Liberale Demokratie [1 ed.] 9783428475797, 9783428075799


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Liberale Demokratie [1 ed.]
 9783428475797, 9783428075799

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Gottfried Dietze

Liberale Demokratie

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 18

Liberale Demokratie

Von

Prof. Dr. Gottfried Dietze

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dietze, Gottfried: Liberale Demokratie / von Gottfried Dietze. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte; Bd. 18) ISBN 3-428-07579-X NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-07579-X

Inhalt

I. Vorwort .......................................................

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11. Einleitung .....................................................

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111. Demokratie ................................................... 13 IV. Liberal........... ................ .............................. 44 V. Liberale Demokratie......................................... 56 VI. Schluß ......................................................... 86

I. Vorwort Die liberale Demokratie erscheint im demokratischen Zeitalter als herausragende partielle Realisierung des reinen Liberalismus. Dieser ist Urgrund und Quelle verschiedener Liberalismen, die jeweils als proper empfunden werden, unter ihnen die liberale Demokratie. Sie zeigt ihrerseits eine Vielfalt von Erscheinungen, von denen die vorliegende Arbeit einige aufzuweisen versucht. Dabei ist zu beachten, daß Geschriebenes nicht notwendig Gediegenes ist, Erwähntes nicht Erwähltes. Allzu vieles steht beim Liberaldemokratischen zur Wahl.

11. Einleitung Die liberale Demokratie erfreut sich seit Generationen allgemeiner Wertschätzung. Es fragt sich jedoch, ob sie richtig bewertet und begriffen wurde. Es liegt im Wesen der Schätzung, daß sie nicht genau bestimmt. Fehleinschätzungen und Fehlbewertungen sind die Folge. Bei einer Regierungsform, die allgemein als ideal hingestellt wird, kann das ernste Folgen haben. Begriffe ruhen zuweilen auf falschem Begreifen, idealisierend wie ein solches auch sein mag. Das ist verständlich, weil das Begreifen ja etwas Menschliches ist und Menschen im Realen nicht nur, wie Hegel meinte, I das Rationale sehen, sondern auch, je nach persönlichem Geschmack, das Ideale. Wenn sogar Urteile von höchst qua1ifizierten Richtern Fehlurteile sein können, können falsche Auffassungen allgemeiner, populärer Begriffe durch die Allgemeinheit kaum überraschen. Die liberale Demokratie ist natürlicherweise beliebt in einem Zeitalter, das weitgehend vom Liberalismus und von der Demokratie geprägt ist. Beide, Freiheitsdrang und Volksherrschaft, scheinen seit langem zusammenzugehören. Die Große Charter der Freiheiten von 1215 zeigt auch ein Mitspracherecht beim Regieren an, was fünfzig Jahre später durch die Errichtung des Parlaments unterstrichen wurde. 1 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin, 1821. In der Vorrede heißt es: »Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft ... Was vernünftig ist, ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." Friedrich Bülow, Herausgeber von Auszügen aus den Schriften Hegels, weist darauf hin, daß diese berühmte Vorrede oft mißverstanden wurde. Recht, Staat, Geschichte, 6. Aufl., Stuttgart, 1964, 262 f.

II. Einleitung

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In der Englischen Revolution war es nicht anders. Im Kampf gegen das als despotisch empfundene Gottesgnadentum der Könige kämpfte der Mittelstand nach der Petition of Right um die Macht des Parlaments, zu der es dann zum Wohle der Freiheit der Bürger in der Glorreichen Revolution kam. Montesquieu mochte sich darin gefallen, die Freiheit der Engländer der Gewaltenteilung zuzuschreiben. 2 Tatsächlich war zu seiner Zeit die Regierungsgewalt bereits in der demokratischsten der drei Gewalten, der Legislatur, konzentriert. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verbindet Gedanken der Freiheit der Menschen von der Regierung mit denen der Volksherrschaft. Aus freiheitlichen Gründen kam es unter den Verfassungen einzelner Staaten zu starken gesetzgebenden Gewalten. Zur Sicherung der Freiheit der einzelnen wurde dann die republikanische Regierungsform in der 1787 formulierten Bundesverfassung geschaffen. Den Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versuchte man mittels der Volksherrschaft zu verwirklichen. Die Bestrebungen von 1848 zeigten Ähnliches. In Deutschland kam es unter solchen Vorzeichen 1919 zur Weimarer Verfassung, die allgemein als liberal-demokratisch bezeichnet wurde. 3 Dieser Charakter wurde auch den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Verfassungen von Frankreich, Italien und der Bundesrepublik Deutschland zugesprochen. Es bestehen kaum Zweifel: die liberale Demokratie ist ein hervorragendes Zeichen der Zeit. Was sie so alles zeitigen kann, soll hier untersucht werden. Man hat das Wesen liberaler Demokratien darin gesehen, daß die Prioritäten aus der Zusammensetzung des Ausdrucks selbst folgen. "Liberal" kommt zuerst, dann "Demokratie": das Liberale führt zur Demokratie, der Freiheitsdrang zum Mittel, die Freiheiten der Menschen zu sichern. 2 Charles De Secondat, Baron de Montesquieu, De l'esprit des lois, Genf, 1748, Buch XI. 3 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, 31.

