrängten Seele die Opposition Licht-Dunkelheit allegorisch semantisiert.43 Erst nach dieser Eingebung zündet er eine Kerze an. Ein Vers aus dem Galaterbrief (Gal 5,21) öffnet schließlich die anagogische Perspektive auf das Jenseits und vor allem auf das Höllenfeuer, das den
41 ,Amie, das gestatte ich Euch. Kommt herein. Aber ich sage Euch, dass ihr nicht mehr erreichen werdet als das.‘ 42 So überrascht es auch nicht, dass Gott am Ende der Erzählung dem Eremiten die Tür zum Jenseits/Himmel öffnet: […] que Deus sa porte li ovri (V. 13722). 43 De Vitis Patrum Liber V, Libellus V, in: PL 73,883D f.
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Sündern des Fleisches bestimmt ist44, und verleiht dem Eremiten die Kraft zur mehrfach lesbaren Geste. In Brlure dagegen ist die Lampe nicht einfach allegorisches Hilfsmittel und Notbehelf zur Sündentilgung, sondern fester Bestandteil der erzählten Welt. Als sich die Verführerin bei Einbruch der Nacht an die Zelle des Eremiten heranschleicht, sieht sie ein Licht durch sein Fenster flackern und kann hören, wie der Fromme Psalmen betet.45 War die Nacht in den Vitae patrum das Dunkel der Gottlosen, so wird sie hier zur Kulisse einer voyeurhaften Szenerie. Als die Frau schließlich in die Zelle eingedrungen ist, setzt sich der Eremit in eine Ecke und stellt die Lampe vor sich, damit er weiter im Psalter lesen kann. Die Laterne ist hier nicht das Licht des Gerechten, sondern eine einfache Leselampe. Erst als die Verführungskünste der Frau den Eremiten so erhitzt haben, dass er sich nicht mehr zu helfen weiß, wird auch die Verbindung zwischen dem Feuer, das die Finger verbrennt, und dem, das die Lenden verzehrt, gemacht: Li feuz des doiz si le lia j que celui des reins oublia (V. 13622 f.).46 Der anagogische Sinn des Höllenfeuers weicht hier der einfachen Metapher, die seit der Antike die brennenden Liebesqualen bezeichnet. Der Erzähler der Vie des pres scheint an der eindringlichen Darstellung der Szenerie und an der realistischen Motivierung der Handlung mehr Interesse gehabt zu haben als an einem allegorischen Sprung, der geistigen Sinn sichert. Dass der geistige Sinn allein mit erzählerisch-immanenten Mitteln anscheinend jedoch nicht gesichert werden konnte, verrät das Nachspiel. Weder Malaquin noch Brlure bleiben bei der heroischen Selbstverstümmelungsgeste stehen, sondern fügen den Verführungsszenen jeweils eine Erzählsequenz an, in der Transzendenz nicht nur erzählerisch als Möglichkeit der Grenzüberschreitung erahnbar, sondern in einem Wunder (zumindest in der erzählten Welt) direkt erfahrbar wird: In Malaquin wächst die abgebissene Zunge wieder an, was den verstockten Heidenfürsten Malaquin dazu bewegt, Buße zu tun und den christlichen Glauben anzunehmen. In Brlure stirbt die Verführerin noch in derselben Nacht einen plötzlichen Tod. Als ihre Bekannten sie am nächsten Morgen tot in der Zelle des Eremiten auffinden, be44 Gal 5,21: invidiae, ebrietates, comissationes et his similia; quae praedico vobis, sicut praedixi, quoniam, qui talia agunt, regnum Dei non consequentur. 45 Et sa lanterne vit ardant (V. 12459). 46 Vgl. auch: sa main en sa lanterne mist j el feu ardant qui enz estoit j por l’autre q’oblier voloit (V. 13615 – 13617).
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schuldigen sie ihn des Mords durch Vergewaltigung und verurteilen ihn zu Tode. Da lässt Gott die Tote wieder lebendig werden und öffentlich ihren Verführungsversuch beichten. Damit ist der Eremit gerettet und die Frau auch, denn ihr wird eine zweite Chance gewährt, die sie dann auch zu Umkehr und Buße nutzt. Durch diese aufgepfropften Wunder verlagert sich aber auch der Sinn der Erzählungen. Sie sind nun nicht einfach eremitische Tugendproben, die Transzendenz im Erzählhorizont aufscheinen lassen, sondern Bekehrungswunder, in denen die Transzendenz – wenn auch nur punktuell – in die immanente Welt eingreift.47 Reichte in den Vitae patrum noch die heroische Geste der Selbstverstümmelung als Beweis der Überwindung des Weltlichen48, muss in den mittelalterlichen Texten das Wunder folgen und die institutionalisierten Handlungen der Bekehrung, Beichte und Buße einleiten.49 Es wird der Versuch gemacht, vom mirakulösen Ende her den narrativ erzeugten Sinnüberschuss aufzufangen. Die Wunder sind unmittelbare Zeichen, die die Geltung der Erzählung zu sichern versuchen und die Erzählung selbst zum Zeichen werden lassen – zum Exemplum, das zur frommen Nachfolge auffordert.50 Dazu tragen auch die Pro- und Epiloge bei, die
47 Vgl. Tudor, Tales of Vice and Virtue (Anm. 16), S. 437: „In Brlure, the core issue is not the heroic but human resistance of the hermit, rather the miracle of the resurrected harlot. This is also the case in Malaquin: although the motifs of food and sex occupy a great deal of narrative space, it is the edifying description of the conversions of a formerly evil pagan, thanks to the glory of God, that is the author’s fundamental goal.“ 48 In der Vitae Patrum-Vorlage von Brlure hält der Eremit den Verwandten, die ihn des Mordes beschuldigen, in heroischer Geste die verstümmelte Hand entgegen. Das Körperzeichen reicht als Beweis seiner Unschuld aus. 49 Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littrature franÅaise mdivale (des origines 1230), Genève 1967, S. 516 – 556. Zur Beichte vgl. Alois Hahn, „Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess“, in: Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie, 34/1982, S. 407 – 434; Jean Delumeau, L’aveu et le pardon: les difficults de la confession: XIIIe–XVIIIe sicle, Paris 1992. 50 Zum Exemplum vgl. Claude Bremond/Jacques Le Goff/Jean Claude Schmitt, L’exemplum, Turnhout 1982 (Typologie des sources du Moyen Age Occidental 40). Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Exempel und Exempelsammlungen, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2). Jacques Berlioz/Marie Anne Polo de Beaulieu (Hrsg.), Les Exempla mdivaux: nouvelles perspectives, Paris – Genève 1998 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 47).
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sämtliche Erzählungen des ersten Vie des pres rahmen und ihre Deutung durch Bibelzitate und Sprichwörter lenken.51 Die Wunder eröffnen aber zugleich einen neuen erzählerischen Spielraum. Denn wenn sie in überraschenden Wendungen den geistigen Sinn der Erzählung und ihre Geltung sichern, dann wird das übrige Erzählen von dieser Funktion entlastet. Das wird schon an der Ausweitung des Personals und der Schauplätze deutlich. Die Vie des presSammlung erzählt trotz ihres Titels längst nicht nur von asketischen Wüstenheiligen und Eremiten in der Waldeinsamkeit. Mehr als die Hälfte der 42 contes pieux aus dem ersten Teil spielen in der Stadt, am Hof und im Kloster und aktualisieren das Geschehen, indem sie es von der Spätantike in eine zeitgenössische Szenerie verlagern. Als Protagonisten treten Nonnen und Mönche, Kaufmänner und Wucherer, Ritter und Könige auf. Vor allem aber übernimmt Maria eine wichtige Rolle als Vermittlungsfigur zwischen Immanenz und Transzendenz, eine Vermittlung, die sich vor allem in einer Serie von medialen Transgressionen (belebte Statuen, Bilder) manifestiert.52 Dank ihrer Wundertätigkeit kann selbst noch der Sinn geradezu grotesker Erzählungen gerettet werden.53 So kommt es zu einer irritierenden Annäherung an die Schwanktradition, mit der die Vie des pres nicht nur das Personal und die Schauplätze teilt.
51 Die Überlieferung zeigt allerdings, dass die Verbindung von Erzählung und Rahmung nicht strikt festgelegt war. Schwan, „La Vie des anciens pères“ (Anm. 16), S. 235, weist etwa darauf hin, dass die Pro- und Epiloge den Texten in der Handschrift B.N. fr. 20040 aus dem 13./14. Jahrhundert ganz anders zugeordnet sind. Insofern scheint es weniger um textspezifische Leserlenkung zu gehen, als um die allgemeine Einbettung der Erzählungen in einen religiösen Kommunikationsrahmen. Die Erzählungen im zweiten und dritten Teil der Vie des pres haben keine Pro- und Epiloge mehr. Zur Funktion der Sprichwörter vgl. Elisabeth Schulze-Busacker, Proverbes et expressions proverbiales dans la littrature narrative du Moyen ffge franÅais: recueil et analyse, Paris – Genève 1985 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge). 52 Vgl. etwa die Erzählungen Renieur, Fou und Image de pierre. 53 So zum Beispiel die Erzählung Snchal. Zu den Marienwundern vgl. Bornäs, Trois contes franÅais du XIIIe sicle (Anm. 18), S. 7 – 15, bes. S. 12; Paul Bretel, Les ermites et les moines dans la littrature franÅaise du Moyen ffge (1150 – 1250), Paris – Genève 1995 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 32), S. 263 f.
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IV Schon der Titel der ersten Erzählung der Vie des pres, Fornication imite 54, lässt eher einen Schwank als ein erbauliches Exemplum erwarten.55 Die Gestaltung der Verführungsszene zieht denn auch alle Register einer schwankhaften Darstellung. Opfer der – diesmal erfolgreichen – Verführung ist ein junger, naiver Eremit, der zusammen mit seinem Bruder in die Stadt gekommen ist, um Weidenkörbe zu verkaufen. Arglos folgt er einer Frau nach Hause, die ihm für seine Ware eine ganz besondere Bezahlung in Aussicht stellt. Spätestens die Beschreibung der abseits gelegenen Absteige als locus amoenus bestätigt den Leser in seinem Verdacht. Doch der junge Eremit versteht erst, worum es geht, als es schon zu spät ist. Que vos iroie je contant, j ne la verit esloignant? (V. 141 f.) 56, kommentiert der Erzähler das verhängnisvolle Geschehen mit einer rhetorischen Floskel, bevor er ansetzt, die Verzweiflung und Reue des armen Betrogenen zu schildern. Doch trotz der Reue scheinen mit dieser lustvoll inszenierten Transgression auch Gattungsgrenzen überschritten. Die Verführung von erotisch naiven Opfern ist in der Tat ein beliebtes Motiv der Schwank- und fabliaux-Tradition.57 Während in der Regel junge Mädchen von erfahrenen Mönchen oder Rittern verführt werden, erzählt das Märe Das Gnslein genau wie Fornication imite den umgekehrten Fall eines unerfahrenen Mönchs, der durch eine Frau seine Naivität verliert.58 Die Szene sei kurz geschildert: Ein hübscher junger Mönch, der im Kloster aufgewachsen ist und von der Welt jenseits der Klostermauern nichts ahnt, darf seinen Abt auf eine Reise begleiten. Fasziniert fragt er bei allem, was ihm unter die Augen kommt, wie es heiße. So auch, als sie abends bei einer Bauernfamilie einkehren 54 Lecoy, La Vie des pres, I, V. 1 – 354. Vgl. dazu Tudor, Tales of Vice and Virtue (Anm. 16), S. 503 – 510. 55 Zu den tituli der Vie des pres vgl. Keith Busby, Codex and context: reading old French verse narrative in manuscript, 2 Bde., Amsterdam – New York 2002 (Faux titre 221), Bd. 1, S. 195 – 211. 56 ,Was soll ich euch erzählen, ohne mich von der Wahrheit zu entfernen?‘ 57 Per Nykrog, Les fabliaux, Genève 1973, S. 64 ff.; Hanns Fischer, Studien zur deutschen Mrendichtung, Tübingen 1968, S. 97; Fabliaux rotiques: textes de jongleurs des XIIe et XIIIe sicles, hrsg. von Luciano Rossi und Richard Straub, Paris 1992 (Livre de poche. Lettres gothiques 4532). 58 Novellistik des Mittelalters. Mrendichtung, hrsg. von Klaus Grubmüller, Frankfurt/M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), Text S. 648 – 664, Kommentar mit Literaturangaben S. 1237 – 1250.
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und der Mönch zum ersten Mal in seinem Leben Frauen zu Gesicht bekommt. Diz sint gense genant (V. 84), erklärt ihm der Abt und meint mit dieser Notlüge die Gefahr aus dem Weg geräumt zu haben. Doch da der Mönch nicht weiß, worauf er sich einlässt, lädt er die hübsche Bauerntochter, die in der Nacht frierend an seinem Bett steht, unter seine Decke ein und nimmt sich ,der Gans‘ mit Eifer an.59 Die sexuelle Transgression ist in beiden Fällen eine logische Folge der Tatsache, dass dies- und jenseits der Klostermauern nicht nur andere Sitten, sondern vor allem auch andere Sprachregelungen herrschen. Dadurch, dass die Dinge nicht bei ihrem Namen genannt werden und folglich ein Unterschied zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem aufbricht, kommt es zur Grenzüberschreitung. Diese Differenz erzeugt unweigerlich Komik, erzeugt Komplizenschaft zwischen Erzähler und Leser/Hörer und macht den erzählerischen Reiz der Episode aus.60 Für ein Erzählen, das im Dienst der Wahrheitsverkündigung steht, ist diese Aufspaltung jedoch eine Gefahr, stellt sie doch potentiell das eigene Projekt in Frage. Zentral bei den beiden Verführungsszenen ist entsprechend die Rahmung durch die Motive der Lüge und der Buße. In Fornication imite folgt auf die sexuelle Transgression schlagartig die Reue des Eremiten, der drauf und dran ist, jede Hoffnung auf Vergebung aufzugeben. Nur eine fromme Lüge seines Bruders rettet ihn, denn dieser gibt vor, sich ebenfalls mit einer Frau versündigt zu haben, und so tun die beiden gemeinsam ein Jahr lang Buße. Als sie schließlich in der sainte confession (V. 289) ihre Sünden beichten (der eine den Verstoß gegen das Keuschheits-, der andere gegen das Wahrheitsgebot), verkünden göttliche Wunderzeichen, dass alle Sünden ausgelöscht sind. Ein Epilog erhebt den treuen Eremiten, der seinen Bruder vor der Todsünde der Verzweiflung bewahrt hat, zum Exempel. Im Gnslein dagegen rettet die fromme Lüge des Abts nicht vor Sünde, sondern ist im Gegenteil ihre Ursache. Auf die Buße, die der Abt dem keineswegs zerknirschten Mönch auferlegt, folgt dementsprechend auch kein göttliches Wunder, sondern ein Erzählerkommentar: Nicht der Mönch, sondern der Abt sei 59 Der mench die gans brht j mit flze, wan in dht j im were wol und dennoch baz. (V. 157 – 159). 60 Vgl. dazu Johannes Klaus Kipf, „Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz. Zur Identifizierung komischer Strukturen in mittelalterlichen Texten am Beispiel mittelhochdeutscher Schwankmären“, in: Anja Grebe/ Nikolaus Staubach (Hrsg.), Komik und Sakralitt, Frankfurt/M. 2005 (Tradition – Reform – Innovation; 9), S. 104 – 128, zum Gnslein, S. 120 – 122.
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schuldig und müsse Buße tun.61 Statt der sexuellen wird hier also die sprachliche Transgression angeprangert. Der entscheidende Unterschied zwischen der frommen und der frivolen Erzählung wird so vom Ende her erkennbar. Während die Moral in Fornication imite versucht, den narrativen Sinnüberschuss diskursiv von den Außenrändern der Erzählung her einzudämmen62, untergräbt die Pseudomoral im Gnslein abschließende Interpretationsversuche, indem sie die Grenze plötzlich verschiebt, nach der das Erzählte zu beurteilen ist. Subversiv ist der religiöse Text jedoch auch, schließlich erhebt er eine Lüge zu einer höheren Wahrheit. Religiöses Erzählen kann jedoch dank seiner paradoxen Struktur Widersprüche weitgehend problemlos integrieren. Die Grenzen, die im Märe überschritten werden, sind eindeutig nicht „Grenzen zum Unerreichbaren“.63 Im Gegenteil, das, was jenseits der Grenze liegt, ist sogar überraschend einfach zu erreichen – ein wenig List und metaphorischer Wortgebrauch genügen schon, um sich der Unschuld eines naiven Mädchens oder Klosterbruders zu bemächtigen. Gerade Sprache wird dazu eingesetzt, Grenzen zu unterlaufen, zu verschieben, ja vorübergehend sogar aufzuheben. Das Gnslein erzählt oberflächlich eben nur von einem unschuldigen Mönch, der eine Gans streichelt. Der Skandal in Märe und fabliau erscheint somit vor allem als ein linguistischer.64 Die wiederholten komischen oder grausamen Transgressionen und Tabubrüche bleiben für die erzählte Welt ohne weitere Folgen, und die Entrüstung oder das Erstaunen des Lesers beziehungsweise Zuhörers weicht dem Lachen.65 Selbst Mord und Tot-
61 Doch wen ich er im unreht tet: j wan swaz er snden d gewan, j d was der apt schuldic an (V. 274 – 276). 62 Victor Millet, „Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen“, in: Wachinger/Ziegeler/Huber (Hrsg.), Geistliches (Anm. 14), S. 273 – 290. Ähnlich verhält sich die Problematik im Verhältnis von schwankhaften ,Kernmären‘ und geistlichen Rahmentexten bei Heinrich Kaufringer; vgl. dazu Michaela Willers, „Schwankmuster und deren Funktionalisierung in den Texten Heinrich Kaufringers (unter besonderer Berücksichtigung des Märes ,Die unschuldige Mörderin‘)“, in: Grebe/Staubach (Hrsg.), Komik und Sakralitt (Anm. 60), S. 129 – 140. 63 Luhmann, Die Religion (Anm. 6), S. 80. 64 Vgl. dazu R. Howard Bloch, The scandal of the fabliaux, Chicago 1986. 65 Vgl. den Abschnitt „Tabous et transgressions“ in: Dominique Boutet, Les fabliaux, Paris 1985, S. 64 – 86.
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schlag werden nicht bestraft.66 Insofern handelt es sich, mit Lotman gesprochen, bei Märe und fabliau auf Handlungsebene um sujetlose Texte67, denn die Episoden stellen kein „,revolutionäres Element‘ im Verhältnis zum ,Weltbild‘“ dar.68 Wenn man überhaupt bei fabliau und Märe von Ereignis sprechen möchte, dann von einem sprachlichen Ereignis.69 Transgression bleibt im Schwank eine reine Sprach- und Textfigur, die die erzählte Welt nicht aus ihren Angeln hebt, sondern ihr Räderwerk in Gang hält. Schwankhaftes Erzählen schafft auf diese Weise einen Freiraum, in dem gesellschaftliche und kulturelle Normen spielerisch verhandelt werden können und zumindest das Vergnügen sprachlicher Transgression vermitteln. Sujetlosigkeit zeichnet auch – bis zu einem gewissen und bezeichnenden Grade – die fabliaux dvots aus. Die Verführungsszenen in Malaquin, Brlure und Fornication imite, die aus moderner Sicht ereignishaft erscheinen, sind es in den mittelalterlichen Texten gerade nicht. Ja, selbst die Selbstverstümmelungen der Eremiten und der Tod der Verführerin in Brlure können in diesem Sinn nicht als Ereignisse gelten. Noch skandalöser sind Erzählungen aus den Vie des pres wie Snchal, Ivresse oder Fou, in denen sogar Morde angesichts der kirchlich institutionalisierten Erlösungskraft der Beichte auf der einen Seite und der Todsünde der desperatio auf der anderen ihre Sujethaftigkeit verlieren. Der Skandal der fabliaux dvots besteht vielmehr darin, dass immanente 66 Vgl. etwa das Mære Die drei Mçnche von Kolmar, in: Novellistik des Mittelalters (Anm. 58), S. 874 – 897. 67 Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Anm. 2), S. 329 – 340. Vgl. dazu, das Konzept kritisch kommentierend und weiterentwickelnd, Warning, „Die narrative Lust“ (Anm. 4), bes. S. 179 – 184; ders., „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“, in: Romanistisches Jahrbuch, 52/2002, S. 176 – 209. 68 Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Anm. 2), S. 339. Allerdings gilt es hier zu spezifizieren, dass es ausschließlich um das im Text konstruierte Weltbild und nicht das Weltbild einer gesellschaftlichen Schicht im Mittelalter gehen kann. 69 In dieser Hinsicht ist das Klassifikationsschema von Jodogne besonders interessant. Er unterteilt fabliaux in zwei Gruppen: Die Erzählungen, in denen Sprache (paroles – in Form von Metaphern, Auserzählen von Sprichwörtern, phonologischen, onomastischen und semantischen Missverständnissen usw.) das Hauptmotiv darstellt, und jene, in denen Handlungen (actes) im Mittelpunkt stehen (wobei auch hier zu beobachten ist, dass viele ,Handlungen‘, wie etwa Träume oder übernatürliche Ereignisse nur sprachlich erzeugte Illusionen bleiben). Omer Jodogne/Jean Charles Payen, Le fabliau et le lai narratif, Turnhout 1975 (Typologie des sources du Moyen Age occidental 14), S. 17 – 21, mit übersichtlichem Klassifikationsschema S. 19 – 21.
Transgression und Transzendenz in der Vie des Pres
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Skandale unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet sujetlos sind. Als religiöse Texte, die dem binären Code von Immanenz/ Transzendenz unterliegen, lassen sie nur das ereignishaft werden, was diese eine unverletzbare Grenze überschreitet.70 Das kann aber nur das Wunder sein, das Transzendenz – wenn auch nicht präsent macht – so doch zumindest in die Immanenz hineinragen lässt.71 Dieses Ereignis kann dann wahren Wandel erzeugen und zur conversio der Ungläubigen und Bösen führen. Von hier aus wird auch verständlich, warum die desperatio als schlimmste aller Sünden gilt: Der Verzweifelte verliert den Pol der Transzendenz aus den Augen, glaubt nicht mehr an die Überschreitbarkeit der Grenzen „in Richtung auf ein Anderes“72 und fällt somit aus dem Spannungsfeld religiöser Kommunikation heraus. Um eben dies zu verhindern, bieten die Erzählungen der Vie des pres ihre ganze erzählerische Überzeugungskraft auf, die sie gerade aus diesem Spannungsfeld beziehen und das sie durch spezifisch narrative Grenzziehungen, -verschiebungen und -überschreitungen mit gestalten. Die Dynamik, die diese Texte entwickeln, erwächst aus der Wiederholungsfigur des Wiedereintritts: die Grundopposition immanent/ transzendent wird immer wieder von neuem aufgemacht, in dem Verlangen, sich dem Pol der Transzendenz anzunähern. Die fabliaux dvots der Vie des pres teilen mit den Kurzerzählungen der literarischen Schwanktradition das Personal, Handlungsschemata, die abschließende (Pseudo-)Moral und vor allem das zentrale Element der erzählten und erzählerischen Transgression. Während die karnevaleske Grenzüberschreitung im fabliau die Handlung in eine komische Pointe umschlagen lässt73, die soziale Ordnungen offen legt, bricht in der frommen Kurzerzählung das Wunder über die immanente Erzählwelt herein und lässt auf diese Weise das Göttliche offenbar werden. Die Transgression ist bei beiden zentrales Handlungselement, als Textfigur
70 Bruno Quast, „Ereignis und Erzählung. Narrative Strategien der Darstellung des Nichtdarstellbaren im Mittelalter am Beispiel der ,virginitas in partu‘“, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie, 125/2006, S. 1 – 28, spricht von dem „Ereignis im emphatischen Sinne“ (S. 30) und vom „Ereignis schlechthin“. 71 Strohschneider, „Textheiligung“ (Anm. 14), S. 114. 72 Luhmann, Die Religion (Anm. 6), S. 77. 73 Zur therapeutischen Funktion der Komik vgl. Karin Becker, „Der Priester als Garant des Gelächters. Narrative Strategien des Komischen in den altfranzösischen Fabliaux“, in: Grebe/Staubach (Hrsg.), Komik und Sakralitt (Anm. 60), S. 64 – 75.
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von Merveldt, Transgression und Transzendenz
aber gewährt sie einen Blick auf jeweils grundsätzlich verschiedene Bereiche der mittelalterlichen Erfahrungs- und Bedeutungswelt.
Schwankende Formen Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken Hans Jrgen Scheuer Man muß sowohl witzig wie transzendierend sein, um eins von beiden sein zu können. (Ernst Bloch, Spuren)
I. Der Schwank und das System der Einfachen Formen In André Jolles’ Katalog der ,Einfachen Formen‘, die in ihrer Neunzahl ein „System […], eine abgeschlossene Reihe“ bilden1, fehlt der Schwank. Zwischen der ersten Position, der Legende, die das Heilige in Gestalt eines imitabile vorstellt, und der letzten Position, dem Witz, der „irgendein Gebundenes“ – also auch alles in einfachen Formen Gebundene – „entbindet“2, wird er nirgends zum Gegenstand der Konzeption. Das verwundert. Denn für eine Typologie, die ihr Inventar elementarer sprachlicher Denkmuster um den Begriff der „Sprachgebärde“ organisiert, scheint swanc wie geschaffen, erfasst das Wort die Arbeit der Sprache doch gerade im Ausdruck eines Gestus: als ,Schwung‘, ,Wurf‘, ,Stoß‘, ,Streich‘ oder ,Drehung‘.3 1 2 3
André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rtsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Mrchen, Witz, Tübingen 61982 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), S. 171. Ebd., S. 248. Zum Bedeutungsspektrum von mhd. swanc vgl. Hans-Joachim Ziegeler, „Schwank2“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin 2003, S. 407 – 410, hier S. 408. Bemerkenswert erscheint mir, dass und wie ein weiterer Theoretiker der Sprachgebärde das System der einfachen Formen erweitert sehen wollte. In seiner Rezension des Jolles’schen Buches schlug Max Kommerell vor, dem vorgestellten System zwei weitere Elementarformen hinzuzufügen: Gebet und Mimus. Beide Ergänzungen geben – wie Legende und Witz – die Pole an, zwischen denen sich, wie ich zeigen möchte, die
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Der Bezeichnung „Schwank“ am nächsten kommt Jolles in seinen Überlegungen zum Kasus, den er an „einer Grenze der Welt der Einfachen Formen“ ansiedelt: Zur diskursiven Seite des Kasus (seiner „Geistesbeschäftigung“) zählt er das Vergegenständlichen von Recht und Norm in Akten des Quantifizierens und Gegeneinander-Abwägens von Werten, zur performativen Seite (seiner „Sprachgebärde“) „das Schwanken und Schwingen der wägenden und erwägenden Geistesbeschäftigung“. Ausschlaggebend ist dabei für Jolles, dass sich die Zugehörigkeit des Kasus zum System der Einfachen Formen nur solange behaupten lässt, wie er die Entscheidung einer Normfrage nicht selbst trifft und den Impuls, „das Gleichgewicht zu finden“, nicht in einem Urteil oder Referenzwert stillstellt. Täte er dies, ginge er augenblicklich in einer „bezogenen Form“ auf, sei es in der exemplarischen Illustration einer praktischen Regel, sei es im lehrhaften Darstellen eines Begriffs: „Und so ist es […] die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird.“ Fortschwingen kann er dann nur noch, wenn der erledigte Fall durch einen neu ausholenden ersetzt wird: „kaum ist der Kasus entschieden, so erscheint schon wieder ein anderer, ja, sogar das Verschwinden des Einen verursacht das Erscheinen des Anderen“.4 Der Kasus operiert also in der Weise an der Grenze des Systems der Einfachen Formen (und ist daher kein Synonym für die spezifische dynamis des Schwanks), dass er noch in der Bewegung des Schwankens das Identitätsgesetz des Systems stabilisiert und immer von neuem ausbalanciert. Auch über den Witz dürfte es nicht möglich sein, dem Schwank eine Hintertür zu den Einfachen Formen zu öffnen. Zwar übertrug Max Lüthi die Jollessche These, dass jede „angestrebte Bindung […] unter gewissen Voraussetzungen an einem bestimmten Punkte entbunden werden und die Form des Witzes annehmen“ könne5, auf den Schwank. Er sei „als Gattung nicht ohne weiteres neben andere Erzählgattungen
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Amplitude der Schwankform aufbaut, wenn durch sie hindurch religiöse Kommunikation beobachtet wird. Vgl. Max Kommerell, „Einfache Formen von André Jolles“, in: Anzeiger fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 50/ 1931, S. 165 – 170; zum weiteren Kontext Ulrich Port, „Die ,Sprachgebärde‘ und der ,Umgang mit sich selbst‘. Literatur als Lebenskunst bei Max Kommerell“, in: Walter Busch/Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Max Kommerell. Leben – Werk – Aktualitt, Göttingen 2003, S. 74 – 97. Sämtliche Zitate bei Jolles, Einfache Formen (Anm. 1), S. 191. Ebd., S. 251.
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zu stellen, sondern als eine Möglichkeit jeder Gattung zu verstehen“.6 Doch anders als beim Schwank geht es beim Witz um das Lösen und Lockern der Spannungen, die das System zu zersprengen drohen, in einem einzigen Punkt, der Pointe. Was sie dabei freisetzt, wird sogleich wieder bündige und bindende Form, die den Riss im System, kaum dass sie ihn berührt hat, durch ihre „scharf umrissenen“ Figuren invisibilisiert: „Ausgehend von der Entbindung des Tadelnswerten, also vom Negativen, wird er [der Witz] durch die Freiheit, die er unserm Geiste bei dem Lösen einer Spannung gewährt, seinerseits bindend und schafft sich eine eigene positive Welt.“7 Max Lüthis problematische Definition des Schwanks als amplifizierter Witzform hatte weitreichende Folgen für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Begriff und für die Praxis der Interpretation einzelner Schwänke oder Schwanksammlungen. Sie führte dazu, dass dem Schwank letztlich jede eigene formgebende Qualität abgesprochen wurde, indem er sich entweder in einer gattungsübergreifenden Tendenz zur Parodie verflüchtigen sollte oder man ihn zum Sammelbegriff für bestimmte derb-komische Erzählinhalte erklärte. So nahm etwa Hanns Fischer Lüthis Urteil zum Anlass, mit „Schwank“ nur mehr „eine stoffliche Qualifikation“8 zu bezeichnen, und ließ die gestische Qualität auf ein bloß akzidentielles Merkmal des von ihm propagierten neuen Gattungsbegriffs mære schrumpfen.9 Als „schwankhaftes Märe“ oder „Schwank-Märe“ fristet seither die weit ausholende Sprachgebärde das Schattendasein des bloßen Indikators einer teils auf Listhandeln, teils auf derber Erotik basierenden Komik, die ganz im Feld mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Lachkultur aufzugehen scheint. Zugleich löste der Anschluss an den Witz den Schwank aus seiner überlieferungstypologischen Verbindung mit dem geistlichen (gele6 7 8
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Max Lüthi, Mrchen, 9., durchges. und ergänzte Auflage, bearbeitet von Heinz Rölleke, Stuttgart [u.a.] 1996, S. 13. Jolles, Einfache Formen (Anm. 1), S. 260. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Mrendichtung, 2., durchges. und erweit. Auflage besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 101, Anm. 16: „Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß ,Schwank‘ kein Gattungsterminus sein kann, weil das Wort nur eine stoffliche Qualifikation beinhaltet oder […] eine ,Möglichkeit jeder Gattung‘ bezeichnet.“ Das gestische Potential des Begriffs findet sich allenfalls in den von Hermann Bausinger isolierten narrativen Verlaufsschemata des „Ausgleichs-“, „Steigerungs-“ und „Spannungstyps“ wieder; vgl. Hermann Bausinger: „Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen“, in: Fabula, 9/1967, S. 118 – 136.
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gentlich auch juristischen) exemplum oder bspel, die nun als bloße Vorstufe einer allmählichen Emanzipation aus den klerikalen Kontexten seiner Genese betrachtet wurde.10 Die von Hermann Bausinger behauptete historische Teleologie der Schwankform etwa zielte auf deren vollständige Trennung vom „religiös-moralischen Überbau“11 und verlor so zusammen mit dem Gestus auch die Pragmatik der Form aus dem Blick.12 Die Folge dieser Reduktion war ein Kurzschluss auf den angeblich „reduktiven Charakter“ des Schwanks. Mit den Worten Jürgen Beyers, der sich auf Leo Spitzer beruft: Denn die sich im Schwank darstellende Geistesbeschäftigung „löst“ nicht nur einfach ein Gebundenes, sie löst es in immer gleichbleibender Richtung. Sie holt alles auf die Ebene des Menschlich-Allzumenschlichen, 10 In der neueren Mären-Forschung dagegen wird die Kurzerzählung nach dem Muster der Strickerschen Märendichtung überzeugend in den Horizont exemplarischer Rede gerückt; vgl. dazu Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Mre – Novelle, Tübingen 2006. Zur bspel-Überlieferung im Kontext der volkssprachlichen Predigt vgl. Hans-Jochen Schiewer, „,Ein mære ist daz‘. Narrative Exempla in der frühen deutschen Predigt“, in: Harald Haferland/ Michael Mecklenburg (Hrsg.), Erzhlungen in Erzhlungen. Phnomene der Narration in Mittelalter und Frher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 199 – 219; zum juristischen Gebrauchszusammenhang Norbert H. Ott, „Bispel und Mären als juristische Exempla: Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext“, in: Klaus Grubmüller/L. Peter Johnson/Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Kleinere Erzhlformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987, Paderborn [u.a.] 1988, S. 243 – 252. Zur philologischen Analyse einer Kleinepik-Sammelhandschrift im Zusammenhang vgl. Hans-Joachim Ziegeler, „Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtungen“, in: Volker Honemann/Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 469 – 526; sowie Franz-Josef Holznagel, „Wiener Kleinepikhandschrift cod. 2705“, in: Verfasserlexikon, Bd. 10, Berlin [u.a.] 1999, Sp. 1018 – 1024. 11 Hermann Bausinger, Formen der ,Volkspoesie‘, Berlin 1968 (Grundlagen der Germanistik 6), S. 145. 12 Die Begründung der Märenforschung durch Hanns Fischer lässt sich auch als Reaktion auf die Dekontextualisierung des Schwanks durch die morphologische Gattungstheorie verstehen. Was dabei durch die Sichtung der vielfältigen Überlieferungsverbünde in den großen Sammelhandschriften des späten Mittelalters gewonnen wird, geht jedoch an begrifflicher Schärfe verloren, wenn die Betrachtung geschlossener Formen durch offene Inhaltstypologien ersetzt wird.
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Kreatürlich-Irdischen, Drastisch-Niedrigen herab. Der Schwank kann nicht anders, als „menschliche Realität ohne Transzendenz“ zu zeigen.13
Der Schwank wurde so in letzter Konsequenz zu einer sozialen, ethischen und ästhetischen „Schwundstufe“14 der Literatur. Dafür spricht die Evidenz des ersten Blicks: Wo er auf ausgebildete geistliche Erzählmuster trifft (wie etwa in Legenden, Parabeln und Wundererzählungen), profaniert er ihren spirituellen Anspruch, indem er die Perspektive auf schiere Innerweltlichkeit verengt; wo er sich höfischer Werte annimmt, ersetzt er adlige Dezenz durch Brachialität. Insgesamt schien der Schwank daher „aus der Resistenz der Seele und dem Hang des Geistes zur Desillusionierung hervorgegangen“15 zu sein und im Zuge des Säkularisierungs- beziehungsweise des Zivilisationsprozesses (im Sinne von Norbert Elias) ein Ventil zur Abfuhr jeder Art normativen Drucks zu bieten. Mustergültige Interpretationen wie Jan-Dirk Müllers Lektüre der Halben Birne oder Peter Strohschneiders Neubewertung des Nonnenturniers sind auf diesem Weg weit gekommen16, ohne dass sich das freilich für eine Revision oder gar Wiederbelebung des Schwankbegriffs gegenüber Fischers terminologischem GenreKonstrukt, dem mære und seiner Typologie, ausgezahlt hätte.17 13 Jürgen Beyer, Schwank und Moral. Untersuchungen zum altfranzçsischen Fabliau und verwandten Formen, Heidelberg 1969 (Studia Romanica 16), S. 11. Zum Zitat im Zitat siehe Leo Spitzer, „Die Branche VIII des Roman de Renart“, in: Archivum Romanicum, 24/1940, S. 205 – 237, hier S. 216. 14 Kurt Ranke, „Schwank und Witz als Schwundstufe“, in: Helmut Dölker (Hrsg.), Festschrift fr Will-Erich Peuckert, Berlin 1955, S. 41 – 59, hier S. 41. 15 Ebd. 16 Vgl. Jan-Dirk Müller, „Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ,Halber Birne‘“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, 3/1984 – 1985, S. 281 – 311; Peter Strohschneider, „,Der tu˚rney von dem czers‘. Versuch über ein priapeiisches Märe“, in: Jeffrey Ashcroft/Dietrich Huschenbett/William Henry Jackson (Hrsg.), Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985, Tübingen 1987, S. 149 – 173. 17 Es geht mir hier nicht darum, das Verdikt Joachim Heinzles gegen den Gebrauch von mære als Gattungsbegriff zu wiederholen. Heinzle ist bekanntlich der Meinung, dass die beste Abhilfe gegen die Verstehensprobleme, die sich aus der terminologischen Aufwertung des unspezifischen mittelhochdeutschen Wortes ergeben, darin bestehe, dass man „sich entschlösse, den Begriff ersatzlos zu streichen“, ( Joachim Heinzle, „Kleine Anleitung zum Gebrauch des Märenbegriffs“, in: Grubmüller/ Johnson/Steinhoff (Hrsg.), Kleinere Erzhlformen [Anm.10], S. 45 – 48, hier S. 45). Ich möchte dagegen zeigen, wie eine Serie von Entscheidungen zu einem Forschungskonsens führte, der den Schwank bis
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Eine produktive literaturwissenschaftliche Verwendung fand der Begriff ,Schwank‘ unter psychohistorischer Perspektive allenfalls noch mit Blick auf seine Kompositbildungen: den Schwankroman und die Schwanksammlungen der Frühen Neuzeit. Werner Röcke hat seine Beobachtungen zur „Koinzidenz der Gegensätze von Göttlichem und Materiellem, Heiligem und Obszönem“18 freilich der „Besonderheit karnevalesker Komik“ zugeordnet. Sie sprenge „den Rahmen urbaner Festlichkeit“ nicht, sondern stifte eine „Lachgemeinde der Gebildeten“, „die sich damit ihrer Überlegenheit über die bauernschlaue Tölpelhaftigkeit anderer vergewissern“.19 Die Verkehrung religiöser Formen und Gehalte, die im Lachen dem alltäglichen mundanen Gebrauch zurückgegeben werden, interpretiert Röcke so als ein sozialpsychologisches Phänomen, nicht aber als Problem der Darstellbarkeit religiöser Sinnbildung selbst, für die das Radikalisieren des weltimmanenten Standpunktes und das Profanieren heiliger Gegenstände Funktionen eines Bemühens sein könnten, das Transzendente überhaupt zur Sprache zu bringen und die Bedingungen seiner Denkbarkeit vor Augen zu stellen.20 Im Hinblick auf die literarische Form ,Schwank‘ blieb daher ausgeklammert, was man mit Niklas Luhmann den Aspekt der ,religiösen Kommunikation‘ nennen könnte. Luhmann verbindet damit eine zum Punkt seines Austauschs gegen eine neue Begrifflichkeit auf die Bewegung des Schwindens festlegte, ohne dessen gegenläufige Tendenzen, die der Steigerung und des Aufschwungs, zu beachten. 18 Werner Röcke, „Aggression und Disziplin. Gebrauchsformen des Schwanks in deutschen Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts“, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Kleinere Erzhlformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 106 – 129, hier S. 119. Zur vollständigen Entwicklung des Begriffs ,Schwankroman‘ vor dem Hintergrund der Romantheorie Bachtins vgl. Röckes Habilitationsschrift Die Freude am Bçsen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Sptmittelalter, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6). 19 Röcke, „Aggression“ (Anm. 18), S. 120. 20 Erst in jüngster Zeit ist es unter narratologischen Vorzeichen zu einer Revision des Schwankromans gekommen, die den Kalkülcharakter der Schwankform und deren Anwendbarkeit auf die Beobachtung anderer Formen und kultureller Grundunterscheidungen, zumal religiöser, herausstellt. Vgl. Peter Strohschneider, „Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomischer Kulturmuster in Strickers ,Amis‘“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begrndungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Medivistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 64), S. 136 – 190.
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konsequente methodische Distanzierung von jeder Erklärung des Religiösen als eines Ensembles psychischer und sozialer Symbolisierungen, die insgesamt die Evolution eines religiösen Bewusstseins anhand seiner Inhalte (des Sakralen, des rituellen Gemeinschaftshandelns, des Heiligen/Numinosen) erfassen wollen. Stattdessen verschiebt er das Analyseinteresse von den anthropologischen Repräsentationen hin zur strikt an Form orientierten Frage, wie sich Sinnbildung beobachten lasse, wenn man mit der Grundunterscheidung von Transzendenz und Immanenz operiere. Dadurch hat das Verstehen es nicht länger mit sachlichen Gegebenheiten zu tun, die von vornherein determinieren, was gesagt werden kann und was nicht (beziehungsweise ob ein Text als ,geistlich‘ bezeichnet werden darf oder nicht), sondern mit der basalen Paradoxie der Möglichkeit und Aktualität von Formen, die das Unbeobachtbare kommunizierbar machen können. Luhmann hat in einer prägnanten Passage seiner Religionssoziologie konstatiert, „daß Sinn nicht beobachtet werden kann – ebensowenig wie das Licht“, um gleich darauf anzumerken: Hier drängt sich ein Hinweis auf den gothischen Kirchenbau auf, dessen Eigentümlichkeit nicht zuletzt darin besteht, nur gebrochenes, unterscheidbares Licht hereinzulassen und damit das Medium Licht sichtbar zu machen. Man könnte dies verstehen als Symbol dafür, daß die Religion beansprucht, Sinn beobachtbar und beschreibbar werden zu lassen.21
Für dieses Beobachterparadoxon findet sich eine paradigmatische Konstellation in der um 1110/1120 entstandenen Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi. Eingebettet in ein loses, aber durchkomponiertes Lehrgespräch zwischen pater/magister und filius/discipulus fächert sie ein Spektrum von Weisheitslehre und gleichnishafter Rede auf, zu dem neben der Unterweisung in der Ehrfurcht vor Gott (de timore Dei) am einen Ende am anderen Ende Beispielerzählungen vom Typ der listig die Ehe brechenden mala femina zählen. Vordergründig kommen diese Geschichten zwar als Warnungen vor Weiberlist daher, als mirabilia aber stacheln sie zugleich die Wissbegier des unerfahrenen Schülers nach den secreta mulierum an: Er kann von den anzüglichen Schwänken nicht genug bekommen. Dem Ziel der ethischen Ausbildung angehender clerici steht dieses Zugeständnis an die fragilis complexio hominis nicht im Weg, im Gegenteil: Sie bringt die Aufforderung des Autors im Prolog 21 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 16 mit Anm. 16.
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der Sammlung mit sich, genauer hinzusehen und immer wieder, immer intensiver und präziser zu lesen: Si quis tamen hoc opusculum humano et exteriori oculo percurrerit et quid in eo quod humana parum cauit natura uiderit, subtiliori oculo iterum et iterum relegere moneo […].22
Auf der Basis dieses Imperativs der Lektüre formt die Disciplina clericalis in Form einer Kompilation von Sprüchen, Exempeln und Schwankerzählungen das Problem der Beobachtung religiösen Sinns modellhaft aus: zum einen in der Differenz zwischen oculus exterior und oculus subtilior, zum anderen in der Iteration des iterum et iterum relegere. Die erste Unterscheidung übersetzt die Exklusionsbeziehung von Immanenz und Transzendenz zunächst in einen Prozess der Wahrnehmung. Er wird durch das weltzugewandte äußere Auge des Menschen angestoßen und von dem auf Transzendenz gerichteten geistigen oder inneren Auge verstetigt und sublimiert. Der dermaßen inkludierte Widerspruch wird sodann durch das relegere in einen zweiten Prozess intensivierten Denkens überführt, dessen ausdauernde meditatio Exklusion und Inklusion gleichermaßen zu beobachten erlaubt. Wenn Giorgio Agamben mit seiner etymologischen inventio zu lat. ,religio‘ das Rechte trifft, dann liegt darin das Wesen religiösen Sinns: Der Ausdruck religio kommt nicht, wie eine ebenso fade wie ungenaue Etymologie es möchte, von religare (das, was das Menschliche und das Göttliche zusammenbindet und vereint), sondern von relegere, das auf die Gewissenhaftigkeit und die Aufmerksamkeit, die bei den Beziehungen zu den Göttern walten sollen, und auf das besorgte Zögern (das Wiederlesen – relegere) vor den Formen – und Formeln – hinweist, an die man sich halten muß, wenn man die Absonderung zwischen Heiligem und Profanem respektieren will. Religio ist nicht das, was Menschen und Götter verbindet, sondern das, was darüber wacht, daß sie voneinander unterschieden bleiben.23
22 Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi (das lteste Novellenbuch des Mittelalters). Nach allen bekannten Handschriften hrsg. von Alfons Hilka und Werner Söderhjelm (Kleine Ausgabe), Heidelberg 1911, S. 2, Z. 16 – 18. Eigene Übersetzung: „Wenn jemand dieses Büchlein mit dem menschlichen und äußeren Auge durchlaufen und etwas darin gesehen haben sollte, vor dem sich die menschliche Natur zu wenig in Acht genommen hat, dann halte ich ihn dazu an, es mit dem feinsinnigeren (inneren) Auge immer wieder zu lesen.“ 23 Giorgio Agamben, Profanierungen, aus dem Italienischen von Marianne Schneider, Frankfurt/M. 2005, S. 71 f.
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Es ist für die hier zu untersuchende Form religiöser Kommunikation besonders aufschlussreich, dass Petrus Alfonsi die Bedeutung unausgesetzter re-lectio gerade an den von ihm verwendeten Schwänken herausstreicht. Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht hergeholt erscheinen, wenn in den folgenden Lektüren die religiösen Signale beim Wort genommen werden, die in vielen Schwankerzählungen als marginale und doch hartnäckig insistierende Einsprengsel oder Reste von Transzendenz erscheinen: Warum ist der Ehebrecher, den der Bauer unter der Bank herauszieht, ein Pfarrer (und offensichtlich nicht ersetzbar durch einen Knecht, einen Arzt oder einen fahrenden Studenten)? Wieso treten in einer Dreiecksgeschichte, die das komische Tableau eines Ehebruchs in Anwesenheit des Ehemannes bereits ausgeführt hat, unvermittelt Christus und der heilige Petrus in die Handlung ein? Was hat es damit auf sich, dass ein Ritter, der sich auf Anraten seiner Dame selbst kastriert, seinen abgeschnittenen zagel ausgerechnet unter der Stiege eines Klosters aussetzt, wo der Phallus ein Jahr später auf(er)steht und sich den Nonnen nach der Frühmesse zeigt? Und warum umrahmen in einer Wechselrede, die den Ehebund als eine nach Belieben kündbare und wieder erneuerbare „leere Form“24 erscheinen lässt, ein Marienvergleich und ein Hymnus den abschließenden coitus des Paares, als handle es sich dabei um ein (deplaziertes) liturgisches Geschehen? Lassen sich diese ,Motive‘ nur noch als Trümmer einer destruierten oder degenerierten Spiritualität verstehen oder vielleicht auch als Markierungen, entlang derer das iterum et iterum relegere die Form religiöser Kommunikation zum Schwingen und Schwanken bringt? Anhand einer Auswahl von vier Verserzählungen – Strickers Klugem Knecht, der Buhlschaft auf dem Baume, dem Nonnenturnier und dem Strickerschen Ehescheidungsgesprch – möchte ich zeigen, wie der Schwank sich als dasjenige Kalkül verstehen lässt, das an anderen Formen (wie dem bspel oder der Legende) sichtbar macht, aufgrund welcher diskursiven und performativen Regeln sie ihre Leistungen im Feld des Beobachterparadoxons religiöser Kommunikation erbringen. Dadurch dass der Schwank weder wie der Kasus eine Selbstauflösung ins Referentielle intendiert noch wie der Witz eine punktuelle Entladung im Gelächter anstrebt, faltet er die Paradoxie in den Konstruktions24 Walter Haug, „Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung“, in: ders./Wachinger (Hrsg.), Kleinere Erzhlformen (Anm. 18), S. 1 – 36, hier S. 17.
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prinzipien jeder Form exemplarischer Rede, auf die er bezogen wird, vollständig aus und ein. Mit Blick auf religiöse Kommunikation decken seine Operationen Elemente einer Formenlehre des Religiösen auf, indem sie die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz nicht binär, sondern – wie auf einem Möbiusband – in ein und derselben Dimension abbilden.
II. wrheit sehen Der prologus ante rem von Strickers Klugem Knecht 25 ordnet die Aufgabe des Erzählens ausdrücklich dem Problem der Beobachtbarkeit von Sinn zu. Er exponiert die Absicht seines Protagonisten, durch listiges Verbergen der Wahrheit seinen Herrn eben diese Wahrheit, den Treueund Rechtsbruch seiner Frau, sehen zu lassen, und spricht damit die eigene kommunikative Form an. Der Schwank will ein Exempel dafür geben, dass wrheit sehen stets auf den oculus subtilior angewiesen ist. Ohne solch höhere Beobachtungsgabe bliebe selbst die materielle Evidenz, die sich dem oculus exterior bietet, unbegreiflich. Umgekehrt kann der innere Sinn der Geschichte nur beobachtet werden, wenn er aus seiner Latenz hervortritt und sich an der narrativen Oberfläche bricht. Dieses Wechselspiel von Verhüllung und Enthüllung inszeniert der Stricker mit Hilfe eines bspel, das als Erzählung in der Erzählung und damit als zugleich eingeschlossenes und ausgeschlossenes Element der Handlung präsentiert wird: Ein Knecht bemerkt, dass die Frau seines Herrn ein heimliches Verhältnis zum Pfarrer pflegt. Jedesmal, wenn Bauer und Knecht in aller Frühe den Hof verlassen und von ihr ze acker und ze holze geschickt worden sind, lädt sie ihren Geliebten zum opulenten Mahl und vergnügt sich hinterher mit ihm. Da der Knecht fürchtet, durch seine Entdeckung den zorn seines Herrn auf sich zu ziehen und als illoyaler Verleumder seiner Herrin dazustehen, ersinnt er eine List, den Bauern mit eigenen Augen erkennen zu lassen, was hinter seinem Rücken geschieht. Er beginnt die täglichen Abläufe aus ihrem Rhythmus zu bringen, indem er vor dem Aufbruch erst ein großes Frühstück verlangt und dann auf halbem Weg zur Arbeit den Bauern unter dem Vorwand 25 Zitiert nach: Der Stricker, Verserzhlungen I, hrsg. von Hanns Fischer, 4., rev. Auflage bes. von Johannes Janota, Tübingen 1979 (Altdeutsche Textbibliothek 53), S. 92 – 109.
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verlässt, die vergessenen Fäustlinge und seinen Hut holen zu gehen. Zum Hof zurückgekehrt, versteckt er sich in einem Nebenraum der Stube, bis der erzürnte Bauer eintrifft, der, wütend über das Ausbleiben seines unzuverlässigen Knechts, gegen die Haustür schlägt, hinter der das Liebespaar kaum schon damit begonnen hat zu tafeln. Trotz der Überraschung gelingt es der Frau, den Pfarrer unter der Bank, die Spuren des Mahls aber an Orten verschwinden zu lassen, die sich der Knecht von seinem Versteck aus merkt. Als sie ihren immer zorniger werdenden Mann einlässt und den Grund seiner Wut erfährt, tritt der Knecht in die Stube und beschwichtigt seinen Herrn mit einer Ausrede. Den erneuten Aufbruch, den die Frau nach Kräften zu beschleunigen versucht, verzögert der Knecht mit der erneuten Bitte um ein Mahl, das die Hausherrin widerwillig auftischt und das entsprechend frugal ausfällt. Während des kargen Essens erzählt der Knecht die Geschichte von dem einzigen Fall, in dem es ihm nicht gelungen sei, Schaden von seinem Herrn abzuwenden. Durch diskret eingebaute Verweise auf die verborgenen üppigen Speisen (das Spanferkel, das feine Weißbrot, den Wein), die der Bauer gut gelaunt und mit wachsendem Appetit dort hervorzieht, wohin ihn das Erzählen des Knechtes führt, lenkt dieser die Aufmerksamkeit seines Herrn auf das Versteck des Pfarrers. Als der Bauer ihn sieht und die Wahrheit endlich selbst begreift, packt ihn der Zorn. Er bestraft erst den Pfarrer, dann seine Frau empfindlich und nachhaltig: er wart ir dar nch niemer mÞ j s rehte holt, als er was Þ (V. 301 f.). Dem Knecht aber schenkt er sein ganzes Vertrauen. Die moralisatio preist zum Abschluss das bewusste Verhalten des Knechts auf der Inhalts- und Handlungsseite der Geschichte lediglich als Exempel diskreter Klugheit (daz was allez hingeleit j gevege kndecheit, V. 335 f.). Das dem Knecht in den Mund gelegte bspel dagegen legt auf der Formseite des Erzählens die Bedingungen frei, unter denen Sinn kommuniziert werden kann. Unter dem Aspekt religiöser Kommunikation interessiert daher besonders die inserierte Erzählung, die danach zu überprüfen wäre, ob und wie die Differenz von ,immanent‘ und ,transzendent‘ in ihr am Werk sein könnte. In seinem bspel erzählt der Knecht, wie er einmal zu spät bemerkt habe, dass ein Wolf aus der Schweineherde seines früheren Herrn ein Ferkel gerissen habe. Daraufhin habe er einen großen Stein ergriffen und dem fliehenden Wolf damit eine blutende Wunde beigebracht, ohne dass er ihn hätte erjagen können, denn der Viehdieb habe sich im Unterholz verkrochen. Diese Erzählung ist zunächst fictio im engeren rhetorischen Sinne, ein künstlicher Beweis: Durch seine Verschlep-
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pungstaktik hat der Knecht aktuell den Verdacht auf sich gezogen, unzuverlässig zu sein; nun fingiert er eine Geschichte, mit der er dem Bauern das einzige Mal vor Augen stellt, bei dem er – noch dazu ohne eigenes Verschulden – seine huote-Pflicht gegenüber seinem Herrn verletzt habe. Das bspel wirkt also ex negativo: Als Ausnahme (exceptio) soll es die Regel der Zuverlässigkeit des Knechtes bestätigen. Zugleich wird diese Beweisführung aber immer wieder durch deiktische Aussagen unterbrochen, die einen direkten Bezug der Exempelrede zur Gegenwart von Bauer und Knecht herstellen. Was damals geschah, hat ein genaues Äquivalent im Hier und Jetzt: Der Wolf begreif ein wÞnigez swn. j daz was rehte als daz vrheln, j daz dort ffe lt gebrten (V. 225 – 227); der geworfene Stein was grœzer noch kleiner j wan als diu vochenz, j diu dort stt (V. 240 f.); das vergossene Blut schien vil volleclche als vil, j […] j als des metes in der kannen j die ir dort hinden sehet stn (V. 256 – 259); der im Unterholz sich versteckende Wolf schließlich sach vil rehte her wider, j als jener pfaffe iezuo siht j (der trwet ouch genesen niht), j der dort stecket under der banc (V. 276 – 279). Auf diesem Weg löst das bspel (das im wahrsten Sinne ,nebenbei Erzählte‘) die Peripetie der Haupterzählung aus, in die es eingebettet ist. Der Bauer versteht die Deiktika als Aufforderungen an den oculus exterior, Sinn in seiner konkretesten (und über weite Strecken nahrhaftesten) Form unmittelbar der Welt zu entnehmen. Dadurch setzt er eine Logik des Verstehens in Handlung um, wie sie dem exemplum etymologisch seinen Namen gibt, indem er nacheinander Ferkel, Brot und Weinkanne aus der Menge der um ihn versammelten Dinge ,herausgreift‘ (lat. eximere) 26, bis er schließlich auf das corpus delicti, den Körper des Ehebrechers selbst, stößt. Die Hermeneutik, zu deren Gebrauch der Knecht seinen Herrn anleitet, ist die einer radikal ausgestellten Weltimmanenz: Hunger und Wut sind innerhalb dieser Grenzen die wesentlichen Antriebe des Verstehens, die begriffenen Dinge können – exemplarisch für den transzendenzunfähigen Zusammenhang, dem sie entnommen werden – nur (wie das gefundene Fressen) verschlungen oder (wie der entdeckte Pfarrer) zerbleut werden. Dennoch erschöpft sich die Sprachgeste des bspel nicht in der Reduktion auf den Zeigegestus. Denn die Rede des Knechts ist ein
26 Vgl. Gerd Dicke, „Exemplum“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 534 – 537, hier S. 534.
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verdecktes Andeuten. Er spricht indirekt, verrätselt, in parabolis 27, indem seine Rede das Problem des Treuebruchs, das jeden Augenblick auf ihn zurückschlagen könnte, in die Vergangenheit hinein verschiebt und allegorisch-fabulös verkleidet: mit swem ich her gewesen bin daz man mn nie niht engalt wan ze einer zt […] (V. 216 – 218).
Insofern gilt, dass das Exempel die äußere Handlung des mære von innen aufschließt. Das geschieht im Modus der Allegorie, doch so, dass sie in einen ganz platten Litteralsinn mündet und das Herausgreifen des Ehebrechers ermöglicht. Genauso gut lässt sich die Richtung des Verstehens aber auch umkehren, insofern das mære von außen den Sinn des Exempels zu erkennen gibt. Denn mit der Entdeckung des Pfarrers manifestiert sich gegen den Buchstaben der Erzählung von der huoteVerletzung des Knechts in einem anderen, höheren Sinne seine exzeptionelle Treue.28 Man könnte also sagen, dass sensus litteralis und sensus allegoricus in Strickers Schwank ineinander hinüber- und herüberschwenken. Den vierten, entscheidenden Aspekt der Exempelfunktion eröffnen schließlich die Quantoren, die den Erzählgegenständen Ferkel, Stein, Blut und Wolf zugeordnet sind.29 Sie stellen das Verhältnis von ein27 Zur religiös-kommunikativen Dimension parabolischer Rede in der höfischen Epik vgl. Hans Jürgen Scheuer, „Hermeneutik der Intransparenz. Die Parabel vom Sämann und den viererlei Äckern (Mt 13,1 – 23) als Folie höfischen Erzählens bei Hartmann von Aue“, in: Steffen Martus/Andrea Polaschegg (Hrsg.), Das Buch der Bcher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und den Knsten, Bern 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 13), S. 337 – 359. 28 Möglicherweise spielt der Stricker auf das Gleichnis an, in dem der Mietling, der sich nicht um die ihm anvertrauten Tiere kümmert, wenn der Wolf kommt, distanziert wird vom Hirten, der den Dieb unter Einsatz seines Lebens abwehrt – dem Messias, der von sich sagt: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ ( Joh 10,14). 29 Vgl. Wolfgang Achnitz, „Ein mære als Bîspel. Strickers Verserzählung ,Der kluge Knecht‘“, in: Volker Honemann/Tomas Tomasek (Hrsg.), Germanistische Medivistik, 2., durchges. Auflage, Münster 2000 (Münsteraner Einführungen. Germanistik 4), S. 177 – 203. Wolfgang Achnitz macht in seiner Analyse des Textes die folgende, für meine Argumentation wichtige Beobachtung zur bspel-Funktion der eingebetteten Erzählung: „Bild- und Auslegungsteil werden nicht nacheinander, sondern ineinander verschachtelt dargeboten. Von diesen
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geschlossener und umschließender Erzählung als ein mess- und abwägbares dar. Die Formeln was rehte als – was grœzer noch kleiner – vil volleclche als vil – vil rehte als behaupten ein gleichnishaftes Kontinuum von Welt und Sinn, das sich nicht nur – wie für den Bauern – körperhaft real darstellt, sondern auch spirituell-intensiv. In entgegengesetzte Richtungen sich drehend, liegen beide sensus dennoch in derselben Dimension des Erzählens. Durch eine solche innere Drehung kann die Sinndimension der Welt über die materielle Identitätsrelation hinaus zur „Allegorealität“30 gesteigerter Bedeutungen gelangen: Das wÞnige swn, das der Wolf im bspel stiehlt, entspricht nach genus und species korrekt (rehte als) dem gerade angezeigten Spanferkel; die significatio des Verweiszusammenhangs zwischen swn (dem Zeichen des bspel) und vrheln (dem in der Welt Bezeichneten) bewegt sich noch auf der Ebene des sensus historicus. Doch der Stein des Exempels wird bereits mit Blick auf eine intensio formarum, ein mögliches Ansteigen des Sinnes (grœzer/kleiner), im Brot des mære vergegenwärtigt. Und noch einen Schritt weiter wird das Blut des Wolfes unter dem Aspekt der Fülle (volleclche) verwandelt in den Wein des Pfarrers. Mit anderen Worten: Die Hermeneutik, die in der Enthüllung solchen Zweitsinnes operativ wird, ist die der Allegorese und der Schriftsinnauslegung, die Immanenz und Transzendenz im Zeichen von Brot und Wein ineinander überführt. Sie kann sich vom Litteralsinn abstoßen und sich über die Stufen des Spiritualsinnes (allegoricus/moralis, tropologicus) zum sensus anagogicus, dem eigentlichen Heilssinn, aufschwingen, ohne doch das Auffliegen des zutiefst profanen Ehebruchs aus dem Blick zu verlieren und zu invisibilisieren. kontextbedingten Variationen abgesehen, könnte das, was der Knecht erzählt, ein Bîspel sein […]. Allerdings ergibt sich keine Analogie der Beziehungen, in denen die einzelnen Bestandteile von Bild- und Auslegungsteil zueinander stehen. Lediglich die Größen- bzw. Mengenangaben stimmen exakt überein. Deshalb wird man die Binnenerzählung des Knechts kaum als Bîspel bezeichnen dürfen; sehr wohl aber funktioniert sie nach dem ›poetischen Prinzip‹ des Bîspels.“ (S. 195) Aufgrund dieser Reduktion des Gattungs- auf einen Funktionsbegriff fokussiert Achnitz seine Interpretation auf die ordo-Problematik zwischen Herrn und Knecht, deren mustergültige Behandlung durch den klugen Knecht in seinem Gebrauch der Binnenerzählung zum Vorschein komme. Meine eigene Lektüre verschiebt die Perspektive dagegen auf die innere Faktur des Exempels und sieht gerade in der formalen Quantifizierung den Ansatzpunkt einer beispielhaften Qualifizierung religiösen Sinns. 30 Vgl. Peter Czerwinski, „Allegorealität“, in: Internationales Archiv fr Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 28/2003, S. 1 – 37.
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Die Komik der Entdeckung des Pfarrers wird erst vor dem Hintergrund dieser schwankenden Doppelbewegung der Erkenntnis ganz verständlich: Wo der sensus anagogicus dem Auslegungsschema nach ein Enthüllen der höchsten Erkenntnis erwarten lässt, zieht der Bauer einen Pfarrer unter der Bank hervor. Und doch bedeutet das kein bloß ironisches Dementi der Allegorese, als ob sie zur Mechanik einer durch nichts mehr gedeckten Deutungspraxis degradiert wäre. Denn in der komisch-unangemessenen Geste des direkten Zugriffs auf die Wahrheit ereignet sich, wenn auch in krude entstellender Verdinglichung, noch etwas anderes: die Möglichkeit einer religiösen Logik, unabhängig von präsupponiertem Weltwissen. In der Tat lässt sich hier nämlich, inkorporiert in der Gestalt eines Pfarrers, wrheit sehen. Sie ist als ein transzendierendes Moment genau in der Verschränkung von innerer bspel-Rede und äußerer Schwankerzählung durch das Simultaneisieren zweier widersprüchlicher Hermeneutiken beobachtbar geworden: nicht zwar für den Bauern, den Beobachter erster Ordnung, der über seinen Nebenbuhler bloß in Rage gerät, wohl aber für den Leser des Schwanks, der als Beobachter zweiter Ordnung die vuoge des Verstehensprozesses nachvollziehen kann.31
III. Das Beobachterparadoxon Mit dieser Teilung der Ordnung des Beobachtens ist die zweite wesentliche Geste religiöser Kommunikation nach der Grundunterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz angesprochen. Niklas Luhmann hat ihre paradox sinnproduzierende und -prozessierende
31 Klaus Grubmüllers Urteil, dass „Binnenerzählungen, wie sie der Stricker im ,Klugen Knecht‘ geschaffen […] hat, […] Leseanleitungen für Mären“ seien, findet sich so bestätigt. Allerdings müsste Grubmüllers Folgerung in utramque partem verstanden werden: „Die Geschichten, die dafür erzählt werden, bedürfen einer eigenen, von der als Erzähler agierenden Märenfigur erzeugten Realität – oder einer solchen Realität als Gegenüber, die sie ,realistisch‘ durchbrechen.“ (Klaus Grubmüller, „Schein und Sein. Über Geschichten in Mären“, in: Haferland/Mecklenburg [Hrsg.], Erzhlungen in Erzhlungen [Anm. 10], S. 243 – 257, hier S. 257). Das Durchbrechen des manifesten Erzählinhalts braucht nicht notwendig in Richtung Realitätsimmanenz zu verlaufen. Das in Anführung gesetzte ,realistisch‘ kann nämlich auch umgekehrt auf den Weg einer Realitätstranszendenz hinweisen.
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Funktion in seinem Aufsatz ,Sthenographie und Euryalistik‘32 anhand eines alten mytho-theologischen Exempels erläutert: der Geburt des Teufels aus dem Wunsch, Gott zu beobachten. In der Konfiguration von transzendenter Totalität und luziferischer Distinktion, die sich von ihrem göttlichen Ursprung absetzt, um in der Erkenntnis des Höchsten gleich zu werden mit Gott, ja, ihn durch Schönheit (des Denkens, der Theorie) noch zu übertreffen, spielt sich nach Luhmann die ,Urszene‘ des Beobachtens ab. Als erster Beobachter Gottes unterbricht der Teufel die reine Kontemplation und die liebende Versenkung der Engel in das göttliche Eine, Wahre und Gute und wird dadurch zu mehr als einer Emanation der göttlichen Herrlichkeit. Er zieht eine Grenze, über die hinweg Beobachtung allererst möglich wird. Die Folge ist bekannt: der Engelssturz des Prototheoretikers aus der Transzendenz in die Immanenz der Welt. Zugleich legt diese grundstürzende Ur-Teilung den Grund für die erkenntnistheoretische Position des Menschen, zu deren Beschreibung Luhmann unausgesprochen Anleihen bei Gregors I. Modell vom himmlischen Hofstaat, einer Art Soziologie der Himmel33, macht. Dieser präsentiert sich in zehn konzentrisch angeordneten Chören, deren letzter als peripherer in besonderer Weise auf den Mittelpunkt ,Gott‘ bezogen ist und nach Luzifers Fall mit Adam wiederbesetzt wird (Restitutionslehre). Das macht den Menschen zum Erben Lucifers und damit zu einem Beobachter zweiten Grades, der nun ebenso Rechenschaft ablegen kann über den Beobachtungsakt erster Ordnung, wie er als ausgeschlossener Dritter zur Einsicht in die ursprüngliche Einheit der Unterscheidung „Gott versus Luzifer“, „Transzendenz versus Immanenz“ befähigt wird: Durch den Teufel gehen ihm an binären Differenzierungen, wie etwa der Unterscheidung von ,gut‘ und ,böse‘, die Augen (genauer: die oculi subtiliores) auf. Das so gewonnene Urteil beobachtet das Beobachten Gottes als vom Teufel ererbte Sünde und ermöglicht darüber hinaus, das Dilemma Luzifers, der durch sein Be32 Niklas Luhmann, „Sthenographie und Euryalistik“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/M. 1991, S. 58 – 82, bes. S. 63 – 71. 33 Zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte des gregorianischen Modells auf die politische Theologie des Hoch- und Spätmittelalters vgl. Barbara BrudererEichberg, „Die theologisch-politische Bedeutung des Allerheiligenbildes im panegyrischen Lobgedicht an Robert von Neapel. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Herrscherikonographie“, in: Concilium medii aevi, 2/1999, S. 29 – 57 (http://www.cma.d-r.de/2 – 99/bruderer.pdf) (letzter Zugriff: 27.07.2007).
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gehren, wie Gott zu sein, der Verdammnis größtmöglicher Gottesferne verfällt, in eine operative Alternative umzuformen. Denn der Mensch kann aus seiner Position des Dritten heraus die konstitutive Paradoxie aller Erkenntnis des transzendenten Gottes als Versuch einer Beobachtung des Unbeobachtbaren durch moralisierende Vereinfachung und Rituale der Reinigung (wie Taufe, Beichte, Buße) ,invisibilisieren‘34 ; oder er kann die erkannte Differenz für weitere Unterscheidungen und Handlungskonsequenzen ,anschlussfähig‘ halten (sie etwa in Erzählungen fortspinnen, die der Beobachtung zweiten Grades immer neue Aspekte religiöser Sinnbildung abgewinnen). Beobachten als „Herstellung von Anschlußfähigkeit durch Unterscheiden“35 erzeugt anstelle der kontemplativen Paralyse der Engel oder des Absturzes Luzifers in die Hölle seiner Beobachter-Dilemmatik – je näher an Gott, desto entfernter von ihm – Möglichkeiten, die Grenze, die das Beobachten erster Ordnung zog, zu kreuzen und zugleich sie so zu bestätigen, dass Transzendenz als Folie fortgesetzter Differenzierung ins Innere des Systems eingeholt werden kann. Durch ein solches ,re-entry‘ wird sie systemimmanent als religiöser Sinn kommunizierbar. Indem dieser religiöse Sinn durch die Gesellschaft von „Bindungen an Logik und Erkenntnistheorie freigestellt“ wird, erlaubt er „einen Blick auf das Generieren von Formen [das heißt: von Unterscheidungen] schlechthin“.36 Es dürfte kein Zufall sein, dass Niklas Luhmann das zentrale erkenntnistheoretische Paradoxon seiner Systemtheorie an einem Modell vormoderner Theologie demonstriert. Denn wie alle modernen Theoriebildungen, die vor dem Traditionshintergrund einer Metaphysik totaler Thematisierbarkeit das Unbeobachtbare als Movens des Denkens wiederentdecken, lehnt sich auch die Systemtheorie an jene andere Wissenstradition an, die Roland Barthes einmal die „Geburtshelferin des Latenten“37 genannt hat: an das topische Denken. Deshalb ist es möglich, dass sich in mittelalterlichen Schwänken, die sich gerne stark schematisierter Stoffe und topischer Erzählmodule bedienen, Konfigu34 Nach systemtheoretischem Verständnis wäre diese ritualistische – im Extremfall sprachlos vollzogene – Lösung zwar als Handlung beschreibbar, doch ihrem Wesen nach eine verdeckte Form der Kommunikation: Kommunikationsverweigerungskommunikation. 35 Luhmann, Religion (Anm. 21), S. 34. 36 Ebd., S. 14. 37 Roland Barthes, „Die alte Rhetorik“, in: ders., Das semiologische Abenteuer, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1988, S. 15 – 101, hier S. 69.
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rationen finden, die sich wie fortgesetzte Illustrationen des Beobachterparadoxons ausnehmen. Einen der verbreitetsten Stoffe dieser Art bietet Die Buhlschaft auf dem Baume (in der ausgearbeiteten Fassung A) 38 : Ein Blinder unterwirft seine schöne Frau einem rigiden huote-Regime: Nachts hält er sie in Fesseln, bei Tage darf sie sich nicht außerhalb seiner Reichweite bewegen. Dennoch nimmt ein fahrender Student Kontakt mit ihr auf und vereinbart über ein brieflein ein Rendezvous an einer Linde, auf die er sogleich hinaufklettert. Die Frau beschreibt ihrem Mann den Baum als Apfelbaum, dessen Früchte sie zu ernten wünsche. Als der misstrauische Blinde mit seinem Stock die Richtigkeit ihrer Angaben überprüfen möchte, wirft der Schüler aus der Baumkrone einen Apfel herab. Da die Frau nach mehr Früchten verlangt, lässt sich der Blinde darauf ein, sie hinaufsteigen zu lassen. Unterdessen hält er den Baumstamm umfasst, um mögliche Rivalen davon abzuhalten, ihr hinterherzusteigen. Obendrein fordert er sie dazu auf, die Baumkrone kräftig zu rütteln, was das Paar zum Anlass für ein ungehemmtes Liebesspiel nimmt, bei dem viele Äpfel von der Linde fallen. Im Vorbeigehen erblicken diese Szene Christus und sein knecht sant Peter, der seinen Herr bittet, dem Blinden das Augenlicht wiederzugeben, damit er den schmählichen Betrug erkennen könne. Christus vollbringt das Wunder. Als der nun sehende Blinde das Paar im Baum mit dem Tode bedroht, möchte Petrus ein zweites Mal intervenieren und fleht Christus zur Verhinderung des Mordes um die erneute Blendung des rasenden Ehemannes an. Die List der Frau aber ist schneller: Sie erklärt ihr Tun mit dem Studenten ihrem Mann als einen Heilungszauber, dem er sein Augenlicht zu verdanken habe, und verleumdet Petrus als den eigentlichen Lügner und Nebenbuhler, der ihm das Sehvermögen wieder nehmen wolle. Daraufhin belohnt der Ehemann den Studenten und will mit dem Messer auf Petrus losgehen. Dieser ergreift die Flucht und beklagt sich bei Christus. Er bittet seinen herre got, dass er ihn an der verschlagenen Frau durch dein gepot (V. 242) rächen möge. Doch Christus verweigert die Bitte mit dem Hinweis, dass er für diese Sünderin bereit sei, sich noch einmal töten zu lassen. 38 Zitiert nach Die deutsche Mrendichtung des 15. Jahrhunderts, hrsg. von Hanns Fischer, München 1966 (Münchner Texte und Untersuchungen 12), S. 485 – 492. Zu den vielen international verbreiteten Varianten dieser materia und ihrer zur vielfältig umbesetzbaren Bildformel kondensierten Illustration siehe Gerd Dicke, „Das belauschte Stelldichein. Eine Stoffgeschichte“, in: Christoph Huber/Victor Millet (Hrsg.), Der ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5.–8. April 2000, Tübingen 2002, S. 199 – 220.
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Die Anspielung auf das Sündenfall-Szenario ist auf Anhieb sichtbar: Der Schwank verlegt es in ein anderes, künstlich präpariertes Paradies, wo es zu Umbesetzungen kommt, die den Inhalt des biblischen Mythos von der Bewusstwerdung des Menschen umschreiben auf logisch-formale, durchweg paradoxe Konfigurationen des Beobachtens und sich daran anschließender Urteile und Handlungen. Im Zentrum dieser Umschrift39 der Paradieserzählung von Bewusstsein auf Kommunikation – man könnte auch sagen: von Sünde auf kommunikativen Sinn – steht an der Stelle Adams ein Blinder und an der Stelle des Baumes der Erkenntnis (mit seinen verbotenen Früchten) eine Linde (als Asyl der verbotenen minne). In einer pointierten Inversion des Augenblicks der Erkenntnis im Garten Eden reicht nun der sehunfähige Adam den ersten gefallenen Apfel seiner längst schon gewitzten Eva, die mit dem Scholaren sogleich zur sexuellen Seite des biblischen Erkennens übergeht. Bei dieser primären Konfiguration einer Dreiecksgeschichte scheint sich alles darum zu drehen, Listhandeln in Szene zu setzen: Unter dem Schutz des Apfelbaum-Simulacrums löst die Erzählung die klassische Aufgabe, einen Ehebruch im Beisein des Ehemannes witzig zu erzählen, indem sie den Augenblick, als Adam und Eva die Differenz zwischen ,gut‘ und ,böse‘ aufging, ins Tableau des blinden und zusätzlich verblendeten Hahnreis überführt. Allerdings bleibt es nicht bei der Paradies-Parodie: Die Ebene der Listhandlung wird durch das Einziehen einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung überboten. Mit dem Auftreten Christi und seines Schülers Petrus wird das Dreieckstableau erweitert um die Dimension der Transzendenz, die sich in der Handlung wundertätig, in der Kommunikation aber komplexitätssteigernd bemerkbar macht.40 Formal 39 Zu diesem weiteren zentralen systemtheoretischen Konzept vgl. Peter Fuchs, Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien: ,japanische Kommunikation‘ und ,Autismus‘, Frankfurt/M. 1995. 40 Genau in dieser Unterscheidung zwischen Handlung und Form liegt der Grund, weshalb Alwine Slenczkas Dissertation Mittelhochdeutsche Verserzhlungen mit Gsten aus Himmel und Hçlle, Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5) im Ansatz fehlgeht. Von „Gästen“ ließe sich nämlich nur dann reden, wenn man von einer historischen Formation des Bewusstseins ausginge, das die heiligen oder diabolischen Figuren als Fremdkörper aus einem rein inhaltlich bestimmten ,geistlichen Diskurs‘ betrachtet, von dem die Kommunikationen des Schwanks von vornherein ausgeschlossen sind. Aus dieser Perspektive ließen sie sich allenfalls unter den Darstellungslizenzen der Kritik, der Ironie oder der Parodie einer Intention auf Uneigentlichkeit zuschreiben. Da Literatur aber, als Kommunikation betrachtet, keine
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entsteht so die Konfiguration zweier Paare, deren Interaktionen über den blinden Fleck, die Figur des Ehemannes, vermittelt werden. Seine zunächst scheinbar eindeutige Position als Hahnrei wird zur Schaltstelle der Paradoxie: Zum einen erhält er nämlich durch die Intervention des Petrus bei Christus seine Sehkraft zurück, damit er mit eigenen Augen die flagrante Verletzung seiner Ehre durch das sündhafte Verhalten des ersten Paares erkennen möge. Zum anderen sähe Petrus das Wunder am liebsten gleich wieder rückgängig gemacht, weil die nun möglich gewordene Beobachtung die Verblendung nicht etwa aufhebt, sondern verdoppelt: im drohenden blinden Gewaltausbruch des Ehemanns (lug j und went disen ungefug j […] disen mort, V. 160 f.), der unter dem Eindruck des erkannten Betrugs vom schwächlichen Hahnrei zum starken ries (V. 152) mutiert, und in der Rechtfertigung des klugen wbes. Denn sie erklärt durchaus zutreffend, dass ihr Verhalten auf dem Baum das Wunder des Augenöffnens durch das himelisch kint (V. 168) allererst hervorgerufen habe und dass die Wut des Betrogenen statt dem schler auf der Linde eher Petrus gelten sollte, weil der dem wieder Sehenden den Rückfall in die alte Blindheit gewünscht habe. Daraus ergibt sich das Oxymoron eines sehenden Blinden, der den Ehebruch sieht, ihn zugleich aber auch nicht sieht, da er ihn als Welt und Leiden transzendierendes Heilungs- und Reinigungsritual versteht, für das er den schler noch reichlich mit Geld belohnt. Umgekehrt erkennt er in Petrus den Gegenspieler, nicht aber den heiligen Repräsentanten der Transzendenz und geht deshalb mit dem Messer auf ihn los. Insgesamt entspräche dieses Kippkalkül der ersten Alternative einer Beobachtung zweiten Grades: einer vollständigen Invisibilisierung der ursprünglichen Dreiecksgeschichte. Die zweite Alternative, die durch Fortschreibung der Paradoxie den Blick auf das Erzeugen religiöser Kommunikation erlaubt, formiert sich in der Relation zwischen Christus und der Ehebrecherin. Keineswegs ist dieses Verhältnis charakterisierbar durch die Resignation des Erlösers an Gäste kennt, sondern lediglich Formen der Unterscheidung, kommt es beim Verstehen der religiösen Kommunikationsleistung von Schwank und bspel darauf an, ihre innere Paradoxie und diejenige ihrer Anschlusskommunikationen ernstzunehmen: auch und gerade dann, wenn ihr Zustandekommen äußerst unwahrscheinlich erscheint und ihnen auf Seiten des historisch vorauszusetzenden Bewusstseins kein sachlich-positives Korrelat entspricht. Die daraus resultierenden Irritationen sind schlicht Folge des Umstands, dass Kommunikationen aus systemtheoretischer Sicht eben keine Bewusstseinsinhalte abbilden, sondern das Erzeugen von Sinnformen beobachtbar machen.
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der Verworfenheit der Welt oder an der Bösartigkeit von Frauenlist.41 Vielmehr zeigt Christus sich bereit, eher seinen Opfertod zu wiederholen als dem Drängen des Petrus auf eine himmlische Bestrafung der Frau für ihren Betrug und für ihre Anstiftung zum Mord nachzugeben. Daran wird zweierlei sichtbar: Zum einen läuft Petrus mit seiner Unterscheidung von ,gut‘ und ,böse‘ ins Leere. Er sieht mit Hilfe dieser Differenz lediglich die strafwürdige Sündhaftigkeit diser bçsen haut (V. 237), nicht aber, dass er bei seiner Insistenz auf Rache eine andere Differenz übersieht: In einem wörtlichen Sinn nämlich sind beide Aussagen der Frau über die Wunderheilung und über das von Petrus erwünschte neuerliche Erblinden des Mannes wahr. Dagegen verhält sich Christus wie ein Beobachter zweiten Grades, der seine Operationen in der Welt auf Anschlussfähigkeit anlegt: Er löst sich aus dem Dilemma, nach dem eigenen Gebot eine Frau bestrafen zu müssen, die nur wahre Aussagen macht, indem er aus der Position des Erlösers, der die Welt immer wieder – iterum et iterum – erlösen würde, seine Beobachtung nicht von der Unterscheidung ,Schuld‘/,Unschuld‘ leiten lässt. Denn diese Unterscheidung wird ja durch den Erlösungsakt (immer wieder) transzendiert. Der Christus des Schwanks braucht daher lediglich exemplarisch (bspel-haft!) die besondere Beziehung zu unterstreichen, die der Christus des Evangeliums bekanntlich zu Ehebrecherinnen und Prostituierten unterhielt, und schon muss zwischen gut und böse nicht mehr entschieden werden. Die Ursache der Irritationen moderner Interpreten darüber, dass die Erzählung keinen Hinweis auf einen Akt der Reue enthält und damit eine conversio der Sünderin ausklammert, markiert präzise die Zäsur der Umschrift von Bewusstsein auf Kommunikation: Die hyperbolische Aussage Christi – ee ich sie ließ in nçten, j ich ließ mich noch eins tçten (V. 249 f.) – im Verein mit dem Ausbleiben der conversio sichert dem Schwank Anschlussfähigkeit weiterer Kommunikationen, insofern der Prozess der Erlösung ad infinitum fortgesetzt werden kann. Innerhalb des 41 So etwa Klaus Grubmüller, der in seinem Kommentar zum Text vom „Zynismus der deutschen Version“ spricht und meint, dass dort „der Herrgott seinem Begleiter die geistesgegenwärtige Verschlagenheit der Frauen vor Augen führt, die sie sogleich eine Ausrede finden läßt.“ Deshalb stellt er die Buhlschaft auf dem Baume „mit dieser satirisch-kritischen Tendenz in die Reihe der für das 15. Jahrhundert durchaus typischen Mären, die die Welt als ungeordnet und böse zeigen“. (Novellistik des Mittelalters, hrsg., übers. und komment. von Klaus Grubmüller, Frankfurt/M. 1996 [Bibliothek deutscher Klassiker 138, Bibliothek des Mittelalters 23], S. 1118).
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Schwanks und seiner Topik der Beobachtung wird er jedenfalls durch nichts und niemanden mehr aufzuhalten sein. Denn durch den wundertätigen Eingriff Christi scheinen alle in die Ehebruchsgeschichte involvierten Figuren erlöst – der Ehemann von seiner Blindheit, der Scholar von seinem Geldmangel, das wp vom Vorwurf durchtriebener Lügenhaftigkeit –, während dem Schüler des Herrn eine handfeste Lehre erteilt wird über jene Gerechtigkeit, die nicht von dieser Welt ist, aber in dieser Welt sich paradox manifestiert (und ja auch ihn, den aus der Passionsgeschichte bekannten Lügner und Verleugner Christi, schon einmal entschuldet hat). Mag diese Schwankkonstruktion – ein Messias als Verwaltungstechniker der Erlösung, der nicht mehr die Sünde des Menschen sieht, sondern nur darauf schaut, dass sein System möglichst reibungslos in perpetuum weiterläuft – theologisch auch nicht unproblematisch sein, so ist sie doch eine literarische re-lectio religiöser Sinnproduktion, die durch das Erzählkalkül des Schwanks als Problem der Beobachtung zweiter Ordnung charakterisiert wird.
VI. exceptio – exemplum Die Sprachgebärde des Schwanks, so könnte man resümieren, erfasst nicht nur den Abschwung in die Niederungen menschlicher Schwäche und Arglist. Als Denkform, mit deren Hilfe andere (zumal Einfache) Formen beobachtet werden können, führt sie vor, mit welchen Leitdifferenzen die exemplarische Rede jeweils operiert und wie sie ihre Unterscheidungen so ineinander überführt, dass der Eindruck der Einfachheit, Geschlossenheit und Identität von Erzählung (sensus litteralis) und Bedeutung (sensus allegoricus) entsteht. Im Kontext religiöser Kommunikation werden parabolische und legendarische Formen dadurch dezentriert und ins Schwanken gebracht, dass alle Erzählelemente in der Doppelbelichtung der Differenz von ,transzendent‘ und ,weltimmanent‘ betrachtet werden. Das geschieht so, dass der Schwank, auch wenn er wie in der Buhlschaft mit der Möglichkeit von Wundern spielt, stets den Standpunkt nackter Innerweltlichkeit einnimmt und forciert. Dadurch zwingt er das Transzendente, sich unter den Bedingungen reiner Weltimmanenz zu zeigen. Es kann sich aber nur Zutritt zur Ordnung des oculus exterior verschaffen, indem es sich seiner subtilen, ungreifbaren Geistigkeit entäußert, sich materialisiert und in der Welt inkorporiert. Das Ergebnis ist sowohl das Ablegen jeglichen offen behaupteten geistlichen Sinns als auch dessen unter den profanen Ver-
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körperungen verborgene Potenz, die Grenzen der Welt aus ihrem Inneren heraus zu überschreiten. Religiöse Kommunikation tritt im Schwank immer dort zutage, wo diese Potenz inmitten der dargestellten Welt in komischer, grotesker oder obszöner Inkommensurabilität und Verstelltheit erkannt wird. Ein besonders krasses Beispiel für die Denkfigur eines solchen entstellten und verkappten Wiedereintritts ausgegrenzter Transzendenz ins Innere der Welt bietet der Schwank Der tu˚rney von dem czers, bekannt unter dem ins scheinbar weniger Anstößige verschobenen Herausgebertitel Das Nonnenturnier: Ein Ritter, Favorit der Damenwelt und Turnierchampion, gibt dem Werben einer Dame nach und lässt sich auf das freuden spil der Nacht ein unter der Bedingung, dass er sich am nächsten Morgen entfernen darf, ohne wiederzukehren. Am nächsten Tag droht die Dame dem sich verabschiedenden Ritter, ihr Schweigen über die Affaire zu brechen und ihn als Mann zu swachen. Mit List überzeugt sie ihn davon, dass sein Erfolg bei den Frauen größer wäre, wenn er sich sein unkontrollierbares Glied abschneiden würde, das sich stets zwischen ihn und die Frauen dränge. Überzeugt von dem Argument, kastriert er sich nach einem kurzen Streitgespräch mit seinem zagel, der seiner Abtrennung zustimmt als Probe aufs Exempel, welchem under uns baß geschehe (V. 202). Nachdem der Ritter den abgeschnittenen Penis unter der Stiege eines Nonnenklosters deponiert hat, will er seiner Dame den Erfolg melden. Daraufhin schreit sie die Schande des Entmannten heraus: Der Ritter wird von einer Frauenschar aus der Stadt Saraphat vertrieben und fristet seine letzten 34 Jahre verlassen in einer Höhle in der Wildnis. Nach einem Jahr verborgenen Dahinvegetierens entschließt sich unterdessen der zagel, sich den Nonnen nach der Frühmesse zu zeigen. Der Konvent reagiert erst schockiert, dann zunehmend fasziniert: Jede Nonne wünscht sich das Genital in ihrer Zelle. Um die Besitzansprüche zu klären, schlägt die Äbtissin vor, ein Turnier um den Preis des zagel zu veranstalten. Dabei löst sich die Ordnung des Klosters so weit auf, dass die internen Rangunterschiede ebenso aufgehoben werden wie die Differenz zwischen Nonnen und den klostermaid. Erst als der auf einem Kissen drapierte zagel entwendet wird und die müdegekämpften Frauen erkennen, dass Þre und zuht ihrer Gemeinschaft darniederliegen, entschließen sie sich, ihren kriec zu beenden und ein Schweigegelübde abzulegen. Die Reaktionen der Forschung auf diese Geschichte folgen den skizzierten Fluchtlinien der Schwank-Diskussion: Vom Vorwurf in-
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kohärenten Erzählens über das moralische Verdikt, solches Erzählen führe „offen ins Chaos hinein“42, bis zur Entdeckung einer psychischen oder psychosozialen Struktur im Rahmen des Zivilisationsprozesses führt ein beschwerlicher Weg zur Beobachtung des Offensichtlichen: der literarischen Form. Erst in Peter Strohschneiders „Versuch über ein priapeiisches Märe“ wurde dieses Offensichtliche – die Zweiteiligkeit des Schwanks – als wesentlich für dessen narrative Sinnbildung beschrieben: Die Zweiteiligkeit des Textes ist indes nicht nur sein augenfälligstes Merkmal, sondern auch gleichsam die strukturelle Konsequenz eines Handlungsvorgangs, nämlich der Zweiteilung des Protagonisten. Die im Zentrum des ersten Märenteils stehende Kastration allerdings erscheint dadurch, daß dem Penis des Ritters im zweiten Teil eine eigene Geschichte zukommt, weniger als ein Akt der Verstümmelung, sondern vielmehr als ein Akt der Aufspaltung: als Zerlegung einer ohnehin prekären Einheit.
Dass die prekäre Einheit in der „Teilung des ritterlichen Subjekts“ als „Indiz einer Identitätsproblematik“ gelesen werden kann, „die sich auf der strukturellen Ebene des Textes in seiner Zweiteiligkeit abbildet“43, mag zutreffen, ist freilich bereits wieder eine inhaltliche Festlegung des formalen Befunds. Denn der Erkenntnis, dass die „Geschichte des Ritters und die seines Genitales […] spiegelbildlich aufeinander bezogen“ seien, folgt so eine Auslegung auf dem Fuße, die ihren Sinn allegorisch einem einzigen Referenzfeld „spezifisch männliche[r] Ängste und Phantasien“44 zuordnet und auf Kastrations- oder phallische Allmachtsphantasmen beschränkt. Es lässt sich aber zeigen, dass im Modus spiegelbildlicher Darstellung zwei Formen von Inklusion und Exklusion der Transzendenz aufeinander bezogen werden: die Logik der exceptio und die des exemplum. Auf ihrer Verschränkung beruht die Möglichkeit, im Nonnenturnier eine schwankhafte Realisierung religiöser Kommunikation zu sehen. Soweit religiöse Kommunikation sich überhaupt an der Oberfläche der Erzählinhalte zeigt, tut sie dies im Nonnenturnier nicht allegorisch verschlüsselt, sondern auf der Ebene des sensus historicus. Peter Strohschneider hat die einzige Instanz dieses Sinnes, die aus dem sexualisierten Geschehen hervorsticht, bemerkt: die Erwähnung des Ortsnamens Saraphat (V. 278), den er mit dem biblischen Sareptha (bei Luther: 42 Haug, „Entwurf“ (Anm. 24), S. 18. 43 Beide Zitate Strohschneider, „Versuch“ (Anm. 16), S. 156. 44 Ebd., S. 158.
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Zarpath) im Alten (III Kön 17,9 f.) und im Neuen Testament (Lk 4,26) identifiziert.45 An beiden Stellen geht es wie im Schwank um eine Szene der Aussonderung beziehungsweise der Austreibung. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, wie der Prophet Elias, nachdem er in einer Kampagne gegen König Ahab Israel den Ausbruch einer Hungersnot verkündet hat, in der Stadt Zarpath eine Witwe aufsucht, um sich auf Jahwes Geheiß von ihr versorgen zu lassen. Ihre Bereitschaft, die spärlichen Reste an Mehl und Öl mit dem Mann Gottes zu teilen, führt dazu, dass sie und ihr Sohn als einzige von der Hungersnot ausgenommen bleiben. Als der Sohn eines Tages so schwer erkrankt, dass er ohne zu atmen daliegt, möchte die Witwe mit Elias nichts mehr zu tun haben, doch dieser erweckt ihren Sohn auf dem Totenbett wieder und stellt damit sein Prophetentum unter Beweis. Im Lukas-Evangelium greift Jesus diese Stelle auf, um vor den Juden in der Synagoge von Nazareth die Frage der messianischen Auserwähltheit neu zu definieren: Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet gilt etwas in seinem Vaterland. Aber wahrhaftig ich sage euch: Es waren viele Witwen in Israel zur Zeit des Elia, als der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate und eine große Hungersnot herrschte im ganzen Lande, und zu keiner von ihnen wurde Elia gesandt als allein zu einer Witwe nach Sarepta im Gebiet von Sidon. […] Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie das hörten.
Die Juden reagieren auf diese Provokation mit einem SündenbockRitual. Sie stoßen den Propheten aus ihrer Mitte und führen ihn vor die Stadt, um ihn einen Abhang hinunter zu stürzen: „Aber er ging mitten durch sie hinweg.“ Dadurch erscheint Jesus in seiner Exzeptionalität doppelt bestätigt: Als „neuer Elias“ tritt er seinem eigenen Anspruch nach und auch rituell als heilig ausgewiesen in Galiläa auf, wo seine Lehre verwundert aufgenommen wird, „denn er predigte mit Vollmacht“.46 Die biblischen Reminiszenzen weisen den Ort des Schwankgeschehens als geistlichen, wenn nicht messianischen Topos aus, der wie 45 Ebd., S. 163, Anm. 28. Strohschneider versucht allerdings die von ihm selbst vermuteten „theologischen Deutungsperspektiven“ seiner eigenen Leitdifferenz „Zivilisation“ vs. „(sexuelle) Wildheit“ zuzuschlagen statt im Sinne des relectio-Postulats auf die Form der Trennung zwischen Psyche/Bewusstsein und (religiöser) Kommunikation zu achten. 46 Lk 4,24 – 32, zitiert nach: Die Bibel nach der bersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, hrsg. von der EKD in Deutschland und vom Bund der Ev. Kirchen in der DDR, Stuttgart 1985.
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ein Fremdkörper in einer bis dahin höchst weltlichen Minne-Erzählung eingeschlossen ist. Zwar identifiziert sich der Ritter bis zu einem solchen Grade mit ihren Werten, dass er dem Argument bereitwillig Folge leistet, den einzigen adliger Contenance nicht unterworfenen Körperteil von sich abzutrennen, um sich zum selbstkontrollierten Hofmann zu vervollkommnen.47 Doch der Bezug der Erzählung auf Saraphat markiert deutlich die andere Dimension des Schwanks, die sich im Weiteren am Schema und an Motiven der Heiligen-Vita orientiert. Schon das Verbergen des zagel unter der Klosterstiege, wo beide sde und verchergetrank (V. 216) den Versteckten besudeln sollen, lässt sich nicht allein als Strafaktion des Ritters an seinem Glied verstehen, sondern spielt, für die Leser sichtbar, auf die Alexius-Legende an, wo der Körper des Heiligen im Haus seines Vaters ebenfalls durch den Spülicht der Küchenknechte erniedrigt wird.48 Darüber hinaus schließt sich nach seiner Verstoßung aus der Welt des Frauendienstes auch der Ritter aus dem mundanen Leben aus. Er zieht sich für den Rest seiner Tage in ein wildes hol (V. 281) zurück – ein klarer Fall von Weltflucht. Damit ist sein Weg aus der Welt als conversio bezeichnet und am Ende lang andauernder Enthaltsamkeit die Heiligung in Aussicht gestellt. Als asketischer Einsiedler stellt der kastrierte Ritter die exceptio des höfischen Weltmannes dar, eine Ausnahmefigur, die zugleich mit ihrer Aussonderung aus der Welt durch das sie Aussondernde, den verstoßenen zagel, auf deren Normen bezogen bleibt. In diesem Punkt lässt der Schwank nun die legendarische Stilisierung der exceptio umkippen in die Logik des exemplum. Denn auch nach 34 Jahren sexueller Askese – nach einer Zeitspanne also, die doppelt so lange währt wie die Buße des Gregorius f dem wilden steine – hat der Ritter den Status der Heiligkeit immer noch nicht erreicht. Als gar ein armer man (V. 287) stirbt er sang- und klanglos, weil der nicht transzendierbare Rest seines ritterlichen Selbst weiterhin in jener Welt sistiert ist, von der sich ein Heiliger doch restlos zu trennen hätte. Das heißt: Auch nach seiner Abspaltung entzieht sich der zagel jeder Kon47 So die Analyse Strohschneiders, „Versuch“ (Anm. 16), S. 166 – 169. 48 Vgl. etwa den Alexius Konrads von Würzburg, V. 684 – 691: vil manger hande smcheit j im snes vater knehte buten. j die kçche die daz vleisch d suten, j swaz die von wazzer und von labe j gespuolten manger schzzel abe, j daz wart f in gegozzen. j daz leit er unverdrozzen j gedulteclichen alle zt. (Konrad von Würzburg, Die Legenden II, hrsg. von Paul Gereke, Halle/S. 1926, S. 32). Der Hinweis auf die Alexiuslegende findet sich bei Strohschneider, „Versuch“ (Anm. 16), S. 158, Anm. 25.
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trolle, diesmal allerdings nicht in der weltlichen, sondern in der ausgegrenzten geistlichen Sphäre, in die beide, Ritter und Genital, inzwischen, getrennt voneinander, eingegangen sind. Nach einer Latenzperiode von einem Jahr erlebt der unheilige Erdenrest seine Auferstehung im ebenfalls aus der Welt ausgegliederten Lebensbereich des Klosters. Es stellt neben dem eremitischen Leben in der Wildnis eine weitere Form von Weltflucht und spiritueller Selbstexklusion dar, verbunden mit der weiblichen Variante unwiderruflichen Triebverzichts, die zwar ohne Selbstverstümmelung auskommt, wohl aber durch das Ablegen der Profess bindend ist. In dieser Exklave des Mundanen ereignet sich nun die Erscheinung, ja die Epiphanie des zagel und damit eine unvermutete Art der Weltbildung inmitten klösterlicher Außerweltlichkeit.49 Mit dem zagel zeigt sich auf einmal die gesamte Struktur dieser Ordnung des Ausschlusses nach der Logik des demonstrativen exemplum. Von ihr schreibt Giorgio Agamben: Was das Exempel zeigt, ist seine Zugehörigkeit zu einer Klasse, aber genau darum fällt es im selben Moment, da es diese zur Schau stellt, als exemplarischer Fall aus ihr heraus (im Fall eines linguistischen Syntagmas zeigt es das eigene Bedeuten und hebt auf diese Weise die Bedeutung auf). […] Das Beispiel ist aus dem Normalfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil es nicht dazugehörte, sondern weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt. Es ist tatsächlich paradeigma im etymologischen Wortsinn, das, „was sich daneben zeigt“; eine Klasse kann alles beinhalten, nur nicht das eigene Paradigma.50
In Umkehrung der exceptio des ersten Teils, die die Norm brach, um deren Regel zu bestätigen, gehört das exemplum wesentlich zum Normbereich, aus dem es allerdings durch die demonstrative Geste seines Ausgestellt-Seins herausfällt. Wie lässt sich so verstandene Exemplarität für einen im Nonnenkloster offensichtlich deplazierten Penis behaupten, ohne dass die Beobachtung am Frivolen und Obszönen des Sujets hängenbliebe? Gerd Dickes Hinweis auf eine von der Forschung bisher nicht berücksichtigte Parallele des Erzähltyps ,Phallus im Nonnenkloster‘ weist hier den Weg. Im anonym überlieferten Fabliau Les trois Dames qui trouverent un Vit I 49 Zu einem ähnlich gelagerten Fall im Schwank Das Gnslein, vgl. Hans Jürgen Scheuer, „Tiefe Märchen des Vorscheins. Blochs ,Spuren‘ als Exempel einer Philosophie der ,Einfachen Formen‘“, in: Elmar Locher (Hrsg.), Ernst Bloch, ,Spuren‘. Lektren, Bozen 2008 (essay & poesie 24), S. 131 – 144. 50 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souverne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 32.
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eignet sich die Äbtissin den Fund dreier Pilgerinnen, einen herrenlosen Phallus, mit dem Argument an, es handele sich dabei um den jüngst entwendeten Riegel der Klosterpforte. Der durch diese List bereicherte Konvent verehrt seinen neuen Besitz fortan come relyke. 51 Der Reliquienkult um ein – nach der Erfindung der Äbtissin – erst verlorengegangenes, nun wunderbar wieder aufgetauchtes Objekt, das als Riegel gegen die Welt das Kloster allererst zum Kloster macht, es als der Transzendenz zugewandten Raum innerhalb der Welt erst ermöglicht, gibt (in einem viel weitergehenden Sinne, als von Gerd Dicke vermutet) das Modell für die Form des Nonnenturnier-Schwanks. Der zagel des weltflüchtigen und dennoch immanenzverhafteten Ritters wird nämlich auch hier zum konstituierenden Bestandteil der Klostergemeinschaft. Als die Nonnen von der plötzlichen Präsenz des Genitals im Kreuzgang überrascht werden, erschrecken sie nicht einfach über eine sexuelle Belästigung oder über die Begegnung mit ihren unterdrückten Gelüsten. Dass die Jungfräulichen überhaupt ein männliches Geschlechtsteil als solches identifizieren können, hat nicht nur mit einer misogynen Erzählperspektive auf die Lüsternheit selbst frommer Frauen zu tun. Vielmehr reagieren die Nonnen fein abgestuft auf die Erscheinung und letztlich so, wie es sich für die Bräute Christi gehört, die ihre ganze Existenz auf die Vereinigung mit dem einen Bräutigam ausrichten. Der Schwank zitiert hier ein visionär-meditatives Muster, mit dessen Hilfe sich die mulieres religiosae der zunächst befremdenden Verkörperung des Auferstandenen nähern. Für Mechthild von Magdeburg etwa führt der Weg der Seele über sieben Staffeln der minne zur Vereinigung mit dem Bräutigam52, für den Konvent der Erzählung sind 51 Gerd Dicke, „Mären-Priapeia“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 124/2002, S. 261 – 301, hier S. 292. 52 Vgl. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hrsg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt/M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181, Bibliothek des Mittelalters 19), S. 58 – 64 (I,44: Von der minne weg an siben dingen, von driu kleiden der brfflte und von tantzen). Auch an eine typologische Denkfigur ließe sich erinnern: So liegt dem ,,älteste[n] Fastnachtsspiel“, den Septem mulieres: Sieben Frauen und ein Mann, ein entsprechendes hyperbolisches Schema zugrunde, in dem sieben Frauen nacheinander bis hinab zur liebestollen Prostituierten ihr Anrecht auf einen Fürsten deklarieren, der just die Niedrigste und Lüsternste als seine leybste brut bezeichnet. Eckehard Simon, der jenes Spiel auf das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts datiert, weist auf dessen alttestamentliche Folie ( Jes 4,1) hin und auf Strickers Deutung des Mannes als typos des Messias, mit dem sich die sieben Frauen vereinigen möchten, vgl. Eckehard
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es sieben Nonnentypen, deren Verhalten von schreckhafter Abwehr über die immer subtiler werdende Anstachelung des Gliedes bis zur simulierten Vereinigung mit ihm reicht: sie hett in under iren geren gar lieplich gesmuckt und in iren schoß getruckt. (V. 360 – 362)
Da der nun anwesende Bräutigam sich nicht länger spiritualiter jeder frommen Frau anbietet, sondern in corpore nur einer einzigen zur Verfügung stehen kann, entbrennt ein kriec, der die gesamte Struktur der Gemeinschaft offenlegt. Auch in diesem Fall reagieren die Damen zunächst standesgemäß: Als adlige Töchter wissen sie, dass Verteilungsprobleme und Rivalitäten in einer Gemeinschaft von Gleichen agonal ausgetragen werden müssen. Die Äbtissin handelt also klug, wenn sie ein Turnier auslobt. Dass diese Lösung dennoch das Klosterleben in die Selbstzerstörung treibt, liegt eben an der ausgestellten und damit hinfällig gewordenen Zugehörigkeit des zagel zur Exklave. Als exemplum demonstrativum treibt er deren hierarchisches Prinzip hervor, das er pars pro toto im selben Moment der Auflösung preisgibt. Das gilt besonders in Hinsicht auf die Fortpflanzung der weiblichen Klostergemeinschaft, ihre ,Jungfernzeugung‘ in Gestalt der klonstermaid, die ihre Profess noch nicht abgelegt haben, gleichwohl aber selbst schon nach dem Bräutigam streben.53 Sie stürmen den Turnierplatz und lösen dadurch die alte Klosterordnung auf. Zum anderen wird der exemplarische Charakter des zagel daran deutlich, dass er im Zuge der Demonstration des klösterlichen ordo und der durch ihn ausgelösten Zersetzung von Þre und zuht die zerstörte Ordnung wieder aufrichten und fortpflanzen hilft. Dies ereignet sich in dem Moment, in dem er auf unerklärte und unbeobachtete Weise dieplich und von irgendwem undergeslagen von der Bildfläche verSimon, Die Anfnge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370 – 1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (Münchener Texte und Untersuchungen 124), S. 57 – 69. Simons Deutung des Textes als ,,fastnachtliche[r] Männerfantasie“ (S. 67) unterschätzt die Reichweite religiöser Kommunikation im Fastnachtsspiel als dramatischer Form des Schwanks. 53 Vgl. hierzu den wichtigen, auf Hanns Fischer zurückgehenden Hinweis in Klaus Grubmüllers Märenkommentar zu V. 472, wo die klonstermaid als die manig dirne frei j die in dem klonster waren bezeichnet werden: „Wohl die puellae oblatae, dem Klosterleben bestimmte und schon seit früher Jugend im Kloster lebende Mädchen“ (Grubmüller, Novellistik [Anm. 41], S. 1339).
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schwindet. In dieser Wendung des Schwanks kommt die paradoxe Logik des exemplum vollkommen zum Tragen, indem sich der zagel im Verschwinden noch einmal als aus den Elementen des klösterlichen Systems unwiederbringlich ausgeschlossen zeigt. Die Lücke, die er dadurch hinterlässt, erweist sich als wesentliche Bedingung für die Erneuerung der Gemeinschaft. Denn über seiner vakanten Position wird durch das Schweigegelübde, das sowohl die alten Nonnen als auch die jungen klonstermaid einschließt, der Konvent wieder begründet: größer und dauerhafter als zuvor. Insgesamt bezieht der Tu˚rney von dem czers, als schwankhafte Beobachtung religiöser Kommunikation gelesen, durch das Ineinanderspiegeln von exceptio und exemplum zwei Formen von Weltflucht aufeinander, in denen Immanenz und Transzendenz sich wechselseitig bald ein-, bald ausschließen: zum einen im Sinne der Insistenz des zagel, der durch die ritterliche conversio niemals vollständig transzendiert werden kann; zum anderen im Sinne des Gründungsgestus, der den zagel an den Ursprung der klösterlichen Klausur setzt: bei seinem Erscheinen als Einschluss des kategorisch Ausgeschlossenen; bei seinem Verschwinden als Ausschluss dessen, was im Schweigegelübde des Klosterkonvents prinzipiell eingeschlossen bleibt. Das Nonnenturnier macht so letztlich Prinzipien der Formation eines religiösen Mysteriums im Schwank beobachtbar. Denn worin sonst besteht das Mysterium christlicher Gemeinschaft als darin, dass Gott Mensch geworden ist, sich aus seiner Transzendenz heraus in die Immanenz der Welt, ihre Evidenz und Sterblichkeit, hineinbegeben hat, indem er sich verkörperte und sich vor den Augen der Menschen, aller göttlichen Attribute entledigt, zeigte54 ; sowie in der Zuversicht, die die Nonnen des Schwanks offensichtlich gläubig teilen, dass sich dieser 54 Die zentralen Theologoumena sind in diesem Zusammenhang die Fleischwerdung des Wortes ( Joh 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“) und die Paulinische kenosis-Lehre (Phil 2,5 – 11: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst 2aut¹m e’j]mysem und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“).
