Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag [Reprint 2010 ed.] 9783110925753, 9783484640214

The term 'literary lives' defines the specific focus on the question of role designs that runs throughout this

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German Pages 913 [916] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Tabula gratulatoria
Die Pferde der Enite
Mütter und Söhne in zwei mittelniederländischen ›Perceval‹-Variationen: ›Moriaen‹ und ›Ridder metter mouwen‹
Zum Bild des böhmischen Königs Přemysl Otakars II. in der ›Steirischen Reimchronik‹
Hie ist diu aventiure geholt – /wa ist nu der minne solt? Die Rolle der Frau des Helden in einigen nachklassischen Artusromanen
Die Marke-Figur in den Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg
Wie die Minnesänger zu ihrer Rolle kamen
Der Truchseß Keie und der Gott Loki. Zur mythischen Struktur des arthurischen Erzählens
Der Immergleiche. Erzählen ohne Sujet: Differenz und Identität in ›Flore und Blanscheflur‹
Wolframs zweifache Witwe. Zur Rolle der Herzeloyde-Figur im ›Parzival‹
The Praise-Singer and the Authoring of Praise. Morungen’s ›Si ist ze allen êren ein wîp‹ (MF 122.1)
Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe
Rache als Geste. Medea im ›Trojanerkrieg‹ Konrads von Würzburg
Authentische Memoria. Zur Rolle des Künstlers in Ottokars ›Österreichischer (Steirischer) Reimchronik‹
Die Rollen des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman
La figura del mondo: Tristan als das Idealbild des Rittertums in der ›Tavola Ritonda‹
Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg
Rollenspiele
Ritual und Emotionalität. Zum Geistlichen Spiel des Mittelalters
Der Ritter und die nackte Gewalt. Rollenentwürfe in Konrads von Würzburg ›Heinrich von Kempten‹
Iwein liest ›Laudine‹. Literaturerlebnisse und die ›Schule der Rezeption‹ im höfischen Roman
Apollonius unter den Tieren
Geschlecht und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit im ›Erec‹ Hartmanns von Aue
Eine Witwe als Mäzenin. Briefe und Urkunden zum Aufenthalt der Nürnberger Patrizierin Katharina Lemlin im Birgittenkloster Maria Mai (Maihingen)
Mein liebster Feind. Zur Rolle des literarischen Gegners in der Sangspruchdichtung am Beispiel Rumelants
Persona. Entlarvung des Adels und Entdeckung des Strickers: so hart ich vrowen vil gesehen
Zwischen Herrschaft und Entführung. Frauenrollen im ›Demantin‹ Bertholds von Holle
Das Mädchen Achill. Männliches Crossdressing und weibliche Homosexualität in der mittelalterlichen Literatur
Minnesang – eine mittelalterliche Form der Erlebnislyrik. Essai zur Interpretation mittelalterlicher Liebeslyrik
Der neugierige Richter
Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns ›Gregorius‹
Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im ›Armen Heinrich‹ Hartmanns von Aue
Siegfried - ein Heldenleben? Zur Figurenkonstitution im ›Nibelungenlied‹
Bücherwissen und Erfahrung im Märe. Die Auseinandersetzung mit Lebensformen hinter Mauern
Eckhart der meister
Das Gespräch mit dem Wilden bei Seuse. Votum für eine folgenschwere Konjektur
Georius miles - Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne
Autorrollen in der lateinischen Literatur des 13. Jahrhunderts
Rechtsprobleme in den Erzählungen Hartmanns von Aue. Die Bedeutung des Rechts in der ritterlichen Lebensform
Schwert, Saitenspiel und Feder
Der lange Weg zu einem ›anderen‹ Chrétien. Zur Nachkriegsforschung über den ›Conte du Graal‹
Register antiker und mittelalterlicher Autoren und Werke
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Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag [Reprint 2010 ed.]
 9783110925753, 9783484640214

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Literarische Leben

Literarische Leben Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters Festschnfißr Volker Mertens zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Literarische Leben: Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters ; Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag / hrsg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer. - Tübingen: Niemeyer, 2002 ISBN 3-484-64021-9 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Jochen Conzelmann, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

XI

Vorwort

XIII

Tabula gratulatoria

Ingrid Bennewitz Die Pferde der Enite

1

Bart Besamusca Mütter und Söhne in zwei mittelniederländischen >PercevalMoriaen< und >Ridder metter mouwen< Vaclav Bok Zum Bild des böhmischen Königs Premysl Otakars II. in der >Steirischen Reimchronik
Flore und Blanscheflur
Parzival
Kaiserchronikbesten< Ehefrau, die mit dem Tod der Lukrezia, aber auch der beteiligten Männer (Tarquinius, Conlatinus) enden wird. Die Kriterien für die Definition der >besten< Ehefrau werden dabei ebenso wenig explizit gemacht wie die Voraussetzungen dafür, zum Thema des Männergesprächs zu werden.2 Schon im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts wird die Ambivalenz dieser >AuszeichnungWinsbeckin< in einem pragmatisch ebenso korrekten wie moraldidaktisch unerlaubten Kurzschluß den Wunsch der Mutter ironisieren, ihre Tochter als Gesprächsgegenstand solcher Männerrunden wiederzufinden, freilich konterkariert von dem Beharren der mütterlichen Autorität auf der aus dieser Perspektive einzig möglichen Form gesellschaftlicher Akzeptanz weiblicher Existenz. 3 N u r auf den ersten Blick erstaunlich mag sein, daß im Fortgang der Lukrezia-Episode jenem Leisten, über den Kaiserin wie Feldherrengattin bei ihrer Beurteilung geschlagen werden, letztlich ein einziges Kriterium zugrundegelegt wird: das des absoluten und vorauseilenden Gehorsams gegenüber den Wünschen des Ehemannes, was wiederum wenig zur nonchalent-repräsentativen Geste des Parlierens über Hunde, Pferde und Frauen zu passen scheint. Oder vielleicht doch?

II. Cavalier,

datz mi conseill d'un

pensamen

Auch wenn in der jüngeren Forschung eine generelle Skepsis vor der Annahme einer zu starken Traditionsbildung in der Geschichte des romanischen Minnesangs zu verspüren ist und die Exponenten des Beginns, namentlich Wilhelm und Jaufre Rudel, deutlich von den Vertretern der Gattung um 1150 abgehoben werden, so verstärkt dies vielleicht nur noch das Erstaunen über den so unvermittelten wie in seinem artistischen Anspruch überzeugenden Einsatz der Trobadorlyrik um 1100. - Gleich dieser erste Auftritt der okzitanischen Lieddichtung prägt jedoch nicht nur zentrale Momente der literarischen Imagination von Beziehungsgeflechten zwischen Ritter und Dame, sondern auch die Vergleichsebene des Sprechens über Pferde und Frauen. - Wie kein anderes scheint Wilhelms Lied (PILL E T - C A R S T E N S 183,3) >Companho, farai un vers qu'er covinenvon hintenAb la dolchor del temps novel< - sich seines Erfolges in Liebesdingen nicht zu rühmen braucht, da er davon allemal la pessa e'l coutel (»das Stück Brot/Fleisch und das Messer«; V. 30) hat. - Wie erfolgreich diese Art der Inszenierung des männlichen Ich schon im zeitgenössischen Umfeld gewesen ist, belegt die aus dem späten 13. Jahrhundert überlieferte Vida Wilhelms IX.: Lo corns de Peitieus si fo uns dels majors cortes del mon e dels majors trichadors de dompnas, e bons cavallier d'armas e larcs de domnejar; e saup ben trobar e cantar. Et anet lone temps per lo mon per enganar las domnas.6

Wilhelms Lied über das Problem der richtigen Pferdewahl - einschließlich des Bedauerns darüber, nicht beide nebeneinander unter seinem Sattel haben zu können - , läßt zentrale Konstituenten der mittelalterlichen Lieddichtung ins Blickfeld geraten:7 - die kulturelle Konstruktion von Maskulinität und Status durch artistische Kompetenz, - die Zuschreibung erotischer Kompetenz an den Sänger und in der Folge an den Autor, - die Diskursivierung der Geschlechterbeziehung in Kategorien männlicher Alltagserfahrung (etwa dem Umgang mit Pferden, dem Reiten) und Männlichkeitskonstitution (im Nachweis der einschlägigen reiterlichen Kompetenz) und damit verbundener Besitzansprüche und Verfügungsmacht (des Reiters auf/über das Pferd), - die Beobachtung, daß die Trobadors selbst dort, wo sie Frauen anzu6

7

»Der Graf von P. war einer der größten höfischen Herren in der Welt und einer der größten Betrüger adeliger Damen, ein vorzüglicher Ritter in Waffen und ein großzügiger Werber; und er verstand sich gut darauf zu dichten/komponieren und zu singen. Er zog viele Jahre durch die Lande und verführte adelige Damen.« - Zit. n. STEPHEN G. NICHOLS, The early troubadours: Guilhelm IX to Bernart de Ventadorn, in: GAUNT/KAY [Anm. 7], S. 66-82, hier S. 67. Vgl. dazu insbesondere: LAURA KENDRICK, The Game of Love. Troubadour Wordplay, Berkeley 1988; ROUBEN C. CHOLAKIAN, The troubadour lyric: a psychocritical reading, Manchester 1990; SIMON GAUNT, Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge 1995; The Troubadours. An Introduction, h g . v o n SIMON GAUNT u . SARAH K A Y , C a m b r i d g e 1 9 9 9 ; z u r d e u t s c h s p r a c h i g e n

Diskussion vgl. insbes. VOLKER MERTENS, »In Kürenberges wise«. Überlegungen zu einer aufführungsbezogenen Interpretation des Minnesangs, in: Litterature epique au moyen äge. Hommage a Jean Fourquet pour son lOOeme anniversaire, h g . v o n DANIELLE BUSCHINGER, G r e i f s w a l d 1 9 9 9 , S . 3 2 7 - 3 4 5 , u . F r a u e n l i e d e r .

Cantigas de amigo, hg. von THOMAS CRAMER [U. a.], Stuttgart 2000, hier besonders den Beitrag von INGRID KASTEN, Zur Poetologie der >weiblichen< Stimme, ebd., S. 3 - 1 8 .

Die Pferde

der

Enite

5

sprechen scheinen, sich eigentlich an andere Männer wenden und diese Beziehung als eine privilegierte gegenüber jener zu den angesprochenen Frauen erscheint8 und demzufolge die Verhandlungen über die Konstitutenten der Kategorien des Begehrens und der Liebe mindestens ebenso deutlich zwischen Männern als zwischen Männern und Frauen geführt werden, auch in der literarischen Imagination: »a homosocial desire«.9 Daß die Wilhelms Liedern inhärente Geste der selbstbewußten, männlichaggressiven Erotik schon den mittelalterlichen Rezipienten bewußt war, d a f ü r s p r i c h t d e r v o n STEPHAN NICHOLS b e o b a c h t e t e

überlieferungsge-

schichtliche Dialog, den der Schreiber/Kompilator der Trobador-Handschrift Ν inszenierte: »Over a space of eight or nine folios, the scribe responsible for this chansonnier juxtaposes five songs of the first troubadour, Guilhelm de Peitieu, with six songs by trobairitz, female troubadours who lived long after Guilhelm's death in 1127.« 10 Im deutschen Minnesang scheint nach den Liedern des Kürenbergers, die zwar nicht Frauen und Pferde, wohl aber Frauen und Jagdvögel in den gehörigen feudalaristokratischen Kontext stellen, wenig Vorliebe für Stilisierungen des männlichen Ich in dieser Art geherrscht zu haben. Das mag u. a. an der vorrangigen Orientierung an späteren Exponenten der Trobador- und Trouveres-Dichtung gelegen haben. Nicht vergessen werden darf freilich, welche Art der Selektion von den Sammlern der großen Minnesang-Handschriften Α, Β und C betrieben wurde, und daß das Bild der in deutschsprachigen Ländern gepflegten Lieddichtung im 12. und 13. Jahrhundert ganz neue Konturen gewinnt, wenn man auf Sammlungen wie die >Carmina BuranaHelfens< zu-

8

9

Vgl. CHOLAKIAN [Anm. 7], S. 28: »Co-proprietors of the double-signifying logos, fellow members of the Symbolic Order, they are the true recipients of the love discourse, while the female is its objectified subject. This is incontestably a man's world.« GAUNT [ A n m . 7], S. 1 3 5 .

10

NICHOLS [ A n m . 6 ] , S. 7 9 .

11

Als Apergue am Rande mag die Erinnerung daran erlaubt sein, daß freilich reitende Damen in durchaus reichhaltiger Auswahl in den Illuminationen der Großen Heidelberger Handschrift anzutreffen sind (mit Sicherheit in Zusammenhang mit den metaphorischen Schnittstellen von Jagd, feudaladeligen Freizeitkonsum und locus amoenus-Inszenierung).

Ingrid

6

Bennewitz

gestanden wird - vergleichbar geblieben ist und auch eine vergleichbare Selbststilisierung des Sängers nach sich zieht: Mine vriunde, ratet wiech gebäre umbe ein wip, diu wert sich min. ( H W 46,38f.; W L 8,11) Mine vriunt, nü get her dan, gebt mir iuwern wisen rät wiech mit disen dingen müge ze minen eren komen. aller triuwen ich iuch man, daz ir mir nu bi gestät. mine weidegenge und al min vreude ist mir benomen. ich bin unverzaget beide an Übe und ouch an muote. der in durch den willen min sin dienest widersaget, dem gestüende ich immer triuwen bi mit übe und ouch mit guote al die wile und mir der stegereif ze hove waget. ( H W 65, 26ff.; W L 20, IV) 1 2

III. Die Pferde der Enite 1 3 Pferdemenschen - so hat KARL BERTAU das Wort >Ritter< übersetzt, und DIETMAR PESCHEL-RENTSCH hat diese Ubersetzung jüngst präzisiert und auf die politisch korrekte Form gebracht: Pferdemänner. »Nur mit seinem Pferd ist der Ritter eine Einheit; ein Ritter ist etwas anderes, als ein Mensch, der auf einem Pferd sitzt.« 14 Es bleibt abzuwarten, ob künftige Generationen das Wort >Autofahrer< in ähnlicher Form interpretieren werden; fest steht jedenfalls, daß literarisch wie historisch-alltagsweltlich die Angehörigen der feudaladeligen Elite wesentlich über ihre Mobilität definiert werden, die untrennbar mit dem Besitz von Pferden und der Kunst des Reitens verbunden ist. Daran, daß diese Mobilität zunächst einmal ein männliches Privileg ist und insofern zu einem Definitionsmerkmal der Konstruktion adeliger Maskulinität gehört, kann kein Zweifel sein; eben12

Textzitate aus: Neidharts Lieder, hg. von MORIZ HAUPT, 2. Aufl. von EDMUND WIESSNER. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923 mit einem N a c h w o r t und einer Bibliogr. von INGRID BENNEWITZ-BEHR, ULRICH MÜLLER u. FRANZ VIKTOR SPECHTLER, Stuttgart 1986.

13

F ü r intensive Diskussionen der folgenden Überlegungen danke ich den Teilnehmerinnen eines Hauptseminars an der Universität Bamberg im W S 2 0 0 0 / 2 0 0 1 , speziell Simon Hupfer und Christian Kramer.

14

DIETMAR PESCHEL-RENTSCH, Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen/Jena 1998, S. 28.

Die Pferde

der

7

Enite

sowenig daran, daß Frauen zumindest an ihr partizipieren (können), freilich ohne daß es hier Teil genderspezifischer Zuweisungen von sozialer Kompetenz würde - im Gegenteil. E h e r verdrossen klingen Thomasins von Zerklaere Anweisungen für reitende Damen: ein vrouwe sol sich, daz geloubet, keren gegen des pherstes houbet, swenn si ritet; man sol wizzen, si sol niht gar dwerhes sitzen. (V. 421—424) [···] ein vrouwe sol recken niht ir hant, swenn si rlt, vür ir gewant; si sol ir ougen und ir houbet stille haben, daz geloubet. (V. 437-440) 1 5 Gleichsam um alltagsweltlichen Bedarf und genderspezifische Mobilitätsdefinition unter einen H u t zu bekommen, werden über die Zuweisung verschiedener Pferde->Modelle< Muster gesellschaftlicher Ordnung

eta-

bliert: dem Mann und Krieger das Streitross, fast immer ein Hengst; der (adeligen) Frau ein eher zierliches Pferd, das durch eine speziell erlernte Gangform, das Passen, Unebenheiten im Gelände auszugleichen vermag: der Zelter. Gleich der erste Artusroman in deutscher Sprache, Hartmanns >ErecErecIweinParzival< und Tristans Bern [usw.] 1974; URSULA SCHULZE, »ämis unde man.« Die zentrale Problematik in Hanmanns

>ErecErec< Hartmanns von Aue, in: Festschrift für Herbert Kolb z u m 6 5 . G e b u r t s t a g , h g . v o n KLAUS M A T Z E L u . H A N S - G E R T R O L O F F u n t e r M i t a r b e i t v o n BARBARA H A U P T u . H I L K E R T W E D D I G E , B e r n [ u s w . ] 1 9 8 9 , S. 2 0 3 - 2 1 9 ;

BEATE ACKERMANN-ARLT, Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen >Prosa-Lancelotgetriuwiu wandelungeErecLancelotErecAufführung< und >Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart/Weimar 1996, S. 170-189; JOHN MARGETTS, >si enredete im niht vil miteErec< Hartmanns von Aue, in: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geb., hg. von SILVIA BOVENSCHEN [u.a.], Berlin/New York 1997, S. 11-23. - Ganz besonders verpflichtet aber - und so auch der Zusammenhang mit dem Ort des Erscheinens weiß ich mich einmal mehr den Ausführungen von VOLKER MERTENS, Enide Enite. Projektionen weiblicher Identität bei Chretien und Hartmann, in: Erec, ou l'ouverture du monde arthurien. Actes du colloque du Centre d'Etudes Medievales de l'Univ. de Picardie Jules Verne. Amiens 16-17 Janvier 1993, Greifsw a l d 1 9 9 3 , S. 6 1 - 7 4 . 17

Neugebahnter Tummelplatz vnd eröffnete Reitschul Sambt beygefügter Gestüttordnung vnd gründlicher Einzäumung wie auch der pferde Cur vnd Artzney Hiebevor von Herrn Johann Baptista Galiberti [...] beschriben. Anietzo aber durch Mathaeum Drummern von Pabenbach ins Teutsch vbersetzt. In Verlegung Michael Riegers 1660.