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11. Einleitung

Weil Engländer im 13. Jahrhundert freier sein wollten, kam es zur Magna Charta und zum Parlament. Weil sie im 17. Jahrhundert freier sein wollten, wandten sie sich gegen das divine right of kings, übertrugen sie alle Macht dem Parlament. Amerikaner wollten freier sein, zur Zeit der Revolution u. a. nach dem Grundsatz "no taxation without representation". Daher wollten sie self-government. Die Franzosen wollten freier sein und ersetzten zu diesem Zweck das absolute Königtum durch eine Regierung des Volkes. In all diesen Beispielen brachte der Drang nach mehr Freiheit den Wunsch nach der Volksherrschaft mit sich. 1848 war es nicht anders, auch nicht 1919 in Weimar, nicht 1946, 1947, 1948 bei der Schaffung der Verfassungen der Vierten Republik, der Republik Italien, der Bundesrepublik Deutschland. Ob er nun die Demokratie für einen Segen hielt oder nicht, sah de T ocqueville doch, daß zur Bewahrheitung des Hegelschen Gedankens, die Menschheit strebe zur Freiheit, der Vormarsch der Demokratie von der großen Masse der Menschen als erwünschenswert erachtet werden würde. Alles scheint sich klar zu ergeben: aus der Ratio ihres Entstehens heraus war die liberale Demokratie eine Herrschaft des Volkes zum Schutze der Bürger vor der Staatsgewalt. Sie wird auch heute noch so gesehen. Offenbar hat ihre geschichtliche Herkunft ihrer Entwicklung den Stempel aufgedrückt und damit ihr Wesen bestimmt. Aber obgleich, wie im Falle des Gewohnheitsrechts, dem langsam Gewachsenen die Vermutung der Güte anhaftet, sollte man nicht davor zurückschrecken, zu untersuchen, was man denn alles in den Ausdruck "liberale Demokratie" hineinlesen kann und was er im Grunde bedeutet. Denn unter "liberal" hat man viel verstanden und kann man viel verstehen. Und das gleiche gilt von der Demokratie. Folglich muß es einen wahren Wust von Auslegungen der liberalen Demokratie geben. Man steht vor schier unbegrenzten Möglichkeiten, unmöglich wie manche von ihnen vielen auch erscheinen mögen.

11. Einleitung

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Ich will hier versuchen, zum Eigentlichen der liberalen Demokratie vorzudringen und zu zeigen, daß bisher bekannte, gepriesene oder verurteilte Arten dieser Regierungsform nichts als Erscheinungen der liberalen Demokratie an sich sind, die sich entgegenstehen können bis hin zur Unvereinbarkeit. Es soll gefragt werden, ob es liberale Demokratien geben kann, in denen die traditionelle Volksherrschaft zum Zwecke der Freiheit der einzelnen tatsächlich zerstört wird, ob der von der Mehrzahl biederer Bürger unterhaltene Begriff der liberalen Demokratie, in dessen Sekurität sie sich so recht wohl fühlen, in Wirklichkeit nur eine der vielen Erscheinungen der liberalen Demokratie an sich ist, die, wie alle anderen Erscheinungen, aus einem Quell fließt, der Gutes und Böses hervorbringen kann und auch schon hervorgebracht hat. Das wird viele schockieren. Hier antworte ich, wie schon vor Jahren in meiner Kritik des reinen Liberalismus, mit den Worten, die Thomas Mann einer 1938 in Stockholm erschienenen Ausgabe von Werken Schopenhauers voranstellte und die 1945 daselbst unter dem Titel "Adel des Geistes" neu herauskamen: "Aber im ,epater le bourgeois' bestand ja immer das Vergnügen und die Sendung, das übermütige Martyrium der Erkenntnis auf Erden: immer fand sie ihre Lust und Leiden darin, den gesunden Menschenverstand vor den Kopf zu stoßen, die populäre Wahrheit umzukehren, die Erde sich um die Sonne drehen zu lassen, da es sich für jeden normalen Sinn doch umgekehrt verhält, die Menschen zu verblüffen, zu entzücken und zu erbittern, indem sie ihnen Wahrheiten auferlegte, die ihrer sinnlichen Gewohnheit schnurstracks zuwiderliefen. Dies aber geschieht zu einem pädagogischen, den Menschengeist höher führenden, ihn zu neuen Leistungen tauglich machenden Zweck." 4

4 Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, Frankfurt, 1968, 11, 254.

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II. Einleitung

Ich wende mich, wohl dem populären Gefühl und dem gesunden Menschenverstand entsprechend, aus dem Begriff "liberale Demokratie" zunächst dem Hauptwort zu. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß es sich dabei auch um die Hauptsache handelt.