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Prozess nicht nur spirituell, sondern auch körperlich wiederholen kann und wird?
V. Hyperbel und Hymnus Wie handfest es auch immer in den bisher besprochenen Schwänken zuging, stets ließ sich doch eine deutliche Tendenz zur Entdinglichung, Entmaterialisierung, eben: ein Zug des Erzählens wahrnehmen, die Bedingungen der Weltimmanenz zu transzendieren. Dem ehebrechenden Pfarrer steht die spirituelle Qualität des wrheit sehen gegenüber, dem mit einem Messer angegangenen Petrus das messianische Versprechen unbegrenzter Erlösung, dem erigierten zagel das fortgezeugte/ fortzeugende Mysterium. Dass beide Extreme je simultan und isotop in einem zutiefst der Innerweltlichkeit verschriebenen Erzählvorgang sichtbar werden, ist Effekt der Beobachtung religiöser Kommunikation durch die Form des Schwanks. Denn Schwänke sind, als Denkformen betrachtet, narrative Konfiguratoren, die sich vor komplexere Diskurse schalten lassen und durch ihre spezifische Zurichtung auf Beobachtungen zweiter Ordnung deren implizite Leitdifferenzen in actu vor Augen führen. Die jedem Diskurs eigenen Verfahren der Kategorienbildung erscheinen dabei nicht weniger künstlich und willkürlich als die grotesk vereinfachten Binarismen der Schwankerzählung. Wo immer die dabei zutage tretenden formalen Prinzipien höherer Ordnung mit der kruden Materialität innerweltlicher Unterschiede konfrontiert werden und der Leser diese Beziehung als referentielle versteht, löst sich die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit im Lachen über die komische Inkongruenz beider und über die Unangemessenheit der je getroffenen Unterscheidungen. Der Witz ist dennoch nicht die Grundform des Schwanks, sondern nur die schnelle Ausflucht in die Referenz für den, der vor der unaufhörlichen Erschütterung seiner Kategorien und diskursiven Gewissheiten Reißaus nimmt.55 Wo hin55 Deswegen können der Schwank beziehungsweise das Märe oder Fabliau nicht einfach auf eine „Sinnbildung aus der Pointe“ zurückgeführt werden (vgl. Klaus Grubmüller, „Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Die komparatistische Perspektive“, in: Mark Chinca/Timo Reuvekamp-Felber/ Christopher Young [Hrsg.], Mittelalterliche Novellistik im europischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Berlin 2006 [Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 13], S. 1 – 23, hier S. 3), auch wenn der Erzählprozess auf Punkte zusteuern kann, an denen der Hörer und Leser unter Gelächter aus der
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gegen die Aufmerksamkeit auf das formale Verfahren durchgehalten und nicht durch Referentialisierung und Gelächter einfach abgebrochen wird, zeigt sich die konstitutive Paradoxie jeder Kommunikation innerhalb dieser Welt56 im unentwegten Schwanken der Beobachtung zwischen den beiden Seiten der zugrundeliegenden Leitdifferenz. Mein letztes Beispiel soll vorführen, wie konsequent eine weitere kurze Erzählung des Strickers die Konstituenten religiöser Kommunikation ins Schwanken bringt, sie dreht und wendet und dennoch zusammenhält. Das Schwanken des hier inszenierten Diskurses ist dabei so konsequent und radikal durchgeführt, dass die Spanne zwischen Immanenz und Transzendenz in einer einzigen intensiven Sprachbewegung durchmessen wird. Das von seinen Herausgebern so genannte Ehescheidungsgesprch bearbeitet einen Stoff, der so weit reduziert ist, dass zwei der drei Handschriften ihn in folgendem knappen argumentum treffend zusammenfassen: Ditz mere ist von man vnde von wibe j Die bie ein ander wolden niht beliben. 57 Tatsächlich berührt der Schwank diesen Handlungskern in nicht mehr als sechseinhalb von 138 Versen: Ein man sprach ze snem wbe: ,wænest du, daz ich b dir belbe iemer allez mn leben? niht!‘ […] (V. 1 – 4a) D wider sprach aber daz wp: ,ez mese, sam mir mn lp, schwankenden Form auszusteigen und zur fixen, konturierten Pointe Zuflucht zu nehmen vermag. 56 Vgl. in bezug auf die Thematisierung elementarer sozialer Tauschverhältnisse in Sexualität, Familie und Ökonomie Udo Friedrich, „Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen“, in: Chinca [u.a.] (Hrsg.), Mittelalterliche Novellistik (Anm. 55), S. 48 – 75; in Bezug auf den politisch-theologischen Diskurs des Mittelalters die Lektüre des Bloßen Kaisers Herrands von Wildonie als Investitur-/Devestitur-Exempel in Andreas Kraß, Geschriebene Kleider. Hçfische Identitt als literarisches Spiel, Tübingen [u.a.] 2006 (Bibliotheca Germanica 50) sowie deren korporationsgeschichtliche Weiterungen in Thomas Frank [u.a.] (Hrsg.), Des Kaisers neue Kleider. ber das Imaginre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektren, Frankfurt/M. 2002. 57 Das Ehescheidungsgesprch wird zitiert nach der Ausgabe Der Stricker, Verserzhlungen (Anm. 25), S. 22 – 27, hier S. 22. Das argumentum ist enthalten in den Handschriften K (Genf, Bibliotheca Bodermeriana Cologny-Genève, Cod. Bodmer 72) und H (Heidelberg, Cpg 341), nicht aber in der ältesten Handschrift A (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2705).
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an ein scheiden iezuo gn.‘ (V. 51 – 53)
Ohne ersichtlichen Grund beginnt das Gespräch mit dem Beschluss des Mannes, die Verbindung mit seiner Frau aufzukündigen. Der Mann verpackt seine Deklaration in eine Auflistung immer stärker verkürzter Fristen, innerhalb derer es zur Trennung kommen soll: angefangen beim Scheiden übers Jahr, dann über insgesamt 16 Stufen Zug um Zug reduziert von 40 Wochen bis zum sofortigen Abschied. Denn, wie aus der Schlusswendung seiner Tirade hervorgeht, sein wb scheint ihm mit dem Anwachsen der Redezeit immer ekler zu werden, bis ihn ihre körperliche Nähe derart abstößt, dass nichts anderes bleibt als ein sofortiger Abbruch der Gemeinschaft: du bist gerumpfen unde swarz, dn tem smecket als ein arz. mir grset, swenne ich dich sehen sol! (V. 41 – 43)
Allen Besitz, ob einen Sack voll Pfennigen oder gar die Herrschaft über das gesamte Erdenrund, würde der Mann hergeben, bis ihm nur noch das nackte Leben übrigbliebe, um den Anblick seiner Frau nicht länger ertragen zu müssen. In der Gegenrede reagiert die Frau gefasst. Sie würde das Scheidungsgebot ihres Mannes auch sofort akzeptieren, wenn sie sich nicht ihrerseits dem Duktus der anschwellenden Rede überließe und darin die Fristsetzungen für die Scheidung dergestalt umdrehte, dass aus der praktisch schon vollzogenen Trennung über 24 Stufen der Fristverlängerung eine Wiederholung und Affirmation des Eheversprechens würde: bis dass der Tod uns scheide (dune kumest niemer von mir, j der tt scheide mich von dir, V. 91 f.). Auf diese wiederum grundlose und inhaltsleere Inversion der Redetendenz hin zeigt sich der Mann übergangslos reuig, lobt seine Gattin als mariengleichen Gipfelpunkt weiblicher Tugend für alle Ewigkeit und erhält dafür sofortige Vergebung. Die Sühne besteht darin, dass beide sogleich miteinander schlafen, dann auflachen und zum Abschied vom Bettlager vor lauter Freude ein liet (V. 137) anstimmen. Von der Dramatik handfester oder psychisch aufwühlender „Szenen einer Ehe“ ist das weit entfernt: Keine Kausalitäten, keine Motivationen, keine inneren Entwicklungen helfen die Gesprächssituation zu kontextualisieren. Der Dialog selbst produziert nichts Erwähnenswertes. Sogar die innersprachlichen Ansätze einer Handlung, das Performativ „Hiermit sind wir geschiedene Leute“ und das Konstativ „Jetzt sind wir
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getrennt“, werden, kaum realisiert, schon wieder kassiert: Mann und Frau sind am Ende nach wie vor ein Paar und lassen ihren dialogischen Leerlauf in einen vollends naiv und albern wirkenden Schluss münden. Kurz: Das Erzählen, ordnet man es nach herkömmlichen Kriterien der Narratologie ein zwischen realer und fiktiver Gegenstandsreferenz oder faktualer und fiktionaler Redemodalität, scheint hier schon im Ansatz gescheitert: Es gibt weder einen Gegenstand noch eine andere Darstellungsweise als eben diese geschwätzig dargebotene Gegenstandslosigkeit. Allerdings betrifft solch erstes Fazit doch nur eine bestimmte, vielleicht vorherrschende, aber durchaus kontingente Haltung zum Erzählen als einer Mimesis von Handelnden. In der Form des Schwanks lässt sich anderes finden. Denn wenn auch weder Objekt noch Handlung, weder Motiv noch Intention, ja nicht einmal ein Sprechakt angebbar sind, auf die sich die Sprache des Dialogs bezöge, so könnte doch diese scheinbar leere, von Referenz abgekoppelte, sich zusehends verselbständigende Sprachgebärde selbst sich einer Analyse aufdrängen. Setzt man da an, fällt zunächst ins Auge, dass die gesamte Wechselrede aufgespannt ist zwischen zwei verschiedenen Intensitäten der Rede: dem Sprechen (Ein man sprach ze snem wbe, V. 1) und dem Singen (und sungen ein liet, V. 137). Aus dem profanen Sprechakt, der eine Trennung vollziehen möchte, ist am Ende des Schwanks nicht nur ein gemeinsamer, geselliger Gesang des Paares geworden, sondern ein liet ze prse, ein Preislied, ja sogar ein von erhebender, grzer vrçude (V. 133) getragener Hymnus (in einer hhen wse, V. 138). Wie lässt sich dieser Umschwung erklären? Wie ist zwischen erstem und letztem Vers eine derartige Drehung der Werte zustandegekommen? Entscheidend für die Möglichkeit, die faktische Geltung des Performativs zu unterlaufen, ist der Umstand, dass der Mann in unmittelbarem Anschluss an seine Deklaration den Faktor Zeit ins Spiel bringt: wænest du, daz ich b dir belbe iemer allez mn leben? niht! ich wil dir urloup geben noch hiute ber ein jr. wir mezen uns scheiden, daz ist wr, von hiute ber vierzic wochen. ich hn missesprochen: ir werdent niuwan drzic. ich bin des gerne vlzic, daz ez in zweinzigen ergÞ. ez geschiht, weiz got, michels Þ,
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wan ich ez in sechzehen tuon wil. dannoch wirt ir niht s vil: ez muoz in zwelfen geschehen. ich wil dich selben lzen sehen, daz es in zehen geschiht. dannoch wirt ir s vil niht: ez muoz in ahten ergn. ez wirt noch michels Þ getn: ez wirt in sehsen geendet. s werde aber ich geschendet: ir mezen niuwan vier sn. und behalde ich den lp mn, ez geschiht ber vierzehen naht. ez wirt noch nher gemacht: ez geschiht in siben tagen. ir wirt noch abegeslagen: der tage werdent niuwan dr. du bist mir s leide b, daz wir uns scheiden morgen. ich bin in grzen sorgen, wie ich b dir belbe disen tac. des ich getuon niht enmac: du muost iezuo von mir. (V. 2 – 35)
Wenn die gesetzte Ein-Jahres-Frist im Anschluss wieder bis auf den Zeitpunkt der unmittelbaren Redegegenwart ,zurückgefahren‘ wird, dann ist dieser Moment nicht mehr derselbe wie der jener ersten, inzwischen entfernten Deklaration. Zwar geht aus der Schlusswendung des Mannes hervor, dass ihn die bloße körperliche Präsenz seiner Frau aus Ekel zur sofortigen Aufkündigung der Ehe zwingt. Doch ist die unmittelbare Wirkung des ursprünglichen Sprechakts einer Glosse, einem amplifizierenden Kommentar gewichen, der die Entschiedenheit des Abbruchs in messbare Grade einer erklärten Absicht auflöst. An diesem Wendepunkt des Schwanks wird deutlich, dass das Anwachsen der rhetorischen Emphase einhergeht mit einem Schrumpfen der performativen Kraft und Durchsetzungsfähgkeit der Rede. Von ihrem Wirklichkeitsbezug bleibt nichts als eine Figur der Intensität: die Hyperbel. Denn: „Nicht nur eine maßlose Vergrößerung durch den hyperbolischen Ausdruck, sondern auch der umgekehrte Vorgang, die unglaubwürdige Verkleinerung ist eine Hyperbel.“58 58 Wolfram Groddeck, Reden ber Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel [u.a.] 1995 (Nexus 7), S. 232.
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Hans Jürgen Scheuer
Im Ehescheidungsgesprch erscheinen beide Äste der Hyperbel als gegenläufige Tendenzen des ersten Redeteils: Während die Zahlenwerte zum Berechnen der verbleibenden gemeinsamen Zeit immer kleiner werden, wächst die Redezeit des Mannes (und damit die Länge des Textes) stetig an. Entscheidend für das Funktionieren der weiteren Konfliktregulation ist dabei der Aspekt der Überschreitung der Glaubwürdigkeit. Denn hinter der Maximierungs- beziehungsweise Minimierungstendenz der Hyperbel steht das Bestreben des Redners, allein durch die Bewegung der Rede Beobachtbarkeit dort herzustellen, wo es an sachlicher oder dinglicher Evidenz fehlt. Was hier in Ermangelung eines referentiellen Objekts oder eines kraft- und wirkungsvollen Sprechakts beobachtet werden kann, zeigt die Replik der Frau. Es ist das Signum ihrer List, dass sie das Prinzip der Intensität erkannt hat: die Auflösung eines Evidenz- und Faktizitätsanspruchs in skalierbare Größen, die auf jeder Stufe (selbst auf der höchster Eskalation) noch eine Kehrtwende zulassen. Zum einen setzt sie dieses Prinzip so ein, dass sie die auf Null geschrumpften Zeitabstände über Stufen wieder anwachsen lässt, bis der Sprechakt, der die Trennung erklärte, aufgewogen ist durch den Gegensprechakt, das erneuerte Eheversprechen. Nicht dass damit alles wieder beim Alten wäre, die beiden Performative neutralisieren sich nur gegenseitig, wie die abschließende Gewaltandrohung zeigt, die im Ritual der Eheschließung keinen Platz hat und mit der die Frau keinen Zweifel daran lässt, dass sie ihrem Willen schwanktypisch brachial Nachdruck zu verleihen wüsste: ich zerbriche dich rehte als ein huon, j sprichest einez wort d wider (V. 96 f.). Zum anderen setzt ihre Rede eine neue Gegenläufigkeit in Gang, die auch auf den zweiten Teil des Dialogs übergreift. Mit der Deeskalation des Konflikts geht eine Steigerung der verba einher, die zur Bekräftigung herangezogen werden. Hatte das Stilniveau mit dem Ausspruch des Mannes, seine Frau rieche aus dem Mund wie aus ihrem Arsch, seinen skatologischen Tiefpunkt erreicht, so werden jetzt keiser, tt und tvel bemüht, um die Entschlossenheit auszudrücken, mit der die Frau ihren Gatten weiter an sich binden möchte. Immer noch befindet sich die Rede damit in der Sphäre der Innerweltlichkeit. Doch das ändert sich mit dem zweiten Teil des Ehescheidungsgesprchs. Die Progression hyperbolischen Sprechens überschreitet hier die Grenze zum genus grande. Zwar bleibt immer die bottomline des Mundanen sichtbar, die es komisch-unangemessen erscheinen lässt, wenn der Mann sich vom Eingeständnis seines Jähzorns, seiner Trunkenheit und seiner fehlenden Vernunftkontrolle über das
Religiöse Kommunikation in Schwänken
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Lob der Schönheit zu dem der mariengleichen Reinheit seiner Ehefrau aufschwingt: ezn mçhten alle pfaffen dn tugende niht volschrben. du bist vor allen wben sam diu sunne vor den sternen. die vrouwen solden lernen dn tugent alle gemeine. ich gesach nie wp s reine. dn name swebet vor gote obe allen wben mit lobe, die man iender knde vinden under allen Admes kinden iemer Þwiclche leben. (V. 114 – 125)
Doch weist das Marienlob, das der Mann anstimmt, über alles Alltägliche und über die ,reale Frau‘ hinaus. Dafür scheint die hyperbolische Form „nicht nur angemessen, sondern geradezu geboten“.59 Die letzte Stufe dieser Aufwärtsbewegung wird im vierten Abschnitt des Dialogs erreicht. Inhalt und sprachliche Form zeigen sich hier in extremer Widersprüchlichkeit: Das gesamte aufgeregte Triebgeschehen aus Zorn, Ekel und Gewaltandrohung erfährt in der sexuellen Vereinigung des Paares seine letzte Abfuhr, in Gelächter und Bettgesang eine reichlich banale Auflösung. Zugleich löst sich aber die Sprache aus der Bindung an den Dialog. Im Unisono des Gesangs überschreitet sie ihre eigene Grenze, wird selbst zur reinen Hyperbel, die nach dem Durchmessen und Modulieren aller innerweltlichen Register (vom Fäkalgestank bis zum Marienidol) zur Darstellung des Undarstellbaren getrieben wird. Das liet ze prse kann nach dem Marienlob nämlich nicht irgendein Lied sein. In seiner hhen wse transportiert es jenen anagogischen Sinn, auf den das hyperbolische Sprechen stetig zusteuerte, und geht über in den höchsten Modus, zu dem mittelalterliche Musik sich aufzuschwingen vermag: in das Gotteslob des Hymnus.60 Theologisch ist dieser Aufschwung so bedeutend, dass er sich nur noch jenem sprachlichen Modus der confessio vergleichen lässt, nach dem Augustinus am 59 Guido Naschert, „Hyperbel“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 115 – 122, hier Sp. 116. 60 Zur transzendierenden Dimension der Musik vgl. Reinhold Hammerstein, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern 1962.
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Scheuer, Religiöse Kommunikation
Beginn seiner Bekenntnisse fragt: Et quomodo invocabo deum meum? 61 Die Confessiones sind entsprechend angelegt als Weg zu einer spirituellen scientia bene modulandi – so definiert Augustinus an anderem Ort die Musik62 –, die den Raum zwischen Immanenz und Transzendenz durchläuft und dabei den richtigen Ton zu treffen sucht, mit dem jener Hymnus anheben müsste, der Invokation, Lob und Erkenntnis Gottes aufhebt in der frei schwebenden Bewegung des Gesanges: in eo motu, qui velut liber est. 63 Strickers Märe von man vnde von wibe j Die bie ein ander wolden niht beliben hat mit seiner Schlusswendung Anteil an beidem: am Gelächter und am Hymnus. Indem es das Gotteslob mit der Kopulation des Paares engführt, gibt es ein Paradebeispiel religiöser Kommunikation, beobachtet durch die Form eines Schwanks. Im Ab- und Aufschwung der Rede erzeugt er paradigmatisch die nahezu vollkommene Simultaneität von Sexualakt und Himmelsgesang, von banalem Handeln in der Welt und Überschreitung allen weltlichen Handelns, selbst des sprachlichen, durch die hhe wse. So kommt Strickers Erzählen ganz zu sich: Es erreicht den höchsten und richtigen Ton am falschen und niedrigsten Ort. In einem Gestus bewegt es sich zwischen den Polen der Immanenz und der Transzendenz und verbindet Hymnus mit Geschlechtsverkehr in einem Kontinuum narrativer Intensität: in der Drehung jenes epischen Bandes, mit dem der Schwank die von ihm beobachteten Formen durchflicht.
61 S. Aurelii Augustini Confessionum libri XIII, ed. Martinus Skutella (1934), editionem correctiorem curaverunt H. Juergens et W. Schaub, Stuttgart 1981, I,22. 62 S. Aurelius Augustinus, De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Lateinisch – deutsch, eingel., übers, und mit Anmerkungen vers. von Frank Hentschel, Hamburg 2002 (Philosophische Bibliothek 539), S. 6 (de musica I,II,2). 63 Ebd., S. 10 (de musica, I,II,3).
Bericht über die Diskussionen der Dritten Sektion Markus Schrer Der dritte Tag des Symposions nahm soziale Instanzen und textuelle wie textbezogene Institutionalisierungen der literarischen und religiösen Kommunikation in den Blick. Deren Möglichkeitsbedingungen sowie Geltungsansprüche und Geltungsprobleme unter wechselnden diskursiven und institutionellen Vorgaben wurden dabei an Texten unterschiedlicher gattungsgeschichtlicher und kulturhistorischer Provenienz diskutiert. In der Vorlage von Christina Andenna geht es um jene hagiographische Form der Heiligenvita, die das heilswirksame Handeln ihres Protagonisten narrativ vergegenwärtigt und es dabei zugleich als historischen Ursprung der kommunizierenden Gemeinschaft konstituiert. Dieserart konnten solche Viten den religiösen Bewegungen des 11. und 12. Jahrhunderts zur Legitimation jener Transformationsprozesse dienen, in denen sie sich von anfangs radikal eremitischen strukturierten Gemeinschaften zu etablierten kirchlichen Organisationen entwickelt hatten. In der Diskussion wurden zunächst Probleme des Gedächtnisbegriffs erörtert: Man müsse begrifflich unterscheiden zwischen (1.) kollektiver Erinnerung als momenthafter, situationsbezogener Aktualisierung des Wissens über bestimmte Personen, Ereignisse etc., sodann (2.) dem kollektiven Gedächtnis als dauerhaft verfügbarem Speicher solchen Wissens selbst und schließlich (3.) den Prozessen seiner Konstruktion, welche stets in der Spannung stünden, diese Konstruktivität des kollektiven Gedächtnisses zugleich invisibilisieren zu müssen. Die in ihrer Vorlage wichtige Vorstellung des ,Veschleierns‘, so Andenna in diesem Zusammenhang, beziehe sich sowohl auf die Strategien solcher Invisibilisierung institutionellen Wandels als auch auf diejenigen der Affirmation und Legitimation der aus diesem Wandel hervorgegangenen religiones. Zur Frage der medialen und literarischen Vermittlung der Inhalte des hagiographisch gesicherten kollektiven Gedächtnisses wies Andenna darauf hin, dass diese Vermittlungsebenen im Rahmen ihrer Vorlage zwar von nachgeordneter Bedeutung seien. Gleichwohl bleibe unübersehbar, dass die von ihr untersuchten Texte mittels geläufiger paränetisch-didaktischer und rhetorischer Verfahren wie etwa exemplum
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Markus Schürer
und exhortatio Gegenwart und Vergangenheit der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften als stimmig aufeinander bezogen erscheinen lassen wollten. Als diskussionswürdig erwies sich auch das Verhältnis von charismatischer Persönlichkeit und charismatischem Text: Der hagiographische Text erzähle nicht allein vom Charisma des Heiligen als von etwas Vergangenem. Er vergegenwärtige es zugleich auch mit dem Zweck der Fundierung und Verbindlichmachung spezifischer religioser Gemeinschaftsnormen. Christian Schneider fragt in seiner Vorlage nach den kommunikationspragmatischen Gegebenheiten spätmittelalterlicher Höfe und nach den sie mitkonstituierenden literarischen Formen, die er vor allem in verschiedenen religiösen Kommunikationsräumen wie Kloster, Kirche und Universität und deren klerikalen Trägerschichten aufsucht. Zugrunde liegt die These einer strukturellen Verknüpfung von religiöser Kommunikation und höfischer Identität, die sich vor allem daraus ergebe, dass höfische Identität zumal im Modus symbolischer, vor allem also auch literarischer Kommunikation von christlicher Normativität konstituiert werde. Diese Zusammenhänge von christlichen Lebensnormen und höfischer Identitätsbildung sieht die Vorlage exemplarisch verwirklicht in der Literatur im Umkreis des Habsburgerherzogs Albrecht III. in Wien und des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. In der Diskussion ging es zunächst um die Kategorien ,religiöse Kommunikation‘, ,literarische Kommunikation‘ und ,höfische Kommunikation‘ sowie um die Frage, auf welcher analytischen Ebene ihr Verhältnis zu bestimmen sei. Schneider erläuterte, dass in seiner Vorlage ,höfische Kommunikation‘ als gemeinsamer Oberbegriff von ,literarischer‘ und ,religiöser Kommunikation‘ aufgefasst sei, dass er allerdings zugleich Hof als eine Institution begreife, die vor allem im Medium des Literarischen kommuniziere. Daraus, so wurde kritisch eingewandt, ergebe sich allerdings das Erfordernis, das Konzept ,höfische Kommunikation‘ weiter zu differenzieren. Am Beispiel des englischen Hofes im späten 14. Jahrhundert lasse sich zeigen, dass ,Hof‘ nicht immer als nach außen abgeschlossenes System gedacht werden könne; der antihöfische Diskurs des Verwaltungsbeamtentums und die aufkommende Lollardenhäresie schließe es für den angelsächsischen Bereich zugleich auch aus, von einer in ihren internen Strukturen homogenen höfischen Gesellschaft zu sprechen. Auch wenn man die historischen Eigenheiten der ganz anders situierten Wiener und Salzburger Hofgesellschaften berücksichtige und auf einen generalisierbaren Begriff von ,Hof‘ verzichte, sei indes weiterhin zu beachten, dass die von der Vorlage als Unter-
Bericht über die Diskussionen der Dritten Sektion
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begriffe konzipierten Termini ,religiöse‘ und ,literarische Kommunikation‘ nicht auf derselben Ebene liegen, insofern jene zumal inhaltlich, diese vor allem formal bestimmt sei. Zu fragen bleibe überdies, ob die vergleichende Gegenüberstellung der Höfe in Salzburg und Wien komplexe historische Unterschiede nicht zu sehr in Richtung auf die Bildung von Idealtypen vereinfache und ob die Vorlage nicht Literatur am Hof problematischer Weise mit Literatur ber den Hof gleichsetze. Diese kritischen Anfragen stellten allerdings nicht in Abrede, dass es die von der Vorlage ausgewählten Beispielfälle ermöglichen, besondere soziale Verdichtungsräume literarischer Kommunikation zu beobachten, und dass Literatur am Hof doch insofern zugleich Literatur ber den Hof sei, als sie typischer Weise ihre eigenen Trägerschichten mitthematisiere. Die Vorlage von Margret Egidi untersucht am Beispiel von Versionen der Alexiuslegende die Selbstverleugnung des Heiligen im Spannungsfeld von ,totaler Gabe‘ und Tausch und arbeitet so die Problemkonstellationen von Rückkehr und Rückkehrlosigkeit sowie von Andersheit und Ähnlichkeit als für dieses Heiligenleben systematisch kennzeichnend heraus. Diese Anlage des Arguments führte die Diskussion zunächst zu den systematischen und historischen Dimensionen des Gabenbegriffs. Man könne diesen Begriff weiter historisieren, etwa von den Tauschakten des Neuen Testaments oder von der in den Ökonomien des Mittelalters jederzeit möglichen Verrechenbarkeit des Heils her. In systematischer Hinsicht wurde betont, dass die Potenziale von Marcel Mauss’ Gabentheorie1 mit der von Derrida daran geübten Kritik2, deren Nutzen für eine Interpretation der Alexiuslegende übrigens nicht in Frage stehe, noch keineswegs abgegolten seien. Besondere Aufmerksamkeit widmete die Diskussion der Motivik und Erzähllogik der hagiographischen Texte. Gegenüber dem im 13. und 14. Jahrhundert mit Franziskus und Elisabeth von Thüringen modellierten und etablierten radikal neuen Modell von Heiligkeit wirke die Alexiuslegende auf den ersten Blick gewissermaßen anachronistisch, doch seien zugleich entscheidende Gemeinsamkeiten, etwa das conformitas-Ideal, nicht zu übersehen; wie in der Franziskus- und der Elisa1 2
Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, mit einem Vorwort von Edward E. Evans-Pritchard, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 41999. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben 1, aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993.
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beth-Legende begegne auch bei Alexius das Motiv vom unerkannten Christus. Als ein notorisches Problem legendarischen Erzählens wurde die Reziprozität von ,frommer Leistung‘ und göttlicher Gnadengabe diskutiert. Auf diese Reziprozität könne legendarisches Erzählen aus narratologischen Gründen nicht verzichten, mit ihr aber unterlaufe es zugleich das Theologoumenon der Unverfügbarkeit göttlicher Gnade. Legendarik stelle sich insofern als ein literarischer Typus dar, der erzählen müsse, was er nicht erzählen dürfe, wie nämlich Heilige, um werden zu können, was sie immer schon sind, von Gott ihre Heiligkeit geradezu erzwingen. Dies führte zugleich auf strukturelle Analogien von Heiligwerdung und höfischem Minnedienst, in welchem ebenfalls als eine Gnadengabe erscheint, was die Dame dem Werber gewährt oder – häufiger – verwehrt. Nicht übersehen werden dürfe dabei freilich, dass höfischer Minnedienst als erotisch fundierte Konstellation rein innerweltlich bleibe, während im Verhältnis von Heiligem und Gott die Grenze von Immanenz und Transzendenz transgrediert werde. Konflikte zwischen höfischer Identitätskonstruktion und religiös orientiertem Lebensentwurf brachte die Vorlage von Armin Schulz anhand legendarischer Romane des 13. Jahrhunderts (Die Gute Frau, Mai und Beaflor, ,Wilhelm von Wenden) zur Sprache. Ein weltlicher Protagonist werde hier jeweils zugleich als eine christliche Exempelfigur profiliert und gerate als solche in das Spannungsfeld von standesbewusst innerweltlichem und gesellschaftsabgewandt gottgefälligem Leben, von höfischer Macht- und Prachtpräsentation einerseits und christlichem Armutsideal andererseits. Da mittelalterliche Identitätskonzepte in der Regel an die äußere Kenntlichkeit der Person gebunden seien, wirkten sich Konfliktpotenzial und Kompromissstruktur der in den analysierten Romanen zu beobachtenden Identitätskonstruktionen auch auf deren epistemische Ordnungen aus. Dies lasse sich zumal daran studieren, wie von der Kenntlichkeit der Figuren und von den Akten gegenseitigen Erkennens erzählt, wie also auch das stets als Un-Ordnung qualifizierte Fremde in die Texte eingeführt werde. Kontrovers blieb in diesem Zusammenhang, ob die entsprechenden Szenen der frommen Romane eine Kenntnis der poetologischen Tradition der Anagnorisis voraussetzen. Seine Vorlage, so Schulz, fokussiere den Akt des Erkennens oder Wiedererkennens jedenfalls weniger als einen poetologischen Sachverhalt denn vielmehr als ein Problem der sozialen Praxis; die Vermutung, dass sich deren narrative Verarbeitung zugleich auf eine sozusagen implizite Poesiologie hin auslegen lasse, stehe dazu nicht im Widerspruch. Figuren und Motivik der untersuchten Erzähltexte verhandelten Er-
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kennen und Wiedererkennen typischer Weise in einem dreistelligen Verweisdreieck von Körper, Gebärde und Gewand, also auf der Ebene von für die soziale Position ihres Trägers relevanten Zeichenkomplexen. Allerdings sei die solcherart hergestellte Identität und Evidenz der adeligen Protagonisten öfters in sich brüchig und auch keineswegs durchgehend zeitlich konstant. Schließlich wurden in der Diskussion Präzisierungsmöglichkeiten des Begriffs des Hybriden und terminologische Alternativen zu ihm – Oxymoron? – erwogen. Eine Möglichkeit, diesen Begriff als heuristisches Analyseinstrument operationalisierbar zu machen, wurde darin gesehen, ihn als Schnittstelle distinkter Semantiken zu fassen. So könne er bei der Erzähltextanalyse dann ertragreich verwendet werden, wenn zugleich eine präzise Bestimmung der semantischen Kodierungen der je zugrunde liegenden Erzählstrukturen vorgenommen werde. An Texten des Marners, Boppes, Reinmars von Zweter und anderer zeigt die Vorlage von Klaus Grubmüller, wie in der Spruchdichtung literarische und religiöse Kommunikation scheinbar problemlos zusammenfallen können. Dies geschehe in der Form selbstbewusster Repräsentation schriftlich verbürgten, komplexen theologischen Wissens in gelehrten Argumentationfiguren, die der Autoritätsbehauptung des Spruchdichters ebenso dienten wie dem Ausweis von Kompetenz in typisch volkssprachlichen, nämlich insbesondere mündlichen Redeformen. Dabei seien weder der Zugang zu gelehrtem Wissen noch die Legitimität und Deutungskompetenz des Spruchdichters institutionell limitiert. Vielmehr erteile sich der Spruchdichter selbst allein schon durch seine Berufung auf die Traditionen der Schriftkultur einen Lehrund Heilsauftrag gegenüber seinem ungelehrten Publikum. Er übernehme damit Predigerfunktionen und trete gar in Konkurrenz zum Typus des wandernden Bettelmönchs. Die Diskussion hob zunächst auf eine Präzisierung der Ausdrücke Prediger, Theologe und Bettelmönch ab: Zwischen professionellen Theologen und predigenden Bettelmönchen gebe es keine substanziellen Unterschiede, gerade letztere hätten die Entwicklung der Theologie im 13. Jahrhundert entscheidend vorangebracht. Andererseits setze eine adäquate Beurteilung der Spruchdichtung und ihrer Protagonisten voraus, dass man die notwendige Unterscheidung von dogmatischer Predigt und moralischer oder Bußpredigt im Auge behalte. Auch sei zu bedenken, dass eine unlizensierte Predigt, auch wenn sie nicht ausdrücklich als praedicatio firmiere, durchaus Häresieverdacht hervorrufen könne. Demgegenüber wurde allerdings betont, dass die von der Vor-
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Markus Schürer
lage getroffene Unterscheidung von Bußpredigern und Bettelmönchen, ganz entsprechend der Unterscheidung von Bußpredigt und dogmatischer Predigt und völlig unabhängig von der theologischen Avanciertheit bestimmter Bettelmönche, auf idealtypische Haltungen (Aufruf versus argumentierende Diskussion) ziele. In theologische Debatten hätten die Spruchdichter in aller Regel nicht eingegriffen. Im Appell zu christlicher Lebensführung stellten sie sich aber durchaus den Predigern zur Seite, indem sie ihre Mahner- und Lehrerrolle (usurpatorisch) ausweiteten, und zwar selbstverständlich ohne Approbation, vielmehr – typisch volkssprachig – legitimiert durch Praxis. Dass man damit Häresieverdacht riskiert habe, sei nicht zu erkennen, die Allgemeinheit spruchdichterischer Belehrungen spreche eher dagegen. Der lebensweltliche Ort von Spruchdichtung als einer sich gewissermaßen selbst legitimierenden sozialen Praxis sei freilich durch diese Präzisierung ihrer Relationen zur Predigt einstweilen erst umrisshaft bestimmt. Die beiden letzten Vorlagen der dritten Sektion gehen auf Überlagerungen und Spannungen zwischen dem Religiösem einerseits und andererseits im weitesten Sinne schwankhaften Erzählverfahren ein. Problemen der Transgression zunächst, die ins Zentrum des Symposionsthemas gehören, widmet sich die Vorlage Nikola von Merveldts. Transgression wird von ihr mit Lotman3 als Überschreitung der Grenze zwischen zwei Räumen, die zugleich für verschiedene semantische und normative Ordnungen stehen, bestimmt. Sodann versucht die Vorlage dieses Konzept unter Verwendung der von Luhmann bezogenen Formfigur des re-entry 4 (die Wiedereinführung einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene) zu dynamisieren, um es auf diese Weise für die Lektüre religiöser Erzähltexte fruchtbar machen zu können. Solche Texte wiederholten zwar stets die narrative Inszenierung der Überschreitung der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, blieben ihrerseits aber notwendig auf der Seite der Immanenz stehen und müssten deswegen als im Prinzip sujetlos betrachtet werden. Unter dieser Voraussetzung unternimmt es die Vorlage, an den fabliaux dvots aus dem französischen Zweig der Vitas patrum-Tradition zu zeigen, wie sie gerade in jenem Modus eklatanter Immanenzbetonung, als der hier die sexuelle Transgression zu verstehen sei, eine Grenzüberschreitung zur Transzendenz vollzögen. Insofern werde die entscheidende Grenze 3 4
Yurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ M. 1987, S. 230 et passim.
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allererst im Akt des Erzählens performativ hergestellt und sei die sexuelle Transgression daher das zentrale Element der Textkonstitution. Mit diesem Argument rückte die Vorlage die Frage der Sujethaftigkeit der von ihr untersuchten Erzähltexte in den Mittelpunkt des Gesprächs. Die Art und Weise, wie Transzendenz in den Vie des Pres zur Erscheinung komme, so wurde argumentiert, sei ebenso sujetkonstitutiv wie der Aspekt der Bewährung von Protagonisten in Situationen der Versuchung. Auch die intertextuellen Bezugssysteme der Erzählungen und ihr Ort im Gattungssystem der volkssprachigen Literatur legten es nahe, sie als sujethaft anzusprechen. Dieser Ort seinerseits sei überdies diskutabel: Könne man die Texte angesichts ihrer sexuellen Motivik und der Drastik ihrer Darstellungsverfahren tatsächlich als fabliaux dvots ansprechen? Produzierten die narrationes nicht eine fortgesetzte Konfrontation von Transzendenz und Immanenz, so dass sie als permanente Transgressionen zu lesen seien? In einer allgemeineren kulturtheoretischen Perspektive, so wurde dem schließlich hinzugefügt, seien die vorgestellten Erzählungen geradezu als eine Illustration der These von Durkheim5 lesbar, dass soziale Normen allein über Normüberschreitungen artikulierbar seien. Bei gattungstheoretischen Fragen setzt auch die Vorlage von HansJürgen Scheuer ein, indem sie die in der Literaturwissenschaft vorherrschende gattungssystematische Einordnung schwankhaften Erzählens kritisiert und den Schwank als eine ,einfache Form‘ im Sinne von Jolles6 auszuweisen sucht. Wie von Merveldt differenztheoretischer Analysefiguren sich bedienend, hebt Scheuer sodann auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den Sinnbildungsprozessen religiöser Kommunikation und denjenigen schwankhaften Erzählens ab, um einem spezifischen Aspekt mittelalterlicher Schwänke gerecht zu werden, der sich schon in ihren – aus der Perspektive der etablierten Forschung im Grunde skandalösen – Überlieferungsverbünden mit geistlichen Texten manifestiere. Die zahlreichen religiösen Signale in den Schwänken seien nicht als Einsprengsel von allenfalls marginaler Bedeutung zu lesen. Sie seien vielmehr je primäre Interpretanda, nämlich Vollzugsformen einer radikalen Transzendierung von Welt5 6
Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiçsen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt/M. 1981, S. 62 – 68 et passim. André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rtsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Mrchen, Witz, Studienausgabe der 5., unveränd. Auflage, Tübingen 1974 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15).
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Schürer, Diskussionsbericht
immanenz, die in den Schwankmotiven der Fragmentierung und Entmaterialisierung sich beobachten lasse. Ob für Sachverhalte der beschriebenen Art der Ausdruck ,religiöse Kommunikation‘ geeignet sei, wurde allerdings kontrovers diskutiert. Kritische Positionen verwiesen auf die Gefahr, dass Kategorien wie Immanenz, Transzendenz und Religiosität/Religion bei derartigem Gebrauch ihrer terminologischen Bezeichnungsfähigkeit verlustig gehen könnten. Zugleich erschwere es eine sehr expansive Verwendung des Leitbegriffs ,religiöse Kommunikation‘, die spezifischen Formen der Überlagerung etwa von Religiösem und Obszönem, wie sie zum Beispiel das Märe vom Nonnenturnier in besonderer Prägnanz aufweise, analytisch präzise in den Griff zu bekommen. Eine von allen Semantiken des Religiösen absehende, rein formale differenztheoretische Fassung der Immanenz-TranszendenzUnterscheidung in der Vorlage rücke überdies zum Beispiel parodistische Erzählverfahren aus dem Blick. Solche Kritik berücksichtigt hingegen Scheuers Auffassung zufolge den Umstand zu wenig, dass die Erzählkalküle der untersuchten Texte bei aller – vordergründigen – Obszönität durchaus auf unhintergehbarer Normativität, zumal solcher religiöser Provenienz, beruhten und insistierten. So lasse sich etwa an der Buhlschaft auf dem Baume zeigen, dass die Außerkraftsetzung moraldidaktischer Intentionen hier gerade mit Hilfe eines genuin religiösen Aktes bewerkstelligt werde. Eine ganz andere Interpretationsrichtung schloss hingegen an die Beobachtung von Spuren einer Rezeption der Theologie des 13. Jahrhunderts in diesem Text an und stellte der These von einer antiklerikalen Tendenz die Vermutung gegenüber, es handele sich bei der Buhlschaft auf dem Baume vielmehr ursprünglich um eine rhetorisch-kasuistische Übung aus klerikal-theologischen Gebrauchszusammenhängen.
IV. Sektion: Performative Praxis
Einleitung Andreas Hçfele Performance ist das Losungswort eines Sprachspiels (fast) ohne Grenzen. Längst beschränkt sich sein Einzugsbereich nicht mehr auf die darstellenden Künste, die performing arts des Theaters, längst nicht mehr auf eine linguistische Beschreibungskategorie für Äußerungen oder auf die identitätsstiftenden Rituale außereuropäischer Gesellschaften. Längst auch fällt das Losungswort nicht mehr nur dort, wo von Inszenierungen die Rede ist, die als Interaktionen in leiblicher Kopräsenz stattfinden. Zunehmend werden Performanz und Performativität vielmehr ebenso dort in Anschlag gebracht, wo sie zunächst als Gegenkonzepte exkludierende Abgrenzungen schaffen sollten: beispielsweise in Texten. Von ihrer Provenienz in bestimmten Gegenstandsbereichen gelöst sind die Begriffe, universell applikabel, zu Erschließungschiffren nahezu jeglichen Kulturphänomens avanciert. Wie Uwe Wirth in der Einführung seines bekannten Suhrkamp-Sammelbands zum Thema schreibt, kann „Performanz […] sich ebenso auf das ernsthafte Ausfhren von Sprechakten, das inszenierende Auffhren von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkçrpern von Botschaften im ,Akt des Schreibens‘ oder auf die Konstitution von Imaginationen im ,Akt des Lesens‘ beziehen.“1 Von ,ubiquitärer Anwendbarkeit‘ und ,Hochkonjunktur‘ ist die Rede, vom Performanzbegriff als „umbrella term der Kulturwissenschaften“, wobei nicht verschwiegen wird, dass die Allgegenwart des Allzweckbegriffs nicht allseits auf Zustimmung stößt. Es leuchtet ein, dass die Verfasserinnen eines Überblicksartikels von 19902 den Begriff performance den sogenannten „essentially contested concepts“ zuordnen, 1 2
Uwe Wirth, „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S. 9 – 60, hier S. 9. Mary Susan Strine/Beverly Whitaker Long/Mary Frances Hopkins, „Research in Interpretation and Performance Studies: Trends, Issues, Priorities“, in: Gerald M. Phillips/Julia T. Wood (Hrsg.), Speech Communication: Essays to commemorate the 75th anniversary of the Speech Communication Association, Carbondale 1990, S. 181 – 204; zitiert bei Marvin Carlson, Performance: A Critical Introduction, New York 1996, S. 1.
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Andreas Höfele
von denen der Erfinder dieses Begriffs, W. B. Gallie, schreibt: „Recognition of a given concept as essentially contested implies recognition of rival uses of it (such as oneself repudiates) as not only logically possible and humanly ,likely‘, but as of permanent potential critical value to one’s own use or interpretation of the concept in question.“3 Der contest um das Performanzkonzept, so Strine, Long und Hopkins, werde in einer Atmosphäre ,niveauvoller Uneinigkeit‘ („an atmosphere of sophisticated disagreement“) ausgetragen, von Beteiligten „[who] do not expect to defeat or silence opposing positions, but rather through continuing dialogue to attain a sharper articulation of all positions and therefore a fuller understanding of the conceptual richness of performance“.4 Anderthalb Jahrzehnte nach dieser Diagnose scheint mir der Befund nahezuliegen, dass die Performanz ihre, nennen wir es ,heroische‘ Phase wissenschaftsdynamisch hinter sich hat, die Phase, in der sie als durchzusetzendes, neues Konzept selbst thematisiert und – sit venia verbo – ,kontestiert‘ wurde, die Phase, in der ihre Tragfähigkeit und Valeurs erprobt, ihre Reichweite und Territorialansprüche abgesteckt werden mussten. Der Wortlogik nach wäre der performative turn, also die Drehung oder Wende hin zum Performativen damit vollzogen, erfolgreich bewältigt, also genau genommen vorbei, denn wer nach einem einmal vollzogenen Richtungswechsel nicht aufhört sich zu ,wenden‘, würde sich ja doch unweigerlich von seiner neuen Richtung wieder abwenden. Davon aber kann, von gewissen Verschleißerscheinungen einmal abgesehen, wohl kaum die Rede sein. Mitnichten hat die Performanz ausgedient, vielmehr sich als unverzichtbarer Teil einer im Kuhnschen Sinne normal science etabliert, ein ständig gebrauchtes Utensil im Werkzeugschrank unseres Denkens, dessen anhaltende Beliebtheit sich nicht zuletzt einer gefühlten Affinität zu gewissen postmodernen Befindlichkeiten verdanken dürfte. Sehr unterschiedliche performances und Performativitäten sind diskursiv im Umlauf, „ohne daß dabei jedoch“, wie Manfred Pfister in wohltemperiertem Understatement formuliert, „der Zusammenhang zwischen den diversen Begriffsprägungen unerkennbar geworden wäre“.5 3 4 5
W. B. Gallie, Philosophy and the Historical Understanding, London 1964., S. 187 f. Strine/Long/Hopkins, „Research“ (Anm. 2) S. 183. Manfred Pfister, „Performance, Performativität“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart – Weimar 42008, S. 562 – 564, hier S. 562.
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Dies hier erneut belegen oder anfechten zu wollen, erübrigt sich angesichts einer stattlichen Reihe bereits vorliegender Klärungsversuche, es wäre im Rahmen dieser Einleitung auch schlechterdings gar nicht zu leisten. Geht man von einer linguistischen ,Urszene‘ der Begriffsbildung aus, ist alles zunächst ganz einfach. Man kann es in den Satz von John R. Searle fassen, dass alle Äußerungen performances sind, aber nur eine begrenzte Klasse von ihnen performatives. 6 Damit hätte man den Chomskyschen Performanzbegriff von den performativen Sprechakten Austins getrennt und könnte sich, mit diesem Binarismus bewaffnet, daran versuchen, in einer Art Lessingscher Scheidekunst taxonomische Ordnung zu schaffen. Ich halte dies allerdings für nur begrenzt aussichtsreich. Chomskys performance, durch die Übersetzung in ,Performanz‘ wenigstens im Deutschen semantisch stillgestellt, verflüssigt sich sofort wieder, wenn man sie in ihr natives Sprachelement rücküberträgt, wo sie aufgeht in der Fülle theatraler, ritueller, alltagskommunikativer performances. Man kann dies und die damit verbundenen Unschärfen bedauern, kaum aber regulativ verhindern. Wenn gilt, dass die Normalsprache die letzte Metasprache aller Spezial-, Sonder- und Fachsprachen bleibt, dann ist wohl festzustellen, dass es der interdisziplinäre performanztheoretische Diskurs geschafft hat, sich an allen taxonomischen Barrieren vorbei zu den semantischen Fleischtöpfen der Normalsprache und ihren Vieldeutigkeiten durchzuschlagen. Damit würde die Performanz als Beschreibungskategorie wiederholen, was ihr als Objektkategorie gern nachgesagt wird, einen indomitablen Drang, Überschuss zu erzeugen. Dennoch könnte es hier nützlich sein, eine Basalunterscheidung in Erinnerung zu rufen, die weniger fachterminologisch als normalsprachlich begründet ist, und zwar die Bifurkation der Begriffsbildung entlang der „beiden semantischen Hauptachsen“7 des Verbs to perform: „ausführen“ und „aufführen“ – nicht etwa, um begriffspuristisch einen ,korrekten‘ Gebrauch einzufordern, vielmehr um die Dynamik, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen den beiden Polen ergibt, etwas zu verdeutlichen. Der Abstand scheint zunächst klar markiert: Austins performatives hören auf welche zu sein, sobald sie sich als aufgeführt zu erkennen geben: „a performative utterance will […] be […] hollow and 6 7
John R. Searle, „How Performatives Work“, in: Linguistics and Philosophy 12/ 1989, S. 535 – 558. Pfister, „Performance“ (Anm. 5), S. 496.
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void if said by an actor on the stage.“8 Doch bereits im Urbeispiel der Austinschen Sprechakttheorie deuten sich Interferenzen an. Zum performative wird die Äußerung „I do“ unter den Bedingungen einer – im Fußball würde man sagen – Standardsituation, nämlich des Zeremoniells der Eheschließung: „,I do (sc. take this woman to be my lawful wedded wife)‘ – as uttered in the course of the marriage ceremony.“ Dies ist Austins allererstes Exempel.9 Ausgerechnet Hochzeitszeremonien sind aber auch ein Musterbeispiel jener ritualisierten Gemeinschaftsveranstaltungen, die Milton Singer vier Jahre nach Austins Harvard-Vorlesungen 1959 als cultural performances bezeichnet. Während es Austin darauf ankommt, dass Sprechen mehr kann, als ihm die redensartliche Dichotomie von Worten und Taten zutraut, dass es mehr ist als „,just‘ saying something“, sondern eben genuines Handeln, hebt Singer an kollektiven Handlungen deren Aufführungscharakter hervor, ein konstitutives Moment des Theatralen. Dieses Moment würde aber genau das schwächen, was Austin stark machen will: den genuinen Handlungscharakter des Sprechens. Schließlich will Austin zeigen, wie und dass man mit Worten Dinge tun kann, und nicht, dass man mit ihnen auch so tun kann als ob. Wie sehr ihm daran liegt, ausfhrendes Sprechhandeln von den Doppelbödigkeiten des Auffhrens freizuhalten, zeigt seine pathologisierende Ausschlusssemantik des ,Parasitären‘ und der ,Auszehrung‘. Sprache unter den Bedingungen der Aufführung ist „in special ways – intelligibly – used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use – ways which fall under the doctrine of the etiolations of language. All this we are excluding from consideration“.10 Auf der Seite der Sprechakttheorie gerät die puristische Exklusion des ,unernsten‘ Gebrauchs spätestens mit Derridas Kritik unter Beschuss. In der Ritualforschung sind dem Performanzbegriff von Anfang an die Ambivalenz, der fließende Übergang, das Ineinandergreifen von Aus- und Aufführen mitgegeben, ja gerade hierin erweist sich auf seinen ethnologisch-kulturanthropologischen Anwendungsfeldern die besondere Produktivität des Konzepts. Wenn Victor Turner einer seiner letzten Arbeiten den 8 John L. Austin, How to do things with Words: The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, hrsg. von J. O. Urmson, Oxford 1962, S. 22. 9 Dass die Formel „I do“, wie eine Fußnote in der zweiten, postumen Auflage vermerkt, bei englischen Hochzeiten tatsächlich gar nicht vorkommt, ist hier nebensächlich. „We have let it remain in the text,“ erklärt der Herausgeber, „as it is philosophically unimportant that it is a mistake“ (ebd., S. 5). 10 Ebd., S. 22.
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Untertitel The Human Seriousness of Play gibt11, dann spielt dies höchstens in zweiter oder dritter Linie auf die lukianische Tradition des serio ludere an; in erster Linie geht es darum, dem Spiel, dem Aufführen, der Inszenierung den Handlungsstatus zuzuerkennen, den Austin ihm verweigert. Dies läuft nun aber gerade nicht darauf hinaus – zumindest, meine ich, sollte es das nicht –, alle Unterscheidungen zu schleifen, auch wenn gerade dieses Entdifferenzierungspotenzial die eingangs erwähnte Hochkonjunktur und gefühlte Affinität des Performanzbegriffs zum gegenwärtigen Stand – oder vielleicht besser, Fluss – der Dinge nicht unwesentlich befördert haben dürfte. Wenn Wirklichkeit sub specie theatralitatis, also aus Sicht der Performativitätsforschung, wie Erika Fischer-Lichte schreibt, „prinzipiell als theatrale Wirklichkeit [erscheint]“12, so spiegelt und bestätigt sich darin die Auffassung, dass „die Unterscheidung zwischen Sein und Schein […] in unserer Gegenwartskultur längst hinfällig geworden“13 sei (eine Auffassung, die man nicht unbedingt teilen muss). In dieser Zuspitzung jedenfalls sind sich der Sprachphilosoph (Austin), der das Theater für off limits erklärt, und die Theaterwissenschaftlerin (Fischer-Lichte), die alles zum Theater macht, dann doch wieder darin einig, der theatralen Performativität des Aufführens eine entwirklichende, desubstanziierende Wirkung zuzuschreiben. Doch erstens muss, wer sagt, dass alles nur Spiel sei, über ein Konzept von Nicht-Spiel – nennen wir es ruhig ,Ernst‘ – verfügen, und damit wird die Grenze konstitutiv, die mit der Rede von der Alltheatralität der Lebenswelt/Wirklichkeit scheinbar – aber eben nur scheinbar – eliminiert wird. Und zweitens gäbe es wohl komplexere Beschreibungsangebote der Konstitution von Welt, die den Inszenierungsbegriff ohne das Pathos ontologischer Fundamentsprengung fruchtbar machen, beispielsweise Hans-Georg Soeffners Studien zu Funktionsmechanismen dessen, was er als „Beobachtungs- und Inszenierungsgesellschaften“14 bezeichnet. Für den Moment aber mag die vielleicht etwas grobschlächtige Sein-Schein-Opposition dazu dienen, die Terminologiedebatte an das historische Feld unseres Symposiums zurückzubinden. 11 Victor Turner, From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982. 12 Erika Fischer-Lichte, „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“, in: Wirth (Hrsg.), Performanz (Anm. 1), S. 277 – 300, hier S. 292. 13 Ebd. 14 Hans-Georg Soeffner, Die Ordnung der Rituale, Frankfurt/M. 1992, S. 9.
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Diese Opposition steht in erkennbarem Zusammenhang mit derjenigen zwischen Präsenz und Repräsentation, an der sich Struktur und Funktionsweise des Performativen entfalten und auf eine Leitdifferenz dieses Symposiums perspektivieren lassen, diejenige zwischen Immanenz und Transzendenz, die Gerd Melville in seiner Sektionseinleitung prägnant auf die Formel der unverfügbaren Allgegenwart Gottes gebracht hat. Unweigerlich – man möchte fast sagen: reflexhaft – ruft dies die Eucharistie auf den Plan: das Messopfer der mittelalterlichen Kirche als Paradigma religiöser Performativität, den Vollzug einer sakramentalen Handlung, die die Transzendenz in die Immanenz hereinholt, sie real präsent werden lässt, indem sie das corpus Christi im Akt der Konsekration rituell vergegenwärtigt. Vielleicht wäre es angezeigt, den liturgischen Vorgang der Wandlung nicht als Regel-, sondern als Ausnahmefall religiöser Performanz zu begreifen, auch wenn man Hans Ulrich Gumbrecht zustimmen würde, dass es für den „Übergang von der mittelalterlichen Kosmologie zum Subjekt/Objekt-Paradigma […] als Fundierung dessen, was wir die ,neuzeitliche Welt‘ nennen“, wohl kein anderes so zentrales Beispiel geben dürfte, wie den Gegensatz und Übergang zwischen der mittelalterlich-,katholischen‘ und der protestantischen Theologie des Abendmahls.15 Die Produktion von Präsenz, um die es Gumbrecht geht und die durch die katholische Theologie des Abendmahls dogmatisch verbürgt ist, kann aufgrund der „herausragende[n] Heiligkeit“ der Messhandlung, wie Thomas Lentes in seiner für diese Sektion höchst einschlägigen Vorlage formuliert, für andere Formen religiöser Performativität gerade nicht oder nur bedingt in Anspruch genommen werden (S 330). Performanz stellt eine Form der Ermächtigung desjenigen dar, der ,performiert‘, der damit seine Handlungsmacht zum Ausdruck bringt, sie ausstellt, sie für sich selbst und andere bemerkbar zur Geltung bringt. Als ,Performanzeffekt‘ (eine Wortprägung, die in einem Vorgespräch zu dieser Sektion von Stephan Laqué vorgeschlagen wurde) wäre die Selbstgegenwart des Tuenden im Tun auf ein Heiliges hin zu veranschlagen, welches gerade nicht dessen Präsenz, sondern die Grenzen von Präsenz und Verfügbarkeit vergegenwärtigt. Die Unverfügbarkeit des Heiligen wird dabei nicht als reines Defizit erfahren, sondern als etwas, das durch eine besondere Form des Zugangs und des Entzogenseins als Numinoses/Unerreichbares iterativ-rituell beglaubigt wird. Auch in der 15 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Prsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2004, S. 46.
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Performanz der Grenze und des ,Unvermögens‘ entsteht der Effekt einer Form von Handlungsflle. Der Performanzeffekt greift also auch und gerade da, wo Präsenz nicht zu haben ist. Mystische Rede beispielsweise kann, indem sie die Sprache an und über ihre Grenze treibt, ihres numinosen Signifikats niemals habhaft werden, wohl aber – und gerade durch ihre performative Anstrengung – dem Heiligen erfahrbare Größe verleihen.16 Unter dem Aspekt der Bifurkation von ausführender und aufführender Performanz lässt sich auch der heuristische Binarismus unseres Gesamtthemas erneut befragen, insofern sich die Opposition ,religiös‘/ ,literarisch‘ auf die Begriffspaare Ritual und Drama, Liturgie und Theater oder auch, wie im Titel eines Aufsatzes von Jan-Dirk Müller, Ritual und Mimesis17 zwar womöglich nicht exakt abbilden, wohl aber reperspektivieren lässt. Ebenso wird die mit der Thematisierung von ,Kommunikation‘ vorgenommene Dynamisierung der Opposition ,religiös‘/,literarisch‘ im Performativitätsbegriff aufgenommen und verstärkt. Beispielsweise bietet sich die grenzenlos applikable Performanzkategorie gerade dort als Instrument der Grenzvermessung an, wo Differenzierungen zwischen religiöser und literarischer Kommunikation den Texten und Artefakten selbst nicht abzulesen sind, wo sich diese Grenze vielmehr erst in actu erschließt, performativ gezogen oder auch überspielt wird. Der Sektionstitel „Performative Praxis“ betont Prozess und Pragmatisierung, eine Funktionalisierung, die durch bestimmte Tätigkeiten in bestimmten oder bestimmbaren situativen Kontexten erfolgt, ausgestellt und beobachtet wird. Er rückt die Handlungsperspektive in den Mittelpunkt. Die Texte und Bilder, mit denen die Vorlagen der Sektion sich befassen, stehen in institutionellen, diskursiven und medialen Zusammenhängen, ihre kommunikative Bedeutung aber erschließt sich ganz wesentlich im Gebrauch, in der Praxis, die sich ihrer bedient, in den Handlungsmustern und Inszenierungsformen, die sich an und mit ihnen vollziehen, den Handlungsimpulsen, die durch sie generiert werden, wobei unter die Handlungen auch, pace Austin, das theatrale Spiel zu rechnen wäre. 16 Zu diesen Überlegungen finden sich in den Vorlagen von Sebastian Neumeister, Niklaus Largier und Susanne Köbele Anschlüsse. 17 Jan-Dirk Müller, „Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, Freiburg/Br. 1998, S. 541 – 571.
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Die Vorlagen dieser Sektion – darin unterscheidet sie sich nicht von den übrigen dieses Symposiums – beziehen ihre Empirie aus einem breiten und diversen Feld von Gegenständen. Historisch reicht es vom 12. bis ins 17. Jahrhundert; generisch vom geistlichen Spiel über Predigten aus dem Bereich der Mystik, deutsche Gebetsanleitungen und spanische Meditationshandbücher zu Chaucers englischer Verserzählung; von der italienischen Malerei des trecento bis zum Kriegseinsatz von Marienbildern in der Frühen Neuzeit. Hierin entspricht die Streuung der Untersuchungsobjekte der dispersiven Dynamik des Leitbegriffs dieser Sektion. Anstelle einer Systematisierung, die in voller Konsequenz an den vorzustellenden Texten gar nicht darstellbar wäre, soll daher lieber versucht werden, an den Vorlagen im Hinblick auf das Sektionsthema besonders einschlägige Aspekte zu akzentuieren. Jutta Emings Vorlage thematisiert die beiden genannten Grenzziehungen – diejenige zwischen Ritual und Theater und die zwischen Immanenz und Transzendenz –, wobei die erste gewissermaßen nur als Durchgangsstation dient und hinführt auf die zweite, die das eigentliche Zentrum der Argumentation bildet. Es geht mithin weniger um die Frage, ob es sich bei den ritualisierten Marienklagen um ,echte Rituale‘ oder solche ,zweiter Ordnung‘ oder um ,pararituelle Einschübe‘ handelt. Betrachtet wird vielmehr, was geschieht, wenn die gesprochenen Marienklagen samt ihres affektiven und performativen Potenzials in der Aufführung der Passionsspiele mit der leibhaftigen Präsenz des Heilanddarstellers zusammentreffen. Dies bewirkt, so argumentiert Eming, keine simple Vermehrung – Präsenzeffekte in den Klagen, mehr Präsenzeffekte, wenn die mimetische Körperpräsenz die Leiden des Heilands veranschaulicht –, sondern eine Spannung, eine Gegenläufigkeit von Annäherung und Distanzierung, Präsentation und Entrückung. Auf die Frage, mit wessen Leid die Rezipienten der Marienklagen eigentlich mitleiden, lautet Emings Antwort: mit der über die Leiden und den Tod ihres Sohnes trauernden Maria. Wenn die Strategien der Emotionslenkung „auf dem Wege des Mitgefühls eine maximale Annäherung“ erzielen, „dann an Maria, nicht an Christus“ (S. 806). Das Leidensgeschehen wird somit einerseits an die Zuschauer herangerückt und intensiviert, andererseits aber wird Christus als Herr, nicht Opfer der Passion18, wird das corpus Christi als das jeder sinnlichen Gegenwart
18 Vgl. Ursula Hennig, „Jesus am Kreuz in der hessischen Passionsspieltradition. Text und Dramaturgie“, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Insze-
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entzogene sacrum bestätigt, seine Heiligkeit als Unverfügbarkeit erfahrbar gemacht. Gestützt wird dieses Hauptargument durch zwei kontribuierende Linien: eine Untersuchung der keineswegs statischen, sondern als Trauerprozess angelegten Klage sowie eine Diskussion, inwieweit die Qualen und das Quälen des Heilands tatsächlich in jener veristischen Drastik aufgeführt wurden, wie Rainer Warning dies annimmt.19 Mit Andrew Johnstons Vorlage zum Pardoner in Chaucers Canterbury Tales wird nicht nur die Grenze der kontinentaleuropäischen Literatur überschritten, sondern auch die zwischen einem Handeln, das sich mit oder an Texten vollzieht, und einem, das im Text situiert ist. Der Ablassprediger und seine Geschichte existieren auf der intradiegetischen Ebene, sie sind Teil der von Chaucer erzählten Geschichte. Innerhalb der Erzählfiktion, und im Medium der Schriftlichkeit inszeniert Chaucer auf der ,Textbühne‘ eine mündliche performance, bestehend aus dem Dialog zwischen Pardoner und Wirt einerseits und der Predigt des Pardoner andererseits. Dabei geht es Johnston um die theologisch brisante Diskrepanz zwischen der moralisch fragwürdigen, sündigen, der desperatio verfallenen Figur des Predigers respektive performer und der eindrucksvoll gelingenden, moralisch höchst überzeugenden Predigt respektive performance. Theologisch handelt es sich hier um die zwischen den Lollarden und den Vertretern der Orthodoxie ausgetragene Kontroverse um die Geltung liturgischer und sakramentaler Amtshandlungen, die von unwürdigen Priestern vollzogen werden. Performanztheoretisch ließe sich dies als Figuration jener von Sybille Krämer beschriebenen Epistemologie fassen, „die auf der Dissoziierung von Können und Person beruht“, auf jener „Trennung zwischen der Wahrhaftigkeit der Person und der Wahrheit einer Aussage“20, welche, so Krämers Hypothese, im Modus der Schriftlichkeit Profil gewinnt und für eine argumentative wissenschaftliche Diskurspraktik fundierend ist. In Johnstons Argument wäre in dieser Disjunktion gleichzeitig auch die Ermöglichungsbedingung spezifisch literarinierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frhen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 167 – 176. 19 Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35). 20 Sybille Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Wirth (Hrsg.), Performanz (Anm. 1), S. 323 – 346, hier S. 340.
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scher Kommunikation, ein „performative[r] Schritt in Richtung Autonomieästhetik“ (S. 840), angelegt. Klaus Schreiners Vorlage richtet anhand einer breiten Palette an Funktionsweisen wundergläubiger Marienbildverehrung den Blick auf unterschiedliche Formen performativer Handlungsermächtigung. Das Spektrum erstreckt sich hierbei vom Vertrauen auf eine direkte (schützende oder stärkende) Unterstützung durch die im mitgeführten Bildnis präsente Muttergottes, die das Heer in ihrem Voran-getragenwerden geradezu buchstäblich in die Schlacht führt, bis hin zu einem kampfentscheidenden Eintreten der Soldaten für die Ehre und (durchaus materielle) Unversehrtheit des Bildnisses. Im letzteren Fall basiert die Wirkmächtigkeit Mariens nicht auf einer dem Bild innewohnenden – oder als innewohnend zugeschriebenen – numinosen Kraft, sondern auf der Funktion des Bildnisses als Bezugspunkt einer Gruppenidentität; im vorgestellten Fall ist es die des Heeres von König Alfons VIII. von Kastilien. Sämtliche in der Vorlage zitierten Fälle erweisen den performativen Vollzug der Marienbildverehrung als eine kriegerische Handlung. Der Akt der Verehrung bedingt also die Ausführung eines Handlungsaktes: dies gewissermaßen ,klassisch‘ die Struktur eines performative speech-act Austinscher Prägung. Die Inszenierung der Verehrung durch unterschiedliche Formen des Mitführens der Effigien sowie durch den Einbezug Authentizität verbürgender Narrative (etwa über das Weinen der Madonna von Pötsch) ist hierbei die zentrale Ermöglichungsbedingung für den Vollzug. Aufführende und ausführende Performanz zeigen sich in komplexer Verschränkung und wechselseitiger Verstärkung. Klaus Krüger zeigt die performative Kraft der von ihm untersuchten Bildprogramme des trecento als Wirkung bestimmter künstlerischer Techniken und der mit ihnen einhergehenden Neukonzeption und -bewertung bildkünstlerischer Fiktionalität. An Giottos Fresken in der Arenakapelle in Padua zeigt er die Signatur einer epochalen Ablösung, die auf die Eigenwertigkeit des Bildes hinausläuft, das nicht mehr nur als repräsentierender Verweis auf eine präexistente Transzendenz fungiert, sondern einem autonomen Wahrheitsanspruch der Diesseitigkeit Gestalt gibt. Die figura nimmt, wie Krüger schreibt, „alle Eigenschaften einer offenkundigen Präsenz an“ (S. 906). Von den Beispielen dieser neuen Bildkonzeption geht der nächste Untersuchungsschritt zu deren Funktion im Raum und Symbolhaushalt des städtischen Gemeinwesens. Die These ist, dass die Bildprogramme hier die Stelle eines charismatischen Vakuums besetzen, das sie kompensatorisch mit quasi-religiöser Auto-
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rität zu füllen suchen, wobei der appellative Charakter der Bilder durch rituelle Handlungen und Inszenierungen unterstützt wurde. Anknüpfend an die oben angestellten Überlegungen zur Struktur und Funktion eines ,Performanzeffekts‘ lassen sich die in den Vorlagen von Sebastian Neumeister, Niklaus Largier und Susanne Köbele untersuchten Texte als Zeugnisse der Annäherung an Unverfügbarkeit beschreiben. Alle drei Vorlagen untersuchen die sprachlich erzeugte Dynamik, die – sei es in gezielter semantischer Überforderung der Sprache (Köbele), sei es in Regeln für eine performative Meditationsund Frömmigkeitspraxis (Neumeister, Largier) – ihr transzendentes Ziel in der Grenzüberschreitung zugleich erfahrbar macht und unerreichbar belässt. Die Vorlage von Sebastian Neumeister lässt Baltasar Graciáns Comulgatorio als einen Text erkennen, der sich – im Gegensatz zu den Meditationsanweisungen des Ordensgründers Ignatius von Loyola – in hohem Maße seines eigenen Textseins bewusst ist, der seine eigene Sprachlichkeit affirmiert, ausstellt und geradezu feiert. Wenn Ignatius dem Leser Genuss verspricht, so erwächst dieser einer strengen Enthaltsamkeit. Wie es in der zweiten Vorbemerkung zu den Exercitia spiritualia heißt: „[N]icht die Überfülle des Wissens sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Spüren und Verkosten der Wahrheit selbst im Innern.“ (S. 945) Genuss wird jenseits des sprachlichen Mediums situiert, als Erleben der Wahrheit in der inneren Meditation. Ignatius, so Neumeister, betrachtet „[d]ie imaginative Performanz der Exercitia spiritualia […] immer nur [als] Durchgangsstadium auf dem Wege zur spirituellen Überwindung jeglicher Bildlichkeit“ (S. 940). Ganz anders Gracián: Der barocke Überschwang des Comulgatorio, welcher ohne die asketischen Skrupel Loyolas alle Register literarischer Opulenz zieht, lädt zum performativen Vollzug einer Lektüre ein, die über den Genuss an der „Sinnlichkeit der Sprache“ den Weg zu Gott weist. Während sich bei Loyola eine Entkoppelung der religiösen Erfahrung vom Leseakt beobachten lässt, ist es bei Gracián, so Neumeister, gerade der literarische Eigenreiz des Textes, der zum Garanten religiöser Erfahrung wird. Wie Texte zu Medien performativer Praxis werden, zeigt Niklaus Largier in seiner Untersuchung von Anleitungen zu Gebet und Kontemplation von David von Augsburg und Rudolf von Biberach. Diese Texte wollen eine kontrollierte Habitusbildung befördern, die Einübung in eine wiederholbare Selbstaffektation im Wege eines zitierenden Betens, bei dem nicht das Schriftverständnis im Vordergrund
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steht, als vielmehr asemantische Erfahrungsmomente. Die individuelle Gebetspraxis und die durch sie gewonnene Gotteserfahrung wird im Kontext mönchischer Lebensform zu einem identitätsstiftenden Gemeinschaftsanliegen. Die auf den Anleitungen beruhende Praxis wird verstetigt und tradiert. Es etabliert sich eine Erfahrungspraxis als Teil monastischer Sozialität; die Gebetsanleitungen initiieren ein sich selbst fortzeugendes Gespräch über – und als – Erfahrungspraxis, die Momente des Überschießens produziert, insbesondere dann, wenn sie in die Volkssprachlichkeit übergeht. Dies ruft eine Kontrollpraxis auf den Plan: eine ebenfalls wieder per Anleitung dokumentierte discretio spiritum. Seit dem 14. Jahrhundert kommt es in diesem Widerspiel von Erfahrungsgenerierung und Einhegungsbestreben zu „Praktiken der Evaluation innerer Erfahrung“. Eine Schrift wie Johannes Gersons De probatione spiritum entspringt dem Misstrauen gegen das Ausufern des „endlose[n] Gespräch[s]“, das Konfabulieren, die „unersättliche Sucht zu schauen und (darüber) zu sprechen“21, vornehmlich dann, wenn diese ausufernde Rede mit einer spezifischen ,Frauenspiritualität‘ identifiziert wird. Kommunikation über religiöse Erfahrung wird zum Autoritätsproblem; eine performative Praxis, die zunächst selbst Lenkungsfunktion in den Bahnen monastischer Sozialität übernimmt, weitet sich aus und bedingt ihrerseits Kontrollmaßnahmen, sobald autorisierter Diskurs in ,öffentliches‘ Gespräch übergeht. Eine analoge Dynamik thematisiert die Vorlage von Susanne Köbele, die die Sektion beschließt. Ihr Anknüpfungspunkt zu den Überlegungen von Neumeister und Largier liegt auf der Hand: Auch hier geht es um religiöse Rede, die in ihrer Anstrengung, das ineffabile zu erreichen, Normen – sprachliche wie dogmatische – verletzt. In der Analyse von Meister Eckharts berswanc wird das Funktionsprinzip dieser Normverletzung herausgearbeitet. Es basiert auf der Vorstellung einer emphatischen „Kürze, die alles einschließt“22 und mit diesem Anspruch Mehrdeutigkeit produziert, die sich aus Sicht der theologischen Dogmatik als intolerable Beweglichkeit – und damit unweigerlich 21 Johannes Gerson, „De probatione spirituum“, in: ders., Oeuvres compltes, hrsg. von Palémon Glorieux, Bd. 9, Paris 1973, S. 177 – 185, hier S. 184; deutsche Übersetzung zitiert nach dem Beitrag von Niklaus Largier im vorliegenden Band, S. 964. 22 De natura et dignitate amoris, zitiert nach: Guillelmi a Sancto Theodorico, Opera didactica et spiritualia, hrsg. von Paul Verdeyen, Teil III: Opera omnia, Turnhout 2003 (CCCM 88), S. 177 – 212, hier 12,342 ff., S. 186; deutsche Übersetzung zitiert nach dem Beitrag von Susanne Köbele im vorliegenden Band, S. 982.
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als Häresie – darstellt; denn: „Das Dogma muss feststehen. Es darf sich nicht reduplikativ in sich selbst drehen“ (S. 986). Den dogmatisch anstößigen Entdifferenzierungstendenzen von Eckharts Rhetorik tritt Seuses underscheid als distinktives Prinzip gegenüber, das die Heterodoxie Eckharts durch Zähmung retten will – was allerdings auch nicht vor Verfolgung schützt. Die Inquisition sieht, wie Köbele schreibt (S. 995), auf „die Proposition, nicht auf die Performanz“. Alle drei Vorlagen (Neumeister, Largier, Köbele) bieten die Gelegenheit, nochmals die Kernfrage des Symposiums nach der Relation zwischen religiöser und literarischer Kommunikation zu vertiefen, und dies gerade deshalb, weil es in ihnen nicht um weltliche Sujets geht, vielmehr um textuelle Verfahren, die „literarische ,Eigenkomplexität‘“ (S. 993) erzeugen, um Verfahren, die, wie es vor allem Largier herausarbeitet, über eine religiöse Erfahrungspraxis so etwas wie Formen von Öffentlichkeit generieren, „ein Gespräch […], das nicht mehr von den traditionellen Institutionen innerhalb fest etablierter Kommunikationsgemeinschaften kontrolliert werden kann“ (S. 967).
Marienklagen im Passionsspiel als Grenzfall religiöser Kommunikation Jutta Eming Marienklagen sind zentrale Elemente mittelalterlicher Passionsspiele von den Anfängen an. Sie basieren auf einem Repertoire von Klageformeln, in denen Maria ihrer Trauer und ihrem Schmerz über die Leiden des Sohns Ausdruck verleiht, seine Qualen detailreich beschreibt und das Publikum um Mitgefühl bittet. In den Passionsspielen des Spätmittelalters, wie im Alsfelder Passionsspiel vom Anfang des 16. Jahrhunderts, erreichen die Marienklagen vor allem in den Szenen der Kreuzigung und der Grablegung einen erheblichen Umfang. Nach übereinstimmender Meinung der Forschung haben sie dabei die Funktion, die Leiden Christi möglichst eindrücklich zu vergegenwärtigen und den ,Affekt‘ der compassio zu erzeugen.1 Diese Emotionalisierung der Gotteserfahrung gilt als epochales Merkmal spätmittelalterlicher Frömmigkeit, durch welche das Heilige dem Menschen verfügbar wird: „Sie rückt das Transzendente, das Heilige, an den Menschen heran, versinnlicht es gleichsam, indem Gott nicht mehr nur erhöht und abgerückt im Gegenüber gedacht wird, sondern im affektiven Nachvollzug 1
Aus der älteren Forschung sei hier genannt Theo Meier, Die Gestalt Marias im geistlichen Schauspiel des deutschen Mittelalters, Berlin 1959 (Philologische Studien und Quellen 4), S. 51 ff. In jüngster Zeit hat vor allem Ursula Schulze in verschiedenen Aufsätzen auf die Funktion der Emotionssteuerung für die Vermittlung des Heiligen in Marienklagen hingewiesen: „Formen der ,Repraesentatio‘ im Geistlichen Spiel“, in: Walter Haug (Hrsg.), Mittelalter und frhe Neuzeit. bergnge, Umbrche und Neuanstze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 312 – 356; dies., „Schmerz und Heiligkeit. Zur Performanz von ,Passio‘ und ,Compassio‘ in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel)“, in: Horst Brunner/Werner WilliamsKrapp (Hrsg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Sptmittelalters. Festschrift fr Johannes Janota, Tübingen 2003, S. 211 – 232; dies., „Emotionalität im Geistlichen Spiel. Die Vermittlung von Schmerz und Trauer in der ,Bordesholmer Marienklage‘ und verwandten Szenen“, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frhen Neuzeit, Tübingen 2004, S. 177 – 193.
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markanter Phasen des Erdenlebens Christi erfassbar erscheint.“2 Religionswissenschaftliche und performanztheoretische Implikationen solchen ,Heranrückens‘ werden in Bezug auf das geistliche Spiel seit einiger Zeit intensiv diskutiert. In Anbetracht des Aufführungscharakters der Marienklagen lässt sich insbesondere fragen, ob mit ihm – in Strategien theatraler Verkörperung, Visualisierung und mimetischer Repräsentation – gegenüber anderen Frömmigkeitsformen ein Mehr an Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens und Intensität der Gotteserfahrung avisiert ist. Anknüpfend an diese Frage möchte ich Marienklagen im Folgenden in einem doppelten Sinne als Grenzfall religiöser Kommunikation begreifen. Sie können einerseits als Symptom für die Grenze gelten, an welche Versuche geraten oder geraten müssen, Heiliges performativ anschaulich werden zu lassen. Andererseits bedeuten sie einen Ansatz zur sprachlichen Bewältigung und schließlich zur Re-Konstituierung dieser Grenze. Dafür sollen Marienklagen in der Diskussion um den Status des Geistlichen Spiels zwischen Ritualität, Theatralität und Performanz situiert und emotionstheoretisch fokussiert werden.
Zur Tradition der Marienklagen zwischen Ritual und Theater Marienklagen sind ab dem 13. Jahrhundert überliefert. Sie sind Bestandteil der Karfreitagsliturgie, werden im gleichen Zeitraum bereits als kleine selbstständige (lateinische und volkssprachliche) Spiele verfasst und gehen schließlich in die großen Passionsspiele des Spätmittelalters ein, ohne dass ,kleinere‘ Dramatisierungen deswegen aufhörten.3 Als Quellen gelten zwei knappe Passagen aus den Evangelien: die Simeonsprophezeiung „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2,35) 4, und die Erwähnung, dass Maria am Kreuz steht 2 3
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Schulze, „Schmerz und Heiligkeit“ (Anm. 1), S. 211. Einen nützlichen Überblick über diese Entwicklung vermittelt immer noch Meier, Die Gestalt Marias (Anm. 1). Vgl. zum Bestand überlieferter Texte Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). Zitiert nach: Die Bibel. Einheitsbersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament. kumenischer Text. Mit Bildern mittelalterlicher Buchkunst, Stuttgart 1998.
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( Joh 19,25 – 27).5 Als zentrales Vorbild – für den hier zu verfolgenden Strang der dramatisierten Marienklagen – diente der lateinische Planctus ante nescia, der wahrscheinlich von Gottfried von St. Victor († um 1194) verfasst wurde.6 Im Alsfelder Passionsspiel erscheinen Anspielungen auf das Schwert zum Beispiel in der Form rhythmischer Apostrophen, die teils gesungen werden: Hercze brich! Swert nu stich und loiß mich myt em sterben! 7 Durch diese Rhythmik und durch O we-Rufe, die über weite Partien jeden oder jeden zweiten Satz einleiten, wird der Klagecharakter von Marias Sprecherrolle in besonderem Maße konstituiert: Owe, das ich ye wart geborn, ich hon nu myn liebes kynt vorlorn. owe, das ich ye gelebet dissen tagk, das ich armes wypp nit gesterben magk. owe, toid, komme hude vnd nym mich durch dyn gudde. (V. 6799 – 6804)
An einigen Stellen werden die Ausrufe redundant und damit zur reinen Klageform verdichtet: owe, ach vnd owe, j owe mer armen frawen, owe! (V. 6797 f.). Die zitierten Passagen der Marienklagen lassen sich als Beispiele dafür werten, dass innerhalb eines Passionsspiels im Rahmen des theatralen Geschehens auf unterschiedlichen Ebenen Anklänge an Rituale und ritualisierte Handlungsvollzüge zur Geltung kommen. Durch Merkmale wie Ostentation, Sequenzierung, Wiederholung und Formalisierung sind die Marienklagen als ritualisiertes Sprechen zu erkennen.8 Sie evozieren die Leiden Christi, sein Blut und seine gebrochenen 5 6
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Vgl. Meier, Die Gestalt Marias (Anm. 1), S. 147 f. Vgl. ebd., S. 153 ff. Vgl. zur Differenzierung der Überlieferungsstränge der Marienklagen und ihrer Vorbilder auch Georg Satzinger/Hans Joachim Ziegeler, „Marienklagen und Pietà“, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Sptmittelalters, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 12), S. 241 – 276. Alsfelder Passionsspiel. Edition im Paralleldruck. Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten, hrsg. von Johannes Janota, bearb. von Horst Brunner, Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe Bd. 2), V. 6462; vgl. auch V. 6479 und 6488. Diese Merkmale wurden als Kennzeichen ritualisierten Sprechens in narrativen Texten entwickelt von Jutta Eming/Ingrid Kasten/Elke Koch/Andrea Sieber, „Emotionalität und Performativität in erzählenden Texten des Mittelalters“, in: Encomia-deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der International Courtly Literature Society, Tübingen 2000, S. 42 – 60. Vgl. zum Transfer dieses Begriffs der Ri-
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Knochen in einem meditativen, beschwörenden Sprachstil. Das vieldimensionale, multimediale Passionsspiel weist damit Elemente meditativer Passionsfrömmigkeit auf 9, von der es gerade noch einmal abgegrenzt worden ist.10 Doch ist nicht nur ein Bezug zu Ritualen der Andacht erkennbar. Verkörperungen der Trauerhaltung, die in den Spielanweisungen vorgegeben sind, wie das Umschreiten des Kreuzes, Weinen, das Ausführen von Trauergebärden bis zu Kniefällen und simulierten Ohnmachten suggerieren, dass insgesamt ein Trauerritual vollzogen wird. Jan-Dirk Müller hat in verschiedenen Publikationen argumentiert, dass rituelle Rückbezüge im geistlichen Spiel generell die Aufgabe haben, die sich tendenziell ,freispielende‘ theatrale Handlung „zu überschreiten und Spieler wie Zuschauer als Kultgemeinde zu aktivieren“.11 Eine zentrale Bedeutung für diese Mobilisierung der Kultgemeinde haben die in Geistlichen Spielen allenthalben vertretenen Publikumsadressen der Akteure.12 Sie finden sich auch in den Marienklagen des Alsfelder Passionsspiels: Got geseyne vch, ir lieben lude, helffet alle bidden hude got den viel susszen, das ich myt myme kynde sterben musse. (V. 5896 – 5899)
Die Frage, ob diese Momente noch als ,echte‘ Rituale verstanden werden können oder bereits ,Rituale zweiter Ordnung‘ oder ,parari-
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tualisierung auf geistliche Spiele Ingrid Kasten, „Ritual und Emotionalität. Zum Geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwrfe in der Literatur des Hoch- und Sptmittelalters. Festschrift fr Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 335 – 360. Vgl. dazu auch Fritz Oskar Schuppisser, „Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern“, in: Haug/Wachinger (Hrsg.), Die Passion Christi (Anm. 6), S. 169 – 210, zu Maria bes. S. 187 ff.; außerdem Schulze, „Formen der ,Repraesentatio‘“ (Anm. 1), S. 343. Vgl. Jan-Dirk Müller, „Realpräsenz und Repräsentation“, in: Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung (Anm. 1), S. 113 – 133. Tertium comparationis ist für Müller vor allem der Grad der körperlichen Teilhabe am Leiden Christi, vgl. bes. S. 128 ff. Jan-Dirk Müller, „Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters“, in: Andreas Kablitz/Gerhard Neumann (Hrsg.), Mimesis und Simulation, Freiburg/Br. 1998 (Litterae 52), S. 541 – 571, hier S. 559. Ebd., S. 560.
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tuelle Einschübe‘ in der spezifischen theatralen Rahmung des Spiels darstellen, kann hier außer Betracht bleiben.13 Von Interesse ist ausschließlich, dass auch den Marienklagen des Passionsspiels die Leistung zugesprochen wird, die theatrale Codierung des Geschehens auf der Bühne durch performative Effekte in die Kommunikationssituation des Rituals zu überführen. Dabei wird auch mit der Möglichkeit gerechnet, dass sich in ekstatischen Momenten die Repräsentation des Heiligen zur Präsenz des Heiligen verschiebt.
Präsenzeffekte Der Präsenzbegriff ist unterschiedlich bestimmt. Immer jedoch bezieht er sich, zumal im Kontext der Diskussion um die Gegenwärtigkeit des Heiligen, auf die Negierung semiotisch gefasster Repräsentation.14 Religiöse Kommunikation kann dadurch charakterisiert sein, dass sie präsent werden lässt, was nicht an anderer Stelle absent ist, wie die Realpräsenz des Corpus Christi in der Eucharistie: „Dass der Leib Christi in der eucharistischen Oblate real gegenwärtig sei, dies besagt nicht, dass er anderweit abwesend wäre.“15 Als präsent gilt einer bekannten Formulierung Hans Ulrich Gumbrechts zufolge das, was ich ,in der 13 Vgl. zu diesem Punkt Jan-Dirk Müller, „Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter“, in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hrsg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 53 – 77. 14 Dass diese semiotisch fundierte Repräsentation sich nur teilweise mit dem mittelalterlichen Begriff der repraesentatio überschneidet, zeigt Schulze, „Formen der ,Repraesentatio‘“ (Anm. 1). Vgl. auch die weitere Differenzierung ihres Ansatzes, insbesondere zur theatralen Umcodierung liturgischer Zeichen, bei Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125). 15 Peter Strohschneider, „Unlesbarkeit von Schrift. Literaturhistorische Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Fotis Jannidis [u.a.] (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin – New York 2003 (Revisionen. Grundbegriffe der Literaturtheorie 1), S. 591 – 627, hier S. 597. Vgl. auch den Versuch von Hans Ulrich Gumbrecht die Präsenz-Absenz-Relation neu zu fassen: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: Josef Früchtl/Josef Zimmermann (Hrsg.), sthetik der Inszenierung. Dimensionen eines knstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phnomens, Frankfurt/M. 2001, S. 63 – 76.
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Reichweite meines Körpers weiß‘.16 Im Anschluss an diese Formulierung hat Christoph Petersen den mittelalterlichen Marienklagen die Funktion zugeschrieben, die räumliche Präsenz des Corpus Christi imaginieren zu können. Durch Publikumsapostrophen werde die Distanz zwischen Akteuren und Publikum aufgehoben und es komme zur Suggestion, „daß das biblische Geschehen sich jetzt neuerlich abspielt, und das es somit ermöglicht, an diesem Geschehen teilzunehmen. In den Marienklagen wird das Erlösungsgeschehen als präsent imaginiert“.17 Durch den immer neuen Rekurs Marias auf ihr Leid und durch Appelle an das Publikum, sich mit diesem Leid zu identifizieren, es zu teilen und zu übernehmen, werde schließlich eine Haltung konstituiert, welche „die gesamte anwesende Gemeinschaft gleichermaßen umschließt“.18 Heute-Exklamationen, der wiederholte Wunsch, Christus sehen zu wollen, Anrufungen Christi und Beschreibungen seines Körpers im Todeskampf suggerierten die Ereignishaftigkeit und Aktualität der Darstellung.19 Die Techniken, die Petersen skizziert, lassen sich mit Martin Seel als Strategien einer Inszenierung im Sinne eines ,Erscheinenlassens‘ verstehen. Der Inszenierungsbegriff Seels konzeptualisiert eine wahrnehmbare Darbietungsform, die nicht-zeichenhaft eine Präsenz-Erfahrung ermöglicht: Dieses Erscheinen darf […] nicht generell als eine Relation der Darstellung aufgefasst werden. Es ist nicht primär ein Erscheinen von etwas anderem, es ist ein Erscheinen seiner selbst: etwas, das sich hier und jetzt dem unreduzierten sinnlichen Vernehmen darbietet.20
16 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, „Einführung in die Sektion ,Inszenierung von Gesellschaft – Ritual – Theatralisierung‘“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Auffhrung und Schrift in Mittelalter und frher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, Stuttgart – Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 331 – 337, hier S. 332. 17 Christoph Petersen, „Imaginierte Präsenz. Der Körper Christi und die Theatralität des geistlichen Spiels“, in: Christel Meier/Heinz Meyer/Claudia Spanily (Hrsg.), Das Theater des Mittelalters und der Frhen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Münster 2004 (Symbolische und gesellschaftliche Wertesysteme 4), S. 45 – 61, hier S. 54. 18 Ebd., S. 55. 19 Vgl. Petersen, „Imaginierte Präsenz“ (Anm. 17), S. 57 – 60. Vgl. auch Schulze, „Formen der ,Repraesentatio‘“ (Anm. 1), S. 342 und 344. 20 Martin Seel, „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Früchtl/Zimmermann (Hrsg.), sthetik der Inszenierung (Anm. 15), S. 48 – 62, hier S. 57.
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Im ,Erscheinenlassen‘ und einem darin fundierten Begriff der Inszenierung berühren sich ferner religiöse und literarische Kommunikation. So versteht Wolfgang Iser eine Inszenierung als einen „anthropologischen Modus“ und damit als universales menschliches Bedürfnis nach Selbstauslegung im Medium der Literatur.21 In einem Grundwiderspruch, der nach Iser zugleich die Leistung von Literatur ausmacht, wird durch ,Akte des Fingierens‘ ein nicht materialisierbares Imaginäres doch zur Darstellung gebracht. Eine Inszenierung bringt, so Iser, „das zur Erscheinung […], was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag“.22 Dazu zählt insbesondere die „Liebe“, ein „zentrale[r] Sachverhalt literarischer Inszenierung“.23 Analog dazu ist das Erscheinenlassen des Heiligen der zentrale Sachverhalt religiöser Inszenierung, auch wenn und gerade weil es sich der Darstellung entzieht. Isers Begriff literarischer Inszenierung und die Inszenierung des Corpus Christi in den Marienklagen konvergieren dann aber auch darin, dass sie auf literarischer Rede beruhen. Dies erscheint aus dem Grunde bemerkenswert, dass gerade das Passionsspiel auf Performanz und damit auf die Inszenierung des Körpers in vivo setzt. Die Funktion liturgischer und selbstständig dramatisierter Marienklagen, Christi Leiden sprachlich anschaulich werden zu lassen, wird in dem Moment, in dem diese Klagen in das Passionsspiel integriert werden, offensichtlich durch den Umstand nicht obsolet, dass nun ein Akteur in der Rolle des Christus zur Verfügung steht, der diese Leiden verkörpert. Aspekten dieser doppelten Inszenierung des Corpus Christi durch Sprache und Performanz gilt – am Beispiel der Marienklagen – im Folgenden mein besonderes Augenmerk. Sie stehen in meiner Sicht im größeren Zusammenhang spezifischer Inszenierungsstrategien des Passionsspiels, mit denen einerseits eine – räumliche oder emotionale – Präsenz Christi evoziert, Christus andererseits in seiner Heiligkeit und damit Unantastbarkeit und Entrücktheit gezeigt werden soll.24 Tendenzen, die Präsenz Christi zu suggerieren, sind also mit gegenläufigen 21 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991, S. 508. 22 Ebd., S. 504. 23 Ebd., S. 509. 24 Vgl. dazu Elke Koch, „Inszenierungen des Heiligen. Spielspezifische Strategien am Beispiel hessischer Passionsspiele“, in: Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (Hrsg.), Transformationen des Religiçsen. Performativitt und Textualitt im Geistlichen Spiel, Berlin – New York 2007 (Theater der Zeit. Recherchen 2), S. 201 – 217.
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Strategien zu vermitteln, die Präsenzerfahrungen gerade verhindern und das Corpus Christi wohlweislich nicht nur in der Distanz belassen, sondern regelrecht als distanziertes konstituieren. Dieses widersprüchliche Zusammenspiel beruht auf einem komplexen Verhältnis, in das Sprache und Körper, Imagination und Performanz, Präsenz und Absenz im Passionsspiel gerückt sind.
Körperlichkeit und Imaginäres Im Unterschied zu den frühen Marienklagen, die selbstständig überliefert sind und teils im Rahmen der Liturgie zur Aufführung kamen, wird in den großen spätmittelalterlichen Passionsspielen das Verhältnis der Marienklagen zur Performanz eines Christus-Darstellers virulent. Die liturgisch situierten Marienklagen kennen als Referenzfigur für das Leiden Marias zwar auch einen Akteur oder einen Kruzifixus, also eine Plastik.25 In der Liturgie wird jedoch die Gewalt gegen Christus nicht zum Gegenstand der Aufführung. Diesen in theatralitäts- ebenso wie in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht entscheidenden Schritt vollzieht das Passionsspiel. „Den Körper hat erst das Passionsspiel – nicht freilich den aus dem Grab verschwundenen, dafür aber den leidenden, sterbenden und begrabenen.“26 Die Möglichkeit, die Bemächtigung des Corpus Christi durch die Gemeinde auszuspielen, hat dem Passionsspiel in Warnings Sicht nicht nur seine basale Struktur des Sündenbockrituals verliehen, sondern es hat ihm auch Lizenzen für das ,Erscheinenlassen‘ gewalttätiger Phantasien gegenüber dem Opfer gegeben: Um aber den leidenden Körper, um die gloriosa passio inszenieren zu können, muß man mitinszenieren, was den Körper leiden macht, also die Folterung. Auf ihr ruht das Handlungsmoment – und damit die raison d’Þtre des Spiels als Spiel, als Darstellungshandlung. Seine Handelnden sind die Folterknechte, und was das Spiel hier an Grausamkeiten imaginiert, läßt 25 Vgl. Petersen, „Imaginierte Präsenz“ (Anm. 17), S. 57 f.; Schulze, „Emotionalität im Geistlichen Spiel“ (Anm. 1), S. 189. 26 Rainer Warning, „Hermeneutische Fallen beim Umgang mit dem geistlichen Spiel“, in: Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Medivistische Komparatistik. Festschrift fr Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart – Leipzig 1997, S. 29 – 41, hier S. 36. In diesem Aufsatz präzisiert Warning Ausführungen seines Buches Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), das einschlägige Diskussionen provoziert hat.
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alles hinter sich, was wir neben dem Spiel an schriftlichen und bildlichen Passionsdarstellungen kennen.27
Die Imagination, generell eher: das Imaginäre, ist bei Warning eine zentrale und mehrschichtig angelegte Kategorie zur Charakterisierung des Geistlichen Spiels. Das Imaginäre meint zum einen den Zwischenstatus zwischen Theatralität und Ritualität, den das Spiel dadurch erhält, dass es einem anthropologischen Grundbedürfnis nach ritueller Darstellung symbolisch (d. h. hier zeichenhaft) Ausdruck gibt.28 Das Imaginäre meint ferner eine spezifische Präsenz des Corpus Christi, die ebenfalls nicht zugleich Absenz, aber auch noch keine Realpräsenz ist, sondern „bildhafte Anwesenheit einer körperlosen Macht“.29 Es bezieht sich auf die mimetische Darstellungsebene des Spiels: „Das Spiel hat in vivo, was die Messe nur heilsgeschichtlich kommemoriert, es hat das blutige Opfer, und hier wiederholt sich nun jene Aktivierung des Imaginären, zu der die Passionsstraktate anleiten […].“30 Doch obwohl die mimetische Darstellung Warning zufolge das Imaginäre aufruft, setzt sie es, so ließe sich sagen, in letzter Instanz dadurch aus, dass „das Publikum den Körper nicht mehr imaginieren muß, weil das Spiel ihn bereits in persona Christi […] darbietet“.31 Auf diese Begriffsebenen verweise ich aus dem Grund in solcher Ausführlichkeit, als sie belegen, dass bei dem vielleicht namhaftesten Theoretiker der Körperlichkeit des Geistlichen Spiels das Verhältnis dieser Körperlichkeit zum Imaginären komplex gedacht ist. Obwohl Warning immer wieder von einer exorbitanten Grausamkeit der Spiele spricht, legt er sich in der Frage, auf welchen Ebenen diese Grausamkeit konstituiert wird – mimetisch, ,real‘, simuliert, sprachlich, imaginär – nicht eindeutig fest. „Das Prinzip 27 Warning, „Hermeneutische Fallen“ (Anm. 26), S. 35 f. Vgl. zu den verschiedenen Stufen, auf denen Osterliturgie, Osterfeier und Osterspiel das Corpus Christi von der Absenz zur Präsenz inszenieren, ferner die Untersuchung von Petersen, Ritual und Theater (Anm. 14). 28 Auch hierin liegen Parallelen zu Isers Begriff des Imaginären. Vgl. Rainer Warning, „Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels“, in: Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung (Anm. 1), S. 343 – 359, hier S. 350: „Anders als die Visitatio sepulchri hat das Spiel den Körper, aber dieser Körper ist […] die Überführung des Auferstandenen in eine imaginäre Präsenz, der ein eigentümlich hybrider Status zukommt: körperlich und unkörperlich zugleich.“ 29 Ebd., S. 347. 30 Ebd., S. 351. 31 Ebd.
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der stellvertretenden Verkörperung“ ist, wie Glenn Ehrstine plausibel macht, für das geistliche Spiel des Mittelalters insgesamt vorauszusetzen, auch wenn die „Grenze zwischen Anwesendem und Abwesendem im geistlichen Theater […] fließend [war]“.32 Um die Funktion von Marienklagen im Passionsspiel insbesondere für Präsenzeffekte zu ermitteln, ist die Frage, welche Wirkungen der Ostentation eines (Schauspieler)Körpers hinsichtlich der Gewalt-Performanz im Spiel zuzutrauen sind, jedoch von entscheidender Bedeutung. In der Forschung wird mitunter der Eindruck erweckt, als ginge eine Kaskade unkontrollierter Gewaltakte auf den Christus-Darsteller nieder.33 Die einzelnen Angriffe, zunächst Schläge und Tritte, sind jedoch den verschiedenen Stufen der Passion seit der Gefangennahme zugeordnet, fungieren – zum Beispiel bei den Misshandlungen Christi durch Soldaten im Haus des Priesters Kaiphas – als Modi obrigkeitlicher Macht zwischen potestas und violentia und nehmen insgesamt kein exorbitantes Maß an. Wie die beiden Stadien größter Grausamkeit, also Flagellation und Kreuzigung, darstellungstechnisch umgesetzt worden sind, darüber ist aus Spielanleitungen oder aus zeitgenössischen Dokumenten wenig zu erfahren.34 Insbesondere ist wenig darüber bekannt, mit welchen Requisiten und Hilfsmitteln die körperlichen Attacken gegen Christus auf der Bühne umgesetzt wurden. Im Verbund mit kulturgeschichtlichen Assoziationen zur städtischen Folter- und Hinrichtungspraxis hat dies der Vorstellung Vorschub geleistet, dass die Grausamkeiten gegen den Christus-Darsteller in tätliche Handlungen umschlagen konnten, um – gleichsam in einer pervertierten Form von Realpräsenz – ein nach Grausamkeiten verlangendes Sensationsbedürf32 Glenn Ehrstine, „Das figurierte Gedächtnis: Figura, Memoria und die Simultanbühne des deutschen Mittelalters“, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450, Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 414 – 437, hier S. 422 f. 33 Vgl. etwa die Ausführungen von Schulze, „Formen der ,Repraesentatio‘“ (Anm. 1), S. 331: „Z.B. im ,Donaueschinger Passionsspiel‘ wird Jesus auf die Erde geworfen und mit Füßen getreten, ihm werden die Glieder und der Kopf verrenkt, die Haare an Kopf und Bart gezerrt und ausgerissen, und immer wieder fließt Blut, so bei der Geißelung und wenn die Dornenkrone tief in sein Haupt gedrückt wird durch das Körpergewicht zweier Männer, die sich an eine darübergelegte Stange hängen.“ Der Indikativ suggeriert, dass die Handlung weitgehend realistisch – wenn nicht real – verlief. 34 Vgl. zu diesen Aspekten auch Jutta Eming, „Gewalt im Geistlichen Spiel“, in: The German Quarterly, 78/2005, S. 1 – 22.
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nis des Publikums zu befriedigen.35 Mangels historisch verlässlicher Belege über Aufführungssituationen, Inszenierungskonventionen und Verkörperungsstrategien muss die Frage, in welchem Maße die Gewalt gegen Christus simuliert oder sogar ausagiert worden ist, zwar offen bleiben.36 In Anbetracht der sprachlichen Verfasstheit der Spieltexte und Bühnenanweisungen scheint es mir jedoch generell angemessen, nicht zu selbstverständlich von einer ,ausgespielten‘ Grausamkeit gegen den Körper Christi auszugehen.
Zur sprachlichen Konstituierung des Corpus Christi In der Forschung zur Gewalt im Passionsspiel ist immer wieder zu lesen, dass Sprache in Dienst genommen wird, um die Darstellung der Passion Christi zu ergänzen oder zu verdoppeln, und dies in einer denkbar drastischen Form.37 Dabei wird zu wenig beachtet, dass gewalttätige Praktiken wie das ,Strecken‘ nur angedeutet werden können und deshalb in der Kreuzigungsszene durch die Figurenreden eingeholt werden müssen.38 Die Funktion dieser Passagen lässt sich also so verstehen, dass sie Substitute der körperlichen Inszenierung des Leidens bilden. Obwohl es nicht möglich ist, zwischen Formen sprachlicher und körperlicher Verletzungen eine scharfe Trennlinie zu ziehen39, ist auch dann, wenn Sprache grundsätzlich als performativ konzeptualisiert wird, auf
35 Beispiele solcher Mythenbildung aus dem französischen Spätmittelalter versammelt Jody Enders, Death by Drama and Other Medieval Urban Legends, Chicago 2002. 36 Vgl. zur Kritik an der Vorstellung unmittelbarer Gewalttätigkeit im geistlichen Spiel auch Eming, „Gewalt im Geistlichen Spiel“ (Anm. 34). 37 Zuletzt wieder bei Christel Meier, „Prügel und Performanz. Ästhetik und Funktion der Gewalt im Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westflischen Wilhelms-Universitt Mnster, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 3), S. 327 – 362, hier S. 335. 38 Ausführlicher Eming, „Gewalt im Geistlichen Spiel“ (Anm. 34), S. 16 f. 39 Vgl. dazu Bernhard Waldenfels, „Aporien der Gewalt“, in: Mihran Dabag/ Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Reprsentationen, München 2000, S. 9 – 24, hier S. 14 f., der „Leiblichkeit“ als „Sphäre der Verletzlichkeit“ bestimmt, welche Sprache einbegreift.
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den Unterschieden zu insistieren.40 Der Umstand, dass das Passionsspiel die Gewalt gegen Christus in erheblichem Maße sprachlich transportiert, könnte darin begründet sein, dass weder die simulierte Gewalt noch die Ostentation des geschundenen Körpers – der Körper eines Darstellers ist und bereits entsprechende Brechungen der Wahrnehmung erzeugt – hinreichende Mittel bieten, um das Theologumenon der Menschwerdung Gottes im Passionsgeschehen auf der mittelalterlichen Spielbühne präsent zu machen. Die Marienklagen beschwören Christi Blut und gebrochene Knochen dann auch deswegen in einem rituellen, beinahe meditativen Sprechen, weil sie der Unzulänglichkeit einer Anschauung begegnen, die ihn in dieser Versehrtheit nicht zeigen kann – und nicht zeigen will.41 Auch das auf Performanz, Visualität und Präsenz setzende Geistliche Spiel setzt die Imagination nicht außer Kraft, sondern wirkt mit ihr zusammen.42 Dies zeigt sich besonders an den Stellen, an denen Maria – teilweise unterstützt durch ähnliche Aussagen von Johannes – Jesu Verletzungen erläutert. Maria erwähnt dabei neben dem besonders häufig genannten Blut seine bleichen Wangen (V. 6078), den bebenden Körper (V. 6084), den bebenden Mund (V. 6096), die bebende Kehle (V. 6210), den (schmerzhaft) geneigten Körper (V. 6212). Das Herz ist ,durchstochen‘ (V. 6721). Sie beschreibt den Speerstich sowie Blut und Wasser, die aus der Wunde dringen (V. 6398 ff.); sie nennt Jesu zerrissene Adern (V. 6403). Besonders profiliert sind die Verletzungen dann, wenn sie im Kontrast zum ehemals unversehrten, gesunden Körper aufgezählt werden. Nach dem Tod Jesu geht Maria die einzelnen Körperteile in solcher Verknüpfung noch einmal durch:
40 Klärend wirkt in dieser Hinsicht Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York – London 1997. Vgl. zur Entwicklung des performativen Sprachkonzepts John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 19792 ; zur Rezeption in den Kulturwissenschaften Sybille Krämer/Marco Stahlhut, „Das ,Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hrsg.), Theorien des Performativen, Berlin 2001 (Paragrana 1/10), S. 35 – 64; Uwe Wirth, „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S. 9 – 60. 41 Ähnlich Schulze, „Formen der ,Repraesentatio‘“ (Anm. 1), S. 343. 42 Vgl. auch Koch, „Inszenierungen des Heiligen“ (Anm. 24).