Die Pferde der Enite

9

rehte üf ir sla, V. 161) der Fremden, gut beritten aber ohne Waffen und ohne Geld; er wird von Koralus aufgenommen und für sein ermüdetes Pferd mit dessen Tochter Enite, mit dem wahrscheinlich hübschesten Pferdeknecht der Weltliteratur versehen; Erec und Enite reiten am nächsten Morgen gemeinsam zum Sperberkampf; der Kampf zwischen Erec und Iders beginnt zu Pferde; das von Erec und Enite besiegte Paar reitet wie die beiden zum Artushof, Enite bereits versehen mit dem ersten geschenkten Pferd - im Gegensatz zu einem besseren Kleid, das der Ehemann in spe als Geschenk nicht gestattet. Dieses Pferd jedenfalls besitzt bereits alle Vorzüge: ez was ze michel noch ze kranc, sin varwe rehte harmblanc, sin man tief unde reit, (sin brüst starc unde breit,) mit ganzem gebeine, ze gröz noch ze kleine, sin houbet troucz ze rehte ho. ez was senfte unde vrö, mit langen siten (man mohtez wol geriten) rücke und vuoz guot genuoc: hei wie rehte sanfte ez truoc! ez gienc vil dräte über velt schone sam ein schef enzelt: dar zuo und ez sanfte gie, so gestrüchetez doch nie. der satel was alsam, daz ez dem pherde wol gezam: daz gesmide sam ez solde von rotem golde. (V. 1426-1445)

Chretien verlegt das Lob dieses Pferdes in den Mund seiner ehemaligen Besitzerin, und die wiederum formuliert seine Vorzüge unter der Erwartungshaltung eines >DamenpferdesMoriaen< und >Ridder metter mouwen< sind nicht vollständig überliefert. Von beiden Dichtungen besitzen wir nur Fragmente. Daß wir sie trotzdem in ihrer vollständigen Form studieren können, verdanken wir der >LancelotMoriaen< und >Ridder metter mouwen< aufgenommen worden. 6 Was >Ridder metter mouwen< betrifft, hat der Kompilator in die Erzähltechnik seiner flämischen Quelle eingegriffen und diese überdies stark beschnitten. Bei >Moriaen< sah er sich zu noch kräftigeren Eingriffen genötigt. Der Prolog, der dieser Fassung hinzugefügt wurde, und einige Inkonsistenzen im Text zeigen, daß im flämischen >Moriaen< kein geringerer als Perceval der Vater des Titelhelden war. Da dieser Tatbestand dem Kontext der >LancelotMoriaen< wie bei >Ridder metter mouwen< trüben die Eingriffe 4

5

6

M o r i a e n , h g . v o n H . P A A R D E K O O P E R - V A N B U U R E N U. M . G Y S S E L I N G ,

Zutphen

1971 (Klassiek Letterkundig Pantheon 183). Die Zitate habe ich mit Interpunktionen versehen; die Kursivierungen habe ich ausgelassen. Roman van den riddere metter mouwen, hg. von MAX JAN MARIE DE HAAN [u. a.], Utrecht 1983 (Publikaties van de [Leidse] Vakgroep Nederlandse Taal- en Letterkunde 11). Ich zitiere aus dieser Edition, jedoch ohne die Kursivierungen zu übernehmen. Siehe BART BESAMUSCA, Strukturen des Erzählens in der mittelniederländischen >Lancelot-KompilationMoriaen< zieht in seinem Roman mehrere Verknüpfungen zu Chretiens >PercevalMoriaen< mit, Perceval sei - bisher vergeblich - auf die Suche nach dem Gral und der blutenden Lanze gegangen; seitdem habe er viele Ritter an den königlichen Hof geschickt (V. 226-238). Diese Bemerkungen erinnern nochmals an Chretiens letzten Roman, in dem von Perceval behauptet wird, daß er während der fünf Jahre dauernden Suche, die der Begegnung mit seinem Oheim, dem Einsiedler, vorausgeht, mehr als sechzig Ritter an den Artushof geschickt hat (V. 6233-6235). 10 Als darauf der wie immer übermütige Seneschall Keye vorschlägt, er möchte Perceval zum Hof bringen, erinnert Artus ihn lachend an eine frühere Niederlage, bei der er sein Schlüsselbein brach (V. 265-276). Der König weist mit diesen Worten auf die berühmte >PercevalMoriaen< teilt ein Bote des Artushofes mit, daß Perceval seine Suche nach dem Gral und der blutenden Lanze aufgegeben hat und zu seinem Oheim, dem Einsiedler, eingekehrt war, aus Buße für seine Sünde, die er seiner Mutter gegenüber begangen hat, als er sie zurückließ (V. 3057-3082). Dies erinnert abermals an Chretiens Dichtung: Am Karfreitag begibt sich Perceval zum Einsiedler, der sich als sein Oheim erweist. Vor ihm leistet er Buße (V. 6217-6513). Außerdem ist diesem Hinweis zu entnehmen, daß die Handlungsstränge von >Moriaen< und >Perceval< simultan stattfinden. Im flämischen Roman wird Percevals Suche nach dem Gral und der blutenden Lanze als eine Nebenhandlung dargestellt. Daß sich in >Moriaen< der Gralssuchende bewußt wird, daß er versagt hat, ist bedeutungsvoll. 8

9

Siehe BART BESAMUSCA, Walewein, Moriaen en de Ridder metter mouwen. Intertekstualiteit in drie Middelnederlandse Arturromans, Hilversum 1993 (Middeleeuwse studies en bronnen 39), S. 96-100. Chretien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal, hg. von K E I T H BUSBY, T ü b i n g e n 1 9 9 3 , V . 3 5 7 5 , 4 5 6 2 , 4 6 0 4 u . 1 0 7 6 - 1 1 9 1 .

1° Die Parallele stimmt nicht ganz: in Chretiens Roman ist es Gauvain, der die blutende Lanze sucht.

22

Bart

Besamusca

Während Perceval seine Suche aufgibt, wird seine Heldenrolle von seinem Sohn Moriaen übernommen; dieser ist wohl erfolgreich, jedoch als höfischer Ritter. So wird deutlich, daß >Moriaen< als eine literarische Reaktion auf Chretiens >Perceval< aufzufassen ist. Indem er zeigt, daß die Ideale einer weltlichen Ritterschaft nicht überholt sind, korrigiert der flämische Dichter die religiöse Orientierung des altfranzösischen Romans." Auch der Dichter des >Ridder metter mouwen< bringt seinen Roman in Verbindung mit Chretiens >Percevak 12 Das zeigt sich an einigen Stellen, in denen der Seneschall Keye als Bindeglied zwischen den Erzählelementen fungiert. Wenn der junge Held des flämischen Romans am Artushof erscheint, wird er vom kranken Keye verspottet. Er sagt, der Jüngling käme besser zur Geltung als Bauer denn als Ritter. Der Beleidigte nimmt sich fest vor, die Worte Keyes zu rächen. Er möchte gegen den gefürchteten, mit roter Rüstung versehenen Ritter kämpfen (V. 141, 202-222). Dies alles erinnert stark an >PercevalMoriaen< und >Ridder metter mouwen< verlangt nur Percevals Mutter eine nähere Betrachtung. Der fix a la veve dame (»Sohn der Witwe«, V. 74) wird, abgeschieden von der Welt, im Wüsten Wald von seiner Mutter großgezogen. Diese Isolierung ist ihre Reaktion auf den großen Verlust, den sie vorher erlitten hat. Die zwei älteren Brüder Percevals, die Ritter waren, sind umgekommen, und auch ihr Vater, ein im Kampf verkrüppelter Adliger, ist vor Kummer um den Tod seiner Söhne gestorben. Als Perceval dennoch die Ritterwelt kennen lernt, kann seine Mutter ihn davon nicht zurückhalten, in die Welt zu ziehen. In schäbigen Kleidern und mit mütterlichen Ratschlägen in Bezug auf den richtigen Umgang mit Frauen und den Besuch der Kirchen und Klöster versehen, macht sich der Jüngling auf den Weg zum Artushof. Beim Abschied ereignet sich Folgendes: Quant Ii valles fu eslongiez L e get d'une pierre menue, Si se regarde et voit cheüe Sa mere al chief del pont arriere, 13

Vgl. SIMON SMITH, »Der minnen cracht«. Over de thematiek van de >Roman van den Riddere metter MouwenPerceval< wesentlich ist, ist eine Feststellung, die für die mittelniederländische Literaturgeschichte eine interessante Folgefrage aufwirft. Wie haben die flämischen Dichter von >Moriaen< und >Ridder metter mouwen< auf die Tatsache reagiert, daß im altfranzösischen Roman Percevals Mutter eine besondere Rolle vorbehalten war? Wenn sie sich dieses Aspekts des 15

LYDIA M I K L A U T S C H , Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 88), S. 72.

Mütter und Söhne

25

Chretienschen Textes bewußt waren, muß das ihren Romanen zu entnehmen sein. Wer eine eigene >PercevalMoriaen< Nachdem Lanceloet und Walewein den Artushof verlassen haben, um auf die Suche nach Perceval zu gehen, begegnen sie dem Titelhelden Moriaen. Zunächst erfahren wir etwas über dessen Mutter. Der junge Mohr erzählt, daß die Abwesenheit seines Erzeugers zu großen Problemen geführt hat: Ic ende min moder sijn onteerft, Om dat wi sijns hebben gedeerft, Van groten gode ende van lene. Dat hebwi verloren al gemene Dat haer verstarf van hären vader. Het es ons ontwijst algader Bider wet vanden lande. (V. 707-713) »Meine Mutter und ich haben die Erbschaft ausgedehnter Lehnsgüter verloren, weil er nicht da war. Alles, was sie von ihrem Vater geerbt hat, haben wir verloren. Es ist kraft der Gesetze des Landes beschlagnahmt worden.«

Nachdem Moriaen zum Ritter geschlagen wurde, ist er ausgezogen, um dieses Unrecht rückgängig zu machen. Sollte sein Vater noch leben, so will der Jüngling mit ihm nach Moriane zurückkehren, um dort seine Mutter mittels einer Heirat mit seinem Vater in ihre Rechte wiedereinzusetzen. Wie Percevals Mutter in Chretiens Roman ist auch Moriaens Mutter namenlos.16 Ahnliches gilt für die Mutter des Ritters mit dem Ärmel. Keiner der drei Frauen wird eine Identität verliehen mittels eines Eigennamens. Daß sie namenlos sind, weist darauf hin, daß es bei ihnen ausschließlich um ihre Rolle als Mutter geht.17 Was Moriaens Mutter betrifft, geht das noch einen Schritt weiter, denn sie wird als einzige der drei Frauen nicht sprechend gezeigt. Sie ist ohne Stimme, wodurch sie noch weniger als Individuum hervortritt. Percevals Mutter ist Witwe, Moriaens Mutter ist unverheiratet. Dieser Unterschied ist nach P E G G Y M C C R A C K E N kennzeichnend für zwei Generationen von Müttern in Gralsromanen. Während die Mütter der ersten 16

17

Siehe auch CATHY C. DARRUP, Gender, Skin Color and the Power of Place in the Medieval Dutch >Romance of Moriaens The Medieval Feminist Newsletter 27 (Spring 1999), S. 15-24, hier S. 16 und 20. Siehe BRUCKNER [Anm. 14], S. 220.

26

Bart

Besamusca

Generation Gralshelden (Perceval, Lancelot) verheiratet sind, sind die Mütter der zweiten Generation (Galahad, Helain le Blanc) unverheiratet. »The second-generation mothers conceive not after marriage, not even after a courtship, but in a single sexual encounter with the knight w h o passes by while seeking adventure.« 1 8 Eine solche Begegnung wird von Moriaen geschildert: Het geuiel hier te voren, Alse gi nv moget hören, Dat hi quam in moriane. Dor sine vt vercorne gedane Vermindene daer ene ioncfrowe. Dat was min moder, bi mier trowe. Ende so vort lipen die saken Bi harre beider Spraken Dat si sinen wille dede Dor sine grote houeschede Ende om dat hi was so scone. Des viel si in cranken lone Ende dogeder omme groten rouwe. Manlijc gaf anderen trouwe Eer si viel in sire genaden. Dies was si harde omberaden, Want hi hare ontfor daer naer. Dies es wel leden .xxiiij. iaer. Ende doe hi daer van hare seiet, Droech si mi ende hine wist niet. (V. 645-664) »Vor langer Zeit geschah es, wie ihr jetzt hören werdet, daß er nach Moriane kam. Wegen seiner Schönheit verliebte sich ein Fräulein in ihn. Wahrhaft, es war meine Mutter. Es kam so weit, daß sie ihm wegen seiner Höfischheit und seiner Schönheit zu Willen war. Daraus ergaben sich für sie schlimme Folgen, die sie sehr betrübten. Bevor sie sich ihm hingab, versprachen sie sich die gegenseitige Treue. Darin hat sie sich geirrt, denn er ließ sie darauf im Stich. Das ist jetzt etwa 24 Jahre her. Als er sie verließ, wußte er nicht, daß sie mit mir schwanger war.« So betrachtet, ist Moriaens Mutter eine typische Vertreterin der zweiten Generation: Ihr Sohn wurde von einem Gralshelden der ersten Generation gezeugt - von Perceval, der sich auf einer Queste befand. Percevals Mutter und die Moriaens leben beide in bedauernswerten sozialen Verhältnissen. Aber ihre Haltung der Gesellschaft gegenüber ist unterschiedlich. Percevals Mutter wohnt im gaste forest (V. 75) und will nach dem Leid, das ihr zugestoßen ist, von der Welt nichts mehr wissen. Deren markante Vertreter, die Ritter, sind in ihren Augen Les angles dont la gent

18

PEGGY MCCRACKEN, Mothers in the Grail Quest: Desire, Pleasure, and Conception, Arthuriana 8 (1998), S. 3 5 ^ 8 , hier S. 37.

Mütter und Söhne seplaignent,

/Qui octent quanqu'il ataignent

27 (»die Engel, über die die Leu-

te klagen, die alles töten, was ihnen entgegentritt«, V. 399^-00). Die Mutter Moriaens dagegen behauptet sich in einer Umgebung, die ihr feindlich gesinnt ist. Während Percevals Mutter ihren Sohn bei sich behalten will (V. 506-507), klärt Moriaens Mutter ihr Kind über das Eheversprechen seines Erzeugers auf (V. 695-702). Als er losreitet, um seinen Vater zu finden, wird nicht erwähnt, daß seine Mutter ihn von seinem Ausritt zurückhalten will (V. 720-729). Am Ende der mittelniederländischen Geschichte, wenn Moriaens Mutter wieder in ihre Rechte als reiche und mächtige Lehnsherrin eingesetzt wird (V. 4617—4653), ist der Gegensatz zu Percevals Mutter in sozialer Hinsicht am schärfsten. Sowohl in Chretiens Roman wie im >Moriaen< ist das Band zwischen Mutter und Sohn auffällig stark. Aber diese Beziehung nimmt in den beiden Romanen unterschiedliche Formen an. Perceval hat ein gestörtes Verhältnis zu seiner Mutter, da beide entgegengesetzte Interessen haben. Sie will ihn von der Ritterschaft zurückhalten, er will Ritter werden. Diese Spannung kommt in der oben zitierten Abschiedsszene wohl am prägnantesten zum Ausdruck: Perceval reitet weg, während er sieht, daß seine Mutter in Ohnmacht gefallen ist. Im >Moriaen< dagegen haben Mutter und Sohn ein ungetrübtes Verhältnis, da ihre Interessen parallel verlaufen. Das Handeln Moriaens wird durch zwei miteinander verflochtene Ziele motiviert: Er reitet aus, um seiner Mutter ihre rechtmäßige Position zurückzugewinnen und um die eigene Schande, nämlich die der Vaterlosigkeit, zu beenden (V. 714-719). Indem er seinen Vater findet, werden beide Ziele erreicht. Auffällig sind auch die unterschiedlichen Folgen, die das Mutter-SohnVerhältnis für die Beteiligten selbst hat. In Chretiens Roman führt die Bindung zwischen beiden zu beider Unglück. Percevals Mutter stirbt vor Kummer um den Abschied ihres Sohnes. Perceval unterläßt es wegen seiner Haltung der Mutter gegenüber, auf der Gralsburg die notwendigen Fragen zu stellen, wodurch er im Grunde die Zerstörung des Landes auslöst. Im mittelniederländischen Roman hat das Mutter-Sohn-Verhältnis dagegen günstige Folgen. Moriaens Einsatz für seine Mutter führt ja dazu, daß die Geschichte für sie und für ihn gut ausgeht. In der Gesellschaft seines Vaters und einer Gruppe Artusritter kehrt Moriaen in seine Heimat zurück. Mit großem Aufwand an militärischen Mitteln zwingt er die unbotmäßigen Adligen, sich zu unterwerfen. Sie geben seiner Mutter ihren Besitz zurück, die sie wiederum damit belehnt (V. 4 6 0 6 ^ 6 2 2 ) . Als die Lehnsherrin daraufhin den Vater ihres Sohnes heiratet, ist der Kreis geschlossen.

