139 59 14MB
German Pages 935 [937] Year 2015
LEXIKON ZUR
ÜBERSEE GESCHICHTE Geschichte Franz Steiner Verlag
Herausgegeben von H E R M A N N H I E RY
im Auftrag der Gesellschaft für Überseegeschichte
Lexikon zur Überseegeschichte
LEXIKON ZUR ÜBERSEEGESCHICHTE Herausgegeben von Hermann Hiery im Auftrag der Gesellschaft für Überseegeschichte
Franz Steiner Verlag
Umschlagbild: Arthur Fitger, Europa (Allegorie, Detail). Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven. Aufnahme: Dr. Albrecht Sauer. Weitere Abbildungen: Das mittelalterliche Verständnis der Erdteile bei Lambert, Liber Floridus (ca. 1100); Weltkarte in der Chronik von Hartmann Schedel (1493); Americae retectio (1594); Sinozentrische Weltkarte (um 1700; Original im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10000-7 (Print) ISBN 978-3-515-10875-1 (E-Book)
VORWORT Das vorliegende Lexikon zur Überseegeschichte (LZÜ) ist ein Projekt der Gesellschaft für Überseegeschichte. Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß dieses Lexikon so heißt, wie es heißt. Denn über den Titel ließe sich trefflich streiten. Die Herausgeber haben aber nach vielen Überlegungen und intensiven Debatten entschieden, diesen Titel zu wählen, wohl wissend, daß der Titel nur unzulänglich ausdrückt, was wir damit beabsichtigen: mit Hilfe von lexikalischen Stichwörtern eine profunde Erstübersicht zu geben zu möglichst vielen Bereichen und Aspekten der europäischen Kontaktgeschichte außerhalb von Europa. Europäische wie indigene, nicht-europäische Aktionen und Reaktionen und die Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen und Beeinflussung stehen im Mittelpunkt dieses Lexikons. Das, was heute gemeinhin mit dem Begriff europäische Expansion bezeichnet wird, drückt dabei nur teilweise aus, was angestrebt wurde: stichwortartig einen ersten Überblick zu geben über den langen Prozeß des Versuchs europäischer Kontakt- und Einflußnahme auf Kulturen, Ethnien und Landschaften außerhalb Europas, auf die Interaktion zwischen Afrikanern, Asiaten, Amerikanern und Pazifikinsulanern mit Europäern in den verschiedensten Bereichen: Verhalten und Gestalten, Wirtschaft und Handel, Politik, Kultur und Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft, Sport. Ganz bewußt, ja notwendigerweise, ist das Lexikon zur Überseegeschichte deshalb interdisziplinär und fachübergreifend angelegt. Es enthält Beiträge zur Politischen Geschichte, zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wissenschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Militärgeschichte, zu Ethnologie, Geographie, Linguistik, Religionswissenschaft, Soziologie, Sport und Medizin. Letzendlich geht es um Eigenes und Fremdes, um Ereignisse, Entwicklungen und die Menschen, die dahinter standen. Dabei wurde bewußt dem weniger Bekannten, vielleicht gar Unbekannten, mehr Platz eingeräumt als dem Bekannten, das in jedem anderen Lexikon seinen Platz hat. Bekannte Ereignisse, der Erste Weltkrieg oder der Fußball seien beispielhaft genannt, wurden nicht allgemein dargestellt, sondern unter dem besonderen Aspekt der globalen Auswirkung betrachtet und analysiert. Dabei ist jedoch eines besonders hervorzuheben: das Modewort Globalisierung erfaßt nur ansatzweise die Phänomene, die aus interdisziplinärer Warte im Lexikon zur Überseegeschichte erläutert werden. Uns ging es gerade nicht darum, rückwirkend historisch einzuebenen, wo Unterschiede bestanden oder noch bestehen. Im Gegenteil, dieses Lexikon versucht, auf besondere regionale Spezifika in den dazugehörigen Begriffen bzw. Stichwörtern einzugehen. Konkret heißt dies: der Benutzer findet hier sowohl Angaben zu globalen Entwicklungssträngen als auch Details zu Alternativszenarien und Sondertendenzen. Auch wenn der Referenz- und Bezugspunkt die historische Beziehung zu Europa darstellt, heißt das eines eben nicht: die europäische Sichtweise und Deutung vergangener Ereignisse in den Mittelpunkt zu stellen. Keineswegs will dieses Nachschlagewerk eurozentrisch sein. Ganz im Gegenteil war es gerade das generelle Bestreben der Herausgeber und Verfasser, indigene Sichtweisen deutlich zu machen und mit einzubeziehen, dabei Stichworte und Artikel aufzunehmen, die in Europa bislang wenig, aber außerhalb davon sehr wohl Interesse finden. Es ging uns darum, nichteuropäische Perspektiven und Interpretationen aus dem Dunkel und Dünkel europäischer Vorstellungswelten ans Licht zu bringen. Hilfreich war, daß es in vielen Fällen gelungen ist, die indigene Perspektive auch dadurch mit einzubeziehen, daß die Verfasser selbst aus der Region kommen, über die der Benutzer informiert werden will. Der zeitliche Rahmen für dieses Lexikon beginnt mit den Anfängen der europäischen Expansion im frühen 15. Jahrhundert, mit dem schleichenden Übergang von der Reconquista der iberischen Halbinsel zur Conquista und dem damit verbundenen Sprung über das Meer. Jedoch zeigte sich, daß der antike “Vorlauf” dieser europäischen Expansionsgeschichte nicht gänzlich vernachlässigt werden kann. Insbesondere auf Alexander den Großen und Ptolemaios konnte nicht verzichtet werden, weil sie eine lange und nachhaltige Wirkung auslösten. Ebensowenig einfach war es, das chronologische Ende zu definieren. Während man für Lateinamerika größtenteils mit der staatlichen Unabhängigkeit in den 1820er Jahren im frühen 19. JahrV
hundert hätte enden können, zog sich der Dekolonisationsprozeß für Teile Asiens, Afrikas und erst recht für die pazifische Inselwelt, bis weit nach den Zweiten Weltkrieg. Erneut muß deshalb betont werden: Gewisse Entwicklungen mögen globale Phänomene gewesen sein, doch liefen sie zeitversetzt ab und keineswegs identisch. Für ein solches Lexikon machte es deshalb wenig Sinn, dort mit 1820 und hier, etwa bei Namibia oder Mikronesien, erst 1990 aufzuhören. Eine gewisse Kontakt- und Übergangsphase, die sich aus der Interaktion ergeben bzw. ergaben, wird also auch bei jenen zu Grunde gelegt, die sich formal schon früher von europäisch-kolonialem Einfluß befreien oder lösen konnten. Auch da, wo Europa nie über koloniale Einwirkungsmöglichkeiten verfügte, bildet die Kolonialzeit als Epoche den zentralen Teil, über den dieses Lexikon informiert. Entsprechend breiten Raum nimmt die Kolonialgeschichte in diesem Lexikon ein. Dabei werden der deutschen Teilhabe an diesem Prozeß und der deutschen Kolonialgeschichte in vielen Stichwörtern besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der Benutzer findet im Lexikon zur Überseegeschichte fundierte Informationen über die Geschichte unterschiedlichster Regionen aus allen Teilen der Erde, mit Ausnahme der menschenleeren Antarktis und, eben Europa selbst. Durch die Aufnahme vieler einzelner Stichwörter findet die häufig vernachlässigte russische Kolonisation und Expansionsgeschichte und deren Folgen, vor allem in Zentralasien und Sibirien, ausdrückliche Beachtung. Das Lexikon zur Überseegeschichte will aber kein reines Staatenlexikon sein, indem alle Länder außerhalb Europas aufgelistet werden. Es war nicht das Bestreben, alle Länder, Ethnien und Kulturen in gleicher Weise in einem Band unter einen Hut zu bringen. Der Benutzer wird schnell feststellen, daß manche Länder in diesem Lexikon gar nicht vorkommen, ob zu Recht oder zu Unrecht, mag er entscheiden. Ausgerichtet am Bezugspunkt der Interaktion mit Europäern im Prozeß der europäischen Expansion, bis hin zu ihrem kolonialen Höhepunkt und dessen politischer Abwicklung, wäre es unzureichend und wenig aussagekräftig zu sagen, europäische Bezüge habe es ja irgendwann überall gegeben (und vielleicht sogar irgendwelche Verbindungen zu Deutschland). Es macht aus unserer Sicht sehr wohl einen Unterschied, ob, wie im Falle Afrikas und des Inselpazifik, unterschiedslos alle Regionen einmal unter europäischer Kolonialherrschaft standen oder nicht – wie etwa bei Asien. Grenzfälle mag es immer geben, die wir so und andere anders sehen. Jeder Auswahl haftet immer auch etwas subjektives an. Selbstverständlich steht auch die Überseegeschichte nicht im luftleeren Raum. Vergleichbarkeit ist ein wichtiger Aspekt, ohne den die Geschichtswissenschaft nicht auskommt, nicht auskommen kann, will sie nicht provinzielle Nabelschau, egal von welcher regionalen Perspektive aus, betreiben. Daher gehört die mongolische Expansion in dieses Lexikon, denn hier wurde Europa seinerseits durch Kontakt von und mit Fremden offensiv beeinflußt. Die arabische, moghul-persische, chinesische und japanische Expansion stehen nicht im Zentrum dieses Nachschlagewerks, aber ihre Bezüge und die angestrebte Vergleichbarkeit mit europäischem Vorgehen machen es notwendig, auf sie einzugehen. Zu Personen, die die Entwicklung außerhalb Europas entscheidend mitgestalteten, bietet das Lexikon wertvolle biographische Informationen. Aber das Lexikon zur Überseegeschichte ist, das sei ausdrücklich hervorgehoben, kein Lexikon europäischer “Entdecker”. Hierzu sollte man andere Speziallexika zu Rate ziehen (wie Dietmar Henzes mehrbändige Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde). Bei den Biographien – lebende Personen wurden nicht aufgenommen – wurde versucht, neben wichtigen und wirksamen Persönlichkeiten der europäischen Expansions- und Kolonialgeschichte verstärkt den Blick auf indigene Akteure zu legen. Manche waren bislang über einen engen Kreis von Fachwissenschaftlern kaum bekannt. Andere sind in ihren Heimatländern vertraute Namen, in Europa aber unbekannte, verdrängte oder vergessene Personen. Viel Mühe und Aufwand wurden darauf verwendet, Informationen zu erfassen und mitzuteilen, die in anderen Nachschlagewerken kaum oder gar nicht zu finden sind: Religions- bzw. Konfessionsverhältnisse, Grablege. Namentlich die Suche nach Angaben zu Bestattung und Begräbnisort erwies sich als ein sehr mühsames Unternehmen. Dennoch ist es in sehr vielen, zunächst schwierig erscheinenden Fällen gelungen, relativ präzise Auskünfte wiederzugeben. Beiträge enthalten zumeist Hinweise auf weiterführende Literatur, teilweise auch Quellenangaben. Diese Angaben sollte man als das nehmen, als was sie intendiert sind: erste, weiterführende Hinweise, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ältere Standardliteratur findet sich neben neueren Veröffentlichungen. Deutschsprachige Titel werden, wenn vorhanden, bewußt hervorgehoben. Daneben soll die VI
fremdsprachliche und eben nicht nur englischsprachige Literatur die Annäherung an Fremdperzeptionen möglich machen. Literaturangaben werden zum Teil abgekürzt zitiert; ein Auffinden sollte dennoch keinerlei Probleme bereiten. Geschichtsschreibung, Geschichtsdeutung ist immer von mehreren Faktoren abhängig. Vor allem anderen ist sie ist von Zeit und Person abhängig. Wie die Zeit und die Geschichte sich wandeln, wandelt sich auch die Interpretation von Geschichte. Der Leser erhält in diesem Nachschlagewerk ein ausführliches Faktenund Datengerüst. Daneben finden sich, vor allem bei den Biographien, im abschließenden, urteilenden Teil auch unterschiedliche Perspektiven und Wertungen. Geschichte lebt von unterschiedlichen Blickwinkeln, Interpretationen, Sichtweisen. Die sind bei der Fülle der Autoren naturgemäß ganz unterschiedlich. Natürlich hat der Herausgeber hier nicht gleichmachend eingegriffen. Jeder Verfasser hatte das Recht, seine Sicht der Dinge auszubreiten. Dies mag zu Widerspruch reizen. Vielleicht ist das sogar intendiert – Interesse zu weiterer, intensiverer Beschäftigung zu wecken, gerade deswegen zum Weiterforschen anzuregen, um den Widerspruch auch wissenschaftlich untermauern zu können. Indes sei eines klargestellt: Das Lexikon will nicht moralisch belehren. Die Beschäftigung mit anderen Ethnien und Kulturen und ihrer jeweils eigenen Geschichte zeigt doch zur Genüge: Variablen menschlichen Handelns, differierende Vorgehensund Handlungsweisen, Deutungen und Auffassungen, gibt es zu Hauf. Stichworte sind wie üblich fett gedruckt. Verweise sollen anleiten und anregen, vielleicht auch zum Weiterlesen und Verweilen an anderer Stelle. Sicherlich, unser Lexikon zur Überseegeschichte soll dem Benutzer, wie jede andere Enzyklopädie für ihren jeweiligen Bereich auch, vor allem auf den ersten Blick wichtige, präzise und informative Fakten bieten. Es soll Hilfe, Unterstützung und erste Hinweise geben bei der Suche nach Wissen. Das Finden bereitgestellter und möglichst zuverlässiger Informationen mag den Hauptzweck darstellen. Aber dieses Nachschlagewerk soll ausdrücklich auch dazu anregen, sich darüberhinaus mit Themen, Ereignissen und Entwicklungen, mit Regionen, Ethnien und Personen – Menschen, immer wieder Menschen – zu beschäftigen, die dem Benutzer bislang fremd und unbekannt waren. Es soll Anstöße geben, sich tiefer und eingehender mit bislang unbekannten Dingen zu befassen – zum eigenen nicht-utilitaristischen Interesse, zur reinen Lust am Lesen und Studieren, zur historischen Hintergrundinformation vor Reisen, auch zur Auseinandersetzung mit weiterer wissenschaftlicher Arbeit. In diesem Sinne will das Lexikon nicht nur ein reines Nachschlagewerk, sondern auch ein Lesebuch sein. Über 300 Autoren aus allen Teilen der Welt haben sich am Lexikon zur Überseegeschichte beteiligt. Sie alle eint die Begeisterung für die Geschichte außerhalb Europas, ihr spezielles Interesse für fremde Kulturen und Ethnien, auch wenn sie intellektuell und akademisch durch Deutschland geprägt oder mitgeprägt wurden. Mancher von ihnen hat dabei Geduld beweisen müssen. Ein solches Projekt braucht einen langen Atem. Das Ziel war klar, der Weg dorthin gelegentlich steinig. Ein vielfältiger Dank ist abschließend notwendig. Mein Dank gilt an erster Stelle den Mitherausgebern, die sich der Aufgabe unterzogen, die Beiträge nach Regionen zu koordinieren und und über die Gesellschaft für Überseegeschichte hinaus möglichst kompetente Autoren und Beiträge auch für jene Bereiche zu gewinnen, für die diese nur auf wenige oder gar keine Experten zurückgreifen konnte. Unser Dank gilt insbesondere jenen Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen der deutschsprachigen Forschung, die sich mit ähnlichen oder verwandten Fragestellungen beschäftigen wie wir, die aber, vielleicht gerade weil sie eine nicht-europäische Sichtweise einzunehmen gewohnt sind, so etwas typisch-europäischem und insbesondere deutschem wie einem Verein oder einer Gesellschaft eher fremd gegenüberstehen, gleichwohl das Unternehmen an sich gut fanden und bereit waren, mitzumachen und ihr Fachwissen und ihre Expertise mit einzubringen – wohl wissend, daß geisteswissenschaftliche Arbeit in Deutschland sich in den seltensten Fällen in Heller und Pfennig auszahlt. Ich hoffe dennoch am Ende des Tages läßt sich sagen: das Engagement war vielleicht nicht profitabel, aber es hat sich gelohnt. Diese Hoffnung gilt erst recht für die Mitglieder der Gesellschaft für Überseegeschichte, die sich mit großem Enthusiasmus und viel Herzblut an die Aufgabe machten, die Einsamkeit ihrer Feldforschung vorübergehend aufzugeben oder das stille Kämmerlein der Studier- und Forschungsstube zu verlassen, die Fenster weit zu öffnen und ein größeres Publikum an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Ohne ihr Mitmachen, ihr aktives Gestalten, ihre persönliche Partizipation und Teilhabe, vor allem aber die vielfache VII
individuelle Umsetzung der vereinbarten Vorgaben, wäre das Lexikon zur Überseegeschichte vielleicht immer noch eine Idee, aber gewiß keine realisierte. Die Verwirklichung verdanken wir dem Franz Steiner Verlag und dessen Leiter, Dr. Thomas Schaber, der unsere Vorstellungen von der Umsetzung des Projekts bereitwillig annahm und von Anfang an bestrebt war, unsere Ideen und Vorschläge so zu verwirklichen, daß am Ende dabei auch ein benutzerfreundliches Buch herauskam. Dank gehört meinen Mitarbeitern, die das Projekt begleitet haben. In der Entstehungsphase war es hauptsächlich Dr. Christian Kirchen, danach auch Dr. Marco Hedler, Markus Plattner, M.A., und Robert Schmidtchen, M.A., die beteiligt waren. Am längsten und intensivsten aber hat Dr. Marcus Mühlnikel die Aufnahme und Bearbeitung der verschiedenen Beiträge betreut. Gabi Krampf hat über viele Stunden das Manuskript sorgsam in eine druckfertige Vorlage gesetzt. Schließlich danke ich meiner Universität Bayreuth für ihre Unterstützung und Hilfe. Die Universitätsbibliothek besitzt mit ihrem hervorragenden Bestand zur deutschen Kolonialgeschichte und insbesondere zu Afrika einen Fundus, auf den nicht nur der Fachwissenschaftler gerne zurückgreift. Der Universitätsleitung danke ich für Flexibilität, unbürokratische Unterstützung und die Möglichkeit, daß Texterfassung und redaktionelle Arbeiten auch außerhalb des gewöhnlichen Universitätsbetriebes stattfinden konnten. Auch bei über 300 Mitarbeitern ist nicht ausgeschlossen, daß Fehler und Unzulänglichkeiten unterlaufen sind. Der Herausgeber hat sich nach Kräften bemüht, Beiträge zusammenzufassen, die inhaltlich zusammengehören und eine Struktur entstehen zu lassen. Ob oder inwieweit dies gelungen ist, muß der Leser entscheiden. Am Ende steht der Herausgeber für Versäumnisse und Versehen, Mängel und Fehler. Gerade deshalb: Hinweise, Empfehlungen und Kritik, Änderungs- und Verbesserungsvorschläge, Anregungen für ergänzende Beiträge und vielleicht einmal aufzunehmende zusätzliche Stichwörter, auch Vorschläge für weitere qualifizierte Bearbeiter, werden gerne entgegengenommen und erbitten wir an an folgende Anschrift: Prof. Dr. Hermann Hiery Lehrstuhl für Neueste Geschichte Universität Bayreuth 95440 Bayreuth email: [email protected].
Bayreuth, im August 2014
VIII
Hermann J. Hiery
Hinweise zur Benutzung des Lexikons – – – – – – –
Das Werk folgt der traditionellen Rechtschreibung. Die Beiträge sind alphabetisch gereiht. Umlaute werden wie Doppelvokale gereiht, d.h. ä als ae, ö als oe und ü als ue. Der Hauptitel des Eintrages wird als Stichwort im Eintrag selbst abgekürzt verwendet. Beispiel: Eintrag / Stichwort ist Hawai’i, wird im Beitrag selbst mit H. abgekürzt. Verweise finden sich zu dem entsprechenden Begriff in einem Beitrag nur das erste Mal. In der Kopfzeile wurden zu den fett gedruckten Stichwörtern keine Verweise gesetzt. Quellen- u. Literaturhinweise werden in den Titeln z. T. abgekürzt zitiert.
Verzeichnis der verwendeten Symbole und Abkürzungen * ~ †
□
→ => Ø ≈ $ ₤
geboren getauft gestorben begraben bzw. Grab; eingeäschert Verweis auf wurde zu durchschnittlich, Durchschnitt ungefähr, ca. Dollar Pfund Sterling
Abgekürzte Adjektive können in allen Beugungsformen stehen AA Abs. ADB ä. afr. allg. am. anglik. arab. Art. ASEAN AT austral. b. BA baptist. BBKL Bd. Bde. belg. Bes. betr. Bev. BGB birmes.
Auswärtiges Amt Absatz Allgemeine Deutsche Biographie ähnlich, Ähnliches afrikanisch(e) allgemein(e) amerikanisch(e) anglikanisch arabisch(e) Artikel Association of Southeast Asian Nations Altes Testament australisch(e) bei Bundesarchiv baptistisch Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Band Bände belgisch(e) Besitz betreffend Bevölkerung Bürgerliches Gesetzbuch birmesisch(e)
BMG brasil. brit. BSAC bspw. buddh. bzw. ca. chin. christl. d. dän. ders. d.h. d.i. dies. DOA DOAG DSWA dt. ebd. EDN ehem. EIC einh. engl. entspr.
Berliner Missionsgesellschaft brasilianisch(e) britisch(e) British South Africa Company beispielsweise buddhistisch beziehungsweise circa chinesisch(e) christlich der, die, das dänisch(e) derselbe das heißt das ist dieselbe Deutsch-Ostafrika Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft Deutsch-Südwestafrika deutsch(e) ebenda Enzyklopädie der Neuzeit ehemals, ehemalig(e) East India Company einheimisch(e) englisch(e) entsprechend IX
europ. ev.-luth. evtl. Ew. Fa. FLN Frhr. frz. FSM geb. Gen. ggf. Gouv. gr.-orth. grds. h.c. Hg. hg. v. HZ i. i. allg. i.d.R. i.e.S. ind. indon. insb. insg. it. i.w.S. jährl. jap. Jb. JbEÜG Jh. jüd. Kapitänltnt. kath. Kdt. Kfz. Kg. kgl. Kgr. km kongregat. Ks. Ksr. L. l. Lkr. LMS m MA MdR method. min. MSC musl. n. Chr. NDB X
europäisch(e) evangelisch-lutherisch eventuell(e) Einwohner Firma Front de Libération Nationale Freiherr französisch(e) Föderierte Staaten von Mikronesien geboren(e) General gegebenenfalls Gouverneur griechisch-orthodox grundsätzlich honoris causa Herausgeber herausgegeben von Historische Zeitschrift in, im im allgemeinen in der Regel im engeren Sinne indisch(e) indonesisch(e) insbesondere insgesamt italienisch(e) im weiteren Sinne jährlich japanisch(e) Jahrbuch Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte Jahrhundert jüdisch Kapitänleutnant katholisch(e) Kommandant Kraftfahrzeug König königlich(e) Königreich Kilometer kongregationalistisch Kaiser Kaiserreich Literaturhinweise Liter Landkreis London Missionary Society Meter Militärarchiv Mitglied des Reichstages methodistisch Minuten Missionaires du Sacré Coeur (Herz-Jesu-Missionare) muslimisch nach Christi Geburt Neue Deutsche Biographie
ndl. Ndr. nestor. NGC NMG nö. nördl. NSW NT o.a. od. OFM OP österr. östl. parl. pol. port. Präs. presbyt. priv. prot. puritan. Q. ref. Reg. reg. Rel. Rep. rk. RKolA russ. russ.-orth. s.a. samoan. SJ SM sog. sp. span. st. südl. sunn. SVD SW t teilw. TH u. u.a. üb. übers. ü.d.M. unbek. urspr. v. v.a. v. Chr.
niederländisch(e) Nachdruck nestorianisch Neu-Guinea-Compagnie Norddeutsche Missionsgesellschaft nordöstlich nördlich New South Wales Neues Testament oben ausgeführt oder Ordo Fratrum Minorum (Franziskaner) Ordo (Fratrum) Praedicatorum (Dominikaner) österreichisch(e) östlich parlamentarisch(e) politisch(e) portugiesisch(e) Präsident presbyterianisch privat protestantisch puritanisch Quellen reformiert Regierung regierte Religion Republik römisch-katholisch Reichskolonialamt russisch(e) russisch-orthodox siehe auch samoanisch(e) Societas Jesu (Jesuiten) Societas Mariae (Maristen) sogenannt(e) später spanisch(e) seit südlich sunnitisch Societas Verbi Divini (Steyler Missionare) Südwesten Tonne teilweise Technische Hochschule und unter anderem über übersetzt über dem Meeresspiegel unbekannt ursprünglich von vor allem vor Christi Geburt
verh. VOC westl. wg. WIC Wirkl. z. B. z. T. z. Zt.
verheiratet(e) Vereinigte Ostindische Kompanie westlich wegen West-Indische Compagnie Wirklicher zum Beispiel zum Teil zur Zeit
Verzeichnis der Autoren Yao Esebio Abalo, lic., Bayreuth Dr. Katharina Abermeth, Kiel Christiane Adamczyk, M.A., Halle/Saale Dr. Mónicá Albizúrez Gil, Hamburg Prof. Dr. Gabriele Alex, Tübingen Dr. Thorsten Altena, Dortmund Prof. Dr. Wolfgang Altgeld, Würzburg Alexandra Amling, M.A., Frankfurt/M. Andrés Jiménez Angel, M.A., Eichstätt Prof. Dr. Roland G. Asch, Freiburg i. Br. Prof. Dr. Gusti Asnan, Padang, Indonesien Dr. Fernando Amado Aymore, Frankfurt/M. / Rio de Janeiro Prof. Dr. James N. Bade, Auckland Dr. Inayatullah Baloch, Quetta, Pakistan Prof. Dr. Thomas Bargatzky, Bayreuth Dr. Dieter Bartels, Prescott, AZ PD Dr. Dagmar Bechtloff, Bremen Prof. Dr. Bert Becker, Hong Kong Stefanie Bendig, Eichstätt Prof. Dr. Manfred Berg, Heidelberg Prof. Dr. Walther L. Bernecker, Erlangen Johannes Berner, M.A., Bayreuth Prof. Dr. Jutta Berninghausen, Bremen Dr. Reinhart Bindseil, Bonn Giselher Blesse, Leipzig PD Dr. Nikolaus Böttcher, Berlin Jan-Henning Böttger, M.A., Berlin Dr. Lothar Bohrmann, Leipzig Dr. Galaxis Borja González, Quito Prof. Dr. Peter Borschberg, Singapur Prof. Dr. Jorge Branco, Lissabon Dr. Martin Brandtner † Prof. Dr. Ulrich Braukämper, Göttingen Dr. James Braund, Auckland Jonas Brenner, Eichstätt Dr. Sören Brinkmann, Erlangen Anja Bröchler, Köln Prof. Dr. Christian Büschges, Bern Dr. Stefan Burmeister, Bramsche-Kalkriese Dr. Sandra Carreras, Berlin Dr. Burton Cleetus, Calicut / Kozhikode Dr. Dominik Collet, Heidelberg Prof. Dr. Stephan Conermann, Bonn Dr. Alan Corkhill, Brisbane
Lenita Cunha e Silva, M.A., Heidelberg Prof. Dr. Bernhard Dahm, Passau Dr. Daniel Damler, Mannheim Dr. Otto Danwerth, Frankfurt/M. Prof. Dr. Mariano Delgado, Freiburg i. Ue. Prof. Dr. Markus A. Denzel, Leipzig Prof. Dr. Volker Depkat, Regensburg Prof. Dr. Gita Dharampal-Frick, Heidelberg PD Dr. Youssouf Diallo, Leipzig Prof. Dr. Lothar Dittrich, Hannover Tobias Döpker, M.A., Speyer Dietrich Döpp, M.A., Münster Dr. Alke Dohrmann, Hamburg Dr. Sebastian Dorsch, Erfurt Prof. Dr. Thomas Duve, Frankfurt/M. Dr. Cord Eberspächer, Düsseldorf / Bristol Sebastian Eicher, M.A., München Annalena Eigner, Eichstätt Ralf Eming, M.A., Düsseldorf Prof. Dr. Piet C. Emmer, Leiden Dr. Alexander Engel, Göttingen Eva Ensling, M.A., Frankfurt/M. Prof. Dr. Raingard Esser, Groningen Torsten Eßer, M.A., Köln Sabine Eucken, M.A., Nürnbrecht Prof. Dr. Norbert Finzsch, Köln Dr. Susanne Fischer, Bayreuth Prof. Dr. Thomas Fischer, Eichstätt Dr. Tilman Frasch, Manchester Prof. Dr. Iris Gareis, Frankfurt/M. Katja Gelhaar, M.A., Leipzig Dipl.Geo. Martin Gerwin † Robby Geyer, Heidelberg Dr. Andrea Gittermann, Hamburg Dr. Uwe Glüsenkamp, Mainz Prof. Dr. Delia Gonzales de Reufels, Bremen Prof. Dr. Volker Grabowsky, Hamburg PD Dr. Tilo Grätz, Berlin Prof. Dr. Detlef Gronenborn, Mainz Prof. Dr. Horst Gründer, Münster Dr. Simon Haberberger, Illertissen Prof. Dr. Mark Häberlein, Bamberg XI
Christian Hannig, M.A. † Matthias Harbeck, M.A., Berlin Prof. Dr. Hans Harder, Heidelberg Prof. Dr. Christine Hatzky, Hannover Jörg Hauptmann, M.A., Großröhrsdorf Prof. Dr. Bernd Hausberger, Mexiko-Stadt Prof. Dr. Christian Haußer, Talca, Chile Dr. Sabine Heerwart, Göttingen Dr. Mary Somers Heidhues, Bovenden Prof. Dr. Silke Hensel, Münster Adolf Heuken, SJ, Jakarta Prof. Dr. Hermann Joseph Hiery, Bayreuth Katharina Hiery, M.A., München PD Dr. Felix Hinz, Freiburg i. Br. Prof. Dr. Hans-Martin Hinz, Berlin / Bayreuth Dr. Florian Hoffmann, Hannover Dr. Karl-Dieter Hoffmann, Eichstätt Hans Hommens, M.A., Heidelberg Dr. Hartmut Hopperdietzel, Bayreuth Gerhard Hutzler, M.A. † Dr. Mechthild Isenmann, Leipzig Prof. Dr. Kerstin S. Jobst, Wien Dr. Annekie Joubert, Berlin Prof. Dr. Olaf Kaltmeier, Bielefeld Prof. Dr. Ackson M. Kanduza, Lusaka, Sambia Dr. Jochen Kemner, Bielefeld PD Dr. Ulrike Kirchberger, Kassel / Bayreuth Dr. Christian Kirchen, Beirut / Berlin Dieter Klein, Wuppertal PD Dr. Thoralf Klein, Loughborough Rafael Klöber, M.A., Heidelberg Prof. Dr. Arthur Knoll † Thomas Kolnberger, Luxemburg / Wien Till Philip Koltermann, M.A., Iserlohn Dipl. Arch. Ariane I. Komeda, Bern Prof. Dr. Rüdiger Korff, Passau Prof. Dr. Klaus Koschorke, Thun / München Sven Kosol † Dr. Werner Kraus, Passau Prof. Dr. Gerhard Krebs, Berlin Prof. Dr. Martin Krieger, Kiel Stephan Kroener, Eichstätt Dr. Thomas Küster, Münster Dr. Christoph Kuhl, Demerath Prabhat Kumar, M.Phil., Kalkutta / Heidelberg Prof. Dr. Sandra Kurfürst, Köln PD Dr. Susanne Kuß, Bern Prof. Dr. Susanne Lachenicht, Bayreuth Dr. Thomas Lehmann, Heidelberg Prof. Dr. Jean-Paul Lehners, Luxemburg Dr. Andreas Leipold, Bayreuth Prof. Dr. Uta Lindgren, München Gautam Liu, M.A., Heidelberg Dr. Livia Loosen, Mainz Manju Ludwig, M.A., Heidelberg Dr. Elisio Macamo, Basel Dr. Yuko Maezawa, Düsseldorf XII
Dr. Albert Manke, Köln Prof. Dr. Michael Mann, Berlin Georg Materna, M.A., Bayreuth Prof. Dr. Johannes Meier, Mainz Dr. Andrea Mester, Berlin Gregor M. Metzig, M.A., Berlin Sandra Mikli, M.A., München Heiko Möhle, M.A. † Dr. Axel Monte, München Katharina Morgenstern, B.A., Leipzig Thomas Morlang, M.A., Essen Prof. Dr. Fred Morton, Gaborone, Botswana Prof. Dr. Ulrich Mücke, Hamburg Prof. Dr. Hermann Mückler, Wien PD Dr. Michael Müller, Mainz Dr. Shing Müller, München Dr. Soumen Mukherjee, Berlin PD Dr. Jürgen G. Nagel, Hagen Souvik Naha, Zürich Prof. Dr. Richard Nebel, Bayreuth PD Dr. Christoph Nebgen, Mainz Prof. Dr. Dieter Neubert, Bayreuth Prof. Dr. Bernd Nothofer, Frankfurt/M. Dr. Germain Nyada, Gatineau, Kanada Dr. Christina Oesterheld, Heidelberg Dr. Bernhard Olpen, Düsseldorf Dr. Hinnerk Onken, Köln Prof. Dr. Jürgen Overhoff, Münster Dr. Karl-Heinz Pampus, Frankfurt/M. Anneli Partenheimer-Bein, Gerbrunn Prof. Dr. Ludolf Pelizaeus, Mainz Prof. Dr. Horst Pietschmann, Köln Prof. Dr. Teresa Pinheiro, Chemnitz Markus Plattner, M.A., Bayreuth Dr. Jorun Poettering, Cambridge, MA Dr. Harry A. Poeze, Leiden Dr. Stephan Popp, Wien Dr. Franz-Joseph Post, Münster Prof. Dr. Barbara Potthast, Köln Dr. Ali Usman Qasmi, London Christiane Reichart-Burikukiye, M.A., Bayreuth Prof. Dr. Folker Reichert, Heidelberg Prof. Dr. Wolfgang Reinhard, Freiburg i.Br. Benedikt, Rieß, M.A., Eichstätt Prof. Dr. Stefan Rinke, Berlin PD Dr. Torsten Riotte, Frankfurt/M. Maria Lucia Barón Rodriguez, M.A., Eichstätt Prof. Dr. A. Gregg Roeber, University Park, MA Christian Rödel, M.A., Bamberg PD Dr. Philipp Rössner, Manchester / Leipzig Katia Rostetter, M.A., Heidelberg Dr. Jens Ruppenthal, Köln Dr. Marlies Salazar, Berlin Prof. Dr. Dr. Heinrich Wilhelm Schäfer, Bielefeld Jürgen Schaflechner, M.A., Heidelberg
Prof. Dr. Ulrike Schaper, Berlin Prof. Dr. Klaus Schatz, Frankfurt/M. Prof. Dr. Leo Schelbert, Chicago, IL Dr. Dominik Schieder, Frankfurt/M. Prof. Dr. Bernd Schmelz, Hamburg Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel PD Dr. Ulrike Schmieder, Hannover Prof. Dr. Eberhard Schmitt, Bamberg Dr. Heinz Schneppen, Berlin Heiko Schnickmann, Wuppertal Prof. Dr. Claudia Schnurmann, Hamburg Jiva Schöttli, M.Phil., Heidelberg Prof. Dr. Lars U. Scholl, Bremen Verena Schrader, Berlin Prof. Dr. Hans-Jürgen Schröder, Gießen Martin Schröder, M.A., Guatemala-Stadt Prof. Dr. Raimund Schulz, Bielefeld Prof. Dr. Fritz Schulze, Frankfurt/M. Dr. Sven Schuster, Eichstätt Miriam Schwarz, Heidelberg Dr. Oskar Schwarzer, Schwaig Dr. Armin Selbitschka, München Dr. Indra Sengupta, London Prof. Dr. Detlef Seybold, Bayreuth Prof. Dr. Sayed Wiqar Ali Shah, Heidelberg / Islamabad Dr. Achim F. Sibeth, Mörfelden-Walldorf Justin Siefert, M.A., Heidelberg Nadine Siegert, M.A., Bayreuth PD Dr. Harald Sippel, Bayreuth Prof. PhDr. Aleš Skřivan Sr., Prag Prof. PhDr. Ing. Aleš Skřivan Jr., Prag Dr. Anne Slenczka, Köln Dr. Clemens Spiess, Heidelberg Dr. Kristina Starkloff, Berlin Prof. Dr. Matthias Stickler, Würzburg Prof. Dr. Jan Stievermann, Heidelberg Dr. Holger Stoecker, Berlin PD Dr. Eva-Maria Stolberg, Duisburg-Essen Prof. Dr. Thomas Stolz, Bremen Manfred Stoppok, M.A., Leipzig Prof. Dr. Bernhard Streck, Leipzig
Dr. Wiebke von Deylen, Hamburg Prof. Dr. Achim von Oppen, Bayreuth PD Dr. Matthias Waechter, Freiburg i.Br. Sigrun Wagner, Bremen Prof. Dr. Wilfried Wagner, Bremen Dr. Michael Waibel, Hamburg Prof. Dr. Katharina Walgenbach, Wuppertal Dr. Melitta Waligora, Berlin Holger Warnk, M.A., Frankfurt/M. Dr. Andrea Weindl, Köln Prof. Dr. Hermann Wellenreuther, Göttingen Dr. Klaus-Georg Wey, Bergisch-Gladbach Roland Wickles, M.A., M.Sc., Bayreuth Dr. Niels Wiecker, Hamburg Prof. Dr. Edwin Wieringa, Köln Prof. Dr. Rolf-Harald Wippich, Luzern Dr. Michael Wobring, Augsburg Dr. Siegfried O. Wolf, Heidelberg Wenling Yan, Mainz Prof. Dr. Xenia Zeiler, Helsinki Dr. Joachim Zeller, Berlin Wolfgang Zeller, M.A., Edinburgh Prof. Dr. Michael Zeuske, Köln Dr. Wolfgang-Peter Zingel, Heidelberg Dr. Frank Zirkl, Innsbruck Katharina Zöller, M.A., Bayreuth Prof. Dr. Reinhard Zöllner, Bonn Dipl.Theol. Li Zou, Mainz Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, Bielefeld
Dr. Thomas Theye, Bremen Dr. Hilke Thode-Arora, Neufahrn Dr. Anja Timmermann, Hamburg Prof. Dr. Sven Trakulhun, Zürich Prof. Dr. Marin Trenk, Frankfurt/M. Dr. Torsten Tschacher, Göttingen Dr. Henning Türk, Duisburg-Essen Christina Urbanek, M.A., Hamburg Prof. Dr. Cristina Urchueguia, Bern Prof. Dr. Dr. Ulrich van der Heyden, Berlin Nitin Varma, M.A., Heidelberg Florian Vates, M.A., Bayreuth Dr. Alex Veit, Bremen Prof. Dr. Flora Veit-Wild, Berlin Dr. Markus Verne, Bayreuth Dr. Ulf Vierke, Bayreuth Thomas Völkel, Altdorf b. Nürnberg XIII
A bi d jAn
Aachen, Friede von. Der im Okt. 1748 geschlossene Friedensvertrag beendete den Österr. Erbfolgekrieg (1740–1748), der sich hauptsächlich in Europa, jedoch auch in Übersee abspielte, wo Großbritannien und Frankreich ihre Einflußsphären auf Kosten des jeweils anderen auszuweiten suchten. Die Briten eroberten Teile der frz. Besitzungen in →Kanada. Die Franzosen besetzten 1746 in →Indien das bislang brit. →Madras. Daß in Indien überhaupt gekämpft wurde, macht die Verschärfung der Konkurrenz beider Mächte deutlich. Während des Span. Erbfolgekriegs (1701–1713) hatte ein entspr. Abkommen zwischen der East India Company (→Ostindienkompanien) und ihrem frz. Pendant, der Compagnie des Indes, noch ausgeschlossen, daß der Krieg in Europa Kampfhandlungen in Indien nach sich zog. Als 1747 die Niederlande auf brit. Seite in den Österr. Erbfolgekrieg eintraten und die Briten die →Kapkolonie als Basis für Operationen in Indien nutzen konnten, verbesserte sich ihre Lage, doch konnte bis 1748 nicht mehr als ein militärisches Patt erreicht werden. Der F. v. A., in dem der preußische Besitz Schlesiens und die Herrschaft Maria Theresias in Österreich von den Kriegsparteien anerkannt wurden, bestimmte bezüglich der überseeischen Kriegsschauplätze lediglich die Wiederherstellung des status quo ante. Erst im →Siebenjährigen Krieg fiel in der brit.-frz. Konkurrenz in Übersee die Entscheidung zugunsten Großbritanniens. Reed Browning, The War of Austrian Succession, New York 1995. Michael Mann, Der ungeliebte Krieg, in: Sven Externbrink (Hg.), Der Siebenjährige Krieg, Berlin 2011, 99–125, insb. 104–108. CHRI S TOP H KUHL Abd el-Krim →Rifkrieg Abessinien →Äthiopien Abgeordnetenhaus. House of Representatives, Assembly. In den engl. Kolonien in Nordamerika und auf den →Westind. Inseln die gewählte Versammlung der Repräsentanten der freien männlichen euro-am. Ew. Ursprung und Vorbild war die Versammlung der Anteilseigner einer Aktiengesellschaft. Die Berufung einer General Assembly wurde erstmals für Virginia durch die Great Charter von 1618 autorisiert. 1619 einberufen, tagte diese Assembly in der Regel jährlich gemeinsam mit dem Rat der Kolonie und dem →Gouv. Spätere Gründungsurkunden der Kolonien wie die →Charter für Pennsylvania ermächtigten die Besitzer von Kolonien, Gesetze und Verordnungen zu veröffentlichen „by and with the the advice, assent, and approbation of the freemen of the said countrey“. Anfänglich tagten die gewählten Vertreter und der Rat der Kolonie gemeinsam. Spätestens seit Beginn des 18. Jh.s spaltete sich die „General Assembly“ in zwei getrennt tagende Kammern. Umstritten war in zahlreichen Kolonien zu Beginn die Frage, wer Gesetzentwürfe einbringen durfte und ob der Gouv. das Recht hatte, die Wahl der Sprecher der Abgeordnetenhäuser mit einem Veto zu belegen. In allen →Kronkolonien und Eigentümerkolonien (mit Ausnahme von Pennsylvania, →Eigentümer) konnte nur der Gouv. die Abgeordnetenhäuser einberufen, vertagen oder auflösen und Neuwahlen aus-
schreiben. Gesetze und Verordnungen bedurften seiner und der Räte Zustimmung. Der Abgeordneten wichtigstes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele war das sorgsam gehütete Recht der Bewilligung des Jahresgehalts des Gouv.s. Die gesetzgeberische Tätigkeit der Abgeordneten konzentrierte sich auf den Ausbau der Infrastruktur, der Wirtschaft – wobei die Währungspolitik (Emission von Papiergeld) einen besonders kontroversen Themenbereich bildete – und der Bewahrung der öffentlichen Moral. In den südlichen Kolonien nahm die Gesetzgebung zur Kontrolle, Regulierung und Unterdrückung afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) beträchtlichen Raum ein. Spätestens in den ersten Dekaden des 18. Jh.s entwickelten sich die Abgeordnetenhäuser zunehmend zu eigenständigen Reg.sorganen, die sich dem Wohl der Bevölkerung eher als dem des brit. Reiches verpflichtet fühlten. Im Namen ihrer Wähler machten sie dem Gouv. Rechte und Privilegien streitig und eigneten sich Vorrechte des engl. Unterhauses an. Aus der Bindung an ihre Wähler entwickelten die Abgeordnetenhäuser republikanische Ansichten. Sie verstanden sich als „actual representation“ ihrer Wähler, denen sie durch freizügiges Petitionsrecht leichten und gebührenfreien Zugang zum A. gewährten. In Virginia gingen mehr als die Hälfte der Gesetze auf Petitionen der lokalen Gerichtshöfe oder einzelner Kolonisten zurück. Im Verlaufe des 18. Jh.s sollten sich aus dem immer engeren Bindungsverhältnis zwischen Wählern und Abgeordnetenhäusern Zielkonflikte zu den Anschauungen und Anforderungen des Mutterlandes als Mittelpunkt des Brit. Weltreiches ergeben. Warren M. Billings, A Little Parliament, Richmond 2004. Mary Patterson Clarke, Parliamentary Privilege In the American Colonies, New Haven 1943. Jack P. Greene, The Quest for Power, Chapel Hill 1963. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Abidjan liegt in der Lagunen-Region der →Elfenbeinküste und war bis 1983 die Hauptstadt des gleichnamigen Staates. Aus einem kleinen Fischerdorf der Ebrié hervorgegangen, wurde A. erst Anfang des 20. Jh.s von der Urbanisierung erfaßt. Die Franzosen benannten ihren Hauptort zunächst nach dem ersten Gouv. der Kolonie, Louis Binger, Bingerville. 1934 wurde die Hauptstadt der Kolonie A. genannt und in hohem Tempo entwickelt. Die nördlichen und südlichen Teile der Metropole, das afr. geprägte Treichville und das politische sowie administrative Zentrum namens Plateau wurden durch zwei Brücken verbunden. Der Handel war hauptsächlich in libanesischen Händen, die Plantagenwirtschaft und die neuen Industriezweige in frz. Die rasante urbane Entwicklung zog viele Arbeitskräfte aus der Kolonie →Obervolta an, v. a. nachdem 1904 der Bau der Eisenbahnlinie von A. nach →Ouagadougou begonnen hatte. Über den Hafen von A., modern ausgebaut 1936, werden bis heute wachsende Mengen von →Kaffee, →Kakao und Holz verschifft. 1951 wurde der Flughafen in dem südlichen Stadtteil Port-Bouët gebaut. Mit der ökonomischen Entwicklung von A. nahm die Bevölkerung kontinuierlich zu. Bereits 1956 war A. nach →Dakar die zweitgrößte Metropole Westafrikas. Die Zahl der afr. Migranten, die zu diesem Zeitpunkt die Hälfte der Gesamtbevölkerung 1
A b o l it i o n i s m us
ausmachte, hat sich heute vervielfacht. 1983 verlegte Präs. Félix Houphouet-Boigny (1905–1993) die Hauptstadt in seinen Geburtsort Yamoussoukro, wo er auch die größte Kirche Afrikas, die Notre-Dame-de-la-Paix erbauen ließ. A. ist seit 2000 in zehn Gemeinden aufgeteilt. Jede Gemeinde verfügt über einen Bürgermeister und einen Stadtrat. A. ist heute auch ein Bezirk mit einem eigenen Gouv. und beherbergt viele afr. Organisationen. Robert J. Mundt, Historical Dictionary of Côte d’Ivoire, London 1995. Ruth Schachter Morgenthau, Political Parties In French-Speaking West Africa, Oxford 1964. YOUS S OUF DI AL L O
Abolitionismus. Unter A. wird die politisch-soziale Bewegung zur Abschaffung von →Sklaverei und Sklavenhandel verstanden, die im 18. Jh. in England und Frankreich entstand und sich im 19. Jh. in den meisten kolonienbesitzenden europäischen Ländern, den →USA sowie den lateinam. Nationalstaaten verbreitete. In den Niederlanden, Portugal und Spanien erreichte der A. nie die Breite und Öffentlichkeit wie in Großbritannien und den USA in Bezug auf atlantischen Sklavenhandel und Sklaverei in beiden (Nord- und Süd-) Amerika und in Afrika. In Amerika hatte die Bewegung mit der Abolition der Sklaverei 1886 in →Kuba und 1888 in →Brasilien ihr Ziel endgültig erreicht. Die Abschaffung der Sklaverei in Afrika und Asien war ein bis ins 20. Jh. andauernder Prozeß, bei dem sich kein endgültiges Datum der Abolition benennen läßt. Problematisch ist die in der älteren Fachliteratur verbreitete Sicht, die die Abolition als europäische Wohltat für die versklavten Afrikaner/innen betrachtet, nicht nur, weil vor der Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei die meisten europäischen Staaten in diesen Handel direkt involviert waren, alle europäischen Länder von den durch Sklavenarbeit billigen →Kolonialwaren profitierten und die europäischen Kolonialmächte in Afrika und der →Karibik nach der Abolition andere Formen von →Zwangsarbeit einführten, sondern auch weil viele Afroamerikaner/innen, oft ehem. Sklav/innen und Kinder von Sklav/innen als Aktivisten an diesem Kampf teilnahmen und der Sklavenwiderstand, v. a. in großen Aufständen in St. Domingue/ Haiti (1791) und Dän.-Westindien (1848), die die sofortige Abolition bewirkten, →Jamaika (1832), →Martinique (1848) und anderswo, die materiellen und moralischen Kosten der Aufrechterhaltung der Sklaverei in die Höhe trieb und somit einen wesentlichen Beitrag zur Abolition leistete. Die ersten engagierten Gegner von Sklavenhandel und Sklaverei in Großbritannien fanden sich bei den protestantischen Quäkern. 1787 gründeten sie die Society for the Abolition of the Slave Trade, die im Parlament unterstützt wurde von Henry Brougham und William Wilberforce, einem evangelikalen Anhänger der anglik. Kirche, der 1789 im Parlament erstmals gegen den Sklavenhandel sprach. Im Parlament wurde neben religiösen und humanistischen Argumenten auch die Theorie von der Überlegenheit freier Lohnarbeit gegenüber Sklavenarbeit vorgebracht, die Adam Smith (Vom Wohlstand der Nationen, 1776) entwickelt hatte. Die Parlamentsdebatten wurden von massenwirksamen Kampagnen zur Unterschriftensammlung unter Petitionen ge2
gen die Sklaverei begleitet. 1807 wurden der Sklavenhandel von engl. Häfen aus und die Einfuhr von Sklaven in engl. Kolonien verboten. Damit war Großbritannien nach Dänemark (1803) das zweite Land, das diesen Handel abschaffte. Der folgende brit. Kampf gegen den Sklavenhandel in die am. Kolonien anderer Mächte und auf dem →Atlantik wurde auch aus Interesse an der Bekämpfung der Konkurrenz auf internationalen Märkten geführt, was nicht bedeutet, daß die religiösen und humanistische Motivation vieler Sklavereigegner nicht ernst gemeint gewesen wären. Auch in den USA waren die Quäker (John Woolman, Anthony Benezet) die ersten, die die Sklaverei kritisierten. Hier wurden – mit regionalen Ausnahmen – ab 1774 keine Sklaven mehr eingeführt. Ab 1807 war auch die Beteiligung am Sklavenhandel in andere am. Regionen verboten. Die Sklaverei wurde in den Nordstaaten zwischen 1777 (Vermont) und 1804 (New Jersey) aufgehoben, wobei in einigen Staaten die Kinder von Sklaven erst im Alter von 21 bis 28 Jahren freigelassen wurden, so daß es bis ca. 1830 Sklaven in den Nordstaaten gab. Banken und Kaufleute des Städte des Nordens, allen voran New York, profitierten auch danach noch von der Sklaverei und vom Sklavenhandel innerhalb der USA. Im Vorfeld des →Am. Bürgerkriegs setzten sich die Liberale Partei (1840–1848), die FreeSoil-Party (1848–1854) und die Republikanische Partei (gegr. 1854) für die Abschaffung der Sklaverei ein. Abraham →Lincoln deklarierte aber erst während des Bürgerkrieges 1863 die Abolition der Sklaverei. In den Südstaaten wurde die Abolition nach dem Sieg des Nordens im Am. Bürgerkrieg 1865 durchgesetzt. Dabei kämpften auf Seiten des Nordens afroam. Einheiten (180 000 Mann in der Army, 30 000 in der Navy, 33 000 Tote), die allerdings auch in den Truppen der nördlichen Bundesstaaten massiver Rassendiskriminierung begegneten. Die AntiSlavery Society löste sich nach der Verabschiedung des 13. Amendments zur US-Verfassung, das die Sklaverei verbot, und des 14. Amendments, das den Afroamerikanern Bürgerrechte gewährte, auf. In Frankreich wurde die Kritik an Sklavenhandel und Sklaverei von Denkern der →Aufklärung wie Montesquieu, →Raynal und Diderot in die Öffentlichkeit getragen. Seit 1788 gab es die Gesellschaft der Societé de Amis des Noirs. Als die Jakobiner 1794 die Sklaverei aufhoben, war das eine Folge des Sklavenaufstandes von St. Domingue, weniger der Tätigkeit der Abolitionisten in der frz. Metropole. Nach der Restauration von 1814 wurden die Abolitionisten unter Ludwig XVIII. als Republikaner betrachtet und von den Ultraroyalisten wegen ihrer guten Beziehungen zu den engl. Sklavereigegnern als Landesverräter diffamiert. 1817 wurde offiziell der Sklavenhandel in die frz. Kolonien untersagt, das Verbot wurde aber ständig unterlaufen. Nach der Februarrevolution 1848 erließ die Rep. das Abolitionsdekret vom 27.4.1848. Unter Ks. Napoleon III. wurde zwar die Sklaverei nicht wieder eingeführt, aber der farbigen Bevölkerung wurden ihre politischen Rechte wieder entzogen. Gesetze gegen vagabondage, Paßgesetze und Kopfsteuer zwangen die ehem. Sklav/innen weiter auf den Plantagen zu arbeiten, wer sich weigerte, wurde zu Zwangsarbeit in Ketten verurteilt. 1865 wurde in Spanien eine abolitionistische Ge-
A bo ri g i n es
sellschaft gegründet. Einer der ersten Akte der ersten span. Rep. (1873/74) war, die Sklaverei in Puerto Rico im März 1873 abzuschaffen. Die Einführung des Patronats (1880), einer Übergangsperiode zwischen Sklaverei und Freiheit, während derer die patrocinados weiter für ihre Besitzer arbeiten mußten, allerdings etwas Lohn bekamen und sich leichter freikaufen konnten und die endgültige Abolition der Sklaverei in Kuba (1886) durch Spanien stand in Zusammenhang mit der Entwicklung dieser abolitionistischen Bewegung im Mutterland, die sich schließlich gegen die Lobby der kubanischen Sklavenhalter in Madrid durchsetzte, und dem Zehnjährigen Krieg in Kuba, der die kubanische Zuckerplantagenwirtschaft (→Zucker) ruiniert und gezeigt hatte, daß die Sklaverei auf Dauer nicht haltbar war. Die Sklaveneinfuhr nach Brasilien endete erst um 1850, obwohl der Sklavenhandel nach einem 1826 zwischen Brasilien und Großbritannien geschlossenen Vertrag 1830 offiziell abgeschafft worden war. Die Beendigung des Sklavenhandels war im wesentlichen auf Druck Großbritanniens zustande gekommen, einzelne einheimische Sklavereigegner hatten bis dahin kaum an Einfluß gewonnen. 1871 wurden die von einer Sklavin geborenen Kinder für frei erklärt (Lei Rio Branco/Lei do ventre livre). 1885 wurden die über 60-jährigen Sklaven freigelassen, die aber noch 3–5 Jahre gegen Lohn für ihre Besitzer arbeiten mußten, und der Sklavenhandel zwischen den Provinzen verboten (Lei Saraiva-Cotegipe). Erst 1888 wurde die Sklaverei endgültig abgeschafft, mit der Lei Aurea der Prinzessin Isabel, Regentin während einer Europareise ihres Vaters, Ks. Pedro II. Der Vergleich des brasilianischen A. mit dem US-am. ergibt, daß der sehr viel früher einsetzende A. in den USA stärker von humanistisch-religiösen Motiven bestimmt und sehr viel populärer war, als der späte, v. a. wirtschaftspolitisch motivierte und nur von einer kleinen Minderheit der weißen Bevölkerung getragene A. in Brasilien. Nordam. Antisklavereigesellschaften bezeichneten die Sklaverei als Sünde und als Verstoß gegen Gottes Ordnung und sprachen von der Schuld ihres Landes am Sklavereisystem. Die Gesellschaft in →Rio de Janeiro betonte v. a. die ökonomische Rückständigkeit der Sklavenarbeit, betrachtete Sklaverei als Hindernis für den säkular definierten Fortschritt des Landes und als etwas, das den Ruf ihres Landes im Ausland schädigte. Ein weiterer Unterschied zwischen dem angelsächsischen und lateinam. A. war, daß Frauen in den USA und in Großbritannien eine weit wichtigere Rolle spielten. Zwar engagierten sich auch in Iberoamerika einzelne Frauen gegen die Sklaverei, v. a. über das Medium Literatur, aber es gab kaum weibliche Antisklavereigesellschaften und es fehlte die Verbindung von Feminismus und A., die die brit. und US-am. Bewegung so sehr prägte. Celia M. Azevedo, Abolitionism in the U.S. and Brazil, New York 1995. Robin Blackburn, The Overthrow of Colonial Slavery, 1776–1848, London / New York 1996. Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004. U L R I K E S CHMI E DE R / MI CHAE L Z E US KE
Aborigines sind im weiteren Sinne alle Ureinwohner eines bestimmten Landes oder einer bestimmten Region.
Im engeren Sinne werden darunter heute hauptsächlich die Ureinwohner →Australiens verstanden. Als A., verdeutscht auch Aboriginer, bezeichnete man nach Aurelius Victor, Plinius und anderen römischen Quellen bis Ende des 19. Jh.s ein mythisches Urvolk Italiens, das in Latium gelebt haben soll. Schon in der Antike findet sich die Worterklärung ab origine (lat.), vom Ursprung an. Man verstand darunter ein Volk, welches das ursprüngliche einer bestimmten Region sein sollte und seinerseits von keinem anderen Volk abstammte. Sextus Pompeius Festus und Dionysios von Halikarnassos führten A. auf aberrigines (von aberrare, lat. verirren, abkommen) zurück und schlossen daraus auf eine nomadisierende Lebensweise. Für Sallust waren die A. deshalb eine alte, primitive Nomadengesellschaft, die über keine festen Wohnsitze, keinen Ackerbau und keine Gesetze verfügte. Mit der Übertragung des Begriffes A. auf die Urbevölkerung Australiens durch die angelsächsischen Einwanderer eine Generation nach →Cook (Cook nannte sie einfach natives, →Eingeborene) war deshalb von Anfang an eine negative Konnotation verbunden. Als Nomaden, die weder Ackerbau noch Viehzucht oder Haustierhaltung kannten, wurde den australischen A. in der beginnenden Rassen- und Evolutionslehre die unterste Stufe der Menschheit zugewiesen. Von den britischen Kolonisten wurde ihnen das Menschendasein grundsätzlich abgestritten, ungeachtet der Tatsache, daß die ersten Siedler ohne die Hilfe der A. nicht hätten überleben können. Durch das Infragestellung ihrer Menschlichkeit wurde Australien zum →„terra nullius“, „herrenlosen“ Land, das von der Krone Großbritanniens besetzt und angeeignet werden konnte. Verträge mit den A., wie mit den →Maori auf →Neuseeland (Vertrag von →Waitangi), hielt man nicht für erforderlich, eine Missionierung und Christianisierung der A. für entbehrlich. Die Missionierung erfolgte deshalb erst spät und durch deutsch-protestantische Missionare der →Hermannsburger Mission. Die erste Missionsstation unter den A. entstand 1877 im Northern Territory und erhielt bezeichnender Weise den Namen Hermannsburg (s. a. →Flierl). Die systematische Verdrängung der A. in die für Europäer unbewohnbaren ariden Wüsten- und tropischen Sumpfgebiete und ihre Ausrottung in regelmäßigen Vernichtungszügen und →Massakern, die genozidähnliche Züge trägt, gehört zu den größten Verbrechen in der Geschichte der europäischen Expansion. Im Unterschied zu den →Indianern Nordamerikas wurde von den australischen A. im Kampf um die Eroberung des Landes kein Widerstand erwartet. Joseph →Banks, damals Präsident der Royal Society, empfahl nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung dem Ausschuß für Transportation des britischen Unterhauses am 1. April 1779 die Botany Bay (heute Sydney) als geeignetsten Standort für eine alternative Strafkolonie, weil man von den A. – „extremely cowardly“ – keine Gegenwehr zu befürchten habe. Am meisten verfolgt wurden die A. in Queensland, wo man offizielle Jagdlizenzen auf A. ausgab und die planmäßige Vergiftung von Brunnen und Quellen, die von A. benutzt wurden, noch bis in die 60er Jahre des 20. Js. praktiziert wurde. In allen australischen Kolonien galten die A. gegenüber den Europäern als nicht gleichwertig, was 3
AbujA
rechtliche Sonderbestimmungen zur Folge hatte (z. B. Kettenhaft nur für A. oder Ausschluß vom Wahlrecht, in Queensland von 1885–1965). In der Verfassung des australischen Bundesstaates wurden die A. nur negativ erwähnt, in dem man sie ausdrücklich von jeder Volkszählung ausnahm. Die rassistische und soziale Ausgrenzung und Diskriminierung zeigte sich am heftigsten dort, wo australische Farmer zum „Schutz“ ihres Weideviehs faktisch ungehindert Selbstjustiz übten und im Kontaktbereich europäischer Siedlungen (→Mischehenverbot), wo A.kinder ihren Eltern zwangsweise weggenommen und in staatlichen Pflegeheimen untergebracht wurden (sog. „stolen generation“). A.arbeitern wurde regelmäßig ein Teil des Lohnes einbehalten (sog. „stolen wages“). Nach einer Verfassungsänderung 1967 per Referendum und dem Abbau der sog. →White Australia Policy verbesserte sich die Lage der A. allmählich, zunächst auf politischer Ebene. 1971 rückte der Jagera-Älteste Neville Bonner (1922–1999) als erster A. Parlamentsabgeordneter in den australischen Senat nach, von 1972–1983 war er dort gewählter Senator. Besondere Anerkennung gewannen A. in der Kunst und im Sport. Ansätze zur rechtlichen Gleichstellung und dem Abbau der Diskriminierung wurden im Juni 2007 durch eine staatliche Intervention gegen die A., bei der neben Polizei auch Militär eingesetzt wurde, gestoppt. Die autonome Selbstverwaltung der A. wurde suspendiert und abermals eine Sondergesetzgebung nur für A. proklamiert, die faktisch eine erneute Entmündigung der A. zur Folge hatte. Offizieller Anlaß der Maßnahmen waren Berichte über Kindesmißbrauch und Alkoholismus unter A. Die Interpretation und Durchsetzung der historisch von Europäern deklamierten Menschenrechte bildet weltweit nach der sog. →Dekolonisierung den Hauptinterventionsgrund europäischer Regierungen in außereuropäischen Kulturen und Staaten (s. a. humanitärer →Imperialismus). Nach neueren Untersuchungen sollen die A. genetisch eines der ältesten Völker der Erde repräsentieren. Ihr demographischer Niedergang nach dem Europäerkontakt in Folge von Verdrängung, Verfolgung und Krankheiten (insbesondere Pocken- und Influenzaepidemien) scheint mittlerweile gestoppt. Die Gesamtzahl der australischen A. betrug 2014 etwa eine halbe Million, etwas über 2 % der Bevölkerung Australiens. Den größten Anteil stellen die A. im Northern Territory, wo etwa ein Drittel der Bevölkerung A. sind. Q:(Oralgeschichte von A.): Luise Anna Hercus / Peter Sutton (Hg.), This Is What Happened, Canberra 1986. Jennifer Isaacs (Hg.), Australian Dreaming, Sydney 1980. Henry Reynolds, Dispossession, Sydney 1989 (Dokumentenslg.). L: Richard Broome, Aboriginal Australians, Sydney 1982,42010. David Horton (Hg.), The Encyclopaedia of Aboriginal Australia, 2 Bde., Canberra 1994. Gerhard Leitner, Die Aborigines Australiens, München 2006, 22010. HE RMANN HI E RY Abuja ist seit dem 12.12.1991 Hauptstadt der Bundesrep. →Nigeria. Der Ort wurde im 19. Jh. von einer HausaGruppe (→Hausa) aus Kano besiedelt, die später das Emirat von A. gründete. Das neue Machtzentrum wurde nach ihrem Führer (Abu Ja: „Abu der Rote“, auf Grund 4
seiner hellen Haut) benannt. Mit den administrativen Reformen des brit. Gouv.s Lord →Lugard Anfang des 20. Jh.s verlor das Emirat weite Teile seines Herrschaftsgebiets und überdauerte lediglich als kleiner Bezirk die brit. Kolonialverwaltung. Die alte Hauptstadt →Lagos ist die bevölkerungsreichste Stadt Nigerias. Angesichts ihrer demographischen und infrastrukturellen Probleme beschloß die Bundesreg. 1976, die Hauptstadt nach A. zu verlegen. A. liegt in einem dünn besiedelten Gebiet in der geographischen Mitte Nigerias. Das Federal Capital Territory, dessen Hauptstadt ebenfalls A. ist, entstand aus der Neugestaltung der zentralen Bundesstaaten. Nach offiziellen Statistiken betrug die Ew.-zahl schon zu Beginn 250 000 Menschen. Der Ausbau erfolgte durch europäische Baufirmen und geriet infolge finanzieller Probleme immer wieder in Verzug. Doch erlaubten die Einkünfte aus dem Erdölexport groß dimensionierte Umsiedlungen und den Bau einer modernen Infrastruktur (internationaler Flughafen, Verwaltungs- und Geschäftsgebäude, Krankenhäuser usw.). In A. lebten 1991 ca. 372 000 Menschen, 2006 waren es schon 1,4 Mio. Das Stadtgebiet ist in mehrere Bezirke aufgeteilt. Als Hauptstadt des Federal Capital Territory wird A. von einem Bundesminister verwaltet und durch einen Senator in der nigerianischen Nationalversammlung vertreten. Sydney J. Hogben / A. H. M Kirk-Green, The Emirates of Northern Nigeria, Hampshire 1993. Y O U SSO U F D IA LLO
Acapulco. Heute A. de Juárez, Hafenstadt an der Pazifikküste →Mexikos, galt bereits im 16. Jh. als bester natürlicher Hafen am Pazifik. A. gehörte als Gelegenheitshafen zunächst zu unterschiedlichen Jurisdiktionen mit im Inland gelegenen Hauptorten. Bereits 1532 verließ eine erste span. Expedition den Hafen, bevor Hernán →Cortés von A. aus Schiffe mit Lebensmitteln zu Francisco de →Pizarro nach →Peru sandte. In den 1560er Jahren fuhr die Asienexpedition von M. López Legazpi ebenso von A. ab wie der asienerfahrene Fray Andrés de Urdaneta, der auf der Rückreise die günstigste Route von den →Philippinen nach Neuspanien mit A. als Zielhafen entdeckte. Zu jener Zeit bestand dort eine Mole und eine Ansiedlung, die →Philipp II. zur Villa und →Karl IV. 1799 zur Stadt erhoben. Mit der Erhebung zum einzigen legalen Hafen für →Schiffahrt und Handel 1592 (Nao de Filipinas) erlebte die Ortschaft einen Aufschwung, wurde nach Plänen des in Neuspanien tätigen Holländers Adrian Boot befestigt (Fuerte de San Diego) und 1617 einem Kastellan der Festung unterstellt, der nach und nach seine Befehlsgewalt über die langsam wachsende Stadt und den Distrikt ausweitete. Der Asienhandel ließ Hafen und Festung schon bald zum Ziel ausländischer Angriffe werden. 1624 besetzte eine ndl. Flotte unter dem Prinzen von Nassau ohne Widerstand Ortschaft, Festung und Bucht, da Besatzung und Bevölkerung ins Inland ausgewichen waren. In der Folge ließ der Vize-Kg. die Festung weiter ausbauen. In Verbindung mit der Zunahme des Philippinen- und des Handels entlang der Pazifikküste entwickelte sich der Hafen zunehmend zu einem wichtigen Zentrum kommerziellen, kulturellen und auch demographischen Austauschs zwischen →Amerika und
A ceh
Fernost mit einer bedeutenden Messe bei Ausfahrt und Ankunft der Manilaflotte. Mit der Errichtung der privilegierten Handelskompanie der Philippinen durch die Krone 1778, dem gleichen Jahr der Einführung des →Freihandels im übrigen span. Südamerika, begann A. an wirtschaftlicher Bedeutung zu verlieren. Angesichts des sich intensivierenden Schiffsverkehrs um Kap Hoorn zur angloam. Westküste im 19. Jh. und als Zwischenstation der schnellsten Schiffs- und Nachrichtenverbindung zwischen Asien und Europa bis zur Eröffnung des →Suezkanals spielte A. als Pazifikhafen weiterhin eine wichtige Rolle, bevor es im 20. Jh. zu einer internationalen Touristikmetropole aufstieg. Pierre Chaunu, Les Philippines et le Pacifique des Ibériques (XVIe, XVIIe, XVIIIe siècles), 2 Bde., Paris 1960– 1966. Dennis O. Flynn u. a. (Hg.), European Entry into the Pacific, Aldershot u. a. 2001. William Lytle Schurz, The Manila Galleon, New York 1939. HORS T P I E T S CHMANN
Accra ist seit 1957 die Hauptstadt von →Ghana. Sie wurde im 15. Jh. von den Ga (Gâ) gegründet. Die Entstehungsgeschichte dieser Küstenstadt ist eng mit der Entwicklung des Handels mit Gold, Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), Feuerwaffen usw. verbunden. Im 16. und 17. Jh. errichteten die Portugiesen, die Dänen, die Brandenburger und die Briten entlang der Goldküste Festungen – u. a. am heutigen Reg.ssitz Christiansborg. Um die Festungen entwickelten sich städtische Siedlungen der Küstengruppen und Mittelsmänner, die dort Handel trieben. Anfang des 19. Jh.s entstanden in A. europäische Stadtteile wie British Jamestown, Dutch Accra usw. 1858 und 1862 zerstörten mehrere Erdbeben die Stadt und einige ihrer Forts. 1873/74 brachten die Briten das Gebiet unter ihre Kontrolle; nach ihrem Sieg über die Reiche der →Ashanti des Hinterlands, deren kommerzielle Politik auch an der Küste dominierte, erklärten sie die Goldküste zur brit. →Kronkolonie. 1877 wurde A. Verwaltungshauptstadt. Die wirtschaftliche Erschließung lag in den Händen von Handelskompanien, die auch große Investitionen wie den Eisenbahnbau Accra-Kumasi vorantrieben. Die Christianisierung, die Schulbildung und der neue ökonomische Impuls des Kakaobooms (→Kakao) ab den 1920er Jahren führten zur Herausbildung einer europäisierten urbanen Elite (Anwälte, Ärzte, Lehrer, Kaufleute, Journalisten) sowie politischer und kultureller Vereinigungen. A. verfügte schon früh über eine gute entwickelte Presse und wurde zur Drehscheibe des afr. Nationalismus. In A. fand 1920 die Gründungskonferenz des National Congress of British West Africa statt. Die Unabhängigkeitsbewegung gelangte über breit gestreute Aktivitäten wie Demonstrationen (etwa der Kriegsveteranen 1948) und Boykotte, aber auch Forumsdiskussionen und entspr. Petitionen schon 1957 an ihr Ziel. John W. Blake, European Beginnings in West Africa 1454–1578, London 1937. Richard F. Burton, Wanderings in West Africa, New York 1991. Imanuel Geiss, Panafrikanismus, Frankfurt/M. 1968. YOUS S OUF DI AL L O
Aceh (ältere Schreibweisen Atjèh, Acheh, Achin) ist heute eine Provinz Indonesiens mit speziellen Befugnissen. In der Geschichte des westlichen Teils des Indischen Archipels hat es immer eine sehr spezifische Rolle gespielt. Hier entstanden die ersten islamischen Königreiche (erster Bericht Marco →Polos 1292). Ebenfalls hier fanden die ersten erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den eindringenden europäischen Kolonialmächten und einheimischen Fürsten statt. Der Aufstieg A.s war die direkte Folge der Eroberung →Malakkas 1511 durch die Portugiesen. Bereits kurz danach war es Sultan Ali Mughayat Shah gelungen, weitere kleinere Königreiche um sich zu vereinigen und die portugiesischen Vorposten in Nordsumatra auf Dauer zu vertreiben. Die aus Malakka geflohenen einheimischen und internationalen Händler ließen sich in A. nieder und verhalfen dem Königreich zu einem rasanten Aufschwung. Die Auseinandersetzung mit den christlichen Portugiesen festigte das Bündnis mit den osmanischen Kalifen und führte A. in die globale Auseinandersetzung zwischen islamischer und christlicher Welt. Den Höhepunkt seiner Macht erreichte A. unter Sultan Iskandar Muda (1607–1636), als es nicht nur den Entrepot-Handel in der Malakka-Straße kontrollierte, sondern auch den indigenen Handel mit →Zinn, →Pfeffer und →Kampfer. Die zunehmende Dominanz der Holländer in der Region beendete diese Blütezeit aber ab der Mitte des 17. Jh.s. Nach der Eroberung Malakkas 1641 gelang es ihnen, den Handel in der MalakkaStraße zunehmend zu kontrollieren bzw. auszuschalten und auch das Monopol A.s über den Pfeffer- und Zinnhandel zu brechen. Als selbständiges Sultanat gelang es A. aber, die wechselvolle Geschichte der nächsten 200 Jahre zu überstehen. Noch im Zuge des →Londoner Vertrages von 1824 waren Niederländer und Engländer überein gekommen, A. als unabhängigen Staat bestehen zu lassen. Eskalierende Konflikte und die historischen Rahmenbedingungen stellten den status quo aber immer mehr in Frage. Bereits während der →Padri-Kriege in Westsumatra hatte A. aus seinen Sympathien mit den Padris keinen Hehl gemacht. Innere Konflikte zwischen der Zentralregierung und den nach Autonomie strebenden Außengebieten hatten nicht nur eine innenpolitische Destabilisierung zur Folge, sondern auch außenpolitische Rückwirkungen in Form von Konflikten über die Kontrolle des Außenhandels. Es folgten Grenzkonflikte mit den immer weiter auf →Sumatra vordringenden Niederländern. Verschärfend kam hinzu, daß weitere Kolonialmächte – v. a. Frankreich und die USA – Interesse an dem schwächelnden A. hatten, was sowohl Engländer wie auch Holländer beunruhigte. A. selbst war sich seiner problematischen Lage bewußt und unternahm eine Reihe diplomatischer Versuche, sich anderweitiger Unterstützung zu versichern. Obwohl alle diese Versuche im Sande verliefen, deuteten die Niederländer sie als „Verrat“. Unter diesen Umständen überdachte England seine A.-Politik grundlegend und kam zu dem Ergebnis, daß ein holländisch beherrschtes A. mit englischen Handelsrechten erstrebenswerter war als der status quo. In einem weiteren holländisch-englischen Vertrag erhielten dann die Niederlande 1871 freie Hand in A. im Austausch für 5
A c o s tA, j os é d e , s j
die Goldküste in Westafrika und das Recht, in →Indien Arbeitskräfte für Westindien zu rekrutieren. Die Niederländer ließen sich nicht viel Zeit. Bereits im Frühjahr 1873 forderte ein holländischer Gesandter unter dem Vorwand der Pirateriebekämpfung vom Sultan, A. solle die Souveränität der Niederlande anerkennen. Nach der Ablehnung A.s begann der holländische Angriff bereits im April des selben Jahres. Nach zehn Tagen mußte sich das holländische Expeditonskorps allerdings nach starken Verlusten und dem Tod ihres Oberkommandierenden wieder einschiffen. Einer stärkeren Streitmacht von 8.000 Mann einschließlich Kavallerie und Artillerieeinheiten gelang es dann später im Jahr die Hauptstadt Kuta Raja einzunehmen. Der vermeintliche Sieg war aber trügerisch und eröffnete nur den längsten und blutigsten Krieg der niederländischen Kolonialgeschichte. Für die nächsten Jahre waren die Holländer nicht in der Lage, eine effektive Kontrolle über die Umgebung der Hauptstadt hinaus auzuüben. Trotz großer militärischer Anstrengungen waren sie schließlich 1885 gezwungen, sich auf eine Verteidigungslinie um Kuta Raja herum zurückzuziehen, was den Widerstandswillen der A.er noch mehr beflügelte, da sie sich im militärischen Vorteil sahen. In der Folgezeit versuchten verschiedene Gouverneure mit unterschiedlichen Taktiken vergeblich das Kriegsglück zu wenden. Eine substantielle Änderung trat erst ab 1896 ein, als die Regierung in →Batavia beschloß, den Krieg, koste es was es wolle, siegreich zu beenden. Spezielle, für den Dschungelkrieg geeignete Einheiten wurden aufgestellt, um ein Entweichen der Guerilla zu verhindern. Der Bevölkerung versuchte man mit ökonomischen und sozialen Maßnahmen entgegenzukommen, während man die Anführer der Rebellion, v. a. die islamischen Ulama, mit aller Härte verfolgte. Um den Islam als Nexus des Widerstands zu entschärfen, nahmen die Niederländer konsularische Beziehungen mit Mekka auf und ermutigten die A.er zur Pilgerfahrt. 1903 ergab sich dann der Sultan endgültig der militärischen Übermacht. Die letzten Regionen im Innern wurden durch eine äußerst brutale militärische Kampagne General van Daalens 1904 erobert, während derer ganze Dörfer mit Frauen und Kindern niedergemetzelt wurden. Letzter organisierter Guerilla-Widerstand der Ulama konnte erst 1910–12 gebrochen werden. Der Krieg war vorbei und hatte schätzungsweise 20 % der Bevölkerung das Leben gekostet. Für die Niederlande war dieser „Sieg“ enorm wichtig, da er Kritik im Mutterland endlich zum Verstummen brachte und in →Niederländisch-Indien endlich demonstrierte, wer der Herr im Haus war. Ruhig wurde es aber nie in A. Statt dessen hatte der lange Krieg die soziale Struktur der Gesellschaft A.s grundlegend verändert. Während vor und zu Beginn des Krieges die Gesellschaft ganz auf den Sultan und den traditionellen Adat-Adel ausgerichtet war, verschob sich dieses Verhältnis im Verlauf des Krieges und danach zu den islamischen Anführern, den Ulama, die in dem Maße den Widerstand auf sich fokussierten, in dem die traditionellen Autoritäten in das koloniale System integriert wurden und sich der Gesellschaft entfremdeten. Auch die Geistlichkeit selbst wandelte sich grundlegend. War sie vor Beginn des Krieges noch konservativ und regional bezogen, mußten sie 6
sich bei Übernahme der gesellschaftlich führenden Rolle zunehmend öffnen. Dieser Prozeß setzte sich während der kolonialen Herrschaft fort. Es entstand eine aufgeklärte, modernistisch orientierte Geistlichkeit. Religion, Modernisierung und antikolonialer Geist verschmolzen zu einer Einheit, die nur darauf wartete, einen entscheidenden Schlag gegen das verhaßte Kolonialregime zu führen. Dieser Zeitpunkt kam Mitte Februar 1942, als angesichts der bevorstehenden Invasion der Japaner ein Aufstand losbrach, dem gleich zu Beginn der holländische Gouverneur zum Opfer fiel und der sich am 7. März in einen allgemeinen Volksaufstand ausweitete. Als fünf Tage später japanische Truppen von Malaya übersetzten, hatten die Holländer den nördlichen Teil A.s bereits geräumt. Sie sollten nie mehr zurückkehren. Christiaan Snouck Hurgronje, The Achehnese, Leiden 1906. Anthony Reid, The Contest for North Sumatra – Atjeh, the Netherlands and Britain 1858–1898, Kuala Lumpur 1969. Ders. (Hg.), Verandah of Violence – the Background to the Aceh Problem, Singapore 2006. FRITZ SC H U LZE
Acosta, José de, SJ, * Oktober 1540 Medina del Campo, † 15. Februar 1600 Salamanca, □ unbek., rk. A., der mit zwölf Jahren in den Jesuitenorden (→Jesuiten) eintrat, wurde nach Priesterweihe (1566) und Studium (Alcalá, 1559–1567) Theologie-Prof. in der Extremadura. In →Lima, wohin er 1571 auf eigenen Wunsch entsandt wurde, lehrte der versierte Prediger an der Universität San Marcos (1574–1581) und war Berater der Inquisition. Als Ordensprovinzial von →Peru (1576–1581) bereiste er das Andenhochland, gründete Jesuitenkollegien (→Kollegium) und stritt mit Vize-Kg. →Toledo über Missionspolitik. A. nahm 1582/83 am Dritten Konzil von Lima, teil, das wegweisend für Kirchenrecht und Mission der Kolonialzeit wurde. Er redigierte die hier beschlossenen katechetischen Schriften, die 1584/85 dreisprachig (Spanisch, Quechua, Aymara) in Lima erschienen. Nach 14 Jahren verließ der barocke Jesuit Peru und verbrachte ein Jahr (1586/87) in →Mexiko. Bald nach A.s Rückkehr nach Spanien (1587) wurden seine wichtigsten Werke publiziert: De Procuranda Indorum Salute (DPIS, 1588) und die Historia Natural y Moral de las Indias (HNMI, 1590). 1590 veröffentlichte er in Rom De Temporibus Novissimis, eine Abhandlung gegen millenaristisches Gedankengut in Peru. Die Zeit zwischen 1588 und 1594 war zudem geprägt von diplomatischen Aktivitäten zwischen Madrid und Rom. Bei Kg. und Papst erreichte A. die Approbation der Konzilsbeschlüsse von Lima, geriet aber auch in Konflikt mit Ordensgeneral Aquaviva (Verteidigungsschrift, 1593). Nach drei Jahren in Valladolid wechselte er 1596 nach Salamanca, wo er eine Predigtsammlung (Conciones, 3 Bde., 1596–1599) veröffentlichte und Rektor des Jesuitenkollegs wurde. Dort starb A. am 15.2.1600. 1576/77 formulierte A. seine Missionstheorie im lateinischen Traktat DPIS, der erst 1588 zensiert in Salamanca erschien. Da die Missionsmethoden abhängig von der kulturellen Entwicklung der Nichtchristen seien, ordnete er diese in ein dreistufiges System. Kriterien waren die politische Ordnung und Schriftsysteme: (1) Chinesen, Japaner (Mission durch
A dA , P ed ro PAn g eli nA n
Überzeugung), (2) Inka, Azteken (Erhalt von Bräuchen, die nicht im Widerspruch zur Bibel standen), (3) „Wilde“ (Mission nach „Zivilisierung“). Obwohl er in Peru koloniale Institutionen wie →Encomienda, →Reducción und →Mita befürwortete, prangerte er Mißbräuche an. A., der den Teufel als Quelle indigener „Idolatrie“ ansah, sprach sich gegen die Zerstörung von „Götzenbildern“ aus und forderte, daß Missionare in autochthonen Sprachen lehrten. Seine einflußreiche Missionstheorie wurde in Europa (Köln 1596, Lyon 1670) und Asien (→Manila 1858) ediert. Sein einziges span.-sprachiges Werk (Sevilla 1590) war die HNMI. Neben eigenen Beobachtungen stützte er sich auf antike Autoren, auf Chronisten und Manuskripte (Polo de Ondegardo, Juan de Tovar). A. führte empirisch fundierte Erklärungen für die beschriebenen Phänomene an, die er in sieben Büchern der „Natur- und Sittengeschichte“ interpretierte. In den ersten vier Büchern entfaltete er eine Enzyklopädie von →Geographie und →Klima, Flora und Fauna →Amerikas, besonders der Tropen. Die Herkunft von Menschen und Tieren in der „Neuen Welt“ erklärte er, lange vor der Beringstraßen-Theorie, mit einer Landbrücke zwischen Amerika und Asien. Die letzten drei Bücher behandeln systematisch und vergleichend indigene Kulturen Amerikas, besonders der Azteken und Inka. Die HNMI erlebte mehrere Auflagen und war zu Beginn des 17. Jh.s bereits in fünf europäische Sprachen übersetzt; 1605 erschien die erste (bisher einzige) vollständige dt. Übersetzung. Das Buch über Natur und Ethnographie Amerikas wurde früh als Standardwerk in ganz Europa rezipiert; A. galt im 18. Jh. als „Plinius der Neuen Welt“, den Alexander von →Humboldt schätzte. Q: José de Acosta, S.J. [1588], De Procuranda Indorum Salute. Hg. v. De Luciano Pereña u. a., 2 Bde., Madrid 1984–87. José de Acosta, S.J. [1590], Historia natural y moral de las Indias, hg. v. Edmundo O’Gorman, MexikoStadt 21962. L: Claudio M. Burgaleta, José de Acosta, Chicago 1999. OT TO DANWE RT H Acts of Trade and Navigation. Auf Oliver Cromwells Verordnung von 1650 zurückgehende gesetzliche Regelung des engl. Außenhandels i. allg., des Handels der engl. Kolonien im besonderen; ein Erlaß vom 23.1.1646/47 hatte wie auch das Gesetz vom 9.10.1651 den Kolonien einerseits Zollfreiheit im Handel mit England gewährt, andererseits den Handel auf Schiffe im engl. oder kolonialen Besitz beschränkt. Ziel war es, ndl. Schiffe vom engl. Kolonialhandel auszuschließen. Die weiteren Gesetzesänderungen wurden 1696 in einem umfassenden Gesetz zusammengefaßt, welches die Grundlage des engl. Kolonialhandels bildete. Die wichtigsten Bestimmungen waren: Alle Schiffe, die Waren nach Nordamerika oder zu den brit. →Westind. Inseln brachten, hatten ihre Waren zuvor in einem kolonialen oder engl. Hafen der Inspektion des engl. Zolls zu präsentieren. Alle am Kolonialhandel beteiligten Schiffe waren in einem zentralen Register zu erfassen. Bestimmte Waren (sog. „enumerated goods“) durften nur nach England exportiert werden. Dazu gehörten →Tabak, →Zucker, →Baumwolle, Wolle, Indigo, Ingwer, zum Färben geeignete Holzarten und Schiffbaumaterialien;
