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German Pages [408] Year 2001
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann
Band 80
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001
Liberal-katholische Publizistik im späten Kaiserreich »Das Neue Jahrhundert« und die Krausgesellschaft
von Jörg Haustein
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2001
Mit 12 Abbildungen
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufhahme Haustein, Jörg: Liberal-katholische Publizistik im späten Kaiserreich: das »Neue Jahrhundert« und die Krausgesellschaft / von Jörg Haustein. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 80) Zugl.: Kiel, Univ., Habil-Schr., 1995/96 ISBN 3-525-55188-6
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
© 2001 Vandenhoeck &: Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
FÜR JOLA
Vorwort »Dafür bezahlt zu werden, anderer Leute Briefe zu lesen« gehöre zu den schönen Seiten der Arbeit der Historiker, meinte einmal ein amerikanischer Kollege auf einer Tagung. Aus einer vergleichbaren Arbeit ist die hier vorgelegte Arbeit entstanden. Ein Wochenblatt und die Protokollbücher eines kleinen Vereins waren die Hauptlektüre. Sie spiegelte mir eine eigene Welt wider, einen Zirkel von Bürgern, die der römisch-katholischen Kirche angehörten und in ihr Veränderungen herbeiführen wollten. Menschliche Schicksale tauchten auf, Streit und Versöhnung, theologisches Engagement und bittere Enttäuschung. Und doch handelt es sich hierbei um Kirchengeschichte, denn der Streit um den »Modernismus« ist bis heute ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte der römisch-katholischen Theologie und Kirche. Im Wintersemester 1995/96 wurde die Arbeit von der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde für den Druck überarbeitet und aktualisiert. Die Anregung zur Beschäftigung mit der reformkatholischen Publizistik verdanke ich meinem Doktorvater Professor Dr. Gottfried Maron. Er hat schließlich nicht nur die Mühe des Erstgutachters auf sich genommen, sondern er und mit ihm unserer Kieler Doktorandenkreis haben das Projekt die ganzen Jahre hindurch begleitet. Den beiden anderen Gutachtern, Professor Dr. Dr. Johannes Schilling und Professor Dr. Josef Wiesehöfer danke ich gleichfalls für ihre Arbeit mit meiner Arbeit. Herrn Professor Dr. Adolf Martin Ritter und Herrn Professor Dr. Thomas Kaufmann möchte ich für die Aufnahme in die »Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte« danken. Freunde, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben, wie an jedem, so auch an diesem Buch ihren großen Anteil: So danke ich Frau Ruth Kubitza für Hilfe bei Transskriptionsarbeiten, Frau Helga Schmolinsky und Pfarrer Dr. Fleischmann-Bisten beim Korrekturlesen. Dieser und mit ihm PD Dr. Harry Oelke haben mir als Freunde und Kollegen in den Jahren der Abfassung in vieler Hinsicht zur Seite gestanden. Am meisten gelitten hat unter dem Unternehmen meine Frau Jolanthe Pluta-Haustein. Ihr sei es daher als Dank für ihre von mir oft überstrapazierte Geduld und in der Hoffnung auf bessere Zeiten gewidmet! Bensheim, im März 2 0 0 1
Jörg Haustein
Inhalt
Einleitung 1. Terminologie 2. Das Organ 3. »Das Neue Jahrhundert« in der Modernismusforschung
13 15 17
Kapitel 1: Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter« 1. Der Aufbruch der katholischen Presse ins 20. Jahrhundert 2. Ein katholisches Blatt, frei und deutsch 3. Johannes Bumüller (1901-1903) 4. Die Mitarbeiter 5. Bilanz des ersten Jahres 6. Eine Zeitschrift, die es nicht gibt
24 26 30 31 36 38
Kapitel 2: Der zweite Anfang 1. Johannes Bumüller gibt auf 2. Franz Klasen (1902) 3. Der neue Wind
42 43 44
Kapitel 3: Eine reformkatholische Tageszeitung? 1. Die Vorbereitung 2. Die Isarlust-Versammlung 3. Die Bemühungen um Albert Ehrhard 4. Der Abbruch des Aufbruchs
48 49 53 56
Kapitel 4: Das Organ des deutschen Reformkatholizismus 1. Die Rede Bischof Kepplers 2. »Was wir wollen« 3. Vom Literaturblatt zum Sprachrohr des Reformkatholizismus . . . 4. Theodor Lampart in Augsburg 5. »Das Zwanzigste Jahrhundert« und »Hochland« 6. Pius X 7. »Was wir wollen« als Reformschrift
59 61 65 67 68 69 71
Kapitel 5: Von den »Freunden des Zwanzigsten Jahrhunderts« zur Krausgesellschaft 1. Die Gründung
74
Inhalt
10 2. Programm und Organisation 3. Die praktische Arbeit
Kapitel 6: Der Beginn gemeinsamer Aktivitäten 1. Vorträge 2. Karl Gebert, »Katholischer Glaube ...« 3. Katholikentage 4. Gedämpfter Optimismus
75 77
79 80 83 88
Kapitel 7: Zickzack-Kurs: Von Möndel zu Engert 1. Die Phase der Betonung politischer Neutralität 2. Beginnende Spannungen 3. Der Redaktionswechsel von Möndel zu Flaskamp 4. Trennung von Krausgesellschaft und »Zwanzigstem Jahrhundert« 5. Der Syllabus »Lamentabili« 6. Die Enzyklika »Pascendi« 7. Die Krise und ihre Überwindung 8. Thaddäus Engert .
89 91 93 94 96 98 106 109
Kapitel 8 : Vom »Zwanzigsten Jahrhundert« zum »Neuen Jahrhundert« 1. Das letzte Jahr des »Zwanzigsten Jahrhunderts« 2. Neue Initiativen und Sammlung der Reformkatholiken 3. Verlagsprojekte 4. Der »Propagandafonds« 5. Zunehmende Schärfe und innere Auseinandersetzungen 6. Das Ende des »Zwanzigsten Jahrhunderts«
112 113 115 118 119 121
Kapitel 9: Das »Neue Jahrhundert« 1. Die Verhandlungen um die Weiterführung 2. »Das Organ der deutschen Modernisten« 3. Die »Fälle« Heilig, Tremel und Funk 4. Der letzte Redaktionswechsel: Philipp Funk 5. Die Konsolidierung der Zeitschrift durch Redakteur und Verein 6. Konzentration der Kräfte 7. »Der jetzige und künftige Kurs des >Neuen Jahrhunderts«
Reformkatholizismus< ist nur von Dr. Joseph Müller geprägt und aufrechterhalten worden. Ueber dieses Wort soll der frühere Nuntius Lorenzelli gesagt haben: >titulus ipse haereticus««, Zwjh 3 (1903) 44. In seinem Artikel »Reformkatholizismus« in der RGG 1 (IV,2118) bekräftigt Schnitzer, die Umbenennung sei »auf Betreiben des Münchener Nuntius Lorenzelli« vorgenommen worden.
32
Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter«
»Freien-Deutschen Blättern« Engagierten zeigt außerdem den starken literarischen Charakter des Blattes: Die »Kunst« des Untertitels wird hauptsächlich durch Lyrik und kurze Prosabeiträge repräsentiert. Franz Eichert: Sicherlich eines der »Zugpferde« der »Freien Deutschen Blätter« war Franz Eichert (1857-1926) 2 3 , der nicht nur als Lyriker seit einem Jahrzehnt einen Namen hatte, sondern auch als Publizist tätig war, zuerst als Schriftleiter des »Volksblatt für Stadt und Land«. Eine größere Rolle spielte er ab 1906: Als Konkurrenzblatt gegen das »Hochland« Muths wurde von Richard Kralik »Der Gral. Monatsschrift für schöne Literatur« ins Leben gerufen, Herausgeber: Franz Eichert. 24 Für die »Freien-Deutschen Blätter« schrieb der Österreicher im März und April 1901 insgesamt vier Gedichte: Hoffnung (FrDBl 1 [1901] 11), Ich trat zu den Wächtern (FrDBl 1 [1901] 50), Höhenpfad (FrDBl 1 [1901] 61) und Sphinx (FrDBl 1 [1901] 97). Seine gerade erschienenen »Höhenfeuer« wurden von Bumüller mit einigen Kostproben weitgehend lobend besprochen (FrDBl 1 [1901] 20f), doch weitere Spuren hat er hier nicht hinterlassen. Karl Graf Scapinelli: Kurz vor seinem 25. Geburtstag stand der Generalssohn25, als er den ersten seiner neun Beiträge für die »Freien-Deutschen Blätter« schrieb. Da er erst 1901 von Wien nach München wechselte, stellen seine Artikel möglicherweise gleichzeitig sein literarisch-journalistisches Debut dar. Scapinelli besorgte vor allem ausführlichere Kunst- und Kulturkritik der Münchener Szene (Aus dem Kunstleben Münchens, FrDBl 1 [1901] 5 7 - 5 9 . 63f. 99f. 1 7 2 - 1 7 4 ; VIII. Internationale Kunstausstellung in München, FrDBl 1 [1901] 1 9 4 . 2 2 9 - 2 3 1 . 3 1 4 . 3 1 6 u.a.). Im Dezember 1901 stellte er seine Mitarbeit mit Rezensionen Münchener Aufführungen ein. Marie von Schmidt-Ekensteen: Unter Ihrem Mädchennamen Ekensteen 26 und zuletzt dem Pseudonym Knut von Juliat wirkte die seit 1889 in München ansässige Schriftstellerin ebenfalls nur im ersten Jahr am Blatt mit, wo sie ein knappes Dutzend Gedichte und »Skizzen« veröffentlichte: Mahnung. (FrDBl 1 [1901] 37), De mortuis nihil nisi bene. Kirchhofskizzen. (FrDBl 1 [1901] 51f), Kampf? (FrDBl 1 [1901] 62f), Am Waldsee. (FrDBl 1 [1901] 109), Maiensegen. (FrDBl 1 [1901] 146f), Dies Dominica. (FrDBl 1 [1901] 2 1 7 0 , Die Blume Galiläas. (FrDBl 1 [1901] 241), Still trugen sie ihn zu Grabe. So still - wie er gelebt... (FrDBl 1 [1901] 291f), Ernte. (FrDBl 1 [1901] 387), Allerseelen. (FrDBl 1 [1901] 421f), Totem und Totemismus. (FrDBl 2,20-22). Der letzte (pseudonyme) Beitrag hebt sich von den anderen ab, ist er doch 23
Vgl. Kosch, 5 9 9 (Lit.).
24
Vgl. Weitlauff, Modernismus litterarius, 140f.