28

Bart Besamusca

>Moriaen< ist ein Roman, in dem ein Mutter-Sohn-Verhältnis dargestellt wird, das sich von der Verbindung zwischen Perceval und seiner Mutter in Chretiens Roman wesentlich unterscheidet. Der flämische Dichter hat deutlich eigene Akzente gesetzt, indem er die Rolle der Mutter mit anderen Konnotationen versieht. Die Elemente Unheil, Schuld und Zerstörung fehlen dem mittelniederländischen Roman. Das Band zwischen Moriaen und seiner Mutter führt zu Glück, großen Rittertaten und zur Wiederherstellung der Ordnung.

Mutter und Sohn im >Ridder metter mouwen< Der Held der zweiten mittelniederländischen >PercevalWigaloisWigalois< V. 2146ff.!). Dulciflur weint, ihr schöner Mund wird bleich. Atroclas und Wigamur verfolgen den Frauenräuber. Es gelingt ihnen nur mit Mühe, seine Spur zu finden - an dieser Stelle erfolgt als retardierendes Moment der Abschluß eines früheren Handlungsteils, durch den ein Liebespaar wieder zusammengeführt wird. Als sie schließlich im Land Lypondriguns ankommen, erfahren die Verfolger, daß er - um der Entführten zu imponieren - ein Turnier veranstaltet. Der Frauenräuber wird sogleich vom inkognito auftretenden Wigamur in den Sand gestoßen. Der folgende Text ist lückenhaft überliefert, die Hochzeit ist dem Textverlust zum Opfer gefallen. Am Schluß bringt Dulciflur dann zur allgemeinen Freude den Sohn Dulciwigar - in dessen Namen die Namen der Eltern und der Adler kombiniert sind - zur Welt. Die Geschichte Dulciflurs ist kurz. Ohne je gefragt worden zu sein, wird sie zu politischen Zwecken - der Versöhnung zweier Könige - gebraucht. Tatsächlich - dies habe ich angedeutet - besitzt sie keinerlei individuelle Merkmale oder Eigenschaften und verschwindet als Person völlig hinter dem Prunk ihrer Aufmachung. Zwar hat der Autor versucht, ihre Gestalt dadurch ein wenig aufzuwerten, daß er ihr durch die Entführung eine Leidensgeschichte beilegte. Ihre Leiden kommen aber - jedenfalls soweit der Text überliefert ist - lediglich in der Schilderung des Wirtes zum Ausdruck, der Vater und Bräutigam auf die richtige Fährte weist (V. 5494ff.). Demnach habe die Entführte über die Maßen geweint, ihren Verlobungsring immer wieder angesehen und über den Verlust des Bräutigams geklagt; auf die Drohungen des Entführers hin habe sie ihre weißen Hände gerungen und ihren schönen Kopf gegen die Wand geschlagen. Ob

Hie ist diu aventiure geholt

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der Autor das Leid Dulciflurs noch stärker herausgehoben hat, bleibt aufgrund der Uberlieferungslücke unklar. Mit klagenden Frauengestalten wie Enite, Herzeloyde oder Sigune kann man Dulciflur gewiß nicht vergleichen. Da Dulciflur überhaupt erst zu einem ziemlich späten Zeitpunkt in den Lebenslauf des Helden tritt und die Heirat politischem Kalkül folgt, hat er - anders als Gwigalois - nicht einmal die Chance, sie als Preis für einen Kampf zu gewinnen. Wohl aus diesem Grund hat der Autor noch die an sich entbehrliche Entführungsgeschichte als Achtergewicht hinzugefügt, bei der es freilich erneut um aventiure, nicht um minne geht. Des Strickers >Daniel von dem Blühenden Tal< ist bekanntlich ein flott erzählter, jedoch eigenartiger, um nicht zu sagen: abartiger Artusroman. 11 Auch hier kommt der Held - wie es das Gesetz der Gattung befiehlt - zu einer Ehefrau. Nach dem Tod König Maturs von Cluse in der Schlacht werden seine verbliebenen Mannen ohne einen Schwertstreich durch Daniels List besiegt. Sie bitten um ihr Leben, nehmen lant, Up, kint und wip von Artus zu Lehen und werden guote friunde (V. 5799). Artus sinnt dann darüber nach, wie er sich mit Maturs Witwe, der Königin, versöhnen könnte. Er bittet die Vasallen um Vermittlung. Sie reiten zur trauernden Witwe und versuchen, sie wieder aufzurichten. Durch Vernunftgründe sie würde andernfalls Land und Leute verlieren, auch habe Artus notgedrungen, Matur aber sehr töricht gehandelt - wird sie schließlich überzeugt: so wil ich vahen niuwe site (V. 6110). Artus ist erfreut und reitet zur Königin. Unter Tränen heißt sie ihn willkommen, ihm selbst kommen auch die Tränen, und sie versöhnt sich mit ihm. Gawein rät, sie zum Ausgleich mit Daniel (der Matur nicht erschlagen hat - das war Artus höchstselbst) zu verheiraten und ihm das Königreich zu überantworten. Daniel ist sogleich einverstanden und alle freuen sich. Die Königin - die den zu ihrem zweiten Gemahl bestens passenden Namen Danise trägt (V. 7569) - fragt, ob es ihr vielleicht zur Schande gereiche, die Klage um den getöteten Gemahl so rasch zu beenden; als Artus verneint, stimmt sie der Heirat zu: ich 11

Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, hg. von MICHAEL RESLER, Tübing e n 1 9 8 3 ( A T B 9 2 ) . Vgl. K A R L - E R N S T G E I T H / E L K E

UKENA-BEST/HANS-JOA-

CHIM ZIEGELER, >Der Stricken, 2 V L 9, Sp. 4 1 7 - 4 4 9 , hier bes. Sp. 423-427; MERTENS [ A n m . 2 ] , S . 2 0 5 - 2 1 5 ; KELLERMANN-HAAF [ A n m . 4], S . 1 0 9 - 1 1 2 ; MERTENS,

>gewisse lere< [Anm. 5], S. 92-96; WOLFGANG W. MOELLEKEN, Minne und E h e in

Strickers >Daniel von dem blühenden Tak Strukturanalytische Ergebnisse, Z f d P h 93 (1974), S. 42-50; PETER KERN, Rezeption und Genese des Artusro-

mans. Überlegungen zu Strickers >Daniel vom blühenden TalDaniel von dem Blühenden TalErecIweinParzival< vor Augen: »Der Eindruck von naiver, Wiederholungen nicht scheuender, anspruchsloser Erzählfreude, der sich da und dort einstellen mag, ist trügerisch. In hohem Maß lebt die Gattung vom bewußten Rückbezug und Rückverweis auf die gattungsstiftenden Romane, das Vorwissen des Publikums ist ein Konstitutionsgrund. Ein Netz von Anspielungen, Motiv- und Figurenzitaten bindet die Romane aneinander. [...] Was in den Romanen geboten wird [...], inszeniert ein regelrechtes Spiel mit den Kenntnissen und Erwartungen des Publikums, und diese Kenntnisse sind [...] durch Hartmann und Wolfram geprägt.« 13 An den Frauengestalten der klassischen Romane haben die Autoren der späteren Artusromane sich freilich allenfalls in bescheidenem Umfang orientiert. Die weiblichen Hauptfiguren der klassischen Romane besitzen ausgeprägte Besonderheiten. Ihre Beziehungen zu den Männern sind fast durchweg problematisch. An Enite und Laudine wird etwa gezeigt, wie schwierig und mühsam es ist, Liebe und Herrschaft in ein richtiges Verhältnis zu bringen. Belakane und Herzeloyde gehen nicht zuletzt an der Rast- und Ruhelosigkeit und der nicht zu stillenden Abenteuerlust Gahmurets zugrunde, 14 Cundwiramurs hat nicht nur eine leidvolle Jugend als königliche Waise, sondern sie muß auch Parzivals Ruhelosigkeit ertragen, Sigunes Leidensgeschichte führt in den eigenen Tod, Orgeluse - meines Erachtens die komplexeste und interessanteste Frauengestalt Wolframs 15 - versucht, den ungemeinen Reiz, den sie auf alle Männer ausübt, fortwährend für ihre Rache an Gramoflanz zu instrumentalisieren. Nichts davon bei Wirnt, im >WigamurParzivalParzival< Wolframs von Eschenbach, in: Germanistik in Erlangen, hg. von DIETMAR PESCHEL, Erlangen 1983, S. 61-73. Vgl. JOACHIM BUMKE, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/Weimar 7 1997 (Sammlung Metzler 36), passim (vgl. Register S. 270 unter >OrgeluseWigamur< trieb, oder die >RegelverstößePublikumWigalois< oftmals geradezu gehäuft einstreuten - sie steigerten die Seriosität! konnte man unter Umständen überhören, das Durchschauen des literarischen Spiels, das die Dichter ebenfalls betrieben, getrost den Kennern überlassen. Die Eheschließung des Helden mit einer selbstverständlich sehr schönen, reichen und vornehmen Dame war nurmehr ein Schnörkel, der zum richtigen Happy end gehörte - die Dame selbst war sonst weiter nicht von Interesse.21

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21

Alle Zitate aus: Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von HEINRICH RÜCKERT, Quedlinburg/Leipzig 1852, N D Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke). In diesem Zusammenhang kann man auch an den bekannten Umstand erinnern, daß die bedeutendsten Romanciers des späteren 13. Jahrhunderts, Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg, den Artusroman ganz gemieden haben. Für einige Literaturhinweise bin ich Markus Wennerhold dankbar verbunden.

Danielle Buschinger

Die Marke-Figur in den Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg

Zweimal unternahmen es Autoren des 13. Jahrhunderts, Gottfrieds unvollendetes Werk durch eine >Fortsetzung< zu vollenden. Ulrich von Türheim, ein aus der Gegend Augsburgs stammender Adliger, der bekannt ist als Fortsetzer des >Willehalm< Wolframs von Eschenbach und als Verfasser einer nur bruchstückhaften deutschen Bearbeitung des >Cliges< des Chretien de Troyes (es ist der >ClieContinuatio< des Gottfriedschen Tristan-Romans. Zwischen 1273 und 1278 entsteht dann Heinrichs von Freiberg Fortsetzung, 1 und wie Ulrichs von Türheim Fortsetzung ist sie immer in Verbindung mit dem Werk Gottfrieds von Straßburg überliefert. Wie für den unvollendeten >Conte del Graal< Chretiens de Troyes, der auch seine Fortsetzer hatte, wollten die Schreiber des Tristan-Romans einen vollständigen Text in Umlauf bringen, wohl aus geschäftlichen Gründen. Es ging darum, dem nach neuen Geschichten gierigen Publikum einen vollständigen Roman zu bieten, der das unvollendete Werk ersetzen würde. O b die Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg auf unbekannte bzw. nicht überlieferte Vorlagen zurückgehen - dies ist ζ. B. die Meinung A L A N D E I G H T O N S , der schreibt: »Es ist [ . . . ] wahrscheinlich, daß beide Dichter vor allem bei der Strukturierung ihrer Werke auf andere Texte zurückgegriffen haben als nur den >Tristrant< Eilharts von Oberge« 2 - oder ob Ulrich von Türheim auf Eilhart zurückgeht und Heinrich von Freiberg sowohl auf seinen Vorgänger als auch auf Eilhart, bleibe dahingestellt. In meiner Untersuchung der Marke-Figur in beiden Fortsetzungen 3 einer Untersuchung, die ich meinem langjährigen Freund und Kollegen, 1

DANIELLE BUSCHINGER, Heinrich von Freiberg. Notes sur le texte et la traduction, in: Tristan et Yseut. Les premieres versions europeennes. Edition publiee s o u s la d i r e c t i o n de CHRISTIANE MARCHELLO-NIZIA, P a r i s 1 9 9 5 , S. 1 4 9 4 .

2

3

ALAN DEIGHTON, Die Quellen der Tristan-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg, ZfdA 126 (1997), S. 140-165, hier S. 165. In der letzten Zeit hat sich die Forschung ziemlich intensiv mit den Fortsetzern befaßt: ζ. B. BURGHART WACHINGER, Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert, in: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger K o l l o q u i u m 1 9 7 3 , hg. v o n WOLFGANG HARMS u n d L . PETER JOHNSON, B e r l i n

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Danielle

Bmchinger

Volker Mertens, widme, dem vielseitigen Germanisten, der sich oft mit dem Tristanstoff, u. a. mit dem Eilhartschen >Tristrant-Roman< befaßt hat werde ich dennoch, statt auf nichtvorhandene bzw. nicht überlieferte Texte, sowohl auf den Gottfriedschen >TristanTristrant< zurückgreifen. Diese Untersuchung wird mir auch erlauben, darzulegen, wie Ulrich und Heinrich verfahren sind.

Ulrich v o n Türheim Für Ulrich von Türheim, der den Sinn der Tristan-Romane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg völlig umkehrt, führt Tristan als Liebender ein unreht lehn (2503). 4 Die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist für Ulrich ehrenrührig, ja gottlos. U m diese seine Einstellung deutlich zu

4

1975, S. 56-82; J A N - D I R K M Ü L L E R , Tristans Rückkehr. Zu den Fortsetzern Gottfrieds von Straßburg, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992, Bd. II, S. 529-548; KLAUS GRUBMÜLLER, Probleme einer Fortsetzung. Anmerkungen zu Ulrichs von Türheim >TristanTristan< de Heinrich von Freiberg, in: TristanStudien, Greifswald 1993 (WODAN 19), S. 57-63; DANIELLE BUSCHINGER (avec la collaboration de WOLFGANG SPIEWOK), Ulrich von Türheim: premiere continuation, Heinrich von Freiberg: Deuxieme continuation. Traduction fran^aise, notices et notes, in: Tristan et Yseut. Les premieres versions europeennes. Edition publiee sous la direction de CHRISTIANE M A R C H E L L O - N I Z I A , Paris 1995, S. 14691515; M A R I O N MÄLZER, Die Isolde-Gestalten in den mittelalterlichen deutschen Tristan-Dichtungen. Ein Beitrag zum diachronischen Wandel, Heidelberg 1991, S. 237-259; MONIKA SCHAUSTEN, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter, München 1999, S. 201ff. - In der Forschung hat sich meines Wissens doch keiner mit der Marke-Figur bei Gottfrieds Fortsetzern befaßt, außer A L A N R. DEIGHTON, dessen Dissertation ich aber nicht habe einsehen können (Studies in the Reception of the work of Gottfried von Straßburg in Germany during the Middle Ages, Diss. Oxford 1979). Ich zitiere Ulrich nach der Edition WOLFGANG SPIEWOKS, Ulrich von Türheim, Tristan und Isolde. (Fortsetzung des Tristan-Romans Gottfrieds von Straßburg). Originaltext (nach der Heidelberger Handschrift Pal. Germ. 360). Versübersetzung und Einleitung von WOLFGANG SPIEWOK in Zusammenarbeit mit D A N I ELLE BUSCHINGER, Amiens 1992 (WODAN 11).

Die Marke-Figur

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machen, legt er Tristan einen die eigene Schuld eingestehenden, einsichtigen Monolog in den Mund: Tristan, la den unvuc, dez diu werlt niht ruchet unde doch der sele vluchet. Tristan, la den unsin unde tu die gedanke hin, die dir dein heil verkerent unde gar din ere unerent. (V. 4 6 - 5 2 )

Nach Ulrichs Auffassung führt diese gegen die menschliche Moral-Ordnung und gegen das Gebot Gottes gerichtete Liebe die beiden Liebenden in die Klauen des Teufels. Aus diesem Grunde werden die von Ulrichs Vorgängern disqualifizierten Ehegatten nunmehr rehabilitiert, vor allem Marke. Darum sagt Tristan in seinem Monolog la dim oheime sine Ysote da heime, dem werden kunege Marke (V. 5 3 - 5 5 ) .