1704 wurden Melasse, →Reis und Hanf (3 & 4 Anne, c. 5) und 1721 →Pelze und Kupfer (8 Geo I, c. 18, 18) in diese Liste aufgenommen. Allerdings wurde 1730 (3 Geo II, c. 28) der direkte Reisexport in die europäischen Länder südlich von Cap Finisterre wieder erlaubt. 1735 wurde dieses Privileg auf Reis aus der jungen Kolonie Georgia ausgedehnt (8 Geo II, c. 19). Die Regeln zur Durchsetzung dieser Bestimmungen wurden bis Anfang der 1760er Jahre eher dilatorisch angewandt. Erst die neuen Handelsgesetze nach dem →Siebenjährigen Krieg (v. a. der Sugar Act [4 Geo III, c. 15]) von 1764 und die Gesetze zur Reorganisation des Zollwesens (Gründung einer eigenständigen am. Zollverwaltung durch 7 Geo III, c. 41, vom 29.6.1767) sollten dies gründlich ändern und die kolonialen Kaufleute dem Mutterland entfremden. Die engl. Handelsgesetze stellten wie ihre frz., ndl. und span. Gegenstücke Versuche dar, dem atlantischen Handel nationale Spielregeln zu oktroyieren. Das außerordentliche Ausmaß an Schmuggel zeigt, daß dies nur in einem beschränkten Maße gelang. Thomas C. Barrow, Trade and Empire, Cambridge, MA 1967. Claudia Schnurmann, Atlantische Welten, Köln 1998. H ERMA N N WELLEN REU TH ER Acuña, Cristóbal de, SJ, * 1597 (genaues Datum unbek.), Taufe 5. März Burgos, † 23. August 1670 Lima, □ Priestergrab Gethsemane-Friedhof Lima, rk. Trat 1612 in den Orden der →Jesuiten ein, kam ca. 1620 nach →Peru und arbeitete bei den Mapuche im Süden. 1634 wechselte er in das Missionsgebiet von →Quito, wurde 1636 Rektor des Jesuitenkollegs (→Kollegium) in Cuenca, begleitete 1639 den Portugiesen Pedro Texeira von Quito nach Pará und reiste 1640 zur Berichterstattung nach Spanien. Sein 1641 veröffentlichter Bericht zu →Geographie und Ethnographie des bereisten Amazonasgebiets (→Amazonas) ist eine wichtige Quelle der Ethnohistorie. 1644 zurück in →Amerika arbeitete er zuletzt am Jesuitenkolleg San Pablo in →Lima. Christoval de Acuña, Nuevo descubrimiento del gran río de las Amazonas [1641], Bonn 1991. BER N D SCH MELZ Ada, Pedro Pangelinan, * 17. Februar 1866 Agaña, Guam, † 1911 Garapan, Saipan, □ Guam, rk. A., ein →Chamorro aus Guam, zog 1893 mit seiner Familie nach Saipan. Dort wurde er mit Errichtung der dt. Kolonialverwaltung unter Bezirksamtmann Georg →Fritz zu dessem wichtigsten Ratgeber u. Vertrauten. Dolmetscher für d. Kolonialverwaltung, Kaufmann u. Inhaber mehrerer Plantagen u. Geschäfte. Aktiv v. a. im Koprahandel. A. war der Pächter einiger kleiner Inseln u. verfügte über eine eigene Handelsflotte, die seine Produkte bis nach Japan brachten. Gerichtsbeisitzer. Als der Kolonialverwaltung auffiel, daß A. kein Spanier (die als Europäer in dt. Kolonialgerichtsverfahren Beisitzer sein durften), sondern „Eingeborerener“ war, beantragte A., auf den Rat u. die Empfehlung – „der angesehenste unserer Marianen-Eingeborenen, von erprobter Rechtschaffenheit“ – von Fritz am 7.4.1904 die Reichsangehörigkeit, zusammen mit seiner Frau Maria Crisostomo Martinez (* 10. Februar 1867), aber – um etwaige Probleme mit der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland 7
A d A m s , j ohn
von vornherein auszuschließen – „unter Ausschluß“ der Kinder. Die Verleihung der Reichsangehörigkeit an beide A. erfolgte am 23.11.1904. Sie war die erste Naturalisation indigener Bew. einer dt. Kolonie überhaupt. Pedro u. Maria A. blieben bis 1914 die einzigen indigenen Pazifikinsulaner, die die dt. Reichsangehörigkeit erhielten. Der älteste Sohn Josef Martinez A. (* 28. Januar 1885 Agaña, Guam) u. der Sohn Antonio Martinez A. (1889–1928), ein enger Freund von Fritz, gingen 1906 zur Ausbildung nach Deutschland. Sie wurden Berufsfotograf u. Seifensieder. Die A.-Seifenfabrik in Saipan, später Guam, die Seife aus Kokosöl herstellte, war die erste in Mikronesien u. exportierte bis China. Die Familie war sowohl ökonomisch wie politisch überaus erfolgreich. Pedro Joaquin Martinez A. (* 3. März 1903 Garapan, Saipan, † 14. November 1995 Guam) wurde der erste ChamorroMillionär; der Urenkel Joseph F. Ada war Gouverneur von Guam (1987–1995). Q: BA, RKolA 5151 (Naturalisation Ada). L: www.guampedia.com (nur über die Kinder; 7.7.2014). HE RMANN HI E RY
Adams, John, * 30. Oktober 1735 Braintree (Quincy), † 4. Juli 1826 Braintree (Quincy), □ United First Parish Church / Quincy, unitar. Der neuengl. Jurist und Staatsphilosoph A. gehörte 1776 als einer der angesehensten Delegierten des in Philadelphia tagenden Zweiten Kontinentalkongresses zu den scharfsichtigsten Vordenkern und entschiedensten Fürsprechern der am. Unabhängigkeitserklärung. Als erster Vize-Präs. und zweiter Präs. der neugegründeten →Vereinigten Staaten von Amerika war er zudem der Garant einer ungebrochenen demokratischen Entwicklung dieser ersten föderalen, auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründenden Rep. der Neuzeit. Geboren wurde A. am 30.10.1735 im unweit von →Boston gelegenen Braintree, dem heutigen Quincy. Er war der älteste Sohn des Farmers und Schumachers John Adams Sr., eines glaubensfesten Puritaners, der einer seit 1638 in Neuengland ansässigen Familie entstammte. Auch A. Mutter, Susanna Boylston, blickte auf eine lange, vom Puritanismus geprägte Familientradition in Massachusetts zurück. Von seinen Eltern zu einem moralisch anspruchsvollen und integeren Lebenswandel angehalten, wollte A. zunächst selbst Farmer in Braintree werden, was ihm sein ehrgeiziger Vater jedoch auszureden verstand. Statt dessen schickte dieser seinen begabten Erstgeborenen auf eine Privatschule und verkaufte schließlich zehn Morgen seines besten Farmlandes, um dem Sohn ab 1750 ein Studium am →Harvard College finanzieren zu können. Im Anschluß an seine Studienzeit wurde A. ab 1755 zunächst Lehrer, dann Praktikant in der Kanzlei eines Rechtsanwaltes. Nach der 1759 gewährten Zulassung als Verteidiger vor Gericht und der 1764 erfolgten Eheschließung mit seiner Jugendliebe Abigail Smith, die ihm eine intellektuell völlig ebenbürtige Partnerin war und seine Karriere entscheidend mitgestaltete, wurde er bis 1774 einer der erfolgreichsten Anwälte Bostons. Als ein an Cicero geschulter Rhetor beeindruckte er seine Zuhörer so sehr, daß ihn viele für einen der besten Redner seiner Zeit hielten. Weil er sich nach dem →Siebenjährigen Krieg 8
in pointierter Weise gegen die einseitige Besteuerung der Amerikaner durch die brit. Krone zur Wehr setzte, durfte er seine Heimatkolonie Massachusetts im Ersten und Zweiten Kontinentalkongreß als Delegierter vertreten. Dort betrieb er nach dem 1775 erfolgten Ausbruch des Am. Unabhängigkeitskrieges hartnäckig die politische Loslösung der am. Kolonien vom engl. Mutterland. Nach Verabschiedung der von ihm redigierten Unabhängigkeitserklärung arbeitete er 1779/80 die noch heute gültige republikanische Verfassung von Massachusetts aus, die erste moderne Verfassung, über die eine betroffene Bevölkerung selbst abstimmte. Im weiteren Verlauf des Unabhängigkeitskrieges wurde A. als am. Botschafter nach Paris und Den Haag entsandt, wo er gemeinsam mit Benjamin →Franklin den brit.-am. Friedensvertrag von 1782/3 aushandelte und die Aufnahme am.-ndl. Wirtschaftsbeziehungen anregte. Als am. Gesandter in London legte er 1787 seine wohl bedeutendste staatsphilosophische Schrift A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America vor, in der er sich für ein demokratisch-republikanisches Verfassungssystem mit sog. „checks and balances“ aussprach, also für eine Aufteilung der Staatsgewalt zum Zwecke der Sicherung von Freiheit auf drei Verfassungsorgane, wie sie schließlich auch in der 1788 ratifizierten Bundesverfassung der USA festgeschrieben wurde. Nachdem A. dann ab 1789 acht Jahre lang an der Seite des ersten US-Präs. George →Washington die Amtsgeschäfte eines VizePräs. geführt hatte, wurde er 1797 zum zweiten Präs. der Vereinigten Staaten gewählt. Während seiner bis 1801 währenden Präsidentschaft, in der er den von Washington vorgegebenen Kurs der außenpolitischen Neutralität mit Ruhe und Augenmaß fortsetzte, gelang ihm mit hohem diplomatischen Geschick die Abwendung eines fast schon unvermeidlich scheinenden Krieges mit dem revolutionären Frankreich. Während seiner letzten Lebensjahre unterhielt er mit seinem Amtsnachfolger Thomas →Jefferson einen ausgedehnten Briefwechsel, der noch heute als eindrucksvoller Kommentar zur Frühgeschichte der USA zu lesen ist. Zu seiner großen Freude erlebte A. dann noch im Frühjahr 1825 die Inauguration seines Sohnes John Quincy zum sechsten Präs. der USA. A. starb am 4.7.1826 in Braintree, am fünfzigsten Jahrestag der am. Unabhängigkeit, nur wenige Stunden nach dem Ableben von Thomas Jefferson, was die Zeitgenossen mit patriotischer Ergriffenheit zur Kenntnis nahmen. John Ferling, John Adams: A Life, Knoxville 1992. James Grant, John Adams, New York 2005. David McCullough, John Adams, New York 2001. JÜ RG EN O V ERH O FF Adams, John Quincy, * 11. Juli 1767 Braintree (Quincy), † 23. Februar 1848 Washington DC, □ United First Parish Church / Quincy, unitar. Dank einer glänzenden Erziehung an europäischen und am. Universitäten und auf Grund des Einflusses seines Vaters John →Adams entwickelte A. früh sowohl innenpolitisch, wie auch außenpolitisch unabhängige Ansichten, die ihn lebenslang daran hinderten, sich einer der beiden großen am. politischen Parteien anzuschließen. Bevor er von James →Monroe zum Secretary of State ernannt wurde, hatte er seinen Vater in dessen Eigen-
A d uA, s ch lA ch t v o n
schaft als am. Botschafter nach Frankreich und in die Niederlande begleitet, war mit vierzehn Jahren als Sekretär von Francis Dana nach Petersburg gereist und hatte Finnland, Schweden und Dänemark besucht. Er war von →Washington zum am. Gesandten in den Niederlanden (1794) und in Portugal (1796) ernannt worden, und sein Vater hatte ihn von 1797 bis 1801 zum Botschafter in Berlin ernannt. Unter →Madison als Präs. folgten weitere diplomatische Aufgaben. 1817, als er zum Secretary of State ernannt wurde, war er sicherlich der außenpolitisch erfahrenste Politiker der →USA – der A.-Onis Vertrag (22. 2.1819) und die →Monroe-Doktrin (2.12.1823) waren v. a. sein Werk. V. a. ersterer regelte zahlreiche durch den →Louisiana Purchase entstandene Grenzfragen zwischen den USA und Spanien; Spanien trat in dem Vertrag Gesamtflorida an die USA ab. Da die Präsidentenwahl kein eindeutiges Ergebnis brachte, wurde A. nur deshalb vom Repräsentantenhaus gewählt, weil Henry Clay ihn als Sprecher des →Abgeordnetenhauses unterstützte – was A. den wohl unberechtigten Vorwurf der Korruption einbrachte, da er wiederum Clay zu seinem Außenminister ernannte. Als Präs. war A. glücklos nicht zuletzt deshalb, weil er sich im Kongreß auf keine feste Anhängerschar stützen konnte. Wenig überraschend verlor er 1827 die Präsidentenwahl an seinen erbitterten Gegner Andrew Jackson. Im Unterschied zu seinen Vorgängern zog sich A. nach der Niederlage nicht aus der Politik zurück, sondern blieb bis zu seinem Tod Mitglied des am. Repräsentantenhauses. Q: John Quincy Adams, Memoirs, 12 Bde., Philadelphia 1974–1977. L: Norbert Finzsch, Konsolidierung und Dissens, Münster 2005. Paul C. Nagel, John Quincy Adams, New York 1998. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Addis Abeba. Gründung 1886 durch Taytu, der Ehefrau des Negus Negesti Menelik II., im Zentrum des vom staatstragenden Volk der Amharen besiedelten Hochlandes. 1887 bestimmte der Ks. den Ort zur seiner Residenz. Der 1892 dafür gewählte amharische Name bedeutet „Neue Blume“. Während der it. Besatzungsperiode 1936–1941 erhielt die Stadt eine moderne Infrastruktur. Diese reicht jedoch für die seit 1960 auf über 3 Mio. angewachsene Bevölkerung nicht mehr aus. In der Zeit der sozialistischen Diktatur Mengistus (bis 1991) fand keine Anpassung an die gestiegene Ew.-zahl statt, so daß es derzeit gravierende sanitäre und umweltpolitische Probleme gibt. Seit 2004 Städtepartnerschaft mit Leipzig. GE RHARD HUT Z L E R
Adelantado. Amtsträger mit der höchsten territorialen Autorität innerhalb eines bestimmten Distrikts (adelantamiento). Der dem eines Grafen ähnliche Titel des A. wurde im Frühmittelalter in den Kgr.en Kastilien und Leon eingeführt und fand seitdem sporadische Verwendung. In der Spätphase der Reconquista wandelte sich die Befugnis. Als A. wurden von nun an v. a. Kommandeure von Militärexpeditionen bezeichnet. (Erste dieser neuen adelantamientos in den Grenzgebieten der Reconquista Cazorla u. Murcia.) Nach Etablierung entwickelte sich eine Unterscheidung in A. mayores (in Kastilien, Léon, Asturien, Galizien, Guipúzcoa, Alava, Murcia, →Anda-
lusien u. Cazorla) und diesen untergeordnete A. menores. Der A. mayor hatte in seinem Distrikt die oberste militärische, rechtliche und politische Gewalt. Unter den Kath. Kg.en verlor die A.-Würde an Bedeutung und wurde zum bloßen Ehrentitel. – A. in den span. Überseegebieten. Ähnlich wie in Kastilien und León wurde in der →Karibik zu Beginn der Conquista der A.-Titel oft an Kommandeure von Eroberungsexpeditionen verliehen. Über die von ihnen unterworfenen Gebiete erhielten sie (meist für ein oder zwei „Leben“) die Gewalt über Rechtsprechung, Verwaltung und Militär, wobei ihre tatsächliche Macht aber nicht zuletzt von ihrer sozialen Stellung abhing. Mit Etablierung der ersten →Audiencias und Vize-Kg.e verlor der A.-Titel auch hier an Bedeutung, denn langfristig konnte die Krone am Ausbau der quasi feudalen Strukturen der A.-Herrschaft kein Interesse haben. Der erste span. A. in Übersee wurde 1497 (mit ähnlichen Befugnissen wie die früheren A.s in den Grenzgebieten der Reconquista) Bartolomé Colón. →Philipp II. ließ die Macht eines A. in den Überseegebieten 1573, als diese Würde schon kaum mehr vergeben wurde, mittels der →Ordenanzas de descubrimiento festschreiben. Der A. war demnach Statthalter (gobernador), oberster Militärbefehlshaber (capitán general) und oberster Ordnungsbeamter (alguacil mayor) seiner Provinz. Er hatte das Recht, Städte zu gründen und dort entspr. Ämter zu vergeben, sogar die kgl. Rechnungsführer vorläufig zu bestimmen, und Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Als Militärchef konnte er Kriegszüge durchführen, Offiziere ernennen und feste Plätze errichten lassen. Zudem vertrat er die oberste zivile und strafrechtliche Gerichtsbarkeit und konnte Ländereien wie auch →Encomiendas verleihen. Für die Geschichte der Conquista ist der Umstand bedeutsam, daß ein A. während der Karibischen Etappe (1492–1521) derartige Rechte auch außerhalb seiner Provinz in durch ihn neu eroberten Gebieten ausüben konnte. Stichwort „Adelantado“, in: Diccionario de historia de España, Bd. I, (hg. v.) Revista de Occidente, Madrid 1952, 33f. Braulio Vázquez Campos, Los adelantados mayores de La Frontera o Andalucía (siglos XIII–XIV), Sevilla 2006. Horst Pietschmann, Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart 1980, 19–25. FELIX H IN Z Adua, Schlacht von. Im 1. It.-Äthiopischen Krieg 1895/96 drangen vom 1890 annektierten →Eritrea aus it. Truppen ins nordäthiopische Hochland ein. Unter Befehl von Oberst Baratieri trafen sie am 1.3.1896 nahe Adwa (it.: Adua) in der Provinz Tigre auf die an Zahl überlegenen aber waffenmäßig nicht adäquat ausgerüsteten Truppen des Negus Menelik II. und wurden, auch auf Grund strategischer Fehler, vernichtend geschlagen. Mit Verlusten von 11 000 Mann (= 55 %), davon 8 000 Gefallene und 3 000 Gefangene, war dies die verheerendste Niederlage europäischer Streitkräfte in Afrika während der Kolonialperiode. →Äthiopien konnte dadurch bis zum 2. Krieg mit Italien 1935/36 seine Unabhängigkeit bewahren. G ERH A R D H U TZLER
9
ÄgyPten
Ägypten. Das von den Wassern des unteren →Nil lebende Land umfaßt ca. 1 Mio. km2 und gehört zu den ältesten Zivilisationen der Welt. Seine Bevölkerung wurde infolge der Austrocknung der Sahara ab dem 5. Jahrtausend in der 1 550 km langen und 1–20 km breiten Flußoase zusammengedrängt. Hier konnte sich mit den Phasen Altes Reich (2640–2200), Mittleres Reich (2040– 1650) und Neues Reich (1551–1070) ein einheitlicher Flächenstaat mit eindrucksvoller Monumentalarchitektur, vielfältiger Kunst, polytheistischer Priesterreligion und schriftkundiger Beamtenschaft über 31 Dynastien halten. Nach →Eroberungen durch die Kuschiten, Assyrer, Perser und Makedonen erreichte die Ptolemäerzeit (332–30 v. Chr.) nochmals eine gewisse Stabilität, dann war Ä. römische Provinz, zuletzt zu Ostrom (Byzanz) gehörig, bis Amr ibn al-As 640 die Arabisierung und Islamisierung des alten Kulturlandes einleitete. Nach der zunächst schiitisch geprägten Herrschaft der Fatimiden und Ayyubiden (969–1250) wurde Ä. von Militärsklaven (Mamelucken) regiert und war 1517–1798 osmanische Provinz. Die kurzfristige Eroberung durch Napoleon leitete die Modernisierung ein, die unter dem balkanstämmigen Mehmet Ali (1805–1849) und seinem Enkel →Ismail (1863–1879) auch die Expansion nilaufwärts, den Bau von Eisenbahn und →Suezkanal sowie innere Verwaltungsreformen mit einschloß. Die Abhängigkeit von Großbritannien führte 1914–1922 zu direkter Protektoratsherrschaft (→Protektorat). Bis 1952 regierte die von Nationalisten als fremd empfundene Faruk-Dynastie (→Faruk I.). Nach dem Militärputsch erwirkte →Nasser das Ende der brit. Besetzung; der Suezkanal und die gesamte Industrie wurden verstaatlicht und der AssuanHochdamm mit sowjetischer Hilfe erbaut. 1967 besetzte Israel den Sinai. Nassers Nachfolger Sadat führte erneut Krieg gegen Israel, verlor, erhielt aber 1979/82 den Sinai zurück. Nach Sadats Ermordung 1981 regierte Hosni Mubarak das Land mit der amtlichen Bezeichnung Djamhuriyat Misr al-Arabiya und mittlerweile 77 Mio. Ew. Es hängt heute finanziell stark von den →USA ab und sieht sich vor große Probleme gestellt mit der Übervölkerung nicht nur der beiden Mega-Städte →Kairo und Alexandria (Dichte ca. 2 000/km2 außerhalb der Wüsten, die 96 % der Landesfläche ausmachen), der Gewinnung von Neuland (Wadi al-Dschadid und Toschka-Senke) und mit dem wachsenden Islamismus (Muslimbrüder, kurzfristige Herrschaft unter Mohammed Mursi), der dem volkswirtschaftlich essentiellen →Tourismus (jährlich 31 Mio. Übernachtungen) ebenso wie dem Ausgleich mit der koptischen Minderheit (12–15 %) zusetzt. BE RNHARD S T RE CK
Äquatorialguinea. Der einzige Staat Afrikas mit Spanisch als Amtssprache liegt beiderseits des Äquators und besteht aus der großen Insel Bioko (mit der Hauptstadt Malabo), vier kleineren Inseln sowie dem Festlandteil (Mbini). Hier steigt das 26 000 km2 umfassende Land von einer Küstenebene zum Bergland bis zu 1 200 m Höhe an. Der ganzjährige Niederschlag sorgt für tropischen Regenwald und Mangrovenbewuchs an der Küste. Die bantusprachige Bevölkerung (→Bantu) gehört mehrheitlich den Fang (eine Minderheit von 20 % den Bubi) an 10
und bekennt sich zu 90 % zum rk. Glauben. Missionen aus Spanien und Frankreich unterhalten auch zur Hälfte das Schulwesen. Es waren aber Portugiesen, die ab 1469 die der Küste vorgelagerten Inseln besetzten. 1777/78 kam es zu einem Gebietstausch zwischen Portugal und Spanien. Letzteres nannte seine Besitzung ab 1938 Span.-Guinea; ab 1959 wurden →Fernando Póo (später Santa Isabel oder Macias Mguema Byogo, heute Bioko) und Río Muni (Festlandteil) als Überseeprovinzen verwaltet; 1968 erhielten beide Landesteile zusammen als República de Guinea Ecuatorial die Unabhängigkeit. Mit dem Auszug, bzw. der Vertreibung der span. Besitzer vieler →Kaffee- und Kakaoplantagen (→Kakao) und ihrer meist nigerianischen Arbeitern (bald auch der politischen Dissidenten) setze ein rascher Niedergang der Ökonomie ein, die sich erst mit der 1991 einsetzenden Ölförderung vor der Küste (Mobil Oil) erholte. Mittlerweile ist Ä. nach dem Bruttoinlandsprodukt das reichste Land Afrikas, dessen bis zu einer Mio. zählende Ew. allerdings nach der blutigen Diktatur von Macías Nguema (bis 1979) auch unter seinem Neffen und Nachfolger Teodoro Obiang Nguema Mbasogo und seiner Partido Democrático de Guinea Ecuatorial (PDGE) kaum von den Einnahmen profitieren. BER N H A R D STREC K Äthiopien. Binnenstaat im Nordosten Afrikas, begrenzt im Norden und Westen vom →Sudan, bzw. dem Südsudan, im Süden von →Kenia, im Südosten und Osten von →Somalia und →Dschibuti, im Nordosten von dem seit 1993 unabhängigen →Eritrea. Die Fläche des Landes beträgt 1 104 300 km2, seine aus mehr als 80 →Ethnien bestehende Bevölkerung 73 750 932 (letzte Volkszählung 2007; Schätzung von 2012 91 Mio.). Der aus dem Griechischen stammende Begriff Αιθιοπία (d. h. Land der Schwarzen) wurde in der Antike für das gesamte schwarze Afrika gebraucht. Seit 1922 ist er amtlicher Staatsname (Jä-itjoppəya). Bewußt sollte er das arab. Wort Abessinien (d. h. Land verschiedener Stämme) zur Abgrenzung vom islamischen Kulturkreis ersetzen. Den größten Teil des Landes bilden zwei Bergregionen, die durch den ostafr. Grabenbruch getrennt werden. Im Südosten liegt die wüstenartige Ogaden-Ebene, im Osten die Danakil-Region, in der am Karum-See die Oberfläche bis 116 m unter den Meeresspiegel absinkt. Bereits im 1. Jh. bestand im äthiopischen Bergland das Reich von Axum, das Kontakte in die Mittelmeerregion unterhielt. Dessen Kämmerer erwähnt die Apostelgeschichte des Lukas (8,26) als Besucher in Jerusalem. Das staatstragende Volk der Amharen (27 % der Bevölkerung, Zensus 2007) wurde im 4. Jh. von Alexandria aus missioniert und hat bis heute im wesentlichen die damals übernommene Form des christ. Monophysitismus beibehalten. In den Randgebieten des Staates dominiert seit dem 9. Jh. der →Islam. Ab der 2. Hälfte des 15. Jh.s versuchten Päpste und Portugiesen wiederholt Kontakte mit dem Äthiopischen Reich, um die osmanische Herrschaft in →Ägypten auch von Süden her anzugreifen. Als um 1540 islamische Herrscher versuchten, Ä. zu erobern, wurden sie mit massiver port. Waffenhilfe zurückgeschlagen. In den folgenden Jh.en konnte Ä. seine Selbständigkeit behaupten, zuletzt 1868 gegen Großbritannien, 1875 gegen
A f ri kA
Ägypten, 1889 gegen den Mahdi und 1896 gegen Italien (→Adua). Erst im 2. It.-Äthiopischen Krieg 1935/36 eroberte Italien das Land und vereinigte es mit seinen Kolonien Eritrea und Somaliland. Der Kg. von Italien nahm den Zusatztitel „Ks. von Ä.“ an. Im →Zweiten Weltkrieg vertrieben die Alliierten die Italiener und ermöglichten dadurch die Wiederherstellung des unabhängigen Ksr.s Ä. Der seit 1930 regierende Ks. →Haile Selassie versuchte seit 1945 eine behutsame Modernisierung des rückständigen Landes. Nach einer Hungersnot wurde er 1974 von einer kommunistischen Gruppe unter Führung von Major Mengistu Haile Mariam gestürzt. Die folgenden zwei Jahrzehnte bestand eine durch die Sowjetunion und →Kuba gestützte repressive Diktatur, die eine große Zahl von Menschenleben forderte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde ab 1991 in einem Bürgerkrieg durch die von einer Offiziersgruppe geführte Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) die marxistische Diktatur beseitigt und eine parlamentarische Demokratie auf föderaler Grundlage geschaffen. Sie erhielt 1995 eine Verfassung, in der die →Menschenrechte garantiert sind. Seit 1993 lautet die Staatsbezeichnung Jäitjoppəya Federalawi Dimokrasiyawi Ripäblik. Der defizitäre Staatshaushalt hatte 2009 einen Umfang von 5,36 Mio. US-$; die Staatsverschuldung betrug ca. 2 Jahresetats (= 31,7 % des BIP). Dieter Kollmer, Andreas Mückusch (Hg.), Horn von Afrika. Wegweiser zur Geschichte, Paderborn u. a. 2007. Gerhard Rohlfs, Meine Mission nach Abessinien, Leipzig 1883. Siegbert Uhlig (Hg.), Encyclopaedia Aethiopica, 5 Bde., Wiesbaden 2003-2014. GE RHARD HUT Z L E R Äthiopismus (Äthiopische Bewegung). Um die Wende vom 19. zum 20. Jh. bildeten sich in verschiedenen Regionen Afrikas missionsunabhängige Kirchen unter schwarzer Leitung. Dabei spielte der Verweis auf das christl. →Äthiopien – das weder kolonisiert noch von europäischen Missionaren evangelisiert worden war – eine wichtige Rolle. Darüber hinaus war das Land schon in der Bibel erwähnt (Act 8; Ps 68) und diente so nicht nur als Chiffre eines uralten afr. Christentums, sondern zugleich als Symbol kirchlicher und politischer Unabhängigkeit. Die Anfänge dieses „äthiopischen Diskurses“ gehen auf die afroam. Diaspora in der →Karibik und Nordamerika Ende des 18. Jh.s zurück. „Äthiopien“ stand dabei als Synonym für die „schwarze Rasse“, Thema waren deren Erlösungs- und Remigrationshoffnungen. Bereits 1783 wurde in →Jamaika die First Ethiopian Baptist Church gegründet und 1829 in New York das Ethiopian Manifesto des Afroamerikaners Robert A. Young veröffentlicht, das diesen Erwartungen Ausdruck verlieh. Durch westind. Persönlichkeiten wie Eric Blyden verbreiteten sich diese Ideen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s auch in Westafrika. V. a. im Anschluß an die Entmachtung des ersten schwarzen anglik. Erzbischofs Samuel A. →Crowther 1891 plädierte Blyden für ein eigenständiges afr. Christentum, was etwa 1901 zur Bildung einer konfessionsübergreifenden „African Church“ führte. In Südafrika wurde 1892 vom ehem. methodistischen Prediger Mangane Maake Mangone eine erste „Äthiopische Kirche“ gegründet, die zahlrei-
chen analogen Unternehmungen als Vorbild diente. Sie richtete sich nicht nur wie in Westafrika gegen den Paternalismus, sondern v. a. auch gegen den wachsenden →Rassismus der westlichen Missionare. Diese – vom realen oder vermeintlichen Vorbild Äthiopien inspirierte – erste Welle der kirchlichen Unabhängigkeitsbewegung Afrikas erlebte in der Folgezeit einen massiven Zulauf. Sie stellt eine wesentliche Voraussetzung für das explosionsartige Wachstum des afr. Christentums im 20. Jh. dar und überflügelte vielerorts rasch – später oft von pentekostalen Strömungen überlagert – die sog. „historischen“ Missionskirchen. Adrian Hastings, The Church in Africa 1450–1950, Oxford 1996. J. Mutero Chirenje, Ethiopianism and AfroAmericans in Southern Africa, 1883–1916, Baton Rouge 1987. Ogbu Kalu (Hg.), African Christianity: An African Story, London 2008. K LA U S K O SCH O R K E Afrika. Ursprünglich von den Römern benutzter und literarisch überlieferter Ausdruck für das Kernland des karthagischen Reiches, daß in etwa dem heutigen →Tunesien entsprach. Um die Mitte des 3. Jh. v. Chr. von den Römern für ganz Nordafrika mit Ausnahme →Ägyptens, später von den Arabern für Tunesien und das westliche →Tripolitanien in Abgrenzung zum →Maghreb und, südlich der Sahara, dem Sudan, verwendet. Bereits in der Spätantike (z. B. bei →Ptolemaios) und im Mittelalter (TO-Karten) wurde der Begriff zugleich auch auf den ganzen Kontinent angewandt. Nach der Umsegelung des →Kaps der guten Hoffnung von Kartographen der Frühen Neuzeit (z. B. Abraham Ortelius, 1570) im Prinzip als gängige Bezeichnung für den Erdteil verwendet, verfestigte sich der Terminus mit zunehmender, v. a. europäisch dominierter Kenntnis des gesamten Kontinents und setzte sich gegen Alternativbezeichnungen (Libya, Ethiopia), letztlich auch auf Grund des kanonischen Charakters der antiken, lateinischen Texte, durch. Der Ursprung des Namens ist umstritten. Von Leo Africanus wurde der Terminus A. im 16. Jh. auf das griechische a-phrike, „ohne Schrecken“, „ohne Kälte“, zurückgeführt, andere Deutungen leiten A. von lat. aprica, „sonnig“, „heiß“ ab. Gängig ist die Herleitung vom antiken Berbervolk der Afri, das im Hinterland der Hafenstädte Utica und Karthago siedelte. Allerdings findet sich in den Primärquellen aus römischer und karthagischer Zeit kein Beleg für irgendeinen dieser Erklärungsversuche. Fest steht, daß die Römer den Begriff um die Zeit des Zweiten Punischen Krieges (218–201 v. Chr.) verwendet haben, was der Beiname Scipios, Africanus, zeigt. Er bezeichnet dabei aber ein weit größeres Gebiet, als alleine das Siedlungsgebiet der Afri. Aus Sallusts, um 40 v. Chr. verfaßtem Werk, bellum iugurthinum, geht hervor, daß A. inzwischen für ganz Nordafrika, mit Ausnahme Ägyptens, gebräuchlich war. Für den gesamten, heute als A. bezeichneten Kontinent waren seit der Antike verschiedene Termini in Umlauf, so etwa Libya, Ethiopia oder Guinea. Die alten Griechen bezeichneten seit Pindar (Pythien, 474 v. Chr.) die gesamte Landmasse mit Ausnahme Ägyptens, als Libya, ein den Ägyptern entliehener Terminus, der als Bezeichnung für ein Berbervolk (Lebu oder Rebu) verwendet wurde. Der Begriff 11
A f r i k A , b r i t is ch e s
A. konkurrierte seit der römischen Auseinandersetzung mit Karthago (ab Mitte des 3. Jh. v. Chr.) mit dem Begriff Libya. Zunächst meinte er nur Nordafrika oder punisch besetztes Afrika, bevor er, wohl um die Zeit des 2. Punischen Krieges, deckungsgleich mit dem griechischen Libya synonymisch für den gesamten damals bekannten Erdteil (das heutige Nordafrika bis zur Sahara und zum Atlantik, im Osten bis Ägypten) verwendet wurde. Arabische Geographen benutzten den Terminus Ifriquia in Anlehnung an den Namen der römischen Provinzen für Tunesien, Tripolitanien und Ost-Algerien, während sie West-Algerien und Marokko al-maghrib, „Land der untergehenden Sonne“, nannten. Für das Gebiet südlich der Sahara, vom Senegal bis zum Roten Meer, war die Bezeichnung Bilad al-Sudan, „Land der Schwarzen“, gebräuchlich, für Ostafrika der Begriff Zanj (→Tansania). Im mittelalterlichen Europa hielt sich unter Geographen auf Grund der antiken Texte und des afrikanischen Ifriquia der Begriff A. als Bezeichnung für Nordafrika, des weiteren wurde er auch synonymisch für „wild“, „barbarisch“ gebraucht. Auf die Portugiesen geht die Wiederverwendung des ursprünglich griechischen Ausdrucks Ethiopia zurück, nachdem sie Ende des 15. Jh.s Kontakte zum Kaiserreich Abessinien geknüpft hatten. Der Begriff wurde in weiterem Umfang für den gesamten, tropischen Teil des heutigen A. benutzt. Bereits auf mittelalterlichen TO Karten, dann verstärkt während des Zeitalters der europäischen Entdeckungsfahrer, begannen, verbunden mit neuen geographischen Erkenntnissen, Kartographen, den gesamten Erdteil A. zu benennen, so etwa Sebastian Münster 1532. Aber auch Reiseberichte sprachen, den Kontinent meinend, von A., so etwa A. →Ultzheimers „Warhaffte Beschreibungen ettlicher Reisen in Europa, Africa, Asien und America 1596–1610“. Im Spiegel der Lexikonartikel wird erkennbar, daß sich A. zu Beginn des 19. Jh.s als Ausdruck festgesetzt hatte, so in der Encyclopedia Britannica 1801, bei Ersch/Gruber 1819 und etwas später in Meyers Konversationslexikon. Letztlich setzte sich der Begriff wohl auf Grund der klassischen, antiken Texte und der geographischen Nähe Europas zum antiken A. als Name für den Kontinent durch. Einen originär afr. Begriff für den gesamten Kontinent gab es nicht, da eine eigenständige Außensicht zunächst nicht gegeben war. Diese wurde erst durch den Kontakt mit den Europäern, etwa durch den kolonialen Schulunterricht, möglich. Der europäische Name A. für den Kontinent wurde indigen übernommen, zudem in eigenständige, identitäre, den ganzen Kontinent einschließende, Weltbilder eingebaut (Afrozentrismus, →Panafrikanismus). Peter Kremer, Der schwarze Erdteil. Afrika im Spiegel Alter Bücher, 1484–1884, Köln 1984. Martin W. Lewis / Kären E. Wiggen, The Myth of Continents. A Critique of Metageography, Berkeley, Ca. 1997. Dietrich Rauchenberger (Hg.), Johannes Leo der Afrikaner, Wiesbaden 1999. F L ORI AN VAT E S Afrika, Britisches. Brit. Seefahrer befuhren die westafr. Küsten nachweislich seit 1553 und legten 1618 ihren ersten dauerhaften Stützpunkt Fort James in Bathurst, →Gambia an. In →Sierra Leone begründeten sie seit 1663 Siedlungen und Handelsstationen, die im Laufe 12
des 18. Jh.s erweitert wurden. 1821 vereinigte Großbritannien die drei Territorien Gambia, Sierra Leone und die Goldküste zur Kolonie Brit.-Westafrika, die von einem Gouv. in →Freetown verwaltet wurde. Diese Gebiete dienten v. a. der Sicherung des →Sklavenhandels nach Nord- und Südamerika und nach dem 1808 erlassenen Verbot als Stützpunkte zu seiner Eindämmung. Seit 1795 begannen die Briten, sich in dem strategisch bedeutsamen Südafrika festzusetzen, und erhielten das zuvor ndl. Kolonialgebiet 1814 als dauerhaften Besitz zugesprochen. Im →Ind. Ozean okkupierten sie die vormals frz. Inselgruppen der →Seychellen (1794) und →Mauritius (1811). Eine massive Ausweitung der brit. Besitznahme in allen Teilen Afrikas erfolgte in der Ära des HochImperialismus im letzten Drittel des 19. Jh.s. Auf der Berliner →Kongo-Konferenz 1884/85 spielte Großbritannien eine führende Rolle und konnte seine Ansprüche gegenüber den konkurrierenden Mächten weitgehend durchsetzen. Die brit. Besitzungen in Westafrika wurden um →Nigeria erweitert, und im Südteil des Kontinentes erfolgte in den 1890er Jahren v. a. durch die Initiative von Cecil Rhodes (1853–1902) eine Expansion nach →Süd- und Nordrhodesien (heute →Simbabwe, →Sambia und →Malawi) sowie →Bechuanaland (Botswana). Unter Einschluß der 1899–1902 eroberten Buren-Rep. en (→Buren) konnten die Briten ihr Territorium um ein Gebiet mit reichen bergwerklichen Ressourcen ausdehnen, das dann 1910 zu einem Dominium mit teilweiser Selbstverwaltung zusammengefaßt wurde. Im östlichen Afrika begannen die Briten, durch den →HelgolandSansibar-Vertrag mit Deutschland von 1890 abgesichert, 1894 mit der effektiven Besetzung der Inlandsgebiete von →Kenia und →Uganda. Bereits 1884 hatten sie sich das →Protektorat über einen Teil des nördlichen Somalilandes gesichert. Am schwierigsten gestaltete sich die →Okkupation von Gebieten im nordöstlichen Afrika, in →Ägypten und im →Sudan. Die Eröffnung des →Suezkanals 1869 hatte die Bedeutung dieser Region für Großbritannien beträchtlich erhöht, da der kürzeste Seeweg in die südasiatischen und ozeanischen Besitzungen des Empire nunmehr durch das Rote Meer führte. Außerdem bestand der ehrgeizige Plan einer territorial geschlossenen Nord-Süd-Verbindung auf dem afr. Kontinent, die sog. Kap-Kairo-Linie. 1882 besetzten die Briten Ägypten, wodurch ihnen auch die Kontrolle über dessen Herrschaftsgebiet im Sudan zufiel. Dort wurde die koloniale Präsenz durch das Regime der Mahdisten (1884–1898, →Mahdiyya) unterbrochen und dann kurzfristig durch einen Vorstoß Frankreichs gefährdet (→Faschoda-Krise). Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt das brit. Empire Teile der dt. Kolonien, den Westen von →Togo und →Kamerun, Südwestafrika (→Namibia) und das Tanganyika-Territorium, als Mandatsgebiete des →Völkerbundes zugesprochen und erreichte mit ca. 10,6 Mio. km2 seine größte Ausdehnung in Afrika. Im Laufe des →Zweiten Weltkrieges errichteten die Briten kurzfristig Militärverwaltungen in den it. Kolonien →Libyen, →Eritrea, →Somalia und →Äthiopien. Die Briten bevorzugten ein System der mittelbaren Herrschaft (→Indirect Rule), die von Frederick →Lugard (1858–1945) in Nigeria und Uganda exemplarisch entwickelt wurde. Die
A f ri kA, f rAn zö s i s ch es
Entkolonisierung begann 1922 in Ägypten, setzte sich in den 1950er Jahren im Sudan und →Ghana fort, erreichte in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt und fand in den 1990er Jahren in Südafrika und Namibia ihren Abschluß. Insg. gingen 20 der heutigen Staaten aus dem Kolonialimperium Großbritanniens in Afrika hervor, von denen die meisten dem ehem. Mutterland im →British Commonwealth of Nations verbunden blieben. John Donelly Fage, Roland Oliver (Hg.), The Cambridge History of Africa, Cambridge 1975. John D. Hargreaves u. a., Colonial Policies and Practices. British Policies, in: John Middleton (Hg.), Encyclopedia of Africa South of the Sahara, New York u. a. 1997, 331–342. Frederick J. D. Lugard, The Dual Mandate in British Africa, Edinburgh / London 1926. UL RI CH BRAUKÄMP E R Afrika, Deutsches. Nachdem die Portugiesen, Spanier, Holländer, Franzosen und Engländer die tropische Welt unter sich aufgeteilt hatten, versuchten im späten 19. und frühen 20. Jh. noch drei Nachzügler ihr Glück. Neben Japan, dessen kurzfristig erobertes pazifisches Reich 1945 zerbrach, und Italien, das sich v. a. aus der osmanischen Konkursmasse zu bedienen suchte, war es ab 1884 das junge Dt. Reich, das sich recht plötzlich an der Aufteilung der noch weißen Flecken des riesigen Nachbarkontinents beteiligte und Südwestafrika (→Dt.Südwestafrika), Ostafrika (→Dt.-Ostafrika), →Togo und →Kamerun erwarb. Wie Japan das England des Fernen Ostens werden wollte, orientierte sich auch der 1888 auf den Thron gekommene Wilhelm II. an seiner Großmutter Victoria und deren prosperierendem Weltreich. Zu dem vom II. Dt. Reich kopierten Überseemuster gehörte auch der Vorrang des Kaufmanns, dessen Aktivitäten staatlicherseits lediglich völkerrechtlich abzusichern waren. Otto von →Bismarck, der aus Rücksicht auf sein komplexes Bündniswerk sich ohnehin nur zögernd auf eine Übersee-Politik einlassen wollte, schuf dazu den Begriff des →Schutzgebiets, in dem die von Kaufleuten zu unterhaltenden Handelskompanien alles selbst zu organisieren hatten. Diese Rechnung ging nicht auf, da es eben nicht nur imperialistische Rivalen gab, die man im Wechselspiel von Diplomatie und Kanonenboot in Schach halten mußte, sondern auch Kolonisierte, die sich gegen Fremdherrschaft wehrten. Dazu gehörten Sklavenjäger (→Sklaverei und Sklavenhandel), die wie Buschiri in Dt.-Ostafrika den Verlust ihrer Privilegien nicht hinnahmen, v. a. aber auch Afrikaner, die sich gegen großflächige Landwegnahmen zur Wehr setzten. Daß Nama und Herero in Dt.-Südwest bei ihren antikolonialen Aufständen (→Herero-Nama-Aufstand) von England ermuntert und unterstützt wurden, minderte nicht ihre Legitimation. 1907 hatte die Reichsreg. ihre Fehler eingesehen und begann mit dem linksliberalen Bankier Bernhard →Dernburg (1865–1937) als Chef des neugeschaffenen →Reichskolonialamts eine Korrektur. An die Stelle der Abschöpfung sollte nun die Erschließung treten, als Gemeinschaftsunternehmen von Kolonisator, Missionar, Arzt und mit Hilfe von Eisenbahn und Maschinen. Dazu wollte man zur Minderung der numerischen Asymmetrie zwischen Herren und Beherrschten eine Intermediarität entwickeln, und die in Dienst ge-
nommenen Lokalgewaltigen sollten zugleich Träger der dt. Kulturmission werden. Ganz wesentlich dabei waren die Kodifizierung des →Eingeborenenrechts, aber auch die Rekrutierung der Ordnungskräfte aus dem Land sowie die abgestimmte Garantie der Landrechte für Indigene, Siedler und Großplantagen. Eher ungelöst blieb das Problem der schwarzen Arbeitskraft; deswegen gab es in Dt.-Ostafrika ungeachtet der abolitionistischen Rhetorik noch um die Jh.wende fast eine halbe Mio. Sklaven. Die Missionen konnten ihrem freiwillig akzeptierten Auftrag der „Erziehung zur Arbeit“ nicht ausreichend nachkommen. Damit hatten sich die dt. Kolonien bis zu ihrem abrupten Verlust 1914 nie gerechnet. Das Reich machte mit Südafrika, →Ägypten oder →Marokko profitablere Geschäfte als mit seinen Kolonien, und die Auswanderungswilligen (→Auswanderung) gingen lieber in die →USA oder nach →Brasilien als nach Dt.-Südwest. Es handelte sich bei D. eher um nationalstaatliche Prestigewirtschaft, die freilich nicht zu unterschätzen ist, wie die von allen Parteien mitgetragene Kolonialnostalgie in den 20er Jahren zeigte. Jetzt, nach der als bitteres Unrecht empfunden Abstrafung durch die Siegermächte, erreichte der Kolonialgedanke mehr Menschen als vor dem Krieg. Der von Franz Ritter von Epp (1868–1946) angeführte →Kolonialrevisionismus war auch Teil des expandierenden Nationalsozialismus, bis dieser im neu eroberten Osteuropa seine eigentliche Erfüllung und Ende fand. Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 62012. Heinrich Schnee, Die koloniale Schuldlüge, München 1924. Mary E. Townsend, Origins of Modern German Colonialism, New York 1921. (Dt. Macht und Ende des dt. Kolonialreiches, Münster 1988). BER N H A R D STREC K
Afrika, Französisches. Bis zum →Zweiten Weltkrieg besaß Frankreich einen beträchtlichen Teil des afr. Kontinents; seine Territorien umfaßten die Maghreb-Länder (→Maghreb) , die beiden Föderationen von Frz.-Äquatorialafrika und →Frz. Westafrika, dann →Madagaskar und die Côte française des Somalis. Die →Protektorate →Tunesien und →Marokko unterstanden dem Außenministerium und das Übersee-Departement Algerien dem Innenministerium. Mit Ausnahme der Mandatsgebiete von →Kamerun und →Togo wurden alle anderen Kolonien vom Kolonialministerium verwaltet, das 1894 gegründet worden war. Frz. Westafrika (Afrique Occidentale Française, A.O.F., 4,7 Mio. km2) war von 1895 bis 1956 der offizielle Name der größten Föderation im westlichen Afrika. Dazu gehörten die Kolonien →Senegal, Frz.-Sudan (heute →Mali), →Guinea, →Elfenbeinküste, →Obervolta (heute →Burkina Faso), →Dahomey (heute →Benin), →Niger und Mauretanien. Saint-Louis war bis 1902 die erste Hauptstadt dieser Föderation, bevor ein Dekret des Gen.-gouv.s Ernest Roume (Amtszeit 1902–1908) den Reg.ssitz nach →Dakar verlegte. Frz.-Äquatorialafrika (Afrique Équatoriale Française, A.E.F., 2,3 Mio. km2) war 1910–1958 die zweitgrößte Föderation. Der Reg.ssitz war →Brazzaville. Die Föderation, zuerst Frz.-Kongo und ab 1910 A.E.F. genannt, setzte sich ursprünglich aus den Kolonien →Gabun, Mittelkongo (heute Rep. →Kongo) und Oubangui13
A f r i k A , i tA l ie n i s c h e s
Chari (heute →Zentralafr. Rep.) zusammen. →Tschad wurde erst 1920 der Föderation angegliedert. Madagaskar (600 000 km2) sollte die Kontrolle über den Seeweg nach →Indien garantieren. General Joseph Gallieni (1849–1916) gilt als Gründer der Kolonie. Nach ihrer →Eroberung 1895 wurde die riesige Insel im →Ind. Ozean in große Verwaltungsbezirke aufgeteilt, die allerdings einem einzigen Gen.-gouv. unterstanden, der bis 1958 amtierte. In Ostafrika war die Kolonialpolitik Frankreichs weniger erfolgreich. Im Juli 1898 versuchte die Mission Marchand, Faschoda einzunehmen, was mit einem Fehlschlag endete (→Faschoda-Krise). Die Côte française des Somalis (C.F.S., 23 000 km2) war die einzige frz. Besitzung von Dauer in der Region. 1892 wurde Djibuti zu ihrem Hauptort gemacht. Sein Hinterland ist größtenteils Wüste. Daher richtete sich das wirtschaftliche Interesse der Franzosen auch auf →Äthiopien. Von Djibuti aus erreichte 1917 die frz.-äthiopische Eisenbahn →Addis Abeba. Um 1940 erreichte die Zahl der Ew. Djibutis 20 000. Das koloniale Herrschaftssystem der Franzosen war zentralistisch und pyramidal. An der Spitze der Föderationen stand der Kolonialminister in Paris. Er bestimmte den Lauf der Dinge in den Kolonien durch Verordnungen und war allein dem Parlament gegenüber verantwortlich. Seine direkten Untergebenen waren die Gen.-gouv.e in Dakar und in Brazzaville, die ihrerseits den Gouv.en der Kolonien Weisung gaben. Die Kolonien ihrerseits waren in Départments, Kantone und Dörfer aufgeteilt. Für jede dieser Verwaltungseinheiten gab es einen Chef. Das Hochschul-, Finanz- und Militärwesen war Sache der Föderation. Die sonstige Verwaltung der Kolonien lag in den Händen der Gouv.e. Verschiedene Verwaltungsreformen modifizierten die Binnenstruktur der Kolonien, ohne allerdings auf eine Unabhängigkeit hinzuarbeiten. Als institutioneller Nachfolger der Föderationen wurde 1946 zunächst die Union Française gegründet, die sich als Assoziation zwischen Frankreich, seinen Départments und überseeischen Besitzungen verstand. Die Kolonien wurden jetzt überseeische Territorien genannt. Dennoch amtierte immer noch der Kolonialminister, und die Hauptverwaltungen in Dakar und Brazzaville kontrollierten alle wichtigen politischen Angelegenheiten inkl. der →Justiz. Erst nach der Reform des Loi-cadre 1956 gewannen die überseeischen Territorien an Autonomie, die dann den Weg zur Unabhängigkeit freimachte. Robert u. Marianne Cornevin, L’histoire de l’Afrique des origines à nos jours, Paris 1966 (dt. Frankfurt/M. 1980). Hubert Deschamps, Histoire générale de l’Afrique noire, de Madagascar et des archipels, Paris 1970. Joseph Ki-Zerbo, Geschichte Schwarzafrikas, Frankfurt/M. 1981/90. YOUS S OUF DI AL L O Afrika, Italienisches. Der Begriff umfaßt alle ehem. it. Kolonien auf afr. Gebiet, dazu gehören das heutige →Libyen und It.-Ostafrika (it. Africa Orientale Italiana), das →Äthiopien, das heutige →Eritrea und It.-Somaliland (heute: →Somalia ohne die Region Somaliland) umfaßte. 1941 wurde zusätzlich Brit.-Somaliland (heute: Somaliland) besetzt. Ab 1870 hatte Italien kleinere Niederlassungen am Roten Meer im heutigen Eritrea. 1885 14
wurde die eritreische Stadt →Massawa eingenommen, bis 1890 ganz Eritrea (it. Colonia Eritrea). Ab 1889 bis 1925 wurden der Süden und der Nordosten des heutigen Somalia zur Kolonie It.-Somaliland. Die Ausdehnung fand ohne militärisches Vorgehen statt; Großbritannien unterstützte die Übernahme durch Italien, um die frz. Expansion von →Dschibuti aus einzuschränken. Äthiopien sah sich durch die it. Besetzung Eritreas bedroht, da es damit vom Meer abgeschnitten wurde. Ab 1887 kam es immer wieder zu Konflikten zwischen beiden Mächten. Daher wurde am 2.5.1889 der Freundschaftsvertrag von →Ucciali unterzeichnet. Als der äthiopische Ks. Menelik II. 1893 jedoch die Zweideutigkeiten zwischen der amharischen und der it. Version und Italiens Protektoratsanspruch (→Protektorat) erkannte, kündigte er den Vertrag und erklärte Italien den Krieg. Nach anfänglich geglückten →Eroberungen wurde Italien 1896 in der Schlacht von →Adua vernichtend geschlagen. Am 26.10.1896 unterzeichneten beide Seiten einen Friedensvertrag, in dem Italien die volle Unabhängigkeit Äthiopiens anerkannte. Eritrea blieb it. Kolonie. Äthiopien blieb danach von Angriffen europäischer Mächte verschont. Erst 1935 machte sich Italien erneut auf den Weg, Äthiopien zu unterwerfen. Von 1936 bis 1941 war Äthiopien it. besetzt. Obwohl die Hauptstadt →Addis Abeba unterworfen war, hatten die Italiener zu keiner Zeit ganz Äthiopien unter Kontrolle und mußten überall Aufstände bekämpfen. Großbritannien empfand nun die it. Vormachtstellung am Horn von Afrika als Bedrohung, da damit die brit. Kontrolle über den →Suezkanal in Frage gestellt wurde. Mit ihrer unzureichenden Rüstung stellte die it. Kolonialmacht jedoch keinen echten Gegner für Großbritannien dar. 1940 besetzte Italien trotzdem Brit.-Somaliland. Schon ein Jahr später erlagen die Italiener aber den Briten und ihr Kolonialreich wurde aufgelöst. Zwar durfte It.-Somaliland im Auftrag der UNO von 1950 bis 1960 noch it. verwaltet werden, aber Äthiopien wurde noch im →Zweiten Weltkrieg wieder unabhängig, Eritrea kam unter brit. UNO-Verwaltung und wurde 1951 sogar mit Äthiopien vereinigt. Die Kolonie It.-Libyen (it. Libia Italiana) setzte sich ab 1934 aus den Provinzen →Tripolitanien, Cyrenaika und →Fezzan zusammen, die bereits seit dem Türk.-It. Krieg 1911/12 it. besetzt waren. Italien hatte immer wieder mit einheimischem Widerstand zu kämpfen, gleichzeitig wurde die Ansiedlung von it. Kolonisten gefördert. Viele der in Libyen ansässigen Juden wurden vom faschistischen Italien verfolgt oder ermordet. 1943 wurde die it. Herrschaft durch Großbritannien und Frankreich beendet. 1947–1951 wurden Tripolitanien und Cyrenaika im Auftrag der UNO brit. verwaltet, Fezzan frz. Eine weitere kurze Episode des it. Kolonialstrebens in Afrika war 1942 die Besetzung eines Großteils →Tunesiens mit Unterstützung durch dt. Truppen. Nach dem Verlust Libyens mußte auch Tunesien wieder aufgegeben werden. Angelo Del Boca, Italiani in Africa Orientale, 3 Bde., Rom 1985/86. Ders., Gli Italiani in Libia, 2 Bde., Mailand 1997. Giam Paolo Calchi Novati, L’Africa d’Italia, Rom 2011. A LK E D O H RMA N N
A f ri kA, s PA n i s ch es
Afrika, Portugiesisches. Gleichsam als Fortsetzung der Reconquista Iberiens besetzten die Portugiesen unter Prinz Heinrich dem Seefahrer 1415 →Ceuta in →Marokko. Damit begann ihre überseeische Expansion auf den afr. Kontinent. 1482 war São Jorge da Mina (Goldküste) im heutigen →Ghana erreicht, 1483 die Mündung des →Kongo (→Angola), 1487 das →Kap der guten Hoffnung. Damit war der Weg vom →Atlantik zum →Ind. Ozean frei. 1498 segelte Vasco →Da Gama an der ostafr. Küste (→Mosambik) entlang und dann Richtung Osten, bis er in →Indien ankam. 1500 gelangte Pedro Álvares Cabral, ebenfalls auf dem Weg nach Indien, nach →Brasilien. In der folgenden Zeit konzentrierte sich Portugal auf die →Eroberung und Konsolidierung seines asiatischen Imperiums, das in erster Linie dem Gewürzhandel (→Gewürze) diente und militärisch abzusichern war. Für ein ganzes Jh. wurde Lissabon damit Zentrum der ersten europäischen Weltmacht. Bis zum 19. Jh. spielte Afrika in diesem multipolaren Imperium eine nachrangige Rolle. Bis Ende des 17. Jh.s besaß Asien, danach Brasilien den entscheidenden wirtschaftlichen und dadurch auch politischen Stellenwert. Im Rahmen der transatlantischen Beziehungen wurde Afrika und den Afrikanern die Funktion eines Sklavenreservoirs zugeteilt, in dem allerdings von Anfang an die Religion ein bedeutsamer Faktor war. Bereits im frühen 16. Jh. trat das vorkoloniale Kgr. Kongo auf Grund des port. Einflusses zum Christentum über. In Ostafrika ließen sich →Jesuiten im ur-christl. Reich des „Priesterkg.s Johannes“ (→Äthiopien) nieder, um es für Rom zu gewinnen. Nach der Unabhängigkeit Brasiliens (1822) mußte Portugal in Afrika nach Ersatz für die verlorenen Reichtümer suchen. Bis dahin waren nur schmale Küstenstreifen bekannt und besetzt worden. Nach dem Verbot der →Sklaverei (→Abolitionismus), v. a. aber als Folge der →Berliner Westafrika-Konferenz (1884/85) und der Aufteilung Afrikas, begann die Erschließung des Landesinneren, und Portugal war gezwungen, seine Besitzungen gegen die rivalisierenden europäischen Mächte zu legitimieren. 1890 zwang Großbritannien Portugal dazu, das Gebiet zwischen seinen alten Besitzungen Angola und Mosambik zugunsten der brit. Krone abzutreten – conditio sine qua non zur Realisierung des Kap-Kairo-Plans. Nach dem Einsetzen der Dekolonisation in den 1960er Jahren blieb Portugal als letzte der großen Kolonialmächte übrig und widersetzte sich jeder politischen Lösung im Konflikt mit dem aufflammenden afr. Nationalismus bzw. den sich formierenden Unabhängigkeitsbewegungen. Es begannen in Angola (1961), in Port.-Guinea (1963) und in Mosambik (1964) blutige Befreiungskriege. Portugal mußte gleichzeitig an drei Fronten und in weit auseinander liegenden Territorien Krieg führen. Sofort nach der Beseitigung der Diktatur in Portugal (1974) wurden Verhandlungen aufgenommen und die fünf afr. Kolonien 1975 in die Unabhängigkeit entlassen: Angola, die Kapverdischen-Inseln, →Guinea-Bissau, Mosambik, →São Tomé und Príncipe. Kurz davor setzte ein Rückkehrerstrom (Retornados) aus mehrheitlich weißen Siedlern insb. aus Angola und Mosamik in Richtung des ehem. Mutterlands ein: Eine Luftbrücke wurde errichtet, um
binnen weniger Monate ca. eine halbe Mio. Portugiesen in die Heimat zu bringen. Valentim Alexandre, O Império Africano: séculos XIX e XX, Lissabon 2000. Francisco Bethencourt / D. Ramada Curto (Hg.) Portuguese Oceanic Expansion, 1400–1800, Cambridge 2007. René Pélissier, Les campagnes coloniales du Portugal: 1844–1941, Paris 2004. JO RG E BR A N C O
Afrika, Spanisches. Mit päpstlicher Schlichtung einigten sich beide iberischen Kgr.e 1494 im Vertrag von Tordesillas (→Bullen) auf die Teilung aller neu entdeckten Gebiete. Spanien baute sich ein Kolonialreich auf dem am. Doppelkontinent auf, während Afrika den Portugiesen zufiel. Dennoch verfolgte Kastilien, bzw. Spanien auch im mar pequeña („kleines Meer“ zwischen Südwestspanien/Algarve und →Marokko) eigene Interessen und besetzte (zumindest vorübergehend) wichtige Hafenstädte: Melilla (1497), Oran (1519), →Tanger (1580–1661), während Ceuta von Portugal abgetreten werden mußte (1640). Die Kanarischen Inseln (zeitweise auch Sidi Ifni an der gegenüberliegenden mauretanischen Küste) kamen seit dem 14. Jh. allmählich unter span. Kontrolle. Zu diesem afr. Vorspiel zählt auch die Übernahme (Verträge von San Ildefonso 1777 und El Pardo 1778) der im Golf von →Guinea liegenden Inseln Bioko (früher →Fernando Póo) und Annobon, sowie der Mündung des Mbini-Flusses (ehemals Rio Muni) auf dem Festland durch Tausch gegen südam. Gebiete. 1817–1843 verpachtete Spanien Fernando Póo an Großbritannien, das dort v. a. als Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) verschleppte befreite Insassen brasilianischer und span.-kubanischer Sklavenschiffe ansiedelte (Ferdinandinos, Sprache: port. basiertes Kreol). Seit 1862 diente Fernando Póo auch als Sträflingskolonie, v. a. für Independentisten aus →Kuba und Puerto Rico. Ein intensiveres Engagement Spaniens auf dem afr. Kontinent sollte erst ab dem späten 19. Jh. erfolgen, insb. als Folge der Berliner →Kongo-Konferenz (1884/85) und der flächendeckenden Aufteilung des Kontinents. Nachdem die am. Kolonien ihre Loslösung von Spanien durchgesetzt und unabhängige Rep.en gebildet hatten, blieben bis zum verlorenen →Span.-Am. Krieg (1898) Kuba und Puerto Rico in der →Karibik, sowie die →Philippinen im Pazifik als wichtigste Überseebesitzungen übrig. Der nun einsetzende Zugriff des schrumpfenden Weltreichs Spaniens auf Afrika war das Vorgehen eines Nachzüglers. Nach verlustreichen militärischen Auseinandersetzungen konnte ab 1912 ein Protectorado Español de Marruecos errichtet werden, das zwei Gebiete umfaßte: den nördlichen Landesteil und im Süden den Tarfaya-Streifen, während das zentrale Marokko zur frz. Kolonie wurde. Das südlich anschließende Río de Oro („Goldfluß“) war schon früher formell zur Kolonie (1884) geworden und wurde Sahara Español genannt. In Zentralafrika bildete sich unter der Bezeichnung Guinea Española eine weitere Kolonie, die ein erst ab 1926 wirklich erschlossenes Festlandgebiet und die oben genannten Inseln zusammenfaßte. Das span. →Protektorat endete 1957, als Frankreich sich aus Marokko zurückzog und das Land die politische Unabhängigkeit errang. Unter dem interna15
AfrikAAns.
tionalen Druck der Entkolonisierung wurde Span.-Guinea 1968 zum unabhängigen Staat →Äquatorialguinea. 1969 ging die Ifni-Enklave an Marokko zurück. 1975 startete Marokko den „Grünen Marsch“, der die Besetzung und spätere Annexion Span.-Saharas zur Folge hatte – ein bis heute ungelöster Konflikt: Spanien zog sich zwar aus dem Territorium zurück, blieb aber nach internationalem →Recht weiterhin Verwaltungsmacht; Marokko beansprucht das gesamte Territorium; die einheimische Befreiungsorganisation Polisario leistete vor Ort zeitweilig bewaffneten Widerstand und rief 1976 eine „Demokratische Arab. Rep. Sahara“ aus. Die UNO verlangt die Durchführung einer →Volksabstimmung (Unabhängigkeit, Autonomie oder Anschluß), die von marokkanischer Seite abgelehnt wird. Auch bezeichnet sie Ceuta und Melilla als okkupiertes (→Okkupation) Land. Marokko verlangt ihre Rückgabe, doch Spanien betrachtet sie nicht als Reste seines kolonialen Erbes. Aguirre Diego / José Ranón, La última guerra colonial de Espana: Ifni-Sahara, 1957–1958, Málaga 1993. Josep M. Fradera, Colonias para después de un imperio, Barcelona 2005. Susan Martin-Márquez, Disorientations. Spanish Colonialism in Africa and the Performance of Identity, London 2008. J O R GE BRANCO / MI CHAE L Z E US KE
Afrikaans. Eine indoeuropäische (westgermanische) Sprache und im Grunde ein ndl. Dialekt, der über 300 Jahre lang einen eigenständigen Evolutionsprozeß durchlaufen hat. Dieser begann in einer Kontaktsituation zwischen den europäischen Siedlern (→Buren), die ab 1652 als Teil des Unternehmens der →Vereinigten Ostind. Kompanie das →Kap der guten Hoffnung erreichten, den einheimischen Khoisan-Sprechern und den Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) afr. und asiatischer Herkunft. Ab dem späten 17. Jh. entwickelte sich die Form des am Kap gesprochenen Niederländischen (Kap-Holländisch) auf eigene Weise in Morphologie, Aussprache, Betonung und, in geringerem Maße, Syntax und Vokabular unter Einflüssen aus Khoisan-Sprachen, dem Kreol-Portugiesischen, dem Malaiischen, den südlichen Bantusprachen (→Bantu) sowie den Sprachen der europäischen Einwanderer. A. ist dennoch keine Kreolsprache, vielmehr haben sich auf seiner Grundlage separate →Pidginsprachen (z. B. Flaaital oder Cape Coloured A.) herausgebildet. A. ist die einzige indoeuropäische Sprache, die eine ausgeprägte Entwicklung auf dem afr. Kontinent durchgemacht hat. Dazu gehören der Verlust der Endungen in Konjugation und Deklination (nach engl. Vorbild) sowie die doppelte Verneinung: Het julle nêrens stilgehou nie? (Habt ihr nirgendwo angehalten?). A. mußte um Anerkennung kämpfen, zuerst gegen seinen ndl. Vorgänger, später gegen das Englische während der brit. Herrschaft des 19. und 20. Jh., schließlich als „Sprache der →Apartheid“. A. gilt in Südafrika (→Südafrikanische Union) als offizielle Sprache und teilt diesen Status mit zehn anderen Sprachen. Am häufigsten wird es im westlichen Südafrika und südlichen →Namibia gesprochen. Für ca. fünf Mio. der Gesamtbevölkerung Südafrikas ist A. Muttersprache, insb. verbreitet unter der Mehrheit der farbigen und weißen Bevölkerungs16
gruppen, die christl. Konfessionen anhängen. A. hat eine lange Literaturtradition und eine Anzahl von angesehenen Romanautoren, Dichtern und Dramatikern hervorgebracht. Das Wiederaufleben von A. seit den späten 1990er Jahren ist mit der entpolitisierten Sichtweise der jüngeren Generation von Südafrikanern verbunden. Izak Johannes van der Merwe / J. H. van der Merwe, Linguistic Atlas of South Africa, Stellenbosch 2006. Edith H. Raidt, Einführung in die Geschichte und Struktur des Afrikaans, Darmstadt 1983. G ERH A R D H U TZLER / A N N EK IE JO U BERT / TH O MA S STO LZ
Afrikaners (ndl.: Afrikaaner). Der Begriff geht auf die ersten nordwesteuropäischen Siedler zurück, die das →Kap der guten Hoffnung während der Verwaltungsperiode der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie von 1652 bis 1795 erreichten. Diese hauptsächlich aus den Niederlanden stammenden Siedler bezeichneten sich selbst als A. Mit diesen verbanden sich bald religiöse Flüchtlinge aus Frankreich und Deutschland zu einer multiethnischen Gruppe, die sich auf Grund gemeinsamer Umstände zu einer Einheit zusammenschloß. Es ist eine Veränderung im Gebrauch des Begriffs A. durch die südafr. Geschichte hindurch zu beobachten. Im 18. Jh. wurde er von den Siedlern verwendet, um eine Einheit herzustellen und eine gemeinsame Identität mit einer gemeinsamen Sprache (→Afrikaans) und einer protestantischen religiösen Orientierung zu schaffen. Dies änderte sich im 19. Jh., als der Begriff für die Konstruktion einer Afrikaner-Volksidentität im Gegensatz zur brit. Herrschaft verwendet wurde. Ein rassistisches Element kam im 20. Jh. während der Zeit der →Apartheid auf, als man versuchte Afrikaans-Sprecher europäischer Abstammung von Afrikaans-Sprechern afr. Herkunft zu trennen. Im Südafrika der Post-Apartheid besteht die Tendenz, den Begriff A. auf alle Menschen anzuwenden, die Afrikaans als ihre Erstsprache sprechen. Heutzutage wird der Begriff A. von liberalen afrikaanssprechenden Südafrikanern wegen seiner negativen Konnotation mit ethnischer und religiöser Intoleranz abgelehnt. Sie entscheiden sich für einen neutralen Begriff ,Afrikaanses‘, um sich auf alle Personen zu beziehen, deren Muttersprache Afrikaans ist, ungeachtet der ethnischen Identität oder religiösen Zugehörigkeit. Hermann Giliomee, The Afrikaners, Cape Town 2003. A N N EK IE JO U BERT
Aga Khan →Ismaili Agra. Am Fluß Jumna (bzw. Yamuna), 160 km südöstlich von →Delhi gelegene Stadt in Nordindien. A. ist eine sehr alte, befestigte Stadt, die im 16. Jh. stark an Bedeutung gewann, als der erste Mogulherrscher (→Moguln) Babur sie 1527 zu seiner Residenz machte. Die heutige Form der Stadt A. hat ihre Ursprünge in der Herrschaft →Akbars, der A. 1566 zur Hauptstadt des Mogulreichs machte. Diese Rolle erfüllte A. zwischen 1566–1569 und 1601–1658 war, und erstreckte sich über ein Areal von 26 km². Im 17. Jh. gab der Mogul Shah Jahan den Bau des Taj Mahal als Mausoleum für seine Frau Mumtaz Mahal
Ai d s
in Auftrag. A. wurde so eine Stätte für die architektonischen Errungenschaften der Mogulherrschaft, andere erwähnenswerte Bauwerke im Mogulstil sind die Moti Masjid (Perlenmoschee) in A. und in Delhi das Rote Fort. A.s politische Bedeutung sank, als Shah Jahan 1638 die Hauptstadt nach Shahjahanabad (heute: Altstadt von Delhi) verlegte. 1803 wurde die Stadt von der East India Company (→Ostindienkompanien) annektiert. 1835 wurde die Presidency of A. errichtet. Während des →Ind. Aufstands 1857 war A. einer der Hauptschauplätze der Auseinandersetzungen zwischen brit. und einheimischen Truppen. Gavin Hambly, Cities of Mughal India, New York 1968. Ebba Koch, The Complete Taj Mahal and the Riverfront Gardens of Agra, Delhi 2006. NI T I N VARMA Aguascalientes. 1575 wurde an der Handelsroute von →Zacatecas nach Mexiko-Stadt, am nördlichen Rand des Bajío in der Nähe eines Militärpostens die Ortschaft Villa de Nuestra Señora de la Asunción de las Aguas Calientes gegründet, benannt nach den nahe gelegenen Thermen. Sie gehörte zum Reino de Nueva Galicia und war nach 1610 Hauptstadt der gleichnamigen alcaldía mayor. Die Region erlebte seit Anfang der 1540er Jahre intensive kriegerische Auseinandersetzungen zwischen →Chichimecas und Spaniern. Erst nach einem Friedensschluß 1593 beruhigte sich die Situation allmählich. Wegen der Kriege und der eingeschleppten Krankheiten lebten hier um 1600 kaum mehr Indigene, aber auch die span. Siedlung war zwischenzeitlich fast aufgegeben. Die span. Villa erlebte ein allmähliches Bevölkerungswachstum, 1619 siedelten dort ca. 80 span. Ew., 1621 wurde die erste Kirche errichtet, kurz darauf die Konvente der Franziskaner und der Mercedarios, ab 1652 erbaute man offizielle Reg.sbauten (Casas Reales). Die Familie der Rincón Gallardo dominierte die Region politisch und wirtschaftlich. Aus dem Süden siedelten sich in der Folge Tlaxcaltecas, Otomíes und Mexicas an, die meist bei den Spaniern in der Landwirtschaft arbeiteten, erst ab 1682 kam es zur konfliktreichen Gründung von drei Pueblos. Bis zum Ende der Kolonialzeit blieb die Region dünn besiedelt, auch afrikastämmige Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) wurden als Arbeitskräfte eingesetzt. Agrarkrisen führten wiederholt zu Bevölkerungsverlusten, 1785/86 starb fast ein Zehntel der insg. ca. 28 000 Ew. Die Viehzucht blieb der erste und über die Region hinaus bekannte Wirtschaftszweig, →Maultiere wurden von hier ab Mitte des 18. Jh.s bis nach →Oaxaca und Puebla verkauft. Mit der Einführung des →Freihandels 1778 erlebte auch A. einen Handelsaufschwung. 1786 wurde es der Intendanz von Guadalajara, 1804 Zacatecas zugeschlagen. Beatriz Rojas, u. a., Breve historia de Aguascalientes, Mexiko-Stadt 1994. S E BAS T I AN DORS CH Aguirre, Lope de, * um 1510/1515 Oñate, † 27. Oktober 1561 Barquisimeto, □ unbek., (wohl) rk. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Nach eigenen Angaben waren seine Eltern arm, doch adliger Herkunft. Um 1534 brach er in die Neue Welt auf, wo er als fähiger Soldat erstmals 1544 positiv auffiel, als er
in →Peru auf Seiten des Vize-Kg.s Blasco Nuñez Vela gegen die renitenten span. Conquistadores kämpfte. 1551 tauchte er in Potosí, einer reichen Silberminenstadt im heutigen →Bolivien, auf. Hier geriet er mit dem Gesetz in Konflikt und wurde wegen Mißhandlung von Indianern verurteilt, woraufhin er die Stadt verließ. In den folgenden Jahren schloß er sich abwechselnd den Royalisten bzw. den Rebellen in den zahlreichen Aufständen und Unruhen, die die Zeit prägten, an. 1554 wurde er schwer verwundet dauerhaft zum Krüppel. Als sich seine Erwartungen, in →Amerika zu Wohlstand zu kommen, nicht erfüllten, schloß er sich 1559 dem Conquistazug unter Leitung von Pedro de Ursúa an, der den Schatz des sagenhaften →Eldorado suchen sollte. Der Zug endete als Fiasko. Mangels Beute eskalierten die Spannungen zwischen A. und Ursúa. Unter Führung A.s wurde Ursúa abgesetzt. Statt nach Peru zurückzukehren, riefen A. und seine Leute ein eigenes, von Spanien unabhängiges Kgr. Peru aus. Kurze Zeit später brach bei A. die, wohl schon latent vorhandene, paranoide Persönlichkeitsstörung als offener Wahnsinn aus. Willkürliche Todesurteile A.s, teilweise selbst vollstreckt, und die Isolation der Männer im Amazzonasurwald sorgten für eine bizarre Situation. 1561 gelang ein Entkommmen nach Barquismeto. Eingekreist von kgl. Truppen tötete A. seine Tochter, bevor er erschossen wurde. Über die letzten Abenteuer der Männer drehte Werner Herzog 1972 den vielfach ausgezeichneten Film „A., der Zorn Gottes“ mit Klaus Kinski in der Hauptrolle. Ingrid Galster, Aguirre oder die Willkür der Nachwelt, Frankfurt/M. 1996. Blas Matamoro, Lope de Aguirre, Madrid 1987. Francisco Ortiz, El Dorado, Madrid 1989. D A G MA R BEC H TLO FF
AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome). Infektion mit HIV (Humanes Immundefizienz Virus); die Übertragung erfolgt sexuell aber auch parenteral durch direkten Blutkontakt z. B. durch Blutkonserven oder während der Geburt von der Mutter auf das Kind. Die Initialsymptome in den ersten Wochen nach der Infektion sind der Grippe ähnlich. Die HIV befallen die CD4 positiven Lymphozyten und zerstören sie. Folge ist Immuninkompetenz. Nach einer mehrjährigen Latenzzeit tritt als Folge der Immuninkompetenz AIDS auf, gekennzeichnet durch opportunistische Infektionen (Pseudocysistis carinii, Cytomegalie, Toxoplasmose, atypischen Mycobacterien, →Tuberkulose, Herpes, Pilze) und Tumore (Kaposi- oder Burkitt-Lymphom). Der Spontanverlauf hat eine nahezu infauste Prognose. Bekämpft wird AIDS durch hoch aktive Kombinationstherapien, meist mit drei antiretroviralen Medikamenten. Trotz der damit erreichten Erfolge ist Heilung noch nicht möglich. AIDS ist eine im 20. Jh. neu aufgetretene →Seuche. Wahrscheinlich ist sie von Primaten auf den Menschen übergegangen. Das älteste menschliche Serum mit HIV-Antikörpern stammt von 1959. Das Krankheitsbild wurde 1981 definiert, das Virus 1984 entdeckt. Von Westafrika über Haiti und Nordamerika verbreitete sich AIDS als Pandemie über die ganze Welt. Die Prävalenz von HIV/AIDS ist regional allerdings sehr unterschiedlich und abhängig von soziokulturellen und ökonomischen Gegebenheiten. Sie liegt 17
A k b Ar , j A lA l ud d i n mu h A m m Ad
weltweit bei 5,9 ‰ mit extremen regionalen Schwankungen. In Europa liegt sie unter 1 ‰, in Deutschland bei 0,59 ‰. In Afrika südlich der Sahara ist sie am höchsten, besonders in Südafrika, →Kenia, →Ruanda, →Uganda, →Simbabwe (Prävalenz von 15–50 %). Die →Karibik, →Lateinamerika, →Papua Neuguinea, →Südostasien und Osteuropa sind ebenfalls stark betroffen. Eduard J. Beck u. a. (Hg.), The HIV Pandemic, Oxford 2008. Hansjoerg Dilger, Leben mit Aids, Frankfurt/M. 2005. DE T L E F S E YBOL D Akbar, Jalaluddin Muhammad, genannt Akbar-i-Azam (Akbar der Große), * 23. November 1542 Amarkot/Sindh (Umerkot), † 27. Oktober 1605 Agra, □ Mausoleum in Sikandra nahe Agra, musl. (Schiit) Bestieg 1556 den Thron des Mogulreichs (→Moguln). Nach der Entmachtung seines Regenten Bayram Khan und der Ausschaltung einer einflußreichen Hofclique, nahm A. 1560 die Macht in die eigenen Hände. Trat auch als Eroberer in Erscheinung; so gelang unter seiner Herrschaft u. a. die Einnahme von Malwa (1562), Chitor (1568), →Gujarat (1573), →Bengalen (1576), →Kaschmir (1586), Sindh (1581) und Qandahar (1595) sowie von Teilen des Dekkan-Gebirges (zw. 1595 und 1601). Verbunden wird A.s Reg.szeit in erster Linie mit dem Aufbau einer effektiven Administration. Neben zahlreichen neuen Ämtern führte er die Mansabdar-Klassifizierung ein: Alle Offiziellen waren damit Teil eines zentralisierten Rangsystems mit 33 Stufen. Der Herrscher konnte jeden jederzeit ernennen, befördern oder absetzen. Auf dem Papier standen die Rangkategorien (von 10 bis 5000) für ein Oberkommando über die entspr. Anzahl von →Pferden. Die Provinzverwaltung war ein Spiegelbild der Zentraladministration, wobei die Beamten vor Ort stets ihren Vorgesetzten in →Delhi Rechenschaft ablegen mußten. Innerhalb einer Provinz existierten fiskalische Untereinheiten, deren Steuerlasten auf der Grundlage einer 10-Jahres-Schätzung eingezogen wurden. In den 1580er Jahren interessierte sich A. in zunehmendem Maße für andere religiöse Ideen. Er lud Yogis, Brahmanen, →Parsis, Jainas (→Jainismus), Anhänger der Nuqtawiya und der Ismailiya (→Ismaili) und sogar →Jesuiten zu sich ein, um sich von ihnen unterweisen zu lassen und mit ihnen zu diskutieren. Man kann davon ausgehen, daß A. versucht hat, neue Glaubensgrundsätze zu formulieren, die für die gemischte Bevölkerung wie auch für die Machtelite des Reiches einen gemeinsamen religiösen Nenner darstellen sollten. Unklar ist, ob diese „Gottesreligion“ einen eher synkretistischen oder einen eher sufisch-islamischen Charakter (→Sufismus) hatte. 1605 starb A.; Nachfolger auf dem Mogulthron wurde sein Sohn →Jahangir. Irfan Habib (Hg.), Akbar and His India, Delhi 1997. Arnold Hottinger, Akbar der Große, München 1998. S T E P HAN CONE RMANN
Alaska →Russisch-Amerika Alawiten. Die A. verehren Ali ibn Abi Talib, den Vetter und Schwiegersohn Mohammeds, als Inkarnation Allahs. Seinen Schwiegervater, den sie nicht als Religionsstifter, 18
sondern nur als Verkünder der Lehre ansehen, ordnen sie ihm unter. Sich selbst bezeichnen sie als Nusairya. Dieser Name geht auf den letzten großen Bab („Heiligen“) der Glaubensgemeinschaft. Mohammed ibn Nusair (ca. 805 – ca. 875), zurück. Unter seinem Einfluß spalteten sich die Alawiten um 872 n. Chr. von den Ismaeliten (→Ismaili) ab. Nach orthodoxer musl. Meinung galten sie lange Zeit als eine vom wahren Glauben abgewichene Geheimsekte. Erst seit kurzem werden sie wieder als Muslime anerkannt. Nach eigener Überzeugung sind sie die „Richtung“ des →Islam, die die schiitische Tradition am reinsten bewahrt und allein die „verborgene Wahrheit“ (hatin) kennt. Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt im Dschebel Ansaryje, dem teilweise auch nach ihnen benannten Gebirge Dschebel an Nusairya im nordwestlichen Syrien zwischen Mittelmeerküste und Orontes, nahe der Hafenstadt Lattakia. Diasporen gibt es im südöstlichen Grenzgebiet der Türkei und im nördlichen Irak. Während der frz. Mandatszeit gab es von 1920 bis 1936 ein autonomes Alawitengebiet mit 6 500 km2 und 278 000 Ew., das sich zeitweise als Etat bezeichnete. In der Volkszählung von 1997 erklärten sich ca. 8 % der syrischen Bevölkerung als Angehörige der Religionsgemeinschaft. Die Alawiten sind überwiegend Bauern und Kleinviehzüchter. Sie gelten in Syrien als „stockkonservativ“. Obwohl seit dem 16. Jh. großenteils seßhaft geworden, haben sie viele Beduinenbräuche beibehalten. So gliedern sie sich nach Nomadenart in „Stammesverbände“ und Großfamilien. Seit der Mandatszeit stellen sie einen wesentlichen Teil der Armee- und Polizeiangehörigen. Der amtierende syrische Staatspräs. Bashar al-Assad stammt aus einer bekennenden alawitischen Familie. Sulaiman al Adani, Die Salomonische Erstlingsfrucht, Leiden 1891. M. Bar-Asher-Aryeh Kovsky, The NusayriAlawi Religion, Boston u. a. 2002. Heinz Halm, Die islamische Gnosis, Zürich, München 1982. G ERH A R D H U TZLER