25
Vgl. Kosch, 4 1 8 1 .
24
Vgl. Pataky, Lexikon, Bd. 2.
Die Mitarbeiter
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weniger Dichtung als eine kulturhistorische Betrachtung heidnischer Religionen. Die »Freien-Deutschen Blätter« waren jedoch nur eines der zahlreichen Betätigungsfelder der vielseitigen Frau. Martin Greif: Acht Zeilen wären kaum erwähnenswert, wenn hinter ihnen nicht Martin Greif 27 stünde, einer der »Alten Garde« der katholischen Literaten. Sein einziges Gedicht »Die Stimme der Mutter« (FrDBl 1 [1901] 85) leitete die Nr. 8 vom 20. April 1901 ein, war also sicherlich ausgesprochen werbewirksam. Beda Gründl: Auch der Benediktinerpater und spätere Professor Beda Gründl 28 , damals schon in Augsburg, trat mit zwei Rezensionen an die Öffentlichkeit: im April über das Nordafrikabuch Franz Wielands, der im Gefolge des Modernismusstreits später zur Krausgesellschaft stoßen sollte, 29 und einer Besprechung des Klassikers »Quo vadis« Henryk Sienkiewicz' (FrDBl 1 [1901] 86f.98i). Herman Schell: Unter den theologischen Mitarbeitern ragt zweifellos der Würzburger Apologet und Nestor des Reformkatholizismus Herman Schell30 hervor. Sechs apologetische Beiträge unterschiedlicher Länge erschienen zwischen 1901 und 1904. Schell gehört somit nicht zu denjenigen, die bereits nach dem ersten Jahrgang die Mitarbeit aufgaben, er hätte wohl am »Zwanzigsten Jahrhundert« weiterhin mitgearbeitet, wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen. Die Artikel selbst sind freilich nicht alle Schells eigener Feder entflossen, wenigstens bei einem handelt es sich um eine Vortragsmitschrift. Im Leitartikel vom 7. Dezember 1901: Individualismus und Auktorität, Entwicklung und Unveränderlichkeit im Katholizismus (FrDBl 1 [1901] 482-484) bezieht er Stellung gegen einen anonymen Professor R. aus Wien, dem gegenüber er Recht und Pflicht des Apologeten definiert: »Er muss... jede Konfession von ihrem eigenen Standpunkt aus darstellen und darum ausdrücklich ihre Ideale und deren Wert und Recht anerkennen ... Müssen wir den Protestantismus immer und überall Häresie nennen, dürfen wir ihn niemals als christliche Konfession behandeln, als das, was er selber sein will?« (FrDBl 1 [1901] 482f) Die weiteren Beiträge haben die Auseinandersetzung mit dem Monismus, speziell Haeckels »Welträtsel«, eine Betrachtung des Mottos Pius' X. (»omnia instaurare in Christo«) sowie eine »Pfingstbetrachtung« zum Inhalt. Schließlich wird ein weiterer Vortrag Schells im Münchener Museumssaal über »Die kulturgeschichtliche Bedeutung der großen Weltreligio-
27
Vgl. Kosch, 1115f.
28
Vgl. Kosch, 1182.
29
Franz Wieland, Ein Ausflug ins christliche Nordafrika, Stuttgart 1900 (FrDBl l,66f).
30
Schell ist sehr gut erforscht; zu neueren weiterführenden Arbeiten vgl.: Heyer, Jahre; Bleickert, Schell; Hausberger, Schell.
34
Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter«
nen« (Zwjh 4 [1904] 275-277.285-288.301f.314-316.325-326) abgedruckt. Kilian Beuschlein und Alphons Ennesch sind ferner als Mitarbeiter aus dem weiteren Umkreis Schells zu nennen (Schüler).31 Beuschlein brachte ebenfalls einen Beitrag zu Haeckel (FrDBl 1 [1901], 42-44), Ennesch, der (da verheiratet) kein Theologe war, beteiligte sich mit wirtschaftlichen Themen. 32 M. Herbert: Hinter dem Pseudonym M(aria) Herbert verbarg sich die Schriftstellerin Therese Keiter, geb. Kellner (1859-1925), die auch zu den kurzzeitigen Mitarbeiterinnen der »Freien Deutschen Blätter« gehörte. Immerhin sind ihre fünf Beiträge wie der von Martin Greif jeweils auf der Titelseite plaziert. Therese Keiter war somit wohl auch eine »Werberin« für das Blatt. Therese Tesdorpf-Sickertberger: Von Beginn an dabei war weiter Therese Sickenberger, 1853 in der Oberpfalz geboren, die gleichfalls zunächst nur drei Gedichte im Juni 1901 veröffentlichte (unter ihrem Pseudonym Th. Singoli, wiederum auf der Titelseite). Im Unterschied zu anderen nahm sie jedoch 1911/12, nunmehr in München seßhaft, ihre Mitarbeit wieder auf, jetzt unter ihrem Doppelnamen. Nun aber waren es kurze Prosastücke, mit denen sie in die Auseinandersetzung um den Antimodernisteneid eingriff, nicht zuletzt als Rückendeckung für ihren Bruder, den im »Neuen Jahrhundert« und der Krausgesellschaft stark engagierten Otto Sickenberger: Der Wiedereinstieg ist ihre Reaktion auf Sickenbergers Vortrag »Wie steht es heute bei uns mit der Gewissensfreiheit?« vom 5. Januar 1911. Freilich bemerkte die Redaktion zu ihrem »Stimmungsbild« (Ein Verbannter, NJh 3 [1911] 30f): »Frau Therese Tesdorpf-Sickenberger spricht hier übrigens nicht als Verwandte, sondern als Vertreterin der gebildeten und nicht klerikal verhetzten Münchener Frauenwelt, in der ihr Name einen so guten Klang hat« (NJh 4 [1912] 30f). Laurenz Kiesgen : Drei Gedichte und eine Glosse über das Varieté steuerte der Kölner Lehrer Laurenz Kiesgen (geboren 1869) bei. Kiesgen hat sich besonders auf dem Gebiet der Jugendliteratur verdient gemacht und war Herausgeber dreier Zeitschriften gewesen: »Jung-Köln«, »Der Wächter für Jugendschriften« und »Münchener Jugendschriften«. Gewagte Verse wie: »Die Rosendüfte stiegen in der Runde, als deiner Küsse Quell ich trank« (Die Sehnsucht, FrDBl 1 [1901] 386) könnten freilich dafür gesorgt haben, daß Vertreter konventionellerer Sittlichkeitsvorstellungen die »Freien Deutschen Blätter« als jugendgefährdend und obszön zur Seite legten.
31
Diese Vermutung stützt sich auf Schells Briefe an seinen Schüler Hugo Paulus, in denen diese Namen einige Male erwähnt werden, vgl. Schell, Briefe, 137. 32
Phantasien eines Hütten-Technikers beim Nachtdienst, FrDBl 1 (1901) 121-123; Industriesegen, (Zwjh 2 [1902] 298f.310f; Zur statistischen Erhebung über die Gewerbsverhältnisse der Privatbeamten am 15. Oktober 1903, Zwjh 3 (1903) 5 1 1 - 5 1 3 ; Zur staatlichen Pensionsversichrung der Privatbeamten, Zwjh 4 (1904) 19.
Die Mitarbeiter
35
Paula Gräfin Coudenhove: Wiederum nur sehr wenig, zwei Gedichte (»Falkenbeize«, FrDBl 1 [1901] 170; »Liederrosen«, FrDBl 1 [1901] 362), stammen von Paula Gräfin Coudenhove (geb. 1863), die auch erst 1900 mit ihrem Roman »Die Aernichte« debütierte. Franz Xaver Fiisser: Dem Bereich der Kunst und Kunstkritik widmete sich der noch nicht zwanzigjährige Franz Xaver Füsser, der 1901 vor allem über die unter dem Vorsitz von Max Liebermann stattfindenden Ausstellungen der Berliner Sezession berichtete (FrDBl 1 [1901] 171f, 505-507). Daneben stellte der gebürtige Elsässer und spätere Wahlrheinländer aber auch kunst- und kulturphilosophische Betrachtungen an, so etwa über »Schopenhauer und Nietzsche« (FrDBl 1 [1901] 195-197) oder ganz allgemein »Zur Charakteristik der Moderne« (FrDBl 1 [1901] 422-427). Albert Sleumer: Nur wenig älter war der später als Verfasser des »Kirchenlateinischen Lexikons« bekannt gewordene Albert Sleumer33, der nach dem Studium in Münster, Würzburg, Kiel und Brüssel 1900 als Dr. phil. die Priesterlaufbahn einschlug. Ein Jahr darauf erschienen seine ersten beiden Bücher »Die Dramen Viktor Hugos mit besonderer Berücksichtigung der Frauencharaktere in denselben« und »Die Denkwürdigkeiten des Kardinals Herkules Consalvi«. Beide Themen lieferten auch den Stoff für seine »geschichtliche Erinnerung« zu den Centenarien des Konkordats zwischen Napoleon I. und Pius VI. und zum Geburtstag Viktor Hugos. Ernst Hauviller: Zu den eigentlichen Reformkatholiken ist auch der Elsässer Ernst Hauviller34 zu zählen, Verfasser nicht nur des biographischen Standardwerkes über den 1901 verstorbenen Franz Xaver Kraus, sondern auch eines Nachrufes auf den »Marschall der Reformer« in der »Krausnummer« der »Freien Deutschen Blätter« (2 [1902] 26-30). Ähnlich wie auch Herman Schell fand Hauviller in der Zeitschrift ein Forum, sich gegen Denunziationen und Angriffe seiner Priesterkollegen zur Wehr zu setzen, so in einer »Erklärung« vom März 1902, in der er sich gegen die Unterschiebung eines Schell kompromittierenden Artikels durch einen elsässischen Anonymus in der »Augsburger Postzeitung« wehrt (FrDBl 2 [1902] 110). Hauviller war mindestens von 1909 bis 1914 Mitglied der Krausgesellschaft, und so ist zu vermuten, daß sich im »Neuen Jahrhundert« noch weitere Beiträge von ihm befinden. Friede H. Kraze: Wohl die einzige Mitarbeiterin aus Schleswig-Holstein war die Lehrerin, Jugend- und Märchenschriftstellerin Friede H. Kraze35, die 1870 in Krotoschin geboren wurde und nach wechselvollem Schicksal schließlich Lehrerin in Husum war. Sie schrieb zwei erbauliche Besinnungen: 33
Vgl. D B A 1 1 9 0 , 7 5 .