Doch tritt König Marke in Ulrichs Fortsetzung wenig auf, da die Handlung erst nach Tristans Weggang aus Kornwall einsetzt, im Augenblick, in dem der Held sich entschließt, Isolde Weißhand zu heiraten, und Ulrich nur vier Wiederkehrabenteuer des Helden an Markes Hof erzählt (zuerst muß Tristan vor Kaedin rechtfertigen, warum er seine Ehe mit Isolde Weißhand nicht vollzogen hat: Isolde die Königin sei viel schöner; dann verkleidet er sich als Aussätziger, beim dritten Mal als garzun, schließlich kommt er zu Isolde in der Narrenverkleidung). Marke interveniert nur bei der dritten und der vierten Wiederkehr Tristans. Bei der dritten Rückkunft des Helden, als dieser sich heil davon gemacht hat, melden der Liebenden Erzfeinde Melot und Antret Marke, sein Neffe sei im Lande. Und das Merkwürdige ist, daß er ihnen keinen Glauben schenkt: Er sagt, daß sie Tristan verleumden und ihn, Marke, betrügen (V. 2469-70) und daß sein Neffe und Isolde vollkommen unschuldig seien: Tristan unde diu reine Ysolt, /die sint missewende νή (V. 2464f.). Er hat sie ja nicht selbst ertappt. Wir haben hier dieselbe Situation wie in Eilharts >Tristrant< in der ersten Hälfte des Werkes: Antret ist es auch, der Marke meldet, daß seine Frau Isalde mit seinem Neffen schläft, wobei Marke seinen Neffen in Schutz nimmt, da er ihm immer gut gedient habe, Tristrants Hilfe habe ihm bislang nur Ruhm und Vorteile gebracht und er könne ihn nicht entbehren. In der Episode Tristan als Tor< werden Tristan und Isolde von Antret im Bett erwischt; darauf hin ergreift Tristan die Flucht, trifft auf Marke und will ihn sogar erschlagen. Nachdem er Pleherin, einen der Verfolger, mit seiner Keule getötet hat, gebietet Marke, der seinen Neffen erkannt hat, man solle

70

Danielle Buschinger

Tristan und Isolde fangen und dann auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Dieser Entschluß ist aber eher auf den Zorn und das Leid über Pleherins Tod zurückzuführen. Nachdem Tristan hat glücklich entkommen können, richtet Marke seinen Zorn allein auf Isolde: Er will sie bei lebendigem Leib zusammen mit Pleherin gemeinsam begraben. Dies ist nun ein Verhalten, das dem des Eilhartschen Marke entspricht. Des Königs Ratgeber sagen aber Marke, er solle seinen Zorn gegenüber Isolde fahrenlassen, denn der krone ez niht gezeme, /ob er den lip ir neme (V. 2827f.). Es zieme einem Herrscher nicht, seine Frau zu töten. Daraufhin verspricht er, Isolde nichts zu tun, ja, er wolle gar jeden, der ihm Schlechtes über sie erzählt, dies furchtbar büßen lassen. Die Umkehr ist vollkommen. So ist es augenscheinlich, daß Ulrich die Aufforderung der Ratgeber an Marke, Isolde nichts anzutun, der Gottfriedschen Episode des letzten Zusammentreffens der Liebenden im Baumgarten entlehnt hat. In beiden Texten soll Marke um seiner Ehre als König willen Isolde schonen (G 18359-18404). In dieser Episode nimmt Ulrich Bausteine seiner Erzählung - aus Eilharts >Tristrantdas klägliche Endepiu piu! sol der ein kunic sin? /er were kum ein kunegelin /bi mir, als ich ein kunic bin!MeliassinRoman de la Rose< bieten die übrigen Romane eine quantitative Vermehrung des Belegmaterials, aber keine Modifzierung oder auch nur Nuancierung bei den Schilderungen vom >Gebrauch< der Gedichte. Eine gewisse Ausnahme macht die P a n there d'AmoursFrauendienst< Ulrichs von Liechtenstein entwirft im Vergleich mit den französischen Romanen ein erstaunlich einheitliches Bild vom Umgang mit Lyrik. Lediglich die in der Trobadorlyrik und bei Ulrich wichtige Form der Übermittlung des Gedichtes als Brief spielt in den französischen Romanen keine Rolle, sonst sind nur einige, nicht verwunderliche Akzentverschiebungen bei dem deutschen Autor zu beobachten, etwa das Fehlen der chansons de toile. Schließlich tun die Ubereinstimmungen der literarischen Schilderungen mit den Bildinhalten der Manessischen Handschrift ein Übriges, um die Einheitlichkeit des Bildes zu konsolidieren. Sollten sie alle gleichförmige Phantasievorstellungen von Dichtern und Malern des 13. Jahrhunderts gewesen sein? Die verschiedenen Weisen der Liedvermittlung lassen sich etwa wie folgt gruppieren:9

6

7

8 9

Jakemes, Le roman du Chastelain de Couci et de la dame de Fayel, hg. von J. M. DAVIS, Minnesota 1972. - Das Werk enthält 3 Tanzlieder, 7 Minnekanzonen (4 wahrscheinlich vom Chastelain de Coucy, 2 von Gace Brule, 1 von Jakemes, dem Autor). Nicole de Margival, Le Dit de la Panthere d'Amours, hg. von HENRY A. TODD, Paris 1883. - Das Werk enthält 4 Refrainlieder, 3 Tanzlieder, 3 dits, balladenartige Erzähllieder, 7 Minnekanzonen von Adam de la Halle. Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst, hg. von KARL LACHMANN, Berlin 1841. Ich beschränke mich für jeden Punkt auf einen oder zwei Belege; für weiteres Belegmaterial verweise ich auf CRAMER, Waz hilfet sinne [Anm. 2], S. 32-49.

Thomas Cramer

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1. Vermittlung durch Boten la Der Bote trägt der Adressatin vor; er hat entweder das vorher gelernt oder er hat es schriftlich hei sich.

Gedicht/Lied

Beispiele: Ulrich von Liechtenstein 17,21ff.: Seine niftel wird vom Autor beauftragt, der Dame das Gedicht ze dren zu bringen und über den Erfolg Bericht zu erstatten. Das Gedicht wird ihr aufgeschrieben mitgegeben (ich sande hin bi ir diu liet; 18,3). Nach fünf Wochen berichtet die Überbringerin, sie habe das Gedicht vorgelesen (e daz min lip von danne schiet, ich las ir diniu niuwen liet; 20,21). Es scheint, daß es unpassend ist, wenn eine Frau als Botin singt. Jedenfalls verhält sich ein männlicher Bote anders: Ulrich hat lange vergeblich nach einem Boten gesucht (118,9ff.), bis ein kneht/knappe bereit ist, den Gang zu übernehmen. Er singt das überbrachte Lied der Dame vor (nu hoeret mich, ich kan diu liet, 125,16; ähnlich 134,30). In der >Panthere d'Amours< finden wir ebenfalls den sprechenden, nicht den singenden Boten bzw. Autor: Si vous pri que vous veille plaire, Q u e vous veilliez tant por moi faire Por allegier mon grief martire Q u e vous veilliez cest rondel dire, Q u e j'ai fait en vostre fiance; Si me fera grant allejance:

»Soiez liez et menez joie, Amis [...].* E t se de vous oy l'avoie

Cest autre ay fait, que je diroie:

»J'ai eii commandement D'estre liez [...].«10

10

Panthere d'amours [Anm. 7], S. 94f.; Übersetzung: »Ich bitte, wenn's Euch gefällig ist, daß Ihr so viel für mich tut, mein kummervolles Martyrium zu erleichtern, daß Ihr mir das

rondel aufsagt,

das ich E u c h anvertraut habe. D a machte sie

mir die große Freude [zu rezitieren]: >Seid fröhlich und glücklich, Freund [...].< U n d als ich es gehört hatte, habe ich das andere gemacht, das ich aufsagte: >Mir ist befohlen, fröhlich zu sein [...].Roman de la Rose< ist das Bedürfnis, die persönliche Befindlichkeit zu artikulieren, fast der häufigste Anlaß, ein Lied zu singen. D e r Kaiser erwacht, die M o r g e n s o n n e scheint d u r c h das Fenster und erinnert den im B e t t Liegenden an seinen Liebeskummer; alsbald singt er eine Strophe des Chastelain de C o u c y : Li soleils, plus clers que puet estre, geta ses biaus rais par son lit; de sebelin et de samit ot covertoir a roses d'or. Por l'amor bele Lienor, dont il avoit el euer le non, a comencie ceste changon: Li noviaus tens et mais [et violete] et rossignox me semont de [·•·]

chanter;

Or m'en doint Dex en tel honor monier, cele OH j'ai mis mon euer et mon penser q'entre mes bras la tenisse nuete ainz q'alasse outremer. Einsi se conforte en chantant.11 11

Roman de la Rose [Anm. 3], V. 916ff.; Übersetzung (BIRXHAN [Anm. 3], S. 67f.): »Der allerreinste Sonnenschein warf seine schönen Strahlen auf sein Bett, dessen Decke von Zobelpelz und Samt mit goldenen Rosen bestickt war. Aus Liebe zur schönen Lienor, deren Namen er im Herzen trug, begann er dieses Lied: >Der Frühling und Mai [und die Veilchen] und Nachtigallen laden mich zum Singen ein. [...] Möge mich nun Gott zu solcher Ehre erheben, daß ich diejenige, auf die ich mein Herz und meine Gedanken gesenkt, nackt zwischen meinen Armen halten könne, bevor ich ins Heilige Land aufbrechen So tröstete er sich mit Gesang.«

Wie die Minnesänger

zu ihrer Rolle

kamen

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A u c h auf Glücksgefühle reagiert der Kaiser spontan mit einem für sich selbst gesungenen Lied des Reinaut de Beaujeu: por son cors plus esleecier, de joie dou bon bacheler conmen^a lues droit a chanter: »Lotal amor qui en fin euer s'est mise n'en doit ja mes partir ne removoir [,..].«12 Im >Roman de la Violette< bedient sich die bekümmerte D a m e des gleichen Mittels: Sie singt, allein auf dem Söller sitzend in melancholischer Haltung: sa main a mise a sa maisiele (»ihre H a n d hat sie an ihr Kinn gelegt«). 1 3 Im gleichen R o m a n versucht sich Gerars in einer Abschiedsszene mit einem Lied zu trösten: »[...] Mais je me reconforterai, Pour moi conforter chanterai.« Lors cante molt halt et molt chler: Par Diu! je tienc afolie [...]. Tout ensi va Gerars chantant, Qui conforter se cuide en tant.' 4 Zu dieser Situation des solipsistischen Singens gibt es zahlreiche Varianten. Herren und Damen singen sich abwechselnd leicht frivole Lieder zu ihrem Vergnügen vor (>Roman de la RosePanthere d'Amours< rät die Liebesgöttin dem verlegenen Liebhaber, seine Werbung zitathaft durch ein Lied von A d a m de la Halle vorzubringen, da hier Musterformulierungen die fehlenden eigenen Worte wirksam ersetzen. 1 5 Diese Varianten leiten über zum Typus 2b.

12

13 14

15

Roman de la Rose [Anm. 3] V. 1453ff.; Übersetzung (BIRKHAN [Anm. 3], S. 85f.): »Um sich noch mehr in seiner Freude über die Ankunft des jungen Mannes aufzuheitern, begann er sogleich das Lied des Renaut de Baujieu [...] anzustimmen: >Aufrichtige Liebe, die sich in ein edles Herz gesenkt, kann sich niemals davon trennen oder es verlassen [...]Aber ich werde mich trösten, und um mich zu trösten, werde ich singen.< Da singt er mit lauter und heller Stimme: »Bei Gott, ich bin ein Narr [...].< So geht Gerars singend davon und glaubt, sich so zu trösten.« Ähnliche Szenen im gleichen Roman: V. 2336f. u. 5047f. Panthere d'amours [Anm. 7], V. 1039ff.

Thomas Cramer

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2b Singen face to face allein mit der Dame Es handelt sich dabei offenbar um eine Ausnahmesituation, die gegebenenfalls auch Beunruhigung auslöst, wie Albrechts von Johannsdorf Gedicht XII anschaulich schildert. Beispiele: Ulrich von Liechtenstein singt in einer nicht näher bezeichneten Situation, aber der Vers diu liet vernam min vrowe wol (398,7) deutet darauf hin, daß es in deren Gegenwart vorgetragen wird. Eine Variante dieser Situation ist das Ständchen, das man der Dame bringt. So schildert es der >Roman de la Violettec [...] et dist que il ira quester S'amie, se ja avenroit, Se en nul liu le trouveroit. La ou fu en tel souspechon Ii souvint de ceste canchon, Lors cante cler sans nul delai:

Destrois, pensis, en esmai [...]

Aiglente οϊ et escouta Le canchon que Gerars chanta. Quant ele en a le vois o'fe Molt durment fu esjoi'e, Que bien cuida che fust pour Ii.16

2c Privatvortrag

durch einen

Musiker

Statt selbst zu singen, bittet der Herr einen Berufsmusiker, ihm ein seiner Stimmung entsprechendes Lied vorzutragen oder auch ein neues Lied einem Gast vorzustellen. So singt im >Roman de la Rose< der Spielmann Jouglet dem Kaiser und seinem Gast ein Lied vor. Juglet vit devant lui ester, si Ii fet la chanson chanter.17

16

17

Roman de la Violette [Anm. 4], V. 3230ff.; Übersetzung: »[...] und sagte, er ginge auf die Suche, ob seine Geliebte schon gekommen sei und ob er sie irgendwo fände. Und als er ahnte [sie sei in der Nähe] erinnerte er sich an das Lied, und er sang sogleich mit heller Stimme: Verzweifelt, in Sorgen und der Kraft beraubt [...].< Aiglente hörte das Lied, das Gerars sang. Als sie die Stimme gehört hatte, war sie hoch erfreut, denn sie wußte wohl, daß es an sie gerichtet war.« Eine ähnliche Szene V. 3328ff. Roman de la Rose [Anm. 3], V. 2025f.; Ubersetzung: »Als er [der Kaiser] Jouglet vor sich sah, ließ er ihn ein Lied singen.«

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zu ihrer Rolle

87

kamen

3. Reiselied Lieder werden auf der Reise gesungen, gleich ob der oder die Reisende allein ist oder in Gesellschaft. Bei Ulrich von Liechtenstein bekommt das Reiselied sogar eine eigene Gattungsbezeichnung: üzreise.

Die beiden Ge-

dichte dieser Gattung im >Frauendienst< unterscheiden sich inhaltlich nicht markant von den Minneliedern, haben aber nicht stollig gebaute, relativ kurze Strophen, was zu ihrer Verbreitung beiträgt: mit der üzreise gemuot

fuor

den sumer

manc

ritter

guot

höch-

(405,15). Jean Renart erwartet

v o m Musiker, daß er seine Fidel auch im Sattel handhaben kann: Uns bachelers de Normandie chevauchoit la grande chaucie, conmenga cesti chanter, si la fist Jouglet vieler.18 Im >Roman de la Violette< verkürzen sich sowohl Damen wie Herren den "Weg durch Gesang: Et la dame fu tout devant, de joie vait son chant levant Et chante cler en itel guise: Tant arai bonne amour quise

[...]."

Gerbert de Montreuil betont ausdrücklich, daß das Singen keinen Aufenthalt bedeutet: Α tant erre par pluisours jours. [...] Et nampourquant, quant Ten souvient, De chanter volentes Ii vient, Lors chante halt sans demourer: Par Diu! amours, grief m'est a consirer [...].»