Albany Plan of Union. Der im Sommer 1754 von Benjamin →Franklin entworfene A. war der erste ernsthafte Versuch eines Zusammenschlusses der brit. Kolonien Nordamerikas zu einer politischen Konföderation. Der Einigungsplan entstand unter dem Eindruck der Vorgefechte des →Siebenjährigen Krieges (in Amerika French and Indian War): Bereits im Frühjahr 1754 war es im Ohiotal zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den um die Vorherrschaft auf dem nordam. Kontinent ringenden Briten und Franzosen gekommen. Auf Geheiß des für die brit. Kolonialpolitik zuständigen Londoner →Board of Trade kamen daher vom 19.6. bis zum 11.7.1754 Delegierte der Neuenglandkolonien, New Yorks, Pennsylvanias und Marylands in Albany am Oberlauf des →Hudson zusammen, um wirksame Maßnahmen zur gemeinsamen Verteidigung zu erörtern. Als Gesandter Pennsylvanias schlug Franklin vor, eine alle brit. Kolonien repräsentierende Reg. in Amerika einzusetzen, deren Geschäfte ein President General in Zusammenarbeit mit einem von den Abgeordnetenhäusern aller Kolonien gewählten Grand Council führen würde. Im Verteidigungsfall sollten dieser General-Präs. und sein Großer Rat über die Macht verfügen, im Namen aller Ko-
A lcA ld e m Ay o r
lonien Krieg anzukündigen oder Frieden zu schließen. Wiewohl Franklins Plan die einmütige Zustimmung der Delegierten fand, scheiterte das ambitionierte Vorhaben letztlich am Widerstand der auf ihre Eigenständigkeit bedachten Kolonialparlamente sowie am Veto der Krone, die durch die Arbeit eines Großen Rates die kgl. Prärogative in Amerika gefährdet sah. Timothy J. Shannon, Indians and Colonists at the Crossroads of Empire, Ithaca, NY 2002. JÜRGE N OVE RHOF F Albertis, Luigi Maria d’, * 21. November 1841 Voltri, † 22. September 1901 Sassari, □ Monumentalfriedhof Staglieno / Genua, rk. It. Entdecker, Zoologe und Ethnologe, der als Autodidakt fünf →Expeditionen ins Innere des östlichen Teils von Neuguinea unternahm: 1.) 1872 erreichte er im Rahmen der ersten Fahrt (in Begleitung seines Landsmannes Odoardo →Beccari) den nordwestlichsten Teil der Insel Neuguinea (Vogelkopf-Halbinsel); von dort ging es Richtung Osten bis Andai. Vorstöße ins Innere wurden von der Insel Sorong, den Ramoi-Fluß aus sowie von Andai in Richtung Arfak-Gebirge unternommen. Über die nördlichen Aroe-Inseln und durch die Torres-Straße ging es zum Gebiet Orangerie im Südosten Neuguineas. 2.) 1875 verbrachte er einen mehrere Monate dauernden Aufenthalt auf der Yule-Insel (begleitet von dem Genuesen Tomasinelli), der zur zoologischen und ethnographischen Erfassung des Gebietes diente. 3.) Ende 1875 trat er mit S. Macfarlane auf dem Missionsdampfer Ellangowan eine Erkundungsfahrt zum 1845 von F. P. Blackwood entdeckten Fly-River an. Dieser wurde damit das erste Mal befahren, bis zur Ellangowan-Insel. 4.) 1876 startete A. eine eigene Forschungsfahrt mit dem Dampfboot Newa, den Fly-River über die bei der ersten Fahrt besuchte Ellangowan-Insel hinaus zu erkunden. Insg. wurde der Fly von A. auf einer Länge von 934 km befahren. 5.) 1877 unternahm er mit der Newa eine weitere Fahrt den Fly hinauf, bei dem A. den Strickland (Bonito) River entdeckte. Seit 2004 sind die ethnographischen und zoologischen Sammlungen von A. im Museo Etnografico Castello A. zusammengefaßt in Genua zugänglich. Nach dem Entdecker ist die A. Junction, der Zusammenfluß der Flüsse Ok Tedi (auch: Alice River) und Fly benannt. Er selbst benannte das zentrale Gebirge im Landesinneren an der Grenze zu West-Papua im Gebiet der Telefomin Viktor Emanuel Gebirge, zur Erinnerung an den it. Kg. sowie den Alice River (Ok Tedi) nach der Frau des Premiers von New South Wales, Australien, Alice Hargrave. Luigi Maria D’Albertis, Remarks on the Natives and Products of the Fly River, New Guinea, in: Proceedings of the Royal Geographical Society, Bd. XX, 1876. Ders., Journeys up the Fly River and in Other Parts of New Guinea, in: Proceedings of the Royal Geographical Society, Bd. XXIII, 1879. Ders., New Guinea, London 1880. HE RMANN MÜCKL E R
Albreda. Seit 1681 frz. →Enklave und Handelsniederlassung für den →Sklavenhandel an der Gambiamündung (→Gambia), gelegen im Mandinka-Gebiet von NiumiBarra. 1857 traten die Franzosen den Handelsplatz zu-
gunsten der vollständigen Kontrolle von →Portendick an die Briten ab. John Milner Gray, A History of the Gambia, Cambridge 1940. TILL PH ILIP K O LTER MA N N Albuquerque, Afonso de, * 1453 Alhandra, † 16. Dezember 1515 vor →Goa, □ ursprünglich Goa, Kirche Nossa Senhora da Serra, seit 1566 Lissabon, Kirche von Graça, rk. A. genoß als Mitglied des Hochadels eine privilegierte Erziehung am port. Kg.shof und etablierte sich schnell im kgl. Militär. Mit der port. Indienflotte segelte A. Anfang des 16. Jh.s mehrfach nach →Indien. Durch Kg. Manuel I. (1495–1521) zum Gouv. von Port.-Indien (→Estado da India) ernannt, geriet A. in Konflikt mit dem bisherigen Vize-Kg. Francisco de Almeida, der ihn 1508/09 für mehrere Monate in Gewahrsam nahm. 1509 mußte Almeida dennoch zugunsten A.s abtreten. Als Gouv. (der Titel eines Vize-Kg.s wurde erst 1524 wieder vergeben) setzte A. das Werk seines Vorgängers fort und baute, ungeachtet einer Niederlage gegen den Zamorin von →Calicut (1510), die port. Position in Indien konsequent aus. Er eroberte 1510 Goa und machte es zur Hauptstadt des Estado da India. In den Folgejahren leitete A. u. a. →Eroberungen und Expeditionen auf die Malaiische Halbinsel und ins Rote Meer. Zwei Jahre später fiel Hormus und damit die Kontrolle über die Einfahrt in den Persischen Golf dauerhaft in port. Hände. Ungeachtet der Erfolge A.s hatten seine Rivalen in Lissabon erfolgreich seine Ablösung betrieben. Während bereits Lopo Soares de Albergaria als neuer Gouv. Indien erreicht hatte, starb A. auf der Rückfahrt von Hormus, kurz vor Goa. A. hatte im Sinne der von Lissabon seit 1504 verfolgten Indienpolitik das port. Stützpunktsystem in Asien ausgebaut und die Dominanz Portugals auf den Seewegen nach Südund Ostasien gesichert. Brás de Albuquerque, Comentários de Afonso de Albuquerque, 5. edição conforme a 2. edição de 1576, 2 Bde., Lissabon 1973. Cartas de Affonso de Albuquerque, dir. de Henrique Lopes de Mendoça e Raymundo António de Bulhão Pato, 7 Bde., Lissabon 1884–1935. Fernando Gomes de Pedrosa, Afonso de Albuquerque e a arte da guerra, Cascais 1998. JÖ RG H A U PTMA N N Alcalde Mayor. Der A. zählt – neben dem →Corregidor – zu den wichtigsten Ämtern der unteren Verwaltungsebene im kolonialen Iberoamerika. Obwohl an der Bedeutung dieser Ebene für die politische und ökonomische Entwicklung des Kontinents kein Zweifel besteht, sind nach wie vor eine Reihe von Frage zu Ausgestaltung und Funktion der einzelnen Ämter nicht beantwortet. Mit der Einsetzung von A. in Neuspanien verfolgte die Krone ursprünglich das Ziel, die Corregidores de Indios, die eigentlich den Auftrag hatte, die lokale Selbstverwaltung zu überwachen und →Recht zu sprechen, tatsächlich aber in vielen Fällen der indigenen Bevölkerung großen Schaden zufügten, einer Kontrollinstanz zu unterstellen. Die dadurch bedingte zusätzliche Differenzierung des Verwaltungsaufbaus blieb aber nur für relativ kurze Zeit eine Besonderheit Neuspaniens. Denn bald bewirkte ein dramatischer Rückgang der Bevölkerung, daß die A. die 19
A le � A n d e r �iii. � d e r g r o s s e
Aufgaben der ihnen zugeordneten →Corregidores übernahmen, weil diese nicht mehr bezahlt werden konnten. Als man schließlich auch noch davon Abstand nahm, nur Juristen zu ernennen, wie das die ambitionierte Reform vorsah, war der Ausgangszustand wieder erreicht – mit dem Unterschied, daß die kgl. Amtsträger der Lokalverwaltung in einem Teil von Las Indias sich Corregidores nannten, in einem anderen A. Ihr Ansehen war maßgeblich von der Tatsache beeinflußt, daß die chronisch unterbezahlten Beamten eigene wirtschaftliche Interessen verfolgten und sich an einem wucherischen Zwangshandel bereicherten. Der Zustand änderte sich bis ins 18. Jh. nicht wesentlich. Erst die Reformen der 1780er Jahre zielten auf einen Systemwechsel. Die mangelhafte Umsetzung führte aber wiederum in der Sache nur zu einer Umbenennung, indem die alten A. und Corregidores fortan die Bezeichnung Subdelegados trugen. Horst Pietschmann, Alcaldes Mayores, Corregidores und Subdelegados, JbLA 8 (1972), 173–270. Horst Pietschmann, Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart 1980. DANI E L DAML E R Alexander (III.) der Große, * ca. 20. Juli 356 v. Chr. Pella, † 10. Juni 323 v. Chr. Babylon, □ nicht erhalten Nach der Ermordung seines Vaters →Philipp II. von Makedonien 336 wurde A. zum Feldherr (Hegemon) des von Makedonien dominierten Hellenenbundes ernannt und setzte offiziell in dessen Auftrag den „Rachekrieg“ gegen Persien in die Tat um, besiegte mehrere persische Armeen und besetzte 330 v.Chr. die persische Residenz Persepolis. Von Beginn an besaß der Eroberungszug auch den Charakter eines Forschungs- und Entdeckungsunternehmens, welcher u. a. in der Teilnahme zahlreicher Gelehrter und sog. „Schrittzähler“ (Bematisten) zum Ausdruck kommt. A.s Interesse an der Klärung geographischer Probleme nahm in dem Maße zu, in dem sich seine Armee auf der Verfolgung persischer Thronprätendenten sowie unter dem Zwang, sich den östlichsten Reichsteilen als siegreicher Nachfolger zu präsentieren, von den bekannten Gegenden des Nahen Ostens entfernte. So dürfte sich A. bereits auf dem Marsch nach Baktrien mit der Frage beschäftigt haben, ob das Kaspische Meer ein Binnenmeer oder eine Ausbuchtung des Okeanos sei. Spätestens nach der Gründung der Kolonie Alexandreia Eschate (am Syr-Darja bei Chodschent) wurde das Ziel der militärischen Durchdringung des Perserreiches durch den Drang (pothos) A.s erweitert, die Grenzen der Welt kennen zu lernen und dem Anspruch gerecht zu werden, die gesamte Oikumene zu erobern. Diese Zielperspektive mußte für A. umso realistischer erscheinen, da die Intellektuellen der Zeit (unter ihnen A.s Lehrer Aristoteles) den Umfang der Erdkugel und die Größe der bekannten Landmasse (Oikumene) vergleichsweise klein bemaßen. Nachdem sich die Meinung des Aristoteles, bereits vom Hindukusch den Okeanos erblicken zu können, als unzutreffend erwies, beabsichtige A. tiefer nach →Indien vorzustoßen. Der Widerstand seiner Truppen am Hyphasis (heute Beas, dem östlichsten Fluß des →Panjab) machte diesen Plan zunichte und verwehrte A. offenbar die Kenntnis des →Ganges und der ostind. Gebiete. Immerhin konnte er nach der Fahrt stromabwärts am Mün20
dungsdelta des Indus die verbreitete These widerlegen, wonach der Fluß die direkte Verlängerung des →Nil und das Rote Meer ein Binnenmeer sei. Die letzte große Explorationsleistung bestand in der Erschließung einer direkten Seeverbindung vom Indusdelta ins Zweistromland und der (Neu-)Entdeckung des Persischen Golfes (wobei Kenntnisse einer früheren Expedition des Skylax von Karyanda offenbar verloren gegangen waren) durch die Küstenfahrt der am Indus erbauten Flotte unter Nearchos. Sein (mittelbar erhaltener) Bericht zählt wegen seiner genauen ethnographischen und topographischen Beschreibungen zu den wertvollsten Überlieferungen antiker Entdeckungsunternehmungen. Parallel dazu wagte A. den Zug durch die Gedrosische Wüste unter hohen Verlusten. Weitere Expeditionen zur Erschließung der arab. Halbinsel sowie zur Umsegelung Afrikas (→Libyens) und →Eroberung Karthagos konnten auf Grund des überraschenden Todes A.s 323 nicht mehr durchgeführt werden. Die Bedeutung A. in entdeckungsgeschichtlicher Perspektive besteht somit darin, daß er der griechisch-mediterranen Welt das „Wunderland“ Indien sowie die sich gen Westen anschließenden maritimen Räume erschloß und damit den geographisch-ethnographischen Erfahrungshorizont der griechisch-römischen Kultur um eine Dimension erweiterte, die eine prägende Wissens- und Erzählkontinuität der westlichen Welt bis in die Frühe Neuzeit begründete. Seine Eroberungen gaben einen entscheidenden Anstoß zum Aufblühen der antiken →Geographie und Ethnographie, die nach „wissenschaftlichen“ Kriterien die Ergebnisse des A.zuges verarbeitete (Eratosthenes). Ohne A. wäre zudem der diplomatische Kontakt zwischen dem Maurya- und Seleukidenreich nicht möglich gewesen, welcher zu einer weiteren Intensivierung der Kenntnisse über Indien (Megasthenes) führte. Umstritten sind neben geographischen und topographischen Detailproblemen die tieferen Beweggründe von A.s Expansionsdrang sowie die Authentizität seiner („letzten“) Pläne, die Kriegszüge im fernen Osten mit der Eroberung der westlichen Oikumene zu einem „Weltumritt“ zu verbinden. Die Erfahrung des Erfolges im Osten sowie die gering veranschlagte Ausdehnung der Oikumene sprechen dafür, daß A. diese Ziele für durchführbar hielt. In jedem Falle machten ihn seine Taten seit der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit zum konkurrenzlosen Vorbild des jugendlichen Eroberers (und Entdeckers). Sein Vorstoß gen Osten bewirkte, daß er zu den wenigen Persönlichkeiten der Antike gehört, die sich bis heute im kollektiven Gedächtnis nicht nur der westlichen Zivilisation, sondern auch des ind.-afghanischen Raums und des →Islams bewahrt haben. Helmut Berve, Alexander der Große als Entdecker, in: Ders. (Hg.), Gestaltende Kräfte der Antike, München 1949, 88–108. Alexander Demandt, Alexander der Große, München 2009. Himanshu Prabha Ray (Hg.), Memory as History, Delhi 2007. RA IMU N D SC H U LZ Algerien. Das im zentralen →Maghreb gelegene A. (offizielle Bezeichnung: al-Djumhûrîya al-Djazâ’irîya adDîmûqrâtîya asch-Schacbîya, „Demokratische Volksrep. A.“; Hauptstadt: →Algier) ist mit 2,38 Mio. km² der
A lg eri en k ri eg
zweitgrößte Staat Afrikas nach dem →Sudan. Historischen Kernraum und Hauptsiedlungsgebiet bildet der von den küstenparallel verlaufenden Ketten des Atlasgebirges geprägte und klimatisch begünstigte (Niederschläge) Nordteil. Hier leben fast 90 % der (2009) 34 Mio. Ew. Dagegen weist die sich südlich anschließende Sahara-Region (die über 85 % des Staatsterritoriums einnimmt) nur punktuelle Besiedlung auf (Oasen), steuert aber mit ihren Vorkommen an Erdöl (Förderung 2009 knapp 78 Mio. t, Rang 17 / Welt) und Erdgas (ca. 81 Mrd. m³, Rang 8) den Löwenanteil zu Exporterlösen und Staatshaushalt bei (> 95 % bzw. 60 %). Schon seit dem 12. Jh. v. Chr. entstand entlang der Küste ein dichtes Netz phönizisch-karthagischer Handelsposten (oft Keimzellen heutiger Städte). Ende des 5. Jh.s wurden erste Staaten der einheimischen →Berber (Numider, „Nomades“) faßbar, die Massinissa (202–149) zu dem eng mit Rom verbundenen numidischen „Großreich“ vereinte. Der Jugurthinische Krieg (111–105) leitete dessen Zerfall und (bis 40 n. Chr.) schrittweise Integration ins Römische Reich ein. Im 3. Jh. hielt das Christentum Einzug (Kirchenvater Augustinus 396–430 Bischof von Hippo/ Annaba), ab Ende des 7. Jh.s im Gefolge der arab. →Eroberung (680–705) der bis heute herrschende →Islam. Das moderne A. existiert als territorial-politische Einheit seit dem 16. Jh., zunächst in Gestalt der „Regentschaft Algier“, einem 1516–1529 von Khair ad-Dîn Barbarossa begründeten autonomen Vasallenstaat (1659 Militär-Rep.) unter formaler osmanischer Oberhoheit, der in Europa als Hort der „barbareskischen“ Piraterie verrufen war. Nach der Besetzung Algiers 1830 brachte die frz. Kolonialmacht bis 1871 (→Mokrani-Rebellion) den gesamten Norden und die Sahara-Randgebiete unter Kontrolle. Anfang des 20. Jh.s wurde mit Einverleibung der „Territoires du Sud“ (S-Sahara, Ahaggar) die jetzige Ausdehnung erreicht. Die Umwandlung in einen integralen Bestandteil des Mutterlandes machte A. 1848 zur Siedlungskolonie. 1960 lag die Zahl der europäischen Siedler (→Pieds-Noirs) bei 1,025 Mio. (neben Franzosen v. a. Spanier, Malteser, Italiener). Deren allseitige Privilegierung gab den Hauptanstoß für den Ausbruch des →A.-Kriegs (1954). Nach der Unabhängigkeit (3.7.1962) konnte die nunmehr zur Einheitspartei transformierte FLN zunächst ihr Machtmonopol und ihr Konzept des „algerischen Sozialismus“ (politischer Zentralismus, Verstaatlichungen und umfassende staatliche Kontrolle der Wirtschaft) durchsetzen, sah sich jedoch in den 1980er Jahren infolge zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Probleme (Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot) und einer anwachsenden (v. a. islamischen) Opposition zu Konzessionen gezwungen (1989 Einführung des Mehrparteiensystems). Der Putsch der Armee gegen den Sieg der „Islamischen Heilsfront“ (FIS, Front Islamique du Salut) in den ersten freien Wahlen (1991) löste 1992 einen blutigen Bürgerkrieg aus, der über 120 000 Opfer (andere Angaben 200 000) forderte. Zwar gelang dem derzeitigen Präs. Bouteflika (seit 1999) mit seiner Kompromißpolitik (2005 „Charta für Frieden und nationale Versöhnung“, Generalamnestie) eine gewisse Stabilisierung, doch setzen militante Splittergruppen (die z. T. mit
Al-Qaida in Verbindung stehen) ihre Terroraktionen bis heute fort. Jean-Marie Lentz, Comprendre l’Algérie, Paris 2009. Bernhard Schmid, Das koloniale Algerien, Münster 2006. Benjamin Stora, Algeria 1830–2000, Ithaca 2004. LO TH A R BO H R MA N N
Algerienkrieg. Als A. (frz. Guerre d’Algérie) werden die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung unter Führung der FLN (Front de Libération Nationale, „Nationale Befreiungsfront“) auf der einen und der frz. Armee sowie den europäischen Siedlern (→Pieds-Noirs) auf der anderen Seite bezeichnet. Er begann am 1.11.1954 und endete offiziell am 18.3.1962 mit dem Abkommen von Évian (Anerkennung des algerischen Selbstbestimmungsrechts). Die FLN bzw. ihr militärischer Arm, die ALN (Armée de Libération Nationale, „Nationale Befreiungsarmee“), eröffnete die Kampfhandlungen mit nur 1 200 Partisanen („Mudjâhidîn“). Erst nach dem „Massaker von Philippeville“ (Skikda) am 20.8.1955 (123 Tote, darunter 71 Siedler) und der brutalen frz. Vergeltung (ca. 12 000 Opfer) setzte ein massenhafter Zustrom ein (1957 über 50 000 Kämpfer). Die Kolonialarmee wurde im gleichen Zeitraum von 55 000 auf 500 000 Mann aufgestockt. Sie konnte bis 1959 bedeutende Erfolge erzielen („Schlacht um →Algier“ 7.1.–21.7.1957), scheiterte auf Dauer aber am zermürbenden Guerillakrieg ihrer Gegner (Bombenanschläge, Überfälle, →Massaker, Entführungen), auf die sie u. a. mit der Bombardierung von Dörfern (Napalm), Zwangsumsiedlungen (ca. 1,6 Mio. Menschen), summarischen Exekutionen und systematischem Einsatz von Folter reagierte. Mehr und mehr geriet auch Frankreich in den Strudel des A.s (blutige Kämpfe zwischen rivalisierenden Fraktionen der Algerier, Anschläge der ALN auf staatliche Einrichtungen), der zunehmend für innenpolitische Spannungen sorgte (Mai 1958 Fall der IV. Rep., wachsende Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung). Als de Gaulle Ende 1959 Verhandlungsbereitschaft mit der FLN signalisierte, antworteten die Siedler, die ihm 1958 zur Macht verholfen hatten, um gerade dies zu verhindern, mit offenem Aufruhr, was die Gewaltexzesse auf die Spitze trieb (Gründung der berüchtigten Terrororganisation OAS Anfang 1961, „Putsch der Generäle“ gegen den „Verräter“ de Gaulle im Apr. 1961). Da ihre Stellung nach dem Abkommen von Évian unhaltbar wurde, verließen sie – begleitet von massiven Drohungen algerischer Nationalisten („Koffer oder Sarg!“) – fluchtartig das Land (bis Sept. über 900 000). Der A. gehört zu den prägenden Ereignissen des 20. Jh.s und hat den antikolonialen Bewegungen weltweit starken Auftrieb gegeben. Zugleich ist er als einer der blutigsten und brutalsten Entkolonisierungskriege in die Geschichte eingegangen. Nach amtlichen frz. Angaben sind ihm 350 000 algerische Muslime zum Opfer gefallen, laut FLN 1,5 Mio., während Historiker die Zahl auf 700 000 schätzen. In Frankreich hat der Begriff „A.“ erst im Okt. 1999 (Beschluß der Nationalversammlung) Eingang in den offiziellen Sprachgebrauch gefunden (bis dahin „Ereignisse“, „Befriedungsoperationen“ u.ä.). Dagegen erfuhr er in →Algerien – hier „Algerische Revolution“ und „Natio21
A lg i e r
naler Befreiungskrieg“ genannt – eine hochgradige Sakralisierung zum nationalen Gründungsmythos und bildet den Kern des offiziellen Geschichtsbildes. Mohammed Harbi / Benjamin Stora, La Guerre d’Algérie 1934–2004, Paris 2004. Christiane KohserSpohn / Frank Renken (Hg.), Trauma Algerienkrieg, Frankfurt/M. 2006. Sylvie Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris 2005. L OT HAR BOHRMANN
Algier. Die arab. al-Djazâ’ir („die Inseln“), frz. Alger und span. Argel genannte Hauptstadt →Algeriens liegt an der nordafr. Mittelmeerküste und den Hängen des Tell-Atlas. Mit ihren (2010) 2,25 Mio. Ew. (inkl. des Vorortgürtels 4,5 Mio.) ist sie neben Casablanca die größte Stadt des →Maghreb. Gegründet wurde A. um 950 unter den Ziriden auf den Ruinen der römischbyzantinischen Kleinstadt Icosium, die im Bereich des heutigen Hafenviertels lokalisiert wird und ihrerseits auf den punischen Handelsposten Ikosim (4. Jh. v. Chr.) zurückgeht. Der Aufstieg des zunächst wenig bedeutsamen Ortes begann im 16. Jh. mit dem Zustrom maurischer Flüchtlinge aus Spanien und der Besetzung durch den Korsarenführer Khair ad-Dîn Barbarossa (1516). Dieser baute den Platz zum Hauptstützpunkt der „BarbareskenPiraten“ aus (1525–1530 Anlage des Kriegshafens) und begründete 1529 die „Regentschaft A.“ als Vasallenstaat des Osmanischen Reiches (Einverleibung großer Teile der algerisch-tunesischen Küste und des Hinterlands). Anfänglich als Reaktion auf die siegreiche Reconquista und span. Expansionsbestrebungen nach Nordafrika aufgenommen und religiös legitimiert, nahm der Kaperkrieg gegen die christl. Handelsschiffahrt (→Schiffahrt) bald den Charakter eines einträglichen Wirtschaftsfaktors an (Niedergang im 18. Jh.), was der Stadt in Europa einen äußerst negativen Ruf einbrachte. Wiederholte Versuche zur Eindämmung der Piraterie (Belagerung und Beschuß durch christl. Flotten) verpufften, bis sich schließlich Frankreich im Juli 1830 der Stadt bemächtigte und sie zur Hauptstadt der gesamten Kolonie erhob, auf die der Name überging. Unter frz. Herrschaft (1830–1962) durchlief A. eine Phase rasanten Wachstums (Anstieg der Ew.-zahl bis 1900 von 30 000 auf 100 000 und bis 1960 auf knapp 900 000) und verwandelte sich in eine moderne, im äußeren Erscheinungsbild stark westlich geprägte Metropole mit (bis 1962) hohem europäischen Bevölkerungsanteil. Zwischen Nov. 1942 (Entmachtung der Vichy-treuen Verwaltung durch alliierte Verbände im Zuge der „Operation Torch“) und Aug. 1944 (Befreiung von Paris) hatte die Reg. des „Freien Frankreich“ hier ihren Sitz. Im →Algerienkrieg Schauplatz der „Schlacht um A.“ (Jan.-Okt. 1957), erlebte die Stadt während des Bürgerkriegs 1992–2005 zahlreiche Anschläge, deren Zahl nach der „Nationalen Versöhnung“ abnahm. Heute ist A. das wichtigste Handels-, Industrie- und Finanzzentrum des Landes, Haupthafen sowie kulturelle Metropole (u. a. fünf Universitäten und zahlreiche weitere Hoch- und Fachschulen). Die bekannteste Sehenswürdigkeit ist der Altstadt-Komplex (Kasbah, seit 1992 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes) mit Zitadelle (16. Jh.), Großer Moschee (11.–14. Jh.), Neuer Moschee 22
(1660) und Palästen aus maurischer und osmanischer Zeit. Als Glanzstück frz. →Kolonialarchitektur gilt der 1860–1866 errichtete Boulevard am Hafen (jetzt Boulevard Che Guevara) mit seinen Prachtbauten. LO TH A R BO H R MA N N
Ali’i Sili (d. h. „Höchster Herr, oberster Häuptling“) war ein vom dt. Gouverneur →Solf zu Beginn der deutschen Kolonialverwaltung am 14. August 1900 in →Samoa verliehener Häuptlingstitel. Der neu geschaffene Titel sollte mehrere Zwecke erfüllen: 1) sollte er zum Ausdruck bringen, daß auch der höchste samoanische Würdenträger noch unter dem dt. Kaiser („Túpu Sili“, d. h. „Höchster König“) stand, 2) sollte er die innersamoan. Titelstreitereien um die eigene samoan. „Königs“-Würde (Túpu) beenden u. 3) sollte er aber auch deutlich machen, daß der A.S. auf Samoa selbst Vorrang vor allen anderen samoanischen Titelträgern einnahm. In der Tat gab es kaum eine innersamoan. Angelegenheit, die Solf entschied, ohne zuvor den A.S. angehört bzw. um seinen Rat gefragt zu haben. Darüber hinaus bemühte sich der Gouv., Eigeninitiativen u. Anregungen des A.S. auch nachzukommen. Gesetze u. Verordnungen, die allein Samoaner (u. nicht die Europäer) betrafen, wurden nach Unterzeichnung durch den Gouv. vom A.S. gegengezeichnet, obwohl es für diese Praxis eigentlich keine rechtliche Grundlage gab. Faktisch kam der Titel A.S. damit doch einer samoanischen Königswürde gleich, nur daß der A.S. dem Kaiser u. seinem Repräsentanten, dem Gouv., unterstand. Der einzige Träger des A.S.-Titels war →Mata’afa Josefo (* 1832 Sawai’i, † 6. Februar 1912 Mulinu’u, □ Mulinu’u, rk.). Nach dessen Tode wurde der Titel A.S. abgeschafft u. im Juli 1913 ersetzt durch den Titel Fautua (d. h. „Ratgeber“), der gleichberechtigt sowohl an den Träger des samoan. Malietoa- wie an den des Tamasese-Titels verliehen wurde. Diese dt. „Erfindung“ wurde in die Verfassung des Staates West-Samoa übernommen. Nach Art. 17 besaß das unabhängige Samoa zunächst zwei gemeinsame u. gleichberechtigte Staatoberhäupter, die damaligen Träger des Tamasese- u. Malietoa-Titels. H ERMA N N H IERY Allegorien der Erdteile. Die Darstellung der E. ist eine in Europa vorkommende Repräsentation der Welt, welches das zeitgenössische Weltverständnis reflektiert. Dabei lassen sich die jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergründe in der Anzahl und Repräsentation (Ikonographie) der Erdteile ablesen. Die in der hellenistischen Antike, aber auch in Asien und Afrika verbreitete Annahme einer dreiteiligen Welt läßt sich in deren Kunst nicht nachweisen. Dagegen wurde im europ. Mittelalter dieser Vorstellung in der sog. T-O-Karte oder in Darstellungen der Heiligen Drei Könige als Repräsentanten der drei E. Rechnung getragen. Ab der Mitte des 16. Jh. werden die nunmehr vier E. (Europa, Asien, Afrika u. Amerika) in der Kunst u. im Kunsthandwerk (Goldschmiedekunst, Möbel, Tapisserien, Porzellan etc.) u. der (Bau-) Plastik, als weibliche A. präsentiert. Diese Entwicklung erreicht in barocken Bildprogrammen ihren Höhepunkt. Sie brachte hegemoniale oder missionarische Ansprüche zum Ausdruck, indem Europa bzw. das christliche Eu-
A lleg o ri en d er erd tei le
ropa prioritär bzw. mit einem Vorrang versehen dargestellt wurden u. diente v. a. repräsentativen Zwecken. Ab dem 19. Jh. wurden Bilder der Kontinente eher mit (See-) Handel in Zusammenhang gebracht. Im 20. Jh. wurden die E. seltener von der Kunst dargestellt. Diese widmete sich eher globalen politischen oder gesellschaftlichen Themen. Geschichte der Erdteildarstellungen. Zwar existierten in der römisch-antiken Kunst Darstellungen von Europa, Asien und Afrika, doch gehörten sie anderen Kontexten an: Europa war die mythologische Königstochter; Asien und Afrika wurden als Provinzen Roms verstanden. Die übliche Darstellungsform der Welt im europ. Mittelalter erfolgte in Form des „orbis tripartitus“ bzw. „orbiculus“, eines „T“-förmig geteilten Kreises („TO-Karte“). Die obere größte Fläche stellte Asien dar, die beiden kleineren Europa und Afrika. Die von der hellenistischen Antike übernommene Dreiteilung der Welt wurde ab dem Frühmittelalter bis um 1500 mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und den drei Söhnen Noahs, Sem, Ham und Japhet, verknüpft, deren Nachkommen, so glaubte man, sich in jeweils einem der drei E. niedergelassen hatten: die Semiten in Asien, die Hametiten in Afrika und die Japhetiten in Europa (so noch die Weltkarte in Hartmann Schedels Weltchronik 1493). Die Repräsentation der Welt in der T-O-Karte mit Asien als größtem und wichtigstem E. fand seine Begründung in der Heilsgeschichte, da das Heilige Land mit Jerusalem als Weltmittelpunkt gesehen wurde. In Karten und der Buchmalerei ist der orbiculus sowohl als autonome Form der Weltdarstellung wie als Attribut in Herrscherallegorien zu finden (bspw. Lambert von St. Omer: Liber Floridus, 1125). Ab dem 14. Jh. wurde diese Vorstellung in der Bildtradition nördlich der Alpen mit der EpiphaniasLegende verknüpft. Die Hl. Drei Könige wurden als unterschiedlich alte Abkömmlinge der Söhne Noahs zu Repräsentanten der drei E., wodurch die ganze Welt Christus huldigte. Auffällig ist vor allem Jüngste, der als afrikanischer König auftritt und durch seine Hautfarbe als Schwarzafrikaner gekennzeichnet ist und sich so deutlich von den beiden anderen hellen Königen abhebt. Die Ikonographie der Drei Könige als Vertreter der Erdteile blieb auch nach der Entdeckung Amerikas zunächst unverändert. Noch das 1504 entstandene Altarbild Albrecht Dürers griff auf diese Bildtradition zurück. Fast zur selben Zeit allerdings wurde ein Wandel des Weltbilds in der Darstellung des portugiesischen Künstlers Vasco Fernandes erkennbar. Er machte in seiner Version der Anbetung der Drei Könige den jüngsten König zum Repräsentanten Afrikas und Amerikas, indem er dem schwarzafrikanischen König einen südamerikanischen Federschmuck aufsetzte. Amerika wurde nun nicht mehr als äußerster Ausläufer Asiens, sondern als eigenständiger Kontinent verstanden. Diese Erkenntnis brachte die biblische Überlieferung als Vorbild der Welterklärung ins Wanken. Statt der in den T-O-Karten und EpiphaniasDarstellungen wiederholten biblischen Dreizahl etablierte sich ab der Mitte des 16. Jh.s die Präsentation der vier E. als weibliche Allegorien in den Künsten. Nunmehr nahm Amerika als selbstständiger Kontinent auch einen eigenen Platz ein. Die Vierzahl blieb bis weit ins 19. Jh. die Darstellungsform der E. Im europ. Barock
spielten die E.-Allegorien eine große Rolle bei der künstlerischen Ausstattung von Rathäusern, Kirchen und Palästen und sind dort hauptsächlich in den Kontext von Herrschaftsansprüchen, geopolitischer Expansion, Kolonisierung oder Missionierung zu verorten. Dabei wurden diese meist in größere Bildprogramme integriert, oft gemeinsam mit A. der vier Elemente, der vier Jahreszeiten, der Planeten, der olympischen Götter usw. oder um eine Personifikation der Stadt, des Landes oder des Fürsten gruppiert. Unabhängig von der Nationalität der Auftraggeber blieb die Vorrangigkeit Europas erhalten. Der Rang der anderen E. entwickelte sich jeweils in Relation zu Europa, doch belegen die Darstellungen deutliche Unterschiede: Im jesuitischen Kontext (→Jesuiten) in S. Ignazio in Rom (Andrea Pozzo, Der Hl. Ignatius entsendet das Glaubensfeuer über die Kontinente, 1688-1694, Deckenfresko) wurde die Amerika als Kämpferin für den christl. Glauben positiv dargestellt; dagegen porträtiert die Darstellung Giovanni Battista Tiepolos in der Würzburger Residenz 1752/53 Amerika als kannibalische (→Anthropophagie) „Wilde“. Ab der Epochenwende 1800 spielten die Erdteilallegorien in profanen wie sakralen Kontexten so gut wie keine Rolle mehr. Die Ausnahme bilden Börsen- und Handelsgebäude, wo die Kontinente als Sinnbild für den Welthandel eine neue Funktion fanden (z. B. Börse Antwerpen, Börse Hamburg, Bremen Haus Seefahrt, Bremen, Norddeutscher Lloyd). Australien blieb bezeichnenderweise außen vor, was belegt, daß die Aufnahme in das Bildprogramm vor allem (geo-)politischen Überlegungen geschuldet war. Im 20. Jh. werden A. d. E. selten. Bekannte Ausnahmen sind die Serien der Fünf Kontinente des mexikanischen Bildhauers Walter de Maria und des Malers Werner Tübke. Der DDR-Künstler Tübke machte in seiner Version der Fünf Kontinente von 1958 eine globale zeitgenössische Gesellschaftskritik zum Hauptthema des Sujets. Dagegen versuchte de Maria in seiner 1989 entstandenen Skulptur der Fünf Kontinente eine universelle, nicht wertendende Darstellungsform zu finden, die die E. allein durch Material und Struktur (Materialikonographie) charakterisierte und sich damit der eurozentrischen (→Ethnozentrismus) Bildtradition entzog. Ikonographie der A. d. E. Im 16. u. frühen 17. Jh. wurden die Personifikationen der E. mit einer Vielzahl von Attributen, Objekten und Assistenzfiguren ausgestattet, die auf die Ethnien, Fauna, Flora, Religionen und Produkte des E.s verwiesen. Die E. traten als Frauen auf, deren Kostümierung und Attribute nur sekundär auf ethnographischen Studien (Kostümkunden, Reisebeschreibungen etc.) beruhten, stattdessen schematisch die europ. Vorstellung der Länder und Völker des Kontinents reflektierte. Männliche Personifikationen waren selten (bspw. Benoit Thiboust, Die vier Erdteile huldigen dem Hl. Ignatius, 1681, Kupferstich). Haltung und Gewandung drückten dabei die Hierarchie der E. aus: Europa war in der Regel eine thronende Königin, Amerika oder Afrika saßen, knieten oder lagen, oft entblößt oder nackt. 1. Asien. Galt als ältester E. Deshalb häufige Darstellung als ältere, edle Dame oder Königin, ab dem 17. Jh. öfter als türkische Sultanin, nie als Ostasiatin. Der ihr zugeschriebene Reichtum auffällig in Kleidung und Schmuck (kostbare Gewänder, →Perlen, Edel23
A ll e n b y, e d wAr d
steine). Attribute: Rauchfaß, Füllhorn, Blumengirlande, Turban, Halbmond, Dromedar. 2. Europa. Oft als jüngere Schwester Asiens interpretiert. Die frühneuzeitliche Vorstellung eines königlichen und damit erhabenen Europa beruft sich zwar auf den antiken Mythos der Königstochter Europa, entwickelt aber in der Frühen Neuzeit eine eigene Dynamik. Europa als Königin (Europa Regina oder Europa Imago) in Weltkarten ist ab dem 16. Jh. ein verbreiteter Topos, der die Vorherrschaft Europas in der veränderten Weltordnung nach der Entdeckung Amerikas begründete. Die Europa Regina ist in den großen Cosmographien und Reisebüchern der Zeit zu finden; etwa in Sebastian →Münsters Cosmographia von 1544 und Heinrich Büntings Itinerarium Sacrae Scriptura von 1584. Sie geht zurück auf eine Illustration, die Johannes Putsch bereits 1537 für Ferdinand I. angefertigt hatte. Mit Cesare Ripas illustrierter Ausgabe der Iconologia (1606), dem verbreitestem Vorlagenbuch für Allegorien, wurde die Darstellungsform der königlichen thronenden Europa kanonisch. Im herrschaftlichen Kontext meist als thronende Herrscherin mit geistlichen (Tiara und Pontifikalstab) oder weltlichen Herrschaftsinsignien (Krone, Reichsapfel, Zepter und Schwert) oder als Minerva-Typus mit Rüstung, Helm, Schild und Schwert. Häufige Attribute: Globus, ein Architekturmodell (Kirche oder Tempietto), Füllhorn, Pferd. 3. Afrika. Bis zum 17. Jh. meist hellhäutig, dann als Schwarzafrikanerin, seltener als helle islamische Nordafrikanerin identifizierbar, im 19. Jh. auch als Ägypterin. Meist nackt oder wenig bekleidet. Attribute: Elefant, Löwe, Krokodil oder Drache, Kornähren, Sonnenhut, Phoenix und Pyramide, später auch Ketten und Fesseln. 4. Amerika. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 16. Jh.s nahm Amerika einen eigenständigen Platz in der Darstellung der E. ein. Durch die Illustrationen der Briefe Amerigo Vespuccis (1503 in Nürnberg veröffentlicht) war das Bild des kannibalischen Wilden geprägt, das, zusammen mit der kämpferischen Amazone, während des 16. Jh.s dominierte. Mit der Missionierung v. a. Südamerikas wurde Amerika zur kleinen Schwester Europas aufgewertet. Im 19. Jh. vermischte sich die Darstellung der Amerika mit der Columbia, der Personifikation der →Vereinigten Staaten. Nackt oder halbnackt. Attribute: Federschmuck, Pfeil, Köcher u. Bogen, Füllhorn, Gold u. Schatztruhe, Alligator, Papagei oder Jaguar. 5. Australien. Auf dem Frontispiz von Abraham Ortelius’ Theatrum orbis terrarum (1570) in Form einer Büste für die noch unentdeckte „terra australis“. Dies blieb die Ausnahme. Auch nach seiner Entdeckung wurde Australien in den A. d. E. so gut wie nie berücksichtigt. Noch der 1874 vollendete u. von JeanBaptiste Carpeaux entworfene Brunnen am Jardin Marco →Polo in Paris stellt nur vier E. dar. Eine Ausnahme war Bremen, das rege Handelsbeziehungen mit Australien unterhielt: Im Haus Seefahrt zeigt ein Gemäldezyklus der „Fünf Welttheile und Winde“ eine Australia-Gruppe u. an der Fassade des Norddeutschen Lloyd finden sich fünf Friese der fünf E. Q: Theodor de Bry (Hg.), America, 6 Bde., Frankurt / M. 1590-1597. Cesare Ripa, Iconologia overo descrittione di diverse imagini cavate dall’ antichità, e di propria inventione, Rom 1603. Cesare Ripa, Johann Georg Her24
tel u. Gottfried Eichler d. J. (Hg.): Allerley Künsten und Wissenschaften, dienlicher Sinnbildern, und Gedancken, Welchen jedesmahlen eine hierzu taugliche Historia oder Gleichnis beygefüget, Augsburg 1760. L: Regine C. Hrosch, Welttheile und Winde. Arthur Fitgers Gemälde im Haus der Seefahrt zu Bremen, Bremen 1996. KarlHeinz Kohl, „Die Welt als Kleeblatt. Allegorien der drei Erdteile und die Entdeckung Amerikas“, in: Christoph Markschies u. a. (Hg.), Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, 198-211. Sabine Poeschel, Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.-18. Jh.s, München 1985. K ATH A R IN A H IERY
Allenby, Edward, 1st Viscount Allenby of Meggido and of Felixstowe (1919), * 23. April 1861 Brackenhurst Hall, † 14. Mai 1936 London, □ Urne in Westminster Abbey, anglik. Nach vergeblichen Versuchen, im Indian Civil Service aufgenommen zu werden, Eintritt in die brit. Landstreitkräfte. Als Kavallerieoffizier ab 1884 zeitweise in Südafrika stationiert. Im →Burenkrieg trotz umstrittener Methoden, u. a. gegen Zivilbevölkerung, rasche Beförderung bis zum Oberst. 1909 als Generalmajor Inspekteur der brit. Kavallerie. Im Ersten Weltkrieg zunächst führende Kommandopositionen an der Westfront. Am 28.6.1917 Ernennung zum Chef der brit. Egyptian Expeditionary Force. In zwei Feldzügen (Juli-Dez. 1917, Sept.-Okt. 1918) Sieg über die osmanische Armee. Nach →Eroberung Palästinas und Syriens mit der symbolträchtigen Besetzung von Jerusalem und Damaskus Ernennung zum Feldmarschall. 1919 brit. Hochkommissar in →Ägypten. Verwendung in London für formale Unabhängigkeit des Landes bei gleichzeitiger Sicherung des Einflusses Großbritanniens durch Truppenstationierungen und Kontrolle des →Suezkanals. 1925 Pensionierung. G ERH A R D H U TZLER
Almagro, Diego de, * ca. 1475–80 Almagro, La Mancha / Spanien, † 8. Juli 1538 Cuzco / Peru □ Kirche La Merced / Cuzco, rk. A. war der uneheliche Sohn von Juan de Montenegro und Elvira Gutiérrez. Nach schwieriger Jugend und unstetem Leben in →Andalusien schiffte er sich 1514 mit Pedrarias Dávila in Sevilla nach Darién (Zentralamerika) ein, wo er ein Freund und Geschäftspartner Francisco →Pizarros wurde. Unterstützt vom Kleriker Hernando de Luque führten sie von Panama-Stadt aus zwei erfolglose Expeditionen an der südam. Westküste (1524–1528) durch. A. verlor bei einem Gefecht sein linkes Auge. Die Rivalität zwischen beiden verschärfte sich, als es Pizarro in Toledo gelang, von der Krone zum alleinigen Anführer der →Eroberung Perus ernannt zu werden (1529). Während Pizarro Ende 1530 zu dieser dritten Expedition aufbrach, sorgte der erkrankte A. in →Panama für den Nachschub. Erst im Apr. 1533 erreichte er mit seinen Leuten Cajamarca, wo der Inkaherrscher →Atahualpa bereits Geisel der Spanier war. Nach dessen Hinrichtung und der Einnahme Cuzcos amtierte A. als stellvertretender Gobernador der ehem. Inkahauptstadt, während Pizarro im Jan. 1535 die Ciudad de los Reyes (→Lima) gründete. 1535 teilte die Krone die Herrschaft über Peru: Pizarro
A m Azo n A s
wurde Gouv. von Nueva Castilla (Norden), A. derjenige von Nuevo Toledo (Süden). Obwohl unklar war, unter wessen Oberhoheit Cuzco fiel, akzeptierte A. Pizarros Angebot, einen Eroberungszug gen Süden zu unternehmen. Ca. 500 Spanier und einige Inka-Adlige mit großer Gefolgschaft überquerten im Juli 1535 unter Verlusten die Anden, fanden in →Chile aber weder →Edelmetalle noch Städte, statt dessen demoralisierten Angriffe von Mapuchekriegern die Truppe. Nach der Rückkehr durch die Atacamawüste beendete A.s Truppe die von Manco Inca angeführte Belagerung Cuzcos, besetzte die Stadt und nahm deren Verteidiger Hernando Pizarro gefangen (Apr. 1537). A. ließ diesen frei, als Francisco Pizarro ihm dafür die alleinige Macht in Cuzco zusicherte. Im Apr. 1538 besiegten Pizarristen die Almagristen bei Las Salinas und ergriffen A. Er wurde am 8.7.1538 auf Geheiß Hernando Pizarros in seinem Kerker in Cuzco ermordet und öffentlich enthauptet (→Bürgerkriege, Peru). Der 1520 in Panama geborene Sohn A.s und der Indigenen Ana Martínez, Diego de A. „el mozo“ (der Jüngere), sann auf Rache. Nachdem Almagristen im Juni 1541 Francisco Pizarro in Lima ermordet hatten, kontrollierte der Mestize (→Casta) kurze Zeit ganz Peru. In der Schlacht von Chupas unterlagen seine Leute kgl. Truppen um Cristóbal →Vaca de Castro (Sept. 1542). A. „el mozo“ wurde in Cuzco als Rebell hingerichtet und in der Mercedarier-Kirche neben seinem Vater bestattet. Manuel Ballesteros Gaibrois, Diego de Almagro, Madrid 1977. José Antonio del Busto Duthurburu, Diego de Almagro, Lima 1964. John Hemming, The Conquest of the Incas, London 31993. OT TO DANWE RT H Alzate y Ramírez, José Antonio, * 21. November 1737 Ozumba, † 2. Februar 1799 Mexiko-Stadt, □ Friedhof des Convento de la Merced, Mexiko-Stadt (nicht mehr existent), rk. Der mexikanische Geistliche wurde v. a. bekannt als Hg. der Gazeta de Literatura, die zwischen 1788 und 1795 in 115 Nummern erschien und eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des europäischen Gedankenguts in Neuspanien spielte. Die Artikel beschäftigten sich vornehmlich mit naturwissenschaftlichen Themen, mit denen sich A. schon zuvor einen Namen gemacht hatte. Sein Anliegen war die praktische Anwendung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verbesserung der mexikanischen Lebensumstände, wodurch er als Vorläufer des mexikanischen Unabhängigkeitsdenkens gilt. Schon seit den 1760er Jahren war er mit meteorologischen und medizinischen Studien an die Öffentlichkeit getreten, aber auch mit Untersuchungen etwa über die Nopalschildlaus, für deren Handel sich die Reg. zu jener Zeit interessierte. Im Auftrag der Vize-Kg.e seiner Zeit entwarf er zudem eine Neuordnung der Pfarreien der Stadt Mexiko und nahm an →Expeditionen zur Suche nach den neuspan. Quecksilberminen teil. A. war korrespondierendes Mitglied der Académie des Sciences, des Botanischen Gartens von Madrid sowie der Sociedad Bascongada de Amigos del País.
José Luis Peset, Ciencia y libertad, Madrid 1987. Teresa Roja Rabiela (Hg.), José Antonio de Alzate y la ciencia mexicana, Mexiko-Stadt 2000. A LEX A N D R A G ITTERMA N N
Amazonas. Der A. ist mit einer Länge von ca. 6 500 km der zweitgrößte Strom der Erde, besitzt mit ca. 7 Mio. km2 das größte Einzugsgebiet und befördert mehr Wasser als jeder andere Strom. Der A. entspringt verschiedenen Quellflüssen in den peruanischen Anden und mündet in →Brasilien auf Äquatorhöhe in den →Atlantischen Ozean. Das Einzugsgebiet des A. mit seinen mehreren Tausend Zuflüssen ist zum größten Teil von tropischem Regenwald bedeckt, dessen Tier- und Pflanzenvielfalt vielfach noch unbekannt ist. Die Mündung wurde 1499/1500 von Vicente Yáñez Pinzón und Diego de Lepe entdeckt. Als erster Europäer bereiste Francisco de Orellana von →Quito aus 1541/1542 den A. bis zur Mündung. Dieser Expedition verdankt der Fluß wohl seinen Namen: einer der Teilnehmer, der Dominikanermönch Gaspar de Carvajal, hielt diese Reise in einem Bericht fest, in dem er auch von einem Gefecht mit großgewachsenen, hellhäutigen Kriegerinnen berichtet, die er in Anlehnung an den antiken Mythos Amazonen nannte. Über die am A. lebende Bevölkerung vor Ankunft der Europäer und auch noch sehr lange danach ist nur wenig bekannt. Unzählige Stämme gehörten unterschiedlichen Sprachgruppierungen an. Meist kleinere Gruppen von wenigen Dutzend Menschen lebten in festen Siedlungen, aber auch nomadisch oder halbnomadisch; ihre Versorgung basierte sowohl auf Landwirtschaft wie auch auf Jagen und Sammeln. In größeren Siedlungen konnten mehr als 1 000 Personen leben; für die Berichte Francisco de Orellanas von der Existenz großer Städte mit Millionen von Ew. gibt es keine Belege. Archäologische Forschungen belegen die Existenz größerer, komplexer Gesellschaften, die noch vor Ankunft der Europäer verschwanden. Das Interesse Portugals am A.raum war lange Zeit gering, so daß sich die Expansion dorthin trotz span. Unterstützung während der Zeit der iberischen Union (1580–1640) nur langsam vollzog. Eine herausragende Rolle bei der Erschließung durch Europäer spielten die Missionsorden, die allenthalben in Gegnerschaft zu den Siedlern und deren Fang indigener Arbeitskräfte kamen. Auf Grund hoher Preise für afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) konnte sich lange Zeit keine Plantagenwirtschaft entwickeln; die wirtschaftliche Entwicklung auf der Grundlage von Sammelkulturen fiel im Vergleich mit anderen Regionen Brasiliens deutlich ab. Im 18. Jh. war die Region zwischen Spaniern und Portugiesen als Zugang nach →Peru wie auch zu den Edelmetallvorkommen (→Edelmetalle) Zentralbrasiliens umstritten. Auch Franzosen versuchten erfolglos nach der Vertreibung aus dem →Maranhão in der Mündung des A. Fuß zu fassen. Auf Grund der schwachen Anbindung der Region an das →Governo Geral in Salvador da →Bahia und der relativen Nähe zu Lissabon hatte die port. Krone zur besseren Kontrolle weite Teile des brasilianischen Nordens inkl. der A.region dem dafür zwischen 1621 und 1652 bzw. 1654 und 1774 geschaffenen Estado do Maranhão unterstellt. 25
A m b e dk A r , bh i m r Ao r A m j i
John Hemming, Tree of Rivers, London 2008. Doris Kurella, Dietmar Neitzke (Hg.), Amazonas-Indianer, Berlin 2002. Neil L. Whitehead, Native People Confront Colonial Regimes in Northeastern South America (c. 1500– 1900), in: Frank Salomon, Stuart B. Schwartz (Hg.), The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Bd. 3, Cambridge 1999, 382–442. CHRI S T I AN HAUS S E R
Ambedkar, Bhimrao Ramji, * 14. April 1891 Mhow, † 6. Dezember 1956 Delhi, Hindu, ab 14. Oktober 1956 Buddhist, □ öffentl. Verbrennung nach buddhist. Ritus 7. Dezember 1956 Dadar Chaupati (Mumbai) A. gehörte zu den wenigen „Unberührbaren“ (in heutiger Terminologie: Dalits →Dalit-Bewegungen u. →Kastensystem) in Brit.-Indien, welche die Möglichkeit bekamen im Ausland zu studieren. Seine →Bildung hatte er einem Stipendium von Maharaja Sayaji Rao von Baroda zu verdanken. Nachdem er Jura und Wirtschaftswissenschaften in den →USA (Columbia University, New York; Promotion in Polit. Wiss. 1916) und England (London School of Economics; Promotion in Wirtschaftswiss. 1923) studiert hatte, kehrte A. nach →Indien zurück, um das Sprachrohr der benachteiligten Kasten zu werden. Die von ihm geführte Bewegung setzte sich für die Rechte und eine angemessene Repräsentation der Unterprivilegierten ein. Mit dem Slogan „Bilden-Agieren-Organisieren“ (Educate-Agitate-Organise) zielte er darauf ab, das Kastensystem abzuschaffen, um allen die gleichen Rechte zu ermöglichen. A.s Forderung separate Wählerschaften für die marginalisierten Bevölkerungsschichten (depressed classes) einzuführen, erzeugte einen Konflikt mit der Kongreßpartei (→Indian National Congress) und →Gandhi, die befürchteten, daß diese von den Briten instrumentalisiert werden würden, um die Einheit der Inder zu spalten. Als der Communal Award 1932 die separaten Wählerschaften in die Wege leiten sollte, führte Gandhi einen Hungerstreik durch, was A. schließlich zwang, seinen Vorschlag zugunsten des Konzepts der „reservierten Sitze“ für die untersten Kasten aufzugeben. Nach der Unabhängigkeit Indiens trat A. dem Kabinett →Nehrus bei und fungierte als Justizminister. Er war auch maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassung von 1950 beteiligt und ein Verfechter der konstitutionellen Direktive der affirmative action. Kurz vor seinem Tod 1956 konvertierten A. und tausende Dalits zum →Buddhismus, um gegen das diskriminierende Kastensystem zu protestieren und einen möglichen Weg aufzuzeigen, aus diesem zu ‚entkommen‘. Zu seinen Lebzeiten gründete A. drei politische Parteien und wurde 1990 posthum mit der höchsten nationalen Ehrung, dem Bharat Ratna, ausgezeichnet. Christophe Jaffrelot, Dr. Ambedkar and Untouchability, London 2005. Gail Omvedt, Dalits and the Democratic Revolution, Delhi 1994. S I E GF RI E D O. WOL F Amboina Massaker. Schon kurz nach der Einnahme →Malakkas 1511 hatten die Portugiesen den Seeweg zu den Herkunftsorten der →Gewürze entdeckt. Sie fanden heraus, daß die Insel →Ambon für ihre Art von Handel besonders günstig zwischen den nelkenproduzierenden 26
(→Nelken) Nordmolukken (→Molukken) und den südlichen →Banda-Inseln lag, wo →Muskat gedieh. Ihre Strategie, den traditionellen, innerasiatischen Tauschhandel auszuschalten und Monopole sowie Preise zu diktieren, führte zu Widerstand und zur Kriminalisierung der Beziehungen zwischen den Einheimischen und den Europäern. Zusätzlich spaltete die Missionierung durch Orden und die Bevorzugung getaufter Ambonesen die Bevölkerung. Zwar verdrängten die Niederländer nach 100 Jahren die Portugiesen, führten deren Praxis aber effektiver und rücksichtsloser weiter. Fortan ist die Geschichte zunehmend gekennzeichnet von erpresserischem ungleichem Handel und von genozidartigen Säuberungen und Zwangsumsiedlungen sowie einer breiten Blutspur von →Massakern, Rechtsbrüchen und korrumpierenden Praktiken. Auch nahm der verschärfte Wettlauf mit der engl. Ostind. Kompanie um die Alleinherrschaft über die Gewürzproduktion, deren Verkauf und Verfrachtung besonders unter dem Gen.-gouv. der →Vereinigten Ostind. Kompanie, Jan Pieterszon →Coen, immer enthemmtere Formen an. Während Coens Heimataufenthalt setzte der Gen.-gouv. Herman van Speult – von Coen besonders sensibilisiert – 1623 die letzten zehn Engländer sowie zehn jap. →Söldner in der Festung Victoria gefangen und beschuldigte sie, sich zur →Eroberung der Festung verschworen zu haben. Unter der Eisen- und Wasserfolter gestanden sie alles und wurden trotz Widerrufs – bis auf zwei Engländer – enthauptet. Letztere mußten die Reste der engl. Faktorei abbrechen und nach →Batavia schaffen. Unmittelbar vor ihrer Hinrichtung erfuhren die Verurteilten, daß sie gegeneinander ausgespielt worden waren. Japaner und Engländer umarmten sich versöhnt. Die Kontroverse über Anklage, Verfahren und Strafmaß zog sich bis ins 20. Jh. hin. Kein Unrecht oder Verbrechen gegenüber der einheimischen Bevölkerung hat in Europa eine so langlebige Wirkungsgeschichte. Willem Coolhaas, Notes and Comments On the SoCalled Amboina Massacre, in: Dutch Authors on Asian History. A Selection of Dutch Historiography on the Verenigte Oostindische Companie, Dortrecht 1988, 198– 240. Giles Milton, Muskatnuß und Musketen, Reinbek 2002. Frederik Willem Stapel, The Ambon „Massacre“ (9 March 1623), in: Dutch Authors on Asian History, Dortrecht 1988, 184–195. WILFR IED WA G N ER Ambon ist eine kleine Insel in den Mittelmolukken, die mit den Lease Inseln und Teilen Cerams das ambonesische Kulturgebiet ausmacht. Bis zur →Eroberung der →Molukken durch Portugiesen und Niederländer hatte diese Region nur geringe Bedeutung, da sie zwischen den nelkenreichen (→Nelken) Gebieten der Nordmolukken und den Muskat-produzierenden (→Muskat) →BandaInseln lag. Gewürznelken wurden nur auf Cerams Halbinsel Hoamoal in größerer Menge angebaut. Die Europäer erkannten die strategische Lage von A. und erhoben es zur Hauptinsel, von der aus sie versuchten, die beiden Gewürzregionen zu kontrollieren. Die Ankunft der Portugiesen 1511 drosselte die Ausweitung des →Islams in der Region. Viele Dorf-Rep.en konvertierten zum Katholizismus. Anfänglich waren die Portugiesen durchaus willkommen. Die Mißhandlung Einheimischer jedoch,
A m eri k A
insb. die Belästigung der Frauen sowie die Versuche, den Gewürzhandel zu monopolisieren und die Preise durch Eliminierung ausländischer Konkurrenz (u. a. chin. und ind.) zu drücken, brachte die Bevölkerung, unterstützt von den Sultanaten →Ternate und →Tidore, in Aufruhr gegen die Eindringlinge. Die port. Schreckensherrschaft währte fast ein Jh. lang, geprägt durch anhaltende Aufstände, bei denen häufig Moslems und Katholiken zusammen gegen den verhaßten Feind kämpften. Gemeinsam verbündeten sie sich mit den Niederländern, als diese um die Jh.wende vor A. aufkreuzten. Sie schlugen die Portugiesen in die Flucht. Teile der port. Besatzung flüchteten in die Bergdörfer A.s, wo sie eine Mestizengemeinschaft (→Casta) gründeten, die schließlich vollkommen in der einheimischen Gesellschaft aufging. Die Freude über die Befreiung war nur kurz. Die Übernahme durch die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) 1605 brachte eine noch schlimmere Tyrannei. Um ihr Gewürzmonopol durchzusetzen, schreckten die Niederländer vor nichts zurück. Meist christl. Dörfer von A.-Lease wurden rekrutiert, um Kriegs- und Hilfstruppen für Feldzüge (hongitochten) zur Eroberung des islamischen Hoamoal zu stellen. Für diese Expeditionen wurden auch BergAlifuren, Kopfjäger aus dem Inneren West-Serams, eingesetzt. Tausende Menschen kamen ums Leben; viele andere mußten flüchten oder wurden deportiert. Die riesigen Nelkenwälder wurden ausgerottet und durch neue, VOC-kontrollierte Plantagen auf A.-Lease ersetzt. Außerdem wurden Engländer, die kleine Stützpunkte auf Banda und A. errichtet hatten, entweder ermordet (z. B. →Amboina Massaker) oder vertrieben. Die Holländer erklärten alle rk. Dörfer für calvinistisch-protestantisch und versuchten sie gegen die moslemischen auszuspielen. Die Gewaltherrschaft war jedoch so unerträglich, daß Moslems und Christen häufig gegen die VOC die traditionellen Dorfbündnisse (pela) wiederaufleben ließen – die meist heute noch existieren – und sich wehrten. Der Widerstand der Ambonesen wurde erst 1656 durch Admiral Arnold de Vlaming van Outshoorn gebrochen. Die folgenden 150 Jahre waren gekennzeichnet durch Unterdrückung und Ausbeutung. Ambonesischer Widerstand war meist passiv. 1800 beerbte der ndl. Staat die bankrotte VOC. Der letzte gemeinsame Aufstand, die Pattimura-Rebellion, fand 1817 statt, gleich nach dem Ende der brit. Zwischen-Reg. in →Indonesien. Mitte des 18. Jh.s fielen die Preise für →Gewürze so stark, daß der Handel unrentabel wurde. Die wirtschaftlichen Interessen der Niederländer richteten sich auf andere Gebiete im indonesischen Archipel. Um diese zu erobern, benötigten sie ein größeres Heer und gut ausgebildete Beamte. Da sie den Christen mehr trauten, rekrutierten sie diese hauptsächlich von den Mittelmolukken. Die große Armut, die dort seit dem Zerfall des Gewürzmarktes herrschte, sowie die kostenlosen malaiisch-sprachigen Schulen für Soldatenkinder machten den Eintritt in die Kgl. Ndl.-Ind. Armee (→KNIL) attraktiv für junge Männer. Christl. Kinder gehobener Schichten konnten ndl.-sprachige Schulen besuchen, die ersten im Archipel. Absolventen dieser Schulen hatten gute Aussichten, Beamte zu werden. Die ambonesischen Christen hatten nun einen gehobenen Status in der Kolonie und verknüpften
ihr Schicksal vollkommen mit dem der Niederlande. Sie nannten sich „Schwarze Holländer“, während die ambonesischen Moslems bis zum Ende des Kolonialreiches nicht in Erscheinung traten. Die Soldaten spielten eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der militärischen Oberherrschaft →Ndl.-Indiens. Während der jap. Besetzung im →Zweiten Weltkrieg entzogen sie sich allen Anwerbungsversuchen der Japaner. Danach kämpften sie an der Seite der Niederländer gegen die indonesische Freiheitsbewegung. Als Reaktion auf die indonesische Unabhängigkeitserklärung wurde 1950 die Rep. der Südmolukken (Rep. Maluku Selatan, RMS) ausgerufen, die aber schnell von der Armee Indonesiens zerschlagen wurde. Ein Teil der Soldaten erzwang 1951 vor Gericht eine „zeitliche“ Verlegung mit Familien in die Niederlande, wo sie heute noch leben und sich letztlich gut integrierten. Dieter Bartels, In de schaduw van de berg Nunusaku, Utrecht 1994. Heinrich Bokemeyer, Die Molukken, Leipzig 1888. Richard Chauvel, Nationalists, Soldiers and Separatists, Leiden 1990. D IETER BA RTELS Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Aus dem Gedicht Deutschlands Beruf (1861) von Emanuel Geibel (1815–1884). Geibel beschrieb darin nationale Sehnsüchte der Wiederherstellung eines deutschen Kaisertums. In der letzten (7.) Strophe heißt es abschließend „und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“ Kaiser Wilhelm II. beschwor bei einer Tischrede im Landesmuseum Münster zu Ehren der preußischen Provinz Westfalen am 31. August 1907 die nationale Einheit alter und neuer Landesteile und aller sozialen Schichten. In diesem Zusammenhang zitierte er Geibels Wunschtraum als Hoffnung für die Zukunft: „An deutschem Wesen wird einmal noch die Welt genesen.“ Das vereinfachte Zitat mit „soll“ wird häufig als Rechtfertigung für Deutschlands imperialen Machtanspruch angeführt. Es ist jedoch keine Rede nachweisbar, in der der Kaiser diese Sätze im Sinne eines globalpolitischen Anspruchs verwendet hätte. H ER MA N N H IERY American Board of Commissioners for Foreign Missions →Protest. Missionsgesellschaften Amerika, ursprünglich lat. America. Als Name des südlichen Teils des von →Kolumbus entdeckten neuen Kontinents in Anlehnung an den Florentiner Medici – Faktor in Spanien und Entdeckungsreisenden Amerigo →Vespucci 1507 von Matthias Ringmann und Martin →Waldseemüller in deren Cosmographiae Introductio eingeführt und auf komplexen Wegen im Verlauf des späteren 16. Jh.s allg. für den ganzen Kontinent übernommen. In späteren Epochen vermittels unterschiedlichster Zusätze (Nord-, Mittel-, Süda.; Hispano- bzw. Iberoa., →Lateina., Angloa., Indoa., →Mesoa. usw.) nach geographischen, kulturellen oder ethnischen Kriterien differenziert oder mit allg. Anspruch für Teile des Kontinents übernommen (z. B. →USA). Die Cosmographiae Introductio entstand in Saint Dié / Lothringen in einer am Gymnasium Vosagense tätigen, von Herzog René II. geförderten Humanistengruppe als in Latein ver27
A m e r ik A nis c he r e v o lu t i o n
faßtes didaktisches Werk für den Sekundarunterricht, das aus vier Teilen bestand: dem von dem früh verstorbenen Matthias Ringmann verfaßten Text, mit vier ins Lateinische übersetzen Vespucci zugeschriebenen Briefen, dazu zwei von dem Kartographen Martin Waldseemüller erarbeiteten Karten. Eine dieser Karten bestand aus in Buchformat gedruckten Globussegmenten (→Globus), die zum Ausschneiden und Zusammenkleben gedacht waren, während eine große, geographisch präzisere Karte gefaltet dem Werk angefügt war. Von dem rasch mehrere Auflagen erlebenden Werk sind nur wenige Exemplare erhalten und von der angefügten großformatigen Karte gar nur ein einziges, jedoch keiner Auflage genau zuzuordnendes Blatt im Besitz der Library of Congress. Sowohl Text- als auch beide Karten enthalten den Namen America, der im Textteil knapp erläutert wird, auf den Globussegmenten nur grob zuzuordnen ist, dagegen auf der Faltkarte eindeutig mit den port. Entdeckungen, konkret mit →Brasilien, in Verbindung gebracht wird. Deutlich davon abgesetzt und mit Texteinträgen erläutert sind darin die von den Kg.en Kastiliens entdeckten Inseln und Gebiete im karibischen Raum, für die kein Sammelbegriff, sondern nur die Namen der Antilleninseln (→Antillen) und der bekannten angrenzenden Festlandregionen entspr. den span. Bezeichnungen angeführt werden. Die Präzision der Angaben auf der Übersichtskarte steht im deutlichen Gegensatz zu der vagen Beschreibung des neuen Kontinents im Textteil, was der Vermutung Vorschub leistet, daß das erhaltene Exemplar einer späteren, nach Ringmanns Tod erschienenen Auflage vor ca. 1516 entstammt, als Waldseemüller auf weiteren Karten den Namen America nicht mehr verwendete. Die Präzision der Daten auf der Übersichtskarte lassen sich darauf zurückführen, daß sowohl Ringmann als auch Waldseemüller enge Kontakte zu Gregor Reisch, Prof. an der Freiburger Universität und Beichtvater Ks. Maximilians, selbst Sohn einer port. Prinzessin und gut über die Expansionsvorgänge unterrichtet, unterhielten. Dies diente als Begründung der Hypothese, daß Maximilian das Werk anläßlich des Reichstags von Konstanz selbst in Auftrag gegeben habe. Der Name setzte sich über die →Kartographie und Humanistenkreise in Europa außerhalb der Iberischen Halbinsel durch. Im Herrschaftsbereich Spaniens und Portugals wurde der Namen gegen Ende des 16. Jh.s in deren am. Besitzungen langsam als Mittel zur Betonung der Eigenständigkeit angenommen. Von dort aus wurde er im 17. Jh. auch in den Mutterländern umgangssprachlich, nicht aber in offiziellen Dokumenten gebräuchlich, in denen weiterhin die Begriffe Brasil bzw. Las Indias verwandt wurden. Die oben angeführten begrifflichen Differenzierungen entstanden seit dem späten 18. Jh. Renate Pieper, Die Vermittlung einer Neuen Welt, Mainz 2000. Horst Pietschmann, Bemerkungen zur „Jubiläumshistoriographie“ am Beispiel „500 Jahre Waldseemüller und der Name Amerika“, in: Jb. für Geschichte Lateinamerikas 44 (2007), 367–389. HORS T P I E T S CHMANN
Amerikanische Revolution. Zeitgenössische Charakteristik für die Zeit, in der die brit. Kolonien in Nordame28
rika sich für unabhängig erklärten, diese im Unabhängigkeitskrieg gegen England militärisch durchsetzten, sich eigene Verfassungen gaben und letztlich durch die Bundesverfassung 1787 die einzelstaatlichen Interessen in eine föderale Ordnung einbanden. Der Beginn der Periode ist umstritten: für einige Historiker setzt die Unabhängigkeitsbewegung mit der Vorgeschichte zum →Siebenjährigen Krieg/French and Indian War ein, andere datieren sie auf die Reformgesetze des engl. Parlaments nach 1763, dritte lassen sie erst mit der Verabschiedung der Kontinentalassoziation am 20.10.1774 durch den Kontinentalkongreß oder der Veröffentlichung von Thomas Paines Common Sense im Jan. 1776 beginnen. Auch über das Ende der Epoche herrscht Uneinigkeit: Zeitgenossen jedenfalls hielten den Frieden von Paris 1783 für das Ende; eine Mehrheit der Historiker und viele führende Politiker dagegen glauben, daß der Prozeß der Staatsbildung erst mit der Bundesverfassung von 1787 abgeschlossen gewesen sei. Unbestreitbar ist, daß sich die Entfremdung von England, die Ausbildung eines am. Bewußtseins und politischen Willens über längere Zeit hinzog. Beschleunigend wirkten die Irritation mit der engl. Armee im Siebenjährigen Krieg und die Konflikte um die Stempelakte (1765), die Townshend Zölle (1767–68), die Reorganisation der Zollverwaltung und die Agitation um die Errichtung eines anglik. Episkopats in Nordamerika. Auf die überzogene Reaktion auf die →Boston Tea Party (16.12.1773) mit der Verabschiedung der „intolerable acts“ reagierten die Kolonien mit der Continental Association vom 20.10.1774 und der Aufforderung an die Kolonisten, →Committees of Inspection and Observation zu wählen, denen alsbald vielerorts die tatsächliche Reg.sgewalt zufielen. Auf die militärischen Zusammenstöße bei Lexington und Concord (18./19.4.1775) und auf die Schlacht um Bunker Hill (17.6.1775) bei →Boston reagierte der Kontinentalkongreß, Delegierter aller kolonialer Abgeordneter, mit dem beschleunigten Aufbau einer Kontinentalarmee, wiewohl noch viele in Nordamerika – nicht nur spätere Loyalisten – zu der Zeit an einen friedlichen Ausgleich glaubten. →Georg III. und seine Reg. waren zu dieser Zeit zu einer militärischen Niederschlagung der Revolte entschlossen – daran sollte sich bis zur Kapitulation von Charles, Earl Cornwallis (1738–1805) bei Yorktown nichts ändern. Dem schnellen Aufbau des brit. Heeres – im Schnitt ca. 30 000 Soldaten, von denen immer mindestens die Hälfte dt. Hilfstruppen v. a. aus Hessen ausmachten – hatten die Revolutionäre nur wenig entgegenzusetzen: Die Milizionäre waren unausgebildet, ein professionelles Heer aufzubauen dauerte Jahre. Mit der Ernennung am 15. 6.1775 von George →Washington (1732–1799) wurde die Leitung der Kontinentalarmee immerhin einem militärisch erfahrenen Pflanzer übertragen. Trotzdem brachten die Jahre bis zum Herbst 1777 zahlreiche am. Niederlagen: New York und Philadelphia konnten nicht gehalten werden; der Überraschungserfolg bei Trenton, wo ca. 1 000 hessische Soldaten in am. Gefangenschaft gerieten, bot nur einen mageren Ausgleich. Erst die Kapitulation einer engl. Armee unter General John Burgoyne (1722–1794) bei Saratoga im Staate New York (18.10.1777) brachte die Wende. Frankreich erkannte nun die →Vereinig-
A m i s ch e
ten Staaten an und schloß einen Handels-, Allianz- und Freundschaftsvertrag (6.2.1778) ab. Zeitgleich konsolidierten sich die innenpolitischen Verhältnisse in den Einzelstaaten; die schwierigen Verhandlungen um eine Verfassung der Konföderation machten langsam Fortschritte – die Articles of Confederation traten am 1.3.1781 in Kraft. Alle Staaten gaben sich Verfassungen, die weit gespannte Grundrechte garantierten. Die militärische Auseinandersetzung driftete nach 1778 auseinander: Schwerpunkt war nun der Süden, wo die Kampfhandlungen im Okt. 1781 im brit. Fiasko von Yorktown endeten; ein weiterer Schwerpunkt lag im Westen, wo England die meisten großen indianischen Stämme auf seine Seite gezogen hatte. Ein Nebenschauplatz bildete Rhode Island, wo die brit. Marine seit 1776 →Newport besetzt hielt und die Wirtschaft Rhode Islands strangulierte. Neben brutalen Übergriffen von Militärs, Milizionären, loyalistischen und revolutionären Freibeutern (→Freibeuterei) gehörte die schwere finanzielle Krise des Landes – bis 1781 eine galoppierende Inflation – zu den schlimmsten Folgen des Krieges. Als die Nachricht vom Abschluß des Friedensvertrages von Paris (3.9.1783) – ernsthafte Verhandlungen hatten sehr schnell nach Bekanntwerden der Kapitulation von Yorktown begonnen, sie waren am 30.11.1782 abgeschlossen – in →Amerika eintraf, war das erschöpfte Land kaum zu großen Freudenfeiern in der Lage. Aber alle wußten, daß eine Epoche ihr Ende gefunden hatte. In einem blutigen Krieg hatten sich die ehem. 13 Kolonien dank des Verhandlungsgeschicks ihrer Repräsentanten in Paris – allen voran Benjamin →Franklin – ein großes Staatsgebiet vom →Mississippi River im Westen, dem St. Lorenz Strom im Norden bis zum →Atlantik gesichert, welches, da waren sich die Redner sicher, zu einem mächtigen Imperium heranwachsen würde. Don Higginbotham, The War of American Independence, Bloomington, IN 1971. Merrill Jensen, The Founding of a Nation, New York 1968. Hermann Wellenreuther (Hg.), The Revolution of the People, Göttingen 2006. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Amerikanischer Bürgerkrieg. Der A.B. („Civil War“) war der Krieg, der zwischen den als Nordstaaten oder Union bezeichneten →Vereinigten Staaten von Amerika und den abgefallenen Rebellenstaaten der Konföderation (Conferederate States of America, CSA) im Süden von 1861 bis 1865 ausgetragen wurde. Er endete mit der vollständigen militärischen Niederlage der Südstaaten und der Wiedereingliederung der CSA in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ursachen: Während in der älteren Forschung die Ansicht vorherrschte, die CSA habe eine Rebellion in erster Linie wegen ihres Verfassungsverständnisses angezettelt (States’-Rights-Doktrin), besteht seit einiger Zeit kein Zweifel mehr daran, daß die →Sklaverei und divergierende Auffassungen darüber, welchen rechtlichen und moralischen Schutz diese Institution beanspruchen dürfe, die Hauptursache für den A.B. gewesen sind. Zwischen dem sklavenhaltenden Süden und dem sich rasch industrialisierenden Norden klafften ab 1820 immer größere Unterschiede, die alle Bereiche des Lebens (Wirtschaft, Gesellschaft, Politik
und Kultur) berührten. Diese Unterschiede drückten sich sichtbar und nachhaltig in den Debatten um die Zukunft und die Moralität der Sklaverei aus, so daß man von der Existenz „zweier Zivilisationen“ innerhalb einer Gesellschaft gesprochen hat. Obwohl die Sklaverei zwischen 1780 und 1850 in beiden Sektionen des Landes existiert hatte, hatte sie schon während der →Am. Revolution, den 1820er Jahren und verstärkt ab 1830 für gesellschaftliche Konflikte gesorgt. Vertieft wurden diese Konflikte durch die Expansion der Sklaverei in die neu hinzugewonnen Gebiete im Westen und Süden besonders nach dem →Mexikanisch-Am. Krieg (1846–1848), der den USA riesige Landgewinne beschert hatte. Diese Gebiete sollten nach dem Willen der Sklavenhalter im Süden für die Sklaverei geöffnet werden. Verlauf: Strategisch entscheidend für den Sieg des Nordens waren die größeren Reserven bei den Bevölkerungszahlen, in der industriellen Produktion und bei den Transportkapazitäten auf dem Schienenweg. Der Krieg fand v. a. auf dem Gebiet der CSA und im Westen der USA statt. Nach anfänglichen Problemen, die durch zögerndes Vorgehen (George B. McClellans) und Unerfahrenheit des Militärs erklärt werden können, setzten sich ab 1863 die Truppen des Nordens immer deutlicher durch, wobei die Führung des Nordens auf das Mittel der offensiven Materialschlacht setzte, das hohe Verluste erzeugte, den Süden aber letztlich bezwang. Dale Anderson, The Causes of the Civil War, Milwaukee 2004. Michael F. Holt, The Fate of Their Country, New York 2004. George C. Rable, The Confederate Republic, Chapel Hill / NC 1994. N O R B ERT FIN ZSCH Amerikanisierung →Nordamerikanisierung Amische. Christl. Konfession, die 1693 durch Abspaltung von den →Mennoniten entstand; der Begründer und Namensgeber der A., Jakob Ammann, war mit den Mennoniten insb. uneins über die Frage, wer ins Paradies komme. Während die Mennoniten annahmen, dies treffe auf Menschen, die Mennoniten vor Verfolgung schützten, auch dann zu, wenn diese Menschen selbst keine Mennoniten seien, beharrte Ammann darauf, wer kein Mennonit sei, könne unter keinen Umständen der ewigen Seligkeit teilhaftig werden. Hauptverbreitungsgebiet der A. war Ende des 17. / Anfang des 18. Jh.s das Elsaß, von wo die frz. Krone sie vertrieb. Eine neue Heimat fanden sie in Pennsylvania. Theologisch unterscheiden sich A. und Mennoniten nicht wesentlich. Die A. befolgen jedoch eine wesentlich strengere praktische Handhabung ihres Glaubens als die meisten Mennoniten. Die ewige Seligkeit, so die Auffassung der A., verdient nur, wer das göttliche Gebot eines einfachen, arbeitsamen Lebens strikt befolgt. Moderne Technik, die die Arbeit erleichtert und Komfort im Privatleben verschafft (z. B. Autos, Maschineneinsatz in der Landwirtschaft, elektrischen Strom), benutzen die A. daher nicht. Ihre einfache, meist selbst hergestellte Kleidung unterstreicht ihre Weltabgewandtheit. Ihre Kinder werden in eigenen, selbstfinanzierten Schulen streng religiös unterrichtet und lernen dabei auch Deutsch, um die Texte Ammanns lesen zu 29
A m öb e nr u h r
können. Die Mehrheit der ca. 250 000 A. in den →USA lebt in den Staaten Pennsylvania, Ohio und Indiana. Bernd Längin, Die Amischen, München 1990. Steven Nolt, A History of the Amish, Intercourse 1992. CHRI S TOP H KUHL