III. Demokratie Nach oft betonter und weit verbreiteter Ansicht leben wir heute im demokratischen Zeitalter. Der Vormarsch der Demokratie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von James Kent gefürchtet, als er sich im Staat New York der Erweiterung des Wahlrechts widersetzte. 5 Wenig später gab T ocqueville der Beschreibung seiner Beobachtungen in den Vereinigten Staaten bereits den Titel "De la democratie en Amerique". Die Neue Welt initiierte die neue Welt der Demokratie. Mitte des Jahrhunderts, das als das liberale Jahrhundert bekannt wurde, schrieb Franc;ois Guizot von der Macht des Wortes "Demokratie", das alle Regierungen und Parteien auf ihr Baimer schrieben. 6 Benjamin Disraelis Bezeichnung der Demokratie als üble Regierungsform konnte den Siegeszug demokratischer Gedanken nicht aufhalten. 7 1917 zog W oodrow Wilson in den Krieg, um die Welt "safe for democracy" zu machen. Dreißig Jahre später bemerkte Winston Churchill im Unterhaus, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform mit Ausnahme all derer, die von Zeit zu Zeit versucht wurden. 8 Als 1949 die UNESCO bei über hundert Gelehrten anfragte, was sie denn von der Demokratie hielten, ging nicht eine einzige ungünstige Ant5 Reports of the Proceedings and Debates of the Convention of 1821, Assembled for the Purpose of Amending the Constitution of the State of New York, Albany, 1821,222. 6 Democracy in France, New York, 1849, 1974,2 f., 5 f. 7 Dorothy Pickles, Democracy, London, 1970, 11, ohne Quellenangabe. Andere Ansichten Disraelis, nach denen er die Demokratie als die Regierungsform der Zukunft anerkannte, bei Jens A. Christopherson, The Meaning of »Democracy", Oslo, 1966, 56 - 60. 8 Wilsons Äußerung in 65th Cong., 1st Sess., House Doc. No. 1,7. Churchili ist zitiert von Pickles, a. a. 0., 9.

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wort ein. Im Bericht hieß es, dies sei wahrscheinlich das erste Mal in der Geschichte, daß man die Demokratie als Ideal aller politischen und sozialen Organisationen .eingestuft habe. 9 Man war sich offenbar einig mit dem amerikanischen Vernehmungs offizier, von dem mir earl Schmitt an seinem 92. Geburtstag erzählte. Der hatte ihn nach Kriegsende gefragt, was er von der Demokratie halte. Auf Schmitts Frage, welche Art von Demokratie er denn im Sinne habe, plebiszitäre, repräsentative, direkte usw., entschied er, daß der hervorragende Wissenschaftler im Gefängnis zu bleiben habe. Ex captivitate salus. 1966 brachte John Kenneth Galbraith, der Freund John F. Kennedys, seinen Zuhörern die gut aufgenommene Feststellung zum Salut, so wie die Familie, die Wahrheit, der Sonnenschein und Florence Nightingale sei die Demokratie über jeden Zweifel erhaben. 10 Wenn es auch über die allgemeine Anerkennung der Demokratie kaum Zweifel gibt, gibt es doch so manche Frage um ihr Wesen. Bedenkt man, was heute so alles als Demokratie paradiert und sich darunter verbirgt, erscheint eine Definition schwierig. Wir leben in einer Schwemme demokratischer Assoziationen und Begriffe, in wahren Irrgärten der Demokratien. Ähnliche, unähnliche und sogar gegensätzliche Regierungen werden als Demokratien bezeichnet, man denke nur an die verschiedenen östlichen, westlichen, kommunistischen, sozialen und sozialistischen Spielarten. Zu diesen Unterscheidungen gesellt sich eine Menge gelehrter, halb gelehrter und oft leerer Diagnosen und Klassifizierungen, an denen der Verfasser der "Fröhlichen Wissenschaft" wohl sein Entsetzen oder Amüsement gehabt hätte. Sie scheinen kein Ende zu nehmen. 11 Ihrer Diskussion der UNESCO, Democracy in a World of Tension, Paris, 1951,527. John Kenneth Galbraith,Reith Lectures, 1966 - 67, The Listener vom 15. Dez. 1966, 882. 11 Neben bekannten und geläufigen Klassifizierungen wie liberale, despotische, plebiszitäre, parlamentarische, repräsentative, direkte, westliche, östli9

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Frage, was Demokratie ist, stellt Dorothy Pickles ein Zitat C. B. MacPhersons voran, nach dem bis vor etwa hundert Jahren die Demokratie etwas Schlechtes war, in den nächsten fünfzig Jahren etwas Gutes und in den letzten fünfzig Jahren etwas Zweideutiges. Daneben bringt sie ein Zitat von Giovanni Sartori, nach dem die Demokratie komplexer und verwickelter ist als irgend eine andere politische Form. 12 Da che Demokratie hat man neuerdings von Proporzdemokratie gesprochen (Gerhard Lehmbruch, Proporzdemokratie, Tübingen, 1967, "concordant democracy", derselbe in Segmented Pluralism and Political Strategies in Continental Europe: Internal und External Conditions of "Concordant Democracy", Referat beim Round Table of the International Political Science Association in Turin, September 1969), "consociational democracy" (Arend Lijphart, Democracy in Plural Societies, New Haven, 1977, 1), von "depoliticized", "centripetal", "centrifugal democracy" (daselbst, 106). Gerhard Winterberger hat u. a. gesprochen von der Gefälligkeitsdemokratie in dem Aufsatz von 1977, Gefährdete Marktwirtschaft, in Politik und Wirtschaft, Bern, 1980, 151; von Konkordanzdemokratie und Konkurrenzdemokratie, in Zunehmende Polarisierung in der schweizerischen Innenpolitik?, 1979, daselbst, 39, 43. Christopherson, a. a. 0., gibt hunderte von Auslegungen der Demokratie in europäischen Ideologien von der Französischen bis zur Russischen Revolution. 12 A. a. 0., 9, nicht wörtlich zitiert. Die Ansicht von C. B. Macpherson ist zu finden in The Real WorId of Democracy, Oxford, 1966, 1-2. Sein Buch beginnt: "There is a good deal of muddle about democracy", 1. Vgl. Giovanni Sartori, Democrazia e definitione, 3. AufI., ohne Ort und Datum, 8. Der Übersetzung, Democratic Theory, Detroit, 1962, stellt er auf Seite V als Leitwort Tocquevilles Worte voran: "It is our way of using the words 'democracy' and 'democratic government' that brings ab out using the greatest confusion. Unless these words are clearly defined and their definition agreed upon, people will live in an inextricable confusion of ideas, much to the advantage of demagogues and despots. Oeuvres, VIII, 184." George Orwell, The Machiavellians, Defenders of Freedom, New York, 1943, 243, writes: "In the case of a word like democracy not only is there no agreed definition but the attempt to make one is resisted from all sides ... The defenders of any kind of regime claim that it is a democracy, and fear that they might have to stop using the word if it were tied down to any one meaning." Sartori, der auf Seite 6 schreibt, Omnis definitio est pericolosa, und auf S. 7 den Untertitel "The Age of Democratic Confusion" benutzt, zitiert auf S. 8 T. S. Eliot, The Ideal of a Christian Society, London 1939, 11 f.: "When a term has become so universally sanctified, as 'democracy' now is, I begin to wonder whether it means anything, in meaning too many things." Auf S. 9, Sartori zitiert Bertrand De Jouvenel, Du pouvoir, Genf, 1947, 338:

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verwundert es nicht, daß die Autorin zu keiner befriedigenden Antwort gelangt und sich mit der Beschreibung verschiedener Arten der Demokratie und einigen ihrer Probleme zufriedengibt, die allerdings nicht zufriedenstellend ist. Handelt es sich bei der Demokratie um eine complexio oppositorum? Sieht man in der Demokratie eine Regierungsform, scheint die Hoffnung auf eine Definition nicht unberechtigt. Formen sind konkret und damit bestimmbar. Andererseits sind sie oft leer, so daß verschiedene Positionen zu verschiedenartigen Ausfüllungen demokratischer Formen und daher zu verschiedenen Demokratiebegriffen führen. 13 Da überdies Formen nicht nur ausfüllbar sind, sondern ihrer Füllung geradezu harren, zu ihr leiten und verleiten, können sie zu einer wahren Sintflut solcher Begriffe führen. Diese dürfte denen, die sich um eine Definition der Demokratie bemühen, die Arbeit erschweren und gar verleiden, denn schwere Arbeit verleidet vielen das Arbeiten. Die folgenden Seiten beschränken sich darauf, zu untersuchen, was die Demokratie an sich, die Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes (democracy proper) ist. Überflutungen mit demokratischen Varianten rufen nach einem Versuch, Wesentliches herauszuarbeiten. Vielfalt gebietet Einhalt, um das zugrunde liegende Einfache zu schauen, selbst wenn es nicht von edler Einfalt und stiller Größe sein sollte, und das Eigentliche des aus dem Griechisch kommenden Begriffs der Demokratie sich als weiter Schrei vom Ideal Winckelmanns entpuppt. "Discussions about democracy, arguments for and against it, are intellectually worthless because we do not know what we are talking about." Das bedeutet, daß man der Demokratie auf den Grund gehen muß, um die eigentliche Demokratie zu finden, die Demokratie an sich, die reine Demokratie, wie ich es hier versuche. Il Ähnliches schrieb earl Schmitt über den Rechtsstaat in Was bedeutet der Streit um den 'Rechtsstaat'?, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, XCV (1935), 193 f.

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Das Wort "Demokratie" wird heute, auf der ganzen Erde Mode geworden, allgemein als Herrschaft des gesamten Volkes verstanden. Der .weiten territorialen Popularität entspricht also eine breite Auffassung des demokratischen Teilnahmeprinzips. Das war nicht immer so. Ursprünglich, im griechischen Stadtstaat, wurde die Demokratie oft als Herrschaft der niedrigsten Bürgerschicht gesehen oder als eine, an der auch der Mob entscheidenden Anteil hatte. Noch bei der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung glaubte man das. Aber schon T ocqueville verband mit dem Gedanken der Demokratie eine wachsende Teilnahme aller Bevölkerungsschichten. Und als Lincoln in Gettysburg von der Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk, sprach, bezog er sich auf das ganze Volk und ließ keine Geringschätzigkeit durchblicken. Die Demokratie hatte ihren Pferdefuß verloren. Als zwei Generationen später Wilson, wohl in einer Polemik gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die Welt für die Demokratie sicher machen wollte, war die Gleichung Demokratie = Herrschaft des gesamten Volkes schon gang und gäbe. Diese moderne Auffassung entspricht der Übersetzung des griechischen Ursprungswortes. Da dort der Bestandteil "demos" nicht eingeschränkt ist, konnte man meinen, das gesamte Volk solle herrschen und immer weniger an die von Aristoteies und anderen gemachten derogativen Einschränkungen denken. 14 Liquidationen oberer und Emanzipationen unterer Volksschichten und damit verbundene Egalisierung förderten dann, insbesondere nach der Französischen Revolution, einen Hang zur Vereinfachung. Wenig fragend und diskriminierend, nahm man Ausdrücke für das, was ihnen auf der Stirn geschrieben stand, was sie offenbar an der Oberfläche bedeuteten - at face value. Das war einfach und schmeichelnd. Wie man dies bei makelhaften Dingen 14 Zevedei Barbu, Democracy and Dictatorship, New York, 1956, 12, mit Hinweis auf die Politik des Aristoteles. Vgl. PiekIes, a. a. 0., 29-41.