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ach, liebes kynt, wie ist dyn heubet szo gar sere vorteubet myt eyner kronen dornyn. […] wo ist dyn augenschyn? mit blude sie bedecket syn. wo ist hen dyn rotter mundt, der mer dick zu mancher stundt lieplich hot gesprochen zu? ach, liebes kynt, wer wel nu das thunn? wo synt dyn hende, liebes kynt, die aller wernde eyn meynster synt? die synt vnbekentliche mit nageln zustochen szo iemmerliche. ach, wie bleich ist dyn rosefarber mont! krangk ist dynes herczen grundt! (V. 6412 – 6429)
Die Funktion dieser Passagen liegt nicht darin, für die Zuschauer ein Geschehen sprachlich zu verdoppeln, das diese zugleich in Verkörperungsstrategien des Jesus-Darstellers verfolgen könnten. Der leidende Körper Christi wird vielmehr in erheblichem Maße erst sprachlich konstituiert.43 Zugleich fällt auf, dass die Marienklagen nicht die Spuren einer exzessiven, enthemmten und unkontrollierten Brutalität gegenüber Christus zitieren. Der Zustand der Körperteile, die Maria beschreibt – den verletzten Kopf, die Speerwunde, die zerstochenen Hände – entspricht den ikonographisch hinreichend bekannten Zeichen des Erlösungstodes.44 Außerdem vollzieht sich die Vergegenwärtigung von Jesu Körper durch Marias Rede in literarisch verdichteter Sprache. Damit wird er in einer hochgradig stilisierten und ästhetisierten Form (re-)präsentiert, zwar verletzt, aber nicht ,zerstückelt‘ (R. Warning), verstümmelt oder zur ungestalt verformt.45 Wie in Marias Reflexionen 43 Dies gilt ähnlich für die Gewaltausübung, insbesondere für die Folterszenen. Vgl. dazu bereits Jan-Dirk Müller, „Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel“, in: Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens (Hrsg.), Kçrper – Gedchtnis – Schrift. Der Kçrper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin 1997, S. 75 – 92, hier S. 77 und 79. 44 Diesen Zusammenhang erläutert Ehrstine, „Das figurierte Gedächtnis“ (Anm. 33). Vgl. auch die vielen Nachweise des Herausgebers in der Edition: Das Donaueschinger Passionsspiel, hrsg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985; ferner ders., „Passionsspiel und Ikonographie“, in: Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung (Anm. 1), S. 261 – 272. 45 Vgl. zum Konzept des ungestalten Körpers Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München 2003.
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über Christi Wunden bleibt der unversehrte Körper noch im Zustand größten Leidens kenntlich, verweist damit auf seine Unzerstörbarkeit und kündigt die Auferstehung schon an.
Wessen Leid? Marias Klagen und Publikumsapostrophen richten sich nicht nur darauf, die Schmerzen Christi zu vergegenwärtigen. In den langen Marienklagen werden sein körperlicher Zustand, seine Agonie und sein Tod sogar vergleichsweise wenig beschrieben. Stattdessen – dies geht aus Marias Trauerbekundungen unablässig hervor – soll das Publikum sich mit ihren Schmerzen identifizieren. Das Reden über die Leiden Christi wird immer wieder umgelenkt zum Reden über die Leiden Marias. Diese ,egozentrische‘ Perspektive ist in mehrfacher Hinsicht signifikant. So zeigen Zuschauerapostrophen in den Bühnentexten, dass die Rezipienten auch als Eltern angesprochen werden, die sich mit den Leiden einer Mutter identifizieren sollen. Marienklagen, darauf wurde in letzter Zeit häufiger hingewiesen, inszenieren also auch eine Erfahrung, welche die Zuschauer des Geistlichen Spiels als eine alltägliche gekannt oder zumindest identifiziert haben müssen, nämlich den Schmerz von Eltern über den Verlust ihres Kindes.46 Ir lieben frauwen vnd ir man, mercket hude alle dar an: ab man vwer kynde finge vnd iemmerlichen erhinge gar an ere schulde, des musten sie sich dulden. sehet, das ist mer hude gescheen. (V. 6825 – 6831)
Auch durch diese Öffnung ritualisierten Sprechens auf Alltagserfahrungen hin werden Marienklagen zu einem Grenzfall der religiösen Kommunikation. Die unvergleichliche Lage, Mutter eines – sterbenden – Gottes zu sein, wird heruntergebrochen auf die Ebene alltäglicher Eltern-Kind-Beziehungen. Die Inkommensurabilität und Singularität 46 So von Hansjürgen Linke, „Unstimmige Opposition. ,Geistlich‘ und ,weltlich‘ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik“, in: Leuvense Bijdragen, 90/2001, S. 75 – 126, hier S. 82; Schulze, „Emotionalität im Geistlichen Spiel“ (Anm. 1), S. 189.
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des religiösen Geschehens wird damit verlassen. Mittels einer Annäherung an eine allgemeinere, wenn auch starke Gefühlsebene, die Sorge um das eigene Kind, wird vielmehr an das Mitgefühl der Zuschauer appelliert. Auch einzelne Szeneneinrichtungen zeigen auf der MikroEbene eine appellative Struktur, die auf die Identifikation der Zuhörer mit einer Mutter setzt, die von ihrem hilfebedürftigen Kind getrennt ist. So beginnt Maria ihre Klage-Gesänge (V. 5848 ff.) damit, dass ihr das Kind ,weggenommen‘ worden sei, dass sie es verloren habe und sehen wolle. Sie ist Jesus nicht an den Ort der Kreuzigung gefolgt und verlangt nun, zu ihm zu gehen. Daraufhin wird sie von Petrus und Johannes vor dem Anblick gewarnt, der sie am Ort der Kreuzigung erwartet.47 Beide begleiten sie, um ihr den Schmerz zu erleichtern. Nachdem Maria sich schließlich schon vom Ort der Kreuzigung entfernt hat, hat sie plötzlich das Gefühl, dass Jesus nach ihr gerufen hat, und meint deshalb, noch einmal dorthin zurückkehren zu müssen (V. 6172 ff.). Insbesondere in den Szenen der Kreuzabnahme (V. 6657 ff.), der Pietà (V. 6703 ff.) und der Grablegung faltet Maria ihr Leiden breit aus. Sie bittet um den Tod und fordert das Publikum dazu auf, sich ihrer zu erbarmen, mit ihr zu weinen (V. 6807 ff.) und sich mit ihrem Leid zu identifizieren (V. 6825 ff.). Wenn auf diese Weise für die Zuschauer auf dem Wege des Mitgefühls eine maximale Annäherung ermöglicht werden soll, dann an Maria, nicht an Christus. Dieser Unterschied wurde bislang zu wenig problematisiert. In den Überlegungen zur compassio-Konstitution des Passionsspiels werden vielmehr gleitende Übergänge zwischen dem Mit-Leiden mit Maria und dem Mit-Leiden mit Christus angenommen. In frömmigkeitsgeschichtlicher und emotionstheoretischer Sicht bestehen zwischen diesen Alternativen jedoch erhebliche, nicht nur graduelle Unterschiede. Ähnlich verhält es sich mit der Differenz zwischen dem Ansehen und der Nachahmung der Passion Christi selbst. Compassio umfasst von der Begriffstradition her „die meditierende wie auch praktizierende Anteilnahme am Leiden Christi“.48 Mit-Leiden hebt die Distanz zum Leiden jedoch nicht auf, zumal zum körperlichen Leiden nicht. Und Mit-Leiden, wie das Passionsspiel es vorsieht, ist noch keine 47 Meier, Die Gestalt Marias (Anm. 1), S. 195 f., hebt diese einführende Szene, die innerhalb der Hessischen Passionsspielgruppe bereits das Frankfurter Passionsspiel aufweist, als Beispiel für die emotionale Dramatisierung der Marienklagen im Passionsspiel besonders hervor. 48 Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 648.
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imitatio Christi, zumindest nicht im Sinne der actus conformationis, in denen der Gläubige das Leiden nacherleben soll. Sie sind, so Jan-Dirk Müller, das „Gegenteil von Theaterspiel“49 : Der unendliche Abstand zwischen dem leidenden Christus und dem mitleidenden Gläubigen ist nicht der Abstand des Schauspielers zu dem, dessen Rolle er verkörpert, sondern der Abstand der mit- und nachleidenden Kreatur zu ihrem Gott. Dieser Abstand kann durch keinen mimetischen Akt überbrückt werden.50
Für die Gewaltdarstellungen des Passionsspiels wurde in jüngster Zeit mehrfach der Konnex von Schmerz und Memoria geltend gemacht, der auch für Rhetoriklehren seit der Antike prägend ist: Das, was im körperlichen Schmerz erfahren wird, bleibt im Gedächtnis haften.51 Mit Blick auf das Passionsspiel wird dabei jedoch keine ausreichende Unterscheidung zwischen dem Sehen und dem Erleiden körperlichen Schmerzes getroffen.52 Die Zuschauerperspektive selbst ist nicht leicht zu bestimmen, denn angesichts von Gewaltakten verschwimmt, wie Bernhard Waldenfels festhält, die Unterscheidung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive.53 Dies wird sinnfällig, wenn Warnings Annahme zutrifft, dass die christliche Gemeinde beim religiösen Drama ,mit im Spiel‘ ist54, und dass der Anblick der Leiden Christi nicht nur Mitleid, sondern auch gegenläufige Emotionen wie Aggression und Lust evozieren kann. In emotionstheoretischer Sicht setzt die Identifikation mit einer Mutter, die den körperlichen Qualen und dem Sterben ihres Sohnes hilflos zusehen muss, andere Emotionen voraus als die Identifikation mit einem körperlich gequälten Menschen. Phänomenologisch gilt Mitleid als eine Emotion des Nahbereichs. So beschreibt Hilge Landweer Mitleid, allgemeiner Sympathiegefühle, als Mechanismen von Projektionen, die an spezifische Raum- und Appellstrukturen gebunden sind. Dabei rekurriert sie auf Aristoteles’ Bestimmung von Mitleid als einer Emotion, die nicht die gleiche Erfahrung voraussetzt, wohl aber die 49 50 51 52
Müller, „Realpräsenz und Repräsentation“ (Anm. 10), S. 128. Ebd., S. 129. Vgl. dazu generell Müller, „Das Gedächtnis“ (Anm. 43). Dies gilt insbesondere für das anregende Buch von Jody Enders, The Medieval Theater of Cruelty: Rhetoric, Memory, Violence, Ithaca 1999. 53 Vgl. Waldenfels, „Aporien der Gewalt“ (Anm. 39), S. 10. 54 Vgl. Warning, „Hermeneutische Fallen“ (Anm. 26), S. 36; Eming, „Gewalt im Geistlichen Spiel“ (Anm. 34).
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Furcht, dass einem selbst diese Erfahrung zustoßen könnte. Sympathiegefühle sind […] beschränkt auf bestimmte Personenkreise, und zwar 1. auf einander Nahestehende, 2. auf Personen, die sich a) in rumlicher Nhe zueinander befinden, genauer auf Situationen, wo der Mitfühlende die andere Person sinnlich wahrnehmen kann, oder b) mindestens aber muß ein anschaulicher Eindruck des fremden Gefhls medial vermittelt sein.55
Aufgrund dieser Merkmale, insbesondere der räumlichen Nähe und der Anschaulichkeit (die auch sprachliche Mittel umfasst), wird deutlich, warum das Mitleid sich erst einmal auf Maria richtet. Sie ist diejenige Figur des Geistlichen Spiels, die an die Zuschauer räumlich und expressiv ,heranrückt‘. Dem Christus-Darsteller dagegen wird ein Ausdruck körperlichen Leidens – zumindest sprachlich und durch Klagegebärden, soweit sie sich durch die Regieanweisungen nachvollziehen lassen – eher sparsam zugeschrieben. Die Emotionalität der Marienklagen bleibt schließlich nicht auf den Ausdruck von Schmerz und den Appell an compassio beschränkt. Maria durchläuft einen emotionalen Prozess, der auf einer Dynamik aus sedierenden und stimulierenden Elementen aufbaut und am Ende darin mündet, dass sie den Tod Christi akzeptiert. Damit vollzieht sie einen exemplarischen Prozess der Trauer, der sich für das Publikum ebenfalls auf die Ebene von Alltagserfahrungen transponieren lässt.
Exemplarische Trauer Der Affektbegriff ist in historischer wie in moderner Perspektive sinnvoll, um relativ heftige, eindeutige und leicht zu identifizierende Gemütsbewegungen zu bezeichnen.56 Das emotionale Register der Mari55 Hilge Landweer, Scham und Macht. Phnomenologische Untersuchungen zur Sozialitt eines Gefhls, Tübingen 1999 (Philosophische Untersuchungen 7), S. 133. 56 Dass Affekt-Begriffe mit der modernen Kategorie der Basisemotionen hinreichende Ähnlichkeiten aufweisen, wird in der Mediävistik inzwischen vielfach vorausgesetzt. Schulze, „Emotionalität im Geistlichen Spiel“ (Anm. 1), S. 178, rekurriert zur Explikation der Affekt-Stimulierung im geistlichen Spiel auf die Skala der Basisemotionen von Carroll E. Izard, Die Emotionen des Menschen. Eine Einfhrung in die Grundlagen der Emotionspsychologie, 4., neu ausgest. Auflage Weinheim 1999. Vgl. auch Rüdiger Schnell, „Historische Emotionsforschung“, in: Frhmittelalterliche Studien, 38/2004, S. 173 – 276, hier S. 208. Der
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enklagen geht jedoch über solche eindeutigen Emotionen, etwa Angst und Verzweiflung, hinaus. Gerade durch den Klage-Charakter werden Emotionen auf Dauer gestellt und erhalten sie en diffuseren Charakter einer Stimmung oder eines Gefühls – um diese Begriffe in einer eingeführten Bedeutungsebene als Kategorien für weniger eindeutige Varianten von Empfindungen heranzuziehen.57 Die Klagen konstituieren so hybride Gemengelagen unterschiedlichster Emotionen, die je anders akzentuiert werden. Sie erhalten prozesshafte und wechselhafte Valenzen, die mit dem Affektbegriff nicht zu erfassen sind. Im Rekurs auf die Emotionsforschung, die den ambivalenten, variablen und prozesshaften Charakter menschlichen Fühlens betont und den Begriff ,Affekt‘ einer eingegrenzten Gruppe von Emotionen vorbehält, lässt sich angesichts dieses Befundes geltend machen, dass für die Analyse von Emotionsdarstellungen in der literarischen und religiösen Kommunikation differenziertere Modelle erforderlich sind als der Affekt-Begriff. Denn Maria wird im Zuge des Passionsgeschehens tatsächlich durch einen beträchtlichen Wechsel emotionaler Zustände geführt. In Abhängigkeit von den Stufen des Passionsgeschehens, die sie mit verfolgt, setzt sie immer wieder neu an, um ihren Emotionen Ausdruck zu geben und bringt sie dabei unterschiedliche Facetten eines komplexen Prozesses von Trauer zur Erscheinung. In den Marienklagen vor allem des Alsfelder Passionsspiels werden hybride und variable emotionale Zustände inszeniert. Maria durchlebt nacheinander angest und not, sie empfindet immer wieder einen Todeswunsch, sie hat das Gefühl, ohne Trost zu sein, sie hat Furcht, allein zurückzubleiben, sie hat das Gefühl, Hilfe zu brauchen, in iamer verharren zu müssen (V. 6101). Sie hat Aggressionen gegen die Juden (V. 6132 f.).58 Mit den Emotionen verändert sich der
bekannteste Vertreter des Konzepts der Basisemotionen ist Paul Ekman; vgl. etwa: „Basic Emotions“, in: Tim Dalgeish/Mick J. Power (Hrsg.), Handbook of Cognition and Emotion, Chichester 1999, S. 45 – 60. Vgl. zum Verhältnis des Affektbegriffs zu anderen Emotionskategorien auch Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und franzçsischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. – 16. Jahrhunderts, Berlin – New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39). 57 Einen guten Überblick über Hierarchisierungen emotionaler Zustände verschafft immer noch Agnes Heller, Theorie der Gefhle, Hamburg 1981. 58 Die Vorwürfe gegen Juden gehören zum festen Repertoire der Marienklagen. Einzig zwei Füssener Marienklagen weisen die interessante Abweichung auf, sie zum Vorwurf gegen Judas umzuformulieren, vgl. Das Fssener Osterspiel und die Fssener Marienklage, in Abbildung hrsg. von Dietrich Schmidtke. Mit einer
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Emotionsausdruck und damit der Ton der Klage. Ihre Aggressionen äußern sich zum Beispiel in schryen, sie bricht wiederholt in Tränen aus, sie gerät in die Nähe eines verwirrten oder wahnhaften Zustandes, als sie vermeint, dass Jesus nach ihr gerufen habe. Sie hat Verlangen nach der körperlichen Nähe Christi (V. 6230, und besonders in der Pietà-Szene, V. 6671), sie empfindet bitterkeit (V. 6411). Typisch für die Emotionen Marias sind gemischte oder widersprüchliche Gefühlsregungen und Gefühlsexpressionen. Im Zuge der Trauer um Christus werden, wie in dem zitierten Kommentar zu seinen Verletzungen, plötzlich zärtliche Töne vernehmlich. Mehrfach kommt es zum plötzlichen Umschlag einer Emotion in eine andere, zum Beispiel von Trauer in Zorn (gegen die Juden). Maria zeigt Furcht vor der Einsamkeit nach Jesu Tod und zugleich die Fähigkeit zur Selbst-Beruhigung durch den immer erneuten Rückfall in den Klage-Gestus, der sie schließlich den Tod Christi akzeptieren lässt. Der ritualisierte, auf Wiederholungen aufbauende Charakter von Marias Klage hat in emotionstheoretischer Hinsicht die Funktion, eine Krise zu bearbeiten: „Repetition reduces excitement and may have a relaxing function; no new activity is required, thereby resulting in an absence of consciousness.“59 Es wäre in diesem Zusammenhang von Interesse zu ermitteln, welche Rolle die Musik für eine solche selbst induzierte Beruhigung spielt, der Umstand also, dass die Klagen zumindest teilweise gesungen werden.60 Der immer neue Rekurs auf die gleichen sprachlichen und gestischen Ausdrucksmuster lässt sich jedenfalls als Versuch begreifen, einerseits Emotionen Geltung zu verleihen und sie andererseits unter Kontrolle zu behalten. Im Rahmen des auf den ersten Blick monotonen und formelhaften ritualisierten Spreliteraturwiss. Einf. von Ursula Hennig, Göppingen 1983 (Litterae 69), S. 17 (Str. 6), S. 28 f. 59 Aaron Ben-Ze’ev, The Subtlety of Emotions, Cambridge/Mass. – London 2000, S. 14 f. 60 Emotionale Wirkungen der Künste sind bislang erst ansatzweise erforscht, vgl. etwa die Beiträge in: Mette Hjort/Sue Laver (Hrsg.), Emotion and the Arts, New York – Oxford 1997. Einen Einblick in das Spektrum der Gesangspartien in den Spielen der Hessischen Passionsspielgruppe gibt Johannes Janota, „Zur Funktion der Gesänge in der hessischen Passionsspielgruppe“, in: Max Siller (Hrsg.), Osterspiele. Texte und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (12.–16. April 1992), Innsbruck 1994, S. 109 – 120. Janota hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass das Alsfelder Passionsspiel nicht nur die meisten Gesangseinlagen, sondern auch die größte Bandbreite an Funktionstypen solcher Gesänge aufweist (S. 118).
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chens geht es tatsächlich darum, Trauer prozesshaft zu durchleben und am Ende abschließen zu können. Oder umgekehrt: Ritualisiertes Sprechen hat, da es auf Wiederholungen beruht, in emotionstheoretischer Hinsicht die Funktion, Emotionen der Beruhigung und eventuell des Trostes zu konstituieren. Die – potentiell aufwühlende, ,affizierende‘ – Trauer wird rhythmisch aufgefangen und zeigt exemplarisch, wie ein Verlust zu bewältigen ist. Im Rahmen der Klage kann Maria so über die Stadien der Konfrontation und Verleugnung, Vergegenwärtigung und Erinnerung, Wut und Depression alle Stufen einer Auseinandersetzung mit einem verlorenen Liebesobjekt durchlaufen und sich schließlich von diesem Liebesobjekt lösen (Freud), indem sie seinen Tod akzeptiert.61 Die Worte, mit denen Maria ihre Klage beendet, erinnern deshalb an die Bedeutung des Opfers62 : vch syn hude vorgeben alle vwer sunde gemeyn, die hude myt mer armen weynen. das helffe mer der milde gott dorch synen vnschuldigen doit. (V. 6834 – 6838)
In diesem Sinne kommunizieren die Marienklagen über ein Set unterschiedlicher Emotionen (Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Angst, Trost) vor allem sich selbst. Zugespitzt und mit Blick auf Fragen einer möglichen Präsenzerfahrung in Marienklagen formuliert: Präsent sind Marias Emotionen.
61 Vgl. Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X: Werke aus den Jahren 1913 – 1917, Frankfurt/M. [u.a.] 1981, S. 427 – 446. 62 Damit wird auch Maria zur Vermittlerin der Heilsbotschaft, eine Aufgabe, die Satzinger/Ziegeler, „Marienklagen und Pietà“ (Anm. 6), S. 255, ihr absprechen. Sie sehen in den Marienklagen und vergleichbaren Genera eine Gottesbegegnung ex negativo dargestellt und machen dafür geltend, dass Maria in ihrem Klagen verharre.
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Destruktion und Rekonstitution Ulrich Wyss hat als Darstellungsproblem der Gattung Legende bezeichnet, dass ein Heiligenleben sich „letzten Endes nicht nach dem Maß dieser Welt plausibel imaginieren lässt“.63 Dies gilt auch und erst recht für das Leben Jesu Christi und für seine Vergegenwärtigung im religiösen Drama. In einer widersprüchlichen Bewegung errichtet das Passionsspiel selbst die Grenzen, an denen seine Versuche der Darstellung Christi scheitern. So wird durch Szeneneinrichtungen und sprachliche Mittel kontinuierlich auf Grenzen der Kommunikation über das Heilige hingewiesen. Dazu gehört, dass die Leiden einer klagenden, weinenden und schreienden Mutter Gottes gezeigt werden können, der klagende Gott selbst hingegen nicht, oder nur in Andeutung. In gegenläufiger Tendenz zum Versuch, Jesu Leiden nahezubringen, wird eine adäquate Vermittlung so stets aufs Neue verhindert, und das Passionsspiel entwickelt Formen der Distanznahme. In der erläuterten Verschiebung, dass weniger Christus seine Leiden artikuliert als Maria und dass seine Leiden sprachlich vergegenwärtigt werden, liegt daher ein Kunstgriff, durch den er zugleich an die Zuschauer ,herangerückt‘ und auf Distanz gehalten wird und in dem Grenzen religiöser Kommunikation überschritten und erneut behauptet werden.64 Christus wird im Passionsspiel also nur eingeschränkt „in seinem erbarmungswürdigen Menschsein“ präsentiert (U. Schulze).65 Die Identifikation mit seinen Schmerzen wird vielmehr an Grenzen geführt, und es wird ein Eindruck von Souveränität konstituiert. Nach Auffassung mancher Interpreten dominiert die Überlegenheit Christi sogar die Wahrnehmung der Szenen größter Gewalt, insbesondere der Kreuzigung. So stellt Ursula Hennig mit Blick auf das Alsfelder Passionsspiel fest: „Jesus ist nicht das Opfer, sondern der Herr der Passion.“66 Jan-Dirk Müller zufolge ist er in Passionsspielen generell „Objekt vergeblichen Quälens. Während die Peiniger ihm seine Menschheit rauben wollen, beweist er 63 Ulrich Wyss, „Legenden“, in: Volker Mertens/Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 40 – 61, hier S. 42. 64 Vgl. auch Ursula Hennig, „Jesus am Kreuz in der hessischen Passionsspieltradition. Text und Dramaturgie“, in: Ziegeler (Hrsg.), Ritual und Inszenierung (Anm. 1), S. 167 – 176. Hennig vertritt die Auffassung, dass die Marienklagen im Passionsspiel die Funktion übernehmen, das Leiden zu artikulieren, welches Christus um seiner heilsgeschichtlichen Rolle willen nicht kommunizieren soll. 65 Schulze, „Emotionalität im Geistlichen Spiel“ (Anm. 1), S. 183. 66 Hennig, „Jesus am Kreuz“ (Anm. 64), S. 176.
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seine Gottheit“.67 Dem gegenüber sehe ich im Spannungsverhältnis zwischen allen Polen das Interesse dieser Szenen und verweise dafür abschließend wenigstens kurz auf weitere sprachliche Mittel, durch die es in der Schwebe gehalten wird. In die Marienklagen werden wiederholt Wörter und formelhafte Wendungen integriert, welche die Mutter-Kind-Relation zwischen Maria und Jesus relativieren, die Größe und Meisterschaft Christi anrufen und seine Unzerstörbarkeit antizipieren. Im Gegenzug zur Inszenierung Christi als Sohn Marias wird er in den Marienklagen auch als ihr Schöpfer sprachlich (re-)konstituiert. So wird Jesus von Maria mehrfach als Herrscher angesprochen, und an mehreren Stellen des Alsfelder Passionsspiels artikuliert sie ihre Verzweiflung darüber, dass er sie allein zurücklässt. owe, was sal ich armes wipp? groisser klage ist mer noit. owe, lege ich vor en toid. vatter, schepper bistu myn vnde ich dyn gebereryn! (V. 6069 – 6073)
Auf diese Weise kehren sich in den Marienklagen die Rollen beständig um. Maria ist nicht nur eine untröstliche Mutter, die dem Kind nicht helfen kann, das sie geboren hat; Jesus ist umgekehrt auch der Herr, der sein Geschöpf zurücklässt. Diese Umkehrung der Rollen von Schöpfer und Kind wird sprachlich immer wieder variiert. Noch in der bereits genannten, in besonderem Maße auf emotionale Identifikation setzenden Szene, in der Maria, nachdem sie sich schon vom Kreuz entfernt hat, Jesus den Verzweiflungsschrei ausrufen hört (Gottvater, warum hast Du mich verlassen?), erweist sich die Klage um das Kind, das sie brauche, als sprachlich ambivalent konstituiert. Denn sie klagt: Owe, owe, ich horte eynen ruff, das was myn kint Ihesus, das mich geschuff. ich horte synen engesten ruff. (V. 6172 – 6174).
Myn kint, das mich geschuff – dies wäre eine paradoxe Formulierung, weil ein Mensch nicht Schöpfer und Geschöpf einer anderen Person zugleich sein kann. Aber Jesus ist Mensch und Gott, und in dieser doppelten Bestimmtheit lässt er sich nur in Paradoxien begreifen. Die Kunst der 67 Müller, „Das Gedächtnis“ (Anm. 43), S. 86.
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Marienklagen liegt nicht zum Wenigsten darin, solche paradoxen Anrufungen in immer neuen Varianten zu formulieren. Die Bordesholmer Marienklage etwa formuliert: Yk horede enen r =p, dat ys myn kynt Ihesus, de myr geschop unde al der werlt gemeyne. 68
Zusammenfassung Um das leidende Corpus Christi zu konstituieren, setzt das Passionsspiel nicht allein auf Anschauung und Performanz. Es greift auf literarische Rede und ihre Funktionen zurück, Imaginäres erscheinen zu lassen. In diesem Beitrag wurde am Beispiel der Marienklagen die Frage verfolgt, wie auf diesem Wege eine Gotteserfahrung konstituiert werden kann, die nach einer verbreiteten Meinung in besonderem Maße durch eine emotionale und räumliche Nähe charakterisiert ist. Gerade der Begriff der compassio konzeptualisiert eine emotionale Haltung, die durch Appellstrukturen auf dem Weg von Maria zu Christus eine solche Nähe gewährleisten soll. Die Marienklagen haben sich bei näherem Besehen in mehrfacher Hinsicht als Grenzfall religiöser Kommunikation erwiesen. Die Klagen unterstützen eine spielimmanente Intention, das Corpus Christi nur begrenzt durch mimetische Darstellung zu inszenieren. Denn Maria ist wichtigster Mediator der Leiden Christi und spricht doch vornehmlich über ihren eigenen Schmerz. Die Trauer erweist sich in emotionstheoretischer Perspektive als komplexer Prozess, der zwar den Blick auf Christus und seine körperlichen Leiden lenkt, aber letztlich keine unmittelbare Identifikation mit diesen Leiden gewährleisten soll, sondern einen exemplarischen Prozess der Trauer vollzieht. Spielstrategisch scheint mir mit Blick auf Fragen der Inszenierung des Heiligen der Schluss naheliegend, dass Christi Leiden nur begrenzt erfahrbar werden soll. Es erscheint immer wieder als erhaben, immanenten Bezügen entrückt, kurz: als nicht kommunizierbar.
68 Bordesholmer Marienklage, in: Zeitschrift fr deutsches Altertum und deutsche Literatur, 13/1867, S. 288 – 319, V. 233 – 235.
Chaucers Pardoner – die Geburt der Literatur aus dem Geist der Orthodoxie Andrew James Johnston I Chaucers Pardoner, der Ablassprediger, gehört neben der Wife of Bath zu den meistdiskutierten Erzählerfiguren der Canterbury Tales. Während die Wife in jüngerer Zeit insbesondere das Interesse der feministischen Forschung auf sich gezogen hat, ist dem Pardoner zusätzliche Aufmerksamkeit vor allem von Seiten der Queer Studies zuteil geworden. Was den Pardoner forschungsgeschichtlich von der Wife jedoch unterscheidet, ist das überwiegend negative Urteil, das die Wissenschaft vor dem Aufstieg der Queer Studies über ihn gefällt hatte. Während der Wife stets auch Sympathie entgegengebracht worden ist, hat sich die Forschung beim Pardoner Jahrzehnte lang weitgehend darauf konzentriert, Art und Ausmaß seiner Verworfenheit zu protokollieren. In der Tat gibt sich Chaucer in der Gestaltung des Ablasspredigers alle Mühe, Verachtung und Misstrauen des Publikums zu erregen: Schon der General Prologue, in dem der Pardoner als letzter der Pilger geschildert wird, bringt sein effeminiertes Äußeres mit einem sexuellen oder körperlichen Makel in Verbindung1: A voys he hadde as smal as hath a goot. No berd hadde he, ne nevere sholde have; As smothe it was as it were late shave. I trowe he were a geldyng or a mare. 2
Zudem unterhält der Pardoner eine womöglich homoerotisch gefärbte Beziehung zum Summoner, dem kaum weniger problematisch wir1 2
Die erste umfangreiche Beschäftigung mit dem vermeintlichem Eunuchentum des Pardoners stammt von Walter Clyde Curry, Chaucer and the Medieval Sciences, 2. Auflage, London 1960, S. 54 – 70. Geoffrey Chaucer, The Canterbury Tales, in: Larry D. Benson (Hrsg.), The Riverside Chaucer, Oxford 1988, Fragment I, V. 688 – 691.
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kenden Büttel der geistlichen Gerichte: This Somonour bar to hym a stif burdoun. 3 Auch die eigene berufliche Tätigkeit lässt den Pardoner nicht sympathischer wirken. Neben dem Ablasshandel, bei dem er die Unterscheidung zwischen Sünden und Sündenstrafen bewusst verwischt, verdient er am Verkauf falscher Reliquien. Stolz brüstet er sich im Prolog seiner Erzählung nicht nur mit den rhetorischen und psychologischen Strategien sowie den betrügerischen Tricks, die er anwende, um die Zahlungswilligkeit seiner potenziellen Kundschaft zu erhöhen, sondern auch damit, dass die Habsucht sein einziges Motiv sei, weshalb er auch am liebsten über das Thema Radix malorum est cupiditas 4 predige. Die Pardoner’s Tale selbst bietet dann auch folgerichtig ein Exemplum dreier ebenso sündhafter wie einfältiger Männer, die mit dem Ziel aufbrechen, den Tod umzubringen, nur um sich dann aus Geldgier gegenseitig zu ermorden. Kein Wunder, dass der Großteil der Forschung kein gutes Haar an dieser Figur lassen wollte. In den letzten anderthalb bis zwei Jahrzehnten hat jedoch nicht zuletzt der Aufstieg der mediävistischen Queer Studies dem Pardoner eine spürbar freundlichere Rezeption und, was fast noch wichtiger ist, eine besondere methodische Symbolfunktion beschert.5 Denn in der englischsprachigen anglistischen Mediävistik definieren sich die Queer Studies mit ihrem starken Hang zu psychoanalytisch beeinflussten Ansätzen in zunehmend scharfer Abgrenzung von den im weitesten Sinne neuhistoristischen Tendenzen, die die methodisch avancierte ChaucerForschung noch in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts dominierten.6 Es ist daher kein Zufall, dass Lee Patterson, einer der 3 4 5
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Ebd., V. 673. Ebd., Fragment VI, V. 334 und V. 426. Eine der wichtigsten Untersuchungen zum Pardoner im Geiste der Queer Studies stammt von Glenn Burger, „Kissing the Pardoner“, in: Publications of the Modern Language Association of America, 107/1992, S. 1143 – 1156. Burger setzt, was er als des Pardoners offenes Geheimnis ansieht – sein sexuelles Anders-Sein – mit seinem anderen vermeintlich offenen Geheimnis in Beziehung, seiner Teilhabe an einer Kultur allzu oberflächlicher spiritueller und sakramentaler Dienstleistungen. Robert Stuart Sturges hat dem Pardoner eine ganze Monographie gewidmet, lässt dabei aber den Aspekt des Ablasshandels weitgehend außer Acht (Robert Stuart Sturges, Chaucer’s Pardoner and Gender Theory: Bodies of Discourse, New York 2000). Siehe hierzu das programmatische Kapitel zum Verhältnis der poststrukturalistisch-psychoanalytisch geprägten Mediävistik zum historicism in all seinen Spielarten bei L. O. Aranye Fradenburg, Sacrifice Your Love: Psychoanalysis, Historicism, Chaucer, Minneapolis 2002 (Medieval Cultures 31), S. 43 – 78; eine
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Exponenten der mediävistischen Spielart des New Historicism 7, vor einigen Jahren gerade den Pardoner zum Anlass einer groß angelegten Kritik an der psychoanalytischen Präsenz in der US-amerikanischen Mediävistik nahm.8 Obwohl vornehmlich gegen Freud und in geringerem Maße gegen Lacan gerichtet9, geriet dieser Angriff unversehens zur Abrechnung mit zahlreichen angeblichen Glaubensartikeln, die
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ähnliche Stoßrichtung verfolgt Elisabeth Scala, „Historicists and Their Discontents: Reading Psychoanalytically in Medieval Studies“, in: Texas Studies in Literature and Language, 44/2002, S. 108 – 131. Der Gebrauch des Begriffs New Historicism ist in diesem Zusammenhang nicht ganz unproblematisch. Während nämlich Vertreter der germanistischen Mediävistik in Deutschland den New Historicism durchaus wohlwollend als eine Art Diskursgeschichte begrüßten (siehe hierzu insbesondere Werner Röcke, „New Historicism: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik“, in: Ludwig Jäger [Hrsg.], Germanistik. Disziplinre Identitt und kulturelle Leistung. Vortrge des deutschen Germanistentages 1994, Weinheim 1995, S. 214 – 228; ders., „Mentalitätsgeschichte – ,New Historicism‘: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik“, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 31/1996, S. 21 – 37), stieß er in der englischsprachigen anglistischen Mediävistik beiderseits des Atlantiks auf gehörige Skepsis. Dem aus der Frühneuzeitforschung stammenden New Historicism wurde vorgeworfen, unter Foucaultschem Vorzeichen die Methoden und Voraussetzungen des grand rcit der europäischen Moderne unangetastet zu lassen. Demzufolge bildet die Renaissance auch und gerade für die Vertreter des New Historicism eine entscheidende Wende, in deren Verlauf das (früh)neuzeitliche Subjekt geboren wird. Siehe hierzu insbesondere David Aers, „A Whisper in the Ear of Early Modernists; or, Reflections on Literary Critics Writing the ,History of the Subject‘“, in: ders. (Hrsg.), Culture and History 1350 – 1600: Essays on English Communities, Identities and Writing, New York 1992, S. 177 – 202; Lee Patterson, Negotiating the Past. The Historical Understanding of Medieval Literature, Madison 1987, S. 57 – 74. Von dieser grundsätzlichen Kritik abgesehen, unterscheiden sich die führenden britischen und amerikanischen Mediävisten der achtziger und neunziger Jahre in ihrer wissenschaftlichen Praxis nicht wesentlich von ihren für die Renaissance zuständigen Kollegen. Es ist daher nicht überraschend, wenn sich Lee Patterson in einem programmatischen Sammelband mit dem Titel New Historical Literary Study neben Autoren wie Stephen Greenblatt wiederfindet (Lee Patterson, „Making Identities in Fifteenth Century England: Henry V and John Lydgate“, in: Jeffrey N. Cox/Larry J. Reynolds [Hrsg.], New Historical Literary Study: Essays on Reproducing Texts, Representing History, Princeton 1993, S. 69 – 107). ders., „Chaucer’s Pardoner on the Couch: Psyche and Clio in Medieval Literary Studies“, in: Speculum, 76/2001, S. 638 – 680. Diese Debatte entbehrt nicht der ironischen Momente: In Chaucer and the Subject of History (Madison 1991, S. 370 – 372) hatte Patterson in seiner Deutung des Pardoners selbst noch auf die Lacansche Psychoanalyse zurückgegriffen.
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heute das bunte Feld dessen bestimmen, was in den englischsprachigen Geisteswissenschaften gemeinhin als ,Theory‘ (mit großem Anfangsbuchstaben) bezeichnet wird.10 Ich habe weder vor, in dem hier mit einer gewissen Grobheit skizzierten Konflikt Partei zu ergreifen, noch seine tieferen Ursachen oder weiter reichenden Konsequenzen zu analysieren – zumal die Lage dadurch kompliziert wird, dass gewisse Indizien dafür sprechen, dass die Queer Studies inzwischen ihren Zenit überschritten haben und nicht, wie es zeitweilig bevorzustehen schien, zum Leitparadigma der Medieval Studies aufgestiegen sind. Ich erwähne diese Frontlinien vielmehr, um zu zeigen, dass, wer sich mit dem Pardoner beschäftigt, ein großes ideologisch-methodisches Minenfeld betritt, dessen Existenz das Spektrum der interpretatorischen Möglichkeiten eher einschränkt als erweitert. Wie in vielen solcher Auseinandersetzungen gewinnt der Kampf nicht zuletzt deshalb an Schärfe, weil die Vertreter der jeweiligen Schulen mit Begeisterung aneinander vorbei reden. Da sie meist auf gänzlich unterschiedlichen Ebenen argumentieren, erreichen sie einander gewöhnlich nicht. Um beim Beispiel des Pardoners zu bleiben: Mit ziemlicher Sicherheit wird Alastair Minnis’ hochinteressante aber methodisch wenig reflektierte Deutung der symbolisch-allegorischen Aspekte der Geschlechtsidentität des Pardoners gerade unter jenen weitgehend ungehört verhallen, an die sie vornehmlich gerichtet ist, die Vertreter einer sich auf aktuellstem Theorieniveau bewegenden mediävistischen Genderforschung. Dies ist bedauerlich, zugleich aber auch verständlich, denn tatsächlich sieht es so aus, als beginge Minnis in seinem Versuch, die ambige sexuelle beziehungsweise geschlechtliche Identität des Pardoners in einen ausschließlich symbolischen Kontext einzubetten und somit der Genderforschung in den Chaucer Studies ihr liebstes Kind zu entreißen, gerade jenen methodischen Fehler, den die 10 Obwohl Patterson in einigen Teilen seines durchaus polemischen Aufsatzes vorgibt, primär die Psychoanalyse aufs Korn zu nehmen, so ist doch offensichtlich, dass er sich einen größeren Ärger von der Seele schreibt. So wird er dann auch verstanden: Eine äußerst positive deutsche Reaktion findet sich zum Beispiel in Helmut Gneussens Versuch einer Standortbestimmung der deutschsprachigen anglistischen Mediävistik: Helmut Gneuss, „Englische Sprachwissenschaft und Mediävistik: Vom Blick zurück zu den Aufgaben für Gegenwart und Zukunft“, in: Gabriele Knappe (Hrsg.), Englische Sprachwissenschaft und Medivistik: Standpunkte – Perspektiven – Neue Wege, Frankfurt/M. 2005 (Bamberger Beiträge zur Englischen Sprachwissenschaft 48), S. 44, Anm. 8.
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Gegner des Historicism dem New Historicism genauso anzukreiden pflegen wie seinem polemisch Old Historicism genannten Vorgänger. Es scheint nämlich, als erhebe Minnis den (impliziten) Anspruch, mit seiner quasikanonischen Interpretation eine, wenn nicht sogar die authentisch mittelalterliche und damit alle (post)modernen Rezeptionsformen automatisch ausschließende Klärung der Bedeutung des Pardoner zu bieten.11
II Viel beachtenswerter als das, was die streitenden Parteien in dieser Diskussion trennt, scheint mir allerdings das zu sein, was sie vereint. Methodisch gesehen überwiegen auf beiden Seiten nämlich Varianten dessen, was die englischsprachige Forschung ein dramatic reading der Canterbury Tales nennt. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Annahme, dass die Erzählerfiguren der Tales ihre Geschichten – realistischen Charakteren gleich – aus einer jeweils spezifischen psychologischideologischen Perspektive heraus erzählen. Diese in vielerlei Hinsicht sehr plausible und durch die Illuminationen der Ellesmere-Handschrift12 gestützte Annahme teilen bis zu einem gewissen, wenngleich geringeren Grade oft selbst jene Wissenschaftler, die den Pardoner primär in einer religiösen symbolischen Funktion sehen, wie etwa auch Minnis in einigen seiner Publikationen zu diesem Thema. Sie verstehen den wie auch immer gearteten sexuellen Makel des Pardoners tendenziell als Schlüssel, über den sich die Bedeutung der Figur und ihrer Erzählung 11 Alastair Minnis bezweifelt die weitverbreitete Auffassung, dass der Pardoner entweder ein eunuchus oder ein Homosexueller oder beides sei und bietet stattdessen eine ganze Palette alternativer Interpretationen: „[…] the Pardoner may be seen as a man (1) who has undescended or abnormal testicles, or (2) who was generated on the left side or in the middle of his mother’s womb. Either condition […] was capable of producing a feminoid appearance, involving such features as glaring eyes and beardlessness […] three further possibilities may be added […]: (3) a man could become effeminate due to his excessive sexual desire for women, (4) a man who looked like a woman was likely to have his masculinity called in question, and (5) the same was true of a man who lusted after women but was dismally unsuccessful in his pursuit of them. None of these five situations or conditions necessarily involved anything other than heterosexual normativity.“ (Alastair Minnis, „Chaucer and the Queering Eunuch“, in: New Medieval Literatures, 6/2003, S. 120.) 12 Zur Frage, in welcher Weise die Ellesmere-Handschrift ein dramatic reading nahe legt, siehe Patterson, Chaucer and the Subject of History (Anm. 9), S. 44 f.
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erschließen lässt, ganz so, als handele es sich um ein tatsächliches, gleichsam biologisches Phänomen, dessen wahre Natur man fixieren und dann in einen klar zu definierenden symbolischen Gehalt überführen könne. Darüber hinaus erwecken sie den Anschein, als könne über eine genaue Deutung der die Figur prägenden sexuellen Abweichung auch der Rahmen für die Interpretation der von ihr erzählten Geschichte abgesteckt werden. Und selbst wenn von der sexuellen Komponente des Pardoners abgesehen wird und sich die Aufmerksamkeit vor allem auf seine fragwürdige Rolle im Ablassgeschäft richtet, erliegt die Forschung nicht selten der Versuchung, über den Pardoner zu richten, als sei er eine reale Person, so wie es Alastair Minnis jüngst getan hat: Indeed, there is something quite obsessive (or criminal, to borrow Donald Howard’s term) about the rapacity with which he targets his victims, even the poorest and most vulnerable members of society, showing no recognition whatever of their shared humanity or common membership of the Church’s mystical body. Quite apart from the material suffering which the Pardoner can cause, his capacity to perpetuate spiritual harm is immense. The evil this man does will live long after him.13
Wenn jedoch die Literaturwissenschaft solchermaßen über die Verfehlungen einer literarischen Figur zu Gericht sitzt, kann das Spiel mit der Literarizität des Textes, das für Chaucers Werk insgesamt so typisch ist, allzu leicht aus dem Blickfeld geraten. Dabei ist es bereits der Text selbst, genauer: der Erzähler des General Prologue, der in seiner eingangs zitierten Einführung zu den einzelnen Pilgern jeder Vereindeutigung der Geschlechtsidentität des Ablasspredigers einen Riegel vorschiebt. Anstatt sich nämlich bezüglich der sexuellen Neigungen des Pardoners oder seiner Abweichungen von zeitgenössischen Normen der Konstruktion von Geschlechterrollen festzulegen, kennzeichnet er den Ablassprediger mit zwei nicht-synomymen, darüber hinaus noch durch ein or verbundenen Begriffen: gelding (,Wallach‘, gewöhnlich als ,Eunuch‘ gedeutet) und mare (,Stute‘, meistens als ,Homosexueller‘ gedeutet). Zudem relativiert der Erzähler das Bild des Pardoners zusätzlich, indem er seine Darstellung als bloße und in ihrer Mehrdeutigkeit ohnehin vage Vermutung kennzeichnet: I
13 Alastair Minnis, „Reclaiming the Pardoners“, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies, 33/2003, S. 311 – 334, hier S. 327.
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trowe he were a geldyng or a mare. 14 Diese Vieldeutigkeit kann bereits als Indiz dafür gelesen werden, wie der Text seine Literarizität ausspielt. Indem übrigens die Vertreter der Queer Studies die Instabilität der Geschlechtsidentität des Pardoners hervorheben, betonen sie (zumindest indirekt) auch einen Aspekt, der sich der spezifischen Literarizität der Pardoner’s Tale verdankt. Lee Patterson, dessen jüngstes, betont antifreudianisches dramatic reading des Pardoners und seiner Erzählung wohl die gelungenste neuhistoristische Deutung des Textes darstellt, verschweigt keineswegs die prononcierte Mehrdeutigkeit dessen, was über die Sexualität und/oder die körperliche Beschaffenheit des Pardoners ausgesagt wird.15 Im Gegenteil, er wertet die auffällige Ambiguität als Anzeichen dafür, dass der Erzähler eben nicht über die erotische oder geschlechtliche Identität des Pardoners spekuliert, um eine Aussage über Fragen der Geschlechtlichkeit im weitesten Sinne zu treffen, sondern um den Pardoner der spirituellen Sterilität zu zeihen – einer spirituellen Sterilität, die einen besonderen semiotischen Aspekt zu Eigen hat, denn der zur Fortpflanzung entweder nicht willige oder nicht fähige Pardoner verkörpere eine im Spätmittelalter kritisierte hermeneutische Praxis, die dem Signifikanten ein größeres Gewicht beimisst als dem Signifikat. Somit vertrete der Pardoner eine Interpretationshaltung, die an den Zeichen hängen bleibt, anstatt zu den Dingen vorzudringen, weswegen der Ablasskrämer im Nebenberuf auch mit falschen Reliquien handele. In der Materialität der Reliquie, so Patterson, manifestiert sich nämlich ein Zusammenfall von Signifikant und Signifikat. Die Reliquie verweist schließlich nicht bloß auf das Heilige, sie ist selbst heilig. Sie zu fälschen heißt demnach, sie auf ihren rein materiellen Charakter zu reduzieren und zugleich zum bloßen Zeichen für das Heilige zu erklären, mithin die Präsenz des Heiligen in ihr zu leugnen. Damit wird unterschlagen, dass Reliquien auf Erden das körperliche Fortleben der Erlösten nicht nur versinnbildlichen, sondern buchstäblich verkörpern. Indem der Ablassprediger das Konzept der Reliquie auf den ausschließlich materiellen Aspekt eines bloßen Signifikanten reduziert, zweifelt er an der 14 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment I, V. 691. Auf die spezifische Vagheit der Bedeutung von I trowe haben Carolyn Dinshaw (Chaucer’s Sexual Poetics, Madison 1989, S. 157) und C. David Benson („Chaucer’s Pardoner: His Sexuality and Modern Critics“, Medievalia, 8 [1985 (recte 1982)], S. 337 – 349, hier S. 339) hingewiesen. 15 Patterson, „Chaucer’s Pardoner on the Couch“ (Anm. 8), S. 661.
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Auferstehung des Leibes. Folgt man Pattersons Lesart, dann ist sich der Pardoner seines spirituellen Defizits sehr wohl bewusst: Er befindet sich nicht allein in einem Zustand des Zweifels, sondern gar in einem der Verzweiflung (desperatio), da er paradoxerweise nicht an das glauben kann, von dem er weiß, dass es ihn retten könnte – wenn er nur eben in der Lage wäre, daran zu glauben. Der Pardoner ist somit kein Atheist, sein Zweifel entspringt vielmehr dem exzessiven Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit. Es ist nicht die grundsätzliche Möglichkeit der Erlösung, die dem Pardoner zu schaffen macht, sondern ganz speziell die seiner eigenen Rettung. Der Pardoner übt sich laut Patterson nicht in Kritik am dominanten religiösen Diskurs, sondern erkennt ihn selbst dort noch an, wo er sich von ihm ausgeschlossen wähnt: Dies ist der Grund seiner Hoffnungslosigkeit. Er partizipiert damit am Geist dessen, was in der englischsprachigen Forschung zur spirituellen Situation des 14. Jahrhunderts oft reformism genannt wird. Was diesen zugegebenermaßen schwammigen Begriff so verlockend macht, ist, dass er es gestattet, ein Kontinuum religiöser Positionen und Spiritualitäten von der reinen Orthodoxie bis hin zur extremen Häresie zu postulieren, statt eine strenge Trennung zwischen den Lollarden und ihren Gegnern anzusetzen – die für das späte 14. Jahrhundert wahrscheinlich ohnehin problematisch wäre. Das Konzept des reformism bezeichnet eine kirchenpolitische Haltung, die auf eine moralische Erneuerung der Kirche drängte und dabei besonderen Wert auf Innerlichkeit legte. In unterschiedlichen Ausprägungen und Schattierungen fanden sich entsprechende Grundüberzeugungen sowohl unter Anhängern der neuen Häresie der Lollarden als auch unter Vertretern der Orthodoxie. Die spezifische Hoffnungslosigkeit des Pardoners manifestiert sich auch im eigentümlich schwankhaft-karnevalesken Ausklang seiner Erzählung: Nachdem er seine Geschichte zu Ende erzählt hat, fordert er Harry Bailly, den Gastwirt (Host) und Anführer der Pilgergruppe, auf niederzuknien und die falschen Reliquien zu küssen16, die sich in einer Tasche befinden, die in der Lendengegend des Pardoners – male 17 – hängt. (Es fällt übrigens schwer, hier keine homoerotische Anspielung zu erkennen.) Der Host erwidert, er werde den Ablasshändler keinesfalls küssen, sondern ihm statt dessen die Hoden abschneiden und sie in einem Schrein aus Schweinekot konservieren.18 Daraufhin wendet sich 16 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment VI, V. 941 – 945. 17 Ebd., V. 920. 18 Ebd., V. 946 – 955.
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der Pardoner mit zornigem Schweigen ab, was wiederum den Host verblüfft, der seinerseits ob der Reaktion seines Gegenübers verstimmt ist. Die religiös-psychologische Lesart Pattersons ist, soweit ich erkennen kann, die einzige, die gerade diesen komplexen Dialog in seiner besonderen, durch seine Derbheit aber geschickt verschleierten Vielschichtigkeit erfasst. Denn kaum jemand hat sich je mit der Frage auseinander gesetzt, warum sich Harry Bailly so sehr über die beleidigte Reaktion des Pardoners wundert. Gemeinhin wird angenommen, dass der Pardoner sich völlig zu Recht gekränkt fühle. Diese Sicht verfehlt aber den Spielcharakter der Situation, auf den der durch die Abwendung des Pardoners seinerseits enttäuschte Host explizit hinweist: ,Now‘, quod oure Hoost, ,I wol no lenger pleye j With thee, ne with noon other angry man.‘ 19 Tatsächlich scheint die Dialogsituation so angelegt zu sein, dass der Host annimmt, auf den blasphemisch-provokativen Diskurs des Pardoner adäquat, nämlich im Modus der Überbietung eingegangen zu sein. Und diese Überbietung hätte den Pardoner aus der Perspektive Harry Baillys weder überraschen noch verletzen dürfen, da Harry Bailly nur den Regeln eines Spiels folgte, das der Pardoner selbst initiiert hatte. Lee Patterson zufolge ist die Kränkung des Pardoners nicht auf die grotesk-physische Beleidigung zurückzuführen – also auf das, was die Genderforschung primär und gewiss nicht völlig zu Unrecht als den brutalen Unterdrückungsakt eines Vertreters des sexuellen Mainstreams gegen den Außenseiter wahrnimmt – sondern darauf, dass der Host in seiner Antwort genau die Themenkomplexe zusammenführt, um die der Pardoner so obsessiv kreist: Die in der blasphemisch abgewandelten Sprache der Reliquienverehrung vorgebrachte Kastrationsdrohung verweist auf die spirituelle Sterilität des Pardoners und legt gerade seine spezifische psychologisch-religiöse Wunde, den Kern seiner Verzweiflung, offen. Ich gestehe der Sicht Pattersons hier nicht allein deshalb so breiten Raum zu, weil sie mir als die eleganteste und sensibelste Interpretation des Pardoners im Geiste eines dramatic reading erscheint, sondern vor allem deswegen, weil gerade in der Eleganz dieser Deutung auch ihre Begrenzungen augenfällig werden. Denn was diese Lektüre trotz ihres psychologischen Feingefühls und der geschickten Einbindung von Elementen aus dem religiösen Diskurs des reformism vermissen lässt, ist das Gespür für das besondere literarische Selbst-Bewusstsein des Textes 19 Ebd., V. 958 f.
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– das Sensorium dafür, dass und wie der Figur des Ablasspredigers eine literarische, textuelle Existenz zugeschrieben wird. Diesen Einwand sollte man nicht unterschätzen, denn eine Berücksichtigung der metaliterarischen Ebene könnte unter Umständen auch Rückwirkungen auf das kunstvolle psychologisch-religiöse Konstrukt der Pattersonschen Interpretation haben. Anders ausgedrückt: Ein Blick auf das spezifisch literarische Selbst-Bewusstsein des Textes könnte es ermöglichen, den Pardoner aus der Ausschließlichkeit jener Verzweiflungsperspektive zu befreien, mit deren Hilfe Lee Patterson ihn auf ungleich subtilere Weise letztlich genauso verdammt, wie es schon Generationen von Literaturwissenschaftlern vor ihm getan haben. Wenn Patterson also feststellt, „[a]s always, Chaucer explores the social realities of his world from within the perspective of the individual consciousness“20, ist ihm zwar zuzustimmen, doch müsste man ergänzen, dass Chaucer die quasi sozialpsychologische Analyse ebenso typischerweise wieder einschränkt, indem er sie in einen – wenngleich impliziten – metaliterarischen Diskurs einbettet, der die potenzielle ideologische Sprengkraft des Dargestellten unterläuft oder zumindest durch Perspektiven, die andere Lesarten eröffnen, relativiert.
III Eine ganze Reihe von Indizien stützt diese Deutung. Das Wichtigste liefert der Pardoner selbst – und zwar erstaunlich direkt. Schließlich thematisiert er in seiner Selbstdarstellung ganz entschieden nicht nur seine Funktion als Prediger, sondern auch die Wirkung seiner Worte auf das Publikum. Dies ist charakteristisch für ihn: Er ist ganz generell bemüht, die Aufmerksamkeit nicht allein auf seine Betrügereien, sondern auch auf sein rhetorisch-theatralisches Talent zu lenken und dabei die technische Brillanz seiner Manipulationen auszustellen. Alastair Minnis spricht in diesem Zusammenhang von der Egozentrik des Pardoners, welche „quite offensive in itself“ sei.21 Dabei ist es weniger wichtig, seine Abstammung vom Faus Semblant des Rosenromans oder seine Verwandtschaft mit der Vice-Figur der Mysterienspiele zu dokumentieren, als vielmehr die theologischen und/oder literaturtheoretischen Konsequenzen seines Kommentars zu den paradoxen Effekten 20 Patterson, „Chaucer’s Pardoner“ (Anm. 8), S. 671. 21 Minnis, „Reclaiming the Pardoners“ (Anm. 13), S. 324.
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seiner Manipulationen zu reflektieren. Denn in seinen Worten wird auf eine gleichermaßen theologische wie hermeneutische Problemstellung angespielt, deren Brisanz meines Erachtens das Problem der falschen Reliquien ebenso in den Schatten stellt wie die durchaus suspekte Rolle, die der Pardoner in der theologisch-seelsorgerischen Grauzone der ablasskrämerischen Alltagspraxis spielt. Es ist dies die Frage, ob der Pardoner allein schon durch seine schlechten Intentionen und Methoden den ethischen und seelsorgerischen Nutzen seiner brillanten Performance zerstört: die Frage, ob auch ein moralisch schlechter Prediger einen seelsorgerisch wirksamen Beitrag zu leisten imstande ist, ob er die Seelen anderer retten kann, auch wenn viel dafür spricht, dass seine eigene verloren ist. Der Pardoner selbst beantwortet diese Frage in eindeutiger Manier: Thus kan I preche agayn that same vice Which that I use, and that is avarice. But though myself be gilty in that synne, Yet kan I maken oother folk to twynne From avarice and soore to repente. But that is nat my principal entente; I preche nothyng but for coveitise. Of this mateere it oghte ynogh suffise. 22
Er behauptet also, Gutes zu tun, weil seine Predigten Menschen auf den Pfad der Tugend (zurück)führen – und zwar unabhängig von den durch und durch sündhaften Absichten, die er zugleich äußert.23 In seiner Rolle als selbst-bewusster Textproduzent bezieht er eine Position, die dem spätestens seit dem 12. Jahrhundert auf Intentionalität fixierten christlichen Diskurs über Sünde und Schuld wohl nicht zuwiderläuft24, 22 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment VI, V. 427 – 433. 23 Lisa Kiser hat den Predigterfolg des Pardoners in Zweifel gezogen und spekuliert darüber, dass der Pardoner möglicherweise den Effekt seiner Predigten nur vortäuscht. Sie argumentiert auf der Grundlage einer Reihe von Unstimmigkeiten in der Beschreibung und Selbstdarstellung des Pardoners (Lisa J. Kiser, Truth and Textuality in Chaucer’s Poetry, Hanover – New Hampshire 1991, S. 142 – 144). So verlockend diese zusätzliche Umdrehung der hermeneutischen Schraube auf den ersten Blick auch ist, unterschlägt sie doch die paradoxe Verstärkung, die die Wirkung des Pardoners gerade seiner Unglaubwürdigkeit verdankt. 24 Zur Entwicklung eines die Intentionalität in den Vordergrund rückenden Konzeptes von Schuld und insbesondere zur Rolle Abaelards in diesem Zusammenhang siehe Linda Georgianna, The Solitary Self: Individuality in the ,Ancrene Wisse‘, Cambridge/Mass. 1981, S. 94 f.
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jedoch eine potenziell paradoxe Nuance verleiht. Auf der Basis der Pattersonschen Argumentation ließe sich formulieren: Der Pardoner sieht sich auch dann noch als Werkzeug der Erlösung, wenn er sich von ihren Segnungen ausgeschlossen fühlt, und zwar deshalb, weil er mit Bezug auf eine übergeordnete Perspektive aufzeigt, dass seine Intentionen eben nicht den einzig gültigen Maßstab für die Bewertung seiner Handlungen bilden können. Die Problematik, die der Pardoner hier anspricht, war dem spätmittelalterlichen Predigtdiskurs, der mit den Artes praedicandi eine reiche Handbuchliteratur hervorgebracht hatte, gut vertraut.25 Die soziokulturellen Entwicklungen, in deren Kontext im Hochmittelalter sowohl häretische Bewegungen wie Katharer oder Waldenser als auch die Bettelorden entstanden waren, hatten im Laufe des 13. Jahrhunderts zur Intensivierung der Seelsorge und zur Aufwertung der Predigt geführt.26 Die Predigt rückte ins Zentrum einer umfangreichen, in vielen Grundzügen schon bei Augustinus und Gregor dem Großen angelegten Diskussion seelsorgerischer Fragen, wobei sowohl die praktischen Aspekte der Predigt als auch ihre theologischen Bedingungen erörtert wurden. Wer unter welchen Umständen als Prediger legitimiert war, wurde Gegenstand einer komplexen, aristotelisch argumentierenden Kasuistik, die danach strebte, die Problematik in all ihren Facetten abzudecken, und die sich gerade deshalb schnell in Widersprüche verwickelte. Vieles deutet darauf hin, dass Chaucer mit zahlreichen Aspekten dieses Predigtdiskurses vertraut war, nicht zuletzt die Tatsache, dass in der Figur des Pardoners auf eine ganze Reihe von Brennpunkten dieser Debatte angespielt wird. Schon bevor er überhaupt selbst als Geschichtenerzähler in Erscheinung tritt, leistet sich der Ablassprediger beispielsweise einen zumindest angedeuteten verbalen Verstoß gegen die Regeln der legitimen Predigt. Mitten in ihrem Prolog unterbricht er die Wife of Bath und 25 Eine Darstellung und Analyse der in unserem Zusammenhang wichtigsten Positionen findet sich bei Alastair Minnis, „The Author’s Two Bodies? Authority and Fallibility in Late-Medieval Textual Theory“, in: Pamela R. Robinson/Rivkah Zim (Hrsg.), Of the Making of Books: Medieval Manuscripts, Their Scribes and Readers, Aldershot 1997, S. 267 – 271. 26 Zu den im spätmittelalterlichen England kursierenden Handbüchern zur Seelsorge, die Anweisungen zur Beichte, Predigt und allgemeinen Fragen religiöser Unterweisung enthielten, siehe William A. Pantin, The English Church in the Fourteenth Century, Cambridge 1955 (Nachdruck Toronto 1980) (Medieval Academy Reprints for Teaching 5), S. 189 – 219.
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bezeichnet sie scherzhaft als noble prechour. 27 Die Provokation dieses Lobes besteht nicht allein darin, dass Frauen grundsätzlich von der Predigt ausgeschlossen waren, sondern auch darin, dass einzelne Frauen höchstwahrscheinlich im Gefolge der häretischen Lollardenbewegung das Recht beanspruchten, zu predigen und seelsorgerisch tätig zu sein. Es ist allerdings nicht klar, ob dieses Problem bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts so virulent war wie in der zweiten Dekade des 15. Jahrhunderts, als es sich in der polemischen Dichtung Thomas Hoccleves niederschlug oder in dem Misstrauen, dem Margery Kempe insbesondere auf ihren innerenglischen Reisen begegnete.28 Als er selbst mit dem Erzählen an der Reihe ist, thematisiert der Pardoner sowohl explizit, nämlich mit der oben zitierten Behauptung, als auch implizit, indem er erst seine eigene Sündhaftigkeit in den grellsten Farben schildert und dann mit seiner Geschichte ein höchst gelungenes predigttypisches Exemplum abliefert, genau den Fall, den die zeitgenössischen Artes praedicandi am meisten fürchteten: das Skandalon des offen sündigenden Predigers. Der Prediger, dessen Sündhaftigkeit seinem Publikum bekannt war, galt als besonderer Problemfall. Dem konventionellen Predigtdiskurs zufolge stellte er ein seelsorgerisch-volkspädagogisches Ärgernis dar. Erführen die ihm anvertrauten Schäfchen von seiner Verworfenheit, so fürchtete man, würde dies nicht nur die Wirkung seiner Predigt schmälern, sondern – schlimmer noch – ein schlechtes Beispiel geben und die Autorität der Kirche insgesamt untergraben. Daher gestattete die relevante Fachliteratur sündigen Predigern üblicherweise die Ausübung ihrer Pflichten nur, sofern es ihnen gelang, die Sünden, die sie begangen hatten oder gar noch immer regelmäßig begingen, geheim zu halten. Sollte dies allerdings nicht möglich sein, so war eine Predigt selbst für einen offensichtlich sündigen 27 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment III, V. 165. 28 Zur Frage ob und in welchem Ausmaß die Lollarden Frauen priesterähnliche Funktionen einräumten siehe Margaret Aston, „Lollard Women Priests?“ in: Journal of Ecclesiastical History, 31/1980, S. 441 – 461. Hoccleve jedenfalls hält es für nötig, die Frauen für ein unpassendes Engagement in theologischen Gesprächen zurechtzuweisen: Some wommen eeke j thogh hir wit be thynne j Wol argumentes make in holy writ! j Lewde calates! sittith down and spynne (Thomas Hoccleve, „The Remonstrance Against Oldcastle“, in: Michael C. Seymour (Hrsg.), Selections from Hoccleve, Oxford 1981, V. 145 – 147). Die These, dass in die Konstruktion der „Wife of Bath“ lollardische Elemente eingeflossen sind, hat Alcuin Blamires („The Wife of Bath and Lollardy“, in: Medium Aevum, 58/ 1989, S. 224 – 242) überzeugend vertreten.
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Priester laut einigen Autoritäten immerhin dann noch möglich, wenn die Sünde nicht so schwer – also keine Todsünde – und/oder der jeweils aktuelle Bedarf an Predigt und Seelsorge so groß war, dass der Schaden einer fehlenden, sprich: ausbleibenden Predigt den eines fehlenden, sprich: sündhaften Predigers überwog.29 Auffällig an diesem Argumentationsmuster ist das Gemisch theologisch-philosophischer und pragmatischer Erwägungen, wobei letztere im Zweifelsfall zu dominieren scheinen. Allerdings stellt sich bei näherem Hinsehen der pragmatische Aspekt zumindest im Rahmen der ihn begründenden Argumentstruktur als logischer heraus, als es auf den ersten Blick wirken mag. Denn, wie Alastair Minnis gezeigt hat, dieser scheinbare Pragmatismus entspringt einer philosophisch-juristischen Unterscheidung zwischen der öffentlichen und der privaten Person eines Amtsträgers, die strukturell dem in der klassischen Studie von Ernst Hartwig Kantorowicz erforschten Topos von den zwei Körpern des Königs verwandt ist und auf die dogmatische Unterscheidung zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur Christi zurückgeht. Die Begriffe ,öffentlich‘ und ,privat‘ haben in diesem Kontext allerdings eine andere Bedeutung als in der Moderne. Sie beziehen sich einerseits auf das persönliche Verhältnis eines Amtsträgers zu einzelnen Mitgliedern seines Amtsbereichs (,privat‘) und andererseits auf sein Verhältnis zur Gesamtheit derer, für die er verantwortlich ist (,öffentlich‘). Mit anderen Worten: die scheinbar allzu pragmatische Kasuistik, die dem sündigen Prediger die Ausübung seines Amtes unter der Bedingung der Geheimhaltung seiner Sünden gestattet, gewinnt ihre Urteilskriterien aus einem fein differenzierenden diskursiven Arsenal.30 Neben der zumindest in ihren Auswirkungen eher pragmatisch anmutenden Herangehensweise der spätmittelalterlichen Predigthandbücher spielte für die englische Diskussion gegen Ende des 14. Jahrhunderts noch eine andere, deutlich radikalere Haltung eine nicht unwesentliche Rolle. Sie ging von rein theologischen Prämissen aus und war daher auch weit weniger kompromissfähig: Gemeint ist die Position der Lollarden, die donatistisch war, das heißt einem sündigen 29 Das Problem wurde dadurch noch unübersichtlicher, dass Uneinigkeit darüber herrschte, was eine Todsünde von einer lässlichen Sünde unterschied (Thomas N. Tentler, Sin and Confession on the Eve of the Reformation, Princeton 1977, S. 145). 30 Alastair Minnis, „Chaucer’s Pardoner and the ,Office of Preacher‘“, in: Piero Boitani/Anna Torti (Hrsg.), Intellectuals and Writers in Fourteenth-Century Europe, Tübingen 1986, S. 91.
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Priester grundsätzlich die Legitimation absprach und die Wirksamkeit der von ihm gespendeten Sakramente bestritt. So heißt es in den Twelve Conclusions of the Lollards: Oure usuel presthod, e qwich began in Rome, feynid of a power heyere an aungelis, is nout e presthod e qwich Cryst ordeynede to his apostlis. is conclusion is prouid for e presthod of Rome is mad with signis, rytis and bisschoppis blissingis, and at is of litil uertu, nowhere ensampled in holi scripture, for e bisschopis ordinalis in e newe testament ben litil of record. And we can nout se at e Holi Gost for oni sich signis aeuith oni aiftis, for he and his noble aiftis may not stonde with dedly sinne in no manere person. 31
Hier wird der römischen Kirche polemisch vorgeworfen, eine Macht vorzutäuschen, die größer als die der Engel sei, in Wirklichkeit aber nur auf hohlen Zeichen und Ritualen (signis und rytis) gegründet ist, für die es keine biblische Grundlage gibt. Was der kirchlichen Macht fehlt, ist der Heilige Geist, dessen Gaben Menschen, die im Stande der Todsünde sind, nicht zuteil werden können. Dies ist eine klassische donatistische Position. Sie kann in spiritueller Hinsicht als analoger Diskurs zum Problem des legitimen Predigers angesehen werden, auch wenn sich der Donatismus auf die Frage der Sakramente bezieht, zu denen die Predigt natürlich theologisch gesehen nicht gehört. Pikanterweise äußerte Wyclif selbst seine donatistische Sicht in einer Schrift mit dem Titel Responsiones ad argumenta Radulfi Strode, einer Schrift also, die als Entgegnung an eben jenen Ralph Strode gerichtet war, dem Chaucer neben John Gower seine Romanze Troilus and Criseyde gewidmet hatte. Wyclif ging in diesem Traktat sogar so weit zu behaupten, alle Erwählten seien als Mitglieder der Wahren Kirche automatisch Priester.32 Aus lollardischer Perspektive ist der Fall des Pardoners klar: aufgrund seiner Sündhaftigkeit geht dem Pardoner jeglicher sakramentale Anspruch ab, gleichgültig, ob er diese Sündhaftigkeit nun öffentlich ausstellt oder, wie in den Predigthandbüchern gefordert, erfolgreich verbirgt. Für die Lollarden wäre zudem völlig irrelevant gewesen, ob der Pardoner auch seine Lizenz zum Predigen gefälscht hatte und schon im formalen Sinne zur Predigt nicht legitimiert gewesen
31 „Twelve Conclusions of the Lollards“, in: Selections from English Wycliffite Writings, hrsg. von Anne Hudson, Cambridge 1978, S. 25. 32 Minnis, „The Author’s Two Bodies?“ (Anm. 25), S. 275; Richard Rex, The Lollards, Houndmills 2002, S. 40.
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wäre. Ebenso bedeutungslos wäre aus lollardischer Sicht, ob Chaucers Ablasshändler nun ein Kleriker oder ein Laie ist.33 Die Dinge werden jedoch noch um Einiges komplizierter, wenn man erwägt, dass Chaucer, wie Alastair Minnis vorschlägt, möglicherweise von einem säkularen Paralleldiskurs wusste, der sich mit der Autorität des sündigen(den) Dichters beschäftigte; eine Debatte, in die Dante eingegriffen hatte, an der sich Boccaccio in seinem Trattatello in laude di Dante beteiligte und die sich schließlich unter anderem in der Querelle de la Rose niederschlagen sollte, welche jedoch erst zwei Jahre nach Chaucers Tod ausbrach. Boccaccio jedenfalls räumte auch dem sündigen Dichter literarische Autorität ein und vertrat damit für die literarisch-säkulare Sphäre eine Position, die ihrer Struktur nach der lollardischen im seelsorgerisch-theologischen Bereich diametral entgegengesetzt war.34 Ob und, wenn ja, inwieweit Chaucer mit dieser Debatte vertraut war, ist letztlich nicht zu klären, wie überhaupt das exakte Ausmaß seiner Kenntnis insbesondere der Werke Boccaccios im Einzelnen immer noch schwer einzuschätzen ist. Im Falle des Filostrato als auch der Teseida, die Chaucer beide bearbeitete, kann man von genauer Kenntnis ausgehen, zugleich aber weiß man nicht, in welchem speziellen Umfang ihm etwa das Decamerone bekannt war. Dass ihm während der Arbeit an den Canterbury Tales ein Manuskript des Decamerone zur Verfügung stand, gilt jedenfalls als unwahrscheinlich.35 Dennoch lässt sich im Kontext der Pardoner’s Tale schon aus strukturellen Gründen die Frage stellen, ob und wie Chaucer mit der Spannung zwischen den beiden extremen Polen umgeht, die einerseits durch den Diskurs über die Autorität des weltlichen Dichters und andererseits durch die donatistische Perspektive der Lollarden markiert werden.
33 Ersteres ist zumindest aufgrund der Beschreibung im General Prologue denkbar – He was in chirche a noble ecclesiaste (Chaucer, Canterbury Tales [Anm. 2], Fragment I, V. 708) –, in der Forschung aber oft bestritten worden (Minnis, „Reclaiming the Pardoners“ [Anm. 13], S. 323). 34 Ein kurzer, aber präziser Überblick über die Debatte und die jeweiligen darin vertretenen Standpunkte findet sich bei Minnis, „The Author’s Two Bodies?“ (Anm. 25), S. 261 f. 35 David Wallace, „Afterword“, in: Leonard Michael Koff/Brenda Deen Schildgen (Hrsg.), The ,Decameron‘ and the ,Canterbury Tales‘: New Essays on an Old Question, Madison 2000, S. 317.
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IV Interessanterweise kommt Alastair Minnis, der sich den Predigten des Pardoners und dabei insbesondere dem Problem ihrer Wirksamkeit in zwei gut zehn Jahre auseinander liegenden Aufsätzen gewidmet hat, zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. Der ältere, rein innerreligiös argumentierende Artikel (1986) bescheinigt dem Pardoner zumindest eine gewisse Legitimität36, während der jüngere, obwohl er gerade die Debatte über die Legitimität des sündigen Dichters zum Vergleich heranzieht, eine sehr viel strengere Position einnimmt. So erklärt Minnis im Jahre 1997, dass moderne Leser, die dem Pardoner einen Rest paradoxer Anerkennung zuteil werden lassen, nicht begriffen, that the Pardoner’s skill in tale-telling issues from a certain intellectual habitus or body of established knowledge which exists despite his blatant lack of moral virtue. There is no doubting the Pardoner’s credentials as a good artifex, but rather more is required to make a ‘good’ preacher.37
In Minnis’ Argumentation kommt eine im Spätmittelalter übliche, aus der aristotelischen Ethik gewonnene Unterscheidung zum Tragen, die beispielsweise besagte, dass Dozenten (lectores) der Theologie anders als Prediger (praedicatores) auch bei offener Sündhaftigkeit lehren durften, da jene ihren Schülern nur scientia vermittelten, ohne auf deren Seelenheil Einfluss zu nehmen.38 Minnis spielt hier also die aristotelische Sicht gegen den literarischen Diskurs aus, was er unter anderem mit der besonderen religionspolitischen Lage Englands im ausgehenden 14. Jahrhundert begründet. Die lollardische Herausforderung stellte nicht zuletzt ihrer donatistischen Stoßrichtung wegen eine derart starke Bedrohung für die Kirche dar, dass diese es sich Minnis zufolge nicht leisten konnte, Perspektiven zuzulassen, die den Eindruck erwecken mochten, priesterliche Sünden würden in irgendeiner Form geduldet oder relativiert. Spätestens seitdem der 1399 wieder eingesetzte Erzbischof von Canterbury, Thomas Arundel, seine Konstitutionen (1409) erlassen hatte, waren in England nicht nur bestimmte moralisch-religiöse Positionen, sondern auch analoge literaturtheoretische Debatten unmöglich geworden. Das hitzige Klima der Lollardenverfolgungen hatte also weit reichende kulturpolitische Konsequenzen. Dies, so 36 Minnis, „Chaucer’s Pardoner“ (Anm. 30), S. 88 – 119. 37 Minnis, “The Author’s Two Bodies?” (Anm. 25), S. 274. 38 Minnis, „Chaucer’s Pardoner“ (Anm. 30), S. 91; Minnis, „The Author’s Two Bodies?“ (Anm. 25), S. 270 – 272.
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Minnis’ interessante These, war auch ein Grund, weshalb Chaucers Versuch, im Prolog der Legend of Good Women eine Debatte über die ethischen Implikationen von Troilus und Criseyde anzustoßen, nicht auf fruchtbaren Boden fiel.39 Noch im Jahre 1986 war Minnis allerdings ganz ohne Bezug auf die weltlich-literarischen Aspekte des Problems zu dem gegenteiligen Schluss gekommen, dass Chaucer die Gültigkeit der Predigten des Pardoners nicht nur anerkennt, sondern damit sogar die eigentlich orthodoxe, weil anti-donatistische Position vertritt. Das aristotelische Argumentationsmuster birgt tatsächlich somit schon eine Art protodonatistischen Kern: Indem es die Bedeutung der Predigt mit dem Seelenheil des Publikums verknüpft und aus diesem Grund die moralische Beschaffenheit des Predigers thematisiert, macht es die Wirkung bestimmter priesterlicher Funktionen von der individuellen Persönlichkeit des Priesters abhängig. Ginge man diesen Weg bis zu seinem logischen Ende, käme man beim Donatismus an. Dies ist auch einer der Gründe, warum die Autoritäten den scheinbar pragmatischen Ausweg der Forderung wählen, dass die Sünden des Predigers verborgen bleiben müssten. Die Geheimhaltungsoption ermöglicht es nämlich, die Argumentation weiterhin an die Wirkung der Predigt zu binden, anstatt sie von der individuellen moralischen Beschaffenheit des Predigers abhängig zu machen. So wird einerseits die orthodoxe Position gewahrt, zugleich aber den gesteigerten ethischen Anforderungen an das Priestertum, die im Donatismus ihre extreme theologische Ausprägung erfahren, Tribut gezollt. Demgegenüber würde eine schroffe Abwehr donatistischer Positionen gerade darin bestehen, das Recht sündiger Prediger auf die Ausübung ihrer Funktionen direkt und ohne Zugeständnisse an die zeitgenössische Spiritualität des reformism zu verteidigen. Eine solche Reaktion würde die Predigt gewissermaßen sakramentalisieren und analog zu denjenigen Kompetenzen behandeln, die dem Priester kraft seiner Weihe im Rahmen der apostolischen Sukzession zukamen. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass die Lollarden das Konzept der apostolischen Sukzession verwarfen. Dieser Ablehnung wegen wird auch die Frage nach dem genauen klerikalen Status des Pardoners interessant. Als sündiger Priester – und dies scheint Chaucers ironische Bezeichnung für den Pardoner, noble ecclesiaste, zu implizieren – böte er einer donatistischen Kritik am System erst recht einen signifikanten Anlass. 39 Ebd., S. 278.
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Zwei Generationen nach Chaucer verfolgte ein englischer Theologe, Bischof Reginald Pecock, übrigens eine Verteidigungsstrategie gegen die Lollarden, die den sakramentalen Charakter des Priestertums offensiv betonte. Auf die häufig geäußerte Kritik, hochrangige Kleriker würden ihre seelsorgerischen Aufgaben, insbesondere ihre Pflichten in Sachen Predigt, vernachlässigen, reagierte er mit einer öffentlichen Predigt bei St. Paul’s Cross in London, in der er ironischerweise das Recht der Priester verteidigte, nicht zu predigen. Er war so stolz auf seine Leistung, dass er den Text der Predigt unter seinen Amtsbrüdern zirkulieren ließ. Die öffentliche Erregung ob dieser dogmatisch einwandfreien, spirituell aber inopportunen Stellungnahme zwang den Erzbischof von Canterbury, die Schrift unterdrücken zu lassen. Pecocks eigenwillige Haltung zu zentralen theologischen und kirchenpolitischen Themen trug schließlich zu seiner Absetzung und Verurteilung wegen Häresie bei. Der Fall Pecock offenbart, dass im spätmittelalterlichen England das spirituelle Klima und das dogmatisch Richtige durchaus auch dann in Spannung zueinander stehen konnten, wenn man sich auf dem Boden der Orthodoxie befand.40 Chaucer lässt in einem verwandten Kontext den Gemeindepfarrer, den Parson, der sowohl den moralischen als auch den predigttechnischen Antipoden des Pardoners darstellt, folgende gleichermaßen theologisch wie literaturtheoretisch bedeutsame Aussage machen: The fifthe spece is thilke abhomynable synne, of which that no man unnethe oghte speke ne write; nathelees it is openly reherced in holy writ. / This cursednesse doon men and wommen in diverse entente and in diverse manere; but though that hooly writ speke of horrible synne, certes hooly writ may nat been defouled, namoore than the sonne that shyneth on the mixne. 41
40 Zur eigentümlich unzeitgemäßen Rolle Pecocks siehe Andrew James Johnston, Clerks and Courtiers: Chaucer, Late Middle English Literature and the State Formation Process, Heidelberg 2001, S. 359 – 374. Doch auch auf Seiten der Häresie traten erstaunliche Widersprüche zu Tage: In einem allgemeinen philosophischen Klima des Nominalismus bot Wyclif das ebenso paradoxe wie verlockende Schauspiel eines in vielerlei Hinsicht konservativen, weil dem Universalienrealismus verpflichteten Denkers, der dennoch eine radikal zeitgemäße antiklerikale, anti-intellektuelle und christozentrische Spiritualität propagierte (Malcolm Lambert, Medieval Heresy: Popular Movements from the Gregorian Reform to the Reformation, 2. Auflage, Oxford 1992, S. 235). 41 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment X, V. 909 f.
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Der Parson ist der andere große Prediger der Canterbury Tales (von der Wife of Bath einmal abgesehen).42 Als in jeder Hinsicht untadeliger Seelsorger gehört er zusammen mit dem Knight und dem Plowman nicht nur zu den drei traditionellen im Sinne des Drei-Stände-Modells gestalteten Idealporträts des General Prologue, sondern hält auch eine Predigt, die zwar in keiner Weise gegen die Orthodoxie verstößt, wohl aber ihrem ganzen Tenor nach die Ansprüche einer Spiritualität erfüllt, wie sie auch für die Lollarden kennzeichnend war. Dazu gehört – und das ist im Kontext der Pardoner’s Tale von zentraler Bedeutung – der gänzliche Verzicht auf eben jene ensamples 43, die für die Predigtkultur des Pardoners, wie er selbst sagt, so typisch sind. Und tatsächlich besteht die Predigt des Ablasshändlers ja aus einem klassischen Exemplum, das nicht nur die Folgen der Sünde grell vor Augen führt, sondern dies auch auf überaus unterhaltsame Weise tut. Zu den klassischen Kritikpunkten der Lollarden an der zeitgenössischen Predigtkultur, die jedoch auch schon früher von anderen reformorientierten Stimmen vertreten wurden, gehörte nämlich die angebliche Neigung vieler Prediger, ihr eigentliches religiös-moralisches Anliegen durch die Eitelkeit ihrer rhetorischen Brillanz, durch den theatralischen Charakter der Inszenierung und durch den Unterhaltungswert des Erzählten zu untergraben. Eine Predigt ohne jedes Exemplum bedeutet in ihrer narrativen Askese damit eine klare ideologische Stellungnahme, auch wenn sie nicht als im strengen Sinne lollardisch gewertet werden kann. Die soeben zitierte Textstelle aus der Parson’s Tale ist doppelt relevant, zum einen weil sie mit ihrem Bezug auf Röm 1,26 und 27 auf jene Atmosphäre potenzieller Homosexualität anzuspielen scheint, die den Pardoner umgibt, zum anderen aber weil sie die Darstellung des Sündhaften in der Bibel als Problem der Repräsentation thematisiert. Wenn die Heilige Schrift durch die in ihr dargestellten Sünden nicht verunreinigt wird, analog zur Sonne, die nicht befleckt wird, wenn sie auf einen Misthaufen scheint, ließe sich entsprechend argumentieren, dass auch das Wesen der göttlichen Botschaft nicht leiden kann, wenn 42 Die Aussage, dass der Parson ein großer Prediger sei, bedarf allerdings einer gewissen Einschränkung. Vom Genre her gehört sein Beitrag zu den Traktaten aus der Bußliteratur, stellt also rein gattungsspezifisch keine Predigt dar. Innerhalb der fiktiven mündlichen Erzählsituation der Canterbury Tales muss sein Text jedoch als Predigt gelten (Marjorie Curry Woods/Rita Copeland, „Classroom and Confession“, in: David Wallace [Hrsg.], The Cambridge History of Medieval English Literature, Cambridge 1999, S. 398 f.). 43 Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment VI, V. 435.
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sie durch einen mehr als unvollkommenen Kleriker verbreitet wird.44 Auch wenn die Analogie formal-logisch nicht ganz stimmt, so geht es doch in beiden Fällen um das gleiche Prinzip, um die Frage nach der Kontamination des Sakralen durch das Profane. Und indem der Parson dies am biblischen Beispiel der Abweichung von der sexuellen Norm thematisiert, will er, so scheint es, auf seinen Antipoden anspielen. Die diesem Argument zugrunde liegende Logik würde jedenfalls den Anspruch des Pardoners auf legitime Predigterfolge stützen. Das hieße, dass der reinste der Pilger hier dem verworfensten zu Hilfe käme. Ebenso wie Chaucers genaue Kenntnis der Trecento-Literatur Italiens immer einen Rest ihres Mysteriums bewahren wird, bleibt es uns unmöglich, seine genaue Position den Lollarden gegenüber zu fixieren. Zwar ist es längst klar, dass er nicht der proto-reformatorische Lollardenfreund war, zu dem ihn die literarische Biographik der englischen Renaissance mit ihren reichlich kontrafaktischen Ausschmückungen erhob45, und seine religiösen Positionen bleiben, so weit sie sichtbar werden, diesseits der Grenze zur Häresie. Dennoch wird deutlich, dass Chaucers Sympathien überwiegend dem reformism gelten. Ebenso wie William Langland ist er zwar um Orthodoxie bemüht, teilt aber zugleich viele der auf Innerlichkeit bedachten Positionen, die mit dem weiten Begriff des reformism verbunden werden. Angesichts der ungeheuren Sympathien, derer sich die Lollarden in weiten Kreisen der Gesellschaft erfreuten, bevor – und zum Teil auch noch nachdem – Erzbischof Arundel begann, seine Repressionsmaschinerie in Gang zu setzen46, wäre es vorschnell, von der politisch-religiösen Atmosphäre 44 Alastair Minnis erwähnt en passant, dass der englische Dominikaner John Bromyard in seiner im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts verfassten Summa praedicantium eine vergleichbare Position vertrat. Doch Minnis erklärt diesen Standpunkt für letztlich irrelevant, da Bromyard den Minnis zufolge wesentlichen Aspekt der Debatte bewusst ausklammere: „it may be suggested that it is only through the exclusion of the contrast between good verba and bad vita that he can argue as he does.“ (Minnis, „The Author’s Two Bodies?“ [Anm. 25], S. 274.) Es fragt sich, ob es an dieser Stelle nicht sinnvoller wäre, von einer Vielfalt potenziell gleichberechtigter zeitgenössischer Standpunkte auszugehen. 45 Siehe hierzu Thomas A. Prendergast, „Chaucer’s Doppelgänger: Thomas Usk and the Reformation of Chaucer“, in: Thomas A. Prendergast/Barbara Klein (Hrsg.), Rewriting Chaucer: Culture, Authority and the Idea of the Authentic Text 1400 – 1602, Columbus 1999, S. 258 – 269. 46 Die strenge Zensur und die allgemeine Verdachtsatmosphäre, die im Gefolge der Arundelschen Politik um sich griffen, bekamen nicht nur die Lollarden zu spüren. Ganz generell lässt sich sagen, dass es zu einem signifikanten Rückgang
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nach 1399 (der Zeit nach Arundels Rückkehr aus dem Exil im Gefolge der Lancaster-Revolution) auf Stimmungen und Haltungen vor der Absetzung Richards II. zu schließen. In seinem jüngsten Buch, das die zweifellos überzogene, aber nichtsdestoweniger originelle These von der Ermordung Chaucers auf Geheiß des Erzbischofs propagiert, übt sich Terry Jones mit seinen Koautoren sogar in einer Art prälapsarischen Romantik, um die angeblich ,liberalen‘ Verhältnisse vor dem Königssturz von jenen danach abzusetzen.47 Sowohl im Werk Chaucers als auch in demjenigen Langlands ist, wenngleich auf unterschiedliche Weise, eindeutig belegt, dass der reformism mit seiner Kritik an den kirchlichen Institutionen, seiner Betonung religiöser Innerlichkeit und der Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil jenseits der Sakramente und kirchlichen Rituale auch viele derer ansprach, die sich ganz bewusst im Rahmen der Orthodoxie hielten. Sie bewegten sich mehr oder weniger ungewollt in der Nähe lollardischer Positionen und Haltungen48, so wie auch Lollarden nicht immer und in jeder Hinsicht so weit von der Orthodoxie entfernt waren, wie dies angesichts ihrer eigenen Polemik eigentlich zu erwarten wäre.49 Dies wird auch in den Canterbury Tales selbst thematisch gemacht, als der Parson dem Host die blasphemische Sprache zu verbieten sucht und dieser ihn im Gegenzug als Lollarden verdächtigt: I smelle a Lollere in the wynd. 50
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in der Produktion volkssprachlicher Texte mit theologischen Inhalten kam (Nicholas Watson, „Censorship and Cultural Change in Late Medieval England: Vernacular Theology, the Oxford Translation Debate, and Arundel’s Constitutions of 1409“, in: Speculum, 70/1995, S. 822 – 864). Terry Jones [u.a.], Who Murdered Chaucer: A Medieval Mystery, London 2003, S. 47 – 95. Auch dies ist ein Grund, warum Langland seinen Text mehrfach überarbeitete: Manche Stellen wurden für lollardische Propaganda gehalten (David Lawton, „Lollardy and the ,Piers Plowman‘ Tradition“, in: Modern Language Review, 76/ 1981, S. 780 – 793, hier S. 792 f.). Anne Hudson bemerkt hierzu: „,Conservative Lollardy‘ is sometimes very close to ,radical orthodoxy‘“ (Anne Hudson, The Premature Reformation: Wycliffite Texts and Lollard History, Oxford 1988, S. 279). Chaucer, Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment II, V. 1173.
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V Vor diesem Hintergrund ist es vielversprechend, Minnis’ Lesart aus dem Jahre 1986 und damit den Anspruch des Pardoners, trotz seiner offenkundigen Sündhaftigkeit seelsorgerisch positiv zu wirken, ernst zu nehmen. Welche Auswirkungen hätte das auf die Deutung des Pardoners und seiner Geschichte? Zunächst würde Chaucer es demnach der Figur des Pardoners gestatten, eine anti-donatistische, also orthodoxe Position zu vertreten, die einerseits eine Sakramentalisierung der Predigt impliziert und andererseits gewisse Parallelen zur literarischen Argumentation eines Boccaccio aufweist. Diese Lesart erhält zusätzliches Gewicht, wenn man den Auftritt des Pardoners – und zwar speziell das Verhältnis des Prologs zur eigentlichen Versnovelle – aus einer performativ-strukturellen Perspektive betrachtet. In diesem Falle ließe sich sagen, dass der Ablassprediger auf der Ebene der Wirkung seines Textes praktisch umsetzt, was er in seinem Prolog theoretisch postuliert. Denn bei all seiner exzessiv ausgestellten Sündhaftigkeit verliert sein predigttypisches Exemplum nichts von seiner Eindringlichkeit. Das Verhältnis zwischen Prolog und Exemplum würde also genau die Problematik zum Ausdruck bringen, beziehungsweise inszenieren, die Gegenstand der literarischen wie der theologischen Debatte war. Der Prolog dient der (Selbst-)Darstellung der Sündhaftigkeit des Pardoners, seine Geschichte aber bestätigt seine Behauptung, dass er dennoch Gutes tue, zumindest, dass seine Geschichte ihre literarische Wirkung nicht verfehlt. Es ist dies eine literarische Wirkung, die zugleich einen bestimmten rhetorischen Erfolg impliziert. Dieser rhetorische Erfolg jedoch stellt zugleich die strikte aristotelische Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Formen der Behandlung religiöser Themen performativ in Frage, eben weil sich die rhetorische Wirkung potenziell unabhängig von der Intention des Redners und auch von seiner moralischen Verfassung entfaltet.51 Es sieht so aus, als ermögliche es erst die besondere Verworfenheit des Pardoners, dieses Verhältnis in Szene zu setzen. Gerade weil er seine Sünden so eindeutig zur Schau stellt, wird die Richtigkeit des orthodoxen Standpunktes performativ gestützt. Literaturtheoretisch gesehen 51 J. Allan Mitchell verweist in seiner Diskussion des Pardoners auf Phil 1,15 – 18, wo es heißt, dass es gleichgültig sei, aus welchen Motiven Christus verkündigt werde, solange er nur verkündigt werde ( J. Allan Mitchell, Ethics and Exemplary Narrative in Chaucer and Gower, Cambridge 2004 [Chaucer Studies 23], S. 113).
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wird die Unabhängigkeit des sprachlichen Kunstwerks von den speziellen ethischen Lebensumständen des Autors bestätigt; religiös wird die orthodoxe Position performativ untermauert, derzufolge auch die Predigt des Sündigen – ähnlich den von ihm gespendeten Sakramenten – nicht eo ipso ihre Gültigkeit verliert. Polemisch ließe sich formulieren, dass es Chaucer in der Figur des Pardoners gelingt, aus dem Geiste religiöser Orthodoxie heraus einen deutlichen performativen Schritt in Richtung Autonomieästhetik zu nehmen. Wie aber verhält sich diese performative und metaliterarische Sicht der Dinge zu der sozialpsychologisch-diskursgeschichtlichen Deutung aus dem Geiste des New Historicism, wie sie Lee Patterson so überzeugend vorgebracht hat? Denn hier bricht tatsächlich ein Widerspruch auf zwischen der Verzweiflung des Pardoners ob der eigenen Verworfenheit einerseits und der anti-donatistischen Lesart auf der anderen Seite, unter deren Bedingungen ja gerade die außerordentliche Sündhaftigkeit des Pardoners zur paradoxen Bestätigung der orthodoxen Position beiträgt und die obendrein zu einem literarischen Diskurs passt, der selbst noch den sündigen Autor legitimiert. Die Antwort liegt, wie mir scheint, in der schlimmsten Sünde, die den Pardoner kennzeichnet und die mit dem Judas-Diskurs zusammenhängt, auf den seine Erzählung mit der Figur des Alten Mannes, der den Tod sucht, jedoch nicht finden kann, anspielt. Denn die desperatio, die Patterson dem Pardoner zu Recht nachweist, ist ja selbst eine Sünde, insbesondere, wenn sie zu ihrem typischen Ausdruck, dem Selbstmord führt. Die desperatio ist aber nicht irgendeine Sünde, sondern eine, die zu den Risiken einer exzessiven Beichtpraxis gehörte, wie mittelalterliche Autoritäten immer wieder hervorhoben. Im Unterschied etwa zur Todsünde der Wollust handelt es sich bei ihr zumindest um eine potenziell ekklesiogene Sünde. (Zugegebenermaßen gab es sowohl Langland als auch den Lollarden zufolge durchaus ekklesiogene Formen der Wollust, insbesondere homoerotische Varianten.) 52 Nun ist jedoch der Beichtdiskurs neben dem Predigtdiskurs das zweite theologisch-spirituelle Standbein, auf dem der zweiteilige Beitrag 52 So klagt Langland die Mitglieder der Bettelorden an, Ehebrecher zu sein – He saluede so oure wommen til some were wi childe! (William Langland, Piers Plowman: A Parallel-Text Edition of the A, B, C, and Z Versions, hrsg. von A. V. C. Schmidt, London 1995, Bd. I, B Version, Passus XX, V. 348). Dagegen erklären die Lollarden den Zölibat zur Ursache der Sodomie: e lawe of continence annexyd to presthod […] inducith sodomie in al holy chirche („The Twelve Conclusions“ [Anm. 31], S. 259).
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des Pardoners zu den Tales strukturell ruht. Während nämlich die eigentliche von ihm erzählte Geschichte als Exemplum zum Genre der Predigt gehört, kommt der ihr vorgeschaltete Prolog, in dem der Pardoner das ganze Ausmaß der eigenen Verworfenheit offenbart, in seiner selbstentblößenden Form einer öffentlichen Beichte gleich.53 Auch hier hat also der Modus der rhetorischen Selbstdarstellung etwas mit dem spirituellen/theologischen Problem zu tun, das der Pardoner gleichermaßen thematisiert wie verkörpert: Im öffentlichen Bekenntnis des Pardoners offenbart sich seine Verzweiflung – eine Verzweiflung, die nach zeitgenössischer Ansicht durchaus mit dem Bußsakrament in Zusammenhang stehen kann. Die Beichte birgt die Gefahr der desperatio deshalb, weil eine allzu intensive Erforschung der eigenen Seele die Gläubigen dazu verleiten kann, die Hoffnung auf Erlösung zu verlieren, etwa – um ein besonders komplexes Beispiel zu nennen – weil sie an der Aufrichtigkeit und Angemessenheit der eigenen Zerknirschung zweifeln. Ein allzu ausgeprägtes Sündenbewusstsein, eine übertriebene Neigung zur Empfindung der eigenen Schuld kann den Gläubigen also den Weg zur Erlösung ebenso versperren wie ein Mangel an Zerknirschung und Schuldbewusstsein. Aus diesem Grunde warnte die Handbuchliteratur54, die sich dem Bußsakrament widmete, auch dringend davor, lässliche Sünden zu Todsünden zu stilisieren oder die Beichtenden zu übertrieben intensiver Selbstprüfung anzuhalten. Ähnlich argumentierte auch Thomas Bradwardine55, der einzige englische Theologe, den Chaucer meines Wissens namentlich nennt.56 Die Gefahr bestand hier
53 Wie Lee Patterson erläutert, greift Chaucer dreimal auf das Muster zurück, eine Erzählung durch einen Prolog mit Beichtcharakter einzuleiten und dies jeweils in einem besonders dramatischen Kontext zu tun: im Falle des Canon’s Yeoman, der Wife of Bath und eben des Pardoners (Chaucer and the Subject of History [Anm. 9], S. 368). 54 Die entsprechende Handbuchliteratur, die sich seit dem 4. Laterankonzil (1215) entwickelte, teilt sich in zwei große Gruppen: einerseits Werke, die die Arbeit der Seelsorger erleichtern sollten, und andererseits solche, die sich direkt an die Laien wandten, um diese auf die Beichte und die Buße intellektuell und emotional einzustimmen (Woods/Copeland, „Classroom and Confession“ [Anm. 42], S. 391). 55 Patterson, Chaucer and the Subject of History (Anm. 9), S. 377. 56 Chaucer, The Canterbury Tales (Anm. 2), Fragment VII, V. 3242.
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nicht in einem Zu-Wenig an Innerlichkeit, sondern eher in einem ZuViel.57 Auch aus dieser Perspektive wird die Spannung deutlich zwischen der spirituellen Grunddisposition des Pardoners einerseits, die dem auf Innerlichkeit bedachten Geist des reformism verpflichtet ist und die logisch im Donatismus gipfeln müsste, und seiner im Prinzip orthodoxen Position andererseits. Denn die orthodoxe Position vertritt er, wenn er auf der Wirksamkeit seiner Predigt ebenso beharrt, wie die Kirche die Wirksamkeit der Sakramente betonte, die von sündigen Priestern gespendet werden. Der Pardoner erweist sich als höchst widerspruchsvolle Konstruktion, die zwar der Spiritualität des reformism entspringt, der es aber zugleich letztlich um die Einschränkung der psychologischen Auswirkungen eben dieses reformism zu tun ist. Der Pardoner reflektiert also in seiner spezifischen Mischung aus reformistischer Geisteshaltung und explizit geäußerter orthodoxer Position die Grenzen einer auf Innerlichkeit fixierten Spiritualität. Indem er sich trotz seiner ungeheuren Sündhaftigkeit zum Instrument des göttlichen Heilsplans erklärt, relativiert er die Relevanz eben jener Innerlichkeit, in deren Kontext die psychologisch komplexe Offenbarung seiner Sündhaftigkeit überhaupt erst denkbar wird. Denn ohne diese Tendenz zur Innerlichkeit würde er wohl kaum seine exzessive – obschon streckenweise zynische – Beichte zum Besten geben; eine Beichte, die Ausdruck seiner Verzweiflung ist und der er doch zugleich dadurch ein Alternativmodell entgegensetzt, dass er auf der orthodoxen Position zum Predigtdiskurs beharrt. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich – insbesondere unter Einbeziehung des literarischen Diskurses, der die Unabhängigkeit des Textes von der moralischen Situation seines Autors postuliert – ein höchst komplexes Bild des Pardoners. Es ist die ethische Unbedingtheit einer die Innerlichkeit überbetonenden Spiritualität, die seine grell inszenierte Sündhaftigkeit allererst mit hervorbringt. Denn da, wo die von Innerlichkeit motivierte Selbstprüfung in desperatio umschlägt, wird die Innerlichkeit selbst zur Ursache von Sündhaftigkeit. In dieser Situation ist es die orthodoxe, sprich die anti-donatistische, Perspektive, die ein Gegengewicht bildet. Eine literaturtheoretisch moderne, weil wirkungsästhetische Sicht der Predigt, welche die Intentionen und den 57 Zu den psychologischen Risiken, die Religiosität und Glaubenseifer grundsätzlich bargen, siehe Alexander Murray, Suicide in the Middle Ages, Bd. I: The Violent Against Themselves, Oxford 1988, S. 331 – 347.
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moralischen Zustand ihres Autors hintanstellt, korreliert mit einer ihrer Struktur nach eher traditionellen, weil quasi sakramentalen Predigtauffassung, die im Geiste der apostolischen Sukzession den Vorrang der individuellen Persönlichkeit des Predigers verwirft. Ist der Pardoner aber selbst in seiner schlimmsten Verworfenheit noch in der Lage, am göttlichen Heilsplan mitzuwirken und die Seelen anderer zu retten, so besteht damit grundsätzlich die Möglichkeit, dass es für ihn einen Ausweg gibt. Zumindest könnte der Pardoner durch den Anspruch auf positives seelsorgerisches Wirken einen potenziellen Rest Hoffnung zum Ausdruck bringen – und dieser würde einen Weg aus dem Teufelskreis der Sünde der desperatio eröffnen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lohnt es sich, noch einmal auf die abschließende Auseinandersetzung zwischen Pardoner und Host zurückzukommen und die Rolle des letzteren zu problematisieren. Der Zorn des Pardoners beruht dann nämlich darauf, dass der Host das Paradox, das ihm präsentiert wurde, nicht verstanden hat. Wie so oft scheitert Harry Bailly mit seinen scherzhaft-derben Interpretationen an der Subtilität des Gesagten. Ironischerweise nimmt der Host in seinem Unverständnis die Verdammungsurteile der späteren Forschung vorweg. Die wütende Reaktion des Pardoners lässt hingegen vermuten, dass Chaucer seiner Figur tatsächlich ein Bewusstsein dieser sie prägenden Paradoxie zubilligt.
Siegbringende Marienbilder Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Klaus Schreiner Christen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit suchten Schutz und Hilfe bei Maria. Kranke hofften, von ihr geheilt zu werden. Grassierte die Pest, flüchteten Bürger und Bauern unter ihren schützenden Mantel. Maria sollte es regnen lassen, wenn das Getreide auf den Feldern zu verdorren drohte. Die himmlische Frau geriet unter Erwartungsdruck, wenn sie von ihren Verehrern und Verehrerinnen mit flehentlichen Bitten bedrängt wurde. Zur Marienfrömmigkeit der abendländischen Christenheit gehörte überdies der Glaube, dass sich Maria bildhafter Zeichen bedient, um in kriegerischen Konflikten ihrer frommen Anhängerschaft zum Sieg zu verhelfen. Marienverehrung bildete ein Strukturelement vormoderner Kriegführung. Herren über Land und Leute, die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Kriege führten, rechneten mit dem Beistand himmlischer Mächte. Sie vertrauten auf Gottes Hilfe, wenn es darauf ankam, politische Interessen und religiöse Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen. Zu entscheiden, wer siegte und besiegt wurde, lag allein in Gottes Macht. Christen, die sich an die Lehre ihrer Kirche hielten, waren der Überzeugung, dass Maria durch die Macht ihrer Fürsprache die Entscheidungen Gottes zu beeinflussen vermag. Die Kirche lehrte es so. Christen, die zum Schwert griffen, glaubten es. Rituale, Zeichen und Bilder sollten gewährleisten, dass Gott die Seinen, die für den wahren Glauben, für Recht und Gerechtigkeit kämpfen, nicht im Stich lässt. Von überirdischen Mächten Kriegshilfe zu erwarten, war keine Erfindung mittelalterlicher Christen und ihrer Kirche. Kriege waren in der antiken Welt ohne die Hilfe von Göttern und Heroen nicht denkund machbar.1 Israels Kriege, von denen die Schriften des Alten Bundes 1
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berichten, waren Kriege Jahwes. Jahwe, der in der Schlacht dem Heer vorauszog, gab Siegesgewissheit.2 Die Makkabäer, die jüdischen Kriegshelden, die für die Freiheit ihres Glaubens und die politische Selbständigkeit ihres Volkes gekämpft hatten, wurden in den christlichen Heiligenhimmel aufgenommen.3 Als Siegeslieder verfasste Psalmen erinnerten an das rettende Eingreifen Gottes in die Kriege des von ihm erwählten Volkes. Im Krieg erfuhren die Israeliten die Epiphanie Jahwes, ihres Gottes. Jahwe bewährte sich als siegbringender „Kriegsgott“ (Max Weber), wenn sich Israel an den Bund hielt, den es mit seinem Gott geschlossen hatte. Israels kämpfende Truppen benutzten die Bundeslade, die ,Lade Jahwes‘, als siegverheißendes Feldheiligtum. Kaiser und Könige des Mittelalters, die zu den Waffen griffen, vertrauten auf siegbringende Hilfen der von ihnen verehrten Heiligen. Heiligenreliquien verehrten sie als Unterpfänder des Sieges. Städte, die sich durch äußere Feinde bedroht fühlten, suchten den Beistand ihrer heiligen Stadtpatrone. Revoltierende Bauern schmückten ihre Fahnen mit religiösen Bildern und Symbolen, um der Unterstützung durch himmlische Mächte gewiss zu sein. Herrscher ließen Messen lesen, um in kriegerischen Konflikten auf Gottes Hilfe bauen zu können.4 Die
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eines Heiligen in der Schlacht“, in: Jahrbuch fr Antike und Christentum. Ergnzungsbnde, 8/1980, S. 55 – 77. Gerhard von Rad, Der hl. Krieg im Alten Israel, Göttingen 1951; Ralf Miggelbrink, Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualitt einer ungeliebten Tradition, Freiburg/Br. [u.a.] 2000, S. 64 – 66 („JHWH als Kriegsgott“) und S. 122 – 124 („Kriegstheologie des Richterbuchs“). Klaus Schreiner, „Die Makkabäer. Jüdische Märtyrer und Kriegshelden im liturgischen und historischen Gedächtnis der abendländischen Christenheit“, in: ders., Mrtyrer, Schlachtenhelfer, Friedenstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frhneuzeitlicher Heiligenverehrung, Opladen 2000 (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 18), S. 1 – 53. Die urkundlich belegten Beispiele für ein solches Verhalten sind Legion. Vgl. neben zahlreichen anderen Belegstellen Michael Sierck, Festtag und Politik. Studien zur Tageswahl karolingischer Herrscher, Weimar – Wien 1995, S. 236: „Am Ufer der Enns flehte das karolingische Heer durch dreitägige Litaneien vom 5. bis 7. September 791 und mittels Fasten, Almosengeben, Messen und Psalmengesang um einen Sieg über die Avaren“. Vgl. auch Michael McCormick, „The Liturgy of War in the Early Middle Ages: Crisis, Litanies, and the Carolingian Monarchy“, in: Viator, 15/1984, S. 1 – 23; Thomas Scharff, Die Kmpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002, S. 196: „Der karolingische Kämpfer ist der Gotteskrieger, der im Vertrauen auf höchsten Beistand mit einem Gebet auf den Lippen in die Schlacht zieht“; Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 164: Klöster des Reichs und Hausklöster des
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Schweizer Eidgenossen des späten Mittelalters knieten sich vor Beginn einer jeden Schlacht nieder, um im Angesicht ihrer Gegner mit ausgebreiteten Armen zu beten. Indem sie dies taten, folgten sie der gewonheit ir[er] altvordern 5, die sich seit alters durch diesen Gebetsgestus der Hilfe Gottes vergewisserten. Stillschweigend wurde dabei vorausgesetzt, dass die gerechte Sache mit der eigenen Sache identisch sei. Für den Beginn einer Schlacht wurden Festtage von Heiligen gewählt, auf deren helfende Macht ihre Verehrer vertrauten.6 Bilder von Heiligen schmückten die Fahnen der kriegführenden Parteien. Die Namen von Jesus und seiner Mutter Maria dienten als Schlachtrufe. Segensformeln, die über Schild und Schwert gesprochen wurden, sollten eine ,Heiligung der Waffen‘ (sanctificatio armorum) bewirken.7 Seit dem hohen Mittelalter wurde von Marienbildern erwartet, dass sie in kriegerischen Konflikten der Sache der Rechtgläubigen zum Sieg verhelfen. Welche Bildauffassung lag solchen Erwartungen zu Grunde, die Andachts- und Gnadenbilder in Medien der Schlachtenhilfe verwandelten?