Amöbenruhr. Amöben sind einzellige Wechseltierchen. Für den Menschen bedeutsam ist die Entamöba histolytica. Diese lebt im Kot. Die Infektion erfolgt durch Kontamination von Trinkwasser und Nahrungsmitteln mit Fäkalien. Eine Infektion verursacht eine akute geschwürige Dickdarmentzündung mit häufigen blutigen Durchfällen. Der Leberabszeß und die Hirnentzündung sind gefürchtete Komplikationen. A. ist in allen warmen Ländern endemisch und ist mit schlechten hygienischen Verhältnissen assoziiert. DE T L E F S E YBOL D Amoy →Vertragshäfen in China Amritsar-Massaker. Das →Massaker fand in der nordind. Stadt A. in der →Panjab-Provinz in Jallianwalla Bagh statt. Es handelte sich dabei um ein umbautes Gartengelände, auf dem sich am 13.4.1919 ca. 20 000 Menschen anläßlich des Baisakh-Festes (→Feste) versammelt hatten. Einige davon demonstrierten gegen die Notstandsgesetzgebung der Briten, die die Fortführung des Kriegsrechts über das Ende des Ersten Weltkrieges hinaus bedeutete und damit wesentliche Grund- und Bürgerrechte einschränkte. Ausgelöst durch die Unruhen unter den demobilisierten, meist aus dem Panjab stammenden Soldaten der brit.-ind. Armee sowie den unbefriedigend verlaufenden Verfassungsdebatten für Brit.-Indien (→Government of India Act, 1919), hatte die brit. Verwaltung ein generelles Demonstrationsverbot erlassen. Dessen ungeachtet versammelten sich die Menschen, was den brit. General Dyer veranlaßte, ein Exempel zu statuieren. Ohne Vorwarnung marschierte er mit einer Einheit Soldaten auf das Gelände und ließ auf die Menschenmenge schießen. Von den innerhalb einer knappen Viertelstunde abgefeuerten 1650 Patronen verfehlten nur wenige ihr Ziel. Die offizielle Zahl der Toten wurde mit 379 angegeben; die tatsächliche Zahl der Opfer wurde von der Untersuchungskommission des →Indian National Congress um fast das vierfache nachgewiesen. Was die Briten anschließend als legitime Maßnahme zur Sicherung der öffentlichen Ordnung rechtfertigten, war in den Augen der ind. Öffentlichkeit schiere Willkür. Im Ergebnis bedeutete das Massaker für die Briten den Verlust von Herrschaftslegitimation (→British Raj), für die Inder, und insb. den Indian National Congress unter →Gandhi, den Beginn des nationalen Freiheitskampfes (→Ind. Nationalismus). Alfred Draper, Amritsar, London 1981. Vishwa Nath Datta / Shadakshari Settar (Hg.), Jallianwala Bagh Massacre, Delhi 2000. MI CHAE L MANN Amundsen, Roald, * 16. Juli 1872 Borge (Fredrikstad), verschollen seit 18. Juni 1928, ev.-luth. Der sehr aktive norwegische Polarforscher erlangte weltweite Bekanntheit, weil er als erster Mensch am 14.12.1911 den Südpol (auf dem Landweg) erreichte. 30
Schon in jungen Jahren hatte er an der →Expedition „Belgica“ (1897–99) zum Südpol teilgenommen. 1903– 1906 erkundete er im Bereich der King-William- und der Victoria-Insel die →Nordwestpassage, welche er dabei auch als erster in ost-westlicher Richtung durchquerte. Insb. ließ sich A. von den →Inuit den optimalen Gebrauch von Hundeschlitten zeigen. Außerdem spürte das Expeditionsteam seit Jahrzehnten gesuchte Überreste der Franklin-Expedition (1845–48) auf. Für den Vorstoß zum Südpol wählte A., nachdem das fünfköpfige Expeditionsteam mit dem berühmten Schiff „Fram“ (Fridtjof →Nansen) in antarktische Gewässer gebracht worden war, den kürzesten Weg über das Ross-Schelfeis und den Axel-Heiberg-Gletscher. Ohne große Probleme und bei gutem Wetter konnte der Südpol erreicht werden. Auch gelang A. die sichere Heimkehr, im Gegensatz zum Briten Robert F. →Scott, der im März 1912 mit der kompletten Mannschaft auf dem Rückmarsch erfror („Wettlauf zum Pol“). 1920 und 1922 mißlang dem Norweger die vollständige Fahrt durch die →Nordostpassage. 1925 versuchte A. ohne Erfolg, mit Wasserflugzeugen den Nordpol zu erreichen. 1926 überflog er tatsächlich im Luftschiff „Norge“ mit Lincoln Ellsworth (1880–1951) und Umberto Nobile (1885–1978) den Nordpol (12.5.1926), allerdings war ihnen Richard Evelyn Byrd (1888–1957) um wenige Tage zuvorgekommen (9.5.1926). Die Leistung des US-Amerikaners wird jedoch angezweifelt. A. ist seit dem 18.6.1928, als er zum Zweck der Rettung der Besatzung des Luftschiffs „Italia“ zwischen Nordnorwegen und Spitzbergen unterwegs war, verschollen. Detlef Brennecke, Roald Amundsen, Reinbek 1995. C H R ISTIA N H A N N IG
Amur. Der A. (chin. Heilongjiang = Schwarzer Drachenfluß) ist ein 2 824 km langer ostsibirischer Fluß, der bei Nikolajewskna-Amure in den Pazifik mündet. Im Vertrag von →Nertschinsk (1689) erkannte das Zarenreich die A.-region als chin. Hoheitsgebiet an. Nach dem →Krimkrieg strebte der ostsibirische Gen.-gouv. →Nikolai M. Murav’ev (Beiname: Amurskij) die Annexion an, der China 1858 im Vertrag von Aigun zuzustimmen gezwungen war. Am A. lebten die Niwchi (russ. Giljaken), ein paläoasiatischer Stamm im Osten →Sibiriens, der von →Jagd und Fischfang lebte und den Schamanismus praktizierte (v. a. Bärenkult). Erst im 19. Jh. – nach der russ. Annexion – erfolgten russ.-orth. Missionsanstrengungen. Seit der Mitte des 19. Jh.s siedelten auch verstärkt jap. und chin. Fischer und Landarbeiter entlang des A. 1900 kam es in der Stadt Blagoweschtschenk zu anti-chin. Ausschreitungen. Bekannt ist die A.-region auch durch den Bau der Baikal-A.-Magistrale, die über 3 100 km von Ust-Kut an der Lena bis nach Komsomolskna-Amur führt. Erste Baupläne reiften in den 1930er und 1940er Jahren im Zusammenhang mit der jap. Expansion in die Mandschurei. Aus strategischen Gründen wollte man eine parallele Strecke zur →Transsibirischen Eisenbahn bauen. Die Bauarbeiten wurden jedoch erst 1973 in Angriff genommen. Der Bau der Baikal-A.-Magistrale galt in der Ära wirtschaftlicher Stagnation als sowjetisches Prestigeobjekt in Russ.-Fernost und zog sehr viele junge
A n dAlu s i en
sowjetische Arbeitskräfte an. Die Strecke wurde jedoch erst 1984 offiziell in Betrieb genommen. Vladimir Arsenev, In den Bergen des Sichote-Alin, Dresden 1953. Kira van Deusen, The Flying Tiger, Montreal 2001. Ernst Georg Ravenstein, The Russians on the Amur, London 1861. E VA- MARI A S TOL BE RG Anchieta, José de, SJ, * 19. März 1534 San Cristóbal de la Laguna, † 9. Juni 1597 Reritiba (Anchieta), □ unbek., rk. Baskischer Abstammung, trat A. nach dem Studium an der Universität Coimbra dem Jesuitenorden (→Jesuiten) bei und kam 1553 nach →Brasilien, wo er als Missionar wirkte. Zusammen mit Manuel da →Nóbrega vermittelte er im Krieg zwischen der port. Krone und einem Bund indigener Stämme an der südöstlichen Küste Brasiliens. Mit der Gründung eines Kollegs (→Kollegium) in Piratininga legte A. zugleich den Grundstein für die Stadt →São Paulo. 1577 wurde er zum Provinzial von Brasilien ernannt, seine Missionstätigkeit erstreckte sich zunächst auf das Gebiet zwischen São Paulo und →Rio de Janeiro, später v. a. auf das Gebiet des heutigen Espírito Santo. Auf Grund seiner regen und erfolgreichen missionarischen Tätigkeit, in deren Mittelpunkt Sprache und darstellende Kunst als wichtigste Kommunikationsmittel standen, bekam er nach seinem Tod den Beinamen ‚Apostel Brasiliens‘. A. hinterließ ein umfangreiches Werk in Latein, Kastilisch, Portugiesisch und Tupí, welches in erster Linie im Dienste der Vermittlung religiöser Inhalte stand. A. verfaßte die erste Grammatik der Tupísprache, von der allerdings umstritten ist, inwiefern sie tatsächlichen Sprachgebrauch wiedergibt oder eine bestehende Sprachenvielfalt zu Bekehrungszwecken reduziert. Seine Briefe und Berichte über die Missionstätigkeit liefern neben wichtigen Informationen über die indigenen Kulturen auch zahlreiche Beschreibungen der natürlichen Gegebenheiten Brasiliens. Unter seiner meist religiösen Poesie erlangte besonders das über 5000 Verse umfassende Gedicht an die Jungfrau Maria Bekanntheit, welches A. während seiner Zeit als Geisel bei indianischen Stämmen verfaßt hatte. Ein episches Gedicht preist die Taten des ersten Gouv.s von Rio de Janeiro und ist das Ergebnis einer Mission A.s, die zur anschließenden Gründung der Stadt führte. Außerdem verfaßte A. zahlreiche geistliche Schauspiele moralisch-religiösen Inhalts, die er überwiegend von Kindern, denen er eine zentrale Rolle bei der Missionierung der indigenen Bevölkerung zuwies, aufgeführt wurden. 1980 wurde A. selig gesprochen. Jose de Anchieta, Obras completas, Hg. u. eingef. v. Armando Cardoso u. a., 11 Bde., São Paulo 1975–1992. Michael Sievernich SJ, José de Anchieta, in: Johannes Arnold, Rainer Berndt SJ u. a. (Hg.), Väter der Kirche, Paderborn u. a. 2004, 967–992. CHRI S T I AN HAUS S E R Andalusien. Abgeleitet von „Al-Andalus“, leitet sich entweder von den 407–429 dort siedelnden Vandalen her ( „[V]andaluz“) oder stammt aus vorrömischer Zeit. Überseegeschichtlich bedeutsam war bereits das in der Bibel „Tarsis“ bzw. „Tarschisch“ genannte Tartessos, ein Fernhandel betreibendes Reich, das sich während der Endbronzezeit um den Guadalquivir erstreckte. Die
seefahrenden →Phöniker, Griechen u. Karthager folgten. Gadir, heute Cadiz, wurde z. B. bereits um 1100 v. Chr. von Phönikern gegründet. A. lag an der Verbindungsstelle von Europa nach Afrika und an jener des antiken Binnenmeeres zum →Atlantik. Die Straße von Gibraltar an den „Säulen des Herakles“ galt bereits in der Antike als Tor zur großteils unbekannten Welt. („Non terrae plus ultra“, so die Meinung zur Zeit der römischen Herrschaft.) 711 begann bei Gibraltar die maurische →Eroberung des größten Teils der Iberischen Halbinsel. Bedeutsam waren das Emirat und Kalifat von Córdoba, das im 10. Jh. zu einem führenden politisch-kulturellem Zentrum nicht nur des Mittelmeerraumes, sondern der gesamten islamischen Welt avancierte. Das Kalifat der Umayaden zerbrach 1031. Die Berberdynastien (→Berber) der Almoraviden und Almohaden konnten bis 1212 (Schlacht von Las Navas de Tolosa) die musl. Herrschaft noch einmal festigen, doch in der 1. Hälfte des 13. Jh.s fielen Ubeda, Córdoba, Jaén u. Sevilla wieder in christl. Hand. Die „Rück“-Eroberung des bereits tributpflichtigen Nasriden-Kgr.s Granada durch die kath. Kg.e Ferdinand II. v. Aragón u. Isabella v. Kastilien 1492 bedeutete der Ende der „Reconquista“-Epoche und den Beginn der Expansion Spaniens nach →Amerika. A., das bereits gegen Ende der Reconquista durch die „Frontera“, die Außengrenze des christl. Abendlandes gekennzeichnet war, wurde nun zum Ausgangspunkt des Hinausschiebens dieser Grenze auf den näheren Atlantikbereich (Küste des →Maghreb, Kanaren, Azoren), den „mittelmeerischen Atlantik“ (Chanu), und schließlich darüber hinaus bis Westindien. Mit Gründung der →Casa de la Contratación (1503) wurde in Sevilla die erste zentrale Verwaltungsinstanz für die transatlantischen Provinzen eingerichtet und das westliche A. zum zentralen Ausgangs- und Zielpunkt der span. Überseeschiffahrt (→Schiffahrt). Die große Bevölkerungsdichte wie auch das sevillanische Monopol führten dazu, daß A. (v. a. Sevilla) mit ca. ⅓ den größten Teil der span. Auswanderer und Conquistadoren nach Hispanoamerika stellte. Von den identifizierbaren Auswanderern zu den →Antillen 1493–1519 stammten 39,7 % aus A., 1520–1539 waren es noch 32 %; insg. handelte es sich um 4 247 Individuen. Die Edelmetall-Lieferungen (→Edelmetalle) aus Übersee führten im 16. Jh., dem „siglo de oro“ („goldenen Zeitalter“), zu einem starken Aufschwung der andalus. Wirtschaft. 1717 wurde die Casa de la Contratación nach Cadiz verlegt, das einen günstiger gelegenen Seehafen als Sevilla besitzt. Das neue gaditanische Monopol wurde zwar 1778 aufgehoben, doch auch in der Epoche des →Freihandels liefen noch 78 % des Überseeverkehrs über Cadiz. Im Span. Erbfolgekrieg eroberte Prinz Georg von Hessen-Darmstadt 1704 Gibraltar für die brit. Krone, die sich den strategisch kaum zu überschätzenden Ort 1713 vertraglich sicherte. Mehrere span. Versuche, die Kontrolle über die Meerenge zurück zu gewinnen, scheiterten an der starken Befestigung des Felsens, und so wurde Gibralter 1830 brit. →Kronkolonie und dauerhaft von A. und Spanien getrennt. Als Napoleon 1808 die Iberische Halbinsel okkupierte (→Okkupation), waren die span. Überseegebiete zeitweise auf sich allein gestellt. Der legalistische Widerstand gegen die Franzosen 31
A n d A mAne n und n i k o b A r e n
formierte sich in A., wo unter dem Schutz der brit. Flotte die von gewählten Vertretern aus Spanien und Übersee zusammengesetzten Cortes de Cadiz 1812 die erste liberale Verfassung für Spanien und Hispanoamerika beschlossen, die allerdings nur wenige Jahre (1812/1813, 1820–1823 u. 1836/37) in Kraft war, da der absolutistisch regierende Kg. Ferdinand VII. (1814–1833) sie ablehnte. Gleichwohl diente sie vielen späteren Verfassungen span.-sprachiger Länder als Vorbild. Durch die Unabhängigkeit der span. Überseeterritorien (1898 Verzicht auf →Kuba, die letzte der Kolonien) verlor A. seine transatlantische Brückenfunktion, obwohl in Architektur, Kultur und Kunst auch heute noch viel an diese Traditionen erinnert. In Anlehnung an den darauf bezogenen Wahlspruch →Karls V. (1516–1556) „plus ultra“ findet sich die antike Säulen-Symbolik noch heute im span. Staatswappen. Juan A. Lacomba (Hg.), Historia de Andalucía, Málaga 2 2002. José Manuel Toribio, Historia general de Andalucía, Córdoba 2005. Bibiano Torres Ramírez (Hg.), Primeras jornadas de Andalucía y América, Huelva 1981. F E L I X HI NZ
Andamanen und Nikobaren. Die tribal geprägten A. (257 Inseln) und N. (62 Inseln) liegen im Golf von →Bengalen, zwischen der ind. (→Indien) Ostküste und der Malaiischen Halbinsel. Arab. (9. Jh.) und südind. (11. Jh.) Quellen berichten von frühen Kontakten mit dem kontinentalen Asien. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s. beanspruchten die Dänen die N., während Österreich dort von 1778–84 eine Faktorei unterhielt. Weder Dänen noch Österreicher konnten einen erfolgreichen Warenaustausch etablieren. 1869 wurden die N., in Anbetracht wachsender Seeräuberei, von den Briten besetzt. Die A. wurden bereits 1789 durch Leutnant Archibald Blair für die engl. East India Company (→Ostindienkompanien) in Besitz genommen, und als Hauptort wurde Port Cornwallis (Port Blair) gegründet. Die Inseln dienten den Briten als Siedlungs- und Strafgefangenenkolonie. Auf Grund der hohen Sterblichkeitsrate gaben die Briten die A. jedoch 1796 wieder auf, etablierten aber infolge des →Ind. Aufstands 1857–59 eine neue Sträflingskolonie (1910 Errichtung des Cellular Jail in Port Blair). In dieser Funktion entwickelten die Inseln einen derart berüchtigten Ruf, daß sie zum Inbegriff des Kala Pani (wörtl.: Schwarzes Wasser), einer Horrorvorstellung des Prinzips der sozialen Entwurzelung und mit Überseereisen verknüpfter Schrecken, wurden. Nach der jap. Besetzung 1942–1945 wurde die Strafgefangenenkolonie aufgelöst, und die A. u. N. wurden 1950 als Unionsterritorium in das unabhängige Indien integriert. Laxman P. Mathur, Kala Pani, Delhi 1985. Hans-Jørgen W. Weihe, History of the Nicobar Islands, Lillehammer 2006. MART I N KRI E GE R Andreoni, Giovanni Antonio (João António) SJ, * 8. Februar 1649 Lucca, † 13. März 1716 Salvador, □ unbek., rk. A. trat 1667 nach dem Studium des Kirchenrechts in Perugia in den Jesuitenorden (→Jesuiten) ein. Er studierte zunächst, lehrte dann Rhetorik und Philosophie, und be32
endete sein Theologiestudium in Rom; 1680 empfing er dort die Ordination. In Rom begegnete A. auch António →Vieira, der ihn vermutlich für die Mission in →Brasilien gewann. Ab 1681 wirkte A. in Brasilien als Lehrer am Kolleg (→Kollegium) in Salvador, Prediger, Novizenmeister und Visitator; später wurde A. auch Provinzial und Direktor des Kollegs von →Bahia in Salvador. Anders als sein Förderer Vieira, der die indigene Bevölkerung von den Siedlern isolieren wollte, trat A. für einen Ausgleich zwischen dem Schutz der Indianer und den Interessen der Siedler an einem Zugriff auf indianische Arbeitskräfte ein. Unter dem Pseudonym André João Antonil veröffentlichte A. 1711 ein ‚Cultura e Opulência do Brasil por Suas Drogas e Minas‘ betiteltes Werk, welches das koloniale Wirtschaftsleben beschreibt und dessen Möglichkeiten aufzeigt. Die detailreiche Darstellung v. a. der →Zucker- und Tabakwirtschaft (→Tabak) sowie des →Bergbaus macht das Werk zu einer der wichtigsten Beschreibungen von Wirtschaft und Gesellschaft im kolonialen Brasilien. Wohl auf Grund der genauen Darstellung der ökonomischen Möglichkeiten der Kolonie, u. a. des Zugangs zu den erst kurz zuvor entdeckten Edelsteinvorkommen im Landesinnern, wurde das bereits gedruckte Buch gleich nach seiner Veröffentlichung konfisziert und eingestampft. Erst ab dem 19. Jh. fand das Werk allmählich Verbreitung, im 20. Jh. dann besonders durch vollständige Nachdrucke und kritische Editionen. André João Antonil, Cultura e Opulência do Brasil por suas Drogas e Minas, hg. v. Andrée Mansuy Diniz Silva, Lissabon 2001. C H R ISTIA N H A U SSER Andros, Edmond, * 6. Dezember 1637 London, † 24. Februar 1714 London, □ St. Anne’s / Soho, anglik. Der Sohn von Amice A., Fürst von Sausmarez, wurde 1678 zum Ritter geschlagen. Sein Vater war ein enger Vertrauter von Karl I. von England. A. war 1674–1681 →Gouv. der Eigentümerkolonie New York (→Eigentümer), 1686–1688 des Dominion of New England, 1692–1698 von Virginia und 1693–1694 von Maryland. Er diente als Royalist im Heer von Karl I., befriedete in einer Reihe von Verträgen als Gouv. von New York die Beziehungen zu den Five Indian Nations und verwirklichte als Vize-Kg. des Dominion of New England die monarchisch-autokratischen Verfassungsvorstellungen von →Jakob II., in dessen kurzer Herrschaftszeit New York zur →Kronkolonie wurde. Im Dominion of New England wegen seiner Durchsetzung der Navigationsgesetze und seiner Landpolitik wenig beliebt, wurde er nach Ankunft der Nachricht von der Flucht Jakobs II. aus England verhaftet und nach England deportiert. Nachdem er von der Krone in allen Anklagepunkten freigesprochen worden war, wurde er 1692 zum Gouv. Virginias ernannt. Auch in Virginia verscherzte sich der fähige und grundehrliche Administrator durch seine hochfahrende Art die Sympathien der Kolonisten. Seine Forderung, Virginia solle in King William’s War die Verteidigungsanstrengungen New Yorks unterstützen, produzierte erste Unstimmigkeiten mit führenden Politikern. Als Anglikaner und Royalist schuf er sich in New England zusätzliche Feinde. In Virginia gestaltete sich anfänglich sein Verhältnis zu dem einflußreichen Repräsentanten des
A ngl o - A m e r ikA n i s c h e P r o tes tA n ti s c h e mi s s i o n s g es ells chAf ten i m 1 9 . j Ah rh u n d ert
Bischofs von London, James Blair, positiv. Meinungsverschiedenheiten über die Etablierung des →College of William & Mary, dessen Präs. Blair war, führten nach einigen Jahren zu solch tiefgreifenden Konflikten, daß A. 1698 von sich aus nach London zurückkehrte. Mary Lou Lustig, The Imperial Executive in America: Sir Edmund Andros, 1637–1714, Madison 2002. William H. Whitmore (Hg.), The Andros Tracts, Boston 1868–1874. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Anecho (Klein Popo) ist eine kleine Stadt von ca. 50 000 Ew. Sie liegt an der atlantischen Küste im Südtogo an der Grenze von →Togo und →Benin, ca. 45 km von der Hauptstadt →Lomé. Die Stadt wurde gegen Anfang des 17. Jh.s von den Guin gegründet, die ursprünglich aus Elmina oder →Accra (heute →Ghana) kamen. Sie leben vorwiegend von Fischfang und der Landwirtschaft. Die Guin sind große Voudou-Anhänger und praktizieren den Voudou-Kult. Jedes Jahr im Aug. wird eine große Feierlichkeit (Ekpessosso) zu Ehren der Voudou-Divinitäten organisiert. A. hat eine große Bedeutung in der togoischen Geschichte. Sie zählt zu den ersten Städten, die Kontakt mit den Europäern hatten. Sie diente als eine Plattform für die Portugiesen und Franzosen, die an der Küste →Sklavenhandel trieben und trug bis 1905 den Namen „Klein Popo“. Besonders in der dt. Kolonialzeit hat A. eine wichtige Rolle gespielt. 1885–1897 war A. Hauptstadt der neu eroberten Kolonie, also der Sitz der dt. kolonialen Administration. Am 1. März 1888 wurden hier die erste Poststelle und am 9. November 1891 die erste Regierungsschule Togos eröffnet. 1905 wurde die erste Eisenbahnlinie Lomé-A. gebaut. Diese Linie wurde „Kokosnußlinie“ genannt, nicht nur weil Kokospalmen entlang der Küste wuchsen, sondern auch weil diese 45 km lange Eisenbahnstrecke dazu diente, trockene Kokosnüsse (Kopra) von A. nach Lomé zu transportieren, um dann per Schiff nach Deutschland exportiert zu werden. Fio Agbanon II, Histoire de Petit-Popo et du Royaume Guin, Lomé 1991. Yves Marguerat, La naissance du Togo, Lomé 1993. Peter Sebald, Togo 1884–1914, Berlin 1988. YAO E S E BI O ABAL O
Angaur →Palau Angkor. Stadt und Region im Siedlungsgebiet der Khmer im heutigen →Kambodscha. Der Name ist vom Sanskrit-Ausdruck nagara (der Entsprechung zum malaiischen Begriff negara) abgeleitet und bedeutet Stadt, Stadtstaat, Stadtgemeinde. Die archäologischen Überreste des alten A., die in der Nähe der heutigen Stadt Siem Reap und des Tonlé Sap, des größten Binnengewässers Kambodschas, im Nordwesten des Landes liegen, erstrecken sich über ca. 1000 km². Sie umfassen Hunderte von Ruinen und wurden von der UNESCO ins Weltkulturerbe aufgenommen. In der Blütezeit des sog. Reiches von A. beherrschte die Stadt das gesamte Gebiet des heutigen Kambodscha sowie den Süden →Vietnams und den Süden und Osten von →Thailand und →Laos. Der Aufstieg A.s begann im frühen 9. Jh. Ihre größte Machtentfaltung erreichte die Stadt im 12. Jh. Der zentrale Tempel- und Mausoleumskomplex, der
heute als A. Wat bekannt ist, wurde unter Khmer-Kg. Suryavarman II. im frühen 12. Jh. erbaut. Der Komplex ist der größte seiner Art im hinduistischen (→Hinduismus) →Südostasien und zählt zu den weitläufigsten religiösen Monumenten der Welt. Er ist in erster Linie der HinduGottheit Vishnu (dem „Erhalter“) geweiht, weniger der Gottheit Shiva (der „Zerstörerin“), die die Khmer-Kg.e ansonsten traditionell bevorzugten. In der 2. Hälfte des 12. Jh.s konnte sich A. gegen eine Invasion durch das benachbarte, im heutigen Südvietnam gelegene Reich von Cham behaupten. Nach diesem Sieg ließ Kg. Jayavarman VII. die abgeschlossene Stadt von A. Thom (dt. große Stadt) errichten, deren religiöses Zentrum der heute als Bayon bekannte Tempel war. Nach historischen und archäologischen Befunden ist davon auszugehen, daß eine oder mehrere langfristige Entwicklungen den Niedergang A.s verursachten: die Verdrängung des Hinduismus durch den Theravada-→Buddhismus im Lauf des 14. Jh.s bewirkte eine Erosion des traditionellen kosmologischen und politischen Weltbildes A.s; längere Dürrezeiten erschwerten die Landwirtschaft und ließen insb. den Ertrag der Reisernten sinken (→Reis); hinzu kamen Erschütterungen von außen wie die Invasion A.s durch die Armee des benachbarten Reiches von Siam-Ayutthaya. Nachdem siamesische Truppen 1431 A. eingenommen und geplündert hatten, wichen kgl. Residenz und Verwaltung nach Lon(g)vek aus. Unter den frühesten A. betr. Zeugnissen auswärtiger Beobachter ist der Bericht des chin. Diplomaten Zhou Daguan aus dem späten 13. Jh. Von Interesse sind auch verschiedene span. und port. Quellen, insb. die Berichte von Bartolomé Leonardo de Argensola und Gabriel Quirogade San Antonio aus dem 17. Jh., in denen u. a. die „Monumente“ bzw. „Ruinen“ in A. beschrieben werden. Die archäologische Arbeit an den Ruinen begann im späten 19. Jh., als Kambodscha dem →frz. Kolonialreich einverleibt wurde, und dauerte an, nachdem das Land unabhängig geworden war. In der Kolonialzeit wurden die Arbeiten von der Pariser École française d’Extrême-Orient (EFEO) durchgeführt. Nach dem kambodschanischen Bürgerkrieg (1970–1975) übernahmen das International Coordinating Committee on the Safeguarding and Development of the Historic Site of A. (ICC) und die Authority for the Protection and Management of A. and the Region of Siem Reap (APSARA) die Leitung. Seit Mitte der 1990er Jahre ist A. für den →Tourismus zugänglich. Fraglich ist allerdings, ob Massentourismus in A. dauerhaft möglich sein wird, nicht zuletzt weil der hohe Wasserverbrauch der in Siem Reap gebauten Hotels die Region auszutrocknen droht. Q: L. A. Cort / P. Jett (Hg.), Gods of Angkor, Seattle / London 2010. L: M. D. Coe, Angkor and the Khmer Civilization, London 2003. M. Freeman / C. Jacques, Ancient Angkor, Bangkok 2000. C. Higham, The Civilization of Angkor, Berkeley 2001. PETER BO R SC H B ER G Anglo-amerikanische Protestantische Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert. In der Mission muß man nach 1730 zwei Entwicklungsstränge unterscheiden: Herrschaftsnahe Mission – wie sie von der →Society for the Propagation of the Gospel und der schottischen 33
AngolA
Society for the Propagation of Christian Knowledge organisiert und finanziert wurde – und herrschaftsferne Mission. Während herrschaftsnahe Mission in den Jahrzehnten nach 1760 allmählich verkümmerte und erst im Zusammenhang mit der neuen imperialen Politik europäischer Mächte nach 1870 eine Renaissance erlebte, ist die Geschichte der christl. Mission zwischen 1730 und 1870 wesentlich durch herrschaftsferne Missionsaktivitäten bestimmt, aus denen sich bis ins 20. Jh. die Glaubensmissionen entwickeln sollten. Wichtige Träger dieser herrschaftsfernen Mission waren die am 2.10.1792 gegründete Particular (or Calvinistic) Baptist Society for Propagating the Gospel Among the Heathen in Kettering, England, und die Aktivitäten independistischer Pfarrer, die 1795/96 zur Gründung der London Missionary Society führten. Das ökumenische, überkonfessionelle Moment war in jenen Jahren so stark, daß selbst die Gründer der Church Missionary Society, der Missionsgesellschaft der anglik. Kirche, sich 1799 nachdrücklich darum bemühten, in ihren „Original Rules“ jeden Eindruck der konfessionellen Parteilichkeit zu vermeiden. Aus dieser u. a. Missionsgesellschaften, die den großen protestantischen Missionen nahestanden, sollten im Verlaufe des 19. Jh.s jedoch wieder herrschaftsnahe Missionsansätze entstehen, die Mission als Zivilisierung der Indianer und ihre Vorbereitung auf ein Leben in einer christl. Gesellschaft begriffen. S. a. →Protestantische Mission in Nordamerika. Andrew Porter (Hg.), The Imperial Horizons of British Protestant Missions 1880–1914, Grand Rapids 2003. Wilbert R. Shenk (Hg.), North American Foreign Missions, 1810–1914, Grand Rapids 2004. Hermann Wellenreuther, Mission, Obrigkeit und Netzwerke, in: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), 193–213. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Angola, im SW Afrikas, ist nach Fläche der siebtgrößte Staat des Kontinents und hat (2009) >18 Mio. Ew. Hinter einem feuchtwarmen Küstenstreifen liegen größtenteils Hochländer von 1200–2600 m. Die Geschichte des Landes ist länger als irgendwo sonst im subsaharischen Afrika von intensiver Interaktion mit Europa (hier: Portugal), ferner auch →Brasilien geprägt; dies zeitigte u. a. einen ungewöhnlichen Reichtum früher schriftlicher Quellen. 1482–86 erkundete Diego Cão erstmals die Atlantikküste beiderseits der Mündung des →Kongo, und nahm Kontakt mit Herrschern in den küstennahen Hochländern auf. Ab ca. 1000 n. Chr. war es hier unter einem Teil der eisenzeitlich zugewanderten bantusprachigen Gruppen (→Bantu) zu politischer Zentralisierung gekommen, aus der sich ab ca. 1400 Loango (nördlich der Kongomündung), das Reich Kongo südlich davon, und noch weiter südlich, am Kwanza, das Mbunda-Reich von Ngola a Kiluanje (Ndongo) entwickelten. Durch politischen, kommerziellen und religiösen Austausch verwandelte sich Kongo in einen christl. Staat. Die Region wurde aber ab Mitte des 16. (bis zum 19.) Jh. zum Hauptsklavenlieferanten für Brasilien, ferner São Tomé (→São Tomé und Príncipe) und die →Karibik. Darauf beruhende Beziehungen und Konflikte mit afr. Nachbarn (Loango, Kongo und Ndongo-Matamba, die schließlich alle 34
zerfielen), aber auch mit europäischen Rivalen (Niederländer, später Franzosen und Briten), wurden begleitet von der Gründung port. Küstenstützpunkte in →Luanda und Benguela (1576/1617) und langsamer militärischer Expansion in deren Hinterland (Pungu a Ndongo, Caconda 1671/83). Im 18. Jh. herrschten dagegen eher stabile Handelsbeziehungen mit politisch unabhängigen Staaten in Kasanje (Imbangala), auf dem OvimbunduPlateau und in Lunda (Ruund) im Osten. Port. Reg., Armee und (wenige) Siedler lebten in Symbiose mit lokalen afr. Eliten. Afr. und luso-afr. Pflanzer lieferten Lebensmittel für die jährlich ca. 10–15 000 Sklaven, die allein über Luanda exportiert wurden. Port. und brasilianische Kaufleute, freie und unfreie Agenten (pombeiros), lusoafr. (ambaquistas) und afr. Zwischenhändler (Imbangala, Ovimbundu) entwickelten ein immer dichter frequentiertes Netz von Fernhandelsrouten ins Innere (Lunda, Chokwe). Parallel zum sehr langsamen Ende von Sklavenexport und →Sklaverei (Abkommen und Gesetze 1815–1878) orientierte sich dieses zunehmend am Karawanentransport von Exportgütern wie →Elfenbein, Wachs, Wildkautschuk, v. a. nach Benguela, und berührte sich schließlich im Luba- und Katangagebiet mit dem Handelsnetzwerk →Sansibars von der Ostküste. Erst im Laufe des 19. Jh.s begann Portugal seine Präsenz im Hinterland auszubauen (europäische Händler, Militärposten, Forschungsreisen); noch zur Zeit der Berliner →KongoKonferenz (1884/85) kontrollierte es kaum 10 % des Gebiets, das ihm schließlich in deren Folge zugesprochen wurde. Noch viel weiterreichende Ansprüche, auf die Kongo-Mündung und sogar eine Landbrücke bis nach →Mosambik, mußte es im Zuge des „Wettlaufs um Afrika“ zugunsten Frankreichs (heute Rep. Kongo), Leopolds Kongo-Freistaat (Demokratische Rep. Kongo) und das brit. protegierte Nord-Rhodesien und Nyassaland (heute →Sambia und →Malawi) abtreten. Die alte Kolonialmacht Portugal war selbst weitgehend abhängig von den Großmächten, v. a. von Großbritannien. Im 20. Jh. entwickelte sich die Kolonialgesellschaft A.s entlang dreier regionaler Siedlungsachsen, die ca. ¾ der Ew. umfaßten: die Ovimbundu im südlich-zentralen Hochland, hinter Benguela; die Mbundu im Hinterland Luandas sowie die Bakongo im Nordwesten. V. a. die Mbundu und in geringerem Maß die Ovimbundu trugen zur mestizischen Schicht der luso-afr., urbanen Eliten bei. Auf Grund ihrer jh.elangen Beziehungen mit den Portugiesen waren besonders die Mbundu innerhalb der Kolonialgesellschaft privilegiert. Dies schuf komplexe Identitäten und Konflikte innerhalb der nicht-weißen Eliten, die sich auch auf die Unabhängigkeitsbewegungen niederschlugen. Während im 19. Jh. v. a. diese luso-afr. Eliten im Sinne der Kolonialmacht die politisch-militärische Kontrolle über die Bevölkerung ausgeübt hatten, versuchte Portugal im 20. Jh., das Prinzip der direct rule durchzusetzen. Bis zum Sturz der konstitutionellen Monarchie in Portugal 1910 lebten allerdings nicht mehr als 12 000 Portugiesen in A.: Soldaten, Händler, Missionare und Häftlinge. Die Versuche, A. systematisch zu besiedeln, waren nicht erfolgreich und die Auswanderungswilligen (→Auswanderung) rekrutierten sich fast nur aus den Unterschichten. Diese zeigten wenig Initiative zur Urbar-
A n g o lA
machung des Landes und ließen die körperlichen Arbeiten von Afrikanern verrichten, gefördert durch eine Kolonialgesetzgebung, die die →Zwangsarbeit unterstützte. Erst unter dem autoritären Regime des →Estado Novo António de Oliveira Salazars’ wurde ab 1930 der politisch-administrative Rahmen für eine systematische koloniale Besiedlung, Durchdringung und Ressourcenausbeutung geschaffen. Die „überseeischen Besitzungen“ wurden zu Provinzen erklärt und damit Teil der port. Nation, begleitet von einer Zivilisierungsmission zur Schaffung eines „multirassischen“ port. Volkes (später „Lusotropikalismus“ genannt). Nach dem →Zweiten Weltkrieg entwickelte sich A. auf Grund seiner Bodenschätze (Diamanten, Kupfer, Eisenerz; Erdöl erst ab den 1960er Jahren) zu einer extrem profitablen Kolonie. Profitabel war auch der Anbau von cash crops für den Weltmarkt: →Kaffee, →Baumwolle, →Zucker und Sisal sowie die Ausbeutung von Tropenhölzern. Der Aufschwung A.s zog mehr Siedler an, was dem →Rassismus gegen die afr. und mestizische Bevölkerung Vorschub leistete. Mit dem Aufbau einer Plantagenwirtschaft wurden afr. Bauern systematisch von ihrem fruchtbaren Land vertrieben. Entspr. der offiziellen Klassifizierung, die bis in die 1960er Jahre gültig war, wurde die kolonialgesellschaftliche Hierarchie zu 99 % von Afrikanern, den sog. indígenas, gebildet, die praktisch rechtlos und den Zwangsmaßnahmen des Kolonialstaates weitgehend ausgeliefert waren. Nur einer kleinen Minderheit von Afrikanern und Mestizen (→Casta) war der Aufstieg in die weiße Gesellschaft durch kulturelle Assimilation möglich. Die Schicht der assimilados umfaßte in den 1960er Jahren ca. 38 000 Afrikaner und 45 000 Mestizen – 1 % von ca. sechs Mio. Ew. Kurz vor der Unabhängigkeit lebten mehr als 300 000 port. Siedler und 50 000 Soldaten in A. Nach Südafrika war A. damit die größte weiße Siedlerkolonie des sub-saharischen Afrika. Auch in den Städten kam es zu einer verschärften, rassistisch unterlegten, ökonomischen Konkurrenzsituation zwischen Schwarzen und Weißen. Eine Zäsur in der politischen und ökonomischen Entwicklung war das Jahr 1961, als verschiedene antikoloniale Aufstände in einen Befreiungskrieg mündeten. Dieser dauerte bis 1974 an und war der längste Afrikas, weil Portugal sich weigerte, seine wirtschaftlich lukrativen afr. Besitzungen aufzugeben. Aus den urbanen Eliten, unter ihnen viele assimilados, die die Aufstände des Jahres 1961 anführten, ging das marxistisch orientierte, von Agostinho Neto geleitete Movimento Popular de Libertação de A. (MPLA) hervor. Auf dem Land entwickelte sich der antikoloniale Kampf unter den Bakongo in den Kaffeegebieten des Nordwestens, mit Holden Robertos gemäßigt nationalistischer Frente Nacional de Libertação de A. (FNLA). In Abgrenzung zu MPLA und FNLA entstand Mitte der 1960er Jahre die von Jonas Savimbi angeführte União para a Independência Total de A. (UNITA), die ihre regionale Unterstützungsbasis unter den Ovimbundu hatte. Diese drei antikolonialen Bewegungen unterschieden sich also personell, soziokulturell, ideologisch und regional erheblich und bekämpften sich erbittert. Verschärft wurde dies durch die Polarisierung ihrer ausländischen Unterstützer auf Grund des des Kalten Krieges. Ab 1961 war Portugal, eines der ärmsten
Länder Westeuropas, in einen kolonialen Dreifrontenkrieg verwickelt, der sich auf A., Mosambik und →Guinea-Bissau erstreckte. Dies trug entscheidend zum Ende des autoritären Regimes des Salazar-Nachfolgers Caetano bei. Am 25.4.1974 wurde seine Reg. durch eine kleine Gruppe von Kolonialoffizieren gestürzt, deren Hauptforderungen die Beendigung der →Kolonialkriege und die Entkolonisierung waren. In A. spitzte sich die innenpolitische Krise nach der „Nelkenrevolution“ in Portugal durch die Rivalität der drei antikolonialen Bewegungen zu. Hoffnungen auf eine einvernehmliche Lösung weckte ein im Jan. 1975 in Alvor unterzeichnetes Abkommen, welches die Bildung einer gemeinsamen Übergangs-Reg. und Armee sowie Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung vorsah. Diese Übereinkunft wurde bereits im Frühjahr 1975 gebrochen, als ein Bürgerkrieg zwischen den drei Bewegungen begann. 90 % der Portugiesen, unter ihnen viele Fachkräfte, verließen überstürzt das Land. Am 11.11.1975 erklärte die MPLA unter Agostinho Neto einseitig die Unabhängigkeit und rief eine sozialistische Volksrep. aus. Mit Unterstützung kubanischer Truppen, sowjetischer Ausrüstung und Rückhalt in den urbanen Zentren und den MbunduGebieten um Luanda bildete die MPLA die Reg. Sie kontrollierte zunächst aber kaum mehr als die Hauptstadt und mußte sich das Staatsterritorium erneut erst in einem langwierigen Krieg gegen interne und externe Widersacher militärisch und politisch erobern. Während die von →Zaire und den →USA geförderte FNLA im Norden an Bedeutung verlor, wurde die von Südafrika (v. a. im Kontext des namibischen Befreiungskrieges) unterstützte UNITA, die sich aus ihrem Ovimbundu-Kerngebiet in den Südosten zurückgezogen hatte, zum eigentlichen Widersacher der MPLA. Bis Ende der 1980er Jahre war A. somit Schauplatz eines Stellvertreterkriegs auf angolanischen Boden. Auch in den 1990er Jahren machten Kriegsausgaben noch ca. 30 % des Staatsbudgets aus. Während die exportabhängige Wirtschaft auch durch nachlassende ausländische Investitionen einbrach, wurden nach innen der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen vernachlässigt und oppositionelle Strömungen unterdrückt. Die Einheitspartei MPLA schränkte bürgerliche Freiheiten ein und verstaatlichte die Medien. Ab 1991 wurden, auch durch internationalen Druck, marktliberale Reformen (SEF Programm) eingeführt und mehrere Anläufe zu Waffenstillstands- und Friedensabkommen mit der UNITA unternommen. Sie sahen die Einsetzung einer gemeinsamen Reg. und eines Mehrparteiensystems mit demokratischen Wahlen vor, scheiterten aber regelmäßig. Auf beiden Seiten entwickelten sich Kriegsökonomien auf Basis von Öl- (MPLA) und Diamantenexport (UNITA). Erst 2002 endete der Bürgerkrieg nach dem Tod des UNITA-Anführers Jonas Savimbi (LuenaMemorandum). Er brachte ca. 600 000 Opfer und bis 3 Mio. Flüchtlinge und trug dazu bei, daß heute ⅓ der Bevölkerung in den Städten, insb. Luanda, lebt. 2008 errang die MPLA bei den Wahlen zur Nationalversammlung 82 % der Stimmen (UNITA 10 %). 2010 erhielt das Land eine neue Verfassung, die den Präs. zum Staatsoberhaupt, Reg.schef und Oberbefehlshaber der Armee bestimmt. A. ist heute potentiell eines der reichsten Länder Afrikas; es 35
Angst
ist neben →Nigeria größter Ölproduzent des Kontinents, fünftgrößter Produzent von Rohdiamanten und hat den höchsten Anteil ausländischer Direktinvestitionen, v. a. aus China und Brasilien. Dennoch entwickelt sich der produktive Sektor nur langsam; selbst Agrarprodukte müssen aus Brasilien und Südafrika eigeführt werden. David Birmingham, Empire in Africa: Angola and Its Neighbors, Athens 2006. Patrick Chabal und Nuno Vidal, Angola, New York 2007. Tony Hodges, Angola: From Afro-Stalinism to Petro-Diamond Capitalism. Bloomington 2001. A C H I M V. OP P E N / CHRI S T I NE HAT Z KY / NADI NE S I E GE RT / UL F VI E RKE
Angst. Ein nervöser Gefühlszustand, der sich, im Unterschied zur Furcht, die sich konkret auf ein bestimmtes Objekt bezieht, einer unbestimmten oder unbekannten Gefahr oder Bedrohung gegenüber sieht. Da Kontakte mit bislang unbekannten Dingen, Tieren, Menschen und Verhaltensweisen zu den Grunderfahrungen der europäischen Expansion gehörten, war A. ein stetiger Begleiter in diesem Prozeß, der schon bei der ersten Fahrt von Christoph →Kolumbus in den Bordbüchern nachweisbar ist. Die Geschichte der europ. Expansion belegt, daß die A. vor dem Unbekannten genauso regelmäßig kompensiert bzw. sublimiert wurde. Das ist durchaus ein erstaunlicher Befund, den Historiker bislang als selbstverständlich hingenommen haben. Dabei verweisen psychologische Untersuchungen auf die Besonderheit des Vorganges. Nur eine Minderheit von Individuen ist überhaupt in der Lage, die Angst vor dem Unbekannten erfolgreich zu unterdrücken. Historisch bieten sich verschiedene Erklärungen an, warum die Überwindung der A. vor dem Unbekannten ein regelmäßiger Vorgang im Rahmen der europäischen Expansion geworden ist. So könnte A. durch andere Basisemotionen sublimiert worden sein. Zu nennen wären etwa die Gier nach bestimmten Gütern, das Streben nach materiellem Gewinn oder auch eine extrem ausgeprägte Neugierde. Zu bezweifeln ist gleichwohl, ob dominante Vorstellungen aus einer Zeit der Priorität ökonomisch-materieller Interessen so einfach auf vergangene Zeiten und Verhaltensweisen übertragen werden können. Denkbar sind auch andere Motive: ein spezifisches Sendungsbewußtsein und die Überzeugung, unter einem besonderen Schutz zu stehen, Gottvertrauen, der Glaube, auserwählt zu sein u. an die eigene Kraft, Fertigkeit und Überlegenheit, Mut, Eigensinn bis hin zum Starrsinn, Glück, Zufall. Im Experiment nachgewiesen wurde, daß die Überwindung der Angst vor dem Unbekannten euphorieähnliche Zustände zur Folge haben kann, ungeahnte Energien freisetzt, zu einem größeren Selbstvertrauen führt und eine größere Risikobereitschaft hervorruft. Gemeinsame Erfahrungen im Abenteuer stärken zudem das kollektive Gemeinschaftsgefühl. Diese Phänomene lassen sich auch im Verlauf der europ. Expansion nachweisen. Die vielfache Überwindung der A. als Begleiterscheinung der europ. Expansion mag historisch nicht nur zu noch größerem europ. Selbstvertrauen und ausgeprägter Risikobereitschaft geführt haben, sondern in der Folge auch über eine Kette von Mut, Übermut, Überheblichkeit und Arroganz 36
einen europ. Sendungsglauben und einen spezifischen europ. →Rassismus hervorgerufen haben, der zum Charakteristikum der europ. Expansion und für den europ. →Imperialismus wurde. Agnes E. van den Berg / Marlien ter Heijne, Fear versus Fascination: An Exploration of Emotional Responses to Natural Threats, in: Journal of Environmental Psychology 25 (2005), 261–272. Lori Holyfield / Gary Allan Fine, Adventure as Character Work: The Collective Taming of Fear, in: Symbolic Interaction 20 (1997), 343– 363. Rachel Kaplan / Stephen Kaplan, The Experience of Nature: A Psychological Perspective, Cambridge 1989. H ER MA N N H IERY
Animismus (lat. anima, -us, „Seele“ oder „Geist“) bezeichnet den Glauben an die Beseeltheit von Erscheinungsformen der belebten und der unbelebten Natur, bzw. materieller Gegenstände. Edward B. Tylor beschrieb den A. in seinem evolutionistischen Stufenschema als älteste Manifestation menschlicher Religiosität. Grundvoraussetzung für den A. ist die Vorstellung einer persönlichen, ungebundenen, frei beweglichen Seele, die ihren Träger (bspw. den menschlichen Körper) überlebt. Später wurde der Begriff insb. in der Ethnologie, Religionswissenschaft und Soziologie modifiziert. Heute gilt er umgangssprachlich vielfach als negativ konnotierter Sammelbegriff für sog. „Naturreligionen“. Edward B. Tylor, Primitive Culture, London 1871. D O MIN IK E. SC H IED ER
Anson, George, 1st Baron Anson (1747), * 23. April 1697 Colwich , † 6. Juni 1762 Moor Park, □ Familiengruft / Shugborough Hall, anglik. A. ging 1712 zur kgl. Marine und avancierte bis 1749 zum Volladmiral; von 1751 bis zu seinem Tode war er bis auf eine kurze Unterbrechung Erster Lord der Admiralität. Ab Mitte der 1740er Jahre an initiierte er mit einer Reihe von weitreichenden administrativen und technischen Reformen die brit. Kriegsmarine. Am besten bekannt aber ist A. durch seine vierjährige Reise um die Welt, die er 1740 antrat mit dem Hauptziel, Anschläge auf span. Besitzungen an der pazifischen Küste Südamerikas zu verüben, und die in seiner Kaperung einer schatzbeladenen Galeone 1743 östlich der →Philippinen gipfelte. A. wurde bei seiner Rückkehr 1744 nach England triumphal empfangen, jedoch hatte er seinen Ruhm auf erheblichen Kosten errungen: Von den acht Schiffen in seinem ursprünglichen Geschwader vollendete nur sein Flaggschiff, die Centurion, die Reise, und von den ursprünglichen 1 900 Besatzungsmitgliedern, die von England in See gestochen waren, starben fast 1 400 unterwegs, die meisten davon an →Skorbut oder vor Hunger. Der offizielle Bericht über A.s heldenhafte Reise, der 1748 erschien und mit Kupferstichen reichlich illustriert war, war ein spektakulärer buchhändlerischer Erfolg und legte einen Maßstab für die Reiseberichte späterer Kapitäne und Seereisenden fest. Richard Walter u. a., A Voyage Round the World In the Years MDCCXL, I, II, III, IV by George Anson. London 1974. Glyndwr Williams, The Prize of All the Oceans, London 2000. JA MES BR A U N D
A n th roP oP hAg i e
Antananarivo. Gegründet wurde die heutige Hauptstadt →Madagaskars – so jedenfalls will es die mündliche Überlieferung, die durch historische Forschung teilweise gestützt wird – unter der Regentschaft Andrianjakas (1610–1630), Herrscher über ein kleineres Kgr. im madagassischen Hochland. Dieser, so heißt es, besiegte die zuvor an diesem Ort lebende Vazimba-Bevölkerung und veranlaßte im Anschluß, daß 1 000 Soldaten und Siedler sich auf dem Hügel niederließen, der bis heute das Stadtbild prägt. Daher auch der Name: die „Stadt der Tausend“. Bis Ende des 18. Jh.s war der markante Hügel durch einen Kg.spalast gekrönt, Sitz eines der zahlreichen Kgr.e, die sich zu dieser Zeit im madagassischen Hochland finden. Unter der Regentschaft Andrianampoinimerinas (1787–1810) und seines Sohnes →Radama I. (1810–1828) wurde A. zum Zentrum zunächst des Kgr.s Imerina, anschließend des madagassischen Hochlands und schließlich beinahe ganz Madagaskars. Die →Geographie der Stadt, gelegen zwischen 1 245 und 1 473 Höhenmetern, eignet sich dabei gut, die Idee sozialer Ungleichheit zu repräsentieren, die die madagassische Gesellschaft traditionell prägt. Der Kg.spalast auf dem höchsten Punkt, darum die Häuser des Adels und der Eliten; im Tal die Felder der Reisbauern (→Reis), die einfachen Leute und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) – eine Asymmetrie, die bis heute Bestand hat, auch wenn in der Oberstadt heute die Reichen wohnen. Mit Hilfe brit. Missionare und Handwerker, aber auch des bedeutsamen frz. Händlers und Schmiedes Laborde, den ein Schiffbruch nach Madagaskar verschlug, wurde A. über fast das gesamte 19. Jh. hinweg zum zivilisatorischen Zentrum Madagaskars ausgebaut; ein Zentralismus, den sich die Franzosen zu Nutze machten, als sie die Stadt Ende des 19. Jh.s, obwohl schwer zu erreichen, zur Hauptstadt der Kolonie Madagaskar erklärten. Dieser Zentralismus hat jedoch, auch nach der Unabhängigkeit Madagaskars, seinen Preis: Bis heute kämpft die Stadt damit, des enormen Wachstums Herr zu werden, das „Tana“ seit 1900 verzeichnet – von ca. 50 000 auf 200 000 Ew. 1960, bereits 600 000 um 1970 und inzwischen wohl ca. zwei Mio. Auch schürt die herausragende Bedeutung der im Hochland gelegenen Hauptstadt die politische Spaltung der Inselbevölkerung zwischen Hochland- und Küstenbewohnern, eine Spaltung, die in den Augen der Küstenbewohner dadurch begründet ist, daß sie wegen ihrer peripheren Lage nicht gleichberechtigt behandelt werden – die jedoch v. a. auch deshalb fortbesteht, weil sie sich immer wieder für politische Zwecke instrumentalisieren läßt. Catherine Fournet-Huérin, Vivre à Tananarive, Paris 2007. MARKUS VE RNE Antarktis. Viele Karten der Antike, des Mittelalters und der frühen Zeit unterstellen die Existenz eines großen, die Landmassen der Nordhalbkugel ausgleichenden Südkontinents. V. a. Claudius Ptolemäus (100–175) hatte der „terra australis incognita“ zum Durchbruch verholfen. Tatsächlich gelang die erste Überschreitung des südlichen Polarkreises erst 1773 dem Briten James →Cook (1728–1779). Fabian Gottlieb von →Bellingshausen (1778–1852), Baltendeutscher im russ. Dienst, wird in
der Regel als Entdecker des sechsten Kontinents angesehen, weil er am 27./28.1.1820 die Küstenlinie des ostantarktischen Kg.in-Maud-Lands (oder die davor treibenden Eisberge) exakt beschrieb, einen „eisigen Kontinent“ ausmachte und am 18.2. offenbar die Sør-RondaneBerge erkannte. Da der irische Brite Edward Bransfield (1785–1852) schon am 30.1.1820 zwei Berge im westantarktischen Grahamland, dem Nordteil der Antarktischen Halbinsel, gesehen haben dürfte, hält der Streit um die Priorität allerdings noch an, zumal auch Nathaniel Palmer (1799–1877) von seinem Heimatland →USA ins Spiel gebracht wird. Er soll im Nov. 1820 Palmerland (Südteil der Antarktischen Halbinsel) entdeckt haben. Zumeist wird angenommen, daß der Anglo-Amerikaner John Davis (* 1784) am 7.2.1821 als erster Mensch das antarktische Festland betrat, an der Hughes-Bucht in Grahamland. Der Brite James Weddell stieß 1823 im Weddellmeer weiter nach Süden vor als alle zuvor. In schneller Abfolge wurden die restlichen ostantarktischen Territorien gesichtet. Im Febr. 1831 entdeckte die brit. „Southern Ocean Expedition“ (1830– 1832) unter John Biscoe (1794–1843) Enderbyland. Die frz. A.-Epedition (1837–1840) unter Dumont d’Urville (1790–1842) landete am 21.1.1840 auf einem Inselchen unmittelbar vor Adelieland, das gewöhnlich dem Wilkesland zugerechnet wird. Am gesamten Wilkesland vorüber segelte die von Charles Wilkes (1798–1877) geleitete „United States Exploring Expedition“ (1838–1842), der beinahe auch die Sichtung des westantarktischen Ellsworthlands geglückt wäre. Der Brite James Clark Ross (1800–1862) unternahm von 1839 bis 1843 eine große Fahrt zum Ross-Schelfeis und vor die Küsten des Victorialands, wobei er den Südrekord von J. Weddell überbot und nah am magnetischen Südpol war. Nachdem die Gestalt der A. in den wesentlichen Zügen herausgefunden war, kam die A.-Forschung zur Ruhe – bis der 6. Internationale Geographische Kongreß in London 1895 zu neuen Erkundungsreisen aufrief, mit Erfolg, denn es folgten die →Expeditionen: belg. „Belgica“ unter Adrien de Gerlache 1897–1899, „Southern Cross“ unter Carsten E. Borchgrevink/Norwegen (mit der ersten Überwinterung in der A.) 1898–1900, dt. „Gauss“ unter Erich von →Drygalski 1901–1903, schwedische Expedition unter Otto Nordenskjöld 1901–1903, zwei frz. Expeditionen unter Jean-Baptiste Charcot 1903–1905 bzw. 1908–1910. Weiterhin stellten C. E. Borchgrevink, Robert F. →Scott („Discovery“ 1901–1904) und Ernest Shackleton („Nimrod“ 1907–1909) in den Jahren 1900, 1903 bzw. 1908 jeweils neue Südrekorde auf. Schließlich konnte Roald →Amundsen im „Wettlauf zum Pol“ gegen R. F. Scott den Südpol am 14.12.1911 zuerst erreichen. Ian Cameron, Antarctica, Boston 1974. CH R ISTIA N H A N N IG
Anthropophagie. Der aus dem Griechischen stammende Begriff setzt sich aus anthropos „Mensch“ und phagein „essen“ zusammen und bezeichnet den Verzehr von Menschenfleisch. In der Antike schrieb man A. den Fremdvölkern zu, die an den Rändern der damals bekannten Welt lebten. Über das Mittelalter hinweg hielt sich die Vorstellung von Menschen oder →Fabelwesen, 37
A n t iim P e r iAl i s m u s
die der A. frönten. Bereits die ersten Amerika-Reisenden, Christoph →Kolumbus und Amerigo →Vespucci, glaubten solche Anthropophagen entdeckt zu haben. In Anlehnung an die Vokabeln cariba und caniba, Worte aus den Karib- und Aruak-Sprachen, prägte Kolumbus die span. Form caníbal (dt. „Kannibale“). Kannibalismus drückte die vollkommene Andersartigkeit der am. Kulturen aus und avancierte in der Folgezeit zum stereotypen Alteritätsmerkmal. Erschöpfen sich die meisten Berichte von der A. außereuropäischer Völker in vagen Behauptungen, beschrieben die drei Reisenden Hans →Staden (1557), André Thevet (1557) und Jean de Léry (1578) den Kannibalismus der brasilianischen Küstenbewohner als komplexes Ritual, das zum Kern ihrer kulturellen Praxis gehörte. Alle drei Autoren nutzten die Darstellung der A. zur Kulturkritik, indem sie die kannibalischen Tupí als wild, aber ehrenhaft mit der Sitten- und Ehrlosigkeit der Europäer kontrastierten. Im 18. Jh. trat im Zuge der großen →Expeditionen in die Südsee die Inselwelt des Pazifik als bevorzugter Aufenthaltsort der Kannibalen das Erbe →Amerikas an. Abgesehen davon beschuldigte man auch Minderheiten ungerechtfertigter Weise des Kannibalismus. In Europa wurde der Vorwurf A. zu praktizieren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit besonders gegen Juden und →Hexen erhoben. Bildliche Darstellungen des Hexenbanketts in dämonologischen Werken und der bildenden Kunst des 17. Jh.s nutzten als Vorlage Illustrationen zur A. in frühen Reiseberichten aus Amerika. Abgesehen von übertreibenden oder erfundenen Darstellungen gibt es aber auch glaubhafte europäische Augenzeugen sowie Selbstzeugnisse indigener →Ethnien. Der Verzehr von Menschenfleisch erscheint dabei bis ins 20. Jh. als integraler Bestandteil von einheimischen Kulturen in Südamerika, Afrika oder der Südsee, der teilweise keineswegs tabuisiert war, bisweilen sogar positiv konnotiert wurde. Als Täter traten dabei zumeist Männer, seltener Frauen oder Kinder in Erscheinung. Ein direkter Zusammenhang des Kannibalismus mit bewaffneten intertribalen Auseinandersetzungen scheint es dabei z. B. unter vielen Ethnien in Melanesien gegeben zu haben, denn dort verspeisten siegreiche Krieger häufig getötete Feinde. Die jeweilige Kolonialmacht und Missionare versuchten im Zuge einer Bekehrung zum Christentum und Hinführung zu abendländisch-christl. Vorstellungen, die Einheimischen vom Kannibalismus abzubringen, wobei sich kannibalische Praktiken als äußerst resistent gegenüber europäischen Normen erwiesen. Für eine breit angelegte Diskussion sorgte das 1979 erschienene Buch The man-eating myth von William Arens, der darin bestritt, daß es jemals Kannibalismus in institutionalisierter Form gegeben habe. Dabei stützt sich Arens auf ausgewählte Berichte aus allen Teilen der Welt und kommt zu dem Ergebnis, daß europäische Vorurteile und Phantasien oder eine bewußte Abwertung der indigenen Bevölkerung durch die europäischen Kolonialmächte für entspr. Berichte verantwortlich seien. Eine Ausnahme sei der sog. Hungerkannibalismus, der nur praktiziert werde, um das eigene Überleben zu sichern. Arens’ Thesen stießen unter Wissenschaftlern auf ein geteiltes Echo. Neben seiner sicherlich berechtigten Mahnung hinsichtlich einer Instrumentalisierung des Kannibalismusvorwurfs 38
gab es auch deutliche Kritik, wobei Arens oberflächlicher und verfälschender Umgang mit Quellen nachgewiesen werden konnte. Inzwischen scheint auch auf Grund naturwissenschaftlicher Beweise die Existenz von institutionalisiertem Kannibalismus als gesichert, wobei sich die Motive stark unterscheiden. Gelegentlich genannt werden die Unterversorgung mit proteinreicher Nahrung, die Einverleibung von Eigenschaften eines Toten wie Mut oder Stärke und das Ausleben von Aggression. Bei endokannibalischen Praktiken – also dem Kannibalismus an Angehörigen an der eigenen sozialen Gruppe wie bspw. den eines natürlichen Todes gestorbenen Verwandten – scheint eher das ehrende Andenken an den Toten eine Rolle zu spielen. Iris Gareis, Kannibalismus, EDN Bd. 6, Stuttgart 2007, 322–327. Simon Haberberger, Kolonialismus und Kannibalismus. Fälle aus Dt.-Neuguinea und Brit.-Neuguinea 1884–1914, Wiesbaden 2007. João Dal Poz, Entre a Razão e Prática: o sistema cinta-larga na Amazônia contemporânea, in: Campos. Revista de Antropologia Social 8 (2007), 11–25. IR IS G A R EIS / SIMO N H A B ER B ER G ER
Antigua →Antillen Antiimperialismus. Haltung, die expansionistische Politik, d. h. die Aneignung/Ausübung von Herrschaft bzw. beherrschendem Einfluß eines Staates in Gebieten außerhalb seiner Grenzen grds. ablehnt. In den →Vereinigten Staaten entstand eine antiimperialistische Strömung in Reaktion auf den seit Mitte der 1880er Jahre u. a. von Alfred →Mahan propagierten Imperialismus, der sich aus geopolitischen und sozialdarwinistischen Erwägungen sowie aus der Vorstellung der →Manifest Destiny und der Befürchtung speiste, im Vergleich mit den v. a. in Afrika expandierenden europäischen Staaten zurückzubleiben. Die Antiimperialisten, verwiesen auf die von George →Washington in seiner Abschiedsrede 1797 begründete Tradition des Isolationismus und darauf, daß die US-Verfassung angesichts der Entstehung der Nation im Kampf gegen eine Kolonialmacht die Einrichtung von Kolonien der USA nicht vorsehe. 1893/94 drangen sie in der Auseinandersetzung um die Frage, ob die USA →Hawai’i annektieren sollten, mit diesen Argumenten durch. Im Vorfeld des →Span.-Am. Kriegs gewann in der öffentlichen Meinung jedoch der Imperialismus die Oberhand. Am 15.6.1898 wurde die Annexion Hawai’is beschlossen. Am selben Tag wurde unter Vorsitz des ehem. Gouv.s von Massachusetts, George Boutwell (Rep.), die Anti-Imperialist League gegründet. Einer ihrer Vize-Präs. wurde der ehem. US-Präs. Grover Cleveland (Dem.). Die v. a. von der akademischen Elite getragene Organisation setzte sich in Versammlungen und Publikationen gegen jede überseeische Expansion der USA ein, hatte auch Anhänger im US-Senat, konnte jedoch nicht verhindern, daß dieser den Frieden von Paris, der die Annexion der bislang span. →Philippinen vorsah, 1899 annahm (57:27). Mit der Wiederwahl des imperialistisch gesonnenen US-Präs. McKinley 1900 war die Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und A. zugunsten des ersteren entschieden. Die Anti-Imperialist
A n zer, j o hA n n bA P ti s t v o n
League bestand zwar noch bis 1920, hatte jedoch keine Bedeutung mehr. Die ungünstigen Erfahrungen, die die USA ab 1898 als Kolonialmacht auf den Philippinen machten, verliehen indes dem A. in der öffentlichen Meinung einen gewissen Auftrieb, so daß die USA sich auf eine derartige kolonialistische Unternehmung kein zweites Mal einließen. Als weiteres Beispiel für A. läßt sich das Engagement versch. liberaler und linksgerichteter brit. Organisationen für eine Modifizierung und mittelfristig für das Ende der brit. Herrschaft in →Indien in den 1920er/30er Jahren anführen (u. a. Commonwealth of India League, Indian Labour Party, India Conciliation Group). Für die Wahrnehmung der Indienfrage in Großbritannien kam diesen von Briten getragenen Organisationen erhebliche Bedeutung zu, da eine ausschließlich von Indern getragene Unabhängigkeitsbewegung nicht mit derselben Aufmerksamkeit in Großbritannien hätte rechnen können. E. Berkeley Tompkins, Anti-Imperialism in the United States, Philadelphia 1970. Nicholas Owen, The British Left and India, Oxford / New York 2007. CHRI S TOP H KUHL
Antikolonialismus →Kolonialkritik Antillen. Archipel, der das karibische Meer umschließt (→Karibik); der Name geht auf eine im 15. Jh. in Europa verbreitete Legende zurück, nach der es im →Atlantischen Ozean eine Insel namens Antilia gebe, auf der eine christl. Gemeinde lebe, die von port. Geistlichen gegründet worden sei, die im 8. Jh. vor den Mauren über See geflohen seien. Man unterscheidet die Großen von den Kleinen A. Die Großen A. umfassen →Kuba, →Jamaika, Hispaniola und das von den →USA verwaltete Puerto Rico. Östlich und südlich schließen sich die Kleinen A. an, die teils aus souveränen Staaten, teils aus zu europäischen Staaten oder den USA gehörigen Inseln bestehen. Souverän sind Antigua u. Barbuda, →Barbados, Dominica, Grenada, Saint Kitts und Nevis, Saint Lucia, St. Vincent und die Grenadinen sowie →Trinidad und Tobago. Zu den USA gehören die US Virgin Islands (vormals Dän.-Westindien, →Dän. Kolonialreich), zu Großbritannien die British Virgin Islands, Anguilla und Montserrat, zu Frankreich →Guadeloupe, →Martinique, La Désirade, Marie-Galante, Les Saintes, Saint Barthélemy; Saint Martin ist geteilt zwischen Frankreich und den Niederlanden (St. Maarten), zu denen außerdem Aruba, Bonaire, Curaçao, Saba und Sint Eustatius gehören. Die Frankreich und den Niederlanden zugehörigen Inseln werden als frz. bzw. ndl. A. bezeichnet. Klimatisch werden die Kleinen A. eingeteilt in die nördlich gelegenen Inseln über dem Winde, in denen der Nordost-Passat für feuchtheißes →Klima sorgt (von den Virgin Islands im Norden bis Grenada im Süden, oft rechnet man auch Trinidad und Tobago dazu, obwohl sie klimatisch nicht dazugehören), und die südlich gelegenen Inseln unter dem Winde (neben Aruba, Bonaire und Curaçao zahlreiche kleine, zu →Venezuela gehörende Inseln), auf denen trockeneres Klima herrscht.
Frauke Gewecke, Die Karibik, Frankfurt/M. 2007. Bernd Hausberger (Hg.), Die Karibik, Wien 2005. C H R ISTO PH K U H L
Antisklavereibewegung →Abolitionismus ANZAC (Australian New Zealand Army Corps). Das A. wurde im Ersten Weltkrieg im Rahmen der Empireeinheiten aus Einheiten Neuseelands und Australiens gebildet. Ursprünglich bestand es aus der 1. Australischen Division unter Generalmajor William Thorsby Bridge und der New Zealand and Australian Division sowie aus drei Kavalleriebrigaden. In den Kämpfen um →Gallipoli trat die 2. Australische Division hinzu. Nur wenige Soldaten Australiens und Neuseelands meldeten sich freiwillig zum Dienst für das Empire, so daß mit Zwangsmaßnahmen eine Ist-Stärke von 15 % der ursprünglich wehrfähigen Männer für den Einsatz auf Gallipoli aufgebracht wurde (4 500 Mann). Ziel der Gallipoli-Aktion sollte es sein, den Zugang zum Schwarzen Meer für die Truppen der Entente zu öffnen und eine Verbindung zu Rußland herzustellen. Entgegen dem Mythos vom ausdauernden Kämpfer Australiens wurden die Truppen seelisch und moralisch vernichtet. Nach den verlustreichen Kämpfen wurde während der Auffrischung der Truppen der neuseeländische Anteil ausgegliedert und einer eigenen Division unterstellt. Das Korps selber wurde in das I. Korps, bestehend aus der 1., 4. und 5. Division unter General Birdwood, und das II. Korps unter General Godley aufgeteilt und nach Frankreich in Marsch gesetzt. Nur in der Schlacht von Pozières kämpfte das Korps als geschlossener Verband. Die Kavallerietruppen dienten im vorderen Orient im Kampf gegen das Osmanische Reich. Nach Beendigung des Krieges wurden die Truppen in die Heimat zurückgeführt. Eric M. Andrews, The ANZAC Illusion, Cambridge 1994. A N D R EA S LEIPO LD
Anzer, Johann Baptist von (seit 1897), SVD, * 16. Mai 1851 Weinrieth, † 24. November 1903 Rom, □ Campo Teutonico / Rom, rk. Der aus der bayerischen Oberpfalz stammende Sohn eines Bauern und Metzgers trat am 29. 10.1875 in die kurz zuvor von Arnold Janssen im ndl. Steyl begründete Missionsgesellschaft vom Göttlichen Wort (Societas Verbi Divini, SVD, →Steyler Missionare) ein. Als dessen erste Abgesandte betraten er und der Südtiroler Josef →Freinademetz Ende Apr. 1879 chin. Boden. Als Missionsfeld erhielt die junge Gesellschaft Anfang 1881 den südlichen Teil der chin. Provinz Shandong (Shantung). Bereits am 13.12.1885 erfolgte die Errichtung des Vikariats Süd-Shantung, zu dessen erstem Apostolischer Vikar (Bischof) A. am 24.1.1886 geweiht wurde (1886 Titularbischof von Telepte). Am 23.11.1890 unterstellte der patriotische Bischof seine Mission dem Schutz des Dt. Reiches, nachdem zuvor auch für dt. Missionare das Katholikenprotektorat Frankreichs galt. 1896 erfolgte unter erheblichem politisch-diplomatischen Druck und gegen wütende chin. Proteste der Einzug seiner Mission nach Yanzhou (Yenchow), Sitz der zivilen Verwaltung von Süd-Shantung und – entscheidender – „Heimat des 39
A o t e A r oA
Konfuzius“ und „Wiege der Religion der Gelehrten“. Den streitbaren Bischof, der stets in der Attitüde des überlegenen Europäers und in dem Bewußtsein auftrat, daß hinter seinen Forderungen und Drohungen die europäischen Schutzmächte standen, kümmerten die Gefühle der Chinesen indes wenig. Diplomatischer Druck und die politische Schwäche Chinas führten auch dazu, daß A. in der chin. Beamtenhierarchie stufenweise bis zum Mandarin 1. Ranges (1902) aufstieg, was der Stellung eines Kabinettsrats oder Ministers entsprach. Seinem Geltungsbedürfnis und seiner selbst stilisierten Rolle als Bindeglied im dt. China-Engagement entsprach es schließlich, daß er sich nach der Ermordung zweier seiner Missionare (1.11.1897) den Hauptanteil an der anschließenden Annexion →Kiautschous beimaß. Außerdem stellte er im Namen der Mission weit überzogene Sühneforderungen, ebenso wie nach dem →Boxeraufstand. Mehrfach beschäftigte sich selbst der Reichstag mit den hohen Entschädigungsforderungen und der zwiespältigen Rolle A.s im dt. Pachtgebiet. Auf der anderen Seite standen sein Geschäftssinn und seine organisatorischen Fähigkeiten, die zur Festigung der Mission in SüdShantung beitrugen. Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus 1884–1914, Paderborn 1982. Karl Josef Rivinius, Weltlicher Schutz und Mission, Köln / Wien 1987. Ders., Im Spannungsfeld von Mission und Politik: Johann Baptist Anzer, Nettetal 2010. HORS T GRÜNDE R Aotearoa (d. h. „lange weiße Wolke“; ao: Wolke, tea: weiß, roa: lang, groß) sollen nach einer indigenen Legende die ersten ankommenden →Maori gerufen haben, als sie die Nordinsel des später von den Europäern so genannten Neuseeland sahen. Name. Da Aotea auch der Name eines der ersten Großkanus gewesen sein soll, mit dem die neuen Siedler eintrafen, liegt eine doppelte Namensgründung vor. A., auch in übertragener Form als „Land der langen weißen Wolke“, wurde spätestens st. Mitte des 19. J.s auf beide Inseln übertragen. Der New Zealand Geographic Board entschied 2013, die Maorinamen zukünftig gleichberechtigt neben den europ. zu setzen, neben A. auch „Te Ika-a-Māui“ („der Fisch von Māui) für die eigentliche Nordinsel u. „Te Wai Pounamu“ („Jadewasser“, „Jademeer“) für die Südinsel. Während sich die letzteren bislang wenig durchgesetzt haben, wird A. von immer mehr Institutionen als gleichberechtigt zu Neuseeland benutzt (u. a. von der Regierung selbst: „kāwanatanga o A.“, newzealand.govt.nz, oder von der Nationalbibliothek: „Te Puna Mātauranga o A.“). Die größte Tageszeitung des Landes, „The New Zealand Herald“ (Auckland) benutzt seit 23. Juli 2012 den Maorinamen „Te Herora o A.“, in der Internetversion sogar exklusiv. Andere (wie die anglik. Kirche) sind schon dazu übergegangen, A. einen Vorrang gegenüber Neuseeland zuzusprechen. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis A. den europ. Begriff verdrängt. Der Name Nova Zeelandia/Nieuw Zeeland (Neuseeland), 1646 von Joan Blaeu, dem Kartographen der →VOC gegen rivalisierende Bezeichnungen (Staten-Land, NeuNiederlande, Neu-Holland) eingeführt, etablierte sich, nachdem James →Cook ihn in anglisierter Fassung – 40
New Zealand – angenommen u. ihm in der englischsprachigen Welt zum Durchbruch verholfen hatte. Frühgeschichte. A. gehört zu den letzten von Menschen besiedelten Regionen der Erde. Die Besiedlung begann erst mit den Maori, die in mehreren Wellen um 1200 aus dem östlichen →Polynesien eintrafen. Die Datierung wurde aus Maori-Genealogien abgeleitet, später von europ. Wissenschaftlern in Frage gestellt, die eine frühere Besiedlung um 800 postulierten. Neuere archäologische u. humangenetische Untersuchungen tendieren dagegen eher wieder dazu, eine spätere Besiedlung im zweiten Drittel des 13. Jh.s. anzunehmen. Nach den Legenden der Maori waren Kupe u. seine Frau Hine Te Taparangi die ersten Siedler. Mehrere „waka hourua“ (Großkanus), auf denen die „iwi“ (Stämme) der Maori bis heute ihre Ahnenfolge („whakapapa“) zurückführen, folgten. Rückreisen u. der Kontakt mit der urspr. Heimat brachen, vielleicht wegen einer Änderung des Klimas u. der Meeresströmungen in Folge der kleinen Eiszeit (→Wikinger), bald ab. Maori-Legenden bzw. -Geschichten berichten übereinstimmend davon, die ankommenden Siedler hätten bereits Menschen, rothaarig, zwergenähnlich („Turehu“, „Urukehu“ u. a.), vorgefunden, deren Siedlungsgebiete u. Anführer namentlich überliefert wurden. Bis heute gibt es jedoch, trotz zahlreicher, z. T. abenteuerlicher Theorien, keinen archäologischen Nachweis für die Existenz von Menschen vor der Ankunft der Maori. Die Moriori, die Bewohner der Chathaminseln im Südosten A.s, galten Teilen der europ. Wissenschaft als Vertreter einer prä-Maori-Kultur, doch sieht man sie nun als originäre Maori, die nach Einführung europ. Schußwaffen in innertribalen Kämpfen restlos vernichtet wurden. Die ersten Maori-Siedler brachten die „kumara“ (Süßkartoffel), die „kiore“ (polynesische Ratte) u. den Hund (kuri) aus ihrer Heimat mit. Nachweisbar sind massive Rodungen im 14. Jh. u. eine radikale Veränderung der Ökologie in sehr kurzer Zeit. Um die 30 Vogelarten sind auf Grund extensiver Bejagung, eingeführter Krankheiten u. Schädlinge sowie planmäßiger Zerstörung ihres Habitats durch Brandrodung innerhalb nur eines Jh.s ausgestorben. Hauptproteinquelle für die Einwanderer waren verschiedene →Moa-Arten. Regelrechte MoaSchlachtfelder, an denen buchstäblich zehntausende von Vögeln massakriert wurden, sind wissenschaftlich untersucht u. ausgewertet worden. Nach dem Verschwinden der Moa fehlten größere Tiere, die als Nahrung hätten dienen können. Mangelerkrankungen u. Tuberkulose waren die Folge, die im archäologischen Befund ebenso nachgewiesen werden konnten wie das Auftreten von →Anthropophagie. Kontaktgeschichte. Mit Abel →Tasmans Erscheinen vor der Küste A.s 1642 begann der Europäerkontakt, zunächst noch sporadischer Natur. Intensivere Beziehungen gab es ab dem zweiten Drittel des 18. Jh.s. Fast gleichzeitig mit dem Briten James →Cook kamen die Franzosen Jean-François de Surville u. Marc Marion du Fresne nach A. Ein direkter frz. Kolonisationsversuch von Charles de Thierry (1793–1864) war der Hintergrund für die brit. Annexion u. den Vertrag von →Waitangi 1840, der seinerseits einen neuen globalimperialen Wettlauf iniiierte. Alle Häuptlinge, die sich gegen den Vertrag aussprachen, waren rk. Sie bauten auf
A o teA ro A
Unterstützung durch die Franzosen. Die frz. Kolonie blieb aber auf das Städtchen Akaroa (gegründet 1840) begrenzt. Der erste rk. Bischof von A., ja im Pazifik überhaupt, war jedoch ein Franzose (Jean Baptiste François Pompallier, 1801–1871; Bischofsweihe 1836). Der Kontakt mit den Europäern bedeutete für die Maori zunächst die Übernahme innovativer Technologien u. die Aneignung bislang unbekannten Wissens. Dabei waren jene Maori, die an der Küste lebten, im Vorteil, weil sie schneller und häufiger Zugang zu Europäern u. deren Fertigkeiten erhielten. Europäer lebten als →Beachcomber, Gefangene mit oder ohne sklavenähnlichen Status, und auch als freiwillige Ratgeber, meist vor Ort verheiratet in den jeweiligen Clan eingebunden, in fast jedem „iwi“. Das europ. Aufgehen in der einheim. Kultur (→Going Native) zeitigte ganz ähnliche Phänomene wie unter den →Indianern Nordamerikas. In A. nannte man die europ. →Kulturüberläufer Pākehā Māori. Mit europ. Waffen wurden in den vier Jahrzehnten zwischen 1800 u. 1843 blutige intertribale Bürgerkriege geführt (sog. „Musket Wars“). Die Auswirkungen dieses Vierzigjährigen Krieges sind vergleichbar mit jenen des Dreißjährigen Krieges in Mitteleuropa: Zerstörung, Verwüstung u. demographischer Niedergang. Die Bev. flüchtete oder wurde vertrieben. Die Zunahme an Sklaven u. indigener →Sklaverei war auch dem Verhalten europ. u. am. Museen geschuldet. Diese überboten sich in Preisen für Köpfe tätowierter Maori. Die große Nachfrage generierte nicht nur einen regelrechten Handel mit tätowierten Maorischädeln, sondern führte auch dazu, daß die tribalen Kriege durch die Jagd nach Kopftrophäen für europ. Museen eine zusätzlichen Impetus bekamen. Zu den Kriegsverlusten gesellten sich die katastrophalen Folgen eingeführter Krankheiten. Gegen Grippe u. Masern, Pocken, Keuchhusten u. Scharlach hatten die Maori keine Resistenzen ausgebildet – ebensowenig wie gegen die von europ. Matrosen eingeführten venerischen Erkrankungen. Für die Maori mit ihrer traditionell geringen Kinderzahl führte dies zu einem demographischen Absturz, der das Überleben der Ethnie an sich in Frage stellte. Dazu kam der Verlust traditionellen Wissens u. die eigene, offene Infragestellung traditioneller Werte u. Verhaltensweisen. Zur demographischen Katastrophe trat eine Sinn- u. Identitätskrise. Nur eine Generation nach dem Ende der tribalen Kriege begannen die sog. Maorikriege. Es war der Versuch, die zahllosen Landnahmen europ. Einwanderer, v. a. durch die →New Zealand Company, deren Maßnahmen z. T. in offenem Widerspruch zu den Garantien des Vertrages von Waitangi standen, zumindest aufzuhalten. Militärisch u. strategisch waren die Maori den Europäern ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen. Den Ausschlag gab die demographische Entwicklung. 1850 kamen auf einen Europäer noch drei Maori. 1853 gab es immer noch doppelt so viele Maori wie eingewanderte Europäer. Als ein erster offizieller Zensus 1856/57 56 049 Maori zählte, lag die Anzahl der Europäer wahrscheinlich schon annähernd gleich hoch, wenig später schon darüber (1858: 59 328 Europäer). Eine regelrechte Flut an europ. Einwanderern ergoß sich im Gefolge des →Goldrausches ab ca. 1860 ins Land. Gegen Ende des Jh.s kamen sieben Europäer auf einen Maori.