34
Vgl. K ü r s c h n e r ,
35
Vgl. D B A 7 0 6 , 6 ; Pataky, L e x i k o n , N a c h t r a g .
662Í.
Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter«
36
»Unter dem Schatten der Nacht« (FrDBl 1 [1901] 362f) und »Vom Berge der Seligkeiten«, eine Auslegung der Seligpreisungen (FrDBl 2 [1902] 15-17). Valentin Holzer: Zu direkten reformkatholischen Anliegen bezog der ebenfalls noch junge Kärntner Gymnasialprofessor Valentin Holzer36 (geboren 1871) Stellung, mit seiner Forderung »Die heilige Schrift für das Volk!« (FrDBl 1 [1901] 438Q und »In Sachen der Fr.D. Blätter. Eine Abwehr« (FrDBl 1 [1901] 461-463). Außer der Mitarbeit für die »Freien Deutschen Blätter« hat er hauptsächlich seinen Anteil am Reformkatholizismus dadurch gewonnen, daß er die Werke des Nestors der italienischen Reformkatholiken, Bischof Geremia Bonomelli von Cremona 37 und andere romanische Werke gleicher Richtung ins Deutsche übersetzte. Michael Gerhauser. Vom Schriftleiter des »Sonntagsblatts für die katholische Familie« und Augsburger Domprediger Gerhauser 38 stammt die Kritik einer Augsburger Agnes Bernauer-Inszenierung (FrDBl 2 [1902] 110). Juliane Engell-Günther: Als engagierte Frauenrechtlerin meldete sich am 22. März 1902 in der vorletzten von Bumüller redigierten Nummer Juliane Engell-Günther 39 mit bissigen Bemerkungen über das Buch des Wiener Arztes Moritz Benedikt »Das Seelenleben des Menschen« zu Wort. Ihr Fazit: »Wie mancher hat nicht schon behauptet, dass es ihm gelungen sei, >tiefe Einblicke in die Rätselpsyche des Weibes< zu werfen! und doch würde es viel einfacher sein, die Frauen zuerst ebenso zu unterrichten wie die Männer, und sie darauf selbst über ihr Wesen urteilen zu lassen« (»Ein neuer Prophet«, FrDBl 2 [1902] 141-143). Dieser und andere Sätze ihres Artikels hatten die Erfahrung eines 82jährigen Lebens hinter sich.
5. Bilanz des ersten Jahres Die Namen, die Anzahl und zeitliche Verteilung der Beiträge lassen Rückschlüsse auf den Weg des Blattes durch sein erstes Jahr zu. Es scheint ganz so, als ob die »Freien-Deutschen Blätter« mit einem Vertrauensvorschuß ins Rennen gegangen seien oder aber das Bedürfnis nach einem Literaturblatt mit »Kurs« recht groß war. Anders ist es kaum zu erklären, daß das Blatt relativ schnell eine gewisse Verbreitung fand und bald die Auflagenhöhe erreichte, die ein Mitwirken attraktiv machte. Die Münchener Literaturszene verschmähte die Mitarbeit also nicht, es waren unter den Autorinnen und Autoren ebenso 36
Vgl. Kosch, 1720.
37
Das Neue Jahrhundert, München 1903; Die Kirche, München 1903.
38
Vgl. Kosch, 987.
39
Geboren am 3. August 1819 in Mecklenburg. Vgl. DBA 436,147; Pataky.
Bilanz des ersten Jahres
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etablierte Literaten wie Greif, Herbert oder Ekensteen, aber auch »Newcomer« wie Scapinelli, freilich auch Eigenbrötler, unter die gewiß Franz Eichert zu zählen ist. Daneben sind die Beiträge renommierter Theologen, allen voran natürlich Herman Schell, zu nennen. Es fällt weiter auf, daß sich unter den Mitwirkenden zahlreiche Frauen befanden. Trotz des erkennbaren reformkatholischen Kurses scheute sich auch niemand (oder wenigstens nur wenige) vor der Namensnennung. Das Organ war 1901 aber doch zuerst auch eine belletristische Zeitschrift im Sinne der Forderungen Muths. Die häufige Plazierung von Gedichten auf der Titelseite ist bezeichnend. Dennoch konnte nicht verborgen bleiben, daß die meisten der genannten Mitarbeiter den »Freien-Deutschen Blättern« bald den Rücken kehrten. Diese Bewegung geht einher mit dem Redaktions- und Namenswechsel im Frühjahr 1902. Zu diesem Zeitpunkt muß sich der Eindruck herausgebildet haben, daß die Zeitschrift für die »guten« Katholiken untragbar war. Ob und inwieweit hierin eine Mitarbeit für Dichter und Dichterinnen unattraktiv wurde und sie deshalb aufhörten, ist schwer meßbar, aber doch wenigstens anzunehmen. Auch der Initiator der katholischen Literaturbewegung, Karl Muth selbst, ist im März und April 1902 von Franz Klasen um einen Beitrag angegangen worden, mit dem Hinweis: »Wir haben die ersten Namen aus unserer katholisch-fortschrittlichen Bewegung als Mitarbeiter.« 40 Er war jedoch erfolglos. Ob damit zu rechnen gewesen war, sei dahingestellt. Jedenfalls zeichnen sich bereits in dieser sehr frühen Phase Grenzlinien ab, die von den »Vorsichtigeren« nie überschritten werden sollten. Rückblickend urteilt Joseph Schnitzer eher kritisch über das erste Jahr der Freien Deutschen Blätter: »Druck und Ausstattung ließen so gut wie alles zu wünschen übrig, und der erste Jahrgang bewies deutlich genug, daß der noch jugendliche Gründer und Herausgeber mit dem guten Willen nicht auch das nötige Maß zur Leitung eines solchen Organes erforderlichen Erfahrung, Einund Umsicht mitbrachte. «41 Der eigentlich reformkatholische Impetus wurde von den Genannten (mit Ausnahme der Theologen unter ihnen) nicht getragen, hierfür waren andere verantwortlich, zunächst Bumüller selbst, dann aber vor allem Otto Rudolphi und Karl Bill, beide Geistliche und Männer der ersten Stunde. Der bereits erwähnte Otto Rudolphi (1862-1925) kann als eine der Schlüsselfiguren der Zeitschrift gelten. Er hat über viele Jahre regelmäßig Beiträge, besonders längere, zu aktuellen kirchenpolitischen Fragen geliefert und hiermit ein Ressort geschaffen, durch das das »Zwanzigste Jahrhundert« über den eigenen Leserkreis hinaus für andere Zeitschriften und deren Leser interessant 40
Klasen an Muth, 21. März 1902, BStB Ana 390 II Klasen.
41
Schnitzer, Modernismus ZfP, 37.
38
Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter«
wurde. Es ist das Verdienst Loomes, Rudolphi hinter den Pseudonymen »R.G.-«, »Sincerus« und (vielleicht) »Spectator« auszumachen. 42 Karl Bill43 (1875-1903) gehört zu den jungen und besonders tragischen Gestalten in der Geschichte des »Neuen Jahrhunderts«. Er war ein Schüler Franz Xaver Kraus', den er in Artikeln in den »Freien Deutschen Blättern« gegen ultramontane Angriffe verteidigte, wurde von Bischof Hözl als Stadtkaplan nach Augsburg berufen und war zuletzt Präfekt des Kgl. Studienseminars in Neuburg a.d. Donau. Seine offene Mitarbeit an der Zeitschrift hat offensichtlich der Karriere des vielversprechenden Mannes nicht geschadet, die durch seinen plötzlichen Tod nach einer Operation am 24. Juli 1903 jäh beendet wurde. Währenddessen kann man in einigen redaktionellen Mitteilungen und Beiträgen in eigener Sache abmessen, wo sich das Blatt selbst sah. Sie setzen am Ende des ersten Jahrganges ein, als die Redaktion des Gegenwindes gewahr wurde, der ihr unvermutet ins Gesicht blies.
6. Eine Zeitschrift, die es nicht gibt Im ersten Jahr mußte sich das neue Organ nach zwei Seiten verteidigen. Daß es nicht nur Freunde gab, die an der Wiege seines Unternehmens standen, war Bumüller sicherlich bewußt gewesen, doch hatte er offenbar nicht mit der Entschlossenheit der Ultramontanen gerechnet. Denn er betonte die Kirchlichkeit der Neuerscheinung ebenso wie die Übereinstimmung etwa mit der »Kölnischen Volkszeitung«, wenn diese eine innerkatholische Kritik im Unterschied zu den Zeiten des Kulturkampfes nicht mehr für kirchenschädigend erachtete. Daher gelte es gegen Angriffe auf die katholische Kirche aus einer apologetischen Defensive herauszutreten und offensiv in kritische Kreise hineinzuwirken, »Andersdenkende zwingen, sich mit uns näher und gründlicher zu beschäftigen und so den wahren Geist des Katholizismus zu erfassen« (FrDBl 1 [1901] 309f). Auch wenn Bumüller zugibt, daß hierbei »mancher Ausdruck, manche Nachricht besser weggeblieben wäre« (ebd.), so wundert er sich doch, daß die vermeintliche Mitstreiterin dies gleich als »Nörgelei« und »Taktlosigkeit« bezeichnet hatte. Skepsis und Kritik kam in geringerem Maße von links: Der Anspruch, ein bewußt katholisches Literaturblatt zu sein, brachte den »Freien Deutschen Blättern« bei Liberalen jedenfalls einen Platz in der Schublade jener Werke, »quae non leguntur«. So beklagte sich der Herausgeber, daß die liberalen »Münchener Neuesten Nachrichten« seine Zeit42
Loome, Catholicism, 269.
43
Vgl. den Nachruf auf Bill in FrDBl 3 (1903) 367f.