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oft tut, übersah man den anrüchigen Beigeschmack, der dem Begriff "Volk" seit langem anhaftete und ihm noch heute von einigen zugeschrieben wird, die sich oft nicht damit begnügen, wie Schopenhauer bloß zu sagen: "Wer kein Latein versteht, gehört zum Volke." 15 Als Herrschaft des Volkes in seiner umfassenden Totalität akkommodiert die Demokratie alle, und alle sind stolz darauf, vermeintlich etwas vermelden zu können, ohne daß man geringschätzig auf irgend jemand oder auf irgend eine Gruppe herabsieht. Auch war es wohl so, daß, wie oft bei einem Gesetz, 16 der Begriff der Demokratie, vielen von jeher ein Götze, sich von seinen Schöpfern abstrahierte und als weiser erachtet wurde als diejenigen, die ihn in der Antike schufen und deren Ansichten man entweder ignorierte oder als veraltet abtat. Die Demokratie wurde zum Gott. Das entsprach modernen Tendenzen zu Abstraktionen und Vergötterungen. So erhielt sie, ursprünglich als Herrschaft des Mobs von vielen gefürchtet, durch Bedeutungswandel neue Legitimität, an deren Klarheit nicht mehr zu deuteln war. Im egalitären Vormarsch der Demokratie hatte sich der Pöbel zum Volk erhoben. Sein Proletariat war, vom ganzen Volke aufgesogen, entweder zerstoben oder mit dem Volke verwoben. Eine klare demokratische Wahrheit war entstanden. Demokratie war die Herrschaft des gesamten Volkes. In ihrer Klarheit wurde diese Wahrheit zum neuen Idol, das Guizot verdammen mochte, dessen Existenz er aber nicht bezweifeln konnte. 17 Nun ist offenbar, daß die Demokratie in der Praxis bisher noch nie eine Herrschaft des ganzen Volkes war. Das ist auch jetzt noch so. Wohl haben heute in vielen Staaten mehr Menschen an der Regierung Anteil als zuvor. Aber spätere 15 Arthur Schopenhauer, Über Sprache und Worte, § 299, in Arthur H übscher (Hrsg.), Sämtliche Werke, 2. Aufl., Wiesbaden, 1947, II, 606. 16 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., Stuttgart, 1963, 210 f. 17 Er kritisierte "the idolatry of democracy", a. a. 0., v.

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Generationen werden auf unsere Zeit wahrscheinlich deshalb herabsehen, weil immer noch zu wenige am Regierungsprozeß teilnahmen. Wir kritisieren ja auch frühere Zeiten deshalb. Neben dieser quantitativen Einschränkung des Teilnahmeprinzips gibt es solche, die mit der Possibilität und der damit verbundenen Effektivität sowie der Rationalität des Regierens in Zusammenhang gebracht wurden. Jedem Handeln ist die Möglichkeit des Handelns immanent. Immer ist Herrschaft an die Möglichkeit ihrer Ausführung gebunden. Regieren heißt stets tätig sein. Aktivität folgt aus dem Wort selbst. Wie passiv sich eine Regierung auch verhalten mag, immer ist ihre Passivität eine Art des Regierens, ist sie Aktivität. Laisser-faire, Laissez-passer, ursprünglich gegen den Merkantilismus gerichtet, waren gegen ein Zuvielregieren, nicht gegen das Regieren selbst. Darüber ließen große Advokaten des Liberalismus und der freien Wirtschaft, wie Montesquieu, Adam Smith, Immanuel Kant und Thomas Jefferson, keinen Zweifel. 18 Selbst der Nachtwächterstaat ist immer noch ein Staat, der aufpaßt und regiert. The government that governs least. is still a government. Sollten sich Begriffe wie Laissez-faire und Laisserpasser von ihrer ursprünglichen, auf Freihandel abzielenden Bedeutung lösen und in ihrer Fragwürdigkeit 19 andere Aspekte menschlichen Verhaltens umfassen - der derzeitige Verfall von Recht und Ordnung zeigt, daß dies in vielen Demokratien schon geschieht - wäre die rule of law, wie immer sie auch die einzelnen vor der Staats macht schützen mag, immer noch eine rule, wäre der ihr ähnliche Rechtsstaat immer noch ein Staat. Beide besäßen die ihnen eigene Herrschergewalt. 20

Vgl. mein Liberalism Proper and Proper Liberalism, Baltimore, 1985. Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen, 1971,76; Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, 1967, in Freiburger Studien, Tübingen, 1969, 113. 18