Als „Strafe“ für die Maorikriege konfiszierte die Kolonialreg. bis 1890 95 % des Maorilandes, insges. 270 000 km². Die offene Mißachtung des Vertrages von Waitangi rechtfertigte 1877 Chief Justice James Prendergast (1826–1921) damit, der Vertrag sei legal nicht bindend („a legal nullity“). Maorikg. Tāwhiao, der sich 1884 in London bei Kg.in Victoria persönlich beschweren wollte, wurde schon v. Kolonialstaatssekretär mit der Aussage abgewiesen, dies wäre eine interne Angelegenheit Neuseelands. Anglisierung. A. hatte ab dem zweiten Drittel des 19. Jh.s seinen Charakter nicht nur bevölkerungsmäßig völlig verändert. Orts- u. Landschaftsnamen waren fast vollständig angli-politisiert worden. Neben Namen brit. Politiker der Zeit (Palmerston, Russell, Gisborne) oder Militärhelden (Nelson, Wellington) wurden v. a. Briten verewigt, die im kolonialen →Indien tätig waren: Auckland (nach Lord A., Generalgouv. v. Indien), Hastings (Warren H., 1. Generalgouv. v. Bengalen), Clive (nach Robert →Clive), Havelock, Napier. Der relativ hohe Anteil schottischer Einwanderer (etwa 25 % in den 1860er Jahren) fand ebenso seinen Niederschlag, z. B. in Dunedin (gälisch Dun Eideann für Edinburgh) oder Invercargill. Die europ. Einwanderer hatten in nur wenigen Jahrzehnten auch das originäre Landschaftsbild umgestaltet: Kauri, Puriri, Kahikatea u. andere einheimische Bäume wurden entrindet oder großformatig gerodet u. durch aus Europa bekannte Arten ersetzt – die Einwanderer wollten sich in ihrer neuen Heimat „heimisch“ fühlen. Planmäßige Entwaldungen machten aus den Urwäldern A.s Weiden und Wiesen, auf denen 1885 bereits 3 152 525 Schafe grasten. Wie die Flora wurde auch die Fauna planmäßig europäisiert: Von Forellen, Karpfen, Lachsen u. Welsen, die in Bächen, Flüssen u. Seen ausgesetzt wurden, über Spatzen u. Amseln, Igeln, ja (zur Förderung der europ. Jagd) Gemsen u. Elchen. Aus dem benachbarten →Australien wurden das Opossum u. das Känguruh eingeführt. Politisches System u. Entwicklung. Formal war A. eine brit. Kronkolonie mit einem Gouv. (st. 1917 Generalgouv.) an der Spitze. Der „New Zealand Constitution Act“ schuf 1852 eine eigenes Kolonialparlament, das aus zwei Kammern bestand (der „Legislative Council“, das Oberhaus, wurde 1951 abgeschafft) und zunächst nur beratend tätig war. Die ersten Wahlen fanden im Oktober 1853 statt; die erste „General Assembly“ kam im Mai 1854 in Auckland zusammen. Das Wahlrecht war zunächst nur europ. Männern gestattet; bis 1879 war es zudem an Landbesitz gebunden. Seit 1868 durften die Maorimänner vier Abgeordnete ins Parlament wählen. Damit war A.-Neuseeland die erste europ. Kolonie, die der männlichen indigenen Bev. das Wahlrecht gewährte. Der erste Maori im Kabinett war Wiremu Katene (* ca. 1827, † 12. November 1895) 1872. In der Auseinandersetzung um die Prohibition, ein allgem. Verbot des Genusses von Alkohol, erhielten auch die Frauen 1893 das aktive (→Frauen-) Wahlrecht (passives Wahlrecht 1919; erste weibl. Abgeordnete Elizabeth McCombs 1933; erste Ministerin Mabel Bowden Howard 1947; erste Maoriministerin 1972 Tini Whetu Marama Tirikatene-Sullivan, * 1932, † 2011). Hauptstadt war zunächst (1840) Russell, dann (1841) Auckland und – einem Vorschlag von New South Wales, Victoria und Tas41
A o t e A r oA
manien folgend – ab 1865 Wellington. Die koloniale Selbstverwaltung leitete seit 1856 ein „Colonial Secretary“, der ab 1869 Premier hieß und aus dem 1907 – mit Verleihung des Status als „Dominion“ ein Premierminister wurde. Die Selbstverwaltung A.s beschränkte sich auf die Innenpolitik, während die Außenpolitik bis 1943 von London bestimmt wurde. Ein urspr. geplanter Anschluß an den neuen Bundesstaat Australien kam, wohl auch wegen der großen Entfernung, nicht zu Stande. Die brit. Bev.mehrheit betrachtete sich als kolonialer Vorposten des Mutterlandes. Die Beteiligung am →Burenkrieg und am →Ersten Weltkrieg sah man als selbstverständlich an. Die Einführung der allgem. Wehrpflicht 1916 wurde – im Gegensatz zu Australien – ohne erkennbaren Widerstand von oben herab dekretiert. Mit der militärischen Leistung der eigenen Soldaten (→ANZAC), v. a. in →Gallipoli, bildete sich aber eine spezifische Sonderidentität heraus, eine Art kolonial-nationaler Gründungsmythos, ein historischer „Blutakt“, der die Gleichberechtigung gegenüber dem Mutterland auf der Grundlage militärischer Verdienste konstituierte. ANZAC Day (25. April) wird seit 1920 als nationaler Feiertag begangen. Trotz der außenpolit. Fremdbestimmung entwickelte noch das koloniale A. im Windschatten Australiens einen eigenen Subimperialismus. Auf Betreiben des Premiers →Seddon unterstellte London die →Cookinseln u. →Niue am 11. Juni 1901 der Verwaltung A.s. Der für die Cookinseln zuständige Minister wurde der Maori Maui →Pomare. 1914 besetzten neuseeländische Truppen die deutsche Kolonie →Samoa. Premiermister →Massey erreichte im →Versailler Vertrag die Unterstellung Samoas als Mandat des →Völkerbundes u. eine Gewinnbeteiligung am Phosphatabbau in →Nauru. 1926 kam auch →Tokelau unter die Verwaltung Wellingtons. Der eigene koloniale Status A.s ging nur schrittweise verloren. Das Statute of Westminster erweiterte 1931 die autonomen Sonderrechte. Dennoch verblieb Neuseeland-A. länger als alle anderen Dominions seinem britischen Erbe treu. Als letztes der Dominions führte man am 1. Februar 1935 eine eigene Währung ein. Eine Art Außenministerium wurde erst angesichts der jap. Bedrohung eingerichtet; den ersten Gesandten entsandte man 1944 in die Sowjetuinion. Eine Botschaft in Deutschland wurde 1966 errichtet. 1972 in München wurde „God defend New Zealand“ zum erstenmal bei den Olympischen Spielen gespielt, aber erst 1977 wurde das Lied offiziell zur „zweiten“ (nach „God Save the Queen“) Nationalhymne erhoben. 1975 endete die finanzielle Unterstützung für Einwanderer aus Großbritannien. Bis 2003 blieb aber der Privy Council in London oberste Gerichtsinstanz für Neuseeland. A. war damit die letzte britische Kolonie, die in juristischen Fragen letztendlich von Großbritannien abhängig blieb. Gewisse kolonialhistorisch bedingte Eigentümlichkeiten verblieben auch danach. So besitzt A. – im Gegensatz zu Australien – keine geschriebene Verfassung. Das moderne A. Das angelsächsische Neuseeland schien auch nach dem →Zweiten Weltkrieg lange Zeit geradezu aus der Welt gefallen. Noch Mitte der 80er Jahre des 20. Js. benötigte man selbst für Telefongespräche innerhalbs A.s die Vermittlung. Seit den letzten beiden Dekaden des 20. Jh.s hat sich A. aber stark verändert. 42
Zum einen wurde versucht, historische Ungerechtigkeiten gegenüber den Maori zumindest rechtlich u. ökonomisch wieder gutzumachen. Der „Waitangi Day“ (6. Februar) ist st. 1974 nationaler Feiertag. Mit dem „Treaty of Waitangi Act“ erlangte der Vertrag 1975 rechtlich bindende Wirkung. Maoritraditionen wurden mit staatlicher Unterstützung wiederbelebt. Die Maori-Sprache wird heute mehr von Jugendlichen gesprochen als von Alten. Zudem verändert sich A. erneut bev.mäßig. Die angelsächsische Bev.mehrheit nimmt seit Ende des 20. Jh.s stetig ab u. der Anteil der Pazifikinsulaner u. Asiaten wächst beständig. Von 4 242 048 (Zensus 2013) Ew. sind 2/3 europ. Herkunft – neben Angelsachsen v. a. Niederländer, Franzosen u. Deutsche (die zweitgrößte europ. Einwanderergruppe im 1. Jahrzehnt des 21. Jh.s) –, knapp 14 % Maori, 10,6 % Asiaten u. 6,6 % Pazifikinsulaner. Über Jahrzehnte besaß A. eine rassistische Gesetzgebung, die Asiaten aus dem Land fernhielt. 1881 bis 1944 gab es eine Sondersteuer für Chinesen. Ein „Immigration Restriction Act“ garantierte von 1920 bis 1974, daß die Einwanderer europ. Ursprungs waren. Doch hat seit 1996 der asiatische Bev.teil stark zugenommen. Verstärkt durch den Coup in →Fidschi wanderten zunächst Inder, nach der Öffnung der Volksrepublik China Chinesen ein. 2013 kamen die meisten Einwanderer (nach England) aus der Volksrep. China u. Indien. Hindi ist nach Englisch, Maori u. Samoanisch jetzt die viertmeist gesprochene Sprache in A. Unter den Asiaten (171 411 Chinesen, 155 178 Inder; 2013) hat sich die Zahl der Inder st. 2001 um 150 % erhöht, die der Filipinos sogar verdreifacht. In A. leben zudem heute mehr Pazifikinsulaner als in ihrer urspr. Heimat (144 138 Samoaner, 61 839 Cookinsulaner, 60 333 Tonganer; 2013). Besonders polykulturell ist der Großraum Auckland, wo nahezu 2/3 aller Asiaten u. Pazifikinsulaner leben. Traditionelle Bindungen lösen sich zunehmend auf. Am ehesten erkennt man dies bei der religiösen Ausrichtung der Bev. Heute (Zensus 2013) ist die Zahl der Bewohner A.s ohne Religion fast so groß wie die der Christen (1 635 345 : 1 906 398). L allgemein: Laurie Barber, New Zealand. A Short History, London u. a. 1989. James Belich, Making Peoples, Auckland u. a. 1996. Ders., Paradise Reforged, Auckland u. a. 2001. Besiedlung: Jeff Evans, The Discovery of Aotearoa, Auckland 1998. Te Rangi Hiroa (d. i. Peter Buck), The Coming of the Maori, Wellington 1958. Erstkontakt aus Maori-Quellen: John Tasker, Myth and Mystery, Birkenhead 1997. Erstkontakt aus europ. Quellen: Anne Salmond, Two Worlds, Auckland u. a. 1991. Zur Geschichte der Maori im 19. Jh.: R. D. Crosby, The Musket Wars, Auckland 1999. Bronwyn Elsmore: Mana from Heaven, Auckland 1989. James Belich, The New Zealand Wars, Auckland 1986. Zur Europäisierung von Flora u. Fauna: Carolyn King, Immigrant Killers, Auckland u. a. 1984. G. M. Thomson, The Naturalisation of Animals & Plants in New Zealand, Cambridge 1922. Kerry-Jayne Wilson: Flight of the Huia, Christchurch 2004. Zu deutschem Einfluß u. deutscher Einwanderung: James N. Bade (Hg.): Eine Welt für sich. Deutschsprachige Siedler u. Reisende in Neuseeland im 19. Jh., Bremen 1993. Ders. (Hg.): Im Schatten zweier Kriege. Deutsche u. Öster-
A rA ber
reicher in Neuseeland im 20. Jh., Bremen 2005. Sonstiges: J. O. Wilson, New Zealand Parliamentary Record 1840–1984, Wellington 1985. The Encyclopedia of New Zealand online: http://www.teara.govt.nz. HE RMANN HI E RY
Apachen. Ursprünglich im Südwesten der →Vereinigten Staaten und im Norden →Mexikos beheimateter Indianerstamm. Als ein Volk der athapaskischen Sprachfamilie siedelten die verschiedenen Stämme der A., u. a. Mimbrenos, Kiowas, Chiricahua und Mescaleros, in den Gebieten der heutigen US-Bundesstaaten Arizona, New Mexico und Texas. Die A. waren kriegerische Nomaden, die vor allen Dingen von der Einführung des →Pferdes durch die Spanier profitierten, um durch Raubüberfälle auf Spanier und andere Indianerstämme ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies führte 1786 zu einer span.-indianischen Allianz gegen die A., der es gelang, die einzelnen A.-Völker weitgehend zu befrieden. Erst mit der Unabhängigkeit Mexikos von Spanien 1822 kehrten die A. wieder zu ihrer alten Lebensweise zurück, plünderten mexikanische Siedlungen und konnten 1848 sogar die mexikanischen Stadt Fronteras einnehmen. Nach dem →Mexikanisch-Am. Krieg und der Übernahme eines Großteils der Siedlungsgebiete der A. durch die USA kam es auch zwischen der US-Armee und den A. zu erbitterten Kämpfen, die erst mit der Kapitulation des Häuptlings Geronimo am 4.9.1886 ein Ende fanden. Neben Geronimo (1829–1909) zählen Cochise (1810/1823?–1874) und Victorio (1825–1880) zu den bedeutensten Häuptlingen der A. Gegen Ende des 19. Jh.s wurden die A. in Reservaten angesiedelt, wo sie v. a. im Bereich der Holzfällerei eingesetzt wurden. Zu Beginn des 20. Jh.s wurden viele A. zu Lohnarbeitern und Cowboys und erhielten die am. Staatsbürgerschaft. Nach der US-Volkszählung des Jahres 2000 leben heute ca. 97 000 Nachkommen der A. in den USA. Q: Geronimo, Ein indianischer Krieger erzählt sein Leben. Übersetzung aus dem Englischen durch Heinz Ullmann und Rainer Wiedemann, Göttingen 1994. L: Nikolaus Baumhauer, Die Apachen, 4 Bde., Wyk auf Föhr 1994. F L ORI AN VAT E S Apartheid. Konzept der Rassentrennung, das seit 1948 in Südafrika umgesetzt wurde; Arbeitsmigration Farbiger aus ländlichen Gebieten hatte zu einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit in den großen Städten Südafrikas geführt. Daraufhin gewann bei den Wahlen 1948 die Herenigde Nasionale Party (HNP) die Mehrheit, der die weiße Wählerschaft die Aufrechterhaltung der Vorherrschaft der Weißen zutraute. Die HNP, 1951 mit der Afrikaner Party zur National Party (NP) vereinigt, wollte mit der A. den Zuzug Farbiger in die Städte stoppen und sicherstellen, daß auf dem Land genügend billige schwarze Arbeitskräfte für die Farmen zur Verfügung stünden. Mit dem Native Laws Amendment Act (1952) war Schwarzen der Aufenthalt in Städten für mehr als 72 Stunden nur noch gestattet, sofern sie 1. dort geboren waren und seitdem durchgehend dort gelebt hatten oder 2. in der Stadt seit mindestens 10 Jahren beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt waren oder 3. seit mindestens 15 Jahren
durchgehend in der Stadt gelebt hatten. Ausnahmetatbestände 2. und 3. wurden 1968 gestrichen. Das Paßgesetz (1952) zwang Schwarze über 16 Jahren, jederzeit ihren Paß mitzuführen. 1952–1962 wurden wegen Verstößen gegen diese Gesetze ca. 3 Mio. Schwarze inhaftiert oder zu ländlicher Farmarbeit zwangsverschickt. Der Industrial Reconciliation Act (1954) schloß Schwarze von der Ausübung bestimmter Berufe aus, der Natives Resettlement Act (1954) erlaubte die – wenn erforderlich gewaltsame – Umsiedlung von Schwarzen. Proteste der schwarzen Mehrheit (die Weißen stellten 1960 lediglich 19,3 % der Bevölkerung) blieben nicht aus. Am 21.3.1960 schoß die Polizei eine Protestversammlung in Sharpeville zusammen (69 Tote, 180 Verletzte), woraufhin der UNO-Sicherheitsrat die A. verurteilte. Neben den wirtschaftlichen Motiven spielte bei der A. die Überzeugung von der Ungleichwertigkeit der Rassen (→Rassismus) die entscheidende Rolle. Premierminister →Verwoerd (1957–1966) setzte ein weitergehendes Konzept von A. durch, das die völlige, auch staatsrechtliche Trennung der Rassen vorsah. Bestimmte Gebiete in Südafrika wurden als „homelands“ ausgewiesen. 1970/71 wurden sämtliche Schwarzen zu Bürgern dieser „homelands“ erklärt und die Reg. ermächtigt, die „homelands“ in die Unabhängigkeit zu entlassen. So geschah es mit den „homelands“ →Transkei (1976), Bophuthatswana (1977), Venda (1979), Ciskei (1981). Ziel war eine Republik Südafrika, in der es keine schwarzen Staatsbürger mehr geben sollte. Die blutige Unterdrückung des Widerstands, den diese Politik provozierte, führte zur weitgehenden internationalen Ächtung Südafrikas. Durch Bekämpfung linksgerichteter Bewegungen in anderen afr. Ländern (→Mosambik, →Angola) erreichte Südafrika seit 1980 zwar Unterstützung durch die ReaganAdministration, doch konnte auch Reagans Veto 1986 nicht verhindern, daß der US-Kongreß umfangreiche Sanktionen gegen Südafrika beschloß, nachdem die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit einen neuen Höhepunkt erreicht hatte (1986 ca. 1 300 Tote). Die trotz schärfster Repression anhaltenden Unruhen, die schlechte Wirtschaftslage und die Tatsache, daß die größte Oppositionspartei, der ANC (African National Congress), infolge der Erosion des Ostblocks von der Sowjetunion abrückte, veranlaßten 1989 Präs. de Klerk, eine Verhandlungslösung zu suchen. Die 1991 erzielte Einigung zwischen Reg. und ANC über das Zustandekommen einer neuen Verfassung bedeutete das Ende der A. Aus den Wahlen 1994 ging der ANC mit 62,6 % der Stimmen als stärkste Partei hervor. Adrian Guelke, Rethinking the Rise and Fall of Apartheid, New York 2005. Deborah Posel, The Making of Apartheid 1948–1961, New York 1991. C H R ISTO PH K U H L
Araber, Arabisch, Arabische Expansion. Das Arabische ist eine semitische Sprache und daher mit den (alt) orientalischen Sprachen im Bereich des Fruchtbaren Halbmondes verwandt (Akkadisch, Aramäisch, Hebräisch, Kanaanäisch, Phönizisch), ferner mit dem Altsüdarabischen und Sprachen aus dem Raum des heutigen →Äthiopien (z. B. Amharisch oder Ge‘ez). Die heutige 43
ArAber
Schrift entwickelte sich wie das lateinische Alphabet aus einer phönizischen Urschrift und setzte sich wegen seiner relativen Einfachheit (30 Grundzeichen, die je nach Position verschiedene Ausprägungen erhalten) gegenüber komplizierteren Schriftsystemen des alten Orients (z. B. Ugaritisch) durch. Aus dem 5. Jh. v. Chr. datieren Inschriften, die Vorläufer des heutigen (Nord-)Arabischen bildeten. Die a.e Sprache besticht durch ihren großen Reichtum an Synonymen, die aus Ableitungen der in der Regel aus drei Grundbuchstaben bestehenden Wörter gebildet werden. Früh etablierte sich eine hoch entwickelte Dichtung (Qasiden) sowie eine künstlerische Ausgestaltung der Buchstaben, welche zu zahlreichen verschiedenen Kalligraphie-Typen führte. Über die Bedeutung des Namenskollektivs al-‘Arab (A.) herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Als A. gilt, wer A. als Muttersprache spricht. Die Ausbreitung der a.en Sprache und Kultur ist eng verknüpft mit der Expansion des →Islam ab 622. Das a.e Siedlungsgebiet erstreckt sich in westöstlicher Ausdehnung zwischen →Atlantik (Mauretanien) und dem Westrand des iranischen Hochlandes (Irak) und in nord-südlicher Ausdehnung zwischen Syrien und Oman, dem Jemen bzw. dem →Sudan und betrifft daher heute eine Vielzahl von Staatengebilden innerhalb dieses Raumes. Hier leben mehr als 280 Mio. A. Die Bezeichnung A. ist nicht religionsgebunden, wenngleich die überwiegende Mehrheit der A. Muslime – zumeist sunnitischen Bekenntnisses – sind. Erstmals fanden A. 853 v. Chr. in einer Inschrift des assyrischen Kg.s Salmanassar III. Erwähnung. Die assyrischen Inschriften bezeichneten Nomaden als A., die im Raum des heutigen Syrien siedelten und Dromedare als Nutztiere verwendeten. Im 4. Jh. v. Chr. existierten enge Kontakte zwischen Seleukiden und Ptolemäern auf der einen und den süda.en Kgr.en Hadramaut, Qataban, Saba und Ma‘in auf der anderen Seite. Die Nabatäer kontrollierten den Weihrauch und Myrrhe-Handel im Bereich des heutigen Jordanien. Das Nabatäer-Reich bildete in römischer Zeit die Grundlage der Provinz Arabia petraea. Bis weit ins Mittelalter hinein galt im europäischen Raum die Unterscheidung von Arabia deserta (das wüste Arabien im Inneren der a.en Halbinsel) und Arabia felix (Jemen) des →Ptolemaios von Alexandria. Anders dagegen die A.: Sie unterschieden in östlicher Blickrichtung zwischen den Bilad asch-Scham (Länder zur Linken) und Bilad alyaman (Länder zur Rechten), die in der alten Bezeichnung Syriens (Scham) und des Jemen bis heute weiterleben. Während A. in Syrien unter römische Herrschaft gelangten, konnten sich die Römer im Süden (Arabia felix) nicht durchsetzen. Eine von Augustus entsandte Militärexpedition hatte ihren Eroberungsfeldzug wegen Wassermangels einstellen müssen. Das Ende des 1. Jh. v. Chr. im Süden der a.en Halbinsel aus den kleineren Reichen wie Hadramaut oder Ma‘in entstandene Reich der Himyar stellte für Rom jedoch einen wichtigen Handelspartner an Luxusgütern wie Myrrhe, →Seide oder Edelsteinen dar. Das Reich von Himyar geriet nach der zwischenzeitlichen Herrschaft eines jüdischen Usurpators, Yusuf Dhu Nuwas (um 500 n. Chr.), unter äthiopische Herrschaft, bevor sich Ende des 6. Jh.s die Sassaniden etablierten. Beeinflußt wurden a.e Halbinsel und syrische 44
Wüste ab dem 3. und 4. Jh. n. Chr. durch die benachbarten Großreiche der Sassaniden und der Byzantiner. An deren Grenzen entstanden im 4./5. Jh. zwei arab. Pufferstaaten – das Reich der Lahmiden in der Gegend von Kufa im heutigen Irak und das Reich der christl., aber monophysitischen Ghassaniden, deren Zentrum im heutigen Golan lag. Beide Reiche existierten bis ins 7. Jh. Ein zentrales verbindendes Element der a.en Völker wurde der Islam. Dessen Religionsstifter, Muhammad (ca. 570–632), wandte sich gemäß göttlicher Offenbarung gegen den mekkanischen Polytheismus. Bedroht von der führenden Schicht Mekkas mußten Muhammad und seine Anhänger 622 die Stadt verlassen (Hidschra) und nach Yathrib/Medina umsiedeln. Hier gelang Muhammad die Transformation vom Verfolgten zum erfolgreichen Führer der islamischen Gemeinschaft (umma), die sich innerhalb einer Dekade auf fast die gesamte a.e Halbinsel ausdehnte. Unter Muhammads Nachfolgern (Kalifen), die sich ausschließlich aus mekkanischen Quraisch rekrutierten, begann eine beispiellose Expansion, die weit über die Grenzen der a.en Halbinsel bis nach →Usbekistan und auf die Iberische Halbinsel ausstrahlte. Aus einer Nebenlinie der Quraisch ging die Dynastie der Ummayaden (661–750) hervor. Deren Repräsentant, Mu‘awiya I. (reg. 661–680), wählte Damaskus als Zentrum seiner Herrschaft. Inner-musl. Streitigkeiten konnten bald überwunden werden, so daß sich unter Mu‘awiyas Nachfolgern wie ‘Abd al-Malik eine kulturelle Blütezeit entwickeln konnte (Felsendom, Ummayaden-Moschee). Das sog. „A.e Reich“ zerbrach 750 nach einer inneren Rebellion, die im Bereich der heutigen Staaten Iran und Irak ausgebrochen war und mit der →Eroberung von Damaskus endete. Nachfolger wurden die ‘Abbasiden, welche Bagdad bzw. die in der Nähe gegründete Stadt Madinat as-Salaam als Zentrum ihrer Macht wählten. Bekannte Kalifen waren al-Mansur (754–775) und Harun ar-Raschid (786–809). Kennzeichnend für die ‘abbasidische Dynastie waren eine veränderte Hofkultur, die Einführung eines Wazir (Leitender Minister) sowie ein Erstarken regionaler Eliten zulasten der ‘abbasidischen Zentralgewalt. So etablierten sich in al-Andalus (Ummayaden), →Marokko (Auraba), →Tunesien (Aghlabiden), später auch in →Ägypten und Zentralasien eigenständige Herrschaftssysteme, die von der ‘abbasidischen Herrschaft in Bagdad faktisch unabhängig waren oder diese nicht anerkannten. In ‘abbasidischer Zeit etablierte sich eine Militärkaste, die Mamluken. Sie waren nicht a.-stämmig und kamen meist aus der Türkei oder aus Osteuropa und waren zunächst Unfreie. Wegen großer Verdienste freigelassen, etablierten sie sich bald zu Kg.smachern und nahmen teilweise auch selbst die Herrschaft an. In Kairuan gelangte 909 die Familie der Fatimiden an die Macht, die ein Gegenkalifat zu den ‘Abbasiden in Bagdad bildeten. Sie legitimierten ihre Ansprüche, in dem sie ihre famililiären Wurzeln auf Muhammads Tochter Fatima zurückführten. Nachdem der ummayadische Emir von Córdoba ebenfalls den Kalifentitel angenommen hatte, konkurrierten drei Oberhäupter um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten. Obwohl Bagdad als Sitz der ‘Abbasidenherrscher bis zur Invasion der Mongolen 1258 das Zentrum der islami-
A rA ber
schen Welt blieb, mußte sich das Kalifat gegen Usurpatoren im Westen und im Osten wehren, eine Tatsache, die immer weniger gelang. So übten ab 932 zunächst die iranischen Buyiden eine Art Schutzherrschaft über Bagdad aus, die 1055 von türk. Seldschuken, deren Dynastie aus Nomadenstämmen hervorgegangen war, ersetzt wurde. Obwohl Isfahan zum neuen Zentrum der seldschukischen Macht emporstieg, erlebte die Hauptstadt des weitgehend machtlosen Kalifen Bagdad eine kulturelle Blüte. Nach dem Zerfall des seldschukischen Reiches konnte sich das Bagdader Kalifat zum Ende des 12. Jh.s kurzzeitig erholen, bis die Mongolen unter Hülägü 1258 Bagdad einnahmen und den Kalifen al-Musta‘sim (1242–1258) ermordeten. Mit ihm endete das Kalifat. Der Irak wurde nun zu einer Provinz des Mongolenreiches. Das Gebiet von Syrien und Palästina (Bilad aschScham) war im wesentlichen politisch zweigeteilt. Während der südliche Teil an Ägypten angegliedert war, war der nördliche Teil um das Emirat Halab (Aleppo) meist Byzanz tributpflichtig. Diese Situation änderte sich auch nicht, als die Seldschuken 1071 Nordsyrien unter ihre Kontrolle brachten. Eine große Veränderung setzte erst knapp 30 Jahre später mit der Fremdherrschaft der Kreuzfahrer ein, die 1098 Antiochia und 1099 Jerusalem eroberten. Mit Edessa, Antiochia, →Tripolis und Jerusalem entstanden vier neue christl. Staaten, deren Ende sich erst 1144 mit der Einnahme Edessas durch den Emir von Mossul abzeichnete. Der kurdische Heerführer Yusuf ibn Ayyub (besser bekannt als Salah ad-Din, 1137/38–1193), der in Diensten des Herrschers von Aleppo stand, stürzte 1171 das Kalifat der Fatimiden in →Kairo. Von dort aus vergrößerte er seine Machtbasis, die bald über Syrien, Transjordanien, Nordmesopotamien, über die Heiligen Stätten des Islam bis in den Jemen ausstrahlte. Dies geschah mit dem Ziel, das Kalifat wiederzubeleben und die Muslime für einen gerechten Kampf gegen die Ungläubigen (Jihad) zu einigen. Nach der Kapitulation des Kreuzfahrerstaates von Jerusalem 1187 waren die Bilad asch-Scham mit Ägypten politisch vereinigt. Die Fatimidenherrschaft in Kairo (al-Qahira) hatte sich 969 unter dem vierten Fatimiden al-Mu‘izz etabliert. Zuvor war Ägypten als Provinz des Kalifenreiches von Bagdad von zwei Gouv.sdynastien, den Tuluniden (9. Jh.) und den Ichschididen (Mitte 10. Jh.) regiert worden. Trotz der neuen schiitischen Herrschaft blieb die islamische Bevölkerung Ägyptens, die sich im Vergleich zur koptischen in der Minderheit befand, sunnitisch. Kairo stieg zu einem machtpolitischen und kulturellen Zentrum auf, das bald die Vorherrschaft gegenüber Bagdad beanspruchte. Die Machtbasis der Fatimiden dehnte sich bald auf die Heiligen Stätten Mekka und Medina und zeitweilig auch über →Libyen bis nach Marokko aus. Die oben beschriebenen Eroberung Kairos durch Salah ed-Din bildete die Grundlage für einen Bedeutungszuwachs Ägyptens. In den Provinzen der neuen Dynastie (Ayyubiden) herrschte nun ein dynastischer Herrschaftsverband, da die Gouv.e aller Provinzen mit Familienmitglieder der Ayyubiden waren. Bereits 1249 wurde die Dynastie der Ayyubiden durch die eigene Militärelite gestürzt. Der türk. Mamlukenoffizier Aibak begründete 1250 eine Dynastie, die bis 1517 Bestand hatte. Durch Siege über die
Mongolen und die Einnahme des letzten Kreuzfahrerstaates (Akko, 1291) war die Herrschaft der Mamluken für lange Zeit gesichert. Besondere Erwähnung verdient der Umstand, daß nur die erste Generation türk. oder tscherkessischer Militärs Karriere machen und zum Sultan aufsteigen konnte. Den folgenden Generationen blieb eine solche Karriere zumeist verwehrt – sie ergriffen zivile Berufe. Das mamlukische Sultanat in Ägypten war eine Hochzeit des Bauwesens und der Literatur. Das Gebiet des heutigen Libyen war in zwei weit auseinanderliegende Bereiche getrennt. Der östliche Teil, ungefähr das Gebiet der griechischen Pentapolis mit der Cyrenaika, stand meist unter ägyptischer Herrschaft, während das westliche Gebiet um das Gebiet der drei Städte Oea, Sabratha und Leptis Magna von Kairuan (al-Qairawan, Tunesien) aus beherrscht wurde. Zunächst hatten die Aghlabiden in Kairuan regiert (800–909), bevor sie von den Fatimiden vertrieben wurden. Die schiitischen Herrscher in Kairuan verweigerten bald dem sunnitischen Kalifat in Bagdad die Gefolgschaft. Nach der Einnahme Kairos durch die Fatimiden und der Verlegung des fatimidischen Zentrums von Kairuan nach Kairo folgten mit den algerischen Ziriden die bisherigen Vize-Kg.e nach. 1044 sagten sie sich von Kairo los und kehrten nach der Rückkehr zum sunnitischen Islam in die Arme der Bagdader Kalifen zurück. Die Arabisierung des südlichen Tunesien und →Algeriens begann. Der Ummayade Idris hatte 789 in Marokko mit Unterstützung lokaler →Berber – kennzeichnend für alle weiteren Dynastien – eine eigene Herrschaft errichten können. Unter seinem Sohn Idris II. war die Stadt Fes entstanden. Ibn Yasin hatte im 11. Jh. für die Einigung der versprengten Herrschaft nach dem Niedergang der Dynastie der Idrisiden gesorgt und erreicht, daß Marokko bis etwa →Algier unter die Herrschaft der murabitun (Almorawiden) gelangte. Yusuf ibn Taschfin setzte 1086 auf das span. Festland über und unterwarf die kleinen Taifas-Fürstentümer. Bald regte sich Widerstand gegen die strengen Glaubens-Vorschriften der sunnitischen Almorawiden. Mit Ibn Tumart trat ein erster Mahdi (Rechtgeleiteter) auf, dessen Schüler ‘Abd al-Mu‘min (1130–1163) nicht nur den Kalifen-Titel annahm, sondern 1145 die almorawidische Dynastie durch die almohadische ersetzte. Zahlreiche bedeutende Bauwerke in Algerien, Marokko und Spanien zeugen aus der Almohadenzeit. Unter dem zweiten Almohadenkalifen Abu Ya‘qub Yussuf (1163–1184) erlebten die Wissenschaften eine Blüte, als Gelehrte wie Averroes an den Hof kamen. Die Reconquista beendete die Herrschaft der Almohaden, die sich kurz vor dem Fall der Dynastie von den Lehren des Ibn Tumart losgesagt hatten und wieder zum sunnitischen Bekenntnis zurückgekehrt waren. Die Herrscherhäuser der Hafsiden (Tunis), der Meriniden (Marrakesch) und der Nasriden (Granada) blieben bis zum Ende des 15. Jh.s maßgebend für den →Maghreb und al-Andalus. Dort kam die Reconquista mit der Einnahme von Córdoba durch Isabella von Kastilien und Ferdinand V. von Aragon 1492 zum Abschluß. Der Geschichtsschreiber Ibn Chaldun (1332–1406) entwickelte auf der Basis der wechselvollen Geschichte der Dynastien im Maghreb und →Andalusien seine Theorie vom Aufstieg und Niedergang der musl. Reiche. Der Aufstieg 45
ArAber
der Osmanen (→Osmanisches Reich) hatte sich außerhalb der arab. Länder vollzogen. 1357 hatte die Dynastie sich auf der Balkanhalbinsel etabliert und 1453 Byzanz eingenommen. Unter Sultan Selim I., welcher die Mamlukenherrschaft in Kairo beendet hatte, schloß das Osmanenreich ab 1516/17 auch die Levante und Ägypten ein. Der Expansionsdrang fand unter Süleyman II. „dem Prächtigen“ eine Fortsetzung: Er verleibte dem Reich den Irak, Aserbaidschan und die Ostküste Arabiens mit ein. →Suez (as-Suwais) und Basra kamen als Flottenstützpunkte erhebliche strategische Bedeutung zu. Wirtschaftlich erlebten die alten a.en Städte wie Aleppo, Damaskus oder Bagdad einen Aufschwung. Bald erstarkten wieder lokale Eliten, welche in den Provinzen – von Konstantinopel anerkannt – die Macht ausübten. Auf der a.en Halbinsel waren auch die Heiligen Stätten nun in den Machtbereich der Osmanen gelangt, der Sultan wurde zum Chadim al-Haramain, dem Hüter der Heiligen Stätten. Ihm oblagen nun Unterhalt und Schutz Mekkas und Medinas sowie der Schutz der Pilger. Im Jemen bestand keine politische Einheit. Hier hielt sich jedoch die längste Dynastie aller a.-islamischen Länder. Die Zaiditen herrschten vom 9. Jh. bis 1962 im Nordjemen um die Stadt Sa‘ada. Die Osmanen konnten im Jemen nicht auf Dauer Fuß fassen und verließen 1635 dieses Gebiet, als Portugiesen, Niederländer und Briten sich für die Küstenbereiche zu interessieren begannen. Die wichtigsten Hafenstädte des Oman (‘Uman) waren in der Zwischenzeit von Portugiesen in Beschlag genommen worden. 1650 eroberten die Ya‘rubiden Masqat zurück. Unter der folgenden Dynastie der Al Bu Sa‘id (1746– 1783) wuchs der omanische Einflußbereich bis nach →Sansibar, so daß ein Doppelreich entstand. Derweil entstand im Inneren der a.en Halbinsel ein neues Reich, das der Al Sa‘ud. Als Vertreter einer puritanischen islamischen Erneuerungsbewegung, der Wahabiten, lehnten sie über die Jh.e entstandene Rituale sowohl von schiitischer als auch von sunnitischer Seite ab. Sie zerstörten Heiligengräber und Schreine. Erst zu Beginn des 19. Jh.s stellte der ägyptische Vize-Kg. →Muhammad ‘Ali die Herrschaft der Osmanen über die Heiligen Stätten wieder her. Im seit 1517 osmanischen Ägypten herrschte zunächst ein türk. Gouv. (Wali), der eine multinationale Armee befehligte. Eine hervorgehobene Rolle spielten hier die Janitscharen (Yeni Çeri), ursprünglich Kinder von Christen auf dem Balkan. Wie in anderen Provinzen des Osmanischen Reiches auch gewannen nach und nach lokale Eliten an Macht und Einfluß, so daß im 17. Jh. zwischenzeitlich Mamluken die Reg.sgewalt in Ägypten innehatten. Als Napoleon 1798 in Alexandria anlandete, herrschten zwei ehemals verfeindete Mamluken über Ägypten, Ibrahim und Murad. Bedingt durch den wirtschaftlichen Aufschwung am →Nil expandierte die Stadt Kairo im 17. Jh. Die Azhar-Moschee etablierte sich als Gelehrtenzentrum. Der Maghreb war im 15. und 16. Jh. wiederholt Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen dem Osmanischen Reich einerseits und Spanien und Portugal andererseits. Zu Beginn des 16. Jh.s hatte Spanien alle wichtigen Häfen an der Küste des Maghreb besetzt. Vom osmanischen Sultan sanktionierte Korsaren – Chair ad-Din von Algier wurde von Selim sogar zum 46
Pascha erhoben – sorgten für stetige Unruhe, so daß Spanien den östlich von Marokko gelegenen Teil der Küste Nordafrikas trotz einiger Siege (z. B. 1571 bei Lepanto) nie vollständig unter Kontrolle bringen konnten. Seit 1710 herrschten die Husainiden in Tunis, nachdem sie die vorübergehende Herrschaft der Deys abgelöst hatten. In Marokko konnten sich weder die Spanier noch die Osmanen etablieren. Die Dynastie der Sa‘ad hatte durch Einnahme wichtiger Städte wie Agadir (port.) oder Tlemcen (Tilimsan, von Korsaren regiert) eine breite Machtbasis aufgebaut, die erst nach einer versuchten NigerExpansion zerbrach. Nutznießer waren die ‘Alawiden, welche bis heute Marokko regieren. Nach dem Tod Mulay Isma‘ils (reg. 1672–1727) – dem Sultan war es sogar gelungen, die Briten aus →Tanger (Tanja) zu vertreiben – wurde das mächtige Reich allerdings wieder durch Aufstände und Nachfolgestreitereien geschwächt. Eine Gruppe, die in kultureller Hinsicht eine Bereicherung des Maghreb darstellte, waren die 1609–1614 von Kg. Philipp III. aus Spanien vertriebenen Moriscos, zum Katholizismus konvertierte Muslime. Formal blieb der größte Teil der a.en Länder im 19. Jh. unter Osmanischer Herrschaft, auch wenn einige Regionen weitgehend autonom waren. Tiefgreifende innenpolitische Reformen im Reich wirkten sich auch auf die a.en Gebiete aus. Im Irak, das zu großen Teilen nomadisch geprägt war, richteten sich die Bestrebungen der Osmanen dahin, Beduinen seßhaft werden zu lassen. So wurde der Süden des Irak schiitisch. Vorher waren die Schiiten weitgehend auf die Städte an-Nadschaf und Karbala beschränkt geblieben. Im Norden hatten sich lokale Eliten als Herrscher etabliert, die jedoch 1831 durch osmanische Intervention wieder direkt dem Sultan in Konstantinopel unterstellt waren. In Syrien behaupteten die Osmanen ihre Besitzungen, nachdem sie Napoleon und, mit Hilfe der Briten und Österreichs, den Ägypter Muhammad ‘Ali vertreiben konnten. Der Libanon war weitgehend zweigeteilt. Im Norden lebten die christl. →Maroniten, im Süden die Drusen, eine schiitische Abspaltung. Nach schweren Kämpfen zwischen den beiden Gruppen richtete Frankreich die autonome Region Mont Liban ein, in der a.e Christen über die musl. Minderheit herrschten. Der Mont Liban bildete die Grundlage für die spätere Rep. Libanon. Auf der a.en Halbinsel intervenierte Konstantinopel, nachdem die Sa‘ud Überfälle auf die Heiligen Stätten sowie das irakische Karbala unternommen hatten. Der ägyptische Vize-Kg. Muhammad ‘Ali wurde vom Sultan beauftragt, die Ordnung wiederherzustellen, was diesem auch gelang (1811–1818). Der geschlagene Emir ‘Abdallah ibn Sa‘ud wurde nach Konstantinopel gesandt und dort hingerichtet. Die Sa‘ud hatten zwar momentan an Einfluß verloren, doch konnten sie ihre Macht bald wieder ausbauen. Inzwischen kontrollierten auch die Briten Teile der a.en Halbinsel, nachdem die British East India Company 1839 ‘Aden (‘Adan) besetzt hatte. 1853 kamen die Vertragsstaaten (Vereinigte Arab. Emirate) und 1899 Kuwait als wichtige Verbündete hinzu. Kuwait wurde dabei mit einem Schutzvertrag aus dem Verband des Osmanischen Reiches herausgelöst. In Ägypten hatte nach der Vertreibung Napoleons 1802 durch Osmanen und Briten eine neue Epoche begonnen, die wenig später
A rA ber
durch die Erhebung Muhammad ‘Alis (1805–1848; 1848–1849) zum Pascha umfangreiche und fast beispiellose Reformen nach sich zog (Japan unter Ks. Meiji). Diese betrafen v. a. Armee, Verwaltung, Landwirtschaft und Produktion. Der Vize-Kg. holte zahlreiche europäische Experten nach Ägypten und schickte seinerseits Studenten nach Europa. Mit diesen gewaltsam durchgesetzten Maßnahmen legte Muhammad ‘Ali die Grundlage für ein Imperium. Zunächst agierte er noch im Sinne des Osmanischen Herrschers, als er auf der a.en Halbinsel intervenierte und in den Griechischen Unabhängigkeitskampf zugunsten der Osmanen eingriff. Als er jedoch Syrien und Kleinasien überfiel, drängten ihn Österreicher und Briten, deren Handelsinteressen Muhammad ‘Alis Expansion zuwiderlief, zum Rückzug. Als Kompensation erhielt Muhammad ‘Ali die Genehmigung zur Bildung einer eigenen Dynastie. Sein Sohn Sa‘id (reg. 1854–1863) baute den →Suezkanal, sein Enkel Isma‘il (reg. 1863–1879) erhielt vom Sultan den Titel eines →Khediven. Durch den Bau des Kanals gerieten Sa‘id und Isma‘il, die sich einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft hatten, in finanzielle Bedrängnis. Das restlos verschuldete Ägypten begab sich in frz. und v. a. brit. Abhängigkeit. Isma‘il wurde abgesetzt, sein Nachfolger Tawfiq (→Tewfiq). Aufstände in Ägypten (‘Urabi-Revolte, 1882) und im Sudan (→Mahdiyya, 1881–1899) schwächten die groß-ägyptischen Träume von einem Abessinien, →Eritrea und den Sudan umfassenden Reich erheblich. Im Maghreb besetzten die Franzosen 1830 Algier und beendeten die dortige Dey-Herrschaft. Trotz starken Widerstands schritt die Eroberung Algeriens im Verlauf des 19. Jh.s voran, die erst 1900 zum Abschluß kam. In Tunis nutzten die Franzosen die wie in Ägypten zunehmende Staatsverschuldung zur Intervention, nachdem Tunis Staatsanleihen in Europa genommen hatte. Der dortige Herrscher blieb im Amt, doch wurde Tunesien für europäische Siedler geöffnet. In Libyen hatten die Osmanen 1835 die Herrschaft der lokalen QaramanliPaschas beseitigt. Erst 1911/12 faßten die Italiener hier Fuß. In Marokko, wo die Sultane der ‘Alawiden nur in den Zentren herrschten, kam es im gleichen Jahr zu einer frz.-span. Aufteilung in Interessensphären. Tanger erhielt einen internationalen Status. Die Folgen des europäischen Einflusses in den a.en Ländern waren ambivalent. Einerseits führte er zu Investitionen (z. B. Bau des Assuan-Staudammes), zu einer Modernisierung, einem Ausbau der Infrastruktur und der Bildung einer kleinen nationalen, europafreundlichen Elite. Andererseits suchten die europäischen Besatzer möglichst viel Profit aus den Ländern zu ziehen. Die einfache Bevölkerung fühlte sich als Verlierer dieser Entwicklung. Die Folge waren Aufstände, häufig verbunden mit einer Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln A.tum (nationalistische wie später pana.e Strömungen) und Islam. Orden wie die Qadiriyya in Algerien oder die Sanussiya in Libyen und patriotische Geheimbünde erlebten bedeutenden Zuwachs und leisteten den Europäern und allen europafreundlich eingestellten Landsleuten erheblichen Widerstand. Das Osmanische Reich verlor seine besondere Position – es war, obwohl nicht a., als legitime Vormacht über die sunnitische Umma anerkannt – nach dem Putsch
der Jungtürken 1908, spätestens jedoch nach dem Ende des Kalifats 1924. Zu diesem Zeitpunkt war das Osmanische Reich, welches auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg gezogen war, bereits unter den Alliierten aufgeteilt. Während auf a.er Seite große Hoffnungen auf ein unabhängiges a.es Kgr. bestanden – al-Hussain von Mekka hatte mit derartigen Versprechen von brit. Seite seit 1916 den Kampf gegen die Türken geführt –, hatten sich Großbritannien und Frankreich verdeckt bereits auf Einflußzonen geeinigt (→Sykes-Picot-Abkommen). In der Folge erhielten al-Hussain und seine Söhne nur drei kleine Territorien (Irak, Transjordanien, al-Hijaz), die überdies eng an brit. Interessen gebunden waren. Palästina, wo die Einrichtung einer Heimstätte für jüdische Siedler beschlossene Sache war (→Balfour Declaration), verblieb direkt unter brit. Kontrolle. Frankreich besetzte 1920 den Libanon und Syrien. Die in Damaskus kurz zuvor erfolgte Proklamation der Unabhängigkeit Syriens durch den Allg. Syrischen Nationalkongreß war damit hinfällig. Auf der a.en Halbinsel dominierten bald die in Najd ansässigen Al Sa‘ud, welche 1924 Hijaz und die Heiligen Stätten eroberten. Ibn Sa‘ud legte damit die Grundlage für das Kgr. Saudi-Arabien (1932). In Ägypten erstarkten die Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1930er Jahren. Muslimbruderschaft (Ichuan al-Muslimun) und Wafd-Partei (unter Sa‘ad Zaghlul) kämpften in scharfer Abgrenzung voneinander gegen die offizielle Politik. Seit den 1920er Jahren war es in Palästina immer wieder zu Unruhen und Zusammenstößen zwischen A.n und jüdischen Siedlern gekommen. Der von den Nationalsozialisten hofierte Mufti von Jerusalem, Amin alHussaini (ca. 1893–1974), hatte den Konflikt mit seinen umstrittenen Rechtsgutachten weiter forciert. Mitte der 1930er Jahre verübten militante a.e Palästinenser Anschläge auf die brit. Mandatsmacht. Viele A. betrachteten die Achsenmächte als Befreier vom frz.-brit. Joch. Mit der Unabhängigkeit des Libanon 1943 und Syriens 1945 waren Hoffnungen auf ein Ende der Teilung des a.en Gebietes zunichte gemacht. Andererseits bestand nun die Möglichkeit souveräner a.er Staaten. Als Folge schlossen sich im Frühjahr 1945 in Kairo die formal bereits unabhängigen Staaten Ägypten, der Irak, der Libanon, SaudiArabien, Syrien und Transjordanien (alle 22. März), sowie der Nordjemen (11. Mai) zur Liga der a.en Staaten zusammen. Die Unterzeichner des Pakts strebten eine Zusammenarbeit insb. auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet an und bekräftigten als gemeinsames Ziel das Vorrecht der A. auf Palästina. Die a.e Bevölkerung dieses Gebietes hatte wegen Enteignungen durch Israel, sowie die Flucht und Vertreibung von mehr als 60 % der ursprünglichen Bevölkerung herbe Verluste hinnehmen müssen. Bis heute stellt al-Naqba (die Katastrophe) ein Trauma für die a.e Staatenwelt dar. Außer Ägypten und Jordanien, die nach in der Bevölkerung wenig populären Friedensschlüssen diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten, erkennen die a.en Staaten den Staat Israel nicht an und pochen halbherzig auf die Selbstbestimmung des in den eigenen Reihen wenig geschätzten palästinensischen Volkes. Hier wird die Zukunft zeigen, ob eine projektierte UN-Vollmitgliedschaft und die jüngsten Veränderungen in zahlreichen a.en Staaten zu einem Be47
ArAber
wußtseinswandel führen wird. Die Gründung der A.en Liga (aktuell: 22 Mitgliedsstaaten) war auch Ausdruck eines aufkeimenden säkularen a.en Nationalismus (Panarabismus), der sich bereits 1940 in Syrien mit der Gründung der Ba‘th-Partei angedeutet hatte. Der Islam geriet unter den Schlagwörtern „Einheit, Freiheit, Sozialismus“ in den Hintergrund. Seit dem Ende der 1949er Jahre kam es in allen souveränen wie nicht souveränen Staaten (der Maghreb war zunächst unter frz. Herrschaft geblieben) zu Revolutionen, die zum Sturz der alten Machteliten führten (Syrien: 1949, Ägypten: 1952, Algerien: 1954– 1962, Marokko: 1956, Tunesien: 1956, Irak: 1958, Jemen: 1962, Libyen: 1969). Ägypten kam unter der Präsidentschaft Gamal ‘Abd an-Nâsir (1954–1970, →Nasser) eine Führungsrolle unter den arab. Staaten zu. Als Gipfel des Pan-Arabismus gelang es Nâsir, kurzzeitig eine Vereinigte A.e Rep. (VAR, 1958–1962) ins Leben zu rufen, der neben Ägypten auch Syrien und der Jemen beitraten. Wie Nassers Ägypten zogen auch die meisten anderen a.en Staaten eine Kooperation mit der UdSSR einer Zusammenarbeit mit dem Westen vor (u. a. Unterstützung der Sowjets beim Bau des Assuan-Staudammes). Durch den von Nasser provozierten Sechstagekrieg (1967) verschärfte der ägyptische Präs. die Lage der Palästinenser – Israel besetzte Ost-Jerusalem, die West-Bank und den Gaza-Streifen. Eine politische und ideologische Kehrtwende vollzog Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat, der die sozialistischen Reformen seines Vorgängers rückgängig machte, seinem Land eine liberalere Verfassung gab und sich dem Westen zuwandte (Infitah). Abschluß dieser Entwicklungen war ein Friedensvertrag mit Israel (1979). Mit einem militärischen Achtungserfolg gegen Israel – welcher massive Auswirkungen auf den weltweiten Erdölmarkt zur Folge hatte – war es Sadat im Okt. 1973 gelungen, den Sinai für Ägypten zurückzugewinnen. Sadat fiel 1981 einem Anschlag islamistischer Kräfte zum Opfer. Diese in vielen a.en Staaten vertretenen militanten Gruppen hatten durch die Iranische Revolution (1979) Auftrieb erhalten und hofften nun, ähnliche Regimes etablieren zu können. Die 1980er Jahre gelten im Rückblick als Phase der Regime-Stabilisierungen, die auch durch den Wechsel von Machthabern nicht aus dem Gleichgewicht gebracht wurden. Regional begrenzte Machtbasen und starke Polizei- und Geheimdienste verhalfen Despoten wie Hafiz al-Assad (1930–2000, Syrien) oder Saddam Hussain (1937–2006, Irak) zur Sicherung ihrer Herrschaft. Letzterer erhielt umfangreiche amerik. Militärhilfen, als er den Iran angriff, um alte Gebietsansprüche geltend zu machen und Erdölpfründe zu sichern. Der I. Golfkrieg (1980–1988) brachte jedoch trotz militärischer Erfolge keinen Gebietsgewinn für den Irak. Eine Ausnahme bildete der Libanon, wo das demographische Gleichgewicht zwischen Maroniten, Sunniten und Schiiten u. a. durch den Zustrom an palästinensischen Flüchtlingen aus der Balance geraten war. 1975 war es dort zum Bürgerkrieg gekommen. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter der Führung von Yassir Arafat (1929–2004) besaß im Süden des Landes eine starke Machtbasis, wo sich auch die schiitische Hizb Allah (Gottespartei) an der Bekämpfung Israels beteiligte. Syrien hatte die Sunniten im Norden unter48
stützt. Diese Faktoren führten zu einer Besetzung Beiruts durch Israel 1982/83 und einer Stärkung der maronitischchristl. Reg. Durch das Ende des Kalten Krieges verlor auch das Ausspielen der Karten Ost- gegen Westmächte für die a.en Staaten an Attraktivität. In Palästina rückte nach Ausbruch der Ersten Intifada (1987–1989) eine Lösung in Sicht, als sich die israelische Führung mit der palästinensischen Führung 1993 auf eine Teil-Autonomie des Gaza-Streifens und der West-Bank einigen konnten. Doch in Folge der Ermordung des israelischen Minister-Präs. Yitzak Rabin durch einen fundamentalistischen Juden und die ambivalente Haltung des PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat in der Folgezeit veränderte sich die politische Lage im Nahost-Konflikt zusehends, so daß eine friedliche Lösung schnell außer Reichweite war. Seit der Zweiten Intifada (2000), ausgelöst durch einen provokanten Besuch des israelischen Premierministers Ariel Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg und der Zurückweisung der sog. Road Map durch die palästinensische Fraktion gleicht der Konflikt einer Wellenbewegung aus Annäherung und Ablehnung beider Seiten. Eine Lösung des Nahost-Konflikts läßt bis heute auf sich warten. Ähnlich instabil präsentiert sich die Lage im Irak. Nachdem Saddam Hussain im I. Golfkrieg noch mit der Unterstützung der →Vereinigten Staaten hatte rechnen können, wendete sich die Gunst des US-Präs. George Bush (1989–1993) gegen den einstigen Verbündeten, nachdem dieser 1990 Kuwait überfallen und besetzt hatte. Im Verbund mit 18 anderen a.en Staaten gelang es den USA in der Operation Desert Storm, Saddam zum Rückzug aus Kuwait zu zwingen. Trotz der militärischen Niederlage hatte Saddams Regime in Bagdad Bestand – ein Fakt, den Präs. George W. Bush (reg. 2001–2009) in der Nachfolge seines Vaters zu ändern versuchte. Die Ereignisse des 11.9.2001 boten der US-Reg. Anlaß, dem Irak in der „Achse des Bösen“ eine hervorgehobene Stellung zuzuschreiben. Saddam habe al-Qa‘ida-Kämpfer begünstigt und Massenvernichtungswaffen produziert. Daß Saddam UN-Kontrolleuren den Zugang zu Fabriken verweigerte, werteten die USA als eindeutigen Beweis für die Existenz von Vernichtungswaffen. Im Frühjahr 2003 begann die militärische Invasion des Irak, die mit der Einnahme Bagdads und dem Sturz Saddams endete. Der Diktator konnte sich zunächst verstecken, wurde aber im Winter desselben Jahres gefangengenommen und nach einem Strafprozeß 2006 hingerichtet. Die anvisierte Neuordnung der Region geriet zu einem Fiasko, da nun die zuvor von Saddam unterdrückten Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten offen ausbrachen. Die Lage der gesamten Region – verschärft durch den Afghanistan-Krieg – präsentierte sich nach dem Eingreifen der USA instabiler denn je. Zum Jahreswechsel 2010/11 kam eine neue Komponente – die der a.en Eigeninitiative – hinzu. Die Bürger zahlreicher a.er Staaten erhoben sich gegen ihre autoritär regierenden Herrscher, die die Staatsgewalt bis dato entweder als absolute Monarchen oder als Präsidialdiktatoren ausgeübt hatten. Daß diese Reg.sformen ihren Zenit wohl überschritten haben, zeigen die jüngsten Volksaufstände in Bahrain, dem Jemen, Libyen und Syrien, die in Ägypten (Husni Mubarak) und Tunesien (Zayn al-‘Abidin bin ‘Ali) sogar zum Sturz der
A r A ber i n sü d o s tA s i en
Machthaber führten. Im Sudan hat die Bevölkerung des überwiegend nicht-a.en Südens trotz ungeklärter Grenzfragen in einem Referendum für die Unabhängigkeit des Janub as-Sudan gestimmt. Dagegen läßt das von den Vereinten Nationen projektierte Unabhängigkeitsreferendum in der von Marokko verwalteten →Westsahara noch auf sich warten. Ob durch die genannten Veränderungen auch eine Verschiebung der politischen Gewichte im a.en Raum einhergeht – einen ersten Hinweis darauf gibt das verstärkte außenpolitische Engagement Qatars –, wird die Zukunft zeigen. Ulrich Haarmann / Heinz Halm (Hg.), Geschichte der Arab. Welt, München 52004. Heinz Halm, Die Araber. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart, München ³2010. Bernard Lewis, Die Araber, München 2002. CHRI S T I AN KI RCHE N
Araber in Deutsch-Ostafrika. Die ostafr. →Araber lassen sich nach Herkunft aus dem Hadramaut und der Region Muscat gut unterscheiden. Beide Volksgruppen sprechen auch heute noch ihre Herkunft verratende südarab. Dialekte. Die Hadramaut-A. wurden bereits im 15. Jh. an der ostafr. Küste und im Landesinnern bis zu den großen Seen ansässig. Sie betrieben als orthodoxe Muslime bis zur Koloniegründung intensiv die Islamisierung der Eingeborenen und brachten die arab. Schreibschrift ins Land, die bis Anfang des 20. Jh.s auch für die lingua franca →Ki-Suaheli benutzt wurde. Tätig waren sie als Kleinhändler und Handwerker, v. a. in der Metallbearbeitung. Die Muscat-A. wanderten im späten 17. und im 18. Jh. ein. Sie bildeten über die dt. Kolonialzeit hinaus die soziale und politische Oberschicht in der Küstenregion und auf den dieser vorgelagerten Inseln. Die Sultane von →Sansibar waren Muscat-A. Beide arab. Volksgruppen betrieben von Sansibar und der Küstenregion aus intensiv den Handel mit schwarzafr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) aus dem Binnenland. Als die Verwaltung der →Dt.-Ostafr. Gesellschaft begann, diesen zu unterbinden, kam es 1888/89 zu dem vom Araber Buschiri geführten →Araberaufstand. Die unter dem Kommando Hermann von Wissmanns gebildete, vornehmlich aus angeworbenen Sudanesen bestehende →Schutztruppe schlug den Aufstand nieder. Seitdem verhielten sich die A. loyal zur Kolonialmacht. GE RHARD HUT Z L E R Araber in Südostasien. Erste Kontakte →Südostasiens mit der arab. Halbinsel existierten wahrscheinlich bereits im 1. Jh. n. Chr. Regelmäßige Handelskontakte, die von den Monsunwinden abhängig waren, sind seit dem 8. Jh. nachweisbar. Mit der Islamisierung der einheimischen Staaten im insularen S. werden diese auch als Handels- und Niederlassungsorte zunehmend attraktiv. Eine verstärkte Migration von →Arabern nach S. setzte allerdings erst im späten 18. und 19. Jh. als unmittelbare Folge der Ausdehnung der europäischen Herrschaft ein. Die überwiegende Mehrheit dieser Migranten war männlich und stammte aus Hadramaut im heutigen Jemen. Die Gründe der Migration sind vielfältig: Neben der zunehmenden Trockenheit und häufigen Klanfehden in Hadramaut waren es auch die Möglichkeiten des freien Handels in den europäischen Kolonien, die die
Hadramis in S. anzogen. Als weiterer Faktor kann die in S. verbreitete shafi’itische islamische Rechtsauslegung genannt werden, die auch im Jemen vorherrschend ist und islamische Missionare und Gelehrte in den malaiischen Archipel lockte. Auch die starke Ausweitung der Dampfschiffahrt (→Schiffahrt) durch das Rote Meer und den Golf von Aden im Anschluß an die Eröffnung des →Suezkanals nach S. im späten 19. Jh. trug das Ihrige dazu bei. Heiraten mit einheimischen Frauen sorgten rasch für eine →Kreolisierung der Hadramis, die jedoch ihre verwandtschaftlichen Bande zum Mutterland sehr pflegten. Diese internationalen und interaktiven Netzwerke verbinden bis heute Hadrami-Gemeinschaften von Ostafrika bis in die →Molukken. Gleichzeitig erleichterten die Verbindungen mit lokalen Frauen die Kontakte zu lokalen Sultanen und Händlern wie z. B. in →Aceh. Manchmal war sogar der Aufstieg zum Herrscher selbst möglich, wie z. B. im Sultanat Pontianak auf →Borneo, das 1771 von einem A. gegründet wurde, oder in Siak auf →Sumatra, wo 1782 ebenfalls ein Hadrami als Sultan eingesetzt wurde. Mitte der 1930er Jahre lebten mehr als 100 000 Hadramis außerhalb ihres Mutterlandes (ca. 20–30 % der Gesamtbevölkerung), allein in →Ndl.-Indien über 70 000 und in British Malaya ca. 5 000 Personen. Schwerpunkte arab. Gemeinden in S. bildeten die alten Handels- und Hafenstädte an der Nordküste →Javas (Pesisir-Region) wie z. B. Gresik, →Surabaya, Pasuruan, Demak, Pekalongan, Tegal oder Cirebon. In Südostasien wirtschaftlich am erfolgreichsten waren die A. in →Singapur, die bereits 1819 in den kolonialen Statistiken auftauchen. Viele der dort wirkenden Hadramis waren in Java geboren bzw. aus Java dorthin gelangt. Sie schafften es rasch, sich in der kolonialen Wirtschaft zurechtzufinden und wirkten in folgenden Betätigungsfeldern: Handel (z. B. mit Textilien, →Gewürzen), Plantagenwirtschaft (z. B. Kautschuk, →Kaffee, →Kakao, Sago, Kokospalmen), Verlage, Hotels. Die kleine Gruppe der A. (0,31 % der Bevölkerung) stellte 1931 die größten Grundbesitzer in Singapur. Zudem organisierten sie die moslemische Pilgerfahrt nach Mekka, den Hadsch, von Singapur und →Penang aus und erwirtschafteten damit hohe Gewinne. Moslems, die keine ausreichenden finanziellen Mittel für die Pilgerfahrt hatten, konnten sich diese auf den Plantagen der Hadramis erarbeiten. Weiterhin sorgten die A. durch umfangreiche Spenden an religiöse Stiftungen, Schulen und Verlage dafür, daß Singapur vor dem →Zweiten Weltkrieg ein florierendes Zentrum islamischer Gelehrsamkeit wurde. Konnten A. bereits in der Kolonialzeit hohe Positionen erreichen (z. B. als Friedensrichter), setzte sich dies auch nach der Unabhängigkeit →Indonesiens und →Malaysias fort. Der langjährige indonesische Außenminister Ali Alatas (1932–2008) stammte ebenso aus einer bekannten Hadrami-Familie wie der bekannte malaysische Soziologe Syed Hussein Alatas (1928–2007), der Vorsitzende der singapurischen Handelskammer Syed Ali Redha Alsagoff (1928–1998) oder der frühere malaysische Außenminister Syed Hamid Albar (* 1944). Ahmed Ibrahim Abushouk / Hassan Ahmed Ibrahim (Hg.), The Hadhrami Diaspora in Southeast Asia, Leiden 2009. Ulrike Freitag / William G. Clarence-Smith 49
A r A b e rA u f s tAn d
(Hg.), Hadhrami Traders, Scholars and Statesmen in the Indian Ocean, 1750s–1960s, Leiden 1997. Leif Manger, The Hadrami Diaspora: Community-Building on the Indian Ocean Rim, New York 2010. HOL GE R WARNK Araberaufstand (1888/89). Zeitgenössische Bezeichnung für eine Widerstandsbewegung in Ostafrika gegen die Übernahme der Verwaltung eines zum Sultanat →Sansibar gehörenden Küstenstreifens durch die →Dt.Ostafr. Gesellschaft (DOAG) im Aug. 1888. Das ungeschickte, teilweise brutale Vorgehen der dt. Beamten sowie die →Angst der Bevölkerung vor Veränderungen führten schon bald zu bewaffneten Widerstandsaktionen. Bis Ende Sept. zwangen die Aufständischen unter ihren Führern Abushiri ibn Salim al-Harthi und Bwana Heri die DOAG zur Aufgabe ihres gesamten Einflußbereichs mit Ausnahme der Hafenstädte Bagamoyo und →Daressalam. Da die Gesellschaft militärisch nicht in der Lage war, den Aufstand niederzuschlagen, bat sie das Reich um Hilfe. Als eine von Reichskanzler Otto von →Bismarck initiierte Blockade der Küste durch ein internationales Geschwader nicht den gewünschten Erfolg hatte, erhielt Hermann von Wissmann den Auftrag zur Aufstellung einer aus afr. →Söldnern bestehenden Kolonialtruppe. Die als →Schutztruppe bezeichnete Einheit begann im Mai 1889 mit der Rückeroberung der Küste, die erst ein Jahr später abgeschlossen werden konnte. Der Begriff „A.“ ist irreführend. Um die Militärintervention in der dt. Öffentlichkeit als humanitäre Aktion zur Bekämpfung des →Sklavenhandels erscheinen zu lassen, ließ die Reichsreg. die Falschmeldung verbreiten, der Aufstand sei von arab. Sklavenhändlern initiiert worden. In der Forschung ist heute die Bezeichnung Bus(c)hiri- oder Küstenaufstand gebräuchlich. Q: Hugold von Behr, Kriegsbilder aus dem AraberAufstand in Deutsch-Ostafrika, Leipzig 1891, Ndr. Wolfenbüttel 2012. L: Jutta Bückendorf, „Schwarz-weiß-rot über Ostafrika!“, Münster 1997. Jonathon Glassman, Feasts and Riot, London 1995. Heiko Herold, Reichsgewalt bedeutet Seegewalt, München 2013. T HOMAS MORL ANG
Arabische Legion. Gründung 1921 durch den brit. Oberstleutnant Frederik Peake als paramilitärische Polizei des Mandatsgebietes Transjordanien aus Mitgliedern verschiedener Beduinenstämme. 1939 Übernahme des Kommandos durch John Glubb. Er baute die Legion zu einer schlagkräftigen Einheit mit 4 000 Mann aus. 1941 kämpfte sie an Großbritanniens Seite gegen aufständische Militärs im Irak und gegen Vichy-treue frz. Kolonialtruppen in Syrien. In dem durch die Unabhängigkeitserklärung Israels 1948 ausgelösten Palästinakrieg eroberte die Legion das Westjordanland (West bank) und die Altstadt von Jerusalem. Ihr werden im Zusammenhang damit Kriegsverbrechen zur Last gelegt. 1956 Entlassung der brit. Offiziere und Eingliederung der Legion in die jordanische Armee. GE RHARD HUT Z L E R Aranda, conde de, Pedro Pablo Abarca de Bolea Ximénez de Urrea, * 18. Dezember 1719 Siétamo / Huesca, 50
† 9. Januar 1798 Épila, □ Monasterio de San Juan de la Peña, Aragón, rk. A. entstammte einem aragonesischen Adelsgeschlecht und schlug die militärische Laufbahn ein, bevor →Karl III. ihn 1766 nach dem Motín de Esquilache zum Präs. des Kastilienrates ernannte. Danach spielte er eine zentrale Rolle bei der Neugestaltung der span. Politik und Verwaltung. Zu den während seiner Amtszeit durchgeführten Maßnahmen gehörten die Reform der Kommunalverwaltung und die Vertreibung der →Jesuiten 1767. Als Militär und Hochadliger vermochte er die Gegner der neuen noblesse de robe einzubinden, die deren Führungsrolle und politische Vorhaben bekämpften. Diese neue Elite trat dafür ein, die Verwaltung in die Hände einzelner, direkt den Weisungen des Kg.s und seiner Minister untergeordneter Beamter zu übertragen, um die unter →Philipp V. begonnene Politik der Entmachtung der alten Ratsbehörden, Consejos, zu vollenden, die mit ihren dem Prozeßrecht folgenden Vorgehensweisen den Repräsentativgewalten die Möglichkeit zur politischen Blockade der Krongewalt boten. Alle Teile der Monarchie sollten sich den von den Ministern formulierten Zielen für die zu formierende span. Nation unterordnen. Mehr als in Spanien selbst rief die Politik Karls III. und seiner Beamten in Hispanoamerika wachsenden Unmut hervor, da angestammte Eliten ihre Rechte kontinuierlich verletzt sahen und sich dabei auf die 1680 vom letzten Habsburger Karl II. in Kraft gesetzte Recopilación de las Leyes de Indias beriefen. A. versuchte dagegen stets, seiner Vorstellung eines stärker die territorialen Interessen berücksichtigenden Staatswesens zum Durchbruch zu verhelfen. Zwar mußte er 1773 nach wiederholten Zusammenstößen mit →Campomanes und dem Ersten Minister Grimaldi sein Amt aufgeben, doch spielte er als Botschafter in Paris weiter eine wichtige Rolle in Spaniens internationaler Politik. A. führte dort, beraten von dem aus →Amerika zurückgekehrten späteren Premierminister Francisco de →Saavedra, die span. Verhandlungen, die 1783 zum Frieden von Paris und der Anerkennung der →USA führten. Infolge dieser Erfahrungen verfaßte A. 1783 eine Denkschrift, in der er u. a. vorschlug, die →Vize-Kgr.e in Amerika der Herrschaft span. Infanten zu unterstellen, während Karl III. sich zum Ks. ausrufen und die Suzeränität über die neuen Kgr.e ausüben sollte. Zugleich kritisierte er die Ungleichbehandlung der am. Untertanen und sprach sich dafür aus, diese, je nach Verdiensten und Fähigkeiten, bei der Ämtervergabe zu berücksichtigen. Der spätere →Karl IV., um den sich die Opposition jener Jahre sammelte, schätzte A. als Ratgeber, ernannte ihn 1791 für wenige Monate zum Premierminister, bevor er Manuel Godoy weichen mußte und aus der Politik ausschied. A.s Idee eines span. Ks.tums zur Herrschaftssicherung in Amerika wurde insgeheim am Madrider Hof weiter diskutiert. Noch 1807 ließ sich Karl IV. im Vertrag von Fontainebleau von Napoleon dessen Einverständnis mit seiner Ausrufung zum Ks. von Amerika als Gegenleistung für das Durchzugsrecht frz. Truppen nach Portugal zusichern. Luis M. Farías, La América de Aranda, Mexiko-Stadt 2003. Manuel Lucena Giraldo (Hg.), Premoniciones de la Independencia de Hispanoamérica. Las reflexiones de
A rAwAk
José de Ábalos y el Conde de Aranda sobre la situación de la América española a finales del siglo XVIII, Madrid 2003. Rafael Olaechea / José Antonio Ferrer Benameli, El conde de Aranda, Saragossa 21998. AL E XANDRA GI T T E RMANN
Arango y Parreño, Francisco, * 22. Mai 1765 Havanna, † 21. März 1837 Havanna, □ Havanna, rk. Angehöriger der span.-kubanischen Oligarchie von Havanna, Theoretiker der am. Plantagenwirtschaft mit Massensklaverei (→Sklaverei und Sklavenhandel) sowie konservativer Modernisierer der kubanischen Zuckerindustrie (→Zucker) und Exportwirtschaft („Adam Smith der Plantagen“), die zwischen 1830 und 1880 die Weltzuckerproduktion dominierte. A. stammt aus einer kreolischen (→Kreole) Familie mit einem Vorfahren, der als Korsar und Schmuggler aus Asturien ein Vermögen gemacht hatte, sowie A.s Selbstdarstellung nach mütterlicherseits aus Navarra (wirklich stammte die Familie aus Havanna) und war nach einem Jurastudium in Havanna zunächst Syndikus des Ayuntamiento (Stadtrat) von Havanna beim Hof in Madrid. 1791 erkannte er als einer der ersten die Chancen, die sich für die kubanischen Plantagenbesitzer aus der Revolution von Saint-Domingue (1791–1803) ergaben. Er verfaßte den Discurso sobre la Agricultura de la Habana y medios de fomentarla (Diskurs über die Landwirtschaft von Havanna und Mittel, sie zu verbessern, 1792), in dem er der Krone in klarer Sprache und schnörkellosem Stil tiefgreifende Struktursowie Handelsreformen und den Ausbau der Massensklaverei vorschlug. A. gehörte auch zu den Gründervätern des Real Consulado de Agricultura, Industria y Comercio de la Habana (Konsulat) sowie der Junta de Fomento, einer Kommission aus span. Großhändlern und kreolischen Großgrundbesitzern zur Förderung der Zuckerwirtschaft, dem demographischen Studium von Immigration und Bevölkerung sowie zur Koordination des Kampfes gegen Sklavenrebellionen. Seine Vorschläge liefen darauf hinaus, daß die wirtschaftlich führende Gruppe der kreolischen und span. Sklavenhalter und Besitzer von →Ingenios (Zuckerplantagen) auch „Gesetzgeber“ für →Kuba sein sollten – im Grunde koloniale Autonomie. A. gehörte zu Referenzpersonen Alexander von →Humboldts bei dessen Besuchen in Havanna (1800/01 und 1804). Mit der Forderung nach Selbst-Reg. verfaßte A. 1808, dem Jahr der Besetzung Spaniens und des span. Thrones durch Napoleon auch eine Petition zur Gründung einer Junta in Havanna, die die politische Kontrolle über die ganze Insel übernehmen sollte. Ähnliche Junta-Gründungen waren im kontinentalen Span.Amerika zwischen 1808 und 1810 Ausgangspunkte der Kämpfe, die schließlich zur Unabhängigkeit führten (Independencia). Allerdings erklärten sich eine Reihe hochrangiger Kreolen und die Anführer der kreolischen Milizen in Havanna gegen A.s Vorschlag. A. selbst führte eine Zuckerplantage, der Ingenio La Ninfa bei Havanna, auf dem er mit u. a. mit der Arbeit versklavter Frauen als Zuckerrohrschnitterinnen experimentierte. Im Zuge der span. Konterrevolution gegen die Unabhängigkeit der kontinentalen Kolonien 1815–1825 verwirklichte die Krone viele der von A. und seiner Gruppe geforderten
Reformen, im Kern stand das Recht auf volles Privateigentum des Bodens sowie Separation des Landbesitzes (1819) und die Freigabe des Waldes zur Expansion der Zuckergüter. A. erhielt einen Hochadelstitel, wurde Mitglied des Indienrates im Ministerrang, Berater der Krone in Fragen des Sklavenhandels sowie schließlich Intendant von Kuba. Als 1825 allerdings die span. Truppen von republikanischen Truppen unter →Bolívar geschlagen worden waren, beendete die span. Krone die Phase stabilisierender Kolonialreformen auf Kuba. Die span. Generalkapitäne erhielten ab 1825 diktatoriale Macht. A. geriet ins Abseits, schrieb aber noch einige bedeutende Texte, die die faktische Beendigung des Sklavenhandels und die Umwandlung der Sklaverei in an den Boden gebundener, aber formal „freier“ Bauern und ihre Verheiratung mit armen Spaniern und Spanierinnen forderten (→Blanqueamiento). Q: Francisco Arango y Parreño, Obras. Ensayo introductorio, compilación y notas García Rodríguez, 2 Bde., Havanna 2005. L: Dale W. Tomich, The Wealth of the Empire: Francisco de Arango y Parreño, Political Economy, and the Second Slavery in Cuba, in: Comparative Studies in Sociology and History (CSSH) Nr. 1 (2003), 4–28. Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004. MICH A EL ZEU SK E
Arawak. Neben Kariben (→Karibik) und Siboney die dritte große indianische Volksgruppe, auf die die Spanier bei Entdeckung →Amerikas stießen; Siedlungsraum der A. waren v. a. die →Bahamas, die Großen →Antillen und Trinidad. Sie hatten diese Inselgruppen von Südamerika aus besiedelt, als ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet gilt das Amazonasbecken (→Amazonas). Sie bauten in großem Maßstab Yuca an, aus dem sie →casabe herstellten. Ansonsten bestand ihre Nahrung neben Wild und Wildfrüchten v. a. aus Fisch, weshalb ihre Siedlungen meist in Küstennähe lagen. An der Spitze jeder Siedlung stand ein Häuptling. Allen Siedlungen innerhalb eines je größeren Gebiets stand ein Kazike (→Caciques) vor, dessen Vorrangstellung vermutlich religiös-zeremonieller Natur und nicht mit praktischen Herrschaftsrechten verbunden war. Die Spanier verschleppten viele A. als Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) in andere Regionen (→Rescate) und zogen sie auch auf ihren Heimatinseln zwangsweise zu Arbeit unter z. T. unmenschlichen Bedingungen, z. B. in Minen heran, die zahlreiche A. das Leben kostete. Weitere Ursache für die Auslöschung der A. waren die aus Europa eingeschleppten Krankheiten, gegen die die A. keine Immunabwehr besaßen. Die Gesamtzahl der Opfer läßt sich nicht genau bestimmen, da unbekannt ist, wie viele A. vor Ankunft der Europäer in der →Karibik lebten. Die Gesamtbevölkerung der Karibik (A., Kariben, Siboney) wird für 1492 auf zwischen 225 000 und sechs Mio. Menschen geschätzt. Die Kultur der A. war, anders als die der Kariben, friedfertig. Daher fehlte Gegenwehr fast völlig. Lediglich in einem bekannten Fall kämpften A. 1522 auf →Hispaniola erfolgreich gegen die Spanier. Die wenigen, die Krankheiten und →Zwangsarbeit überlebten, verloren im Lauf des 16. und 17. Jh.s ihre ethnische Identität durch →Mischehen mit schwarzen cimarrones (→Cimarrón). 51
A r c h Ä o l ogie , k o lo n i A le
Jan Rogozinski, A Brief History of the Caribbean, New York 1999. CHRI S TOP H KUHL Archäologie, koloniale. Der Begriff bezeichnet archäologische Untersuchungen durch Kolonialmächte, nicht die Forschungen zu Niederlassungen von Europäern in Übersee, die eher unter dem Begriff Neuzeitarchäologie bzw. Historical Archaeology zu fassen sind. Archäologische Forschung in den Kolonialgebieten war getragen vom Versuch, diese auch kulturell zu appropriieren aber ebenso, die Vergangenheitsrezeption nach europäischen Maßstäben zu organisieren. So entstanden die diversen Antikenbehörden, die nach der Unabhängigkeit der Kolonien Grundlage für nationale Denkmalbehörden wurden. Im Zuge des Postkolonialismus wurden die europäischen Archäologien vielfach sehr kritisch betrachtet. In Deutschland ist das Dt. Archäologische Institut auch heute noch dem Auswärtigen Amt unterstellt, eine Tradition seit den Gründungsjahren, wenngleich es in den dt. Überseegebieten kaum archäologische Grabungen gab. Martin Brandtner, Koloniale Archäologie, in: Stephan Conermann (Hg.), Mythen, Geschichte(n), Identitäten, Hamburg 1999, 303–366. Augustine Holl, West African Archaeology, in: Peter Robertshaw (Hg.), A History of African Archaeology, London / Portsmouth 1990, 296– 308. Christian Jansen, The German Archaeological Institute Between Transnational Scholarship and Foreign Cultural Policy, in: Fragmenta 2/2 (2008), 151–181. DE T L E F GRONE NBORN
Architektur →Kolonialarchitektur Arcot. Erlangte größere Bedeutung im 18. Jh. als Hauptstadt des Mogulennachfolgestaates (→Moguln) Karnatak Payanghat, dessen Herrscher als Nawabs von A. bzw. Carnatic bekannt wurden. A. war bereits während der ersten Dekade des 18. Jh.s ein Zentrum politischer Aktivitäten gewesen. Seinen Aufstieg als höfisches Zentrum verdankt es größtenteils Muhammad Said alias Saadatullah Khan (1710–1732), der allg. als erster unabhängig von den Moguln agierender Nawab von A. betrachtet wird. Saadatullah wurde von seinem Neffen beerbt, mit dessen Tod 1740 Kämpfe um seine Nachfolge einsetzten. Diese wurden erst in den 1750er Jahren zugunsten des von den Briten und dem Fürstentum →Haiderabad geförderten Muhammad Ali Wallajah (1749–1795) entschieden. 1766 verlegte Muhammad Ali seinen Hof nach →Madras. Nach dem Tod seines Nachfolgers 1801 entzogen die Briten der Wallajah-Dynastie die Kontrolle über die Verwaltung. 1855 wurden die Nawwabs von A. schließlich auch de jure abgesetzt. Im 20. Jh. verlor A. an Bedeutung und wurde in den Vellore Distrikt des ind. Bundesstaates Tamil Nadu eingegliedert. Susan Bayly, Saints, Goddesses and Kings, Cambridge 1989. TORS T E N T S CHACHE R Argentinien. Der Name der Rep. A. leitet sich vom Río de la Plata, jenem von den span. Eroberern genannten „Silberfluß“ ab, der für die Geschichte des Landes so bestimmend war. Da der legendäre Silberberg in Potosí in die Hände der von →Peru südwärts vordringenden span. 52
Conquistadoren fiel, geriet die La-Plata-Region zunächst sowohl in wirtschaftlicher als auch in geographischer Hinsicht in eine Randlage des Imperiums. Eine Aufwertung erfuhr die Region 1776 mit der Errichtung des →Vize-Kgr.s von La Plata, das die alten Gouvernements von La Plata, →Paraguay und Tucumán, sowie die Territorien Cuyo, das bis dahin dem Generalkapitanat →Chile unterstellt war, und Hochperu, inkl. Potosí, umfaßte. Darüber hinaus war zu Beginn des 19. Jh.s die Viehzucht zum wichtigen, den Export dominierenden Wirtschaftszweig avanciert, was den Aufschwung der Hafenstadt →Buenos Aires und der umliegenden Territorien begründete. Der Unabhängigkeitsprozeß der La-Plata-Region wurde durch Ereignisse in Europa ausgelöst. Nach der Einnahme Spaniens durch die napoleonischen Truppen und der Auflösung der Zentraljunta in Sevilla bestand in den Augen vieler Amerikaner keine legitime Reg. im Mutterland mehr, weshalb sie nach der Einsetzung eigener Juntas verlangten. Auf Drängen der städtischen Elite und der Milizen berief Vize-Kg. Cisneros in Buenos Aires eine offene Ratsversammlung für den 22.5.1810. Drei Tage später erwirkten die Milizkommandeure zusammen mit einer vor dem Rathaus versammelte Menschenmenge die Absetzung des Vize-Kg.s und die Bildung einer Junta, die zwar in Namen Ferdinands VII. regierte, jedoch eine eigene Politik verfolgte. Da die Autorität der Junta von Buenos Aires nicht ohne weiteres in den anderen Gebieten des Vize-Kgr.s anerkannt wurde, diese jedoch auf eine Vormachtstellung nicht verzichtete, entwickelten sich jahrzehntelange kriegerische Auseinandersetzungen um die Gestaltung einer neuen politischen Ordnung, in deren Verlauf das ehem. Vize-Kgr. in verschiedene unabhängige Rep.en zerfiel. Die Unabhängigkeit der „Vereinigten Provinzen von Südamerika“ wurde 1816 offiziell erklärt und durch die militärischen Unternehmungen von General José de →San Martín bald gesichert. Andererseits markierte das Jahr 1820 die Auflösung des prekären Kompromisses zwischen den Provinzen, die jeweils von eigenen Anführern (Caudillos, →Caudillismo) regiert wurden, die sich – je nach Lage – gegenseitig unterstützten bzw. bekämpften. Der zunächst vielversprechende Versuch des von Bernardino Rivadavia geführten reformorientierten Flügels, eine liberale Ordnung in der Provinz Buenos Aires zu etablieren und sie von dort aus auf die restlichen Provinzen auszuweiten, scheiterte schließlich an der fehlenden Kompromißbereitschaft der Beteiligten sowie an den internationalen Umständen, die in einen Krieg mit →Brasilien (1825–1828) um die Banda Oriental, die heutige Rep. Uruguay, mündeten. Demgegenüber gelang dem konservativen Caudillo Juan Manuel de Rosas, seine Macht über die Provinz Buenos Aires sowie über die argentinische Konföderation sowohl durch Allianzen als auch durch Gewalt zwischen 1829 und 1852 aufrechtzuerhalten. Rosas, der die Interessen der Kaufleute und Großgrundbesitzer, aus deren Kreisen er selbst stammte, vertrat, hatte auch Rückhalt im Militär und bei der ländlichen Bevölkerung sowie den städtischen Unterschichten. Mit der Unterstützung anderer föderaler Caudillos konnte er sich über die in den nördlichen Provinzen entstandene Liga del Interior, die von den Unitaristen domi-
A rg en ti n i en
niert war, durchsetzen. In den 1830er Jahren weitete Rosas seine Macht weiter aus: Einerseits ließ er sich durch pseudo-demokratische Plebiszite immer wieder legitimieren, andererseits etablierte er mit der Unterstützung der Kirche ein diktatorisches System, das durch Zensur, politische Verfolgung und die berüchtigten Methoden der Geheimpolizei gekennzeichnet war. Wiederholt auftretende Konflikte, an denen sowohl interne oppositionelle Kräfte als auch andere lateinam. Staaten sowie europäische Mächte beteiligt waren, machten jedoch die Grenzen seines Systems deutlich. Schließlich wurde Rosas von Justo José de Urquiza besiegt. Der Gouv. der Provinz Entre Ríos hatte sich die Unterstützung der Unitarier sowie der Uruguayer und der Brasilianer gesichert. Die 1853 unter der Ägide Urquizas verabschiedete Verfassung, die u. a. die Aufteilung des Zolleinkommens der Hafenstadt vorsah, stieß auf den Widerstand der Provinz, die sich unter Führung von Bartolomé Mitre von der Konföderation trennte. 1862 kam es schließlich zu einem Kompromiß, und Mitre wurde Präs. des Landes. Die Verfassung, die bis 1930 ohne Unterbrechung in Kraft blieb, sah ein föderales Präsidialsystem vor mit einem Kongreß, der sich aus zwei Kammern zusammensetzte: einem direkt von der Bevölkerung gewählten Abgeordnetenhaus und einem Senat, dessen Mitglieder von den Provinzlegislativen gewählt wurden. Darüber hinaus konnten die Provinzen ihre Angelegenheiten durch eigene Verfassungen und Gesetze regeln. Eine Erweiterung des Staatsgebiets ergab sich durch die erzwungene Abtretung großer Gebiete des Chaco und Misiones durch Paraguay in Folge des →Tripelallianzkriegs (1864–1870). Grundlage für die Integration der argentinischen Volkswirtschaft in den Weltmarkt war v. a. die Erschließung der großen Agrargebiete der Pamparegion. Dies geschah mittels eines gewaltigen Feldzugs, als „Eroberung der Wüste“ bekannt, der 1879 durch General Julio A. Roca, der später auch zweimal Präs. werden sollte, gegen die in den südlichen Territorien lebenden Mapuche und Tehuelche eingeleitet wurde. Kurz darauf unternahm die Armee ähnliche Feldzüge im nördlichen Chaco. Der politischen Stabilisierung folgte ein wirtschaftlicher Aufschwung, der das Land stark verändern sollte (→Desarrollo hacia afuera). Schon um die Mitte des 19. Jh.s begann man mit der Schaffung einer modernen Verkehrsinfrastruktur. Dazu zählten die Investitionen in den Ausbau des Hafens von Buenos Aires sowie in das Eisenbahnnetz, die beide zunächst vom Staat finanziert wurden, aber bald in die Hände ausländischer, v. a. brit. Investoren gerieten. Zur selben Zeit begann der Dampfschiffsverkehr nach Europa. Die damit einhergehenden Zeitverkürzungen und die Senkung der Transportkosten eröffneten bessere Absatzmöglichkeiten für argentinische Produkte auf dem europäischen Markt, in deren Folge Ackerbau und Viehwirtschaft einen spektakulären Aufschwung erfahren sollten. Die Erlöse der Getreide- und Fleischexporte hatten auch eine dynamisierende Wirkung auf die Binnenkonjunktur. Das Land importierte seinerseits Industriegüter, Kapital und Arbeitskräfte. Eine liberale Einwanderungspolitik hatte zur Folge, daß zwischen 1870 und 1914 fast 6 Mio. Einwanderer nach A. kamen und ca. die Hälfte von ihnen dort auf Dauer blieben. Sie kamen aus
verschiedenen Ländern: Italiener und Spanier stellten die größten Kontingente, aber auch Franzosen, Deutsche und Migranten aus dem russ. Zarenreich – unter ihnen viele Juden – sowie aus dem Osmanischen Reich suchten ihre Lebenssituation in A. zu verbessern. Die meisten Einwanderer ließen sich in der Hauptstadt nieder, deren Bevölkerung von ca. 178 000 Ew. (1869) auf mehr als 1,5 Mio. (1914) wuchs. Damals waren fast 50 % der Ew. von Buenos Aires im Ausland geboren. Die massive Einwanderung brachte weitere Veränderungen mit sich, wie z. B. die Einführung moderner Techniken im Bereich der Landwirtschaft, aber auch neue Ideen und Organisationen, die bald die „Konservative Ordnung“ (1880–1912), d. h. die Herrschaft einer kleinen Gruppe von Notabeln, die sich mittels Wahlmanipulation an der Macht hielten, in Frage stellten. Die Wirtschafskrise von 1890, die mit dem Rücktritt des Präs. Juárez Celman endete, vermochte zwar noch nicht den Status quo radikal zu verändern, gab jedoch Anlaß zur Konstituierung einer aktiven Opposition, die sich in der 1891 gegründeten Radikalen Bürgerunion (Unión Cívica Radical, UCR) manifestierte. Diese Partei, die eine heterogene soziale Basis verkörperte, drängte mit allen Mitteln auf eine strikte Einhaltung der Verfassung und die Abhaltung sauberer Wahlen. Da die Arbeiterklasse sich zu größeren Teilen aus Ausländern zusammensetzte, die kein Wahlrecht genossen, suchten sie andere Kanäle, wie die gewerkschaftlichen Organisation und Streiks, um ihre Interessen zu artikulieren. Großen Einfluß übten dabei die anarchistischen Ideen aus, während die 1895 gegründete Sozialistische Partei sich darum bemühte, auf eher friedlichem Weg eine Reform der bestehenden Verhältnisse herbeizuführen, ohne jedoch schnelle Erfolge verbuchen zu können. Ähnlich erging es der feministischen Bewegung, der es damals nicht gelang, das →Frauenwahlrecht durchzusetzen. Die Wirkung der sozialen Proteste war jedoch stark genug, um einen Flügel der Elite dazu zu veranlassen, einen Kompromiß mit der politischen Opposition zu suchen. Dieser äußerte sich in einer Reform des Wahlrechts, die der Manipulation einen Riegel vorschob. So konnte 1916 die UCR mit Hipólito Yrigoyen als Präsidentschaftskandidat die seit 1880 regierenden Konservativen ablösen, die jedoch durch ihre starke Präsenz in beiden Kammern des Kongresses weiterhin großen Einfluß besaßen. Um seine Position gegenüber den Konservativen zu stärken, versuchte Yrigoyen seine Machtbasis mittels klientelistischer Praktiken fester an sich zu binden sowie die Zustimmung des Kongresses bei umstrittenen Entscheidungen zu umgehen, was der Opposition wiederum Anlaß gab, diese Praktiken als undemokratisch anzuklagen. Yrigoyens Nachfolger, der ebenfalls aus der UCR stammende Marcelo T. de Alvear, übernahm die Präsidentschaft 1922 inmitten einer Phase wirtschaftlicher Depression. Er verfolgte infolgedessen eine Politik staatlicher Ausgabenkürzungen, was starke Widerstände innerhalb der eigenen Partei provozierte. Eine Annäherung der verschiedenen politischen Positionen kam in den 1920er Jahren nicht zustande; vielmehr war eine Radikalisierung der Parteien, v. a. aber der außerparlamentarischen Kräfte, zu beobachten, bis schließlich im Kontext der Weltwirtschaftskrise 1930 ein Militärputsch 53
Arguin
den zum zweiten Mal gewählten Yrigoyen aus der Reg. vertrieb und die verfassungsmäßige Ordnung außer Kraft setzte. Während der darauffolgenden „Infamen Dekade“ hielten sich die Konservativen durch fragwürdige Methoden an der Macht, bis sie selbst 1943 durch eine erneute Intervention des Militärs verdrängt wurden. Zum starken Mann der Militär-Reg. avancierte bald Oberst Juan Domingo Perón, der sich in kurzer Zeit die Basis für eine eigene politische Strategie schuf. Als klarer Sieger der nächsten freien Wahlen übernahm Perón 1946 in einer völlig veränderten politischen Landschaft die Präsidentschaft mit dem Ziel, ein „neues A.“ zu schaffen, bis 1955 seine zweite Reg. einmal mehr durch einen Militärputsch beendet wurde. Dem Sturz des →Peronismus folgten fast drei Jahrzehnte politischer Instabilität. Zivile und militärische Reg.en wechselten sich ab, ohne daß es einer von ihnen gelang, eine echte Stabilisierung herbeizuführen. Gleichzeitig fand eine Veränderung der wirtschaftlichen Struktur des Landes statt. Die technische Modernisierung der Agrarproduktion erlaubte zunächst eine Produktivitätssteigerung, die jedoch nicht ausreichte, um den Abstand zu den hochentwickelten Volkswirtschaften zu verringern. Als Schlüssel zur Modernisierung galt nunmehr die Industrie, deren Wachstum bis in die 1970er Jahren anhielt. Insg. verlief jedoch die wirtschaftliche Entwicklung in Form eines stop-and-go-Zyklus, der von sozialen Konflikten begleitet wurde. Auch die Rückkehr Peróns an die Macht in den 1970er Jahren brachte keine Ruhe. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur die allg. politische Landschaft, sondern v. a. die peronistische Bewegung von einer starken Polarisierung geprägt. Die Gewalteskalation mündete schließlich 1976 in die Machtübernahme durch eine Militärjunta, die den Staatsterror im ganzen Land etablierte. Kernelement der repressiven Strategie war das systematische „Verschwindenlassen“ von zu Staatsfeinden erklärten Personen, die in geheime Haftorte verschleppt und dort brutal gefoltert wurden. Die meisten Opfer wurden dann auch insgeheim ermordet. Parallel dazu wurde eine Wirtschaftspolitik implementiert, die eine Kapitalkonzentration zugunsten weniger Unternehmen förderte, während die forcierte Außenöffnung der Wirtschaft den Konkurs zahlreiche kleiner und mittlerer Betriebe zur Folge hatte. Als es zu Protestaktionen kam und die Konflikte innerhalb der Streitkräfte immer offensichtlicher wurden, ordnete die Militär-Reg. die Invasion der von Großbritannien seit 1833 besetzten Malvinen-Inselgruppe (→Falklandinseln) an und beschwor damit einen internationalen Krieg herauf, die mit der Kapitulation der argentinischen Truppen endete und das Ende der Diktatur einläutete. Mit der Demokratisierung begann 1983 eine neue Phase der argentinischen Geschichte. Dennoch hatten die demokratischen Reg.en mit der Hinterlassenschaften der Diktatur zu kämpfen, v. a. mit den traumatischen Nachwirkungen des Staatsterrors und der Last einer enormen Staatsverschuldung. Der erste aus freien Wahlen hervorgegangene Präs., der Radikale Raúl Alfonsín (1983–1989), sah sich im Gefolge der eskalierenden politischen und wirtschaftlichen Krise gezwungen, sechs Monate vor dem Ende seiner regulären Amtszeit die Reg.sgeschäfte an seinen Nachfolger, den Peronisten Carlos Menem (1989–2000), 54
zu übergeben. Diesem gelang es zunächst, durch eine neoliberale Anpassungs- und Privatisierungspolitik die argentinische Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Gleichzeitig war seine Reg. durch zahlreiche Korruptionsskandale und Machtmißbrauch gekennzeichnet. Die darauffolgende Reg. des Radikalen Fernando de La Rúa (2000–2001) endete mit seinem Rücktritt inmitten von wirtschaftlichen Chaos und großen Straßenprotesten. Im Apr. 2003 übernahm mit Nestor Kirchner wieder ein Peronist die Reg., der sich jedoch ganz ausdrücklich von der Politik Menems distanzierte, wie auch seit 2007 seine Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner. Die demokratischen Institutionen überstanden die Hyperinflation von 1989 und 1990, die radikalen Wirtschaftsreformen der 1990er Jahre, die Krise von 2001/2002 sowie die darauffolgende Depressionsphase. Ihre tieferen Ursachen sowie die mittlerweile verfestigte →soziale Ungleichheit bleiben jedoch bestehen. Sandra Carreras / Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens. Berlin 2010. Luis Alberto Romero, A History of Argentina in the Twentieth Century. University Park PA 2001. Juan Suriano (Hg.), Nueva Historia Argentina (Bde. I-X), Buenos Aires 1998–2005. SA N D R A CA R R ER A S
Arguin. Wüsteninsel vor der Küste Mauretaniens (65 km südöstlich Nouadhibou). Um 1442/44 entdeckt und 1448 wegen ihrer Form „isola do grain“ genannt, errichten die Portugiesen dank Süßwasservorkommen dort die erste Überseefestung des Entdeckungszeitalters. Handel mit Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), Fisch, grauem Ambra, Bezoar, →Salz, Straußenfedern und Gummi Arabicum. 1633 Einnahme A.s durch die ndl. →Westind. Compagnie (WIC). Wachsende Abhängigkeit der europäischen Textilverarbeitung vom Gummihandel, der an der Küste südlich A.s bei Porto d’Arco/→Portendick (30 km nördlich →Nouakchott) abgewickelt wird, führt zu weltwirtschaftlicher Bedeutung der Region. 1665 Einnahme A.s durch England, 1666 wieder ndl., 1678 von Frankreich erobert. Da A. nicht besetzt wird, gerät die Insel unter Kontrolle des maurischen Emirats Trarza und indigener Fischer (Imragen). Niederländer führen ihren Handel bis 1688 trotz frz. Proteste weiter. 1684–1686 Kontaktaufnahme zwischen Brandenburg/Preußen und Trarza. 1687 Schutz- und Handelsvertrag, der 1698 erneuert wird. Verfall des Handels infolge europäischer Kriege und korrupten Gouvernements führt 1718–1722 zum Verkauf an WIC. Von 1717 bis 1727 Krieg um die Hegemonie im Gummihandel zwischen England, Frankreich und den Niederlanden. 1721 beendet frz. Angriff die preußische Präsenz. Von 1722 bis zur Einnahme durch Franzosen 1724 wird A. erneut ndl. 1727 Vertrag von Den Haag, der WIC entschädigt und A. an Frankreich abtritt. Zugunsten einer Verlagerung des Gummihandels an den →Senegal kommt es 1728 zur Aufgabe A.s und Zerstörung der Festung. Engl.-frz. Rivalität um den Gummihandel vor Porto d’Arco und am Senegal dauert bis 1857 an. Schiffbrüche (Untergang der Méduse 1816), Ermordung von Seeleuten und Versklavung Gestrandeter verursachen Meidung der ungenau kartogra-
A s hA n ti , A s hAn ti - kri eg e
phierten Region von A. Ab 1860 erfolgt wissenschaftliche Erforschung durch Frankreich. Till Philip Koltermann, Zur brandenburgischen Kolonialgeschichte, Potsdam 1999. T I L L P HI L I P KOLT E RMANN
Asbury, Francis, * ca. 20. August 1745 Hamstead Bridge, Staffordshire / GB, † 31. März 1816 Spotsylvania County, Virginia / USA, □ Mount Olivet Cemetery, Baltimore/MA USA, Methodist A. kam durch seine Eltern früh mit der von John und Charles Wesley propagierten Pietismusvariante Methodismus in Berührung. John Wesley schickte den jungen Priester 1771 in die brit. Kolonien Nordamerikas, die A. auch während der Revolutionswirren und des Unabhängigkeitskriegs 1775–1783 als einziger methodistischer Geistlicher in Nordamerika nicht verließ. Seit 1784 als Superintendent der begründeten Methodist Episcopal Church (MEC), ab 1787 als deren erster Bischof praktizierte A. Seelsorge als körperlich und geistig anspruchsvolle Missionsarbeit, legte als „rider on the circuit“ ca. 270 000 Meilen im Sattel zurück, hielt täglich Predigten und ordinierte mehr als 4 000 Prediger. Der sog. „Vater des am. Methodismus“ prägte nachhaltig Organisation, Strukturen, Selbstverständnis und Image des US-am. Methodismus in den 13 Gründerstaaten der USA und im Ohiotal. In seiner Ägide wuchs die Mitgliederzahl der MEC von ca. 550 (1771) in New York und Philadelphia auf ca. 250 000 (1816) landesweit. Besondere Resonanz fand er in den Grenzgebieten der späteren US-Bundesstaaten Kentucky, Ohio und Indiana. Er hinterließ eine Fülle von Briefen und entspr. methodistischer Lebensführung zahlreiche Tagebücher (1771–1816). Elmer T. Clark (Hg.), The Journal and Letters of Francis Asbury in Three Volumes, London 1958. Auch www. FrancisAsbury.org und http://wesley.nnu.edu/holiness_ tradition/asbury_journal /index.htm . P. W. Gentry, Francis Asbury, Derby 1996. CL AUDI A S CHNURMANN Ashanti, Ashanti-Kriege. Das Reich der A. – auf dem Gebiet der heutigen Rep. →Ghana – war Ende des 17. Jh.s durch die →Eroberung verschiedener anliegender Reiche entstanden. Es war so organisiert, daß die Herrscher der Ursprungsreiche nach wie vor ihre jeweiligen Gebiete verwalteten, sich aber in einem Staatsrat zusammenfanden, um die wichtigsten Entscheidungen gemeinsam mit dem A.-Kg. zu treffen. Symbolischer Herrschersitz der A.-Kg.e war der sog. Goldene Stuhl, das vom Himmel entsandte Symbol der Einheit und des Geistes aller A. Mitte des 18. Jh.s war das A.-Reich mit der Hauptstadt Kumasi die größte Militär- und Handelsmacht der Region. Seine Macht beruhte auf einer modernen Verwaltung, geführt v. a. von schriftkundigen Muslimen, Goldreichtum und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), welche unterworfene Nachbargebiete als Tribut leisten mußten. Sklaven wurden in der Landwirtschaft und im Goldbergbau (→Bergbau) eingesetzt, aber auch eingetauscht gegen Waffen und Stoffe. Die wichtigsten europäischen Handelspartner des Reiches waren ab dem Beginn des 19. Jh.s die Briten, welche außerhalb des Gebietes ihrer Forts die Oberhoheit der A.