Eine Zeitschrift, die es nicht gibt
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schrift als »erzultramontan« apostrophiert hätten (FrDBl 1 [1901] 264). Auch Valentin Holzer berichtet, die »Ostdeutsche Rundschau« habe die »Freien Deutschen Blätter« als »erzclerical und ganz schwarz päpstlich« verschrieen (FrDBl 1 [1901] 461). Doch diese vereinzelt hörbaren Kritiken fallen weit weniger ins Gewicht als die Reaktion von Seiten der Zentrumspresse. Die oben genannten Bemerkungen sowohl Bumüllers wie auch Holzers dienen nämlich nur der Hinführung zur Klage über die Behandlung durch katholische Organe: »Wenn gewisse Dinge und Vorgänge in der kirchlichen Welt nicht einmal mehr eine ruhige und objective Besprechung ertragen, dann ist es schlimm genug. Noch schlimmer und trauriger ist es, wenn katholische Blätter, die das wagen, sofort als unkatholisch oder als katholisch mit Gänsefüsschen gebrandmarkt werden, wie das den >Fr.D.Bl.< jüngst passirt ist« (ebd.). Ausgangspunkt war die »Politische Umschau« vom 10. August 1901 mit Bemerkungen über eine für das Zentrum verlorengegangene Stichwahl im rheinischen Wahlkreis Mühlheim-Duisburg. Der Kommentar der »Kölnischen Volkszeitung« (Nr. 703/1901), häufiger »Wechsel in der Seelsorge« sei der Hauptgrund für die Niederlage gewesen, wird zu der Frage aufgenommen, ob sich denn die »Besetzung von Seelsorgestellen von den Interessen einer politischen Partei leiten lassen« dürfe (FrDBl 1 [1901] 287). Direkt wurde das Zentrum gefragt, ob es nicht »sich endlich einmal, nachdem die Kulturkampfszeiten verrauscht sind, entschliessen könnte, der ans Masslose grenzenden Verquickung von Religion und Partei zu entsagen und sich zu einer rein politischen Mittelpartei umzugestalten, was sie ja offiziell sein soll, in Wirklichkeit aber nicht ist... Wir wollen nur gegenüber der unnötigen Verquickung von Religion und Politik - wobei die Religion mehr eine dienende als herrschende Stellung einnimmt - gegenüber dem Satz, dass ein überzeugungstreuer Katholik nur ein Zentrumsmann sein kann, die Ansicht vertreten, dass ein überzeugungstreuer Katholik ebensogut der liberalen oder der freisinnigen Partei angehören kann, weil es sich hier in erster Linie um politische und nicht um religiöse Fragen handelt« (Zwjh 1 [1901] 287). Gleichzeitig (offenbar hatte es hierüber Spekulationen gegeben) wird bekräftigt, daß keineswegs die Gründung einer zweiten katholischen Partei beabsichtigt sei und es auch nicht um eine generelle Kritik am politischen Kurs des Zentrums gehe. Ebensowenig wolle man Parteipolitik betreiben und »die gebildeten Katholiken vom Zentrum zum Liberalismus überführen« (FrDBl 1 [1901] 235). Das Stichwort von der »Verquickung von Religion und Politik«, mehr noch aber die Behauptung, ein Katholik könne außer dem Zentrum »ebensogut« liberal oder freisinnig wählen, wurde den »Freien Deutschen Blättern« freilich arg verübelt. Neben der »Kölnischen Volkszeitung« war es vor allem die »Augsburger Postzeitung«, die die gegenteilige These vertrat, daß Zentrum und Katholizismus identisch seien und eben gerade darum ein Katholik nur das
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Die Gründung der »Freien Deutschen Blätter«
Zentrum wählen dürfe, weil dieses im Unterschied zu anderen Parteien Politik und Religion nicht vermische.44 Es beginnt mit diesen Gegenartikeln eine innerkatholische, nicht von kirchlichen Behörden auf dem normalen Weg eingeleitete Ausgrenzung der Zeitschrift und ihrer Vertreter: »noch ein Wort über die Form der Kritik in der >A.P.ein Organ, der [sie] sich katholisch nennt< ... überhaupt geht die ganze Tendenz des Artikels dahin, die Redaktion der >Freien Deutschen Blätter< als unkirchlich gesinnt hinzustellen und zu verketzern. Wir erlauben uns, der >A.P.< nahezulegen, ob es nicht besser wäre..., wenn es... die Obsorge für die kirchliche Korrektheit unserer Haltung den berufenen kirchlichen Behörden überliesse« (FrDBl 1 [1901] 323). Eine für das damalige protestantische oder kirchenferne Deutschland ganz undenkbare Taktik aber war das hiermit verbundene »Totschweigen«. Mit Ausnahme einiger Zentrumsblätter, die offenbar zur Bekämpfung freigestellt worden waren, hat die Zeitschrift bis zu ihrer Einstellung für die katholische Zeitungs- und Zeitschriftenszene (einschließlich des Hochlands) nicht existiert! Von Beginn an verweigerte sie sich total, so daß schon im Sommer 1901 die Leser um Werbung gebeten wurden: »Wir sehen uns zu dieser Bitte dadurch gezwungen, dass ein Teil der katholischen Presse die Ausbreitung unsrer Zeitschrift in wenig liebenswürdiger Weise erschweren will. Nicht nur, dass man sie fast ausnahmslos totschweigt, auch die Beilage von Prospekten und Ankündigungen der Zeitschrift, die Annahme von Annoncen, die Aufnahme von Besprechungen, welche von Seiten unserer Freunde eingesandt wurden, sogar der Abdruck der Inhaltsangabe einzelner Nummern, welche sonst von katholischen und nichtkatholischen Zeitschriften von jenen Blättern aufgenommen wird, ist uns von verschiedenen grösseren Blättern einfach ohne Angabe des Grundes oder unter nichtigen Vorwänden verweigert worden. Wir wollen nicht die ideelle oder materielle Natur dieser Gründe untersuchen, sondern nur die Thatsache konstatiren ...« (FrDBl 1 [1901] 239, Hervorhebung im Text). Es wäre interessant zu wissen, ob hinter der Politik der deutschen katholisch-ultramontanen Presse auch die vatikanische Drohung eines Nachrichtenboykotts zu vermuten ist, wie sie für Italien behauptet wurde. 45 44 Nr. 191/1901, so wiedergegeben nach FrDBl 1 (1901) 321, wo der offenkundige Widerspruch genüßlich kommentiert wird. 45
Vgl. Prezzolini, Wesen, 265(, Anm. 38: »Die großen Tageszeitungen Italiens haben es auch aufgegeben, über die modernistische Bewegung Notizen zu bringen, da der Vatikan ihnen angedroht hat, alsdann keine Nachrichten mehr zu liefern«. Herman Schell berichtet in einem Brief, wie selbst Sympathiebezeugungen zur systematischen Unterdrückung führen konnten. Totschweigen sei, so Schell, ein »ganz probates Mittel« der »Zentrale«. »Dasselbe, schrieb ein Verleger einem geistlichen Schriftsteller, der mir, wie mehrere vor ihm, sein Buch
Eine Zeitschrift, die es nicht gibt
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Um vor den Lesern und den Gegnern die eigene Position zu erläutern, mußte Bumiiller programmatischer werden. Programmartig sind die Einladungen zum Abonnement und »Erklärungen« formuliert, deren Abgrenzung gegen den Liberalismus bzw. einen »liberalen Katholizismus« verblüffen: »... die freie Meinungsäußerung [ist] nicht der Hauptzweck unserer Blätter. Letzeren erblicken wir in dem Bestreben, die christliche Weltanschauung und das moderne Kulturleben als zwei wohl miteinander vereinbare Faktoren zu erweisen und den gebildeten Katholiken in innigere Berührung mit diesem Kulturleben zu bringen« (FrDBl 1 [1901] 370f). »Unsere Behauptung, dass es einem Katholiken nicht verwehrt werden könne, der liberalen oder freisinnigen Partei anzugehören, hat mit dem liberalen Katholizismus< gar nichts zu tun ... Wir wollten dagegen auftreten, dass Katholiken, welche in politischen oder frei discutirbaren kirchenpolitischen Fragen eine andere Ueberzeugung als die politische Partei des Zentrums haben und sich infolge dessen einer anderen politischen Partei anschliessen, schon deshalb der katholischen Presse als ungetreue Söhne ihrer Kirche, als Ketzer, gleichsam als Auswurf der Katholiken gebrandmarkt werden... Den liberalen KatholizismusFreien Deutschen BlätterFreie deutsche Blätter< vom April an unter dem Titel >Das Zwanzigste Jahrhundert, Organ für Politik, Wissenschaft und Kunst< jeden Samstag heraus. Die Sympathie für dieses mein neues Unternehmen ist hier riesengroß, so daß ich auf einen großen Aufschwung des Unternehmens hoffe.«2 Einen Tag später erschien in den »Freien Deutschen Blättern« die Mitteilung von der Redaktionsübernahme Klasens. Dort wird auch die Änderung des Titels angesprochen, der »von verschiedenen Seiten aggressiv aufgefaßt und missdeutet« worden sei. Es lag nahe und war auch intendiert, den neuen Titel mit dem gerade heftigst diskutierten Buch Albert Ehrhards »Der Katholizismus und das Zwanzigste Jahrhundert« in Verbindung zu bringen, »ein Buch, von dem wir nichts Geringeres erwarten, als eine Umwertung der herrschenden Anschauungen unter den deutschen Katholiken. Wir können uns einfach auf dieses Buch berufen, denn aus dem Boden gemeinschaftlicher Auffassung ist dieses und unsere Zeitschrift herausgewachsen« (FrDBl 1 [1901] 513).
2. Franz Klasen (1902) Franz Klasen (7. Januar 1852-23. Oktober 1902, vgl. Abb. 9)3 war keineswegs ein »Sohn Ostfrieslands«, wie in der Beerdigungsansprache Baron von Stengels behauptet wurde (Zwjh 2 [1902] 566), ebensowenig Westfale4, sondern Emsländer. Geboren und aufgewachsen auf dem Gut Halte bei Papenburg, einem ehemaligen Klostergut des Johanniterordens, welches 1860 in den Besitz der Familie Klasen kam, verkörpert er den Typ des nordwestdeutschen Katholiken aus großbürgerlichem und einflußreichem Haus, durch seine Situation (Stichworte Diaspora und Kulturkampf) geradezu für kirchenpolitisches Engagement prädestiniert. Er kann mit Recht als der zweite, mithin eigentliche Gründer des »Zwanzigsten Jahrhunderts« gelten. Klasen, der seit 1873 in München studierte, zum Dr. theol. promovierte und 1877 zum Prie2
Klasen an Muth, 21. März 1902, BStB Ana 390 II Klasen, Nr. 13, Hervorhebungen im Original. 3
Zur Person vgl. Kosch, 2144; Laudiert, Klasen; Nachrufe in: Alte und Neue Welt 37 (1903) 216; Kölnische Volkszeitung Nr. 1050/25. November 1902 und nicht zuletzt: Johannes Bumüller, Franz Klasen, in: Zwjh 2 , 5 6 5 - 5 6 8 , 5 7 7 - 5 7 9 , ferner: Weiß, Modernismus, 23 8 ff. 4
Vgl. Schnitzer, Tagebuch, 204, Anm. 61.