Vom katechetischen Lehr- zum wundertätigen Gnadenbild: Marienbilder als siegbringende Zeichen in militärischen Konflikten des frühen und hohen Mittelalters Papst Gregor der Große definierte Bilder als Bücher für Analphabeten (scriptura laicorum). Aus deren Lektüre sollten Laien, die nicht lesen und schreiben konnten, Heilswissen erwerben, dessen sie bedürfen, um
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Adels mussten „für einen Kriegszug Tausende von Psalterrezitationen und Meßfeiern ableisten“; Klaus Schreiner, „Signa victricia. Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters“, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westflischen Wilhelms-Universitt Mnster, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 3), S. 259 – 300. Gerrit Himmelsbach, Die Renaissance des Krieges. Kriegsmonographien und das Bild des Krieges in der sptmittelalterlichen Chronistik am Beispiel der Burgunderkriege, Zürich 1999, S. 213. Vgl. dazu Sierck, Festtag und Politik (Anm. 4). Ein englischer Karmeliter namens Thomas Waldes (um 1377 – 1431) wandte sich in einem Traktat De sacramentalibus gegen Johannes Wyclif, der es als lächerlich empfand, Waffen zu ,heiligen‘. Vgl. Thomas Waldensis, Doctrinale antiquitatum fidei catholicae ecclesiae de sacramentalibus, Venetiis 1759, Sp. 1005: Arma quoque sanctificari Wicleffus deridet.
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ewiger Seligkeit teilhaftig zu werden.8 Bilderverehrung, wie sie in Byzanz gepflegt wurde, erschöpfte sich nicht in der belehrenden Wahrnehmung visualisierter Heilsgeschichte. Bilder, Marienbilder zumal, erfüllten als Medien und Gefäße himmlischer Gnaden lebenspraktische Zwecke – nicht zuletzt in kriegerisch bewegten Zeitläuften. Seit dem 7. Jahrhundert war die Bürgerschaft von Konstantinopel darauf bedacht, die Abwehrkraft ihrer Stadtmauern mit Hilfe von Marienbildern zu verstärken. Ungebrochenes Vertrauen in Marias schützende Macht verwandelte deren Bilder in Abwehrwaffen gegen Angreifer, die Konstantinopel unterwerfen wollten. Im Jahre 626, als Konstantinopel von Awaren angegriffen wurde, ließ, wie ein zeitgenössischer Prediger berichtet, der ehrwürdige Patriarch Sergius „auf alle Tore im Westen der Stadt, woher die Ausgeburt der Finsternis kam, als eine Sonne, die die Finsternis mit ihren Strahlen vertreibt, die heiligen Gestalten der Jungfrau mit dem Herrn auf dem Arm, den sie geboren hatte, in Bildern malen“. Mit gewaltiger Stimme habe er den Barbaren und ihren Dämonen entgegengerufen: „Gegen diese [hier gemalten heiligen Gestalten] führt ihr Krieg. Aber eine Frau, die Gottesgebärerin, wird mit einem Streich eurem Übermut ein Ende setzen […] Sie ist wahrhaft dessen Mutter, der den Pharao und seine ganze Armee im Roten Meer versenkte.“9 In späteren Quellen ist davon die Rede, dass der Patriarch die „heiligen Ikonen der Gottesmutter, mit Kind“ auf der Stadtmauer herumgetragen habe (Abb.1).10 Daraufhin hätten sich die Awaren zurückgezogen. Der Dichter Georg von Pisidien rühmte Maria als die „wahre Siegerin“, als „Heerführerin“ und „Feldherrin der tätigen
8 Zur Wirkungsgeschichte von Gregors Bilderlehre vgl. Gerhard Wolf, Salus populi Romani. Die Geschichte rçmischer Kultbilder, Weinheim 1990, S. 148 – 156; David Freedberg, „Invisibilia per visibilia. Meditation and the Uses of Theory“, in: ders., The Power of Images, Studies in the History and Theory of Response, Chicago – London 1998, S. 161–S. 189, hier S. 163; Norbert Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln whrend des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996, S. 20 mit weiterführender Literatur. 9 Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 551. 10 Ebd., S. 552. Vgl. auch Françoise Jeanlin, „Konstantinopel, die Stadt der Theotokos“, in: Hedwig Röckelein [u.a.] (Hrsg.), Maria, Abbild oder Vorbild? Zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung, Tübingen 1990, S. 48 – 57, hier S. 51.
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Nachtwache“, die durch ihre Standfestigkeit die Feinde zu Fall gebracht habe.11 Die byzantinischen Herrscher verehrten und erfuhren Maria als ihre übernatürliche Schutzfrau, die ihre kriegerischen Unternehmungen zum Sieg führte. Ihre Triumphzüge gestalteten sie als Prozessionen, in denen der Ikone der siegbringenden Maria (Nikopoia) große Verehrung erwiesen wurde. Zur Feier des 1133 errungenen Sieges, so berichtet ein byzantinischer Chronist, bestieg Kaiser Johannes II. Komnenos (1118 – 1143) nicht den Triumphwagen, „sondern ließ die Ikone der Gottesmutter daraufsetzen, die seine Freude war und für die er seine Seele verlassen hätte“. Ihr, „der unbesiegbaren Heerführerin an seiner Seite“, schrieb er seine Siege zu.12 Als sein Sohn, Kaiser Manuel (1143 – 1180), 1167 seinen Sieg über die Pannonen feierte, stand auf dem Triumphwagen die „Ikone der Gottesmutter, der unüberwindlichen Mitstreiterin, der unbezwinglichen Generalin an der Seite des Kaisers. Und die Achse knarrte nicht, denn sie trug nicht die ,furchtbare Göttin Athene‘, die falsche Jungfrau, sondern die wahre Jungfrau, die durch den Logos, jenseits der Logik, den Logos gebar“.13 Die Verwendung von marianischen Zeichen und Bildern in militärischen Konflikten begegnet in der abendländischen Kirche seit den Kreuzzügen und der spanischen Reconquista. Ein vexillum b[eatae]semper virginis Mariae trug Bischof Ademar von Puy im ersten Kreuzzug. Es handelte sich um die Fahne seiner heimischen Kathedralkirche, die der Jungfrau Maria geweiht war. Die mit prachtvollen Miniaturen illustrierten Cantigas de Santa Maria, eine unter dem Namen Königs Alfons X. von Kastilien (1221 – 1284) überlieferte Sammlung gereimter und vertonter Marienlegenden, zeigen nicht nur Ritter, die Maria nach ihrem Sieg über die Muslime Dank abstatten; sie bilden auch Ritter ab, die mit einer Marienfahne in die Schlacht ziehen.14 Unsere Liebe Frau von Rocamadour verschaffte 1212 den Heeren von Aragon, Kastilien und Navarra den Sieg über die Mauren in der Schlacht von Navas de Tolosa. Ferdinand III., seit 1217 König von Kastilien und seit 1230 11 12 13 14
Belting, Bild und Kult (Anm. 9), S. 553. Ebd., S. 571. Ebd. Vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 376 f. Spanische Ritter, die in der spanischen Reconquista mit Marienfahnen gegen Sarazenen in den Krieg ziehen, sind abgebildet in: Jonathan Rilley-Smith (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Kreuzzge, Frankfurt/M. – New York 1999, nach S. 48.
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König von Léon, hatte während der Belagerung von Córdoba in seinem Zelt ein Marienbild aufgestellt, vor dem er sich immer wieder zu Boden warf, um zu beten. Die Eroberung Córdobas gelang – dank der Hilfe Marias. Bei der Belagerung soll Maria den kastilischen König darüber belehrt haben, wie er die Kriegsmaschinen der Mauren zerstören könne. In einem Triumphzug ließ er das Bild Marias in die Stadt bringen. Aufgestellt wurde es in einem Tempel, der, von jedwedem abergläubischen Schmutz gereinigt, der Gottesmutter geweiht wurde.15 Marienbilder, die siegbringend gewirkt hatten, nahmen den Charakter wundertätiger Gnadenbilder (imagines miraculosae) an. Der Bedeutungs- und Funktionswandel von Marienbildern ist evident. Sie belehrten nicht nur, sie dienten auch lebenspraktischen und politischmilitärischen Zwecken. Bilder, von denen schutzgebende und siegbringende Wirkungen ausgehen, waren für Papst Gregor kein Gegenstand von theologischem Interesse. Sein Begriff von göttlichem Handeln ließ sich mit dem Glauben an mirakulöse Bilder nicht in Einklang bringen. Hoch- und spätmittelalterliche Theologen fühlten sich herausgefordert, den offenkundigen Wandel, der Bilder mit Wundern in Verbindung brachte, verständlich zu machen. Einen gemeinsamen Nenner fanden sie nicht. Thomas von Aquin lehnte es rundweg ab, Bildern göttliche Kraft (numen) zuzuschreiben.16 Caesarius von Heisterbach (um 1180 bis nach 1240) hingegegen wusste von einem Marienbild in einer Kapelle der Burg Veldenz (Diözese Trier) zu berichten, das, weil es mit ,erheblicher Wunderkraft‘ (multa virtus) ausgestattet war, auch Wunder wirke.17 Es sei eine Erfahrungstatsache, betont er in anderem Zusammenhang, dass Heilige ,in und durch ihre Bilder‘ (in suis et per suas imagines) Wunder vollbringen. Dies würden sie insbesondere an Orten tun, an denen sie verehrt werden. Möglich und wirklich sei eine solche von Bildern ausgeübte Wundertätigkeit deshalb, weil der göttliche Geist seinem Wesen und seiner Möglichkeit nach (per essentiam et per potentiam) in seiner ganzen Schöpfung gegenwärtig sei und zur Ehre seiner Heiligen Tag für Tag Wunderbares vollbringe.18 Es ist sicher kein Zufall, dass im 13. Jahrhundert die Legende aufkam, Papst Gregor der Große habe, als im Jahre 590 Rom von einer 15 Schreiner, Maria (Anm. 14), S. 376 f. 16 Wolf, Salus Populi Romani (Anm. 8), S. 153. 17 Caesarius Heisterbacensis, Dialogus miraculorum, ed. Josephus Strange, Coloniae [u.a.] 1851, Vol. 2, S. 62. 18 Ebd., S. 64.
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Pest heimgesucht wurde, das in der Kirche S. Maria Maggiore befindliche Marienbild in einer Prozession durch die Stadt getragen, um mit Hilfe des Bildes die von der Pest verseuchte Luft zu reinigen.19 Seinen helfenden Gnadencharakter verdankte das Bild der Tatsache, dass es, wie gemeinhin geglaubt wurde, der Evangelist Lukas gemalt hatte. Jacobus de Voragine hat die Pestlegende in seine um 1263/1267 abgefasste Legenda aurea, das im Spätmittelalter am weitesten verbreitete Buch, aufgenommen.20 Prokop von Templin (1608 – 1680), Wallfahrtsprediger in Maria-Hilf ob Passau, hat sie folgendermaßen kommentiert: Als Papst Gregor der Große Mariae Bildtnuß bei der Pest durch Rom trug, habe Gott die Andacht der römischen Christen mit einem so herrlichen Miracul vnd Wunderzeichen approbirt vnd bestaettiget […] / daß wo dasselbe Marien-Bild vorueber getragen worden / da hat die Pest alsbald auffgeheoret; So bald man das gemerckt / hat mans durch alle Gassen getragen / vnnd ist also der gantzen Stadt Heyl widerfahren. 21
Die Wirkung des Bildes war von ortsgebundener Reichweite. Nur in denjenigen Straßen und Gassen, durch die es getragen wurde, ging die Pest zurück und erlosch. In bildtheologischer Hinsicht diente die Pestlegende als autoritative Beispielerzählung für die Rechtfertigung eines marianischen Bilderkultes, von dem wundertätige Wirkungen erwartet wurden. Der Papst, der instructio, aedificatio und compunctio zu Grundbegriffen einer von der Kirche gebilligten Bilderlehre gemacht hatte, konnte nunmehr auch als Legitimationsfigur für die Verehrung wundertätiger Bilder in Anspruch genommen werden. Die hochmittelalterliche Pestlegende verband die „Fürsorge des römischen Bischofs und Papstes mit der Wundertätigkeit eines Bildes, in dem Maria, die Königin des Himmels, präsent ist und auf das dieser Titel übergehen konnte“.22 Stimmen, die es für möglich hielten, dass von Heiligenbildern wunderwirkende Kräfte ausgehen, regten sich auch im späten Mittelalter. Der in der Mitte des 15. Jahrhunderts von dem westfälischen Stiftskanoniker Heinrich von Kepelen († 1476) verfasste Traktat De imaginibus et earum adoratione et veneratione enthielt ein eigenes Kapitel 19 Vgl. Wolf, Salus populi Romani (Anm. 8), S. 131 – 160 („Die Gregorpestlegende“). 20 Ebd., S. 98. 21 Procopius, Mariale, Tomus I, Salzburgk 1667, Erster Teil, Mariale Festivale, S. 144. 22 Wolf, Salus populi Romani (Anm. 8), S. 157.
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über die Wundertätigkeit von Bildern. Es trug die Überschrift Quod per ymagines sepe divina signa et miracula facta sunt et fiant. 23 Um sich gedankenarmen und schwerfälligen Menschen gegenüber zu offenbaren, so führte er aus, „habe Gott durch die belebte und unbelebte Natur Wunder bewirkt, nicht zuletzt aber durch und an den Bildern“.24 Wer das Bild eines Heiligen, von Maria oder Christus besitze, brauche sich deshalb nicht wundern, wenn durch dieses Bild oder in diesem Bild Zeichen und Wunder geschehen. Weil es Gott selber sei, der durch Bilder Wunder vollbringe, konnte nach Ansicht von Kepelens jedes Bild zu einem wundertätigen Gnadenbild werden. Gnadenbilder, die sich durch eine nur ihnen zukommende wundertätige Kraft auszeichnen, schloss der Bildbegriff von Kepelens aus. Gott, so seine Überzeugung, knüpfe seine Wundertätigkeit an die vermittelnde Funktion von Medien, die er frei gewählt habe. Mit Hilfe solcher Gegenstände wolle sich Gott den Menschen mitteilen und ihnen helfen.25 Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob es nicht ostkirchliche Bildkonzeptionen und Ikonen waren, die im Gefolge der Kreuzzüge in die westliche Kirche importiert wurden und dort neue Formen und Funktionen des marianischen Bilderkultes hervorbrachten. Prägend für diese frömmigkeitsgeschichtlichen Neuerungen war die Überzeugung, dass Maria in ihren Bildern gegenwärtig sei. Bildkritische Theologen der westlichen Christenheit, die sich den Vorgaben Papst Gregors des Großen verpflichtet fühlten26, beharrten auf dem Symbolcharakter religiöser Bilder und lehnten es ab, aus Bildern wundertätige Gnadenträger zu machen oder von der Annahme auszugehen, dass der jeweils dargestellte Heilige in seinem Bild gegenwärtig sei. In die Bilderdebatte eingemischt haben sich auch Humanisten, die es für fehlgeleitete Bilderverehrung erachteten, wenn das unwissende Volk 23 Vgl. Schnitzler, Ikonoklasmus (Anm. 8), S. 73 f. und Anm. 161. 24 Ders., „Von der Fragwürdigkeit der Bilder – Bild und Frömmigkeit zur Zeit der Reformkonzilien“, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Das Bild als Autoritt. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004 (Pluralisierung & Autorität 4), S. 447 – 477, hier S. 456 f. 25 Herrn Norbert Schnitzler, der eine Edition des von Heinrich von Kepelen verfassten Bildertraktates beabsichtigt, gewährte mir in dankenswerter Weise Einblicke in das handschriftlich überlieferte Original. 26 Zur mittelalterlichen Wirkungsgeschichte des von Papst Gregor geprägten Bildbegriffs vgl. Freedberg, „Invisibilia“ (Anm. 8), S. 162 – 167; Wolf, Salus populi Romani (Anm. 8), S. 148 – 156 (Papst Gregors „Bilderlehre und ihr Fortleben“).
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(vulgus indoctum) zwischen Abbild und Urbild nicht mehr zu unterscheiden wisse und Bilder mit religiösen Themen für ,etwas Göttliches‘ (aliquid divinum) halte.27 Religiöse Nonkonformisten, welche die Kirche im Geist des Evangeliums reformieren wollten, waren derselben Auffassung. Zu glauben, dass Bildern ,etwas Göttliches‘ (aliquid numinis) innewohne, hielt Johannes Wyclif (um 1330 – 1384) für blanke Idolatrie. In Bildern sei keine Kraft (virtus), betonte Nikolaus von Dresden († nach 1417), ein Mann der Kirchenreform aus dem Umkreis des Johannes Hus.28 Niedergeschlagen hat sich der neue, aus Byzanz stammende Bildbegriff in der frommen Praxis marianischer Bilderverehrung. Rein phänomenologisch betrachtet finden sich, wie Wolfgang Brückner darlegt, „im Gnadenbild alle Kriterien der ostkirchlichen Ikone wieder: ein geheiligtes Sakramentale als irdische Kraftquelle des himmlischen Urbildes. Es wurde zum verehrenden Kuss gereicht, konnte mit Wertgegenständen überhäuft werden, bekleidet sein oder feierlich gekrönt, seit dem 17. Jahrhundert sogar durch päpstlichen Ritus“.29 Theologisch unzureichend ausgeleuchtet, so der Verfasser seine vergleichende Analyse weiterführend, sei jedoch der mittelalterliche Ursprung der als wundertätige Gnadenbilder verehrten Bilder – ein Tatbestand, der zu einseitigen, sachlich unangemessenen Wahrnehmungsformen und Betrachtungen geführt habe.30 Grundsätzlich festzuhalten sei auch dies: Dieselben Körpersprachen im Umgang mit Bildern rechtfertigen nicht die Annahme, dass auch die bildtheologischen Grundauffassungen, die sich in gestischen Frömmigkeitsformen ausdrücken, miteinander identisch seien. Dies bedenkend, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise der ostkirchliche Begriff der Ikone, für den die Ungeschiedenheit zwischen anwesendem Abbild und abwesendem Urbild prägend ist, langfristig auch die Bildertheologie und die Verehrungspraxis der abendländischen Kirche beeinflusst hat. Anhand von drei Marienbildern, die als Gnadenbilder verehrt wurden, möchte ich zeigen, mit welchen Hilfen Marias Verehrer in kriegerischen Konflikten rechnen konnten und welche implizite 27 Michael Baxandall, Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the discovery of pictorial composition 1350 – 1450, Oxford 1991, S. 60 f. und Anm. 21. 28 Schnitzler, „Fragwürdigkeit“ (Anm. 24), S. 452, Anm. 15. 29 Wolfgang Brückner, „Gnadenbild“, in: Lexikon fr Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Br. [u.a.] 1995, Sp. 790 f., hier Sp. 790. 30 Ebd.
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Theologie der Glaube an die Wundertätigkeit von Marienbildern beinhaltete. Aus der Synthese von theologischer Theorie und frommer Praxis sollte es möglich sein, über die für Gnadenbilder typische Medialität weiterführende Einsichten zu gewinnen. Der Leitbegriff dieser Tagung wirft weitere Fragen auf. Welche Botschaften und welche Hilfen hatte die im Himmel thronende Maria Herrschern und Heerführern mitzuteilen, wenn sie von diesen als siegbringende Gottesmutter (Maria victrix) angerufen wurde? Auf welche Erfahrungen stützte sich deren Glaube, dass Maria durch ihre Gnadenbilder in kriegerische Konflikte eingreift und ihren Verehrern zu Hilfe kommt? Inwieweit brachte überliefertes Wissen, das an die helfende Kraft von Marienbildern erinnerte, epochenübergreifende Überlieferungs- und Kommunikationszusammenhänge von langer Dauer hervor? Als Beispiele wähle ich das Marienbild, das dem ungarischen König Ludwig dem Großen (1326 – 1382) 1375 zum Sieg über die Türken verhalf, das verletzte Marienbild von Strakonitz, dem die katholische Liga ihren 1620 errungenen Sieg über den pfälzischen Winterkönig und die böhmischen Stände auf dem Weißen Berg verdankte, und das Bild der weinenden Madonna von Maria Pötsch (Máriapócs) in Ungarn. Kaiser Leopold hat es 1697 in den Wiener Stephansdom übertragen lassen. Dem Prinzen Eugen vermittelte es solche wunderwirkenden Gnaden, dass es ihm gelang, in der Schlacht bei Zenta (1697) die Türken zu besiegen. Alle drei Bilder, die sich in militärischen Auseinandersetzungen als Medien erfolgreicher Abwehr und siegreichen Kampfes bewährt hatten, wurden von Zeitgenossen als siegbringende Gnadenbilder wahrgenommen und als solche verehrt.
König Ludwigs Traum: Marias Bild als Unterpfand seines über die Türken errungenen Sieges (1375) Ludwig der Große (1326 – 1382), seit 1342 König von Ungarn, verehrte die Gottesmutter als seine ,besondere Schutzfrau‘ (specialis Patrona). Deren Huld und Hilfe suchte er immer wieder durch inständige Gebete und fromme Stiftungen zu gewinnen. Innige Marienfrömmigkeit bestärkte ihn in dem Glauben, durch Marias Beistand 1375 seinen Sieg über die Türken errungen zu haben. Kenner der ungarischen Geschichte, welche die Belege für dieses Ereignis quellenkritisch prüften, hegen Zweifel, ob diese Schlacht jemals stattfand. Sie halten sie für ein
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legendäres Konstrukt, das dazu diente, den ungarischen König als ruhmreichen Verteidiger der abendländischen Christenheit erscheinen zu lassen.31 Ihre These stützen sie durch den Nachweis hagiographischer Motive, welche die Erzählstruktur des chronikalischen Berichts maßgeblich bestimmen und der Schlacht das Gepräge eines militärischen Konfliktes geben, dessen siegreicher Ausgang auf einen Eingriff Marias zurückzuführen sei. Die Gottesmutter, so der überlieferte Bericht, habe in der Nacht vor der Schlacht dem schlafenden König ein Bild von ihr auf die Brust gelegt, um ihn für den Kampf gegen die Türken zu ermutigen. Was ungarische Historiker an der historischen Tatsächlichkeit der Schlacht und dem von König Ludwig errungenen Sieg zweifeln lässt, ist „die Vision beziehungsweise der Traum in der Nacht vor der Schlacht, die Gestalt des Heiligen – in unserem Fall die Madonna von Mariazell – und das wundertätige Bild, das im Kampf als Palladium vor dem Feind schützt“.32 Die Aussagen der Quellen, so ihre These, seien nicht verlässlich genug, um mit Sicherheit sagen zu können, wie es eigentlich gewesen ist. Eine historische Quelle bleibt der Bericht über die Schlacht von 1375 aber auch dann, wenn sich angesichts des Mangels an urkundlich verbürgten Überlieferungen nicht ausschließen lässt, dass die Schilderung der Schlacht auf politischen Interessen und religiösen Fiktionen beruht. Zum einen gibt er Auskunft über das Geschichtsbild späterer Generationen; zum anderen beleuchtet er den Glauben an eine streitbare Maria, die ihren Verehrern hilft, wenn deren Machtpotenzial erheblich geringer ist als das ihrer Gegner und deshalb mit einem Sieg nicht gerechnet werden kann. Der älteste Beleg für Ludwigs Sieg über die Türken und Marias vermeintlich wundertätiges Eingreifen findet sich in einer Chronik, die 31 Terézia Kerny/Szabolcs Serfözö, „Die Schlacht Ludwigs des Großen gegen die ,Türken‘. Ursprung einer Legendenkonstruktion“, in: Péter Farbaky/Szabolcs Serfözö (Hrsg.), Ungarn in Mariazell – Mariazell in Ungarn, Budapest 2004, S. 47 – 60. 32 Ebd., S. 53. – Einschränkend ist jedoch zu bemerken: Hagiographische Motive begegnen auch in dem Bericht über die Schlacht auf dem Weißen Berg bei Prag (1620) – über eine Schlacht also, die tatsächlich stattgefunden hat. Auch im Falle der Schlacht auf dem Weißen Berg ging es darum, den Sieg der katholischen Verbündeten, mit dem angesichts großer strategischer Vorteile ihrer Gegner nicht zu rechnen war, durch wundertätige Eingriffe Marias verständlich zu machen. Auch in der Schlacht auf dem Weißen Berg wurde ein Bild Marias, das als Palladium vor dem Feind schützt, den kämpfenden Truppen vorangetragen.
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Johannes Mannesdorfer, Benediktiner in St. Lambrecht, 1487 zu Papier brachte. In dieser Chronik des in der Steiermark gelegenen Wallfahrtsortes Mariazell heißt es: Nachdem das sehr wilde Volk der Türken aus Asien [Pannonien] zu verwüsten, zu bekämpfen und in ihrer Religion zu unterwerfen trachtete, trat ihnen der unbesiegbare König der Ungarn, Ludwig, mit zwanzigtausend Reitern und Fußtruppen entgegen, als er aber die große Menge der Feinde erblickte, denn diese bestand aus achtzigtausend Mann, erschrak er und beschloss, das Heil in der Flucht zu suchen. Als er vom Schlafe übermannt wurde, kam es ihm in den Sinn, dass er zuvor von vielen gehört hatte, dass die selige Jungfrau Maria mit sehr vielen Wundern in Zell [Mariazell] sich hervorgetan habe. Und diese allerruhmreichste Jungfrau Maria erschien ihm und bestärkte ihn mit einem Bild von ihr, das sie ihm auf die Brust legte, und ermutigte ihn, den Feinden entgegenzutreten und die Schlacht zu führen. Als er vom Schlaf erwacht war und das Bild auf seiner Brust vorfand, legte er die ganze Sache seinen Mitstreitern dar, die erfreut und bestärkt mit dem König gegen die Feinde zogen. Bald nach dem sehr glücklichen Sieg ging König Ludwig als Sieger mit seinem Heer wie versprochen nach Zell. Da er aber die vom Markgrafen errichtete Kapelle als zu klein empfand, ließ er diese zerstören und die Kirche, welche wir heute sehen können, mit seinen Mitteln errichten.33
Über hundert Jahre trennen den historischen Bericht von dem historischen Ereignis. Johannes Mannesdorfer war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der erste, der den Schlachtensieg Ludwigs mit der Schlachtenhilfe Marias in Verbindung brachte. Um 1430 hatte Abt Heinrich II. Moyker von St. Lambrecht (1419 – 1455) ein heute nicht mehr erhaltenes Mirakelbuch abgefasst, das, so darf zu Recht angenommen werden, von Mannesdorfer als Quelle seiner Schilderung von Ludwigs Sieg und Marias Hilfe benutzt wurde. Die Annahme einer bereits in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts einsetzenden literarischen Überlieferung erklärt auch die Tatsache, dass damals die ersten Bildwerke von Ludwigs Türkenschlacht entstanden.34 Diese wollten auf ihre Weise veranschaulichen, dass zwischen Ludwigs Sieg und Marias Hilfe ein ursächlicher Zusammenhang bestand. Die um 1430 angefertigte Votivtafel von St. Lambrecht bildet nicht nur das Schlachtgeschehen ab, sondern stellt auch Maria dar, unter deren Mantel Vertreter der weltlichen und geistlichen Stände Schutz suchen (Abb. 2). 33 Zitiert nach György Rósza, „Über die barocke Erweiterung der Ikonographie der Ludwigslegende. Der Traum des Königs“, in: Farbaky/Serfözö (Hrsg.), Ungarn in Mariazell (Anm. 31), S. 319 – 322, hier S. 319. 34 Kerny/Serfözö, „Die Schlacht Ludwigs“ (Anm. 31), S. 54.
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Ein um 1438 angefertigtes Tympanonrelief am Hauptportal der Mariazeller Basilika zeigt in seiner rechten Bildhälfte eine thronende Maria, die eine auffallend hohe Kaiserkrone trägt und ihren schützenden Mantel über geistliche und weltliche Standespersonen ausbreitet. Rechts neben ihr kniet König Ludwig. Als Votivgabe überreicht er der Gottesmutter ein Marienbild, das mit dem heute als Schatzkammerbild bezeichneten Gnadenbild von Mariazell identifiziert wird. In der rechten Bildhälfte wird Ludwigs Kampf gegen die Türken dargestellt. Der Text der Inschrift bezeichnet Maria als ,Mutter der Barmherzigkeit‘, die König Ludwig zu seinem Sieg über die Türken verhalf; er hat folgenden Wortlaut: Ludwicus rex Hungarie per matrem misericordie victoriam Turcorum gloriose obtinuit (Durch die Mutter der Barmherzigkeit erlangte König Ludwig von Ungarn glorreich den Sieg über die Türken) (Abb. 3).35 Noch erheblich ausgeprägter sind die marianischen Bezüge im Kleinen Mariazeller Wunderaltar von 1512 (Abb. 4). In der vordersten Reihe der ungarischen Reiterei kämpft König Ludwig. Einem Schutzschild gleich trägt er auf seiner Brust ein Bild Mariens, das dem Gnadenbild von Mariazell nachgebildet ist. Auf der Fahne, mit der die ungarische Reiterei in die Schlacht zieht, ist Maria als apokalyptische Frau dargestellt. Vom Himmel aus blickt sie auf das blutige Gefecht, um die kämpfenden Reiter in der Überzeugung zu bestärken, dass sie von ihr beschützt werden. Auf dem Großen Mariazeller Wunderaltar von 1519 sind zwei Mariensymbole abgebildet, die an Marias Schutz und Hilfe in der Schlacht gegen die Türken erinnern: eine Marienfahne und das Mariazeller Gnadenbild, das ein vom Himmel herabschwebender Engel schützend über die ungarischen Reiter hält (Abb. 5). Der Traum König Ludwigs ist in diesen Darstellungen kein Thema. Das ändert sich in Bildern des 17. und 18. Jahrhunderts. Deren Malern und Auftraggebern lag daran, die übernatürlichen Faktoren des von Ludwig errungenen Sieges über die Türken noch deutlicher herauszustellen. Auf barocken Kupferstichen, Thesenblättern, Tafel- und Andachtsbildern bilden die Traumszene und die mit dieser verknüpfte Übergabe des Marienbildes durch einen Engel oder Maria selber sowie der von König Ludwig dank Marias Hilfe errungene Sieg über die Türken einen eng miteinander verflochtenen Handlungszusammenhang. Zwischen 1622 und 1626 malte Markus Weiß für die Empore der Basilika von Mariazell drei Tafelbilder, die sowohl den Traum Ludwigs 35 Ebd.
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des Großen (Abb. 6) als auch seine siegreiche Schlacht gegen die Türken und seine Wallfahrt nach Mariazell darstellen. Im Bild von Ludwigs Traum wird „zum ersten Mal ein Moment in ein Bild umgesetzt, das im Text der Legende enthalten war: Die Muttergottes erscheint dem König im Traum und legt ihm das spätere Gnadenbild auf die Brust, gleichsam zum Zeichen ihres Besuches und als Unterpfand des Sieges“.36 Das Bild trägt folgende Inschrift: Ludouicus der erste kçnig in Ungarn sich von seinen feinden Weit ber/mant zusein sehend, Weichet zuruckh, rueffet an Maria Zu Cell sein eintzige hoffnung / und entschlafft darber. Da erscheinet ihm Maria, Trçstet und behertzet ihm [sic!], un/verzagt seinen feinden zubegegnen: Legt ihm auch zum zeichen der gewissen / victori sein liebes Maria bild in schlaff auf die brust.
Das König Ludwig von Maria ausgehändigte Bild identifiziert der Maler mit dem Gnadenbild von Mariazell, dem sogenannten Schatzkammerbild. Die Inschrift auf dem zweiten Bild, das die Schlacht Kçnig Ludwigs des Großen darstellt, rühmt den beistand der starckhen heldin Maria zu Zell. Die Wallfahrt Kçnig Ludwigs des Großen nach Mariazell kommentiert der Maler folgendermaßen: Nach erhaltener Victori kumbt sambt seinen[sic!] gantzen kriegsheer der kçnig Ludouic nach / Maria Zell, stellet sich mit vill hochschtzbahren opfer danckhbahr ein, unter Welichen / dass vornembste war sein Liebes Maria bild so er auf der brust gefunden. Erbauet / auch ein ansehlich und herliche kirchen – 1363.
Das verletzte Marienbild von Strakonitz, das in der Schlacht auf dem Weißen Berg bei Prag der katholischen Liga zum Sieg verhalf (1620) Herzog Maximilian von Bayern glaubte, dass der Sieg über den pfälzischen Winterkönig Friedrich und die böhmischen Stände auf dem Weißen Berg bei Prag (1620), an dem er und seine Truppen maßgeblich beteiligt waren, dank Marias Hilfe errungen worden sei. Prediger und Theologen erinnerten in ihren Beschreibungen und Deutungen der Schlacht immer wieder an heilige Zeichen, die den Sieg verursacht hätten. Siegbringend gewirkt hatten ihrer Ansicht nach nicht nur ein Kruzifix, eine Marienfahne und das mit einem Bild Marias 36 Rósza, „Über die barocke Erweiterung“ (Anm. 33), S. 320. Ebd. S. 323 die folgenden Zitate.
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geschmückte Skapulier, mit dem der Kurfürst, seine Offiziere und Mannschaften in die Schlacht gezogen waren. Zum Sieg beigetragen habe auch ein spätgotisches Marienbild, das Maria, Joseph und das Jesuskind im Stall von Bethlehem zeigt (Abb. 7).37 Der Karmelitenpater Dominicus a Jesu Maria, der als Beichtvater und militärischer Berater den bayerischen Herzog auf seinem Kriegszug gegen die Böhmen begleitete, hatte es in der südböhmischen Deutsch-Ordenskommende Strakonitz gefunden. Als Gnadenbild, das Ketzer verletzt und entehrt hatten, machte es Geschichte. Hussiten oder Soldaten der protestantischen Union hatten, wie der Finder des Bildes argwöhnte, Maria und Joseph sowie den beiden Hirten die Augen ausgestochen. Als Geblendete stehen die Eltern Jesu und die beiden Hirten stellvertretend für katholische Christen, die von Bildern Erbauung, Gnaden und Hilfen erwarten. Deren abergläubische Blicke sollten getroffen werden. Blindheit, mögen die ketzerischen Ikonoklasten gedacht haben, schütze gegen die von Katholiken praktizierte abergläubische Verehrung von Bildern. Raphael a S. Joseph (1632 – 1685), ein Münchener Karmelit, berichtet ausführlich von der Auffindung des Bildes. Seine breit angelegte Bildgeschichte sollte zeigen, was Reich und Kirche dem Wunder- und Gnadenbild der Mutter Gottes Mariae de Victoria verdanken. In der Mitte des 18. Jahrhunderts behauptete ein kirchen- und kaisertreuer Chronist, das Bild habe in der Schlacht wider die Ketzer auf dem weißen Berg bey Prag große Wunder gethan. Als Gnadenbild (imago miraculosa), das wirksam geholfen hatte, legitimierte es die altkirchliche Marienverehrung; es erinnerte überdies an einen epochalen Sieg der Katholiken, der das Kaisertum der Habsburger gefestigt und den Fortbestand der katholischen Kirche Böhmens gesichert hatte. Ausgelöst wurde der militärische Konflikt durch die böhmischen Stände, die am 27. August 1619 Friedrich V. von der Pfalz zum König von Böhmen gewählt hatten. Ferdinand II., ihren rechtmäßigen Herrscher, erklärten sie für abgesetzt. Die Wahl des pfälzischen Winterkönigs stellte das Kaisertum der Habsburger in Frage und setzte deren Anspruch auf das Königtum in Böhmen außer Kraft. Mit einer Entmachtung des Hauses Habsburg hätte auch die katholische Kirche 37 Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus Schreiner, „Maria Victrix. Siegbringende Hilfen marianischer Zeichen in der Schlacht auf dem Weißen Berg (1620)“, in: Johannes Altenberend (Hrsg.), Kloster – Stadt – Region. Festschrift fr Heinrich Rthing, Bielefeld 2002, S. 87 – 144, hier S. 115 – 119.
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Böhmens ihren politischen Rückhalt verloren. In einem Land, das von einem Calvinisten regiert wurde und seine politische Stabilität dem Schutz protestantischer Garantiemächte verdankte, hätte die katholische Kirche Böhmens keine Chance mehr gehabt, sich als geistliche Anstalt und weltliche Macht zu behaupten. In der kirchlichen Öffentlichkeit von damals, desgleichen in Kreisen des kaiserlichen Hofes und unter Anhängern der katholischen Liga setzte sich die Auffassung durch, dass der Sieg auf dem Weißen Berg ein „Sieg des katholischen Glaubens über Ketzer und Rebellen gegen die von Gott gesetzte Ordnung“ gewesen sei.38 Der 1622 von dem Augsburger Kupferstecher Christoph Greutter verfertigte Einblattdruck (Abb. 7) machte die siegbringenden Wirkungen des geschändeten Marienbildes publik.39 Die linke Bildhälfte zeigt die Geburtsszene von Bethlehem. Maria und Joseph werden mit ausgestochenen Augen dargestellt. Auf der rechten Bildhälfte befindet sich ein Halbportrait des Karmeliten Dominicus a Jesu Maria mit einem Kruzifix und dem Marienbild in seinen beiden Händen. Darunter befindet sich eine Ansicht der Prager Schlacht. Portrait und Schlachtbild entnahm Greutter einem Stich von Rolf Sadeler. Das Blatt mit dem in Strakonitz gefundenen Bild versah er mit folgender Unterschrift: Contrafeth oder Bildnuß / Der Seligsten Jungfrawen Mariae / welches gefunden worden / mit außgestochnen Augen / auß schmach von den Gottlosen / in der Statt Stragnitz in Bçhem / Vnd von dem Ehrwrdigen Vater Dominico von IESV MARIA, Carmeliten Barfusser / Obristen Probsten vom Berg Carmelin / in der Schlacht wider Jhr Kays[erlicher] May[est]t Feind bey Prag / im Jahr 1620 den Soldaten vorgetragen worden. Vnnd ist dises Bild / von wegen der schnell erlangten Victori genandt worden: Vnser liebe Fraw zu dem Sig / Oder: Vnser Liebe fraw deß Siegs.
Danach sei das Bild, von Kaiser Ferdinand II. sowie von Herzog Maximilian von Bayern und anderen Fürsten mit kostlichen Schanckungen reichlich begabt, nach Rom gebracht worden. Dort sei es mit hçchster Solemnitet der gantzen Clerisey vnnd Cardinlen der Kirchen S. Pauli, der 38 Franz Matsche, „Gegenreformatorische Architekturpolitik. Casa-Santa-Kopien und Habsburger Loreto-Kult nach 1620“, in: Jahrbuch fr Volkskunde, N.F. 1/ 1978, S. 81 – 118, hier S. 90. 39 Wolfgang Harms [u.a.] (Hrsg.), Illustrierte Flugbltter des Barock. Eine Auswahl, Tübingen 1983, S. 20 f.; Michael Schilling, Bildpublizistik der frhen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 29), S. 268 und S. 320, Anm. 39.
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Carmeliten Barfussen übergeben und von dem damaligen Papst Gregor XV. mit einer guldinen Cron gesetzt / vnd gecrçnet worden. 40 Folgt man den Angaben Pater Raphaels, hat Pater Dominicus das Bild dem bayerischen Herzog und anderen Befehlshabern der bayerischen und kaiserlichen Armee gezeigt und sie eindringlich ermahnt, die Gott und seiner Mutter zugefügte ,Unbill‘ zu rächen. Den Kriegsrat haltenden Kriegsobristen schärfte er ein: Der Feind mag seine ,Brustwehren‘ haben und in seinem Rücken drei mächtige Städte. Über sich habe er jedoch den Zorn Gottes und den seiner Heiligen. Die beiden katholischen Armeen hingegen hätten über sich den ,Schutz-Mantel Gottes und MARIAE zu ihren Brustwehren‘. Als Schutz zu ihren Seiten und in ihrem Rücken hätten sie den Turm und die Festung des Namens des Herrn. Als bald nach Beginn der Schlacht die katholische Armee zur Flucht wanckelte, habe nit gewanckelt des Paters Glaub und Hofnung. Er habe sein Pferd bestiegen, sei dem Feind entgegengeritten und habe diesem mit seinem heiligen Crucifix / und der H[eiligen] Bildnuß MARIAE Furcht und Schrecken eingejagt. Der Kupferstecher, der das 1714 erschienene Heilige Bayer-Land illustrierte, hat den Vorgang folgendermaßen dargestellt (Abb. 8): Pater Dominicus und Herzog Maximilian reiten dem bayerischen Heer voraus. Pater Dominicus hält ein Kreuz in seiner rechten Hand; auf seiner Brust trägt er das in Strakonitz gefundene Marienbild. Über den beiden Reitern schwebt ein Engel, der ein Schwert und eine Siegespalme in seinen Händen hält. Die gereimte Bildunterschrift charakterisiert Dominicus a Jesu Maria als himmlischen Mann, der das Bild Christi und das Bild Marias dem Heer vorausträgt. Die Verse, mit denen der Illustrator den bildhaft dargestellten Vorgang kommentierte, lauten: Was macht ihr Soldaten mit eurem Geschrey? Mit Hauen, mit Stechen und Schiessen darbey? All euren Gewalt, all euer Getçß, Alls was ihr anzçttlet und trohet uns Bçß: Macht z’schanden ein einiger Himmlischer Mann, Der Christi und Mariae tragt d’Bildnus voran. Wo dise Zwey wider Euch streitten und kriegen Wird Euch all euer Underfangen betrgen.
40 Das Blatt befindet sich unter der Signatur Einbl. VI, 66, in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München.
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Des Paters Botschaft, der das Kreuz als seine Waffe, das Marienbild als seinen Panzer trug, lautete demnach: Wo Christus und Maria gegen die Feinde der Kirche kämpfen, werden deren feindselige Unternehmungen keinen Erfolg haben. Franz Leopold Schmitner, ein Wiener Kupferstecher aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, war sichtlich bemüht, auf seiner Darstellung der Schlacht auf dem Weißen Berg die geistliche Intervention des Karmelitenpaters Dominicus a Jesu Maria als siegentscheidende Ursache herauszustellen (Abb. 9). Bildbeherrschend ist das Halbportrait von Pater Dominicus a Jesu Maria mit Kreuz und Marienbild. Die darunter abgebildete Schlacht auf dem Weißen Berg zeigt, wie Pater Dominicus, mit Kreuz und Marienbild ,bewaffnet‘, dem Heer der katholischen Liga vorausreitet. Auf diesen Vorgang nimmt die Bildunterschrift Apparuit praecedens eos in veste candida (Er erschien, in einem weißen Gewand vor ihnen herziehend) Bezug. Dieser Text stammt aus dem 2. Makkabäerbuch (2. Makk 11,8). Die alttestamentliche Stelle lautet: „Sie [die Israeliten] waren noch in der Nähe von Jerusalem, da erschien ihnen ein Reiter und zog in einem weißen Gewand und einer blinkenden goldenen Waffenrüstung vor ihnen her.“ Mit dem Reiter im weißen Gewand ist der „gute Engel“ gemeint, den Gott auf Bitten der Israeliten geschickt hatte, um diesen in ihrem Kampf gegen die Fußtruppen und die Reiterei des Reichsverwesers Lysias, des Vormundes von König Antiochus Eupator, zu helfen. Abgespielt hat sich dieser kriegerische Konflikt im Jahre 162 vor Christus. Als Zeichen des Sieges und Triumphes schwebt über dem Haupt des Dominicus a Jesu Maria ein Kranz. Auf der linken Seite des Bildes ist das Ordenswappen der Karmeliten dargestellt. Über diesem befinden sich Sinnzeichen des von Pater Dominicus ausgeübten priesterlichen Amtes. Unter dem Wappen ist ein mit einem Marienbild geschmücktes Skapulier abgebildet. Das Reichswappen und die Siegestrophäen erinnern an des Paters Verdienste um den Bestand der Kirche, des Reiches und des Hauses Habsburg. Pater Raphael, der Biograph von Pater Dominicus, erinnerte überdies an einen wunderbaren Vorgang, den er seinen Lesern nicht vorenthalten wollte. Es seien, berichtet er, als der unerschrockene Pater Dominicus den feindlichen Truppen entgegenritt, feurige Kugeln und Strahlen gesehen worden, die sowohl auß dem heiligen Crucifix und MARIAE Bildnuß als auch von anderen himmlischen Kriegs-Heer und Schaaren ausgingen. Durch dieses Liecht und Kraft / oder was es immer
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gewesen ist seien die Feinde so sehr geblendet worden, dass die feindlichen Rosse und Reiter nachgerade ertattert / und gezittert haben. 41 Der Benediktiner Johannes Caramuel, Abt von Kloster Montserrat in Wien und dem Emmauskloster in Prag, der Geschichtsschreibung und Legendenbildung voneinander zu trennen suchte, meinte dazu: ,Es sind ihrer welche, die Dominicus mit Kruzifix und Muttergottesbild auf die Häretiker und Rebellen eindringen und Blitzstrahlen gegen die Feinde schleudern sahen. Man lasse den Frommen ihren Glauben.‘42 Er selber war von der Tatsächlichkeit dieser feurigen Kugeln und Strahlen, die die feindlichen Truppen blendeten und kopflos machten, nicht überzeugt. Nur als fromme Meinung wollte er gelten lassen, was wie ein Wunder aussah, als historische Tatsache jedoch jedweder Glaubwürdigkeit entbehrte. Caramuel war sichtlich bemüht, den militärischen Initiativen des Paters Dominicus ihre mirakulöse Aura zu nehmen. Allem Wunderbaren, Un- und Außergewöhnlichen abhold, berichtet er nichts über des Paters Aktivitäten auf dem Schlachtfeld. Er erwähnt auch nicht, dass Pater Dominicus mit Kreuz und Marienbild den Truppen voraus- und dem Feind entgegengeritten sei. Skepsis gegen die Tatsächlichkeit der Heldentaten, die Pater Dominicus zugeschrieben wurden, hinderte ihn aber nicht, an Marias Schutz und Schlachtenhilfe zu glauben. Maria, die himmlische Königin der Engel, und ihr Bild auf der Brust des Karmelitenpaters, das sich als ,Stellvertreterin ihrer jungfräulichen Majestät‘ erwies, hätten, so seine Überzeugung, zum Sieg der katholischen Liga auf dem Weißen Berg erheblich beigetragen. Deshalb werde auch das Bild als ,siegbringendes Bild‘ (imago Victoriosa) verehrt. Im Frühjahr 1622 wurde das siegbringende Gnadenbild, wie bereits erwähnt, nach Rom transferiert.43 Eine feierliche Prozession geleitete es am 8. Mai 1622 von S. Maria Maggiore in die Karmelitenkirche St. Paul. Dem Zug vorausgetragen wurde die bayerische Hauptfahne. Auf diese folgten die Beutefahnen, 45 an der Zahl. Von diesen hatten 25 die kaiserlichen Truppen in ihren Besitz gebracht, 20 die Truppen Herzog Maximilians von Bayern (Abb. 10). Ein späterer Berichterstatter wollte 41 Vgl. dazu und zum Folgenden Schreiner, „Maria Victrix“ (Anm. 37), S. 119 – 125. 42 Ernst Karl Winter, „Dominicus a Jesu Maria und der Staat“, in: August M. Knoll/Ernst Karl Winter/Hans Karl von Zessner-Spitzenberg (Hrsg.), Dominicus a Jesu Maria OCD. Seine Persçnlichkeit und sein Werk, Wien 1930, S. 181 – 212, hier S. 193. 43 Schreiner, „Maria Victrix“ (Anm. 37), S. 125 – 130.
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wissen, dass man die in der Schlacht auf dem Weißen Berg erbeuteten Fahnen der Rebellen durch den Sand-Staub auff der Erden gezogen habe. Die den reichs- und kirchenfeindlichen Ketzern abgenommenen Fahnen wurden, ehe man sie zur Zierde des siegbringenden Gnadenbildes in die Kirche brachte, rings um die Kirche aufgepflanzt zu ewiger Gedchtnuß dises glckseligen Tags / an welchem so merckliche Victori durch Frbitt der Mutter Gottes / in dieser jrer Bildnuß erhalten. Um Marias Ruhm zu mehren, erbat sich Pater Dominicus im August 1622 von Maximilian weitere Trophen aus den letzten Siegen ber die Hretiker ,per la santissima imagine della Madonna della Vittoria‘. Maximilian beauftragte deshalb Johannes Graf von Tilly, den Feldherrn des Ligaheeres, solche Trophäen, die als Zeichen des Sieges an Marias Schlachtenhilfe erinnern, zu sammeln. Dies insbesondere deshalb, weil, wie er nachdrücklich beteuerte, die Mutter Gottes ohne allen Zweifel geholfen habe, die letzten Siege der katholischen Truppen zu erringen. Die Madonna di Praga entwickelte sich zum geistlichen Mittelpunkt der karmelitischen Ordenskirche in Rom.44 Maria, die in einer Krisensituation des habsburgischen Kaisertums und der böhmischen Kirche den rechtgläubigen Truppen der katholischen Liga zum Sieg über die böhmischen Ketzer verholfen hatte, verdrängte langfristig das ursprüngliche Kirchenpatronat des Apostels Paulus. Unter der Bezeichnung S. Maria della Vittoria wurde Maria zur namengebenden Titelheiligen der Kirche. Als Kirche, welche der siegbringenden Maria geweiht war, erfüllte sie Aufgaben einer Gedächtniskirche. Deren liturgische Ordnung sah vor, dass in feierlichen Gottesdiensten aller Siege, die sich wunderwirkenden Interventionen Marias verdankten, gedacht wurde. Anlass für diese politischen Gottesdienste waren der Sieg über die Türken bei Lepanto (7. Oktober 1571), die Schlacht auf dem Weißen Berg (8. November 1620) und die Befreiung Wiens von den Türken (12. September 1683). Das Original der Madonna di Praga fiel 1833 einem Kirchenbrand zum Opfer. Eine Kopie musste danach das authentische Bild ersetzen.
44 Vgl. dazu und zum Folgenden Walter Buchowiecki, Handbuch der Kirchen Roms. Der rçmische Sakralbau in Geschichte und Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, Bd 3: Die Kirchen innerhalb der Mauern Roms, Wien 1997, S. 280 – 290.
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Die weinende Madonna von Pötsch (Máriapócs), die Siegerin in der Schlacht bei Zenta (1697) Marias Gnadenbild von Maria Pötsch (Máriapócs), einem Wallfahrtsort im östlichen Ungarn, hatte zwischen dem 4. November und 8. Dezember des Jahres 1696 des öfteren Tränen vergossen (Abb. 11). Um die Echtheit der von dem Bild vergossenen Tränen zu prüfen, setzte der Bischof von Eger eine Kommission ein, die den mirakulösen Vorgang untersuchen sollte. Als Zeuge vernommen wurde auch General Johannes Andreas von Corbelli, der Befehlshaber des in Kálló stationierten kaiserlichen Regiments. Als pflichtbewusster Offizier berichtete er Kaiser Leopold über die wunderbaren Tränenflüsse des in Maria Pötsch verehrten Marienbildes. Der Kaiserin Eleonore schickte er eine Kopie des Bildes. Auf Grund der öffentlichen Aufmerksamkeit, die das weinende Bild fand, wurde es militärisch bewacht. Der Bischof von Eger ließ es Ende Februar 1697 nach Kálló überführen. Nach einer mehrmonatigen Rundreise durch Ungarn wurde es auf Anordnung Kaiser Leopolds nach Wien gebracht. Landesweite Proteste in Ungarn konnten den Abtransport des Gnadenbildes nicht verhindern. Am 4. Juli 1697 traf es in Wien ein. Dort wurde es zur allgemeinen Verehrung von Kirche zu Kirche getragen. Seit dem 1. Dezember 1697 stand es auf dem Hauptaltar des Stephansdoms. In Wien hatte es zu weinen aufgehört, weil es in der österreichischen Metropole angeblich eine Stätte der Verehrung gefunden hatte, an der es aller Gefahren enthoben war. Bereits im Jahre 1698 erschien ein umfangreiches Kompendium, das sich unter dem Titel Abgetrocknete Thraenen eingehend mit dem Wunderthaetigen Zaeher-trieffenden Bildnus der Gnaden-reichen Gottes-Gebaehrerin / So zu Poetsch in Ober-Hungarn Anno 1696. den 4. Monats-Tag Novembris an beeden Augen zu weinen angefangen / und folglich (die Aussetzungen beygerechnet) biß 8. December geweinet, befasste.45 Das Kernstück des Buches besteht aus fünfunddreißig Lob-, Preiß-, Danck- und Lehr-Discursen, die am Leitfaden marianischer Embleme, erbaulicher Beispielerzählungen, biblischer Zitate und theologischer Sentenzen Marias Wesen und Wirken zum Gegenstand frommen Nachdenkens machen. Auf das Pötscher Gnadenbild kommt der unbekannte Autor zu sprechen, wenn 45 Eingehend analysiert haben diese Schrift Éva Knapp/Gábor Tüskés, „,Abgetrocknete Thränen‘. Elemente in der Wiener Verehrung des marianischen Gnadenbildes von Pötsch im Jahre 1698“, in: Bayerisches Jahrbuch fr Volkskunde, 38/1998, S. 93 – 104.
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von Marias Tränen oder vom Sieg über die Türken bei Zenta am 14. September 1697 die Rede ist. Auf die einzelnen Diskurse folgt eine Sequenz von sechs Predigten, die Kleriker des Hochstifts Passau in der Kirche ,Unser Lieben Frauen Stiegen‘ vom 21. bis 24. November vor dem Bild der Pötscher Maria gehalten hatten, als dieses dort öffentlich gezeigt wurde, um von Wiens Christen und Bürgern verehrt zu werden. Beigebunden sind dem Band drei Predigten Abrahams a Sancta Clara. In seiner dritten Predigt vom 22. September 1697 stellte er einen eindeutigen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Pötscher Gnadenbild und dem Sieg über die Türken bei Zenta her. Kupferstecher bildeten ab, was Abraham a Sancta Clara gepredigt hatte (Abb. 10). Zum Leitgedanken seiner Predigt machte er einen Vers aus der Lauretanischen Litanei: Causa nostrae laetitiae – ,Du Ursache unserer Freude‘. Auf die Predigten Abrahams a Sancta Clara folgen Embleme und Emblemauslegungen, die allem Anschein nach als Entwürfe und Exegesen Abrahams a Sancta Clara gelten können.46 Seine Embleme und die zu diesen gehörenden Auslegungen feierten Maria von Pötsch als siegreiche Heerführerin, die durch ihre wunderwirkenden Aktivitäten den Türken eine vernichtende Niederlage zugefügt habe. Gerühmt hat er die Gottesmutter als Morgenstern, der als siegbringendes Hoffnungszeichen bei Zenta am Himmel erschienen war, desgleichen als Pforte des Himmels, welche die türkische Pforte bezwang. Die von Abraham a Sancta Clara beschriebenen und gedeuteten Embleme zierten ursprünglich die Ehrenpforte, die am Wiener Bürgerspital errichtet worden war, um dem Pötscher Gnadenbild einen ehrenhaften und würdevollen Einzug in die Stadt zu bereiten. Marias Rolle als siegbringende Schlachtenhelferin beruht auf Deutungen post eventum, nicht auf unmittelbaren Erfahrungen derer, die an der Schlacht beteiligt waren. Was der wortgewaltige Abraham a Sancta Clara, im schwäbischen Kreenheinstetten als Sohn eines Bauernwirtes geboren und dort als Ulrich Megerle aufgewachsen, mit überschwenglicher Beredsamkeit predigte, fand Eingang in die Köpfe und Herzen der Wiener Bürger und Christen. Der Grund für die Freude an dem Sieg über die Türken bei Zenta, so sein leidenschaftliches Bekenntnis, sei Maria. Wir als rechtgläubige Christen, beteuerte er, wissen umb keine Kriegs-Goettin / wohl aber umb eine Schutz-Frau der Christlichen Waffen / und diese ist die gebenedeyte Mutter Gottes Maria / wer solche im Schild fuehrt 46 Ebd., S. 95.
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/ und eyffrigst verehrt / der hat an der Victori nicht zu zweifflen. Um historische Beweise, die seinen Glauben an Marias schützende Hilfe erhärten sollten, war Abraham a Sancta Clara nicht verlegen. Herzog Maximilian von Bayern habe im Jahre 1620, als er die ketzerischen Böhmen auf dem Weißen Berg besiegte, keinen sicherern Schild besessen als Mariam / zumahlen ihre Losung zum Schlagen [ihr Kriegs- und Schlachtruf] nichts anders gewest / als die zwey Wort Heil[ige] Maria. Auch Johannes Tilly und Consalvus Corduba, so fährt er fort, die beiden Heerführer der katholischen Truppen, die 1622 Herzog Friedrich von Baden-Durlach bei Wimpfen schlugen, hatten ebenfalls mit keinem andern Schild sich bewaffnet / als mit diesem / mit Maria. Tillys Fahne trug das Bild Marias aus der Gnadenkapelle von Altötting. Der Sieg über die Türken, den Prinz Eugen 1697 bei Zenta in Ungarn über die Türken errang, sei nechst Gott / niemand andern zuzuschreiben als Maria / die uns ein Schild des Heyls hat abgegeben. 47 Der Sieg des Prinzen Eugen über die Türken bei Zenta im Jahre 1697 hinterließ im Gedächtnis der Wiener Bevölkerung Spuren, die nachhaltig prägten. Abraham a Sancta Clara sagte Maria Dank, weil sie durch den tapferen Prinzen Eugen den Türken auf den Kopf getreten hatte. Menschen, gab der Prediger in einer nach dem 22. September 1697 unter dem Titel Aller Freud / und Frid gehaltenen Predigt zu denken, flehen zu Gott und Maria, wenn sie sich selber nicht mehr zu helfen wissen. So lang es uns wohl gehet, gab er zu denken, so lang wir gesund seyn / reich seyn / ruhig seyn / glckselig seyn / da schweigen wir gar offt still / schreyen nit vil zu Gott / aber wann uns der Allerhçchste auff den Rost legt / wann Er uns mit Pest / Krieg / Hunger und anderen Plagen heimbsucht / da lassen wir uns erst hçren / da erheben wir unsere Stimm / da fangen wir an zu betten / da haist es in die tribulationis meae clamavi ad te Domine. Also ist es auch geschehen dises 1697. Jahr, nach dem wir glaubwrdig vernohmen / das verwichenen Jahr im November das Wunder-Bild MARIAE zu Petsch in Ungarn huffige Zher [Trnen] vergossen / da hat man leicht vermuthen / ja schliessen kçnnen / dass wir ein grosses Unheyl / und ein sondere Verhngnuß zu gewarten haben. 48
Das Wasser zu Pçtsch in Ungarn / welches die Mutter Gottes den 4ten November [1696] und forthin auß den Augen vergossen, sei aber den Wienern nicht zu einem Vorboten von Unheil geworden, sondern zu einer Quelle des Heils. Dasselbe Wasser habe nämlich bewirkt, 47 Abraham a Sancta Clara, Ein Karren voller Narren und andere kleine Werke, hrsg. von Franz Eybl, Wien 1993, S. 123 f. 48 Ebd., S. 81.
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dass wir mit allem Eyffer und Inbrunst unser zuflucht genohmen zu Maria / zu der Mutter Gottes / welche nachmahls vermittelst Ihrer so starcken Vorbitt uns ein so preyßwrdige Victori erhalten / umb welche wir alle mit auffgehebten Hnden zu dancken haben; Causa nostrae laetitiae.
Nachdem man nämlich aus dem ungarischen Pötsch das weinende ,Wunder-Bild‘ nach Wien gebracht habe, da seien die Wiener fast gantz Kindisch worden und wie erschreckte Kinder nach der Mutter Schoß gelaufen, um Maria inständig um ihre Hilfe zu bitten. Maria habe ein Einsehen gehabt; sie half. So sah und glaubte es Abraham a Sancta Clara, der sich solche Rettungsaktionen ohne Marias Mitwirken nicht vorstellen konnte. Er beteuerte: Unser Schreyen / Betten / und Singen bey der Mutter Gottes hat uns geholffen / hat uns Victori, Sieg / und folgsam die grçsste Freud gebracht / dahero Ursach diser unserer Freud MARIA / causa nostrae laetitiae, dann sie hat uns mit ihrer Vorbitt bey ihrem Gçttlichen Sohn alles dises erworben. 49
Mit Hilfe einer historischen Analogie suchte er den rettenden Eingriff Marias in einen epochenübergreifenden Kontext marianischer Heilsgeschichte einzurücken. Was sich im 12. Jahrhundert unter Kaiser Johannes Komnenos in Byzanz abspielte, so sein Argument, habe sich nunmehr auch in Wien zum Ruhm und Heil des Hauses Habsburg ereignet. Der byzantinische Herrscher habe nämlich nach seinem Sieg über Skythen und Tartaren einen Triumphzug veranstaltet, dessen glanzvolle Mitte ein Bildnis der Muttergottes bildete. Vier Pferde hätten es auf einem Triumphwagen durch die Stadt gezogen. Dies habe der Kaiser von Byzanz deshalb getan, weil er alle seine Sieg und Victori, nach Gott / der Schutzreichen Mutter Gottes zuschrieb .50 Was dazumahl, so fährt er fort, in der Kayserlichen Residentz Stadt Constantinopel geschehen / das geschicht dermahl gantz lobwrdig und billich in der Kayserlichen Residentz Stadt Wienn / allwo wir allen Sieg / absonderlich diese neuliche preyßwrdigste Victori der Mutter Gottes zuschreyen / und zuschreiben / dann vermittelst Ihrer hat uns der Allerhçchste also gesegnet. 51
Der allergütigste Gott habe dem Reich, dem Haus Habsburg und der Stadt Wien diese Victori deshalb beschert, weil die gebenedeyte Mutter 49 Ebd. 50 Ebd., S. 83. Der kaiserliche Prediger nimmt Bezug auf die aus dem 12. Jahrhundert stammende Historia des Niketas Choniates. Vgl. Belting, Bild und Kult (Anm. 9), S. 571. 51 Abraham a Sancta Clara, Karren voller Narren (Anm. 47), S. 83.
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Maria / die wir mit unzahlbaren seufftzern / als ein Vorbitterin ersucht haben, für uns mit weinenden Augen bei Gott um Gnade und Barmherzigkeit anhielt. Wirksame Fürbitte habe Maria insbesondere deshalb eingelegt, weil die Wiener das im Jahre 1697 aus dem ungarischen Pötsch geholte weinende Wunder-Bild und Gnaden-Bild Mariae innig verehrt haben. Die verharrliche Andacht der Wiener Bürger, versicherte Abraham a Sancta Clara, habe sovil gewrckt / daß uns Gott die allerherrlichste Victori ertheilt in Ansehung seiner Gebenedeyten Mutter Mariae. 52 Seit dem 7. Juli des Jahres 1697, da dises Gnaden-Bild zu Wien hat angefangen verehrt zu werden / hat man in der Kirchen / auff der Gassen / auch im Hauß nichts anderst gehçrt / als den Rosenkrantz betten von dem eyffrigen Volck / versichere dich / diese Rosenkrntz haben unsere Soldaten gestrckt / die gebenedeyte Mutter Maria mit ihrer Frbitt hat gemacht / daß Gott unseren Soldaten nichts als Helden-Blut / und HeldenMuth hat eingeben. 53
In seinen Erklärungen der Sinn-Bilder, mit denen man die TriumphPforte am Bürgerspital in Wien geschmückt hatte, um dem Pötscher Wunder- und Gnadenbild MARIAE einen würdigen Empfang zu bereiten, betonte er nachdrücklich: Die Kraft des Gebets habe nicht weniger als die Gewalt der Waffen zum siegreichen Ausgang der Schlacht beigetragen. Unbestritten sei, daß ein starcke Faust vil vermag / aber auch ein auffgehebte Hand zu Gott in dem Gebett. Gewiß sei überdies, daß ein grosse Stuck-Kugel ein grosse Wrckung hat / aber auch etliche kleine runde Granen an einem Rosenkrantz. Gewiß ist / daß ein Heldenmthiger Officier vil kann / aber auch das Officium B. Virginis. Gewiß ist / daß ein Salve geben der Soldaten dem Feind ein mercklichen Schaden zufgt / aber auch ein eyffriges Salve Regina deß gemeinen Vollcks. 54
Am Schluss seiner Predigt glaubt Abraham a Sancta Clara sagen zu können: Lobwrdig und preyßwrdig habt ihr tapffere Soldaten Anno 1697 bey Zenta in Ungarn gefochten; angesichts der grossen Niderlag deß Feinds sollten sie aber auch des festen Glaubens sein, daß euch auch unser allgemeines Gebett habe secundirt, welches wir so eyffrig verricht bey dem GnadenBild MARIAE. 55 Antworten auf die Frage, was denn die Tränen des von Pötsch nach Wien geholten Marienbildes mit dem Sieg des Prinzen Eugen bei Zenta 52 53 54 55
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 86 – 87. S. 91. S. 99 f. S. 100.
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verbindet, bilden ein durchgängiges Motiv der von Priestern des Hochstifts Passau gehaltenen sechs Predigten.56 Den Predigten voraus geht ein Gruendlicher Innhalt / und warhaffte Nachricht Von der Bildnuß MARIAE, Der Jungfraeulichen Mutter Gottes / welche Anno 1696 in dem Koenigreich Hungarn in einer Capell / oder Gottes-Hauß / des Dorffs Poetsch genannt / unweit von der Vestung Calo / wunderbarlich geweinet hat.
Der Verfasser dieser Nachricht wollte den Nachweis erbringen, dass sich die Tränen des Pötscher Gnadenbildes nicht als Erfindungen frommer Marienverehrer in Zweifel ziehen lassen, sondern tatsächlich geflossen sind. Verdient gemacht habe sich um diesen Nachweis insbesondere Graf von Corobelli, in selbiger Gegend Kayserlicher General / und gebietender Feld-Herr. Als er vor Ort die wahre Beschaffenheit zu ergruenden suchte, habe er alles mit sonderbahrem Fleiß durchsucht und dabei nichts von einem Betrug finden / noch vermercken können. Mit einem Tüchlein habe er die Tränen des weinenden Marienbildes abgewischt und die in dem Tuechlein frische Naesse denen Anwesenden augenscheinlich zu betrachten vorgezeiget. In dem Text ist außerdem die Rede von Wunders-wuerdigen Begebenheiten, die sich damals vor dem Bild ereigneten und die Echtheit des weinenden Gnadenbildes unter Beweis stellen. Ein Calwinischer gottloser Mensch, der anfing, wider dieses Mirackel-Bild zu schmaehen, sei von Maria mit Stummheit geschlagen worden und habe kurz danach seine laesterliche Seel aufgeben muessen. Wunder bekräftigten die Tatsächlichkeit des Wunderbaren. Der erste der sechs Prediger versicherte: Angesichts der Tatsache, dass das Gnaden-reiche Bild – Mariae weynet / das Hertz Jesu zu verwunden / 56 Diese sind unter dem Titel „Folgen Sechs Predigen. So in dem uralten andaechtigen Passauerischen Gottes-Hauß zu unser lieben Frauen-Stiegen in Wien (sonst Mariae ad littus, Maria am Uffer benamset) bey Anwesenheit des Marianischen Gnaden-Bilds / so zu Poetsch in Ober-Ungarn Anno 1696 geweynet / von ettlichen Priesteren Passauerischen Hoch-Stiffts gehalten worden“, in: Abgetrocknete Thraenen. Das ist von der Wunderthaetigen Zaeher-trieffenden Bildnus der Gnaden-reichen Gottes-Gebaehrerin / So zu Poetsch in Ober-Hungarn Anno 1696. den 4. Monats-Tag Novembris an beeden Augen zu weinen angefangen / und folglich (die Aussetzungen beygerechnet) biß 8. December geweinet. Zu finden bey Johann Christoph Lochner, Nuernberg – Franckfurt 1698, S. 1 – 104. Die sechs Predigten folgen auf die Beschreibung der fünfunddreißig Sinnbilder. Diese endet mit der S. 456. Mit den sechs Predigten beginnt eine neue Paginierung. Die diesen vorausgehende warhaffte Nachricht von der Bildnuß Mariae, das 1696 in einer Kapelle oder im Gotteshaus des Dorfes Pötsch in Ungarn wunderbarlich geweinet hat, ist nicht paginiert.
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zu Barmhertzigkeit zu bewegen / uns Gnad zu erhalten von Jesu ihren Hertzen, komme es darauf an, dass wir alle sammentlich unser Zuflucht suchen unter ihren Schutz / die wir alle streiten in diesem blutigen Feld dieser Welt, in der wir mit den Feinden unserer Seele ständig im Streit liegen und den Sieg zu erringen eine mit Gefahren verbundene Sache ist.57 Siehe die Thraenen Mariae, fordert der zweite Prediger seine Zuhörer auf, die Thraenen des Gnaden-Hauß / durch welche der Zorn Gottes gestillet / die verdienten Straffen abgewendet / die unverdiente Gnaden / der Untergang der Feind / diese herrliche Niederlag der Tuercken erhalten worden. 58 Marias Tränen hätten uns den Untergang unserer Feinde und die Beschuetzung von deroselben erworben. Es sei deshalb ein Freuden-Fest, mit Maria zu weinen, allerdings nicht Zaeher der Traurigkeit / sondern Zaeher der Freuden. Zaeher der Freuden / wegen in Grund geschlagenen Erb-Feind / wegen befreyter Christenheit / wegen Hoffnung noch zu continuiren habender protection Mariae. 59 Auf die Frage, was Marias Tränenflüsse bewirkten, antwortete der dritte Prediger: Gesundheit und Leben / die wir sonst vielleicht durch des Tuercken Brand und Mord haetten den Geist aufgeben 60, desgleichen ob erhaltenen Sieg und Victori Trost und Freud sowie mit Frankreich Frieden. Dem fügte der Autor dieses Diskurses hinzu: Der Grosse LEOPOLD wird ferners obsiegen / niemahlen unterliegen. Zu Ehren von Marias Gnadenströmen lasse sich aus den einzelnen Buchstaben des Wörtleins lachryma eine Denck-Schrift anfertigen, die da lautet: Leopoldum Austriae Contra Hungariae Regni / Inimicos Maria Adjuvat (Maria hilft Leopold von Österreich gegen die Feinde des ungarischen Königreiches).61 Den Sieg über die Türken im Auge beteuert der Prediger: Der Gnaden-Teich der Thraenen Mariae habe alle Erb-Laender und Koenigreich des Grossen Leopolds gesund gemacht / curirt / erfreuet / und getroestet. Dem fügte er hinzu: O ihr Muetterliche Gnaden-Augen ! ihr habt gossen den Tuercken zu seinen [sic] Untergang ein so scharpfe Laugen. O ihr liebe Augen ! ihr seid die Quelle / daraus wir Gottes so grosse Gnaden saugen. O ihr gebenedeyte Augen und Thraenen ! ihr habt gemacht den Tuercken darvon rennen. O ihr geseegnete Thraenen ! ihr habt verhuet / und geloescht / in unseren [sic] Vatterland / der Feinden Morden und Brennen. 62 57 58 59 60 61 62
Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 41.
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Der vierte Prediger erinnerte daran, dass an Sonntagen in der Oktav von Marienfesten Österreich seine Siege über die Türken, den Erbfeind des Christlichen Namens, errungen habe: in der Oktav von Mariae Geburt 1683 auf dem Kahlenberg bei Wien; 1685 in der Oktav von Mariae Himmelfahrt, als die Vestung Gran mit Niderlag vieler tausend Tuercken entsetzet wurde; 1686 in der Oktav von Mariae Himmelfahrt, als die Stadt Ofen erstürmt wurde. Gott habe das Erzhaus Österreich als Vormauer der Christenheit errichtet. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, möge Maria die Kayserliche und andere Christliche Waffen / wider die Feinde des Namens deines Goettlichen Sohns unterstützen und den Ottomannen ihr Cadentz biß zu ihrem Untergang lassen.63 Der fünfte Prediger rühmt Maria als maechtigste Fuersprecherin 64, die Gott mit Tränen für uns bittet. Beten könne Gott besänftigen; aber die Zaeher haben den Gewalt denselbigen zu zwingen. 65 Christen könnten sich glücklich preisen, weil sie in der Person Marias bei dem erzoerneten Gott eine mitleidige und viel vermoegende Frsprecherin haben, der im Himmel und auf Erden alle Gewalt gegeben ist. Der letzte Prediger vergleicht Maria mit einer Arche, die erheblich breiter, länger und höher ist als die Arche Noahs. Den Genesis-Vers „Die Wasser haben sich gemehret / und die Archen von der Erde in die Hoehe erhoben“ (Gen 7,17) bezog er auf die Marianischen Thraenen / so aus dem Gnaden-Bild sich ergossen. Des Gnadenbildes Tränen hätten den grausamen Tuercken Verderben gebracht, der lieben Christenheit, die in der marianischen Arche Schutz suchte, Glück und Heil. Erhoben hätten Marias Tränen die gerechte[n] Kayserliche Waffen / daß sie deren Malcontenten blutiges Vorhaben unterbrochen / dieselbe zertrennet / vernichtet. Emporgetrieben hätten sie die Christliche Armada [bei Lepanto] / dasselbe bey Senta den Ottomannischen Wuth so glorreich / so mit augenscheinlicher Huelff Gottes gestuertzet. 66 Unter den fünfunddreißig Diskursen zum Lob, Preis und Dank des marianischen Gnadenbildes zu Pötsch war besonders jene Abhandlung aktuell, die sich mit dem Schild als Emblem Marias befasste.67 Der Text reflektiert Erfahrungen, welche die Bevölkerung Österreichs damals mit 63 64 65 66 67
Ebd., S. 63 f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 84. Ebd., S. 93 f. Ebd., S. 84 – 95 (erste Buchhälfte): „Das Achte Sinnbild“, das Maria vorstellt als ein Schutz-bringender Schild ihrer Clienten.
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Maria gemacht hatte. War sie doch des Glaubens, dass dank Marias Hilfe Prinz Eugen die Türken bei Zenta besiegt habe. Maria, versichert der anonyme Autor des Diskurses, die als Schutzfrau ihrer Verehrer mit einem starcken und undurchdringlichen Schild vergleichbar sei, verhelfe den so eyferig / als gerechten Christlichen Waffen / wider den Erb-Feind des allein seeligmachenden Glaubens zum Sieg. Da der Prediger von der Sieg- und Waffenhilfe Marias zutiefst überzeugt war, brach er in den Jubelruf aus: O wol ein gewaltiger und herrlicher Schild in allen unseren Streiten ist uns Maria. Um theologisch begründet und biblisch fundiert in diesen Jubelruf ausbrechen zu können, machte der Verfasser aus Wendungen des Alten Testaments, die Jahwes schützende Macht mit der Metapher des Schildes umschreiben, Aussagen über die schützende Macht Marias. David hatte die Macht Gottes gerühmt, die ihm zum Sieg über die Feinde Israels verhalf. Er tat dies mit den Worten „Vollkommen ist Gottes Weg, / das Wort des Herrn ist im Feuer geläutert. / Ein Schild ist er für alle, die sich bei ihm bergen“ (2 Sam 22,31). Dankbar bekannte er: „Du gabst mir deine Hilfe zum Schild / dein Zuspruch machte mich groß“ (ebd. 22,36). Der Psalmist bediente sich der Schildmetapher, um seiner Zuversicht auf Gottes Schutz und Hilfe Ausdruck zu geben: „Unsere Seele harrt auf Jahwe. Er ist uns Hilfe und Schild“ (Ps 33,20). Er wollte sagen: Vertrauen auf Gottes Schutz und Hilfe gibt Gewähr für eine gute, beschützte Zukunft.68 Der Verfasser der Abgetrockneten Thraenen suchte seine Leser davon zu überzeugen, dass der schützende Beistand, den Israel in seiner Geschichte von Gott immer wieder erfahren habe, den Christen nunmehr durch Maria zuteil werde. Einen biblischen Beleg für die schützende Macht Marias fand der anonyme Autor außerdem im Hohenlied, das seit dem hohen Mittelalter als Gespräch zwischen Jesus und Maria gedeutet wurde. In diesem beschreibt der Liebhaber, hingerissen und begeistert von der körperlichen Schönheit seiner Geliebten, deren Hals folgendermaßen: „Wie der Turm Davids ist dein Hals, in Schichten von Steinen erbaut, tausend 68 Um Gott als Schützer und Retter zu preisen, greift der Psalmist wiederholt auf die Schildmetapher zurück. In Ps 3,4 bekennt er: „Du aber, Herr, bist ein Schild für mich“. Ps 7,11 sagt er von neuem: „Ein Schild über mir ist Gott, / er rettet die Menschen mit redlichem Herzen“. Ps 18,31 heißt es: „Ein Schild ist er für alle, die sich bei ihm bergen“. Ps 35,1 fordert der Psalmist Jahwe auf, „Schild und Waffen“ zu ergreifen, um seine Widersacher zu bekämpfen. „Unser Schild“ benutzt er auch als Anrede Gottes (Ps 89,19). In Ps 84,12 wird Gott ausdrücklich Schild genannt.
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Schilde hängen daran, lauter Waffen von Helden“ (Hld 4,4). Nach einer erfolgreich geschlagenen Schlacht die Mauern und Türme einer Burg mit Schilden zu schmücken, entsprach einem orientalischen Brauch. Mittelalterliche Bibelausleger deuteten die tausend Schilde an Marias Hals als Sinnbild für ,Glaubensstärke‘ (robur fidei), die Maria ihren Verehren gibt, um jeder ,Belagerung des höllischen Feindes‘ standzuhalten.69 Der Verfasser der Abgetrockneten Thraenen machte aus den tausend Schilden Symbole für Marias schützende Macht. Durch die tausend Schilde, die bei Maria hervorhangen, sei gewährleistet, daß alle ihre getreuen Kinder bey ihrer so vorsichtigen Mutter Schutz und Schirm genug finden / allen innerlichen und aeusserlichen Feinden zu begegnen. 70 Um seinen Aussagen Glaubwürdigkeit zu verschaffen, zitierte der Autor historische Beispiele: Arthur, der sagenumwobene englische König, habe alle seine Feinde in die Flucht geschlagen, indem er ihnen seinen Schild entgegenhielt, auf welchem die Bildnus Mariae entworffen war. Englische Chroniken des hohen Mittelalters bestätigen das. Sie schildern Arthur als einen Kriegshelden, der seine Kampfkraft Maria verdankte. In Schlachten habe er einen Schild benutzt, auf den das Bild Marias, die imago sancte Marie Dei genitricis, gemalt war.71 Kaiser Karl V., jener Oesterreichische Hercules, der, wie der Verfasser hervorhebt, seine siegreiche Kraft in Schlachten und sein Glück in vielfachen Triumphen der Gottesmuter verdankte, habe in seine Rüstung das Bild Marias eingravieren lassen.72 Gottfried von Bouillon (um 1060 bis nach 1100), der Anführer des französischen Kreuzzugsheeres, habe, wie Wilhelm von Tyrus berichtet, es nicht unterlassen, sein gantzes Kriegsheer in den gnaedigen Schirm der sieghafften unueberwindlichen Jungfrauen aufzuopffern / die er allezeit in allen seinen Schlachten von maennig69 Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Marias in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters, Linz 1893 (Nachdruck Darmstadt 1967), S. 546. 70 Abgetrocknete Thraenen (Anm. 56), S. 87. 71 Henry, Archdeacon of Huntingdon, Historia Anglorum. The History of the English People, edited and translated by Diana Greeway, Oxford 1996, S. 98. Vgl. auch The Historia regum Britannie of Geoffrey of Monmoth, Bern Burgerbibliothek, Ms. 568, edited by Neil Wright, Cambridge 1985, Vol. 1, S. 141. 72 Die sogenannte „Rüstung von Mühlberg“ mit dem eingravierten Bildnis Marias ist abgebildet in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn, und Kunsthistorisches Museum Wien (Hrsg.), Katalog: Kaiser Karl V. (1500 – 1558). Macht und Ohnmacht Europas. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. 25. Februar bis 21. Mai 2000, Bonn – Wien 2000, S. 261, Abb. 249. Vgl. auch ebd., S. 260, Nr. 248.
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lichen anruffen liesse; hat auch allenthalben / wo er sein Lager geschlagen / ihr Bildnus / als einer Koenigin und Kayserin / mit hoechster Ehr eingesetzet und beherberget. 73
Die vom Verfasser breit kommentierten Exempel geben zu erkennen: Barocke Frömmigkeit hatte eine historische Dimension. Geschichtliche Tatsachen verbürgten die Richtigkeit theologischer Wahrheiten; sie gaben frommen Überzeugungen einen nachprüfbaren Rückhalt in konkreten Erfahrungen. Aus dem Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais (vor 1200 – 1264) übernimmt der Verfasser der Abgetrockneten Traenen folgende Geschichte: In einem Dorf unweit von Orléans habe sich in der dortigen Kirche ein Bildnis Mariae befunden, das die Bürger von Orléans um guetigsten Schutz und Schirm innigst angefleht haben, wenn feindliche Truppen sich anschickten, die Stadt zu belagern und zu erobern. Schließlich hätten sie das Bild mit in die Stadt genommen und über dem Tor gleichsam als eine Commendantin der Stadt aufgestellt – dies in der Hoffnung, dass sie selbst von Maria beschützt, ihre Feinde hingegen von der Gottesmutter vertrieben würden. Ein Bürger habe hinter dem Bild Schutz gesucht und ab und an auf die Feinde nicht ohne mercklichen Schaden / sein Geschuetz abgedrückt. Dies habe ein feindlicher Soldat bemerkt und zu dem hinter dem Bild versteckten Bürger gerufen: Warte du Boßhaffter! Ich will dir auch bald deinen Rest geben; und solle dir dieses dein Brust-Blat / dieses Mariae-Bild nichts nutzen. Daraufhin habe er seinen Pfeil abgeschossen. Dieser hätte den Bürger unfehlbar getroffen, wäre ihm nicht dieses Bildnus Mariae mit Vorschuetzung ihrer Knyescheiben […] zu einem Schild geworden. 74 Der Pfeil sei nämlich tief in das Knie der abgebildeten Marias eingedrungen. Das habe den Bürger veranlasst, sofort zu seinem Pfeil und Bogen zu greifen. Alsobald habe er dann seinen und Mariae Feind / welcher auf ihn mit Pfeilen / auf Mariam aber mit Schmach-Wort gezielet hatte, erlegt. Der muetterliche Schutz Mariae über die 73 Die Kreuzzugschronisten rühmen einhellig und nachdrücklich die Frömmigkeit und Heiligkeit des Gottfried von Bouillon. Für die von dem barocken Autor behauptete ausgeprägte Marienfrömmigkeit Herzog Gottfrieds konnte ich weder bei Wilhelm von Tyrus noch bei anderen Kreuzzugschronisten des 12. Jahrhunderts chronikalische Belege ausfindig machen. 74 Vincentius Bellovacensis, Speculum historiale, Graz 1965 (Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Dvaci 1624), S. 251, beschreibt die schützende Reaktion des Marienbildes folgendermaßen: Cumque vibrasset hostis iaculum in ciuem illum sagittarium: mirabile dictu, imago genu erexit, et iaculo se obiiciens, illud excepit: sicque hominem sibi deuotum ab imminenti periculo defendit.
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Stadt habe deren Feinde zu der Einsicht gelangen lassen, daß sie umsonsten die Stadt belagern, welche Maria in ihren Schutz genommen / und dero sie einen so gewaltigen Schild abgiebet. Die Feinde beendeten die Belagerung und zogen ab. Die Bürger von Orléans brachten das Gnaden-Bild mit gesambter Andacht in die Dorfkirche zurück, in der man das Bild mit dem in dem erhobenen Knye eingeschossenen Pfeil bis auf den heutigen Tag sehen könne. In immer neuen Wendungen und Bildern beschreibt der Verfasser der Abgetrockneten Thraenen die schützende Macht Marias. Maria, so seine Überzeugung, ist mchtig uns zu beschuetzen. Deshalb seine Bitte: Seye du mir ein gewaltiger Schild / so sorge ich mich keiner antringenden Waffen. Deshalb sein Jubelruf: O wol ein gewaltiger und herrlicher Schild in allen unseren Streiten ist uns Maria! Deshalb seine Mahnung: In den SeelenStreiten mit dem höllischen Feind sind wir eines Schildes beduerfftig / dahero wir uns mit dem Marianischen Schild gar billich und wol versehen sollen. Der Marianische Schild erweise sich aber nicht nur als eine Schutzwehr gegen die Machenschaften des Teufels; er helfe auch, die schadenstiftende Zornmuethigkeit Gottes zu überwinden. Wo und wann nämlich der gerechte Richter billich mit seinen Straff-Pfeilen wider uns abdruckete; ist die Marianische Liebe jene / so gleichfalls den erzoerneten Gott durch demuethiges und freundliches Bitten entwaffnet. Deshalb des Autors Aufforderung an seine Leser: Verseht euch mit diesem beschirmenden Schild Mariam, um durch ihre Fürbitte und ihren Schutz im Leben und Sterben aus allen Gefahren errettet zu werden. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem weinenden Gnadenbild der Pötscher Maria und der Schlacht bei Zenta suchte und fand der Autor in seinem 21. Sinnbild – der Fahne.75 Die Beschreibung und Deutung dieses Emblems beginnt er mit dem Satz: Die aus der glorreichen Schlacht bei Senta eroberte[n] Tuerckische[n] Fahnen / werden zu Fuessen Mariae in der triumphirlichen Tracht des Gnaden-Bild[s] geleget; worbey erwaehnet wird / wie glueckseelig es seye unter dem Schutz Mariae zu streitten. Der Psalmvers „Die mit Tränen sän, werden mit Freuden ernten“ (Ps 125,5) bestärkte den Verfasser in der Überzeugung, dass vergossene Tränen eine fröhliche Erntezeit verheißen. Diese Wahrheit werde herrlichstens bestätigt durch den glorreichen Sieg über den allgemeinen Erbfeind Christlichen Namens am 12. September 1697 bei Zenta am Fluss Theiß in Ober-Ungarn. Im November 1696 seien aus dem marianischen Gnadenbild mütterliche Tränen geflossen, die auf gutes 75 Abgetrocknete Thraenen (Anm. 56), S. 250 – 262. Ebd. die folgenden Zitate.
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Erdreich fielen und Garben hervorbrachten. Als Garben seien die türkischen Fahnen zu verstehen, die zehn Monate später in der siegreichen Schlacht bei Zenta erbeutet und mit Frohlocken nach Wien gebracht worden seien. Dort habe man das Gnadenbild, als es in einer feierlichen Prozession am 23. September 1697 auf einer Pinne von der Schottenkirche in den Stephans-Dom getragen wurde, mit den erbeuteten Fahnen zum Triumph herum bestecket, um auf diese Weise kenntlich zu machen, dass die reiche Fahnenernte den marianischen Tränen entsprossen sei. Mit Marias Beistand sei nicht nur im Kampf mit unsichtbaren höllischen Feinden zu rechnen; sie helfe auch im Kampf gegen sichtbare Feinde im alltäglichen Weltgeschehen. Erfahrung lehre, daß / wer mit rechtem Vertrauen unter ihrem Vorschutz streittet / auch von sichtbahren Feinden unbeschaediget / ja siegreich darvon kommet. Um diese Erfahrungstatsache historisch zu erhärten, bringt der Autor eine Reihe von Beispielen. Als die Dänen, schreibt er, im dritten Regierungsjahr König Aethelreds († 911) die Stadt London belagerten und am Tag des Festes der freudenreichen Maria ihre Belagerung erfolglos abbrechen mussten, sei dies in den folgenden Jahren die Ursache dafür gewesen, dass die Koenig aus Engeland aus dem Geschlecht Artus diesen loeblichen Gebrauch aufgebracht / daß man ihnen allezeit in ihren Streitten ein Bildnus Mariae sollte vortragen / dardurch sie vermeinten unfehlbarlich wider ihre Feinde obzusiegen / dieweil sie sich unter dem Schutz und Schirm der H. Mutter Gottes in den Streit begebeten.
Marias Hilfe habe auch König Alfons VIII. von Kastilien (1155 – 1214) erfahren, als im Jahre 1216 Mahomet ein Kçnig der Saracener / und abgesagter Feind des Christlichen Nahmens in Granada einfiel, um nicht nur das Königreich Kastilien, sondern die gesamte Christenheit zu unterwerfen. Um sich gegen den Angriff Mohammeds siegreich zu behaupten, habe sich König Alfons mit den Königen von Aragonien und Navarra verbündet. Eine noch festere Alliantz sei er mit Christus und Maria eingegangen. Deshalb habe er seinem Kriegsheer das siegreiche Zeichen des Heil[igen] Kreuzes vorantragen lassen. Inmitten der königlichen Fahnen sei ein Bild der glorwuerdigen Mutter Gottes mit ihrem allerliebsten Kind auf den Armen gemahlt gewesen. Das Angesicht dieses Bild[es] erlustiget nicht allein die Catholische[n] Soldaten / sondern munterte sie auf zu hertzhafften Streit. Anfangs zwar stritte man beederseits / wie die Loewen / ja es scheinete / ob wollte sich der Sieg auf Seiten deren Mehrern wenden; nichts destoweniger gabe die sieghaffte Jungfrau / ihr Generalin / bald darauf ein solches Hertz und Staerck / hingegen aber denen Mohren und
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Saracenen ein solche Forcht und Schroecken / daß dieser in die zweymal hundert tausend auf den [sic] Blatz todt geblieben; und was wunderbahrer; auf Seiten deren Christen hoechstens biß 30 Persohnen umgekommen seynd. Wer will dann widersprechen / dass unter denen Marianischen Fahnen nicht herrlich gut und sicher seye zu streitten?
Gebe es doch zahlreiche Historien, in welchen der Schutz Mariae in denen zeitlichen Kriegen sonnenklar versphret worden. Die Resonanz, die das aus Pötsch nach Wien geholte Gnadenbild fand, war überwältigend. Die gedruckten Schriften und Predigten, die unterrichten und erbauen wollten, indem sie die Entstehung, Verehrung und Wundertätigkeit des Gnadenbildes stets von neuem nacherzählten, sind Legion. Den jeweiligen Autoren und Predigern kam es darauf an, den Nachweis zu erbringen, dass die Tränen Marias weder aus der Einbildungskraft naiver Marienverehrer hervorgingen, noch frommen Betrugsmanövern ihr Zustandekommen verdankten. Um Marias Wundertätigkeit zu belegen, listeten sie alle Gnaden und Guttaten auf, die Hilfesuchende in der Zeit zwischen 1698 und 1739 bei dem Poetschischen Gnade-Bild erhalten haben, welche dank Marias wunderbarer Hilfe von ihren körperlichen Gebrechen geheilt wurden.76 Am Sonntag nach Mariä Heimsuchung wurde im Stephansdom jährlich hochfeyerlich begangen das Gedaechtnus des um diese Zeit Anno 1697 von Pçtsch aus Hungarn hieher nach Wienn gebrachten Gnaden-Bilds. 77 An diesem Gottesdienst pflegten Ihre Kaiserliche Majestät und dessen gesamter Hofstaat teilzunehmen. Jahr für Jahr fand überdies zum Gedächtnis, dass am 4. November 1696 das Pötscher Marienbild zu weinen angefangen hatte, in St. Stephan eine dreitägige Andacht mit täglich zwei Hochämtern statt. An diesen Festgottesdiensten musizierte die kaiserliche Hofmusikkapelle.78 Jeden Abend wurde vor dem ausgesetzten Allerheiligsten die Lauretanische Litanei gesungen, zu welcher bestaendig ein Menge des Volcks erscheinet, und mit Auferbaeulichkeit bettet. Auch wurde jeden Tag vor dem Gnadenbild der ganze marianische
76 Vgl. Christoph Zeunegg, Erneuert- und vermehrter Gnaden-Brunn in dem Wunderthaetigen Bild der weinenden Mutter Gottes von Poetsch, welches in originali in der Wiennerischen Metropolitan-Kirchen verehret wird, Wienn 1739, S. 36 – 117. 77 Ebd., S. 28. 78 Thomas Hochradner/Géza Michael Vörösmarty, „Zur Musikpflege am Altar Mária Pócs (Maria Pötsch) in St. Stephan in Wien“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae, 41/2000, S. 133 – 175, hier S. 149.
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Psalter gebetet. Dieser bestand aus 150 Ave Maria, die an drei verschiedenen Zeiten in drei Teilen zu je 50 Ave Maria gebetet wurden.79 Um für die Verehrung der Pötscher Maria eine dem Kultgegenstand angemessene Sprache zu finden, wurden ihr zu Ehren Gebete, Andachten und Lieder verfasst.80 Sie dienten der Vertiefung der von Einzelnen und der von der Marianischen Liebs-Versammlung vor dem Gnadenbild gepflegten Frömmigkeit. Einer der Bitt- und Lobgesänge begann folgendermaßen: O Maria sey gegruesset, da in deinem Gnaden-Bild, deine Seel voll Gnaden fliesset: bist gantz gnaedig, und gantz mild. O Mutter mild, dein Gnaden-Bild, sey unser Zuflucht, Schutz und Schild.
Marienfromme Christen, die so beteten und sangen, konnten des Glaubens sein, dass aus dem Gnadenbild der gnädigen und gütigen Maria Gnadenströme fließen, die ihren Verehrern zum Schutz und zur Hilfe gereichen. Diejenigen, die in ihren seelischen und materiellen Nöten unter Marias Schutzmantel flüchteten, wussten aber auch, dass es letztlich Gott selber ist, der ihnen auf Grund von Marias Fürsprache beisteht. Sie sangen und beteten: Unter deinen Schutz wir fliehen, bitt, daß Gott uns gnaedig sey, dann umsonst wir uns bemuehen, wann uns Gott nicht stehet bey. O Mutter mild etc.
In den sich daran anschließenden Strophen geht es nicht nur um das ewige Seelenheil, das Christen durch Marias Fürsprache bei Gott zu erlangen hoffen. Gott sollte, Marias Fürsprache beherzigend, auch eingreifen, wenn sich Christenmenschen in Hungerkatastrophen, bei Pestepidemien und in Kriegen selber nicht mehr zu helfen wussten. Auch aus politischen Beweggründen baten Wiener Bürger um Marias helfende Fürsprache: Bring auch durch dein Bitt zuwegen, daß dem Haus von Oesterreich, Gott vom Himmel geb den Seegen, 79 Zeunegg, Erneuert- und vermehrter Gnaden-Brunn (Anm. 76), S. 27. 80 Ebd., S. 118 – 172.
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und daß er von uns nicht weich. O Mutter mild etc.81
Jubiläen wurden gefeiert, um nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren, was Wien dem Gnadenbild von Pötsch verdankt. Die in den Jahren 1742 und 1772 veranstalteten Erinnerungsfeste wollten daran erinnern, dass vor 50 und 75 Jahren das marianische Gnadenbild von Pötsch nach Wien übertragen worden war. Am 6. November 1796, am Tag, als das Gnadenbild in Pötsch zu weinen anfing, wurde eine hundertjährige Feier zu Ehren der weinenden Gottesmutter abgehalten. Die feierlichen, sich über mehrere Tage erstreckenden Gedenkveranstaltungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Pötscher Gnadenbild nicht mehr im Zentrum des öffentlichen Interesses stand. Es wurde nicht mehr in Prozessionen durch die Stadt getragen, um politischer Krisen und militärischer Bedrängnisse Herr zu werden. Seine politische Funktionalität büßte es weitestgehend ein und wandelte sich zu einem Gegenstand persönlicher Andacht und liturgischer Feier. Eine Ausnahme blieb es, dass 1713, als Wien von einer Pest heimgesucht wurde, Kaiser Karl VI. nach einer Prozession von der AugustinerHofkirche zum Stephansdom, bei der die Ikone Maria Pócs mitgeführt wurde, während des Hochamtes im Stephansdom feierlich den Bau eines Gotteshauses zu Ehren seines Namenspatrons gelobte.82 Verändert haben sich mit zunehmender Distanz auch die Berichtsinteressen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert zeichnet sich in den zu Ehren des Gnadenbildes verfassten Schriften die Tendenz ab, den Sieg bei Zenta nicht mehr dem Bild und den von ihm vergossenen Tränen zuzuschreiben, sondern die durch das weinende Bild ausgelöste Frömmigkeit zum maßgeblichen Faktor der siegreich geschlagenen Schlacht zu machen. Ein Vergleich zwischen den Jubiläumsschriften von 1747 und 1796 mag dies verdeutlichen. Im Mittelpunkt des vom 1. bis 9. Juli 1747 in Wien gefeierten Jubel-Festes standen das Gnadenbild und die von diesem vergossenen Tränen. Mit ihren Zhren, so die einhellige Überzeugung der Festprediger, habe Maria die bevorstehende Straf von der Christenheit abgewendet und bey Gott dem himmlischen Vatter Gnad ausgewirkt. Die grosse Niederlag des Erb-Feindes Christlichen Namens sei nur deshalb zustande gekommen, weil Gott – dank Marias tränenreicher Fürsprache – seinen Zorn ge81 Ebd., S. 149 – 151. 82 Hochradner/Vörösmarty, „Zur Musikpflege“ (Anm. 78), S. 150.
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mildert und Gnade gewährt habe.83 Marias entscheidende Rolle für den Sieg des Prinzen Eugen bei Zenta (1697) sei unzweideutig daran erkennbar, dass sich die Niederlage der Türken zu einem Zeitpunkt ereignete, als das Bild in Wien mit Andacht verehrt und in einer Prozession von einer Kirche zur anderen getragen wurde. Es sei, so versicherte ein Prediger, ohne Zweifels die Pçtscherisch-weinende Mutter gewesen, die den Sieg über die Türken durch ihre haeufige Thraenen bei GOTT ausgewrket habe. Es seien 20 000 Trken theils auf der Wahlstatt geblieben / theils in dem Theys-Strom ertrunken / und derselben gantzes Lager samt 6 Roß-Schweifen verlohren gegangen. Zugetragen habe sich das am 11. September, als [am] Vormittag das Gnaden-Bild noch bey St. Stephan ausgesetzt und verehret ward. Als dann die hoechst-erfreuliche Zeitung von ermeldter Victori in Wien eingelofen / war das Gnaden-Bild in der Schotten Pfarr-Kirchen ausgesetzt / von dannen es rings herum mit Tuerkischen Fahnen ausgeruestet / gleich als in einem Triumph in Begleitung beeder Kaiserlichen Majestten / des Roemischen Koenigs Josephs / samt der gantzen jungen Herrschaft / und Clerisey nach St. Stephan getragen / und daselbst das Te Deum Laudamus gehalten worden.
In der Tat: Die Wiener hatten Ursache, Maria als Oesterreichische Troesterin und allgemeine Stadt-Mutter von Herzen zu lieben und zu verehren.84 Durch ihre Tränen habe Maria die verheerenden Kriegsflammen ausgelöscht. Wien könne sich glücklich preisen; habe doch Maria Wien zu ihrer segenbringenden Wohnstatt gemacht. Hier sei sie haus-sssig geworden; hier habe sie Burger-Recht angenommen.85 Und wie, machte der Prediger geltend, MARIA einmal angefangen / unser gemeines Wesen zu schuetzen / also hat Sie ihren Schutz immer fortgesetzet. Mein allerwerthestes Wien! 86 Alles in allem: Dass Österreich aus seinen Kämpfen gegen den ottomanischen Christen-Feind siegreich hervorging, sei nicht ohne Wunder geschehen. Und diese Wunder, fährt der Prediger fort, müssen
83 Funftzig-Jaehriges Jubel-Fest Des Wunderthaetigen Gnaden-Bilds MARIAE von Poetsch, welches In der Hohen Metropolitan-Kirchen bey St. Stephan Von denen Wienerisch-Marianischen Verehrern durch 8 Taege mit abgelegten 15 Sinn- und Lehrreichen Trost-Predigten, Samt Hoch-Aemtern und Litaneyen Vom 1sten bis 9ten Juli 1747 In ungemeiner Volks-Menge auf das feyerlichste gehalten wurde, Wien 1747, fol. 3v. 84 Ebd., fol. 4v–5r 85 Ebd., fol. A 3r–v. 86 Ebd., fol. A 4v.
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die Wiener fr eine trostreiche Wrkung Mariae ihrer mchtigen SchutzFrauen halten.87 Ein Gruendlicher Bericht, herausgegeben bey Gelegenheit der hundertjaehrigen Feyer am 6ten Novemb. 1796, der an die im Jahre 1696 geflossenen Thraenen des Bildes der seligsten Jungfrau und Mutter Gottes Maria von Poetsch erinnern wollte, setzte andere Akzente.88 Nach den Regeln der Kritik 89, die von allen Menschen, die von gesunder Vernunft und unverderbtem Herzen sind, als untrueglich anerkannt werden, wollte der anonyme Autor strenge Gewissheit darüber erlangen, dass vor hundert Jahren das Bildniß der seligsten Mutter Gottes, welches itzo in der Domkirche zu Wien verehret wird, zu Poetsch in Ungarn nicht nur einmal, sondern oefters zu wiederholten malen, und jederzeit durch mehrere Tage anhaltend geweinet hat. 90 Zu diesem Zweck benennt er Augenzeugen, deren geschworne Zeugnisse verbürgen, dass es sich bei den Tränen des Pötscher Marienbildes nicht um ein Mhrlein, sondern um eine Thatsache handelt. Wörtlich zitiert er den Eid des kaiserlichen Generalfeldmarschall-Leutnants Johannes Andreas Graf von Coribelli, der bekannte, mit seinen Augen das Bild der seligsten Jungfrau weinend gesehen zu haben. Am Ende der Messe habe er mit eigenen Haenden die herabtriefenden Thraehnen mit einem Tuechlein abgewischet, an welchem noch itzo die Spuren der Thraehnen sich zeigen. 91 Aber wozu die Thraenen? Was sollte das Weinen des Bildes bedeuten? fragt der Verfasser der Jubiläumsschrift, nachdem er den Nachweis für die Tatsächlichkeit des Tränenwunders erbracht zu haben glaubte. Die wunderbaren Tränen des Gnadenbildes hätten insbesondere eine Vermehrung des Eifers in den Frommen bewirkt. Dies könne zumal daran abgelesen werden, daß seit hundert Jahren bis itzo Maria in diesem Bildnisse, und Gott durch Maria von vielen tausenden noch uebrigen Christen mit wahrhaft brennender Andacht und kindlichem Vertrauen geehret wird. 92 Die Tränen seien auch ein Beweis für Marias immer noch anhaltenden Schutz. Zugleich aber wollte Gott die erkalteten Herzen zur Andacht entflammen, und die Anrufung, die Verehrung dieser himmlischen Schutzfrau allgemeiner 87 Ebd., fol. H 3r–v. 88 Gruendlicher Bericht ueber die im Jahre 1696 geflossenen Thraenen des Bildes der seligsten Jungfrau und Mutter Gottes Maria von Poetsch, das seit dem folgenden Jahre 1697 bey St. Stephan in Wien verehret wird. Herausgegeben bey Gelegenheit der hundertjaehrigen Feyer am 6ten Novemb. 1796, Wien 1796. 89 Ebd., S. 3. 90 Ebd., S. 4 f. 91 Ebd., S. 5 f. 92 Ebd., S. 10 f.
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machen, um auch die Wirkungen ihrer Fuerbitte und ihres Schutzes allgemeiner zu machen. Und dieses ist auch nach dem so herrlichen Wunder geschehen. Vor allem aber: Die Andacht gegen Maria lebte durch diese Wunderthraenen auf, das Vertrauen entflammte sich, Maria ward allgemein in Ungarn und Oesterreich als gnaedigste Fuersprecherinn angerufen, Gott von unzaehligen Menschen verherrlichet, und gebetten, und bald haben sich die traurigen Umstaende geaendert, bald hat sich nach langem Ungewitter endlich die Sonne gezeiget, es ist der unvergeßliche Sieg ueber die Tuerken bey Zenta, und wirklich auch das Ende der so blutigen, so anhaltenden Kriege mit vollkommener Ruhe und Frieden erfolget. 93
Das hundertjaehrige Angedenken jener wunderbaren und so wirksamen Thraenen richtete sich nicht mehr auf die dem Marienbild aus Poetsch innewohnende wundertätige Kraft. In der Sicht des Autors ergab sich die Wendung zum Guten aus der hingebungsvollen Andacht der Frommen, der Fürbitte Marias und dem Handeln des barmherzigen Gottes, der seine Gläubigen nicht im Stich lässt. Die Sprache der Quellen ist eindeutig: Maria, die im Himmel thronende Frau, wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht nur verehrt, um in seelischen Nöten eine Trösterin, in Krankheiten, Epidemien und politischen Krisen eine Helferin, im Endgericht eine Fürsprecherin bei Gott zu haben. Erwartet wurde von ihr auch, dass sie in Kriegszeiten ihren Verehrern beisteht und sich ihre Bilder als Medien hilfreicher Zuwendung bewähren. Erfüllten Marienbilder die an sie gerichteten Bitten und Erwartungen, empfingen sie eine neue Qualität. Sie wurden als Gnadenbilder verehrt, mit deren Hilfe in militärischen Konflikten gerechnet werden konnte.
Marianische Gnadenbilder als Heilsträger und Heilsvermittler: Probleme der Medialität Auch in der Verehrung religiöser Bilder zeichnet sich in der Kirche des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ab. Es waren drei Tendenzen und Konzepte, welche die Frömmigkeitstheologie und Frömmigkeitspraxis, soweit es um Bilder ging, nachhaltig prägten: Bilder belehren, erinnern und erbauen; Bilder bewähren sich als zeichenhafte Medien, die, indem sie himmlische Gnadenerweise vermitteln, Himmel und Erde miteinander ver93 Ebd., S. 12 f.
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binden; Bilder verdanken ihre Wunderkraft der Realpräsenz des jeweils dargestellten Heiligen. Die Überzeugung, dass gläubige Analphabeten aus der Betrachtung religiöser Bilder die für ihre Erlösung bedeutsamen Ereignisse und Geheimnisse der christlichen Heilsgeschichte lernen können, hatte Papst Gregor der Große zum Kernstück seiner Bilderlehre gemacht. Im Fortgang der Geschichte sind des Papstes Erwägungen über Bilder als litteratura laicorum immer wieder zitiert und als autoritative Norm zur Geltung gebracht worden. Das Konzil von Trient hat sie als Lehre der Kirche von neuem sanktioniert. Kirchliche Rechtgläubigkeit verlangte nach Bildern, die weder mit virtus noch mit divinitas ausgestattet waren. Autoren, die sich einer bis Papst Gregor zurückreichenden bildkritischen Tradition verpflichtet fühlten, haben die Bildergläubigkeit des einfachen Kirchenvolkes, das von Bildern Wunder erhoffte, immer wieder kritisiert und als Irrglauben verworfen. Die Wirkungsgeschichte der bis auf Papst Gregor zurückreichenden bildkritischen Tradition war eine Geschichte von langer Dauer. Dies zeigt unmissverständlich die Stellungnahme eines Benediktiners aus Oberalteich, der 1791 eine Kurze Beschreibung der in Niederbaiern gelegenen, berhmten Wallfahrt zu der wunderthtigen Mutter Gottes Maria auf dem Bogenberge veröffentlichte, um Wallfahrer über Normen theologisch korrekter Bilderverehrung aufzuklären. Die Meynungen von der Kraft eines Bildes selbst, so machte er geltend, sind nicht den Grundstzen unsers Glaubens angemessen, der uns belehrt, daß die Andacht nicht auf das Holz, nicht auf den Stein, sondern auf den Heiligen selbst, den das Bild vorstellet, und endlich besonders auf Gott den Geber alles Guten hinzielen soll, und daß nicht das Bild, sondern Gott durch die Frbitte seiner Heiligen in, oder bey diesem Bilde Wunder wirke.