über die gesamte Südküste des heutigen Ghana anerkennen mußten. Da die A. fürchteten, Macht und Autorität zu verlieren, weigerten sie sich, auf ihr Handelsmonopol zu verzichten. Diese Haltung lief den brit. Interessen, aber auch denen zahlreicher privater Händler aus Kumasi zuwider, die ihre eigenen geschäftlichen Beziehungen ausweiten wollten. Zudem planten die Briten, Sklavenexporte zu unterbinden, wodurch sie allerdings in einen Konflikt mit den Kumasi-Händlern und den Küstenbewohnern gerieten. Die Interessenkollisionen verschärften sich, als das Aufkommen des Kautschuks große Gewinnspannen versprach. Vor diesem Hintergrund führten A., Briten und Küstenbewohner während des 19. Jh.s Kriege in unterschiedlichen Konstellationen und mit wechselndem Ausgang, die als A.-Kriege bezeichnet werden. Ein Versuch des brit. Gouv.s Sir Charles MacCarthy, die Macht des A.-Reiches zu brechen, endete 1824 in einer verheerenden Niederlage seines Heeres, da ihm seine einheimischen Verbündeten davonliefen und die Munition ausging. Doch die Revanche blieb nicht aus: 1826 mußten die A. eine schwere Niederlage hinnehmen. 1872 übernahm Großbritannien alle bis dahin verbliebenen ndl. Forts, darunter auch das Fort Elmina, das den A. bis dahin den Zugang zum Meer gewährt hatte. Nachdem diesbezügliche Verhandlungen gescheitert waren, griffen die Truppen der A. 1874 die Briten an, wurden jedoch geschlagen. Unter dem Offizier Sir Garnet Wolseley, der ein Expeditionskorps aus Liverpool anführte, eroberten brit. Soldaten Kumasi, plünderten die Hauptstadt und v. a. den Kg.spalast und steckten alles in Brand. Die Gruppen der Fanti, die seit 1868 an der Küste in einer losen Föderation zusammenstanden, hatten die brit. Truppen bei diesem Krieg unterstützt. Im Vertrag von Fomena, der danach abgeschlossen wurde, mußten die A. nicht nur für die Kriegskosten aufkommen, sondern auch auf alle Rechte an der Küste verzichten. Zudem wurde der Sklavenhandel für illegal erklärt. Im Juli desselben Jahres gründeten die Briten die Kolonie Goldküste (Gold Coast Colony), zu der das gesamte Gebiet des heutigen Südghana gehörte. Auch ehem. Vasallen des A.-Reiches wurden darin eingegliedert. Trotz wiederholter Forderungen der →men on the spot weigerte sich das Colonial Office in London in den nächsten Jahren jedoch, militärisch gegen die A. vorzugehen, während andererseits der A.-Kg. 1891 die Aufforderung des Gouv.s, „freiwilligen“ brit. Schutz zu akzeptieren, ablehnte. Die Haltung in London änderte sich erst 1895, als die A. eine Anfrage der Briten, eine Garnison in Kumasi einzurichten, negativ beantworteten. Unter dem Vorwand, daß der A.-Kg. Kwakuh Prah III. (genannt Prempeh) mit der frz. oder dt. Nachbarkolonie sympathisieren oder sich gar mit einem anderen Reich zu einem Bündnis gegen den europäischen Imperialismus zusammenschließen könnte, marschierten kurz darauf 3 000 brit. Soldaten nach Kumasi und besetzten die Hauptstadt. Der A.-Kg. konnte die auferlegte Kontribution nicht zahlen, weshalb er gefangengenommen und deportiert wurde. 1896 wurde das Reich der A. der Kolonie Goldküste eingegliedert. Zu Beginn ihrer Kolonialherrschaft über die A. unterbanden die Briten die Sklaverei und führten Zwangsarbeit für öffentliche Aufgaben sowie eine Besteuerung ein. Als sie dann 1900 zudem 55
A s hke n Az e n, A s h k e n Azi s c h e d i As P o r A
die Übergabe des Goldenen Stuhls forderten, rebellierte die Bevölkerung, indem sie einen Guerillakrieg gegen die Kolonialherren führte. Zur Unterdrückung der Rebellion entsandten die Briten vier Expeditionen, die sich aus afr. und ind. Soldaten zusammensetzten. Die ersten drei wurden niedergeschlagen, erst die vierte konnte die brit. Herrschaft endgültig durchsetzen. 1902 wurde das A.-Land annektiert und zur →Kronkolonie erklärt. Leonhard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jh., München 22006. Ian Hernon, Britain’s Forgotten Wars, London 2007. Tom McCaskie, State and Society in Pre-Colonial Asante, Cambridge (Mass.) 1995. S US ANNE KUS S
Ashkenazen, ashkenazische Diaspora. Die Ashkenazim (hebräisch ש ְ ׁםיזִנֲָּכ,) bilden neben der →sephardischen die zweite große bzw. heute größte jüdische Diaspora. A. führen ihre Herkunft wie auch die →Sepharden auf die Zwölf Stämme Israel zurück, aber auf Vorfahren, die bereits seit der Spätantike nördlich der Alpen, v. a. im Rheinland, in Frankreich, aber auch in Norditalien ansässig gewesen waren. Ihre religiösen Regeln und Bräuche unterscheiden sich teilweise erheblich von denen der Sepharden. Durch die Verfolgungen, denen a. Juden v. a. zur Kreuzzugszeit ausgeliefert waren, wanderten viele von ihnen in östlichere Gebiete Europas aus, v. a. nach Polen-Litauen, aber auch nach Russland. Aus einigen Ländern wurden sie durch Edikte vertrieben: 1290 aus England, 1394 aus Frankreich, im 16. Jh. aus Teilen des Heiligen Römischen Reiches. Seit dem 16. Jh. unterscheidet man zwischen west- und osteuropäischen A. Viele A. sprachen über Jh.e eine bzw. mehrere deutsche Varietäten (u. a. das so genannte Jiddisch). Im 17. Jh. kam es in Polen zu Pogromen gegen die dort lebenden Ashkenazim und zu einer Westmigration von Teilen der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung. Ashkenazim durften sich ab dem späteren 17. Jh. auch wieder in Frankreich und England und deren Überseekolonien in Amerika und der Karibik ansiedeln. Wichtig waren sie durch ihre Diaspora-Netzwerke für den globalen Getreide-, Edelstein- und Versicherungshandel und das Bankenwesen. Ebenso wie Sepharden und →Hugenotten wurden die Ashkenazim von den europäischen imperialen Mächten gezielt für den wirtschaftlichen und politisch-militärischen Ausbau ihrer Imperien eingesetzt, sowohl im atlantischen Raum als auch im Russischen Reich und in Österreich-Ungarn. Handel und Gewerbe, Kultur und Kunst profitierten weltweit von der Ansiedlung von A. bzw. von deren globalen Netzwerken, die nicht nur zwischen Ashkenazim, sondern auch zu anderen ethnischen und religiösen Gruppen bestanden, d. h. Menschen und Welten miteinander verbanden. Massive Pogrome im Russischen Reich führten im späteren 19. und frühen 20. Jh. zur Emigration von Millionen von Ashkenazim aus Russland, der Ukraine, Polen und dem Baltikum, v. a. in die USA, nach Argentinien, nach Palästina, nach Kanada, aber auch nach Frankreich und Deutschland. Von den knapp 9 Millionen Juden, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa lebten, war die Mehrheit a.r Herkunft. Im Holocaust wurden 6 Millionen Juden in Europa systematisch umgebracht, ca. 3 56
Millionen polnische Juden, ca. 1 Million in der Ukraine, ca. 2 Millionen in Deutschland, Frankreich, anderen slawischen Ländern, Ungarn und Österreich. Heute leben die meisten a.n Juden in den USA, Argentinien, Israel, Australien und in Kanada. Howard Wettstein (Hg.), Diasporas and Exiles: Varieties of Jewish Identity, Berkeley, CA 2002. SU SA N N E LA C H EN ICH T
Asiatic Society (Royal Asiatic Society, Asiatick Society). Die A.S. wurde 1784 durch den Juristen Sir William Jones in →Kalkutta unter der Schirmherrschaft des Gen.gouv.s der brit. East India Company (→Ostindienkompanien) Warren Hastings (1732–1818) gegründet. Hastings, selbst des Persischen mächtig, sah in der Organisation einen Weg, „die Vorbehalte, hervorgerufen durch das massive Anwachsen der brit. Herrschaftsautorität, zu mildern.“ Vermutlich 1788 begann die A.S. mit der Publikation der „Asiatic Researches“, einer Zeitschrift, die die zahlreichen, sich über viele Bereiche erstreckenden Veröffentlichungen der Mitglieder sammelte. Auch Jones publizierte hier bis zu seinem Tod 1794 eine Fülle von Aufsätzen zu südasiatischen Sprachen, →Recht und Literatur. Er ist v. a. durch seine Arbeit über die sprachwissenschaftliche Verwandtschaft des Lateinischen und Griechischen mit dem Sanskrit bekannt. Obwohl ind. Gelehrte von Beginn an bei Forschungen zu Rate gezogen wurden, erlaubte man ihnen volle Mitgliedschaft erst ab 1829. Die Gründung der, noch heute aktiven, Gesellschaft in →Bengalen führte später zur Etablierung weiterer A.S.s u. a. in England (1824) und Japan (1872). Auf diese Weise wurde eine intensivierte institutionalisierte Forschung über die kolonialisierten Gebiete angeregt, und es kam zu einer regen Rezeption außereuropäischer Kulturen. Die dabei geschaffenen Bilder und Vorstellungen der ind. Gesellschaft bildeten oft nur eine Kontrastfolie gegenüber der westlich-christl. Kultur und führten zu einer binären Unterscheidung von Morgenund Abendland. Die Gründung der A.S. schuf so einen wesentlichen Beitrag zu dem heute viel diskutierten „→Orientalismus“. Michael Edwardes, British India, London 1967. Chittabrata Pali, Scientific Bengal, Delhi 2006. JÜ R G EN SCH A FLEC H N ER
Asien. Der größte u. volkreichste Erdteil, mit Europa im Westen u. →Afrika im Südwesten verbunden. Etymologie: Etymologisch wurden seit Anfang des 19. Jh.s unterschiedliche Erklärungen unterbreitet. Bspw. leitete man A. aus verschiedenen semitischen Sprachgruppen ab; vom Akkadischen asu, d. h. Aufgehen, hinausgehen; vom Assyrischen açu, was aufgehende Sonne, Morgenland oder Orient bedeuten soll. A. wurde – jedenfalls aus europ. Sicht – ganz allgemein mit der Himmelsrichtung „Osten“ verbunden. Eine eher gewagte u. esoterische Erklärung, die in den europ. Zeitgeist des ausgehenden 19. Jh.s paßte, war, den Namen A. von den Asen abzuleiten. Die Heimat der germanischen Götter wurde von manchen in Zentrala. gesehen. Die älteste Verwendung des Begriffes soll auf die Phönizier zurückgehen, die als seefahrende Nation vom Ägäischen Meer aus den Ge-
A s i en
gensatz zwischen dem Sonnenaufgang im Osten und dem Sonnenuntergang im Westen für ihre Navigation unterschieden. Eine alternative Worterklärung verweist auf den Bodencharakter. Άσις bedeutet im Griechischen Schlamm, Morast. In der älteren griechischen Literatur wurde der Begriff A. als einer der ersten von Pherekydes von Syros im 6. Jh. v. Chr. in seiner Kosmogonie verwendet. Asia war danach die mythische Tochter des Okeanos u. der Tethys, die Gattin des Titanen Japetos u. Mutter der Titaniden Atlas u. Prometheus. Da sie insb. in Asia minor (Kleinasien) verehrt worden sei, wäre der Name demnach auf das Land übertragen worden. 100 Jahre später benennt Herodot drei Erdteile nach mythischen Frauennamen. Jetzt wurde Asia zur Gemahlin des Prometheus. Unklar bleibt bis heute, ob der Ursprung des Wortes auf eine mythische Person, oder auf andere etymologische Wurzeln, z. B. einen Fluß, einen Berg oder ein Volk, zurückzuführen ist. Geographie: 1. Antike. Versuche, die Oikumene (gr.: bewohntes bzw. bekanntes Land) geographisch zu strukturieren, gehen bis in frühgriechische Zeit zurück und entsprechen demselben philosophischen Bestreben, mit dem die Himmelsbewegungen erkundet wurden (Astronomie). Als Grenzen zwischen den Kontinenten A. und Europa sowie A. und Afrika wurden die Flußmündungen des Nil im Mittelmeer und des Tanais im Schwarzen Meer angenommen. Die Grenze zwischen A. und Afrika wurde schon sehr früh präzisiert, nämlich als die Landenge von Suez. Dies ist die natürliche geographische Grenze. Eine entsprechende natürliche Grenze gibt es zwischen A. und Europa nur im Süden mit Bosporus und Schwarzem Meer. Da die Flüsse, die ins Schwarze Meer und ins Kaspische Meer münden, nicht von Norden nach Süden verlaufen, taugten sie nicht als Grenzflüsse. Der Don, den Plinius favorisierte, diente noch im 18. Jh. vielen Geographen als Grenze zwischen A. und Europa, womit freilich Moskau schon in A. lag. Für die mittelalterlichen Vorstellungen waren u. a. die antiken geographischen Schriften von Plinius und →Ptolemaios sowie Isidor von Sevilla ausschlaggebend. 2. Mittelalter u. Neuzeit. Während in der Antike mit den Kontinenten weder politische noch kulturelle Gemeinsamkeiten verknüpft wurden, entstand im Frühmittelalter in Europa mit der Bedrohung durch den →Islam das Bewußtsein einer gemeinsamen christlichen Identität. Die von Rom aus christianisierten Slawen gehörten fraglos zu Europa. Für die von Ostrom aus christianisierten Russen stellte sich die Frage der Zuordnung erst in der frühen Neuzeit. Insbesondere die Zaren Peter der Große und Katharina die Große förderten die Verbreitung europäischer Kultur und Technik in Rußland. Sie beanspruchten die kulturelle Zugehörigkeit zu Europa, während sie gleichzeitig große tatarisch (→Tataren) besiedelte Gebiete eroberten und politisch ihrem Reich einverleibten. Diesen bedeutenden Zaren lag daran, die Ostgrenze Europas neu zu bestimmen, damit das von den Rus besiedelte Reich auch geographisch in Europa lag. Als im 16. Jh. niederländische Seefahrer (z. B. Willem Barents, 1550–1597) an der russischen Nordmeerküste Flußmündungen entdeckten, und im 17. Jh. in St. Petersburg systematisch geographische Informationen gesammelt wurden, konnte damit die Frage der Ost-
grenze Europas nicht geklärt werden. Die in dieser Zeit im russischen Auftrag entstandenen Karten des frz. Geographen Joseph Nicolas Delisle (1688–1768) und des Niederländers Nicolas Witsen (1641–1717) brachten keine Klärung, zumal sie nicht auf Ortskenntnis beruhten. Erst die geographischen Forschungen des deutschschwedischen Geographen und Kartographen Philip(p) Johan(n) →Strahlenberg führten zu dem Vorschlag, das relativ konstant von Norden nach Süden verlaufende Mittelgebirge des Ural als Ostgrenze Europas anzusehen. Auch dies sollte eine ausschließlich geographische Grenze sein, denn der Ural lag mitten in tatarischem Siedlungsgebiet. Im Süden wurde diese Grenze später durch den Uralfluß ergänzt, der sich in einem Bogen ins Kaspische Meer ergießt. Diese geographische Grenze zwischen A. und Europa wurde nach und nach allgemein akzeptiert. Adaption des Begriffes A.: Die arab. Geographen knüpften im 9. Jh. an die gr. Tradition an und führten diese weiter. Entsprechend haben sie den Begriff „Asia“ übernommen. Das ist in Anbetracht der Ausbreitung des Islam von weitreichender Bedeutung. Die großen asiatischen Kulturen haben keine eigene Vorstellung der geographischen Struktur der Landmassen entwickelt. Dies gilt insbesondere für die Hochkulturen außerhalb des europ.-arab. Kontaktbereichs, also für China, Korea und Japan. Sie besaßen keine eigene Bezeichnung der geographischen Einheit des Kontinents, der mit dem Konzept A. hätte konkurrieren können. Dadurch konnte sich der urspr. europ. Begriff im Zeitalter des Imperialismus auch in A. durchsetzen, auf kultureller Ebene lange Zeit noch konkurrierend mit dem Begriff Orient u. Orientalen (→Orientalismus). So wurde A. durch die europ. Expansion (Portugiesen seit dem 16. Jh., Niederländer ab dem 17. Jh., Franzosen und Engländer ab dem 18. Jh., US-Amerikaner seit dem frühen 19. Jh.) in Regionen getragen, die den Ausdruck erst über die Europäer kennenlernten. Mit jeder weiteren Phase der europ. Expansion und der darin gewachsenen Kenntnis des Erdteils wurde der Name A. immer weiter ausgedehnt. Als wichtigster Teil A.s galt Europäern lange Zeit →Indien. Bezeichnenderweise wurde der Name Indien vom Indus abgeleitet. Was den Europäern – seit →Alexander d. Gr. bekannt war, lag vor allem vor dem Indus, dagegen war Hinterindien – jenseits des Ganges – (Ptolemaios: „India ultra Gangem“) nahezu unbekannt. →Kolumbus suchte Indien, nicht A. Portugiesen u. Niederländer fuhren nach Ostindien, nicht nach A. In diesem Sinne konnte Indien den Begriff A. durchaus substituieren. Identifikation mit dem Begriff A.: Die geographische Bezeichnung A. hat bis in die Neuzeit hinein keine politischen, kulturellen oder gar identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten der großen Reiche der Osmanen, der Araber, Perser, Tataren, Mongolen, Jakuten, Inder, Chinesen und Japaner beabsichtigt. Die geographische Zugehörigkeit zu A. wurde aber zunehmend, v. a. im Grenzbereich zu Europa, auch als kulturelles Ausschlußkriterium von Europa angesehen. Der Europarat forderte schon zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jh.s, daß sog. humangeographische Kriterien bei der Zugehörigkeit zu Europa den Ausschlag geben müßten. Israel gehört geographisch zu A., die Bev. sieht sich aber eher mit Europa verbunden. Das Land ist 57
A s ie n to, A s ie n to d e n eg r o s
Mitglied verschiedener europ. Institutionen (z. B. der UEFA, dem europ. Fußballverband oder der EBU, der European Broadcasting Union). Im Süden des Kaukasus, wiewohl A. geographisch näher, fühlen sich Armenier u. Georgier historisch, kulturell u. durch die Verbindung zum Christentum, eher Europa zugehörig. Ihre unmittelbaren Nachbarn nördlich des Kaukasus, die Tscherkessen, Tschetschenen, Abchasen u. Osseten, reklamieren dagegen eher Gemeinsamkeiten mit der Türkei oder sogar mit dem Iran. Während der Begriff Europa nicht nur eine geographische Einheit widerspiegelt, sondern auch eine gewisse gesamteurop. Geschichte u. Identität reflektiert, was zumindest in Teilen auch für Afrika zutrifft (→OAU), besteht eine über den geographischen Begriff hinausgehende gesamtasiatische Identität bislang nicht. Auffällig ist dagegen die Unterteilung in Westa., Zentrala., Süda., Südosta., Nordosta. u. Osta., die eben nicht nur geographischer Natur ist, sondern auch versucht, historische u. kulturelle Eigentümlichkeiten einzubeziehen (Westa. islamisch, Zentrala. Turkvölker, Süda. indischer Halbkontinent, Südosta. u. Nordosta. Konfuzianisch – Südosta. als besondere kulturelle Falte zwischen Indien u. China). Trotz eigenständiger Entwicklung wie der 1967 erfolgte wirtschaftliche Zusammenschluß der südostasiatischen Länder in der Freihandelszone ASEAN (Association of South East Asian Nations) oder das A.Pazifik Forum APEC (Asia-Pacific Economic Co-operation, 1989), wird der Begriff A. in A. selbst ganz unterschiedlich verstanden. Aus der Perspektive Großbritanniens bezieht sich der Begriff Asian v. a. auf Einwanderer aus Süda., d. h. vom indischen Subkontinent. Aus der Sicht der am Pazifik gelegenen Staaten (Pacific Rim) bedeutet A. an erster Stelle Osta. Der in den 90er Jahren des 20. Jh.s in Abgrenzung zum europ. Wertekanon (→Aufklärung, →Säkularismus) geprägte Begriff „Asian Values“ (asiat. Werte) bezieht sich vor allem auf gesellschaftliche Prioritäten und Selbstverständlichkeiten, die vornehmlich aus dem Konfuzianismus hervorgingen u. damit mit Ost- bzw. Südosta. assoziiert werden. Deren Hervorhebung kommunaler Werte u. die damit verbundene Unterordnung individueller Interessen stellt den Universalitätsanspruch der in Europa entwickelten →Menschenrechte offen in Frage. Die Vorstellung der sog. asiatischen „Renaissance“, wonach die Ökonomien Ost- u. Südosta.s den europ. u. am. in Zukunft überlegen sein werden, hat trotz der eigenen regionalen ökonomischen Krise der späten 90er Jahre im Anschluß an die doch eher global erscheinende Weltwirtschaftskrise seit 2008 wieder Anhänger gefunden. L: Josiane Cauquelin, Asian Values. An Encounter with Diversity, Richmond 2000. William De Bary, Asian Values and Human Rights, Cambridge, Mass. 1998. Anwar Ibrahim, The Asian Renaissance, Kuala Lumpur 1996. Mark Munn, The Mother of the Gods, Athens and the Tyranny of Asia, Berkeley 2006. UTA L I NDGRE N / P E T E R BORS CHBE RG / HE RMANN HI E RY
Asiento, asiento de negros. Bei einem a. (span. Abkommen, Sitz) handelt es sich um einen zeitlich begrenzten Monopolvertrag, den die span. Krone mit einem Handelspartner (Einzelunternehmer oder Handelsgesellschaft) 58
abschloß. Darin wurde die Versorgung eines Gebietes mit einer bestimmten Ware (z. B. →Tabak) exklusiv an den auf eigenes Risiko handelnden Vertragspartner vergeben. Der wichtigste a. war der a. de Negros, der die seit Ende des 16. Jh.s übliche Organisationsform des →Sklavenhandels in Hispanoamerika darstellte. In einem solchen a.-Vertrag wurde das Monopol für den →Transport und Verkauf von afr. Arbeitskräften vergeben. Dieses System blieb fast 200 Jahre in Kraft (1595–1779). Nach der Dezimierung der indigenen Bevölkerung mußten ständig neue Arbeitskräfte zur Arbeit in den Bergwerken und später zunehmend auf den Plantagen herangezogen werden. Die Versklavung der Afrikaner wurde seit dem 16. Jh. dadurch gerechtfertigt, daß sie als Kriegsgefangene und Ungläubige aus der Zeit der Reconquista definiert wurden. In den Jahrzehnten vor den Monopolverträgen zwischen Krone und Sklavenhändler wurde der Sklaventransport durch die Vergabe von Lizenzen organisiert. Dieses System war jedoch kompliziert und uneffektiv. Während der Jahre 1551–1595 wurden insg. 36 600 afr. Sklaven (durchschnittlich 810 pro Jahr) nach →Amerika transportiert. Die stetig wachsende Nachfrage veranlaßte die Krone, die Lieferungen zu verstärken. Die a.-Partner wurden zur Verschiffung einer beschränkten Anzahl von jährlich 2000–5000 Sklaven nach Amerika verpflichtet. Die Organisation war eine äußerst kostspielige Angelegenheit. Der zu erwartende Gewinn war stets durch verschiedene Unsicherheitsfaktoren wie Piraterie (→Freibeuterei), Epidemien an Bord der Schiffe und Unwetter während der Überfahrt bedroht. Zu diesem geschäftlichen Risiko gesellte sich die Notwendigkeit eines erheblichen Stammkapitals, von dem noch vor Abschluß des Geschäftes Steuern, Versicherungen, Angestellte und Abgaben an den Kg. bezahlt werden mußten. Der asentista mußte alle zwei Jahre einen Rechenschaftsbericht vor dem Consejo de Negros abliefern, welcher sich aus Mitgliedern des Consejo de Indias und des Consejo de Hacienda zusammensetzte. Dafür wurde dem asentista das Recht auf den Transport auf Schiffen außerhalb des Konvois, den navíos sueltos, gegeben. Dies schloß die freie Auswahl der Besatzung und die Ernennung und Entsendung von factores in die lizenzierten am. Häfen ein. Bei den factores in Amerika handelte es sich meist um Kaufleute, die bereits vorher als Handelspartner der europäischen Exporteure (cargadores) in am. Häfen operiert hatten und nun dem asentista empfohlen wurden. Die factores agierten nicht nur als Inspektoren, die die Geschäfte ihrer Auftraggeber zu überwachen hatten, sondern waren vielmehr die eigentlichen Motoren des gesamten Apparates zur Verteilung der Sklaven. Bereits im Verlauf des 16. Jh.s waren die Preise für die Lizenzen derart in die Höhe gegangen, daß sich der Sklavenhandel zwangsläufig in den Händen einiger weniger nicht-span. Handelshäuser konzentrierte, die auf der Grundlage von gegenseitigen Krediten und gemeinschaftlich organisierten Transportunternehmen diese Vorauslagen zu finanzieren vermochten. Abgesehen von einigen wenigen kastilischen Familienunternehmen waren es v. a. andere europäische Kaufleute, die über die notwendigen technischen und wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen, wie Erfahrung, Transportmittel und Kapital verfügten. Eben
A s s o ciAti o n s
hierin lag der Hauptgrund für die Entscheidung des span. Kg.shauses, mit Portugiesen, Niederländern, Italienern, Franzosen und schließlich mit Engländern, Verträge über den Transport von Sklaven abzuschließen. Während der Personalunion zwischen den Kronen von Spanien und Portugal (1580–1640) waren fast ausschließlich Portugiesen für die Verschiffung schwarzer Sklaven nach Hispanoamerika zuständig. Die Portugiesen hatten im Verlauf des 15. Jh.s entlang der afr. Westküste Häfen mit Handelsfaktoreien (→Feitorias) gegründet und seit dem Vertrag von Tordesillas (1494, →Bullen) diesen Wirtschaftszweig fest in der Hand. In den Jahren 1593 bis 1640 organisierten diese sog. negreros den Transport der Sklaven von →Guinea und →Angola nach →Cartagena de Indias, Veracruz und, vornehmlich auf illegalen Handelsrouten, auch nach →Buenos Aires. In der Zeit der port. a.s wurde Cartagena de Indias zum wichtigsten Umschlagplatz für afr. Sklaven. Nach der Ankunft im Hafen der Stadt wurden diese nach Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.), →Panama und →Peru weiterverkauft. Nach der Unabhängigkeit Portugals (1640) und der Verfolgungswelle gegen die meist jüdischstämmigen negreros durch die Inquisitionstribunale in Hispanoamerika wurde der Sklaven-a. an einzelne ndl. und it. (genuesische) Handelspartner vergeben. Ende des 17. Jh.s wurde mit der port. Companhia de Cacheu erstmals eine staatliche Handelsgesellschaft beauftragt. Diesem Muster entspr. folgten die frz. Compagnie de Guinée et de l’Assiente (1701) und nach dem Span. Erbfolgekrieg die brit. South Sea Company (1713), der der a. über einen Zeitraum von dreißig Jahren übertragen wurde. Zwischen 1700 und 1807 wurden auf brit. Schiffen schätzungsweise 2,7 Mio. Sklaven nach Amerika deportiert, von denen ca. ⅓ an ausländische Interessenten verkauft wurde. Wichtigster Markt war →Biafra, gefolgt von West-Zentralafrika, der Goldküste, →Sierra Leone, →Benin und vorübergehend Senegambia. Der Schmuggelmißbrauch der Briten durch das einmal im Jahr mit 500 t Handelswaren zu beladene annual ship führte zur Lösung des Vertrags im Vertrag von Madrid 1750 (War of Captain Jenkins Ear) und zur Gründung der span. Compañía gaditana de negros. 1779 wurde der Sklavenhandel für alle Untertanen der span. Krone geöffnet. Für die „port. Periode“ (1595–1640) ließ sich eine Zahl von insg. 132 000 Sklaven errechnen, die legal nach Amerika verschleppt wurden. Die offizielle Ziffer lag jedoch um ca. 60 000 Personen höher, da zusätzlich Sonderlizenzen vergeben wurden, um die Verluste der hohen Mortalität während des Transportes auszugleichen. Zwischen 1641–1773 wurden 516 100 Afrikaner nach Hispanoamerika (v. a. nach →Kuba als aufstrebender Zuckerinsel, →Zucker) verschleppt. Es lassen sich zwei Kreisläufe des Sklavenhandels unterscheiden: einerseits der Dreieckshandel im Atlantikraum zwischen Afrika, Spanien und der →Karibik und andererseits der intrakontinentale Verkauf in Amerika. Die Sklavenhändler garantierten mit ihren merkantilen Netzwerken die Versorgung mit den nötigen Arbeitskräften und dadurch die Ankurbelung aller Wirtschaftsbereiche der überseeischen Kolonien Spaniens. Durch den Schmuggel wurde das a.-System aber immer wieder ausgehöhlt.
Philip D. Curtin, The Atlantic Slave Trade, Madison 1969. Hugh, Thomas, The Slave Trade, London 1997. Enriqueta Vila Vilar, Hispanoamerica y el Comercio de Esclavos, Sevilla 1977. N IK O LA U S B Ö TTC H ER Askari. Aus dem Arabischen stammendes Wort für „Soldat“. Als Lehnwort gelangte es auch in andere Sprachen wie bspw. das →Ki-Suaheli. Im vorkolonialen Ost- und Zentralafrika bezeichnete man die bewaffneten Begleiter von Handelskarawanen und Forschungsreisenden als A. Später übernahmen die in der Region aktiven Kolonialmächte Belgien, Deutschland, Großbritannien, Italien und Portugal den Begriff für die afr. →Söldner ihrer Kolonialarmeen. Die Rekrutierung von Afrikanern in großer Zahl erfolgte, da sie billiger im Unterhalt als europäische Soldaten waren und in der Regel das →Klima besser vertrugen. Allein in →Dt.-Ostafrika arbeiteten zwischen 1888 und 1919 insg. ca. 35 000 A. beim Militär, die zunächst überwiegend aus den Kolonien anderer Staaten stammten. Erst ab Mitte der 1890er Jahre rekrutierte die →Schutztruppe zunehmend Einheimische. In der Regel gab es genügend Freiwillige für den Soldatenberuf, weil das Militär den Männern – häufig ehem. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) oder andere entwurzelte Individuen – einen sozialen Aufstieg ermöglichte. Für ihre Arbeit erhielten die Söldner regelmäßige Lohnzahlungen, die im Vergleich zu anderen Berufen deutlich höher lagen, sowie freie Unterkunft und eine kostenlose medizinische Versorgung für sich und ihre Familien. Bei guter Führung konnte ein A. in der militärischen Hierarchie aufsteigen – in Ausnahmefällen sogar bis zum Offizier – und damit sein Einkommen und Sozialprestige beträchtlich steigern. In der Bevölkerung waren die Söldner gefürchtet, da viele ihre Stellung als Staatsorgan zu Diebstählen, Erpressungen und Vergewaltigungen mißbrauchten. Stefanie Michels, Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, Bielefeld 2009. Thomas Morlang, Askari und Fitafita, Berlin 2008. Michelle Moyd, Becoming Askari, Diss., Cornell Univ. 2008. TH O MA S MO R LA N G Associations. Bünde, Vereinigungen, wurden zum ersten Mal in größerer Zahl in einigen engl. Counties während des Engl. Bürgerkrieges zur Wahrung des Friedens geschlossen. In Nordamerika schlossen sich 1774–75 in so gut wie allen Counties, Städten und Siedlungen die Siedler zu A. zusammen, in denen sie nach dem Vorbild der Continental Association des 2. Kontinentalkongresses vom Okt. 1774 schworen, Grundprinzipien der politischen Ordnung, Grundrechte und ihre wirtschaftliche Handlungsfreiheit gegen die engl., als unterdrückerisch begriffene Politik zu bewahren. Entspr. dem Beschluß des Kontinentalkongresses wählten die Wahlberechtigten einen Ausschuß (→Committees of Inspection and Observation), dem sie die Überwachung des Handelsboykotts, aber auch der Grundprinzipien der Association übertrugen. Spätestens mit der Verabschiedung eigener Verfassungen lösten sich in den nun freien Staaten diese A. wieder auf. Hermann Wellenreuther (Hg.), The Revolution of the People, Göttingen 2006. H ERMA N N WELLEN REU TH ER 59
A s t r olA b i u m
Astrolabium. Das bis in die Antike zurückreichende A. ist ein hochkomplexes, astronomisches Gerät aus mehreren kreisförmigen Scheiben, das in erster Linie der Berechnung von Planetenbewegungen diente; es wurde im Mittelalter von musl. Astronomen entscheidend weiterentwickelt. Das von den astronomischen Funktionen weitestgehend befreite Seeastrolab war ebenfalls eine Kreisscheibe mit 360-Grad-Skala und einem diametralen Zeiger mit Visierhilfe (Alhidade), das sind senkrecht aufgesetzte kleine Scheiben mit einem zentralen Loch, die den Sehstrahl lenken und damit das genaue Fixieren eines Punktes erleichtern. Es diente der Messung von horizontalen und vertikalen Winkeln, sowohl im astronomischen als auch im terrestrischen Bereich. Während die astronomischen Astrolabien wegen der Bearbeitbarkeit auch im Feinbereich meist aus Messing hergestellt wurden, hat man Seeastrolabien bevorzugt aus Bronze oder sogar Holz hergestellt, weil diese Materialen der Korrosion auf See besser standhalten. David A. King, Astrolabes and Angels, Epigrams and Enigmas, Stuttgart 2007. Uta Lindgren, Astronomische und geodätische Meßinstrumente zur Zeit Peter und Philipp Apians, in: Hans Wolff (Hg.) Philipp Apian und die Kartographie der Renaissance, München 1989, 43-65. Ernst Zinner, Dt. und ndl. astronomische Instrumente des 11.–18. Jh.s, München 2006. UTA L I NDGRE N Asunción. (Port. Assunção, im dt. Sprachgebrauch des 18. Jh.s Assumption, lat. Civitas Assumptionis, eigentl. Nuestra Señora de la A.) Seit 1547 Bischofssitz, Suffragan von →Lima, ab 1609 von →Charcas; älteste Stadt des La Plata-Gebiets, am linken Ufer des Paraguay gelegen. Reklamiert für sich bis heute den Namen „Madre de ciudades“, da weitere Städtegründungen hier ihren Ausgang nahmen. In vorkolumbianischer Zeit Siedlungsgebiet der Carios, einem Stamm der Guaraní. Die Stämme im Umland wurden teilweise im 17. Jh. in den Jesuiten-Reduktionen (→Jesuiten) christianisiert. Das Siedlungsgebiet von A. wurde europäischerseits erstmals von Juan de Ayolas, auf dessen Suche nach einem Weg von Westen nach →Peru erwähnt. Ayolas hatte sich vom Río de la Plata kommend den Paraná aufwärts begeben, wo er Candelaria gründete und durch den Chaco bis nach Charcas (Sucre) zog, auf seinem Rückweg jedoch verscholl. Auf Befehl von Pedro de Mendoza begaben sich daher Juan de Salazar y Espinosa (1508–1560) und Gonzalo de Mendoza auf die Suche nach Ayolas. Bei dieser Expedition legten sie eine Station am Paraguay ein. Da sie die Indianer in diesem Gebiet als freundlich gesinnt empfanden, gründeten sie an Maria Himmelfahrt das Fort Nuestra Señora de la Asunción (15. Aug.). Bereits 1537 wurde der Ansiedelung das Privileg der Wahl des Gouv.s eingeräumt (RC 12.9.1537), was ein Grund für den Aufstand der Comuneros sein sollte und bereits 1543 zur Absetzung des Gouv.s Alvar Nuñez Cabeza de Vaca und andererseits 1592 zur Ernennung von Hernando Arias de Saavedra (1561–1634) als erstem kreolischen (→Kreole) Gouv. in →Lateinamerika führte. 1543 kam es in A. zu einem Stadtbrand, der die meisten Häuser zerstörte. 1547 erfolgte dann die Verleihung der Stadtrechte. Dazu gehörte das Recht der Wahl des 60
eigenen Stadtrats (Cabildo) mit umfassendem Mitspracherecht. Nun wurde A. zur wichtigsten Stadt im Rio de la Plata-Gebiet, da die Gründung von →Buenos Aires zunächst nicht dauerhaft war. Bereits 1547 wurde die Stadt zudem zum Bistum erhoben, erlebte aber zunächst lange Sedisvakanzen. 1603 fand die Synode der Indias in A. statt. Durch die Gründung eines Bistums Buenos Aires 1620 wurden Buenos Aires, Santa Fe, Corrientes und Concepción del Bermejo dem neuen Bistum zugeschlagen. Parallel dazu erfolgte 1620 die Teilung der La Plata Provinz, so daß sich A. die zentrale Verwaltung mit Buenos Aires teilen mußte, 1726 trat noch Montevideo (→koloniale Metropolen) als wichtige Stadt hinzu. Während des Aufstandes der Comuneros 1717–1735 war die Stadt zeitweise in der Hand der Aufständischen, blieb aber dennoch als zentrale Durchgangsstation im ganzen 18. Jh. bedeutsam, wenngleich sie ihre Randlage und die Bedrohung durch →Bandeirantes in ihrer Bedeutung im La Plata-Gebiet zurückfallen ließen. A. zählte 1786 ca. 4 000 Ew., erstreckte sich aber über eine große Fläche, so daß die Stadt mit dem weiten Umland auf ca. 10 000 Ew. kam. Kulturell war die indigene Bevölkerung prägend, was dazu führte, daß Spanisch zwar Amtssprache blieb, Guaraní aber zur gesprochenen Hauptsprache wurde. In dem zu A. gehörigen Gebiet lag eine Reihe von estancias, auf denen Kühe, Ziegen, →Pferde, →Maultiere und Esel gehalten wurden. Angebaut wurden zudem Getreide, Mais, →Zucker, →Tabak, →Baumwolle, Yuca, Süßkartoffeln (Mandioca) und Gemüse. Die umfangreiche landwirtschaftliche Nutzung des Gebietes läßt verstehen, warum die Ew. von A. gerade in Bezug auf die Nutzung von Arbeitskräften in Konflikt mit den Jesuiten gerieten. Das Jesuitenkolleg (→Kollegium) wurde 1767 aufgehoben. 1811 erlangte →Paraguay seine Unabhängigkeit, A. wurde zur Hauptstadt des neuen Staates. Die von der kreolischen Führungsschicht realisierte Bewegung wurde aber noch 1811 von dem in A. geborenen José Gaspar Rodriguez de Francia y Velasco übernommen, der 1813 auch die Durchsetzung der formalen Unabhängigkeitserklärung erreichte. Q: Antonio de Alcedo, Diccionario Geográfico Histórico de la Indias Occidentales o América, 5 Bde., Madrid / Benito Cano, 1786–1789. L: Miguel Artola (Hg.), Enciclopedia de Historia de España, Bd. 5, Madrid 1991. Mario Pastore, Taxation, Coercion, Trade and Development in a Frontier Economy, in: Journal of Latin American Studies 29 (1997), 329–354. Hans Vogel, Rio de la Plata 1760–1830/52, in: Walther L. Bernecker u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, Stuttgart 1992, 322–358. LU D O LF PELIZA EU S Asyl. Seit der Antike Bezeichnung einer Zufluchtstätte (altgriechisch: ásylon), die Verfolgten Schutz bietet. Historisch werden das kirchliche und das weltliche vom völkerrechtlichen A. unterschieden. Die christl. Kirchen hielten an dem Anspruch fest, ihre Sakralgebäude als Zufluchtstätten für strafrechtlich Verfolgte zur Verfügung zu stellen, wobei bestimmte Delikte wie z. B. Mord allerdings A. ausschlossen. Zufluchtstätten des weltlichen A.s waren im Rahmen erteilter Privilegien bis in die Frühe Neuzeit zahlreiche Städte, teils auch Häuser einzelner
AtAn g An A, k Arl
Privatpersonen. Kirchliches wie weltliches A. waren unvereinbar mit dem Souveränitätsanspruch des frühneuzeitlichen Staates und wurden daher sukzessive in ganz Europa abgeschafft. Im Zuge von Reformation und Gegenreformation wurden seit dem 16. Jh. die kriminellen durch religiös verfolgte Asylsuchende marginalisiert. Das völkerrechtliche A. wurde zunächst vom jeweiligen Landesherrn unter rein utilitaristischen Gesichtspunkten nicht nur einzelnen Personen, sondern auch Großgruppen kollektiv gewährt (z. B. frz. →Hugenotten in Brandenburg). Die Frz. Revolution sorgte erstmals für das massenhafte Auftreten säkular politisch Verfolgter als Asylsuchenden und schrieb 1793 das verfassungsmäßige Recht auf politisches A. fest, das sich seitdem international nur langsam durchsetzte. Die in außereuropäischen Kulturkreisen bestehenden Vorstellungen von A. konnten mit dem Bemühen der Kolonialmächte um Einführung europäisch normierter Strafrechtspflege in ihren Kolonien kollidieren. Ulrike Andersch / Diethelm Klippel, Asylrecht, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2005, Spn. 744–746. Martin Dreher, Das Asyl. Theoretische Begründung, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion von der Antike bis zur Neuzeit, in: Max Kerner (Hg.), Eine Welt – Eine Geschichte?, München 2001, 36–42. Albert Hellwig, Nachträge zum Asylrecht in Ozeanien, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 19 (1906), 41–102. CHRI S TOP H KUHL
Atahualpa, * ca. 1500 Geburtsort unbek., † 1533 (genaues Datum umstritten) Cajamarca / Peru, □ unbek., Inkareligion, ab 1533 (Todestag) rk. Sohn des Inka-Herrschers Huayna Capac und einer Adeligen aus dem Norden des Reiches. Nach dessen Tod kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen um die Thronfolge, in denen sich zwei mächtige Gruppierungen bekämpften: die traditionelle Elite →Cuzcos mit der einflußreichen Priesterschaft der Hauptstadt erhob seinen Bruder Huascar auf den Thron. Das im Norden stehende Heer rief A. zum Oberhaupt der Inka aus. Dieser geriet anfangs in Gefangenschaft, konnte aber fliehen, bevor seine Truppen unter dem Kommando der Generäle Quizquiz, Calcochima und Rumiñahui in einer Schlacht beim Cotabamba-Fluß siegten. A. zog in Cuzco ein, das schwer verwüstet wurde. 1532 traf A. in Cajamarca auf Francisco →Pizarro. Der span. Priester Vicente Valverde verhandelte mit ihm. Als A. die ihm gereichte Bibel zu Boden warf, erfolgte im Handstreich A.s Gefangennahme. Er bot Gold und Silber für seine Freilassung an und ließ den Raum, in dem er sich befand, mit Goldobjekten füllen. Anhaltende Gerüchte über einen Inka-Aufstand veranlaßten Pizarro, ihm den Prozeß zu machen. Nachdem A. sich hatte taufen lassen, um dem Feuertod zu entgehen, wurde er 1533 hingerichtet. Sein Tod löste in Spanien scharfe Kontroversen aus. Lieselotte und Theo Engl, Glanz und Untergang des Inkareiches, München 1981. Alejandro La Torre, Atahualpa, Lima 2012. Wulff Oesterreicher, Das Gespräch als Kriegserklärung. Pizarro, Atahualpa und das Gold
von Peru, in: Horst Wenzel (Hg.), Gespräche-BotenBriefe, Berlin 1997, 296–319. BER N D SCH MELZ Atangana, Karl, * ca. 1876 Geburtsort unbek., † 1. September 1943 Jaunde (Yaoundé), □ unbek., rk. (1896) A. war Chef der →Ethnien Ewondo und Bene in →Kamerun während der Kolonialzeit in Jaunde. Sohn von Atangana Essomba und Ndongo Edoa. 6 Jahre alt, als der Vater starb, übernahm sein Onkel Essomba Ngonti seine Erziehung. 1895 erlebte A. das →Massaker an der Großfamilie Mvog Ottou in Mvog Betsi, einer Vorstadt der Jaunde-Station, anläßlich einer Expedition gegen den rebellierenden Chef Omgba Bissogo. A.s Erziehung wurde 1896 von seinem Onkel an Major Hans Dominik, den Kommandeur der →Schutztruppen, übergegeben. Dies entsprach einem lokalen Brauch, der darin bestand, dem Fremden als Zeichen aufrichtiger Freundschaft ein Kind zu übergeben. Anschließend arbeitete er zunächst als Hausdiener bei seinem Vormund. 1896 besuchte er zusammen mit drei anderen Jungen aus Jaunde die Pallottiner Schule am Küstengebiet in Kribi, wo er rk. getauft wurde. Schulzeit wegen des Bulu-Aufstandes 1899 unterbrochen. Die Schule und die Mission in Kribi wurden von den Bulu, einer in Südkamerun und insb. im Umfeld von Kribi lebenden Ethnie, verwüstet. Mit den Pallottinern suchte A. Zuflucht in →Duala, Sitz der Kolonialverwaltung. Im Aug. 1900 als Dolmetscher nach Victoria (heute Limbe), für die ca. 600 Geiseln, die an der Rebellion in Kribi teilgenommen hatten. Beginn seiner Karriere als Kolonialbeamter. Nach sechs Monaten als Dolmetscher und Krankenpfleger Weiterversetzung nach →Buea, der damaligen Hauptstadt. In Buea arbeitete A. nach einer kurzen Ausbildung als Sekretär beim →Gouv. Hier lernte er Maria Biloa kennen, eine Frau in mittlerem Alter, ebenfalls aus der Ethnie der Ewondo, die die offizielle Geliebte eines dt. Beamten war. A. u. Biloa heirateten in der Kirche Engelberg in Buea. Noch heute wird berichtet, daß diese Frau ihm von ihrem dt. Partner empfohlen bzw. aufoktroyiert wurde. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor. 1901 trat A. eine Dienstreise nach Jaunde, ins Landesinnere, an. Zusammen mit anderen ehem. Mitschülern schlug er den Pallottinern vor, in seinem Heimatdorf eine Mission zu gründen. Parallel dazu forderte er die lokale Bevölkerung auf, den Missionaren für ihre Aktivitäten Raum zu schaffen. Als sein dienstlicher Aufenthalt zu Ende kam, erklärte der stellvertretende Stationsleiter Scheunemann, A. solle in Jaunde bleiben, wo er dienstlich viel effizienter sein würde. Kurz darauf löste er an der Station seinen Cousin Tsoungui Akoa als Dolmetscher ab. 1902 wurde er zum Sprecher des Ewondo-Volkes ernannt. Bei seiner Rückkehr aus dem Heimaturlaub in Deutschland 1904 fand der Stationsleiter Hans Dominik seinen Protegé, den er acht Jahre zuvor Pfarrer Schwab in Kribi empfohlen hatte, als Mitarbeiter vor. Als Dominiks Assistent Teilnahme an vielen Expeditionen. Bei einer dieser Kriegsexpeditionen bei der benachbarten Ethnie Manguissa erlebte A. wieder Massaker, die ihn an Szenen aus seiner Kindheit erinnerten. Als Unterhändler beendete er die kriegerische Auseinandersetzung mit den Manguissa. Mit Dominik Beteiligung an den Städtegründungen von 61
AtAt ü r k, k e m ál
Abong-Mbang, Bafia, Molundu, Yokaduma, Yoko, Meiganga und Berberati. 1911, nach seiner Ernennung zum Anführer der Ewondo und Bene, Reise nach Deutschland, wo er zwei Jahre lang die Ewondo-Sprache am →Hamburgischen Kolonialinstitut unterrichtete. 1913 Begegnung mit Ks. Wilhelm II. in Hamburg. Im selben Jahr Audienz bei Papst Pius X in Rom. Sein Briefwechsel mit seinem Neffen Paul Messi wurde 1919 unter dem Titel Jaunde-Texte veröffentlicht. Um 1916 entkam er mit dt. Truppen vor der brit. Armee über →Äquatorialguinea nach Spanien. Zu den Kamerunern, die ihm auf dem Weg ins Exil folgten, gehörten sein Sohn Hans A. Ndengue, sein Bruder und Sekretär Heinrich Essomba, die Notabeln Paul Ntonga, Martin Tabi und Hubert Nama sowie Max Abbe Fuda. Am 22.9.1919 kamen sie in Cadiz an. In Madrid wurde er von Kg. Alfonso XIII. empfangen. 1920 wurde ihm nach längeren Verhandlungen die Rückkehr nach Kamerun von den Franzosen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Verwaltung eines Landesteils übernommen hatten, gestattet. Am 22.11.1920 kam A. in Duala an, wurde aber von der frz. Besatzungsmacht sofort nach Dschang in Westkamerun beordert. Hier mußte er bis zum 26.11.1921 den Straßenwiederaufbau kontrollieren. Wegen seiner Leistungen vertraute ihm auch die frz. Besatzungsmacht zunehmend, so daß er 1922 als „Chef supérieur“ rehabilitiert wurde. Während seiner zweiten Herrschaft wurde eine Bau- und Bodenreform durchgeführt und der Handel gefördert. 1930 starb A.s Frau in Jaunde. Aus der 2. Ehe (6.1.1940) mit Julia Ngonoa – ein junges Mädchen aus einem Vorort Jaundes – stammten zwei Kinder. A. besuchte 1931 die Internationale Koloniale in Paris und nahm 1935 an der Frz. Kolonialkonferenz teil. Im Aug. 1943 erkrankte A. und starb am 1.9.1943 in Jaunde, wo er bestattet wurde. Von A.s Tod bis Anfang der 1990er Jahre blieb sein Amt frei und sein Palast unbewohnt. Seit 1996 regiert Marie-Thérèse Cathérine A., seine Tochter, als Chefin der Ewondo und Bene. Im Jahre 2000 renovierte sie den verfallenen Palast ihres Vaters. Aus der Perspektive der Gegenwart wird A. als ehrgeizig, schlau, aber auch als zu versöhnlich angesehen, weil er der dt. Kolonialverwaltung nicht widerstand und zum Niedergang der lokalen Kultur durch die Abschaffung vieler Riten zugunsten christl. Werte beitrug. Q: Martin Heepe (Hg.), Jaunde-Texte von Karl Atangana und Paul Messi, Hamburg 1919. L: Engelbert Mveng, Histoire du Cameroun, Bd. 2, Yaoundé 1985. Frederick Quinn, Karl Atangana. ‚He Who Is Known by the Nations‘, in: Ders., In Search of Salt, New York u. a. 2006, 56–58. GE RMAI N NYADA
der von Thessaloniki ausgehenden „jungtürk. Revolution“ des Komitees für Einheit und Fortschritt. 1911– 1912 als Major im Krieg mit Italien in der Cyrenaika nach Rückeroberung von Tobruk ausgezeichnet. 1913 Regimentskommandeur im 2. Balkankrieg. Im Ersten Weltkrieg zunächst Befehlshaber von Heereseinheiten auf der Halbinsel →Gallipoli, dann im →Kaukasus, zuletzt Oberkommandierender der Palästina-Front. Für den Erfolg in den Dardanellen-Kämpfen Beförderung zum General verbunden mit Titel Paşa. Nach der Niederlage Organisation des Widerstandes gegen den von Sultan Mehmet VI. mit den Alliierten geschlossenen Friedensvertrag von →Sèvres. 1920 Wahl zum Vorsitzender der in Angora (Ankara) konstituierten Großen Nationalversammlung. Unter seinem Oberbefehl 1921– 1922 Vertreibung der griechischen Invasionsarmee aus Kleinasien. Daraufhin Verleihung des Titels Gazi (d. h. Vernichter) durch d. Nationalversammlung. Auf seine Initiative hin im Nov. 1922 Absetzung des Sultans, am 29.10.1923 Ausrufung der Rep., am 3.3.1924 Abschaffung des Kalifats. Von 1923 bis zum Tod Präs. der Rep. und Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei, der einzigen dauernd zugelassenen Partei. Beharrlich führte er die Modernisierung des Staates durch: Beseitigung feudaler Einrichtungen, Beschränkung des Einflusses der islamischen Geistlichkeit, Verbot der Derwischorden, weitgehende Übernahme kontinentaleuropäischen →Rechts (Schweizer Bürgerliches Recht, dt. Handelsgesetzbuch, it. →Strafrecht), Verbot der Scharia, (formale) Gleichstellung der Frau unter „Gewährung“ aktiven und passiven →Frauenwahlrechtes, Verbot der Polygamie, Verordnung der allg. Schulpflicht, Einführung der lateinischen Schrift und des Gregorianischen Kalenders sowie des Sonntages als arbeitsfreien Tag. Bereits gegen die ersten Maßnahmen brach 1925 in Ostanatolien der vornehmlich von Kurden getragene „Scheich-Said-Aufstand“ aus, den er mit Härte niederschlagen ließ. 1934, bei der Einführung von Familiennamen, verlieh ihm das Parlament den Namen Atatürk (= Vater der Türken). Unter dem Begriff „Kemalismus“ sind zusammengefaßt die von ihm 1923 proklamierten 6 Grundsätze des türk. Staates: Nationalismus, →Säkularismus, Republikanismus, Populismus, Modernisierung und Staatskontrolle der Wirtschaft. Bis heute erfährt Atatürk in der Türkei eine personenkultartige Verehrung. Q: Erinnerungen, dt. Berlin 1927. Die neue Türkei 1919–1927, 3 Bde., dt. Berlin 1928/29. L: Halil Gülbayaz, Mustafa Kemal Atatürk, Berlin 2004.
Atatürk, Kemál (bis 1934 Mustafa Kemál), * 1881 (gefeierter Tag 19. Mai fiktiv) Thessaloniki, † 10. November 1938 Istanbul, □ Anitkabir-Mausoleum in Ankara, zunächst musl.-sunnit., ab 1923 „erklärter Laizist“ Sohn eines niederen Zollbeamten wahrscheinlich yörikturkmenischer Herkunft. Ab 1895 Besuch der höheren Militärschule in Monastir (Bitola/Mazedonien), ab 1899 der Militärakademie in Konstantinopel. In dieser Zeit nahm er überlieferungsgemäß den Beinamen Kemál (arab. = vollkommen) an. 1905 Ernennung zum Hauptmann der Landstreitkräfte. 1908 Beteiligung an
Atlantik →Atlantischer Ozean
62
G ERH A R D H U TZLER
Atlantikkreolen (Atlantic creoles) werden in der neueren Forschung als frühe Vertreter einer atlantischen →Transkulturation und Kreolisierung (→Kreole) verstanden. Zunächst bezeichnete Ira Berlin Menschen, meist Männer, aus den ersten Generationen von nach Nordamerika (Maryland, Virginia) verschleppten Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) als A. Sie sprachen meist neben ihren afr. Sprachen auch ein Portugiesisch basiertes Kreol (lingua franca) oder Portugiesisch und
AtlA n ti s ch er o zeAn
trugen Namen, die ihre Herkunft aus Westafrika oder dem →Kongo/→Angola symbolisierten, bzw. auf den Kontakt mit Portugiesen verwiesen. Manche dieser frühen A. hatten den Ozean mehrfach überquert, waren Dolmetscher (lenguas) gewesen und kannten als eine Art von Kulturbrokern die Handelsusancen des atlantischen Raumes. Viele von ihnen konnten sich relativ zeitig frei kaufen. Sie waren ihren Eigentümern meist kulturell weit überlegen. Im weiteren Verlauf der Debatten um afr. Diaspora in der atlantischen Welt, um Kreolisierung, Transkulturation und Herkunft von Sklavenpopulationen in den verschiedensten Sklavereigesellschaften der Amerikas wurde deutlich, daß A. mehr als einige wenige Sklavengruppen an den marginalisierten Rändern des Nordatlantiks gewesen sind. Vielmehr waren A. Träger und Akteure des frühen Atlantik. Im Zusammenhang mit der atlantischen Expansion der iberischen Mächte, v. a. Portugals, und deren Allianzen mit afr. Eliten in Westafrika, bildeten sich die ersten A.-Gruppen (Lançados, Tangomãos, Pombeiros) aus Siedlern von Ribeira Grande (Kapverdeninsel Santiago, erste europäische Kolonie in den Tropen) im Kampf gegen die Praxis des port. Kronkapitalismus, Handelsmonopole über große Territorien an adlige Favoriten des Hofes zu vergeben. Mit neuen Debatten um →atlantische Geschichte (seit ca. 1990) eröffnete sich der Blick darauf, daß der frühe Atlantik (1450–1650) eigentlich als solcher ein Meer der Sklaverei, des Sklavenhandels und →Transports war. A., so wurde schnell deutlich, gab es auf diesem frühen Atlantik allenthalben, an allen Küsten, die mit dem Sklavenhandel zwischen Afrika und →Amerika bzw. mit Sklavenhandel überhaupt zu tun hatten. Nicht nur an den wichtigsten →Sklavenküsten des atlantischen Afrika, sondern auch in den am. Häfen, in denen Sklaven aus Afrika angelandet wurden oder die in der Frühzeit der span. Conquista Amerikas mit Sklavenhandel von am. „Indios“ zu tun hatten. Die A. waren nicht nur Sklaven, sondern auch Sklavenhändler oder Zwischenhändler, Dolmetscher, Heiler, Matrosen, Ruderer, Schiffshandwerker, Musiker (auf fast allen Sklavenschiffen war der berüchtigte slave ship dance üblich) und Köche von Sklavenschiffen. Manchmal erfüllten sie sogar mehrere Funktionen, wie Koch und Dolmetscher sowie Musikant oder Lotse. Oft kam vor, daß farbige Zwischenhändler oder Dolmetscher versklavt wurden. Das konnte Menschen mit afr. Phänotypus in am. Häfen, durch Kidnapping oder beim Überfall von Piraten leicht passieren. So gerieten A. auch in die unterschiedlichen am. Sklavereigesellschaften. Insg. stellt sich in Bezug auf die Geschichte des →Atlantischen Ozeans die Frage, ob es sich in der Zeit von 1450 bis 1900 nicht eigentlich um einen „hidden Atlantic“ der Kreolisierung und Transkulturation gehandelt hat, auf dem A. als Akteure in der Breite, nicht aber in den sichtbaren Führungsfunktionen (Kapitäne, Kapitalgeber, Schiffsausrüster, Ausnahme Piraten), eine wichtige Rolle gespielt haben. Ira Berlin, Generations of Captivity, London 2003. António Carreira, Cabo Verde, Porto 1972. Michael Zeuske, Atlantik, Sklaven und Sklaverei – Elemente einer neuen Globalgeschichte, in: JbEÜG 6 (2006), 9–44. MI CHAE L Z E US KE
Atlantische Geschichte, wie sie sich in den letzten 20 Jahren als Forschungsfeld entwickelt hat, versucht, die frühneuzeitliche Geschichte der vier Anrainerkontinente Afrika, Europa, Nord- und Südamerika in ein transnationales, den →Atlantischen Ozean um- und übergreifendes Gesamtbild zu integrieren. Ziel ist es, die traditionelle Kolonialgeschichtsschreibung, die sich v. a. auf die Aktionsrichtung von Europa nach den Amerikas konzentrierte, zu überwinden und durch eine multidimensionale Perspektive zu ersetzen. Die Vertreter der „atlantic history“ betrachten die atlantische Welt als kohärenten Interaktionsraum, in dem verschiedene →Ethnien und Kulturen, unterschiedliche Wirtschafts- und Arbeitssysteme und verschiedene Formen politischer Herrschaft zusammentrafen und durch interkontinentale Netzwerke, transozeanische Migrationsbewegungen, kommerzielle Beziehungen und Transferprozesse aller Art ineinandergriffen. Bernard Bailyn, Atlantic History, Cambridge, MA / London 2005. Thomas Benjamin, The Atlantic World, Cambridge 2009. J. H. Elliott, Empires of the Atlantic World, New Haven / London 2006. U LR IK E K IRC H B ER G ER Atlantischer Ozean oder Atlantik. Zweitgrößtes Weltmeer, das mit den Neben-, Binnen- und Randmeeren (z. B. Nord- und Ostsee, Mittelmeer, →Karibik, Hudson Bay und Nordmeer) ca. 100 Mio. km2 umfaßt, Europa, die beiden Amerikas und Afrika trennt und verbindet. Der Name entstammt der griechischen Mythologie und bezeichnete das Meer westlich der Straße von Gibraltar, jenseits der Säulen des Herakles, das von →Herodot erwähnte ‚Meer des Atlas‘ (Atlantis thalassa = Άτλαυιίς θάλασσα). Er weckte lange Ängste (→Angst), Abneigung und Widerwillen. Nach Möglichkeit mied man das Meer, in dem in der Vorstellung vieler Menschen bizarre Kreaturen und monströses Getier hausten. Optimisten galt der Atlantik als der Ort, an dem man u. a. die Inseln der Glückseligen, der Ewigen Jugend, das Paradies oder die Reichtümer des versunkenen Atlantis vermutete. Während der Glauben an den Atlantik als Raum von Glückseligkeit Dämpfer hinnahm, erfuhr die Idee vom Atlantik als Raum mit wirtschaftlichem (nursery of seamanship, Fischfanggründe, Handelsraum), strategischem und politischem Potential allmählich Bedeutung. Dieser Prozeß ging einher mit technologischem Fortschritt. Dank der Übernahme maritimen Know-hows von arab. Seefahrern (→Kompaß, →Astrolabium), verbesserter →Kartographie und der Entwicklung der Caravelle waren seit dem 14./15. Jh. die praktischen Voraussetzungen für die europäische Vereinnahmung des Atlantiks geschaffen. Modell 1: Die Feudalisierung des Atlantiks im 15. Jh. In Ermangelung eigener territorialer Möglichkeiten wandten sich die port. Herrscher dem Atlantik zu; sie wiederentdeckten die Kanaren, dann die Azoren, Madeira und die Kapverdischen Inseln (→Kap Verde). Insularer Getreide- und Zuckerrohranbau (→Zucker) eröffnete seit den 1450er Jahren Lissabon lukrative wirtschaftliche Möglichkeiten. Wichtige Impulse vermittelte Kg. →Heinrich der Seefahrer (1394–1460). Auf der Suche nach Gold, Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und dem legendären →Priester Johannes erkundeten 63
Atl Ant i s c h e r o z eA n
port. Seefahrer die Westküste Afrikas und den Südatlantik. Ganz im Stile mittelalterlicher Landnahme und der Idee des vom Kg. abhängigen Lehnswesens wurden rechtliche Prinzipien der feudalen Landaneignung und Landverteilung auf den Atlantik übertragen, ohne daß man dort das Eigentum konkret hätte abmessen und Raumansprüche sichtbar machen können. Nachdem sich die iberischen Kronen 1474 erneut wegen konkurrierender Ansprüche auf die Kanaren kriegerisch beharkt und 1479 im Vertrag von Alcaçovas dahingehend geeinigt hatten, daß die kastilische Krone die Kanaren gewann, dafür im Gegenzug die port. Vormachtstellung von Seeleuten, Kaufleuten und Sklavenhändler in Afrika südlich von Kap Bojador akzeptierte, schufen die port. Vorstöße in den Südatlantik, die Entdeckung und Umseglung des →Kaps der guten Hoffnung durch den Portugiesen Bartolomeu Dias 1488 eine völlig neue, für die Kronen Kastiliens und Aragons unerquickliche Situation. Mit dem Seeweg nach Asien und der Entdeckung der südatlantischen „volta“ befanden sich die Portugiesen im Vorteil gegenüber den in den Wirren der Reconquista verstrickten span. Monarchen. Das Wissen um eine Alternativroute zu den wichtigen Produkten Asiens und die Entwicklung in der östlichen Levante ließ die neidischen span. Monarchen umdenken. Sie wandten sich dem Atlantik zu, den man als zukunftsträchtigen Handelsraum und Verbindungsweg zu den Kostbarkeiten der Alten Welt betrachtete. Nach der Einnahme von Granada 1492 finanzierten Kg.in Isabella (1451–1504) und Kg. Ferdinand (1452–1516) die Expedition des Genuesen Christoph →Kolumbus (1451–1506) zur Suche nach einer Westroute nach Asien. Die Fahrt von Kolumbus 1492, die Überquerung des Atlantiks und – aus altweltlicher Sicht – „Entdeckung neuer Welten“ (12.10.1492: Ankunft Kolumbus auf Guanahani/→Bahamas) veränderte Europa. Nicht nur gewannen die iberischen Monarchen neue Ressourcen und ihre Halbinsel rückte aus der Randlage ins Zentrum, sondern ganz Europa erlebte einen Perspektivenwechsel, als der Atlantik und durch ihn die potentiellen Reichtümer der Neuen Welt zum Objekt ihrer Begierden wurden. Die iberischen Monarchen sicherten sich den Vorsprung, indem sie sich der rk. Kirche bedienten. Trotz der päpstlichen Sympathien für das span. Kg.spaar wurden die afr.-atlantischen Interessen des port. Herrschers beachtet. Getreu fingierter mittelalterlicher Rechtsvorstellungen berief sich Papst Alexander VI. auf die gefälschte Konstantinische Schenkung des 8./9. Jh.s und die davon abgeleitete „Inseltheorie“ seines Vorgängers Urban II. von 1091 als wesentliche Grundlagen seines Rechts, als Stellvertreter Christi auf Erden Land an fromme Gläubige zu verlehnen. Der Besitztransfer ging einher mit der Verpflichtung der Belehnten, die dort lebenden Menschen zum Christentum zu bekehren. Wirtschaftliche Erträge aus dem Landbesitz sollten die Mission finanzieren, d. h. der Besitz des Landes erfüllte keinen Selbstzweck, sondern ermöglichte erst die Realisierung des Missionsauftrags. Die Tatsache, daß der Papst in den entscheidenden →Bullen →Inter cetera und Eximiniae Devotionis (3.5.1493), Inter cetera (4.5.1493) und Dudum Siquidem (26.9.1493) wiederholt von „terras et insulas“ sprach, bezieht sich auf die Inseltheorie, 64
die im Kontext der musl.-christl. Auseinandersetzung im Mittelmeerraum von der Papstkirche als Kampfmittel entwickelt worden war: danach beanspruchte der Papst das Recht, Inseln islamischem Einfluß zu entziehen und rk. Besitzern zu überlassen. Der Vertrag von Tordesillas (7.6.1494) zwischen den iberischen Herrschern verzichtete auf die Mitwirkung des Papstes und folgte einem neuen Prinzip: während der Papst den Atlantik als Niemandszone betrachtet und primär Landmassen verlehnt hatte, gingen die iberischen Unterhändler weiter. Die wegweisende Formulierung liefert Artikel 4: „Item, inasmuch as the said ships of the said King and Queen of Castile, Leon, Aragon, etc., sailing as before declared, from their kingdoms and seigniories to their said possessions on the other side of the said line, must cross the seas on this side of the line, pertaining to the said King of Portugal, it is therefore concerted and agreed that the said ships of the said King and Queen of Castile, Leon, Aragon etc., shall at any time and without any hindrance, sail in either direction, freely, securely, and peacefully, over the said seas of the said King of Portugal, and within the said line.“ (Vgl. Davenport, Treaties, Bd.1, 97). Während der Papst Land an christl. Herrscher mit der Auflage verliehen hatte, die Missionierung der heidnischen Bewohner jener Ländereien anzugehen, beanspruchten die christl. Monarchen als weltliche Herrscher Land und den Atlantik, dessen Besitz aus Mangel menschlicher Bewohner eben nicht durch den christl. Missionsauftrag begründet werden konnte. Sie vereinnahmten ohne große Hemmungen Land und Wasser, Afrika und den Atlantik, →Amerika und den Atlantik. Neue Welt und der Atlantik wurden mit dem Vertrag von Tordesillas in bester mittelalterlicher Tradition von Herrschaftsauffassung feudalisiert. Modell 2: die Nationalisierung des Atlantiks im 17. Jh. durch England und die Niederlande: Von kleineren Sticheleien neidischer Europäer abgesehen, blieben die iberischen Raummonopole von 1494 während des 16. Jh.s bestehen. Getreu der iberischen Vorgaben waren es zunächst die Kronen, die Vorstöße probten: den Anfang machte der engl. Kg. →Heinrich VII. (1457– 1509), der in den 1490–1500er Jahren die atlantischen Entdeckungsfahrten der it. →Cabotos finanzierte. 1524 folgte die frz. Krone mit einer →Charter an Giovanni da →Verrazzano. 1534 fuhr in ihrem Auftrag Jacques →Cartier nach Nordamerika. Engl. wie frz. Herrscher kopierten das iberische Vorbild der Feudalisierung des Meeres, präsentierten sich als potentielle Lehnsherren der zu entdeckenden Gebiete und zu gründenden Kolonien. Sie betrachteten den Atlantik und die Neue Welt als erweiterte Bühne kgl. Machtvorstellungen und machten sie zum Objekt kgl. Urkunden. Doch mit dem verstärkten Eindringen des Untertanen in den kolonialen Prozeß und mit der steigenden Gewöhnung an Begegnungen mit dem Atlantik im Verein mit der zunehmend ideologisch aufgeladenen internationalen Politik durch den Span.-Engl. Krieg 1588–1603 gelangten neue sprachliche Elemente und andere rechtliche Interpretationen in den verbalen Umgang mit dem Atlantik: die feudale Interpretation von Rechtsansprüchen bzw. die enge Verbindung zwischen Monarchen und der Vereinnahmung
AtlA n ti s ch er o zeAn
von Räumen verschwand und machte Platz für neuartige Interpretationen, die den wachsenden Einfluß von Nation, Nationalismus und nationalen Interessen reflektierten. Der Bedeutungsgewinn nationaler Begrifflichkeit im Konflikt mit Spanien bewog Kg. →Jakob I. (1603–1625) 1609 zu einer nationalen Einfärbung maritimer Ansprüche. In Anlehnung an schottische Rechtstraditionen, die von der Idee eines Exklusivfischfangrechts für die Küstenbewohner ausgingen, vermied er personenbezogene Formulierungen; statt dessen sprach er von „British Seas“ (Ärmelkanal, die Nordsee, die damit ihre alte Bezeichnung Mare germanicum einbüßte, und die Irische See). John Selden, Mare Clausum seu de Dominio Maris libris, 1636, unterstützte die Anglisierung des Atlantiks. Daß die Nation Boden gewann, zeigten die Verhaltensweisen des Commonwealth und der Protektoratszeit; der Kg.sgegner Oliver Cromwell (1599–1658) übernahm die kgl. Haltung gegenüber dem Atlantik und der kolonialen Welt. 1651 verkündigte er zugunsten der nationalen Wirtschaft und Marine eine Navigationsakte und 1652 begann er wegen der Weigerung ndl. Kapitäne vor engl. Schiffen die eigenen Fahnen zu dippen, den ersten Engl.Ndl. Krieg (1652–1654). Der Tenor der Navigationsakten betonte die Idee nationaler Handels- und Wirtschaftsräume, wonach der Atlantik ebenso wie die koloniale Welt allein den mutterländischen Interessen unterworfen sei. Die Niederlande konterten, indem sie ebenfalls aus ihrer ideologischen Gegnerschaft zu Spanien 1621 mit der Gründung der →Westind. Compagnie (WIC) ihre nationalen Ansprüche auf den Atlantik, Amerika und die Westhälfte Afrikas anmeldeten. Wie Spanien, Portugal und England vereinnahmte die junge Rep. den Atlantik, jedoch entspr. ihrer zwangsläufig gewählten Staatsform verzichtete sie auf die feudale Art und betonte statt dessen in der Organisation der WIC und deren Management der atlantischen Nutzung ihren föderativen Charakter. Den Zugang gewährten Lizenzen der WIC, mit deren Gründung (3.6.1621) die ndl. Rep. nicht nur ihren ehem. Landesherrn, den span.-habsburgischen Kg. und päpstliche Ansprüche ignorierte, sondern der junge Staat ging weiter und deklarierte den gesamten Atlantik zum exklusiv ndl. mare clausum. Der Streit um den Atlantik ebenso wie die kommerzielle Konkurrenz bildete den Gegenstand dreier Engl.-Ndl. Kriege des 17. Jh.s – es gelang England nicht, die Dominanz des Handelsstaats der Niederlande zu brechen. Erst der Span. Erbfolgekrieg 1702–1713 und das Utrechter Vertragswerk von 1713 veränderten das Machtgefüge zugunsten von Großbritannien. 1740 betonte die geheime Nationalhymne Großbritanniens, Rule Britannia, Britannia rules the waves die erfolgreiche Nationalisierung des Atlantiks. Modell 3: die Internationalisierung des Meeres im 17./18. Jh. durch Piraten. Während die europäischen Staaten um den Atlantik buhlten, verstärkte sich eine störaktive Gegenbewegung. In fast paradox anmutender Weise verwirklichten ausgerechnet Piraten, die sich nicht um →Recht scherten, →Grotius’ Idee von der Freiheit der Meere. Sie galten nationaler Macht als Paradebeispiel solcher Kräfte, die nationalen Ansprüchen höhnten und als supranationale Gruppen eine Gegenwelt bildeten. Befragt nach ihrer Herkunft bezeichneten sie sich nicht
als Abkömmlinge von Nationen und →Ethnien, sondern sagten, sie kämen „from the Seas“. Entspr. der realen und ideellen Gefahren, die von Piraten ausgingen (und ausgehen), gehörte der nationale Kampf gegen sie zu den Maßnahmen, die z. B. Großbritannien im Verein mit seinen Kolonien in der Phase ergriff, als es seine Macht unmißverständlich demonstrieren wollte. In dem Maße, wie der atlantische Handel, speziell der Sklavenhandel, boomte, wuchsen die Köpfe der atlantischen Hydra – erst in den 1720er Jahren konnte die brit. Staatsmacht der internationalen atlantischen Piraterie (→Freibeuterei) halbwegs Herr werden, und die Kraft der Hydra brechen. Als Britannia tatsächlich und weitgehend unangefochten seit Mitte des 18. Jh.s die Wellen des Atlantiks beherrschte, versuchte sich das junge Völkerrecht in der Schaffung eines Kompromisses: die Idee des mare librum von Grotius, die Vorstellung, das weite Meer könne niemand wirklich besitzen, es gehöre der gesamten Menschheit, verbanden Juristen des 18. Jh.s wie van Bynkershoek, De dominion maris (1702) oder Galiani (1782) mit der Trennung zwischen der freien Hohen See und den Küstengewässer, die national vereinnahmt werden konnten. Je mehr Großbritanniens reale Kontrolle der Meere wuchs, desto mehr verzichtete London auf nationale Besitzerklärungen und postmerkantilistische Vereinnahmungen. 1849 strich es die Navigationsakten des 17. Jh.s, die angesichts motorisierter →Schiffahrt ohnehin obsolet geworden waren, und verschrieb sich der Idee der Freiheit der Meere – tatsächliche Macht brauchte keine Schützenhilfe nationaler Vereinnahmung. A. T. →Mahan spiegelte in seiner Studie von 1890/1892 „The Influence of Sea Power upon the French Revolution and Empire“ die geänderte Auffassung, daß die Ozeane Allgemeingut seien. Er kreierte den Begriff „Seemacht“, Sea power, und entwickelte das Konzept, tatsächliche Seemacht resultiere nicht aus der tatsächlichen Vereinnahmung der Fläche durch Recht und konkrete Präsenz, sondern ergebe sich aus der Kontrolle der See als Vermittlungsraum mit ihren Handelswegen und Transportrouten zwischen den Landmassen. Q: Frances Davenport (Hg.), European Treaties Bearing on the History of the United States and Its Dependencies, Bd. 1, Gloucester / Mass. 1967, 57–83. Thomas W. Fulton, The Sovereignty of the Sea, Edinburgh / London 1911. James F. Larkin / Paul L. Hughes (Hg.), Stuart Royal Proclamations, Bd.1: Royal Proclamations of King James I, 1603–1625, Oxford 1973, 217–219. L: Peter Linebaugh / Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra, Boston / Mass. 2000. Marcus Rediker, Between the Devil and the Deep Blue Sea, Cambridge 1987. Claudia Schnurmann, Atlantische Welten, Köln 1998. CLA U D IA SC H N U R MA N N
65
Atl As s ow, w lA d i m i r
Atlassow, Wladimir, * 1661 Weliki Ustjug, † 1711 Nischne-Kamtschatsk, genaues Geburts- und Todesdatum unbek., □ unbek., russ.-orth. A. entstammte einer Kosakenfamilie (→Kosaken) aus →Jakutien. Zunächst war er um 1697 Vorsteher (starost) in dem Fort Anadyrsk im nordöstlichen →Sibirien. A. gilt als Eroberer der Halbinsel Kamtschatka, wo er die indigene Bevölkerung (Kamtschadalen bzw. Itelmenen) der russ. Tributherrschaft unterwarf. Aber A. war nicht nur ein gewaltsamer Eroberer, sondern fertigte auch Studien über die Natur Kamtschatkas, v. a. über das →Klima an. Auf seiner →Expedition fand er auch den jap. Schiffbrüchigen Dembei vor, den er nach Moskau brachte, wo dieser ein erstes russ.-jap. Wörterbuch erstellte. Ebenso sammelte A. wertvolle Informationen über die →Kurilen. 1711 wurde er nach einem Kosakenaufstand in Nischne-Kamtschatsk ermordet. Ludmila Thomas, Geschichte Sibiriens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1982. Zu Dembei: Polina Ginzburg, Die frühen russisch-japanischen Beziehungen, Diss. Tübingen 2013. E VA- MARI A S TOL BE RG Attlee, Clement Richard, 1st Earl Attlee (1955), * 3. Januar 1883 London, † 8. Oktober 1967 London, □ Westminister Abbey, anglik. A. studierte am University College in Oxford Rechtswissenschaften (1901–1905). Nach Studienabschluß wandte er sich der Sozialarbeit zu, was dazu führte, daß er zunehmend die herrschende politische Ordnung infrage stellte. Um daran etwas zu verändern, trat er 1908 der Labour Independent Party bei. Von 1912–1923 lehrte er, unterbrochen von seinem Einsatz für die brit. Armee im Ersten Weltkrieg, an der London School of Economics. Nach Kriegsende wurde A. 1919 zum Bürgermeister von Stepney gewählt, 1922 zog er als Labour-Abgeordneter ins Unterhaus ein. In den 1920er Jahren war A. als Unterstaatssekretär im Kriegsministerium (1924), als Kanzler des Herzogtums Lancaster und als Minister für das Postwesen (1930/31) an den Labour-Reg.en beteiligt. Als Vorsitzender der Partei (1935–1955) opponierte er gegen Chamberlains Appeasement-Politik. In der Koalitions-Reg. des →Zweiten Weltkrieges hatte er durchgehend mehrere Posten inne, u. a. den des Vizepremiers. Nach der Machtübernahme der Labour-Partei 1945 wurde A. brit. Premierminister (1945–1951). Während seiner Legislatur wurde zum einen die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien vorangetrieben, zum anderen mit der Erschaffung des National Health Service dem Wohlfahrtsstaat Rechnung getragen. Darüber hinaus wurden unter A. →Indien, →Pakistan (jeweils 1947), Ceylon und Birma (jeweils 1948) in die Unabhängigkeit entlassen. Auch endete 1948 das Mandat des →Völkerbunds für Palästina. Nach der Wahlniederlage 1951 trat A. als Premier zurück, blieb aber bis 1955 Oppositionsführer. Nach seinem Rückzug aus dem Unterhaus erhob ihn Kg.in Elisabeth II. in den Adelsstand. Clement R. Attlee, As it Happened, London u. a. 1954. Trevor Burridge, Clement Attlee, London 1987. Kenneth Harris, Attlee, London 1995. T HOMAS F I S CHE R
66
Auckland-Inseln. Die A. liegen im Südpazifik, 460 km südlich von Neuseelands südlichster Stadt Bluff. 1806 entdeckte sie der Engländer Abraham Bristow, Kapitän des Walfängers Ozean, im Dienste der engl. EnderbyWalfang-Gesellschaft (→Walfang). Im Dez. 1849 wurde unter Gouv. Charles Enderby eine brit. Kolonie auf der Enderby-Insel in Port Ross gegründet. Jedoch machten der Mangel an Walen geeigneter Größe und das ungünstige →Klima den Siedlern das Leben schwer, weshalb die Kolonie bereits 1852 aufgelöst wurde. 1874 wurde im Auftrag der neuseeländischen Reg. eine Farm in Erebus Cove, Port Ross gegründet; nach 3 Jahren wurde auch dieser Versuch aufgegeben. Am 15.10.1874 erreichte eine dt. →Expedition Port Ross, um den Venusdurchgang vom 9.12.1874 vom benachbarten Terror Cove aus zu beobachten. Auf den A. suchte der dt. Lloyddampfer Erlangen bei Ausbruch des →Zweiten Weltkriegs Unterschlupf. Im Carnley Hafen schlug die Mannschaft 400 t Holz, um nach →Chile zu gelangen. An den Aufenthalt der Erlangen von Aug. bis Okt. 1939 erinnern zwei Ortsnamen, „Erlangen Clearing“ und „Erlangen Hill“. Heutzutage werden die Inseln vom neuseeländischen Naturschutzministerium, dem Department of Conservation, verwaltet, das zwei Forschungsstationen, eine auf der Adams-Insel und eine auf der Enderby-Insel unterhält. JA MES BA D E
Audiencia. Wie ihre Vorbilder, die kastilischen A., waren die A. in Las Indias zugleich Obergerichtshöfe in Zivil- und Strafsachen und Behörden der Justizverwaltung. Ihre Funktion und Bedeutung ist damit aber nur unzureichend beschrieben. Denn sie hatten auch einen großen Einfluß auf Reg. und Verwaltung in Übersee. Zum einen überwachten die A. die Rechtmäßigkeit der administrativen Entscheidungen und waren befugt, Visitationen durchzuführen. Zum anderen übten sie selbst ordentliche und außerordentliche Reg.sfunktionen aus, indem sie bspw. Gebührenordnungen festlegten, bestimmte Steuern einzogen oder im Falle des Ausfalls der obersten Reg.sinstanz deren Aufgaben übernahmen und als eine Art Staatsrat fungierten. Die A. waren als Kollegialorgan organisiert und bestanden üblicherweise aus zwei, in den Hauptstädten der →Vize-Kgr.e auch aus drei Kammern mit straf- und zivilrechtlichen Zuständigkeiten. Die Zahl der Richter schwankte während der Kolonialzeit. Das Kollegium der ersten, auf Santo Domingo (→koloniale Metropolen) errichteten A. bestand noch aus drei Personen, die großen A. des 17. Jh.s übertrafen diese Ausstattung um das Vier- oder Fünffache. Unter den als Richter tätigen gelehrten Juristen genossen das höchste Ansehen die Oidores. Im Rang unter ihnen standen die Alcaldes del Crimen, die ausschließlich strafrechtliche Verfahren leiteten. Die Interessen der Krone vor Gericht vertrat der Fiscal. Eine Anzahl von Schreibern und Sekretären unterstützte die Juristen bei ihrer Arbeit. Eine besondere Stellung nahm der Präs. der A. ein, der nicht notwendigerweise der juristischen Profession angehörte. Nach Amt und Status des Präs. unterscheidet man zwischen „A. Virreinales“ (Vize-Kg. als Präs.), „A. Pretoriales“ (Gouv. und Generalkapitän als Präs.) und „A. Subordinadas“ (gelehrter Jurist als Präs.). Im Vize-Kgr. Neuspa-
A u g s bu rg
nien existierten im 16. und 17. Jh. folgende A.: Santo Domingo (gegründet bzw. reaktiviert 1526), Mexico (1527), →Guatemala (1542) und Guadalajara (1560). Das Vize-Kgr. →Peru setzte sich u. a. aus den A. von →Panama (1538), →Lima (1542), Santa Fe de Bogotá (1549), →Charcas (1555/61), →Quito (1563), →Chile (1606) und →Buenos Aires (1661) zusammen. Die A. bestand als solche im 18. Jh. fort, allerdings änderte sich durch die Einführung von Regentes (1776) der institutionelle Rahmen. Der Regente sollte ein Gegengewicht zum Präs. bilden. Er konnte eine Änderung und Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens herbeiführen. Organisation und Aufgaben der A. waren durch Ordenanzas reglementiert, die mehrfach reformiert wurden. Während die für die A. von Santo Domingo bestimmten Ordenanzas von 1511 nur einen geringen Einfluß der kastilischen Ordenanzas aufweisen, entstammte der größte Teil der in den 1530er Jahren erlassenen Regelungen („Ordenanzas antiguas“) den Ordenanzas der →Chancillería von Valladolid von 1489. Hingegen zeigen die seit 1563 ergangenen „Ordenanzas nuevas“ wieder eine Vielzahl origineller Vorschriften. Matthew Campbell Mirow, Latin American Law, Austin 2004. Horst Pietschmann, Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika, Stuttgart 1980. Feliciano Barrios Pintado (Hg.), El gobierno de un mundo, Cuenca 2004. DANI E L DAML E R Aufklärung. Das 18. Jh. wurde bereits von Zeitgenossen als „Zeitalter der A.“ (engl. Age of Enlightenment, frz. Siècle des Lumières) bezeichnet und als Epoche beschleunigten Wandels wahrgenommen. Die durch Briefwechsel, Zeitschriften, Akademien, Sozietäten und Reisen intensiv vernetzte Gelehrtenwelt war von der optimistischen Auffassung geprägt, daß Vernunftgebrauch und die Anwendung rationaler Prinzipien zu wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt führten. Viele Aufklärer setzten sich auch für politische Reformen und religiöse Toleranz ein. Indessen blieben die monarchischen Herrschaftssysteme, die ständische Gesellschaftsordnung Alteuropas und die feudale Abhängigkeit der Bauern von adeligen und kirchlichen Grundherren vor 1789 ebenso intakt wie die enge Verbindung von Staat und Kirche. Das Interesse der Aufklärer an der Sammlung, Kompilation und Systematisierung von →Wissen kennzeichnete auch ihr Verhältnis zur außereuropäischen Welt. Berichte von Forschungs- und Entdeckungsreisen, z. B. von den →Expeditionen Louis-Antoine de →Bougainvilles (1766–1769) und Captain James →Cooks (1768–1779) in die Südsee, wurden in der Gelehrtenwelt breit rezipiert, inspirierten philosophische Reflexionen ebenso wie naturwissenschaftliche und anthropologische Forschungen und avancierten mitunter zu Publikumserfolgen. Ältere Reisebeschreibungen wurden in vielbändigen Sammlungen und Kompilationen neu aufgelegt. Um an Informationen und naturkundliche Objekte aus Übersee zu kommen, bauten Gelehrte globale Korrespondenznetze auf. Joseph →Banks (1743–1820) etwa, der an Cooks erster Reise teilgenommen hatte, korrespondierte als Präs. der Royal Society und Direktor der kgl. botanischen Gärten in Kew mit hunderten von Ge-
lehrten und Forschern auf allen Kontinenten, propagierte Forschungsreisen und regte die Gründung botanischer Gärten in Übersee an. Nach europäischen Vorbildern formierten sich in Kolonialmetropolen wie →Batavia gelehrte Gesellschaften. In Einzelfällen erlangten außereuropäische Persönlichkeiten wie der Amerikaner Benjamin →Franklin in Europa wissenschaftlichen Ruhm. Die →Am. Revolution, zu deren Protagonisten Franklin gehörte, wurde von Teilen der europäischen Öffentlichkeit als Umsetzung zentraler Postulate der A. in die Praxis interpretiert. Hingegen kritisierten die Aufklärer die im 16. und 17. Jh. oft für ihre Verwaltung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften bewunderten asiatischen Reiche seit Mitte des 18. Jh.s zunehmend als gesellschaftlich erstarrte und despotisch regierte Gemeinwesen. Das Interesse an der Geschichte, →Geographie und Naturkunde überseeischer Regionen schlug sich in einer Reihe enzyklopädischer Werke nieder. George Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) etwa vertrat in seiner Allg. und speziellen Naturgeschichte (44 Bde.) im Rahmen einer organischen Entwicklungslehre die Auffassung, daß die natürlichen Lebensformen in →Amerika minderwertig bzw. degeneriert seien, und rief damit auf beiden Seiten des →Atlantiks heftigen Widerspruch hervor. Der Abbé Guillaume →Raynal (1713–1796) übte in seiner mit KoAutoren wie Denis Diderot verfaßten Geschichte beider Indien (10 Bde.) auch scharfe Kritik am europäischen →Kolonialismus und an der →Sklaverei als Ausdruck despotischer Herrschaft. Gerade Sklavenhandel und Sklaverei, die im „Jh. der A.“ ihren Höhepunkt erlebten, wurden allerdings bis Ende des 18. Jh.s nur relativ selten angeprangert. Jorge Cañizares-Esguerra, How to Write the History of the New World: Histories, Epistemologies, and Identities in the Eighteenth-Century Atlantic World, Stanford 2000. Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jh., München 1998. MA RK H Ä BER LEIN Augsburg. Die Reichsstadt, um 1600 mit über 40 000 Ew. eine der größten Städte des Heiligen Römischen Reiches, war für die europäische Überseegeschichte als Handelsmetropole wie als Zentrum des Buchdrucks wichtig. Nach der Entdeckung des Seewegs nach →Indien errichteten die Handelsgesellschaften →Fugger, →Welser und Höchstetter Niederlassungen (Faktoreien) in Lissabon und beteiligten sich an der Indienfahrt von 1505/6, während Mitglieder der Familie Herwart Handel mit ind. Edelsteinen trieben. Nach der Öffnung des Amerikahandels für Nichtspanier (1526) betätigten sich die Welser (Faktorei auf Santo Domingo (→koloniale Metropolen), Statthalterschaft über →Venezuela) und Sebastian Neidhart (Bergwerksbesitz in →Mexiko, Perlenimporte (→Perlen) aus Cubagua) am Atlantikhandel. Im späten 16. Jh. schlossen Konrad Rot(h) sowie Zweige der Fugger und Welser Gewürzkontrakte (→Gewürze) mit der port. Krone ab und entsandten Vertreter nach Indien. Der Stadtarzt Leonhard Rauwolf hielt sich 1573–1576 67
A u s s t e l l u n g s w es en
im Auftrag der Handelsgesellschaft Melchior Manlichs in der Levante auf und reiste von Tripoli bis Bagdad. Marx Konrad von Rehlingen besaß um 1630 Aktien ndl. und engl. Überseekompanien. Im 18. Jh. hatte Christian von Münch Geschäftsinteressen in Nordamerika (Georgia). Die Brüder Obwexer engagierten sich im Karibikhandel über Curaçao. A.s Rolle als Nachrichtenzentrum manifestierte sich in der Zirkulation handschriftlicher „Neuer Zeitungen“ wie der sog. Fuggerzeitungen (Österr. Nationalbibliothek Wien) sowie in Druckwerken. Johann Otmar und Johann Schönsperger d.Ä. druckten 1504/5 Ausgaben des Reiseberichts Amerigo →Vespuccis, 1508 berichtete die Copia der Newen Zeytung aus Presilg Landt von einer Südamerikafahrt, und 1550 publizierte Philipp Ulhart Hernan →Cortés’ Briefe an Ks. →Karl V. Wesentlich zahlreicher als diese frühen Americana-Drucke sind die überseeischen Missionsberichte sowie die Übersetzungen span. und port. Werke, die im 17. und frühen 18. Jh. in A. erschienen. Auch das Engagement des pietistischen A. Pastors Samuel Urlsperger für die Salzburger Protestanten, die sich nach ihrer Ausweisung aus dem Fürstbistum 1731 in Georgia niederließen, schlug sich in Druckwerken nieder. Helmut Gier / Johannes Janota (Hg.), Augsburger Buchdruck und Verlagswesen, Wiesbaden 1997, 353–380. Günter Grünsteudel u. a. (Hg.), Augsburger Stadtlexikon, Augsburg 21998. Mark Häberlein / Michaela SchmölzHäberlein, Die Erben der Welser, Augsburg 1995. MARK HÄBE RL E I N