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Der zweite Anfang
ster geweiht worden war, genoß in der bayerischen Hauptstadt größtes Ansehen. Als Stadtpfarrer predigte er unter großem Zulauf in St. Ludwig (1884-1897), als Journalist war er anschließend bis 1902 Chefredakteur des »Bayerischen Kurier«, bis das Blatt von Zentrumskreisen übernommen wurde, um Klasen zur persona non grata zu machen. Einblick in diese Vorgänge bietet neben erwähntem Brief an Muth Klasens erster Beitrag im »Zwanzigsten Jahrhundert«: »Politisches. Die bayerische Zentrumsfraktion« (Zwjh 2 [1902] 161-164). Im Unterschied zu Bumüller bewegten sich Klasens zahlreiche Beiträge mehr auf politisch-kirchenpolitischem Parkett, durch ihn gewann die Zeitschrift tatsächlich jenes Profil, das sie bis zu ihrem Ende kennzeichnete. Klasen war wohl auch die treibende Kraft, als es um den Versuch ging, das »Zwanzigste Jahrhundert« in eine Tageszeitung zu wandeln. Er leitete die sogenannte »Isarlust-Versammlung« am 20. Oktober 1902. In dem dort verabredeten Ausschuß konnte er unter anderem Herman Schell, Hugo Koch, Joseph Schnitzer und weniger bekannte Sympathisanten der Zeitschrift zusammenbringen (Freiherr von Stengel, Freiherr von Notthafft, Otto Rudolphi und Johannes Bumüller, vgl. Zwjh 2 [1902] 508). Schenkt man dem »Zwanzigsten Jahrhundert« Glauben, so hat sich die Abonnentenzahl während der kurzen Redaktionszeit Klasens auf 1500 bis 2000 verdoppelt (Zwjh 2 [1902] 566). Mitten in diese Aufbruchphase, wohl durch sie auch mitverursacht, fällt Klasens plötzlicher T o d während eines Sonntagsausfluges am 23. Oktober 1902. Letztlich nicht zu beantworten ist allerdings doch die Frage, ob das zweifellos fruchtbringende Engagement Klasens bei weiterem Wirken die Geschichte des deutschen Reformkatholizismus wesentlich verändert hätte. Vorsichtig äußerte sich Philipp Funk zehn Jahre später mit Blick auf Klasens Tod, es »wären die Sympathien gebildeter Kreise der Bewegung sicher geblieben, wenn nicht ein merkwürdiger Unstern über der jungen, noch nicht ganz ausgestalteten Organisation gewaltet hätte« (Philipp Funk, Zehn Jahre Arbeit, NJh 3 [1911] 171).
3. Der neue Wind Klasen startete mit einem ungeheuren Elan in sein neues Aufgabengebiet. Bis Mitte Juli stammte jeder Leitartikel von ihm selbst, für jeden war unübersehbar: »Das Zwanzigste Jahrhundert« war das Blatt Klasens geworden. Dabei ist auch an der Themenauswahl zu erkennen, wie systematisch Klasen die Sache anging: Er begann mit drei scharfen Artikeln zur Politik des bayerischen Zentrums, ausgehend von der ihn selbst betreffenden Angelegenheit des »Bayerischen Kuriers«. Noch schonungsloser als der Brief an Karl Muth deckt der erste den Vorgang auf. Klasen versteht es, das heikle Thema und die eigene
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Verwicklung bestimmt anzugehen, ohne darüber zum Marktschreier zu werden. Jeder Kenner der Verhältnisse mußte sofort merken, daß hier ein engagierter Katholik sprach, den die Intrigen des politischen Katholizismus zutiefst verbittert hatten. Diese Intrigen sind jedoch nur der Anlaß für die vorgebrachten Klagen. Denn es geht Klasen keineswegs um einen Kampf gegen das Zentrum als katholischer Partei, sondern um einen Kampf gegen die Machenschaften, die Widersprüche und das inkonsequente Verhalten des bayerischen Zentrums, wodurch der politische Katholizismus diskreditiert werde: »Warum ich nicht schweige?... weil die bayerische Centrumsfraction die Aufgabe der Katholiken in der Gegenwart weder richtig versteht noch löst ... Ich stelle mir etwas anderes unter der Aufgabe der bayerischen Centrumspartei vor, als was ihre Führer leisten: sowohl in religiöser, wie cultureller, wie in wirtschaftlicher, wie in politischer Hinsicht und in Hinsicht der eingehaltenen äusseren Form. Wollte ich mit letzterer beginnen, so müßte ich ja auf die Masskrüge und Stuhlbeine, auf das Johlen und Zischen hinweisen, wodurch vor ganz kurzer Zeit eine Versammlung im Münchner Kindlkeller gesprengt wurde. Herr Abgeordneter und Domcapitular Dr. Zimmern wird durch hundert Dementis die Thatsache nicht aus der Welt schaffen, dass er dem St.Antonius-Verein Unterricht im Sprengen gegeben hat. Wir verspielen deshalb so viel Einfluss, weil man die zeitgemäßen Urbanen Formen bei uns entbehrt, weil wir politisch und gesellschaftlich nicht als gereift angesehen werden und weil uns - als katholischer Partei! - zudem so oft der Mangel an Wahrheit vorgeworfen wird« (Zwjh 2 [1902] 162, Hervorhebungen von mir). Der letzte Satz als Appell an die Gesinnungsgenossen bringt nicht nur Klasens Pathos auf den Höhepunkt, er zeigt auch deutlich den Zug des deutschen Reformkatholizismus, auch im Politischen eine Heimat finden zu wollen: »Wir wollen die Fahne der Wahrheit, Kultur und Freiheit für alle hoch halten, welche die Leitmotive des Centrums lieben, aber an der Hand derselben mit der Zeit vorwärts wollen. Es wird eine gute Reise werden, Freunde, schliesst euch fest an!« (164). Klasen, selbst ein Opfer des Kulturkampfes, hatte erleben müssen, von bayerischen Zentrumskreisen als »Kulturkämpfer in der Soutane« bezeichnet zu werden. Im zweiten Beitrag wird die Zentrumsproblematik unter dem Titel »Politik und Religion« (Zwjh 2 [1902] 173-175) weiter ausgeführt. Wieder steht nicht die Existenz, sondern die Agitation des Zentrums im Mittelpunkt. Klasen spricht als katholischer Politiker, wenn er betont, »dass das Zentrum aus religiösen Motiven entstand und dass es tatsächlich nur durch diese bis heute zusammengehalten wird« (173). Einem sozialen oder wirtschaftlichem Mittelpunkt des Zentrums wird hingegen eine Absage erteilt. Die Verwicklung und Verzettelung des Zentrums in tagespolitische Einzelfragen und politische
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Der zweite Anfang
Taktiermanöver haben mit dem Ursprung nichts mehr gemein (von den Persönlichkeiten ganz abgesehen, wie Klasen hervorhebt). Das Schicksal des Zentrums gibt ihm recht, wenn er folgert: »man kann mit Bestimmtheit voraussagen, dass das Centrum sich in seine Teile auflöst, wenn die Katholiken einmal einsehen dürfen, dass sie als Katholiken im Staate zur vollen Gleichberechtigung mit den Nichtkatholiken gekommen sind« (174). Klasen spricht als katholischer Politiker, wenn er die Identifizierung von Zentrum und Katholizismus, von Gegnern und Anhängern betrieben, beklagt: »Muss denn derjenige Mann, der heute seinen kirchlichen Bedürfnissen nachkommen will, es mit in Kauf nehmen, dass er zugleich die politische Verteidigung seiner Kirche durch die jetzigen Führer sich mitaneignen muss? ... Der politische Fehlgang droht, uns die Katholiken dem kirchlichen Leben abspenstig zu machen« (ebd.). Kurzum, es sollte dem Zentrum um »Kulturfragen« und nicht um Getreidezölle zu tun sein. Auch der Beitrag »Wirtschaftspolitik« vom 19. April (Zwjh 2 [1902] 197-199) nimmt sich das Dilemma des Zentrums vor, trotz gemeinsamer religiöser Grundlage die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen seiner tatsächlichen (und »natürlichen«) Klientel nicht unter einen Hut bringen zu können. Es bleibt festzuhalten, daß der politische Standpunkt dieser Phase des reformkatholischen Aufbruchs, vertreten durch Klasen, nicht mit »Zentrumsfeindlichkeit« zu charakterisieren ist. Vielmehr liegt eine im Ton scharfe, in der Sache freilich moderate innerkatholische Kritik an der politischen Organisation des deutschen Katholizismus vor. Nach der intensiven Behandlung des Zentrumsproblems wendet sich Klasen weiteren grundsätzlichen Fragen zu. Der Leitartikel vom 3. Mai 1902 »Pessimismus?« (Zwjh 2 [1902] 205-207.217-220) ist durchweg versöhnlicher gehalten. Klasen wirbt mit dem Bild des Gerüstbalkens, dessen eines Ende fest mit dem Zentrum verbunden ist. Gemeint ist der Zusammenschluß aller Katholiken mit dem Papst im Unfehlbarkeitsdogma als »Endglied einer jahrhundertelangen Entwicklung, in welcher die Katholiken im Kampfe mit einer rationalistischen und materialistischen Weltanschauung den Glauben ihrer Kirche verteidigt haben. Das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes hat dieses Glied geschlossen und jetzt sind wir eine dogmatisch und disziplinär fest geschlossene Kette« (206). Doch die Verbindung des Balkens mit dem äußeren Ende steht noch aus: »das andere Ende ist die Kultur der Zeit, dahin wir mit unserem natürlichen Teile ebenso gravitieren, wie mit dem übernatürlichen zur Religion. Wir verlangen also: der katholische Liberalismus verlangt jede mögliche Freiheit und Selbstbestimmung, um sich mit dem >Geist der Zeiten< zu verständigen« (ebd.). Ob Klasen hiermit seine Gegner erreichte, kann wohl bezweifelt werden. Sie dürften gemerkt haben, daß er den Pius des Unfehlbarkeitsdogmas gegen den Pius des Syllabus auszuspielen versuchte, ganz abgesehen davon, daß der Begriff »Entwicklung« im Zusammenhang mit einem
Der neue Wind
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Dogma von den Konservativen ja aufs Schärfste abgelehnt wurde. Im Unterschied zum früheren Bekenntnis der »Freien Deutschen Blätter« verschmäht Klasen für »Das Zwanzigste Jahrhundert« nicht die Bezeichnung »liberaler Katholizismus«. Klasens letzter Artikel seines »Vorstellungs-Zyklus« versucht unter der Frage »Friede?« eine Zwischenbilanz (Zwjh 2 [1902] 253-255), die erneut seine moderate Sicht zeigt. Wieder ist es ihm um das Zentrum zu tun, dessen »riesengroße Verdienste um den Katholizismus in Deutschland« er hier wie dort vorbehaltlos anerkennt, dessen kirchenpolitische Verengung er jedoch anprangert: »Würde man ... den Blick vorwärts richten, dem bayerischen, katholischen Volk ein Führer in die Zukunft sein, eine abweichende, ehrlich gemeinte Anschauung nicht ersticken, die zwei Richtungen, die gemäßigtfortschrittliche neben der ultrakonservativen mindestens als berechtigt anerkennen, dann Hesse sich ja vorerst, wie es unter Brüdern sein soll, auskommen« (255). Auch die übrigen Leitartikel des gewandten Redakteurs behandeln schwerpunktmäßig Fragen der Politik, nicht aber nur Zentrumsfragen. 5 Trotz der im historischen Rückblick größeren Bedeutung Philipp Funks sind der Einstieg und das Engagement Klasens für das »Zwanzigste Jahrhundert« unerreicht. In den 34 Nummern, die er redigierte, erschienen von ihm selbst in 23 Nummern 20 Artikel (2 Fortsetzungsartikel), bis auf einen sämtlich Leitartikel, die vor allem die erste Zeit dominierten: Erst Mitte Juli (3 Vi Monate nach Redaktionsübernahme) erschien ein Leitartikel aus anderer Feder. Klasens Redaktionspolitik änderte sich offensichtlich im Sommer 1902. Wenn er sich jetzt auf einen Artikel monatlich beschränkte, so muß man die Lage des »Zwanzigsten Jahrhunderts« als soweit gefestigt sehen, daß nunmehr auch weniger »Prominente« auf der ersten Seite erscheinen konnten. Es gab freilich noch einen weiteren, wichtigeren Grund für Klasens Zurücktreten: Entgegen seinen Ankündigungen im Frühjahr versuchte er nun, das »Zwanzigste Jahrhundert« in ein Tagesblatt umzuwandeln, wofür er seine ganzen Kräfte einzusetzen hatte.