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Da die Demokratie eine bestimmte Art der Herrschaft ist, die ersten Silben des Wortes diese Art lediglich adjektivisch anzeigen und somit als dem Substantiv Herrschaft untergeordnet erscheinen,21 einer Herrschaft aber die Möglichkeit des Herrschens immanent ist, muß, da es aufgrund unserer bisherigen Erfahrung zweifelhaft ist, ob zur gleichen Zeit alle regieren können, in der Demokratie nicht nur das Prinzip der Teilnahme des gesamten Volkes durchbrochen werden. Es muß auch dafür gesorgt werden, daß diejenigen, die am Regierungsprozeß teilnehmen, tatsächlich regieren können. Es besteht also ein Erfordernis der Effektivität, das dem der Possibilität eng verbunden ist. Das Regieren darf durch die Opposition zwar beeinflußt, nicht aber verhindert werden. Es entsteht also die Frage, ob die Mehrheit oder die Minderheit herrschen soll. Offenbar entspricht eine Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit dem demokratischen Ideal der Herrschaft des ganzen Volkes weniger als eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. So war schon John Locke trotz seines Eintretens für die Rechte der Individuen und der Minderheit für eine Herrschaft der Mehrheit,22 und allgemein ist eine solche der Demokratie gleichgesetzt worden. Eine derartige Gleichsetzung ist ohne weiteres berechtigt, wenn die Minderheit der Mehrheit nicht entgegensteht. Da dies aber selten der Fall sein dürfte, gibt man sich, um die Effektivität der demokratischen Regierung zu sichern, mit der Herrschaft der einfachen bzw. qualifizierten Mehrheit zufrieden, je nachdem, wie man sich den Schutz der Minderheit angelegen sein läßt. Schon John C. Calhoun, der sich gewiß um die Minderheit sorgte, sah 20 V gl. mein Rechtsstaat und Staatsrecht, in Karl Dietrich Bracher, Christopher Dawson, Willi Geiger, RudolfSmend (Hrsg.), unter Mitarbeit von Hans-

Justus Rinck, Die moderne Demokratie und ihr Recht: Modern Constitutionalism and Democracy, Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen, 1966, H. 21 Anderer Ansicht Sartori, Democratic Theory, 26: »democracy implies that society takes precedence over the State, that demos precedes cracy." 22 Edwin Mims, Jr., The Majority of the People, New York, 1941.

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ein, daß die Effektivität der Regierung durch ein Verlangen nach Einstimmigkeit beeinträchtigt würde. Er begnügte sich mit der »concurrent majority". 23 In unserem Jahrhundert wurde es nur allzu offenbar, daß der Einstimmigkeit verlangende ArtikelS des Völkerbundpaktes ein Hemmschuh ersten Grades war. 24 Wenn aber Regierungen im Staatenbund und im Bundesstaat durch Vorschriften der Einstimmigkeit lahmgelegt werden können, dürfte das auch in einfachen Gemeinwesen der Fall sein. Das hat man zeitig eingesehen, und die Mehrheitsherrschaft in der Demokratie ist heute kaum umstritten. Da sie allgemein die Herrschaft über, und daher gegen, die Minderheit bedeutet, Demokratie aber die Herrschaft des ganzen Volkes ist, läuft die Mehrheitsherrschaft auf eine aus Gründen der Effektivität notwendige Beschränkung der Demokratie hinaus. In einem Zeitalter der Aufklärung, das bei Kant nicht aufhörte, 25 dürfte jede Regierung vernünftig erscheinen wollen,26 besonders aber eine demokratische, weil dem Volk mehr als Aristokraten die Vermutung der Unbildung und Irrationalität anhaftet. Deshalb hat man in das Schlagwort von vox populi vox dei seit der Zeit, als man Notre Dame in Paris zu einem Tempel der Vernunft machte, hineingelesen, die Stimme des Volkes sei die des vernünftigen Gottes, des Vernünftigen, der Vernunft. So gibt es bei der Demokratie neben den Erfordernissen der Possibilität und Effektivität noch das Bekenntnis zur Rationalität. Auch das bringt Einschränkungen der Demokratie mit sich. Da diese aber zur demokratischen Herrschaftsausübung nicht notwendig 23 John C. Calhoun, A Disquisition on Government, and a Discourse on the Constitution of the United States, Charleston, 1851. 2. MaTgaTet E. BUTton, The Assembly of the League of Nations, Chicago, 1941, 175 ff.; Edward Hallett Carr, The Twenty Years' Crisis 1919-1939, 2. Aufl., London, 1946. 25 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784. 26 Vgl. Barbu, a. a. 0., 75.