Aussatz →Lepra Ausstellungswesen. (zeitgenössisch auch Exposition von frz.: exposition (f): Ausstellung, Überblick, Nebeneinanderstellung, Vergleich). Bereits die seit dem Mittelalter zyklisch wiederkehrenden Messen und Märkte, sowie die im privaten Rahmen stattfindenden →Kunstund Wunderkammern der Frühen Neuzeit können definitionsabhängig als Ausstellungen bezeichnet werden. Insb. die in Folge der →Industrialisierung überwiegend im 19. Jh. abgehaltenen Industrie- und/oder Gewerbeausstellungen weisen eindeutige, aus den im 18. Jh. etablierten Kunstausstellungen hervorgegangene, Charakteristika auf. Sie dienten der Präsentation handwerklicher, industrieller und gewerblicher Produkte eines genau definierten Einzugsgebiets. Entspr. existierten Regional-, Landes- und Nationalausstellungen. Die Ausstellung war örtlich ungebunden und zeitlich begrenzt. Sie wurden öffentlich abgehalten und sprachen ein breites Publikum an. Umfassender als andere Medien boten Ausstellungen die Möglichkeit, über die Inszenierung der Waren mit den Konsumenten zu kommunizieren. Die nach bestimmten Kriterien ausgewählten Exponate wurden von den Produzenten zur Verfügung gestellt und meist mit anschließender Veröffentlichung der Ergebnisse durch eine Jury bewertet. Die grundlegende Funktion der Veranstaltungen war die Information und Belehrung der Öffentlichkeit, sowie die Förderung von Gewerbe und Industrie. Ausstellungen wirkten werbend und marktvorbereitend, worin sie sich maßgeblich von Messen unterschieden, die überwiegend dem Abschluß 68
von Kaufgeschäften dienten. Zur Attraktivitätssteigerung waren ihnen häufig Sonderausstellungen, bzw. Vergnügungs- und/oder „Kneipenviertel“, sowie Nachbauten historischer Gebäude, Viertel und Dörfer angegliedert, die im Verlauf auch als unabhängige Veranstaltungen stattfanden. Trotz seiner Führungsposition innerhalb des Industrialisierungsprozesses setzte nicht Großbritannien, sondern Frankreich Maßstäbe für das A. So fand die erste moderne Gewerbeausstellung 1798 als Folge technischer Entwicklungen und der Frz. Revolution in Paris statt. Der Großteil der europäischen Länder bemühte sich folglich das A. voranzubringen. In England setzte es erst mit Ausrichtung der ersten Weltausstellung 1851 ein. Die bedeutende Weiterentwicklung lag in der Einbeziehung eines übernationalen bis weltweiten Raums oder wirtschaftlichen Sektors nach Prinzipien des internationalen →Freihandels. Als zugrundeliegende Idee galt der friedliche Wettstreit der Nationen auf industrieller Ebene. Im Verlauf präsentierten sich sowohl Teilnehmer als auch Ausrichter auf politischer, wirtschaftlicher, sowie wissenschaftlicher und kultureller Ebene. Entspr. veränderten sich die Besucher vom anfänglichen Fachpublikum oder interessierten Laien zum breiten Massenpublikum, worin u. a. die Entstehung des Pauschaltourismus oder die Ausstellungslotterie ihren Ursprung fanden. Im Zeitraum der Weltausstellung wurden Beziehungen zwischen temporären und permanenten Ausstellungen deutlich. Museen unterschiedlichster Ausrichtungen wurden angeregt durch die internationalen Veranstaltungen gegründet, wofür mitunter ehem. Ausstellungsbereiche die Grundlage bildeten. Bestehende Sammlungen erhielten neue Impulse von den dort praktizierten künstlerischen Präsentationstechniken. Weltausstellungen befriedigten v. a. ab den 1880er Jahren das gestiegene Bedürfnis der Länder nach weltweiter Demonstration ihrer Vor- bzw. Weltmachtstellung, wofür Kolonialausstellungen, auch innerhalb kleinerer Gewerbeausstellungen oder in den Besitzungen selbst veranstaltet, ein geeignetes Medium darstellten. In ihnen fanden die Ausdehnung des Welthandels, Kontakte zu fernen Völkern und der immer breiteren Schichten zugängliche Konsum von Überseeprodukten Ausdruck. Ein Reglement zur Ausrichtung von Weltausstellungen existierte erst seit Gründung des Bureau International des Expositions (BIE) in Paris 1928. Seit Ende des 19. Jh.s wird von einer „Ausstellungsmüdigkeit“ gesprochen. Unter dem Schwerpunkt der Belehrung veranstaltete Fachausstellungen ersetzten herkömmliche Universal- und Industrieausstellungen. Die Information über neueste technische Errungenschaften erfolgte zunehmend über Kataloge, Fachzeitschriften und sich stetig weiterentwickelnde Kommunikationsmedien. Uwe Beckmann, Gewerbeausstellungen in Westeuropa vor 1851, Frankfurt/M. 1991. Robert W. Rydell, The Books of the Fairs, Chicago 1992. Kristina Starkloff, Außereuropäische Völker auf Welt- und Gewerbeausstellungen im 19. u. früh. 20. Jh., Diss. Leipzig 2011. K RISTIN A STA R K LO FF
Australien. Der kleinste und den Europäern am spätesten bekanntgewordene, von Menschen bewohnte Erdteil
A u s trA li en
ist mit 7 595 342 km2 reiner Landfläche (inklusive Tasmaniens 7 659 861, einschließlich der vorgelagerten Inseln 7 692 024 km2 ) etwas kleiner als die Europäische Union und Kernrußland (die Föderationskreise Zentralrußland, Nordwestrußland u. Wolga) zusammengenommen. Im Gegensatz zu Europa lebt die eingewanderte Bev. A.s aber fast ausschließlich an der Küste, v. a. im Osten. Im mittleren Süden, dem mittleren u. nördlichen Westen, und insb. in der Mitte des Kontinents, wohnen dauerhaft nur wenige oder keine Menschen. Dort ist das Klima arid u. wüstenähnliche Regionen sind vorherrschend. Die →Aborigines, die Ureinwohner A.s, leben seit Jahrtausenden hier. Folgt man ihren Erzählungen, gab es Kontakte mit Menschen aus dem heutigen Indonesien u. mit Chinesen schon vor Ankunft der Europäer. Diese waren lange auf der Suche nach einem legendären Südland, dem „terra australis“. Ob Portugiesen, Spanier oder Niederländer als erste Europäer A. sichteten, ist bis heute umstritten. Sicher ist, daß – ähnlich wie im Falle →Aotearoas – der Besuch von James →Cook 1770 die eigentliche Europäisierung A.s einleitete. Die Sträflingskolonie. Nach der Unabhängigkeitserklärung der →Vereinigten Staaten suchte man in London nach einer Alternative, wohin man Sträflinge deportieren konnte. Man wählte das neu „entdeckte“ Südland u. die von Cook kartographisch gut vermessene Bucht im Südosten, „Botany Bay“. Am 18. Januar 1788 traf das erste von insg. elf Schiffen der sog. „First Fleet“ mit urspr. 775 Sträflingen, ihren Bewachern u. Familien ein. Der Beginn der ersten europ. Siedlung am 26. Januar – woraus Sydney entstehen sollte – wird von den Europäern in A. bis heute jährlich als „Australia Day“ gefeiert. Das brit.-koloniale A. war in seiner Enstehung also eine „penal colony“, eine Sträflingskolonie. Fast vier Generationen lang – der letzte Transport mit 279 überlebenden Sträflingen traf am 9. Januar 1868 in Fremantle ein – prägten englische, walisische, schottische u. irische Strafgefangene das Leben der englischen Kolonie(n) A.s. Insgesamt sind in 80 Jahren mindestens 160 000 Strafgefangene in über 800 Schiffstransporten aus Großbritannien nach A. deportiert worden. Das waren mehr Menschen als 1788 in Hamburg, München und Nürnberg zusammengenommen wohnten. Mit nur einer Ausnahme – Süda. – waren alle austral. Kolonien zu irgendeiner Zeit Sträflingskolonien: New South Wales (NSW) 1788–1840 (formal bis 1850), Norfolk Island (1788–1814 u. 1824–1855), Tasmanien (1803–1853; 1825 v. NSW getrennt), Victoria (1803– 1849; 1851 von NSW getrennt), →Queensland (1824– 1839; 1859 v. NSW getrennt) u. Western Australia (1826–1830 u. 1850–1868; 1829 als „Swan River Colony“ separat verwaltet). Die Behandlung der Sträflinge war roh und brutal. Kettenhaft und Prügelstrafe waren regelmäßige Strafmechanismen. Gelegentlich kam selbst Hungerkannibalismus (→Anthropophagie) vor. Obwohl die sog. „freie“ Einwanderung – allerdings in sehr geringen Umfang – bereits 1793 einsetzte und mit dem →Goldrausch ab den 1850er Jahren Menschen aus allen Teilen der Welt nach A. strömten u. sich die Charakter der brit. Kolonien in der 2. Hälfte des 19. Jh.s allmählich änderte, hat die „convict history“ A.s tiefe Spuren hinterlassen. Am auffälligsten ist es heute noch im australi-
schen Englisch, wo man in der umgangssprachlichen Konversation immer wieder das Wort „bloody“ (blutig) einwirft. Ausschluß d. Aborigines u. Selbstbestimmung der Europäer. Prägend für die weitere politische Entwicklung Australiens waren zwei Grundsatzentscheidungen, die in London gefällt wurden: Gouv. Richard Bourke (1777–1855) erließ im Auftrag der brit. Kolonialreg. am 10. Oktober 1835 eine Proklamation, die besagte, daß A. vor der Besetzung durch die Briten →„terra nullius“ gewesen wäre. Die rechtlichen u. politischen Konsequenzen dieser Proklamation, die bis 1992 gültiges Recht blieb, waren immens. Danach war A. „herrenloses“ Land. Aborigines, als die eigentlichen Ureinwohner des Landes, besaßen keinen Rechtstitel, ja das von ihnen seit Jahrtausenden besiedelte Land gehörte Großbritannien bzw. der brit. Krone. Die Anwesenheit der Aborigines darauf war demnach allenfalls geduldet und konnte jederzeit Sanktionen unterworfen werden, bis hin zur zwangsweisen Entfernung. Spätestens ab 1835 wurden die Aborigines, ohne deren Hilfe u. Unterstützung die Europäer die ersten Winter nicht überlebt hätten, zu Fremden in ihrem eigenen Land, die von den europ. Siedlern immer weiter in das sog. „Outback“ (Hinterland) zurückgedrängt wurden. Man versagte ihnen selbst die christliche Mission u. bestritt öffentlich ihr Menschsein. Die Geschichte des Kontakts der indigenen Bev. A.s mit den europ. Einwanderern ab dem frühen 19. Jh. bis hin nahe zur Gegenwart war, vielleicht noch stärker als in allen anderen europ. Siedlungskolonien, eine Verfolgungs- u. Leidensgeschichte. Das zweite wichtige Moment, das die zukünftige Entwicklung bestimmen sollte, war die Entscheidung der brit. Reg., den europ. Kolonien Selbstverwaltung zu gewähren. New South Wales u. Victoria erhielten 1855, Südaustralien u. Tasmanien 1856 eine eigene Verfassung u. Reg. Das nur dünn von Europäern besiedelte Westaustralien erreichte diesen Status 1890; Queensland erhielt schon bei seiner Gründung als eigene Kolonie 1859 ein Zweikammerparlament. Von der Gründung des austral. Bundesstaates bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese formal unabhängigen Kolonien schlossen sich 1901 zum „Commonwealth of Australia“, dem Bundesstaat Australien, zusammen. Westaustralien ist formal in der Präambel der austral. Bundesverfassung nicht erwähnt, weil sich die Reg. erst in allerletzter Minute zum Beitritt entschließen konnte. Eine Volksabstimmung über den Wiederaustritt Westaustraliens erhielt am 8. April 1933 eine Mehrheit von 68 %, doch wurde von der brit. Reg. – auch der Bundesstaat A. war bei aller Selbstverwaltung formal immer noch eine brit. Kolonie – eine Sezesssion nicht zugelassen. Hauptstadt war zunächst Melbourne, seit 1927 Canberra. Ein wesentlicher Grund für den Zusammenschluß der austral. Kolonien war außenpolitischer Natur gewesen. Queensland drängte auf die Übernahme der Kolonie Britisch-Neuguinea, konnte oder wollte aber die von London geforderten finanziellen Mittel dafür nicht aufbringen. Als erste außenpolitische Maßnahme des neuen Bundesstaates erfolgte im März 1902 die Übernahme der Verwaltung der nun „Papua“ genannten Kolonie. Wie im Falle Aotearoas betrieb das noch koloniale A. einen Subimperialismus im Pazifik. Die Bundesverfassung för69
A u s t r A l ie n
derte eine gesamtaustral. Nationalidentität – allerdings nur unter den Europäern. Die Verfassung erwähnte die Ureinwohner nur an zwei Stellen, negativ. Artikel 127 legte fest, daß „aboriginal natives“ bei Volkszählungen nicht mitzuzählen wären – eine Vorschrift, deren Konsequenzen weit über das Statistische hinausgingen –, Artikel 51 bestimmte, daß das Bundesparlament Gesetze beschließen können für the people of any race, other than the aboriginal race in any State, for whom it is deemed necessary to make special laws. Damit unterstanden die Aborigines bis 1967 einer nicht demokratisch legitimierten Sondergesetzgebung. Zu den ersten Maßnahmen des austral. Bundesstaates gehörte die Einführung der sog. „White Australia Policy“. Ein Bündel von Gesetzen sollte gewährleisten, daß A. einen „weißen“ Charakter erhielt u. das Übergewicht der angelsächsischen Einwanderer erhalten blieb. Zunächst ging es darum, die im 19. Jh. in Melanesien rekrutierten Arbeiter zurückzuführen. Zwischen 1863 u. der Jh.wende waren zwischen 50 000 u. 62 000 Melanesier, vornehmlich aus →Neukaledonien u. den Neuen Hebriden, freiwillig oder gezwungenermaßen (das berüchtigte „black birding“; „black birds“, „schwarze Vögel“ war der rassistische Ausdruck für Aborigines u. Melanesier; „blackbirding“ wurde das Einfangen oder Jagen genannt) nach Queensland gebracht worden, um dort auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Diese wurden jetzt deportiert oder nach Fidschi, das sich angeboten hatte, sie aufzunehmen, abgeschoben. Ein willkürlicher „dictation test“ sollte darüberhinaus sicherstellen, daß keine Asiaten nach A. einwanderten. Potentielle Einwanderer waren von 1901–1958 gezwungen, ein von einem Einwanderungsbeamten vorgelesenes Diktat aus 50 Wörtern zu bestehen. Um zu verhindern, daß in Englisch versierte, aber unerwünschte Einwanderer den Test bestanden, konnte das Diktat in „any European language“, später sogar in „any language“ gegeben werden. Vorbild für diese Gesetze war Südafrika, insb. →Natal. Das austral. Bundeswahlgesetz von 1902 schloß zudem „aboriginal natives“ aus Australien, Asien, Afrika u. den Pazifikinseln (mit Ausnahme der Maori) auf der Grundlage ihrer Abstammung vom Wahlrecht aus (Aborigines, Männer wie Frauen, erhielten das Bundeswahlrecht erst 1962). Für die austral. Regierungen bis unmittelbar nach dem →Zweiten Weltkrieg war diese „White Australia Policy“ eine Art austral. →Monroe-Doktrin oder, wie Premierminister Stanley Bruce (1883–1967) es im Juni 1926 ausdrückte, „fundamental and vital“ für A. In Europa bewunderte man A. als Land der sozialen Wunder, in dem Gewerkschaften u. die Labor Party die Politik bestimmten. Während des Ersten Weltkrieges emanzipierte sich A. weiter vom Mutterland, zum einen durch die eigene militärischen Leistung (→ANZAC, →Gallipoli), zum anderen mit der kategorischen Ablehnung, die brit. Befehlskette zu akzeptieren, wenn austral. Soldaten von brit. Offizieren wegen Befehlsverweigerung, Desertion etc. hingerichtet werden sollten. Zweimal (1916 u. 1917) lehnte die austral. Bev. zudem die von der Reg. geforderte Einführung der allgem. Wehrpflicht ab. Im Zweiten Weltkrieg setzte sich die austral. Reg. gegen Churchill durch, als nach dem Fall Singapurs die austral. Truppen Europa verließen, um im Pazifischen 70
Krieg gegen Japan zu kämpfen. A. u. Deutschland. A. bildete im 19. Jh. eines der kleineren Auswandererländer für Dt. Die dt. Einwanderer siedelten sich insbes. in Südaustralien (wo sie maßgeblich zum Aufbau der austral. Weinbauproduktion beitrugen) u. Queensland an. Zeitgenossen bemerkten immer wieder eine, im Gegensatz etwa zu den USA u. Brasilien, relativ schnelle Assimilation der Dt. in A. Dennoch wurden sie während des Ersten Weltkrieges unter Sondergesetzgebung gestellt, ihre Privatvermögen beschlagnahmt u. ihre Naturalisation rückgängig gemacht. Ein Teil wurde in Internierungslagern festgehalten. Die Neuguinea-Deutschen wurden nach Kriegsende von der austral. Bundesreg. pauschal enteignet u. ausgewiesen. Der erste dt. Botschafter nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1952 mit Protesten empfangen. Die dt. Einwanderung nach A. ist in den letzten Jahren wieder stärker geworden. Es existiert auch eine transtasmanische Übersiedlung von Dt. aus Aotearoa nach A. Nach dem Zensus von 2011 lebten insges. 108 002 Personen in A., die in Deutschland geboren waren. Damit gehören die Dt. zu den zehn stärksten Einwanderergruppen u. werden unter den Europäern nur von den Briten u. Italienern übertroffen. A. im 21. Jh. Die Bev. A.s ist nach der stufenweise Abschaffung der White Australia Policy in den 60er Jahren des 20. Jh.s immer polyethnischer geworden. Von 21 507 717 Einwohnern (Zensus 2011; darunter 548 368 Aborigines) sind, nach England u. Aotearoa, die meisten in Asien geboren: in China (318 969), Indien (295 362), Vietnam (185 039) und Philippinen (171 233). Chinesisch (Mandarin u. Kantonesisch: 600 083) ist in A. die nach Englisch meistgesprochene Sprache. Es ist demnach kein Zufall, daß sich A. in den vergangenen Jahrzehnten politisch u. institutionell (sog. Dialogpartner in ASEAN st. 1974, Gründungsmitglied Asia Development Bank 1966, Gründungsmitglied East Asia Summit 2005, Asian Football Confederation st. 2006 – zuvor Oceania Football Confederation) eher nach Asien, insb. Südostasien hin orientiert, als in die pazifische Inselwelt. Demgegenüber fällt auf, daß sich die austral. Reg. auffallend abweisend gegenüber Asylanten verhält. Diese werden außerhalb von A. im feucht-tropischen Klima von →Nauru und der Inselprovinz Manus →Papua-Neuguineas festgehalten – gegen eine finanzielle Entschädigung an die jeweiligen Landesreg., die trotz Unabhängigkeit bis heute in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu A. stehen. Zu A. gehören sieben sog. „remote offshore territories“, vom Stammland weit entfernte Territorien, darunter Norfolk Island im Osten, Christmas Island u. die Cocos (Keeling) Islands (1978 von A. einem Privateigner abgekauft) im Indischen Ozean sowie, völkerrechtlich umstritten, das sog. austral. Antarktisterritorium. L allgem.: Hermann Mückler u. a. (Hg.), Australien, Wien 2013. Johannes Voigt, Geschichte Australiens, Stuttgart 1988. Ders., Geschichte Australiens u. Ozeaniens, Köln 2011. Aborigines →Aborigines. Sträflingskolonie: Paul Collins, Hell’s Gates. The Escape of Tasmania’s Convict Cannibal, South Yarra 2004. David Hill, 1788. The Brutal Truth, Sydney 2008. Bundesstaat u. Verfassung: J. A. La Nauze, The Making of the Australian Constitution, Carlton 1972. Frank McGrath, The Framers of the Aust-
A u to ri tÄ re r eg i m e i n lAtei n A m eri k A
ralian Constitution, Brighton-le-Sands 2003. John Quick / Robert Garran, The Annotated Constitution of the Australian Commonwealth, Sydney / Melbourne 1901, Ndr. Sydney 1976. Queensland Labor Trade: Tracey Banivanua-Mar, Violence and Colonial Dialogue. The Australian-Pacific Indentured Labor Trade, Honolulu 2007. White Australia Policy: A.C. Palfreeman, The Administration of the White Australia Policy, London 1967. Myra Willard, History of the White Australia Policy to 1920, New York 1923, Ndr. 1968. Keith Windschuttle, The White Australia Policy, Paddington 2004 (revisionistisch). Erster Weltkrieg: Gerhard Fischer, Enemy Aliens, St. Lucia 1989. Daniel Marc Segesser, Empire u. Totaler Krieg: Australien 1905–1918, Paderborn 2002. Zu dt. Einfluß u. dt. Einwanderung: Arnold Beuke, Werbung u. Warnung. Australien als Ziel dt. Auswanderer i. 19. Jh., Bern u. a. 1999. Jürgen Tampke / David Walker (Hg.), From Berlin to the Burdekin. The German Contribution to the Development of Australian Science, Exploration and the Arts, Kensington 1991. HE RMANN HI E RY Auswanderung im 17. und 18. Jahrhundert. Die kolonialzeitliche A. nach Nordamerika weist in demographischer, ethnischer und religiöser Hinsicht regionale Spezifika auf. Die meisten Migranten in die 1607 bzw. 1634 gegründeten Chesapeake-Kolonien Virginia und Maryland waren unfreie Kontraktarbeiter (indentured servants, →Vertragsarbeit), meist ledige junge Männer aus den engl. Mittel- und Unterschichten. Aus der Minderheit der freien Einwanderer rekrutierte sich die koloniale Elite. Im Gegensatz dazu war die Great Migration in die Neuenglandkolonien (ca. 25 000 Auswanderer 1629–1642) eine Familien- und Gruppenwanderung von häufig puritanisch gesinnten Farmern und Handwerkern. In der ndl. Kolonie am →Hudson (seit 1664 bzw. endgültig ab 1674 New York) siedelten Wallonen und Deutsche, am →Delaware Skandinavier. Die im späten 17. Jh. gegründeten Kolonien New Jersey, Pennsylvania und Carolina zogen engl. und schottische Quäker, →Hugenotten und dt. Pietisten an. Die Migration nach Neu-Frankreich (→Kanada) war im Vergleich mit den engl. Kolonien zahlenmäßig geringer, doch führten hohe Geburtenraten zu demographischem Wachstum. Im 18. Jh. übertraf die A. nach Nordamerika aus Schottland, Irland und dem Heiligen Römischen Reich diejenige aus England. Die Mehrzahl der 111 000 Deutschen, die 1683–1775 nach Nordamerika kamen, wanderte über Philadelphia in die mittelatlantischen Kolonien ein; Schotten und Iren siedelten in Pennsylvania, Virginia und den Carolinas. Bis zur →Am. Revolution war ein Großteil der Migranten unfrei: Neben Kontraktarbeitern wurden 50 000 brit. Sträflinge v. a. nach Maryland und Virginia deportiert. Virginia D. Anderson, New England’s Generation, Cambridge 1991. Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg, Münster 2004. Marianne S. Wokeck, Trade in Strangers, University Park / PA 1999. MARK HÄBE RL E I N
Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Das 19. und 20. Jh. waren gekennzeichnet durch eine gewaltige Expansion globaler Mobilität; auch die A. gehört in die-
sen Zusammenhang. (A. meint hier das Verlassen des bisherigen Rechtsraums mit dem Vorhaben, sich permanent in einem anderen Rechtsraum niederzulassen). Gründe für die stark angestiegene Mobilität lagen in erster Linie in der globalen ökonomischen Entwicklung (z. B. →Industrialisierung) und in deren Folgewirkungen für demographische (z. B. Bevölkerungswachstum) und gesellschaftliche (z. B. Gewährung der Reisefreiheit, Urbanisierung) Rahmenbedingungen. Begünstigt wurde der A.s-Prozeß durch die bereits in früheren Jh.en ausgebildeten interkontinentalen Verbindungen, die in dieser Phase intensiviert wurden. Technische Innovationen und der Ausbau von Wirtschafts-, →Transport- (Schiffsverkehr, Ausbau des Eisenbahnnetzes) und Informationsnetzwerken trugen zur Ausweitung der A. bei. In den 200 Jahren wanderten nach Schätzungen ca. 180 Mio. Menschen aus ihren Herkunftsgebieten aus. Die Ziele lagen zum einen im kontinentalen Umfeld (z. B. Migration innerhalb →Amerikas, Europas, →Südostasiens oder Zentralafrika), zum anderen in transozeanischen Gebieten (z. B. A. aus Asien nach Nordamerika, europäische A. nach Nord- und Südamerika). Exemplarisch für den A.sProzeß des 19. und frühen 20. Jh.s steht in eurozentrischer Perspektive die transatlantische sog. freiwillige A. von Europa nach Amerika, die in dieser Zeitspanne mit ca. 40–50 Mio. Migranten ihren Höhepunkt erreichte. Einen großen Anteil am A.s-Prozeß des 19. und 20. Jh.s nahm die sog. unfreiwillige Migration ein, die meist durch gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen sowohl in der Ausgangsregion als auch im Zielgebiet hervorgerufen wurden (z. B. Verschleppung versklavter Afrikaner in die Amerikas, →Deportation krimineller oder gesellschaftlich unerwünschter Personen, Flucht und Vertreibung auf Grund kriegerischer Auseinandersetzungen). Nachhaltige, bis in die Gegenwart reichende Folgen der globalen Migration des 19. und 20. Jh.s spiegeln sich auf wirtschaftlicher Ebene in der Entstehung neuer Märkte und der Umverteilung ökonomischer Leistungen, auf gesellschaftspolitischer Ebene u. a. im Entstehen neuer (trans-)nationaler Identitäten und in der Herausbildung sog. Diaspora. Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa, Paderborn 2008. SA BIN E H EERWA RT Autoritäre Regime in Lateinamerika. →L. hat eine lange Tradition des Autoritarismus. Dieser läßt sich auf die pyramidale Gesellschaftsordnung in der Kolonialzeit, die Herrschaftsbeziehungen im →Encomienda- und Haciendasystem (→Hacienda) sowie auf den →Caudillismo im 19. Jh. zurückführen. Obwohl seit der Unabhängigkeit alle Länder lange Phasen der (formalen) Demokratie hatten, wurde der Prozeß der Demokratisierung immer wieder durch Pronunicamientos, Putsche und militärischen →Interventionismus unterbrochen. In L. ist der Autoritarismus Teil der politischen Kultur. In den 1960er und 1970er Jahren herrschten fast in allen Ländern autoritäre Regime, welche Unterschichten, Indigene, Schwarze und Mulatten (→Casta) von der Macht fernhielten. Autoritarismus war ein wichtiges Merkmal dieser Epoche. In →Mexiko herrschte mit dem Partido Revolucionario Institucional (PRI) eine hegemoniale Partei. In →Kuba 71
A u tor i t Ä r e r e g i m e i n l Atei n A m e r i k A
dominierte ein staatssozialistisches Einparteienregime mit seinem unangefochtenen líder Fidel Castro an der Spitze. Einzig in →Kolumbien, →Venezuela und Costa Rica waren die demokratischen Strukturen etwas stärker verwurzelt – wenngleich auch hier mit Einschränkungen. Der Autoritarismus als Systemtyp unterscheidet sich grundlegend von der Demokratie und dem Totalitarismus. Nach der typologischen Einordnung von Juan J. Linz zeichnet er sich in erster Linie durch einen begrenzten Pluralismus aus, weil der Handlungsspielraum von politischen und gesellschaftlichen Akteuren limitiert ist. In autoritären Systemen konzentriert sich die Macht in einer begrenzten Gruppe, die das Land zentralistisch regiert und verwaltet, die Gewaltenteilung ist beschränkt. Die Unterschichten werden meist mit klientelistischen Mechanismen oder mittels korporativistischer Strukturen eingebunden, ihre direkte politische Partizipation ist dagegen gering. Eine übergreifende, verbindende Ideologie ist kaum feststellbar, zumal die Machthaber in ihren Diskursen nur mit ideologischen Versatzstücken operieren. Sie geben fast immer vor, einen nationalen Auftrag zu besitzen. Häufig vertreten sie eine wirtschaftliche Modernisierung von oben. Außerdem rechtfertigen sie sich durch die (gewaltsame) Herstellung von Ruhe und Ordnung. In autoritären Regimen ist der Mobilisierungsgrad normalerweise gering. Es gibt jedoch auch eine Variante des populistischen Autoritarismus. Die Tatsache, daß sich in den 1960er und 1970er Jahren auch in den wirtschaftlich am meisten entwickelten Staaten L.s autoritäre Regime etablierten und sich somit kein stringenter Zusammenhang zwischen Modernisierung und Demokratie herstellen läßt, schien der Forschung erklärungsbedürftig. Warum regierten von 1964–1985 in →Brasilien, von 1966–1970 sowie 1976–1983 in →Argentinien, von 1973–1990 in →Chile und von 1973–1985 in Uruguay Militärregime, die Partizipationsforderungen von Unterschichten mit Repression beantworteten? Guillermo O’Donnell erklärt dies mit dem Konzept des „bürokratischen Autoritarismus“. Unter dieser Vokabel versteht er exklusive und von keiner mobilisierungsfähigen Partei getragene Herrschaft. Die Entscheidungsträger rekrutieren sich aus einer kleinen Gruppe führender Militärs sowie Technokraten. Sie versuchten, ein bestimmtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu implementieren. In Argentinien und Brasilien vertieften die Machthaber die →Industrialisierung in enger Zusammenarbeit mit ausländischen Investoren und indem sie die Auflagen für Arbeitgeber hinsichtlich der sozialen Verpflichtungen lockerten. In Chile hatten ab 1975 die neoliberalen „Chicago Boys“ (→Chicago) das Sagen auf ökonomischem Gebiet. Eine andere Variante autoritärer Herrschaft war in →Paraguay, den zentralam. und karibischen Staaten Nicaragua, El Salvador, →Guatemala sowie der Dominikanischen Rep. zu beobachten. Diese Militärdiktaturen setzten nicht auf die verstärkte Industrialisierung, sie dienten vor allen Dingen der Machterhaltung traditioneller Eliten, die im Großgrundbesitz verwurzelt waren, sowie Familienclans, welche die Armee als Aufstiegsvehikel benutzten. Eine wiederum andere Entwicklung war auf Kuba festzustellen, dessen Führungsgruppen nach der Revolution von 1959 mit radikalen Mitteln die 72
Verkleinerung des Privatbesitzes durchführten, um eine weitgehend egalitäre Gesellschaft zu erreichen. Auch für die Militär-Reg. in →Peru von 1968–1980 standen soziale Postulate im Vordergrund. In allen a.n R.n L.s waren die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten durch Gewalt von oben gekennzeichnet. Die Militärregime verfolgten nicht nur bewaffnete Aufständische, sondern auch die zivile Opposition (Journalisten, Gewerkschaftler, Menschenrechtsvertreter, Indigene und Schwarze). Sie denunzierten Oppositionelle pauschal als Subversive, Asoziale und Antipatrioten. Sie schränkten die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die politischen Parteien, die Gewerkschaftsrechte etc. ein. Die Reg.en der →USA, welche die Militärputsche z. T. förderten oder zumindest tolerierten, schauten weg. Es kam zu systematischen Menschenrechtsverletzungen und massenhafter Emigration politischer Flüchtlinge in die USA und nach Westeuropa. Die Militär-Reg.en versuchten, einen Wertewandel in der Gesellschaft durch die Übertragung hierarchischer, auf Disziplin und Gehorsam beruhender Prinzipien herbeizuführen. Dadurch versuchten sie die Akzeptanz ihrer Wirtschafts- und Sozialreformen, die einseitig die Besitzenden begünstigten, in der Bevölkerung zu erzwingen. Folgende Gründe lassen sich für die Entstehung der neuen lateinam. Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre anführen. Sie entstanden vor dem Hintergrund des strukturellen Wandels in Zusammenhang mit der raschen →Bevölkerungsentwicklung, der →Urbanisierung sowie der Mobilisierung und den Partizipationsforderungen von Unterschichten, die mit dem Übergang zur →importsubstituierenden Industrialisierung noch zunahmen. Auf Grund nicht erfüllter Erwartungen sowie wirtschaftlicher Krisen bildeten sich →Guerilla-Organisationen. Diese sowie die chaotischen Zustände in manchen Ländern waren meist der Rechtfertigungsgrund der Militärs für ihre Putsche. Ihr Eingreifen ist vor dem Hintergrund des gewandelten Selbstbildes der Militärs als „Retter der Nationen“ zu interpretieren. Sie beriefen sich dabei auch auf die Doktrin der nationalen Sicherheit. Diese war die einigende Klammer, die sie mit den USA verband. In Zeiten des Kalten Krieges unterstützten die Reg.en in Washington Militärputsche teilweise aktiv. Der Niedergang der autoritären Regime in den 1980er Jahren erfolgte im größeren Zusammenhang der Beendigung des Ost-West-Gegensatzes. Es gab nun im Westen keine Rechtfertigung mehr für die Unterstützung von Diktaturen. Militär-Reg.en scheiterten aber v. a. an ihrer eigenen wirtschaftlichen Inkompetenz. Mit Ausnahme Chiles, das nach langen Krisenjahren unter Pinochet mit einem harten neoliberalen Kurs Wachstum (mit Rückschlägen) erzielte, versagten die Militärs auf diesem Gebiet komplett. Eine wichtige Rolle spielte dabei die gigantische Außenverschuldung. Mit Milliardenkrediten aus dem Ausland hatten die Militärregime auch unproduktive Projekte gefördert: zweifelhafte Industrieunternehmen, Konsum- und Rüstungsausgaben sowie die Deckung von Lücken in den aufgeblähten Staatshaushalten. Die „dritte Welle der Demokratisierung“ (Samuel Huntington) beendete die lateinam. Militärdiktaturen. Kuba ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Seit dem Beginn der Re-Demokratisierung sind
A ztek en rei ch
in L. Militärputsche nur noch selten. Das autoritäre Legat ist jedoch noch keineswegs überwunden. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen ist Teil der lateinam. Geschichtspolitik. Juan J. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000. Dieter Nohlen, Autoritäre Regime, in: Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt, Hamburg 1989. Guillermo O’Donnell, Bureaucratic Authoritarianism, Berkeley 1988. T HOMAS F I S CHE R Avería. Die Abgabe auf den span. Kolonialhandel, mit der die militärische Sicherung des Schiffsverkehrs finanziert wurde. Durch vermehrte Piratenangriffe sah sich Spanien gezwungen, die Handelsmarine auf der →Carrera de Indias von Kriegsschiffen schützen zu lassen. Auf alle transportierten Güter wurde daher ab 1521 eine Abgabe von zunächst 1 % des Warenwerts erhoben. Dies galt auch für Waren, die im Namen der Krone verschifft wurden. Mit zunehmenden Piratenangriffen stieg die Höhe der A. erheblich an. 1644 legte ein kgl. Dekret den Höchstsatz auf 12 % fest. Die Organisation oblag dem Consulado de Cargadores a Indias in Sevilla. Ab 1660 lösten feste Abgaben die prozentuale Besteuerung ab. Guillermo Céspedes del Castillo, La avería en el comercio de Indias, in: Anuario de Estudios Americanos 2 (1945), 515–698. NI E L S WI E CKE R Awadh. Eine Provinz des Mogulreiches (→Moguln), deren Gouv.e den Titel „Nawab-Wazir“ trugen. Seit den 1720ern verfolgten sie die Selbständigkeit des Landes und erweiterten das Staatsgebiet mittels Expansionskriegen. Dieser Prozeß der Territorialisierung war auch in anderen Provinzen des Mogulreiches zu beobachten, so im benachbarten →Bengalen. 1722–65 bestand das Nawabtum von A. als autonomer Staat innerhalb des Mogulreiches, dessen Oberhoheit und damit Legitimität jedoch nicht infrage gestellt wurde. Nach 1765 nahm indessen der Einfluß der Briten zu. Mittels Subsidiärverträgen unterminierten sie binnen 3 Jahrzehnten die politische und wirtschaftliche Basis des Landes. Mit besagten Verträgen verpflichteten sich die Nawab zur Stationierung brit. Truppen, über deren Einsatz sie anfänglich noch frei verfügen konnten, deren Unterhalt sie jedoch aus der eigenen Staatskasse bestreiten mußten. Als die Nawab 1803 ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten, annektierten die Briten einen Teil des Staatsterritoriums. Gezielt destabilisierten die brit. Vertreter am Hof der Nawab fortan deren Macht und Ansehen. Unter dem Vorwand der schlechten Staatsverwaltung (mismanagement) annektierten die Briten schließlich 1856 das gesamte Territorium A.s (→Ind. Reiche). Ein Jahr später war die Region eines der Zentren des →Ind. Aufstands. Kulturell orientierten sich die Nawab zunächst noch an der dominierenden →Kunst, Architektur und Literatur des Mogulen-Hofs in →Delhi. In der ersten Hälfte des 19. Jh.s entwickelten Kulturschaffende dann einen spezifischen Lakhnau-Stil öffentlicher wie auch privater Prachtbauten, benannt nach der neuen Hauptstadt Lakhnau (brit.: Lucknow). Auch der Literaturbetrieb florierte mit neuen Formen des Erzählens und einer Sprachreform, die ein persianisiertes →Urdu zur Literaturspra-
che erhob. Zugleich förderte der Nawab-Wazir gezielt Wissenschaft und Gelehrsamkeit, was die Reputation Lakhnaus als südasiatisches Kulturzentrum weit über die Landesgrenzen A.s hinaus etablierte. Michael H. Fisher, A Clash of Cultures, London 1988. Surendra Mohan, Awadh Under the Nawabs, Delhi 1997. Abdul H. Sharar, Lucknow, London 1975. MIC H A EL MA N N
Ayala, Manuel José de, * 26. März 1728 Panama-Stadt, † 8. März 1805 Madrid, □ unbek., rk. Nach Abschluß seines Studiums und einer ersten Anstellung im Verwaltungsdienst kam A. 1753 nach Spanien und blieb dort für den Rest seines Lebens. 1763 übernahm er die Stellung des Archivars bei der Secretaría de Estado y del Despacho Universal de Indias. Konfrontiert mit einer großen Unordnung in den Beständen der Überseeadministration als Folge der Feuersbrunst von 1734, begann A. damit, die „Las Indias“ betr. Gesetze und Verordnungen systematisch zu erfassen und zusammenstellen. Diese gewaltige Aufgabe nahm ihn über Jahre in Anspruch und ruinierte sein Vermögen, da er die Hilfskräfte, die er benötigte, um das Vorhaben zu Ende zu bringen, aus eigener Tasche bezahlte. 1770 trat A. die Nachfolge von Antonio Arnuero in der Secretaría de la Superintendencia General de Azogues an. Das Amt bekleidete er bis 1790. Eine Episode blieb hingegen die Mitarbeit am Nuevo Código de leyes de Indias von Juan Crisóstomo de Ansotegui und Miguel José Serrador (seit 1776), da er vorzeitig von diesem Posten wieder abberufen wurde. Am 17.2.1788 ernannte der Kg. A. schließlich zum Director y Depositario de las Temporalidades de los jesuitas expulsos und erhob ihn in den Rang eines Ministro de Capa y Espada del Consejo de Indias. A. hinterließ ein außerordentlich umfangreiches Werk, das aus vier Teilen besteht: der „Colección de Cédulas y Consultas“, dem „Diccionario de Gobierno y Legislación de Indias“, der „Miscelánea“ und den „Notas a la Recopilación de las Leyes de Indias“. Für die Forschung zur Überseeverwaltung und -gesetzgebung kommt A.s Œuvre eine zentrale Bedeutung zu, wenngleich sie für das 16. und 17. Jh. geringer ist als für das 18. Das Werk beschließt eine Epoche und dokumentiert eindrucksvoll sowohl die Leistungen und als auch die Fehlleistungen der Verrechtlichung der span. Herrschaft in →Lateinamerika. Manuel Josef de Ayala, Diccionario de Gobierno y Legislación de Indias. Edición de Milagros del Vas Mingo, 13 Bde., Madrid 1988–1996. Ders., Notas a la Recopilaciión de Indias. Orígen e historia ilustrada de las leyes de Indias, 2 Bde., Madrid 1945/46. Marta Milagros del Vas Mingo, Manuel José de Ayala y su labor para la historiografía jurídica, in: Revista de Indias 50 (1990), 593–603. D A N IEL D A MLER Ayurveda →Medizin, indigene in Südasien Aztekenreich. Wie bei vielen Kulturen liegt der Ursprung dessen, was als Reich der Azteken bezeichnet wird, in mythischer Vergangenheit. Die Mexica, wie sie sich selbst nannten, waren ursprünglich eine von zahlreichen nomadischen bzw. semi-nomadischen Gruppen, 73
b A c A lA o
die im Verlauf des 12. und 13. Jh.s in das Hochtal von →Mexiko einwanderten und dort seßhaft wurden. Ihrem Ursprungsmythos nach lebten sie an einem legendären Ort, dem See Aztlan, von dem sich die moderne Bezeichnung Azteken herleitet, die sich seit dem 18. Jh. als Bezeichnung durchsetzte. Der Legende nach wies ihr Schutz- und Kriegsgott Huitzilopochtli sie an, in den Süden zu ziehen und sich an dem Ort anzusiedeln, an dem sich ein Adler mit einer Schlange in den Klauen auf einem Kaktus niederließe. Dieses Zeichen, so die Sage, wurde 1325 auf einer ärmlichen, mit Schilf bewachsenen Insel im Texcoco-See gesichtet. Es ist dies der Ort, an dem daraufhin die beiden Zwillingsstädte Tlatelolco und Tenochtitlan erbaut wurden. Auf der Staatsflagge der heutigen Rep. Mexiko verweisen die Darstellungen von Adler, Schlange und Kaktus auf diesen Gründungsmythos. Zunächst standen die Mexica unter der Dominanz des vorherrschenden Stadtstaates des Hochtales, Azcapotzalco. Sie mußten Tribut zahlen und militärische Dienstleistungen erbringen. Der Wendepunkt für die Mexika kam 1427 mit Itzcoatl (1360–1440), dem vierten Herrscher. Itzcoatl verbündete sich mit zwei weiteren am See gelegenen Stadtstaaten, Texcoco und Tlacopan (Aztekischer Dreibund) und führte einen erfolgreichen Krieg gegen Azcapotzalco. Diese Allianz war die Geburt dessen, was als A. bezeichnet wird. Bis zur →Eroberung durch die Spanier knapp 100 Jahre später (1519–1521) verfolgte der Dreibund unter zunehmender Dominanz von Tenochtitlan eine aggressive und erfolgreiche Expansionspolitik. Anders als das span. Imperium jedoch beruhte die Herrschaft der Mexica nicht auf territorialer Aneignung und Kolonisierung, sondern auf indirekter Herrschaft. Die Eliten der unterworfenen Stadtstaaten durften ihre Funktionen behalten, solange sie ihre Abhängigkeit gegenüber dem Dreibund anerkannten. Die Mexica verlangten erhebliche Tributzahlungen in Form von Arbeit, Militärdienstleistungen und Gütern (Lebensmittel, Handels- und Luxusartikel). Die Kontrolle von Handelsrouten und Ressourcen führte dazu, daß sich Tenochtitlan/Tlatelolco zu einer prosperierenden und mächtigen Stadt entwickelte, in der über 200 000 Menschen lebten. Den Nachfolgern Itzcoatls gelang es erfolgreich den Herrschaftsbereich auszuweiten und zu verstetigen. Auf Itzcoatl folgte dessen Neffe Motecuhzoma Ilhuicamina (1390–1464). Er begann mit dem Bau des Großen Tempels (Templo Mayor), dem politischen und religiösen Zentrum Tenochtitlans, das im Denken der Mexica den Mittelpunkt der Welt darstellte. →Moctezuma I. folgten drei seiner Söhne nach: Axayacatl (herrschte von 1469–1481), Tizoc (herrschte von 1481– 1486) und Ahuitzotl (herrschte von 1486–1502). In die Zeit von Axayacatl fiel die Eroberung der Schwesterstadt Tlatelolco durch Tenochtitlan (1473), das damit als ein eigenständiges altepetl (Stadtstaat) nicht mehr existierte und keinen eigenen Herrscher (tlatoani) mehr stellte. Von 1502 bis zu seinem Tod 1520 im Verlauf der Conquista war Moctezuma Xocoyotl (Motecuhzoma der Jüngere), ein Neffe des ersten Moctezuma, huey tlatoani (großer Sprecher – Herrscher) der Mexica. Auf Grund der expansiven und aggressiven Eroberungspolitik spielte der Krieg eine wichtige Rolle im Leben der Mexica. Krie74
gerischer Erfolg erwies sich als wichtig für die soziale Anerkennung und stellte eine Voraussetzung für eine Verbesserung des sozialen Status sowie für die Besetzung von Ämtern dar. Nicht-Adligen konnte Tributfreiheit gewährt und Land zur eigenen Nutzung zugewiesen werden. Gleichzeitig dienten die Kriege dazu, Gefangene zu machen, um sie den Göttern zu opfern. In der Forschung umstritten ist die Rolle der sog. „Blumenkriege“ (xochiyaoyotl), die allein zum Ziel gehabt haben sollen, Gefangene zu beschaffen. Den →Menschenopfern kam eine wichtige Funktion zu. Sie sollten das Fortbestehen des Kosmos gewährleisten, denn die Götter hatten sich selbst und ihr Blut für die Existenz der Welt und das Leben der Menschen geopfert. Die rituelle Hinrichtung von Kriegsgefangenen u. a. ausgewählten Opfern wurde in mesoam. Gesellschaften über Jh.e praktiziert, scheint aber bei den Mexica im 15. Jh. sowohl eine höhere Bedeutung als auch ein größeres Ausmaß erreicht zu haben. Nicht alle Stadtstaaten Zentralmexikos waren den Mexica tributpflichtig. Im Westen waren es mit dem Stadtstaat Tzintzuntzan die Tarasken (Michoacán), die über ein eigenständiges Herrschaftsgebiet verfügten. Entscheidender aber noch waren die Tlaxcalteca, die sich über Jahrzehnte der Hegemonie der aztekischen Allianz erfolgreich widersetzen. Der span. Eroberer Hernando →Cortés fandt in den Tlaxcalteca wichtige Verbündete im Krieg gegen die Mexica. Der Herausforderung durch die span. Eroberung konnte die Herrschaft der Mexica nicht bestehen. Viele der von den Mexica unterworfenen Stadtstaaten verbündeten sich gegen sie und mit den Spaniern und den alliierten Tlaxcalteca. Motecuhzoma Xocoyotl (Motecuhzoma der Jüngere) starb am 30.6.1520, als er versuchte, bei einem Aufstand der Mexica gegen die Spanier zu vermitteln, wobei indigene und span. Quellen unterschiedliche Versionen seines Todes berichten. Nachfolger wurde sein Bruder Quitlahuac II. (herrschte 1520), der allerdings kurz darauf an den von den Spaniern eingeschleppten →Pocken starb. Schätzungen zufolge fiel mehr als die Hälfte der indigenen Bevölkerung Zentralmexikos den →Seuchen aus Europa zum Opfer. Auf Quitlahuac II. folgte Motecuhzomas Neffe Quauhtemoc (ca. 1498–1525). Als Cortés und seine indigenen Verbündeten Tenochtitlan belagerten, leisteten Q. und die Mexica erbitterten Widerstand, was Quauhtemoc heute zu einem mexikanischen Nationalhelden macht. Trotzdem gelang es den Eroberern, die Stadt auszuhungern und vom Trinkwasser abzuschneiden. Nach vier qualvollen Monaten lag die einst prächtige Stadt in Schutt und Asche und Leichen stapelten sich in ihren Straßen. Mit der Kapitulation des letzten Herrschers der Mexica, Quauhtemoc, der nur wenige Jahre später auf Befehl von Cortés hingerichtet wurde (1525), endete am 13.8.1521 das A. Jürgen Geier, Azteken. Ausstellungskatalog. Köln 2003. Frances F. Berdan u. a. (Hg.), Aztec Imperial Strategies, Cambridge 1996. Hanns J. Prem, Die Azteken, München 4 2006. A N JA B R Ö C H LER Bacalao (port: Bacalhau). Trockenfisch, der in der Geschichte von →Sklaverei und →Kolonialismus v. a. als Sklavennahrung in den ibero-am. Plantagenkolonien,
bAh i A
als Schiffskost und als Unterschichtenessen bekannt ist. Im dt.-europäischen Sprachraum ist B. in zwei Formen verbreitet gewesen: erstens als Stockfisch, d. h., bis an die Schwänze aufgeschnittene Fische (Kabeljau, Dorsch, aber auch Seelachs, Schellfisch und Leng), an Stöcken an der Luft getrocknet und zweitens als Klippfisch, d. h., gesalzene Fische, die auf Klippen zum Trocknen ausgelegt waren. In der mittelalterlichen Eßkultur des lateinischen Europa spielten getrocknete und eingesalzene Fische (auch Hering) eine extrem wichtige Rolle für die Massenernährung während der Fastenzeiten. Die Hanse und speziell Lübeck verdankten dem Handel mit gesalzenem und getrocknetem Fisch Stellung und Reichtum. Als die europäische Expansion in den Atlantikraum einsetzte, spielte Fisch weiterhin eine wichtige Rolle, auch als Ernährung für Matrosen und Soldaten. Wichtige Motive der transatlantischen Expansion, v. a. im Nordatlantik, waren die Suche nach neuen Fischgründen (Biskaya-Neufundland; Irland-Neuenglandbänke; Bretonische Küste, Sankt-Lorenz-Gebiet). Auf den Sklavenplantagen v. a. →Brasiliens und →Kubas wurden Sklaven entweder mit →Tasajo (auch: tampico), luftgetrocknetem Rinder- oder Pferdefleisch (→Pferde), meist aus Uruguay, →Argentinien oder Nordmexiko, oder B. verköstigt. Entspr. des Export-Import-Musters großer Plantagenwirtschaften wurde nach Kostengründen entweder Tasajo (meist billiger) oder B. eingeführt, dazu kam →Reis als Sklavennahrung, aus Westafrika („roter Reis“) oder aus Nordamerika (South Carolina, Georgia). Mark Kurlandsky, Kabeljau. Der Fisch, der die Welt veränderte, München 2000. MI CHAE L Z E US KE Bagdad-Bahn. Im Okt. 1888 erhielt ein dt. Konsortium unter Führung der Dt. Bank in Konkurrenz zu frz. und brit. Finanzinstituten den Zuschlag zu Bau und Finanzierung einer 1 000 km langen Eisenbahnlinie von Haiderpaşa am Bosporus über Ankara nach Konya im Inneren Anatoliens. Im wesentlichen von der Philipp Holzmann AG errichtet, war die Strecke 1896 befahrbar. Der osmanische Sultan Abdul Hamid II. wandte sich noch während der Bauarbeiten an den dt. Ks. mit dem Wunsch nach technischer und finanzieller Unterstützung des Reiches für die Weiterführung der Bahn von Konya nach Bagdad. Dadurch sollte die bessere wirtschaftliche und militärische Anbindung Mesopotamiens an die Machtzentrale in Konstantinopel erreicht werden. Am Widerspruch Großbritanniens und Rußlands scheiterte das Vorhaben zunächst. Nach der 2. Orientreise Wilhelms II. 1898, bei der er sich in der aufsehenerregenden Damaszener Rede als „Freund der 300 Mio. Muhamedaner“ darstellte, kam es jedoch, vom Ks. beeinflußt, zu einer vorläufigen Vereinbarung, der nach schwierigen Verhandlungen im März 1903 eine Konzessionserteilung an die Société du Chemin de Fer Ottoman d’Anatolie folgte. An dieser Gesellschaft war die Dt. Bank maßgeblich beteiligt. Deren Vorstandssprecher Georg (von, 1899) Siemens gelang es, 70 % der zunächst benötigten Mittel in Deutschland aufzubringen und frz. Finanzkreise um die Banque Ottomane für ca. 30 % Kapitalbeschaffung an internationalen Finanzmärkten zu gewinnen. Die durch Siemens auch aus politischer Rücksichtnahme gewünschte Einbindung von
Banken der Londoner City scheiterte jedoch. Noch 1903 begann das Bauvorhaben, das die Anatolische BahnbauGesellschaft übernahm, wobei Philipp Holzmann seine Erfahrung einbrachte. Die jungtürk. Unruhen führten 1906 dazu, daß zeitweise die Arbeiten ruhten. 1908 übernahm der durch das erfolgreiche Hedschas-Bahnprojekt (→Hedschas-Bahn) als Fachmann ausgewiesene Heinrich →Meissner-Pascha die Leitung. Dem Vorstandsmitglied der Dt. Bank Karl →Helfferich gelang es 1914, den brit. politisch wie wirtschaftlich geprägten Antagonismus zu überwinden. Am 15.6.1914 kam eine brit.-dt. Vereinbarung zustande, die die Einbindung brit. Kapitals und die Weiterführung der Strecke bis Basra zum Ziel hatte. Der Weltkrieg machte jedoch die Realisierung zunichte. Bei Kriegsausbruch konnte die Bahnstrecke erst in Teilbereichen genutzt werden; Lücken bestanden im Taurus-Gebirge, in Syrien und dem nördlichen Mesopotamien. Bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches waren insg. 1 100 km fertiggestellt. Es dauerte noch bis 1940, bis die Route durchgehend befahrbar war. Jürgen Franzke (Hg.), Bagdadbahn und Hedjazbahn, Nürnberg 2003. Manfred Pohl, Von Stambul nach Bagdad, München / Zürich 1999. G ERH A R D H U TZLER Bahamas. Inselstaat nördlich von →Kuba, Landfläche 13 939 km2, verteilt auf ca. 700 Inseln, von denen 29 bewohnt sind; der Name leitet sich von span. baja mar (flaches Meer) ab. Die Bevölkerung (353 658, Zensus 2010) ist zu über 91 % afr.-stämmig, der Rest sind Weiße (5 %) und Mulatten (→Casta; 2 %). Auf der Bahamainsel Guanahani betrat →Kolumbus am 12.10.1492 erstmals am. Boden. Nachdem die indianische Urbevölkerung europäischen Krankheiten zum Opfer gefallen oder zum Arbeiten aufs Festland verschleppt worden war, diente die Inselgruppe Piraten als Schlupfwinkel. Ab 1648 wurden die B. von engl. Kolonisten besiedelt, seit 1718 waren sie brit. →Kronkolonie. Zur Bewirtschaftung ihrer Baumwollplantagen importierten die Siedler zahlreiche Sklaven aus Afrika. Nach der Unabhängigkeit der →Vereinigten Staaten siedelten zudem viele Loyalisten mit ihren Sklaven auf die B. über. 1834 wurde die →Sklaverei abgeschafft, die B. profitierten allerdings weiterhin als Zwischenhändler des Sklavenhandels mit dem →Süden der USA. Während des →Zweiten Weltkrieges verpachtete Großbritannien Teile der B. an die USA, die die Inseln als Militärbasen nutzten. 1973 wurden die B. in die Unabhängigkeit entlassen. Ihre Wirtschaft wird v. a. vom →Tourismus und der für ausländisches Kapital sehr attraktiven Steuergesetzgebung getragen. Paul Albury, The Story of the Bahamas, London 1975. C H R ISTO PH K U H L
Bahasa Indonesia →Malaiisch in Ndl.-Indien Bahia. Ursprünglich der Name einer Kapitanie im nordöstlichen →Brasilien, geht zurück auf eine große Bucht (port.: baía, alte Schreibweise: bahia), welche die Portugiesen 1501 an Allerheiligen (port.: Todos os Santos) auf halber Höhe zwischen Äquator und südlichem Wendekreis an der brasilianischen Küste entdeckten, besiedelt von verschiedenen, kollektiv als Tupinambá bezeichne75
b A h m A ni- sultA n At
ten indigenen Völkern. 1534 wurde die Gegend von der Krone als Schenkung vergeben. Obwohl die Kapitanie Bahia de Todos os Santos günstige Voraussetzungen für eine Kolonisierung bot und zunächst auch fruchtete – die Bucht hatte bereits Färbholzhändlern einen günstigen Ankerplatz geboten und mit dem Caramurú gab es einen mit der indigenen Bevölkerung lebenden und mit deren Kultur und Sprache bestens vertrauten Portugiesen –, mißlang letztlich der Siedlungsversuch. 1549 wurden im Zuge der bürokratischen Zentralisierung durch die Errichtung eines →Governo Geral die Rechte der alten donatária zugunsten einer kgl. Kapitanie eingezogen und zugleich die Stadt São Salvador da Bahia de Todos os Santos als Sitz des Generalgouvernements gegründet. Die Bedeutung der Stadt als Reg.ssitz wuchs 1609 mit der Einsetzung eines Appellationsgerichtshofes als oberste Rechtsinstanz der Kolonie. Nach der Verlegung des Generalgouvernement nach →Rio de Janeiro 1763 verlor B. an Bedeutung als weltliches Herrschaftszentrum. Kirchlich wurde durch Herauslösung Brasiliens aus der Diözese von Funchal (Madeira) im Gefolge der Gründung des Bistums B. 1551, 1677 zum Erzbistum erhoben, zur Metropole. Bis zum Ende der Kolonialzeit unterstanden ihr die vier Suffraganbistümer des Estado do Brasil und auch diejenigen von →Luanda (→Angola) und São Tomé (→São Tomé und Príncipe). Mit dem Beginn des Zuckeranbaus (→Zucker) wurde B. auch zum ökonomischen Zentrum der zunehmend atlantisch ausgerichteten port.-brasilianischen Wirtschaft. V. a. in dem recôncavo genannten Küstensaum um die Bucht, wo gute klimatische Verhältnisse und ein fruchtbarer Boden gegeben waren, gedieh der Zuckerrohranbau. Zahlreiche Flüsse dienten nicht nur dem Antrieb der vielen →Engenhos, sondern boten auch Transportmöglichkeiten nach Salvador mit dem leicht zu schützenden Naturhafen und Anbindung an den Handel mit Europa. Auf Grund des lukrativen Zuckergeschäftes wurde B. Ziel von Eroberungsversuchen der ndl. →Westindienkompagnie (WIC) während der Auseinandersetzungen mit Spanien, konnte aber im Gegensatz zu →Pernambuco nur für kurze Zeit besetzt werden. Eine weitere Kulturpflanze B.s war der →Tabak, der auch als Zahlungsmittel für afr. Sklaven angebaut wurde. Durch den hohen Bedarf an afr. Sklaven in der Zuckerwirtschaft wurde B. zu einem wichtigen Stützpunkt des →Sklavenhandels, über den viele Menschen verschiedener afr. Völker mit unterschiedlicher religiös-kultureller Prägung nach B. gelangten. Afro-brasilianische Kulte und afr. Einflüsse haben besonders in Musik, Tanz oder Volkskunst bis hin zur Küche ihre Spuren in B. hinterlassen. Anthony J. R. Russell-Wood, Fidalgos and Philanthropists, London / Berkeley 1968. Stuart B. Schwartz, Sovereignty and Society in Colonial Brazil, Berkeley, Ca. 1973. Luís Henrique Dias Tavares, História da Bahia, São Paulo / Salvador 102006. CHRI S T I AN HAUS S E R Bahmani-Sultanat. 1347 gründete Alauddin Bahman Shah, ein aufständischer Gouv. des Sultans Muhammad bin Tughluq (→Tughluq-Dynastie), in den südlichen Provinzen des →Delhi-Sultanats, das B.-S., das eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft und Politik des mit76
telalterlichen Dekkans spielen sollte. Seine Hauptstädte waren Gulbarga und, ab den 1420er Jahren, Bidar. Das Sultanat spielte v. a. in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s eine bedeutende Rolle und leistete unter dem Premierminister Mahmud Gawan wichtige Beiträge in →Bildung und →Kunst. Machtkämpfe innerhalb des Adels, v. a. zwischen der zugezogenen Elite (Afaqis) und dem alteingesessenen lokalen Adel (Dekhanis), führten im späten 15./frühen 16. Jh. den Niedergang herbei und endeten 1518 mit der Zersplitterung des Reichs in 5 eigenständige Sultanate: Ahmadnagar, Berar, Bidar, Bijapur (→Bijapur-Sultanat), →Golkonda; diese wurden im 17. Jh. dem Mogulreich (→Moguln) einverleibt. Satish Chandra, Medieval India, Delhi 1997. Haroon K. Sherwani, The Bahmanis of the Deccan, Delhi 1985. SO U MEN MU K H ER JEE
Baining-Massaker →St. Paul, Massaker von Bakari, Mtoro (eigentlich Mtoro bin Mwinyi Bakari), * ca. 1869 Dunda bei Bagamoyo / Tansania, † 14. Juli 1927 Berlin, □ unbek., musl. B. kam durch Vermittlung des Sprachwissenschaftlers Carl Velten (1862–1942), dem er bei Forschungen in →Dt.-Ostafrika assistierte, als „Sprachgehilfe“ an das Orientalische Seminar in Berlin. Tragische Berühmtheit erlangte er, als er zusammen mit seiner am 29.10.1904 in Charlottenburg standesamtlich angetrauten Frau Bertha, geborene Hilske, in seine Heimat Dt.-Ostafrika zurückkehren wollte. Hatten ihm auf Grund dieser Eheschließung bereits Teilnehmer seiner Sprachkurse Schwierigkeiten bereitet, weshalb er sich zur vorzeitigen Auflösung seines Anstellungsverhältnisses und zur Heimreise entschloß, war es in der nach rassischen Kriterien strukturierten Gesellschaftsordnung Dt.-Ostafrikas völlig undenkbar, daß ein Afrikaner eine dt. Frau ehelichen und mit ihr in dieser Kolonie zusammenleben konnte. Als das Ehepaar B. am 12.9.1905 in →Daressalam an Land gehen wollte, ordnete →Gouv. von →Götzen daher an, daß es umgehend mit dem bereits zur Ausreise benutzten Reichspostdampfer „Kanzler“ auf Kosten des Fiskus der Kolonie nach Deutschland zurückzukehren hatte. Dieser Vorfall trug dazu bei, im Dt. Reich und seinen Kolonien eine Diskussion über sog. „Rassenmischehen“ (→Mischehenverbote) zu entfachen. Nach Berlin zurückgekehrt, machte B. mittels Eingaben an den Ks. und durch Besuche in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes bzw. des →Reichskolonialamts auf das ihm und seiner Frau widerfahrene Unrecht aufmerksam. Von 1909 bis 1914 arbeitete er als Swahili-Lektor (→Swahili) am seinerzeit gerade gegründeten →Hamburgischen Kolonialinstitut. Seit 1914 wieder in Berlin gemeldet, bestritt er fortan seinen Lebensunterhalt durch Vortragstätigkeiten über seine ostafr. Heimat. Über weitere Versuche der kinderlos gebliebenen Eheleute B., nach Ostafrika auszureisen, ist nichts bekannt. Harald Sippel, Im Interesse des Deutschtums und der weißen Rasse, in: Jb. für afr. Recht 9 (1995), 123–159. Ludger Wimmelbücker, Mtoro bin Mwinyi Bakari, Daressalam 2009. Ludger Wimmelbücker / Harald Sippel: „… aus meiner Heimat verwiesen und hier in Deutschland
bAlf o u r decl A rAti o n
brotlos gemacht…“, in: Ulrich van der Heyden, (Hg.), Unbekannte Biographien, Berlin 2008, 182–216. HARAL D S I P P E L
Baker, Shirley Waldemar, * 1836 London, † 16. November 1903, Ha’apai / Tonga, □ Grabmal auf Lifuka, Ha’apai-Gruppe / Tonga, method. B. war Missionar der Wesleyan Methodist Missionary Society (WMMS) auf den Tonga-Inseln, wo er seit 1860 dem tonganischen Kg. Tupou I. half, einen „Code of Laws“ (1862) und eine Verfassung (1875) zu entwickeln. Aus England war B. 1852 nach Australien gelangt, wo er sich den Methodisten zugewandt hatte. 1860 zum Pastor ordiniert, wurde er von der Missionsgesellschaft im selben Jahr nach Tonga entsandt. Er trug wesentlich dazu bei, dem tonganischen Kg.tum eine politische Struktur sowie sein spezifisches Gepräge zu geben, indem er eine tonganische Hymne, das Wappen, die Flagge und die Krone gestaltete. Als Vorsitzender der MethodistenMission wurde er persönlicher sowie Finanz-Berater des Kg.s. Auf sein Einwirken hin wurden mit dem Dt. Reich 1876, mit England 1879 und den →Vereinigten Staaten 1888 Verträge zur Anerkennung der Unabhängigkeit Tongas geschlossen. Insb. der Vertragsschluß mit dem Dt. Reich hatte sowohl bei der Methodisten-Mission als auch bei Briten Skepsis hervorgerufen und zu seiner Ablösung als Missionar geführt. 1880 wurde B. auf Tonga Premierminister, was eine Krise zwischen dem tonganischen Kg. und der Wesleyan Church auslöste, welche die politischen Involvierungen B.s mit dessen seelsorgerischen Tätigkeiten für unvereinbar hielt. B. zog sich endgültig von der Methodisten-Mission zurück. Letztlich führte die Konfrontation zwischen der Methodisten-Mission und dem tonganischen Kg.shaus zur Gründung der Free Church of Tonga 1885. B. galt als engagiert, war jedoch innerhalb der Mission, später aber auch in Tonga selbst auf Grund seiner alle Agenden monopolisierenden Art umstritten. U. a. stand er in direktem Konflikt mit dem Methodisten-Missionar James Egan Moulton. Zeitweise eskalierte die Lage. Ein Anschlag auf B.s Leben 1887 mißlang. Vom Hochkommissar der Western Pacific High Commission, Sir John Thurston, mußte er schließlich eingebremst und auf Grund B.s Uneinsichtigkeit 1890 aus Tonga deportiert werden. Sir Basil Thomson ersetzte ihn kurzzeitig als Premierminister. Obwohl er mehrere Jahre später aus Neuseeland, wo er seine „Exiljahre“ verbracht hatte, wieder zurückkehrte, konnte B. seine ehem. Machtfülle nicht mehr erreichen. Tonga verdankt jedoch B., daß es als einzige Inselgruppe des Pazifiks nicht unter vollständige Kontrolle einer europäischen Kolonialmacht oder der USA gekommen ist. Verheiratet war B. mit der 1859 geehelichten Elizabeth Powell. Noel Rutherford, Shirley Baker and the Kingdom of Tonga, Melbourne 1971. B. H. Thomson, The Diversions of a Prime Minister, Edinburgh 1894. HE RMANN MÜCKL E R
Balfour Declaration nennt man die Erklärung der britischen Regierung vom 2. November 1917, die eine Unterstützung der zionistischen Bewegung und die Errichtung „of a national home for the Jewish people“ in Palästina
zusagte. Sie war in der Form eines Briefes gefaßt, vom britischen Außenminister Arthur James Balfour (1848– 1930) unterschrieben u. adressiert an Lionel Walter (2.) Baron Rothschild (1868–1937), einen führenden britischen Zionisten u. Parlamentarier (Mitglied des Oberhauses 1915–1937; des House of Commons 1899–1910, für den Wahlkreis Aylesbury), mit der Bitte um Weiterleitung an die Zionist Federation. Die Stellungnahme steht in engem Zusammenhang mit der Kriegszielpolitik Großbritanniens während des Ersten Weltkrieges. Ähnlich wie im Falle der Gewinnung Italiens (Londoner Geheimvertrag u. geheimes brit.-ital. Zusatzabkommen v. 26. April 1915) u. Rumäniens (Geheimvertrag v. 17. August 1916) als Verbündete wurden auch in der B.D. Zusagen über Territorien gemacht, die sich gar nicht in brit. Besitz befanden; Palästina gehörte zum →Osmanischen Reich. Das Ziel war die Unterstützung Großbritanniens durch die weltweite zionistische Bewegung, insbesondere in den →Vereinigten Staaten. Großbritannien stand dabei im direkten Wettbewerb mit Deutschland. Die offizielle Tagungssprache der zionistischen Kongresse war (bis 1933) Deutsch. Der erste bedeutende europ. Politiker, dem Theodor Herzl (1860–1904), der Gründer der jüdischen Nationalbewegung, seine zionistischen Pläne unterbreitet hatte, war Kaiser Wilhelm II. (Konstantinopel, 18.10.1898, Jaffa, 29.10.1898, vor Jerusalem 2.11.1898). Die anfängliche Sympathie des Kaisers für die zionistische Idee zerfiel angesichts des energischen Widerstands von Außen-Staatssekretär →Bülow. Ein Angebot des brit. Kolonialministers Joseph Chamberlain, den Juden ein 5.000 Quadratmeilen großes Gebiet in Britisch-Ostafrika als nationale Heimstatt zur Verfügung zu stellen (1903; sog. Uganda-Plan, faktisch ein Territorium in Kenia), wurde auf dem 7. Zionistischen Kongreß in Basel 1905 endgültig abgelehnt. Im Ersten Weltkrieg versuchten Zionisten sowohl in den Ländern der Entente, wie bei den Mittelmächten konkretere Zusagen für die Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina zu erreichen. Dabei lagen die zionistischen Sympathien zunächst weniger bei England als beim Deutschen Reich. Englands Verbündeter Rußland galt seit den Judenpogromen 1881, 1903 u. 1905 als antisemitischster europ. Staat. Der Präsident des Zionistischen Weltverbandes, Otto Warburg (1859–1938, Präsident 1911–1920), war ein deutscher Jude, der sich auch kolonialpolitisch betätigte. Er war Mitglied der →Deutschen Kolonialgesellschaft u. Mitbegründer des →Kolonialwirtschaftlichen Komitees. Er schuf die Kolonialzeitschrift „Der Tropenpflanzer“ u. gab sie heraus. Sein Vetter Max (1867–1946) war finanzpolitischer Berater Kaiser Wilhelms II. u. gehörte zu den sog. „Kaiserjuden“. Die von deutschen Zionisten erhoffte klare Aussage Deutschlands zugunsten einer jüdischen Heimstatt blieb aus Rücksicht auf den osmanischen Verbündeten aus. Zwei Wochen nach der B.D., am 17. November 1917, erklärte dagegen der österr. Außenminister Graf Czernin gegenüber dem Vorsitzenden (1910–1920) der zionistischen Vereinigung für Deutschland, Arthur Hantke, die österr. Regierung „stehe der zionistischen Bewegung wohlwollend gegenüber und werde, spätestens bei den Friedensverhandlungen, das ihrige tun, um die Ziele der Zionisten ... d. h. Be77
bAli
wegungsfreiheit, Ansiedlungsfreiheit und kulturelle Autonomie in Palästina zu verwirklichen“ (Zechlin, 424). Aber erst einen Tag nach der britischen Eroberung Jerusalems am 11.12.1917 empfing auch der Großwesir u. Innenminister des Osman. Reiches, Taalat Pascha, einen deutschen Zionisten und eröffnete ihm, die Regierung stünde der Besiedlung u. Kolonisation Palästinas durch Juden mit Wohlwollen gegenüber. Anläßlich eines Besuches Taalat Paschas in Berlin am 5. Januar 1918 erhielten schließlich fünf Repräsentanten der deutschen Zionisten, darunter Otto Warburg u. Hantke, im Auswärtigen Amt von Unter-Staatsekretär Hilmar von dem Bussche-Haddenhausen (1867–1939) eine Erklärung, die das Versprechen der osman. Regierung wiederholte, aber nicht darüber hinausging. Die B.D. war damit viel weitergehender als alle osmanischen (u. dten) Stellungnahmen. Für die zionistische Bewegung wurde sie zur realen Hoffnung, nachdem Palästina in britische Hand gefallen war. In der Tat erhielt die B.D. nach Kriegsende auch eine besondere völkerrechtliche Dimension mit ihrer Aufnahme in den Friedensvertrag von →Sèvres zwischen der Entente u. d. Osmanischen Reich (10. August 1920, Art. 95) und im Palästinamandat des →Völkerbundes vom 24. Juli 1922 (Präambel, Art. 2 u. 4). Allerdings trat der Vertrag von Sèvres wegen türkischen Widerstandes nie in Kraft. Der Friedensvertrag von Lausanne mit der Türkei (24.7.1923) enthielt dagegen keinerlei Bezugnahme auf die B.D. oder auf die jüdische Einwanderung in Palästina. Ein Problem der B.D. liegt darin, daß Großbritannien im Ersten Weltkrieg auch arabische Autonomie- u. Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützte. Der offensichtliche Konflikt zwischen der proarabischen Haltung Großbritanniens u. arab. Erwartungen einerseits und den brit. Zusagen gegenüber der zionistischen Bewegung in der B.D. andererseits, ist einer der Ursachen des Palästinakonfliktes. Q: Michael Heymann (Hg.), The Uganda Controversy, 2 Bde., Jerusalem 1970/77. Charles D. Smith, Palestine and the Arab-Israeli Conflict. A History with Documents, Boston 2013 (enthält auch verschiedene Vorentwürfe der B.D.). L: Geoffrey Lewis, Balfour and Weizmann, London 2009. Jonathan Schneer, The Balfour Declaration. The Origins of the Arab-Israeli Conflict, London 2010. Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969. HE RMANN HI E RY Bali ist die am weitesten westlich gelegene der Kleinen Sundainseln, eine unmittelbare Nachbarinsel von →Java. Bedingt durch vulkanische Böden ist B. äußerst fruchtbar und war einer der wichtigsten Reisproduzenten (→Reis) des malaiischen Archipels. Zwischen B. und der Nachbarinsel Lombok verläuft eine tiefe Meerenge, die Flora und Fauna Asiens und Ozeaniens voneinander trennt (die sog. →Wallace-Linie). Die ersten Kontakte mit dem Westen sind seit dem 1. nachchristl. Jh. durch Keramikfunde ind. Herkunft belegt. Die älteste datierte Inschrift auf B. stammt von 896. Im 10. Jh. sind erste hinduistische Fürstentümer nachgewiesen. Im 14. Jh. gehörte B. zum Herrschaftsbereich des javanischen hinduistischen Großreichs Majapahit. Im Gegensatz zu den direkten Nachbarinseln Java, Lombok und Sumbawa 78
wurde B. im 15./16. Jh. nicht islamisch, sondern blieb eine hinduistische Enklave in →Indonesien. Frühe europäische Ethnologen und Philologen des 19. Jh.s wie z. B. Thomas →Raffles oder R. Friederich hielten B. für eine Art Freilichtmuseum des vorislamischen Java. Erste Kontake zu Europäern kamen im 16. Jh. zustande, blieben aber meist sporadisch. Erst nach Ankunft der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) Anfang des 17. Jh.s wurde B. häufiger angelaufen, da die VOC mit vielen musl. Herrschern in der Region verfeindet war und somit B.s Häfen sicher waren. Hauptexportartikel B.s im 17. und 18. Jh. waren Sklaven, die sowohl aus B. selbst als auch von anderen Regionen des Archipels (→Makassar, Westküsten Neuguineas, Buton, Toraja-Gebiete in Zentralsulawesi u. a.) stammten. Sie wurden im gesamten Archipel gehandelt und waren eine lukrative Einnahmequelle der balinesischen Herrscher. Auch die VOC beteiligte sich stark an diesem Handel: In den ersten Dekaden des 18. Jh.s waren mehr als 50 % der Bevölkerung des VOC-Hauptstützpunktes →Batavia Sklaven, von denen ein großer Teil aus B. stammte, so daß bis heute der in der Stadt gesprochene malaiische Dialekt starke balinesische Elemente aufweist. Der →Sklavenhandel lebte auf B. bis in die 1860er Jahre fort. Die balinesischen Staaten waren klein und untereinander zerstritten, konnten aber ihre Unabhängigkeit bis in die Mitte des 19. Jh.s bewahren. Die Plünderung gestrandeter Schiffe nahmen die Niederländer zum Anlaß, von 1846–1849 in insg. drei Militärexpeditionen, in denen neben europäischen, javanischen und maduresischen Kolonialsoldaten auch eine Kompanie aus den ndl. Besitzungen in Westafrika zum Einsatz kam, die nordbalinesischen Staaten Jembrana und Buleleng zu erobern. Bereits bei diesem Angriff führten balinesische Herrscher rituellen Selbstmord durch, um nicht in ndl. Gefangenschaft zu geraten. Die Tatsache, daß der balinesische Herrscher von Lombok seinem Verwandten, dem Fürsten von Karangasem im Südosten B.s bei Unruhen zur Hilfe eilte, war für die Niederländer der Vorwand, die Nachbarinsel Lombok und Karangasem zu erobern. Auch hier beging der balinesische Herrscher mit seiner gesamten Familie inkl. der Kinder rituellen Selbstmord, dessen Beschreibung durch die europäische Presse ging und Theodor Fontane zu seinem bekannten Gedicht „Die Balinesenfrauen auf Lombok“ veranlaßte. In den nächsten Jahren eroberten die Niederländer die übrigen balinesischen Staaten: Gianyar (1900), Bangli (1904), Tabanan (1906), Badung (1906) und schließlich Klungkung (1908). Der rituelle Selbstmord der gesamten Herrscherfamilie von Klungkung (inkl. der Frauen und Kinder) fand sein beeindruckendes literarisches Zeugnis in Vicki Baums weltberühmtem Roman „Liebe und Tod auf B.“ (1937). Nur wenige Jahre nach der ‚Befriedung‘ B.s und der Einführung der ndl. Kolonialverwaltung tauchten in B. Anfang der 1920er Jahre die ersten Weltenbummler und Touristen auf. Die Residenz des dt. Malers Walter →Spies in Ubud in Südbali entwickelte sich zu einem Anlaufzentrum für Erholungssuchende, Filmemacher, Künstler und Ethnologen. Seine Gästeliste liest sich wie ein Who is Who: Vicki Baum, Margaret →Mead, Gregory Bateson, Miguel Covarrubias, Jane Belo, Colin McPhee, Rudolf Bonnet, Beryl deZoete, Viktor Baron
bA mA k o
von Plessen, Charlie Chaplin und Noel Coward kehrten zeitweilig bei Spies ein. Viele von ihnen verfaßten Bücher, die maßgeblich zum Aufstieg des Touristenbildes von B. als der „Insel der Götter“ nach dem →Zweiten Weltkrieg beitragen sollten. Zu diesem Klischee leisteten auch indonesische Politiker ihren Beitrag. Der erste indonesische Präs. →Sukarno, dessen Mutter Balinesin war, lud Staatsgäste wie Jawaharlal →Nehru, →Ho Chi Minh, Nikita Chrustschew oder Zhou Enlai nach B. ein. Die Kommunistenhatz 1965/66 nach einem angeblichen Putsch kommunistischer Offiziere in Jakarta ist das wohl düsterste Kapitel der Geschichte B.s, das eine der Hochburgen der Indonesischen Kommunistischen Partei PKI gewesen war. Zehntausende fielen den Häschern der neuen Reg. oder dem aufgewiegelten Mob zum Opfer. Robert Pringle, A Short History of Bali, Crows Nest 2004. Geoffrey Robinson, The Dark Side of Paradise: Political Violence in Bali, Ithaca 1995. Adrian Vickers, Bali: A Paradise Created, Singapur 1989. HOL GE R WARNK
Ballspiel, präkolumbisches. Das Spiel mit einem Gummiball aus Kautschuk war in ganz Mittel- und im nördlichen Südamerika verbreitet. Schon 1500 v. Chr. war es bei den Olmeken bekannt. Gespielt wurde auf einem eigens dafür vorgesehenen Platz in zwei Formen von Spielanlagen. Das geschlossene Feld bestand aus einem doppelt T-förmigen Grundriß, während das offene nur aus dem mittleren, langen Spielraum ohne Querfelder bestand. Hoch angelegte Steinringe an den Wänden waren eine Form von Toren. Es standen sich zwei Mannschaften mit je bis zu acht Personen gegenüber, die solange wie möglich durch Zuspielen den Ball in der Luft zu halten suchten. Es war jedoch nur erlaubt, bestimmte Körperteile zu benutzen: Hüfte und Schulter, in einigen Varianten auch Knie und Ellenbogen. Ein Schuß durch einen Ring erzielte wohl die höchste Punktezahl oder sofortigen Sieg. Die benutzten Bälle hatten große Sprungkraft und erreichten hohe Geschwindigkeit nach dem Abprallen von einer Mauer oder vom Gürtel eines Spielers. Zur Ausrüstung gehörten Lendenschurz, Hüftschutz, zeitweise auch Handschuhe, Helme, Knie- und Armschoner. Das Spiel hatte große rituelle Bedeutung mit Zeremonien vorher und nachher, bei denen angeblich Spieler den Göttern geopfert wurden. In Mittelamerika hatte es eine herausragende Stellung, da es in bedeutenden Städten mehrere solcher Spielanlagen gab. Im 16. Jh. wurde es von den Spaniern wegen seines religiösen Charakters unterdrückt. Von modernen Neubelebungen abgesehen, hat es sich nur vereinzelt in der Provinz Sinaloa/→Mexiko mit anderer kultureller Bedeutung erhalten. Gerard W. van Bussel, Der Ball von Xibalba, Wien 2002. Heidi Linden, Das Ballspiel in Kult und Mythologie der mesoam. Völker, Hildesheim 1993. BE RND S CHME L Z Balmis y Berenguer, Francisco Xavier, * 1753 Alicante, † 1819, Madrid, rk., □ unbek., rk. Nach verschiedenen Verwendungen als Militärarzt arbeitete B. ca. zehn Jahre in →Mexiko, publizierte ein Buch über die Heilkraft von Wurzeln und die Übersetzung
des Buches von Moreau de la Sarthe über die Impfung gegen →Pocken (Tratado histórico y práctico de la vacuna). Auf die Nachricht von einer Pockenepidemie in Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) entsandte →Karl IV. 1803 die „Real expedición filantrópica de la vacuna“ mit B. an der Spitze und in Begleitung einer Gruppe junger Ärzte, die gerade am Real Colegio de San Carlos in Madrid ihr Studium beendet hatten, nach →Amerika. Das Problem der Konservierung des Impfstoffes während der Überfahrt wurde durch die Mitnahme mehrerer 6–8 Jahre alter Kinder unter der Obhut einer Leiterin eines Waisenhauses gelöst, die, bei Abreise geimpft, aus ihren Pusteln frischen Impfstoff in Amerika liefern sollten, von wo aus er dann – nach Heilung der ersten Gruppe von Kindern – nach dem Schneeballprinzip weiter transportiert werden sollte. Angesichts der weiten Entfernungen, die es zurückzulegen galt, teilte sich die Expedition in Caracas. B. übernahm es, die Impfungen in der →Karibik, Mexiko, Mittelamerika und auf den →Philippinen durchzuführen, während sein Stellvertreter, der Militärchirurg José Salvany y Lleopart (* 1774 Barcelona, † 1810 Cochabamba) die Impfungen in Südamerika durchführen sollte. B. gelang es bis 1806, die Impfungen in der von ihm bereisten Zone, oft gegen den Widerstand der örtlichen Befehlshaber, aber unter ansehnlicher Bereitschaft der Betroffenen, sich der Impfung zu unterziehen, abzuschließen. 1806 kehrte er von den Philippinen um das →Kap der guten Hoffnung nach Spanien zurück. Salvany y Lleoparts Mission zog sich bis 1810 hin, als er im heutigen →Bolivien starb. Die Weiterführung der Maßnahme durch andere Ärzte endete in den ausbrechenden Unabhängigkeitswirren. B. und seinem Vertreter gebühren das Verdienst und der Nachruhm, am Ende der Kolonialzeit die erste erfolgreiche interkontinentale Impfaktion der Geschichte durchgeführt und vielen Menschen das Leben gerettet zu haben, nachdem die von den Eroberern im 16. Jh. mitgeführten Bakterien zu massenhaftem Tod der Ureinwohner geführt hatten (→Demographie). Susana María Ramírez Martín, La salud del Imperio, Madrid 2002. H O R ST PIETSC H MA N N Bamako ist seit 1960 die Hauptstadt von →Mali und liegt am Oberlauf des Flußes →Niger. Schon vor der Kolonialzeit war B. ein Handelszentrum und eine Stadt islamischer Gelehrsamkeit. Die →Eroberung der Region durch die Franzosen begann 1888 unter Louis Archinard und wurde von Borgnis-Desbordes fortgesetzt. Am 1.2.1883 besetzte dieser B. im Rahmen der Auseinandersetzungen mit Samory Touré (1830–1900), dem Hauptgegner der frz. Landnahme. 1892 wurde zunächst Kayes am →Senegal die Hauptstadt der Kolonie Frz.-Sudan, bevor B. 1908 zum neuen Reg.ssitz bestimmt wurde. Vier Jahre zuvor schon war die Bahnverbindung mit →Dakar fertig. Die meisten kulturellen Vereinigungen der modernen Elite, die den Nationalismus in der Kolonie Frz.-Sudan prägten, sind in B. entstanden. 1930 lebten in B. nur 600 Franzosen und 200 libanesische →Maroniten neben der islamischen Mehrheitsbevölkerung. Im Febr. 1936 fand in B. der erste Congrès Soudanais de Techniques et de Colonisation Africaines statt. B. war 1946 Tagungsort 79
b A n Ane
der berühmten Gründungskonferenz des Rassemblement Démocratique Africain. Heute zählt die Stadt 1,5 Mio. Ew. Joseph-Roger de Benoist, Église et pouvoir colonial au Soudan français, Paris 1987. YOUS S OUF DI AL L O Bamun →Njoya Banaba →Ocean Island Banane. Der Hit des Jahres 1923 „Yes! We have no bananas“ (dt. Version: „Ausgerechnet Bananen“) stammt aus einer Zeit, als diese Tropenfrucht im Westen bereits beliebt, aber keineswegs immer und überall zu haben war. Heute zählen B.n nach Trauben, Äpfeln und Zitrusfrüchten zu den wichtigsten Nahrungsfrüchten, wobei sich dieses tropische Obst in den gemäßigten Klimazonen (→Klima) einer erstaunlichen Beliebtheit erfreut. Während sich die in die westlichen Abnehmerstaaten exportierten B.n alle sehr ähneln, kennt man in den Tropen zahllose Zuchtformen, die sich nach Geschmack und Erscheinung beträchtlich unterscheiden. Gebräuchlich ist eine Aufteilung in Früchte, die v. a. roh und solche, die überwiegend gekocht gegessen werden. Carl von Linné nannte die Obstbanane Musa x sapientium und die Kochbanane Musa x paradisiaca. Letztere ist in der engl.-sprachigen Welt als plantain und in →Lateinamerika als plátano bekannt. Die B. zählt zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit und wurde wahrscheinlich in →Südostasien oder →Neuguinea domestiziert. Zum Gedeihen braucht die Pflanze ein warmes Klima mit viel Sonnenschein und reichlichem Niederschlag. Folglich erstreckt sich ihr Hauptverbreitungsgebiet zwischen dem 20. →Breitengrad nördlich und südlich des Äquators. In →Indien wird sie seit Jahrtausenden kultiviert, Südchina erreichte sie dagegen erst vor knapp 2000 Jahren. Im Verlauf des ersten Jahrtausends n. Chr. wurde sie in Afrika heimisch, wohin sie entweder über →Madagaskar oder durch arab. Händler gelangte. Im gleichen Zeitraum eroberte sie die Inselwelt des Pazifik. Die Portugiesen lernten die B. in Westafrika kennen und brachten sie auf die Kanarischen Inseln. Deswegen ist sie in Europa unter dem afr. Namen „Banane“ bekannt, wobei wahlweise auch ein arab. Ursprung des Wortes möglich scheint, nämlich banan, was Finger bedeutet. Bereits 1516 gelang der B. der Sprung über den →Atlantik. Von der Insel Hispaniola breitete sie sich in der Folgezeit dermaßen rapide über die tropischen und subtropischen Teile des Kontinents aus, daß viele nachfolgende Chronisten sie irrtümlich für eine Frucht der Neuen Welt hielten. Die abgelegen im Grenzgebiet von →Venezuela und →Brasilien lebenden Yanomamö-Indianer etwa stellten ihre Lebensweise komplett auf die Kochbanane als neues Grundnahrungsmittel um. Auch wenn Bananenpflanzen Palmen ähneln, sind sie keine Bäume, sondern Stauden, deren Blätter oder Blattscheiden Scheinstämme bilden. Sie vermehren sich nicht mittels Saatgut, sondern nur vegetativ durch Schößlinge. Auf Grund der schnellen Verderblichkeit der Früchte dauerte es lange, bis der Norden sie kennen lernte. Mit detaillierten Beschreibungen in seiner Reise um die Erde in 80 Tagen (1873) weckte 80
Jules Verne das Interesse der Leser an der unbekannten Frucht. Bereits gegen Ende des 19. Jh.s stieg der Import von Bananen nach Nordamerika rasant an, eine Entwicklung, der Europa mit ein bis zwei Jahrzehnten Verzögerung folgte. Neben steigenden Masseneinkommen in den Industrieländern, verdankte die B. dem Aufblühen der Plantagenwirtschaft in Mittelamerika ihren Aufstieg zum Welthandelsprodukt. Hinzu kam die Kombination zweier moderner Transportsysteme (→Transport), nämlich der Dampfschiffahrt (→Schiffahrt) mit der Eisenbahn, sowie die Entwicklung der Kühltechnik, die das Reifen der Früchte verlangsamte. US-am. Unternehmer gründeten Gesellschaften wie die →United Fruit Company (heute: Chiquita) und die Standard Fruit Company (heute: Dole), die Anbau, Versand und Vermarktung der in Monokultur angebauten Früchte beherrschten. Ihre Macht als „Staat im Staate“ in den Ländern Mittelamerikas führte zu deren abschätziger Kennzeichnung als „B.-Rep.en“. Wichtiger als für den Welthandel sind die B. jedoch für die Ernährung in vielen Tropenstaaten. In Südostasien, ihrer ursprünglichen Heimat, wird sie roh als Obst verzehrt, dort schmort man auch gerne neben den noch grünen Früchten deren Blüten in Currygerichten. Außerdem findet sie in einer Vielzahl von Süßspeisen Verwendung. Die Bananenblätter schließlich dienen zur Verpackung und Zubereitung von Speisen (etwa zum Dünsten); außerdem können sie das Geschirr ersetzen. Weil B. das ganze Jahr über Früchte tragen, sind sie von überragender Bedeutung bei der Eindämmung der jährlichen „Hungerzeiten“, also der Zeitspanne, wo die Ernte des letzten Jahres aufgebraucht und die neue Ernte noch nicht reif ist. Interessanterweise aber kommt der B. in ihrer Heimat nie die tragende Rolle bei der Ernährung zu wie in einigen ihrer Verbreitungsländer. Dies läßt sich damit erklären, daß hier die Rolle des Grundnahrungsmittels bereits durch den →Reis oder die Sagopalme eingenommen wird. Im ostafr. Seengebiet jedoch (und in einigen indigenen Kulturen der Neuen Welt) wurde die B. zur Grundlage der Ernährung. Von der Kochbanane, bei der sich Stärke nicht in →Zucker verwandelt, leben heute Millionen von Menschen. Der Kartoffel vergleichbar, lassen sich die grünen Früchte auf zahllose Weise kochen, schmoren, backen und frittieren. Im südlichen →Uganda und in den benachbarten Regionen verzehren die Menschen gut 4 kg B. täglich, wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil davon fermentiert und flüssig konsumiert wird, als Bananenbier. Im Westen werden B. nach wie vor überwiegend roh als Obst genossen. Eine Ausnahme stellt hier der „Banana Pancake“ dar, der sich unter dem Einfluß jugendlicher Rucksackreisender erfolgreich globalisiert hat. Wer sich aber wirklich eine Vorstellung davon machen will, wie köstlich die „paradiesische Frucht“ schmecken kann, sollte die kleinen Sorten probieren, etwa die Rote B. oder jene, die in Thailand gluay kai („Eierbanane“) heißt. Sie finden bislang erst vereinzelt ihren Weg in unsere Supermärkte. Weil die B. im Verlauf des 20. Jh.s ein fester Bestandteil westlicher Ernährung geworden ist, kann sie als Beispiel dienen, wie eine tropische Anbaufrucht ihr exotisches Flair einbüßen und so alltäglich wie der Apfel werden kann.