5
Tohuvabohu, Zwjh 2 (1902) 3 0 2 - 3 0 4 . 3 1 3 - 3 1 6 (allgemeine Anmerkungen zur Lage von Katholizismus und Zentrum); Der Würzburger Senat, aaO., 328f (Streit um Berufungsrecht zwischen der Universität und der Landesregierung); Das weggeschwommene Fell, aaO., 3 3 7 - 3 3 9 (Sturz von Kultusminister Robert von Landmann); An's Ende der Welt und nach Kühberg. Eine Schlussbetrachtung zum bayerischen Landtage, aaO., 385-387; Zum Katholikentage in Mannheim, aaO., 4 2 1 - 4 2 4 ; Der sozialdemokratische Parteitag, aaO., 458-460; Rezension: Otto Sickenberger, Kritische Gedanken über die innerkirchliche Lage, aaO., 481-484.
Kapitel 3: Eine reformkatholische Tageszeitung?
1. Die Vorbereitung Der Boden für ein täglich erscheinendes Blatt, das die Anliegen des Reformkatholizismus vertrat, war im Jahre 1902 bereitet wie zu kaum einer anderen Zeit. Zum einen waren die Kräfte des fortschrittlichen Katholizismus noch ungebunden. Das »Hochland« existierte noch nicht, ebensowenig wie seine Konkurrenz, der »Gral«, an dem ja schließlich auch Schriftsteller mitwirkten, die sich am Aufbruch der »Freien Deutschen Blätter« beteiligt hatten. Die großen Theologen der reformkatholischen Richtung waren bis auf den gerade verstorbenen Kraus auf der Höhe ihres Schaffens, ihr Kreis war groß und sie waren bisher von kirchlichen Reaktionen relativ unbehelligt geblieben. Die heftigen Diskussionen um Albert Ehrhard und die sich abzeichnende Distanzierung Bischof Kepplers deuteten freilich an, daß eine gewisse Eile geboten war. Auf ultramontaner Seite hatte man sich bereits 1901 zum »Bayerischen Pressverein« organisiert. Nach Übernahme des »Bayerischen Kuriers« war aber durchaus die Frage nach einem katholisch-liberalen Blatt da. Auch Geld schien, wie Klasens Brief an Muth zu entnehmen war, keine Rolle zu spielen. Am 6. September wechselten Bumiiller und Klasen den Verlag. Statt wie bisher bei Georg Lindner in München wurde das »Zwanzigste Jahrhundert« nun bei Theodor Lampart in Augsburg herausgegeben (s. u. Kapitel 4.4.). Hierin ist ebenso ein erster Schritt in Richtung Tageszeitung zu sehen wie in dem Umstand, daß Bumüller ab Juni 1902 einen Studienurlaub antrat. 1 Außerdem bezogen die beiden Redakteure in München eine gemeinsame Wohnung (vgl. ZwJh 2 [1902] 421). Ohne daß das Projekt einer Tageszeitung ausdrücklich erwähnt wurde, erschien am 20. September ein programmatischer Artikel pro domo von Bumüller und Klasen, der die innerkatholischen Bemühungen der Zeitschrift hervorhob, für die Hebung der Bildung des deutschen Katholizismus und für eine kritische Selbstbetrachtung desselben einzutreten. »Die besten Talente der katholischen Gelehrtenwelt stehen bei unseren Bestrebungen Pathe und haben unsere Zeitschrift zu ihrem Organe gewählt, um durch dasselbe ihre Gedanken zu verbreiten.... Die Pflicht, uns als Katholiken auf die geeignetste Weise in die Bildungsbestrebungen der Gegenwart einzugliedern, ist eine so ernste, dass wir die Vernachlässigung derselben als eine hohe Schuld bezeichnen müssen.... Wir erlauben uns deshalb die Bitte, unser
1
Schematismus des Bistums Augsburg 1902.
Die Isarlust-Versammlung
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sehr bedeutungsvolles Unternehmen gütigst unterstützen zu wollen« (Unser Prospekt, Z w j h 2 [1902] 446f). Im nachhinein muß dieser Beitrag als Terrainvorbereitung für die Versammlung angesehen werden, die eine Woche später angekündigt wird. Am 4. Oktober schließlich wird eingeladen: »Die von uns angekündigte Versammlung von Freunden des Zwanzigsten Jahrhunderts< findet nunmehr definitiv am Montag den 20. Oktober nachmittags 6 Uhr in München statt. Auf derselben soll unsere wissenschaftliche Stellung, sowie jene zur religiösen Bewegung innerhalb des Katholizismus genau festgelegt werden. Die geistigen Führer unserer Richtung haben ihr Erscheinen bereits zugesagt. Einen Bestandteil der Tagesordnung wird auch die vielfach gewünschte Ausbildung unserer Wochenschrift in eine Tageszeitung mit wissenschaftlicher Beilage bilden ...« (Zwjh 2 [1902] 469, Wiederholung aaO., 491). Am Sonnabend vor der Versammlung (18. Oktober) wurde ein Saal im Restaurant »Isarlust« als Tagungsort bekanntgegeben, da die Zahl der Anmeldungen zu der geschlossen geplanten Veranstaltung dreimal so hoch wie erwartet gewesen war. 2
2. Die Isarlust-Versammlung Die Münchener Zusammenkunft am 20. Oktober 1902 ist als die »IsarlustVersammlung« in die Geschichte des deutschen Modernismus eingegangen. 3 Diese Bezeichnung ist sicher griffiger als der »offizielle« Titel »Versammlung von Freunden des Zwanzigsten JahrhundertsZwanzigsten JahrhundertsIsarlustFreien deutschen Blätter< einen Artikel über >Nationalkirchentum und nationale Bestrebungen auf kirchl. Gebiet< zu schreiben? Man hegt in dieser Beziehung Verdacht und es wäre daher sowohl im Interesse der von Ihnen vertretenen Richtung als in Ihrem persönlichen Interesse gelegen, über diesen Punkt sich etwas deutlicher auszusprechen.« 16 Auch um Beiträge, etwa über das Vatikanum, für eine »populärwissenschaftliche apologetische Bibliothek« geht er ihn an. Noch weiter gehen zwei weitere Briefe aus dieser Zeit. Daß Ehrhard nicht etwa aus zeitlichen, sondern sicher inhaltlichen Gründen Bedenken getragen hatte, geht aus dem Satz Bumüllers hervor: »Vielleicht können Sie sich entschließen, unter dem neuen Titel und der neuen Leitung der Zeitschrift 13 Zu Ehrhard vgl. Trippen, Lehramt, 110-184; Dachs, Ehrhard; Schiel, Ehrhard; Weiß, Modernismus, 1 7 1 - 1 8 0 ; dort jeweils weiterführende Literatur. 14
Abgedruckt schließlich am 22. Februar, FrDBl 2 (1902) 98f.
15
Bumüller an Ehrhard, 10. Februar 1902, Nachlaß Ehrhard, Bumüller Bl. 4.
16
Bumüller an Ehrhard, 5. März 1902, Nachlaß Ehrhard, Bumüller Bl. 8f. Der Brief kann einen etwas erpresserischen Unterton nicht verleugnen. Bumüller hatte einleitend seinen Kenntnisstand bezüglich einer möglichen Indizierung Ehrhards mitgeteilt.
Eine reformkatholische Tageszeitung?