D e r Vollständigkeit halber sei der U m g a n g mit den beiden Gebrauchsgattungen erwähnt: Tanzlied und Chanson de Toile, die nur im Französischen heimisch ist. 18

19

20

Roman de la Rose [Anm. 3] V. 2231ff.; Übersetzung (BIRKHAN [Anm. 3], S. 110): »Ein Jüngling aus der Normandie, der die große Straße entlang ritt, begann dieses Lied zu singen und ließ Jouglet dazu fiedeln.« Roman de la Violette [Anm. 4] V. 2047ff.; Ubersetzung: »Die Dame war vorausgeritten; voller Freude begann sie ein Lied und sang hell folgende Weise: Eine so gute Liebe habe ich mir erwählt [...].« Roman de la Violette [Anm. 4], V. 4615ff.; Ubersetzung: »So irrt er mehrere Tage umher [...] und dennoch, wenn es ihm einfiel, überkam ihn die Sangeslust. Dann sang er laut, ohne anzuhalten: >Bei Gott, Liebe, meine Gedanken sind kummervoll [...].Roman de la Rose< werden Tanzlieder nacheinander von Damen und Herren gesungen, die in der Demonstration ihrer stimmlichen Fähigkeiten wetteifern (V. 51 lf.). An ihrem Vortrag ist also die Hofgesellschaft aktiv beteiligt. Chansons de Toile werden von den Damen gemeinschaftlich gesungen. Sie sind antiquarisches Liedgut und stammen aus den Zeiten, da selbst Königinnen sich noch mit Sticken beschäftigten. Biaus filz, ce fu 9a en arriers que les dames et les ro'ines soloient fere Ior cortines et chanter les changons d'istoire.22

Niemand wird die Aussagen der literarischen Quellen für dokumentarisch halten. Aber ein Faktum ist nicht wegzudiskutieren: Weder in den französischen noch in deutschen, weder in literarischen noch in bildlichen Quellen verbindet sich bei den (annähernd) zeitgenössischen Autoren die Minnekanzone mit irgendeiner Form von höfischer Öffentlichkeit. Im Gegenteil: Öffentlichkeit wird von Jean Renart an einer einzigen Stelle ausdrücklich apostrophiert und in aufschlußreiche Distanz zur höfischen Dichtung gerückt. Der Kaiser befiehlt den Vortrag eines Liedes. Der Befehl ergeht nicht wie sonst immer an seinen Leibmusiker Jougles, sondern an die Schwester eines Spielmanns (la suer a un jougleor, V. 1332f.),23 offenbar die niedrigste soziale Variante, die im Zusammenhang mit Vortragskunst denkbar ist. Sie soll ausdrücklich mout apert (V. 1333) in aller Öffentlichkeit, vor dem ganzen Hof singen, und was sie vorträgt, hat mit höfischer Lyrik nichts zu tun: Sie singt eine durch ihren durchlaufenden Reim an die Laissen der Chanson de Geste erinnernde politische Spruchstrophe über Gerbert von Metz. 21 22

23

Ulrich von Liechtenstein [Anm. 8] 536,9f. Roman de la Rose [Anm. 3]. V. 1148ff.; Übersetzung (BIRKHAN [Anm. 3], S. 74): »Mein lieber Sohn, früher pflegten Damen und Königinnen ihre Behänge und Teppiche zu verfertigen und dabei Lieder von vergangenen Ereignissen zu singen.« Für die möglichen Verständnisvarianten vgl. BIRKHAHNS Ubersetzung [Anm. 3], S. 224, Anm. 59.

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Cel jor fesoit chanter la suer a un jougleor mout apert qui chante cest vers de Gerbert: Des que Fromonz au Veneor tenga, Ii [bons] prevoz qui trestot escouta tant atendi que la noise abessa.24

Das heißt umgekehrt, höfische Lyrik ist ein Reservat für die Edlen, und ihre Exklusivität erweist sich an der kleinen Zahl derer, die mit ihr umgehen. Die Tendenz zum Exklusiven geht so weit, daß in bestimmten Fällen Guillaume Gedichte vom Musiker Jougles nur en l'orelle (V. 1578), ins Ohr gesungen oder geflüstert werden. Slaben üf die minnesenger die man rünen siht,25 der Vers des deutschen Spruchdichters Geltar liest sich wie eine polemische Reaktion auf diese Schilderung Jean Renarts, das geflüsterte bzw. das »ins Ohr« gesungene Minnelied. Die Frage nach dem Verhältnis von vorgetragener Dichtung und höfischer Öffentlichkeit stellt sich aus der Perspektive der Spruchdichter neu. Zwar wissen wir über die Realien des Vortrags von strophischen Sprüchen durch Berufsautoren noch weniger als bei der Minnelyrik, aber, ganz abgesehen von der von Thomasin bezeugten Breitenwirkung Walthers, ist das Vorhandensein eines nennenswerten Publikums eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz der Spruchdichter. So erfahren wir von ihnen auch ungleich mehr und meist Kritisches über das Publikum, seine Erwartungen, seinen Geschmack und seine Bereitschaft, die mitgeteilten Botschaften anzunehmen, als die Minnesänger je geäußert haben. Bei aller Verschiedenheit des Anspruchs und der literarischen Kompetenz ist eins allen Spruchdichtern gemeinsam: Sie ziehen eine scharfe thematische und soziale Trennungslinie zwischen Minnesang und Spruchdichtung. Minnesang ist aristokratische Kunst, die, allein der vreude, der Schönheit und der Zweckfreiheit verpflichtet, nur in der von Alltagssorgen unbelasteten Umgebung gedeiht; wer sie übt, erweist damit ipso facto seine Zugehörigkeit zu den wenigen sozial Auserwählten. Spruchdichtung dagegen entspringt der Notwendigkeit des Broterwerbs und versetzt damit denjenigen, der zu diesem Gewerbe gezwungen ist, an das Ende der Skala sozialer Geltung. Walther von der Vogelweide, der beide Rollen gespielt hat, leidet offenkundig unter dem durch die Verhältnisse erzwungenen Rollenwechsel und artikuliert den Gegensatz mit eindrucksvoller und darum später von anderen immer 24

25

Roman de la Rose [Anm. 3], V. 1332ff.; Übersetzung (BIRKHAN [Anm. 3], S. 81): »An jenem Tag ließ er die Schwester eines Spielmanns vor dem ganzen Hof diese Verse über Gerbert singen: >Nachdem Fromont den Veneor geschmäht, wartete der [gute] Prevot, der alles mit angehört, bis sich der Aufruhr legte.Klage der Kunst< 16,1—4) beklagt sich die Kunst: Ich bin verdorben als ein mist, sam bitter als ein galle; vil ungensdig si mir ist ze hove und in dem schalle. 33

Mit diesem Bereich aristokratischer Ästhetik hat Geltar nichts zu tun. Seine materielle Not und der Verzicht, von frouwen zu singen, werden in einen direkten konsekutiven Zusammenhang gebracht. Das Publikum wird in zwei genau unterschiedene Gruppen aufgeteilt: den wirt, also den Herrn des Hofes bzw. die anwesenden hochadeligen Standespersonen, und das ingesinde, worunter wohl auch Verwaltungspersonal und Dienerschaft zu verstehen sind. Vor beiden will er auftreten. Vielleicht hat man sich unter 31

Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, hg. von EDWARD SCHRÖDER, Bd. 3, Berlin 2 1959, S. 37, 19,1-10.

32

K L D 1 [Anm. 25], S. 78, Il.lf.

33

Konrad von Würzburg [Anm. 31], S. 4.

Thomas Cramer

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beiden zusammen das Publikum, die >Öffentlichkeit< der Spruchdichter vorzustellen. Wenn der Autor sich mit seiner Rolle und der ihm darin zustehenden abgetragenen Kleidung bescheidet, hat er nichts zu befürchten. Im Gegenteil: vielleicht gehen dem wirt über das ästhetische Getue der Minnesänger ze hove und inme schalle dann die Augen auf. Diese nämlich setzen sich nicht der Öffentlichkeit aus, man hört nicht, was sie sagen, man sieht nur, daß sie flüstern, und wer flüstert, hat Geheimnisse und erweckt den Verdacht, unter dem Deckmantel aristokratisch-exklusiver Kunstübung den wirt zu betrügen. Die >Öffentlichkeit< der Spruchdichter durch Analogieschluß für die Minnesänger in Anspruch zu nehmen, verbietet sich bei dieser Sachlage. Mittelalterlichen Ursprungs also ist die Vorstellung vom öffentlichen Auftritt des Minnesängers nicht. Ihre Quellen sind vielfältig und diffus und haben zunächst wenig mit dem Mittelalter noch mit Minnesang, aber viel mit dem Dichterbild zu tun, das sich in der Geniezeit herausbildet.34 Die Stilisierung des Sängers - und gemeint ist hier immer der homerische Sänger oder auch der Barde — zu einer quasi priesterlichen Figur, die für gewöhnlich im Saal des Königspalastes auftritt, ist ein in die Vergangenheit projizierter Reflex des Wunschbildes von der Ausnahmestellung des Poeten, der nach der alten Formulierung der Humanisten den superi aequandus ist, und dem der Platz zur Rechten Gottes jederzeit freigehalten wird.35 Das Bild vom Dichter-Sänger, dessen Gesang sich »wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt«, der wie ein Gott auf Erdenbesuch »als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns« kommt, hat seine prägnanteste poetische und zugleich programmatische Formulierung im Sängerlied in Goethes Wilhelm Meisten gefunden. In ihm trifft man schon alle Elemente, aus denen sich später die Vorstellung vom Auftritt des Minnesängers zusammensetzen wird: der inszenierte Auftritt, der festliche Rahmen und das andächtig lauschende höfische Publikum aus Rittern und Damen. »Was hör' ich draußen vor dem Tor, Was auf der Brücke schallen? Laßt den Gesang zu unserm Ohr Im Saale widerhallen!« Der König sprach's, der Page lief, Der Knabe kam, der König rief: »Bring' ihn herein, den Alten.«

34

35

Vgl.

zum

Folgenden:

ANGELIKA

KOLLER,

Minnesang-Rezeption

um

1800,

Frankfurt 1992. Friedrich Schiller, Die Teilung der Erde, in: Schillers Werke, hg. von LUDWIG BELLERMANN, L e i p z i g o . J . , B d . 1, S. 1 3 3 .

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»Gegrüßet seid, ihr hohen Herrn, Gegrüßt ihr, schöne Damen! Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihr Namen? Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit, Sich staunend zu ergötzen.« Der Sänger drückt' die Augen ein Und schlug die vollen Töne; Der Ritter schaute mutig drein, Und in den Schoß die Schöne. Der König, dem das Lied gefiel, Ließ ihm zum Lohne für sein Spiel Eine goldne Kette holen.36

Vom Inhalt des Liedes mit so großer affektiver Wirkung erfahren wir nicht einmal eine Andeutung. Wäre nicht von Gesang und in Vers 5 der dritten Strophe ausdrücklich von >Lied< die Rede, könnte man meinen, es handele sich um einen ausschließlich musikalischen Vortrag. Hier kommt nicht ohne inneren Widerspruch eine andere, für das spätere Bild des Minnesangs ebenfalls entscheidende Kategorie ins Spiel: die von Herder entworfene Anschauung, nach der, in poetologischer Umdeutung des Paulusworts vom lebendigmachenden Geist und dem tötenden Buchstaben, mündliche Dichtung mit Leben und schriftliche mit Tod gleichzusetzen ist. »Wissen Sie also, daß, je wilder, d. i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist [...], desto wilder, d. i. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder sein! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist, desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht und todte Letternverse sein.«37 Zur mittelalterlichen Lyrik nimmt Herder unter dieser Prämisse eine notgedrungen zwiespältige Haltung ein. »Ueber [...] die sogenannten Minnesinger, mag ich hier nicht reden. Sie waren Volkssänger und warens auch nicht, wie man die Sache nimmt.«38 Einerseits gehört sie für ihn fraglos zum Komplex mündlicher Dichtung und wird damit zum Opfer der Schrift. »Was indessen ehemals das ägyptische Schilf (biblos) getan hatte, daß es nämlich die griechischen Rhapsoden allmählich verstummen machte und statt ihrer lebendigen Gesänge Bücher (biblia) in die 36

37

38

Goethes Werke, hg. von ERICH TRUNZ, 5. Aufl. 1962, Bd. 7, Wilhelm Meisters Lehrjahre, zweites Buch, elftes Kapitel, S. 129f. Johann Gottfried Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, in Herders Werke, Bd. 2, hg. von HEINRICH KURZ, Leipzig o. J„ S. 12. Ebd., S. 70.

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Thomas Cramer

Hand gab, das taten mit der Zeit auch die Baumwoll- und Lumpenschriften. Provenzalen und Trobadoren, Fabel- und Minnesinger schwiegen allmählich, denn man saß und las.« 39 Andererseits ist Herder die Artifizialität von Trobadorlyrik und Minnesang nicht entgangen, die schwer vereinbar ist mit dem göttlichen furor poeticus, den er für die mündliche Dichtung voraussetzt. Die Erklärung der Künstlichkeit liegt für Herder darin, daß die uns überlieferten Gedichte schon schriftlich-dekadente Exemplare der Gattung seien. So fällt es ihm nicht schwer, einzugestehen, daß ihn diese Poesie schlicht langweilt; ein Urteil, das von vielen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts gern übernommen wird. »Allerdings ist überall und allezeit das Gute selten. Auf Eine gute Weise folgten ohne Zweifel zehn und fünfzig elende, [...] endlich ward die ganze edle Kunst ein so jämmerliches Handwerk und Trödelkram, daß große Lust und Liebe dazu gehört, nur noch Etwas von ihren fernen ersten Zeiten in ihr zu wittern oder zu ahnden.« 40 Goethe tritt diesem Urteil bei, wenn er in der Rezension zu >Des Knaben Wunderhorn< die dort edierten Gedichte positiv vom »Singsang der Minnesinger« abhebt. 41 Von hier aus wird verständlich, warum Teile der Literaturwissenschaft so beharrlich auf der ausschließlichen Mündlichkeit des Minnesanges bestehen müssen. Beide Konzeptionen, den gottgleichen Sänger-Dichter der aristokratischen Gesellschaft und den der Mündlichkeit verpflichteten Volkssänger miteinander zu versöhnen, diese Synthese auf den Minnesänger zu projizieren und damit die Vorstellung zu schaffen, von der noch heute die Literaturwissenschaft geprägt ist, blieb der Romantik vorbehalten. Die erste geschlossene Darstellung des Minnesangs, die sich vielen literarischen Schilderungen verdankt, 42 findet man in Wilhelm Müllers Abhandlung über den deutschen Minnesang, der Vorrede zu seinen Übertragungen >Blumenlese aus den Minnesingern< von 1816, 43 die souverän alles 39

Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, 95. Buch, in: Herder, Werke, Bd. 7, hg. von HANS DIETRICH IRMSCHER, Frankfurt 1991, S. 528.

40

Herder [Anm. 37], S. 71.

41

Goethe, Werke [Anm. 36], Bd. 12, S. 283.

42

Ich stelle im Anhang unkommentiert einige charakteristische Szenen aus der vorromantischen, romantischen und nachromantischen Literatur zusammen, in denen die widerspruchsvolle Vorstellung vom priesterlichen Sänger-Dichter mit inszeniertem Auftritt und erschütternder Wirkung auf sein (höfisches) Publikum, die Gleichung Volkstümlichkeit-Lebendigkeit-Mündlichkeit und höfisches Fest als Rahmen zu einer literarischen Einheit werden, die später die Wissenschaft prägt.

43

Wilhelm Müller, Werke, Tagebücher, Briefe, hg. von MARIA-VERENA LEISTNER, Bd. 4, o. O. u. J., S. 7 - 3 0 .

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nicht Belegbare in den Bereich des Evidenten verweisen und damit auch in diesem Punkt für einige neuere Arbeiten in der Literaturwissenschaft wegweisend geworden sind. [Es] bedarf eigentlich [...] wohl kaum einer Erläuterung, daß unsre Sänger, sobald sie ein Lied, es sei aus dem Stegreif oder nicht, vollendet hatten, dasselbe nicht auf Papierblättern oder Pergamentrollen mit sich trugen, oder gar in die damalige kleine Lesewelt herumschickten. Sie trugen es im Kopfe, oder, wenn man das lieber hört, im Herzen, und die Tonart und Sangweise, die sich wohl unter dem Dichten selbst um die Worte schlangen oder vielmehr in dem Gefühle und mit demselben aus dem Sängerherzen quollen, dienten dem Gedächtnisse zum Leitfaden, die vielen Lieder festzuhalten und voneinander zu unterscheiden. [...] aus dem wahren Sänger fließt Gedanke, Wort, Maß, Reim und Weise in einem Strome. Zu dieser Sangweise also, die man sich so einfach, als es in unsrer verschnörkelten Künstlichkeit nur möglich ist, denken muß, lehrte und übte sich der Sänger eine ebenso einfache Begleitung auf seinem Saitenspiele ein, und zog nun durch die Gauen, wie es der freien Dichterbrust gefällt, und sang und spielte seine Lieder von Stadt zu Stadt und von Schloß zu Schloß bei Festen und Turnieren oder im stillen Kreise der Frauen, den Richterinnen des Gesanges (Hierzu Belege anzuführen, würde schulnärrisch sein, da man keine Seite in den Minnesängern vergebens durchlesen wird, wenn man welche sucht). [...] Überhaupt ist in den eigentlichen Minneliedern sehr selten die Rede vom Schreiben oder Schicken der Gedichte, aber desto öfter vom Singen und Bringen, welches letzte überall vom mündlichen Überbringen zu verstehen ist; und daß dieser Gesang nicht bloß eine leere Redensart ist, wie heutzutage, darüber brauche ich wohl keine Worte zu verlieren.44 Die romanhafte Beschreibung des Minnesangs, die den »eigentlichen Minneliedern« nur zurechnet, was keine Spuren schriftlicher Verbreitung aufweist, ist in die akademische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nie eingedrungen. Das liegt vermutlich weniger an historischkritischer Einsicht, als an dem unlösbaren Dilemma, in das sich eine Beschreibung des Minnesangs begibt, die ihre Gegenstände vornehmlich auf ihre Leistung zur Konstituierung einer Nationalpoesie befragt und gleichzeitig zugestehen muß, daß Minnesang unzweifelhaft ein Derivat der Trobadorlyrik ist. Die Lösung besteht in dem Nachweis, daß mit der Übernahme der poetischen Muster durch die Deutschen eine substantielle Veränderung der Botschaft einherging. Eichendorff führt den Gedankengang in seiner »Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands« exemplarisch und für das 19. Jahrhundert normativ vor: Der Minnegesang der Troubadours mag daher immerhin reicher, künstlicher, beweglicher und mannigfaltiger sein; der deutsche dagegen ist bei weitem intensiver, keuscher, inniger, natürlicher und gedankenvoller. Wir finden bei den Troubadours im Grunde schon alle Eigenschaften, die uns bei den heutigen «

Ebd., S. 13-15.