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sind, könnten sie, im Gegensatz zu den bisher erwähnten, als lediglich empfehlenswert, nicht aber notwendig, angesehen werden. Zu nennen wären hier zwei Hauptarten, Wahlrecht und Repräsentation. Das Wahlrecht ist ein Mitspracherecht, das besonders in der Demokratie weit ausgebreitet ist und als ihr wesentlich betrachtet wird. Im antiken griechischen Stadtstaat bestand es vor allem darin, zu wählen, welche Gesetze verabschiedet und welche Maßnahmen getroffen werden sollten. In großräumigen Staaten berechtigt es diejenigen, die regieren sollen, zu wählen oder durch Initiative Gesetze vorzuschlagen, solche mittels Referendum anzunehmen oder Beamte durch Recall abzuwählen. Aus Gründen der Rationalität war das Wahlrecht von jeher begrenzt. Ein Cäsar soll bekannt haben, der mächtigste Mann in Rom sei sein kleiner Sohn. Die Kaiserin täte alles, was er wolle, und er selbst entspräche all ihren Wünschen. Tatsächlich aber waren gerade Minderjährige und Frauen lange vom Wahlrecht ausgeschlossen. Nicht erst seit der Zeit des Sturm und Drang hat man jungen Menschen das Wahlrecht abgesprochen, weil sie zu emotional, unbesonnen, irrational seien und ihnen die Reife fehle. Wohl sollten sie begeistert dem Vaterlande dienen, um sich danach, gereifter und vernünftiger, dem Wahlrecht und der vollen Bürgerschaft würdig zu erweisen. Ein Recht aber, die volle Notwendigkeit, Art und Weise des vorangehenden Dienstes mitzubestimmen, wurde ihnen nicht zugestanden. Vermeintlich konnten diejenigen, die sich für etwas qualifizieren sollten, nicht die Bedingungen für ihre eigene Qualifikation bestimmen. Man verweigerte jungen Menschen das Wahlrecht selbst dann, wenn sie privatrechtlich schon volljährig waren, weil die privatrechtliche Geschäftsfähigkeit nur dem kleinen Kreis der sie jeweils Ausübenden zum Nachteil gereichen konnte, nicht aber, wie das Wahlrecht, der ganzen Gesellschaft. Auch meinte man, mit der öffentlichen Verantwortung müsse das Alter, gewählt zu

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werden, steigen, setzte das Alter für das passive Wahlrecht höher als für das aktive und erhöhte es entsprechend der Bedeutung des Amtes. 27 So wuchs die Qualifikation zu öffentlicher Tätigkeit mit dem Entwachsen aus der Jugend und der dieser eigenen Emotionsanfälligkeit, die vielen geeignet erschien, bestehende Ordnungen zu gefährden, was sich bei Unruhen als nicht unbegründet erwies. Die Erhöhung des Wahlalters über das Alter der privatrechtlichen Geschäftsfähigkeit wurde als durchaus damit vereinbar gesehen, daß das Alter für Straffälligkeit unter dem der Geschäftsfähigkeit lag. Wie zweifelhaftes jugendliches Verhalten und dessen unheilvoller Einfluß auf den öffentlichen Willen durch eine Heraufsetzung des Wahlalters verhindert werden sollte, so sollte es trotz niedrigen Alters bestraft werden können, wenn es als Straftat dem öffentlichen Wohl schadete. Auch Frauen wurde das Wahlrecht lange verweigert. Fast bis Ende des 19. Jahrhunderts galt es als selbstverständlich, daß sie nicht die gleichen Rechte hatten wie die Männer. Noch 1892 bemerkte William Gladstone, er fürchte, die Verleihung des Wahlrechtes könne die Frau bewegen, unversehens "the delicacy, the purity, the refinement, the elevation of her own nature" zu besudeln. 28 Die Verweigerung dieses Rechts ist nicht einfach mit der Behauptung abzutun, die Politik sei ein schmutziges Geschäft (politics is a dirty business), in dem Männer zu entscheiden hatten, ob Frauen dazu zu rein waren. 29 Ebensowenig ist die Äußerung des Grand Old Man der englischen Liberalen, der sich vor dem Burenkrieg über von Türken verübte "bulgarische GrauSo ist es noch heute in allen mir bekannten Verfassungen. So zitiert in Pickles, a. a. 0., 10. 29 Vgl. mein America's Political Dilemma: From Limited to Unlimited Democracy, Baltimore, 1968,234 -41, 265, 268 f., 271 f. Meine Kritik Kennedys findet sich schon in dem vor seinem Tode von Henry Regnery publizierten In Defense of Property, Chicago, 1963, deutsch Zur Verteidigung des Eigentums, Tübingen, 1978, 227, 229, 240 f. 27 28

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samkeiten" entrüstete, wohl darauf zurückzuführern, daß er sich als Gentleman zeigen wollte. Auch das oft gehörte Argument, die Frau gehöre ins Haus und an den Herd, ist wenig stichhaltig. Ein tieferer Grund der Ablehnung des Frauenwahlrechts war der, daß Frauen als zu emotional eingeschätzt wurden. Das vernimmt man noch heute. Zur Unterstützung dieser Ansicht wird u. a. angeführt, daß 1945 amerikanische Frauen auf die Rückkehr amerikanischer Soldaten aus eroberten Landstrichen drängten (let' s get our boys horne!) und so diese den Kommunisten überließen; daß sie 1960 Kennedy eher aufgrund seines Aussehens als seiner Qualifikationen (er galt als der von den Sitzungen des Senats am häufigsten abwesende Senator, der sich lieber in Hyannis Port und in Palm Beach amüsierte, als in Washington seiner Arbeit nachzugehen) zum Präsidenten wählten. Trotz Ablehnungen des Frauenwahlrechts galten Großbritannien, die Schweiz und die Vereinigten Staaten als mustergültige Demokratien. Aus Gründen der Rationalität hat man das Wahlrecht auf Eigentümer beschränkt. Die großen liberalen Revolutionen in England, Amerika und Frankreich waren zum guten Teil von der rationalen Erwägung geleitet, eine freiheitliche und moralische Ordnung sowie der Reichtum der Nationen würden durch Freihandel und freies Eigentum gefördert. 30 So erschien es folgerichtig, die gegen den Absolutismus behaupteten Eigentumsrechte der einzelnen Bürger auch unter den neuen Regierungen, an denen das Volk teilnahm, zu schützen. Hierzu schienen Beschränkungen des Wahlrechts auf Eigentümer dienlich. Diejenigen, so behauptete man, die etwas zu verlieren hatten, würden besonnener und verantwortlicher wählen als Mittellose. Man fügte hinzu, daß Menschen, die sich Eigentum schaffen, die Eigentum verwalten können, vernünftiger sind als Habenichtse. Wenn es auch Eigentümer gibt, die mehr Glück haben als Verstand, JO

Daselbst, 26 - 40.