Um seiner Auffassung größere Geltung zu verschaffen, zitiert der bildkritische Ordensmann den Kirchenrath zu Mainz der nachdrücklich mahnte, man solle die Einbildungskraft des Volkes von diesen kçrperlichen Zeichen zu hçheren Begriffen umstimmen, daß sie mit ihrem Vertrauen nicht blos bey dem Bilde stehen bleiben. Dem fügte er hinzu: Diesen thçrichten Wahn hat auch Babst Innozenz III. verworfen, nach welchem einige irrig glaubten, als wohne selbst der Geist der seligsten Mutter in einem Bilde, das der Pinsel des heiligen Lukas entworfen htte. Schließlich und nicht zuletzt: Die Bitten, die ein jeder an einem Gnadenort vortragen will, mssen den Regeln der Klugheit, und den chten Grundstzen des Christenthumes ange-
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messen seyn, so zwar, dass wir immer die Bedrfnisse unsers Leibes den Bedrfnissen und Angelegenheiten der Seele nachsetzen. 94 Weshalb Gnadenbildern keine wundertätige Kraft innewohnt, suchte der Seitenstettener Benediktiner Norbert Pamplicher in einer 1759 veröffentlichten Dissertatio theologico – dogmatica über die von seinem Stift betreute Dreifaltigkeitskirche zum Sonntagberg zu begründen. Der theologisch versierte Benediktiner schloss nicht aus, dass in Bildern oder bei Bildern Wunder geschehen. Wundertätig seien Bilder jedoch nicht als selbständige Träger übernatürlicher Kräfte. Es sei Gott selbst, der im Namen des jeweils verehrten Heiligen Wunder vollbringt. Kein Bild habe ,innere Kraft, Wunder zu wirken‘ (nulla intrinseca miracula efficiendi virtus), empfangen. Bilder seien nicht in der Lage, eine solche wunderwirkende Kraft ständig in sich zu speichern. Dies deshalb, weil eine solche wunderwirkende Kraft identisch sei mit Gottes Allmacht, die kein Geschöpf und kein materieller Gegenstand in sich fassen könne. Mit Bildern verhalte es sich wie mit heiligen Menschen. Die von heiligen Bildern und heiligen Menschen ausgehende Wunderkraft sei keine ihnen wesenhaft zukommende Qualität, sondern ein zeitlich begrenztes Zugeständnis Gottes.95 Die von Kunst- und Frömmigkeitshistorikern vielfach geäußerte Auffassung, dass die im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verehrten Heiligenbilder als Bilder zu gelten haben, die sich durch die Realpräsenz des jeweils dargestellten Heiligen auszeichnen, trifft für die praxis pietatis zu; das Zeugnis der Theologie und der kirchlichen Lehre hat ein solcher Bildbegriff nicht auf seiner Seite. Es ist nicht zu übersehen, dass seit dem Mittelalter Bilder in Formen, religiösen Überzeugungen und lebenspraktischen Erwartungen verehrt werden, welche „die Anwesenheit des Dargestellten vorauszusetzen“ scheinen.96 Das vom Kirchenvolk verehrte Sakralbild, so die generalisierende Auffassung eines anderen Autors, „war ein mit sakraler Kraft aufgeladenes Objekt, dem eine Per94 Kurze Beschreibung der in Niederbaiern gelegenen, berhmten Wallfahrt zu der wunderthtigen Mutter Gottes Maria auf dem Bogenberge auf wiederholtes Ansuchen andchtiger Pilgrimme, und mit Bewilligung der Obern von einem Priester des benachbarten Benediktinerstiftes Oberalteich zum Druck befçrdert, Straubing 1791, hrsg. von der Stadt Bogen, Bogen 1975 S. 104 – 107. 95 Vgl. dazu Christian Hecht, Katholische Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 1997, S. 141 f. 96 K. Kolb, „Gnadenbild“, in: Marienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, S. 658 – 662, hier S. 658.
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sönlichkeit innewohnte und das ein partizipierendes Verhältnis mit dem andächtigen Beschauer eingehen konnte“.97 Die Kirche habe sich im Westen „genauso ,bildnisgläubig’ wie im Osten“ verhalten; auch in der abendländischen Kirche unterstellte man eine „Realpräsenz der Kultperson ,in ihrem Bild‘“. Das Bild sei das „Sakrament der Frommen“ gewesen.98 Um der Vielfalt mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bilderverehrung gerecht zu werden, bedarf es der Unterscheidung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Bilderverehrung von damals auch und nicht zuletzt mit dem Bildungsgrad, dem Erwartungshorizont und der sozialen Zugehörigkeit der Bilderverehrer zu tun hat. Zeitgenössische Theologen, die sich an die Grundsätze kirchlicher Bildertheologie hielten, beharrten auf dem Symbol- und Verweischa97 Robert W. Scribner, „Vom Sakralbild zur sinnlichen Schau. Sinnliche Wahrnehmung und das Visuelle bei der Objektivierung des Frauenkörpers im 16. Jahrhundert“, in: ders., Religion und Kultur in Deutschland 1400 – 1800, Göttingen 2002, S. 147 – 176, hier S. 149. 98 So Arnold Angenendt, Geschichte der Religiositt im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 372 unter Berufung auf die ungedruckte Dissertation von Thomas Lentes über „Gebet und Gebärde“. Die Sakramentalität von Bildern hat Lentes neuerdings genauer zu erfassen und zu begründen versucht. „Was die Sakramententheologie“, so sein Argument, „für die Messe behauptet, die Herstellung der Präsenz des Heiligen auf dem Altar, beanspruchten Bilder wie Bildandacht in gleichem Maße“. Wie im Bild die „Präsenz des Heiligen“ zustande kommt, beschreibt er so: „Das materielle Bild wurde durch Wort, Blick und Gestus nicht nur verehrt, sondern geradezu auch geheiligt und konnte entsprechend in unterschiedlicher Absicht gebraucht werden. Pointiert formuliert: Bilder waren eben das Sakrament der Frommen – und der Blick und die Bildandacht waren ihre Liturgie“ (Thomas Lentes, „Soweit das Auge reicht. Sehrituale im Spätmittelalter“, in: Barbara Welzel/Thomas Lentes/Heike Schlie [Hrsg.], Das ,Goldene Wunder‘ in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildproduktion im Mittelalter, Bielefeld 2003 (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 2), S. 241 – 258, hier S. 255). Der Autor sagt nicht, ob er Sakrament als elaborierten Begriff der katholischen Dogmatik verstanden wissen will. Sollte dem so sein, bedarf, finde ich, sein kühner sakramententheologischer Zugriff einer quellengestützten Begründung. Versuche in dieser Richtung bringen jedoch Widersprüche zutage. Hält man sich an den sakramententheologischen Entwurf von Thomas Lentes, sind es die Worte, Blicke und Gesten der Bilderverehrer, denen ein Bild seine Heiligkeit verdankt. In einem Weiheformular aus dem Pontifikale des Guillelmus Durandus, das bei der Weihe eines Marienbildes Verwendung finden soll, heißt es: Der ewige Gott, der Schöpfer aller Dinge, möge das zu Ehren Marias angefertigte Bild „segnen und heiligen“ (benedicere et sanctificare) (Le pontifical Romain au moyen ge, Tome III: Le pontifical de Guillaume Durand, Città del Vaticano 1940, S. 526). In dem Weiheformular für die Weihe von Heiligenbildern begegnet dieselbe Formulierung (ebd., S. 527).
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rakter religiöser Bilder. Dieser bestand darin, dass Bilder die ihnen erwiesene Andacht auf das jeweilige himmlische Urbild lenkten. Theologisch ungebildete Laien hingegen, die von marianischen Gnadenbildern Hilfe und Trost erwarteten, neigten dazu, das Zeichenhafte dem Bezeichneten anzunähern und das Symbolische mit dem Symbolisierten gleichzusetzen. Das Sichtbare begriffen sie als Epiphanie des Unsichtbaren. In der bildhaft dargestellten Maria erblickten sie eine Erscheinungsform der im Bild gegenwärtigen Maria. Dies zu tun entsprach der Bildauffassung ostkirchlicher Theologen, die glaubten, dass auf Marienikonen Maria „durch das Bild“ hindurchscheine und jede Marienikone mit dem „Schatten“ ihres himmlischen Urbildes gleichzusetzen sei. Ihre Ikonentheologie schloss es nicht aus, „an eine Art Realpräsenz des Abgebildeten im Bild“ zu glauben.99 In ostkirchlichen Wunderikonen schien der „Unterschied zwischen dem Bild und dem Dargestellten aufgehoben; das Bild war der Dargestellte in Person, zumindest seine aktive, wunderwirkende Präsenz, wie es bis dahin die Reliquie des Heiligen gewesen war“. Als die „Grenzen zwischen Bild und Person fließend wurden“, nahmen Ikonen „personale Qualitäten“ an.100 Ein solcher Bildbegriff provozierte in der westlichen Kirche Widerspruch. Guillelmus Durandus, Bischof von Mende (um 1235 – 1296), befürchtete, übertriebene Bilderverehrung, die zwischen Darstellung und Dargestelltem nicht zu unterscheiden vermag, könne einfache und ungebildete Menschen (simplices et infirmi) leicht zur Idolatrie verführen.101 Deshalb betonte er nachdrücklich: Wir beten Bilder nicht an; wir nennen sie weder Götter, noch setzen wir auf sie die Hoffnung unseres Heils (spes salutis); wir verehren sie vielmehr zum Gedächtnis und zur Erinnerung an heilsgeschichtliche Tatsachen früherer Zeiten (ad memoriam et recordationem rerum olim gestarum). Wer sich vor einem Christusbild verneigt, um es zu ehren, soll nicht das Bild anbeten, sondern den, den es bezeichnet.102 Von Gnadenbildern wundertätige 99 Joseph Kardinal Ratzinger, Der Geist der Liturgie. Eine Einfhrung, Freiburg/Br. [u.a.] 2002, S. 103. 100 Belting, Bild und Kult (Anm. 9), S. 60 f. 101 Guillelmi Dvranti rationale divinorum officiorum I–IV, hrsg. von A. Davril und T. M. Thibodeau, Turnhout 1995 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeuallis CXL), S. 36. 102 Ebd., S. 35. Ein spätmittelhochdeutscher Übersetzer übersetzte den lateinischen Text folgendermaßen: Aber wir petten nicht di pilde an oder haizzen sy nicht gçtte[r] noch enseczen in die hoffnung unserz hailes, wann daz waer abgot anepetten, aber czw gedechnuzz und gedenkchung der dinge, die vor geschehen sein, eren [wir] die
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Hilfen zu erwarten, kritisierten Reformtheologen des 15. Jahrhunderts als „Rückfall in idolatrische Kultpraktiken“.103 Die in Prag tätigen Nikolaus von Dresden († nach 1417) und Jakobus von Mies († 1429), desgleichen Bernardin von Siena († 1444) waren derselben Auffassung. Durch Erfahrung klüger geworden, waren sie sich darüber einig, „dass einigen Bildern in Kirchen des Abendlandes zwar Wunderkraft zugeschrieben wird, dies aber entweder auf Irrtümern oder abergläubischen Auffassungen der Laien beruhe“.104 Angeblich mirakulöse Bilder und Statuen würden bilderverehrende Christen leicht zum Aberglauben verleiten.105 „Idolatrie war ein ständiges Problem für die Theologie: Man erkannte klar, dass einfache Menschen das Bild der Gottheit oder der Heiligkeit leicht mit der Gottheit oder Heiligkeit selbst verwechseln und es anbeten konnten“.106 Nikolaus von Kues wandte sich nicht nur gegen die Verehrung der Wilsnacker Bluthostien, er verbot auch die Verehrung von Heiligenbildern, von denen der vulgus glaubt, sie seien im Besitz einer übernatürlichen Kraft, die sie zu außergewöhnlicher Wundertätigkeit befähige. Als er 1452 in Haarlem öffentlich predigte, sprach er sich gegen Wallfahrten nach jenen Orten aus, an denen „ein Bild der seligen Jungfrau so verehrt wird, als ob ihm eine gewisse göttliche oder übernatürliche, hilfebringende Kraft innewohne“.107 Der Frankfurter Kaplan Johannes Wolff hielt es in seinem 1478 veröffentlichten Beichtbüchlein für Abgötterei, einem Bild ,mehr Gnade‘ (mee
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selben pilde. Wenn du dich vor einem Christusbild verneigst, sollst du nicht daz pilde anbetten, sunder den, den ez beczaichent (G. H. Buijssen, Durandus’ Rationale in sptmittelhochdeutscher bersetzung. Die Bcher I–III nach der Hs. CVP 2765, Assen 1974, S. 43). Schnitzler, Ikonoklasmus (Anm. 8), S. 56. Norbert Schnitzler, „Illusion, Täuschung und schöner Schein. Probleme der Bilderverehrung im späten Mittelalter. Schaufrömmigkeit – ein Missverständnis“, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Frçmmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, kçrperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 221 – 242, hier S. 232. Vgl. auch ebd. S. 227 – 230 („Der Begriff der ,Realpräsenz‘ und die spätmittelalterliche Kritik am Bilderglauben“). Ebd., S. 233. Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1987, S. 56. Nikolaus Staubach, „Signa utilia – signa inutilia. Zur Theorie gesellschaftlicher und religiöser Symbolik bei Augustinus und im Mittelalter“, in: Frhmittelalterliche Studien, 36/2002, S. 19 – 50, hier S. 43. Vgl. dazu auch ders., „,Cusani laudes‘. Nikolaus von Kues und die Devotio moderna im spätmittelalterlichen Reformdiskurs“, in: Frhmittelalterliche Studien, 34/2000, S. 281 – 295.
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gnade) als einem anderen zuzuschreiben, weil es ,innere Gewalt oder göttliche Kraft‘ (ynnerlich gewalt ader gottheyt) besitze.108 Wolff, der es ablehnte, Heiligenbildern unterschiedliche Grade der von ihnen erhofften Gnadenvermittlung zuzubilligen, war kein Einzelgänger. Richard Fritzralph, seit 1346 Erzbischof von Armagh, kritisierte in einer 1356 gehaltenen Predigt die übertriebene Frömmigkeit, die bestimmten Marienbildern an bestimmten Orten erwiesen wird. Es sei nicht einzusehen, so sein Argument, dass Maria in einem bestimmten Bild und in einer bestimmten Kirche gegenwärtiger sei als in einem anderen Bild und in einer anderen Kirche.109 Radikal denkende Reformer, die im Geist des Evangeliums die Kirche erneuern wollten, waren derselben Auffassung. Zu glauben, dass Bildern ,etwas Göttliches‘ (aliquid numinis) innewohne, bezeichnete, wie bereits erwähnt, Johannes Wyclif (um 1330 – 1384) als blanke Ideologie. Von Menschen gemachte Bilder, betonte Nikolaus von Dresden, ein Kirchenreformer aus der Umgebung des Johannes Hus, seien nicht mit ,irgendeiner Kraft‘ (aliqua virtus) ausgestattet.110 Der Verfasser eines Beichtspiegels, der 1475 unter dem Titel Der spiegel des sunders im Druck erschien, hielt es für eine sunde der abgoeterei, wenn Verehrer von Bildern glauben, das die bildnuss ettwas goettlich kraft, tugend oder hilff hette. 111 Christen, schrieb Georg Polster, der 1465 in der Benediktinerabrei Andechs Profess abgelegt hatte, würden sich der Anbetung ohnmächtiger Götzenbilder schuldig machen, wenn sie mer eren ain hubsches bild oder vergoldes dan dann ein schlechtes vnd mainend es hab ains mer krafft oder sey heiliger das dann das ander darumbe das es hubscher oder kostlicher ist. 112 Kritik kam auch von Seiten der Humanisten. Diese beklagten, dass das unwissende Volk zwischen Ur- und Abbild nicht zu unterscheiden wisse und Bilder für ,etwas Göttliches‘ (divinum aliquid) halte.113 108 Thomas Lentes, „Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters“, in: Schreiner (Hrsg.), Frçmmigkeit im Mittelalter (Anm. 104), S. 179 – 220, hier S. 211. 109 Michael Camille, The Gothic Idol. Ideology and Image-Making in Medieval Art, Cambridge 1995, S. 230. 110 Schnitzler, „Von der Fragwürdigkeit“ (Anm. 24), S. 452, Anm. 15. 111 Zitiert nach Michael Baxandall, The Limewood Sculptures of Renaissance Germany, New Haven 1980, S. 54. 112 Cgm 1004, fol. 52v. Vgl. Karin Baumann, Aberglaube fr Laien. Zu Programmatik und berlieferung spttmittelalterlicher Superstitionenkritik, Würzburg 1987, S. 458. 113 Baxandall, Giotto and the Orators (Anm. 27), S. 61, Anm. 21.
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In der Bildpropaganda der Gegenreformation verflüssigten sich die Grenzen zwischen zeichenhafter Symbolik und realer Präsenz. Es waren insbesondere mariologische Mirakelberichte und Erbauungsschriften, die auf geschärfte theologische Differenzierungen verzichteten und in ihren Beschreibungen von marianischen Gnadenbildern den Eindruck erweckten, dass die erbetene Gnadenhilfe unmittelbar von den jeweiligen Bildern ausgehe. Eine 1703 in Wien gedruckte Schrift zu Ehren des 1697 von Pötsch nach Wien übertragenen Marienbildes trug den Titel: Heylsamer Gnaden-Brunn in dem Wunderthaetigen Bild der weinenden Mutter Gottes von Poetsch. 114 Die Tränen des Gnaden-Bildes werden als uebernatuerlich auß denen Augen abgestossene Zaeher charakterisiert. Wien galt als der von Maria erwählte Gnaden-Sitz, an dem Maria als SchutzFrau der Stadt ihren Gnaden-Glantz erstrahlen lässt. Ihr wundervoller Gnaden-Thau sei in diesem Bild gleich als die feineste Perl in ein[er] Muschl zusamb gefast mit welcher dise Wunderthaetige Jungfraeuliche Gottes-Mutter durch die Krafft deß Allerhoechsten die Schaetz ihrer mildreichen Barmhertzigkeit unter betrangte und Huelff-seufftzende Hertzen freygebigst austheilet. Durch die Tränen des weinenden Bildes aus Pötsch sei der erzürnte Gott versöhnt und das schaedliche Brunst-Feuer einer feindlichen Auffruhr und Untreu / welches dem gantzen Land Oesterreich schaedlichste Verwuestung angedrohet, ausgelöscht worden. Der Abstand zwischen dogmatisch korrekter Bildtheologie und volksfrommer Bilderverehrung war beträchtlich. In der lehramtlichen Dogmatik der Kirche hatte das wundertätige Gnadenbild keinen Platz. Die Trienter Konzilsväter hatten ihm jedwede theologische Legitimiät abgesprochen. Theologen, die das Besondere des Gnadenbildes auf einen theologisch vertretbaren Begriff bringen wollten, begaben sich auf eine schwierige Gratwanderung zwischen Bildvorstellungen, die an der Wundertätigkeit von Gnadenbildern festhielten, und einem Bildbegriff, für den nur eine solche Bilderverehrung theologisch begründbar war, die auf dem Symbolcharakter von Bildern beharrte. Im Blickfeld von Predigern an marianischen Wallfahrtsorten waren Gnadenbilder Marias keine leblosen materiellen Gebilde, sondern Gegenstände der Verehrung, denen himmlische Kraft innewohnt. Ein Rottweiler Dominikaner glaubte von einer in Rottweil als Gnadenmadonna verehrten Maria sagen zu können, dass deren Augenwende im Jahre 1643 in dieser hçl114 Heylsamer Gnaden-Brunn In den [sic] Wunderthaetigen Bild der weinenden Mutter Gottes von Poetsch Jn St. Stephans Dom-Kirchen zu Wienn, Wienn 1703; ebd. im unpaginierten Vorwort die folgenden Zitate.
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zernen Statuen von innhabender Himmlischer Krafft geschehen seye. 115 Auch anderwärts führten Wallfahrtsseelsorger die erstaunlichen Wunder marianischer Liebe auf Gnadenbilder zurück, die von himmlischer Krafft beseelt waren. In wunderwirkenden Gnadenbildern Marias, so ihre in öffentlichen Predigten bekundete Überzeugung, sei eine verborgene Krafft Gottes am Werke.116 Noch beim Jubelfest zu Maria Major (Maria Schnee) in Schießen (Bistum Augsburg) versicherte der Festprediger, Marias Wunderkraft sei niemals erstorben, sondern lebt noch immer in ihren auch leblosen Bildern. Aus ihrer bezaubernden Gesichtsbildung spreche eine geheime, und nennbare Kraft […], die ihr nicht der Pinsel des Mahlers, sondern nur ein hçherer Geist geben konnte. Fürwahr: Große Wunderdinge habe sie in ihrem Bildnisse gewirkt.117 Andere Prediger deuteten marianische Gnadenbilder als sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Gnade, die dem Bild innewohne. In einer 1724 in München gehaltenen Predigt bezeichnete der Kapuziner Jordan von Wasserburg das in dem Münchener Augustinerkloster verehrte Mariengnadenbild als ein sacramentum mulieris, als segenspendendes Gnadengeschenk der hohen Frau. Das Gnadenbild, dem der Prediger einen quasisakramentalen Charakter zuerkennt, lasse sich mit dem heiligsten Altarsakrament vergleichen, sei aber nicht mit ihm gleichzusetzen. Maria sei in ihren heiligen und miraculosen Bildtnissen nicht vere, realiter und substantialiter gegenwärtig, sondern nur virtualiter, mit wunderwrckender Krafft. 118 Die problemlösende Formel lautete: keine Realpräsenz der himmlischen Frau, sondern nur ,virtuelle‘ Gegenwart ihrer wunderwirkenden Kraft und Gnade. Auch ein solcher Bildbegriff, der Bilder als Kraft- und Gnadenspeicher definierte, war durch das Trienter Bilderdekret nicht gedeckt. Hält man sich an den Wortgebrauch, mit dem Prediger an Wallfahrtsorten Pilgern die Wundertätigkeit von Gnadenbildern verständlich zu machen suchten, bietet sich weder der Begriff Realpräsenz noch der Begriff Sakrament an, um sachlich angemessen wiederzugeben, was auf Rechtgläubigkeit bedachte Prädikanten in ihren Deutungsangeboten öffentlich zur Sprache brachten. Wunder, die sie ursächlich auf Gnad115 Georg Henkel, Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts, Weimar 2004, S. 73. 116 Ebd., S. 74. 117 Ebd., S. 74, Anm. 307 f. 118 Ebd., S. 84.
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enbilder zurückführten, beschrieben sie als komplexe Vorgänge. Deren Komplexität wird erheblich verkürzt, wenn man ihre Wundertätigkeit nur mit der Sakramentalität des Gnadenbildes oder mit dem in diesem real präsenten Heiligen in einen ursächlichen Zusammenhang bringt. Am Beispiel von Predigten des Kapuziners Prokop von Templin, der in Maria-Hilf ob Passau Wallfahrer seelsorgerlich betreute, und des Rottenbucher Prämonstratensers Anselm Manhardt, der in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts auf dem Hohenpeißenberg Pilgern predigte, möchte ich das Gemeinte verdeutlichen. Die Gut- und Wundertaten, die sich vor dem Passauer Gnadenbild Maria-Hilf ereigneten, kamen nach Ansicht Prokops von Templin durch das Zusammenwirken von drei Faktoren zustande: durch Gottes Guete und Allmacht, durch die allvermçgende Fuerbitt der Hochgebenedeyten Gebaererin Christi Mariae und durch die Mittlertätigkeit ihres weitberuehmten Bildnus auff dem Berg ob Paßaw / Mariae Huelff genandt. 119 Marias Anteil am Wunderwirken des Passauer Gnadenbildes begründete er so: Jesus habe die Apostel befähigt, Zeichen und Wunder zu wirken. Deshalb seine rhetorische Frage: wie solte ers seiner allerliebsten Mutter versagen? 120 Wende man, um die Wundertätigkeit des Gnadenbildes Maria-Hilf in Frage zu stellen, ein, dass sich die biblischen Perikopen auf lebendige wundertätige Personen beziehen, nicht auf leblose, unempfindliche Bilder, so antworte ich, ,dass der Stab Moysis / deßgleichen seine metallene Schlang / Aarons Ruhten / Elisaei Stecken / Pauli SchweißTuch / Petri Schatten / der Saum des Kleids Christi auch nichts lebendiges waren; vnd dennoch was Gottes Allmacht mittels deren fuer uebernatuerliche Wunder gewuercket habe / ist in der unumstoeßlichen H[eiligen]. Schrift bekannt‘. 121 119 Procopius, Mariae Hlff ob Passaw Gnaden – Lust – Garten, Passaw 1661, Titelblatt; ebd., S. 453. 120 Ebd., Vorred, fol. A Vv. 121 Ebd. Vgl. auch Procopius, Mariale (Anm. 21), Erster Theil: Mariale Festivale, S. 203: Sollte sich bei einem Gnaden-Bildt vnser L. Frawen ein Wunder ereignen und dein Verstand will fuerwitziglich drueber herumb kluegeln, wo denn die Kraft herkomme, die ein aus Holz und Stein bestehendes Marienbild befähige, Wunder zu wirken, so befriedige ihn mit der Allmacht Gottes / der thut solches alles seiner Lieben Mutter zu Ehren / dero Bildnuß es ist ! war doch der Stab Moysis auch nur von Holtz / vnd dennoch thate er solche vnerhoerte Wunder in Egypten / wie bekand; War doch der Felsen in der Wuesten auch nur Stein / vnd dennoch gabe er einen solchen Wasser-Bach / dass das durstleydende Volck Israel sambt allen ihrem Vieh gnug zu trincken hatten! War doch die Schlang Moysis auch nur von Metall / vnd dennoch gabe sie die Gesundheit all denen / die sie nur anschaueten […]“.
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Im Neuen Bund habe Gott mittels der Heiligen Bildnussen [Marias] in Loreto und Einsiedeln, in Mariazell und Altötting Wunder gewirkt. Sowohl Gott als auch Maria hätten sich der Bilder als Mittel bedient, um ihren frommen Bittstellern durch Wunder zu helfen. In einer Predigt über die Verehrung von Marienbildern erläutert Prokop von Templin noch eingehender das Wunderwirken marianischer Gnadenbilder. Er hielt es für theologisch rechtens und der heiligen Schrifft gantz gemeß, dass das rechtglaubige Volck in so wol gemeinen als besondern Noethen vnnd Anligen fruchtbarlich vnd heilsam seine Zuflucht zu etwan einem vnserer lieben Frawen Gnaden-Bild nimt / alldorten Huelff vnd Beystand / Errettung vnd Erledigung zu suchen.122 Denn, so fährt er fort, wer sihet nicht was fuer Wunder geschehen hin und wieder bey den Gnaden-Bildern Mariae / was fuer Gutthaten die Leuth dort nicht erlangen? Gehe einer hin nach Passau / Alten Oetting / Maria Cell / Einsidel / Loreto / vnd erkuendige sich mit vnpartheyschem Hertzen / da wird ers finden. 123
Der predigende und seelsorgerlich tätige Kapuziner bestärkte Wallfahrer in dem Glauben, dass Maria fähig sei, durch ein Wunder ihre Erwartungen zu erfüllen. Eigentlich, macht Prokop von Templin geltend, hätte Gott der Fürsprache Marias und der Mittlerdienste von Bildern nicht bedurft, um durch Wunder dem Volk in seinen Nöten zu helfen. Seine Allmacht hätte ihm die Möglichkeit gegeben, alleiniger Souverän seines helfenden Handelns zu bleiben. Gott wollte es aber anders. Um des so wol zeitlichen als ewigen Heyls wegen habe er Mittel verordnet, deren er sich bedient, um Menschen in ihren Nöten beizustehen.124 Er wollte, so führt er aus, den Menschen durch keine andere Mittel zu Huelff kommen als diejenigen, die als Figuren vnd lebendige Contrafeh vnsere L[iebe] Fraw repraesentieren. 125 Prokop von Templin suchte seinen Hörern und Lesern verständlich zu machen: Marianische Gnadenbilder bewähren sich als kommunikative Instanzen. Sie bahnen Wege zu Maria und über Maria zu Gott selber. Gott bedient sich der Bilder als Medien seiner wunderwirkenden Gnadenmitteilung. Prokop von Templin drückt diese Wechselbeziehung folgendermaßen aus: Die Andacht, die das rechtgläubige Volk in seinen Nöten Gnadenbildern erweist, richtet sich auf unsere Lieben Frawen selbst … / die man nicht sihet, die aber durch ihre 122 123 124 125
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 199. S. 200. S. 203. S. 200.
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Fürbitte den allmächtigen Gott dahin zu bringen vermag, daß Er das Nothleidende Volck desto ehender erhoeret! 126 Insofern suchen rechtgläubige Christen in ihren Nöten keine Huelff beym Holtz / Stein / Mahlerey / sondern mittels deß Bilds nemmen wir vnsere Zuflucht zu vnsere[n] Fraw selbsten / mittels ihrer zu Christum / mittels Christi zu Gott. 127 Gott bedient sich seinerseits wiederum der Bilder, um in die Tat umzusetzen, worum ihn Maria als Interessenvertreterin ihrer Verehrer gebeten hat. Christen, betont Prokop von Templin nachdrücklich, sind gescheit genug, um zu wissen, dass das Holtz / der Stein / die Farben / die Materia vnd Form deß Bilds die Krafft nicht haben, aus sich selber solches zu wuercken / sondern Gottes Allmacht thut es mittels deß Bilds seiner Mutter zu Ehren! 128 Der Rottenbucher Regularkanoniker Anselm Manhardt rühmte Maria als die liebreichste Schatzmeisterin und Ausspenderin der zeitlich- und geistlichen Gnaden-Gaben. Er tat dies in einer Predigt, die er auf dem Hohenpeißenberg (bei Weilhelm) vor Pilgern gehalten hatte und die dann 1739 im Druck erschien.129 Gegenstand seiner Predigt war die wunderbahrliche Mutter, deren Bild in der Peißenberger Gnadenkapelle aller Welt kundtut, dass du [Maria] in deinen Gnaden-Bildern, die wider alle Natur lauffende erstaunlichste Wuerckungen durch deine Gnaden-reiche Assistenz hervor bringest. In seinem Lobpreis fortfahrend beteuert er: Wer wird sich nicht darüber wundern, dass du Kranke nach vergebens gebrauchten natuerlichen Mittel unverzueglich heilest? 130 Um seinen Hörern verständlich zu machen, was die Verehrung von Heiligenbildern rechtfertigt, nennt er, der traditionellen Bildertheologie folgend, drei Ursachen: Verehrung (cultus), Nachfolge (imitatio) und unseren eigenen Nutzen (utilitas nostra). Durch die Ehre, die wir Gnadenbildern erweisen, würden die Heiligen Gottes gleichsam gezwungen / uns mehrer Gutes zu thun / an jenen Orten / und Bildern / wo wir sie mehrer verehren. 131 Auf die Frage, ob die Miracul / Wunder-Ding / oder Gutthaten / so bey denen Gnaden-Bildern geschehen, von denen Bildern selbst, oder von wem und 126 127 128 129
Ebd. Ebd., S. 203. Ebd. Anselm Manhardt, Ehrenreiche Sitten-Reden / Sitten-reiche Ehren-Reden / Das ist Predigen Auf alle Vornehmste Fest-Taeg des Herrn, Teil 4: Marianische Lob- und Ehren-Predigen. Auf alle Vornehmste Fest der allerseligist-uebergebenedeyten Jungfrauen und Mutter Gottes Mariae, Augsburg 1739, S. 96. 130 Ebd., S. 97. 131 Ebd., S. 98.
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wie sie gewuercket werden 132, gibt er folgende Antwort: von Gott allein. Wenn bei einem Gnadenbild ein Wunder geschieht, dann kommt solches nicht her von eigentlicher Kraft Mariae, noch vil weniger von dem leblosen Bild, sondern von Gott und dessen allmoegenden Mitwuerkung, so er Mariae seiner lieben Mutter zu Ehr in diesem oder jenem Bild darreichet. Die Frage, warum Gott Mariae an disem oder jenem Ort, bey disem oder jenem Bild mehrer als bey einem anderen die Krafft beyleget, nicht nur Guthtaten / sondern auch recht miraculose Wuerckungen hervor zu bringen; oder warum Maria selbst diß oder jenes [sic] Ort, dise oder jene ihro Bildnuß mehrer als eine andere mit ihrer Gnadenreichen Assistenz und Special-wuerckenden Beystand wuerdige,
lasse sich schlechterdings nicht beantworten. Zu entscheiden, an welchem Ort und durch welche Bilder Maria ihren Verehrern und Bittstellern in besonderer Weise Gnaden mitteilen wolle, stehe in ihrer freyen Willkuehr. 133 Die Frage, ob das Gnadenbild auf dem Hohenpeißenberg als echtes miraculöses Gnadenbild gelten könne, beantwortete er so: Auf Grund der zahleichen Wunder, die auf dem Hohenpeißenberg geschehen seien, müsse auch das dortige Gnadenbild fr ein wahrhafft wunderthaetig oder miraculoses Bild betrachtet werden, bei dem durch die Vorbitt und Beystand Mariae solche Sachen geschehen, so wider und ueber alle Moeglichkeit der Naturs-Kraefften seyn. Sowohl bey als auch durch dises Peissenbergische Gnaden Bild sei nicht nur ein, es seien sehr viele Wunder geschehen.134 Im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach der Medialität marianischer Gnadenbilder bleibt Folgendes festzuhalten: Beide Autoren, sowohl Prokop von Templin als auch Anselm Manhardt, schildern die durch Gnadenbilder gewirkten Wunder als komplexe Vorgänge. Sie schreiben Gnadenbildern weder sakramentalen Charakter zu, noch rechnen sie mit der Möglichkeit, dass Maria als handelnde Person in ihren Gnadenbildern gegenwärtig sei. Bilder erfüllten Mittlerdienste zwischen Himmel und Erde. Sie taten dies dann, wenn sich Gott entschieden hatte, Marias Fürbitten zu erfüllen. Gottes Handeln gab, wenn es um wundertätige Hilfen ging, Maria Raum für Beystand und Gnaden-Assistenz. Der Medialität marianischer Gnadenbilder entspricht Marias Bedeutung als Mittlerin (mediatrix) zwischen Gott und den Menschen. Marias Rolle als Mittlerin göttlicher Gnaden beschrieb Bernhard von 132 Ebd. 133 Ebd., S. 99. 134 Ebd., S. 102.
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Clairvaux mit der Metapher des Aquäduktes, der – auf Maria bezogen – Himmel und Erde miteinander verbindet. Als Mittlerin ist Maria nicht Quelle des Heils; sie ist nur dessen Mittlerin, die – gleich einem Aquädukt – weiterleitet, was sie auf Grund ihrer Fürbitte von Gott empfangen hat.135 Im geistlichen Leib der Kirche, beteuerte der Franziskaner Sabinianus Fritsch in seinem 1737 veröffentlichen Mariale Symbolicum, bildet Christus das Haupt, Maria den Hals, durch welchen Christus seine gçttlichen Gnaden den Gliedern der Kirche mitteilt. Als Medium der Mitteilung bediene sich Maria, die Mutter der gçttlichen Gnaden, des Rosenkranzes. Durch den Rosenkrantz wird denen rechtmaessig Bittenden der Ueberfluß der Gnaden durch die Voelle [Fülle] des Heil. Geists mitgetheilet. Der Rosenkrantz ist absonderlich ein Wasser-Rçhren / durch welche uns die Gnaden zufliessen. 136 Demnach ist der Rosenkranz kein Gnadenspeicher. Seine Funktion als Medium der Gnadenmitteilung ist mit einer Röhre vergleichbar, durch welche Gnadenströme fließen. Dies trifft auch auf marianische Gnadenbilder zu, von denen gleichfalls gesagt werden konnte, dass durch sie den Verehrern Mariens Gnaden zufließen. Die vermittelnde Wirkung marianischer Gnadenbilder nahm in Kirchen bildhafte Gestalt an. Das 1751 angefertigte Langhausfresko in der benediktinischen Abteikirche von Zwiefalten zeigt eine auf Wolken thronende Maria, die „schräg hinunter auf das von vielen Engeln entrollte Gnadenbild von San Benedetto in Piscinula zu Rom“ weist. „Parallel geht ein lichter Strahl von Marias Herz aus und trifft auf das Kreuz auf der Brust des Mariengnadenbildes. Dort wird er im bekannten Winkel zu etwa 120 Grad schräg nach rechts unten reflektiert auf das Herz des im Bildmittelpunkt auf seiner Wolke stehenden Benedikt.“137
135 Bernhard von Clairvaux, Sermo in nativitate beatae Mariae: De aquaeductu, in: Gerhard B. Winkler (Hrsg.), Bernhard von Clairvaux, Smtliche Werke lateinisch/ deutsch, Bd. VIII, Innsbruck 1997, S. 620 – 647. 136 Sabinianus Fritsch, Mariale Symbolicum, Das ist: Marianische Lob-Reden Unter allerhand auserlesenen Sinnbilderen und schoenen Figuren eingefuehret / und eingerichtet Auf die Fest Taeg Der allerseligisten und uebergebenedeytisten Jungfrauen und Mutter Gottes Maria, Ingolstadt 1737, S. 402. 137 Raimund Kolb, Franz Joseph Spiegler 1691 – 1757. Erzhltes Lebensbild und wissenschaftliche Monographie, Bergatreute 1991, S. 450 f.
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Siegbringende Marienbilder als Paradigmen religiöser Kommunikation Was hatte Maria im Medium ihrer Bilder, von denen kriegsentscheidende Hilfen erwartet wurden, ihren Verehrern mitzuteilen? Worin bestand das Besondere und Unverwechselbare der als siegbringende Kommunikationsmedien definierten Gnadenbilder Marias, deren sich die Gottesmutter bediente, um als Maria victrix ihren Schutzbefohlenen, Liebhabern und Verehrern in kriegerischen Auseinandersetzungen beizustehen? Die hier rekonstruierten Beispiele eines Bildgebrauchs, der von Bildern die Vermittlung außeralltäglicher Hilfen erwartet, bringen Sichtweisen, Erfahrungen und Sachverhalte in den Blick, die zeigen, welche Funktionen Bildern in Systemen religiöser, gesellschaftlicher und politisch-militärischer Kommunikation zukommen. Die hier behandelten Marienbilder sind nicht vergleichbar mit der Kommunikation zwischen zwei Partnern, die als körperlich anwesende Gesprächspartner Informationen austauschen. Ein damit vergleichbarer Austausch von Informationen findet auf dem Feld der Religion dann statt, wenn der himmlische Gesprächspartner durch Privatoffenbarungen seine Intentionen zu erkennen gibt. Von Maria mit Privatoffenbarungen bedacht wurde angeblich Kaiser Ferdinand II., als er im November 1632 in seinem Privatoratorium „vor unserem Gnadenbilde“ innig „zu Gott und Maria um Hilfe rief“. Da soll „die Himmelskönigin aus dem Bild die trostvolle Versicherung“ gegeben haben: „Ich werde das Haus Österreich allezeit mit meiner Fürbitte beschützen und seine Macht und Majestät erhalten und erheben, solange es in Gottseligkeit und Andacht zu mir verharren wird“. Dieser Zusage soll sie hinzugefügt haben: „Siehe, der König von Schweden, der ärgste Feind der katholischen Kirche und des Hauses Österreich wird von den Kaiserlichen getötet“. Die Wahrheit dieser Offenbarung habe sich bald darauf bestätigt. Der schwedische König Gustav Adolf sei bald danach in der Schlacht von Lützen am 16. November 1634 gefallen. „Als dann später ein gewisser Fürst eine Verschwörung gegen den Kaiser angezettelt hatte, war es wieder die seligste Jungfrau, welche den Kaiser aus diesem Gnadenbilde warnte.“138 138 Maria, sterreichs Schutzfrau. Geschichte des Gnadenbildes ,Unserer Lieben Frau mit dem geneigten Haupte‘ in der Kirche der Karmeliten in Wien-Dçbling, Wien 1914, S. 14 f.
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Die hier vorgestellten siegbringenden marianischen Gnadenbilder dokumentieren keine Kommunikationsvorgänge zwischen zwei körperlich anwesenden Gesprächspartnern, die nach dem Face-to-FaceModell Erkenntnisse und Erfahrungen austauschen; als Medien der Kommunikation ermöglichen sie Verbindungen zwischen auf Erden lebenden Christenmenschen und der im Himmel thronenden Maria. Als Medien der Kommunikation waren Gnadenbilder gleichermaßen in ein religiöses Symbolsystem und in die göttliche Heils- und Handlungsordnung eingebunden. Das kommunikative Potential von Gnadenbildern erschöpfte sich nicht in sinngebenden Heilsangeboten. Mitzuteilen vermochten Gnadenbilder auch lebenspraktische Hilfen und Gnaden, die auf wunderbare Weise bewirkten, was hilfesuchende Christen von Heiligen, die sie verehrten, insbesondere von Maria, inständig erfleht hatten. Ging es um kriegerische Hilfen, bedachte Maria ihre Verehrer mit Helden-Blut und Helden-Muth, mit Kraft und Tapferkeit 139 ; den Feinden der für den wahren Glauben Kämpfenden jagte sie Furcht und Schrecken ein. Als kommunikative Instanzen gaben marianische Gnadenbilder hilfesuchenden Bittstellern die Möglichkeit, Maria mit ihren geistlichen und materiellen Sorgen vertraut zu machen. Maria hingegen bediente sich der Gnadenbilder als Mittel, um ihren Verehrern durch eben diese Bilder Gnade und wundertätige Hilfen mitzuteilen, die sie im Interesse ihrer Verehrer von Gott erbeten hatte. Gnadenbilder ermöglichten wechselseitige Kommunikation. Dass Marienbilder überhaupt als Gnadenbilder verehrt wurden, setzte voraus, dass sie Wunder gewirkt hatten. Martin Luther, auf den der Begriff ,Gnadenbild‘ zurückgeht, hatte diesem eine spirituelle Bedeutung gegeben. In der bildhaften Sprache und Begrifflichkeit Martin Luthers erfüllte ,Gnadenbild‘ die Bedeutung einer Metapher, die Bezüge zum handgreiflichen Wunder ausblendete. Der Gnade Bild sollte nämlich zum Ausdruck bringen, dass das wahre Gnadenbild Christus am Kreuz ist, der die Sünden der Menschen trägt und tilgt. Dieses Gnadenbild, so legt er dar, sollen Christen in sich hinein bilden und vor Augen haben. 140 Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren sprachen von imagines miraculosae oder imagines thaumaturgae, um unmissverständlich beim Namen zu nennen, was solche Bilder auszeichnet: die 139 Siehe diesen Beitrag S. 868. 140 Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling (Hrsg.), Martin Luther. Ausgewhlte Schriften, Bd. 2, Frankfurt/M. 1990, S. 22. Vgl. Lentes, „Soweit das Auge reicht“ (Anm. 98), S. 241.
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Kraft, Wunder zu wirken. In der barocken Erbauungsliteratur begegnet ,Gnadenbild‘ als gängiger Begriff, der in der Regel durch wunderthaetig präzisiert wird. Der Kult von Gnadenbildern beruhte auf dem Glauben an deren Wundertätigkeit, die im Gedächtnis der Glaubenden gespeichert und überliefert wurde. Der Umgang mit solchen Bildern ist ein Beleg dafür, dass „für religiöse Kommunikation“ die „Frage des Gedächtnisses zentral“ ist.141 Leibhaftig erfahrene und im Gedächtnis festgehaltene sowie in Bildern dargestellte Wunder wirkten kult- und wallfahrtsbildend. Kult und Wallfahrt waren Angelegenheiten von Gruppen, Gemeinschaften und Gemeinden, deren Mitglieder untereinander sowie mit Gott, Maria und einem Heiligen ihrer Wahl kommunizierten. Solche Rituale kamen zustande und wurden gepflegt, weil hilfesuchende Christen auf Bilder vertrauten, deren Wunderkraft gedruckte Berichte und mündlich weitergegebene Informationen publik machten. Der Gedächtnispflege dienten öffentlich begangene Jubiläen, welche an die Wundertätigkeit von Gnadenbildern erinnerten. Um Bitten und Erwartungen an Bilder, an Marienbilder zumal, als sinnvoll und erfolgversprechend erscheinen zu lassen, mussten Geschichten erzählt, verschriftlicht und gedruckt werden. Bilder, von denen in gesellschaftlichen und militärischen Krisensituationen lebenspraktische Hilfen erwartet wurden, blieben eingebettet und eingebunden in epochenübergreifende literarische Überlieferungs- und Kommunikationszusammenhänge. Kommunikativ wirkten Gnadenbilder auch dadurch, dass sie Kirchen, in denen sie verehrt wurden, zu ,Gnadenorten‘ machten. In solchen Kirchen, so der Glaube der Frommen, flossen Marias Gnadenströme reicher als in Kirchen, die nur mit gemeinen Marienbildern ausgestattet waren. Die Wallfahrtskirche Maria Trost auf dem Purberg in der Nähe von Graz ist von einem Prediger als Hauß Mariae und als solches als ein auf einem Gnaden-Berg gelegenes Gnaden-Haus bezeichnet worden. Es habe das Ansehen, versicherte er, Maria habe diesen Ort zu ihrem Wohn-Sitz auserkiesen, um allda haeuffigere Gnaden auszuspenden. 142 141 Niklas Luhmann, „Religion als Kommunikation“, in: Hartmann Tyrell/ Volkhard Krech/Hubert Knoblauch (Hrsg.), Religion als Kommunikation, Würzburg 1998, S. 135 – 146, hier S. 136. 142 Mathias Fuhrmann, Himmlische Groß-Heldin Vnd maechtige Heers-Fuehrerin / Des Allerdurchlaeuchtigsten Hauses von Oesterreich / Maria Die allerseeligste Himmels und Erden Koenigin / In einer wenigen Lob- und Ehren-Rede zu Maria–Trost, Nechst Graetz in Steyermarck vorgestellet, 1734, S. 21 f.
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Die Wortverbindung Gnaden-Berg gibt zu erkennen, dass die Aura der Gnadenhaftigkeit, die von dem Gnadenbild ausging, auch auf dessen unmittelbare Umgebung ausstrahlte. Kaiser Maximilian II., der im Juni 1621 eine Wallfahrt nach Mariazell unternahm, ließ am 22. Juni 1621 den Abt von Sankt Lambrecht wissen: Mein lieber Prlat, diese heilige Zelle [Mariazell] liebe und schtze ich allezeit, nicht nur in Ansehen der erstaunlichen und unzhligen Wundertaten, sondern auch und fhrnehmlich wegen einer gewissen Kraft, welche dem heiligen Ort wie angeboren erscheint. 143 An die Existenz heiliger Orte zu glauben, an denen Gott seinen Getreuen in besonderer Weise nahe ist, wurzelt in Gottesvorstellungen und kultischen Praktiken des alttestamentlichen Gottesvolkes. An heiligen Orten, so glaubte man, „besteht eine besonders enge Verbindung zwischen Himmel und Erde, hier berührt das Göttliche das Irdische“.144 Erfahrungen mit wundertätigen marianischen Gnadenbildern verdankten sich apriorischen Zuschreibungen und Erwartungen. Zu diesen gehörte auch die Vorstellung, dass Gnadenbilder an den Plätzen, an denen ihre Hilfe gebraucht wurde, anwesend sein mussten. Um von den Fluren schädliches Ungeziefer zu vertreiben, bedufte es einer Umtracht, bei der ein als Gnadenbild verehrtes Heiligenbild durch die Felder getragen wurde. Sollte Maria dem großen Sterben, das die Pest verursachte, Einhalt gebieten, musste ihr Bild in einer Prozession durch die Straßen jener Städte getragen werden, die von der Pest heimgesucht worden waren.145 Marienbilder, denen man zutraute, dass sie den siegreichen Ausgang einer Schlacht bewirken, sollten auf dem Kampfplatz gegenwärtig sein.146 Personen, die von Maria von ihren Gebrechen 143 Christian Stadelmann, „Die Habsburger in Mariazell“, in: Farbaky/Serfözö (Hrsg.), Ungarn in Mariazell (Anm. 31), S. 171 – 185, hier S. 175 f. 144 Claudia Sticher, „Das ,Haus Gottes‘ in der Heiligen Schrift“, in: Ralf M. W. Stammberger/Claudia Sticher (Hrsg.), ,Das Haus Gottes, das seid ihr selbst‘. Mittelalterliches und barockes Kirchenverstndnis im Spiegel der Kirchweihe. Berlin 2006 (Erudiri Sapientia 6), S. 11 – 20, hier S. 20. 145 In Rom wurde dieser Brauch noch im 19. Jahrhundert geübt. Papst Gregor XVI. (1831 – 1846), ein großer Befürworter und Verfechter volkstümlicher Mariendevotion, „trug ein Bild der Madonna vor sich her, als er bei einem Choleraausbruch in Rom an der Spitze einer Prozession ging“ (David Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Deutsch von Holger Fliessbach, Hamburg 1997, S. 74). 146 Eine Ausnahme bildete die Schlacht von Zenta (1697). Zeitgenössische Prediger beharrten auf einem ihrer Auffassung nach ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schlachtgeschehen und der inständigen Verehrung des Gnad-
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geheilt werden wollten, sollten sich einem ihrer Gnadenbilder ,verloben‘ und persönlich vor dem Gnadenbild ihre Bitte um Heilung zu Gehör bringen. Symptomatisch für die notwendige Präsenz des Gnadenbildes am Ort, an dem es als Medium übernatürlicher Gnadenvermittlung gebraucht wird, ist folgende Geschichte: Als Ladislaus von Sternberg 1603 in seiner Eigenschaft als Oberst von 1000 Mann zu Pferd nach Ungarn beordert wurde, um den Ansturm der Türken aufzuhalten, tat er dies unter dem sicheren Geleit eines Marienbildnisses. Unterwegs machte er im Schloss Neuhaus Station. Um zu verhindern, dass das Bild, sollte er in einem Gefecht das Leben verlieren, in die Klauen deren Tuerken / oder deren Ketzern falle, ließ er das als Gnadenbild verehrte Marienbild in der Schlosskirche von Neuhaus zurück. Unterwegs überkamen ihn Reuegefühle, dass er sich in Neuhaus von dem Gnaden-Bildnuß getrennt hatte. Er beauftragte deshalb seinen Feldkaplan und seinen Aufwarter, das Bild Marias in Neuhaus zu holen und ins christliche Lager nach Raab in Ungarn zu bringen. Als die ausgesandten Boten mit dem Marienbild im Lager eintrafen, ließ Oberst Ladislaus ein Zelt errichten, in dem auf einem Altar das marianische Bildnis zur öffentlichen Verehrung ausgesetzt und eine heilige Messe gehalten wurde. Wegen grosser andringender Macht deren Tuerken, welcher das zahlenmäßig weit unterlegene Heer der Christen nicht gewachsen war, stand es um die Sache der Christen nicht gut. Als aber unter dem christlichen Kriegsheer die wunderbarliche Geschicht dieser heiligen Bildnuß kund / und ruchbar worden; wurde auch bei denen Christlichen Soldaten sowohl die Zuversicht zu Maria, als Hertz / und Muht zum Streit vermehret. Sowohl gemeine Kriegsleute als auch vornehme Feldherren fanden sich vor dem Bild ein, um Maria um Hilfe und Beistand in dem bevorstehenden Streit zu bitten. Als es am 28. September 1603 zur Schlacht kam, siegten die Christen – dank der Fürbitte Marias, die ihre Verehrer mit solcher besonderer Kraft / und Tapferkeit angethan habe, dass sie die Türken in die Flucht schlugen. Die Soldaten waren deshalb der festen Überzeugung, dass ihre Andacht zu Maria den christlichen Waffen besonders ersprießlich und nutzbar gewesen sei. Oberst Ladislaus von Sternberg, ein Eifferer fuer die Ehre Mariae, ordnete deshalb an, dass das ganze christliche Lager Gott und seine jungfräuliche Mutter bey ihrer enbildes der Maria von Pötsch. Als man in Wien das Gnadenbild der Maria von Pötsch von Kirche zu Kirche getragen habe, sei Prinz Eugen als Sieger in der Schlacht von Zenta hervorgegangen.
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Wunder-vollen Gnaden-Bildnuß fr den verliehenen Sieg wider den Erb-Feind gedanket / gelobet / und gepreiset haben. Ihren Sieg empfanden sie als eine neue von Maria wunderbarlich erhaltene Gnad. 147 Ein Stich, der zeigt, wie ein Priester vor dem Gnadenbild die Messe liest, indes auf einem unmittelbar daneben befindlichen Abhang die christlichen Truppen ihre türkischen Widersacher in die Flucht schlagen, trägt folgende Unterschrift: In gegenwarth dises Gnadenbilds werden die Trckhen aufs Haupt geschlagen und in das wasser gesprengt. 148 Mit Marias herausragender Stellung im christlichen Heiligenhimmel hing es zusammen, dass in kriegerischen Konflikten als siegbringende Zeichen insbesondere Bilder Marias Verwendung fanden. Nur mit Wunderkraft ausgestatteten Marienbildern traute man offenkundig zu, sich als Gewährschaften erhoffter und erstrebter Siege zu bewähren. Maria, eine vielgerühmte ,starke Frau‘ (mulier fortis), faszinierte. Prediger und Verfasser marianischer Erbauungsschriften entwarfen von Maria das Bild einer Frau, die, mit den Zügen einer mächtig agierenden Kriegsgöttin ausgestattet, über den Ausgang von Schlachten entscheidet. Manche von ihnen gingen sogar so weit, militärische Siege über die Feinde der Christenheit ausschließlich und allein auf Gnadenbilder Marias zurückzuführen. In solchen Befunden spiegelt sich die von politischen Interessen geprägte Marienverehrung in der Zeit der Reformation und Gegenreformation. Ein Mitglied des Paulinerordens, der am 1. Juni 1734, in einer Zeit kriegerischer Unruhen, in der Wallfahrtskirche Maria Trost nahe Graz vor aus Wien gekommenen Pilgern und vor Mitgliedern einer Bruderschaft von der ewigen Anbetung eine Predigt hielt, beteuerte in militärisch eingefärbter Begrifflichkeit, dass Maria eine allgemeine Helfferin, Siegs-Frau und Heers-Fuehrerin seye, Ductrix exercitus Christiani, des Christen-Volcks wider seine Feinde: wir wissen, dass sie seye praesidium firmum omnium Christianorum, ein gewaltig Schuetzerin aller Christen: wir wissen, dass sie seye Proeliatrix victoriosa, eine sieghaffte und unueberwindliche Kriegs-Heldin: wir wissen, dass sie seye Adjutrix firmissima versantium in necessitatibus ac periculis, die allerstarckeste Helfferin derer, die in Gefahr und Noethen schweben. Allein ich finde und weiß kein Reich / kein Land und Provinz, kein Crone, kein Hauß, deme Maria in allen Noethen und Gefahren 147 Ausfhrlich- und gruendlicher Ursprungs-Bericht Des Marianischen Gnaden-Bilds / Welches Jn der Kirchen des Heil. Hieronymi zu Wien des Ordens des Heil. Francisci der strengen Observanz, oder bey denen PP. Franciscanern verehret wird, Wien 1740, S. 66 – 72. 148 Ebd., S. 67.
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mehrers beygesprungen, mehrers streiten und siegen geholffen wider ihre Feinde, als unserm Allerdurchlauchtigsten Hause Oesterreich. 149
In andere Zusammenhängen rühmt er Maria als Groß-Heldin und KriegsFrau, als Schutz- und Siegs-Frau, als Generalin, grosse Himmelsheldin und streitbare Kriegs-Gçttin. 150 Keiner anderen Heiligen und keinem anderen Heiligen sind im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit solche Ehrentitel beigelegt worden. In deren Licht erscheint Maria als kämpferische Frau, die sich tatkräftig einmischt, wenn es um Belange des Glaubens und Interessen der Kirche geht. Die Wundertätigkeit von Gnadenbildern setzte Kommunikationsgemeinschaften voraus, deren Weltbild die Möglichkeit und Wirklichkeit von Wundern nicht ausschloss. An die Wundertätigkeit marianischer Gnadenbilder zu glauben, bildete ein Kriterium katholischer Rechtgläubigkeit. Wer glaubt, schrieb Wilhelm Gumppenberg in der Vorrede zu seinem 1673 in deutscher Übersetzung erschienen Marianischen Atlaß / Von Anfang vnd Ursprung Zwoelffhundert Wunderthaetiger Mariabilder, dass bey den Catholischen Wunderthaetige Mariae-Bilder zufinden / der glaubt / dass der Catholische Roemische Glauben der wahre vnd allein seligmachende Glauben seye / weiln Gott kein Unwahrheit mit Wunderzeichen als seinem Sigl vnd Pettschafft (wie es Welt kuendig) bekrfftiget. Wer jedoch behauptet, dass bei den Katholiken keine Wunderthaetige Mariae-Bilder zu finden seien, bei denen Gott durch die Fürbitte Marias Wunder wirkte, der glaubt zugleich, dass über viele Jahrhunderte hin Abertausende, ja viele Millionen Katholiken betrogen worden seien.151 Hält man sich an das Bildverständnis von Zeitgenossen, die zwischen theologischer Theorie und frommer Praxis zu vermitteln suchten, sind marianische Gnadenbilder als Medien zu betrachten, durch die Maria ihren Bittstellern und Verehrern un- und außergewöhnliche Hilfen mitteilt. Marienbilder bewährten sich als Vermittlungsinstanzen für übernatürliche Gnadenerweise, die siegbringend wirkten. Den Charakter von Gnadendepots nahmen Gnadenbilder dann an, wenn ihre Verehrer der Überzeugung waren, dass Maria in ihren Bildern als handelnde Person gegenwärtig sei. Eine solche Bildauffassung, die auf 149 Fuhrmann, Himmlische Groß-Heldin (Anm. 142), S. 10. 150 Ebd., S. 25 – 27. 151 Marianischer Atlaß / Von Anfang vnd Ursprung Zwoelffhundert Wunderthaetiger Mariabilder. Beschrieben in Latein Von R. P. Guilielmo Gumppenberg. Anjetzo Durch R. P. Maximilianum Wartenberg in das Teutsch versetzt / beede der Societet Jesu, Erster Theil, München 1673, fol. 5r–v.
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der Identität von Zeichen und Bezeichnetem beruhte, entsprach nicht der von der Amtskirche gelehrten Bildertheologie. Nur als über sich hinausweisende Zeichen wollten Kirche und Theologie diese Bilder als Gegenstände frommer Verehrung gelten lassen. Waren Gnadenbilder Medien, in denen sich „magische Gegenwärtigkeit transzendenten Heils“ (P. Strohschneider) manifestierte? Die Wundertätigkeit marianischer Gnadenbilder beruhte auf dem Glauben an die grenzenlose Gnadenfülle, die Maria als von Gott begnadete Gottesmutter besitzt und zu verteilen hat. In den von Frommen gehegten Heils- und Gnadenhoffnungen blieb Gnade ein unberechenbarer Faktor. Christliche Fromme konnten inständig glauben und hoffen, dass Maria ihre Bitten erfüllt; einen Anspruch auf Hilfe, der es ihnen ermöglichte, aus gläubigen Erwartungen einen berechenbaren Faktor innerweltlicher Handlungsstrategien zu machen, besaßen sie nicht. Magischer Gebrauch, magische Bedeutsamkeit und magische Gegenwärtigkeit setzen auf Seiten der Bilderverehrer Verfügbarkeit über die erwarteten und erstrebten Gnadenmittel voraus. In der zeitgenössischen Bildertheologie und Bilderfrömmigkeit ist eine solche Verfügbarkeit nicht auszumachen. Wer hilfesuchend Gnadenbilder verehrte, konnte auf die Erfüllung seiner Bitten hoffen; sich göttliche Kräfte anzueignen, um sie eigenen Zwecken nutzbar zu machen, vermochte er nicht. Von marianischen Gnadenbildern Wunder zu erwarten, entsprach einer Lebenspraxis, für die sich die Bedeutung von Religion nicht darin erschöpfte, im Weltgericht am Ende der Zeiten einen gnädigen Gott zu finden. Gnadenbilder Marias sollten auch und nicht zuletzt dazu beitragen, mit Hilfe Marias Wege durch einen von körperlichen Gebrechen und seelischen Nöten, von Seuchen und Kriegen verdüsterten Alltag zu finden. Marianische Gnadenbilder taten dies auch, wenn man sich an die Erfahrungen hält, die Zeitgenossen mit ihnen gemacht und wie sie über diese berichtet haben.
Figuren der Evidenz Bild, Medium und allegorische Kodierung im Trecento Klaus Krger Giottos berühmte Ausmalung der Arenakapelle in Padua aus der Zeit um 1305 (Abb. 1 und 2) galt seit je und gilt nicht ohne Grund bis heute als das Paradigma für die Entfaltung jenes neuen, auf Empirie und Naturnachahmung gründenden Wirklichkeitssinnes, den man gemeinhin als die besondere Epochensignatur der Kunst um 1300 und zugleich als maßgebendes Ferment für das anbrechende Zeitalter der Renaissance ansieht. Folgt man dieser Auffassung, so gelangt in der neuen Naturnähe, in der raum- und geschehenslogischen Kohärenz, in der Prägnanz der gegenstandsbezogenen Anschaulichkeit und in der psychologisch verdichteten Eindringlichkeit, die diese Malerei vor Augen stellt (Abb. 3), nachgerade exemplarisch zum Ausdruck, dass sich die im Zeichen einer jenseitigen Wahrheitsgewissheit auf Dauer hin negierte Gegenwartswelt eine neue Bedeutsamkeit und Sinngeltung erschlossen hat. Gelöst von der Funktion, nur repräsentierender Verweis, nur das gestaltgebundene Symbol einer stets bereits als präexistent gedachten, universal bestimmten Transzendenz zu sein, wächst nun, so scheint es, der sinnlich erfahrbaren Diesseitswelt selbst der Anspruch zu, die ,Wahrheit‘ des Seins zu verkörpern. Es sei hier zunächst dahingestellt, wie es sich mit diesem Erklärungsmodell und seinen epistemologischen Prämissen im Einzelnen verhält. In jedem Fall aber scheint nicht nur die künstlerische Praxis, sondern auch die ästhetische Theoriebildung der Zeit zu belegen, dass sich zugleich mit dieser neuen Wahrheitsgeltung der als faktisch und real begriffenen Welt in neuer Weise auch die spezifische Erfahrungsmöglichkeit von Nicht-Realem, von Fiktion freisetzt, welche in dialektischem Sinn stets auf den Eigenwert von Wirklichkeit bezogen ist, nämlich als deren Schein, als ihre täuschende Simulation oder als ihre frei erfundene Nachbildung, forma ficta. So hebt bereits Boccaccio die kategoriale Bedeutung hervor, die eben dieser dialektischen Bezogen-
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heit für die Erneuerung der Kunst durch Giotto zukomme, wenn er von ihm behauptet, dass unter allen Dingen, die die Mutter Natur unter dem Kreislauf der Himmel erzeugt, nicht ein einziges war, das er [Giotto] nicht mit dem Griffel oder der Feder oder dem Pinsel so getreu abgebildet hätte, dass sein Werk nicht das Bild des Gegenstandes, sondern der Gegenstand selbst zu sein schien, so dass es bei seinen Werken sehr oft vorkam, dass der Gesichtssinn der Menschen irrte und das für wirklich hielt, was nur gemalt war.1
Wirklichkeit und Fiktion bilden demzufolge eine Zuordnung, die sich als eine auf vielzähligen Ebenen durchgespielte Unterscheidung, als wechselseitige Bekräftigung oder auch als Selbstaufhebung manifestiert und ausdifferenziert.2 Wie man weiß, zeichnet sich im Zuge dieser Entwicklung auch eine Modifikation beziehungsweise Verschiebung des hermeneutischen Interesses ab, das sich von der verborgenen Wirklichkeit als dem letztgültigen Sinnziel der Erkenntnis mehr und mehr auf die bildhafte Eigenwirklichkeit der Darstellung und ihre immanente poetische Konsistenz verlagert. Worum es dabei geht, ist letztlich ein verändertes „Funktionsbild“ der künstlerischen – wie im übrigen auch literarischen – Darstellung, ein Funktionsbild, das nicht mehr im Theorem einer gottbezogenen Sprach- oder Darstellungsauffassung Genüge findet, sondern Sinndeutung der Welt mit den Mitteln einer autonom gedachten Fiktion über die Allegorie betreibt.3 1
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Giovanni Boccaccio, Decameron, VI, 5: [Giotto] ebbe un ingegno di tanta eccellenza, che niuna cosa d la natura, madre di tutte le cose ed operatrice col continuo girar de’ cieli, che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse s simile a quella, che non simile, anzi pi tosto dessa paresse, intanto che molte volte nelle cose da lui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto. E per ci, avendo egli quella arte ritornata in luce, che molti secoli, sotto gli error d’alcuni che pi dilettar gli occhi degl’ignoranti che a compiacere allo ’ntelletto de’ savi dipignendo intendevano, era stata sepulta, meritamente una delle luci della fiorentina gloria dirsi puote […]. Vgl. Erwin Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art, New York 1969, S. 8 ff. und S. 114 ff. Zum Problemzusammenhang: Hans Robert Jauss, „Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität“, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 423 – 431. Erich Kleinschmidt, „Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit“, in: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3), S. 388 – 404, hier S. 392.
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So bringt kein geringerer als Dante zwar noch die alte, dominante Sinngebundenheit der Erzählung als einer Verweisung auf das mit ihr Gemeinte, das heißt auf die eigentliche Lehre (la dottrina), die hinter der Hülle der Verserzählung verborgen liegt (che s’asconde sotto ’l velame delli versi strani), unmissverständlich zur Sprache.4 Doch konfrontiert bereits die Divina Commedia das Leseverständnis immer neu mit dem elementaren Problem einer unauflöslichen, oszillierenden Durchdringung von allegorischer Bedeutung und dem bloßen Literalsinn der Erzählung. Wie bereits Erich Auerbach gezeigt hat, ist für Dantes Verständnis von der besonderen Evidenz, die der figuralen Anschauung eignet, der Umstand maßgeblich, dass die historische Wirklichkeit und die konkrete, irdisch-leibliche Faktizität durch deren tiefere Bedeutung nicht aufgehoben, sondern erst eigentlich bestätigt und erfüllt werden, dass die anschaulich fassbare Körperlichkeit also nicht ein ontologisches Akzidens, eine uneigentliche Hülle der Person (vesta di figura), sondern vielmehr, in der Formulierung Auerbachs, „eine ungeheure Aufspeicherung“ im substanziellen Sinn darstellt.5 Mit dieser Konvergenz von sustanzia corporale und sustanzia intelligente 6, von Bildcharakter und Bedeutung, nimmt die figura, das gestalthafte Zeichen, alle Eigenschaften einer offenkundigen Präsenz an und gewinnt eben jene lebendige Augenscheinlichkeit und plastische Ausprägung, der zugleich eine besondere Eingängigkeit und Einprägsamkeit eignet.7 4
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O voi ch’avete li ’ntelletti sani j mirate la dottrina che s’asconde j sotto ’l velame delli versi strani (Inferno IX, 61 ff.); Dante Alighieri, La Divina Commedia, hrsg. von Natalino Sapegno, Florenz 1979 – 1980, Bd. I, S. 102 f. (mit Kommentar). Vgl. ähnlich ebd., Bd. II, S. 83 f. (Purgatorium VIII, 19 ff.): Aguzza qui, lettor, ben li occhi al vero, j ch ’l velo ora ben tanto sottile, j certo che ’l trapassar dentro leggero. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendlndischen Literatur, Bern 81988, S. 167 ff., hier S. 184. Dante Alighieri, Vita Nova – Das neue Leben, übers. und komm. von Anna Coseriu und Ulrike Kunkel, München 1988, cap. XXV, S. 78 ff. Die Literatur zum weiteren Zusammenhang des Allegoriekonzeptes bei Dante wie auch zum figura-Begriff in Poetik und Rhetorik ist Legion. Siehe zu Dante u. a. Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin – Leipzig 1929 (Nachdruck Berlin 1969); Michele Barbi, „Allegoria e lettera nella Divina Commedia“, in: ders., Problemi fondamentali per un nuovo commento della Divina Commedia, Florenz 1955, S. 115 – 140; Giuseppe Mazzotta, Dante, Poet of the Desert. History and Allegory in the Divine Commedy, Princeton 1979; Manfred Lentzen, „Zur Konzeption der Allegorie in Dantes ,Convivio‘ und im Brief an Cangrande della Scala“, in: Richard Baum/Willi Hirdt (Hrsg.), Dante Alighieri 1985, Tübingen 1986, S. 169 – 190; Antonio D’Andrea, „L’allegoria dei poeti. Nota a Convivio II, 1“, in: Michelangelo Picone (Hrsg.), Dante e le forme
Öffentliche Bildprogramme im Trecento
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Was auf diese Weise entsteht, ist eine neue Komplexität jener ,verhüllten Evidenz‘, denn die Verhüllung selbst, die Art und Weise ihrer Erscheinung, bringt nunmehr die Evidenz hervor und verantwortet gewissermaßen ihre Wirksamkeit. Die überzeugende Kohärenz und Präsenz einer Figur, ihre Ausgestaltung zu einer glaubhaften Personalität, ihre Nachvollziehbarkeit im Zusammenhang von Handlungsabläufen, ihre Plausibilität im raum- und geschehenslogischen Kontext und so weiter werden zu Parametern für die Leistung und Tragweite jener Erkenntnis, die sich mit ihr beziehungsweise durch sie – etwa als effiguratio oder als Personifikation (personae fictio) – eröffnet. Doch bedarf infolgedessen eben diese Verhüllung selbst wiederum der ,Enthüllung‘, sprich: ihrer Dekonstruktion als das zwar anschauliche, doch künstliche beziehungsweise kunsthaft geschaffene Dispositiv eines eigentlichen Sinnes, den es auf diese Weise offen zu legen gilt. Bereits Petrarca prägt vor diesem Hintergrund im systematischen Sinn ein hermeneutisches Verständnis aus, das dem Text wie auch dem Bild das Recht auf eine eigene ästhetische Geltung verleiht und ihm damit, wie man es treffend formuliert hat, die neue Bedeutung eines „autonomous universe of autoreflexive signs“ zumisst.8 So wird hier, um mit Christian Kiening zu sprechen, „im Spannungsfeld von Rhetorik und Hermeneutik“, von Auslegungsbedürftigkeit und Mehrdeutigkeit die Sinn-
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dell’allegoresi, Ravenna 1987, S. 71 – 78; Andreas Kablitz, „Poetik der Erlösung. Dantes Commedia als Verwandlung und Neubegründung mittelalterlicher Allegorese“, in: Glenn W. Most (Hrsg.), Commentaries – Kommentare, Göttingen 1999, S. 353 – 379. Zum figura-Begriff grundlegend Erich Auerbach, „Figura“, in: Archivum Romanicum, 22/1938, S. 436 – 489 (wieder in: ders., Gesammelte Aufstze zur romanischen Philologie, Bern – München 1967, S. 55 – 92); Dieter Breuer, „Rhetorische Figur. Eingrenzungsversuch und Erkenntniswert eines literaturwissenschaftlichen Begriffs“, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1988, S. 223 – 238; Joachim Knape, „Figurenlehre“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhethorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 289 – 342, bes. Sp. 302 ff. Thomas M. Greene, The Light of Troy, New Haven – London 1982, S. 155. Zur entsprechenden Bedeutung, die die Metaphorik des velo di finzione in Petrarcas Canzoniere und seiner breiten Nachfolge ebenso sehr wie in der Dichtungstheorie des Humanismus, etwa bei Boccaccio und den Theoretikern des Quattrocento gewinnt, vgl. u. a. Concetta C. Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics, 1250 – 1500, London – Toronto 1981; James V. Mirollo, Mannerism and Renaissance Poetry. Concept, Mode, Inner Design, New Haven – London 1984, S. 99 ff.; sowie zuletzt vor allem Patricia Oster, Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes f r die neuzeitliche Erfahrung des Imaginren, München 2002.
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produktion zusehends als „ein Spiel mit Figuration und Defiguration“ betrieben.9 Der Produktivität dieses Wechselspiels von Figur und Defiguration und des näheren der Frage nach seinem konkreten Niederschlag in der Praxis künstlerischer Bildgestaltung soll im Folgenden unter verschiedenen Gesichtspunkten anhand weniger Fallbeispiele nachgegangen werden. Im Blickpunkt steht dabei unter anderem die Frage, inwieweit die Verknüpfung der durchaus unterschiedlich definierten, ja diskrepanten und gegenläufigen Ansprüche, nämlich auf Symbolisierung einerseits und auf die Erzeugung anschaulicher Evidenz andererseits, unter den seinerzeit aktuellen Vorzeichen eines neuen Systems mimetischer Repräsentation Lösungen im Horizont einer spezifischen Künstlichkeitsmarkierung dieser Bilder hervorbrachte, Lösungen also, die gerade durch die augenfällig gemachte Bildhaftigkeit der Darstellung zwischen deren unmittelbarer Anschauungsleistung und ihrer Fiktionalität, zwischen Wirklichkeitsbezug und Wirklichkeitskonstruktion zu vermitteln suchten. Diese Frage wird umso dringlicher, wenn man die vielfältigen Funktionen der Bilder ins Auge fasst, die ihnen seinerzeit verstärkt im öffentlichen wie im privaten Raum als Medien der Kommunikation und als Manifestationsformen sei es der individuellen Selbstauffassung einzelner Personen oder sei es der kollektiven Repräsentation und Selbstdeutung gesellschaftlicher Gruppen und Korporationen, religiöser Gemeinschaften oder politischer Institutionen zuwuchsen.10 Es sind Fragen, die nicht zuletzt in generelle Überlegungen 9 Christian Kiening, Zwischen Kçrper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003, S. 277 ff., hier S. 278. 10 Siehe u. a. Daniel Arasse, „L’art et l’illustration du pouvoir“, in: Culture et Idologie dans la Gense de l’ tat Moderne (Actes de la table ronde), Rom 1985 (Collection de l’École Française de Rome 82), S. 231 – 244; Hans Belting/ Dieter Blume (Hrsg.), Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die Argumentation der Bilder, München 1989; Diana Norman (Hrsg.), Siena, Florence and Padua. Art, Society and Religion 1280 – 1400, 2 Bde., New Haven – London 1995; Maria Monica Donato, „Testi, contesti, immagini politiche nel tardo Medioevo: esempi toscani. In margine a una discussione sul ,Buon governo‘“, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, 19/1993, S. 305 – 355; Diana Norman, Siena and the Virgin. Art and Politics in a Late Medieval City, New Haven – London 1999; Joanna Cannon/Beth Williamson (Hrsg.), Art, Politics, and Civic Religion in Central Italy 1261 – 1352, Aldershot 2000; Klaus Krüger, „Bildlicher Diskurs und symbolische Kommunikation. Zu einigen Fallbeispielen öffentlicher Bildpolitik im Trecento“, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begr ndungen einer kulturwissenschaftlich
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darüber münden, inwieweit Bilder ihre genuine Leistung weder als ,Illustrationen‘ von bestimmten Prätexten noch als ,Ausdruck‘ von gesellschaftlichen, religiösen oder kulturellen Diskursen beziehungsweise mental habits entfalten, sondern als ästhetisch wirksame Dispositive, die sich der Praxis der religiösen und kulturellen, aber auch und gerade der sozialen und politischen Imagination im Sinne einer eigenen, produktiven Dimension einschreiben, und die allererst hierdurch nicht unmaßgeblich das begründen, was späterhin als Aufstieg der Künste und der Künstler unter dem Begriff ,Renaissance‘ zu verbuchen sein wird. Bereits in der Arenakapelle lassen sich die angesprochenen Zusammenhänge besonders augenfällig dort fassen, wo die Bedeutung der Kapellenstiftung und damit auch der eigentliche Sinn des gesamten Ausmalungsunternehmens gewissermaßen auf den anschaulichen Begriff gebracht wird, nämlich in der Sockelzone mit der berühmten Gegenüberstellung der sieben Tugenden und sieben Laster (Abb. 4 und 5). Deren Abfolge führt in konsequenter Finalität auf die monumentale Darstellung des Weltgerichtes an der Wand der Eingangsinnenseite mit seiner signifikanten Alternative von himmlischem Paradies zu Seiten der Tugenden und der Hölle als dem Reich Luzifers zu Seiten der Laster zu.11 Diese pointierte Disposition der Tugenden und Laster als eine symmetrisch angeordnete Antithese ist in Italien bekanntlich ebenso neuartig wie der Umstand, dass sich für den Gläubigen mit dieser direkten Gegenüberstellung eine Alternative von religiösen Prämissen und weiter gefasst auch von ethischen Verhaltensmaximen manifestiert.12 Sie angeleiteten Medivistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 123 – 162; ders., „Von der Pala zum Polyptychon: Das Altarbild als Medium religiöser Kommunikation“, in: Stefan Weppelmann/ Wolf-Dietrich Löhr (Hrsg.), Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco (Kat. Ausst. Staatliche Museen zu Berlin, Gemldegalerie, 10. Januar–13. April 2008), Berlin 2008, S. 179 – 199. 11 Vgl. vor allem Selma Pfeiffenberger, The Iconography of Giotto’s Virtues and Vices at Padua, Ann Arbor 1966; Jonathan Riess, „Justice and Common Good in Giotto’s Arena Chapel“, in: Arte Cristiana, 72/1984, S. 69 – 80; Bruce Cole, „Virtues and Vices in Giotto’s Arena Chapel Frescoes“, in: ders., Studies in the History of Italian Art 1250 – 1550, London 1996, S. 337 – 363. 12 Zur vorgängigen Darstellungstradition: Adolf Katzenellenbogen, Allegories of Virtues and Vices in Medieval Art. From Early Christian Times to the Thirteenth Century, London 1939. Die schlichte Rückführung der Darstellungen auf exegetische Quellen und des näheren auf Augustinus durch Giuliano Pisani, „L’ispirazione filosofico-teologica della sequenza ,Vizi – Virtù‘ nella Cappella degli Scrovegni di Giotto“, in: Bollettino del Museo Civico di Padova, 93/2004,
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ist durch die räumliche Programmanlage in entschiedener Unausweichlichkeit eschatologisch bestimmt, dergestalt dass sie vom Ausgangspunkt des göttlichen Heilsplans mit der Entsendung des Verkündigungsengels in direkter Ausrichtung auf jenen Endpunkt zuläuft, der sich im großen Gerichtsfresko der Eingangswand als finale und unrevidierbare Alternative zwischen Paradies und Hölle darbietet (Abb. 6). Wie man weiß, wird die besondere Prominenz, mit der sich diese Antithese hier in einer so direkten, räumlich erfahrbaren Gegenüberstellung konkretisiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache verständlich, dass die Kapelle von dem schwerreichen Kaufmann und Bankier Enrico Scrovegni als Sühnegabe für die Wuchersünden seines Vaters gestiftet und erbaut wurde (Abb. 7).13 Als solche diente sie jedoch keineswegs nur privaten, sondern auch und gerade öffentlichen Funktionen, so etwa beim Fest von Mariae Verkündigung als Zielort einer feierlichen Prozession, die unter Einschluss vieler städtischer Würdenund Amtsträger bis hin zum Podestà stattfand.14 Zudem war der Kapelle von Anbeginn, das heißt bereits seit 1304, durch einen besonderen S. 61 – 97 bleibt unergiebig und geht an der medialen Komplexität der Bilderfindungen vorbei. Zu formalen Vorgaben in der Tradition romanischer Sockelmalereien in Italien, die indes die Singularität und Neuartigkeit von Giottos Lösung eher noch deutlicher hervortreten lassen, vgl. jüngst: John Osborne, „The dado programme in Giotto’s Arena Chapel and its Italian Romanesque antecedents“, in: The Burlington Magazine, 145/2003, S. 361 – 365. Ungewiss ist, inwieweit auch literarische Vorgaben, wie die Schilderung einer Gartenmauer mit den Darstellungen von Tugenden und Lastern im Roman de la Rose des Guillaume de Lorris, auf Giottos künstlerische Konzeption einwirkten, vgl. dazu Johannes Tripps, „Giotto an der Mauer des Paradieses. Ein Interpretationsvorschlag zum Tugenden- und Lasterzyklus der Arena-Kapelle zu Padua“, in: Pantheon, 51/1993, S. 188 – 196. Vgl. zuletzt auch Andrea Lermer, „Giotto’s Virtues and Vices in the Arena Chapel: The Iconography and the Possible Mastermind Behind It“, in: Luís Urbano Alfonso/Vítor Serrão (Hrsg.), Out of the Stream. Studies in Medieval and Renaissance Mural Painting, Cambridge 2007, S. 291 – 317. 13 Vgl. Ursula Schlegel, „Zum Bildprogramm der Arenakapelle“, in: Zeitschrift f r Kunstgeschichte, 20/1957, S. 125 – 146; Irene Hueck, „Zu Enrico Scrovegnis Veränderungen der Arenakapelle“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, 17/1973, S. 282 – 286. 14 Vgl. Antonio Tolomei, La chiesa di Giotto nell’Arena di Padova, Padua 1880, S. 41 f.; Bruno Brunelli, „La festa dell’Annunziazione all’Arena e un affresco di Giotto“, in: Bollettino del Museo Civico di Padova, N.F. 18/1925, S. 100 – 109; Laura Jacobus, „Giotto’s ,Annunciation‘ in the Arena Chapel, Padua“, in: The Art Bulletin, 81/1999, S. 93 – 107; Matthew G. Shoaf, Image, Envy, Power: Art and Communal Life in the Age of Giotto, Ann Arbor 2003, S. 15 ff.
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päpstlichen Ablass eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit gesichert.15 Kurz: Der hier in Rede stehende Tugenden- und Lasterzyklus lässt sich schwerlich als individueller und persönlich geprägter Glaubensausdruck verstehen, sondern vielmehr als Manifestationsform eines kollektiv verbindlichen, ja normativen Sinns, welcher sich aus der in ihm vermittelten Koexistenz heterogener Vorstellungen und Referenzen, Wertbegriffe und Imaginarien begründet. Die bezwingende Evidenz aber, die dieser normative Sinn hier gewinnt, ist allererst ein Ergebnis von formalen, künstlerisch ebenso komplexen wie raffinierten Bildverfahren. Denn was diesen Zyklus kennzeichnet, ist die eigentümliche Paradoxie, dass die Tugenden und Laster als konkrete, ja leibhaftige Personalitäten des Imaginären agieren, besser gesagt: dass sie in aspektreicher Entfaltung ihren konstitutiven Doppelcharakter als Begriff und zugleich als lebendige Wesen bezeugen. Das beginnt bereits bei dem durch die Grisaillemalerei als marmorne Wandverkleidung fingierten Rahmensystem, in das die inschriftlich bezeichneten Figuren auf jeder der beiden Längswände in flache architektonische Scheinnischen von frappierender, die ästhetische Grenze überspielender Täuschungskraft platziert sind (Abb. 8 und 9). Zeigen die nahezu quadratischen Doppelfelder zwischen den Figuren eine charakteristische Färbung und Maserung von hellem und allermeist auch buntfarbigem Marmor, so bieten sich vor allem die hochrechteckigen Felder im Rücken der einzelnen Personifikationen mit ihren kräftiger gesetzten Farbakzenten als subtil variierte Imitationen unterschiedlicher Steinsorten wie etwa Porphyr oder Marmor dar.16 Die Figuren ihrerseits sind im Gegensatz zu den Wandfolien des Hintergrunds gänzlich monochrom gehalten und weisen durch eine pointiert eingesetzte Verteilung von Licht und Schatten lediglich kraftvolle Helldunkelkontraste auf, die ihnen ein ausgeprägt plastisches 15 Les registres de Benoit XI., hrsg. von Charles Alfred Grandjean, Paris 1905, Sp. 294 f., Nr. 435. 16 Zur Komplexität des Dekorationssystems vgl. u. a. Gerhard Schmidt, „Giotto und die gotische Skulptur“, in: Rçmische historische Mitteilungen, 21/1979, S. 127 – 144, hier S. 128 f.; Reinhard Steiner, „Paradoxien der Nachahmung bei Giotto: die Grisaillen der Arenakapelle zu Padua“, in: Hans Körner (Hrsg.), Die Trauben des Zeuxis, Hildesheim [u.a.] 1990 (Münchner Beiträge zur Geschichte und Theorie der Künste 2), S. 61 – 86. Michaela Krieger, Grisaille als Metapher. Zum Enstehen der Peinture en Camaieu im fr hen 14. Jahrhundert, Wien 1995, S. 3 ff. und S. 54 ff.
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Volumen verleihen.17 Werden sie auf diese Weise als nachgeahmte Skulpturen ausgewiesen, so gewinnen sie zugleich doch eine nachgerade eminente Qualität von Lebendigkeit und leibhaft agierender, ja beseelter Bewegtheit (Abb. 10 und 11). In dieser Paradoxie ihrer Daseinsform als beseelte Steinfiguren verschränkt sich in immer neuer Variation eine personale Argumentation mit einer unpersonalen, eine emotionale Präsenz mit einer begrifflichen Bestimmung, ein literaler Bildsinn mit einem übertragenen. Wie konsequent und systematisch diese Paradoxierung durchgespielt wird, zeigt sich auch an den ebenso subtilen wie unübersehbaren Fiktionsbrüchen, mittels derer eben jene Wahrnehmungsbedingungen, die der Fiktion eine immanente Kohärenz verleihen, auch ihrerseits wiederholt gestört werden, und mittels derer den ,Skulpturen‘ mit Bedacht ein unskulpturaler Wirklichkeitsaspekt beigemischt wird. So etwa im Fall der rot lodernden Flammen, in denen sich die Figur des Neides (invidia) verzehrt (Abb. 10); oder im Fall der rot entflammten Kreuzform, die den Nimbus der Liebe (der figura karitatis, wie die Inschrift besagt) in christologischer Signifikanz grundiert (Abb. 11); oder im Fall der in rosafarbenem Inkarnat gezeigten Hände der Hoffnung (spes), die damit in ihrem lebhaften Verlangen nach der himmlischen Krone sinnfällig akzentuiert werden (Abb. 12). Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass bei der Analyse dieser Figuren die Frage nach der ontologischen Paradoxie ihrer Daseinsform, nämlich als beseelte Steinskulpturen, nicht zu trennen ist von derjenigen nach der k nstlerisch-sthetischen Paradoxie, nämlich ihrer Erscheinungsweise als fingierte Skulpturen. Was sich dabei ergibt, ist eine strukturelle Äquivalenz oder doch zumindest ein strukturelles Zusammenspiel zwischen der Medialität dieser Bilder und der allegorischen Kodierung selbst, zwischen dem Status ihrer Fiktionalität, der sich ihrer Medialität verknüpft, und dem Status ihrer Uneigentlichkeit, der aus ihrer Rolle als Personifikationen erwächst. 17 Inwieweit für diese ästhetische Konzeption auch antike Vorbilder Pate gestanden haben, sei hier dahingestellt; vgl. dazu Marcello Gaggiotti, „Un’insospettabile fonte d’ispirazione per Giotto: nota sul fregio della Basilica Aemiliana“, in: Vittorio Casale/Filippo Coarelli (Hrsg.), Scritti di archeologia e storia dell’arte in onore di Carlo Pietrangeli, Rom 1996, S. 11 – 21; Serena Romano, „Giotto e la nuova pittura. Immagine, parola e tecnica nel primo Trecento italiano“, in: Giovanna Valenzano/Federica Toniolo (Hrsg.), Il secolo di Giotto nel Veneto, Venedig 2007 (Studi di Arte Veneta 14), S. 7 – 45, hier S. 16 ff.
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In diese Erörterung ließe sich auch die Exegese der zugehörigen Inschriften einbeziehen, die eben diese allegorische Kodierung wiederholt thematisieren. So bekundet die Inschrift zur Darstellung der Spes (Abb. 12) explizit, dass Hoffnung (Spes), wie sie hier im Bild ihrer gemalten Figur (depicta sub figura) erscheint, bedeutet (signatur), dass ein reiner Geist – durch Hoffnung bestärkt – nicht im Gefängnis der Irdischen verschlossen bleibt, sondern sich zu Christus erhebt.18
Verwandt heißt es auch bei Caritas (Abb. 11): „Diese Figur (figura) der Caritas, so wie wir sie hier sehen (sic), trägt in sich die Form (gerit formam) ihrer besonderen Eigenart (proprietatis).“19 In der Tat treten diese Personifikationen nicht als blasse Schemen und körperlose, nur mit Attributen bestückte Gestalten auf, sondern als belebte, lebhafte Akteure mit körperlicher, ja emotionaler Substanz, doch sind sie eben als solche unabdingbar nur Produkte der ästhetischen Illusion. Gerade diese bildhaft bestimmte Wirklichkeit aber ermöglicht erst den ganzen Spielraum ihrer so reich differenzierten Ausgestaltung und Aktualisierung. Erst so wird es möglich, die animalischen Züge des Neides (Invidia) (Abb. 10), seine blinde Raffgier und besessene Selbstverzehrung in all ihrer abstoßenden Charakteristik auch anschaulich zu qualifizieren.20 Erst so kann der Unglaube (Infidelitas) (Abb. 13), der sich durch seine blinde Gebundenheit an eitle Idole leiten und dem Feuer zuführen lässt, treffend in seiner wahrhaft uninspirierten und den Prophetensprüchen gegenüber tauben Massigkeit und Erdenschwere vor Augen geführt werden. Auch so erst kann die Torheit (Stultitia) (Abb. 14) ein wahres Bild von ihrer gewalttätigen Geistesstörung, ihrer tumben Ziel- und Richtungslosigkeit, ihrer Geckenhaftigkeit, Verwilderung und Dumpfheit als Persiflage eines mit Federschmuck (capita pavonis) gekrönten Königs der Dummheit vermitteln. Erst so kann andererseits die Hoffnung (Spes) (Abb. 12) als wohlgeformte, leichthin emporschwebende Gestalt mit reinem Antlitz und mit zart gewelltem und geflochtenem Haar figurieren, die mit ihrem fließend leichten, mild bewegten Fall der Falten nicht von ungefähr einer antiken Nike 18 Spes depicta sub figura, hoc signatur quod mens pura – spe fulcita – non clausura terrenorum clauditur. 19 Hec figura karitatis sue sic proprietatis gerit formam. Zu diesen Inschriften bislang allein Pfeiffenberger, The Iconography (Anm. 11), die jedoch keine detaillierte Analyse bietet und den Zusammenhang mit dem figura-Begriff nicht beleuchtet. 20 Zur Invidia vgl. Shoaf, Image, Envy, Power (Anm. 14), S. 27 ff.
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gleich erscheint, während ihr gegenüber die Verzweiflung (Desperatio) (Abb. 15) nachgerade kontrastiv mit aufgelöstem und zerzaustem Haar, mit in innerem Widerstreit heftig weggestreckten Armen und in sich gekrampften Fäusten, erdschwer und von jedem Herzensmut verlassen (instar cordi desperati) erhängt auf ihre gestauchten Falten herabgesunken ist und dem schwarzen, direkt von der Hölle herabgestiegenen Teufel ihre Seele überlassen muss. Durchgängig erscheinen die Tugenden in ihrer Bildform fest arretiert, zentral platziert und von statuengleicher Solidität, Festigkeit und innerer Bestimmtheit, indes sich die Laster nicht nur in ihrer physischen und psychischen Charakteristik, sondern auch und gerade hinsichtlich ihrer sichtbaren Anordnung im Bildfeld als derangiert und aus dem Lot geraten darbieten. Die Bedeutung dieses bildlichen Argumentationsstils und seiner aspektreichen Verschränkung von Anschauung und Begriff, von Konkretisierung einerseits und Universalisierung andererseits, kulminiert in den beiden zentral positionierten Darstellungen der Giustizia und Ingiustitia, die beide jeweils als einzige in ihrer Reihe thronend und im Fall der Gerechtigkeit zudem bekrönt gezeigt sind (Abb. 16 und 17).21 In Abwandlung der bis dahin hergebrachten, paulinisch bestimmten Vorgabe wird hier nicht Caritas, sondern Giustizia ikonographisch, motivisch und durch ihre Anordnung im Gesamtprogramm als höchste aller Tugenden und gleichsam als deren Königin (regina virtutum) qualifiziert. Als solche hält sie – in gewisser Weise disfunktional – die beiden Waagschalen, die die himmlisch (das heißt durch Engel) autorisierte Vollstreckung verschiedener Regularien des Rechtsprinzips (das Strafen und Belohnen beziehungsweise Verteilen, kommutatives und distributives Recht) veranschaulichen. Erscheint sie auf einem wohlproportionierten Thron, der mit Dreipässen, zierlichen Säulchen und mit Krabbenbesatz geschmückt ist, so residiert die Ingiustitia in einem halb zerfallenen und halb bereits von wilder Vegetation zugewachsenen Stadttor, dessen Zustand zugleich der negative Ausweis ihrer unguten Wirksamkeit ist. Gleich einem Raubtier mit Krallenfingern und hauerartigen Zähnen versehen sowie mit einer langen Harke als Signum 21 Pfeiffenberger, The Iconography (Anm. 11), S. 69 ff.; Riess, „Justice and Common Good“ (Anm. 11); Eva Frojmovicˇ, „Giotto’s Allegories of Justice and the Commune in the Palazzo della Ragione in Padua“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 59/1996, S. 24 – 47. Vgl. zum Folgenden Krüger, „Bildlicher Diskurs“ (Anm. 10), S. 146 ff.
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ihrer raublustigen Raffgier bewehrt, blickt sie nicht nach vorne, bereit zu einem offenen, unvoreingenommenen Urteil, sondern einseitig und festgelegt direkt zum Höllenbild der Eingangswand, auf das ihre Herrschaft letztlich zuführt. In ihrer programmatischen Gegenüberstellung bilden beide Personifikationen eine vielschichtig differenzierte Opposition von Realitätsbezügen aus. Die Frauengestalt, Giustizia, erscheint dabei als allegorische Verkörperung eines abstrakten Prinzips, das nicht nur durch ihre augenfällige Assoziation zur bildlichen Topik der thronenden Maria und Himmelskönigin mythisch-religiös überhöht wird (Abb. 18), sondern das den Betrachter zugleich als Figuration einer frohgemut handelnden Wohlgestalt (agit cum iocunditate) 22 emotional anspricht und in ihm auf diesem Wege wie selbstverständlich die Anerkennung einer positiven Wertvorstellung evoziert. Das gilt auch für die predellenartige Sockelpartie mit ihrer abbreviativen Darstellung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Wohlergehens, wie es sich – auch im übertragenen Sinn – unter der gerechten Herrschaft entfaltet (Abb. 19): unbehelligt zur Jagd oder zu Handelszwecken ausreitende Personen und zur Musik tanzende Figuren. Evident kontrastiert dieses Inbild friedvoller Prosperität dem Pendant zu Füßen der Ungerechtigkeit (Abb. 20), in dem, von der ignoranten Thronfigur gänzlich unbeachtet, Raub und Überfall, Mord und Totschlag herrschen, und in dem eine ungezügelte, unkultivierte Natur vor sich hin wuchert, um die baulichen Zeugnisse städtischer Zivilisation, nämlich Straßen, Wege, Mauern und Tore, sichtbar dem Verfall preiszugeben. Der Gegensatz zwischen der bedrohlichen, weil ungebändigten Natur (sowohl der Vegetation, als auch des Menschen selbst) auf der einen Seite und der Kultur beziehungsweise Zivilisation auf der anderen gewinnt hier schließlich eine besondere Pointe dadurch, dass auch der Modus seiner bildlichen Umsetzung selbst von diesem Gegensatz kündet, dergestalt, dass der Wohlstand als kunsthaft gestaltetes Relief mit ganz umlaufendem Rahmen und wohlgeordneter Komposition, sprich: als regelrechtes Kunstprodukt und als bildhaft bestimmtes Dispositiv vor Augen steht, das Gegenbild jedoch als ungestaltet, rahmenlos 22 So die unterhalb der Darstellung aufgeführte Inschrift; siehe Claudio Bellinati, „La cappella degli Scrovegni“, in: Claudio Bellinati/Lionello Puppi (Hrsg.), Padova. Basiliche e chiese, Vicenza 1975, Bd. 1, S. 247 – 268, hier S. 260; Giuseppe Basile, Giotto. Gli affreschi della Cappella degli Scrovegni a Padova, Mailand 2002, S. 389.
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und ohne eigentliche ,Sprachform‘ oder bildhaft bestimmte Künstlichkeitsmarkierung erscheint. Es liegt auf der Hand, dass von hier aus auch die gesamte Sockelpartie selbst eine zusätzliche Signifikanz gewinnt. Denn in ihrer hoch elaborierten, mit Referenzen nicht nur auf die seinerzeit moderne gotische Skulptur, sondern auch auf antike Vorgaben und auf deren illusionistische Bildrhetorik aufwartenden Gestalt steht sie als ethisch grundierte Manifestationsform eines kultivierten, auf Maximen und Verdienste der gesellschaftlichen Wohlgeordnetheit verpflichteten Selbstverständnisses vor Augen. Kurz: Die Formgestalt der Sockelzone insgesamt wird hier zu einer Figur der Evidenz. Der thronenden Gerechtigkeit wird mit der Figur der Ingiustizia (Abb. 17) ungewöhnlicherweise und gegen jede ikonographische Überlieferung eine Männergestalt gegenübergestellt, eine Bildidee, der offenkundig die Absicht zugrunde lag, die Ungerechtigkeit in der Gestalt eines Richters oder rettore zu spezifizieren, um sie auf diese Weise in den Horizont einer zeitgeschichtlich geprägten Wirklichkeit einzustellen und als ein politisches Exempel im Kontext aktueller Herrschaftspraktiken zu konkretisieren. So wird dem transpersonalen Prinzip der Gerechtheit ein anschauliches und erfahrungsnahes Bild von deren personalem Missbrauch, nämlich ihrer Usurpation durch einen zeitgenössischen magistrato mit Richterhut und Amtstracht gegenübergestellt. Unzweifelhaft liegt dieser Bildargumentation die zweckrationale und im kommunalen Regierungssystem institutionalisierte Leitidee zugrunde, jene Personen, die die öffentlichen Ämter besetzen, in fortwährender und gesetzlich festgelegter Rotation zu wechseln, um so den Primat des Amtes gegenüber der Person, des Prinzips gegenüber dessen individueller Ausübung zu wahren. Noch Bernhardinus von Siena wird 1427 bei der Erörterung der Frage, wie derjenige, der das Amt als Richter jeweils innehat, dem Prinzip der Gerechtigkeit dienen und es faktisch ausfüllen soll (Come debba ministrare iustizia chi ha offizio), auf diese Unterscheidung abheben und im Einklang mit einer in der Novellistik und politischen Rhetorik seit dem Trecento eingebürgerten Topik die Missachtung, Verkehrung und Pervertierung des kollektiven Ideals dadurch anprangern, dass er sie als Bild vom falschen rector entwirft, der sich in Wirklichkeit als raptor (Räuber, Raubtier) entpuppt.23 23 Vgl. dazu mit den betreffenden Belegen Giacomo Lumbroso, „La Giustizia e l’Ingiustizia dipinte da Giotto“, in: ders., Memorie italiane del buon tempo antico, Turin 1889, S. 3 – 15.
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Auf der anderen Seite bezeugt auch die Darstellung der Giustizia (Abb. 16) ihre Verankerung in Vorstellungszielen der bildlichen Symbolisierung, die weit über den konkreten Ort der Kapelle hinausreichen und generelle, politisch und gesellschaftlich wirksame Sinnansprüche der symbolischen Kommunikation verdeutlichen. In ihr gelangt nachgerade das zur Anschauung, was Edward Muir diesbezüglich einmal hintergründig mit dem Begriff der ,Transsubstantiation‘ belegt hat, indem er darlegte, dass sich das Bedürfnis nach Konkretisierung, Anschaubarkeit und Erlebbarkeit der vorderhand unsichtbaren, nicht-manifesten und auch institutionell nicht eigentlich festgeschriebenen Ordnungsideen des Sozialkörpers gerade in den neuen Stadtgesellschaften, die sich „mehr und mehr als dichte Cluster von sozialen Gruppen mit unterschiedlichsten sozialen Lagemerkmalen“24 formierten, als besonders dringlich erweisen musste, insofern die gemeinschaftsrelevanten Normen und Wertbesetzungen erst eigentlich auf diesem Wege, das heißt durch die Entfaltung von virtueller Sichtbarkeit, erlebbarer Plausibilität und identifikatorischer Erfahrbarkeit, auch gemeinschaftsstiftend und einheitsbildend werden konnten. „The task for late medieval and early modern cities“, so hat Muir diesen Sachverhalt beschrieben, „was to transubstantiate these disparate characteristics of a community into a mystic body, a mystified city […] that made possible a politicized city“.25 Kontrafaktisch zum Bild der Ingiustitia wird im Fall der Giustizia durch ihre evidente Assoziierung mit der Himmelskönigin Maria die professionelle Regierungskompetenz, die im politischen Kontext der Kommunen längst als ein säkulares Substitut und Kompensat an die Stelle der vormals göttlich legitimierten ,Übernatur‘ herrscherlichen Handels getreten ist, charismatisch überhöht und aller Alltäglichkeit institutioneller Verhältnisse entrückt. Damit tritt eine grundsätzliche und über diesen Fall hinausreichende Frage in den Blick, nämlich inwieweit angesichts der zunehmenden „funktionalen Ausdifferenzierung“ (N. Luhmann) identitätsstiftender Einheitsideale und Gemeinwohlideen aus bisherigen kirchlich-religiösen Fundierungszusammenhängen, wie sie im Zuge von Aristotelesrezeption und politischer Theoriebildung seit dem Duecento unüber24 Frank Rexroth, „Rituale und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung. Eine Skizze“, in: Hans-Werner Götz/Jörg Jarnut (Hrsg.), Medivistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinren Mittelalterforschung, München 2003, S. 391 – 406, hier S. 401. 25 Edward Muir, Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997, S. 233.
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sehbar voranschreitet26, öffentliche Bilder und Bildprogramme sowohl durch neuartige Ikonographien als auch und gerade durch medieneigene Sprachformen und Visualisierungsstrategien ein durch diese Entwicklung aufgetretenes charismatisches Vakuum besetzen und es, gewissermaßen kompensatorisch, mit religiöser beziehungsweise quasireligiöser Autorität zu füllen suchen. Der Umstand, dass die verrechtlichte, in einer rationalen und bürokratischen Amtswaltung verankerte Regierungsform als ein tiefgreifender Gegensatz zur charismatischen Herrschaft und ihrer zentralen Bestimmung der Außeralltäglichkeit anzusehen ist, wurde im Gefolge von Max Webers kultursoziologischer Grundlegung vielfach diskutiert.27 „Florentine civic time“, so hat etwa Richard Trexler den Zusammenhang historisch exemplifiziert, 26 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1989, S. 259 ff. Vgl. aus der umfangreichen Literatur bes.: Nicolai Rubinstein, „The Beginnings of Political Thought in Florence“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 5/1942, S. 198 – 227; Heiner Bielefeldt, „Von der päpstlichen Universalherrschaft zur autonomen Bürgerrepublik. Aegidius Romanus, Johannes Quidort von Paris, Dante Alighieri und Marsilius von Padua im Vergleich“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung f r Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung, 73/1987, S. 70 – 130; Jürgen Miethke, „Die Legitimität der politischen Ordnung im Spätmittelalter. Theorien des frühen 14. Jahrhunderts (Aegidius Romanus, Johannes Quidort, Wilhelm von Ockham)“, in: Burkhard Mojsisch/Olaf Pluta (Hrsg.), Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Festschrift f r Kurt Flasch zum 60. Geburtstag, Amsterdam – Philadelphia 1991, Bd. 2, S. 643 – 674; Cary J. Nederman, „Aristotelianism and the Origins of ,Political Sience‘ in the Twelfth Century“, in: Journal of the History of Ideas, 52/ 1991, S. 179 – 194; Tilman Struve, „Die Bedeutung der aristotelischen ,Politik‘ für die natürliche Begründung der staatlichen Gemeinschaft“, in: Jürgen Miethke (Hrsg.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, München 1992, S. 153 – 171; Michel Senellart, Les arts de governer. Du regimen mdival au concept de governement, Paris 1995, bes. S. 158 ff.; Quentin Skinner, Visions of Politics, 3 Bde., Bd. 2: Renaissance Virtues, Cambridge 2002, bes. S. 10 – 38 und S. 118 – 259. 27 „Die charismatische Herrschaft ist, als das Außeralltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bureaukratischen, als der traditionalen, insbesondere der patriarchalen und patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt. Beide sind spezifische Alltags-Formen der Herrschaft, – die (genuin) charismatische ist spezifisch das Gegenteil. Die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit […]“; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev.
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was consequently sine specie aeternitatis, and the personages of government were qualitatively appropriate neither to the sacred time of the liturgical calendar nor to the teleology of inexplicable events. In its everyday stable existence the commune featured impermanence and cosmic meaninglessness.28
Wie entschieden dieser Sachverhalt sich auch in der öffentlichen Bildpraxis niederschlug, kann ein offizieller Ratsbeschluss vom 20. Juni 1329 beleuchten, der unter Strafandrohung anordnet, dass „kein Führungsbeamter (rector) oder Funktionär (offitialis) des Volkes beziehungsweise der Kommune von Florenz“ durch die Anbringung seines gemalten Bildes oder seiner Wappen und Insignien an irgendeinem öffentlichem Ort zu ehren sei, und dass gegebenenfalls jedes derartige Bild umgehend wieder entfernt werden müsse.29 Eine offizielle und öffentliche Selbstdarstellung der Kommune konnte sich also nicht in Selbstbildern ihrer personalen Vertreter und individuellen Repräsentanten, sondern allein durch die demonstrativen Darstellungen einer idealen Kollektivität etablieren, besser gesagt: durch Bildfiktionen der communitas civium, die der eigenen Einheit und Geschlossenheit als Ausdruck und zugleich als Selbstversicherung zu dienen vermochten. Wirklich glaubhaft, identitätsstiftend und im produktiven Sinn einheitsbildend konnten solche Bildfiktionen, wie es scheint, allerdings am Ende nur dann wirken, wenn sich dabei im emphatischen Entwurf von Gemeinschaftsidealen auch eine dauerhaft verbindliche
Auflage, Tübingen 1980, S. 140 ff., hier S. 141. Vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. ber soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, bes. S. 63 ff.; Edith Hanke, „Max Webers ,Herrschaftssoziologie‘. Eine werkgeschichtliche Studie“, in: dies./Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, S. 19 – 46, bes. S. 43 ff.; Wilfried Nippel, „Charisma und Herrschaft“, in: ders., Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 7 – 22. 28 Richard C. Trexler, Public Life in Renaissance Florence, New York 1980, S. 333. 29 […] quod nullus rector vel offitialis populi vel Comunis Florentie pingat vel pingi seu fieri faciat seu permittat […] aliquam picturam seu sculpturam alicuius ymaginis vel armorum in muro, lapide vel pariete […] et quod omnis sculptura et picture huiusmodi tam facta in preterita quam que fieret in futurum […] tolli et abolleri et amoveri debeat […]; zitiert nach Max Seidel, „,Castrum pingatur in palatio‘ 1: Ricerche storiche e iconografiche sui castelli dipinti nel Palazzo Pubblico di Siena“, in: Prospettiva, 28/1982, S. 17 – 41, hier S. 41, Doc. 7. Vgl. Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz, 4 Bde., Berlin 1896 – 1927, Bd. III, S. 877; Nicolai Rubinstein, The Palazzo Vecchio 1298 – 1532. Government, Architecture, and Imagery in the Civic Palace of the Florentine Republic, Oxford 1995, S. 48.