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Franzosen, je nach der individuellen Ansicht, anwidern oder blenden: Nationaleitelkeit, maßlose Ruhmredigkeit, Frivolität, dialektische Virtuosität und sehr viel Politik. D a aber die L y r i k eben die Geschichte der Seele ist, s o entscheidet hier nicht die noch so reich auf der Oberfläche glänzende Äußerlichkeit, sondern einzig die Tiefe, und diese ist ohne Zweifel auf deutscher Seite. 45

Wenn aber Minnesang als »spezifisch subjektive Poesie« 46 Innigkeit und Gedankenfülle artikuliert, dann verbietet das den öffentlichen Vortrag, der unter diesen Prämissen zur exhibitionistischen Schaustellung würde. So ist in Eichendorffs ausführlicher Beschreibung des Minnesangs von den genaueren Modalitäten der Rezeption mit keinem Wort die Rede; lediglich die Schriftlosigkeit wird als selbstverständlich und geradezu notwendig vorausgesetzt, ein Urteil, in dem sich die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ebenso einig ist wie in der Ausblendung der Frage nach den Realien des Vortrags bzw. deren Ersetzung durch die Aussage, die Dichter hätten an Musenhöfen gewirkt. W I L H E L M SCHERERS, des Autors der verbreitetsten akademischen Literaturgeschichte, Aussagen seien hier stellvertretend für viele gleich- oder ähnlich lautende Formulierungen zitiert: »Kein Zweifel, daß an diesem Hofe [der Wartburg, Th. C.] die Musen willkommen waren.« 47 Im Übrigen weiß S C H E R E R mit dem Minnesang ohnehin nicht viel anzufangen. Die meisten Autoren werden kurz im Kapitel »Höfische Epen« mitbehandelt. Außer der Bemerkung, alle Lieder hätten eine Melodie gehabt, erfahren wir nichts über irgendwelche Formen der Rezeption. Das bleibt unverändert auch noch in der Bearbeitung von W A L Z E L , 1918. Die allen Autoren gemeinsame Uberzeugung, »daß alle Lieder, Leiche und Reien zum Gesänge bestimmt waren, darf als gewiß angesehen werden«, 48 führt nicht zwangsläufig zur Vorstellung vom Auftritt des Sängers vor großem Publikum und verstellt nicht den Blick auf die Vielfalt der Rezeptionsmöglichkeiten. »Boten singen vor Frauen und suchen ihnen Neigung für ihre Herren einzuflößen, oder die Lieder selbst werden als Boten gesandt, bisweilen nur als Grüße aus der Ferne [...]. Andere sind dazu bestimmt gewesen, im Freien, öfter wohl von ganzen Chören, gesun45

46 47

48

J o s e p h Freiherr von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Schriften zur Literaturgeschichte, hg. von HARTWIG SCHULTZ, F r a n k f u r t a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 52), S. 865. Ebd., S. 867. WILHELM SCHERER, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 4 1887, S. 195. Vgl. H a n d b u c h der Kulturgeschichte, H a n s N a u m a n n , D e u t s c h e Kultur im Zeitalter des Rittertums, P o t s d a m 1938, S. 91: » A u c h die Wartburg war wie Wien ein Musenhof.« AUGUST KOBERSTEIN, G r u n d r i ß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, B d . 1, L e i p z i g 1847, S. 249.

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zu ihrer Rolle

kamen

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gen zu werden.« 4 9 »Wollten wir die ganze Wirkung ihrer F o r m ermessen, so müßten wir auch die Melodien dieser Lieder kennen. Denn für den Gesang waren sie sämtlich bestimmt, und jeder Dichter war zugleich K o m ponist [ . . . ] · Die Dichter selbst trugen ihre Lieder vor; sie lehrten sie auch die Boten, die den Verkehr mit der Geliebten vermittelten; Spielleute, aber auch Herren und D a m e n der Gesellschaft sangen sie ihnen nach. So wanderten sie von Mund zu Mund [ . . . ] . « 5 0 Je populärer die Darstellungen sind, desto weniger mögen die Autoren auf die beiden Vorgaben der Goethezeit verzichten: die W ü r d e des Dichter-Sängers, die zu ihrer Demonstration der öffentlichen Inszenierung bedarf, und die deutsche Gefühlsinnigkeit, die sich nur im Verborgenen entfaltet. Die prinzipielle Unvereinbarkeit beider Vorstellungen beflügelt die Phantasie: Wir sehen »das Helldunkel der ersten Jünglingszeit auch über die Minnepoesie ausgebreitet: von ferne nur wird der Geliebten nachgeschaut; kaum ein stummer Blick wird auf das Antlitz der Minniglichen gewagt, und begegnet ihr Auge dem träumerisch festgehefteten Auge des Liebenden, so sinkt der Blick mädchenhaft verschämt zu Boden [...]. Der Name der Geliebten wird niemals genannt; es ist diese zarte, echte deutsche Zurückhaltung in der ganzen Minnepoesie und Minnesitte, daß wir in der ganzen ungemein großen Anzahl von Minneliedern, welche sämtlich, wie gar nicht bezweifelt werden kann, wirklichen Herzenszuständen der Sänger ihr Dasein verdanken, auch nicht einmal einen Namen genannt finden.«51 U m die Verborgenheit der Gefühle in den öffentlichen Auftritt zu retten, wird die Öffentlichkeit auf »edle Frauen und Jungfrauen« reduziert, von denen offenbar Diskretion zu erwarten ist, und die gleichwohl, als »glänzend« apostrophiert, den der W ü r d e des Sängers angemessenen Repräsentationsrahmen bilden: Eine andere Eigentümlichkeit, welche an dem Minnegesange ganz besonders hervorgehoben werden muß, ist das melodische und klangvolle desselben. Die Minnelieder sind nicht zum lesen bestimmt, auch niemals in ihrer Blütezeit weder mit dem Munde noch mit den Augen gelesen, sie sind nur gesungen worden, gesungen in Begleitung der Saiteninstrumente, der Zither oder Geige; gesungen zunächst von dem Dichter selbst, bald im glänzenden Kreise zuhörender edler Frauen und Jungfrauen, unter denen seine Erwählte sich befand, bald zum fröhlichen, zierlichen Reigentanze.52 [ . . . ] Manche Dichter hatten auch einen Knaben oder Jüngling in ihren Diensten - ihr Singerlein53 genannt - den sie ihre Lieder 49 50

51

Koberstein [Anm. 48], S. 252f. FRIEDRICH VOGT/MAX KOCH, Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 1., Leipzig 3 1913, S. 192. AUGUST F. C. VILMAR, Geschichte der Deutschen National-Literatur, Neubea r b e i t e t v o n KARL MACKE, B e r l i n 1 9 0 7 , S. 1 8 3 f .

52 53

Ebd., S. 186. Diese Stelle verrät unmittelbar die Herkunft des gesamten Vorstellungskomple-

Thomas

98

Cramer

und Weisen lehrten und zuweilen auch an die Geliebte absandten, um ihr im Namen des Senders dessen Lieder vorzusingen.54 Die D ä m m e positivistischer Quellentreue halten auf die Dauer dem D r u c k solcher populär-trivialisierenden Darstellungen nicht Stand. Das ausdrücklich beklagte Fehlen von Belegen hindert die Wissenschaftler nicht am E n t werfen detaillierter Stimmungsbilder. »Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir gestehen: wir kennen nicht bis in die letzten Feinheiten hinein den Wortlaut des Erec, wir haben nur eine schattenhafte Vorstellung von der Urgestalt der Kudrun, und wie wenig Sicherheit besteht darüber, wie M o rungen gesungen hat!« 5 5 Wenige Seiten davor aber hat Schneider eben dies anschaulich zu schildern gewußt: Stegreiflieder auf freigebige Herren waren keine Seltenheit. Walther hat einiges derart geschaffen, das ganz packend nur wirkt, wenn man es sich aus bestimmter Lage heraus entstanden und auf der Stelle vorgetragen denkt. Natürlich gab es auch von langer Hand vorbereitete Gelegenheitsgedichte. So wenn ein großes Fest, eine Hochzeit oder eine Schwertleite die Fahrenden aus allen Ständen oder Gauen zusammenrief. Gefiel der Vortrag, so folgte der Lohn wohl auf dem Fuß: 56 ein Kleidungsstück oder ein Schmuck, ein Pferd oder auch bares Geld wurden dem Poeten auf des Fürsten Wink zuteil [...] Man liebte nicht nur an festlichen Tagen und zu besonderer Kurzweil den Vortrag des Sängers und Dichters. Kennzeichen des kunstbeflissenen Hofes war es, daß immer ein Dichter oder mehrere zu der familia des Herrn gehörten. Ihnen widmete man die Abendzeit am Kamin und auch manche beschäftigungslose Stunde an langen Wintertagen.57 Die Probleme, die sich ergeben, wenn man Minnesang als persönliche Gefühlsdichtung einschätzt, werden bei SCHNEIDER übergangen, aber sie sind deshalb nicht aus der Welt. Was sich bei VILMAR als trivialromantischer Kitsch artikuliert, bildet in der Substanz noch immer das Kernproblem bei HELMUT DE BOOR: »Minnesang ist Ausdruck eines Erlebnisses [ . . . ] · Einer solchen Auffassung widerspricht es nicht, daß der Minnedienst und der Minnesang zugleich auch eine gesellschaftliche Seite hat. Das Minneerlebnis wird wirklich zu einem gesellschaftlichen Gegenstand, der Minnesang zu einem Stück der höfischen Geselligkeit. E r erhält erst daraus sein D a seinsrecht. Wie alle Kunst erhöht auch das Minnelied die höfische Festlichxes; sie ist von Eichendorff abgeschrieben: »[...] wer nicht selbst singen konnte, hielt sich sein >Singerleinheimliche LiebeMinne< aus der gefühlsduseligen (als >deutsch< deklarierten) Innerlichkeit erlöst und ethisch konnotiert wird. »Hohe Minne ist also nichts Elementares, kein flammender Ausbruch leidenschaftlichen Gefühls, nicht Seligkeit leib-seelischer Erfüllung [...]· Sie hat es mit den differenzierten inneren Vorgängen von Menschen zu tun, die einer seelischen Verfeinerung und der Formung nach einem Idealtypus zustreben.« 59 Das Fundament für solche Deutungen und Umdeutungen hat JULIUS SCHWIETERING im Minnesangkapitel seiner Literaturgeschichte 60 gelegt, das qualitativ und quantitativ alle bis zu diesem Zeitpunkt erschienen Darstellungen in Literaturgeschichten übertrifft. Er stellt nicht nur durch die Einführung der Kategorie des Fiktionalen und der Analogie zu lehnsdienstlichen und gottesdienstlichen Strukturen die Denkrichtungen bereit, die bis heute die Diskussion über den Minnesang bestimmen, sondern auch das Vokabular: Gesellschaftskunst, Dienst, Lohn, Rolle und auch das gräßliche Wort >Vollzug< oder >LiedvollzugdaAuftrittAufführung< der >Gesellschaft< und ihrer erstrebten Normen, die Minne als Vollzug der Liebe im Dienst.« 64 Diese Sehweise dominiert seither weithin das Verständnis des Minnesangs. D a s Theatralische, das sich ins Rituelle und Kultische transformiert und sich als A n a l o g o n z u m Gottesdienst darstellt, setzt den herder-goetheschen Sänger mit den nötigen Modifikationen wieder in eine säkularisierte Priester-Dichter-Sängerrolle und die höfische Gesellschaft in die Rolle einer säkularisierten Gemeinde ein. E s gibt gute Gründe, zu argwöhnen, daß dieses Bild v o m Minnesänger und seinem Werk mehr den poetologischen Konzeptionen der Goethezeit und ihrer je zeit- und gegenstandsspezifischen Aneignung verdankt als der historischen Wirklichkeit.

« Ebd., S. 173f. 6t Ebd., S. 178.

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Anhang Novalis, >Heinrich von OfterdingenNeues deutsches Märchenbuchs >Das klagende Liedc Der König aber war ein lebenslustiger froher Herr geworden, der hatte seine Freude an Sang und Klang, und feierte gern heitere Feste, und freute sich seines Lebens. Einst geschah es, daß er auch ein Fest zu feiern beschlossen hatte, und waren zahlreiche Sänger und Spielleute bestellt, und zahlreiche Gäste eingeladen worden. [...] Da nun alle Gäste in bunter Pracht versammelt waren, und alle Sänger und Spielleute bereit, und der Hof eintrat in den herrlich geschmückten Königssaal, darin das Fest Statt fand, so erregte es fast eine bange Verwunderung, die alte Königin zu sehen in langem schleppenden, schwarzen Trauergewande und im Witwenschleier - der Jubel der Instrumente, der Harfen und Pauken, Flöten und Cymbeln aber brach los, und die Chöre der Sänger begannen in erhabenen Weisen eine Hymne zum Preise des Königes.« Ludwig Bechstein, Sämtliche Märchen. Mit Anmerkungen und einem Nachwort v o n WALTER SCHERF, M ü n c h e n 1 9 7 1 , S. 4 9 1 .

Gustav Freytag, >Die Ahnenc Während dem Gewirr sprang ein Jüngling aus dem Gefolge des Häuptlings die Stufen herauf und schrie in die Halle: »Volkmar, der Sänger, reitet in den Hof.« »Er sei willkommen«, rief der Fürst. Und zu dem Sitz der Frauen gewandt, fuhr er fort: »Irmgard, mein Kind, begrüße deinen Lehrer und geleite ihn zu unserem Tisch.« So befahl der kluge Wirt, um die Hadernden an die Gegenwart der Frauen zu mahnen. Seine Worte wirkten wie eine Beschwörung auf die brausende Menge, die düstern Mienen wurden hell und mancher ergriff den Krug und tat einen tiefen Trunk, um ein Ende zu machen mit seinen Gedanken und sich vorzubereiten auf das Lied des Sängers. Irmgard aber trat aus der Laube und schritt durch die Reihen der Männer zu der Schwelle. Auf den Stufen des Saals stand gedrängt die Jugend des Dorfes und starrte neugierig in die Halle. Da durchschritt Irmgard den Haufen und erwartete im Hofe den Sänger, der sich unter einem der Dächer zum Fest gerüstet hatte. Mit ehrbarem Gruß kam er auf sie zu, ein Mann von mäßiger Größe mit leuchtenden Augen, das krause Goldhaar mit Grau durchzogen, zierlich trug er seinen Uberwurf von buntem Tuch, die nackten Arme mit Goldringen geschmückt, eine Kette um den Hals, das Saitenspiel in der Hand. [...]

Wie die Minnesänger zu ihrer Rolle kamen

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Der Sänger fuhr durch die Saiten, und es ward so still in dem Raum, daß man die tiefen Atemzüge der Gäste vernahm.« Gustav Freytag, Die Ahnen, Ingo und Ingraban, Gesammelte Werke, Bd. 3, Leipzig o.J., S. 35-37

Nikolaus Lenau, >Faust. Ein Gedichts >Das Lied< Saal im königlichen Pallaste. Der König, die Königin und die Großen des Reiches sitzen an der Hochzeittafel. Allgemeines Vivatrufen und Anklingen mit den Pokalen. DER MINISTERGÜNSTLING sich von seinem Stuhl erhebend. Auf einen Wink von Euren Majestäten Soll in den Saal sogleich ein Sänger treten, Den ich aus fernem Lande herbeschied, Zu feiern dieses Fest mit seinem Lied. DER K Ö N I G Daß ihr zum Fest den Sänger uns geladen, Befestigt euch in unsern höchsten Gnaden. DIE KÖNIGIN. Ihr setzet meinen Dank in eure Schuld; Nehmt diesen Ring als Zeichen meiner Huld. MEPHISTOPHELES. Das Lied wird gut, ich steh dafür; Ihr klopftet an die rechte Thür. Während der Minister den Ring auf seinen Knieen empfängt, tritt Faust mit einer Guitarre ein. FAUST singt zur Guitarre. Griff die Leier hin und her, [...]. Nikolaus Lenau, Faust, Werke und Briefe, hg. von Wien 1997, S. 47f.