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sind Eigentümer doch meist Menschen mit Verstand. It takes brains to make and keep money. Der homo oeconomicus denkt rational. Auch Begrenzungen des Wahlrechts durch Bildungsqualifikationen erschienen vernünftig. Je mehr Menschen am Regierungsprozeß teilnehmen, umso schwieriger wird das Regieren. Das wurde selbst von Autoren, welche die Freiheit des einzelnen durch seine Teilnahme am Regieren sichern wollten, gesehen. Für Kant war der "Autokrator" oder "Selbstbeherrscher" , der alle Gewalt besitzt, bezüglich des Rechts selbst zwar in Betracht des Despotismus die für das Volk gefährlichste Regierung, andererseits aber wohl die beste, weil einfachste, für die Durchführung des Rechts. 31 Um eine bürgerliche Verfassung zu ermöglichen, empfahl er Aufklärung. Auf der anderen Seite des Atlantik ließ J efferson, der in seinem Lande nicht nur als Ahnherr der Demokratischen Partei, sondern der Demokratie schlechthin galt, keine Zweifel über den Wert der Erziehung für ein demokratisches Gemeinwesen. 32 Zweimal wurde er zum Präsidenten seines Landes gewählt, dessen Territorium er durch den Kauf Louisianas mehr vergrößerte als einer seiner Vorgänger oder Nachfolger im Weißen Haus. Dennoch wollte er als Gestalt des age of reason erinnert werden. Auf seinem Grabstein sollte nur stehen, daß er die Unabhängigkeits erklärung verfaßte, ein Gesetz für die Religionsfreiheit in Virginia förderte und der Gründer der Universität von Virginia war. 33 31 Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, in Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) Kants Werke, Berlin, 1907-12, VI, 339. 32 Brief anJohn Adams vom 28. Okt. 1813, in Andrew A. Lipscomb(Hrsg.) The W ritings of Thomas J efferson, Washington, 1903 - 04, XIII, 394 ff. 33 In seiner ersten Antrittsrede als Präsident der Vereinigten Staaten heißt es: "If there be any among us who would wish to dissolve this Union or to change its republican form, let them stand undisturbed as monuments of the safety with which error of opinion may be tolerated where reason is left free to combat it." Daselbst, III, 319.

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Neben diesen Begrenzungen wurde es als vernünftig erachtet, Schwachsinnigen das Wahlrecht abzusprechen. Man folgte also nicht der Auffassung des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Hubert H. Humphrey, der Nixon 1968 in der Präsidentenwahl nur knapp unterlag und bei dessen Begräbnis Rockefeller meinte, er hätte einen vorzüglichen Präsidenten abgegeben. Den hörte ich sagen, auf die Klage, "there are fools in Congress", habe er geantwortet, das sei schon in Ordnung. Es gäbe Dumme in der Bevölkerung, und es läge kein Grund vor, diese nicht durch ihresgleichen vertreten zu lassen. 34 Außer Einschränkungen des Wahlrechts wurde Repräsentation aus Gründen der Rationalität empfohlen. Rousseau, bekannt als Vater der modernen Demokratie, sah in der Volksvertretung eine Beschränkung der Volksherrschaft. Aus dem Milieu seines Geburtsortes, des Stadtstaates Genf, heraus, erkannte er nur die dort bestehende unmittelbare, direkte Demokratie als echt an, sah er in der Repräsentation eine Verfälschung des Volkswillens. 35 James Madison dagegen, der Vater der amerikanischen Bundesverfassung, folgte seinem englischen Zeitgenossen Edmund Burke. Er sah in der Repräsentation eine Rationalisierung und Verfeinerung dieses Willens und empfahl sie. Er kritisierte die direkten Demokratien griechischer Stadtstaaten als Nährböden für Demagogerie und Tumulte und behauptete, representative government allein, die Volksherrschaft veredelnd, entspräche dem Interesse der res publica. 36 Die Rationalisierung bezweckenden Beschränkungen des Volkes, das in seiner Vielfalt so manchen wohl noch ungefüger und plumper erschien als Marx das Proletariat, wurden Rede vom 17. Januar 1964 an der Johns Hopkins Universität. Contrat Social, Buch 3, Kap. 15. Siehe Claes G. Ryn, Democracy and the Ethical Life, Baton Rouge, 1978, 120 H. 36 The Federalist, Essay 10. 34 35

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mit dem Vordringen der Demokratie unter dem Gleichheitsprinzip bedeutend reduziert. Zu einer Zeit, in der die Demokratie so hoffähig wurde, daß sogar Monarchisten sich zu ihr bekannten, 37 war für Diskriminierungen bei der Teilnah me am demokratischen Prozeß, selbst wenn sie vernünftig erschienen, immer weniger Platz. Die Liebe zur Gleichheit war schon Montesquieu als das hervorragende Merkmal der Demokratie erschienen, und wenig später sprach Constantin Fran