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und als außeralltäglich beziehungsweise charismatisch implizierte Sinnorientierung anbot. Insbesondere im Hinblick auf die Darstellung der Giustizia (Abb. 16) lassen sich für unsere Frage nach der Produktion von Evidenz durch die mediale Wirksamkeit des Bildes zunächst zwei Beobachtungen festhalten: Zum einen die entschiedene Verwendung bildlicher Kategorien der Anschaubarkeit, der Miterlebbarkeit und der greifbaren Verkörperung zur Repräsentation eines gleichwohl abstrakten, unsichtbaren kollektiven Ideals; und zum anderen der Umstand, dass dieses abstrakte, kollektive Ideal zugleich zu einem quasi-religiösen Ideal verklärt wird, einerseits deshalb, weil das Religiöse auch in der Kommune nach wie vor ein Leitmodell, eine Instanz von höchster Integrations- und Identifikationskraft ist, andererseits aber auch deshalb, weil ein alternatives, genuin weltliches Anschauungs- oder Verkörperungsmodell nicht ohne weiteres zur Verfügung stand. Dieser Sachverhalt und seine Bedeutung lassen sich im Blick auf ein weiteres Beispiel näher beleuchten. Es handelt sich um ein monumentales Wandbild von 1343, das in der kunsthistorischen Literatur unter dem etwas missverständlichen Titel „Die Vertreibung des Herzogs von Athen“ eingeführt ist (Abb. 21).30 Es stellt – allegorisch überformt – ein politisches Szenarium vor Augen, das den Endpunkt jener dramatischen Ereignisse markiert, welche in der gesamten Geschichte des Florentiner Trecento die vielleicht akuteste Bedrohung und am tiefsten greifende Gefährdung der Republik darstellten, und die als solche in der betreffenden Geschichtsschreibung wie in der belletristischen Literatur noch über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg in dauerhafter, ja nachgerade traumatischer Erinnerung lebendig geblieben sind.31 Ne30 Samuel Y. Edgerton, Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during Florentine Renaissance, Ithaca – London 1985, S. 78 ff.; Roger J. Crum/David G. Wilkins, „In the Defense of Florentine Republicanism. Saint Anne and Florentine Art, 1343 – 1575“, in: Kathleen Ashley/Pamela Sheingorn (Hrsg.), Interpreting Cultural Symbols. Saint Anne in Late Medieval Society, Athens – London 1990, S. 131 – 168, hier S. 135 ff.; Gert Kreytenberg, „Bemerkungen zum Fresko der Vertreibung des Duca d’Atene aus Florenz“, in: Ronald G. Kecks (Hrsg.), Musagetes. Festschrift f r Wolfram Prinz zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1991, S. 151 – 165; ders., Orcagna. Andrea di Cione. Ein universeller K nstler der Gotik in Florenz, Mainz 2000, S. 34 ff.; Anita Valentini, „Genesi ed evoluzione dell’immagine di Sant’Anna a Firenze“, in: San’Anna die Fiorentini: storia, fede, arte, tradizione, Florenz 2003, S. 103 – 134, hier 103 f. 31 Vgl. Antonio Medin, „Il Duca d’Atene nella poesia contemporanea“, in: Il Propugnatore, N.F. 3/1890, S. 389 – 418; Louis Green, „The image of tyranny in
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gativer Protagonist der Geschehnisse war der Herzog von Athen, Walther von Brienne, der als Signore von Florenz 1343 nach langer Verhandlung in die Niederlegung der von ihm usurpierten Alleinherrschaft über die Stadt und zugleich in seinen Abzug unter freiem Geleit und mitsamt seinem administrativen und militärischen Gefolge einwilligte.32 Vorausgegangen war im Jahr zuvor, 1342, die ungewöhnliche Entscheidung der kommunal verfassten Stadtregierung, sich angesichts einer schweren Niederlage gegen den Erzfeind Pisa in einer militärisch überaus prekären Lage der Hilfe des Walther von Brienne zu versichern und ihn sowohl zum Capitano generale della guerra (Kriegsminister) als auch zugleich zum Gonfaloniere della Giustizia zu ernennen und damit in maßgeblichem Umfang die Kontrolle von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion in seine Hände zu legen. Wenige Wochen später folgte der in der Geschichte von Florenz ebenso singuläre wie fatale Beschluss, ihn zum Signore auf Lebenszeit zu ernennen. Dies bedeutet nichts weniger als eine kapitale Wende vom politischen System der Republik und ihrer strikten Entpersonalisierung der Macht durch eine permanente, auf allen staatlichen Ebenen eingeführte Ämterrotation zu demjenigen der personalisierten Alleinherrschaft, deren anderes Gesicht die Gewaltherrschaft beziehungsweise Tyrannei war. Als man sich der Dimension dieses Vorgangs nach und nach bewusst wurde, konnte schließlich nurmehr ein von der politisch entmachteten Führungsschicht (den popolani grassi) organisierter Volksaufstand den im Grunde ja selbst gegen sich ins Werk gesetzten Staatsstreich beenden und den Herzog von Athen unter Schonung seines Lebens, vor allem aber unter Vermeidung eines blutigen Bürgerkriegs, zum gewaltlosen Amts- und Machtverzicht zwingen, was in der Tat am 26. Juli 1343 geschah und damit dem Spuk der Tyrannei ein Ende setzte.33 Als man unmittelbar danach daran ging, die Geschehnisse und Vorgänge durch ein monumentales Erinnerungs- beziehungsweise Mahnbild im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und auf Dauer sichtbar zu halten, sah man sich vor die zuvor beschriebene Aufgabe gestellt, dass man in der bildlichen Darstellung gerade keinen personaearly fourteenth-century Italian historical writing“, in: Renaissance Studies, 7/ 1993, S. 335 – 351, hier S. 348 ff. 32 Zu Person und Wirkung: Ernesto Sestan, „Brienne, Gualtieri di“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 14/1972, S. 237 – 249. 33 Vgl. zum größeren Zusammenhang u. a. Gene A. Brucker, Florentine Politics and Society, 1343 – 1378, Princeton 1962, bes. S. 3 ff., 105 ff.; Marvin B. Becker, Florence in Transition, Bd. I: The Decline of the Commune, Baltimore 1967.
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lisierten Sieger beziehungsweise positiv besetzten Helden als geschichtliche Instanz vor Augen führen konnte und wollte, insofern der eigentliche Held oder Protagonist, wenn man so will, das Gemeinwohl und politisch-ökonomische Gemeinschaftsinteresse, das bonum comunis der Republik war. Eben dies: das geschichtstranszendente Ideal von Libertas, von freiheitlicher Selbstbestimmung und Gemeinwohl, das heißt der Sieg der republikanischen Regierungsform und Wertestruktur über den Machtusurpator, ist in hintergründiger Weise das eigentliche Thema des Gemäldes, das damit zugleich zu einem politischen Programmbild wird. Wie aber wird diese Bildabsicht im Fresko umgesetzt? Das monumentale Wandbild (Abb. 21), das ursprünglich am Florentiner Staatsgefängnis, den sogenannten Stinche34, angebracht war, zeigt im Zentrum und als eigentlich geschichtlich wirkenden Protagonisten nicht den Herzog von Athen, sondern die Thronfigur der heiligen Anna, an deren kirchlichem Festtag, dem 26. Juli 1343, die Vertreibung des Herzogs von Athen durch den Beschluss seiner Exilierung erfolgte.35 Sie setzt zu ihrer Rechten die städtische Miliz zur wehrhaften Selbstverteidigung der Republik ein: Im Vollzug eines symbolischen Aktes, der neuerlich auch hier als körperhaft imaginiert ist, überreicht sie den in voller Rüstung vor ihr knienden Vertretern der Miliz die Banner beziehungsweise Kriegsfahnen mit den heraldisch genau differenzierten Wappen des Capitano del Popolo (rotes Kreuz auf weißem Grund), der Stadt von Florenz (rote Lilie auf weißem Grund) und der Kommune als politischer Körperschaft (weiß-rot geteiltes Wappen) 36 und stellt damit die institutionell verfügte Einsetzung der Bürgerwehr vor Augen. Es sind dieselben Wappen, die auch das von zwei Engeln gehaltene Ehrentuch im Rücken der Heiligen schmücken und diese damit heraldisch als legitime und zugleich geschichtstranszendent, nämlich himmlisch sanktionierte Regentin von Florenz ausweisen. Sowohl der als feierliches Ritual der Bannerübergabe vollzogene Einsetzungsgestus als auch der signifikante Einsatz der Heraldik rekurrieren auf tradierte und ikonographisch eingebürgerte Ressourcen einer symbolischen Sprachform, die der Veranschaulichung, Bekräftigung 34 Andreas Bienert, Gefngnis als Bedeutungstrger. Ikonologische Studien zur Geschichte der Strafarchitektur, Frankfurt/M. 1996, S. 42 ff. 35 Trexler, Public Life (Anm. 28), S. 222. 36 Vgl. Luciano Artusi, Firenze araldica. Il linguaggio dei simboli convenzionali che blasonarono gli stemmi civici, Florenz 2006, S. 53 ff. und 63 – 66.
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und himmlisch sanktionierten Autoritätsbeglaubigung von rechtlichen, administrativen und des näheren politisch-institutionellen Gegebenheiten und Verhältnissen diente. Nur wenige Beispiele seien hier angeführt: Ein um 1360 entstandenes Tafelbild von Andrea di Bonaiuto, das den Heiligen Petrus Martyr bei der Einsetzung der mächtigen und einflussreichen Florentiner Confraternit della Misericordia durch die Übergabe der zwölf Kreuzbanner an die zwölf Capitani der Bruderschaft im Sinne eines mythisch überhöhten Gründungsbildes jener feierlichen Investitur zeigt, die sich laut Legende im Jahr 1245 ereignet haben soll (Abb. 22) 37; ein 1407 geschaffenes Relief an der Fassade von S. Tosca in Torcello, auf dem die Heilige den Kreuzstab mit dem Bruderschaftsbanner mit feierlichem Segensgestus an den vor ihr niederknienden, von zwei Kerzenträgern und weiteren Bruderschaftsmitgliedern begleiteten Guardian beziehungsweise Vorsteher der Gemeinschaft überreicht (Abb. 23) 38 ; oder etwa eine Miniatur von 1351 im Statutenbuch (Mariegola) der Scuola di Sant’Anna in Venedig, auf der die Thronfigur der Heiligen Anna Selbdritt mit ausgebreitetem Schutzmantel den beiderseits des Thrones knienden Männern und Frauen der Bruderschaft jeweils ein Kreuzbanner übergibt (Abb. 24) 39. Insbesondere war jedoch das besagte ikonographische Repertoire auch jenseits eines enger gefassten religiösen Kontextes eingebürgert, um dort in dezidierter Weise machtpolitische, ja militärisch implizierte Hierarchien und Rechtsbeglaubigungen zu bekunden. Eine Darstellung des Heiligen Ambrosius, der sein Waffen- beziehungsweise Speerbanner an einen hochgerüsteten Ritter übergibt, wurde im frühen 11. Jahrhundert im Gebetbuch des Bischofs Arnulf direkt ans Ende eines Gebets für Kaiser Heinrich II. gesetzt (Abb. 25). Dort figuriert es in klarer Intention als ein Bild der religiösen Machtlegitimierung und in Parteinahme gegen den politischen und militärischen Gegner, den Lombarden Ar-
37 Hanna Kiel (Hrsg.), Il Museo del Bigallo a Firenze, Mailand 1977, S. 119 f., Kat. 15; in noch prominenterer Sichtbarkeit zeigt dieselbe Ikonographie auch ein nurmehr schlecht erhaltenes Fresko des 15. Jahrhunderts, das sich an der zum Baptisterium gewandten Fassade der Bruderschaftssitzes befindet und in seinem ursprünglichen Bestand vermutlich ebenfalls auf das Trecento zurückgeht, vgl. ebd., S. 121 f., Kat. 13, 14 und 15. 38 Andreas Dehmer, Italienische Bruderschaftsbanner des Mittelalters und der Renaissance, München 2004, S. 108. 39 Ebd., S. 106 f.
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duin.40 In anderer, weitaus sichtbarerer exponierter Prominenz und demzufolge auch in reicherer und detaillierterer Ausführung bietet sich ein verwandtes Bildprogramm am Hauptportal von San Zeno Maggiore in Verona von ca. 1138 dar (Abb. 26): Es zeigt den Heiligen Bischof Zeno als den Schutzherrn der Stadt und recht eigentlich als deren angestammten, in Vertretung der imperialen Herrschaftsinstanz waltenden Machtträger beim symbolischen Akt der Segnung und Verleihung der militärischen Banner an das gerüstete Kriegsvolk von Verona, das hierarchisch geordnet in Gestalt sowohl der milites (Berittenen) als auch der pedites (Fußsoldaten) erscheint und dem der Heilige, wie die Inschrift bezeugt, die Fahne „mit heiterem Herzen“ als Signum seiner in Gottes Willen begründeten Friedensliebe gewährt (vexillum Zeno largitur corde sereno).41 Schließt das Florentiner Fresko an diese Tradition ikonographischer Vorgaben an, so transformiert es doch in signifikanter Abweichung davon das rituelle Einsetzungsbild zu einem quasi-szenischen Ereignisbild, das nunmehr ein singuläres historisches Geschehnis in einer raumund zeitlogischen Handlungskohärenz darzustellen vorgibt, um dabei gleichwohl mit klaren Brüchen der empirischen Logik zu verfahren. Zur Spezifik dieses bildsprachlichen Verfahrens gehört unter anderem auch die bis ins Einzelne hinein getreue Wiedergabe des Palazzo dei Priori (nachmals Palazzo Vecchio genannt) zur Linken der Heiligen, den sie mit einem Gestus des fürsorglichen Schutzes gleichsam in ihre Obhut nimmt (Abb. 27). Ungeachtet dieser geradezu porträtgenauen Wiedergabe des Palastes zielt seine Darstellung auf eine symbolische Ebene der Argumentation, insofern mit ihm als dem Amtssitz der Prioren und des Gonfaloniere della Giustizia die Legislative und damit die zentrale politische Machtinstanz der republikanischen Herrschaftsstruktur bezeichnet ist. Exekutive (in Gestalt der Miliz) und Legislative (in Gestalt des Palastes) werden also als zwei institutionell und regierungsrechtlich distinkte Gewalten gegenübergestellt und zugleich als flankierende Stützen einer höher, nämlich himmlisch legitimierten Herrschaft veranschaulicht. 40 Andrea von Hülsen-Esch, Romanische Skulptur in Oberitalien als Reflex der kommunalen Entwicklung im 12. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 198. 41 Ebd., S. 119 ff.; Joachim Poeschke, Die Skulptur des Mittelalters in Italien, Bd 1: Romanik, München 1998, S. 90 ff. Auf die Komplexität dieses Bildprogramms, das im Kontext einer Neujustierung des politischen Kräfteverhältnisses zwischen dem Bischof und der sich etablierenden Kommune der Stadtkonsuln zu sehen ist, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
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Damit ist ein wesentliches Merkmal der Bildstruktur benannt, das dieses Fresko ungeachtet aller Unterschiede mit Giottos Darstellung der Giustizia und der übrigen Tugenden und Lastern verbindet. Denn gerade durch die anschaulich fassbare, gegenständliche Konkretion, wie sie in der getreuen und bis in einzelne Baudetails veristischen Wiedergabe des Palazzo dei Priori etwa mit der seinerzeitigen ringhiera und den zwischenzeitlich befestigten Portalen erfolgt und wie sie ebenso in der realienkundlich präzisen Wiedergabe der aus institutionell sehr verschiedenen Teilen rekrutierten städtischen Miliz ins Werk gesetzt wird, gerade also durch die Bildsprache der gegenstandsnahen und die empirische Wirklichkeit vor Augen stellenden Konkretion wird hier eine abstrakt bestimmte Argumentation entfaltet und auf diese Weise Geschichtliches in einen geschichtstranszendenten Horizont gestellt. Das gilt auch für die rechte Bildseite des Freskos, die den bereits geleerten Thron zeigt, von dem soeben durch eine Tugendpersonifikation – vermutlich Fortitudo als tugendsymbolisches Pendant zur städtischen Miliz und deren ethisch fundierter Wehrhaftigkeit – der Herzog von Athen vertrieben wird (Abb. 28). Er tritt seinerseits, nicht unähnlich zum Fall von Giottos Ingiustizia, in zeitgenössischer Amtstracht auf und figuriert doch zugleich in allegorischer Kodierung, nämlich mit einem Monstrum und Hybridgebilde aus bärtigem Menschengesicht und Skorpionkörper in Händen, das ihm als Signum seiner bösartigen Verruchtheit und des näheren zu seiner Kennzeichnung als Betrüger und Staatsverräter beigegeben ist. Zu seinen Füßen liegen mit dem entzweigebrochenen Schwert, der in Stücke zerfallenen Waage, dem niedergeworfenen roten Gesetzesbuch und dem zerbrochenen Banner der Florentiner Signoria mit ihrem Motto Libertas 42 die sichtbaren Zeichen seines Machtmissbrauchs und näherhin die Beweisstücke seines Landesverrates. Es sind Symbole, die gleichwohl mit all ihrer konkreten Gegenständlichkeit im Bild aufwarten. Aufs Ganze gesehen lässt sich an dieser Stelle sagen, dass die Spezifik der bildsprachlichen Struktur darauf gerichtet ist, das singuläre historische Ereignis, das Ursache und Gegenstand der Darstellung war, als eben solches präsent und in seiner dauerhaften Aktualität bewusst zu halten und es doch im selben Zug zu hypostasieren und in einem Begrün42 Das Motto wurde bereits 1282 als offizieller Wappenspruch der Signoria als dem unabhängigen und ,frei gewählten‘ Regierungsgremium eingeführt; für deren Amtsvertreter bürgerte sich in der Folge die Bezeichnung Priori della Libert anstelle von Priori delle Arti ein; vgl. Artusi (Anm. 36), S. 71 f.
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dungszusammenhang zu verankern, der seine aktuelle und geschichtsimmanente Bedeutung übersteigt. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung ermessen, die der Figur der Heiligen Anna hier zukommt. Denn indem sie als personales Substitut die faktische Leerstelle einer nichtexistenten und in der politischen Theorie und Praxis nicht möglichen Herrscherfigur vertritt und diese imaginäre Instanz mit einer identifikatorischen Präsenz erfüllt, besetzt sie im Grunde ein charismatisches Vakuum. „Florentine government […] had power, but lacked authority; there was no king’s touch in the republic“, wie Trexler das strukturelle Defizit der nicht-signorialen Herrschaftsform formuliert.43 Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Figur der Heiligen Anna hier in denkbar ungebräuchlicher Weise nicht in der SelbdrittIkonographie erscheint, also mit der sonst obligatorischen Kennzeichnung ihrer Mutterschaft Mariens, sondern als einzelne regentengleiche Throngestalt mit Würdetuch und himmlischer Ehrengarde. Bildsprachlich wird damit wiederum mehr ermöglicht als nur die visuelle Aufrufung einer herrscherlich legitimierten Instanz. Denn unverkennbar weist die Bildanlage auch eine latente Assoziation zum angestammten Bildformular von Weltgerichtsdarstellungen auf (Abb. 29) und misst der Heiligen damit suggestiv den Rang einer richtergleichen Thronfigur an der Schnittstelle von irdischem und eschatologischem Horizont zu. Und mehr noch: In der motivischen Disposition des Gemäldes offenbart sich zugleich eine semantische Anspielung von weit präziserer Signifikanz, insofern ihr die eher seltene Ikonographie des Engelssturzes einverwoben ist. Die Wiedergabe eines heute verlorenen Freskos des späten Trecento, das sich ehemals in der Kirche Sant’Angelo in Arezzo befand, zeigt exemplarisch die betreffende Szenerie mit der zentralen Thronfigur Gottvaters, dem sich von links die solidarische Engelsschar kampfbereit zur Hilfestellung nähert, während rechts der leere Thron erscheint, von dem Luzifer in seinem Hochmut gestürzt wurde (Abb. 30).44 Bedenkt man, dass das Florentiner Fresko ehemals von einem rund umlaufenden, breiten Rahmen umfangen wurde, dessen nurmehr fragmentarisch erhaltene Partien ein figürliches Programm des Zodiacus mit Sternzeichen und Planeten als wahrscheinlich vermuten lassen, so zeichnet sich die kosmische Dimension eines re43 Trexler, Public Life (Anm. 28), S. 333. 44 Liletta Fornasari, „Arezzo gotica, dalle Vite del Vasari alla riscoperta critica di un Trecento aretino“, in: Aldo Galli/Paola Refice (Hrsg.), Arte in Terra d’Arezzo: il Trecento, Florenz 2005, S. 289 – 306, hier S. 294 und 300.
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gelrechten Weltgeschehens ab, zu der man das historische Ereignis des Sturzes von Walther von Brienne in Bezug setzte und symbolisch überhöhte.45 An dieser Stelle kann nicht näher auf jene Rekurse und Bezugnahmen eingegangen werden, die das Fresko in eine ebenso verbreitete wie prominente Tradition von allegorischen Darstellungen der kommunalen Herrschaftssysteme stellen.46 So entwirft etwa Ambrogio Lorenzettis berühmter Freskenzyklus des Buon Governo von 1338/1339 (Abb. 31) ein dezentrales, entschieden nicht-axiales und auf diese Weise enthierarchisiertes Bilddispositiv einer nicht personal, sondern institutionell gefügten Regierungsform, in der das Gemeinwohl (bonum comunis) selbst die Herrschaft innehat, eine Darstellung, die gleichwohl in reich differenzierter Weise mit höchst individuell spezifizierten Personifikationen aufwartet und in Kontrafaktur zur direkt benachbarten Darstellung des Mal Governo steht, eines tierhaften Tyrannen mit seinen lastergleichen Beratern beziehungsweise Beisitzern (Abb. 32). Lorenzettis Fresko rekurriert ebenso wie die bekannten Reliefs mit der Darstellung der Comune pelato und der Comune in signoria am Grabmal des Bischofs Guido Tarlati in Arezzo (Abb. 33 und 34) – und wie andere derartige Darstellungen mehr – letztlich auf eine heute verlorene Bilderfindung Giottos, der in Florenz im Palazzo del Podest eine monumentale Darstellung der von gierigen und eigennützigen Bürgern bedrängten Personifikation der Kommune gemalt hatte. Auch das Fresko mit der Vertreibung des Herzogs von Athen leitet sich aus dieser Tradition ab. Wie wichtig sie für die Bildkonzeption, genauer gesagt: für die schwierige Bildfindung dieser ungewöhnlichen Darstellung war, lässt sich erst dann wirklich ermessen, wenn man sich verdeutlicht, dass gleichzeitig mit dem uns überlieferten Fresko ein weiteres geschaffen wurde, das an der Außenmauer des Palazzo del Podest angebracht wurde. Über sein Aussehen sind wir nur durch schriftliche Überlieferungen informiert, die von Vasari (1568) bis ins
45 Zur Bedeutung der Astrologie als einem Grundmuster für das Verständnis, für die Interpretation und für die Modellierung von Geschichte in der Florentiner Chronistik des Trecento (u. a. Giovanni Villani) siehe Dieter Blume, Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000, S. 85 ff. 46 Vgl. zum Überblick die Angaben in Anm. 10.
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19. Jahrhundert reichen.47 Dabei zeichnet sich ab, dass man in Florenz offenbar die Sieneser Allegorie des Mal Governo (Abb. 32) auf Walther von Brienne übertrug und ihn als tyrannischen Gewaltherrscher in Begleitung von sechs schlechten Beratern zeigte. Dieses Wandbild aber war bei den Zeitgenossen höchst umstritten, weil es – im Gegensatz zu dem erhaltenen Fresko – nicht nur den Herzog von Athen als zentral thronenden Protagonisten exponierte und eben hierdurch historischen Missverständnissen Vorschub zu leisten vermochte, sondern weil es per se auch dauerhaft die faktische historische Situation vor Augen stellte, dass der Herzog von Athen einst freiwillig von Florenz zum Signore gewählt worden war, eine Situation, die Florenz selbst als eigene politische Schande ansehen musste. Kurz: Das als Schandbild des Herzogs von Athen geschaffene Gemälde stand in stets latenter Gefahr, als Erinnerungsbild der Schande von Florenz angesehen zu werden. perocch fu memoria di difetto e vergogna del nostro comune, che ’l facemmo nostro signore, wie bereits in den späten 1340er Jahren der Florentiner Chronist Giovanni Villani in aller Offenheit bekundete.48 Das Beispiel zeigt, welcher semantischen Imponderabilien die allegorische Kodierung im Medium der neuen Bildsprache und damit angesichts des Fehlens hergebrachter ikonographischer Konventionen ausgesetzt war und wie leicht die Intention suggestiver Evidenz auch einem Kippeffekt unterliegen konnte: Dergestalt dass man sich im Fall des Freskos am Palazzo del Podest nicht anders zu helfen wusste, als das Bild bei der Gelegenheit bestimmter Staatsempfänge oft kurzerhand mit Tüchern zu verhüllen. Im einen wie im anderen Fall, im Gelingen der Bilder wie in ihrem Scheitern, bezeugt sich am Ende, dass die Symbolisations- und Visualisierungsleistung, die sich als kommunikatives Potenzial in der Praxis öffentlicher Bildpolitik im Trecento entfaltet, an eine besondere Komplexität von bildlichen Strukturen geknüpft ist. Diese Strukturen weisen die öffentlichen Bilder als Medien aus, die an der Schnittstelle nicht nur zu vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Kontexten stehen, sondern auch und gerade zu reich elaborierten visuellen Diskursen und zu deren genuiner Weise der Bedeutungsproduktion. Es sind mithin Strukturen, die sich kaum auf die Vorstellung von gesellschafts-, mentalitäts- oder gar klassenspezifischen Ausdrucks- oder 47 Giovan Battista Uccelli, Palazzo del Podest. Illustrazione storica, Florenz 1865, S. 165 ff.; L. Passerini, Del Pretorio di Firenze, Florenz 1865, S. 20 ff.; Crum/ Wilkins, „In the Defense“ (Anm. 30), S. 139 f. 48 Cronica 4, 62, zitiert nach Crum/Wilkins, „In the Defense“ (Anm. 30), S. 161.
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Stilmodi reduzieren lassen, wie dies etwa Frederick Antal, Millard Meiss und andere gerade für die Kunst des Trecento unternommen haben.49 Denn sie entfalten, wie oben ausgeführt, diese genuine Leistung nicht als ,Ausdruck‘ prästabilierter Sachverhalte und Semantiken und auch nicht als lediglich verbildlichte Wiedergabe von Prätexten, sondern als ein ästhetisch wirksames Dispositiv, das sich der Praxis der sozialen, religiösen und kulturellen Imagination als eigenproduktives Ferment einschreibt.
49 Frederick Antal, Florentine Painting and its Social Background. The Bourgeois Republic before Cosimo de’ Medici’s Advent to Power: XIV and early XV Centuries, London 1948; Millard Meiss, Painting in Florence and Siena after the Black Death, Princeton 1951; vgl. außerdem die betreffenden Rezensionen von Mommsen, Meiss und van Os. Vgl. dazu die betreffende, langwährende Diskussion u. a. von Heinrich D. Gronau, in: The Burlington Magazine, 90/1948, S. 297 – 298; Millard Meiss, in: The Art Bulletin, 31/1949, S. 143 – 150; Theodor E. Mommsen, in: Journal of the History of Ideas, 11/1950, S. 369 – 379; Wallace K. Ferguson/Benjamin Rowland, Jr., in: The Art Bulletin, 34/1952, S. 317 – 322; Anna Wessely, „Die Aufhebung des Stilbegriffs – Frederick Antals Rekonstruktion künstlerischer Entwicklungen auf marxistischer Grundlage“, in: Kritische Berichte, 4/1976, S. 16 – 35; Henk van Os, „The Black Death and Sienese Painting: A Problem of Interpretation“, in: Art History, 4/1981, S. 237 – 249 und Bruce Cole, „Some Thoughts on Orcagna and the Black Death Style“, in: Antichit viva, 22/1983, S. 27 – 37.
Die Sprache als Weg in die Transzendenz: Baltasar Graciáns Comulgatorio Sebastian Neumeister I Jeder Versuch eines Brückenschlags zwischen diesseitiger Immanenz und metaphysischer Transzendenz hat es mit der Sprache zu tun, näherhin mit der Mitteilung der Unmitteilbarkeit der Transzendenz. Walter Haug hat in einer Skizze zur Geschichte der Mystik davon gesprochen, dass die mystische Erfahrung als „Herausgehobenwerden aus der Bedingtheit menschlichen Erkennens und Seins“ zwar jenseits aller raumzeitlichen Bestimmbarkeit angesiedelt ist, doch gleichwohl insofern (sprach-) geschichtlich ist, als sie sich in mystischen Texten manifestiert. Die Geschichte mystischen Sprechens ist so die Geschichte eines immer neuen Experimentierens an der Grenze zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, zwischen Versuchen der Annäherung an das Unfassbare und Verzicht darauf, immer in Anerkennung der unüberbrückbaren Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz, wie sie das Laterankonzil von 1215 formuliert hat: Inter Creatorem et creaturam non tanta similitudo notari, quin inter eos maior dissimilitudo notanda. 1 Die Versuche einer in Texten realisierten Annäherung an das Unaussprechliche im Paradox unähnlicher Ähnlichkeit sind gleichwohl ohne Zahl. Eine Extremposition nimmt im Bereich der spanischen Literatur, auf die hier die Aufmerksamkeit eingegrenzt bleiben muss, Johannes vom Kreuz (San Juan de la Cruz, 1542 – 1591) ein. Er steht mit seinen Gedichten, insbesondere der Noche oscura und dem Cntico espi1
Walter Haug, „Wendepunkte in der Geschichte der Mystik“, in: ders. (Hrsg.), Mittelalter und frhe Neuzeit. bergnge, Umbrche und Neuanstze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 357 – 377. Einen interessanten Versuch, Mystik aus systemtheoretischer Sicht zu beschreiben, bietet Peter Fuchs, „Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität?“, in: ders./Niklas Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 70 – 100.
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ritual einschließlich der dazugehörigen Erläuterungen, für die Ausblendung aller sinnlichen und rationalen Erkenntniswege zugunsten einer Nacht der Immanenz, in der allein die mystische Vereinigung mit Gott sich ereignen kann. Alle Versuche der Annäherung an Gott sind für ihn nur Vorbereitung – Reinigung, Entleerung – im Blick auf eine mystische Erfahrung, deren Mitteilbarkeit letztlich negiert wird.2 Auch Teresa von Ávila betont in ihren Moradas (Die innere Burg, 1577) ausdrücklich, nur auf Befehl der Obrigkeit zu handeln, und zieht sich schon im ersten Satz ihrer Schrift hinter die Bitte zurück, der Herr selbst möge durch sie reden, und die entscheidende Metapher sei ihr ohne eigenes Zutun gekommen: Estando hoy suplicando a Nuestro SeÇor hablase por mi, porque yo no atinaba a cosa que decir ni cmo comenzar a cumplir esta obediencia, se me ofreci lo que ahora dir para comenzar con algffln fundamento, que es considerar nuestra alma como un castillo todo de un diamante u muy claro cristal, adonde hay muchos aposentos, ans como en el cielo hay muchas moradas. 3 (Wie ich heute unseren Herrn anflehte, er möge durch mich reden – weil ich nichts zu sagen fand und nicht wußte, wie ich mit der Erfüllung dieser Aufgabe beginnen sollte –, da bot sich mir dar, was ich nunmehr sagen und als Fundament gebrauchen möchte: nämlich unsere Seele als ein Burg zu betrachten, die ganz aus einem Diamant oder einem sehr klaren Kristall besteht und in der es viele Gemächer gibt, gleichwie im Himmel viele Wohnungen sind.)
Von dieser Position eines semiotischen Pessimismus gilt es Versuche abzugrenzen, das Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit in der Beschreibung göttlicher Präsenz positiv oder zumindest auf dem Wege eines Kompromisses aufzulösen. Walter Haug führt dafür als Beispiel die ,natürliche Mystik‘ an, die der Niederländer Jan Ruysbroek im 14. Jahrhundert in seiner Zierde der geistlichen Hochzeit (Die Chierheit der Gheesteleker Brulocht) in der Nachfolge Meister Eckharts postuliert hat, ein Weg zu Gott, der auf die unabdingbare Gnade der kirchlichen Sakramente baut, der aber auch die menschlichen Tugenden einbezieht.4 Es ist diese pragmatische Behandlung des Dialogs mit Gott, von 2 3 4
Zu San Juan de la Cruz vgl. Teuber, Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München 2003 (mit Bibliographie). Moradas del castillo interior, I,1. Das gleiche Bild findet sich auch in ihrer Lebensbeschreibung (Libro de la vida, Kap. I und XIII) und im Camino de perfeccin (Kap. III und XXIII). Haug, „Wendepunkte“ (Anm. 1), S. 373 f.
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der die Idee der Nachfolge Christi und die Psychologisierung des Glaubens in der devotio moderna ihren Ausgang nimmt. Ihren wohl prominentesten Vertreter hat sie in Ignatius von Loyola (1491 – 1556) und seinen Exercitia spiritualia gefunden.5 Ignatius berichtet in seinem Tagebuch, das er 1545/1546 fast genau ein Jahr lang geführt hat, und in seiner späten Autobiographie auch von eigenen mystischen Visionen. Seine Bedeutung für die Geschichte der Möglichkeiten einer Begegnung mit Gott ergibt sich indes vor allem aus den Exercitia spiritualia, die als ein ebenso erfolgreiches wie folgenreiches Handbuch der christlichen Meditation und Psychotechnik zu dieser Geschichte gehören. Um den Weg zu beleuchten, der von seinen mystischen Erfahrungenen aus zu den Exercitia spiritualia führt, sei hier nur eines dieser Zeugnisse herausgegriffen, dem im vorliegenden Zusammenhang besondere Bedeutung zukommt. Es handelt sich um die Tagebucheintragung vom 27. Februar 1544: (82) Del primero de Coaresma 26.8 Mircoles (27 Febr.). – En la oracin slita asaz bien y como comfflnmente sol a, hasta la media, adelante en mucho aumento hasta la fin inclusive, con mucha devocin, quietud y suavidad espiritual, restando en m despus una continua devocin, preparndome en cmara y encomendndome a Jesffl, no para ms confirmar en ninguna manera, mas que adelante de la sant sima Trinidad se hiciese cerca de m su mayor servicio, etctera, y por la v a ms expediente; como yo me hallase en su gracia. En esto, recibiendo alguna luz y esfuerzo. (83) Y entrando en la capilla, en oracin, un sentir, o ms propiamente ver, fuera de las fuerzas naturales, a la sant sima Trinidad y a Jesffl, asimismo representndome o ponindome, o seyendo medio junto la sant sima Trinidad, para que aquella visin intelectual se me comunicase, y con este sentir y ver, un cubrirme de lgrimas, y de amor, mas terminndose a Jesffl; y a la sant sima Trinidad un respecto de acatamiento y ms allegado a amor reverencial que al contrario alguno. (84) Despus asimismo sentir a Jesffl haciendo el mismo oficio, en el pensar de orar al Padre, parecindome y sentiendo dentro que l hac a todo delante del Padre y de la sant sima Trinidad. (85) Entrando en la misa, con muchas lgrimas, y continundome por todo ella mucha devocin y lgrimas. Asimismo en un paso notablemente vi la misma visin de la sant sima Trinidad que primero, siempre aumentndose en m mayor amor cerca la su divina majestad y algunas veces querindome faltar la habla.
5
Zu Ignatius vgl. Hugo Rahner, Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe, Freiburg/Br. [u.a.] 1964.
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(86) Acabada la misma, en la oracin y despus al fuego diversas veces con mucha intensa devocin, terminndose a Jesffl, y no sin especiales mociones interiores a lgrimas o ms adelante: (87) Y al escribir desto un tirarme el entendimiento a ver la sant sima Trinidad y como viendo, aunque no distinte como antes, tres personas, y en el tiempo de la misa, al decir de ,Domine Iesu Christe, filii Dei, vivi, etc.‘, me parec a en esp ritu viendo que primero hab a visto a Jesffl, como dije, blanco, id est, la humanidad, y en este otro tiempo, sent a en mi nima de otro modo, es a saber, no as la humanidad sola, mas ser todo mi Dios, etc., con una nueva efusin de lgrimas y devocin grande, etc. 6 (26. Mittwoch [27. Februar]. – Beim gewöhnlichen Gebet gings ziemlich gut und dies, wie es gewöhnlich zu sein pflegte, bis zur Mitte; dann starke Zunahme bis zum Ende einschließlich mit viel Andacht, Ruhe und geistlicher Wonne, und seitdem verblieb in mir eine beständige Andachtsstimmung. Als ich mich dann in meinem Zimmer auf die Messe vorbereitete, empfahl ich mich Jesus, nicht damit er irgendwie die Wahl noch mehr bekräftigte, sondern auf daß im Angesichte der heiligsten Dreifaltigkeit in betreff meiner ihr größerer Dienst erreicht werde usw. und das auf dem Wege, der geeigneter wäre, mich in ihrer Gnade zu erhalten. Dabei ward mir ein gewisses Licht und eine gewisse Stärke zuteil. Wie ich in die Kapelle trat und das Gebet begann, kam mir ein Wahrnehmen oder eigentlich mehr ein Schauen der heiligsten Dreifaltigkeit und ein Schauen Jesu, das die natürlichen Kräfte überstieg. Dabei stellt ich mir vor, ich befinde mich ganz in der Nähe der heiligsten Dreifaltigkeit, oder vielmehr ich versetzte mich dahin oder war da, auf daß jene geistige Schauung sich mir noch mehr mitteile. Bei diesem Wahrnehmen und Schauen bedeckte sich mein Gesicht mit Tränen und wurde ich von Liebe erfüllt, zugleich aber stellte sich ein Gefühl tiefer Ehrerbietigkeit ein gegen Jesus und die heiligste Dreifaltigkeit und so neigte ich mehr zu einer von Ehrfurcht beseelten Liebe hin als zu irgendeiner anderen Stimmung. Hierauf nahm ich desgleichen wahr, wie Jesus mir wieder denselben Dienst erweisen wollte, indem er beabsichtigte, beim Vater Fürbitte einzulegen, und es dünkte mir – und so nahm ich es auch in meinem Innern wahr –, daß er es sei, der alles beim Vater und der heiligsten Dreifaltigkeit ausrichte. Ich begann die Messe unter vielen Tränen und während ihrer ganzen Dauer hielten die große Andacht und die Tränen bei mir an. Ebenso hatte ich namentlich bei einer Stelle dieselbe Schauung der heiligsten Dreifaltigkeit wie vorhin, wobei in meinem Innern die Liebe zu ihrer göttlichen 6
San Ignacio de Loyola, Obras. Edicin manual, Madrid 61997 (Biblioteca de Autores Cristianos), S. 384 f. Im folgenden werden zur leichteren Auffindbarkeit in Klammern die in dieser Ausgabe verwendeten Ordnungsnummern angegeben. Die Übersetzung des Tagebuches folgt der Version von Alfred Feder, Aus dem geistlichen Tagebuch des hl. Ignatius von Loyola, nach dem spanischen Urtext übertragen, eingel. und mit Anm. vers. von Alfred Feder S. J., Regensburg 1922.
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Majestät immer mehr anwuchs und größer wurde; einige Male war ich nahe daran, die Sprache zu verlieren. Nach der Messe während des Dankgebetes und nachher am Kaminfeuer verschiedene Male große innige Andacht, die sich mit Jesus beschäftigte, und öfters nicht ohne besonderen inneren Andrang von Tränen oder von noch größeren Tröstungen. Beim Niederschreiben dieser Vorgänge, wird mein Verstand entrückt, um die heiligste Dreifaltigkeit zu schauen, und dabei sehe ich noch eben, wenn auch nicht so deutlich wie vorhin, drei Personen: dasselbe hatte sich ereignet während der Messe beim Beten des ,Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes usw.‘ Es schien mir aber im Geiste, daß ich beim Schauen das erste Mal, wie bereits gesagt, Jesus gesehen hatte in einem weißen Lichte, d. h. seine Menschheit, während ich ihn das zweite Mal in meiner Seele auf eine andere Weise wahrnahm, nämlich nicht, wie vorher, die Menschheit allein, sondern wie er ganz und gar Gott ist usw.; dabei dann neuer Ausbruch von Tränen und große Andacht usw.)
Die Eintragung ist in mehrfacher Hinsicht und nicht nur wegen ihres Inhalts, einer Vision Christi und der Trinität, von besonderem Interesse. Ignatius selbst hat dies schon durch die nachträgliche Einrahmung bestimmter Abschnitte signalisiert, darunter eines (85), der anders als alle anderen so hervorgehobenen Eintragungen des Tagebuchs von Ignatius nicht nur links und waagerecht abgegrenzt wurde, sondern auf allen Seiten eingerahmt. In allen diesen Passagen geht es um Visionen himmlischer Erscheinungen und im dazugehörigen Kontext um ihre Entstehung. Im vorliegenden Fall ist eine deutliche Steigerung festzustellen. Sie nimmt ihren Ausgang von einem Zustand ohne Besonderheit (la oracin slita, como comfflnmente sol a), verstärkt sich dann deutlich (mucho aumento) und mündet schließlich in einem Zustand erhöhter, doch stetiger Erleuchtung: con mucha devocin, quietud y suavidad espiritual. Ignatius nutzt diesen Zustand einer continua devocin, in dem er sich auf die Messe vorbereitet (preparndome en cmara) und Jesus um Beistand angesichts der Trinität bittet. Wirklich wird Ignatius eine Empfindung (un sentir) oder, besser gesagt, der übernatürliche Anblick (o ms propiamente ver, fuera de las fuerzas naturales) Jesu und der Trinität zuteil, eine geistige Vision (vision intelectual), die ihm, so scheint es, Jesus ermöglicht, indem er ihn vor der Trinität vertritt und in ihrer Nähe plaziert: representndome o ponindome, o seyendo medio junto la san sima Trinidad. Jesus ist der helfende Mittler, so wie er zwei Tage zuvor die Gebete des späteren Heiligen dem himmlischen Vater präsentiert hat (en las oraciones al Padre me parec a que Jesus las presentaba, 77) und wie er ihm auch unmittelbar
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danach denselben Dienst noch einmal erweist (84). Lohn dieses erneuten Eingreifens Jesus ist hier die nochmalige zweifache Vision der Trinität und Jesu Christi in seiner diesmal göttlichen Gestalt, immer begleitet von heftigen Gemütsbewegungen. In der Erläuterung der spanischen Ausgabe, die sich dem Kommentar von Peter Knauer anschließt7, ist es Jesus, der als Mittler zwischen Ignatius und der Trinität tätig ist. Allerdings sieht Ignatius dabei zweimal Jesus, einmal in seiner menschlichen, einmal in seiner göttlichen Gestalt, so dass der Mittler der Vision zugleich ihr Objekt wäre. Auch wird nicht recht klar, wie Jesus Ignatius vertreten beziehungsweise spielen kann ( Jesffl, asimismo representndome). Es gibt deshalb auch die vom hier zitierten Übersetzer Alfred Feder bevorzugte Lesart, derzufolge nicht Jesus, sondern Ignatius der aktiv Handelnde ist: „Dabei stellte ich mir vor, ich befinde mich ganz in der Nähe der heiligsten Dreifaltigkeit, oder vielmehr ich versetzte mich dahin oder war da, auf daß jene geistige Schauung sich mir mitteile.“ Diese Version, in der nicht Jesus Ignatius vertritt, oder repräsentiert, sondern Ignatius sich die Trinität vorstellt, para que aquella visin intelectual se me comunicase, würde sehr gut zu den Anweisungen passen, die Ignatius in seinen zehn Jahre zuvor begonnenen und erstmals 1541 in lateinischer Version vorliegenden Exerzitienbuch gibt. Sichtbar wird jedoch in Anwendung beider Interpretationen, dass Ignatius Visionen hat, die er zwar, wie der Ausdruck visin intelectual zeigt, als geistige Phänomene versteht, die aber gleichermaßen Sehen und Fühlen betreffen: con este sentir y ver, beziehungsweise, noch genauer formuliert, un sentir o ms propiamente ver (83). Ignatius berichtet in den Eintragungen des Tagebuchs, die er selbst nachträglich in der oben angegebenen Weise als wichtig markiert hat, immer wieder von solchen Visionen, gefolgt stets von heftigen Gemütsbewegungen, die sich in Tränen lösen (52 – 90). Das Weinen scheint als einzige Ausdrucksform geeignet, die Gewalt des Erlebten aufzufangen, während die Sprache versagt, und erst in den Aufzeichnungen wieder zu Wort kommt. Dass die Tagebuchaufzeichnungen reinen Protokollcharakter haben und in ihrer Aussagekraft sehr allgemein gehalten, ja fast nichtssagend sind, zeigt zum einen das Versagen der Sprache vor der Aufgabe einer detaillierten Wiedergabe der Vision und zum anderen, dass dieses Versagen für Ignatius anders als für die Mystiker kein größeres Problem darstellt. 7
Das geistliche Tagebuch, hrsg. von Adolf Haas und Peter Knauer, Freiburg/ Br. 1961; vgl. Loyola, Obras (Anm. 6), S. 384, Anm. 151.
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II Wendet man sich von hier aus den Exercitia spiritualia zu, so zeigt sich, dass auch hier ein äußerst pragmatisches Verhältnis zur Sprache und ihrer Evokationsfähigkeit herrscht, wie es ja auch einem Handbuch entspricht.8 Es fällt gleichwohl auf, dass Ignatius durchweg die sinnliche und hier besonders die visuelle Vorstellung favorisiert, bezogen jedoch nicht auf erlebte Visionen, sondern als vom Willen gesteuerte Vorstellungen im Sinne der oben angedeuteten Psychotechnik der compositio loci. Das wird schon in der ersten Vorübung der ersten Übung der ersten Woche der Exerzitien in aller Deutlichkeit sichtbar. (47) 1.8 prembulo. El primer prembulo es composicin viendo el lugar. Aqu es de notar que en la contemplacin o meditacin visible, as como contemplar a Cristo nuestro SeÇor, el qual es visible, la composicin ser ver con la vista de la imaginacin el lugar corpreo donde se halla la cosa que quiero contemplar. Digo el lugar corpreo, as como un templo o monte, donde se halla Jesu Cristo o Nuestra SeÇora, segffln lo que quiero contemplar. En la invisible, como es aqu de los pecados, la composicin ser ver con la vista imaginativa y considerar mi nima ser encarcerada en este cuerpo corruptible y todo el compsito en este valle, como desterrado entre brutos animales; digo todo el compsito de nima y cuerpo. 9 (Die erste Vorübung. Die erste Vorübung besteht in einer Vorstellung, wobei ich mir im Geiste den Ort vergegenwärtige. Hier ist zu bemerken, daß bei einer Beschauung oder Betrachtung über einen sichtbaren Gegenstand, wie z. B. bei einer Betrachtung über unseren Herrn Jesum Christum, der anschaubar ist, diese Vorstellung darin besteht, daß ich mit dem Auge der Einbildungskraft den körperlichen Ort sehe, wo jener Gegenstand, den ich betrachten will, sich befindet. Ich nenne einen körperlichen Ort, z. B. den Tempel oder Berg, wo Jesus Christus oder Unsere Liebe Frau gegenwärtig ist, je nach der Sache, welche ich zu betrachten gesonnen bin. Bei der Betrachtung über einen unsichtbaren Gegenstand, wie z. B. hier über die Sünden, besteht die Vorstellung darin, daß ich mit dem Blicke der Einbildungskraft sehe und betrachte, wie meine Seele in diesem verweslichen Körper wie in einem Kerker eingeschlossen sei, und der ganze Mensch gleichsam ein Verbannter in diesem Tale unter unvernünftigen Tieren lebt. Ich meine den ganzen Menschen, Seele und Leib.) 10 8 Vgl. Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Paris 1971, bes. S. 45 – 50; sowie Sebastian Neumeister, „Das unlesbare Buch. Die ,Exercitia‘ des Ignatius aus literaturwissenschaftlicher Sicht“, in: ders., Literarische Wegzeichen. Vom Minnesang zur Generation X, Heidelberg 2004, S. 137 – 152, bes. Abschnitt I. 9 Loyola, Obras (Anm. 6), S.236. 10 Das Exerzitienbuch in deutscher Sprache wird hier und im folgenden ohne Seitenangabe in der Übersetzung von Ferdinand Weinhandl zitiert: Ignacio de Loyola, Die Exerzitien und aus dem Tagebuch, München 1978.
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Ignatius unterscheidet bei seiner Konzeption einer räumlichen Visualisierung (composicin viendo el lugar), wie sie bekanntlich seit der Antike auch die Mnemotechnik kennt, die Vorstellung sichtbarer Objekte, wie zum Beispiel von Christus, und die Vorstellung unsichtbarer Objekte, also zum Beispiel moralische Qualitäten wie die Sünde. In beiden Fällen schlägt er vor, das Objekt mit den Augen des Geistes (ver con la vista de la imaginacin beziehungsweise con la vista imaginativa) räumlich zu situieren, zu verorten. Berühmte Beispiele dieser räumlichen Vorstellung, sind die Betrachtung der Hölle in der fünften Übung der ersten Woche und die Betrachtung der Heere Christi und Luzifers am fünften Tage der zweiten Woche der Exerzitien, das eine versammelt in der Gegend um Jerusalem, das andere in der Gegend um Babylon. Hier sei nur die Vorstellung der Hölle zitiert, da für sie in eindrucksvoller Intensität alle Sinne eingesetzt werden sollen: (65) Quinto exercicio es meditacin del infierno; contiene en s , despus de la oracin preparatoria y dos prembulos, cinco punctos y un coloquio. Oracin. La oracin preparatoria sea la slita. 18 prembulo. El primer prambulo composicin, que es aqu ver con la vista de la imaginacin la longura, anchura y profundidad del infierno. 28 prembulo. El segundo, demandar lo que quiero: ser aqu pedir interno sentimiento de la pena que padescen los daÇados, para que si del amor del SeÇor eterno me olvidare por mis faltas, a lo menos el temor de las penas me ayude para no venir en pecado. (66) 1.8 puncto. El primer puncto ser ver con la vista de la imaginacin los grandes fuegos, y las nimas como en cuerpos gneos. (67) 2.8 El 2.8: o r con las orejas llantos, alaridos, voces, blasfemias contra Cristo nuestro SeÇor y contra todos sus santos. (68) 3.8 El 3.8: oler con el olfato humo, piedra azufre, sentina y cosas pffltridas. (69) 4.8 El 4.8: gustar con el gusto cosas amargas, as como lgrimas, tristeza y el verme de la consciencia. (70) 5.8 El 5.8: tocar con el tacto, es a saber, cmo los fuegos tocan y abrasan las nimas. 11 (Die fünfte Übung besteht in der Betrachtung über die Hölle. Sie enthält nach dem Vorbereitungsgebet und zwei Vorübungen fünf Punkte und ein Gespräch. Das Vorbereitungsgebet wie gewöhnlich. 11 Loyola, Obras (Anm. 6), S. 241.
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Die erste Vorübung besteht in einer Versinnlichung und darin, daß ich mit dem Blicke der Einbildungskraft Länge, Breite und Tiefe der Hölle sehe. Die zweite Vorübung besteht in der Bitte um das, was ich zu erlangen wünsche. Hier ein recht lebendiges Gefühl der Strafe, welche die Verdammten leiden, damit, wenn ich je wegen meiner Mängel und Fehler der Liebe meines ewigen Herrn vergesse, doch wenigstens die Furcht vor der Strafe mich unterstützt, daß ich in keine Sünde gerate. Der erste Punkt besteht darin, daß ich mit den Augen der Einbildungskraft jene unermeßlichen Feuergluten und die Seelen wie in feurigen Körpern sehe. Der zweite Punkt besteht darin, daß ich mit den Ohren der Einbildungskraft das Weinen, Geheul, Geschrei, die Lästerungen gegen Christum unseren Herrn und gegen alle seine Heiligen höre. Der dritte Punkt besteht darin, daß ich mit dem Geruchssinne der Einbildungskraft den Rauch, Schwefel, die Pfütze und Fäulnis in der Hölle rieche. Der vierte Punkt besteht darin, daß ich mit dem Geschmackssinne der Einbildungskraft die bitteren Dinge, die Tränen, die Traurigkeit, den Gewissenswurm in der Hölle koste. Der fünfte Punkt besteht darin, daß ich mit dem Tastsinne der Einbildungskraft jene Gluten berühre, die die Seelen erfassen und brennen.)
Das Beispiel macht es zur Genüge deutlich: Ignatius geht es in den Exerzitien nicht um solche mystische Visionen, wie er sie selbst erlebt und protokolliert hat, sondern um die psychotechnisch kontrollierte Produktion von Vorstellungen zum Zwecke des Seelenheils, also um geistliche Übungen im Sinne des Wortes. Ignatius hat dies in der ersten Vorbemerkung der Exercitia spiritualia in aller Klarheit ausgesprochen: Annotaciones para tomar alguna inteligencia en los exercicios spirituales que se siguen, y para ayudarse, as el que los ha de dar como el que los ha de rescibir. 1.a anotacin. La primera annotacin es que, por este nombre, exercicios spirituales, se entiende todo modo de examinar la consciencia, de meditar, de contemplar, de orar vocal y mental, y de otras spirituales operaciones, segffln que adelante se dir. Porque as como el pasear, caminar y correr son exercicios corporales, por la mesma manera, todo modo de preparar y disponer el nima, para quitar de s todas las affecciones desordenadas, y despus de quitadas para buscar y hallar la voluntad divina en la disposicin de su vida para la salud del nima, se llaman exercicios spirituales. 12 (Vorbemerkungen zu einigem Verständnis für die geistlichen Übungen, welche folgen, und zur Hilfe dem, der sie mitteilen und dem, der sie empfangen soll. 12 Ebd., S. 221.
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Die erste Vorbemerkung, daß man unter dem Namen der geistlichen Übungen versteht: jede Art Gewissenserforschung, Betrachtung, Beschauung, mündliches und innerliches Beten und andere geistliche Tätigkeiten, von denen später gesprochen werden soll. Denn gleichwie Gehen, Vorwärtsschreiten und Laufen körperliche Übungen sind, so nennt man auch geistliche Übungen eine jede Weise, welche die Seele vorbereitet und in die rechte Verfassung bringt, alle ungeordneten Neigungen von sich zu entfernen und, nachdem man sie entfernt hat, den göttlichen Willen zu suchen und zu finden in der Durchbildung des eigenen Lebens zum Heil der Seele.)
Gewissenserforschung, Meditation, Kontemplation, lautes und stilles Beten – all dies gehört zu den geistlichen Übungen und ist Ignatius zufolge den Leibesübungen vergleichbar, nur dass es hier nicht um den Körper, sondern um die Läuterung der Seele und die anschließende Suche nach dem Willen Gottes geht. Werkzeuge dieser Übungen sind strenge Disziplin, zeitlich genau akzentuierte Wiederholung und Progression, geregelte Beschäftigung mit ausgewählten Themen und vor allem die durchgehend in den Übungsplan integrierte sinnliche und räumliche Vorstellung der jeweiligen Gestalten und Aspekte des Glaubens.13 Diese werden, da es sich um ein Handbuch für den Exerzitienmeister handelt, nicht selbst beschrieben, sondern nur dem Inhalt nach angegeben und von der Einbildungs- beziehungsweise Vorstellungskraft des Exerzitanten eingefordert. Dabei hat die Sinnlichkeit, wie es einmal in der ersten Woche der Übungen ausdrücklich heißt, der Vernunft zu gehorchen: la sensualidad obedezca a la razn (87). Nicht die Vernunft kapituliert hier vor der Vision wie bei San Juan de la Cruz oder Teresa von Ávila, sondern die künstlich herbeigeführte Vision steht gerade umgekehrt im Dienste einer theologisch verstandenen Vernunft. Wenn also der Exerzitant sich einen Ritter vor dem von ihm beleidigten König und dem ganzen Hof vorstellen soll, oder eindrücklicher noch, sich selbst als Verbrecher in Ketten vor dem Richter (74), so nur, um sich in Vergegenwärtigung dieser Situation der eigenen Sünden zu schämen. Auch die Vorstellung eines von Gott auserwählten irdischen Königs zu Beginn der zweiten Woche (92 – 95) dient nur dazu, diese als Gleichnis auf Christus als den ewigen König (Cristo nuestro SeÇor, rey eterno) zu übertragen, wiederum nicht aus eigenem Erleben, sondern im Dienste der eigentlichen spirituellen Aufgabe. Die 13 Zur Affektevokation durch Textinszenierung vgl. die Ausführungen von Niklaus Largier, „Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation“, in diesem Band.
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imaginative Performanz der Exercitia spiritualia ist so für Ignatius immer nur ein Durchgangsstadium auf dem Wege zur spirituellen Überwindung jeglicher Bildlichkeit.
III Die 50 Meditationen, die der spanische Jesuit Baltasar Gracián (1601 – 1658) unter dem Titel El Comulgatorio mit Erlaubnis des Provinzials der Provinz Aragón 1655 in Zaragoza zum Druck brachte, stehen in der Tradition der Exercitia spiritualia, doch sie markieren zugleich einen wichtigen Schritt in der Geschichte der spirituellen Sinnlichkeit, der darüber hinausführt. Gracián hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt mit seinen Schriften nicht unbedingt die Sympathien der Oberen seines Ordens erworben und der deutsche Ordensgeneral seit 1652 hatte wie schon seine Vorgänger starke Vorbehalte gegen die schriftstellerische Tätigkeit des Professors der Moralphilosophie an mehreren JesuitenKollegs von Aragón. Tatsächlich hatte Gracián zwischen 1637 und 1655 lediglich weltliche, wenn auch vom katholischen Glauben durchdrungene Schriften publiziert: drei höfische Traktate, ein Handbuch in 300 Aphorismen für das Überleben bei Hof – „Bei Hof, bei Höll“14 – einen allegorischen Roman und eine Ästhetik, ,in der alle Arten und Varianten von Konzepten erklärt werden, mit ausgewählten Beispielen des gelungensten Ausdrucks, sowohl geistlich als auch weltlich‘, wie es im Titel dieser Schrift heißt.15 Dass er sich mit solchen Schriften nicht das Wohlwollen des Ordens sichern, sondern ganz im Gegenteil, wie ein Ordensgeneral schon 1638 formuliert hatte, ,ein Kreuz für die Oberen‘ sein würde, war Gracián bewusst. Er hatte daher alle zitierten Werke unter dem Namen seines Bruders Lorenzo publiziert, ein Umstand, der bis heute für Verwirrung sorgt. Umso mehr muss deshalb auffallen, dass Gracián nun zum ersten Mal ein Buch unter dem eigenen Namen vorlegt und sich in der Leserzuschrift Al letor ausdrücklich zu ihm bekennt: Entre varios libros que se me han prohijado, ste slo reconozco por m o, 14 Vgl. Helmuth Kiesel, ,Bei Hof, bei Hçll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur 60), bes. Kap. II,3 (zu Gracián). 15 Zu Gracián vgl. den Forschungsüberblick von Aurora Egido/María Carmen Marín Pina, Baltasar Gracin. Estado de la cuestin y nuevas perspectivas, Zaragoza 2001.
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digo leg timo, sirviendo esta vez al afecto ms que al ingenio. 16 (,Unter verschiedenen Büchern, die man mir zugeschrieben hat, erkenne ich allein dieses als das meine, will sagen, als legitim an, diesmal stärker im Dienste des Affekts als des Ingeniums.‘) Man hat darüber spekuliert, warum Gracián sich diesmal als Autor zu erkennen gibt, ob er wirklich, wie er in der Leserzuschrift angibt, mit der Abfassung des Comulgatorio nur ein in Lebensgefahr abgelegtes Gelübde erfüllte oder ob er mit diesem Werk religiösen Inhalts die Kritik im Orden gezielt zum Schweigen bringen wollte und deshalb auch den eigenen Namen einschließlich der Ordenszugehörigkeit auf die Titelseite setzte. Denn thematisch dürfte das Buch kaum auf Kritik gestoßen sein und erhielt auch die Druckerlaubnis des Ordens17, handelt es sich doch dem Titel zufolge nur um ,verschiedene Meditationen, damit diejenigen, die die heilige Kommunion vollziehen, sich darauf vorbereiten, kommunizieren und danksagen können‘. Die 50 Meditationen für Kommunikanten folgen, wie Gracián in der Leserzuschrift ankündigt, einem einheitlichen Schema: Vorbereitung – Kommunion – Ernte – Danksagung. Die strenge geistige Zucht, die der Ordensgründer seinen Mitbrüdern für die Meditation auferlegt, macht sich schon hier bemerkbar. Gracián dehnt sie allerdings über die Vorbereitung der Begegnung mit Gott auch auf diese selbst, den dabei erzielten Gewinn und die Danksagung aus. Und während Ignatius den Exerzitienmeister vor allem psychotechnische Ratschläge gibt, darunter immer wieder bindende Hinweise, welche Übungen zu wiederholen sind, geht Gracián anders als Ignatius auch auf den Inhalt der jeweiligen Meditationen ein, ja er beschreibt ihn extensiv und wendet in jeder von ihnen das zitierte Schema konsequent auf diesen Inhalt an. Die Unruhe, die den Verfasser des Exerzitien-Handbuches ständig vorantreibt, ihn immer neue Übungen zu neuen Themen erfinden lässt und in der vierten Woche der Exerzitien in eine fast katalogartige Anhäufung von Vorschlägen mündet, weicht bei Gracián einer ruhigen, wenn auch rhetorisch bewegten Konzentration auf das jeweilige Thema, eine Ruhe, die noch dadurch intensiviert wird, dass alle ausgewählten Themen ausschließlich für die Kommunion in Anspruch genommen 16 Baltasar Gracián, El Comulgatorio, introducción de Aurora Egido, notas a pie de página de Miquel Batllori, edición, aparato crítico, notas complementarias y bibliografía de Luis Sánchez Laílla, Zaragoza 2003 (Larumbe. clásicos aragoneses 26), S. 6. 17 Ebd., S. 3.
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werden. An die Stelle einer pädagogisch orientierten Progression im Seelenleben des Exerzitanten tritt bei Gracián die stasis der Kontemplation, die in der Kommunion zur Ruhe kommt. Damit aber ändert sich auch das Verhältnis zur Sprache: An die Stelle eines lediglich an der Informationsübermittlung und ihrem Erfolg interessierten Handbuchstils tritt die Notwendigkeit, das immerselbe Thema sprachlich so auszugestalten, dass der Kommunikant immer erneut bereit ist, den Weg der Meditation zu betreten – mit Roman Jakobson gesprochen: der Akzent der sprachlichen Kommunikation verlagert sich von der nur referentiellen Funktion ohne jede metasprachliche Reflexion hin zu einer stärker poetischen, das heißt am eigenen Ausdruck interessierten Funktion mit einem starken phatischen Einschlag.18 Da das Thema des Comulgatorio die Kommunion ist, bot es sich für Gracián an, die Mahlzeit am Tisch des Herrn auch rhetorisch-poetisch als Bildfeld zu nutzen. Wirklich geht es in der übergroßen Mehrzahl der 50 Meditationen um den Empfang und die Beherbergung des Herrn beziehungsweise um dessen Einladung, an seinem Tisch Platz zu nehmen und zu speisen, und die Reaktionen des sündigen Menschen darauf, von der freudigen Annahme bis hin zur Ablehnung der Einladung. Das gilt es am Text zu beobachten.
IV Auch Ignatius widmet sich in den Exerzitien dem Essen, jedoch ohne jede allegorische Implikation. Das Essen ist vielmehr für ihn eine Tätigkeit, die von den geistlichen Übungen ablenkt und stärkster Kontrolle bedarf. Das beginnt mit dem Ratschlag, lieber viel Brot als feinere Gerichte zu wählen: Die erste Regel ist, daß man sich vom Brote weniger zu enthalten braucht, weil es keine Speise ist, auf welche sich die Begierlichkeit so unordentlich zu werfen oder die Vesuchung so sehr hinzustreben pflegt, wie auf die übrigen Speisen. (210)
Wichtiger aber sind noch die Ratschläge, wie man sich selbst vom Essen ablenken solle: Die fünfte: zur Zeit, wo jemand Speise zu sich nimmt, stelle er sich vor, als sehe er Christum unseren Herrn, wie er mit den Aposteln speist, wie er 18 Roman Jakobson, Essais de linguistique gnrale, Paris 1963, Kap. XI.
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trinkt, wie er um sich blickt und wie er spricht, und bemühe sich, ihn nachzuahmen, so daß das Denken vorzüglich mit der Betrachtung unseres Herrn und weniger mit dem Unterhalte des Leibes beschäftigt sei, damit er so eine vollkommenere Anleitung und Ordnung in bezug auf die Art und Weise gewinne, wie er sich verhalten und leiten soll. (214) Die sechste: man kann auch, während man Speise zu sich nimmt, eine andere Erwägung anstellen; entweder über das Leben der Heiligen oder über irgendeinen frommen Gedanken oder über eine geistliche Angelegenheit, mit welcher man sich zu beschäftigen hat, weil man bei der Aufmerksamkeit, die man auf einen solchen Gegenstand richtet, weniger Lust und sinnlichen Genuß aus der leiblichen Speise schöpfen wird. (215)
Ganz anders Gracián. Er nutzt die Chance, die ihm die theologische Anbindung der Essensthematik bietet19, geradezu exzessiv – ein Verhalten, das ihm sogar den Vorwurf schlechten Geschmacks eingebracht hat20 – und würzt den selbstgestellten Auftrag des Comulgatorio, dem Gläubigen die Vorbereitung und den Ablauf der Kommunion schmackhaft zu machen, mit einer Bildlichkeit, die zugleich üppig und allegorisch einsetzbar ist. Unter vielen möglichen Beispielen sei dafür die zweite Meditation über das Gleichnis vom verlorenen Sohn angeführt. Die Organisation der Meditation gemäß der Abfolge Vorbereitung – Kommunion – Ernte – Danksagung und die Erzählung vom verlorenen Sohn sind auf der diegetischen Ebene exakt aufeinander abgestimmt und werden auch auf der allegorischen Ebene stringent für die Textintention des Comulgatorio genutzt. Gracián verteilt dazu die ausführliche und detailreiche Erzählung des Gleichnisses ohne jede Gewaltsamkeit auf die vorgegebenen vier Phasen der Meditation. Der Vorbereitung ist die Sehnsucht des Sohnes nach der väterlichen Liebe zugeordnet, der Kommunion die Heimkehr und der Empfang durch den liebenden Vater, der Ernte die Schilderung des reichen Begrüßungsmahles und der Danksagung die Dankbarkeit des heimkehrenden Sohnes. Dem so in vier Phasen erzählten Gleichnis ordnet Gracián in einer ebenfalls vier Phasen umfassenden Abfolge die Nutzung des 19 Vgl. die Beschreibung einer „inkarnierenden Lektüre“ durch Mireille Schnyder, „Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten“, in diesem Band. 20 Vgl. Adolphe Coster, „Baltasar Gracián (1601 – 1658)“, in: Revue hispanique, 29/1913, S. 347 – 754. Zum Geschmack als stilistischer Kategorie bei Gracián vgl. José María Andreu Celma, „Gracián, maestro del buen gusto“, in: nsula, 655 f./2001, S. 3 – 5; Felice Gambin, „Gusto“, in: Elena Cantarino/Emilio Blanco (Hrsg.), Diccionario de conceptos de Baltasar Gracin, Madrid 2005, S.127 – 132, jeweils mit weiteren Literaturhinweisen.
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Gleichnisses als Allegorie der Kommunion zu, eine viermalige Zweiteilung des Textes, die sich ebenso exakt mit einer jeweiligen Aufforderung zur Kontemplation verbindet: Contmplate … pondera tffl … pndera tffl …, mit der schönen abschließenden Volte in der Danksagung, die Zunge möge von der Speisung zum Lob Gottes übergehen: pase la lengua del gusto de Dios a sus divinas alabanzas. 21 Gracián setzt fast genau hundert Jahre nach dem Tode des Ordensgründers in die Tat, in den Text um, was Ignatius als Handlungsanweisung in seiner Exercitia spiritualia niedergelegt hatte, mit Konsequenzen jedoch, die über die Vorgaben dieser Handlungsanweisung weit hinausgehen. Ignatius hatte schon in der zweiten, auf die schon zitierte Definition der geistlichen Übungen folgenden Vorbemerkung der Exercitia spiritualia einen pädagogischen Ratschlag von großer Bedeutung für die referentielle Textgestaltung gegeben: (2) 2.a La segunda es que la persona que da a otro modo y orden para meditar o contemplar, debe narrar fielmente la historia de la tal contemplacin o meditacin, discutiendo solamente por los punctos con breve o sumaria declaracin; porque la persona que contempla, tomando el fundamento verdadero de la historia y discurriendo y raciocinando por s mismo y hallando alguna cosa que haga un poco ms declarar o sentir la historia, quier por la raciocinacin propia, quier sea en quanto el entendimiento es ilucidado por la virtud divina, es de ms gusto y fructo spiritual que si el que da los exercicios hubiese mucho declarado y ampliado el sentido de la historia; porque no el mucho saber harta y satisface al nima, mas el sentir y gustar de las cosas internamente. (Die zweite Vorbemerkung: wer einem anderen die Weise und Ordnung des Betrachtens und Beschauens vermittelt, der soll die Geschichte, welche dieser Betrachtung oder Beschauung zugrundeliegt, treu erzählen und sie nur Punkt für Punkt, in Kürze und dem Wesentlichen nach erläutern. Denn wenn der Betrachtende den wahren Grundtatbestand der Erzählung nimmt und durch Sinnen und Nachdenken aus sich selbst heraus etwas findet, was den Gegenstand für ihn etwas klarer oder eindrucksvoller macht, sei es, daß er dahin durch eigene geistige Tätigkeit gelangt oder daß sein Verstand durch göttliche Kraft erleuchtet wird, so sind geistiger Genuß und geistige Frucht größer, als wenn der, welcher die Übungen lehrt, den Sinn der Geschichte ausführlich erläutert und erklärt hätte. Denn nicht die 21 Gracián, Comulgatorio (Anm. 16), S. 25. Zum Comulgatorio allgemein vgl. das Vorwort von Aurora Egido ebd.; dies., „,El Comulgatorio‘ de Gracián. Lenguaje de los afectos e imágenes visibles“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.), Baltasar Gracin. Antropolog a y esttica, Berlin 2004, S.131 – 157; Fernando Miguel Pérez Herranz, „La ontología de ,El Comulgatorio‘ de Baltasar Gracián“, in: Biblioteca Saavedra Fajardo de Pensamiento Pol tico Hispnico, 2002 (http://saavedrafajardo.um.es) (letzter Zugriff: 27.07.2007).
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Überfülle des Wissens sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Spüren und Verkosten der Wahrheit selbst im Innern.)
Erzählung und spirituelle Nutzung, die Geschichte und der Sinn der Geschichte werden hier klar getrennt. Ignatius empfiehlt ganz im Sinne einer modernen Didaktik, die Erzählung nicht schon mit der Deutung zu belasten, sondern es vielmehr weitgehend dem Exerzitanten zu überlassen, wie er sich die in der Erzählung enthaltene Botschaft erarbeiten will. Wenn Ignatius in den Exercitia spiritualia dennoch immer wieder auf den Sinngehalt der Themen eingeht, die sich der Exerzitant vor Augen stellen soll, so versteht er dies als eine Handreichung für den Exerzitienmeister, nicht als Lektion für den Exerzitanten. Gracián hingegen liefert in seinem Comulgatorio immer sogleich und durch die strenge Aufteilung der Meditation auch erwartbar eine Auslegung der jeweils erzählten Geschichte aus dem Alten oder Neuen Testament. Hier macht sich der Gattungsunterschied zwischen den Exercitia spiritualia und dem Comulgatorio, zwischen dem Handbuch für den Exerzitienmeister und dem Meditationstext für den Gläubigen bemerkbar. Im ersten Fall hatten wir es mit technischen und inhaltlichen Hinweisen für denjenigen zu tun, der die Meditation auslösen und begleiten soll, im zweiten Fall aber mit dem Gläubigen selbst, der zur Meditation angehalten werden soll. Gracián betätigt sich also gleichsam als ein Exerzitienmeister, der seine Kompetenzen überschreitet, und überdies nunmehr nicht nur für seine Ordensbrüder, sondern für ein größeres Publikum. Das gibt ihm die Lizenz, den Ratschlag von Ignatius, es bei der kurzen Erzählung zu belassen, nicht zu befolgen, sondern in ausführlicher Form auch noch die Auslegung zu liefern, eine Verfahrensweise, die ihm im übrigen als erfolgreichem Prediger näherliegen musste als dem vorrangig mit der Leitung eines gerade gegründeten Ordens beschäftigten späteren Heiligen. Die Ausführlichkeit der Erzählungen wie ihrer Ausdeutung, die das Comulgatorio kennzeichnet, lässt aber auch eine Differenz zu den Exercitia spiritualia sichtbar werden, die mit dem Gattungsunterschied zwischen den beiden Texten und mit der unterschiedlichen Funktion ihrer Autoren allein noch nicht ausreichend zu erklären ist. Ignatius kämpft, wie schon am Beispiel des Essens gezeigt, mit allen Mitteln der spirituellen Disziplinierung gegen die Vorherrschaft der physischen Sinnlichkeit als einer Versuchung des Teufels. Wenn er sie in der Veranschaulichung der compositio loci dennoch in auffälliger Insistenz zu Wort kommen lässt, ja sogar als einen effektiven Weg der Meditation
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empfiehlt, so doch nur als ein Trojanisches Pferd, mit dem die Festung der Sinnlichkeit von innen her für die Eroberung durch den Geist und auf ihn hin geöffnet werden soll. Auch Gracián folgt in seinem Comulgatorio dieser Linie. Doch indem er das Trojanische Pferd in all seiner Farbigkeit beschreibt, ehe er zu der in ihm verborgenen Mannschaft kommt (die er im übrigen nicht weniger farbig schildert), ,verrät‘ er gleichsam das Konzept des Ordensgründers. Die Attraktivität seiner Schilderungen ist so groß, dass der Leser in Gefahr gerät, darüber den instrumentalen Charakter dieser Schilderungen zu vergessen, ähnlich wie auch von der poetischen Schönheit der Fronleichnamsspiele Calderóns gesagt worden ist, dass sie den Zuschauer gerade jener Versuchung der Sinnlichkeit aussetzen, vor der sie ihn eigentlich bewahren wollen.22 Diese Koinzidenz ist nicht zufällig. Wir haben es vielmehr hier mit einem Epochenphänomen zu tun, für das sich die Verwendung des Begriffs ,Barock‘ geradezu aufdrängt. An die Stelle des semiotischen Pessimismus der Mystiker, die ihr sprachliches Bemühen von vornherein unter das Rubrum des Scheiterns stellen, setzt im Barock, dem ge de l‘loquence (Marc Fumaroli), bei Góngora, Gracián, Calderón, Marino, Bossuet, Jost van den Vondel, Lohenstein – um nur einige Namen zu nennen – ein semiotischer Optimismus ein, der es der Sinnlichkeit der Sprache zutraut, ja ihr geradezu aufträgt, den Menschen auf den Weg zu Gott zu bringen. Dass Gracián dabei dem ersten Anschein nach der Vorgabe der Exercitia spiritualia folgt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nunmehr die Sprache in ihrer rhetorischen und metaphorischen Bildkraft ist, die eine allein konzeptuelle Meditation als spirituelle Produktivkraft überformt und verdrängt. Bei Gracián wie bei Calderón erleben wir eine Auffassung der Präsenz Gottes, die dessen Existenz nicht aus der Schrift erschließt wie der Protestantismus, sondern die ihn in der Wirklichkeit sucht und findet. Und beide benutzen nicht wie Ignatius die Welt nur als Mittel, um über Gott zu sprechen, sondern sie benutzen das vorgegebene Wort Gottes als Anlass, um über die Welt zu sprechen, eine Welt allerdings, in der wie im Brot und im Wein der Eucharistie Gott ständig präsent ist. Gracián beschreibt dies sehr schön in der fünften, dem göttlichen Manna gewidmeten Meditation des Comulgatorio. Dort heißt es von diesem Brot der Engel und seiner Wiederkehr in der Kommunion: 22 Vgl. Viviana Díaz Balsera, Caldern y las quimeras de la culpa: alegor a, seduccin y resistencia en cinco autos sacramentales, West Lafayette 1997.
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Punto 2.8 Estando tan bien dispuestos, merecieron ser consolados de el SeÇor. Env ales aquel exquisito manjar, con que quedan admirados y satisfechos; no les env a comida de la tierra, sino de el Cielo, para que vivan vida de all. No sabe a solo un manjar, sino a todos, al que cada uno desea, para que adviertan que todo el bien que pueden desear, all le hallarn cifrado; y as , atnitos, dec an: ,¿Qu manjar es este tan raro, venido del Cielo, enviado de la mano de Dios?‘ Con cunta ms razn puedes tffl hoy decir: ,¿Qu comida es esta tan preciosa?‘ Respndete la fe, diciendo: „Este es un Verbo hecho carne, y esta una carne hecha por un Verbo. Este es el pan de los ngeles que los hombres se le comen; este es aquel pan que es regalo de los reyes; este es comerse el hombre a su Dios, que, como es bien infinito, encierra cuantos sabores ha. Gfflstale, mira cun suave es y cmo sabe a todas las virtudes y gracias.“ 23 (So gut vorbereitet, verdienten sie Gottes Trost. Er schickt ihnen diese köstliche Speise, die sie staunen läßt und zufrieden macht; er schickt keine irdische Speise, sondern eine himmlische, auf daß sie ein jenseitiges Leben leben. Sie schmeckt nicht nur nach einer Speise, sondern nach allen; nach ihr begehrt ein jeder, auf daß alle erkennen, daß sie hier alles eingeschlossen finden werden, was sie begehren können. Und so sagten sie voller Staunen. ,Welch seltene Speise ist diese, vom Himmel gekommen, von der Hand Gottes gesandt?‘ Mit wieviel größerem Recht kannst du heute sagen: ,Welche kostbare Mahlzeit ist dies?‘ Der Glaube antwortet dir: ,Dies ist das fleischgewordene Wort, und dies ein Fleisch durch das Wort. Dies ist das Brot der Engel, das die Menschen essen; dies ist jenes Brot, das das Geschenk der Könige ist; dies bedeutet, daß der Mensch seinen Gott ißt, der, da er unendlich ist, alle Geschmacksnuancen einschließt. Versuche es, sieh, wie sanft es ist und wie es nach allen Tugenden und Gnaden schmeckt.‘)
Das Wort ist Fleisch geworden, Fleisch geworden durch das Wort (un Verbo hecho carne, y esta una carne hecha por un Verbo). Die Welt, in der wir leben, ist selbst das Wort Gottes. Es hat deshalb durchaus einen Sinn, diese Welt selbst als Realpräsenz Gottes ernstzunehmen und immer erneut zu beschreiben. Und auch hier schöpft Gracián das Bild in all seiner Konkretheit aus, wenn er für die eigene Allegorese den Brotgenuss anders als Ignatius bis ins sinnlich erlebbare Detail beschreibt: Punto 3.8 Para un manjar tan misterioso, misteriosas circunstancias se requieren. Sal an al alba a recogerle en aquella virgen hora: sea este el primer cuidado del d a; menester es madrugar, cueste solicitud y desvelo, antes que salga el sol, que como es tan puro y delicado, con cualquier calor de mundo se deshace. Recoge cada uno lo que basta, que no tolera humanas codicias; no se guarda para otro d a, porque quiere ser
23 Gracián, Comulgatorio (Anm. 16), S. 33.
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pan reciente y cotidiano, avisando de su frecuencia. Convirtese luego en gusanos, roedores de la delincuente conciencia. 24 (Dritter Punkt. Für eine so geheimnisvolle Speise bedarf es geheimnisvoller Umstände. Sie zogen bei Morgengrauen aus, um es in dieser jungfräulichen Stunde einzusammeln. Möge dies die erste Sorge des Tages sein; es ist notwendig früh aufzustehen, koste es auch Mühe und Anstrengung, bevor die Sonne aufgeht, denn da es so rein und zart ist, vergeht es mit jeder Hitze der Welt. Sammle ein jeder genügend ein, denn es duldet keine menschliche Habsucht; man kann es nicht für den nächsten Tag aufheben, denn es will frisches und tägliches Brot sein, das häufigen Verzehr bezeugt, sonst verwandelt es sich in Würmer, die am sündigen Gewissen nagen.)
Wenn Gracián und Calderón, zwei Spitzenautoren des europäischen Barock, immer wieder denselben Gegenstand vor Augen führen, der eine in den 50 Meditationen seines Comulgatorio die Kommunion, der andere in nicht weniger als 80 Fronleichnamspielen die Eucharistie, so kann man das in dieser Häufung schwerlich noch als Sprachnot beschreiben. Man muss vielmehr feststellen, dass sich hier Sprache, Rhetorik und Dramatik verselbständigen und ein eigenes Reich begründen. Calderón hat im Vorwort zu einer Ausgabe seiner Fronleichnamspiele ohne jede Verlegenheit selbst darauf hingewiesen, dass er in ihnen mit immer anderen dramatischen Handlungen (argumentos) immer dasselbe Thema (asunto), nämlich die Eucharistie, präsentiere.25 Und Gracián rechtfertigt in der Leserzuschrift seines Comulgatorio die Vielzahl der Meditationen ästhetisch, nämlich mit dem Kunstideal der variatio: Van alternadas las consideraciones sacadas del Testamento Viejo con las del Nuevo, para la variedad y la autoridad. 26 Die Aufwertung der Kunst als propaganda fidei im Gefolge der tridentinischen Reformen erreicht in der barocken Bilderflut einen Höhepunkt, ja der Literatur erwachsen gerade aus dem Kontakt zwischen dem sakralen und dem profanen Bereich Betätigungsfelder, gegen die alle protestantischen, quietistischen und molinistischen Angriffe nichts ausrichten können.27 24 Ebd. 25 Pedro Calderón de la Barca, Obras completas, Bd. III: Autos sacramentales, Madrid 2 1967, S. 42. 26 Ebd., S. 6. 27 Für Spanien sind vor allem die letzteren von Bedeutung. Vgl. Miguel de Molinos, Guia espiritual/Defensa de la contemplacin (1675), Barcelona 1974, Kap. V: Prosigue lo mismo, declarando cuntas maneras hay de devocin y cmo se debe despreciar la sensible y que el alma, aunque no discurra, no est ociosa. Dass „dem Kontakt zwischen Sakralem und Profanem ein beachtliches Potential der Innovation inne[wohnt], ganz gleich, ob das Sakrale säkularisiert oder das Sä-
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Calderón und Gracián verstehen sich aber, dies gilt es zu betonen, nicht nur als die Zulieferer für einen theologisch fundierten Kirchenbetrieb, die einem bedauernswerterweise ungeschulten Publikum das leider notwendige sinnliche Füllmaterial zu liefern hätten. Sie sind vielmehr als Vertreter einer imaginativen Theologie oder ,Theopoetik‘ (Bernhard Teuber) anzusehen, die ihre Rechtfertigung in der Wahrheitsfähigkeit der Literatur selbst hat.28 Diese Theologie vertraut weit über den bloßen Gebrauch rhetorischer Kunstmittel hinaus auf das Wort und das Bild als Quelle der Erkenntnis und sieht insofern selbst da, wo sie sich theologischen Themen widmet, ihren Auftrag nicht in einer nur literarisch verbrämten dogmakonformen Schriftauslegung. Es ist dies ein Missverständnis, unter dem insbesondere Calderón mit seinen Fronleichnamspielen gelitten hat und noch leidet, zumal er sie selbst einmal als sermones puestos en verso, en idea representable bezeichnet hat.29 Wenn dem so wäre, müsste sich die Literatur als eine ancilla theologiae minderen Rangs verstehen, die diese Zulieferrolle freudig akzeptiert. Davon kann jedoch überhaupt keine Rede sein, vielmehr es ist gerade die Allgegenwart der Religion, die Kunst und Literatur nach dem Tridentinum den Freiraum ästhetischer Gestaltung garantiert.30 kulare sakralisiert wird“, führt Marc Föcking eindrucksvoll und materialreich an der geistlichen Lyrik Italiens im späten Cinquecento vor (Rime sacre und die Genese des barocken Stils, Stuttgart 1994, hier S. 285). 28 Vgl. Teuber, Sacrificium (Anm. 2), S. 23 – 28; Gerhard Poppenberg, Psyche und Allegorie. Studien zum spanischen auto sacramental von den Anfngen bis zu Caldern, München 2003. Ähnliches gilt übrigens, wie Katharina Münchberg vorführt, auch schon für Dante (Dante. Die Mçglichkeit der Kunst, Heidelberg 2005). 29 Calderón, Obras (Anm. 24), S. 427a. 30 Die Vorgeschichte dieser Emanzipation im Mittelalter hat Peter von Moos in Aufnahme von Ansätzen bei Ernst Robert Curtius am Beispiel der Sprachtheorie von Petrus Abaelardus skizziert: „Die theologia, verstanden als die dem höchsten Gegenstand angemessene Sprache und als die damit beschäftigte Sprachtheorie, die anspruchsvollste ,Linguistik‘, war der Ort, an dem das Poetische als eigener Wert, nicht bloß als triviales Instrument der Didaktik denkbar wurde. Aus der Theologie stammt die Legitimationsbasis einer bewußten kreativen Imitatio des ,prophetischen‘ Worts und später einer philosophischen Emanzipation profaner Fiktionalität, die zur Vorgeschichte neuzeitlicher Autonomie-Ästhetik gehört.“ (Peter von Moos, „Das Literarische an der Literatur“, in: Joachim Heinzle [Hrsg.], Literarische Interessenbildung im Mittelalter, Stuttgart [u.a.] 1993 [Germanistische Symposien. Berichtsbände 14], S.431 – 451, hier S. 432). Zu einem Fall von ,weltlicher‘, d. h. höfischer Entfaltung von Kunstautonomie vgl. Sebastian Neumeister, „Die ,Literarisierung‘ der höfischen Liebe in der sizilianischen Dichterschule des 13. Jahrhunderts“, in: ebd., S. 384 – 400, und die durch diesen Beitrag ausgelöste Polemik (vgl.
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Die reale Präsenz als Seinsform von Kunst und Literatur ist im übrigen kein historisch überholtes Konzept, sondern findet nach ihrer bis heute nachwirkenden Diskriminierung durch die Aufklärung und durch das daran anschließende, positivistisch verengte Verständnis des 19. Jahrhunderts gerade am Beginn der Moderne, in der romantischen Kunstkritik31, und an ihrem Ende, in der sogenannten Postmoderne, wieder prominente Verteidiger, so etwa, wenn George Steiner die reale Gegenwart von Dichtung mit den folgenden Worten beschreibt: Wo wir wahrhaft lesen, wo es auf die Erfahrung von Sinn ankommt, tun wir so, als ob der Text (das Musikstück, das Kunstwerk) die Inkarnation (der Begriff wurzelt im Sakramentalen) einer realen Gegenwart bedeutsamen Seins sei. Wie bei einer Ikone, wie bei der ,fleischgewordenen‘ Metapher des sakramentalen Brotes und Weines ist diese reale Gegenwart letztlich nicht reduzierbar auf irgendeine andere formale Artikulation, auf irgendeine analytische Dekonstruktion oder Paraphrase. Es ist eine Singularität, in der Begriff und Form eine Tautologie konstituieren, in der Punkt für Punkt, Energie für Energie zusammenfallen, in jenem Übermaß an Signifikanz gegenüber allen einzelnen Elementen und Bedeutungskodes, das wir Symbol oder Wirkkraft der Transzendenz nennen.32
Es sieht vielleicht wie ein Zirkelschluss aus, wenn die Realpräsenz bedeutsamen Seins in der Literatur als einer Art ,Gegenschöpfung‘, jedoch ohne Negierung der Schöpfung selbst, gerade auf Texte der Frühen Neuzeit angewendet wird, die wie das Comulgatorio Graciáns und die Fronleichnamspiele Calderóns theologisch inspiriert sind. Doch in beiden Fällen handelt es sich um Autoren, die trotz ihrer Prägung durch das Jesuitenkolleg und darüber hinaus durch das militant gegenreformatorische Klima ihrer Zeit mit ihren Werken gerade nicht zur Theologie, sondern zur Welt der Literatur gerechnet werden wollen.33 ders., „Gralshüter und ihre Kritiker“, in: Jörg Schönert [Hrsg.], Literaturwissenschaft und Wissenschaftssforschung, Stuttgart [u.a.] 2000 [Germanistische Symposien. Berichtsbände 21], S.488 – 508). 31 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt/M. 1989. 32 George Steiner, „Von realer Gegenwart“, in: Akzente, 33/1986 (wieder abgedruckt in: Akzente. Ein Reader aus fnfzig Jahren, hrsg. von Michael Krüger, München 2003, S. 341 – 361, hier S. 356). 33 Allerdings verbietet es sich durchaus, mit Wilfried Barner den theologischen Anteil an der konzeptistischen Ästhetik eines Gracián und Tesauro als „leicht substrahierbar“ einzustufen, ja die Lebensphilosphie des letzteren „beinahe schon“ einem „aufklärerischen Eudämonismus“ zuzuordnen („Gegenreformation und Aufklärung im literarischen Barock“, in: Jochen Schmidt [Hrsg.],
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Nicht zufällig lehnen es beide mit fast den gleichen Worten ab, die theologischen Quellen ihrer literarischen Inspiration anzugeben, mit dem pragmatischen Argument, dass sie dem Fachmann nicht Neues böten und dem Laien nur lästig seien: para el docto no hacen falta y para el no docto hicieran sobra beziehungsweise para los doctos fuere superfluo y para los dems prolijo. 34 Beide geben so zu verstehen, dass es ihnen primär nicht um theologische Korrektheit geht, sondern um die Autonomie der Kunst.35 Mehr noch: Was hier im Namen einer Opposition von Schönheit und Wahrheit, von ästhetischem Schein und göttlicher Wahrheit zu Unrecht nur dadurch salvierbar erscheint, dass es der Kirche dienstbar gemacht wird, erweist sich als eine der meditativen Annäherung an Gott ebenbürtige Form der Begegnung mit ihm. Die entschiedene Verteidigung einer christlichen ,Augenkultur‘ (Werner Weisbach) gegen den protestantischen Ikonoklasmus, die mit dem Konzil von Trient eingeleitet wird, trägt im spanischen Barock besonders reiche Frucht und dies vor allem in der Literatur. Gracián kommt dabei als einem zutiefst von der geistigen Disziplin seines Ordensgründers geprägten Autor eine Schlüsselrolle zu. In seiner großen, bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Ästhetik Agudeza y arte de ingenio (1641/1648), der sich im 17. Jahrhundert einzig Emanuele Tesauros Cannocchiale aristotelico (1654/1670) als ebenbürtig zur Seite Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 220 – 242, hier S. 231 f.). 34 Calderón, Obras (Anm. 24), S. 452b bzw. Gracián, Comulgatorio (Anm. 16), S. 7. 35 Autonomie der Kunst ist hier als volles Ausschöpfen eines sprachlich-rhetorischen Potentials zur Übermittlung einer Botschaft zu verstehen, das autonomen Qualitätsansprüchen genügt, nicht als Ablösung von der homiletischen Aufgabe. Die Kunsthaftigkeit im modernen Sinne bleibt bei Gracián wie bei Calderón selbstverständlich inhaltlich an das christliche Dogma und dessen Verkündung gebunden. Sie darf und kann aber offenbar wie übrigens auch die Predigten berühmter Kanzelredner der Zeit – Paravicino, Bossuet, Bourdaloue (roi de prdicateurs, prdicateur des rois) – von einem gebildeten Laienpublikum, wie es sich gerade am Hofe findet, durchaus auch als vom Dogma unabhängige Kunst genossen werden. Zur Herausbildung eines spezifisch ästhetischen Diskurses in der frühen Neuzeit durch „die Ansiedlung des Künstlerischen im Bereich des Adiaphorischen“ vgl. Reimund B. Sdzuj, Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie sthetischen Denkens, Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 107), hier S. 4 (vgl. S. 19 – 21 zur historischen Unangemessenheit des Begriffs bis Kant). Eine Auseinandersetzung mit der nachtridentinischen Kunsttheorie im katholischen Bereich fehlt allerdings, sieht man von wenigen Hinweisen ab (z. B. S. 196 – 198), fast ganz.
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stellen lässt36, setzt er der absoluten Stilverweigerung bei Ignatius den absoluten Stilwillen einer hochdifferenzierten Barockrhetorik entgegen. Er kann sich dafür zwar auf die ignatianische Versinnlichungstechnik der compositio loci berufen, doch er verkehrt sie, wie gezeigt, der Intention nach in ihr Gegenteil – eine Art poetologische dissimulatio, wie er sie schon in seinem Handorakel dem Hofmann empfiehlt: Entrar con la agena para salir con la suya (,Mit der fremden Angelegenheit auftreten, um mit der seinigen abzuziehn.‘) 37 Gracián vollendet mit dem Comulgatorio den Weg, den er mit seinen Hoftraktaten und dem Orculo manual als weltlichen Verhaltenslehren begonnen hatte, zunächst ohne alle sinnlich-mimetische Ambitionen, jedoch stilistisch höchst ausgefeilt. Der Weg führt ihn sodann über die allegorische Beschreibung der moralischen Welt im Criticn, in der die Intellektualität ebenfalls noch dominiert, zur Ablösung von allem mundanen Schein im Comulgatorio, das gerade in der konsequenten Nutzung des sinnlichen Glanzes dessen vanitas vorführt. Man könnte diesen Weg im Blick auf die Bilderwelt des Comulgatorio als Weg nicht aus der Welt heraus, sondern mitten in sie hinein beschreiben. Ein solcher Schluss entspricht genau der Absicht des Predigers Gracián: Im rhetorischen Feuerwerk des Comulgatorio gehen fanum und profanum eine Verbindung ein, die theologisch unverdächtig ist und in ihrer Strukturiertheit dem gegenreformatorischen Weltverständnis voll entspricht. Kein Wunder also, dass Gracián gerade dieses von der Forschung stark vernachlässigte und misshandelte Werk zum einzig legitimen Zeugnis seines Selbstverständnisses bestellt und dies, wie schon zitiert, mit einer Begründung, die allein schon Programm ist: sirviendo esta vez al afecto ms que al ingenio.
36 Vgl. La mtaphore baroque. D‘Aristote Tesauro. Extraits du Cannocchiale aristotelico présentés, traduits et commentés par Yves Hersant, Paris 2001. 37 Baltasar Gracián, Orculo manual y arte de prudencia, Aphorismus 144, vgl. Aphorismus 13 a. Edición de Emilio Blanco, Madrid 1995 (Übersetzung: Arthur Schopenhauer). Dass Gracián hier möglicherweise gezielt die Beschreibung des Teufels in den Exercitia spiritualia aufnimmt, dessen Taktik Ignatius exakt so beschreibt, wie dies Gracián hier dem Hofmann empfiehlt, verleiht dem ganzen Komplex eine zusätzliche pikante Note. Vgl. Loyola, Obras (Anm. 6), S. 332: entrar con la nima devota y salir consigo.
Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation Niklaus Largier Mittelalterliche Anleitungen zu Gebet und Kontemplation werden hier als pragmatische Textsorten betrachtet, die in exemplarischer Weise bestimmte Formen und Akte der Kommunikation vor Augen führen. Diese Texte dienen nicht nur der Produktion ,religiöser‘ oder ,mystischer‘ Erfahrung, sondern der von Kommunikationsgemeinschaften kontrollierten Ausbildung eines Habitus, in dem solche Erfahrung ihren Sitz hat. Die Beispiele, die zur Sprache kommen, sind David von Augsburgs De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum libri tres und Septem gradus orationis sowie Rudolf von Biberachs De septem itineribus aeternitatis entnommen. Alle drei Texte haben eine reiche Überlieferung und dürfen als Handbücher betrachtet werden, die im Spätmittelalter auch in der Volkssprache eine große Wirkung entfalteten.1 Sie tun dies nicht nur als theologische Erörterungen und Erläuterungen zum Thema des Gebets, sondern vor allem als Einübung (exercitium, exercitatio) in Kulturtechniken, die aus der monastischen Tradition des Gebets und der kontemplativen Lektüre hervorgehen. David von Augsburg „entwirft“, so das Urteil Kurt Ruhs, „als erster nach dem St. Trudperter Hohelied eine mystische Theologie und Lebenspraxis“.2 Dabei zielen Davids Texte – wie Rudolfs Siben strassen zu got – auf eine Praxis, die nicht bloß punktuell bestimmt, wie sich der Betende verhalten soll. Es geht viel1
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Zu David von Augsburg vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendlndischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frhzeit, München 1993, S. 524 – 537; David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes in der deutschen Originalfassung, hrsg. von Kurt Ruh, München 1965 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1). Zu Rudolf von Biberach siehe Margot Schmidt, Die siben strassen zu got. Die hochalemannische bertragung nach der Handschrift Einsiedeln 278, Quaracchi 1969. Rudolf von Biberach, Die siben strassen zu got. Revidierte hochalemannische bertragung nach der Handschrift Einsiedeln 278 mit hochdeutscher bersetzung, Synoptische Ausgabe, hrsg. von Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985 (Mystik in Geschichte und Gegenwart 2). Ruh, Geschichte (Anm. 1), S. 524 f.
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mehr um die Konstitution eines neuen Habitus, der die Haltung und die Wahrnehmung des Betenden auch über den einzelnen Akt hinaus charakterisiert. Dies ist nicht überraschend, gehen die Anleitungen zum Gebet doch aus einer Tradition monastischer Übungen hervor, in der das gesamte Leben der Mönche und Nonnen zum nie unterbrochenen Gebet werden soll, das den einzelnen und die Gemeinschaft formt. Den Hintergrund bildet dabei die Schriftlektüre, die Mnemotechnik, die Kontemplation, und in privilegierter Weise auch das (Selbst-)Gespräch, das im Gang der Lektüre und aufgrund der Textmeditation inszeniert wird.3 Dabei formt das inszenierte Gespräch – die Adoption einer Vielfalt der Stimmen, die biblischen und anderen exemplarischen Textvorlagen entnommen sind – den Rahmen, der – neben der kognitiv-intellektuellen Leistung – einer kontrollierten Evokation und Produktion affektiver und sinnlich-anschaulicher Erfahrungsinhalte dient. Diese definieren den Horizont religiösen Erlebens und loten innerhalb dieses Horizontes und angesichts des Schrifttextes immer wieder neue Erfahrungsmöglichkeiten aus. In der Konvergenz von Gebet und Gespräch und im Übergang von der Lektüre und dem Gebet zum (Selbst-)Gespräch wird dieses so – am deutlichsten etwa in der Lektüregeschichte der Confessiones von Augustin und des Hoheliedes – zum Medium der Dramatisierung kontemplativer Schriftlektüre und der Produktion neuer Erfahrungsinhalte. Diese wiederum werden im Selbstgespräch, im Gespräch mit dem Beichtvater oder Seelsorger, und in der Verschriftlichung (die ihrerseits neue Kommunikationsbezüge und produktive Lektüregeschichten eröffnet) einer kontinuierlichen Evaluation unterworfen. Sie sind damit in Kommunikationszusammenhänge eingebunden, die zunächst durch monastisch-kirchliche Instanzen kontrolliert, im Übergang in die Volkssprache jedoch – wie wir sehen werden – zunehmend als problematisch wahrgenommen werden. Ich werde mich in dieser Skizze auf die folgenden Aspekte dieses komplexen Sachverhaltes konzentrieren, die ich kurz, fragmentarisch und thesenhaft darstellen werde: 1. Das Gebet als confabulatio; 2. Die Produktion bestimmter Wahrnehmungsformen; 3. Experientielle Frömmigkeit als phänomenologisches Experiment; 4. Habitusformung
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Zum Hintergrund und zur traditionsbildenden Wirkung Augustins siehe Heinrich Stirnimann, „Zu Augustinus’ ,Soliloquia‘ I,1,2 – 6“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Abendlndische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), S. 162 – 176.
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und Gemeinschaft; 5. Kontrolle und Zensur; 6. Schnittstellen religiöser und säkularer Kommunikation.
I. Gebet und Kontemplation als confabulatio Das Gebet als confabulatio geht, wie sich dies etwa in den Confessiones Augustins beobachten lässt, aus der Lektüre der Schrift, aus der Schriftexegese und -meditation hervor. Oratio est cum deo confabulatio lautet die einschlägige Formel, die das Gebet immer gleichzeitig an die lectio bindet und diese in den Spielraum inszenierter (innerer) Stimmen überführt, in dem der Betende sich an biblische Figuren anlehnt (die Rollen des Fragenden und Antwortenden, Klagenden und Preisenden; die Stimme der Psalmen, die Stimme Davids, die Stimme der Braut des Hohenliedes, die Stimme Christi, etc.).4 Im Blick darauf wird seit der frühen christlichen Theologie eine Systematik entworfen, die verschiedene Formen des Gebets zu definieren und im Kontext von meditatio und contemplatio zu verorten sucht5, wobei auch diese Begriffe wiederum einer Systematik unterworfen werden.6 Nicht diese Systematik interessiert mich jedoch hier7, sondern der Übergang von der confabulatio zur kontemplativen Haltung, der in der Kritik an der Privilegierung des Bittgebetes zu fassen ist, wie sie im Mittelalter vielfach 4
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Verweise auf einschlägige Stellen bei Benedikt und Cassian sind nachgewiesen bei: Cornelius Bohl, Geistlicher Raum. Rumliche Sprachbilder als Trger spiritueller Erfahrung, dargestellt am Werk De compositione des David von Augsburg, Werl 2000, S. 31 – 35. Vgl. etwa Wilhelm Gesell, Die Theologie des Gebets nach ,De Oratione‘ von Origenes, München 1975; Patrick Henriet, La parole et la prire au Moyen ffge. Le Verbe efficace dans l’hagiographie monastique des XIe et XIIe sicles, Brüssel 2000. Für den weiteren Kontext und Differenzierungsmodelle im Blick auf oratio, meditatio, und contemplatio möchte ich auf die einschlägigen Artikel des Dictionnaire de spiritualit verweisen, insbesondere „Contemplation“ in Bd. 2, Sp. 1643 – 2193. Darin wird auch erkenntlich, wie fließend die Übergänge zwischen den Begriffen zumeist sind. Dies drückt sich oft auch in der Titelgebung aus, so etwa in den Orationes et meditationes Anselms von Canterbury oder in den Meditativae orationes Wilhelms von Saint-Thierry. Ich übergehe hier auch die Möglichkeiten, eine Brücke zu schlagen zu Ansätzen dialogischer Philosophie; vgl. dazu: Walter Haug, „Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur“, in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualitt. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1997, S. 550 – 578.
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geäußert wird. Dabei geht es, etwa in David von Augsburgs Die sieben staffeln des gebets, nicht darum, das Bittgebet schlechthin zu diskreditieren, sondern eine Dimension der Gebetspraxis in den Vordergrund zu rücken, die das Gebet als Form der Ansprache Gottes mit einer gezielten Animation und Formung des Lebens der Seele durch das Medium der Schrift verbindet. So schreibt David: Non enim curat Deus, cum nos orare iubet, ut cum verbis ei nostram petitionem aperiamus, quippe qui per se scit quid nobis necesse sit, antequam petamus eum [Mt 6, 8]. Hoc magis intendit, ut ipsum orando pulsemus [Mt 7,7; Lc 11,9], pulsando experiamur quam suavis et bonus etc., et inde eum amemus et amando [ei] inhaeremus, inhaerendo unus cum ipso spiritus efficiamur. 8
Das Bittgebet, in dem der Betende sich Gott glaubend anheimstellt und ihn um etwas ersucht, wird hier abgelöst durch die Praxis, in der durch das Wort „angeklopft“ (Lk 11,9) und in diesem ,Anklopfen‘ die göttliche ,Süße‘ als religiöse Erfahrung evoziert wird. Auch bei Meister Eckhart begegnet die Privilegierung des kontemplativen Gebetes gegenüber dem Bittgebet: Die d iht‹es› bitent wan gotes oder umbe got, die bitent unrehte; swenne ich nihtes enbite, s enbite ich rehte, und daz gebet ist reht und ist kreftic. Swer ihtes iht anders bitet, der betet einen abgot ane, und man mçhte sprechen, ez waere ein l ter ketzere. 9
Diese harte Kritik am Bittgebet, das Eckhart an anderen Stellen seines Werkes nuancierter behandelt, wurde von den Zensoren seiner Werke inkriminiert. Sie erscheint denn auch in der Bulle In agro dominico unter den häresieverdächtigen Sätzen. Was Eckhart und David unterscheidet, ist die Zielrichtung ihrer Kritik. Während Eckhart sich auf das ,nicht bitten‘ konzentriert und 8
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David von Augsburg, „septem gradus orationis“, in: Jacques Heerinckx, „Le ,Septem gradus orationis‘ de David d’Augsbourg“, in: Revue d’asctique et de mystique, 14/1933, S. 146 – 170, hier S. 160. Der mittelhochdeutsche Text (Anm. 1), S. 54 und 151, ersetzt das monastisch-technische pulsare durch die Wendung mit gebette suochen. Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke [DW], hrsg. von Josef Quint/Georg Steer, Stuttgart 1958 ff., DW III, S. 131,3 – 6. Vgl. Freimut Löser, „,Oratio est cum deo confabulatio‘. Meister Eckharts Auffassung vom Beten und seine Gebetspraxis“, in: Walter Haug/Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.), Deutsche Mystik im abendlndischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Anstze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 283 – 316.
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dieses mit seiner Spekulation über die ,Eigenschaftslosigkeit‘, den Intellekt und die Gottesgeburt verbindet, weist David – in franziskanischer Tradition – das Bittgebet zugunsten einer vornehmlich affektiven, sinnlich-anschaulichen Stimulierung (excitatio) zurück, die das Resultat der Gebetspraxis und des Umgangs mit dem Wort Gottes bilden soll. Trotz dieses Unterschiedes ist beiden Ansätzen gemein, dass sie das Gebet als Praxis betrachten, die – im Falle Eckharts intellektuell, im Falle Davids affektiv und sinnlich – neue Erkenntnis- und Wahrnehmungsinhalte zu produzieren vermag. David schreibt weiter: Sed quia verba veritatis spiritus et veritas sunt [ Joh 6,63], ex his anima, dum in hoc exsilio peregrinatur, vitam spiritualem sustentare et nutrire necesse habet, donec ipsum verbum Deum, in quo omnia vivunt, facie ad faciem videat. Idcirco interim ista vocalia et corporea verba masticat et ruminat, ut aliquam ex ipsis suavitatem eliciat spiritus, quae in eis latet, et vitam suam ex his quasi sugere cum labore conatur. Ita fit ut verba orationis, quae exterius sicca et insipida apparent, cum teruntur cordis intentione, dent saporem devotionis, ut labor orationis vertatur in oblectationem, ut qui eam ante cum labore quasi ab alio editam recitavimus, nunc quasi ex vero cordis volumine ebullientem delectabiliter eructuemus. 10
Mit diesen Worten bestimmt David den Rahmen, in dem das Gebet von der confabulatio zur Animation affektiver und sinnlicher Erfahrungspotentiale wird. Masticatio und ruminatio sind Kennworte, die auf die monastische Gebets- und Kontemplationspraxis verweisen11 und sich zunächst darauf beziehen, dass Schriftworte in der kontemplativen Lektüre so verwendet werden, dass sie einen dramatischen Effekt entfalten. Dies geschieht dort, wo der Mönch die Stimme des Textes adoptiert und zu seiner eigenen Stimme macht. Gleichzeitig lässt David deutlich werden, dass sich die ruminatio nicht in dieser Assimilation erschöpft. Sie zielt vielmehr darauf ab, in der Repetition einschlägiger Texte und Textstellen (aus dem Hohelied, den Psalmen, etc.) die Sinne und die Affekte zu erregen. Dabei wird der Text zum Medium einer 10 David of Augsburg, Septem gradus orationis (Anm. 8), S. 161. Der Abschnitt endet mit den folgenden Zitaten: Unde psalmus: ,Quam dulcia faucibus meis eloquia tua‘ [Ps 118,103]. Bernardus: ,Mel in cera devotio in littera est‘. Item: ,Cibus in ore, psalmus in corde sapit, cum illum terere non negligat fidelis et prudens anima quibusdam dentibus intelligentiae suae, ne, si forte integrum glutiat et non mansum, frustretur palatum sapore desiderabili et dulci ,super mel et favum‘ [Ps 18,11]. 11 Vgl. Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; dies., The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, Cambridge 1998, S. 104 f.