H A N S - G E O R G WERNER,

Bd. 3,

Thomas

104

Cramer

Nikolaus Lenau, >Zwei Troubadours·«: Willkommner ist der Frühling nicht im Tale, Als einst der Sänger im geschmückten Saale. Nikolaus Lenau, Die Albigenser, sämtliche Werke und Briefe, hg. von HERMANN ENGELHARD, S t u t t g a r t 1 9 5 9 , S. 7 3 3 .

Friedrich Schiller, >Der Graf von Habsburgc Und sieh! in der Fürsten umgebenden Kreis Trat der Sänger im langen Talare, Ihm glänzte die Locke silberweiß, Gebleicht von der Fülle der Jahre. »Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold, Der Sänger singt von der Minne Sold, Er preiset das Höchste, das Beste, Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt, Doch sage, was ist des Kaisers wert An seinem herrlichsten Feste?« »Nicht gebieten werd ich dem Sänger«, spricht Der Herrscher mit lächelndem Munde, »Er steht in des größeren Herren Pflicht, Er gehorcht der gebietenden Stunde: Wie in den Lüften der Sturmwind saust, Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, So des Sängers Lied aus dem Innern schallt Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar schliefen.« Und der Sänger rasch in die Saiten fällt Und beginnt sie mächtig zu schlagen: [···] Und mit sinnendem Haupt saß der Kaiser da, Als dächt er vergangener Zeiten, Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah, Da ergreift ihn der Worte Bedeuten. Die Züge des Priesters erkennt er schnell Und verbirgt der Tränen stürzenden Quell In des Mantels purpurnen Falten. Friedrich Schiller, Werke, hg. von LUDWIG BELLERMANN, Leipzig o.J., Bd. 1, S. 299f.

Alfred Ebenbauer

Der Truchseß Keie und der Gott Loki Z u r m y t h i s c h e n Struktur des arthurischen E r z ä h l e n s

I. Die Frage des arthurischen >Mythos< Artus-Mythos - davon wird in der Mediävistik immer wieder geredet. Gemeint sind dabei in erster Linie die mythischen, d. h. im wesentlichen keltischen Wurzeln der Artus- und der Gralsgeschichte(n), 1 so etwa bei MAX WEHRLI (mit sehr unscharfer Begrifflichkeit): »Zuerst war ja Artus eine geschichtliche Figur des alten Britannien, und das Vorstellungsmaterial, soweit es echt keltischer Herkunft ist, war echte Sage, geglaubter Mythos.« 2 Oder auch bei JOACHIM BUMKE, freilich mit der Einschränkung, daß Chretien de Troyes die »magisch-mythischen Elemente« (gegenüber Marie de France) deutlich reduziert habe.3 Dann gibt es aber auch die Auffassung, daß das arthurische Erzählen als solches im Mittelalter (bei Chretien de Troyes, bei Hartmann von Aue, bei Wolfram von Eschenbach, bei Heinrich von dem Türlin etc.) wesentlich mythischen Charakter habe.4 So ist etwa für NORRIS J. LACY der mittelal'

2

3

4

Literatur zu den >mythischen Wurzelnpatente< de la litterature arthurienne«, der im >Erec< durch »une mauvaise langue« und im >Yvain< und im >Perceval< durch »une agressivite hargneuse« auffalle. 20 Ganz ähnlich wie K e u / K e i e läßt sich der altskandinavische G o t t Loki (Wagnerianer identifizieren ihn leicht mit Loge!) 2 1 »charakterisieren«, v o n dem GEORGES DUMEZIL in seinem >LokiLoheeffeminate< man and, for that reason, not necessarily because of his malevolence, is subject to derision and considered evil« (S. 122). FOLKE STRÖM, Loki. Ein mythologisches Problem, Göteborg 1956 (Göteborgs Universitets Ärsskrift LXII, 8), S. 5. DUMEZIL [ A n m . 22], S. 21 Of.

Der Truchseß

Keie und der Gott

Loki

113

ist es, unter den Häuptlingen, unter den Clans, unter den Frauen Zwietracht zu säen. Er ist neugierig [...] und macht sich, da er das Unglück, auf das die andern noch gar nicht Acht haben, ahnt und nahendes Unheil voraussieht, ein böses Vergnügen daraus, solches Unglück aufzudecken [...]. Er ist feige und versucht, sich von den Kämpfen zu drücken; in dem großen Krieg, in den die Seinen durch die Tain verwickelt sind, bleibt er neutral. Die Ulaten ertragen ihn ungern und bedienen sich seiner mit Mißtrauen und Verachtung.28 Diesen altirischen Bricriu, den DUMEZIL mit Loki verglich, hat andererseits GEORGE HENDERSON mit Keie zusammengestellt. 2 9 Somit schließt sich der Kreis: Bricriu - Loki - Keie. Zugleich weitet sich der Blick auf den irischen C o n a n und den griechischen Thersites. 3 0 U n d wenn des Vergleichens kein E n d e wäre, könnte man mit WOLFGANG MOHR auch noch auf Mephistopheles verweisen .. . 3 1 U b e r die Verwandtschaft von Keu, Loki und Bricriu hat neuerdings auch YOLANDE DE PONTFARCY gehandelt - ohne freilich DUMEZILS Ü b e r legungen zu Loki und Bricriu zu erwähnen. 3 2 F ü r DE PONTFARCY ist Keu (wie sein Gegenstück Loki) arrogant und unhöfisch, impulsiv und unkontrolliert; er zeigt eine »ironie agressive« und eine »vantardise« (>PrahlereiPerlesvaus< verwiesen, in denen Kei sogar einen Mordanschlag gegen den Helden leitet bzw. Artus' Sohn tötet [...]. Auch in einem niederländischen Roman [...] (>Roman van Walewein ende Keyemythischen< - Gestalten tritt in einem ganz spezifischen Szenario hervor, nämlich beim Gastmahl (Symposium, Fest), in dem Keie, Loki und Bricriu jeweils als Spötter und Provokateure mit einer Scheltrede (aisl. senna) auftreten. Der irische Bricriu erscheint als Provokateur in der zum Ulster-Zyklus gehörenden Geschichte von >Bricrius FestYder< GOWANS [Anm. 17], S. 104-107, zum >Perlesvaus< S. 112-114. N a c h HENDERSON [Anm. 29], - D a z u auch DUMEZIL [Anm. 22], S. 212f., ferner

DUMEZIL [ A n m . 2 2 ] , S. 2.

38

Der Truchseß Keie und der Gott Loki

115

Bricriu gibt für König Concobar und die Ulsterleute ein Fest, das er ein Jahr lang vorbereitet. Für das Fest erbaut er ein eigenes prächtiges Haus. Für sich selbst macht er einen eigenen Vorbau, so daß er von seinem Sitz aus die Halle überblicken kann. Als das Haus fertig ist, begibt er sich nach Emain, an den Hof Conchobars, um diesen mit seinen Leuten einzuladen. Fergus warnt, es werde viele Tote geben. Aber Bricriu droht: Sollte man seine Einladung nicht annehmen, werde er Streit erregen. Die Edlen von Ulster beschließen, die Einladung anzunehmen, doch sie folgen Senchas Rat, Geiseln von Bricriu zu nehmen und acht Bewaffnete zu stellen, die ihn zwingen sollen, sich bei Beginn des Festes zurückzuziehen. Die Helden reiten zu Bricriu. Der möchte Unruhe erzeugen. Er sucht das Gespräch mit den drei bedeutendsten Helden, mit Logaire, mit Conall und mit Cuchullain, die er aufreizt: Jedem gesteht er den »Anteil des Helden« zu, das Zeichen der Herrschaft. Tatsächlich beginnen die Helden zu kämpfen. Als der König die Ruhe wiederherstellt, stachelt Bricriu die Damen der drei Helden auf. Nach mehreren Vergleichskämpfen und der Heranziehung mehrerer Schiedsrichter geht schließlich Cuchullain aus dem Heldenvergleich als Sieger hervor. Bricrius Ziel ist die Zwietracht, die er dadurch erregt, daß er zuerst die Helden, dann deren Freundinnen bei ihrer Ehre und ihrem Ehrgeiz packt. Bricriu ist der Aufreizer bei einem Heldenvergleich. Etwas anders liegen die Dinge in der eddischen >Lokasennaer einom mun ek üt ganga, {)viat ek veit, at f>u vegr.

Ich sprach vor den Asen, ich sprach vor den Asen-Söhnen, was mir in den Sinn kam; aber vor dir allein werde ich hinausgehen, denn ich weiß, daß du zuschlägst.

Mit einem Fluch Lokis über Aegir endet das Gedicht. Die Prosa berichtet dann noch vom weiteren Schicksal Lokis, seiner Fesselung und seinem Zusammenhang mit dem Erdbeben. 43

43

Im einzelnen berichtet die Prosa am Schluß der >LokasennaLokasenna< weist nun m. E. eine enge Verwandtschaft mit den Artusfesten und vor allem mit den arthurische >Tugendproben< auf. 44 Bei diesen >TugendprobenHornprobe< 46 die >MantelprobeBricrius Fest< und der >LokasennaBecherprobe< aus der >Crone< Heinrichs von dem Türlin: 49 Es ist Weihnachten und Artus

44

45 46

47

48

49

des gefesselten Loki. Sigyn, Lokis Gattin, verhindert mit einer Schale, daß das Gift auf Lokis Gesicht tropft, aber wenn die Schale voll ist, dann muß sie das Gift wegtragen, dann tropft Gift auf Loki: »Dann zuckte er so heftig zusammen, daß davon die ganze Erde zitterte; das wird nun Erdbeben genannt.« Dazu wären auch noch die ossischen Erzählungen vom >Streit der Narten um die Amongae< (nach D U M E Z I L [Anm. 22], S. 114, Anm. 119) zu stellen, die ähnlich strukturiert sind, wenngleich nicht der »Loki-Verwandte« Syrdon die Hauptperson ist, sondern der Held Batradz: »Uryzmaeg, Soslan, Sosryko machen der Reihe nach Anspruch auf den Besitz des Zauberbechers, doch jedesmal verweist der Heros Batradz den Unvorsichtigen auf seinen Platz, indem er ihn an einen lächerlichen oder beschämenden Umstand seines Lebens erinnert.« Dazu vor allem KASPER [Anm. 37]. Zum >Lai du Cor< und seinen Nachfolgern vgl. bes. KASPER [Anm. 37], S. 134164. - Zu erinnern ist auch an die Briickenprobe im >Jüngeren Titureh (KASPER, S. 192f.): Keie fällt dort (Str. 2394) wegen seiner Spottlust von der Brücke. Die Geschichte wird zuerst im französischen Fabliau >Le Mantel mautaille< (Ende 12. Jh., evtl. Beginn 13. Jh.) erzählt; nach dem Fabliau entstand die deutsche Erzählung >Der Mantel·, die man wohl zu Unrecht Heinrich von dem Türlin zugeschrieben hat; dazu KASPER [Anm. 37], S. 107-112 u. S. 606; B E R N D KRATZ, Die Ambraser Mantel-Erzählung und ihr Autor, Euphorion 71 (1977), S. 1-17. - Die afrz. Erzählung ist auch nach Island gedrungen: die >Möttuls saga< (13. Jh.) und die davon ausgehenden strophischen >Skikkju Rimur< (noch vor 1300), vgl. KASPER, S. 104-107. - Zur Verbreitung des Mantelprobe vgl. KASPER, S. 100-132. Zur Ähnlichkeit zwischen >Lokasenna< und >Bricrius Fest< vgl. D I E G O P O L I , Concord and Discord in the Icelandic Banqueting Hall, Poetry in the Scandinavian Middle Ages, Spoleto 1990 (Atti de Congresso Internationale di Studi sull'Alto Medioevo 12), S. 597-608, hier: S. 605f. Zitiert nach: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1 - 1 2 2 8 1 ) , hg. von F R I T Z P E T E R KNAPP und MANUELA N I E S N E R , Tübingen 2 0 0 0 (ATB 1 1 2 ) . - Zur Becherprobe der >Crone< vgl. KASPER [Anm. 3 7 ] , S. 1 4 1 - 1 4 5 . - Zur Handschuhprobe der >Crone< (V. 2 2 9 9 0 - 2 4 6 9 2 ) vgl. KASPER, S. 1 7 0 - 1 7 4 . - Zu beiden Proben der >Cröne>, KASPER, S. 5 8 6 - 6 0 5 . - Auf die Frage, welche Bedeutung die beiden Proben für die Struktur der >Crone< (Entwicklung der Figuren von der ersten zur zweiten Probe?) haben, gehe ich nicht näher ein; dazu MATTHIAS

Der Truchseß Keie und der Gott sitzt nah des hoves gewonheit

Loki

119

(V. 922) mit seinen Gästen zu Tisch. Das

friedliche Fest (hohzeit: V. 916) wird nur durch die Sehnsucht nach aventivre (927) getrübt. Da tritt ein wunderbar singender, zwergenhafter Ritter auf (V. 933ff.). Er hat einen Becher (köpf). Wer daraus trinkt und ein falsches Herz hat, der/die beschüttet sich beim Trinken mit dem Wein (V. 113Iff.). Die Ritter und Damen des Artushofes sollen sich der Probe unterziehen. Ginover soll beginnen (V. 1216ff.), doch reicht sie den Pokal der kunigin von Lanphuht/Lantfruht (V. 1220), die sich sogleich begießt. Kay, der bisher noch nicht aufgetreten ist,50 ergreift das Wort: Nv was Key vnd sein spot, Nah alter gewonheit da bei. (V. 1239f.) Ginover (V. 1273ff.) benetzt sich ebenfalls; und wieder Key hält eine Spottrede. (V. 1282ff.). Dann begießt sich Flori, die Freundin Gaweins (V. 1293ff.), was Key erneut kommentiert.51 Laudein, die Freundin des Löwen (Iwein), begießt sich ebenfalls (V. 1329ff.); Key weist darauf hin (V. 1341ff.), daß es ihr besser ergangen wäre, wenn sie den Ring noch gehabt hätte, den sie nach der Erschlagung ihres Gatten dem Ywein zukommen ließ; zudem hätte Ywein durch ihren gaben zorn (V. 1356) beinahe das Leben verloren. Auch Enite (V. 1361ff.) scheitert; ihr kann Key (V. 1386ff.) kaum etwas vorwerfen, und so erinnert er an den Sperberpreis und den Kuß des Artus nach dem Erlegen des weißen Hirsches; doch durch irgendeinen swachen nit (V. 1387), so Key, habe auch sie versagt. Dann versagt Perchye (V. 1398ff.), worüber sich ihr vreunt (nach Key) besonders freuen dürfe (V. 1413ff.). Auch Keys Freundin Galayda scheitert (V. 1435ff.), wodurch der Spötter selbst schamvar (V. 1460) und zum Gegenstand des Spottes des Ritters Greingradvan wird (V. 1464ff.). Hier nun fügt der Erzähler einen längeren Exkurs über Keie und seinen Charakter ein (V. 1486ff.): Swer daz hör vnd den mist Rüeret, daz ervulet ist, Der vindet niht wan stanch. (V. 1486-1488) Aber auch wenn Key an allen dingen zuhtlos (V. 1522) sei, würde er dadurch doch sines adels herschaft (V. 1524) nicht verlieren. Key sei manhaft (V. 1525) und schließlich habe Artus ihn ausgewählt.

50

51

MEYER, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (GRM Beiheft 12), S. 74-78. Auf die interessante Rolle Keies in der >Cröne< insgesamt gehe ich hier nicht ein; das sei einer eigenen Arbeit vorbehalten. Merkwürdig ist, daß die Reaktionen Artus' und Gaweins in den beiden Uberlieferungen unterschiedlich beurteilt werden: In V(indobonensis) clagten die beiden über das Mißgeschick ihrer ameyn, nach Ρ (Heidelberg) lachten sie darüber (V. 1319).