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einen litterarischen Beitrag zukommen zu lassen.«17 Es war der Redaktion mit Sicherheit an niemand so sehr gelegen wie an Ehrhard (sieht man von Schell ab, aber der war ja bereits gewonnen), und Bumüller versuchte es nicht nur mit der Betonung der Dringlichkeit, sondern auch mit Hervorhebung der allgemeinen Erwartung des inzwischen auch prominente Kreise umfassenden Leserkreises: »Wir sind auch in sehr einflußreiche hohe und höchste Kreise hineingekommen (in München haben wir neben dem Prinzregenten Abonnenten unter den Ministern, Reichsräten etc. und werden von diesen Kreisen aus direkt unterstützt). Allein alle erwarten vor allem Ihren Namen in der Zeitschrift.«18 Alle Bemühungen Bumüllers waren freilich ebenso erfolglos wie die folgenden, die von Franz Klasen und Otto Rudolphi ausgingen. Auch Klasen betont die Schlüsselrolle Ehrhards bei dem geplanten Aufbruch, er dringt jedoch noch stärker auf ihn ein. In gewohnter Weitsicht sieht er in der gegenwärtigen Situation den »Wendepunkt in der kathol. Bewegung ..., von wo sie in weite Gegenden sich auswachsen kann, begrüßt von dem gewiß nicht schlechtesten Theile der Katholiken und Nichtkatholiken«.19 Klasen lüftet nicht nur das Geheimnis der Umbenennung der »Freien Deutschen Blätter« in »Das Zwanzigste Jahrhundert«20, sondern hebt ebenso die motivierende Wirkung eines Beitrags aus der Feder des Wiener Kirchenhistorikers hervor. Der selbst erst Gewonnene bindet seine eigene Motivation an die Mitarbeit Ehrhards und anderer Prominenter.21 Auch Klasen suchte dem vorsichtigen Ehrhard entgegenzukommen, versprach, das Niveau der Zeitschrift werde zufriedenstellend sein, und bemühte sich um eine Unterredung in Wien, die wohl auch zustandekam, jedoch ebenfalls kein anderes Ergebnis brachte, als daß Ehrhard von seiner zurückhaltenden Position nicht abrückte und Klasen so enttäuscht war, daß er Ehrhard nicht mehr zu der Isarlust-Versammlung einlud, was möglicherweise nun auf der anderen Seite Verstimmungen hervorrief.22 Klasen begründet seinen Rückzug mit Ehrhards beharrlichem und, Bumüller an Ehrhard, 24. März 1902, Nachlaß Ehrhard, Bumüller Bl. l l f . Im letzten Brief, vom 21. März 1 9 0 2 , versichert Bumüller, »in der Form zu scharfe Artikel« würden in Zukunft nicht mehr aufgenommen werden, »so dürfte von dieser Seite kein Hindernis mehr bestehen«. ,7
18
Bumüller an Ehrhard, 21. April 1902, Nachlaß Ehrhard, Bumüller Bl. 14f. Hervorhe-
bungen im Original. " Klasen an Ehrhard, 27. April 1 9 0 2 , Nachlaß Ehrhard, Klasen Bl. 20. 20
»Im Anschluß an Ihre Schrift haben wir die >Freien deutschen Blätter< umgetauft.... bei
dem >20. Jahrhundert müssen Sie zur Taufe stehen, es gehört in Ihre Vormundschaft«, ebd. 21
»Wir dürfen nicht auf dritte Kräfte angewiesen sein, dann würde ich auch wieder zu-
rückziehen«, ebd. 22
Direkt geht das nur aus einem Brief Rudolphis vom 21. November 1 9 0 2 hervor (Nachlaß
Ehrhard, Rudolphi Bl. 38), der dies »eine Taktlosigkeit von Klasen« nennt.
Die Bemühungen um Albert Ehrhard
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will man Klasens Worten Glauben schenken, brüskierendem (und unsicherem?) Verhalten: Ehrhard hatte ihn schlichtweg ignoriert und auch zugesagte Treffen in München platzen lassen:23 »Ich konnte also nichts anderes mehr vorraussetzen, als daß Sie sich trotz allem definitiv von uns zurückgezogen hätten.«24 Auch der moderatere Rudolphi konnte nichts erreichen. Er irrte, wenn er Ehrhards Verweigerung allein auf das Fehlverhalten und die zu politische Richtung Klasens zurückführte. Rudolphi scheute sich nicht, Anfang Dezember Klasens Tod und die dadurch entstandene neue Situation zu einem weiteren Annäherungsversuch zu nutzen.25 Aus diesem letzten Versuch geht auch auf eindrückliche Weise hervor, welche Konsequenzen die Mitarbeit Ehrhards an der von Schell eröffneten Vortragsreihe nach sich gezogen hätte: »Ich möchte Ihnen nun zu Schluß -streng vertraulich, vorläufig Geheimnis - mitteilen, daß Hertling einen Vortrag zugesagt, wenn noch ein anderer Gelehrter neutraler Richtung einen solchen hält. Man ist bereits in Verhandlung mit einem Herrn. Könnten Sie sich nicht entschließen, unser kirchenpolitisches Programm in München zu entwickeln.«26 Aus all dem ist nichts geworden, doch der Vorgang zeigt, wie nah die Kreise um das »Zwanzigste Jahrhundert« daran waren, eine Sammelbewegung erheblich größeren Ausmaßes zu werden. Er zeigt weiter die weit verzweigten Kontakte und Beziehungen fortschrittlicherer Kreise des deutschen Katholizismus. Schließlich sei erwähnt, daß auch Joseph Müller für seine »Renaissance« auf Ehrhards Mitarbeit spekulierte, und Konstantin Wieland, der ein eigenes Organ aufmachen wollte, ebenfalls Ehrhard anging, freilich beide ohne Erfolg.27 Von letztgenannten Bemühungen sind freilich die des »Zwanzigsten Jahrhunderts« grundverschieden. Nicht nur waren diese Kreise des fortschrittlichen Katholizismus bereits ein illustrer Kreis: Die Briefe und Anfragen Bumüllers, Klasens und Rudolphis zeigen ihrem Duktus, ihrem Inhalt und auch 23 »Ich hatte mir die Mühe gemacht, Sie in Wien persönlich aufzusuchen, hatte Ihnen das Anerbieten gemacht, Ihrer Neigung zur Irenik zu entsprechen... Sie verehrter Herr Professor, hüllten sich trotz meiner brieflichen Bitte um Mitarbeit in volles Schweigen, kündigten mir Ihre Durchreise durch München, wie verabredet, nicht an, sprachen, obwohl Sie wiederholt in München waren ... nicht bei mir vor«, Klasen an Ehrhard, 30. Oktober 1902, Nachlaß Ehrhard, Klasen Bl. 30. 24
Ebd.
25
»Dr. Klasen ist nun tot u. ich möchte als Mitglied des Comités der Freunde des >XX. Jhrh.< nochmals den Versuch machen Sie zu bewegen, offen auf unsere Seite zu treten«, Rudolphi an Ehrhard, 9. Dezember 1902, Nachlaß Ehrhard, Rudolphi Bl. 41. 2é 27
Ebd.
Auf den Versuch Müllers weist eine Bemerkung Klasens hin: »vor Dr. Jos. Müller hatte ich Sie gewarnt«, Klasen an Ehrhard, 30. Oktober 1902, Nachlaß Ehrhard, Klasen Bl. 33. Konstantin Wieland richtete sich mit der konkreten Bitte um Rat und Unterstützung am 28. Februar 1904 an Ehrhard, Nachlaß Ehrhard, Wieland.
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Eine reformkatholische Tageszeitung?
ihren Reaktionen nach, daß man 1) eine Mitarbeit Ehrhards fest erwartete und 2) man den Bedenken Ehrhards Rechnung tragen wollte, indem man ihm, so hat es jedenfalls den Anschein, bedingungslos entgegenkommen wollte. Selbst dem ungeliebten, aber kirchlicherseits geduldeten »Hochland« verweigerte er sich.28 Ehrhard war noch vor Schell der von seinen Anhängern auserkorene Reformator, der vor dieser Rolle jedoch zurückschreckte. Aber er war eben doch eher ein Erasmus als ein Luther.
4. Der Abbruch des Aufbruchs Es gibt im wesentlichen drei äußere Gründe dafür, daß die Aufbruchsstimmung des Oktober 1902 wenige Wochen später dahin war: die oben geschilderte Verweigerung Ehrhards, der Tod Klasens und die berüchtigte Rede Bischof Kepplers von Rottenburg mit der bekannten Apostrophierung der fortschrittlichen Katholiken als »Reformsimpel« und »Margarinekatholiken«. Und doch gab es auch innere Gründe: Kaum war die Isarlust-Versammlung vorbei, regte sich Widerstand gegen die Richtung Klasens. Die politische Seite der Veranstaltung war für ihn doch die Hauptsache gewesen. Es ging Klasen um ein fortschrittlich-katholisches Gesamtkunstwerk, wie es das für den ultramontanen Katholizismus in Form von Zentrum, Zentrumspresse und Vereinswesen gab. Die Idee einer Tageszeitung war nur ein Teil davon. Es muß bei den erbitterten Diskussionen um die Gründung einer neuen Partei gegangen sein, die ein Spektrum zwischen Zentrum und Liberalen abdecken sollte, eine »Sammlung der rechten Linken und der linken Rechten« (Zwjh 2 [1902] 524). Eine Idee, die in Bumüllers Erklärungen ein Jahr zuvor noch entschieden zurückgewiesen wurde. Mit dieser Vermutung deckt sich die Aussage des preußischen Gesandten in München, Graf v. Pourtalès, der Anfang 1903 nach Berlin berichtete: »Wenn die Umformung des Comités vollendet sein wird, besteht die Absicht, die politisierende Richtung des >XX. Jahrhunderts< mehr als bisher zu unterdrücken, sich auf rein geistliche Fragen zu beschränken und nur noch von Zeit zu Zeit den politischen Ton, dann aber in bester nationaler Klangfarbe, anzuschlagen. Die Zeit für die Gründung einer neuen nationalkatholischen Partei im Gegensatz zum Centrum, worauf wohl die Bestrebungen des Dr. Klasen in letzter Linie hinausliefen, ist nach Ansicht meines Gewährsmannes noch nicht gekommen.«29 Die »Umbildung« des Ausschusses
28
Vgl. Trippen, Theologie, 111.
29
BAA Päpstl. Stuhl 22, No. 2.