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sinnenhaft-anschaulichen Erfahrung, die aus der Inszenierung der Stimme hervorgeht und als rhetorischer Effekt beschrieben werden kann. Um ein Beispiel zu nennen: Das Singen oder Rezitieren des Miserere dient nicht primär dazu, ein bestimmtes kognitiv-intellektuelles Verständnis der menschlichen Existenz zu vermitteln, sondern dazu, einen bestimmten emotionalen Zustand herbeizuführen. Dieser ist der Effekt der Adoption der Stimme des Psalmisten und des rhetorischen, das heißt, des bewussten und strategischen Einsatzes von Schriftzitaten als Medium der Affektevokation. Die Verwendung biblischer Versatzstücke im Gespräch mit Gott – im Selbstgespräch angesichts des nicht fassbaren Gottes – dient der Produktion einer ,Selbstaffektion‘, welche die Stelle des adäquaten Schriftverständnisses einnimmt. Oft geschieht dies mit einem Verweis auf die negative Theologie des Pseudo-Dionysius, wobei das Produkt der sinnlich-affektiven Erregung als Kompensation der Unzulänglichkeit begrifflichen Verstehens dargestellt wird. Diese Kompensation ist auf das ,Begehren‘ (begirde) als Movens angewiesen. Sie entfaltet sich, wo Gebet und Gespräch zum Medium der Erfahrung wird.12
II. Die Produktion sinnlicher Wahrnehmung und die Phänomenologie rhetorischer Effekte Das kontemplative (Selbst-)Gespräch und das Gebet produzieren so nicht bloß einen dialogischen Rahmen der ,Sinnfindung‘, also einer semiotischen Praxis im Spiel adoptierter Stimmen und Rollen, sondern gleichzeitig einen Rahmen, der der Produktion affektiver und sinnlichanschaulicher Erfahrungsmomente dient, die zunächst a-semantisch sind. Rudolf weist in seiner Behandlung der sogenannten ,inneren Sinne‘ des Menschen auf diesen Zusammenhang hin, wenn er anmerkt: Ex quo ergo gustum illum nemo potest exprimere, sed solum per experientiam noscitur, ideo oportet viam quaerere, qualiter spiritus noster ad istam gustus experientiam possit pertingere. 13 Das Vokabular des Schmeckens und des Geschmacks verweist auf eine experientielle Ebene, die sich dem Begriff 12 Vgl. Rudolf von Biberach, Die siben strassen zu got (Anm. 1), S. 64. 13 Rudolf von Biberach, De septem itineribus aeternitatis. Nachdruck der Ausgabe von Peltier 1866 mit einer Einleitung in die lateinische Überlieferung und Corrigenda zum Text, hrsg. von Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985 (Mystik in Geschichte und Gegenwart 1), S. 467.
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entzieht und nur über die Praxis zu vermitteln ist. ,Schmecken‘ ist hier keine Metapher, sondern sinnliches Ereignis, das sich einstellt, wo die Schrift im Gebet gezielt als Mittel der Erfahrungsproduktion eingesetzt wird. Dies heißt jedoch nicht, dass die Erfahrung, um die es hier geht, sich schlechthin der diskursiven Kontrolle entziehen würde. Die Erfahrung ist vielmehr Resultat einer Technik der Verbindung von Lektüre und Kontemplation, die auf den rhetorischen Effekt bestimmter Textstellen abhebt, wenn diese von der Stimme des Betenden ,vernunftgeleitet‘ evoziert14 und der dramatischen Inszenierung dieser Stimme überantwortet werden, welche schließlich den erhofften Effekt, die experientia, erzielt. Diese Praxis der Applikation der Sinne und der Affekte geht zurück auf die Hoheliedexegese vor allem des Origenes, der im Blick auf den ,allegorischen‘ Status dieses Textes davon spricht, dass dieser nicht auf einen esoterischen Sinn verweise, sondern auf einen ,Sinn‘, der nur in Form der aisthesis, also in der Erfahrung des Textes durch die sogenannten ,inneren Sinne‘ gewonnen werden könne.15 Man hat diese Konstruktion des Origenes oft selbst als Allegorie verstanden, doch trifft dies die Intention des Autors nicht wirklich. Worauf sich Origenes bezieht, ist nicht die Übersetzung des Schriftwortes in eine allegorische Sprache, die auf Metaphern der Sinnlichkeit zurückgreift, sondern die Applikation des Wortes im Gang der kontemplativen Lektüre und des Gebets, das sich darin ,übt‘, den rhetorischen (d. h. persuasiven und performativen) Gehalt der Schrift in sinnlich-anschaulicher Form zu erfahren. Diese Praxis, die in mittelalterliche monastische Gebetslehren eingegangen ist, steht im Hintergrund des Verständnisses vom Gebet bei David von Augsburg und Rudolf von Biberach. Letzterer behandelt denn auch die ,inneren Sinne‘ eingehend, wenn er von gesmak und enphindung spricht und diese nicht bloß auf die Wirkung des im Gebet wiederholt zitierten Schriftwortes bezieht, sondern ebenso auf die Wirkung der Schöpfung auf den Betrachter. Dazu merkt Rudolf von Biberach an: Der vsgang gottes [d.h. die Schöpfung und die Inkarnation] 14 Rudolf von Biberach, Die siben strassen zu got (Anm. 1), S. 64. 15 Vgl. Niklaus Largier, „Inner Senses – Outer Senses: The Practice of Emotions in Medieval Mysticism“, in: C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten (Hrsg.), Codierung von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Berlin – New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 3 – 15; ders., „Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung“, in: Poetica, 37/2005, S. 393 – 412.
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sachet und wurkt in vnsern inren sinnen ein kvnstlich bekennen ewiger dingen. 16 Damit ist auch hier keine Allegorie gemeint, die Bilder der Sinnlichkeit verwendet, sondern eine sinnenhafte Erfahrung, die aus der kontemplativen Lektüre hervor geht und mit der Ausbildung eines neuen Habitus auch die Wahrnehmung der Welt bestimmt. Die im Medium der Schrift und im inszenierten Gespräch mit Gott produzierte Sinnlichkeit wird so keineswegs als momentanes Ereignis im Gang der Lektüre verstanden, sondern als Habitusformung, die alle Wahrnehmung zu bestimmen vermag. Sinnlichkeit wird über einen Kommunikationszusammenhang definiert, der als Medium fungiert, den bewussten Einsatz rhetorischer Mittel der Stimulierung voraussetzt, und die sinnlich-anschauliche Erfahrung daraus hervorgehen lässt. Ich spreche angesichts dieser Praxis von einer Phänomenologie rhetorischer Effekte, insofern nicht auf ein Modell abgehoben wird, das die Sinne vermögenspsychologisch und ,naturalistisch‘ versteht, sondern auf ein Modell, das von sinnenhaften Erfahrungsmöglichkeiten ausgeht, die mit bestimmten Mitteln produziert, moduliert, amplifiziert, und in ihren qualitativen Gehalten exploriert werden können. Schrift und Welt nehmen aus der Sicht dieser Praxis in Formen Gestalt an, die immer medial vermittelt, in bestimmten Kommunikationszusammenhängen zu verorten, und gezielt formbar sind.
III. Experientielle Frömmigkeit als phänomenologisches Experiment In seiner Untersuchung zu Davids von Augsburg De compositione und zur spezifischen Bedeutung der inneren Sinne in diesem Text stellt Cornelius Bohl fest: Vornehmlicher Inhalt der experientia ist bei David nicht Gott im Sinne einer cognitio Dei experimentalis, sondern der praktische Vollzug geistlichen Lebens, das heißt die unmittelbare Erfahrung, die der Mensch mit sich selbst in einem bestimmten religiösen Lebensstil macht, wie auch mittelbar die Erfahrung mit den Erfahrungen der anderen.17
16 Rudolf von Biberach, Die siben strassen zu got (Anm. 1), S. 150,3 f. 17 Bohl, Geistlicher Raum (Anm. 4), S. 239.
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David merkt denn auch wiederholt an: experti sumus tam in nobis quam in aliis. 18 Es verweist damit auf den konkreten Ort dieser Praxis des Gebets und der Kontemplation im Leben der Mönche und im Kontext monastischer Disziplin, die alle Erfahrung auch zum Gegenstand der Beobachtung und des Austauschs macht. Der Praxis der Erfahrungsproduktion wird so eine Praxis der Beobachtung, dem System der Erfahrungsproduktion ein Beobachtungssystem beigestellt, das die Erfahrung letztlich zu autorisieren, zu evaluieren und zu legitimieren hat. Das Verhalten der Mitbrüder kann beobachtet, die Praxis von außen wahrgenommen werden. Dies schließt nicht nur ein, was gesehen, sondern auch, was erzählt wird, wird das Erzählte doch zum Gegenstand nachahmender Wiederholung und zum Mittel einer Pädagogik, die sich im Kloster am von der Gemeinschaft validierten Exempel orientiert. Mit anderen Worten: Die im Gebet und in der Kontemplation gewonnene sinnlich-anschauliche Erfahrung, die aus der Imitation exemplarischer Viten und aus dem rhetorischen Gebrauch exemplarischer Textstellen hervorgeht, kehrt in der monastischen Kommunikation in den Zyklus exemplarischer Muster zurück, aus denen wiederum in der Verwendung des Exempels zu Stimulationszwecken spezifische Erfahrungen gewonnen werden. Dieser Prozess, der nie zum Stillstand kommen kann, wirft den Einzelnen immer neu auf die Exempel zurück, die er zu imitieren und in der Imitation erfahrungshaft zu applizieren hat, während er gleichzeitig die Praxis des Einzelnen der Evaluation durch die Gemeinschaft überstellt, in die dieser durch sein exemplarisches Tun eingeht.19 Dabei ist die gewonnene Erfahrung nicht nur immer neu, insofern sie ihren Ort nur in der Praxis und damit im Ereignis hat. Sie wird gleichzeitig ,angereichert‘ in der Akkumulation der Exempel – die etwa als Viten und ,Schwesternleben‘ gesammelt werden – und in den darin gewonnenen und daraus zu gewinnenden experientiellen Möglichkeiten. Die Phänomenologie rhetorischer Effekte wird durch diese Rückkoppelung zur Phänomenologie experientieller Möglichkeiten des Einzelnen und der Gemeinschaft, welche immer neu zu durchlaufen ist und deren Archiv, auf das zur Produktion der Erfahrung zurückgegriffen wird, immer wächst. Texte von Hadewijch und Mechthild von Magdeburg – um die bekanntesten zu nennen – betrachte ich als ex18 David von Augsburg, De compositione, 29,8; zitiert nach Bohl, Geistlicher Raum (Anm. 4). 19 Vgl. Bohl, Geistlicher Raum (Anm. 4), S. 250 f. (mit einschlägigen Textstellen).
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emplarische Texte, die für dieses Archiv verfasst werden und dazu verwendet werden wollen, als exemplarische Vorlagen der Schriftapplikation in Gebet und Kontemplation neue rhetorische Effekte zu produzieren.
IV. Habitusformung und Gemeinschaft Die besprochene Praxis der Kontemplation und des Gebets zielt – wie gesagt – nicht nur darauf ab, singuläre Momente religiösen Erlebens zu evozieren. Es geht vielmehr um die Produktion eines Habitus, der in umfassender Weise Formen sinnlicher, affektiver, und kognitiver Wahrnehmung bestimmt, die ihrerseits aus dem disziplinierten Umgang mit bestimmten Textvorlagen, das heißt aus der repetitiven Übung hervorgehen und die kognitive, emotionale, sinnliche Wahrnehmung ebenso formen wie die individuelle Haltung und das soziale Handeln. Solche Textvorlagen bilden bestimmte Stellen der Heiligen Schrift, die Heiligen- und Väterviten sowie die darauf basierende Vitenliteratur des Mittelalters. Vitensammlungen, Visionstexte, aber auch etwa die Strofischen Gedichte und Briefe Hadewijchs sind unter diesem Gesichtspunkt als Texte zu analysieren, die – oft auch im Rückgriff auf Modelle der Psychomachie und auf Allegorien der Seelenkräfte – Vorlagen (oder Skripts) für erfolgreiche Schriftapplikation, die affektive Einübung (exercitatio) und die ethische Formung bilden. Gleichzeitig markieren die volkssprachlichen Texte einer Mechthild und Hadewijch eine wichtige Schnittstelle, dienen sie doch nicht bloß der individuellen Praxis innerhalb eines etablierten, in Latein geübten monastischen Rahmens, sondern ebenso einer volkssprachlichen Gemeinschaftsformung, durch die sich Beginengemeinschaften und Nonnenkonvente eine kommunale Identität schaffen, die auf gemeinsam gepflegten Übungen und Formen der Erfahrungsproduktion beruht. In vergleichbaren Gattungen der Verschriftlichung – etwa in den Nonnenleben20 – kann man denn auch einerseits eine Form der Musealisierung und der Stilisierung solcher Konvente erkennen, doch geht es hier gleichzeitig darum, einen bestimmten Frömmigkeitsstil mitsamt den dazugehörigen Übungen, speziellen Gnadenerlebnissen und Visionen zu legitimieren und als 20 Vgl. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen – Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38).
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examplarischen Text zur Imitation für die Nachfolgegenerationen herzustellen. Das Kloster konstituiert sich so über das produzierte Textarchiv als Kommunikationsgemeinschaft, das seine Identität auf der Grundlage der Kommunikation der Nonnen mit Gott definiert, die vorbildhaft im Text Gestalt annehmen und in die Genealogie exemplarischer Texte eingehen, durch die sich die Gemeinschaft charakterisiert. Diese Texte dienen – als exemplarische Grundlage individueller mimetischer Praxis – einer kommunalen Habitusbildung, welche auf der vom exemplarischen Archiv verkörperten Form der Frömmigkeitsübung und der Textapplikation beruht. So entsteht religiöse Erfahrung innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft, die sich über die bestimmte Form der Applikation eines vorbildhaften Textarchives definiert und aufgrund des Archives rhetorisch produzierte individuelle Erfahrung in der Verschriftlichung wiederum darin einbettet.
V. Kontrolle und Zensur Wie wir wissen, ist die hier besprochene Praxis der Produktion religiöser Erfahrung keineswegs unproblematisch. Darauf weist etwa hin, dass David von Augsburg die Notwendigkeit des Beobachtungssystems innerhalb der Klostergemeinschaft betont. In Korrelation zu den monastischen Praktiken der Kontemplation, die sinnlich-anschauliche, erfahrungshafte Wahrnehmungsinhalte produzieren, entwickelte sich denn auch die sogenannte ,Unterscheidung der Geister‘ als Kontrollpraxis, die erweisen soll, ob die experientia in der Tat ,göttliche Süße‘ und nicht etwa dämonische Verstellung unter dem Simulakrum vermeintlich ,göttlicher Süße‘ ist. Innerhalb des Rahmens monastischer Disziplin und Kommunikation nimmt diese Kunst der Unterscheidung ebenfalls als Phänomenologie Gestalt an, die jeweils im Einzelfall ermitteln soll, ob die erzielte und erlebte Erfahrung ,authentisch‘ ist. Sie tut dies, indem sie einen Bezug herstellt zwischen der erlebten Erfahrung und autoritativen, exemplarischen Texten, etwa der Heiligen Schrift und den Heiligenleben, die als Grundlage der Evaluation dienen und modellhafte Vorlagen abgeben, die entscheiden lassen, ob es sich um ,göttliche‘ oder ,dämonische‘ Erlebnisse handelt. Dabei steht zunächst nicht eine normative Praxis der Zensur im Vordergrund, sondern eine Technik der qualitativen Bewertung, die sich dem Erfahrenen entlang tastet und durch Korrelationen der Ähnlichkeit, der Tugendhaftigkeit, der Anlehnung an Vorbilder die ,Echtheit‘ zu erweisen und
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das Erfahrene zu validieren sucht. Auch dabei spielt das Gespräch eine wichtige Rolle, bildet es doch als Selbstgespräch oder als Gespräch mit dem Seelsorger den Rahmen der Evaluation und der Validierung. Problematisch scheint diese Evaluation dort zu werden, wo die Animation sinnlich-anschaulicher Erfahrung durch die Gebetspraxis in die Volkssprache übergeht und – etwa in der Form von Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit oder Marguerite Poretes Spiegel der einfachen Seelen – neue Texte produziert, die einen volkssprachlichen Kommunikationszusammenhang und – etwa innerhalb der sogenannten Beginenmystik – eine neue ,Öffentlichkeit‘ konstituieren.21 Übergänge, an denen die hier besprochene Gebetspraxis in eine volkssprachliche Öffentlichkeit eingeht, ließen sich auch im Blick auf die devotio moderna und die Bewegung der Gottesfreunde beschreiben, wird doch gerade die devotio moderna mit Autoren von Geert Grote bis zu Dionysius dem Kartäuser und Jan Mombaer zu einem Zentrum der Produktion von Traktaten, die sich mit der Gebetspraxis und der Notwendigkeit der Unterscheidung der Geister befassen.22 Seit dem 14. Jahrhundert zeichnet sich denn auch generell ein starkes Interesse an Praktiken der Evaluation innerer Erfahrung ab, die der Freisetzung der Kommunikation über die in der Praxis gewonnene Erfahrung Instanzen diskursiver Kontrolle entgegenzustellen suchen. Die wichtigsten Traktate dazu stammen von Heinrich von Friemar († um 1340), Heinrich von Langenstein († 1397), Peter von Ailly († 1420), Johannes Gerson († 1429), und Dionysius dem Kartäuser († 1471). Daneben hat die Technik der Unterscheidung der Geister Spuren in vielen Texten hinterlassen, die man in der Regel der mystischen Tradition zurechnet (etwa bei Heinrich Seuse, im Buch von der geistlichen Armut, bei Katharina von Siena, Thomas a Kempis, und in der Cloud of Unknowing).23 Was die 21 Zur Problematik der Volkssprache vgl. Susanne Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen – Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30). 22 Vgl. Kent Emery, „Denys the Carthusian and Traditions of Meditation: ,Contra detestabilem cordis inordinationem‘“, in: ders., Monastic, Scholastic and Mystical Theologies from the Later Middle Ages, Aldershot – Brookfield 1996, S. 1 – 26. Siehe dazu auch Niklaus Largier, „Rhetorik des Begehrens. Die ,Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität“, in: Martin Baisch [u.a.] (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivitt in der Literatur des Mittelalters, Königstein/Ts. 2005, S. 249 – 270. 23 Ein Überblick über die Texte findet sich bei Cornelius Roth, Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson, Würzburg 2001, S. 45 – 60.
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Texte von Heinrich von Friemar bis zu Dionysius dem Kartäuser kennzeichnet, ist eine zunehmende Systematisierung, die bei Dionysius einen Höhepunkt erreicht. Dabei tritt ein normativer Rahmen in den Vordergrund, der das evaluierende Gespräch ersetzt, ohne dass jedoch die phänomenologische Perspektive ganz preisgegeben würde. Ein Blick in den Traktat Heinrichs von Friemar lässt deutlich werden, dass die Praxis der experientiellen Phänomenologie durch eine einfacher handhabbare und auf Eindeutigkeit hin angelegte Semiologie ,der Ähnlichkeit mit Christus und mit den Heiligen‘ ersetzt werden soll,24 die es besser erlaubt, den normativen Rahmen mit der phänomenologischen Evaluation zu verbinden und klare Grenzen zwischen ,göttlichen‘ und ,engelhaften‘ Wahrnehmungsmodi auf der einen Seite, ,teuflischen‘ und ,naturhaften‘ auf der anderen Seite zu ziehen. Dass Heinrich von Friemar dabei das ,Naturhafte‘ demjenigen Bereich zuschlägt, der prinzipiell zu meiden ist, überrascht nicht, geht es ihm doch um eine Eindeutigkeit von ,Zeichen‘ und Bedeutungszuordnung, die in dieser Form bisher niemand vorgelegt hat. Heinrich hat auch sonst deutlich Stellung bezogen gegen die Hochschätzung des ,Naturhaften‘. Man darf hier durchaus von einem Programm sprechen, das sich einerseits gegen die spekulative Mystik Eckharts und seines Umfeldes25, andererseits gegen die Literatur in der Volkssprache richtet, wie sie Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete vertreten. Mit dem Postulat semantischer Eindeutigkeit antwortet er auf das Defizit an Kontrollmöglichkeiten, das die Situation charakterisiert, in der die Techniken der Erfahrungsproduktion durch das Gebet in die Volkssprache eingehen. Die Überlieferungsbreite seines Traktates belegt das Interesse, das er gefunden hat. Dass ein großer Teil der deutschen Vgl. weiter Nancy Caciola, Discerning Spirits. Divine and Demonic Possession in the Middle Ages, Ithaca 2003. 24 Heinrich von Friemar, „De quattuor instinctibus“, in: Robert G. Warnock/ Adolar Zumkeller, Der Traktat Heinrichs von Friemar ber die Unterscheidung der Geister. Lateinisch-mittelhochdeutsche Textausgabe mit Untersuchungen, Würzburg 1977 (Cassiciacum 32), S. 147 – 235, hier S. 154. 25 Vgl. Uta Störmer, Gewissen und Buch. ber den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters, Berlin – New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14), S. 147 f. Zum Kontext siehe Niklaus Largier, „Das Glück des Menschen. Diskussionen über ,beatitudo‘ und Vernunft in volkssprachlichen Texten des 14. Jahrhunderts“, in: Jan A. Aertsen/ Andreas Speer (Hrsg.), Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universitt von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte, Berlin – New York 2001, S. 827 – 855.
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Übersetzungen seines Textes in Bibliotheken spätmittelalterlicher Nonnenklöster zu finden war26, bestätigt zudem die Relevanz des Themas im Rahmen einer Politik, die unter Kontrolle zu bringen suchte, was man oft als „Auswuchs des Visionären in den Nonnen- und Beginenklöstern“ bezeichnet hat.27 Auch Johannes Gerson, der das Thema der Unterscheidung der Geister ein Jahrhundert nach Heinrich von Friemar behandeln wird, entwickelt seine Kategorien vornehmlich im Blick auf ,visionäre Frauen‘. Man geht daher sicher nicht fehl in der Annahme, dass die Popularität der Traktate über die Unterscheidung der Geister im engen Zusammenhang mit der Verbreitung von Texten zu sehen ist, die aus der hier besprochenen Praxis hervorgehen, dabei jedoch den traditionellen Rahmen der Kontrolle überschreiten und neue Kommunikationsgemeinschaften auszubilden helfen. Dies ist der Fall sowohl im Blick auf die Linie des Denkens Eckharts, die intellektuell, wie auf die Davids, die affektiv-sinnlich ausgerichtet ist. In beiden Fällen wird die Freisetzung von Bedeutungs- und Erfahrungspotentialen zum Problem, die der Gebetspraxis entspringen, sich jedoch den tradierten Kontrollinstanzen entziehen und auf ein Gespräch in der Volkssprache hin offen sind. Es lässt sich zudem feststellen, dass im Spätmittelalter tendenziell eine geschlechtsspezifische Typisierung vorgenommen wird, die zunehmend die Produktion sinnlich-anschaulicher Erfahrung im Gebet mit einer spezifischen ,Frauenspiritualität‘ identifiziert und einem prinzipiellen Häresieverdacht aussetzt. So schreibt Johannes Gerson in De probatione spirituum: Hoc praecipue considerare necesse est, si sit mulier, qualiter cum suis confessoribus conversatur et instructoribus, si collocutionibus intendit continuis, sub obtentu nunc crebrae confessionis, nunc prolixae narrationis visionum suarum, nunc alterius cujuslibet confabulationis. Expertis credite, praesertim Augustino ac domino Bonaventurae; vix est altera pestis vel efficacior ad nocendum, vel insanabilior. Quae si nihil haberet aliud detrimenti, nisi temporis pretiosi latissimam hanc consumptionem, abunde diabolo satis esset. Habet aliud scitote; habet insatiabilem videndi loquendique, ut interim de tactu silentium sit, pruriginem […].28
26 Vgl. Robert G. Warnock, „,Von den vier Einsprüchen‘ – Die volkssprachliche Überlieferung“, in: Heinrich von Friemar, „De quattuor instinctibus“ (Anm. 24), S. 41 – 144. 27 Ebd., S. 40. 28 Johannes Gerson, „De probatione spirituum“, in: ders., Oeuvres compltes, hrsg. von Palémon Glorieux, Bd. 9, Paris 1973, S. 177 – 185, hier S. 184.
Phänomenologie rhetorischer Effekte
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VI. Schnittstellen religiöser und säkularer Kommunikation Im Blick auf Übergänge und Schnittstellen zwischen religiöser und säkularer Kommunikation möchte ich abschließend drei Bereiche benennen, wo weiter zu untersuchen wäre, wie die hier skizzierten Praktiken über den abgrenzbaren Bereich religiöser Kommunikation und Gemeinschaftsbildung hinaus von Bedeutung sind. Ich möchte dabei einen ethischen, ästhetischen, und sozialen Bereich identifizieren. Darin findet statt, was wir als eine ,Freisetzung‘ der am Exempel orientierten Mimesis der ursprünglich monastischen, durch eine methodische Disziplin kontrollierten Gesprächskultur, der inszenierten Zwiesprache und der darin stattfindenden Phänomenologie rhetorischer Effekte bezeichnen können. Dass sich Heinrichs und Gersons Kritik an der visionären ,Frauenmystik‘ ihrer Zeit in der oben zitierten Form äußert, weist darauf hin, dass die volkssprachliche Kommunikation über ,religiöse Erfahrung‘ zum zentralen Problem wird, das durch kirchliche Intervention adressiert werden soll. Nicht die Form religiöser Erfahrung, auch nicht die Phänomenologie rhetorischer Effekte ist Gegenstand der Kritik, sondern das ,endlose Gespräch‘, die ,ausführliche Erzählung‘, die confabulatio, die ,unersättliche Sucht zu schauen und (darüber) zu sprechen‘. Was Gerson im Auge hat, ist also nicht die Praxis affektiver und sinnlich-anschaulicher Stimulierung selbst. Es ist vielmehr der Punkt, wo die Erfahrungen, die dieser Praxis entspringen, in ein Gespräch eingehen, das nicht mehr von den traditionellen Institutionen innerhalb fest etablierter Kommunikationsgemeinschaften kontrolliert werden kann. Bedenken wir dies auf der Grundlage der zugrundeliegenden Logik der Exemplarität, so heißt dies, dass die exemplarischen Vorlagen, welche die Basis der monastischen Praxis bilden und in Form von Viten und Visionsberichten immer neu produziert werden, sich ebenfalls zunehmend der Kontrolle entziehen. Diese scheinen nicht an sich problematisch zu sein, wie andere Schriften Gersons belegen, sondern nur, insofern sie zum Gegenstand des Gesprächs werden. Ich möchte im Blick darauf von einer (wenn auch begrenzten) ,Öffentlichkeit‘ sprechen, die anstelle der monastischen Disziplin (und des begrenzten Raums des Gespräches mit dem Seelsorger und Beichtvater) die Position der Deutungsmacht einnimmt. Mit anderen Worten, der Prozess der Sinngebung, das heißt, der semantischen Analyse und der normativen Kontrolle verlagert sich von einem autorisierten Diskurs, der Stimme des Beichtvaters und dem Selbstgespräch des Mönchs, zum
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Largier, Rhetorische Effekte
,öffentlichen‘ Gespräch, das die Visionen und Erlebnisse zum Gegenstand machen und damit auch immer neue Sinnpotentiale evozieren kann. Damit findet eine Freisetzung statt, die die ästhetische, sinnlichanschauliche Erfahrung, die ethische Geltung und die soziale Bedeutung exemplarischer (oder doch Exemplarität beanspruchender) Texte und Erzählungen nicht durch den Rückgriff auf einen kirchlich autorisierten Rahmen etabliert, sondern im Austausch zwischen Textproduzenten und -rezipienten, dem die Sinnfindung überantwortet wird. Demgegenüber versucht Gerson, die Sprecherposition durch ein gendering (die Zuschreibung an mulieres) gezielt zu de-autorisieren und gleichzeitig den Spielraum des Gespräches als Ort der Evaluation der religiösen Erfahrung zu problematisieren und auf die autorisierten Sprecher zu begrenzen. Er versucht damit, zugespitzt formuliert, die Konstitution einer Öffentlichkeit zu verhindern, welche die Deutungsmacht im Blick auf die Phänomenologie rhetorischer Effekte den etablierten religiösen Institutionen und Diskursen zu entziehen droht und Kommunikationszusammenhängen zu überantworten sucht, welche die Sinngebung exemplarischer Erzählungen (die der Freisetzung neuer Wahrnehmungsformen dienen) unabhängig von diesen Instanzen vollzieht. Solche Kommunikationszusammenhänge antizipieren, wiederum überspitzt gesagt, was man in der Moderne als ,säkulare‘ Öffentlichkeit zu bezeichnen gewohnt ist (ohne dabei jedoch den religiösen Gehalt einzubüßen). Diese definiert sich indes nicht dadurch, dass sie die religiöse Tradition schlechthin eliminiert, sondern dadurch, dass sie offen wird für neue Formen diskursiver Kontrolle, welche die semantische, ethische, und ästhetische Deutung experientieller Erzählungen von neuen Instanzen abhängig macht. Sie ist zudem – schon seit Hadewijchs Strofischen Gedichten und Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit – in zunehmendem Masse offen für die Bildung hybrider Formen, so etwa für den experimentellen Umgang mit ,höfischem‘ und ,geistlichem‘ Material.
Emphasis, berswanc, underscheit Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse) Susanne Kçbele I. Glaubwürdigkeitsaporien Galilei, der Häresie angeklagt, bittet um eine Anhörung. Am 30. April 1633, zwei Wochen nach dem ersten Verhör, darf er endlich sagen, „was ihm zu sagen notwendig erscheint“. Auf die Wahrheit vereidigt, unter Berührung der heiligen Evangelien, erzählt er eine Geschichte, laut Verhörprotokoll1 die Geschichte der Relektüre seines Buches, das er drei Jahre nicht mehr in der Hand gehabt, jetzt aber wieder gelesen habe, um es „peinlich genau zu untersuchen“. Das inkriminierte Buch, der Dialog ber die beiden hauptschlichsten Weltsysteme, […] erschien mir nach der langen Entwöhnung wie eine neue Schrift und das Werk eines anderen Autors. Ich gestehe frei, daß es mir an mehreren Stellen in solcher Form geschrieben schien, daß der Leser, der sich meiner inhaltlichen Botschaft nicht bewußt war, Grund gehabt hätte, sich die Meinung zu bilden, daß die von der falschen Seite angeführten Argumente, die ich zu widerlegen versuchte, auf solche Weise formuliert wurden, daß sie durch ihre Wirkung eher gestärkt als entkräftet wurden […].
Die Bilanz dieser Selbst-Inquisition ist bemerkenswert. Galilei verlegt den Irrtum in die Ohren des schlecht informierten Lesers, mit dem zusätzlichen Vorbehalt des Konjunktivs (der „Grund gehabt hätte“). Zugleich bürdet er den Irrtums-Verdacht der literarischen Form des Textes auf, der perspektivischen Komplexität des fiktiven Dialogs (womöglich habe er die Argumentation der „falschen“ Seite zu stark 1
Das folgende zitiert nach Peter Godman, Weltliteratur auf dem Index. Die geheimen Gutachten des Vatikans, Berlin [u.a.] 2001, S. 181; zur Quellenlage ebd., S. 44 f. (Mein Beitrag führt Überlegungen zusammen, die ich im Rahmen des Internationalen Doktorandenkollegs ,Textualität in der Vormoderne‘ an der LMU München und auf der letzten Tagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft in Straßburg vorgetragen habe.)
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gemacht). Und noch einmal wechselt Galilei im selben Satz die Perspektive von der Produktions- auf die Rezeptionsseite, zur eigenen Entlastung. Der Irrtum betreffe nicht den Textzustand, sondern dessen Interpretierbarkeit, genauer: die suggestive Wirkung einzelner Formulierungen, also ohnehin nicht das Textganze, sondern nur Ausschnitte, die, wie er im selben Atemzug einräumen wird, „haarspalterisch“ formuliert sein mögen, aber „einfallsreich“, „geistvoll“ haarspalterisch. In den engen Möglichkeiten, sich zum eigenen Geschriebenen in Distanz zu bringen, verteidigt Galilei sich hier mit dem alten Argument, die Dornen seien nicht im Text, sondern ,an Euren Füßen‘. Doch nicht nur die texthermeneutisch rekonstruierbare Frage: ,Wie hast Du das gemeint?‘ spielt in Ketzerprozessen vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit eine Rolle. Wichtiger, zugleich unabsehbarer ist ein zweiter Punkt: ,Glaubst du es (noch)?‘ Erst mit dieser zweiten Frage steht alles auf dem Spiel, erst mit ihr ergeben sich nicht nur Verstehensprobleme, sondern Glaubwürdigkeitsaporien, nach beiden Seiten. Denn der Angeklagte kann nicht beweisen, nur behaupten, dass und was er glaubt (Glaubwürdigkeit kann ich mir nicht selbst zuschreiben), und auch die Gegenseite kann nur über Behauptungen, nicht über Sachverhalte urteilen: das ist die Rationalitätsgrenze juristischer Glaubwürdigkeitsprüfungen.2 Zwar sind Artikelverhöre, aufs Ganze der Ketzerverfolgungsgeschichte gesehen, durchaus ein Gewinn an Rationalität. In der Spätantike sind Ketzer (,non christiani‘) vor Gericht überhaupt nicht gehört worden. Die Kläger, die zugleich die Richter waren, operierten in einem geschlossenen System, mit der Begründung: non christiani nullum ius capiunt christianarum litterarum. 3 Doch auch wenn die zunehmende Rechtsförmigkeit der kirchlichen Kontrollmaßnahmen (Zeugen, Gut2
3
In historischer Perspektive nach wie vor grundlegend: Herbert Grundmann, „Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quellenkritisches Problem“, in: ders., Ausgewhlte Aufstze, Teil 1: Religiçse Bewegungen, Stuttgart 1976 (zuerst 1965) (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25), S. 364 – 403. Zum Glaubwürdigkeitsdilemma (,wer zeugt für den Zeugen?‘) vgl. Peter Strohschneider, „Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt im Problemfeld vormoderner Textualität“, in: Zeitschrift fr Deutsche Philologie, 124/2005, Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, S. 309 – 344, bes. S. 318. Tertullian, De praescriptione haereticorum. Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Hretiker, übers. und eingel. von Dietrich Schleyer, Turnhout 2002 (Fontes Christiani 42), S. 37,3.
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achter, ein Geständnis usw.) das Element der Willkür in der Ketzerverfolgung zurückdrängen kann: Der im 13. Jahrhundert einsetzende juristische Rationalisierungsschub bleibt ambivalent. Schon die Tatsache, dass parallel zur Einführung des Geständnisses die Folter zu seiner Erzwingung erfunden worden ist, ist ein Symptom dafür, dass der rationale Gerichtsbeweis die Glaubwürdigkeitsaporie nicht auflösen, sondern allenfalls institutionell überspringen kann. Ähnlich zwiespältig bleibt die Dokumentation inkriminierter Stellen in sogenannten ,Irrtumslisten‘, dem wichtigsten Beweisinstrument der Zensur.4 Auf welchen Text beziehen sich die Zensoren? Auf seine Performanz (die ,Äußerung‘) oder seine Proposition (die ,Aussage‘)? Auf seine Wörtlichkeit oder seine Bedeutung? Auf die Autor-, Text- oder die Interpretations-Intention? Und was ist – gegebenfallls – mit seiner ,Literarizität‘? Im Fall Galilei, in einer historischen Schwellensituation, bricht die Paradoxie offen auf. Sie wird greifbar als Konkurrenz von hypothetischer Modellüberlegung und ,Wahrheit‘5, denn die Dialog-Form, die Galilei seinem Text gibt, erzeugt den Eindruck eines abstrakten, ironisch distanzierten Gedankenexperiments. Die spekulative, wissenschaftliche, religiöse Grenzüberschreitung des Textes ist also auch eine ästhetische, und diese Entdifferenzierung der Diskurse wird prompt inquisitorisch sanktioniert. Das Literarische (der ,Form‘-Aspekt im weitesten Sinn) scheint allerdings in der dogmatischen Perspektive wieder verlorengegangen, so weitgehend, dass der Angeklagte daran erinnern muss. Wird es vorsätzlich ignoriert oder strukturnotwendig oder bloß übersehen? Anders gefragt: Ist ,Literarizität‘ für die Seite der Ankläger überhaupt eine wahrnehmbare Kategorie? 4
5
Vgl. dazu im Überblick Klaus Kanzog, „Zensur“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin [u.a.] 2003, S. 891 – 894; außerdem Bodo Plachta, „Zensur und Textgenese“, in: editio, 13/1999, S. 35 – 52; K.-G. Riegel, „Inquisitionssysteme von Glaubensgemeinschaften. Die Rolle von Schuldgeständnissen in der spanischen und der stalinistischen Inquisitionspraxis“, in: Zeitschrift fr Soziologie, 16/1987, S. 175 – 189. Zur Kollision der Wahrheitsansprüche vgl. Hans Blumenberg, „Erfahrungen mit der Wahrheit: Galilei“, in: ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt. Typologie der frhen Wirkungen. Der Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit, Frankfurt/M. 1981 (zuerst 1975), S. 453 – 502. Blumenberg kommentiert die oben zitierte Selbstverteidigung Galileis wie folgt: Ihm sei „nur die dialektische Formulierung des Für und Wider der Argumente so geraten, als wären sie darauf gerichtet, durch ihre Kraft zu einer Überzeugung zu nötigen, deren Widerlegung sie tatsächlich erleichtern sollten.“ (S. 457).
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Bezeichnend ist, dass Häretiker schon bei Tertullian in eine Kategorie fallen mit Leuten, die ihrerseits nur ,Fiktionen‘ produzieren, imitieren, fälschen und in eifernder Überbietungssucht die Wahrheit verderben: mit den Dichtern.6 Die Dichter-Kritik ist alt, aber Tertullians Argument für die Dichter-Ketzer-Parallelisierung ist neu. Dichter wie Ketzer, sagt er, reißen Sätze aus dem Zusammenhang, betreiben Sinnunterstellung und richten (die Metapher ist drastisch) ein „Gemetzel an der Schrift“ an (38,9). Sie wüten mit dem Messer, statt mit dem Griffel zu arbeiten (machaera, non stilo usus est). Zwei ehrwürdige poetologische Basisbegriffe sind hier nebenbei ketzerpolemisch instrumentalisiert: imitatio und aemulatio (38,6), und dass das Verhältnis von Text und Ausschnitt eine Rolle spielt („Gemetzel an der Schrift“), sollten wir im Auge behalten. Kurz, die Kirche, die den Ketzer von Anfang an auf die Gegenseite der civitas diaboli stellt, stellt ihn zugleich auf eine Stufe mit den fabulierenden Dichtern. So kommt durchaus schon im Gründungstext der Ketzerverfolgungsliteratur auf der Seite der Ankläger das ,Literarische‘ ins Spiel, wenn auch pauschal negativ, als Abweichung von der Wahrheit. Mein zweites Fallbeispiel greift vier Jahrhunderte hinter Galilei zurück: Quia non intendo quicquam hic dogmatizare, Sed modum per poeticum tantummodo laudare Volebam dei genitricem et virginem Mariam […].7
Mit der Bemerkung, er wolle nicht dogmatisch relevante Behauptungen aufstellen, sondern bloß im „Modus des Poetischen“ loben, rechtfertigt sich der Autor eines um 1230 entstandenen Marienlebens, dessen religiöses Sujet nicht von der kanonischen Tradition gedeckt ist. Wenn ausgewiesene Gelehrte in seinem Gedicht etwas die Wahrheit Überschreitendes entdeckten, stehe es ihnen frei, dieses zu korrigieren, zu tilgen oder den ganzen Text zu verdammen ([…] illa corrigant vel radant detruncando, j Vel ut libet totum opus condempnent reprobando, V. 41 f.). Er, der Autor, befinde sich dagegen mit seinem „bloß poetischen“ Werk außerhalb des dogmatischen Diskurses.8 6 7 8
Tertullian, De praescriptione haereticorum (Anm. 3), S. 39,2 – 6. Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hrsg. von Adolf Vögtlin, Tübingen 1888 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 180), Epilog, V. 8002 – 8004. Nicht nur im Epilog, wie eben zitiert, bereits im Prolog beansprucht er diese Diskursspaltung mit dem gleichen Ziel der Selbstlegitimierung und Abwehr
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Der Marienleben-Autor argumentiert auf zwei Ebenen. Mit der Aufforderung zur Korrektur von Irrtümern greift er potenzieller Kritik vor, Fremdzensur mit Selbstzensur unterlaufend.9 Das ist die eine Ebene. Darüber hinaus führt er ein Argument an, das keines ist. Er behauptet eine Dichotomie von dogmatizare und laudare, die weder für den konkreten Fall der Vita rhythmica zutrifft (was ich hier nicht ausführen kann), noch allgemein-theoretisch haltbar ist: als könnte sich Doxologie unabhängig von Dogmatik machen, als wäre der Hymnus per se irrtumsimmun. Hier Dogmatik, diskursiv, mit ihrem ,Sollgehalt‘ auch normativ, dort Doxologie, poetisch? Mit der zitierten Salvierungsformel entkommt der Autor nicht dem Dilemma, dass er für seinen Text Glaubwürdigkeit beanspruchen muss, sie sich aber nicht selber zuschreiben kann. Schon die Tatsache, dass er im gleichen Atemzug von seinem ,bloß‘ poetisch-hymnischen Werk als carmen verissimum spricht (V. 36), legt die Vermutung nahe, dass der Wahrheitskonflikt – die „Glaubwürdigkeitslücke“ des Textes10 – erhalten bleibt. Erst recht die Tatsache, dass der Autor das zitierte Argument (nicht Wahres oder Falsches mitteilen, sondern ,bloß‘ poetisch loben zu wollen) im Epilog ein zweites und drittes Mal anführt (V. 8006 ff. und 8011) und im letzten Vers das Gedicht noch einmal auf einen Hymnus festlegt (Sit Jesu laus […] j Quod completum carmen est huius hymnodie. Amen), spricht nicht dafür, dass das Konkurrenzverhältnis von dogmatischer und poetischer Wahrheit so einfach aus der Welt zu schaffen wäre. In der Sache bleibt das Doppelrisiko von religiöser und literarischer Phantasie. Die eingangs angedeutete Grundparadoxie religiösen Sprechens ist zugespitzt in der Mystik, deren Sprechsituation unauflöslich widervon Kritik: Ego quia nihil hic scribens assevero, j Que cupiam astruere pro falso vel pro vero; j Sed tantum per poeticum modum decantare j Laudes volo virginis et Jesum collaudare (V. 43 – 46). Dazu (unter dem Aspekt der Textfestigkeit) Klaus Grubmüller, „Verändern und Bewahren. Zum Bewußtsein vom Text im deutschen Mittelalter“, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450, Stuttgart – Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 8 – 33, hier S. 23. 9 „Zensur und Selbstzensur“, so Hans Magnus Enzensberger über die Entstehung von Texten, „das ist wie Henne und Ei“. Einen „Naturzustand diesseits der Selbstzensur“ gebe es nicht. Enzensberger entscheidet sich für die Henne (die Zensur), denn „sie gackert lauter, und sie sitzt nicht unscheinbar im Dunkeln, still und heimlich unter der Hirnschale“ („Zensur und Selbstzensur“, in: Neue Xenien. Almanach fr das Jahr 1976, Frankfurt/M. 1976, S. 59 – 65, hier S. 59 f.; zitiert nach Plachta, Zensur und Textgenese [Anm. 4], S. 35). 10 Grubmüller, „Verändern und Bewahren“ (Anm. 8), S. 21.
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sprüchlich und deren Schreibpraxis permanent zensurbedroht ist. Mystik „will den Durchgriff auf Gott im Durchgriff Gottes auf den Mystiker“.11 Mit dem Anspruch auf eine gottunmittelbare Sprecherposition ergibt sich ein erstes Dilemma: die paradoxe Kommunikationssituation einer Vermittlung von Unmittelbarkeit. Ein zweites Dilemma entsteht dadurch, dass die Mystiker dasjenige, was legitimiert werden soll (die besprochene Einheit mit Gott), zugleich als Legitimierungs-Mittel beanspruchen (mit dem Argument des Sprechens aus der Einheit), was in immer neue Aporien führt und eine offene Dynamik auslöst, die die Inquisitoren nicht tolerieren können. Trotzdem, auch das doppelt zugespitzte Repräsentations- und GlaubwürdigkeitsDilemma macht Mystik nicht zu einem „Fall von Inkommunikabilität“. „Mystik ist mit Kommunikation und nicht mit Schweigen beschäftigt.“12 Falsch? „Es ist wahr und emphatisch.“13 Mit dem mehrfachen Hinweis auf einen modus emphaticus verteidigt einer der umstrittensten Theologen und Prediger des Spätmittelalters, Meister Eckhart, zu Beginn des 14. Jahrhunderts seine Thesen von der Einheit des Menschen mit Gott. Was er mit seiner ,emphatischen‘ Sprechweise meint, erläutert er den Zensoren nur sparsam: indirekte, affektbesetzte, bibel- und literatursprachlich affizierte Rede; ich komme darauf zurück. Drei Zitate, drei historisch voraussetzungsreiche Selbstrechtfertigungen. Galilei verteidigt nachträglich die Wahrheit (die Plausibilität? dogmatische Korrektheit?) des von ihm Geschriebenen mit dem Argument der vieldeutigen ,Form‘ des Textes. Der Marienleben-Autor behauptet vorsorglich einen Gegensatz von dogmatischem und hymnischem Sprechakt und beansprucht für die Seite des Hymnus einen ausdrücklich nachrangigen, religiös in Dienst genommenen modus poeticus; ,wahr‘ sei dieser ,poetische‘ Modus (sein Gedicht) aber doch auch. Wieder anders Eckhart, der den (dogmatischen?) Wahrheitsgehalt seiner Predigtaussagen mit dem lapidaren Hinweis auf einen modus emphaticus verteidigt, den er selber undeutlich zwischen religiösem und ästhetischem Sprechen ansiedelt, aber jedenfalls als Interpretament von Wahrheit einsetzt, nicht als deren Gegensatz. 11 Peter Fuchs, „Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität?“ in: ders./Niklas Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 70 – 100, hier S. 84. 12 Fuchs, „Von der Beobachtung“ (Anm. 11), S. 93. 13 Verum est et emphaticum; vgl. die unten S. 976 f. aufgeführten Beispiele.
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Man merkt an meinen vielen Fragezeichen, dass in allen drei Fallbeispielen, so verschieden die Kontexte und historischen Voraussetzungen sind, mit der Klassifizierung der auf der Textebene vorgefundenen Unterscheidungen auf der Analyseebene das Problem erst beginnt. Denn wie verhalten sich dogmatizare, laudare und jener modus poeticus im Einzelfall zueinander, und wie gehört Eckharts modus emphaticus in diese Reihe? Überschneidet er sich mit dem modus ecstaticus der negativen Theologie? Oder liegt der rhetorische Kontext näher, die Hervorhebungsfigur der Emphasis? Was sagen die Autoren? Deckt es sich mit dem, was sie tun? Auf der Hand liegt, dass das Verhältnis von religiöser und ästhetischer Dimension, das der zitierte MarienlebenAutor auf einen einfachen Gegensatz bringt (non dogmatizare, sed laudare), um aus dem Risiko nicht gedeckter Wahrheit möglichst rasch herauszukommen, bei weitem komplexer ist.14 Interferenzen, vieldeutige Überschneidungsprozesse müssten dort gut beobachtbar sein, wo literarische Texte auf Irrtumslisten wandern (was lässt die dogmatische Perspektive vom modus poeticus übrig?). Denkbar wäre aber auch der umgekehrte Fall, dass aus inkriminierten Artikeln (errores) nachträglich wieder Literatur wird. Beide Fälle einer im dogmatischen Kontext verlorengegangenen (strukturnotwendig ausgeblendeten?) ,Literarizität‘ und umgekehrt literarischen Produktivität von Irrtumslisten müssten Aufschluss geben über das vieldeutige Verhältnis von Religiösem und Literarischem. In meinem Beitrag kann ich das Thema nur paradigmatisch angehen und eigentlich nur anstoßen. Ich greife den Sonderfall der Mystik heraus, die auf das Problem der Einheit von Immanenz und Transzendenz mit „(retrospektiv) brillanten Problemslösungskonsequenzen“ reagiert.15 Die spätmittelalterlichen Autoren trennen nur im Ausnahmefall so optimistisch und strikt zwischen dogmatizare und laudare wie 14 Das Problem hat Bruno Quast theoretisch weit vorangetrieben: Vom Kult zur Kunst. ffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Frher Neuzeit, Tübingen – Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48). Vgl. außerdem Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125), bes. S. 1 – 16: ,Einleitung. Zwischen Kult und Spiel‘. Zum komplizierten Verhältnis von ,Figuralität‘, ,Rhetorizität‘ und ,Poetizität‘ Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 91), S. 32 – 42. 15 Fuchs, „Von der Beobachtung“ (Anm. 11), S. 86.
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jener Marienlebenautor, und es waren vor allem die Mystiker, die differenzierte Kategorien entwickelt haben für die Ambivalenz einer zugleich religiösen und ästhetischen Transgression der dogmatischen Norm. Eine dieser ,Problemlösungskonsequenzen‘ scheint mir Eckharts Kategorie der locutio emphatica. Auf sie konzentriere ich mich im Folgenden (II.). In seiner Selbstverteidigung vor den Kölner Zensoren spielt sie eine prominente Rolle, und zwar als eine zwiespältige Kategorie, die Grenzüberschreitungen zugleich herstellt und rechtfertigen soll. Eckharts locutio emphatica, so meine These, ist eine religiöse und zugleich ästhetische Grenzkategorie. Heinrich Seuse, der sich als Eckharts Schüler versteht, greift diese Kategorie auf (III.). Er benennt sie um (berswanc), reguliert sie (per underscheit), und weil Kriterien ihrerseits kriterienbedürftig sind, also eine unendliche Unterscheidungsdynamik in Gang setzen, schreibt Seuse um die zensierten articuli extracti seines Lehrers herum einen neuen Text, einen Dialog des ,Jüngers‘ mit der ,Wahrheit‘ und dem ,Wilden‘, eben: Literatur.
II. Locutio emphatica (Eckhart) ,Erschreckt nicht über das, was ich sage‘! 16, appelliert Eckhart immer wieder an sein Publikum und gesteht auf diese Weise ein, dass seine Predigten einen theoretischen Ausnahmezustand herstellen. Doch damit nicht genug. ,Ich erschrecke selber oft‘, räumt er in der zitierten Predigt ein: Ich erschricke ofte, s ich von gote reden sol, wie gar abegescheiden diu sÞle muoz sn, diu ze der einunge komen wil. 17 ,Ich erschrecke, über meine eigenen Formulierungen.‘ An anderer Stelle behauptet Eckhart mit Bezug auf seine ungewöhnliche Schriftauslegungspraxis (raras expositiones), dass das von der Konvention Abweichende ein ,süßer‘ Reiz sei: dulcius irritant animum nova et rara quam usitata […].18 Woher das Erschrecken und die („süße“) Lust des Hörens?
16 Vgl. etwa Predigt Q 73, DW III, S. 268,4: Nieman ensol erschrecken d von, daz ich spriche […]; zitiert nach der Ausgabe: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke [DW], hrsg. von Josef Quint/Georg Steer. Die lateinischen Werke [LW], hrsg. von Ernst Benz [u.a.], Stuttgart 1936 ff. 17 DW III, S. 266,9 f. 18 Prol. gen. in opus tripartitum, n. 2, LW I, S. 148,13 und 149,1 – 2. In LW II, S. 634,4 schließt Eckhart seine Auslegung des Buchs der Weisheit ab mit dem
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Ausführlicher äußert sich Eckhart über seine Sprechweise in der Verteidigungsschrift 19, jenem Dokument, mit dem er sich, nach den Erkenntnissen von Loris Sturlese, privat für den Prozess vorbereitet hat. Eckharts Thesen sind in einem der spektakulärsten Ketzerprozesse des Mittelalters verurteilt worden. Der Kontext der Selbstäußerungen ist also denkbar heikel, ihr argumentativer Stellenwert kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vehement verteidigt Eckhart in dieser Schrift die beanstandeten Artikel vor seinen Kölner Zensoren, verteidigt sie mit dem wiederholten Hinweis auf eine ,emphatische‘ Sprechweise, leider so lakonisch, dass man unsicher ist, was sich hinter der Kategorie der ,Emphase‘ verbirgt. Beobachten wir etwas genauer, mit welchen Implikationen Eckhart diesen Begriff in der Verteidigungsschrift verwendet. (1) Ich greife drei Stellen heraus und setze an bei Eckharts Kommentierung von Artikel 11 aus der zweiten Kölner Liste.20 Beanstandet ist ein Ausschnitt aus Predigt Q 11, DW I, S. 187,1 – 7, in dem es um Eckharts Grundthema geht, die Gottesgeburt in der Seele. Ich zitiere zunächst aus dem dem Artikel zugrundeliegenden deutschen Predigttext, im Anschluss dann dessen lateinische Übersetzung der Zensoren (und markiere die Passagen, auf die es mir ankommt, durch Sperrung): […] der niht ensuochet noch niht enmeinet dan lter got, dem entdecket got u n d gibet im allez, daz er verborgen ht in snem gçtlchen herzen, daz ez im als eigen wirt, als ez gotes eigen ist, weder m i n n e r n o c h m Þ r , ob er in aleine meinet ne mitel. Wunsch nach einem ,frommem Leser‘ besonders für das ,Ungewöhnliche‘ seiner Auslegungen (praecipue quantum ad rariora). 19 LW V, S. 5.–8. Lieferung, hrsg. von Loris Sturlese, Stuttgart 2000: Processus contra magistrum Echardum n. 48 (Magistri Echardi responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis). Dazu Loris Sturlese, „Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts“, in: Albert Zimmermann (Hrsg.), Die Kçlner Universitt im Mittelalter: Geistige Wurzeln und soziale Wirklichkeit, Berlin – New York 1989 (Miscellanea Mediaevalia 20), S. 192 – 211. Der in Köln gegen Eckhart begonnene Ketzerprozess schwächt sich in Avignon zu einem sogenannten Zensurierungsprozess ab, mit dem, in Absehung der Person, der Wortlaut der Schriften geprüft wird. Der Irrtumsverdacht (error) bezieht sich auf Behauptungen in Texten, der Häresie-Verdacht (haeresis) auf die Einstellung von Personen. Auf das damit verbundene Dilemma juristischer Glaubwürdigkeitsprüfungen habe ich eingangs hingewiesen. 20 LW V, n. 48 (Proc. Col. II), S. 323 f. (Die zwei Listen aus der ersten Prozessphase von 1326 sind ediert ebd., n. 46 und 47).
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([…] wer nichts sucht und nichts erstrebt als rein nur Gott, dem entdeckt und gibt Gott a l l e s , w a s e r v e r b o r g e n h a t i n s e i n e m g ö t t l i chen Herzen, auf daß es ihm ebenso zu eigen wird, wie es G o t t e s E i g e n i s t , n i c h t w e n i g e r u n d n i c h t m e h r , wenn er nur unmittelbar nach Gott allein strebt. [Übersetzung nach Quint, DW I, S. 474]). Undecimus articulus sic dicit: ,[…] qui nihil quaerit nec aliquid intendit quam deum purum vel pure, illi dat deus et discooperit seu aperit o m n e q u o d s e c r e t u m deus habet in suo divino corde, quod hoc f it ei ita proprium, s i c u t e s t p r o p r i u m d e i , n e c p l u s n e c m i n u s , si ipse eum solum quaerat sine medio.‘ (LW V, S. 323,13 – 19).
Die beanstandete Aussage rechtfertigt Eckhart in seiner Verteidigungsschrift wie folgt: Sie sei wahr, rechtgläubig und moralisch erbaulich, und was das zum Schluss Gesagte angehe (dass Gott dem göttlichen Menschen alles zueigen gebe und umgekehrt), das sei eine ,emphatische‘ Redeweise: Verum est, devotum et morale et patet ex iam dictis. Quod autem dicitur in fine deus sic esse proprius homini divino sicut sibimet deo, e m p h a t i c a l o c u t i o est (323,20 f.) Wie weit reicht Eckharts Kategorie der ,Emphase‘ und welches Gewicht hat sie? Um diese Frage hat sich niemand so recht gekümmert. Ich werde zunächst prüfen, wie Eckhart diesen Begriff erläutert. Weil der Selbstbeschreibung von Autoren immer nur begrenzt zu trauen ist, untersuche ich in einem zweiten Schritt, wie der modus emphaticus in Eckharts predigtrhetorischer Praxis umgesetzt ist. Das demonstriere ich vor allem am Verhältnis von übertragener und buchstäblicher Rede, deren Grenzen Eckhart überspielt. Zum Schluss drängt sich die Frage auf, wie sich das artikel-isolierende Verfahren der Zensoren auf den Status von Eckharts ,emphatischen‘ Aussagen auswirkt. Kehren wir also zurück zu Eckharts Begriffsgebrauch und zu unserem ersten Zitat aus der Verteidigungsschrift. Eckharts Selbstauslegung ist knapp. Dass Gott sich dem Menschen ,ganz‘ gibt, diese ,emphatische‘ Aussage stützt er mit zwei Bibelzitaten. Im Anschluss an das oben Zitierte sagt er noch: Er, Eckhart, habe seinen Satz so formuliert wie Psalm 62,2 „Gott, mein Gott, zu dir erwache ich am Morgen“ (secundum illud: ,deus, deus meus‘ –, ,meus‘ inquit – ,ad te de luce vigilo‘), und wie Isaias 26,12: omnia opera nostra nobis operatus es, was er so paraphrasiert: alle Werke Gottes seien ,in uns unsere‘ (deus noster in nobis, vgl. 324,1 – 4). Nach dieser ausdrücklichen Parallelisierung verlässt Eckhart beide Bibelstellen gleich wieder und gibt zu bedenken, ,daß nicht nur die Bibel, sondern auch die Kirchenväter und Prediger den
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modus loquendi emphaticus häufig benutzen‘ (324,5 f.). Diesen zweiten und dritten Emphase-Typus erläutert er dann etwas ausführlicher mit dem Hinweis auf eine ,Sprache des Herzens‘ (locutio cordis). Emphatische Redeweise rege zur Tugendliebe und Gottesliebe an (secundum quod cor loquentis suggerit et magis excitantur auditores ad amorem virtutum et ipsius dei). Zur Veranschaulichung zitiert Eckhart abschließend einen Hymnus von Petrus Cellensis (o lacrima 21). Halten wir vorerst fest: Eckharts Selbstbeschreibung schließt Emphase in dreifacher Hinsicht an Traditionen an: erstens an eine biblische, zweitens eine patristische und dritttens eine predigtrhetorische Konvention. Eckharts inhaltliche Erläuterung emphatischer Rede fällt dabei überwiegend wirkungsrhetorisch aus (Emphase im Dienst moralischer Instruktion und der Erregung des religiösen Affekts der Liebe); für den Sprecher wird immerhin die ,suggestive‘ ,Sprache des Herzens‘ in Anschlag gebracht (cor loquentis suggerit). In den herangezogenen Bibelzitaten fallen sprachliche Verdopplungsfiguren ins Auge, zum einen, im Psalmen-Zitat, die Wiederholung der Invocatio (deus, deus meus), zum andern, bei Isaias, die pronominale Verdopplung und Figura etymologica (nostra nobis, opera operatus); alles ist aus der Perspektive der ersten Person formuliert. Der Wiederholungsrhetorik der Bibelzitate könnte im inkriminierten Artikel die zweifache Nennung von ,eigen‘ (proprius) entsprechen. Ich komme unten auf das Zitat zurück. An dieser Stelle braucht es eine kurze Zwischenüberlegung. Versucht man, das Spezifische von Eckharts modus emphaticus zu erfassen, sieht man sich zunächst auf die klassische Retorik verwiesen, die ,Emphasis‘ als Kategorie sprachlicher Hervorhebung definiert und im Repertoire der Kürzungs-Tropen aufführt.22 ,Emphasis‘ (lat. expressio) steht für indirektes, steigerndes, abkürzendes Sprechen. Schon Quintilian unterscheidet zwei Typen von Emphase: ,die eine, die mehr 21 Vgl. in der Ausgabe (Anm. 19), S. 324, Anm. 1. 22 Erste Überlegungen zu diesem Problemkomplex: Susanne Köbele, „,Ausdruck‘ im Mittelalter. Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ,emphatischen Ästhetik‘ der Mystik“, in: Manuel Braun/Christopher Young (Hrsg.), Das fremde Schçne. Dimensionen des sthetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin – New York 2007, S. 61 – 90; zur rhetorischen Figur der Hervorhebung (durch Abkürzen, Aussparen, Andeuten, Steigerung, Hyperbolik etc.) vgl. Georg Michel, „Emphase“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin [u.a.] 1997, S. 441 – 443; Thomas Schirren, „Emphase“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1121 – 1123.
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bedeutet, als sie sagt‘ (das zielt auf den Bedeutungsüberschuß indirekter Sprechweise); die andere, ,die auch das bedeutet, was sie nicht sagt‘ (das zielt auf den Überschuss aussparender, elliptischer Rede): eius duae sunt species: altera, quae plus significat quam dicit, altera, quae etiam id, quod non dicit. 23 Quintilian weist darauf hin, dass die Emphase ihren Gewinn an prägnanter Kürze bezahle mit einer riskanten Vieldeutigkeit (ambiguitas; vgl. 9,2,64 – 75). Schon das Standardbeispiel der Rhetoriker für emphatische Redeweise zeigt die Ambivalenz (die auch mit der Performanz zu tun hat: mit dem stimmlichen, gestischen Nachdruck): homo est ille (,Er ist ein Mensch‘, will heißen: nur ein schwacher, irrtumsfähiger Mensch. Oder, kontextabhängig: ,immerhin ein Mensch und kein Tier‘). Das heißt, in der Tradition der Rhetorik gilt ,Emphase‘ als Modus impliziten oder elliptischen Sprechens, als ein Mittel sprachlicher Hervorhebung. Umständlicher und präziser liest sich das bei Lausberg so: Die Emphase ist der Gebrauch eines Wortes geringeren habituellen Bedeutungsinhalts (und größeren Bedeutungsumfangs) zur Bezeichnung eines größeren (präziseren) Bezeichnungsinhalts (und geringeren Bedeutungsumfangs). Die Emphase […] ist also eine verhüllende sprachliche Ungenauigkeit, die ihre genauere Bezeichnungs-voluntas durch den (sprachlichen oder situationsmäßigen) Kontext sowie durch Mittel der pronuntiatio verrät und so überraschend wirkt.24
Fällt nun aber Eckharts locutio emphatica ohne weiteres mit der rhetorischen brevitas-Kategorie zusammen? Gott gibt dem Menschen ,alles zueigen‘: ist das eine indirekte Äußerung, die mehr bedeutet, als gesagt ist? Oder etwas bedeutet, das nicht gesagt ist? Oder eine Übertreibung, eigentlich nicht so gemeint? Man ist nicht recht zufrieden mit der formalrhetorischen Bestimmung. Wie steht es mit der anderen von Eckhart angeführten EmphaseTradition, dem biblisch-patristischen Überschwang einer ,süßen Herzenssprache‘? 25 Auch diese victorinisch-franziskanisch geprägte Emphase-Tradition liegt Eckhart eher fern. 23 Quintilian, Institutio oratoria, hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 3 1995, 8,3,83; vgl. auch 8,2,11. 24 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Auflage mit einem Vorwort von Arnold Arens, Stuttgart 1990, S. 298. 25 Vgl. etwa die mystische Gebetsästhetik eines David von Augsburg, Die sieben Staffeln des Gebetes, hrsg. von Kurt Ruh, München 1965 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 1).
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Den von Eckhart zitierten Psalm 62,2 (deus, deus meus ad te de luce vigilo) bemüht auch Bonaventura, und zwar dort, wo er über den religiösen Affekt der Liebe spricht26, genauer: über den siebenstufigen Aufstieg zur ,süßen‘ Liebe. Vergleicht man jedoch Bonaventuras bibelsprachlich variierte, kunstsprachlich gesteigerte Affektsprache in De triplici via oder auch im Itinerarium mentis in Deum mit Eckharts emphatischen Sätzen, zeigt sich eine spezifische Differenz. Zwar bindet auch Bonaventura seine emphatische Sprechweise (locutio cordis) an einen Überstieg (excessus mentis); er konzipiert sie als modus ecstaticus, getragen vom religiösen Affekt des amor ecstaticus. Doch integriert er jede Äußerung ausdrücklich in ein gestuftes Aufstiegs-Modell (ausgehend von der bekannten Trias purgatio, illuminatio, perfectio), das bei Eckhart gerade zurücktritt. Eckharts Emphase ist eine nec gradus nec ordo in uno 27-Emphase. Der Begriff ,Emphase‘ selbst wird im Umfeld der hochmittelalterlichen Theologie greifbar bei Wilhelm von St. Thierry, wieder im liebestheologischen Kontext. Die Stelle hilft weiter für die Frage nach dem Bedeutungspotenzial von emphasis. Den ,Gott meines Herzens‘ der Psalmen ex toto corde anrufend, spekuliert Wilhelm von St. Thierry zugleich über caritas und erläutert in diesem Zusammenhang den Identitätssatz 1 Joh 4,16 Deus caritas est als ,emphatische Redeweise‘: Deus, inquit, caritas est. Breuis laus, sed concludens omnia. Quicquid de Deo dici potest, potest dici et de caritate. sic tamen ut considerata secundum naturas doni et dantis, in dante nomen sit substantiae, in dato qualitatis; sed p e r e m p h a s i m donum etiam caritatis Deus dicatur, in eo quod super omnes uirtutes uirtus caritatis Deo cohaeret et assimilatur. 28
Emphase gilt Wilhelm von St. Thierry demnach als „alles einschließende Kürze“ einer Lobrede, und was das ist, das so umfassend („alles“) 26 De triplici via. ber den dreifachen Weg, lateinisch-deutsch, übersetzt und eingeleitet von Marianne Schlosser, Freiburg/Br. [u.a.] 1993 (Fontes Christiani 14), 3,6,10 f., S. 152. 27 Vgl. Artikel 25 der Bulle In agro dominico; Text in: Heinrich Denzinger/Peter Hünermann (Hrsg.), Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg/Br. 371991, S. 399 – 404, erscheint als n. 57 in LW V; deutsche Übersetzung in: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übersetzt von Josef Quint, München 1979, S. 449 – 455. 28 De natura et dignitate amoris, zitiert nach: Guillelmi a Sancto Theodorico, Opera didactica et spiritualia, hrsg. von Paul Verdeyen, Teil III: Opera omnia, Turnhout 2003 (CCCM 88), S. 177 – 212, hier 12,342 ff., S. 186; vgl. ebd., 12,347 – 12,353, S. 187.
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in der laudativen Kürze ,eingeschlossen‘ sei, sagt er auch: einschränkende Hinsichten, vor allem aber die ontologische Differenz von substantia und qualitas. Weitere Stellen ließen sich anschließen. Auf jene tu deus meusEmphase der Psalmen beruft man sich mehrfach und unterschiedlich, aber stets so, dass die religiöse wie ästhetische Dimension des Sprechens hervortritt. Der Gegenstand wird erfasst, indem er gerühmt wird (Confessio laudis), und kommt uns dadurch nahe (Confessio amoris); das religiöse Subjekt konstituiert sich durch Anrufung (Invocatio). Dazwischen öffnet sich die ästhetische Dimension des Textes. Eckharts ,Emphase‘, auch wenn er selber den Begriff in seiner Verteidigung von Artikel 11 an die laus amoris-Emphase-Tradition der monastischen Theologie eng anschließt, scheint mir ein ganz anderer Redeakt zu sein: eine sprachlich-gedankliche Transgression, die sich mit Liebestheologie und hymnischer Poesie zwar überschneidet (Eckhart zitiert immerhin die o lacrima-Hymne des Petrus Cellensis), aber nicht aufgeht im Doppelsprechakt Confessio laudis/Confessio amoris. Die Vorstellung einer emphatischen ,Kürze, die alles einschließt‘ (Breuis laus, sed concludens omnia) sollten wir gleichwohl im Auge behalten. Um weiterzukommen, nehme ich meine Rekonstruktion von Eckharts Begriffsgebrauch in der Verteidigungsschrift wieder auf. (2) Nicht nur Artikel 11, auch Artikel 1429 der Liste rechtfertigt Eckhart mit dem Hinweis auf Emphase. In diesem inkriminierten Satz geht es um die Einheit des demütigen Menschen mit Gott. Sie seien nicht zwei, sondern eins. Ich zitiere nicht den vollen Wortlaut des Artikels, sondern nur die einschlägigen Formulierungen, zunächst der deutschen Predigt (Q 15): […] d e r d e m F t i g m e n t s c h v n d g o t s i n d a i n v n d n i t z w a i . Dirre dem Ftig mentsch ist gottes also gewaltig, als er sin selbs gewaltig ist; vnd alles das g Gt, das in allen engeln vnd in allen hailgen ist, das ist alles sin aigen, als es gottes aigen ist. G o t v n d d i r r e d e m F t i g m e n t s c h s i n d a l z e m a l a i n v n d n i t z w a i […] (DW I, S. 246,12 – 16).
In der präzisen lateinischen Übersetzung der Zensoren lautet der zentrale Satz dieser Passage: Humilis homo et deus non sunt duo, sed sunt unum (LW V, S. 324,20). Diese Einung sei ,zwingend notwendig‘, heißt es weiter, und zwar: für Gott. Gott müsse zu dem demütigen Menschen 29 LW V, S. 324,19 – 27. Dieser Artikel ist aus Eckharts Predigt Q 15 gezogen (DW I, S. 247,5 f. und 246,12 ff.); vgl. die Einzelnachweise in der Ausgabe von Sturlese (Anm. 19), S. 324, Anm. 2.
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sogar in die Hölle hinabsteigen, die Hölle müsse ihm zum Himmelreich werden, ,notwendig‘ müsse das so sein (er m Gss dis von not t Gn, er wurdi bezwungen dar z G, das er es t Gn m Fsti).30 An dem mit vierfachem Nachdruck ,bezwungenen‘ Gott stoßen die Zensoren an: ,Gott muß es tun, notwendig, gezwungenermaßen‘? Ist das im übertragenen Sinn gemeint? Wie sollte sich im eigentlichen Sinn Gott uns geben ,müssen‘? Was in der Erläuterung der Stelle folgt, trägt zunächst nichts zur Klärung des Problems bei. Eckhart gibt nur einen Querverweis auf die oben zitierte locutio emphatica-Rechtfertigung von Artikel 11 (Dicendum quod totum verum est, morale et devotum, e m p h a t i c u m tamen, sicut supra dictum est, 325,1 f.). Allenfalls ist aus dem verum est von Zitat (1) hier ein totum verum est geworden, das sollten wir nicht übersehen; dagegen dem einschränkenden tamen (,[…] wahr, allerdings emphatisch‘) gebe ich nicht viel Gewicht. Versuchen wir es so: Eckharts emphatischer Ausdruck ,Gott muss es tun‘ kann nicht heißen: ,gezwungen‘ nach menschlichem Maß. Seine Formulierung sucht offenbar einen Ebenensprung. Sie zielt auf eine sich jenseits von Zwang vollziehende notwendige Selbstmitteilung Gottes, doch das ,sagt‘ sie nicht, weswegen die Formulierung nachhaltig irritiert: als wäre Gott einer Zwangsläufigkeit unterworfen. Ähnlich provokativ wie der von einer ,metaphysischen Notwendigkeit‘ bezwungene Gott wirken Sätze Eckharts wie ,Ich bin gut. Gott ist nicht gut‘ oder ,Ich bin besser als Gott‘.31 Doch nicht Gottes Güte ist abgewiesen, sondern überhaupt Zuschreibungsmöglichkeit. Und nicht ich bin besser als Gott, sondern Gott ist außerhalb von Steigerbarkeit. Das sind durchweg emphatische Formulierungen, Abkürzungen, die eine Totalität erfassen wollen, und zwar nicht als Gottesaussage (Aussagen über Gottes logische und ontologische Inkommensurabilität wären nicht ,anstößig‘), sondern – das ist das Entscheidende – als Aussage über Gott und den Menschen. Eckharts locutio emphatica setzt auf paradoxe Weise das Uneigentliche eigentlich. Herauskommt ein Zwischenzustand, für den Eckhart auch einen mittelhochdeutschen Begriff hat: allereigenlchest 32, ein Superlativ, der besagt: Der Ausdruck ist einerseits höher30 DW I, S. 246,18 – 247,1: Ja bi got: w (r dirre mentsch in der hell, got m Fst z G im in die hell, vnd die hell m Fst im ain himelrich sin. Er m Gss dis von not t Gn, er wurdi bezwungen dar z G, das er es t Gn m Fsti; wan da ist dirre mentsch g =tlich wesen, vnd g =tlich wesen ist dirre mentsch. Die Zensoren übersetzen: […] Oporteret deum facere de necessitate. Ipse cogitur ad hoc quod ipsum oportet hoc facere […] (LW V, S. 324,25 f.). 31 Vgl. Artikel 28 der Bulle In agro dominico (Anm. 27). 32 Vgl. etwa DW III, S. 102,8.
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stufig, anderseits und zugleich außerhalb von Steigerung. Strenggenommen ist der Zwischenzustand also gar kein ,Zustand‘, sondern ein je neue Emphase produzierender offener Prozess. Aus dem Gesagten folgt, dass Eckharts (indirekte, hyperbolische, abbreviative) Emphase keine ,schonend‘ mehrdeutige Verhüllungstechnik ist33, kein pädagogisch rücksichtsvolles ,Entkernen‘ von Sinn, vielmehr ein hinsichtenloses ,entbilden‘34 außerhalb der Alternative von Bild und Bedeutung; eine Hyperbolik außerhalb der Alternative von Steigerung und Inkommensurabilität, und auch die ,Lücke‘ ist keine, die wie bei Wilhelm von St. Thierry ohne Weiteres aufgefüllt werden könnte mit der ontologischen Differenz von creator (substantia) und creatura (qualitas). Zurück zu Eckharts Erläuterung von Artikel 14. Was folgt, ist auch in diesem Fall ein Bibelzitat ( Joh 17,11). Dann aber benutzt Eckhart zur Erläuterung der in Rede stehenden ,Einheit des Demütigen mit Gott‘ eine Wiederholungsfigur, eine reduplikative Wendung, wie sie werkübergreifend für ihn charakteristisch ist. Er sagt: Homo enim h u m i l i s i n q u a n t u m h u m i l i s non est duo cum humilitate (325,4: ,Der Demütige, insofern er demütig ist, ist nicht unterschieden von der Demut‘). Eckharts Reduplikationen sind merkwürdige Gebilde: Sie unterscheiden etwas (nämlich eine Hinsicht: ,insofern‘, inquantum), aber behaupten zugleich die Selbigkeit des Unterschiedenen (,demütig, insofern demütig‘).35 Wiederholungsfiguren dieses Typs treten nur scheinbar logisch oder semantisch auf der Stelle, im Gegenteil, sie zirkulieren in sich selbst. Grundmuster von Eckharts Reduplikation humilis in quantum humilis ist die traditionelle Definition von Metaphysik: Mit 33 Kurt Flasch, Meister Eckhart. Die Geburt der ,Deutschen Mystik‘ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, S. 149 (mit Bezug auf die Sprechweise des Maimonides). 34 Was Hasebrink kürzlich für sich erbilden als ,Semantik der Habitualisierung‘ für Eckharts Rede der underscheidunge beschrieben hat (Burkhard Hasebrink, „,sich erbilden‘. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ,Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts“, in: Andreas Speer/Lydia Wegener [Hrsg.], Meister Eckhart in Erfurt, Berlin – New York 2005 [Miscellanea Mediaevalia 32], S. 122 – 136), wäre in seinen späteren Predigten unter dem Aspekt des entbilden als eine ,Enthabitualisierung‘ beschreibbar. 35 Voraussetzung und Folge sind bei Eckhart so eng zusammengedacht, dass auch seine Konditional- und Kausal-Sätze reduplikativ wirken. Die Konjunktionen ,sofern‘/,weil‘ können übergehen in ein ,insofern‘, und trotzdem bleibt die Logik der Kausalität solchen Sätze erhalten (betroffen sind vor allem konditionale Steigerungshypothesen).
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der Formel ens inquantum ens wird seit der klassischen Antike der Gegenstand der Metaphysik, ,das Seiende als Seiendes‘, abgehoben von kategorial Seiendem. Eckharts selbstbezügliche reduplikative Wendung bonus inquantum bonus scheint auf diesen Typus anzuspielen, trifft jedoch keine Gottesaussage (im Sinn einer selbstbezüglichen conversio reflexiva: ego sum qui sum), sondern bezieht sich auf das Einheitsverhältnis des Menschen mit Gott. Das ist ein entscheidender Perspektivenwechsel, eine „metaphysische Sonderlehre“36, die, wie mir scheint, auch Eckharts reduplikative Formulierungen im Kern betrifft. Wieder anders funktioniert ein zweiter reduplicatio-Typus: die sich unendlich verzweigende Hinsichtenunterscheidung der hermeneutischexegetischen Tradition. Mit dem Gestus aliter distinguo werden hier unabsehbar viele, meist in Dreiergruppen parallel geführte, oft alliterierende Unterscheidungen eingeführt, die als drei-, sechs-, ja neunfach amplifizierter modus triplex (secundum triplicem differentiam triplicatam) 37 36 Eckhart entwirft eine Metaphysik, die nicht mehr auf thomistischem Boden steht, sondern im Spannungsfeld von Albertus Magnus, Averroes und Dietrich von Freiberg; dazu Flasch, Meister Eckhart (Anm. 33), S. 152 f. 37 Bonaventura, De triplici via (Anm. 29), 3,9 (auch als triplex actus hierarchicus ebd., Prolog 1,8). Dafür ein Beispiel: über den Negativaffekt Zorn heißt es alliterierend-differenzierend in affectu, in affatu, in effectu (1,6,19). Einschlägig ist hier vor allem Bonaventuras Itinerarium mentis in Deum, dessen begriffsanalytische, strenge Traktathaftigkeit einerseits, kontemplative, ästhetisch suggestive Dimension anderseits einander nicht ablösen, als einfacher Registerwechsel, sondern eine Art synchrone Stillage ergeben. So wird in I,3 der ,Dreitageweg in der Wüste‘ (Spur, Bild, Gott) überführt in die andere Bild-Vorstellung einer ,dreifachen Erleuchtung eines einzigen Tages‘ (Abend-, Mittag-, Morgenerkenntnis), die erkenntistheoretische Trias wird dann erneut (ontologisch) differenziert als ,dreifache Seinsweise der Dinge‘ (in se, ad nos, in arte aeterna), schließlich noch auf die dreifache Natur Christi bezogen (die körperliche, geistige, göttliche), dies alles auf engstem Raum. I,4 entwickelt den ,Dreischritt‘ (triplicem progressum) noch weiter und bezieht ihn auf die Blickrichtungen der Seele (nach außen, nach innen, über sich hinaus), deren jede sich spezifisch ,verdoppeln‘ lasse (I,5 geminatur), und so geht es fort mit aus der Sechszahl entfalteten Dreier-, Siebener- und Neunerreihen, die immer wieder aufgefächert werden. Zitiert nach der Ausgabe: Itinerarium mentis in Deum. Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, lateinisch-deutsch. Übersetzt und erläutert von Marianne Schlosser. Mit einer Einleitung von Paul Zahner, Münster 2004 (Theologie der Spiritualität. Quellentexte 3). Zur Transformation der „triadischen Schematik“ im Itinerarium vgl. Walter Haug, „Bonaventuras ,Itinerarium mentis in Deum‘ und die Tradition des platonischen Aufstiegsmodells“, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frhen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 493 – 504, bes. S. 504.
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gerade hochgradig begriffsorientierte Texte des späten Mittelalters kunstsprachlich (,literarisch‘) affizieren. Eckharts reduplikative Wendung humilis in quantum humilis scheint mir genau zwischen beiden Differenzierungs-Typen zu stehen, als ein eigenständiger dritter Modus, der eine Unterscheidung setzt (humilis, in quantum […]) und zugleich zurücknimmt (humilis, in quantum humilis). Eckharts ,emphatischer‘ Satz humilis homo et deus non sunt duo, sed sunt unum könnte man also durchaus als eine ,inquantum-Ellipse‘ beschreiben (aus dem Satz herausgekürzt wäre dann humilis, in quantum humilis) 38, aber wohl nur unter der Voraussetzung einer Differenzierung ganz verschiedener inquantumKonzepte der mittelalterlichen Theologie, wie ich es oben vorläufig versucht habe. Dass die theologische Dogmatik mit der Mehrdeutigkeit emphatischer Formulierungen Schwierigkeiten hat, liegt auf der Hand. Das Dogma muss feststehen.39 Es darf sich nicht reduplikativ in sich selbst drehen, wie auch seine Metaphorizität und sein Verlaufscharakter verdeckt bleiben müssen, um die Fundierungsleistung zu sichern, seinen überlegenen Wahrheitsgehalt und rechtsverbindlichen Gewissheitsgrad. 38 So der Vorschlag von Loris Sturlese, in der Diskussion nach meinem Vortrag in Straßburg auf der letzten Tagung der Eckhart-Gesellschaft. Kurt Ruh hat von Eckharts hermeneutischem Schlüsselwort in quantum/als verre gesagt, es gelte auch dort, „wo es nicht ausdrücklich als Indikator verwendet wird“ (Geschichte der abendlndischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 305). 39 Zur unantastbaren Geltung des Dogmas gehört die Vorstellung seiner Irreformabilität. Sie „schließt nicht aus, daß das bereits Geglaubte immer besser verstanden werden kann. Es darf einen Fortschritt (profectus) in diesem Sinn, aber keine Veränderung (permutatio) des Glaubens geben“ (Carl Heinz Ratschow/ Ulrich Wickert, „Dogma“, in: Theologische Realenzyklopdie, Bd. 9, Berlin [u.a.] 1982, S. 26 – 41, hier Wickert, S. 30 [zum Problem der Dogmenbegründung im Spannungsfeld von Dogma und Kerygma S. 36 – 38]). Tertullian, der den Anspruch der orthodoxen Großkirche auf den ,Besitz der Wahrheit‘ erstmals juristisch fundiert und präzisiert hat, formuliert das Eigentumsrecht an der Schrift so: ,Mein ist der Besitz, seit jeher bin ich der Besitzer, als der zeitlich vorrangige bin ich der Besitzer. Ich habe zuverlässige Herkunftsnachweise von den Eigentümern selbst, denen die Sache gehörte. Ich bin der Erbe der Apostel.‘ Tertullian, De praescriptione haereticorum (Anm. 3), S. 37,4 f.: Mea est possessio, olim possideo, prior possideo, habeo origines firmas ab ipsis auctoribus quorum fuit res. Ego sum heres apostolorum. Gleich doppelt wird die zeitlich-logische Priorität des Wahrheitsbesitzes markiert (olim, prior). Demgegenüber seien die Ketzer immer schon zu spät mit ihren Wahrheitsansprüchen, seit je ,enterbt‘, ,außerhalb‘ (semper extranei).
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(3) Ziehen wir zum Schluss noch eine dritte Stelle heran, Eckharts Kommentierung von Artikel 38. Auch dieser Artikel bezieht sich auf Eckharts spekulative Umdeutung des zentralen Dogmas der christlichen Theologie, auf die Vorstellung der ,Gottesgeburt in der Seele‘. Formulierungen, wie wir sie schon aus Zitat 1 und 2 kennen, sind in Artikel 38 miteinander verschränkt. Er lautet: Tricesimus octavus sic habet: ,Pater generat suum filium in anima e o d e m m o d o , s i c u t i p s e g e n e r a t e u m i n a e t e r n i t a t e , et non aliter. Oportet eum facere, sive ei placeat sive displiceat‘. 40
Bis jetzt hatten wir ,Emphase‘ bei Eckhart vorgefunden (1) als Entgrenzung der proprie-translate-Relation (,muss‘, Artikel 14) und (2) als Entgrenzung der Steigerung-Inkommensurabilität-Relation (,alles‘, Artikel 11). Jetzt tritt ein weiterer Aspekt hinzu, (3) die Entgrenzung der Relation Zeit-Ewigkeit (,in derselben Weise wie in der Ewigkeit‘). Die Formulierung von Artikel 38: ,der Vater zeugt den Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit zeugt‘ wirkt so, als ließe sie den heilsgeschichtlichen Verlauf – die Zeit zwischen der historischen Einmaligkeit der Inkarnation und der endzeitlichen Erlösung des Menschen – in sich zusammenfallen. Versteht man die Formulierung jedoch, wie oben erläutert, nicht als einfache, sondern als doppelte Negation (eben ,emphatisch‘, im Sinn Eckharts), ergibt sich statt einer planen Ent-Historisierung und Ent-Eschatologisierung eine paradox gespannte ,präsentische Eschatologie‘: die Einheit von Seele und Gott im ewigen ,Jetzt‘. Auch die den Aussagestatus des Satzes tragende Formulierung ,in derselben Weise wie‘ verliert in dieser Perspektive auf einmal ihre Eindeutigkeit. Sie setzt einerseits einen Vergleich an (sicut), anderseits weist sie einen Vergleich ab (eodem modo); diese paradoxe Spannung kennen wir schon aus Eckharts Rechtfertigung von Artikel 11. Gebt acht, sagt Eckhart etwas weiter unten in der Verteidigungsschrift und wendet sich etwas spitz an seine Gegner: Ich sage ,wie‘ (sicut), aber ein sicut ist kein sicutissimum (kein ,sehr wie‘, S. 342,1 f.). Das ist gut gekontert gegen die Unterstellung billiger, spannungsloser Einheit. Eckharts Selbstverteidigung von Artikel 38 bezieht sich vor allem auf das Modalverb ,muss‘, das uns schon in Artikel 14 begegnet ist. 40 LW V, S. 340,25 – 27: ,Der Vater zeugt seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit zeugt, und nicht anders. Er muss es tun, ob es ihm gefällt oder nicht‘. Vgl. dazu Predigt Q 6, DW I, S. 109,5 – 7.
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Wieder nennt er diese Formulierung eine ,emphatische‘ Redeweise (verum est. Est tamen locutio emphatica 341,3 f.) und bindet sie ans Hymnische. Sie habe das Ziel, Gottes Güte und Liebe zu preisen. An dieser Stelle breche ich die Rekonstruktion des Begriffs ,Emphase‘ in der Verteidigungsschrift ab. verum est et emphaticum, Wahrheitsbeteuerungen wie diese ziehen sich in reicher Fülle quer durch den gesamten Text. Sie sind gekennzeichnet von einer auffälligen Ambivalenz. Einerseits beansprucht Eckhart für seine emphatische Sprechweise eine ,absolute‘ Evidenz: totum verum, absolute, simpliciter, manifeste verum. Anderseits wirkt sie eben deswegen auslegungsbedürftig. Beide Ansprüche macht Eckhart vor den Zensoren geltend. Dass in Eckharts emphatischen (reduplikativen, zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn oszillierenden) Formulierungen beide Wahrheits-Einstellungen zusammenfallen, ihre Evidenz und ihre Auslegungsbedürftigkeit, müsste deutlich geworden sein. Reduplikative Wendungen tragen zusammen mit bestimmten theoretisch relevanten Metaphern oder umgekehrt metaphorisch durchlässigen Begriffen die Hauptspannung von Eckharts Predigten. ,Grund‘41, ,Geburt‘ und die Verbmetapher ,Durchbrechen‘42 gehören elementar dazu. Metaphern verschieben die Grenzen der Begriffe, Begriffe schieben sich in Metaphern. An die Grenzen der Beschreibbarkeit kommt man daher auch bei Eckharts Rede von der ,Geburt‘ Gottes in der Seele: Ist das eine ,Metapher‘ oder ein ,Terminus‘, ein ,Motiv‘ oder, wie man auch lesen kann, ein ,Theorem‘? Eckhart selbst würde sagen: locutio emphatica. Das eminent hohe metaphorische Potenzial seiner Begriffe einerseits, der terminologische Hintergrund seiner Metaphern anderseits bewirken einen ,schwebenden‘ Bedeutungs- und Zeit-Status der Aussagen. Löst man Eckharts emphatische Sätze aus ihrem Zusammenhang heraus, muss die Dynamik permanenter Steigerung und Aufhebung (die „performative Umdeutung“43) der Aussagen zwangsläufig verlorengehen. 41 Mhd. grunt: Abgrund (abyssus), Meeresgrund (profundum), Erdboden (humus), Boden eines Gebäudes (fundamentum); lateinische Äquivalente sind kontextabhängig principium (,Anfang‘), origo (,Ursprung‘), causa (,Ursache‘), ratio (,Vernunftgrund‘), auch argumentum. Vgl. etwa Predigt Q 69. 42 Vgl. für die Zeitthematik Walter Haug, „Der Durchbruch durch die Zeit in der abendländischen Mystik“, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion (Anm. 37), S. 571 – 600. 43 Vgl. Burkhard Hasebrink, „mitewrker gotes. Zur Performativität der Umdeutung in den deutschen Schriften Meister Eckharts“, in diesem Band. Dass Eckharts paradoxe Selbstauflösung von Begriffen, die nur performativ funk-
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Auch die moderne Forschung zensiert Eckharts emphatische Sprechweise, allen voran der Eckhart-Herausgeber Quint, der die „Hyperbolik“ seiner Ausführungen kritisiert und im Text der berühmten Armutspredigt (Q 52) für Eckharts Formulierung ,Gott wird durch mich erst Gott‘ oder die rekurrente Wendung ,Gott lassen‘ das Wort ,Gott‘ jeweils in distanzierende, die Ontologie von der Ebene des Begriffsgebrauchs abhebende Anführungszeichen setzt44 : „als sage Eckhart, ich bildete die Vokabel, und ein Armer solle das Wort ,Gott‘ fallen lassen. Dabei verlangt Eckhart, daß wir Gott verlassen […]“.45 Auch die jüngere Forschung stößt an Eckharts Emphase nach wir vor an, legt sie (sicherheitshalber) auf einen negativtheologischen Überschwang fest.46 Bevor ich zu meinem dritten Punkt komme, zu Seuse und seiner Reaktion auf Eckharts Emphase, möchte ich noch kurz bei der problematischen Ausschnitthaftigkeit der Listen-Artikel verweilen. Wenn die Zensoren strittige Passagen aus Texten herausschneiden, liegt die Frage nahe, wie der inkriminierte Ausschnitt sich zum TextGanzen verhält, sei es zum Ganzen seines Herkunfts-Kontextes, sei es seines neuen Kontextes ,Irrtumsliste‘. Ist der aus seinem (performativen, ästhetischen, diskursiven) Kontext herausgelöste Text als articulus extractus noch derselbe Text? Wir würden das spontan verneinen. Doch wenn die Zensoren damit argumentieren, dass der eine herausgelöste Artikel das Ganze ,infiziere‘ (mit der ketzerpolemischen Standardmetapher der Häresie-,Pest‘), und darauf bestehen, es müsse vorsichtshalber mit dem Ausschnitt der ganze Text verbrannt werden47; wenn umge-
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tioniert, im Ausschnitt nicht ohne weiteres erhalten bleibt, zeigen zwei Artikel, die in die Verurteilungsbulle In agro dominico aufgenommen sind, Artikel 8 und 11. Nebeneinander gestellt, also im neuen Kontext Irrtumsliste, bleibt von Eckharts ,performativer Umdeutung‘ nur noch ein Widersprüch übrig. Dazu Susanne Köbele, „heilicheit durchbrechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik“, in: Berndt Hamm/Klaus Herbers/Heidrun Stein-Kecks (Hrsg.), Sakralitt und Sakralisierung zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 6), S. 147 – 169. DW II, S. 504,1 – 3: und enwære ich niht, s enwære ouch ,got‘ niht. Daz got ,got‘ ist, des bin ich ein sache [= ,eine Ursache‘, ,ein Ursprung‘]; enwære ich niht, s enwaere got niht ,got‘. So zu Recht Kurt Flasch, „Predigt 52 ,Beati pauperes spiritu‘“, in: Georg Steer/ Loris Sturlese (Hrsg.), Lectura Eckhardi I. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Stuttgart [u.a.] 1998, S. 188. Diese Forschungspositionen referiert Flasch, ebd., S. 188. So die Bulle In agro dominico, in der Übersetzung von Quint (Hrsg.), Deutsche Predigten (Anm. 27), S. 454.
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kehrt der Angeklagte für den ausgeschnittenen Artikel behauptet ,Wer diesen einen Satz versteht, versteht alles, was ich predige‘48 ; und wenn ohnehin die mittelalterliche Bibel-Hermeneutik eine einzelwortbezogene, nicht satz- und schon gar nicht textbezogene Hermeneutik ist (litteram punctare ist der Fachbegriff für diese Bibelauslegungspraxis) – dann scheint es doch in gewisser Hinsicht gar nicht darauf anzukommen, dass in Irrtumslisten ,bloß‘ Text-Ausschnitte verhandelt werden? Hinzukommt, dass eine ganze Reihe mittelalterlicher Textsorten auf einem (einzelsatz-)kompilatorischem Prinzip beruhen und Kohärenz demnach ganz kleinräumig herstellen. Ein Grundtext der mittelalterlichen Metaphysik, der Liber de causis, ist der Form nach nichts weiter als eine Auflistung von 32 axiomatischen Einzelsätzen, Sätzen, die nicht ,entwickelt‘ werden, sondern streng satzbezogen begriffsdefinitorisch voranschreiten. Nicht zufällig zitiert Alanus ab Insulis diesen Text mit dem Titel: Aphorismi de essentia summae bonitatis. 49 Was auf uns als Kohärenzmangel wirkt, ist in anderer Sicht vielleicht die „Attraktivität einer Metaphysik more geometrico“.50 Kurz, ich will die Selbstverständlichkeit verunsichern, mit der wir annehmen, die inquisitorische Praxis der Artikelisolierung müsse von vornherein als grobe Sinnverschiebung gelten, als per se sinn-entstellender Kontextverlust. Freilich, in anderer Hinsicht kommt es, wie wir gesehen haben, auf die Teil-Ganzes-Relation wieder entscheidend an. Die ,Lücke‘, um die herum Eckhart emphatisch (abbreviativ) spricht, ist jedenfalls eine andere als die, die durch die Praxis der Artikelisolierung durch die Zensoren entsteht. Versuchen wir ein Zwischenresümee: Was ist es, das die oben angeführten drei Artikel (11, 14 und 15) aus der Verteidigungsschrift ge48 So Eckhart über seine zentrale Lehre vom Verhältnis der Gerechtigkeit zum Gerechten in Predigt 39. 49 Liber de causis. Das Buch von den Ursachen, lateinisch-deutsch. Mit einer Einleitung von Rolf Schönberger. Übersetzung, Glossar, Anmerkungen und Verzeichnisse von Andreas Schönfeld, Hamburg 2003, hier Einleitung S. VII. 50 Ebd., S. XXI. Insbesondere in der Mystik gibt es auf verschiedenen Ebenen eine auffällige Tendenz zur prägnanten Kürze. Sogar ein narrativ geschlossener Text wie Seuses Vita tendiert immer wieder zu Satz-Listen; mehrfach geht der narrative oder diskursive Zusammenhang in Reihen von Einzelsätzen über (z. B. Vita, I,49). Auch die Dialog-Form geht nicht selten aus EinzelfragenKetten (mit Antworten) hervor. Die Linie ließe sich verlängern bis hin zu den Epigramm-Reihen des Angelus Silesius; vgl. dazu Jan-Steffen Mohr, Epigramm und Fragment im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen (D. Czepko, Angelus Silesius, Fr. Schlegel, Novalis), Frankfurt/M. [u.a.] (Mikrokosmos 78).
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meinsam haben, dass Eckhart sie als ,emphatische‘ in eine Reihe stellen kann? Eckharts Modus ,alles umfassender Kürze‘ unterscheidet sich von der negativtheologischen, liebesmystischen Emphase-Tradition (1) durch maximale Ausdehnung des Wahrheitsanspruchs und (2) durch die Übertragung der Vorstellung der absoluten Selbstmitteilung Gottes (totum communicatur, non pars) auf das Verhältnis Gott-Seele, wodurch sich Überschreitungen des dogmatischen Gehalts ergeben. Eckharts Emphase lässt sich fassen als selbstreferenziell-reduplikatives Differenzierungsmodell (humilis inquantum humilis), das Ent-Differenzierungsvorgänge auf verschiedenen Ebenen bündelt. Eckhart beschwört eine ,unmittelbare‘ Wahrheit von absoluter Reichweite, mit der Begründung: Nihil est verum quod non includat omnem veritatem. Eine mittlere Wahrheit sei keine Wahrheit: Media enim veritas non est veritas. 51 Seine emphatisch-abgekürzten Äußerungen sind ,das Ganze‘, außerhalb der Differenz von Wörtlichkeit und Bedeutung (Gott „muss“ sich uns geben), außerhalb von Zeitverlauf (n). Anführungzeichen im kritischen Text der Ausgabe machen diese Paradoxie unhörbar. Anderseits, zu ,hören‘ sind sie ohnehin nicht. Eckharts ,allereigentlichste‘ Sprechweise ist also kein ekstatischer Überschwang (der modus ecstaticus wird im Gegenteil von Eckhart kritisert52), kein hymnisch-poetischer Sprechakt, auch kein isoliertes Stilmittel, sondern ein Standort, der Voraussetzung und Ziel, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Position und Negation so eng wie möglich zusammendenkt und ,alles auf einmal‘ sagen will. Neuralgischer Punkt ist der Unbestimmtheitsspielraum des Gesagten, und was uns dabei interessiert hat als Signum von Eckharts ,emphatischer‘ Rhetorik, ist für die Inquisition nur das Stigma einer eloquentia haeretica (falsa implicat).53 Auf diese Instabilität wird folgerichtig mit Redifferenzierungsmaßnahmen reagiert, mit dogmatischer, normativer Zentrierung. 51 LW V, n. 48, S. 322,14. 52 Vgl. zum Problem Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrçmmigkeit seiner Zeit, München – Zürich 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 91). 53 Zum Begriff Konrad von Sachsen, „Traktat und Sendbrief“, in: Kurt Ruh, Franziskanisches Schrifttum im deutschen Mittelalter, Bd. I und II: Texte, München – Zürich 1965/1985 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 11 und 86), hier II, 219,291 f.
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III. berswanc, underscheit (Heinrich Seuse) Zwischen den Jahren 1275 und 1330 hat sich im Dominikanerorden ein harter adminstrativer Kurs durchgesetzt, der das Klima bestimmt, in dem auch Eckhart im Jahr 1328 verurteilt wird.54 Mitten in der heftigsten Kontroverse meldet sich Heinrich Seuse zu Wort. Er schreibt einen Dialog (Das Buch der Wahrheit), mit dem Ziel, die metaphysischen Reizthemen, die Eckhart vor Gericht gebracht haben, orthodox zu reformulieren. In seiner Neuausgabe des Buchs der Wahrheit 55 hat Loris Sturlese auf die Querverbindungen zu Eckharts inkriminierten Thesen hingewiesen und die Textüberschneidungen tabellarisch dokumentiert. Man erkennt auf den ersten Blick: Kapitel VII nimmt 4 errores und drei weitere ,irrtumsverdächtige‘ Artikel der Bulle auf (Artikel 10 – 13 und 21,22,24; vgl. S. 60 – 64 der Ausgabe mit Anmerkungen), aber auch in den übrigen Kapiteln finden sich auf Schritt und Tritt Eckhart-Thesen. Seuse verschränkt in diesem Text zwei umstrittene Begriffe, ,Gelassenheit‘ und ,Freiheit‘, die von Anfang an eng gekoppelt werden (in I, 9 und 22). Um sie abzugrenzen gegen häretische (,falsche‘) Implikationen, greift Seuse zum Mittel der Unterscheidung. Intellektuelles Zentrum dieses Dialogs, so könnte man sagen, ist underscheit. Mithilfe qualifizierender Gegensatzpaare war/reht/guot-valsch oder geordent-ungeordent/ledic wird der umstrittene Vollkommenheitsstatus jeweils nach der ,wahren‘ und ,falschen‘ Seite von beiden Parteien diskutiert. Um Kriterien für diese ,wahr‘-,falsch‘-Unterscheidung zu finden, braucht Seuse weitere Unterscheidungen: Abstufungen hinsichtlich der Zeit (nunctunc) und des Grades der Einheit der Seele mit Gott. So differenziert die personifizierte ,Wahrheit‘ das vom ,Jünger‘ Gefragte beständig nach der weltabgewandten Seite (nach vereinunge) und weltzugewandten Seite (nach nemunge fflnserhalb), nach nemlicheit der vernunft und der nemunge an im selber (III, 40 und 46 ff.). ,Falsch‘ werde die Vorstellung von Gelassenheit und Freiheit durch Übersehen eben dieses ,nützlichen‘ Unterschieds. Von Kapitel VI an finden sich Unterscheidungen besonders dicht. Einige wenige Beispiele müssen genügen. So gesteht die Wahrheit dem 54 Dazu Flasch, „Predigt 52“ (Anm. 33), S. 30 – 45. 55 Heinrich Seuse, Das Buch der Wahrheit, mittelhochdeutsch-Deutsch, kritisch hrsg. von Loris Sturlese und Rüdiger Blumrich mit einer Einl. von Loris Sturlese, übers. von Rüdiger Blumrich, Hamburg 1993.
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Jünger zu, die Erfahrung der Einheit sei durchaus Abwesenheit von ,Unterschied im Grund‘, aber: nfflt nah wesunge, mer nach nemunge fflnserhalb (VI, 172 f.). Ob dem Menschen sein persönliches Ich (sin pers =[sic]nlich underscheiden wesen) ,im Grund des Nichts‘ erhalten bleibe? Antwort der Wahrheit: Ja, nach des menschen nemunge (VI, 392), nfflt in der wesunge (VI, 399). Ob das auf Dauer sein kann? Antwort: Nein es in gebruchlicher wise (,nicht hinsichtlich des Genießens‘), mer es blibet in einer behaltlicher, unverlorner wise (,wohl aber so, daß es ihm unverlierbar erhalten bleibt‘, VI, 407 f.). Seuse erfindet sogar neue Gegensatzwörter: nit gebrestlich, mer vereintlich (VI, 214); das ist kaum noch prägnant zu übersetzen (,nicht auf eine defiziente Weise, sondern in der des Einsseins‘). Am meisten scheint Eckharts Überspringen der Zeit-Relationierung zu beunruhigen. Immer wenn das Gespräch ins Stocken kommt, fragt der Jünger bei der ,Wahrheit‘ nach: Herre, ist dis [nämlich: Seligkeit, Gelassenheit, Freiheit] muglich in der zit? Und immer antwortet die Wahrheit mit Unterscheidungen (in zweierley wise), etwa so: Ein wise ist nach dem aller volkomnesten grade, dffl fflber alle mfflglicheit ist, und daz mag nit gesin in diser zit. […] Aber die selikeit ze nemene nach teilhafter gemeinsamkeit, also ist es muglich (V, 150 – 155). Die Antwort für dieselbe Frage lautet in Kapitel VII (185 ff.): Das sei wahr hinsichtlich eines dauerhaftvollkommenen Besitzes (nach besitzunge), nicht aber als ,Vorkosten‘ (nach einem vorversuochenne minr und me). In VI, 190 ff. erfährt der Jünger als Antwort auf seine Frage nach dem ,Mitwirken des Menschen mit Gott‘: Das sei nicht nach dem bloßen Wortlaut zu verstehen (nit nach blozser hellunge), sondern im Blick auf das ,Sichabhandenkommen‘ (nach der entgangunge). Fast durchweg also versieht Seuse die erörterten Begriffe mit qualifizierenden Adjektiven, selten stehen sie frei. Durch diese permanente doppelte Binnendifferenzierung (in via ex parte, in patria perfecte) und dogmatische Zentrierung (,wahr‘/,falsch‘) wirken Seuses Begriffe kompakter, terminologisch geschlossener als Eckharts metaphorisch initiierte und zugleich zurückgenommene Aussagen. Anderseits gibt die komplexe (dialogische, narrativ gerahmte und fallweise unterbrochene) Organisationsform seines Textes durchaus Raum für freie Verknüpfungen. Nicht nur die terminologische Geschlossenheit, sondern auch, gegenläufig dazu, die literarische ,Eigenkomplexität‘ des Dialogs, beide Aspekte müsste eine ausführliche Analyse also berücksichtigen.
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Eckharts Emphase dagegen lässt, wie wir verfolgt haben, Unterscheidungen gerade fallen.56 Eben diese Eckhart-typische ,emphatische‘ Aussparung heilsgeschichtlicher, moralischer, ontologischer Binnendifferenzierung nimmt Seuse zurück. Auf Eckharts Einheitsemphase reagiert Seuse mit Unterscheidungsemphase. Um für Eckharts Aussagen die Grenze zwischen ,wahr‘ und ,falsch‘ festzulegen, besteht er für jedes verhandelte Thema auf der Unterscheidung ad nos-in se. Diese Unterscheidung handhabt er so konsequent und umfassend, dass die Differenz sogar das Differenzierungsinstrument selbst befällt: mit g u o t e m underscheide (I, 36; VII, 68, passim), n ffl t z e r underscheit (VII, 145), o r d e n l i c h e r underscheit (VII, 54). Darüber hinaus kehrt underscheit auch auf der einen Seite der Leit-Differenz war-valsch als Verdopplung wieder (s i c h e r warheit, I, 62; g u o t warheit, I, 40; g u o t e lere, VI, 47). underscheit wird von Seuse geradezu als universales Instrument religiöser Selbstvervollkommnung konzipiert und ausdrücklich reflektiert (so in I, 42 f.): Vernünftige, wahre, richtige, geordnete Unterscheidungen entgrobent den menschen und zeogent im sinen adel. Im nur hier belegten Verbum entgroben ,verfeinern‘ steckt eine weitere Unterscheidung (subtilis-rudis), und weil die theologischen subtilia immer Gefahr laufen, unangemessen allzu subtile, allzu hohe Fragen zu erörtern, hält die Überschrift von Kapitel VI vorsichtshalber per Zusatzqualifikation fest: ,von hohen u n d n ffl t z e n fragen über die Gelassenheit im Grund des ewigen Nichts‘. Eckharts Emphase, so hatten wir gesehen, konnte sogar Gott zur Einheit mit dem (gelassenen, abgeschiedenen) Menschen ,zwingen‘ (cogitur); Seuse formuliert von einem anderen Standort aus, und deswegen hat ,Gelassenheit‘, bei Eckhart jenseits von Gegensätzen, bei ihm zum Schluss des Dialogs einen Gegenbegriff: bezwungenheit (VII, 21). 56 Überblickt man die 28 inkriminierten Artikel der Verurteilungsbulle (Artikel 1 – 15 und 27 f. gelten für ,häretisch‘, die restlichen 11 für ,häresieverdächtig‘), lässt sich die für den Vollkommenheitsstatus jeweils herausgekürzte Differenz wie folgt gruppieren: Zurücktritt bei Eckhart 1. die an die Verlaufsdimension der(Heils-)Zeit gebundene Differenz von nunc (in via) und tunc (in patria). Eckhart formuliert den Gedanken der christlichen Heilserwartung präsentisch: als gegenwärtige Zukunft, nicht als künftige Gegenwart (Artikel 1 – 3); daher fällt auch Intentionalität aus (Artikel 7 – 9); 2. die moralische Differenz (sündentheologisch perspektiviert in Artikel 4 – 6 und 14 f., als Differenz von äußerem und innerem Werk in Artikel 16 – 19); sowie 3. die ontologische Differenz zwischen creatura und creator (Artikel 10 – 13, 20 – 22 und 27) und die innertrinitarische Differenz (Artikel 23 – 26 und 28).