120

Alfred

Ebenbauer

Ditz ist div warheit, Daz er spotes gerne phlac Vnd sein ze niemen bewak. Daz was an im der maiste slak. (V. 1541-1544) Als Blanscheflor, Parcevals Geliebte, die zum Gralsgeschlecht gehört, versagt (V. 1545ff.), weist Key (V. 1565ff.) auf die Nacht hin, in der sie zu Parcifals Bett schlich. Es folgt eine Liste weiterer Frauen, die erfolglos sind und alle von Key verspottet werden. - Dann verlangt der Bote, daß man auch die herren teste. Der Zwergenritter möchte - der Sitte seines Landes gemäß - zuerst selbst trinken, doch Key beginnt gleich wieder zu spotten (V. 1701ff.). Artus heißt ihn schweigen und setzt zu einer gehörigen Beschimpfung Keys (V. 1726ff.) an: Er sprach: >vür golt verworfen zin, Saphir vür den rubin! Jr müezt immer sin, Der ir her gewesen seit, Ein stast haz, ein ewich neit, Ein gift vnd ein eiter Gein morgenrot heiter [...]< (V. 1726-1732) Und es folgt eine ganze Litanei vom Beschimpfungen: Key sei ein vor vngewarnter hagel, ein scorpenangel, ein slangenzagel; bispnech (Verleumdung), achvst (Tücke), schänden hört vnd ern vlust seien seine Gefährten. Vervluochet sei iwer bitter galle, Daz si schier überwalle Vnd ivch müez zebrechen. Jrn chünnet nicht gesprechen Wan den argen alle wege. (V. 1745-1749) Key freut sich über dies Zurechtweisung natürlich nicht, aber er treibt es nur umso ärger, indem er den König attackiert (V. 1785ff.), was allgemeine Heiterkeit erregt (V. 1815ff.); alle meinen von Key Er ist so vngehivre An leib vnd an zvnge. (V. 1830f.) Artus trinkt (V. 1895ff.) und hat Erfolg. Dennoch hält Key seine obligate Spottrede, in der er (ironisch?) auf Artus' und Gynevers (!) vollkommene Beziehung verweist. Brisaz (Preisaz) versagt, weil er einem Mädchen nicht geholfen hat, obwohl sie ihn darum bat (1929ff.). Key hält seine Rede (V. 1943ff.). Ebenso geht es beim König von Ethyopia (V. 1961ff.). Auch Gawein versagt (V. 1994ff.) doch sagt Key kein Wort, die Angelegenheit wird vom Erzähler selbst kommentiert. Dann folgt Lanzelet (V. 2070ff.), der sich wiederum Keys Spott anhören muß (V. 2127ff.); er hätte nach Mittag trinken sollen, als seine Stärke bereits zugenommen hatte. Ebenso geht es bei Erec (V. 2154ff., Keys Rede 2169ff.), Iwein (V. 2183ff., Keys Rede 2187ff.), Kalocreant (V. 2193ff., Keys Schelte 2199) und Parcefal (V. 2207ff., Keys Schelte 2225ff.). - Dann folgt, wie bei den Damen, eine Liste der Männer, die alle Mißerfolg haben. Key aber verkert das alles ze schänden vnd ze spot (V. 2286f.) - Zuletzt fehlen noch der Bote und Keie selbst. Der Bote hat beim Trinken Erfolg (V. 2493ff.), nun ist Key selbst an der Reihe und versagt:

Der Tmchseß Keie und der Gott Loki

121

Key muost engelten, Daz er so selten An spot seiner zvht phlach. (V. 2 5 5 0 - 2 5 5 2 )

Die Ähnlichkeit zwischen den Szenen ist deutlich: 52 Es beginnt mit einem Festmahl in Frieden und Harmonie. Diese Harmonie wird durch den Auftritt Lokis und des Zwergenritters gestört. Und plötzlich geht es um Tugenden und Qualitäten der Festteilnehmer. Loki und Keie, die >internen Außenseiten, nehmen zynisch-kritisch zu den Mängeln, Fehlern und Sünden jeder einzelnen Person Stellung. Ein Mitglied nach dem anderen wird vom Spötter kritisiert, blamiert und bloßgestellt, wobei auch der Spötter selbst nicht ungeschoren davonkommt. Das Fest wird so zu einem decouvrierenden Rundumschlag, einem aggressiven Rondeau, bei dem der Reihe nach jede und jeder >drankommtVergangenheit< zum Gegenstand haben. Es geht nicht nur um die Un-Tugenden, sondern um die Un-Taten der Götter/Göttinen und der Artusritter und ihrer Damen. Loki und Keie zitieren bekannte und bereits erzählte Geschichten (ζ. B. die Fesselung des Fenriswolfs oder die Geschichte Erecs oder Parzivals). 54 Es geht also um Erzählung in der Erzählung. Der spöttische Rundumschlag wird somit zu einer >Summe< mythischer Götter- und Rittererzählungen. Die Rezipienten der >Lokasenna< und der arthurischen >Tugendproben< können die Auslassungen Keies und Lokis nur verstehen, wenn sie die zitierten Geschichten kennen, d. h. man braucht zur ihrem Verständnis >Mythenwissen< - oder einen Kommentar. 52

53

54

>Bricrius Fest< steht etwas abseits, da Bricriu die Helden und ihre Gattinen nicht blamieren, sondern gegeneinander hetzen möchte; zudem ist das Fest Teil eines gehässigen Planes des Bricriu. - Der Unterschied zwischen >Lokasenna< und >CröneLokasenna< gibt es keine magischen Gegenstände, die die Schwächen der Götter erst offenkundig machen. Zudem ist Lokis Rolle in der >Becherprobe< auf den Ankömmling von außen und den Spötter aufgeteilt. Die >Lokasenna< gehört freilich in den großen Zusammenhang der Gattungen der senna und des mannjafnadr (>MännervergleichWahrheit< von Lokis Angriffen vgl. VON SEE [Anm. 39], S. 365f. u. SÖDERBERG [Anm. 39], S. 79-82.

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Indem Loki und Keie in der Verspottung der Asgard- und der Artuswelt auf vergangene (Un-)Taten ihrer jeweiligen Mitglieder anspielen, entsteht innerhalb des >zeitlosen< Mythos, innerhalb des mythischen in-illotempore eine eigene historische Dimension. Die >Lokasenna< und die >Tugendproben< spielen naturgemäß jeweils später als die in ihnen angesprochenen Taten und Ereignisse. Der arthurische und der altskandinavische Mythos erhalten so eine je eigene >innermythische Geschichte< - die auch jeweils auf ihr Ende und ihren Untergang (>RagnarökMort ArtuLokasenna< und der >Becherprobe< Heinrichs von dem Türlin (samt Vorgängern und Gegenstükken) zu verstehen? G E O R G E S D U M E Z I L vergleicht in seinem >LokiTypus Loki< verstehbar, sondern auch das gesamte Szenario der >LokasennaLokasenna< schildert. 55

DUMEZIL [Anm. 22], S. 113. - Zum Motiv >Streit beim Gelage< und zum Motiv des mannjafnadr (>MännervergleichCröne< (und ihre Vorläufer und Gegenstücke) behaupten? - Möglicherweise, denn auch in der mittelalterlichen Ritterliteratur

geht es u m feudale und

gefolgschaftliche

Strukturen, um die »Intensität des Gemeinschaftslebens«, u m »die ganze Kasuistik der weiblichen und männlichen Vorrangsfragen,

Rivalitäten,

Herausforderungen, Wettkämpfe; Dispute, Gerichtssitzungen, Spiele« etc. Die herausgestellten Ähnlichkeiten lassen sich also sehr wohl durch die Ähnlichkeit sozialer Strukturen erklären. Man kann die Beziehungen zwischen der >Lokasenna< und den arthurischen >Tugendproben< (der >CröneLokasenna< und der antiken Gattung des >Symposiums< hergestellt, 5 9 die von Piaton ihren Ausgangspunkt nimmt und über das >Symposium< des X e n o p h o n (um 4 3 0 - 3 5 0 v. C h r . ) zu Menippus von Gadara (um

280

v. Chr., >Symposium der Himmlischem [fragm.]) führt. 6 0 Von besonderem Interesse ist dabei das >Concilium deorum< des Lukian von Samosata (ca. 120 bis nach 180). 6 1 Jupiter ruft die Götter zusammen, denn es herrscht Unruhe; zuviele Unwürdige hätten sich an die Göttertafel gesetzt. Als

58

Der Möglichkeit, daß skandinavische Vorbilder auf die arthurische Literatur eingewirkt haben, gehe ich nicht nach; nach ALBY STONE [Anm. 1] muß mit solchen Einflüssen durchaus gerechnet werden.

59

FRANZ R O L F SCHRÖDER, D a s S y m p o s i u m d e r L o k a s e n n a , A r k i v f ö r

Nordisk

Filologie 67 (1952), S. 1-29. - Zum Zusammenhang der >Lokasenna< mit der antiken Symposiengattung vgl. auch SÖDERBERG [Anm. 39], S. 52f. (mit Hinweis auf die conflictus-hiteratur); HARRIS [Anm. 53], S. 67 und bes. P O L I [Anm. 4 8 ] , S. 598-600. 60

61

SCHRÖDER [ A n m . 5 9 ] , S . 1 5 f .

ΘΕΩΝ ΕΚΚΛΗΣΙΑ. The Parliament of the Gods, in: Lucian, with an English Translation

by

A[USTIN] M[ORRIS]

HARMON, B d . 5 , C a m b r i d g e / M a s s .

[The

Loeb Classical Library] 1936, S. 418—441. Die deutsche Ubersetzung von CHRISTOPH MARTIN WIELAND v o n 1 7 8 8 / 8 9 ist i m I n t e r n e t u n t e r h t t p : / / w w w . g u t e n -

berg.aol.de/lukian/luegen/luegen.htm abrufbar. - Eng verwandt mit der >Götterversammlung< ist ein weiterer Text Lukians, nämlich >Der tragische Zeus< [>Zeus tragoedusGötterversammlung< in Bd. 4, S. 165-172). - Zu den beiden Lukian-Texten vgl. bes. RUDOLF HELM, Lukian und Menipp, Leipzig/Berlin 1906, S. 133ff. u. S. 152ff., sowie DERS., Lukianos, Paulys Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. 13, Stuttgart 1927, Sp. 1725-1777; ferner KLAUS WEGENAST, Lukanios, Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 3, Stuttgart 1969, Sp. 772-777. - Schon DAVID FRIEDRICH GRÄTER, Nordische Blumen, Leipzig 1789, S. 220 nennt den Dichter der >Lokasenna< einen »nordischen Lukian«, auch MAX HIRSCHFELD, Untersuchungen zur Lokasenna, Acta Germanica 1 (1889), S. 58 weist auf Lukian hin; vgl. VON SEE [Anm. 39], S. 366-368.

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Alfred

Ebenbauer

Merkur nach Wortmeldungen fragt, meldet sich Momos (der Gott des Spottes und des Tadels) und klagt darüber, daß nicht nur Menschen zu Göttern geworden seien, sondern daß diese auch gleich ihr ganzes Gesinde mitbrächten. Über diesen Missbrauch möchte er sich auslassen. Zunächst wendet sich Momus gegen Baccus, der ein halber Mensch sei und noch dazu mütterlicherseits von einem syrophönizischen Kaufmann Kadmos abstamme; er sei u. a. dem Trünke verfallen, von taumelndem Gange, weichlich und weibisch und rieche schon am Morgen nach Wein, zudem habe er auch ein zweifelhaftes Gesinde (Pan, Silenus, die Satyre) und ein paar Weibsbilder und Liebschaften (Ariadne, Erigone). Jupiter befiehlt nun, daß Momus den Askulapius und den Herakles mit seinem Spott verschone; Momus gehorcht, auch wenn er gegen die beiden einiges vorzubringen hätte. So wendet er sich Jupiter selbst zu. Der fürchtet zwar keine Attacken, muß sich aber doch sagen lassen, daß man in Kreta schon sein Grab zeige und ihn für einen untergeschobenen Göttersproß halte; vor allem aber habe er sich so oft mit sterblichen Weibern eingelassen, daß nunmehr das Götterkollegium mit vielen Bastarden verunziert sei. Und die Göttinnen hätten es Jupiter gleich nachgemacht, wie man am Beispiel eines Anchises, Tithonos, Endymion und Iasion sehen könne. Auch über Ganymed möchte Jupiter nichts hören, daher will Momus nichts von einem Adler erzählen, der auf Jupiters Scepter sitze und sein Nest beinahe auf dessen Kopf gemacht habe. Was aber - so Momus - hätten Attis, Korybas und Sabazius bei den Göttern verloren, oder auch Mithras, der kein Wort griechisch könne? Diese Personen seien wohl nur durch die Eigenmächtigkeit der Skythen und Geten zu Göttern geworden. Auch der Sklave Zalmoxis habe sich heimlich eingeschlichen. Am schlimmsten aber sei das ägyptische Hundegesicht (Anubis), das sich unter die Götter einheilte«. Ähnlich sei es mit anderen (theriomorphen) Göttern der Ägypter. Sie machen auch dem Jupiter Probleme, man müsse nämlich iniitiert sein, um ihre Geheimnisse zu verstehen. Momus attackiert dann Trophonius und Amphilochus und meint, daß Apoll sein Ansehen verloren habe, weil jeder Taschenspieler schon Orakel verkünde. Femer opfere man schon (den Menschen) Hektor und Protesilaos. Schließlich seien da auch die >Abstrakta< (Tugend, Natur, Verhängnis), die es bereits zu Göttern gebracht hätten. Zuletzt bittet Momus um Erlaubnis, ein Dekret vorlesen zu dürfen, das er bereits aufgesetzt habe: Demnach soll eine Götterversammlung abgehalten werden, bei der genauest geprüft werden soll, wer ein wahrer Gott ist; die anderen solle man in ihre Gräber zurückschikken. Sollte sich aber doch noch einer blicken lassen, werde er in den Tartarus geworfen. Zudem solle jeder Gott seines Amtes walten und keinem anderen ins Gehege kommen. Die Philosophen aber mögen aufhören, albernes Zeug zu reden. Auf den Altären seien nur mehr Jupiter, Juno und Apoll zu verehren. Es ist in der Tat verblüffend, wie sich die >Lokasenna< und der Lukian-Text ähneln, und wie sehr Loki und Momos »allerengste Geistesverwandte« sind, »die mit beißenden Hohn und Spott und offensichtlichem Behagen die >wahren< Zustände im Olymp und in Asgard enthüllen und anprangern und nicht einen der Götter ausnehmen, selbst weder Zeus dort, noch Thor hier mit ihren Bosheiten verschonen.« 62 Und die arthurischen >Tugend62

SCHRÖDER

[Anm. 59], S . 19; vgl. P O L I [Anm. 48], S . 599, der aber letztendlich die

Der Truchseß

Keie und der Gott

Loki

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proben< samt der >Demontage< der arthurischen Helden durch den Spötter Keie gehören meines Erachtens dazu. SCHRÖDER rechnet mit einem direkten Einfluß antiker Literatur (vor allem Lukians) auf den Verfasser der >LokasennaGötterversammlung< geht es auch in den >Tugendproben< der >Cröne< um »Zustandsbeschreibungen des Artusreiches.« 6 6 Diese P r o ben sind mehr als ein »literarisches Gesellschaftsspiel mit Keie als dem Conferencier« 6 7 oder ein »großangelegtes Party-game im Rahmen eines Hoffestes«. 6 8 Die moralische Qualität des Artushofes und damit seine Idealität und Vorbildhaftigkeit stehen zur Debatte.

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Unterschiede für wichtiger ansieht. - Helmut Birkhan verdanke ich den Hinweis darauf, daß schon PIERRE MALLET, Monuments de la Mythologie et de la Poesie des Celtes et particulierement des anciens Scandinaves, Kopenhagen 1756, S. 61 Loki als »Momus der Kelten« (und somit auch der Germanen) bezeichnet. P o n [Anm. 48], S. 601-605 erklärt die Ähnlichkeit zwischen Symposium und >Lokasenna< nicht durch direkte Abhängigkeit, sondern durch eine Art »common pattern«. SCHRÖDERS Hinweis auf Lukian-Rezeption bei Adelhard von Bath (ca. 1090-ca. 1160) konnte ich nicht verifizieren; im Streitgedicht von >Ganymed u n d H e l e n a < ( 1 2 . J h . , h g . v o n W I L H E L M WATTENBACH, Z f d A 18 [ 1 8 7 5 ] , S. 1 2 4 -

136) bildet eine Götterversammlung den Rahmen für die Diskussion um die Vorzüge der Mädchen- oder der Knabenliebe. Bei MAX MANITIUS, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 2, München 1923, S. 169 finde ich den Hinweis, daß Liudprand von Cremona (ca. 920-ca. 970) Lukian kannte. 65

H E L M , L u k i a n o s [ A n m . 6 1 ] , S p . 1 7 3 6 ; e b e n s o DAVID MARSH, L u c i a n a n d t h e

Latin. Humor and Humanism in the Early Renaissance, Ann Arbor 1998. CHRISTOPHER ROBINSON, Lucian and his influence in Europe, Chapel Hill 1979, S. 68ff. informiert ausführlich über die intensive Lukian-Rezeption in Byzanz seit dem späten 9. Jahrhundert (Johannes Georgides, Photius, Johannes Tzetzes, Leo der Philosoph). 66 67

MEYER [ A n m . 49], S. 74f. KRATZ [ A n m . 4 7 ] , S . 8. MEYER [ A n m . 49], S. 78.

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Nicht anders ist es in der >Lokasennaspielerischen< Charakter (»party-game«), aber dann wird man doch in sehr drastischer Weise über die Schwächen und den Zustand des skandinavischen Pantheons informiert: Die >Lokasenna< ist »the prolonged insult of all the gods by a sharp-witted Mephistopheles«. 69 Warum werden die antiken und die nordischen Götter, warum werden die arthurischen Helden mit ihren Fehlern von einem Spötter (Loki, Keie) der Lächerlichkeit preisgegeben? Satirisch-heitere oder

aggressiv-böse

>Götterdämmerung