Der Abbruch des Aufbruchs
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und die »Entpolitisierung« begannen bereits vor Klasens Tod, ohne daß er etwas davon wußte! Wie sehr die Beiträge der Zeitschrift die Auseinandersetzungen herunterspielten, zeigt ein Brief Otto Rudolphis an Ehrhard eine Woche vor Klasens Tod, in dem der Allgäuer Pfarrer kein Blatt vor den Mund nimmt: »Klasen ist uns allen zuwider, er richtet mit seinen politischen Zänkereien, welche weitere Kreise gar nicht interessieren, unsere Sache zu Grunde. Er muß weg - sonst sind wir verloren. Die Parteipolitik müssen wir ganz aus dem Spiele lassen u. uns auf breiterer Basis organisieren, so daß auch Hertling, Grauert u.a. bei uns Platz haben.«30 Rudolphi versuchte, durch Zustandebringen »einer streng vertraulichen Konferenz« dieses Ziel zu erreichen, er trat an Ehrhard heran, nachdem er außer Bumüller, Schnitzer, Koch und Schell auch Knöpfler, Grauert, Hertling, Thalhofer und Papp hierfür gewonnen zu haben schien. Auf der anderen Seite muß man folglich neben Klasen selbst auch Freiherrn von Notthafft und Baron von Stengel vermuten. Zu dieser adelig-politischen Fraktion dürfte noch Ritter von Türk zu zählen sein, der Beichtvater des Prinzregenten - Möckl nennt ihn einen Hauptgönner Klasens31 - , sowie Freiherr von Malsen, der ebenfalls seine Hand über das Blatt hielt. Malsen und Stengel waren Zentrumspolitiker, und hier darf man die Befürworter einer politischen Neuorientierung katholischer Politik vermuten. Diese und weitere Vertreter des bayerischen Adels dürften mit jenen identisch sein, die Klasen nach seinem Hinauswurf aus dem »Bayerischen Kurier« Mittel für ein neues Tagesblatt bereitstellen wollten. Bei aller Vertraulichkeit wird Klasen gewußt haben, daß seine Ziele nicht ungeteilten Beifall finden konnten. Angesichts der Belastung durch die Organisation der Zeitschrift, dem Verfassen eigener programmatischer Artikel, dem verzweifelten Ringen um die Mitarbeit weiterer reformfreudiger Katholiken, schließlich dem Kampf gegen das allzu politische Zentrum und die allzu unpolitischen und vorsichtigen Theologen ist es im Rückblick kaum mehr verwunderlich, daß das Herz des 52jährigen zu schlagen aufhörte. Durch seinen Tod war der Richtungsstreit unter den »Freunden des Zwanzigsten Jahrhunderts« fürs erste beendet, das dritte Jahr der Zeitschrift begann mit einer gewissen »Normalität«. Wenn der Aufbruch des Jahres 1902 mit dem Höhepunkt der IsarlustVersammlung jedoch etwas gezeigt hat, dann die wenigstens zu dieser Zeit große Verquickung von reformkatholischen Strömungen und politischen Anliegen. Die Forderung nach »religiösem Katholizismus« führte hier gerade nicht in eine unpolitische Sackgasse. Die von Klasen angestrebte Konzentration 30
Rudolphi an Ehrhard, 21. November 1902, Nachlaß Ehrhard, Rudolphi Bl. 39.
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Vgl. Möckl, Prinzregentenzeit, 119.
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Eine reformkatholische Tageszeitung?
der Kräfte als Reaktion auf eine zunehmende Verkrustung gerade des bayerischen Zentrums hätte erhebliche Folgen haben können, gerade weil einflußreiche Kreise hinter ihr gestanden zu haben scheinen: eine katholische Partei zwischen Liberalen und Zentrum mit Sympathie selbst des Prinzregenten (und damals vielleicht sogar von Teilen des bayerischen Episkopats). Die Nennung des Namens von Hertling läßt die Vorgänge um die Isarlust-Versammlung wenigstens als Wetterleuchten für den wenige Jahre später ausbrechenden Zentrumsstreit zwischen »Kölner« und »Berliner« Richtung erscheinen.
Kapitel 4: Das Organ des deutschen Reformkatholizismus 1. Die Rede Bischof Kepplers Nicht genug, daß die Reformkatholiken ihre bis dahin wirkungsvollste Persönlichkeit abrupt verloren hatten, unerwartet traf sie nun auch noch die Rede Bischof Kepplers vom 1. Dezember 1902 an die Dekane des Bistums Rottenburg über »Wahre und falsche Reform«.1 Der Zeitpunkt der Rede, die vor allem durch ihre Schärfe Betroffenheit auslöste, war in der Tat geschickt gewählt und hängt, wie bereits Joseph Schnitzer feststellte2, mit Klasens Tod und der inneren Unruhe in der reformkatholischen Bewegung zusammen. Keppler hatte intensiv die Vorgänge beobachtet und schien nur auf einen geeigneten Moment gewartet zu haben.3 In ihrem Gefolge kam es zu dem oben erwähnten Austritt Schells, Schnitzers und anderer aus dem »Comité« und dem Rückzug vieler Mitarbeiter am »Zwanzigsten Jahrhundert« in die Pseudonymität oder Anonymität. Diese Austritte und ihre Signalwirkung hatten ein lebhaftes Echo hervorgerufen, grundlegende Differenzen innerhalb des reformkatholischen Lagers wurden ausgemacht.4 Schell selbst schien die Wogen etwas glätten zu wollen, er ordnete inhaltliche Differenzen strukturellen Fragen unter, indem er als Austrittsgrund angab, die beabsichtigte Unterordnung der Redaktion unter
1 Vgl. Trippen, Theologie, 118; Schnitzer, Modernismus ZfP, 38; Kübel, Modernismus, 71 u.a. 2 Nach dem Bericht über Klasens Tod fährt er fort: »Nun hielt Bischof Keppler von Rottenburg den Augenblick für gekommen ...«, Schnitzer, Modernismus ZfP, 38. 3 Vgl. hierzu Loome, Catholicism, 33 8f, der auf die große Sammlung von Zeitungsausschnitten der Jahre 1902-1903 im Besitze Kepplers sowie seine ausführliche Korrespondenz in diesen Jahren hinweist. 4
»Die Reformideen, die Schell, Ehrhard u.a. vorschwebten, sind grundverschieden von dem, was Männer wie Dr. Bumiller und der verstorbene Dr. Franz Klasen darauf aufbauen wollten. Es muß sonderbar berühren, daß die mehr politisch veranlagten Führer der Reformer ... die Tragweite und den Erfolg ihrer Aktion unrichtig werteten. Männer wie Prof. Schell und Schnitzer, denen wesentlich geistige Ziele vorschwebten, mußten denn auch bald zu der Ueberzeugung gelangen, daß die Gruppe des Zwanzigsten Jahrhunderts nicht eine innerkirchliche Reform oder präciser ein Heranführen an die und die Durchdringung der katholischen Wissenschaft mit den Resultaten moderner Forschung herbeiführen werde«, Eine verständige Beurteilung des Reformkatholizismus [Wiedergabe einer Zuschrift an den »Frankfurter Generalanzeiger«], Kölnische Volkszeitung 5. Februar 1903.
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Das Organ des deutschen Reformkatholizismus
das Komitee (dem er ja selber angehörte) sei für ihn nicht tragbar gewesen. 5 Die Austritte waren jedoch nur die Folge eines viel größeren Einschnittes, den die Rede bedeutete. Konnte man vorher noch aus dem Bewußtsein agieren, daß man vom Episkopat zwar sicherlich nicht geliebt, aber doch wenigstens geduldet wurde, daß man auf legitime Weise innerkirchliche Kritik betrieb und sich lediglich mit für falsch erkannten Richtungen und Meinungen auseinandersetzte, so hatte Keppler nun Fronten geschaffen. Die scharfe Distanzierung eines deutschen Bischofs von den Reformbestrebungen der sich in München konzentrierenden Bewegung dürfte bei vielen Schwankenden die Reserven verstärkt und die von Rudolphi als »neutral« bezeichneten Kreise zur endgültigen Distanz bewegt haben. Die Notiz im »Zwanzigsten Jahrhundert« über den Austritt von Schnitzer, Schell, Rudolphi und Koch versichert freilich, »dass von einer Krisis innerhalb der sog. fortschrittlichen Bewegung im Katholizismus keine Rede sein kann, wenn auch der systematischen Minierarbeit der Gegner eine gewisse Gefährlichkeit nicht abgesprochen werden soll« (Zwjh 3 [1903] 34). Gleichzeitig wird der Rückzug geistlicher Autoren in die Pseudonymität bekanntgegeben, »um nicht fortwährend Chikanen ausgesetzt zu sein« (ebd.). Was dies konkret bedeutete, wird auch aus einer weiteren Stellungnahme in der folgenden Nummer nicht ersichtlich, die von »grössten Unannehmlichkeiten und Verletzungen« spricht (Zwjh 3 [1903] 46). Für die Salzburger »Katholische Kirchenzeitung« etwa waren diese Äußerungen nur noch die »Zuckungen« eines »Leichnams«: »Man könnte dem >Reformkatholizismus< getrost die drei Buchstaben widmen: R.I.P.« Vorangegangen war eine Auflistung liberaler Stimmen zum Rückzug der Theologieprofessoren, in denen diesen unverblümt Feigheit und fehlendes Rückgrat vorgeworfen wurde. 6 Die Redaktionsarbeit wurde zu dieser Zeit zusätzlich durch eine Erkrankung Johannes Bumüllers erschwert. Ihn vertrat während dieser Zeit sein Bruder, der Rechtsanwalt Franz Bumiller (sie) aus Wangen im Allgäu. Auf der anderen Seite gab Keppler freilich den Anstoß zu weiterer programmatischer Besinnung. Der Winter 1902/03 brachte eine Konzentration programmatischer Beiträge, ausgehend von Stellungnahmen zur Rede des Rottenburger Bischofs, die zur Überwindung der Krise und zu einer Konsolidierung der Zeitschrift für die nächsten Jahre führte.
5
Kölnische Volkszeitung 21. Januar 1903.
6
Vgl. Katholische Kirchenzeitung Nr. 6/20. Januar 1903.
»Was wir wollen«
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2. »Was wir wollen« Respektlos und selbstbewußt nahm das »Zwanzigste Jahrhundert« den von Keppler hingeworfenen Fehdehandschuh auf. Unter dem Pseudonym »Catholicus« erschien am 13. Dezember 1902 ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Artikel »>ReformKatholikDas XX. Jahrhundert< an. Ich griff zu. So hatte ich doch für den ersten Augenblick ein Unterkommen. Die Redaktion übernahm ich sogleich, auch während das Verfahren noch lief; denn ich war mir klar, daß ich nicht mehr zurückkehren werde.«41 Neben der Weigerung des Widerrufs war die Übernahme der Redaktion ein Grund für die am 7. Januar 1908 verhängte Exkommunikation, daß er »gegen das
39
Vgl. Trippen, Theologie, 2 6 8 ^ 0 3 .
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Vgl. die ausführliche Biographie von Karl Hausberger (Hausberger, Engert), die auch wichtige Dokumente enthält. An älteren kurzen Darstellungen seien genannt: Maron, Engert; Aubert, Engert. Ausführlich, aber schwer zugänglich ist eine maschinenschriftlich veröffentlichte Autobiographie Engerts: Vom konservativen Priester zum liberalen Protestanten. Der Lebensweg eines deutschen Modernisten, o.O. o.J. 41
Engert, Priester, 11. In einem Nachtrag führt er sogar konkret aus: »Durch Freund Schnitzer ... erhielt ich die Leitung der Reformzeitschrift >Das XX. Jahhundert««, aaO., 34.
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Zickzack-Kurs: Von Möndel zu Engert
ausdrückliche Verbot seines Bischofes die Redaktion des Zwanzigsten Jahrhunderts