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Und selbst dort, wo die Wahrheit dem Jünger sagt, dass man über Unterschiede hinauskommen, nämlich zwei contraria (Zeit und Ewigkeit) als eins denken soll (VI, 93 f.), hält sie die Verschiedenheit fest, indem sie die unterschiedliche Verstehenskapazität der Gesprächspartner betont: ,Du und ich begegnen einander nicht auf demselben Ast […]‘ (Ich und du bekomen einander nit uf einem rise […]. Dine fragen gand us menschlichen sinnen, und ich antwfflrt us den sinnen, die da sint fflber aller menschen gemerke […], 103 – 106). Seuse versucht etwas Unmögliches: mit Differenzierung Eckharts (einheitsemphatische) Entdifferenzierung zu beschreiben. Schon der Beginn seines Dialogs hatte mit einer Doppelunterscheidung eingesetzt: Erzählt ist eingangs von einem Menschen, der erkennt, dass nicht äußere, sondern innere Gelassenheit zur Wahrheit führt (erste Unterscheidung). Er wird gewarnt, dass in dieser Einsicht ein valscher grunt ungeordenter friheit liege (zweite Unterscheidung). Und hier abe erschrak er (I, 21 ff.). Es scheint mir vor dem Hintergrund des Gesagten nur konsequent, dass Seuse den Jünger ,erschrecken‘ lässt über das Risiko der verfehlten (der valschen) Wahrheit. Eckhart ,erschrickt‘ über sich selbst (siehe oben S. 976) und die ,ganze‘ Wahrheit seiner Formulierungen. Ein weiterer Punkt: Alles, was Seuse die personifizierte ,Wahrheit‘ (auch: das ,luter wort‘) dem Jünger aus der Perspektive Gottes antworten lässt, sagt natürlich: Seuse. Er lässt die Wahrheit selbst zu Wort kommen, aber die Verweisungsüberschüsse, Problemüberschüsse und Begründungsaporien bleiben die gleichen. So ist es nicht überraschend, dass auch Seuse, gerade mit seinem Buch der Wahrheit, in Schwierigkeiten mit der Amtskirche gerät aufgrund ,falscher Lehre‘.57 Die Inquisition sieht auf die Inhalte (die Proposition), nicht auf die Performanz. Aus der Perspektive des Dogmas müssen Texte notwendig so behandelt werden, als seien literarische und religiöse Äußerung grundsätzlich äquivalent. (So gesehen, hätte es dem eingangs zitierten Marienleben-Autor im Ernstfall gar nicht geholfen zu sagen ,Ich lobe bloß per modum poeticum‘). Sie sieht nicht die paradoxe Selbstauflösung von Bildern, Begriffen und Argumenten bei Eckhart, sieht auch nicht die Vielfalt der Erzählperspektiven, Sprecherrollen, Gattungsvoraussetzungen bei Seuse, und sie ist angewiesen auf die Eindeutigkeit eben dieser Inhalte. Wo sie sie nicht vorfindet, stellt sie sie selbst her, zum Beispiel über ,Irrtumslisten‘. 57 Dazu Sturlese in: Seuse, Das Buch der Wahrheit (Anm. 55), S. XVII.
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Seuse steht also zwischen allen Institutionen. Bei ihm greifen zensurbedingte Textgenese (Eckhart-Apologie) und zensurbedrohte Schreibpraxis ineinander. Seuse zieht für das ,richtige‘ Verständnis Eckharts die Differenz von Weltzeit und Heilszeit unterscheidungsemphatisch wieder ein. Aber Eckharts Emphase hatte diese Differenz gar nicht negiert, sondern überschritten (,durchbrochen‘) und das Koordinatensystem von Mensch und Gott so weit verschoben, dass sogar die religiöse Leitdifferenz Immanenz und Transzendenz unsichtbar wird. Für die Wahrnehmung der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz besteht umso größerer Abstimmungs- und Reflexionsbedarf, je unsichtbarer diese Grenze wird, weswegen Seuse so grundsätzlich und aufwendig underscheit reflektiert. Der hohe Lösungsaufwand weist auf das Gewicht des Problems. Dazu passt eine letzte Beobachtung. Bezeichnend scheint mir, dass Seuse dort, wo er Eckhart erwähnt (werkübergreifend, explizit oder implizit), fast ausnahmslos eine Kategorie zum Einsatz bringt, die sich mit Eckharts locutio emphatica berühren könnte: berswanc. 58 Dazu abschließend noch einige Überlegungen. Die meisten Eckhart-bezogenen berswanc-Belege bei Seuse finden sich in der Vita, hier vor allem im Kontext der Interaktion mit seiner ,geistlichen Tochter‘ Elsbeth Stagel. Beide lassen sich wechselseitig ihre Glaubwürdigkeit und Heiligkeit steigern und bezeugen. Sie, die ,geistliche Tochter‘, reale Figur und Kunstfigur, stellt eckhartnahe ,hohe Fragen‘ (fflberswenkffl lere, 181,24: ,was, wo, wie ist Gott?‘) oder erlebt eine Eckhart-Vision (in fflberswenker gfflnlichi, 23,2) und fordert damit des ,Dieners‘ Unterscheidungskunst heraus.59 Dass Seuse auch an den ,Überschwang‘-Begriff selbst Unterscheidungen knüpft, kann nicht mehr überraschen (berswanc ist doppelt konnotiert: positiv als nega58 Vgl. die in der Ausgabe von Bihlmeyer im Glossar verzeichneten Stellen (Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907). Das mhd. Wort berswanc gehört zum Verbum swingen, dessen Grundbedeutung ,(sich) schwingend bewegen‘ für verschiedene Kontexte des Kämpfens (Schwert- oder Fechthieb: swertswanc, das ,Zurückschwenken‘ der Pferde im Turnier), des Tanzens und Fliegens (,sich schwingen‘, umbeswanc) oder auch für die Bewegung des Wassers (,Überströmen‘) eingesetzt wird. Belegt sind verschiedene Verbal-, Nominal-Komposita: berswenkecheit, berswanc, berswankende (part.), berswence, berswenclch (adj.) sowie das Verbum berswenken. Der superlativische (positive) Aspekt des Wortes (,Übertreffen‘, superlatio, excellentia) kann sich verschieben in malam partem (,Übermaß‘, ,Überfülle‘, ,Unmaß‘). 59 Besonders deutlich zu Beginn des 2. Teils, Kapitel 33 (97,11 oder 99,11); für die anderen Belege vgl. das Glossar in: Seuse, Deutsche Schriften (Anm. 58).
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tivtheologisches super-esse oder modus ecstaticus 60, negativ als ,wilde‘, ,ungeordnete‘ Freiheit).61 Der Begriff berswanc findet sich sporadisch auch bei Eckhart. Erwähnenswert ist eine Stelle aus Predigt Q 20a (DW I, S. 329,2). Dort fällt der Satz ,Die liebende Seele zwingt [!] Gott‘, den Eckhart erläutert, indem er auf die Sprachproblematik hinweist. Der Mangel dieser Formulierung liege an der Sprache: Der gebreste ist an der zungen. Gott sei oberhalb von Benennbarkeit (oben wort, schon 329,1). Seine sprachliche Uneinholbarkeit kumet von dem b e r s w a n k e der lterkeit (329,2). Dieses Zitat belegt für Eckhart œuvre-intern einen Zusammenhang von locutio emphatica und berswanc, zugleich demonstriert es die enge Verschränkung von ontologischem und hermeneutischem Bezug der berswanc-Kategorie.62 So wie der Wahrheitsgehalt jenes inkriminierten ,Gott muß sich uns geben‘-Satzes von Eckhart als locutio emphatica verteidigt worden war, wird hier eine vergleichbare Formulierung mit dem Hinweis auf Gottes berswanc als transkategorial (oben wort) qualifiziert. Lohnend schiene mir eine breitere Untersuchung des Wortfeldes ,Emphase‘/,Überschwang‘, das bis zu ,Enthusiasmus‘ und ,Schwär-
60 Etwa: den allerhoehsten fflberswank fflberweslicher volkomenheit (ebd., auf Abb. 11, S. 195). Auch 477,4: siner fflberswenken verborgenheit. Mit Bezug auf sein eigenes Buch: 5,14 (aller fflberswenkeste materie). 61 Zum Kontext Martina Wehrli-Johns, „Mystik und Inquisition. Die Dominikaner und die sogenannte Häresie des Freien Geistes“, in: Walter Haug/ Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.), Deutsche Mystik im abendlndischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Anstze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, Tübingen 2000, S. 223 – 252. 62 Ausdrücklicher Zusammenhang von esse und cognoscere für berswanc in DW I, S. 55,8 f.: Wan denne got ein berswenkende wesen ht, dar umbe berswenket er allem bekantnisse. Der mhd. Begriff berswanc scheint besonders dicht gestreut im Kontext der franziskanischen Mystik. Hält man sich fürs erste an das Wörterverzeichnis in der von Ruh, Franziskanische Mystik (Anm. 53) zusammengestellten Quellensammlung, zeigen sich die bereits genannten Anschlüsse und Transformationen. Ich summiere meine Durchsicht der Belege: mhd. berswanc/berswingunge steht (1) für lat. ecstasis/excessus, bezogen auf den in Grade oder Stufen durchgezählten liebesmystischen Vollkommenheitsstatus, oder aber (2) für lat. abundantia und excellentia, hier überwiegend im Kontext der Lichtmetaphysik, aber auch auf den Modus cognoscendi/praedicandi selbst bezogen (superlatio, superpositio: negativtheologisch geprägte superlatio-Aussagen). Grundlegend ist für diesen Typus jeweils der Bezug auf Dionysisus Areopagita, aber auch auf die Psalmen.
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mertum‘ reichen müsste und langanhaltend im Spannungsfeld von regula iustitiae und regula fidei bleibt. Angelus Silesius war im lutherisch-orthodoxen Milieu am fürstlichen Hof in Oels die Druckerlaubnis verweigert worden für seine Auswahl hochinbrnstiger mystischer Gebete: Sie schalt der dahmalige Hoffprediger fr Enthusiastisch. Welches mir dann den letzten Stoß gab, dem Lutherthum gram zu werden. […] Ich erzehle aber dieses darumb, daß der Leser sehen kann, was die Luthrische Prdicanten fr Frchtle seind, welche die liebreiche Vereinigung des Gemttes mit Gott fr Enthusiastisch halten. 63 Angelus Silesius reagiert mit einer Liste, in der er Grndtliche Ursachen und Motive aufschreibt (gedruckt 1653, Held, I, S. 237), die ihn zu seinem Konfessionswechsel bewogen haben. In 20 durchnumerierten Artikeln (!) versucht er einerseits seine Aufrichtigkeit, anderseits die Wahrheit der katholischen Kirche zu beweisen (Vorrede, S. 237); und wieder sind, je hocherheblicher die Ursachen, je unumbstçßlicher die Beweise, die Glaubwürdigkeitsaporien umso unauflöslicher. ,Enthusiasmus‘ im Zeichen von Aufklärung und Metaphysikkritik wird schließlich zu einer affektpsychologischen und ästhetischen Kategorie, so bei Kant, der ,Enthusiasmus‘ als erhabenen Gemütszustand definiert, bei dem das Gemüt sich ber gewisse Hindernisse der Sinnlichkeit durch menschliche Grundstze zu schwingen vermag64, wieder anders bei Hegel und Schelling, bin hin zu Heidegger, in dessen Spätwerk ,Enthusiasmus‘ als transitorische Erkenntnis ohne Gegenstandsbezug eine wichtige Rolle spielt.65 Ein letzter Punkt, über Seuse hinausgreifend: blickt man auf die Überlieferungskontexte der spätmittelalterlichen ,Irrtumslisten‘, ergeben sich für unsere Frage interessante Konstellationen. Hier möchte ich nur 63 So Angelus Silesius 1665 im Rückblick über seinen Konflikt mit der protestantischen Zensur. Zitiert nach: Angelus Silesius, Smtliche poetische Werke in drei Bnden, hrsg. und eingeleitet von Hans Ludwig Held, Bd. I: Die Geschichte seines Lebens und seiner Werke. Urkunden, München 1924, S. 42. 64 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, S. 198. 65 Zur literarischen und philosophischen Reflexionsgeschichte des Begriffs ,Enthusiasmus‘ zuletzt Burkhard Meyer-Sickendiek, Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005 (zum Enthusiasmus als „Basisemotion der Hymnik“ S. 77 – 114). Vgl. bereits Hans H. Schulte, „Zur Geschichte des Enthusiasmus im 18. Jahrhundert“, in: Publications of the English Goethe Society, N.F. 39/1969, S. 85 – 122. Historisch fundiert zur affektpsychologisch ausgerichteten Rhetorik der Frühen Neuzeit Till, Transformationen der Rhetorik (Anm. 14).
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kurz zwei Fälle erwähnen, die zeigen, dass Irrtumslisten ganz grundsätzlich eine variable, übergängige Gattung sind, als ,Text unter Texten‘ überliefert oder konzeptuell in andere Texte integriert: (1) Überliefert sind Irrtumslisten, bei aller strengen Typusbezogenheit, in ganz verschiedenen Kontexten. Selten sind sie volkssprachlich, fast immer lateinisch formuliert als Zugangsbarriere. Wo sie doch volkssprachlich sind, sind sie wenigstens in lateinische Handschriften inseriert. Die umfangreichste volkssprachliche Liste dieser Art, die wir kennen, steht in einer Zürcher Handschrift aus dem Jahr 1443; Kurt Ruh66 hat auf sie aufmerksam gemacht. Es handelt sich um eine Reihe von Thesen de statu perfectionis vor allem aus mystisch inspirierten Begarden- und Beginenkreisen; zum Teil ergeben sich Überschneidungen zu den verurteilten Thesen Meister Eckharts. Überliefert ist diese Liste im Kontext religiöser Kleintexte wie Predigten, Traktaten, Beichtspiegel, Betrachtungen (unmittelbar vorausgehen Sieben Punkte ber den wahren Glauben). Sie wirkt also – das macht sie interessant – in diesem Kontext als Text unter Texten, als ,Gegentext‘. (2) Weniger als Konstellation der Überlieferung, vielmehr als konzeptionelle Mischung aus ,Text‘ und ,Gegen-Text‘ lässt sich eine Glaubenslehre Marquards von Lindau fassen: Der gloˇb (De fide) aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, auf die ich den Blick kurz lenken will.67 Hier sind zwölf Glaubensartikel aufgeführt und pro Satz von ihrer jeweils häretischen Entstellung (valsch gloˇben), die gleichfalls aufgelistet wird, abgehoben.68 Für alle zwölf hohen tieffen artikel des gloˇben wird ein festes Textschema durchgehalten, die Abfolge von vier Schritten: Nach der Nennung des dogmatisch ,wahren‘ Satzes folgt dessen Verkehrung durch etlich bœs cristan (keineswegs spezifisch mystisch oder freigeistig orientierter), gefolgt von der dogmatischen Richtigstellung das Satzes (mit vnder scheid […] gemachet 295,21 f.); den Abschluss bildet eine katechetische Schlussfolgerung: was lernen wir bi diesem artikel? An diesem Textschema ist deutlich ablesbar, dass die textkonstitutive Liste von ,wahren‘ Sätzen aus einer Liste ,falscher‘ Sätze hervorgegangen ist, und zwar mit der Funktion, diese zu bannen: Die wahren Sätze, so Mar66 Kurt Ruh, „Volkssprachliches über Häresien“, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 2: Scholastik und Mystik im Sptmittelalter, hrsg. von Volker Mertens, Berlin – New York 1984 (zuerst 1981), S. 255 – 274, hier S. 264 – 271. 67 Ruh, Franziskanisches Schrifttum (Anm. 53), Bd. I, S. 294 – 322; überliefert unter anderem in zwei Züricher Codices vom 14. Jh. (cod. S 430) und Anfang des 15. Jh. (cod. C 95). 68 296,47 und 55.
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Susanne Köbele
quard, seien jeweils nachts und morgens zu sprechen, um die Nacht,Gespenster‘ (die Irrtümer: gespenste des bœsen geistes) ,zu vertreiben und zu vertilgen‘ (300,173 f.). Marquards Glaubenslehre scheint mir aus zwei Gründen erwähnenswert. Zum einen demonstriert er mit seinem engen Zusammenhang von ,Irrtümern‘ und Glaubensartikeln den (einfachsten, einzelsatzkompilatorischen) Fall literarischer Produktivität von Irrtumslisten. Zum andern ist diese Glaubenslehre deswegen aufschlussreich für unsere Fragestellung, weil sie zeigt, wie nicht nur die ordensinternen Debatten – der Franziskaner Marquard ist ein hervorragender Kenner der Dominikaner-Mystik –, sondern auch die Seiten des (historisch gesprochen) ,Wahren‘ und ,Falschen‘ hin und hergehen. Denn Marquard schließt in seiner Argumentation gegen das ,Falsche‘ überraschend nah an Eckhart an, freilich mit einem ,revidierten‘69, orthodox reformulierten Eckhart, Vorstellungen ,ungeordneter Freiheit‘ abwehrend. Diese Spannung zeigt ein kurzer Blick auf Artikel 3 (S. 304,287 – 305,335). Das vierstufige Schema sieht hier so aus: 1. Der ,wahre‘ Satz (Maria ist Gottesgebärerin), 2. der ,häretische‘ Satz (Maria ist Mutter nur der ,menschlichen Person‘ Christi), 3. die Zurückweisung und Richtigstellung des ,falschen‘ Satzes (im Rückgriff auf Satz 1), 4. das Fazit (Was wir daraus lernen sollen?) Marquard sagt es so: Auch wir sollen Gottes Sohn in uns geistlich empfangen.70 Dieses Fazit ist nun ein unüberhörbarer Rückgriff auf Eckharts zentrale Lehre von der Gottesgeburt in der Seele. Marquard macht zwar Halt vor Eckharts weitergehender Schlussfolgerung (,wir sind Sohn und gebären zugleich den Sohn zurück‘). Aber immerhin, hier wie auch auch für die Summa des gesamten Textes formuliert Marquard auffällig Eckhart-nah: Kein Herz, so fasst er zusammen, solle am wahren Glauben zweifeln, sondern sich gelassenlich dem lieht des heiligen gloˇben in allen artikeln lassen. Der Eckhartsche Leitbegriff (ge)lassen kommt gleich doppelt zum Zuge. Irrtumslisten sind auch in andere Hinsicht eine variable Gattung. Sie können, über die pragmatische Funktion der Prozessdokumentation oder öffentlichen dogmatischen Korrektur hinaus, in benachbarte 69 Dazu Freimut Löser, „Rezeption als Revision. Marquard von Lindau und Meister Eckhart“, in: Beitrge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 119/1997, S. 425 – 458, hier S. 457. 70 […] daz ouch der hoch gottes svn in vns geistlich wurde enpfangen, wan dar vmb het got die sele geschaffen vnd ir dar vmb himel vnd erd ze dienst geschaffen, das er mug geistlichen sinen einbornen svn in ir geberen, S. 305,322 – 324; vgl. DW II, S. 228,1.
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Texttypen übergehen. Sie werden zum Beispiel in Inquisitionshandbücher inseriert, in Musterbücher mit sogenannten Interrogationes beziehungsweise Examinationes, die über Fragekataloge ,Hast du dieses gesagt, jenes gesagt […]?‘ (primo quod, secundo quod […]) gewissermaßen wieder zum Texttyp Irrtumslisten zurückkehren. Seuses Buch der Wahrheit ist also keineswegs der einzige Fall von ,Literatur aus Irrtumslisten‘, aber ein besonders faszinierender. Der Versuch der Mystiker, Gott außerhalb der Kategorien Immanenz und Transzendenz zu denken, führt in grundlegende Paradoxien. Alle mit dem Begründungs- und Glaubwürdigkeitsproblem von Vollkommenheit sich aufdrängenden Aporien sind hier zugespitzt. Zensur als ein „Kristallisationspunkt“ konkurrierender Normen- und Verständigungssysteme kann im Blick auf spätmittelalterliche Irrtumslisten die analytische Folie liefern71, auf der sich das hohe Konfliktpotenzial der mystischen Vollkommenheitslehren abbildet: die Differenz der Wahrheitsbegriffe, die Spielräume des Impliziten, die Grenzen des Ästhetischen. Für Eckhart könnte man es so pointieren: Die Text-Zerlegung durch die Zensoren ist seine Häretisierung. Warum? Sie unterbricht die Performanz und fixiert die semantische Mehrdeutigkeit des Textes, die in dogmatischer Perspektive als Undeutlichkeit erscheinen muss. Das ist das eine: Häretisierung (dogmatische Vereindeutigung) qua Auflistung. Anderseits bleibt irritierend, dass die Verfahren und Argumentationsmuster der Zensoren (also die Kontextisolierung, der Anspruch auf Wahrheitsevidenz) auf der anderen Seite, bei Eckhart, gleichermaßen auftauchen: Eckharts ,Gleichgültigkeit‘ dem Verhältnis von Teil und Ganzem gegenüber gehört genau hierher. Es ist eine Teil-GanzesGleichgültigkeit in der Praxis seiner eigenen Bibelexegese, die, extrem einzelwortbezogen, unbekümmert gegen den Wortlaut des zitierten Satzes vorgeht; aber auch eine Teil-Ganzes-Gleichgültigkeit im Verhältnis zu seinem eigenen Text: ,Wer das verstanden hat, versteht alles, was ich sage.‘72 Vielleicht wegen dieses unstillbaren Widerspruchs –
71 Plachta, Zensur und Textgenese (Anm. 4), S. 49 (mit Bezug auf Hans-Christoph Hobohm). 72 Die Spannung von Textausschnitt und Text-Ganzem setzt sich fort, sie wiederholt sich auf allen Ebenen: auf der Ebene der Textstrukturen (mit Spruchsammlungen, mit der Dialogisierung von Einzelsätzen, mit EpigrammZyklen), auf der Ebene der Text-Überlieferung (anonyme Splitterüberlieferung) oder des Text-Wiedergebrauchs (,Mosaiktraktate‘ und andere). Die Irr-
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Köbele, Literarische Produktivität
Emphase ist das ,Ganze‘ und bleibt doch Ausschnitt – werden die aufgelisteten ,Irrtümer‘ ihrerseits literarisch produktiv. ,Wenn Gott Mensch geworden ist, kann der Mensch Gott werden.‘ Das ist ein Schlüsselsatz der Mystiker, ein Satz, dessen performative Emphase die Zensoren durch ihr isolierendes, dogmatisch begrenzendes Verfahren auf eine propositionale Erkenntnis verpflichten. „Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden.“ Das sagt nicht Eckhart, sondern die Portugiesin in Musils gleichnamiger Novelle.73 Und „man hätte ihr“74, so Musil im ironischen Konjunktiv, „die Hand vor den Mund halten müssen, wegen der Gotteslästerung“.
tumsliste wird dabei durchaus auch zum neuen ,Text‘, zum ,Antitext‘, neben Traktaten wie Vom wahren Glauben. 73 Robert Musil, Die Portugiesin, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6: Prosa und Stcke, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 252 – 270, hier S. 270. 74 Zu Musils ironischer „Generierung von Möglichkeit durch den Wirklichkeitssinn“ zuletzt Andreas Kablitz, „Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion“, in: Poetica, 25/2003, S. 251 – 273, hier S. 267 – 269.
Bericht über die Diskussion der Vierten Sektion Stephan Laqu Am letzten Tag des Kolloquiums stand der Aspekt der Performativität und ihrer Stellung und Funktion in literarischer und religiöser Kommunikation im Mittelpunkt. Die Diskussionen der Vorlagen, die ganz unterschiedliche Kulturräume, Medien und Praktiken betrachteten, führten, wie am letzten Tag eines Symposiums zu erwarten und zu wünschen, aus der Betrachtung konkreter performativer Prozesse wiederholt auf Fragestellungen, die das Symposium in seiner Gesamtheit betrafen. Da Susanne Köbele nicht anwesend sein konnte, wurde ihre Vorlage nicht getrennt diskutiert, sondern als zusätzlicher Referenztext mitgeführt und stellvertretend von Burkhard Hasebrink in die Diskussion eingebracht. Die Vorlage von Jutta Eming verortet das religiöse Spiel generisch zwischen Ritual und Theater und situiert es damit in einem Spannungsverhältnis zwischen Unverfügbarkeit und der Verfügbarmachung des Heiligen, zwischen liturgischer Absenz und inszenierter Präsenz des Körpers Christi. In der Diskussion wurde die Frage nach dem Begriff und Verständnis dessen gestellt, was Präsenz und Verfügbarmachung zu Grunde liegt. Da die Vorlage auf die Arbeit von Hans Ulrich Gumbrecht Bezug nimmt1, wurde betont, dass es auch bei der Betrachtung der Passionsspiele nicht um Realpräsenz gehen könne, sondern um einen Begriff, der Präsenz als Erfahrensgröße fasst. Eine weitere Präzisierung des angelegten Präsenzbegriffes zielte auf die Frage des Verhältnisses zwischen Präsenz und Zeitlichkeit. Die Präsenz des Heiligen sei weder an ein Entstehen noch an ein Vergehen (etwa mit dem Leiden Christi) gebunden. Im heiligen Spiel werde vielmehr das immer bereits Präsente sichtbar gemacht, wobei als eine weitere Zeitebene die Erfüllungszeit des Heils im Paradies mitzudenken sei. Die in der Vorlage herausgestellte paradoxe Verschränkung von Anwesendem und Abwesendem, die im gleichzeitigen Näherbringen und Distanzieren der Figur Christi für die emotionale Affizierung des Publikums maßgeblich 1
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wird, führte zu der Frage, inwiefern für das Mittelalter eine Gleichzeitigkeit oder gar Mischung widersprüchlicher Gefühle überhaupt denkbar sei; ob das Mittelalter nicht eher eine Sukzession von Affekten annehme, etwa in der Form einer Psychomachie. Eming wandte ein, dass eine solche Beschränkung auf die Affektkonzepte der Zeit nicht zwingend sei und die Breite der angesprochenen Gefühle verkürze. Die Bedingungen der Rezeption wurden darüber hinaus auch angeführt, um die Spannung zwischen Unverfügbarkeit des Heiligen in der Rede und dessen Verfügbarmachung in der Inszenierung zumindest teilweise in Abhängigkeit der Textgattung des Passionsspiels – einerseits als Lesetext und andererseits als aufgeführter Text – zu sehen. Ein weiterer zentraler Gegenstand der Diskusssion war die in der Vorlage gestellte Frage, wessen Leid und welche Form des Mit-Leidens im Passionsspiel eigentlich verhandelt wird, ob es hier tatsächlich um das Leiden Christi geht, oder nicht vielmehr um das gebrochene Leiden Marias. Es wurde zu bedenken gegeben, dass eine Annäherung an das Leid Marias immer einen christologischen Bezug habe; dass in der Annäherung an die compassio Mariae immer das Leid Christi im Vordergrund stehe. Maria werde somit zur Mittlerin und zwar in unterschiedlicher Hinsicht. Sie sei sowohl mediatrix des Heils als auch der compassio des Betrachters. Ihre Mittlerfunktion schließe zudem den Bereich der Schuld des Zuschauers ein, dessen compassio in direktem Zusammenhang mit seiner contritio als dem für das Leiden Christi Verantwortlichen stehe. Andrew James Johnston diskutiert in seiner Lesweise der Pardoner’s Tale aus Geoffrey Chaucers Canterbury Tales die Sündhaftigkeit des Ablasspredigers selbst und die Frage, inwiefern sich aus dieser Konsequenzen für die Wirksamkeit der Predigt ergeben. Während die Lollarden dem moralischen Status des Predigers zentrale Bedeutsamkeit zuerkennen, stellt die amtskirchliche Auffassung die Wirkung der Predigt in den Mittelpunkt. Die Diskussion fragte nach möglichen blinden Punkten und Anachronismen einer Lesweise, die bei Chaucer die Abtrennung der Rede von der Person des Redners betont. So sei das Ethos des Sprechers in der Rhetorik seit Aristoteles von höchster Relevanz, was auch bei Chaucer eine Doppelbödigkeit erwarten lasse. Der Rhetorikdiskurs laufe, so Johnston, hier mit dem Predigtdiskurs parallel und verstärke so das Skandalon der Figur des sündigen Predigers. Der Text stelle ein Spiel mit zahlreichen denkbaren Interpretationsebenen dar, bei dem auch die oft kommentierte Anspielung auf die Homosexualität des Predigers bedeutsam bleibe. Im Text finde sich allerdings keine klare Aussage zur sexuellen Orientierung des Pardoner, was in der
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Folge zu unterschiedlichen Weiterschreibungs- und Reduktionsversuchen geführt habe. Die Frage nach der Natur der Sünde des Pardoners wurde ebenfalls weiter erörtert. Die Verheimlichung seiner Sünden stelle einen unzweideutigen Fall von dissimulatio dar, finde sich im gegebenen Fall allerdings zugunsten der Funktion der Predigt vindiziert. Die eigentliche Sünde des Ablasspredigers sei dessen desperatio, die ihn den Glauben an seine Erlösbarkeit verlieren lässt. Neben diesen sündhaften Zweifel trete allerdings die auffällige Unbußfertigkeit des Pardoners als weitere und womöglich bedeutsamere Verfehlung. Diese Lesweise sei, so Johnston, in der Forschung wohl etabliert, doch werde sie durch den Epilog der Pardoner’s Tale, wo der Pardoner geradezu Anerkennung von seinem Publikum zu fordern scheint, unterlaufen und gehe damit deutlich über einen Hinweis auf einen Mangel an Reue hinaus. Ein heftig diskutierter Gegenstand war weiterhin die Frage einer Autonomieästhetik, die die Bewertung der Sünde des Pardoners impliziert: Wenn die Wirkung der Predigt über den moralischen Status des Predigenden gestellt wird, so wird der Text ein Stück weit von außerliterarischen Zwängen abgekoppelt, womit nach Johnston ein Schritt auf dem Weg hin zu einer Autonomieästhetik gegangen sei. Allerdings würde man hiermit, so ein Einwand, Chaucers mittelalterliche Literatur womöglich etwas übereilt in einen der zentralen grand rcits der Moderne – eben in jenen der Entbergung der Autonomie des Ästhetischen – einreihen. Erklärbar sei dieser scheinbare Anachronismus nun dadurch, dass einerseits Literatur generell, und so eben auch der mittelalterliche Chaucer, zu einer Autonomisierung des Ästhetischen tendiere. Andererseits ließe sich speziell für Chaucer ein neues Verständnis des Wertes vernakulärer Literatur auch als Auswirkung seiner Rezeption italienischer trecento-Literatur, etwa durch seine dokumentierte Hochschätzung Dantes, erklären. In seiner Vorlage breitet Klaus Schreiner eine Fülle unterschiedlicher imagines miraculosae der Marienverehrung aus, die in militärischen Konflikten siegbringende Wirkung entfaltet haben sollen. Er stellt die Frage, auf welchen Zuschreibungen die mediale beziehungsweise kommunikative Leistung der Marienbilder beruht. Zwei Mechanismen sind erkennbar: Zum einen wecken die Bilder Frömmigkeit im Betrachter, zum anderen fungieren sie als Medien der Heilsvermittlung und ebnen als solche den Weg zu Gott. Während die offizielle Bildtheologie auf dem Verweischarakter der Bilder insistiert und jeden Glauben an eine wundertätige Kraft des Bildes selbst unzweideutig zurückweist, impliziert die Rhetorik der Verehrungspraxis einen
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deutlichen Glauben an eine direkte Gegenwart des Heiligen in den Bildern. Obwohl Maria den Bildern also nicht vere und realiter wie Christus in der transsubstanziierten Hostie, sondern nur virtualiter innewohnt, setzt die Verehrung der Bilder eine Verfügbarkeit der Gnade und des Heiligen voraus, die nicht in der zeitgenössischen Bildtheologie fundiert ist. In der Diskussion wurde vorgeschlagen, der Präsenzannahme der Volksfrömmigkeit den Begriff der Aktualisierung entgegenzusetzen, der ein Bewusstsein der Differenz transportiere und voraussetze. Es wurden drei verschiedene Bildbegriffe herausgearbeitet, in denen Gnadenbilder gesehen werden können: 1. als präsentes und abrufbares ,Gnadendepot‘, 2. als Vermittlungsinstanz, das heißt als Medium der Gnade und 3. als Anlass und Verbürgung für eine durch Gnade belohnte Frömmigkeit. Diese drei Begriffe seien in vielen Fällen parallel bedeutsam, überlappten und verstärkten einander. Neben diesen Konzeptualisierungen wurde die Frage nach der genauen Funktionsweise der Bilder gestellt, die stets von ritualisierten Handlungen und Sprechweisen umgeben sind. Die virtus der Bilder sei zentral an diese Handlungen, an das Gebet und an das Vertrauen auf die Gnadentat gebunden. Dies ließ Zweifel an der Bedeutung einer spezifischen Form der verehrten Bilder aufkommen und führte zu der Überlegung, ob jede Form zum Medium dieser Art religiöser Kommunikation werden könne, oder ob es auch Bildwerke gebe, die nicht als Gnadenbild verehrt werden können. Letztlich, so Schreiner, seien nicht formale Aspekte für den Status eines Bildes verantwortlich, sondern die historische Situation einer glaubwürdig berichteten Wirksamkeit des Objektes. Die Bilder seien ursprünglich als Votivgaben und Zeichen der Dankbarkeit für Marias Hilfe dargeboten worden. Sie halten die Erinnerung an diese Gnadenwirksamkeit wach und erlauben es dem Gläubigen, aus ihrer Verehrung weitergehende Erwartungen abzuleiten. Bei allen konkreten historischen Anlässen, an denen sich die in der Vorlage genannten Marienbilder bewährt haben sollen, handelt es sich um Kämpfe gegen Protestanten und Heiden. Jenseits der Funktion als gnadenstiftende Objekte der Verehrung komme den Gnadenbildern hier nicht zuletzt auch die Funktion einer medialen Selbstbehauptung des Christentums und speziell des Katholizismus zu. Zum Abschluss der Diskussion wurde das für das gesamte Symposium wichtige Problem der Perspektive der Tagungsteilnehmer, die alle Anteil an literarischen und religiösen Traditionen haben, angesprochen. Wie mit dieser grundlegenden Frage umzugehen sei, könne allerdings kaum an einer einzelnen
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Vorlage diskutiert werden, sondern verlange nach einer allgemeinen methodologischen Diskussion. Gegenstand der Untersuchung, die Klaus Krüger in seinem Beitrag zur Diskussion stellt, ist die Arenakapelle in Padua. In Giottos Ausmalung des Raumes manifestiert sich ein neuartiger Wirklichkeitssinn der Kunst um 1300, der eine Bewegung hin zu Formen mimetischer Repräsentation erkennen lässt. In der Kapelle der Familie Scrovegni, die Krüger als einen essentiell öffentlichen Raum mit einer öffentlichen Funktion begreift, zeigen sich zentrale Elemente der stadtstaatlichen Organisation, wie etwa die iustitia, als Institutionen im Sinne einer symbolischen Kommunikation, wobei sich unterschiedliche Formen und Strategien der Umcodierung und Verschiebung von Bildressourcen betrachten lassen. Im Bereich der Sockelzone der Arenakapelle zeigt die künstlerische Gestaltung eine antithetische und symmetrische Anordnung von Tugenden und Lastern. Die abgebildeten Figuren stehen hierbei in einer doppelten Spannung: Zum einen verkörpern sie zugleich abstrakte Begriffe und konkrete, ,lebendige‘ Personalitäten, zum anderen sind sowohl das Rahmensystem des Sockels als auch die Figuren nur gemalt, wobei die abgebildeten Gegenstände auffälligerweise keine lebendigen Wesen sind, sondern Skulpturen. Diese gemalten Skulpturen erhalten durch verschiedene künstlerische Brechungen allerdings wiederum einen überraschenden Anschein von Lebendigkeit, so dass sowohl in der Medialität der Figuren als auch in ihrer allegorischen Codierung ein auffälliger Doppelcharakter erkennbar wird und sich zwischen diesen beiden Bereichen ein komplexes strukturelles Zusammenspiel entfalteten kann. Die Diskussion führte zu einer weiteren Erörterung von Funktion und Bedeutung dieser ,Fiktionsbrüche‘ und fragte, ob dieser Begriff nicht zu stark von einem mimetischen Verständnis von Malerei und damit von einer modernen Perspektive ausgehe. Damit würde ein mimetisches Konzept auf Giotto projiziert, dessen Schaffen noch einem allegorischen Verständnis verhaftet ist. Wie Krüger präzisierte, findet sich der konstatierte Fiktionsbruch jedoch nicht zwischen Nachahmung und Original, sondern zwischen der Fiktion einer steinernen Skulptur, die nur gemalt ist, und dem gegenläufigen künstlerisch hervorgerufenen Eindruck einer Belebtheit der Figuren. Allerdings, so ein Hinweis, sollte man hier weniger von einem Bruch oder einer Irritation des Betrachters sprechen, als vielmehr von einer Verstärkung, die aus der Doppelung von Skulpturhaftigkeit und Lebendigkeit resultiere. Die Paradoxie dieser Doppelung ließe sich also unterschiedlich bewerten. Zweifel wurden weiterhin an der Verwen-
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dung des Begriffs der figura geäußert, den Krüger hier allerdings nicht speziell im Auerbachschen Sinn verwendet2, sondern der bereits bei Giottos Zeitgenossen als ein Begriff zu finden ist, der differenziert mit Auerbach in Beziehung zu setzen wäre. Aus Sicht der Performanzforschung wurde eine Lesweise der Wirkung der gesamten Arenakapelle auf den Betrachter vorgeschlagen. Mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts am Ende des Schiffes, den Sünden auf der einen Seite und den Tugenden gegenüber, fände sich der Betrachter in eine Art von Psychomachie eingebunden. Er wäre im Angesicht der Gerichts gezwungen, zwischen den beiden Seiten zu wählen. Sebastian Neumeister betrachtet in seiner Vorlage das Comulgatorio von Baltasar Gracián vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen der mystischen Schau (visio corporalis) jenseits von Intellekt und Sprache und der intellektuell vermittelten Schau des Transzendenten (visio spiritualis). Während Ignatius von Loyola bemüht war, die Schau des Transzendenten aus einer mystischen Erfahrung heraus durch eine elaborate Psychotechnik zu steuern, ging es Baltasar Gracián in seiner Schrift mehr um die Rolle des Affekts als des Ingeniums; während Ignatius eine sinnlich-körperliche Realisierung der Gedanken beim Exerzitanten zurückwies, nutzte Gracián die Bereiche der Physis und der Sinnlichkeit für seine Form der Schau. Der bewussten ,Stillosigkeit‘ des sachlichen Handbuchs von Ignatius trat der überbordende Stilwille des Comulgatorio gegenüber, in dem Neumeister die Entstehung einer produktiven barocken Ästhetik der Sinnlichkeit erkennt. Literatur, so Neumeister, löse sich hierin von ihrer Dienerfunktion gegenüber der Theologie und erreiche ästhetische Autonomie. Diese Überlegung zur ästhetischen Autonomie stand auch im Mittelpunkt der Diskussion. Graciáns neue Ästhetisierung, so die Kritik, sei unzweideutig auf theologisch-religiöse Ziele hin funktionalisiert. Seine artifizielle und stilisierte Rhetorik nutze Ästhetik für religiöse Ziele, so dass man, wie vorgeschlagen wurde, weniger von einer Autonomisierung der Ästhetik als vielmehr von einer ,Ästhetisierung der Theologie‘ sprechen könne. Wie bereits in der Diskussion der Vorlage von Johnston wurde eine Autonomie der Kunst als Denkfigur der Moderne identifiziert, die erst als Konsequenz des Rationalismus von Descartes3 entstanden sei und in 2 3
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendlndischen Literatur, Bern 81988, bes. S. 184. René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. und hrsg. von Lüder Gräbe. Hamburg 1960.
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deren Nachfolge ab dem 18. Jahrhundert Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin entstehen konnte. Als ein weiteres Argument gegen die Autonomievermutung im Ästhetikverständnis von Gracián wurde die Genealogie des Kantischen Denkens zur Ästhetik angeführt, das gleichsam von der Gegenseite, das heißt von protestantischen Traktaten des 17. Jahrhunderts, beeinflusst wurde. Es handele sich jedoch, so Neumeister, bei Gracián um eine erkennbare Tendenz zur Autonomie, in der sich Kunsthaftigkeit Freiräume auch innerhalb der Theologie schaffe. Ein solches Entdecken von Freiräumen des Ästhetischen sei allerdings, so ein weiterer Einwand, eher in den frühen Werken Graciáns zu vermuten als im Comulgatorio, seinem letzten Werk, in dem sich allenfalls noch Reste ästhetischer Autonomie fänden. Mit Bezug auf die Vorlage von Susanne Köbele wurde vorgeschlagen, eine siebte Funktion innerhalb der Taxonomie von Roman Jakobson4 zu benennen. Diese solle in Anlehnung an die poetische und die phatische Funktion sowohl der locutio emphatica als auch der Affektbetonung, wie sie sich bei Gracián findet, Rechnung tragen. Eine solche Funktion zu fassen sei eine Aufgabe, die sich aus dem gesamten Symposium ableiten ließe. Ebenfalls an die Methodik der Tagung insgesamt richtete sich die Frage, inwiefern in den Beiträgen eine Wertung zwischen religiöser und literarischer Kommunikation zu Gunsten der literarischen Kommunikation impliziert sei, was einer modernen Sichtweise entspräche, dem mittelalterlichen Gegenstand jedoch nicht gerecht werde. Der Beitrag von Niklaus Largier zu mittelalterlicher Exegese und Gebetspraxis nimmt seinen Ausgang einerseits von einem Streben nach einer die Seele zu Gott erhebenden visio intellectualis und andererseits von der Tradition einer Versinnlichung der Schrift. Die Vorlage deckt hierbei die Produktion eines ästhetischen Mehrwerts auf; eines semantischen Überschusses, den es zu kontrollieren gilt. Der in dieser Sektion intensiv diskutierte Begriff der Autonomie wird hierbei allerdings höchstens als heuristische Bezeichnung verwendet, um das kenntlich zu machen, was hier nach Kontrolle verlangt. Diese Problemlage lässt sich etwa für Origenes und Gregor von Nyssa am Beispiel des Hohelieds illustrieren, dessen Lektüre oft als allzu erotisch empfunden wurde. Das Verfahren, mit dem diesen Lektüren begegnet 4
Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1971, S. 142 – 178.
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wurde, wird üblicherweise als ,Allegorese‘ beschrieben, was allerdings den deutlichen Einbezug einer Versinnlichung der Lektüre, die sogar direkt mit dem Begriff der aisthesis bezeichnet wird, übersieht. Diese Gegenüberstellung wurde in der Diskussion als eine komplementäre Beziehung präzisiert, in der die Allegorie einen Aufstieg des Textverständnisses bedeutet, während die Kontemplation als Abstieg des Verstehens ins Sinnliche begriffen werden kann. Die Schrift wird zwar allegorisch deutbar, doch kann und darf sie nie vollständig verstehbar werden. Zum Verständnis muss neben der allegorischen Deutung dem sinnlich-emotionalen Effekt der Schrift Raum gewährt werden. Der so produzierten Sinnlichkeit kommt der Status einer Habitusformung zu, die affektive Erfahrungen als eine zentrale Wahrnehmungsform gelten lässt. Den produzierten Erfahrungen wird eine Phänomenologie, ein Beobachtungssystem dieser Bewusstseinszustände gegenübergestellt. So führt in der monastischen Tradition die Anerkennung einer steten Ambiguität, eines steten Bedeutungsüberschusses in der Exegese, zur Entwicklung unterschiedlicher Kontrollmechanismen. In der Diskussion wurde dieser Gedanke einer produktiven Ambivalenz fortgeführt. Ambivalenz sei hierbei nicht nur ein Effekt der Rhetorik, sondern mit dem Kontemplationsdenken verbunden, das insbesondere für die angestrebte Höhe der contemplatio einen umfassenden Kontrollverlust konzipiert. Hier liegt auch ein Anknüpfungspunkt an den in der Vorlage Köbele diskutierten Begriff der locutio emphatica. In Meister Eckharts berswanc und Seuses einhegender Zähmung von Eckhart zeigt sich ebenfalls ein Mehrwert, ein Kippen zum Übermaß und zu wilder Freiheit, der Kontrollmechanismen hervorruft. In den betrachteten Gebetsanleitungen hält die Evokation des spirituellen Sinnes der Schrift diesen immer im Prozess und lässt ihn in ständiger Überwindung nie fest werden. Zur Erwirkung einer persuasio, in der dem Affekt eine zentrale Rolle zukommt, greift die Tradition bei dieser Vergegenwärtigung auf ihr rhetorisches Erbe zurück. Eine solche Versinnlichung ist natürlich immer verdächtig, und so ist dies auch der Punkt, an dem die von Largier beschriebene Phänomenologie des Produzierten einsetzt. Es wurde zu bedenken gegeben, dass neue Erfahrungen etablierte Kontrollinstanzen unweigerlich zuerst scheitern lassen, da diese noch über kein passendes Sensorium verfügen können. Zudem tendiere eine verschärfte Kontrolle zu einem ethischen Kippen, in dem die Kontrollinstanz beziehungsweise der Kontrollmechanismus selbst zum Moment der Lust und der Sünde werde. Abschließend wurde die Frage nach dem Status eines Verständnisses gestellt, das nur durch die Sinne
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gewonnen werden kann, nach der Vergleichbarkeit einer rhetorisch manifestierten und einer rhetorisch induzierten Erfahrung. Die Tradition, so Largier, sei sich der Künstlichkeit dieser Prozesse bewusst gewesen und habe eine aktive Auseinandersetzung mit den Texten vorgegeben. Über diese Lektüretechniken sollten dann neue Formen spontaner Erfahrung generiert werden. Allegorese sei hierbei nicht nur ein Vorgang didaktischer Verbildlichung, sondern besitze zugleich einen dezidiert performativen Aspekt und zeitige so einen emotionalsinnlichen Effekt, der einen gleichsam ,dämonischen‘ Überschuss immer evoziert und mitproduziert.
Kiening, Reliquie und Text
Abb. 1 Holzschnitt von Albrecht Altdorfer zu: Kaiser Maximilian, Ehrenpforte, 1515.
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Abb. 2
Christian Kiening
Holzschnitt von Hans Burgkmair zu: Kaiser Maximilian, Weisskunig, um 1515.
Kiening, Reliquie und Text
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Abb. 3 Titelblatt der Versausgabe des Grauen Rocks, Augsburg: Froschauer 1512.
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Kiening, Reliquie und Text
Abb. 4 Titelblatt der Prosaausgabe des Grauen Rocks, Augsburg: Othmar 1512.
Schreiner, Bildhafte Kommunikation
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Abb. 1 Die Awaren belagerten 626 Konstantinopel, die Hauptstadt des byzantinischen Reiches. Um die Angreifer abzuwehren, wurde in einer Prozession die Ikone der Jungfrau aus der Blachernenkirche auf den Verteidigungsmauern der Stadt umhergetragen. Die als Schutzfrau von Byzanz verehrte Jungfrau der Blachernenkirche bewirkte, dass die Awaren die Belagerung aufgaben und sich zurückzogen. Auch bei der Belagerung von Konstantinopel durch die Araber (717), durch die Russen (864) und die Bulgaren (926) soll die Ikone der Jungfrau Maria der Blachernenkirche die Belagerer in die Flucht geschlagen haben. – Fresko an der Außenwand des Moldauklosters Moldovit¸a (1537).
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Klaus Schreiner
Abb. 2 Votivtafel von St. Lambrecht (um 1430): Sieg König Ludwigs des Großen von Ungarn (1326–1382) über die Türken (1375).Vor der Schlacht ließ er vor seinem Heer ein Bild der Gottesmutter einhertragen und besiegte dank Marias Hilfe, der Schutzpatronin Ungarns, mit seinen 20 000 Soldaten das viermal stärkere Heer der Türken. Unter dem weiten Mantel der in der linken Bildhälfte dargestellten Schutzmantelmadonna suchen geistliche und weltliche Standespersonen Schutz und Hilfe. Die junge, vor Maria kniende Frau wurde bislang für König Ludwigs Tochter Hedwig gehalten, die Maria um den Sieg für ihren Vater bittet. Neuerdings gilt sie als die hl. Hemma von Gurk, die Stifterin der Bischofskirche von Gurk, die zu St. Lambrecht enge Beziehungen pflegte. – Steiermärkisches Landesmuseum Johanneum, Graz.
Abb. 3 Tympanonrelief am gotischen Hauptportal der Wallfahrtskirche von Mariazell (um 1438). In ihrer Eigenschaft als Schutzmantelmadonna verhilft Maria König Ludwig I. von Ungarn zum Sieg in der Reiterschlacht gegen die Türken.
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Abb. 4 Ausschnitt vom Kleinen Mariazeller Wunderaltar (1512): König Ludwig der Große von Ungarn besiegt 1375 mit Marias Hilfe die Türken. – Steiermärkische Landesmuseum, Graz.
Abb. 5 Ausschnitt vom Großen Mariazeller Wunderaltar (um 1519): König Ludwig der Große besiegt 1375 mit Marias Hilfe die Türken. – Steiermärkisches Landesmuseum Johanneum, Graz.
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Abb. 6 Der Traum König Ludwigs des Großen von Ungarn, Ölbild, das von Markus Weiß († 1641) zwischen 1622 und 1626 gemalt wurde. Am rechten Bildrand schläft König Ludwig; auf seiner Brust liegt das Schatzkammerbild von Maria Zell. In der Bildunterschrift heiß es, Maria habe ihm zum zeichen der gewissen / victori sein liebes Maria bild in schlaff auf die brust gelegt. In der mittleren Szene betet der König vor dem Marienbild. Im Hintergrund rüstet sich das ungarische Heer zur Schlacht. Um den Soldaten Mut zu machen, zeigt der König den zum Kampf entschlossenen Soldaten das Marienbild. – Das Bild befindet sich auf der Empore der Basilika von Maria Zell (Steiermark).
Schreiner, Bildhafte Kommunikation
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Abb. 7 Das siegbringende, von böhmischen Ketzern geschändete Marienbild, dem die katholische Liga ihren Sieg über den Winterkönig Friedrich von der Pfalz, die protestantische Union und den böhmischen Adel in der Schlacht auf dem Weißem Berg bei Prag verdankte (1620). Die linke Bildhälfte zeigt das von dem Karmelitenpater Dominicus a Jesu Maria gefundene Marienbild, das wegen seinen siegbringenden Wirkungen als Vnser liebe Fraw zu dem Sig bezeichnet wurde. Die rechte Bildhälfte zeigt ein Halbportrait des Karmeliten Dominicus a Jesu Maria mit einem Kruzifix und dem Marienbild in Händen. Darunter befindet sich eine Abbildung der Schlacht auf dem Weißem Berg. – Einblattdruck der Bayerischen Staatsbibliothek, München.
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Klaus Schreiner
Abb. 8 Herzog Maximilian und Dominicus a Jesu Maria reiten in der Schlacht auf dem Weißen Berg dem Heer voraus. Der Karmelitenpater Dominicus a Jesu Maria hält ein Kreuz in seiner rechten Hand; auf seiner Brust ist das um seinen Hals gehängte Bild Marias zu sehen, das er in der Deutschordenskommende Strakonitz gefunden hat. Über den beiden Reitern schwebt ein Engel, der ein Schwert und eine Siegespalme in seinen Händen hält. Die gereimte Bildunterschrift charakterisiert Dominicus a Jesu Maria als himmlischen Mann, der das Bild Christi und das Bild Marias dem Heer vorausträgt. Seine Botschaft lautet: Wo Christus und Maria gegen die Feinde der Kirche streitten und kriegen, wird deren militärisches Underfangen keinen Erfolg haben. – Illustration zur Lebensbeschreibung des Dominicus a Jesu Maria, die der Münchener Jesuit Maximilian Rassler in die von ihm 1714 von neuem zum Druck gebrachte Bavaria Sancta aufnahm. – Foto: Bayerische Staatsbibliothek, München.
Schreiner, Bildhafte Kommunikation
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Abb. 9 Pater Dominicus a Jesu Maria, bildbeherrschend dargestellt mit seinen Siegeszeichen Kreuz und Marienbild, reitet in der Schlacht auf dem Weißen Berg allein dem Heer voraus. Kupferstich des Wiener Kupferstechers Franz Leopold Schnitners aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.
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Klaus Schreiner
Abb. 10 Das Bild der siegbringenden Gottesmutter Maria wurde am 8. Mai 1622 von der Kirche S. Maria Maggiore in Rom in einer feierlichen Prozession in die damals vollendet Karmelitenkirche S. Paolo übertragen. Die in der Schlacht auf dem Weißen Berg erbeuteten Fahnen, 45 an der Zahl, wurden um die Kirche herum aufgepflanzt und dies zu ewiger Gedächtnus dises glückseligen Tags / an welchem so merckliche Victori durch Fürbitt der Mutter Gottes / in dieser jrer Bildnuß erhalten. In der Bildunterschrift wird das Bild als Bild der Maria de victoria charakterisiert, weil es in dem Prager Krieg den Katholiken den wunderbaren Sieg über die Häretiker schenkte. Die Bildüberschrift Terribilis vt castrorvm acies ordinata (Furchtgebietend wie eine geordnete Schlachtreihe) und die Bildunterschrift Da mihi virtvtem contra hostes tvos (Gib mir Kraft gegen deine Feinde) sind vielgebrauchte Zitate aus der marianisch geprägten Glaubens- und Kriegspropaganda des gegenreformatorischen 17. Jahrhunderts. – Foto: Bayerische Staatsbibliothek, München.
Schreiner, Bildhafte Kommunikation
Abb. 11 „Gnaden Biltd Maria Bötz bey St. Stephan in wienn“. Gnadenbild der weinenden Maria von Maria Pötsch (Máriapócs) in Oberungarn, das 1697 auf Geheiß Kaiser Leopolds in den Wiener Stephansdom übertragen wurde – Andachtsgraphik (17. Jh.), Diözesanmuseum, Hofburg Brixen.
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Schreiner, Bildhafte Kommunikation
Abb. 12 Maria, die sich in dem weinenden Marienbild aus Pötsch als „ MATER LACHRYMARUM“ (Mutter der Tränen) offenbarte. Zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten sind Beutefahnen mit dem türkischen Halbmond aufgepflanzt, die sie als Siegerin über die Türken erscheinen lassen. Die Bildunterschrift „CAUSA NOSTRAE LAETITIAE“ (Ursache unserer Freude) stammt aus der Lauretanischen Litanei und nimmt Bezug auf ein Predigtthema Abrahams a Sancta Clara. Die untere Bildhälfte zeigt die Schlacht von Zenta in der die Pötscher Maria dem Prinzen Eugen 1697 zum Sieg verholfen hat. Das über die erbeuteten Waffen gelegte Schriftband erinnert an diesen Sachverhalt. Die Inschrift des Schriftbandes lautet: „VICTORIA AD ZENTAM 1697“ (Sieg bei Zenta 1697). Die erbeuteten Waffen werden Maria als Votiv- und Dankesgaben dargebracht – Bildnachweis: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kapsel 1735, Nr. 203.
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Abb. 1 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Blick zum Altarraum
Abb. 3
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Abb. 2 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Blick zur Eingangsseite
Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Beweinung Christi
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Klaus Krüger
Abb. 4 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Tugenden der Sockelzone: Prudentia, Fortitudo, Temperantia, Fides
Abb. 5 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Laster der Sockelzone: Desperatio, Stultitia, Ira, Infidelitas
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Abb. 6 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Eingangsinnenseite: Weltgericht
Abb. 8 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305
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Abb. 7 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Weltgericht: Ausschnitt mit Stifterfigur des Enrico Scrovegni vor der Hl. Maria
Abb. 9 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Prudentia
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Klaus Krüger
Abb. 10 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Invidia
Abb. 11 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Caritas
Abb. 12 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Spes
Abb. 13 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Infidelitas
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Abb. 14 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Stultitia
Abb. 15 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Desperatio
Abb. 16 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Giustizia
Abb. 17 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Ingiustizia
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Abb. 18 Giotto, Ognissanti-Madonna, Florenz, Uffizien, ca. 1305-10
Abb. 19 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Giustizia, Ausschnitt mit den Folgen der Gerechtigkeit
Abb. 20 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Sockelzone: Ingiustizia, Ausschnitt mit den Folgen der Ungerechtigkeit
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Abb. 21 Florentinisch, Die Vertreibung des Herzogs von Athen (Fresko), Florenz, Palazzo Vecchio, 1343
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Abb. 22 Andrea di Bonaiuto, Die Einsetzung der Confraternità della Misericordia durch den Hl. Petrus Martyr, Florenz, Museo del Bigallo, ca. 1360
Klaus Krüger
Abb. 24 Venezianisch, Thronende Hl. Anna Selbdritt übergibt Banner an Bruderschaftsangehörige (Miniatur), Mariegola der Scuola di S. Anna, Venedig, Archivio di Stato (Scuole piccole e Suffragi 24, fol. 1r), 1351
Abb. 23 Venezianisch, Einsetzung einer Bruderschaft durch die Hl. Fosca (Relief ), Torcello, S. Fosca, 1407
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Abb. 25 Der Hl. Ambrosius übergibt Speerbanner an einen Ritter, Gebetbuch des Bischofs Arnulf II., London, British Museum (Ms. Egerton 3763, fol. 121v), Anf. 11. Jh.
Abb. 26 Verona, S. Zeno, Westportal, ca. 1138, Ausschnitt mit Tympanonrelief: Der Hl. Zeno übergibt die militärischen Banner an das Kriegsvolk von Verona
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Abb. 27 Florentinisch, Die Vertreibung des Herzogs von Athen (Fresko), Florenz, Palazzo Vecchio, 1343, Ausschnitt mit der Ansicht des Palazzo Vecchio
Abb. 28 Florentinisch, Die Vertreibung des Herzogs von Athen (Fresko), Florenz, Palazzo Vecchio, 1343, Ausschnitt mit dem leeren Thron des Herzogs von Athen und dessen Vertreibung
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Abb. 29 Giotto, Arena-Kapelle, Padua, ca. 1305, Eingangsinnenseite, Weltgericht: Ausschnitt mit dem thronenden Weltenrichter
Abb. 30 Carlo Lasinio, Der Sturz der rebellischen Engel, Kupferstich nach dem ehem. Fresko von Spinello Aretino in Sant’Angelo in Arezzo (Ende 14. Jh.), 1822
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Klaus Krüger
Abb. 31 Ambrogio Lorenzetti, Buon Governo (Fresko), Siena, Palazzo Pubblico, Sala dei Nove, 1338-39
Abb. 32 Ambrogio Lorenzetti, Mal Governo (Fresko), Siena, Palazzo Pubblico, Sala dei Nove, 1338-39
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Abb. 33 Giovanni di Agostino und Angelo di Venturi, Grabmal des Bischofs Guido Tarlati, Arezzo, Dom, 1328, Ausschnitt: Il Comune pelato (Relief)
Abb. 34 Giovanni di Agostino und Angelo di Venturi, Grabmal des Bischofs Guido Tarlati, Arezzo, Dom, 1328, Ausschnitt: Il Comune in Signoria (Relief)
Abbildungsnachweis: KHI Florenz: 21, 27, 28; KHI der FU Berlin: 1-17, 19-20, 29, Soprintentendenza B.A.A.A.S. Arezzo: 33, 34; Soprintentendenza B.A.S. Firenze: 18, 22; Soprintentendenza B.A.S. Siena: 31, 32; alle übrigen Abbildungen stammen aus dem Archiv des Verfassers.
Autoren- und Werkregister Abélard, Peter 6, 12 Abgetrocknete Thraenen 864f., 869–875 Abraham von Sancta Clara 865–868, 1026 Acta Sanctorum 614 Adelung, Johann Christoph 101f. Aegidiuslegende 414 Aelred von Rievaulx 360 – Sermones 628f. – Speculum caritatis 524f. Albertanus von Brescia 183 Albertus Magnus 77, 359, 985 Alexiuslegende 37, 521, 607–657 Alsfelder Passionsspiel 794–816 Altdorfer, Albrecht 386, 1013 Amalar von Metz 349–351, 358–361, 367f. Ambrosius 305, 923 Ambrosiuslegende 39 Angelus Silesius 121, 990, 998 Anselm von Canterbury 955 Arialdus von Varese 306 Ariost 11, 213–221, 278f. Aristoteles 184, 188, 268ff., 367, 488, 710, 809, 1004 Arme Hartmann, Der 423 Arndt, Johann 120 Arnold von Harff 468–470, 500 Arundel, Thomas 833, 837 Augustinus 11, 39, 231, 244, 280f., 305, 309, 340, 362, 430 – Confessiones 6, 12, 202, 309, 770, 954f. – De doctrina Christiana 438 – De praesentia Dei 517 Averroes 985 Avicenna 81f. Basilius der Große 340 Beda Venerabilis 362
Bembo 4, 185 Benedikt von Nursia 312, 955 Benedikt XVI., Papst IX Benediktsregel 430, 435, 437f., 519 Berengar von Tours 456 Bernhard von Clairvaux 12, 360, 550, 560f., 895 Bernhardinus von Siena 916 Berthold von Regensburg 703 Bischoff, Johannes 584 Boccaccio, Giovanni 832, 839 – Decamerone 832, 904f. – Filostrato 832 – Teseida 832 – Trattatello in laude di Dante 832 Boethius 183, 193 Böhme, Jakob 14–16, 89–123, 276 Bonaventura 980f. – De triplici via 981, 985 – Itinerarium mentis in Deum 981, 985 Boppe 694–697, 699, 702f., 710, 775 Bordesholmer Marienklage 816 Bossuet, Jacques Bénigne 946, 951 Bourdaloue, Louis 951 Bradwardine, Thomas 841 Brant, Sebastian 25 Brlure 522, 717–724 Bruni, Leonardo 221 Buch von der geistlichen Armut 964 Buhlschaft auf dem Baume, Die 741, 748–754, 778 Franziskusregel 304 Burkmair d. Ä., Hans 386, 1014 Caesarius von Heisterbach 523, 849 Calderón de la Barca, Pedro 946, 948–950 Campanella, Thomas 219f. Cantilena de conversione S. Pauli 423 Capella, Martianus 437
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Autoren- und Werkregister
Capitulare missorum 350 Caramuel, Johannes 862 Cassian, Johannes 955 Celan, Paul 74f. Cellini, Benvenuto 6 Chaucer, Geoffrey 817–843 – The Canterbury Tales 788f., 817–843, 1004 – Legend of Good Women 834 – Troilus and Criseyde 831, 834 Choniates, Niketas 867 Chrysostomos, Johannes 317 Cicero 193 Cloud of Unknowing 965 Cölestin, Papst 332 Comenius, Johann Amos 105 Conway, Lady Anne 105 Crescentialegende 423 Crespin, Jean 45 Cusanus, Nicolaus 116f., 887 Czepko, Daniel 117, 122 Dandina, Guillelmus 541, 561ff., 571 Dante Alighieri 4, 7f., 10–12, 19, 91, 184, 268f., 281, 832, 1005 – Convivio 7, 184, 187–192, 227–245, 269f., 279f. – La Dvina Commedia 906 – Vita Nova 7f., 192–203 David von Augsburg 791, 952, 957, 959, 963, 966 – De compositione 953, 960–962 – Septem gradus orationis 953, 956f., 980 Decretum Gratiani 361 Diderot, Denis 313 Dietrich von Freiburg 985 Dionysius Areopagita 96, 117, 997 Dionysius der Karthäuser 964f. Disciplina clericalis 739f. Donaueschinger Passionsspiel 803 drei Mçnche von Kolmar, Die 730 Durandus, Wilhelm 885f. – Pontificale 885 – Rationale divinorum officiorum 287, 324f., 327–342, 345, 347–362, 364–370, 507, 597f., 886
Eilhardt von Oberg 415, 425 Elsssische Legenda Aurea, Die 397, 617, 619f., 632–634, 638, 643f., 655f. Enen, Johannes 408f. Epigrammata priorum Grandimontensis 563 Erkenntnis der Snde 584, 593ff. Eugarius Scholastikos 482 Eugeniuslegende 341f. Euphrosynenlegende 619, 633, 639 Eustachiuslegende 638, 641 Fabliaux dvots 712ff., 776f. Fleck, Konrad 442, 645 Florus von Lyon 361, 367 Fludd, Robert 100 Fornication imite 717, 726–731 Fortunatus 391 Foxe, John 45 Franckenberg, Abraham von 92, 94 Frankfurter Dirigierrolle 467, 500 Frankfurter Passionsspiel 808 Frauenlob 708, 711 Friedrich von Sonnenburg 693f. Fritsch, Sabinianus 895 Fritzralph, Richard 888 Froschauer, Hans 391 Frsten Regel, Der 592 Galateo 221 Galilei, Galileo 9–12, 97, 221, 969 Gnslein, Das 717, 727–731, 757 Gaufredus Grossus 528 Gelasius, Papst 332 Georg von Pisidien 847 Gerson, Johannes 96, 792, 964, 966–968 Gesta Romanorum 638, 653 Gesta Treverorum 385 Giotto di Bondone 790, 904f., 909, 1007 Gottfried von Strassburg 287, 290, 451, 460, 470–475, 477, 481, 501, 514 Gottsched, Johann Christoph 101 Gower, John 831 Gracián, Balthasar 791, 948f., 951
Autoren- und Werkregister
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– Agudeza y arte de ingenio 951 – El Comulgatorio 940–947, 950, 952, 1008 – Orculo manual 952 Graue Rock, Der 288, 371–410, 509, 513 Gréban, Arnould 384 Gregor der Große 332, 485, 748, 846f., 849–851, 883 – Dialogi 613, 623 – Regula pastoralis 304–306, 475 Gregor von Nyssa 1009 Gregor von Tours 482, 485 Gregoriuslegende 29 Greutter, Christoph 859 Grote, Geert 964 Gui, Bernardo 312 Guitmund von Aversa 457 Gumppenberg, Wilhelm 900 Gute Frau, Die 521, 640, 657–687, 774
Historia von D. Johann Fausten 22f., 25–61, 114, 272 Hoccleve, Thomas 829 Hohelied 872, 954f., 958, 1009 Holtzhausen, Johann Christoph 108 Homer 223 Hondorff, Andreas 45 Honorius Augustodunensis 364f., 484 Horaz 6, 271 Hugo von St. Victor 368, 513 – De sacramentis 435 – Didascalicon 430, 434, 438 Humbertus a Romanis 304–306 Hunnius, Nicolaus 95 Hus, Johannes 852, 888
Hadewijch 961f., 962, 965, 967 Halbe Birne, Die 737 Hartmann von Aue – Erec 418, 477 – Gregorius 626, 665, 668, 672 – Iwein 439–444, 447f., 477, 512 Heiligen Leben, Der 617–619, 622, 629, 632f., 637, 639f., 644, 646f., 649, 655f. Heinrich, Verfasser der Litanei 423 Heinrich von dem Türlîn 445f. Heinrich von Friemar 964f., 965–967 Heinrich von Kepelen 850f. Heinrich von Kettelbach 410 Heinrich von Langenstein 964 Heinrich von Mügeln 290, 459–466, 500, 708 Heldenbuch, Heldenbuchprosa 390 Héloise 6 Henry von Huntington 873 Herger 692f. Hermann von Fritzlar 617, 636, 643, 649, 655f. Hildebert von Tours 183 Hinckelmann, Abraham 99, 101, 108 Historia monasterii de Fontanis Albis 529
Jacobus de Voragine 29, 39, 50, 341, 396f., 637, 655, 850 Jakobus von Mies 887 Johann von Würzburg 618 Johanneslegende 633 Johannes vom Kreuz 930f., 975 Jordan von Wasserburg 890 Judaslegende 29ff. Jdel, Das 490–492, 494 Judenknabe, Der 290, 460, 482–494, 496, 501, 503–505, 514 Jdin und der Priester, Die 460, 482, 493–496, 500f.
Ignatius von Loyola 791, 932ff., 940–945, 952, 1008 Image de pierre 727 Isaac von Stella 343f. Ithier, Gérard 571
Katharina von Siena 964f. Kempe, Margery 829 Kepler, Johannes 97 Klopstock, Friedrich Gottlieb XVI Konrad von Fußesbrunnen 411, 511 Konrad von Heimesfurt 411 Konrad von Sachsen 991 Konrad von Würzburg 688, 693 – Alexius 607f., 617–622, 627–630, 638–640, 642–644, 650–652, 656, 757f. – Der Welt Lohn 446f., 512
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Autoren- und Werkregister
Konrad, Pfaffe 136, 421 Kopernikus, Nikolaus 97, 106 Lambrecht, Pfaffe – Tobias 415, 425 – Alexander 289, 418f., 423f. Langland, William 837, 840 Lauber, Diebold 389 trois Dames qui trouverent un Vit, Le 759 Leopold von Wien 584 Lercheimer, Augustin 46f., 49, 55 Leucht, Valentin 502 Liber de causis 990 Liber Ordinarius von Lüttich 344 Libri Carolini 367 Litauer, Der 460, 482, 497–501 Lohenstein, Daniel Casper von 946 Lorenzetti, Ambrosio 927 Luis von Góngora 946 Lukian von Samosata 784f. Luther, Martin 34, 40–43, 46–49, 106, 120, 317–320, 457, 507 – Ave Maria des Betbchleins 41 – Etlich Artikel … 42 – Lgend von S. Johanne Chrysostomos 43 – Magnificat verdeutscht und außgelegt 41 – Schmalkaldische Artikel 42 – Sermon von der bereitung zum Sterben 41 – Tischreden 55 – Unterricht auf etlich Artikel 41 Madonna di Praga 862 Magnum Legendarium Austriacum 614, 617, 621, 629f., 637, 640, 644, 647f., 655 Mai und Beaflor 521, 658–689, 774 Malaquin 522, 717–724 Manhardt, Anselm 893f. Mann, Thomas 245–268, 281 Mannesdorffer, Johannes 855 Marbod von Rennes 536–548 Margaretalegende 632f. Maria Aegyptiacalegende 631 Marinalegende 632 Marino, Giambattista 946
Marlowe, Christopher 274 Marner, Der 690f., 694, 697, 703, 708–710, 775 Marquard von Lindau – De fide 999 Mrterbuch, Das 617, 620, 636, 643, 645f., 648f., 655, 657 Matthiaslegende 29 Maximilian I., Kaiser 385–287, 391, 402 Maximilian II., Kaiser 899 Mechthild von Magdeburg 63f., 760, 960f., 964f., 968 Meißner, Der 709 Meister Eckhart 12–15, 20, 62–88, 118, 274, 790f., 955f., 965f., 974, 976–991, 995, 1010 – Buch der gçttlichen Trçstung 84 – Erfurter Reden 68f., 71, 76–78, 84 – Verteidigungsschrift 977, 982, 988 – Von abegescheidenheit 81 Melanchthon, Philipp 42, 48f. Merseburger Zaubersprche XVI Miserere 958 Missale Ambrosianum 341 Missale Gregorianum 341f. Misterium Fidei 368 Moller, Martin 104 Mombaer, Jan 964 Mönch von Salzburg 575, 585 More, Henry 105 Moyker, Heinrich II. 855 Muling, Johann Adelphus 408f. Murner, Thomas 25 Muskatblut 703 Nas, Johannes 45, 48 Neidhart 704 Newton, Isaac 97 Nikolaus von Dresden 852, 887f. Nonnenturnier, Das 525, 737, 741, 754–762, 778 Origines 315–320, 959, 1009 Oswaldlegende 394, 420 Otfrid von Weißenburg 696 Othmar, Hans 391, 406 Ovid 230, 242f.
Autoren- und Werkregister
Pamplicher, Norbert 884 Paravicino, Hortensio Félix 951 Paschasius Radbertus 484 Passional 491, 494, 632, 655 Paulus Eremitalegende 631 Pecock, Reginald 835 Peter von Ailly 964 Petrarca, Francesco 6, 10f. – Rerum vulgarium fragmenta 204–213 – Secretum 6, 183, 279, 907 Petruslegende 29 Peuntner, Thomas 584 Pilatus 423 Platon 270, 488 Polster, Georg 888 Pontano, Giovanni 221 Porete, Marguerite 964f. Prokop von Templin 850, 891, 894 – Maria Hlff ob Passaw Gnade – Lust – Garten 891 – Mariale 850, 891–893 Proudhon, Pierre-Joseph 314f. Pseudo-Dionysius 958 Pseudo-Marner 709 Quintilian 980 Rabus, Ludwig 45, 49 Raphael von St. Joseph 858 Rathramus von Corbie 456 Rauscher, Hieronymus – Hundert Außerwelte … Papistische Lgen 43f. – Der Judenknabe 501 Reinmar von Zweter 693, 697–703, 705, 710, 775 Richard de Bury 430 Rosenroman, Der 826 Rother 419, 421 Rousseau, Jean-Jacques 6 Rudolf von Biberach 791, 953, 958–960 Rudolf von Ems 613 Rupert von Deutz 338f., 344f., 350, 352, 369 Ruysbroek, Jan 930 Rypke, Jörg 311
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Sadeler, Rolf 859 Schatzkammerbild, Das 856f., 1020 Schelhammer, Johann 117 Schmitner, Franz Leopold 861 Scopf von dem lone 422f. Scultetus, Bartholomäus 104 Secretum secretorum 592 Septem mulieres 760 Seuse, Heinrich 70, 793, 964, 976, 992–1002, 1010 – Buch der Wahrheit 68, 118, 992ff. – Vita 436, 990, 996ff. Siger von Brabant 8 Silvesterlegende 414 Spalatin, Georg 42 spiegel des sunders, Der 888 Spies, Johann 47 St. Trudperter Hohelied, Das 953 Stagel, Elsbeth 996 Stephan von Liciac 563f. Stolle 691 Straßburger Alexander 424 Stricker, Der – Das Ehescheidungsgesprch 741, 763–770 – Karl 421 – Der Kluge Knecht 740–747 Strode, Ralph 831 Suchenwirt, Peter 575, 584, 589 Tagzeitengedicht 415 Tauler, Johannes 87, 117f., 120 Teichner, Der 704f. Teresa von Ávila – Camino de perfeccin 831 – Libro de la vida 931 – Moradas 931, 939 Tertullian 986 – De praescriptione haereticorum 970, 986 Tesauro, Emanuele 950 – Cannocchiale aristotelico 951 Theodoralegende 632, 634 Theologia Deutsch 120 Theophiluslegende 29, 50f., 59–61 Thomas a Kempis 965 Thomasin von Zerclære 440, 460, 475–478, 481, 501, 613
1046
Autoren- und Werkregister
Thomas von Aquin 9, 849 Tirol und Fridebrant 695 Floyris, Trierer 414 Tschesch, Johann Theodor 118 Twelve Conclusions of the Lollards 831 Uffer, Leza 297 Ulrich von Etzenbach 521, 640, 657–687, 774 Ulrich von Türheim 75 Vterbuch 617, 619–622, 629, 631–634, 640, 643, 655, 657 Vergil 223 Veronikalegende 409 Vertreibung des Herzogs von Athen, Die 920 Vie des Pres 522, 712–732 Villani, Giovanni 928 Vinzenz von Beauvais 874 Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica 972 Vita Stephans von Obazine 548–561 Vita Stephans von Muret 569–571 Vita Bernhards von Tiron 530 Vitae Patrum 715f., 718ff., 776 Vondel, Jost van den 946 Vorauer Handschrift 276 289, 413, 416, 423 Waldes, Thomas 846
Walther von der Vogelweide 290, 460, 478–481, 501, 514, 690, 693, 702, 707, 709 Wartburgkrieg, Der 708, 710 Weier, Johann 55 Weigel, Valentin 94, 107, 116, 120 Weiß, Markus 856 Wernher, Bruder 710 Whitehouse, Harvey 298f. Wickram, Jörg – Der Goldfaden 273 – Der Knabenspiegel 273 Widman, Georg Rudolff 49, 53, 57 Wido von Mailand 307 Wilhelm von Auvergne 339 Wilhelm von St. Thierry – De natura et dignitate amoris 792, 981, 984 – Meditativae orationes 523, 955 Wilhem von Tyrus 873f. Wirnt von Grafenberg 447 Wolff, Johannes 887f. Wolfram von Eschenbach 16, 162 – Parzival 19–22, 128, 139–143, 154f., 162–182, 287, 279, 477, 511 – Willehalm 16–21, 124–160, 176, 277 Wyclif, John 45, 831, 846, 852, 888 Zeunegg, Christoph 877–879 Zwingli, Huldrych 457
Sachregister Abgeschiedenheit 13–15, 69–71, 82, 84, vgl. Exklusion, Gelassenheit, Vereinzelung Advances, preadaptive 3, 6–8, 14, 18, 23f. Affekt, Emotion XVIII, 133, 202f., 210, 298ff., 437ff., 507, 512, 580, 662, 680, 684ff., 788, 741, 793–816, 912ff., 939ff., 954ff., 974, 979ff., 998, 1003f., 1008ff. Ähnlichkeit, Unähnlichkeit 4f., 7, 96, 103, 185f., 191, 193f., 197, 212f., 221, 224, 242, 331, 354, 368, 375, 384, 510, 664ff., 773, 930f., 963–965 Allegorie, Allegorese 7f., 63f., 91, 96, 134f., 187–221, 223, 227ff., 288, 326–370, 431, 449, 508, 512, 524, 587ff., 697, 700, 715, 723f., 744–746, 754ff., 905ff., 920, 925, 927f., 940, 942–944, 946ff., 952ff., 1007, 1010f. Anthropologie XI, 21, 65, 78, 86, 124ff., 163ff., 211, 229, 581, 608f., 791ff. Askese 7, 43, 80, 158ff., 378, 550ff., 612ff., 628–639, 645, 679, 685f., 717, 720f., 726 Ästhetik X, XIIff., 220, 339f., 376, 406, 510–512, 737, 740, 840ff., 904ff., 940, 948ff., 967ff., 974–976, 980–985, 989, 998, 1001, 1005, 1008f., vgl. Literarizität Aufmerksamkeit, attentio 16, 289, 432f., 436, 438, 441, 443, 447, 449f., 468, 679, 685, 740, 763 Aura XVII, 39, 176f., 285, 289, 371, 381, 387f., 406, 410, 692, 862, 899
Ausdifferenzierung XIf., XV, 4f., 8, 10f., 13, 37, 187ff., 372, 428, 507, 575f., 599, 722, 917, vgl. Pluralisierung Autonomie 166, 789, 840, 949, 951, 1005, 1008f. Barock 791, 856, 874, 898, 946, 948, 950–952, 1008, vgl. Epoche Beichte, Geständnis 22f., 26f., 61, 272f., 470, 468f., 499, 580, 594f., 598, 602, 726, 730, 748, 840–842, vgl. Buße Bewusstsein XII, 19f., 247, 582, 863, 738, 743, 740f., 753, 756, 921, 1010 Bild, Bildtheorie XIII, XVII, 16, 43, 54, 63f., 75ff., 87f., 90f., 96, 111, 116, 118ff., 126, 131, 135f., 159, 278, 287f., 291, 298, 299, 315, 325, 332, 335f., 352, 360f., 363–370, 375ff., 380, 394, 429, 450, 455, 457–459, 464, 475–482, 485–487, 491, 496f., 501f., 508, 512–514, 524, 579, 696, 718, 726, 788, 790f., 802, 848, 851f., 886ff., 905–929, 940, 943, 946, 951f., 960, 984f., 995, 1005, 1007, 1011 Bilderkult, Bildverehrung XIV, 257, 263f., 290, 379, 384, 402, 455–460, 475–477, 482, 484f., 488f., 491f., 459f., 482, 485, 492, 501f., 788, 790, 802, 844–903, 948, 1005f. Braut, Bräutigam, Brautwerbung 289, 340, 390, 393ff., 419f., 607, 615, 618, 626–629, 635, 638–655, 676ff.
1048
Sachregister
Buße 22f., 29f., 32, 39f., 119, 499, 553, 634f., 687, 725f., 729, 748, 758, 841f., vgl. Beichte Calvinismus 7, 23, 859 Chanson de geste, Heldenepik 136, 127, 141, 277f., 663f., 667ff. Charisma XVII, 17, 308–310, 507, 520, 529, 531ff., 772, 790, 917–921, 926 Creatio ex nihilo 107, 249ff. Devotio moderna 932, 964, 966 Dichtung 187–221, 227ff., 234, 242–244, 268–271, 422, 907, 951 – geistliche XII, 63, 134, 416, 575, 611 Diskurs XIII–XVII, 4ff., 16, 23f., 68, 72, 83, 92ff., 102, 111, 126, 135, 150, 158f., 183–221, 224, 274f., 278–280, 290f., 321, 325, 375ff., 381, 408, 428, 470ff., 495f., 501f., 513, 575, 580f., 589, 593–596, 600–604, 611–613, 659, 728, 739, 741, 751, 762f., 771f., 782f., 789, 792, 824ff., 909, 929, 959, 964, 968, 971–973, 989, 1004 Dogmatik XIII, XVIII, 12, 23, 98, 102, 113, 280, 379, 457f., 509, 690, 707, 775f., 786, 792f., 830, 835, 889, 949ff., 970–976, 986f., 991, 993, 995, 999–1002 Donatismus 831ff., 842 Dunkelheit 96, 249ff., 265, 276f., 723 Einfache Formen 33f., 36, 272, 734–735, 777 Emphase 67, 85, 378, 589, 611f., 723, 767, 974–1002 Enthusiasmus XV, 104, 997f. Episteme, Epistemik XI, XIV, XVI, 4f., 64, 185f., 191, 212f., 219, 221, 223, 227, 273, 278–280, 329, 661f., 670–674, 677ff., 774, 789
Epoche 3ff., 90, 184f., 280, 707, 721, 794, 853, 867, 898, 905, 946, vgl. Barock, Renaissance Erbauung 104, 121, 304, 436, 584, 858, 889, 898, 901 Erfahrung 15, 18, 20, 43, 71, 78, 92–95, 163, 165–169, 180, 202f., 378, 380, 496f., 512, 600f., 691f., 706–708, 791–793, 795, 799, 801, 807ff., 849, 865, 873, 876, 896f., 904, 931f., 953ff., 998, 1008, 1010f., vgl. Wahrnehmung Erotisierung 7, 12f., 157f., 160, 193, 213, 222, 434, 436, 443–447, 475, 587, 735, 774, 1009 Erzählen XVII, 128, 159, 246, 272, 278, 286f., 290f., 296f., 321f., 380, 431f., 439, 443, 445, 459f., 469f., 472ff., 484, 488, 491, 500f., 512, 527, 607, 615, 617, 638f., 641–643, 652–654, 658–688, 714, 717f., 721, 723, 726, 729, 746, 755, 762, 765, 777, vgl. Exile and return – schwankhaftes 522ff., 717ff., 726f., 730f., 733–788, 776ff., vgl. Märe Eschatologie 90, 622, 912, 928, 989 Eucharistie 52, 84f., 275, 287, 290, 315f., 318, 324ff., 453–502, 508, 512–514, 630, 695, 786, 798ff., 941–943, 946–948 Evidenz 28, 242, 333, 364, 377, 380f., 385, 407, 409, 665, 672ff., 737, 742, 761, 765, 775, 904, 906–908, 911, 916f., 920, 928, 988, 1001 Exemplum 27f., 42, 45, 57, 202, 386, 497, 431, 440, 447, 450, 466, 529, 533ff., 599, 660, 725–728, 736, 739–747, 753–762, 771f., 818, 829, 836f., 839–841, 874, 916, 961ff., vgl. Gleichnis Exile and return 607, 636ff. Exklusion 14f., 36–39, 159, 226, 519, 521–525, 661, 668, 740, 742,
Sachregister
754, 756–762, 781, vgl. Inklusion, Vereinzelung Familie, Genealogie 13, 17, 36f., 137–151, 159, 163, 168ff., 181, 296ff., 318, 321f., 394, 419f., 522, 615, 620, 623ff., 638, 664ff., 673ff. Figura 7, 116, 196, 203, 233, 243, 256, 269, 325, 348f., 352, 358f., 367f., 464f., 510, 524, 787f., 906–908, 911ff., 979, 1007f. Fiktion, Fiktionalität 54, 96, 180, 214, 219–221, 222ff., 233–271, 274, 280, 455, 467, 599f., 743, 765, 789f., 854, 904ff., 911, 919, 969, 972, 1007 Frauendienst 129, 131, 134f., 153, 758 Fresko 791, 895, 909ff. Frömmigkeit, Spiritualität XVIII, 12f., 360, 378–383, 457, 495, 508, 518f., 575, 583, 616, 619, 791, 795, 797, 791, 808, 844–903, 954, 961ff., 966, 1005f., vgl. Religion, Religiösität Frömmigkeitspraxis, Psychotechniken 791f., 932, 936, 938–942, 944–946, 953, 1008f., vgl. Gebet Gabe, Tausch 58f., 69, 72, 94, 101, 239, 242, 319, 347, 394, 410, 507, 521, 607–657, 694, 709, 773f., 856, 910, 1006, vgl. Lohn, Ökonomie Gebet 59, 84f., 128, 156, 301ff., 396, 404f., 495, 498, 541, 551, 553, 565, 633f., 637, 691ff., 787, 791f., 846, 853, 868, 876ff., 933f., 938, 953–966, 998, 1006, 1009f., vgl. Frömmigkeitspraxis Gegenreformation 23, 49, 202, 501, 889, 901, 931–952, vgl. Reformation Gelassenheit 13, 62, 68, 70f., 80, 87f., 275, 992–995, 1000, vgl. Abgeschiedenheit
1049
Gemeinschaft, Gesellschaft X–XIII, XVIf., 6f., 13–21, 26–28, 36–39, 98, 102, 161–167, 172–181, 223, 287, 290, 293ff., 374, 433ff., 453f., 506f., 518ff., 529ff., 663ff., 738, 760, 764, 771f., 784, 792f., 799, 898, 902, 908, 917, 919f., 922f., 954f., 961ff. Gender 403, 632f., 636, 678, 760, 820, 822f., 825, 966, 968 Gewalt 124, 133, 143, 152, 307, 767f., 801ff., 935 Glaubenskrieg, Kreuzzug 124, 126, 128f., 134, 136f., 144, 148f., 152f., 158, 277f., 394f., 402, 844–903, 1006 Gleichnis 479, 696, 711, 739, 745, 943f., vgl. Exemplum Glück 18f., 154ff., 194, 872f. Gnade 23, 29–32, 300, 507, 521, 523f., 615, 619, 621, 625, 774, 846ff., 931f., 961f., 1006 Gnorisma, Anagnorisis 651f., 665, 680–683, 686–688, 774 Gnosis 109, 331, 351 Gral 156, 161, 168, 171–180, 287 Habitus 791f., 954f., 960, 962f., 1010 Häresie 8, 12, 99f., 307, 311, 337f., 341f., 359, 704, 772, 775f., 789, 792, 824ff., 835, 835, 862, 956, 968, 969f., 972, 989, 992f., 999–1001, 1004 Heiden 125ff., 134, 137, 139–141, 143f., 151f. Heil, Heiligkeit, Heiliges XII, XVIf., 11–18, 22f., 27ff., 62–67, 79, 124, 135, 159, 272f., 275, 278, 280, 285f., 288, 521, 615ff., 773, 786f., 788, 794, 798ff., 1004, 1006 Heiliger, Heilige 5, 8f., 28, 34ff., 40f., 60, 128, 273, 517, 521, 615–657 Heiligung, Sakralisierung Xf., 9f., 13, 28f., 38f., 43, 64f., 69, 73, 80,
1050
Sachregister
86, 158, 349ff., 399, 427f., 644f., 758, 846 Heiltumsschrift 288, 380–382, 388f., 391, 398, 403, 408f. Held, Heldin, Heldentum XVI, 17f., 55, 124, 128, 158f., 169ff., 252, 260, 273, 316, 394f., 400, 419, 659, 675ff., 845, 873, 897, 902, 922 Hermeneutik XVII, 77, 87, 222–271, 324–370, 373, 413, 428, 465, 474ff., 744, 746, 823, 827, 905ff., 970, 976, 985, 990, 996 Hermetismus 15f., 90, 102f., 277 Historia 45, 51, 53, 229ff., 288 Hof, Höfisches XVII, 18, 20f., 131–135, 147, 152ff., 161, 169ff., 279, 378, 395, 415, 418ff., 431f., 438ff., 443, 452, 518, 574–605, 659, 667ff., 726, 772f., 941, 997 Hören, akustische Wahrnehmung 237, 252, 258, 266, 273, 302, 320, 434f., 473, 480, 584, 991 Hybridität XIII, 17, 62, 127f., 229, 244f., 277, 279, 288f., 291, 371–410, 466, 510, 514, 658–688, 775, 811, 925, 968 Hymnus, hymnisch 122, 741, 762–770, 973f., 979, 982, 988, 941 Hyperbel 135, 496, 753, 762–769, 984, 989 Identität 13f., 26, 32, 36–38, 75, 80, 83, 145ff., 164, 173f., 176, 182, 272, 279, 303, 320, 369f., 400–408, 476, 491, 506, 518, 521f., 549, 561, 575–605, 615, 628, 632ff., 659–689, 746, 754, 756, 772, 774f., 781, 790, 792, 820, 822f., 903, 917f., 962f., vgl. Individualität Imagination, Imagniäres XVII, 114ff., 366, 369, 379f., 389f., 406f., 409f., 437f., 446–448, 523, 579, 781, 791, 800ff., 816, 909, 911, 926, 929, 937, 941, 949
Imitatio, imitatio Christi 33f., 38, 44, 49, 273, 329, 365, 399, 444f., 512, 528ff., 534, 539, 554, 809, 893, 911, 961, 963, 972 Immanenz X, XV, 36f., 44, 58, 64–66, 73, 80, 160, 277, 372, 378, 396, 399, 410, 507, 511, 517, 525, 527, 581, 613, 625, 712–731, 737, 739–741, 743, 746ff., 754, 759, 761–763, 768f., 774, 776ff., 786, 788, 930f., 975, 996, 1011, vgl. Paradoxie, Transzendenz Imperium 144, 146, 148–150, 160 Individualität 5f., 13–15, 22, 25ff., 36f., 55, 61, 125, 164ff., 182, 272, 518, 521, 667, vgl. Identität Inkarnation 232f., 244, 289, 328, 345f., 384, 387, 432f., 462, 464, 486f., 523f., 714, 716, 719, 721, 761, 950, 960, 987 Inklusion 13–15, 37f., 80, 85, 519, 521, 661, 740, 742, 756–762, vgl. Gemeinschaft Inspiration XVII, 63, 94f., 128, 277, 352, 539 Institutionalisierung XVII, 286, 390, 451, 518ff., 529ff., 545f., 554, 569ff., 771 Invisibilisierung, Unsichtbarkeit 139, 369f., 376, 489, 508, 520, 588, 674, 735, 746, 748, 752, 771, 996 Karriere 55–58, 273f. Kasus 423, 734, 741 Katechismus 317f., 320, 706 Kirche XVII, 8–13, 41, 59, 171, 173, 180, 188, 279, 300, 310, 313, 315–317, 333ff., 384, 453–458, 518, 524, 529f., 553ff., 574f., 583, 601, 771f., 786, 824, 829, 831, 833, 842, 844, 848, 852, 858f., 861, 882f., 884f., 887–889, 895f., 902f., 949, 951, 972, 998 Klage 59f., 84, 151ff., 159, 172, 278, 350, 599, 615, 631, 639ff., 788f., 795–816, 955
Sachregister
Kloster XVII, 14, 66, 68f., 86, 419, 429, 438, 518ff., 528–573, 583, 632f., 726f., 755, 758ff., 772, 792, 961, 963 Kommunikation – literarische XIIff., 8, 12, 17, 55, 123, 126, 187ff., 272, 274, 276ff., 286f., 511, 574, 576, 579–582, 587, 589, 604, 771ff., 787, 789, 793, 791, 972–975, 995, 1003, 1009 – religiöse XIIff., 8, 12, 17, 62, 77, 98, 128, 162ff., 187ff., 272, 274, 276ff., 285ff., 511, 517ff., 580–582, 603, 605, 689, 738, 741, 747–756, 762, 771ff., 787, 793, 798, 898, 972–975, 995, 1003, 1009 Kompaktheit XVII, 16, 135, 159f. Konfessionalisierung 98, 274 Konversion XVIII, 38–40, 50, 497, 522, 551, 570, 662, 675, 678f., 683–685, 730, 753, 758, 761 Körper XVIII, 131, 142, 251ff., 257ff., 289f., 298, 329ff., 344, 518f., 522–525, 744–746, 760, 762, 766, 775, 781, 801ff. Kosmologie 8–11, 15, 73, 98, 105–109, 173, 188, 236, 238, 243, 268, 455, 786 Lachen, Lachkultur 730, 734, 738, 763, 768f. Legende 28–30, 33ff., 40, 42ff., 47, 49–52, 54, 58f., 127f., 160, 272ff., 371–410, 414ff., 526ff., 573, 606–657, 715, 733, 737, 741, 757f., 773ff., vgl. Vita Lesen XVII, 28, 94, 222f., 286f., 289f., 292, 301f., 312f., 316f., 427–452, 471, 475, 512, 521, 584, 593, 781, 791, 955, 957, 960, 1011, vgl. ruminatio Liebe, Minne 12, 18, 21, 124, 129–137, 144, 154–160, 172, 277, 280, 416f., 447, 449, 479, 481, 589f., 598, 677, 700, 760, 774
1051
Liebesdichtung 187f., 190, 194, 199, 202f., 280, 286 Literarizität, Poetizität XIff., 4, 15f., 92ff., 126, 128f., 135, 158f., 192–194, 219, 229f., 240ff., 276–281, 291, 409, 641, 648, 654, 689, 691, 695f., 774, 822f., 905, 942, 949, 952, 971–975, 991, 1009, vgl. Ästhetik Liturgie, Ritus, Messe XVff., 12, 86, 286–288, 292–321, 324–370, 379, 383, 451, 467, 506–509, 524, 535, 541, 560, 570, 691, 741, 786f., 789, 800f., 863, 879, 1003 Lohn, Leistung 27, 30, 217, 219, 440, 449f., 613–624, 630, 644, 653, 914, 935, 1006, vgl. Gabe, Ökonomie Märe 735, 737, 745f., vgl. Erzählen, schwankhaftes Magie XIII, XVII, 30, 41, 103, 275, 286, 288, 361, 372f., 375, 379, 401, 403, 406, 471, 513, 648, 651, 653, 902 Marienfrömmigkeit, -kult 483–487, 491–493, 501, 844–903 Martyrium 28, 36–39, 124, 131f., 135, 158, 399, 612, 623, 631, 638 Mäzene, Stifter, Auftraggeber 561, 582–586, 598, 856 Medialität 224, 275, 281ff., 285–291, 367–369, 373, 378, 380, 390, 433, 465, 507, 581, 727, 772, 787, 853, 894, 912, 960, 1005–1007 Melancholie 99, 106 Memoria, Gedächtnis 287f., 324–370, 378ff., 437, 520, 535ff., 546–573, 771, 809, 937 Metapher XIII, XVI, 94, 111, 115ff., 153f., 174, 243, 252, 265, 276, 305f., 405, 436, 463, 470, 481, 510, 514, 589, 593, 663, 729, 872, 895, 897, 931, 946, 950, 959, 986, 988f., 993
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Sachregister
Metonymie 217, 251, 376f., 399, 403, 409f., 513, 668 Mimesis XVII, 137, 289f., 349, 363ff., 376f., 406, 432f., 436, 439f., 446f., 450, 508, 765, 787f., 795, 802, 815, 908, 952, 963, 967, 1007 Mitleid 151–153, 159, 544, 722, 787, 809ff. Mnemonik 348f., 363–370, 936, 953 moniage 419, 666 Mündlichkeit, Schriftlichkeit 275, 277, 285ff., 295–299, 303, 306–308, 310f., 317, 320, 388, 406, 506f., 698, 789 Mystik XIII, 12, 14f., 20, 62–88, 92, 95, 104, 109f., 117f., 120–123, 275, 340, 372, 455, 721, 786–788, 792f., 930–932, 935, 938, 946, 953, 964f., 967, 973ff., 1008 Mythos XVII, 111, 171, 182, 287f., 324–370, 373, 507f., 535 Neuplatonismus 90, 99f., 109, 122, 211, 367 New Historicism 819f., 840 Norm, Wert 20, 24–29, 31f., 61, 102, 124, 178f., 202, 227, 240f., 254, 271–273, 278ff., 327, 339, 399, 453, 507, 520f., 524, 533ff., 563, 567–569, 575, 581, 587, 601ff., 677f., 697, 712f., 734, 737, 759, 772, 776–778, 792, 822, 883, 911, 917, 963–968, 973ff., 991, 1001 Offenbarung XVII, 9f., 63, 113, 190, 228–233, 244f., 270, 282, 285f., 332, 351, 353, 487, 496, 551, 557, 615, 644f., 842, 896 Ökonomie 410, 469, 509, 608–614, 628–630, 636, 653f., 773, 922, vgl. Gabe, Lohn Opfer 133, 288, 301, 324–370, 394, 402f., 454, 456, 463, 499, 518, 530ff., 595, 788, 801ff.
Orden, geistliche 65, 520, 530ff., 691, 941, vgl. Religiosentum Orthodoxie 95, 98f., 117, 288, 338, 789, 824ff., 970, 992, 1000 Parabel 735, 742 Paracelsismus 90, 95f., 104, 112f. Paradoxie XIII, 16, 19, 71, 79, 83, 109ff., 166f., 276, 372, 378, 384, 399, 509, 514, 520, 695, 712–720, 738–741, 747–753, 763, 815, 841ff., 911f., 914, 931f., 971–974, 987, 991, 1001, 1003, 1007, vgl. Immanenz, Transzendenz Parodie 47, 214, 524f., 735, 751, 778 Performativität, Performanz XI, XVIIf., 13, 61, 66f., 74f., 79, 85, 87f., 275, 293–295, 309, 327ff., 364f., 378, 380f., 440, 506, 547, 716, 734, 741, 765–767, 777, 781–793, 795ff., 801, 803–805, 815f., 827, 839f., 941, 971, 980, 988f., 995, 1001f., 1003, 1008, 1011, vgl. Spiel, Theater Perichorese 463, 466 Pietismus 100, vgl. Spiritualismus Pluralität, Pluralisierung X, 4ff., 11f., 185ff., 192, 211–213, 221, 278ff., vgl. Ausdifferenzierung Präsenz, Gegenwart, Vergegenwärtigung XVIf., 13, 35, 62ff., 66, 75, 87, 222, 225f., 285f., 288f., 290f., 324–371, 373f., 385, 399f., 403, 405, 408, 410, 432f., 454f., 458, 465, 468–470, 472f., 480f., 485, 488f., 500–502, 509, 512ff., 519, 523, 695, 697, 738, 746, 781, 785f., 788, 798ff., 813f., 987, 1003 Predigt XV, 12f., 15, 66, 68, 77, 79f., 84, 95, 275f., 287, 292–321, 466, 506f., 775f., 788f., 828–843, 978f., 1004f. Queer Studies 817f., 819, 823
Sachregister
Rache 129–133, 136, 138, 145, 152, 277, 752 Rationalität 98, 102f., 258, 372, 407, 970 Reformation XVII, 35, 40–42, 49, 54, 99f., 106f., 117, 122, 454, 457f., 501, 901, 931–952, vgl. Gegenreformation Rekonziliation, Erlösung 22, 27, 29f., 32, 51, 54, 61, 272f. Religion Xff., 10, 17–24, 84, 161–182, 280, 285f., 332, 343, 460, 482, 498, 507, 580–582, 691, 713f., 778, 896, 948 – innerweltliche 18f., 21, 137, 144f., 157, 173 Religionssoziologie 6ff., 162ff., 279, 739, 795 Religiosentum 19–21, 65, 165ff., 274, 279, 299, 373, 517–522, 527–573, 760, 772, 778, vgl. Orden, geistliche Religiosität XIIff., 19–22, 165ff., 274, 279f., 298f., 373, 517, 527, 544, 778 Reliquie 41, 44, 288f., 371–410, 457, 468–470, 509, 513, 758, 818, 823ff., 845, 886 Renaissance 5, 183–185, 216, 221, 819, 837, 904, 909, vgl. Epoche Repräsentation XVIf., 13, 62ff., 92, 223f., 248, 258, 268, 277, 286, 290f., 325, 328ff., 371, 374, 380, 400, 458f., 460, 469f., 497, 500f., 508, 512f., 522, 575, 609, 666, 670, 677, 738, 775, 785, 795, 798, 836, 908, 920, 974, 1007 Reue 22f., 29–32, 39f., 48, 59–61, 541, 727f., 753, 1005 Reziprozität 58, 607–613, 616, 642, 645–651, 654, 774 Rhetorik 231f., 235f., 239ff., 319, 714, 771, 907, 948, 978, 980, 1004, 1008, 1010f. Ritter 17, 124, 128, 154, 158f., 169ff., 175, 394, 440, 447f., 586, 599, 687
1053
Ritual XVII, 276, 285ff., 292, 295f., 298f., 301, 303, 312, 320, 425ff., 433–435, 451, 453, 455, 506f., 783f., 786ff., 795ff., 922, 1003 Roman 18f., 223f., 230, 245, 940 – höfischer 21f., 127, 129, 179, 220, 277, 414, 418ff., 521, 582, 598–600, 651, 658–688, 774 Rosenkreutzer 90, 101 ruminatio XVII, 286, 436, 957, vgl. Lesen Säkularisierung X, XVI, 173, 288, 341, 372f., 737f. Sammelhandschrift 288f., 411–426, 510, 736, 857 Seele 12–14, 27, 41, 64f., 68, 78, 194, 201, 203, 277, 306, 358, 481, 519f., 522f., 624, 659, 667, 685, 719f., 723, 737, 760, 834, 838, 841, 938f., 942, 956, 962, 977, 987f., 941f., 997, 1000, 1009 Sehen, visuelle Wahrnehmung 50, 199, 364f., 434, 446ff., 473, 480, 488f., 493, 498, 581, 658–688, 809, 935–937 Selbstverleugnung 606, 614, 620, 628, 631–637, 639, 641, 649, 653f., 773 Sinne, innere 520, 958–960 Sozialisation 168ff. Sozinianismus 99 Spiel XVII, 256, 326, 375, 463, 578, 654, 785, 787, 809, 822, 908, 958, 1004, vgl. Performativität, Theater – geistliches 327, 459, 467f., 788, 794–816, 826, 1003 – weltliches 760 Spiritualismus 90, 95, 108, 117, 122f., 277, vgl. Pietismus Sprache 20, 79, 88, 93, 110, 223–226, 239ff., 248f., 273, 275f., 328, 391, 461, 464f., 478, 590f., 729, 733, 765, 768f., 784, 786f., 791f., 800–802, 806, 878, 897, 931ff., 959, 979, 997, 1008, vgl. Volkssprache
1054
Sachregister
Streitschrift 94, 98 Spruchdichtung 425, 518, 598, 689–711, 775f. Spur 19, 74, 985 Sünde XVI, 5, 22f., 25, 27, 29, 32, 39f., 121, 126, 272, 306, 360, 517, 601, 603, 637, 717ff., 748, 750, 753, 789, 818, 827, 829–831, 833–836, 839–841, 843, 937, 939, 1004f., 1008, 1010 Symbol 103, 161–182, 248ff., 279, 290, 326, 367, 372, 379f., 738, 791, 844–903, 922–925, 1007 Tautologie 16, 68, 87, 404, 409, 950 Theater, Aufführung XVIIf., 264, 267, 293–295, 364f., 578, 585, 781, 783ff., 795ff., 1003, vgl. Performativität, Spiel Theodizee 113 Theogonie 14f., 65, 67, 86, 90–123, 276 Theologie XIIIf., 4f., 8f., 12, 15, 22f., 92, 107, 109f., 190f., 223, 243ff., 279f., 288, 292, 297, 360, 509, 513, 574, 583, 593f., 601f., 604, 621, 708, 749, 775f., 778, 786, 833, 853, 884, 887, 903, 949f., 953, 955, 981f., 986f., 1008f. – negative 75, 109f., 123, 957, 975, 989, 991 Theophanie 109 Theosophie 89–123 Topik, Topos 128, 136, 167, 201, 216, 348–350, 366, 446, 448, 500, 573, 599, 604, 624, 628–633, 644f., 749, 753, 757, 831, 915f. Transgression XVI, 25, 27f., 30, 32, 55, 57f., 69, 273, 453f., 712–731, 775f., 974f., 981 Transzendenz Xff., 19, 21, 37, 42, 44, 58, 64–67, 73, 82, 128, 160, 162f., 173, 200f., 274, 276f., 372, 378, 396, 399, 405, 410, 508, 511, 517ff., 526f., 581, 601,
612, 625, 689, 712–731, 739–741, 743–763, 769, 774, 776–780, 786, 788, 790, 904, 930, 950, 975, 996, 1001, vgl. Immanenz, Paradoxie Überlieferung XV, 65f., 72, 101, 120, 216–219, 288f., 297, 299f., 307f., 325, 328–350, 372, 388, 411–426, 510f., 643, 650, 698, 735f., 777, 916, 966, 998f. Universität 574, 583, 593–595, 772 Unkommunizierbarkeit XIII, XV, 21f., 166f., 930f., 935, 974 Unterhaltung 296, 438ff., 443f., 587, 836 Unterweisung, Didaktik 77, 295, 304f., 309, 313–315, 317f., 423, 426, 430ff., 452, 512, 522, 583, 585, 589, 595, 598, 697, 739, 771, 778, 1011 Vereinzelung 23, 145, 164ff., 667, vgl. Exklusion Vita 5, 16, 28–30, 34ff., 528–573, 608–654, 757, 771, 961f., 967, vgl. Legende Volkssprache XIff., 66, 313, 691f., 696, 701f., 776, 792, 953f., 962, 964–966, vgl. Sprache Vision 63, 394, 403, 487, 494–499, 934–936, 939, 996 Wahrheit 8, 10f., 16, 26, 64f., 67f., 76–80, 85–88, 94, 188, 190f., 214, 216–221, 224, 226–228, 234f., 270, 274, 277, 281, 289, 353, 359, 360, 367–369, 435–438, 450f., 476–478, 491, 599, 730, 742, 746, 789–791, 904, 951, 971, 972–976, 988, 991–993, 995 Wahrnehmung 180, 222, 252f., 251ff., 279, 289, 379, 438, 509, 522ff., 740, 805, 939f., 945–947, 952, 954, 956–964, 967f., 1009ff., vgl. Hören, Sehen
Sachregister
Wirklichkeit 64f., 67, 86, 102f., 162, 166, 168, 173, 203, 218ff., 352, 369, 578, 581, 599f., 763, 785, 902, 904–907, 913, 915f., 925 Witz 254, 733–770 Wunder 28, 36, 43, 52f., 58, 88, 198, 230, 232, 374, 438, 462, 465, 479f., 487f., 491, 494–502, 526, 544, 615, 624, 635, 642ff., 724f., 728, 730f., 737, 751–754, 844–903, 1005 Zeichen 63f., 90, 95, 102, 116, 145ff., 171, 224f., 237, 240, 251,
1055
259f., 270, 288f., 328f., 335ff., 351–353, 358ff., 371ff., 394, 399, 410, 433, 454–466, 475–482, 488f., 498–501, 509ff., 550, 578f., 644, 664, 676ff., 719ff., 775, 799f., 823, 842ff., 906, 925, 965, vgl. Gnorisma Zeit, Zeitlichkeit, Zeitordnung XVII, 7, 36, 246, 376, 415, 653, 882, 529, 1001f. Zensur 452, 837, 955, 963–967, 971, 973f., 976f., 1001