bAn d ei rA n tes
Will C. McClatchey, Bananas and Plantains, in: Kenneth F. Kiple u. Kriemhild Conee Ornelas (Hg.): The Cambridge History of Food, 2 Bde., Cambridge 2000, 175–181. Dan Koeppel, Banana. The Fate of the Fruit that Changed the World, New York 2008. Johanna Skrodzki / Ursula Bauer: Bananen – Konsequenzen des Geschmacks, St. Gallen 1988. MARI N T RE NK Bananenrepubliken →United Fruit Company Banda-Inseln. Die B. im Archipel der südlichen →Molukken sind administrativ Teil der Mittelmolukken. Der lukrative, weltweite Handel mit →Muskat, für den die B. lange die einzige Quelle waren, erregte das oft maßlose Begehren der Europäer, diesen Handel an sich zu reißen, ebenso wie das mit →Nelken auf anderen Inseln der Molukken geschah. Während →Araber, Perser, Chinesen u. a. nichteuropäische Völker bereit waren, echten Handel zu treiben und begehrenswerte Waren im Austausch gegen →Gewürze boten, waren Europäer meist nur an Beute interessiert und versuchten Handelsmonopole aufzubauen, die jede Konkurrenz eliminierten und den Produzenten Niedrigstpreise aufzwangen. Als erste traten die Portugiesen auf, denen es aber nicht einmal gelang, eine Festung zu erbauen. Die nachfolgenden Holländer hatten gleich zwei schwere Hürden zu überwinden. Bei der einen stießen sie auf den entschlossenen Widerstand der Bandanesen und bei der anderen wurden sie von den Engländern – die Handelsposten in →Ambon, B., →Bantam und →Makassar errichteten – dreist dazu aufgehetzt, gegen das Gewürzmonopol der Portugiesen aufzubegehren. Als 1609 Admiral Pieterszoon Verhoeven versuchte, dieses Gewürzmonopol durchzusetzen, wurde er in eine Falle gelockt und mit seinen 27 Begleitern getötet. Gen.-gouv. Jan Pieterszoon →Coen, einst Kaufmann unter Verhoeven, plante Rache. 1620, mitten in den Vorbereitungen für seine Strafexpedition erfuhr Coen, daß die ndl. Reg. 1619 einen Vertrag mit London geschlossen hatte, der den Briten ⅓ des Gewürzmonopols zusicherte. Er war schlau genug, den Vertrag zu ignorieren und lud die brit. East India Company (→Ostindienkompanien) ein, sich an der Strafexpedition gegen die B. zu beteiligen, wohlwissend, daß diese nicht das im Vertrag festgelegte Drittel der Schiffe und Mannschaften zur Verfügung hatte und deshalb eine Beteiligung ablehnen mußte. Coen erschien mit einer mächtigen Flotte vor den B. Was dann geschah, war einer der dunkelsten Momente in der Geschichte des europäischen →Kolonialismus. In einer Orgie mutwilliger Zerstörung wurden tausende Menschen massakriert (→Massaker), Muskatbäume ausgerottet und Vermögen beschlagnahmt. Hunderte Bandanesen wurden entweder ermordet oder als Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) in →Batavia verkauft, von denen später 530 als Sklaven auf die B. zurückkehrten. Tausende starben durch Krankheit oder verhungerten. Eine Blockade verhinderte, daß Nahrungsmittel Flüchtlinge in den Bergen erreichten. Viele Flüchtlinge begingen Selbstmord, indem sie sich von den Klippen stürzten. Von den ca. 15 000 Ew. überlebten ca. 1 000 auf den B. selbst, eine Minderheit konnte fliehen und fand Zuflucht auf Ceram, Aru und Kei, wo ihre
Nachfahren bis heute leben. Fruchtbares Land wurde in Parzellen oder Perken an sog. Perkeniers verteilt, meist pensionierte Soldaten und Bürger, die dafür sorgen mußten (unter Androhung des Verlustes der Parzelle), daß das Land in gutem Zustand blieb und die Gewürze zu einem festen Preis an die →Vereinigte Ostind. Kompanie verkauft wurden. Im Gegenzug erhielten sie →Reis u. andere notwendige Güter sowie Sklaven zu günstigen Preisen. Die Perkeniers umgingen das Verbot von →Mischehen und heirateten Sklavenmädchen aus aller Welt. So entstand eine Mestizengesellschaft (→Casta), die sehr wohlhabend wurde. Handelsschiffe nahmen als Ballast it. Marmor mit. Villen mit Marmorböden erinnern noch heute an diese Zeit. Coen wurde nur milde für seine Greueltaten bestraft. Später erhielt er eine stattliche Geldsumme für seine Taten. Die Engländer durften auf dem kleinen Korallenriff Run verbleiben. 1667 tauschten sie Run gegen Neu-Amsterdam, das heutige Manhattan, ein. Kurz vor dem →Zweiten Weltkrieg wurden indonesische Freiheitskämpfer wie z. B. Mohammad →Hatta, Sutan Sjahrir und Dr. Tjipto Mangoenkoesoemo nach Banda Neira verbannt. Die B. sind nun großenteils islamisch. Während der Unruhen 1999–2002 wurden Christen getötet oder vertrieben, die alte Kirche sowie viele historische Gebäude verwüstet. Bersama Hatta des Alwi u. a., Banda Naira, Jakarta 2002. Marie Antoinette Petrolla Meilink-Roelofsz, Asian Trade and European Influence in the Indonesian Archipelago Between 1500 and About 1630, Den Haag 1962. Giles Milton, Nathaniel’s Nutmeg, London 1999. D IETER BA RTELS
Bandeirantes (von port. bandeira: Fahne). Im kolonialen →Brasilien Teilnehmer einer bandeira, einer Expedition in das sertão genannte, noch nicht erschlossene Landesinnere. Ähnlich den hispanischen →Huestes hatten die bandeiras ihre Ursprünge in den sich unter einer Fahne versammelnden spätmittelalterlichen Militärexpeditionen der iberischen Halbinsel. Die ersten B. in Brasilien begannen um die Mitte des 16. Jh.s, von der Region →São Paulo aus, ins Landesinnere vorzudringen, um Jagd auf indigene Sklaven zu machen, die in der paulistaner Landwirtschaft eingesetzt oder weiterverkauft wurden. Gesetze zum Schutze der indigenen Bevölkerung konnten die Jagden der B. nicht eindämmen. Die B. gerieten bald in Gegensatz zur Jesuitenmission (→Jesuiten), die mit dem Schutz der indigenen Bevölkerung vor Versklavung betraut war. Teilnehmerzahl und Dauer einer bandeira variierten zwischen einigen Dutzend und mehr als 1 000 Teilnehmern und dauerten von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren. So legte António Rapôso Tavares, einer der bekanntesten B., auf seinem vier Jahre dauernden Streifzug über den chaco, die Ausläufer der Anden bis zum nördlichen →Amazonas mehr als 10 000 km zurück. Die meisten B., auch viele Anführer, waren gemischter europäisch-indigener bzw. afr.-indigener oder indigener Herkunft. So waren von den ca. 3 000 Teilnehmern einer großen Expedition gegen Jesuitenreduktionen am Paraná ca. 70 Europäer, 900 Mischlinge und 2 000 Indigene. Der Rückzug der Reduktionsindianer hinter den Uruguay-Fluß, deren Bewaffnung durch 81
bAngkok
die Jesuiten und die Wiederbelebung des atlantischen →Sklavenhandels nach der port. Rückeroberung →Angolas haben das Ausgreifen der B. im Süden seit Mitte des 17. Jh.s gedämpft und die Stoßrichtung verändert. In Zentralbrasilien spielten die B. eine wichtige Rolle bei der Entdeckung von →Edelmetall. Zudem wurden die B. als →Söldner von der Krone gegen aufsässige Indigene, z. B. in der Guerra dos Bárbaros (1687–1720) oder gegen die Ansiedlungen entlaufener Sklaven eingesetzt. Der bekannte →Quilombo dos Palmares in →Bahia wurde 1695 mit entscheidender Hilfe der B. unter der Führung von Domingos Jorge Velho vernichtet. Mit dem Ende des Goldbooms, der Ausweitung und Konsolidierung staatlicher Autorität sowie dem wachsenden transatlantischen Sklavenhandel verloren die B. im 18. Jh. an Bedeutung. Im 20. Jh. erlebten die B. durch die Literatur ihre Stilisierung als Heroen port. Entdeckertums, Muster paulistaner Überlegenheit oder Symbole nationalbrasilianischer Größe und Unabhängigkeit. Durch die von ihnen eingeschleppten Krankheiten trugen die B. zum Rückgang der indigenen Bevölkerung bei und erwiesen sich als grausame Mordbrenner. Die Forschung betont heute die Vielgestaltigkeit der auch als jornadas oder entradas bezeichneten Expeditionen und die Vielfalt ihres Wirkens in unterschiedlichen Kontexten bis zum Beginn des 19. Jh.s. The Americas 61/3 (2005), Themenheft „Rethinking Bandeirismo Studies in Colonial Brazil“. CHRI S T I AN HAUS S E R
Bangkok. Bei der Gründung 1782 war B. eine der letzten Hauptstädte, die in →Südostasien gegründet wurden. Im Unterschied zu anderen relativ jungen Hauptstädten wie Jakarta (→Batavia), →Singapur oder →Kuala Lumpur, handelte es sich hier allerdings nicht um eine Kolonialstadt. Tatsächlich ist der Name „B.“ unzutreffend. B. bezeichnete ein kleines Dorf an einem der Mäander des Chao Phraya-Flusses. Mit der Gründung des neuen Zentrums Siams, gegenüber der alten Stadt Thonburi, die 1767 nach der Zerstörung Ayudhyas kurzzeitig Hauptstadt war, wurde der Name des Ortes in „Krungthep“ geändert, um damit die Verbindung von Welt und Kosmos an diesem Ort auszudrücken. Zu dieser Symbolik der Verbindung von Kosmos und Welt, Kg. und Religion, Stadt und Zentralität, gehören Plätze wie der Sanam Luang, der den Weltberg symbolisiert, der Tempel des Stadtgeistes sowie der kgl. Palast mit seiner Kapelle (Wat Phra Khaeu) und die große Schaukel. Im Schwemmland des Chao Phraya-Flusses gelegen, war die Stadt von Kanälen durchzogen. Sie dienten der Entwässerung der Stadt, dem →Transport und der Abgrenzung der Stadtgebiete. Anfangs war Krungthep auf die Halbinsel Phra Nakhron begrenzt. Der Fluß und ein Kanal dienten als Grenze der Stadt. Außerhalb der eigentlichen Stadt, entlang des Flusses, lag ein kleiner Hafen. Dort wohnten chin. Händler. Mitte des 19. Jh.s setzte eine Ausweitung der Stadt ein. Es entstanden neue Handelsviertel im Süden, die über den Fluß und die erste größere Straße mit der eigentlichen Stadt verbunden waren. Noch heute findet man dort die alte port. und frz. Botschaft. V. a. in den 1960er Jahren setzten das rapide Wachstum und die 82
Modernisierung der Stadt ein. Ein Faktor war neben dem Ausbau der zentralisierten Bürokratie die Tatsache, daß der gesamte Handel des Landes über Krungthep verlief. Die Stadt war das tatsächliche wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Zentrum Thailands. Dazu gehörte auch, daß politische Konflikte dort konzentriert waren und sich die Zukunft von Reg.en dort entschied. Normalerweise resultierten Reg.swechsel aus Putschen. Eine Ausnahme bildete nach massiven Protesten 1973 der Rücktritt der Militär-Reg., auf die für drei Jahre ein relativ demokratisches System folgte. Auch die Konflikte und Proteste der neueren Zeit, etwa die Demonstrationen gegen Minister-Präs. Thaksin 2005/06, der Putsch 2006, die Proteste der „Gelbhemden“ 2008 oder der „Rothemden“ 2009/10 fanden in B. statt. Die rapide Ausweitung der Stadt, zu der inzwischen nicht mehr nur die Provinzen Mahanakorn (B.) und Thonburi gehören, sondern auch die Umgebung bis zu den Provinzen Ayudhya, Minburi, Nakhorn Pathom, verlief weitgehend ungeplant. Ein Grund dafür ist, daß neben der Stadtverwaltung viele weitere Ministerien und Abteilungen einbezogen werden müssen. Selbst das Ministerium für Landwirtschaft kann über die Pläne mitentscheiden, denn formal unterstehen diesem Ministerium die Kanäle. Ein weiteres Problem ist, daß die Bodenpreise kontinuierlich stark ansteigen. Gleichzeitig gehört das Land v. a. öffentlichen Einrichtungen und sehr einflußreichen Familien. So findet die Implementierung von Stadtentwicklungsplänen eine Grenze an den Interessen dieser Gruppen. Die Größe macht die Stadt unüberschaubar, so daß es kaum Informationen darüber gibt, wann wo wieder ein neues Viertel gebaut wurde. In den 1990er Jahren führte dies zu dauerhaften Verkehrsstaus. Um diese zu lindern, wurden die Stadtautobahnen und die Straßen des unabhängigen Nahverkehrs stark ausgebaut. Bis in die frühen 1980er Jahre waren die Pagoden und einige Hotels mit mehr als zehn Stockwerken die höchsten Gebäude. Das änderte sich rapide. Inzwischen sind die Tempel in der Skyline hinter Bürogebäuden, Condominien, Hotels und Einkaufszentren nicht mehr zu sehen. Angesichts der Transformation B.s in eine postmoderne Metropole kam es in den 1990er Jahren zu Protesten, um alte Bausubstanz und damit auch Geschichte zu bewahren. Die alten Häuser im früheren Chinatown wurden nicht mehr abgerissen, sondern renoviert. Parks wurden angelegt und das alte Stadtgefängnis zu einem Museum umgebaut. Heute ist B. eine moderne Metropole oder „global city“, doch finden sich an einigen Plätzen und Vierteln noch Hinweise auf die Geschichte Bs. H. D. Evers / Rüdiger Korff, Dynamics of Southeast Asian Urbanism, Singapur 2001. RÜ D IG ER K O RFF Bangui wurde 1889 als Verwaltungszentrum für den Ubangui-Chari benannten Teil von Frz.-Äquatorialafrika am Westufer des Ubangui-Flusses auf ca. 4° nördlicher Breite begründet. Für die Wahl des Ortes im Gebiet des Ethnien-Verbandes der Banda war die Tatsache wichtig, daß er über den →Kongo und Ubangui vom →Atlantik aus per Schiff erreichbar ist. Nach der Unabhängigkeit der äquatorialafr. Territorien 1960 wurde B. die Hauptstadt der →Zentralafr. Rep. (Central African Republic;
bAn ten
République Centrafricaine). Dort lebten (Stand 2005) fast 700 000 von den ca. 4 Mio. Ew. des Staates. Da die Stadt an der Grenzlinie zwischen den Vegetationszonen Regenwald und Feuchtsavanne liegt, verfügt die Bevölkerung in ihrem Umland über ein reichhaltiges Repertoire von Nutzpflanzen, ist gleichzeitig jedoch in hohem Maße durch endemische Tropenkrankheiten gefährdet. B. ist nicht nur das politische und administrative, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum mit intensiven Beziehungen in die Nachbarstaaten Kongo-Kinshasa (→Kongo, Dem. Rep.), →Kongo-Brazzaville und →Kamerun. Der Export der Cash Crops der Zentralafr. Rep., →Baumwolle, Nutzholz, →Kaffee und Sisal sowie von Diamanten als dem wichtigsten Bodenschatz sowie der Import vornehmlich industrieller Artikel erfolgt überwiegend übr die Fluß- und Lufthäfen von B. Neben der offiziellen Staatssprache Französisch hat als lokale lingua franca des gesamten Ubangui-Gebietes das Sango eine wachsende Bedeutung erlangt. Auf Grund häufiger Übergriffe durch Militär und Polizei, Rebellionen und Staatsstreiche gilt B. als eine der unsichersten Hauptstädte Afrikas. UL RI CH BRAUKÄMP E R Banjul ist die Hauptstadt von →Gambia und liegt an der Mündung des Gambia-Flusses. Der kleine Ort wurde 1816 in Zusammenhang mit dem Kampf gegen den →Sklavenhandel einer Mandinka-Gruppe von Kombo abgekauft. Im diesem Jahr beauftragte der Gouv. von →Sierra Leone, Charles Macarthy, den Hauptmann Alexander Grant mit der Mission, dort einen Militärposten zu bauen, ohne allerdings eine weitere Expansion des Gebiets ins Auge zu fassen. Aus dem Stützpunkt wurde aber doch eine kleine Siedlungskolonie, die zuerst Leopold und dann Bathurst benannt wurde, zu Ehren des damaligen Leiters des Colonial Office, Henry Bathurst. 1821–1843 gehörte die Insel Bathurst zur Kolonie Sierra Leone. Zehn Jahre nach ihrer Gründung lebten in Bathurst ca. 1 800 Menschen, überwiegend befreite Sklaven aus Sierra Leone (v. a. Aku) und →Nigeria (Ibo). Als Gambia eine eigenständige brit. Kolonie wurde, teilte man sie auf in eine Colony (Bathurst und Umgebung) und ein Protectorate (das Hinterland). 1965 wurde Bathurst die Hauptstadt der unabhängigen Rep. Gambia und am 24.4.1973 in B. umbenannt. Sie hat heute weniger als 100 000 Ew. und setzt v. a. auf die neuen Touristikkomplexe an der Atlantikküste. Richard F. Burton, Wanderings in West Africa, New York 1991. Hubert Deschamps, Histoire générale de l’Afrique noire, de Madagascar et des archipels, Paris 1970. YOUS S OUF DI AL L O
Banks, Joseph, * 13. Februar 1743 London, † 19. Juni 1820 Heston (London), □ Heston (London), anglik., Freimaurer B., Sohn eines vermögenden Gutsbesitzers, zeigte bereits als Knabe großes Interesse an den Naturwissenschaften, insb. der Botanik, und wurde ab Mitte der 1760er Jahre, während der er verschiedenen gelehrten Gesellschaften beitrat, ein wichtiger früher engl. Anhänger des großen schwedischen Systematikers Carl von Linné. Im Laufe des darauffolgenden Jahrzehnts unternahm er als Natur-
forscher drei bedeutende Reisen, zuerst nach Neufundland und Labrador (Apr. 1766 – Jan. 1767), dann als Teilnehmer an James →Cooks erster Entdeckungsreise (Aug. 1768 – Juli 1771) und zuletzt nach Island (Juli – Okt. 1772). Diese Reisen, v. a. die Cooksche Weltumsegelung, verhalfen ihm zu internationalem wissenschaftlichem Ruhm und Ansehen. Er war bereits Mitte der 1770er Jahre inoffizieller Berater des engl. Kg.s in wissenschaftlichen Angelegenheiten und wurde 1778 zum Präs. der →Royal Geographical Society gewählt. Das Amt bekleidete er bis seinen Tod. B. war ein fähiger, aber kein hervorragender Naturwissenschaftler. Er publizierte zeitlebens nur äußerst selten, wenn überhaupt. Seine eigentliche Stärke lag vielmehr in seiner Eigenschaft als unermüdlicher Förderer der Wissenschaften, v. a. wenn diese den Interessen des brit. Staates dienen konnten. Direkt und indirekt unterstützte er mehrere bedeutende brit. überseeische →Expeditionen (z. B. die von William →Bligh, Matthew →Flinders, Mungo →Park) bzw. einzelne Teilnehmer daran (z. B. Archibald Menzies). Außerdem plädierte er aktiv für Unternehmen imperialer und handelspolitischer Art wie die Gründung einer brit. Kolonie in Neuholland oder die Suche nach der legendären →Nordwestpassage. In diesem Zusammenhang war B. ein führender Kopf brit. Überseeexpansion im ausgehenden 18. und frühen 19. Jh. Harold B. Carter, Sir Joseph Banks, London 1988. John Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment, Cambridge 1994. Ders., Science in the Service of Empire, Cambridge 1998. JA MES B R A U N D Banten (Bantam) ist eine Hafenstadt in West-Java, die im 14. und 15. Jh. wahrscheinlich unter Herrschaft des sundanesischen hindu-buddh. Inlandreiches Pajajaran gestanden hat. Am Anfang des 16. Jh.s hat ihre Bedeutung wegen ihrer strategischen Rolle im internationalen Pfefferhandel (→Pfeffer) deutlich zugenommen. Die port. →Eroberung →Malakkas 1511 hatte weitreichende Folgen für die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse im gesamten Raum. Wie auch andere Hafenstädte an der Nordküste →Javas konnte sich B. erfolgreich als Ersatz für die asiatischen Händler anbieten. Der hindu-buddh. Herrscher von B. war damals formell vielleicht noch Vasall von Pajajaran, trat jedoch zunehmend selbstbewußter auf. Mit den Portugiesen verbündete er sich 1522 gegen das islamisierte nordjavanische Küstenreich Demak. Ein islamischer Führer eroberte B. jedoch 1527 im Namen des Sultans von Demak. In port. Quellen wird er ,Tagaril‘ und ,Falatehan‘ (vielleicht als Fadhillah Khan oder Fatahillah zu verstehen) genannt, javanischen Quellen zufolge ging es jedoch um Sunan Gunungjati, einen der sog. ,Neun Heiligen‘ (wali sanga), welche Java angeblich islamisiert haben sollen. Der zweite islamische Herrscher von B., Hasanuddin (reg. ±1552–1570) brachte die reichen Pfefferdistrikte in Lampung im südlichen →Sumatra unter B.s Herrschaft. Der dritte islamische Herrscher, Molana Yusup (reg. ±1570–1580) besiegte um 1579 Pajajaran. Unter dem vierten islamischen Herrscher, Molana Muhammad (reg. 1580–1596), wurde B. selbständig und unabhängig von Demak. Während der Belagerung von Palembang ist er 1596 umgekommen, 83
bAntu
wie der Reisebericht über die Eerste Schipvaart von Cornelis de Houtman (1565–1599) belegt. Die erste ndl. Expedition nach ,Ost-Indien‘ fand 1595–1597 statt. De Houtman benahm sich aber dermaßen rüde und ungeschickt in B., daß er die Stadt verlassen mußte, ohne daß ein Handel zustande kam. Die Expedition von De Houtman war menschlich und finanziell nicht erfolgreich. Die Mannschaft hatte die Reise mehrheitlich nicht überlebt und die Gewinne konnten die Verluste kaum decken, die Monopolstellung der Portugiesen war jedoch gebrochen. Daraufhin fuhren mehrere ndl. Schiffe ostwärts und übernahmen rasch einen Großteil des Gewürzhandels (→Gewürze). Die ndl. Eroberung der zu B. gehörigen westjavanischen Vasallenstadt Jayakerta, 1619 in →Batavia umbenannt (heute Jakarta), erwies sich als folgenschwer. Im 17. Jh. übernahm die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) die Hegemonie über Java. B. profitierte zunächst in der ersten Hälfte des 17. Jh.s von der Rivalität zwischen →Mataram und den Niederländern. Pangéran Ratu (reg. 1596–1651) nahm 1638 als erster Fürst in Java den Sultanstitel an. Sein arab. Name lautete Abulmafakhir Mahmud Abdulkadir. Die Reg.szeit von Sultan Ageng (1651–1682), auch als Sultan Tirtayasa bekannt, stellte B.s ,Goldene Zeit‘ dar. B. war damals eine blühende internationale Handelsmetropole mit 150 000– 200 000 Ew. Mehrere Kriege wurden mit der VOC geführt: 1633–1639, beendet mit einem Friedensabkommen (1645), dann wieder 1656, wonach 1659 ein neuer Vertrag folgte. Der Kronprinz von B., später Sultan Haji (reg. 1682–1687), baute am Sultanshof eine Gegenmacht auf. Er wurde von der VOC als der ,junge Sultan‘ bezeichnet, während sein Vater Sultan Ageng der ,alte Sultan‘ genannt wurde. Im internen Machtkampf bei Hofe repräsentierte der ,alte Sultan‘ die Anti-VOC-Fraktion, welche stark islamisch orientiert war, während der ,junge Sultan‘ auf die VOC setzte. Während der mittel- und ostjavanischen Rebellion, die 1675 unter Führung des maduresischen Prinzen Radèn Trunajaya (1649?–1680) ausgebrochen war, nahm Sultan Ageng die Chance war, VOC-Schiffe und die Distrikte um Batavia anzugreifen. Als Mataram 1677 unterging, nahmen Sultan Agengs Truppen die von Mataram abhängigen Gebiete in WestJava ein. 1680 versuchte der Kronprinz, die Macht an sich zu reißen. Es gelang ihm nur mit Hilfe der VOC, sich durchzusetzen. 1682 hatte die VOC de facto die Oberherrschaft errungen, B. war Vasallenstaat der Niederländer geworden. Die Engländer mußten B. verlassen und ließen sich daraufhin in Benkulen (Bangkahulu) nieder. Im Zeitalter des staatlichen →Kolonialismus (nach 1800) wurde das Sultanat B. 1813 von Thomas Stamford →Raffles (1781–1826) endgültig aufgehoben. Von allen islamisierten Regionen der indonesischen Inselwelt hat B. (zusammen mit →Aceh im nördlichen Sumatra) den Ruf, am tiefsten vom →Islam durchdrungen zu sein. Weiterhin gilt die Bevölkerung von B. als äußerst ,heißblütig‘. Dieses Stereotyp konnte leicht zustande kommen, weil Unruhen, Aufstände und Kriege (übrigens aus unterschiedlichen Gründen) vom 18. bis zum 20. Jh. in B. endemisch waren. Bekannt geworden sind dabei v. a. die ,Bantener Rebellion‘ (1750–1752) unter Führung des Mystikers Kyai Tapa und des Adligen Ratu Bagus 84
Buang, der Bauernaufstand in Cilegon (1888) und die ,kommunistische‘ Revolte 1926. Ota Atsushi, Changes of Regime and Social Dynamics in West Java, Leiden 2006. Merle C.Ricklefs, A History of Modern Indonesia Since c. 1200, Stanford 2008. Edwin Wieringa, Eine Gegen-Geschichte des Sultanats Banten, in: Zeitschrift der Dt. Morgenländischen Gesellschaft 154 (2004), 417–446. ED WIN WIERIN G A Bantu. Als B. (abgeleitet von aba-ntu = Menschen) wird die größte sprachliche Unterfamilie in Afrika bezeichnet. Ihre Sprecher sind vorwiegend südlich einer Linie von Süd-Kamerun bis Zentral-Kenia verbreitet und auf mehrere Tausend ethnische Gruppen verteilt. Charakteristisch für die B.-Sprachen ist eine Einteilung in (bis zu 23 verschiedene) „Klassen“ nach grammatischen Merkmalen und bestimmten semantischen Kategorien. Sprachwissenschaftliche Pionierstudien wurden v. a. von J. Greenberg (1915–2001) und M. Guthrie (1903–1972) durchgeführt. Die B. sind in mehrere Dialektgruppen aufgeteilt, die von ihren Nachbarn, v. a. ubangi-, nilotisch- und khoisan-sprachigen Gruppen, beeinflußt wurden. Die Genese der B. soll sich im Grenzgebiet →Nigeria/→Kamerun vollzogen haben, wo noch „bantuide“ Sprachen verbreitet sind. Von dort aus expandierten die Proto-B. seit ca. 500 v. Chr. am Nordrand des Regenwaldgürtels ostwärts und entlang der Flußläufe in die kongolesische Hyläa. Ihre Migration ist v. a. auf Grund der mitgeführten Eisentechnologie archäologisch rekonstruierbar. Im 8. Jh. n. Chr. hatten sich die B. – die khoisanide Vorbevölkerung verdrängend oder assimilierend – im Gebiet der großen Seen und im 19. Jh. bis in das südafr. Kapland ausgebreitet. Der Wohnraum der B. umfaßt Landschaftszonen von Regenwäldern über Savannen bis hin zu Halbwüsten in mehr als 20 afr. Staaten. Entspr. differenziert sind ihre wirtschaftlichen Strategien. In den äquatorialafr. Regenwäldern und Feuchtsavannen, wo die Haltung von Großvieh auf Grund geomedizinischer Bedingungen (Tsetse-Fliegen) kaum möglich ist, bilden Mais, Knollenfrüchte und →Bananen die Ernährungsbasis. In Trockensavannen überwiegen gemischtwirtschaftliche Systeme von Feldbau und Haustierhaltung; in Trockenzonen (z. B. bei den Herero) dominiert mobile Viehwirtschaft. An der Ostküste und den ihr vorgelagerten Inseln (→Sansibar, →Komoren) entwickelten die B. eine Händler- und Seefahrerkultur und verbreiteten das →Swahili zur größten Verkehrssprache Afrikas. John Middleton / Jan Vansina, Bantu. Peoples, Dispersion and Settlement, in: John Middleton (Hg.), Encyclopedia of Africa South of the Sahara Bd. 1, New York u. a. 1997, 155–160. U LR ICH BR A U K Ä MPER Bar Sauma, Rabban, * um 1225 Beijing (Zhongdu), † Januar 1294 Bagdad, □ Bagdad, ostsyr. / nestor. B. S. gehörte wahrscheinlich zum türkisch-mongolischen Volk der Önggüt und entstammte einer Familie, die sich zum ostsyrischen („nestorianischen“) Christentum (→Nestorianer) bekannte. In jungen Jahren zog er sich als Einsiedler in die Berge westlich des heutigen Beijing zurück. Ein Schüler namens Markos folgte dem Meister (Rabban) nach. Gemeinsam brachen sie
bA ro ts elA n d
1278 zu einer Pilgerreise nach Jerusalem auf. Sie kamen aber nur bis zum Zweistromland. 1281 wurde Markos (der mittlerweile den Ehrennamen Mar Yahballaha trug) zum Katholikos der ostsyrischen Kirche erhoben, B. S. vom Il-Khan Arghun nach Europa geschickt, um die Möglichkeit militärischer Allianzen zu sondieren. Er besuchte den byzantin. Kaiser in Konstantinopel, die Kurie in Rom, die Kommune in →Genua, den frz. König in Paris, den König von England in Bordeaux. Ungefähr eineinhalb Jahre, von Anfang 1287 bis Herbst 1288, war B. S. als Gesandter unterwegs. Den Verlauf seiner Reise beschreibt seine (und seines Schülers Markos) Biographie, die ein anonymer Kleriker auf der Grundlage autobiographischer Aufzeichnungen in altsyrischer Sprache verfaßte. Lateinische Quellen (Briefe Papst Nikolaus’ IV., eine Ablaßurkunde für die Kathedrale in Veroli, ein engl. Chronist) bestätigen deren Angaben. Sie alle bezeugen die intensiven Kontakte zwischen den mongolischen Reichen und Europa in der 2. H. des 13. Jh.s. Gelegentlich wird B. S. mit Marco →Polo verglichen, der sich zur gleichen Zeit im mongolischen China aufhielt. Q: Pier Giorgio Borbone, Storia di Mar Yahballaha e di Rabban Sauma. Un orientale in Occidente ai tempi di Marco Polo, Turin 2000. Alexander Toepel (Hg.), Die Mönche des Kublai Khan. Die Reise der Pilger Mar Yahballaha und Rabban Sauma nach Europa, Darmstadt 2008. L: Morris Rossabi, Voyager from Xanadu. Rabban Sauma and the First Journey from China to the West, Tokyo u. a. 1992. F OL KE R RE I CHE RT Barbados. Östlichste Insel der Kleinen →Antillen (430 km2); nach span. Entdeckung war B. im 16. und frühen 17. Jh. von Portugiesen besiedelt, die aber um 1620 die Insel verließen. Um 1625 ließen sich engl. Siedler, angeleitet von Sir William Courteen, auf B. nieder. 1651/52 unterwarfen sich die royalistisch gesinnten Siedler einem Flottenkontingent Oliver Cromwells. Zu dieser Zeit war die Umstellung von einer →Tabak zu einer →Zucker produzierenden Kolonie schon weit fortgeschritten. Wie in →Jamaika wurde der Aufbau der Zuckerproduktion in Großplantagen von einer dramatischen Ausweitung des Sklavenimports begleitet. Zahlreiche gescheiterte Sklavenrevolten im 18. Jh. kulminierten 1816 in Bussa’s Revolution, die aber gleichfalls niedergeschlagen wurde. 1834 wurde die →Sklaverei abgeschafft. Wie die Pflanzer von Jamaika gehörten auch jene von B. bis in die Mitte des 19. Jh.s zu den wohlhabendsten der atlantischen Welt. Mit der Abschaffung der Sklaverei und der zunehmenden Bedeutung des Rübenzuckers verlor die Zuckerproduktion auf B. an Bedeutung. 1999 betrug die Jahresproduktion der Insel 53 200 t. Politisch war die Pflanzerklasse von B. wie jene Jamaikas in England bis ins 19. Jh. durch Pflanzer, die in England lebten und ihre Plantagen durch Aufseher verwalten ließen, im sog. „West Indian Interest“ vorzüglich repräsentiert. Kathleen Mary Butler, The Economics of Emancipation, Chapel Hill 1995. Richard B. Sheridan, Sugar and Slavery, Kingston 1994. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Bargasch, Sayyid * 1837, † 26. März 1888 Sansibar, □ unbek., musl.
Der mit vollem Namen Sayyid Bargasch ibn Said AlBusaid (auch Bargasch ben Said) genannte Sohn Sayyid Saids, des Sultans von Maskat und Oman (bis 1856) folgte seinem jüngeren Bruder Majid ibn Said, dem ersten Sultan von →Sansibar. Nach einem gescheiterten Versuch, letzteren schon 1859 zu stürzen, beherrschte B. von 1870 bis 1888 das Sultanat von Sansibar und dessen Besitzungen auf dem ostafr. Festland. Um 1870 hatte sich der Einflußbereich des Sultanats im Landesinneren bis jenseits des Tanganjikasees ausgebreitet, einerseits durch das Vordringen auch sansibarischer Sklavenhändler, andererseits aber auch im Kampf gegen deren Eigenmächtigkeiten. Entspr. Bündnisse ging B. sowohl mit dem Nyamwesi-Herrscher Mirambo als auch nach dessen Tod mit dem Sklaven- und Elfenbeinhändler (→Elfenbein) →Tipu Tip ein. Offiziell erließ S. 1873 unter dem Druck der Briten ein Verbot des →Sklavenhandels. Inoffiziell lief dieser aber als eine Art Sklaven-Schwarzmarkt noch bis 1897 weiter. Unter der Herrschaft von B. wurde der Stadtteil Stone Town in Sansibar-Stadt ausgebaut; 1883 bekam diese mit dem „Haus der Wunder“ und dem Leuchtturm neben dem Sultanspalast auch ihr erstes Elektrizitätswerk. 1888 zählte die Stadt über 3 000 Häuser und 80 000 Ew. B. förderte die Reisen europäischer Forscher auf dem Festland. Er geriet aber auch bald in Konflikt mit den Expansionsbestrebungen der miteinander konkurrierenden europäischen Mächte. Seinen Protest gegen entspr. Aktivitäten der →Dt.-Ostafr. Gesellschaft mußte er nach einer dt. Flottendemonstration aufgeben und die Ansprüche Berlins anerkennen. 1886 legte eine dt.-brit. Kommission, an der pro forma auch Frankreich und Portugal teilnahmen, die Grenzen der sansibarischen Festlandbesitzungen fest. N. R. Bennett, A History of the Arab State of Zanzibar, London 1978. G ISELH ER BLESSE Barotseland. Das Kgr. der Lozi/Barotse etablierte sich um die fruchtbaren Überflutungsgebiete des oberen Sambesi und wurde ab Ende des 19. Jh.s von Großbritannien, Deutschland und Portugal aufgeteilt und kolonisiert. Der Lozi-Kg. (litunga) Lewanika verlor durch die Lochnerkonzession (1890) und Folgeverträge mit der →British South Africa Company seine Souveränität und Außengebiete des Kgr.s, konnte jedoch seine eigene Herrschaftslinie und eine weitreichende Verwaltungsautonomie für das ihm verbleibende Hoheitsgebiet „B.“ als →Protektorat auch innerhalb der brit. Kolonie Nordrhodesien (→Sambia) sichern. Kurz vor der Unabhängigkeit wurde zwischen der Übergangs-Reg. des unabhängigen Sambia, der brit. Reg. und der Loziführung die sog. B.Vereinbarung von 1964 ausgehandelt. Die darin festgelegte Teilautonomie von B. wurde jedoch bald durch Reg.sreformen unterminiert und 1969 änderte die Reg. unter Präs. Kenneth Kaunda den Namen in „Western Province“. Nach Jahrzehnten im politischen Abseits kam seit der Jahrtausendwende mit der (Wieder-) Entdeckung mineralischer Ressourcen durch Investoren und politischen Interesses durch die Zentralreg. ein mäßiger wirtschaftlicher Aufschwung in diesen jedoch weiterhin stark verarmten, grenznahen Teil Sambias. 85
b A r r Ag Ani A
Gerald L. Caplan, The Elites of Barotseland 1878–1969, London 1970. Harry Hamilton Johnston, Barotseland, London 1922. WOL F GANG Z E L L E R Barragania (von Span. la barragana, Konkubine). Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spanien eine von der weltlichen Rechtsordnung geduldete Form des unverheirateten Zusammenlebens von Mann und Frau, die durch einen notariell errichteten Vertrag begründet wurde, der wechselseitige Verpflichtungen der Partner festschrieb. Die formale Voraussetzung, nach der nur solche Personen eine B.-Verbindung eingehen durften, die auch hätten heiraten dürfen, wurde in praxi nicht immer beachtet. Auch Fälle von Priestern, die B.-Verbindungen eingingen, sind überliefert. Kinder aus B.-Verbindungen waren rechtlich i. d. R. in einer besseren Position als uneheliche Kinder, z. B. waren sie erbberechtigt. Eine B.Verbindung konnte, im Gegensatz zur Ehe, einvernehmlich gelöst werden. Die Kirche bezog scharf gegen B. Position. Das Konzil von Trient (1545–1563) verdammte diese Art des Zusammenlebens, was seine offizielle Abschaffung in Spanien zur Folge hatte. Das als amancebamiento (wilde Ehe) bezeichnete Konkubinat, jetzt ohne vertragliche Grundlage, blieb jedoch sowohl in Spanien als auch in dessen am. Besitzungen eine weitverbreitete gesellschaftliche Realität – in letzteren v. a. in ländlichen Regionen, in denen die kirchliche Infrastruktur wenig ausgeprägt war, und bei den Unterschichten, die die Kosten einer kirchlichen Heirat mieden. Susan Migden Socolow, The Women of Colonial Latin America, Cambridge u. a. 2000. CHRI S TOP H KUHL Barth, Heinrich, * 16. Februar 1821 Hamburg, † 25. November 1865 Berlin, □ Jerusalemer Friedhof Berlin, ev.-luth. Studium der Klassischen Philologie in Berlin. 1845 Promotion mit Arbeit zur antiken Handelsgeschichte Korinths. Danach erste Nordafrikareise nach →Tunesien und dem damals noch osmanischen →Libyen. Dabei suchte B. römische Zeugnisse aus der Spätantike. 1847 Habilitation mit „Geschichte der Geographie als historische Hilfswissenschaft“. B. besaß eine ausgeprägte Sprachbegabung. Neben den wichtigen europäischen Sprachen und dem klassischen Arabisch beherrschte er Haussa, Fulani, Kanuri sowie Dialekte der →Tuaregs und →Berber. Erhielt 1850 mit Unterstützung Alexander von →Humboldts und des renommierten Berliner Geographen Carl Ritter neben Adolf →Overweg den Posten eines Wissenschaftlers bei der Handelsmission des brit. Missionars und Abolitionisten James Richardson nach Nordafrika. 1850–1855 zweite Nordafrikareise von →Tripolis durch die libysche Wüste über den →Tschadsee und Benue nach Adamaua. B. kartographierte den Flußlauf des Benue bis zu seiner Mündung in den →Niger. Aufenthalt in →Timbuktu und Rückkehr nach Tripolis. Er sammelte ein umfassendes geographisches, historisches, ethnologisches und linguistisches Wissen über die Region. Während seines Aufenthalts in Timbuktu hatte er Zugang zu islamischen Chroniken und wirkte u. a. anhand dieser Quellen dem Topos vom „geschichtslosen“ Afrika entgegen. Nach dem Tod 86
Richardsons 1852 führte B. die diplomatische Mission weiter und schloß für Großbritannien Handelsverträge mit dem Sultan von →Bornu u. a. afr. Herrschern ab. B.s diplomatische Erfolge waren bei seiner Rückreise nach Großbritannien obsolet, da eine andere Mission parallel die südliche Nigerroute nach Bornu erschlossen hatte. Im Anschluß an die mehrjährige Reise verarbeitete B. seine Forschungserträge in einem fünfbändigen Werk. Darin beschrieb er vorurteilsfrei die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturen Zentral- und Westafrikas, von denen die europäische Wissenschaft bis dahin nur wenig wußte. Alexander v. →Humboldt konnte deshalb sagen, er habe einen Kontinent erschlossen. Von 1858 bis 1862 bereiste B. das Osmanische Reich und Teile Südeuropas. 1862 wurde er in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Er bemühte sich um eine akademische Position, erhielt aber erst 1863 eine unbezahlte außerordentliche Professur für Geographie in Berlin. B. führte den Vorsitz der →Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und begann sie, z. B. mit der Carl-Ritter-Stiftung, zu einem wichtigen Instrument der Forschungsförderung auszubauen. Er unternahm noch weitere Reisen im Mittelmeerraum. Auch wenn ihm diese Leistungen schon zu Lebzeiten in Gelehrtenkreisen große Anerkennung einbrachten, scheiterte er bei seinem Bemühen um eine ordentliche Professur am akademischen Establishment. B. starb an den Spätfolgen einer auf seiner ersten Afrikareise erlittenen Verletzung. Der Nachlaß ist verstreut. Q: Heinrich Barth, Reisen und Entdeckungen in Nordund Centralafrika, 5 Bde., Gotha 1855–1858. L: Yvonne Deck, Heinrich Barth in Afrika, Saarbrücken 2012. Mamadou Diawara (Hg.), Heinrich Barth et l’Afrique, Köln 2006. Heinrich Schiffers (Hg.), Heinrich Barth, Wiesbaden 1967. R A LF EMIN G / G ERH A R D H U TZLER Baseball. V. a. in den →USA, der →Karibik und Japan verbreitetes Schlag- und Wurfspiel, in dem zwei Mannschaften mit je neun Spielern gegeneinander antreten. Heute in den USA ein Nationalsport, hat B. seine Wurzeln im von Einwanderern verbreiteten dt. Schlag- sowie dem engl. Kricketspiel (→Kricket), woraus sich B. in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in den östlichen USA entwickelte. 1845 entstand das mit wenigen Abweichungen bis heute gültige Regelwerk, das von dem New Yorker Buchhändler A. Cartwright (1820–1892) für den Knickerbocker Baseball Club New York zusammengestellt wurde. 1857 wurde der erste Baseballverband, 1869 mit den Cincinnati Red Stockings die erste Berufsmannschaft gegründet. Letztlich konnten sich unter vielen konkurrierenden Verbänden die 1876 gegründete National League sowie die sich 1901 konstituierte American League als dominierend herauskristallisieren. Seit 1903 spielen die jeweiligen Sieger dieser beiden Verbände in der World Series gegeneinander um die US-Meisterschaft, woraufhin beide Verbände unter dem Dach der Major League Baseball organisiert wurden. 1947 wurden erstmals auch schwarze Spieler unter Vertrag genommen. 1874 fand in London das erste B.spiel auf europäischem Boden statt. Allerdings gelang es niemals, B. in Europa ähnlich populär zu machen wie etwa Basketball oder den kanadischen Sport Eishockey. In Japan hingegen erfreute
bA s ti An , A d o lf
sich der noch junge Sport bereits 20 Jahre nach der Expedition Commodore Perrys von 1853/54 einiger Beliebtheit, als es H. Wilson 1872 gelang, das Spiel einzuführen. Seither avancierte B. zu einer der jap. Nationalsportarten, v. a. nach 1945 entwickelte es sich zum beliebtesten Sport Japans. Auch in der Karibik, v. a. in Puerto Rico und →Kuba konnte B. nach dem →Span.-Am. Krieg von 1898 und der faktischen am. Besetzung große Erfolge verbuchen und seither den Rang einer Nationalsportart erlangen. Bedeutende B.spieler waren Georg Herman „Babe“ Ruth Jr. (1895–1948) sowie Joseph Paul „Joe“ Dimaggio (1914–1999). Der erfolgreichste und wohl berühmteste Verein sind die 1901 gegründeten New York Yankees. Roger Kahn, The Boys of Summer, New York 1972. Harold Seymour, Baseball, Bd. 3, New York 1990. F L ORI AN VAT E S
Basler Missionsgesellschaft (BM). Als „Evangelische Missionsgesellschaft in Basel“ (kurz: Basler Mission) am 25.9.1815 gegründet, war die BM die erste, nicht an eine (Landes-)Kirche gebundene sowie in ihrer Rechtsform als freier Verein etablierte evangelische Missionsgesellschaft im dt.-sprachigen Raum. Sie wurde damit gleichermaßen Prototyp wie Vorbild für die Gründung weiterer Gesellschaften dieser Art in den folgenden Jahren in Deutschland. Die BM war sowohl ein Produkt der von England ausgehenden zeitgenössischen Missionseuphorie einerseits wie der →Erweckungsbewegung andererseits, die spätestens mit der 1780 in Basel ins Leben gerufenen „Dt. Christentumsgesellschaft“ („Dt. Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseeligkeit“) ein wichtiges Zentrum auf dem europäischen Kontinent hatte und zu der in der Gründungsphase enge personelle Verbindungen bestanden. Ein Charakteristikum der BM war es von Anfang an, daß sich in ihr die pietistisch geprägte bürgerliche Elite Basels – die die meisten Mitglieder des Leitungsorgans (des „Komitees“) stellte – sowie die pietistischen Kreise Südwestdeutschlands (v. a. Württembergs) – aus denen sich der überwiegende Teil des überseeischen Personals und die heimatlichen Spender rekrutierten – zusammenfanden. Alle vollamtlichen Leiter („Inspektoren“, seit 1906 „Direktoren“) bis 1939, die an der Spitze der autoritär und hierarchisch gegliederten BM standen, waren hingegen Deutsche; ebenso bildeten sich rasch überall im dt.-sprachigen Raum Hilfsvereine, die die junge BM unterstützten und aus denen später dann selbständige Missionsgesellschaften (u. a. 1824 die →Berliner Missionsgesellschaft, 1828 die →Rheinische Missionsgesellschaft (RMG), 1836 die →Leipziger Missionsgesellschaft sowie die →Norddt. Missionsgesellschaft (NMG)) hervorgingen. Von großer Bedeutung für das rasche Erstarken der BM war das 1816 eröffnete Missionsseminar, das zunächst Personal an zumeist engl. Missionsgesellschaften – v. a. an die 1799 gegründete anglik. Church Missionary Society – abgab, seit den 1820er Jahren dann aber Missionare für eigene Unternehmungen ausbildete und seit 1851 sogar die gesamte Ausbildung für andere Missionsgesellschaften, namentlich die NMG, übernahm. Nach ersten gescheiterten Missionsunternehmungen im →Kaukasus
(1821–1835) und in →Liberia (1827–1831) gelang der BM schließlich die Errichtung dauerhafter Arbeitsgebiete an der Goldküste (dem heutigen →Ghana, seit 1828), in Südwestindien (seit 1834), in Südchina (seit 1847) sowie in →Nord-Borneo (seit 1906 Betreuung chin. Christen). Nachdem das Dt. Reich Kolonialmacht geworden war, beteiligte sich auch die BM, da sie sich nach ihrem damaligen Selbstverständnis als „dt.“ Missionsgesellschaft begriff, an der Kolonialmission und richtete dabei ihr Augenmerk auf Westafrika: 1886 begründete sie eine umfangreiche Missionstätigkeit in →Kamerun und Anfang 1913 leitete sie schließlich eine – wenn auch letztlich nur kurzlebige – Arbeit im Norden →Togos ein. Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegsjahre waren auch für die BM eine Krisenzeit, da sie bis Mitte der 1920er Jahre den Verlust ihrer Missionsgebiete – mit Ausnahme von China – hinnehmen mußte. Gleichwohl übernahm sie bereits 1920 auf Bitten der RMG deren Arbeitsgebiet in Kalimantan (Südborneo) und war überdies bestrebt, ihre langjährigen Beziehungen zur internationalen ökumenischen Bewegung zu intensivieren, was sie u. a. mit der Teilnahme an den Weltmissionskonferenzen in Jerusalem (1928) und Tambaram bei →Madras (1938) dokumentierte. Während der nationalsozialistischen Diktatur kam es innerhalb der BM zum Kirchenkampf und 1939 zur Abspaltung einer dt. Zweigstelle, da man so hoffte, eine politische Einflußnahme durch die Nationalsozialisten auf das Gesamtwerk zu verhindern und eine ungehinderte Missionsarbeit gewährleisten zu können. Entgegen ursprünglicher Planungen wurde die Trennung nach 1945 nicht mehr rückgängig gemacht, obwohl weiterhin eine enge Zusammenarbeit bestand – v. a. im Hinblick auf eine Neuorientierung der Arbeit hin zu einer gleichberechtigten Kooperation mit den Christen in den ehem. Missionsgebieten. Nachfolgeinstitutionen der BM sind heute die „Basler Mission Dt. Zweig e. V.“ als Mitglied im Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland sowie die 2001 gegründete „mission 21“ (Evangelisches Missionswerk Basel), welche gemeinsam die aus der Tätigkeit der BM hervorgegangenen Partnerkirchen unterstützen. Paul Jenkins, Kurze Geschichte der Basler Mission, Basel 1989. Dagmar Konrad, Missionsbräute, Münster 2001. Jon Miller, The Social Control of Religious Zeal, New Brunswick / N.J. 1994. TH O R STEN A LTEN A Bastian, Adolf, * 26. Juni 1826 Bremen, † 2. Februar 1905 Port of Spain / Trinidad, □ Matthäi-Friedhof / Berlin, später umgebettet auf Südwestfriedhof in Stahnsdorf bei Berlin, rk. B. studierte 1847–1850 Rechts- und Naturwissenschaften sowie Medizin in Berlin, Jena und Prag und promovierte in Würzburg bei Rudolf Virchow in Medizin. Seine erste, acht Jahre dauernde Weltreise führte ihn ab 1850 als Schiffsarzt nach →Australien, Süd- und →Südostasien, Südamerika und Kalifornien. Die ethnologischen Beobachtungen, die B. auf seinen insg. acht Weltreisen machte (auf der neunten verstarb er), verarbeitete er in einer großen Zahl von Reiseberichten, wissenschaftlichen Aufsätzen und Vorträgen. 1867 habilitierte er sich in Geschichte und →Geographie, seit 1869 war er Dozent für 87
b A s utol A n d � l es o t h o �
→Völkerkunde in Berlin, wo er 1871 die Verwaltung der Ethnologischen Sammlungen der Kgl. Museen übernahm und die „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ gründete. 1886 wurden die ethnologischen Sammlungen in ein eigenes Museum ausgelagert (Museum für Völkerkunde), dessen erster Direktor B. wurde. Während seiner Amtszeit gelang ihm, u. a. durch die Objekte, die er von seinen eigenen Reisen mitbrachte, eine erhebliche Erweiterung der Bestände des Museums. In seiner psychologisch inspirierten Völkerkunde ging er von Gemeinsamkeiten in der materiellen und geistigen Kultur bei Völkern aus, die gleiche „Geographische Provinzen“, d. h. Siedlungsräume mit gleichartigen natürlichen Lebensbedingungen, bewohnten. Manuela Fischer u. a. (Hg.), Adolf Bastian, Hildesheim 2007. Karl Lenz, Adolf Bastian, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 136 (2005), 63–68. Hans Plischke, Bastian, Adolf, in: NDB 1 (1953), 626f. CHRI S TOP H KUHL
Basutoland (Lesotho) liegt am Gebirgszug der Drakensberge und wird von Südafrika umschlossen. Es hat eine Bevölkerung von ca. 2 Mio. Menschen und eine Alphabetisierungsrate von 85 %. Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Sesotho. Im 19. Jh. konnte die Sotho-‚Nation‘ die Ausbreitung →Shaka Zulus und seines Zulu-Reichs (→Zulu) überleben, indem sie unter ihrem Anführer →Moshoeshoe Zuflucht auf dem unzugänglichen Berg Butha-Buthe suchte. Später nahm sie die Stadt Thaba Bosiu, östlich des heutigen →Maseru, ein. Um 1831 war Moshoeshoe I. der unangefochtene Herrscher, bekannt für sein diplomatisches Geschick. Er schickte den verschiedenen Häuptlingstümern Abgaben, um Konfrontationen und Übergriffe zu vermeiden. Er war ein aufgeklärter und fortschrittlicher Anführer, der die Notwendigkeit für sein Volk erkannte, westliche Bildung zu erwerben, um sich in der sich rasch ändernden Welt zu behaupten. Moshoeshoe lud die frz. Missionare Thomas Arbousset, Eugène Casals und Constant Cosselin 1833 nach B. ein, um eine Missionsstation in Morija errichten zu lassen. Als die Übergriffe der →Afrikaners begannen und sich der Druck auf das Land verstärkte, suchte Moshoeshoe I. den Schutz Großbritanniens, der 1848 gewährt wurde. B. wurde 1868 zum brit. Hoheitsgebiet erklärt, und Kg. Moshoeshoes Volk wurde zu brit. Untertanen. Moshoeshoe I. starb 1870. Seine Söhne setzten die Herrschaft fort. B. erlangte am 4.10.1966 Unabhängigkeit von Großbritannien. Der gegenwärtige Herrscher ist Kg. Letsie III. Die Reg. ist eine konstitutionelle Monarchie mit einem Premierminister als Reg.schef mit Exekutivgewalt. Der Kg. hingegen hat vornehmlich zeremonielle Funktionen und keine Exekutivmacht. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Peter Magubane, Vanishing Cultures of South Africa, New York 1998. ANNE KI E JOUBE RT
Batavia. Hauptstadt →Ndl.-Indiens; die Stadt an der Nordwestküste →Javas wurde vom musl. Kgr. Demak nach Siegen über benachbarte hinduistische Fürstentümer 1527 als Jayakarta (dt.: großer Sieg) gegründet. 88
1619 nahm die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) die Stadt ein und machte sie zu ihrem Hauptsitz auf Java. Dabei wurde die Stadt – nach dem in ihr errichteten ndl. Fort – in B. umbenannt. Umfangreiche chin. Zuwanderung sorgte im 18. Jh. für massive soziale Konflikte. 1740 kam es zu Pogromen der Einheimischen an Chinesen (ca. 5 000 Tote), so daß die Niederländer sich veranlaßt sahen, die verbliebenen Chinesen aus B. auszusiedeln. Nach dem infolge der Napoleonischen Kriege zustande gekommenen Zwischenspiel brit. Herrschaft (1811–1816) prosperierte B. im 19. Jh. und wuchs stark (1880: 100 000 Einw., 1915: 200 000 Einw.). 1942 besetzten jap. Truppen Ndl.-Indien. B. wurde von den mit Japan kollaborierenden indonesischen Nationalisten in Jakarta umbenannt. Nach Realisierung der Unabhängigkeit →Indonesiens behielt die Stadt diesen Namen sowie den Status der Hauptstadt. Merle Calvin Ricklefs, A History of Modern Indonesia Since c. 1200, Stanford 42008. CH R ISTO PH K U H L Bathurst →Banjul Baumann, Oscar, * 25. Juni 1864 Wien, † 12. Oktober 1899, Wien, □ Kommunalfriedhof Salzburg, rk. Nach dem Abitur geographische und kartographische Studien an TH und Militär-Geographischem Institut in Wien sowie Militärdienst (1884 Leutnant d. R.). Parallel 1883 Forschungsreise nach Montenegro. Auf Grund erwiesener Fähigkeiten, Teilnahme an der österr. →Expedition in den Kongo 1885/86. Umkehr wegen Erkrankung, auf dem Rückweg Studien auf der Insel →Fernando Póo. Mit den dabei erzielten Ergebnissen konnte er 1888 in Leipzig promovieren. Dort Bekanntschaft mit Hans →Meyer, den er dann bei dessen 2. KilimandscharoExpedition (→Kilimandscharo) begleitete. Diese endete jedoch nach Forschungen im Usambara-Gebiet im Sept. 1888 erfolglos mit Geiselhaft und Lösegelderpressung. Danach ergänzte B., nun im Auftrage der →Dt.-Ostafr. Gesellschaft, seine Usambara-Forschungen. 1890 Veröffentlichung: „Usambara und seine Nachbargebiete“. Das Dt. Antisklaverei-Komité (Sitz Koblenz), die Eisenbahn-Gesellschaft für Ostafrika und die Dt.-Ostafr. Gesellschaft beauftragten den inzwischen bekannten gewordenen B., den Norden von →Dt.-Ostafrika näher zu erforschen. Diese Expedition (Jan. 1892 – März 1893) dehnte er nach eigenem Ermessen erheblich aus. Während seiner z. T. rücksichtslos geführten Expedition war er wiederholt in kleinere Gefechte verwickelt. Im Sept. 1892 hielt er sich kurz in →Ruanda und Urundi auf, wo er u. a. die südlichste Nilquelle (→Nil) entdeckte, die er für die eigentliche Nilquelle hielt. Ergebnisse veröffentlicht in: „Durch Massailand zur Nilquelle“, Berlin 1894. Seit 1896 österr. Honrarkonsul in →Sansibar, gleichzeitig weitere Forschungen dort sowie auf den Inseln Pemba und Mafia. 1899 erkrankt, Rückkehr nach Wien und Tod. Seine Bedeutung liegt in der geographischen Erfassung unbekannter Regionen vornehmlich in Dt.-Ostafrika und der Veröffentlichung mehrerer Werke und Aufsätze in sachlich-eindringlichem Stil.
bA u m wo lle u n d bAu m wo llte � ti li en
Herbert Langthaler, Von Erdberg an die Nil-Quellen, SÜDWIND-Magazin 1–2 / 1996, Wien. Friedrich Ratzel, Biographisches Jb. und Dt. Nekrolog, IV, Berlin 1900. RE I NHART BI NDS E I L
Baumwolle und Baumwolltextilien. Als bedeutendes Agrarprodukt vieler tropischer und subtropischer Regionen der Welt, massenhaft nachgefragtes Konsumgut im globalen Güterverkehr seit dem 17. Jh. sowie zentrales Rohmaterial der Frühindustrialisierung findet B. vielfältige Beachtung in der Europäischen Überseegeschichte. Rohbaumwolle, bestehend aus den weißen Fasern, die um die Samenkörner des Baumwollstrauchs wachsen, eignet sich im Besonderen für die Herstellung von Textilien; die bei Naturfasern einzigartigen Verarbeitungs- und Trageeigenschaften dieser weichen, leichten und dabei dauerhaften Gewebe machen Baumwolle zu dem noch heute bedeutendsten Textilrohstoff der Welt. Varianten der Baumwollpflanze (Gossypium) kommen in den tropischen Regionen Afrikas, Asiens, →Amerikas und →Australiens vor und wurden im Altertum in verschiedenen Zivilisationen zu Textilien verarbeitet. So trafen Europäer in der Folge der Entdeckungsreisen auf eine hochentwickelte Produktion von Baumwolltextilien sowohl im ost- als auch im westind. Raum. Auf dem am. Kontinent gehörte B. zu den ersten Nutzpflanzen, die von Europäern systematisch angebaut wurden, entwickelte sich jedoch hier vor dem 18. Jh. nicht zu einer ExportStapelware. In der Alten Welt hatte sich die Kultivierung im Plantagensystem zur Zeit des römischen und später des arab. Weltreichs vom ind. Raum aus nach China sowie in den östlichen und schließlich westlichen Mittelmeerraum ausgebreitet; so gelangten bereits im Mittelalter Baumwollfasern von Malta und Sizilien sowie feine Baumwollgarne aus Syrien und der Türkei überwiegend auf dem Landweg in mittel- und nordwesteuropäische Textilwerkstätten, wo sie seit dem 14. Jh. mit Leinen zu Mischgeweben (Barchenten) verarbeitet wurden. Farbenprächtige B. aus →Indien waren im 16. Jh., als sie über den port. Indienhandel nach Europa kamen, an den europäischen Fürstenhöfen geschätzte Luxusgüter. Es waren diese kunstvoll mit exotischen Motiven bemalten Mousseline und Chintze aus der ind. Produktion, die mit ihren leuchtenden Farben und der Leichtigkeit der Gewebe (und nicht zuletzt ihrer Waschbarkeit) einen nachhaltigen Eindruck bei den an eher unbequeme Leinenund Wollstoffe gewöhnten Europäern hinterließen. In der Folge wurden „Indiennes“ zu in ganz Europa bei breiten Bevölkerungsschichten nachgefragten Modestoffen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jh.s brachten die →Ostindienkompanien große Mengen leichter, relativ billiger ind. B. (Zitze oder Zitzkattune) auf den europäischen Markt – etwa zeitgleich setzte in Nordwesteuropa eine expansive Entwicklung des Textilveredelungsgewerbes ein: in den großangelegten Kattunmanufakturen des ausgehenden 17. und des 18. Jh.s wurden importierte weiße Baumwollstoffe (Calicos) gebleicht, bedruckt, gefärbt und apprettiert. Der Bedarf an Baumwollstoffen in den Zeugdruckereien forcierte die Herstellung von Tuchen mit importierten Garnen und schließlich der Garne selbst. Damit verschob sich im beginnenden 18. Jh. der Schwer-
punkt der Importe auf die Zulieferung von Zwischenprodukten. Der entscheidende Strukturwandel im Hinblick auf die →Industrialisierung des europäischen Textilgewerbes erfolgte gegen die Mitte des 18. Jh.s: die veränderte Nachfragesituation, die organisatorische Umgestaltung der Arbeitsprozesse, wirtschaftspolitische Maßnahmen (Ausbildung bzw. den Zuzug von Fachpersonal, Aufweichen von Produktions- und Handelshemmnissen) sowie die durch den erweiterten Welthandel ermöglichte Zunahme des Angebotes an Textilfasern (→Süden der USA) und →Farbstoffen (Indigo, Cochenille). Der damit verbundene Wissenstransfer aus Übersee sowie der Beginn der rationalen Beschäftigung mit der Textilverarbeitung durch die aufkommenden Naturwissenschaften boten die Voraussetzungen für die Technisierung der europäischen Baumwollgarnherstellung durch die Einführung mechanischer Produktionsmethoden in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s (um 1764 Spinning Jenny, 1769 Water Frame, 1779 Spinning Mule, 1785/1786 Verwendung von Dampfkraft; 1769 mechanische Spinnerei in Bielefeld, 1771 Textilfabrik in Cromford, England, 1783 Textilfabrik Cromford-Ratingen, erste Spinnmaschine in den →Vereinigten Staaten: 1787). Der 1783 in der Oekonomischen Encyklopädie, einer der wichtigsten dt.-sprachigen Quellen für die Zeit des Wandels zur Industriegesellschaft, erschienene Artikel „Baum-Wolle“ markiert die Übergangsphase zur Entstehung einer europäischen Textilindustrie, in der in der Folge Rohbaumwolle versponnen und weiterverarbeitet wurde: „In Teutschland ist das Baumwollenspinnen, und die Zubereitung eines recht feinen baumwollenen Garns zu weißem klaren Cattun und Nesseltuch noch sehr schlecht; daher auch nichts als gemeine und grobe baumwollene Manufacturen, z. E. Barchent, Cannefaß, schlechter Cattun, Strickwerk, Halstücher etc. fabriciret wird. Allein, es wird dieselbe zum Theil von den Ausländern gesponnen, und also auch in Strehnen heraus in Europa verhandelt, woraus denn, ausser obgedachten Manufacturen, Mützen, Handschuhe und vielerlei andere Dinge verfertiget werden, womit in ganz Europa gehandelt wird.“ Die technischen Innovationen versetzten die Europäer in die Lage, im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh., als die Führung in der Produktion von B. auf Großbritannien und in der Folge auch die am. Nordstaaten überging, mit den qualitativ hochwertigen Stoffen der asiatischen Märkte zu konkurrieren. So etablierte sich die bereits vor dem 19. Jh. weltumspannende Baumwollwirtschaft als zentraler Bestandteil eines sich globalisierenden Handels: die ind. B. fanden Absatz in →Südostasien, dem mittleren Osten, Westafrika und Amerika und schufen so eine wichtige Verbindung zwischen den Wirtschaften des →Atlantiks und des →Ind. Ozeans; als Teil des Atlantischen Dreieckshandels finanzierte ind. und europäische Baumwollkleidung den den Kauf afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) für die Arbeit auf am. Plantagen, während im 19. Jh. der Süden der USA zum weltweit größten Exporteur von Rohbaumwolle aufstieg; nicht zuletzt sorgte der „Baumwollboom“ für den Aufbau kapitalträchtiger europäischer Bank- und Handelshäuser. Anbau und Verarbeitung von B. waren – und sind – weltweit auch ein Auslöser für tiefgreifende soziale 89
b e A c hc o m b e r
und gesellschaftliche Veränderungen: eine mit der Umstrukturierung von Arbeitsprozessen, insb. der Einführung des Fabriksystems verbundenen gesellschaftlichen Neuorganisation, Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte sowie den interregionalen Austausch von Fachpersonal. Die extensiven Anbaumethoden mit ihrem Bedarf an großen Mengen billiger Arbeitskräfte für die arbeitsintensive Ernte und Reinigung der Rohbaumwolle führten zur Kolonisierung neuer Gebiete und der unfreiwilligen Migration von hunderttausenden von Sklaven. In verschiedenen Regionen der Welt, wie dem →Osmanischen Reich, China, Westafrika sowie →Lateinamerika und der →Karibik, wurden weniger effiziente Herstellungsmethoden zunehmend verdrängt und durch die Einfuhr europäischer Textilien ersetzt. In neuerer Zeit wird in der Forschung versucht, B. hatte als Träger eines weltumspannenden Wissens- und Techniktransfers sowie kultureller Austauschprozesse zwischen den Regionen der Welt mit Produktion, Handel und Konsum von B. und Baumwollprodukten auch in ihrer integrativen Funktion im Rahmen der Globalisierung zu verstehen. Sergio Aiolfi, Calicos und gedrucktes Zeug. Die Entwicklung der engl. Textilveredelung und des Tuchhandels der East India Company 1650–1750, Stuttgart 1987. Sven Beckert, The Empire of Cotton, London 2004. Wolfgang Mönninghoff, King Cotton. Kulturgeschichte der Baumwolle, München 2006. ANJA T I MME RMANN Beachcomber. Bezeichnung für Personen, die als Gestrandete von verunglückten Schiffen, Deserteure von Walfängern oder Handelsschiffen, oder als entflohene Sträflinge, v. a. im 18. und 19. Jh. auf Inseln gelangten, um Zwängen, Unterdrückung und Notsituationen zu entkommen, bzw. ihr Überleben zu gewährleisten. B. waren vor Ort mit den Einheimischen konfrontiert. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, das Erlernen der jeweiligen Lokalsprachen und Verhandlungsgeschick waren dabei überlebenswichtig. B. wurden nicht immer willkommen geheißen und oft von den Einheimischen getötet und ihrer Habseligkeiten beraubt. Besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten bildeten jedoch oft ein Kapital, welches es den Gestrandeten ermöglichte, ein Auskommen mit und teilweise sogar eine dominierende Machtposition in den indigenen Gesellschaften zu erlangen. Dabei spielten v. a. mitgebrachte Waffen und Werkzeuge und deren geschickte Handhabung eine besondere Rolle, was zu Verschiebungen in den lokalen Kräfteverhältnissen führte. Häufig stellten B. den ersten intensiven Kontakt isoliert lebender Inselbewohner mit der westlichen Kultur dar. Einige von ihnen konnten als Berater von lokalen Häuptlingen reüssieren und wurden in die einheimischen Gesellschaften aufgenommen, wo sie Familien gründeten. Viele konnten auf Grund ihrer vor Ort erworbenen Sprachkenntnisse als Vermittler zwischen den Einheimischen und den ankommenden europäischen Händlern und Seefahrern dienen und so einflußreiche Stellungen erreichen. Der Einfluß der B. auf die lokalen Kulturen muß jedoch als begrenzt angesehen werden, da die meisten B. sich nur für kurze Zeit aufhielten. Die Bezeichnung B. bezieht sich explizit nicht auf jegliche Form 90
organisierter Siedlungs- und Handelsbestrebungen und systematischer Kolonisation einzelner Individuen. Thomas Bargatzky, Beachcombers and Castaways as Innovators, in: The Journal of Pacific History, 15/2 (1980), 93–102. Alex Calder, Jonathan Lamb, Bridget Orr (Hg.), Voyages and Beaches, Honolulu 1999. Henry E. Maude, Of Islands & Men. Studies in Pacific History, Melbourne 1991. H ER MA N N MÜ CK LER Beccari, Odoardo, * 16. November 1843 Florenz, † 25. Oktober 1920 Florenz, □ unbek., rk. Bereits früh verwaist, wuchs B. bei seinem Onkel auf. Schon in Schulzeiten wurde seine Liebe zur Botanik offenkundig. Mit 13 Jahren begann er, Pflanzen zu sammeln, und bereits mit 17 verfaßte er seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz. 1861 begann er das Studium der Naturwissenschaften an der Universität von →Pisa, und schloß es im Juli 1864 an der Universität in Bologna ab. Anfang 1865 erhielt er die Möglichkeit, an einer wissenschaftlichen →Expedition nach →Sarawak (i. →Borneo) teilzunehmen und lernte bei seinen Vorbereitungen im Febr.-Apr. 1865 in England bereits James →Brooke, den „weißen Raja“ von Sarawak kennen. Im Juni 1865 erreichte B. Kuching, die Hauptstadt von Sarawak. B. konnte sich gut an →Klima und Gesellschaft in Sarawak anpassen und legte umfassende biologische Sammlungen an, die er auf langen Expeditionen ins Landesinnere im Regenwald mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung erwerben konnte. B. blieb bis zum Jan. 1868 in Sarawak. Gesundheitliche Gründe zwangen ihn schließlich zur Rückkehr nach Italien, wo er seine Ergebnisse in diversen bekannten it. Fachzeitschriften veröffentlichte und auch ein neues Journal Nuovo Giornale Botanico Italiano ins Leben rief. 1870 begleitete er den Zoologen Antinori und den Geologen Issel nach →Äthiopien. Im Nov. 1871 reiste er erneut nach Inselsüdostasien, begleitet von Graf Luigi Maria d’ →Albertis, der ihn aber im Okt. 1872 wegen seiner angegriffenen Gesundheit verlassen mußte. B. hingegen blieb bis 1876 in der Region und richtete sich eine Basis auf der Molukkeninsel (→Molukken) →Ambon ein. Von dort unternahm er zahlreiche Reisen durch das gesamte östliche →Indonesien und entlang der Küsten des westlichen →Neuguinea. Nach seiner Rückkehr erwartete ihn in Italien der Empfang eines Helden, zahlreiche Preise und Ehrenmitgliedschaften in wissenschaftlichen Vereinigungen wurden ihm zuteil. Von 1877 bis 1878 hielt er sich erneut in →Südostasien auf, dieses Mal reiste er erneut kurz nach Sarawak und von dort weiter nach →Sumatra. Zurückgekehrt, wurde B. Direktor der botanischen Sammlungen und Gärten des Museums von Florenz. Diesen Posten gab er nach kurzer Zeit auf, erhielt aber weiterhin ein jährliches Salär im Tausch für seine botanischen Sammlungen. Seine zoologischen Sammlungen gingen größtenteils an das Museum für Naturgeschichte in →Genua. B.s zahlreiche Schriften zu Indonesien und Neuguinea enthalten eine Vielzahl von kulturellen, ethnographischen und historischen Informationen. Größtenteils sind sie in Italienisch verfaßt und in geographischen und biologischen Fachzeitschriften erschienen. Leider ist bislang nur wenig hiervon übersetzt.
beh Ai m , m Arti n
Luigi Maria d’Albertis, New Guinea, London 1880. Odoardo Beccari, Wanderings in the Great Forests of Borneo, London 1904. Odoardo Beccari, Nuova Guinea, Florenz 1924. HOL GE R WARNK Bêche-de-mer. Begriff aus dem Pidgin-Englisch (→Pidgin- und Kreolsprachen) im südwestlichen Pazifik, von port. bicho-do-mar, „Meeresschnecke“ oder „Meereswurm“, bezeichnet bestimmte Arten der Seegurke oder Seewalze (Klasse Holothuroidea, Stamm Echinodermata), genauer gesagt die spezifische Zubereitungsform jener Seegurken, auch als Trepang (malai. teripang, Seegurke) bekannt. Die zur Herstellung von B. bzw. Trepang verwendeten Seegurken kommen im Ind. und Pazifischen Ozean vor. Sie werden zumeist auf Riffen oder in küstennahen Gebieten gesammelt, dann von ihren Eingeweiden befreit, getrocknet, mehrfach gedämpft und anschließend geräuchert. B. werden insb. in Asien (v. a. in China) als Aphrodisiakum oder als Suppeneinlage verzehrt. Marcia Langton, Trepang: China and the Story of Macassan-Aboriginal Trade, Melbourne 2010. Derek J. Mulvaney, Bêche-de-mer, Aborigines and Australian History, in: Proceedings of the Royal Society of Victoria 79 (1966), 449–457. Verónica Toral-Granda u. a. (Hg.), Sea Cucumbers, Rom 2008. DOMI NI K E . S CHI E DE R Bechuanaland (Botswana), in der dt. Literatur Betschuanaland, liegt im Zentrum des südlichen Afrika und ist umgeben von →Namibia, →Angola, →Sambia, →Simbabwe und Südafrika. Zwei bedeutende Merkmale B.s sind die Kalahari-Wüste im Westen und das OkavangoDelta und -Flußsystem im Nordwesten. B. hat eine Bevölkerung von ca. 1,5 Mio. Menschen und eine Alphabetisierungsrate von 75 %. Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Setswana. Das koloniale →Protektorat B. erlangte seine Unabhängigkeit von Großbritannien am 30.9.1966. Das erste Staatsoberhaupt war Präs. Seretse Khama (1966–1980). Ihm folgte Quett Ketumile Joni Masire. Seit 1969 werden alle fünf Jahre Mehrparteienwahlen abgehalten. B. ist ein Einheitsstaat mit neun gewählten Bezirksräten, vier Gemeinderäten und einem Stadtrat, die finanzielle Zuweisungen von der Bundesreg. erhalten. Neben gewählter Reg. und Parlament gibt es eine Kammer der traditionellen Häuptlinge (House of Chiefs), die beratende Funktion hat. Die Entdeckung von Mineralien, insb. Diamanten, förderte die Staatseinnahmen und formte die Wirtschaft um. Das jährliche Durchschnittswachstum von 10 % hat B. seit den 1970er Jahren zu einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaften gemacht. Eine neue soziale Schicht, die sich z. B. mit den Belangen der Geschlechterdiskriminierung in allen Rechtsbereichen und deren praktischer Anwendung auseinandersetzt, ist entstanden. Die geringe Größe des botswanischen Absatzmarktes wirkt sich einschränkend auf Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen aus, so daß B. noch immer stark von Südafrika abhängig ist. B.s Wirtschaft und seine solide demokratische, liberale Reg.sführung werden von vielen Einrichtungen weltweit als Erfolgsmodell angesehen. Charles Harvey / Stephen R. Lewis, Policy Choice and Development Performance in Botswana, London 1990.
John D. Holm / Patrick O. Molutsi (Hg.), Democracy in Botswana, Athens 1990. Stephen Stedman (Hg.), Botswana, Boulder 1993. A N N EK IE JO U B ERT Befreiungsbewegungen. Selbstbezeichnung von Organisationen, die die Unabhängigkeit, d. h. staatsrechtlich Souveränität, von Völkern bzw. Ländern anstreben, die nach ihrer Auffassung unter Fremdherrschaft stehen. Dabei können B. gewaltfrei operieren wie bspw. der ind. Nationalkongreß unter →Gandhi. Die Mehrzahl der in Kolonien europäischer Staaten, insb. in afr. Kolonien, entstandenen B. verfolgte ihr Ziel jedoch mit militärischen Mitteln. So konnte in →Algerien die 1954 von Ahmed ben Balla ins Leben gerufene Front de Liberation Nationale (FLN) 1962 die Unabhängigkeit des Landes von Frankreich durchsetzen. Die in →Kenia 1960 von Jomo →Kenyatta gegründete Kenya African National Union (KANU) erlangte auf dem gleichen Weg 1963 die Unabhängigkeit Kenias von Großbritannien. In →Namibia erreichte die seit 1960 unter Leitung Samuel Nujomas gegen die südafr. Besetzung des Landes kämpfende South West African People’s Organisation (SWAPO) erst 1990 die Unabhängigkeit. Bei den Vereinten Nationen, bei denen ihnen zuvor lediglich das Petitionsrecht zugestanden hatte, waren B. seit 1970 als Beobachter zugelassen, sofern sie anerkanntermaßen für Entkolonialisierung kämpften. Unter den afr. B. traf dies nach der zu dieser Zeit im wesentlichen bereits abgeschlossenen Dekolonisierung nur noch auf die SWAPO zu. Franz Ansprenger, Befreiungsbewegungen, in: Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch internationale Politik, Opladen & Farmington Hills 102006, 38–43. Rainer Falk / Peter Wahl (Hg.): Befreiungsbewegungen in Afrika. Politische Programme, Köln 1980. Ole Krönert, Die Stellung nationaler Befreiungsbewegungen im Völkerrecht, Frankfurt/M. 1984. C H R ISTO PH K U H L Behaim, Martin, * 6. Oktober 1459 Nürnberg, † 29. Juli 1507 Lissabon, □ nicht erhalten, rk. Aus zum Nürnberger Patriziat zählender Familie stammend, die seit dem späten 14. Jh. Fernhandel betrieb, absolvierte B. 1476 eine entspr. Berufsausbildung in Flandern und den Niederlanden und kehrte 1483 nach Nürnberg zurück. 1484 reiste er nach Portugal. Von dort aus nahm er an einer Expedition mit Ziel Westafrika teil und wurde nach seiner Rückkehr 1485 vom port. Kg. zum Ritter geschlagen. Zwischen 1485 und 1489 heiratete er Joanna de Macedo, einer Tochter des Gouv.s der Azoren. 1490–1493 lebte er erneut in Nürnberg. In diese Zeit fällt die Anfertigung des →Globus, der die älteste erhaltene Darstellung der Erde in Kugelgestalt ist. Ende 1493 kehrte B. nach Portugal zurück und geriet 1494 auf Geschäftsreise nach Flandern in engl. Gefangenschaft, aus der er entkommen konnte. Über sein letztes Lebensjahrzehnt fehlen Quellen. Vermutlich fiel er am Hof in Ungnade. Er starb völlig verarmt. Peter Bräunlein, Martin Behaim. Legende und Wirklichkeit, Bamberg 1992. G ERH A R D H U TZLER Belau →Palau 91
b el l i n g s h Au s e n , fA b i An go ttli e b v o n
Belgisches Kolonialreich →Kongo, Belgisch Bellingshausen, Fabian Gottlieb von, * 9. September 1778 Ösel (Estland), † 13. Januar 1852 Kronstadt, □ Kronstadt, ev.-luth. B., Sohn einer dt.-baltischen Adelsfamilie, ging 1789 zur russ. Kriegsmarine und nahm 14 Jahre später als 5. Leutnant an der von A. J. von →Krusenstern befehligten ersten russ. Weltumsegelung (1803–1806) teil. Im Apr. 1819 wurde er, inzwischen zum Kapitän-Leutnant aufgestiegen, zu einem von zwei Leitern einer hochstrebenden wissenschaftlichen →Expedition ernannt, deren vier Schiffe die Gewässer des nördlichen und südlichen Eismeeres erforschen sollten. Die Expedition stach im Juli 1819 von Kronstadt in See und segelte über Teneriffa nach →Rio de Janeiro, wo sie sich in zwei Geschwader, je aus zwei Schiffen bestehend, teilte: ein arktisches Detachement unter dem Kommando von Mikhail Nikolajewitsch Wassiljew und ein antarktisches Detachement unter B. Wassiljews zwei Schiffe, die Otkrytie und die Blagonamerennyj, liefen im März 1820 Port Jackson (Sydney) an, bevor sie nach dem Nordpazifik steuerten, um nach einer großen →Nordostpassage jenseits der Beringstraße zu suchen. Die Nord-Expedition erreichte im fernen Norden wenig und gilt gemeinhin als ein enttäuschender Fehlschlag. Die von B. befehligte Süd-Expedition aber erwies sich als ein glänzender Erfolg. Nachdem er →Brasilien verlassen hatte, segelte er südwärts bis Süd-Georgien und dann ostwärts für mehr als drei Monate in hohen südlichen Breiten, bevor er nordwärts nach Port Jackson bog, um dort seine Schiffe, die Wostok und die Mirnyj, wieder zu verproviantieren und seine Mannschaften ausruhen zu lassen. Nach einer sechswöchigen Pause trat er im Mai 1820 eine viermonatige Kreuzfahrt an, die ihn über Queen Charlotte-Sund in Neuseeland durch den Tuamotu-Archipel in Ostpolynesien führte. Während dieser Zeit kartierte er mehrere bisher unentdeckte Inseln und leistete hervorragende ethnographische Arbeit. Er kehrte über die Lau-Gruppe (heute zu →Fidschi gehörend) nach Port Jackson zurück, von wo aus er sieben Wochen später, Mitte Nov. 1820, wieder südwärts steuerte und seine Umsegelung der →Antarktis in östlicher Richtung fortsetzte. Diese beendete er im Frühjahr 1821. Nach einem erneuten kurzen Besuch in Rio de Janeiro erreichte er im Juli 1821 schließlich wieder Kronstadt. Sein Bericht über die Reise wurde 1831 in russ. Sprache in St. Petersburg veröffentlicht. B. war einer der fähigsten Seefahrer und Hydrographen der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Obwohl er zweifellos ein wichtiger früher Forscher →Polynesiens war, gilt sein Hauptverdienst aber der wissenschaftlichen Erforschung des südlichen Eismeeres. Er umsegelte als Erster den großen Eiskontinent, überquerte mehrmals dabei den südlichen Polarkreis, und sichtete im Febr. 1820 ebenfalls als Erster das antarktische Festland, ohne jedoch zu erkennen, daß er den Kontinent tatsächlich gesehen hatte. Die westlich der Antarktischen Halbinsel gelegene B.-See ist nach ihm genannt. Glynn Barratt, Russia in Pacific Waters, 1715–1825,Vancouver / London 1981. Ders., The Russians and Austra92
lia, Vancouver 1988. Ders., Southern and Eastern Polynesia, Vancouver 1988. JA MES BR A U N D Bengalen. Heutiges Bangladesch, aber auch ind. Bundesstaat Westbengal, auch die bengalisch sprechenden Ew. der Region. Hauptstädte →Kalkutta (Westbengalen) und →Dhaka (Bangladesch). Materielle Überreste aus der Kupferzeit weisen auf frühe Siedlungen in der Region →B.s hin. Bis ca. 1000 v. Chr. entstanden dort die 3 Kgr.e von Anga, Vanga bzw. Magadha. Der erste historisch dokumentierte, selbstständige Kg. B.s hieß Shashanka. Er regierte in der ersten Hälfte des 7. Jh.s. Ab Mitte des 8. Jh.s bis Mitte des 12. Jh.s regierte die buddh. (→Buddhismus) Dynastie der Palas und danach, bis Ende des 13. Jh.s, die hinduistische (→Hinduismus) Sena-Dynastie. Die Pala-Sena Zeit war durch materiellen Wohlstand und kulturelle Blüte gekennzeichnet. Anfang des 13. Jh.s wurde B. durch die Armee des türk. Generals Bakhtiyar Khalji (1202/03) erobert, der auch den →Islam nach B. brachte. Politisch und kulturell erlebte B. eine Blüte unter der Herrschaft der Dynastien von Ilyas (1342–1486) und Hussein Shahi (1493–1538). Ab ca. 1576, als der Mogul-Ks. (→Moguln) →Akbar die lokalen Herrscher B.s niederschlug, gehörte B. unmittelbar dem Mogulreich an und wurde zur Provinz (subah) erklärt. Auf Grund des wirtschaftlichen Wohlstands und seiner Bedeutung als Handelszentrum, genoß B. einen besonders hohen Stellenwert im Mogulreich. Ab 1717 erklärte B. samt →Bihar und Orissa unter dem Gouv. (Subahdar/Nawab) Murshid Quli Khan seine Unabhängigkeit. Europäisches Handelsinteresse an B. bestand bereits im 17. Jh. Seitdem gab es in B. einige brit. Handelszentren. 1690 wurde das Zentrum des heutigen Kalkutta gegründet, 1698 kam es zu dessen Befestigung in Form von Fort William. Aus den Handels- bzw. Militäraktivitäten der engl. Ostindiengesellschaft (→Ostindienkompanien), entstanden Konflikte, die zu den Schlachten von Plassey (1757) und Baksar (1764) führten. 1765 wurden der engl. Ostindiengesellschaft die zivile Verwaltung und die Steuereinziehungsrechte der Provinzen B., Bihar und Orissa übertragen. Dadurch wurde B. zur Hauptsiedlung der Ostindienkompanie. Durch die frühe Begegnung mit dem →Kolonialismus erlebte B. einerseits große Vorteile, wie z. B. die Formierung einer ausgeprägten Bildungselite (→Bildung), die zur kulturellen und intellektuellen Blüte der Region, der sog. Bengalischen Renaissance des 19. Jh.s beitrugen. Andererseits führte der Kolonialismus auch zu Hungersnöten (insb. 1769–1770), zum Abbau traditioneller Handwerke und Industrien sowie zur Verarmung der Stadt und Landbevölkerung. Die Teilung B.s 1905 durch die Kolonial-Reg. sorgte für große Unruhen, die im Kontext des →Ind. Nationalismus zu verstehen sind. Die Unabhängigkeit →Indiens von der Kolonialherrschaft führte 1947 zur endgültigen Teilung B.s. (→Teilung Brit.-Indiens). Der östliche, vorwiegend musl. Teil wurde zu Ostpakistan und ab 1971 zum Staat Bangladesch. Der westliche, mehrheitlich hinduistische Teil blieb als Westb. bei Indien. Die Teilung verursachte erhebliche wirtschaftliche Nachteile für beide Regionen, die weit bis in die 1960er Jahre politische Folgen hatten.
ben i n , re P u bli k
Sekhar Bandyopadhyay (Hg.), Bengal, Delhi 2001. Richard M. Eaton, The Rise of Islam and the Bengal Frontier 1204–1760, Berkeley 1993. Peter J. Marshall, Bengal, Cambridge 2006. I NDRA S E NGUP TA Benin, Königreich. B. (nicht zu verwechseln mit der Rep. →Benin) ist ein Kgr. im Südwesten des heutigen →Nigeria, das bis 1897 unabhängig war. B. mit seiner gleichnamigen Hauptstadt liegt am Unterlauf des →Niger, ca. 300 km östlich von →Lagos. Während seiner größten Ausdehnung erstreckte sich das Reich vom Niger im Osten bis zur Atlantikküste im Westen. Im Norden grenzte es an das Kgr. Oyo und reichte bis etwa auf die Höhe des Flusses Benue. Das Kgr. B. wurde ca. 600 n. Chr. von der Ogiso-Dynastie gegründet, welche das Land bis zum 11. Jh. beherrschte. Die heutige Dynastie ergriff die Macht im 12. Jh. Herrscher von B. war der Oba, der von einem Rat unter den männlichen Nachkommen oder Verwandten des vorhergehenden Kg.s gewählt wurde. Er befehligte ein Staatwesen mit Statthaltern, Palastkommandeuren, Gefolgsleuten und religiösen Oberhäuptern. Eine besondere Verehrung brachte man in B. der Mutter des Kg.s entgegen, die den Thronfolger erzog. In ethnischer Hinsicht ist das Kgr. mit den Edo-Gruppen verbunden, die mit den heutigen Yoruba verwandt sind. Bekannt ist der Kg.spalast mit umfangreichem Kunsthandwerk, v. a. Bronzegußkunst, Holz- und Elfenbeinschnitzerei. Im 15. Jh. kam es zu ersten Handelskontakten mit Portugiesen. Bedeutende Handelsgüter waren Palmöl, →Pfeffer und →Elfenbein. In dieser Zeit begannen weitere →Eroberungen, aber auch der Ausbau der Verwaltung und des Straßennetzes. Im späteren 15. und frühen 16. Jh. entwickelte sich B. zu einem der Hauptzentren des →Sklavenhandels mit den Europäern. Der Erwerb von Schußwaffen im Tausch gegen Sklaven brachte militärische Vorteile gegenüber den Nachbarreichen. So gelang es dem Kgr. B., seine Macht entlang der heutigen Bucht von B. westwärts auszudehnen. Im 18. Jh. schränkte B. den Handel ein und konzentrierte sich auf die Kontrolle des Reiches und der umliegenden Regionen. Es kam verstärkt zu Thronstreitigkeiten und zur Schwächung des Reiches. Im Zuge der →Kolonialkriege wurde das Kgr. B. 1897 durch die Briten erobert. Heute ist das Kgr. B. Teil des Staates Nigeria. Armand Duchâteau, Benin, trésor royal, Paris 1990. Barbara Plankensteiner (Hg.), Benin, Gent 2007. Thorsten Spahr, Benin, Mammendorf 2006. T I L O GRÄT Z Benin, Republik (République du Bénin). B. ist eine Rep. in Westafrika (ehem. →Dahomey). Der heutige Name wurde 1975 in der sozialistischen Periode als symbolische Abkehr von der kolonialen Namensgebung sowie der Tatsache, daß Dahomey nur die Region eines Kgr.s im Süden des Landes widerspiegelte, eingeführt. Die Wirtschaft B. (112 622 km², 8,7 Mio. Ew.) wird von Landwirtschaft, dem Handel (Überseehafen Cotonou) und dem Export von →Baumwolle geprägt. B. profitiert als Transitland auch von formellen und informellen Handelsbeziehungen mit den Nachbarländern, insb. →Nigeria. Das vorkoloniale B. (Nationalfeiertag 1.8.1960) war von prosperierenden Kgr.en im Süden und
Nordosten sowie akephalen Gruppen im Nordwesten des Landes, geprägt. Das Kgr. Abomey war im 17.–18. Jh. in bedeutendem Maße im transatlantischen →Sklavenhandel, nach dessen Ende v. a. in der Palmölproduktion aktiv und unterhielt enge Beziehungen zu europäischen und brasilianischen Händlern. Die Franzosen ließen sich seit 1852 in →Porto-Novo nieder und schlossen mit Kg. Toffa 1863 einen Protektoratsvertrag ab (→Protektorat). 1863 unterzeichnete Kg. Glèlè von Abomey ein Vertrag, der den Franzosen erlaubte, sich in Cotonou niederzulassen. Die direkte Kolonialherrschaft begann mit der Unterwerfung des Kgr.s Abomey 1892 und der Gründung der Kolonie Dahomey et dépendances 1894, die 1904 in die Kolonialföderation Afrique occidentale française (AOF) eingegliedert wurde. Die Franzosen etablierten eine zentralistische Kolonialverwaltung, versuchten aber auch, einheimische Autoritäten einzubinden. Sie förderten den umfangreichen Anbau von Baumwolle und die Palmölerzeugung, trugen aber zu einem Entwicklungsgefälle zwischen dem weiter entwickelten Süden und dem ärmeren Norden des Landes bei, der bis heute fortbesteht. Im Süden („Quartier Latin“ des frankophonen Afrikas) entstand eine intellektuelle Elite, die auch in Nachbarkolonien in den Kolonialdienst trat. Das ehem. Dahomey wurde 1958 autonome Provinz und 1960 unter Präs. Maga unabhängig. Die wichtigsten politischen Führer Ahomadègbe, Apithy und Maga, die einzelne Regionen des Landes vertraten, vereinbarten eine Machtteilung. Nach einer Reihe von Militärputschen im Wechsel mit instabilen Zivil-Reg.en übernahm 1972 Mathieu Kérekou die Macht und rief 1975 den Aufbau eines marxistisch-leninistischen Regimes nach sowjetischem Vorbild mit einem Einparteiensystem aus. Im Febr. 1990, nach einer tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise, ebnete auf Druck der Zivilgesellschaft eine unabhängige Nationalkonferenz den Weg zu einer neuen Verfassung (Dez. 1990), die die Schaffung einer demokratischeren Gesellschaft vorsah. Gleichzeitig wurde die Liberalisierung von Wirtschaft mit Privatisierung von Staatsbetrieben ermöglicht. Nach einer Übergangszeit wurde 1991 Nicephore Soglo zum Präs. gewählt. Nach seiner Reg.szeit (1991–1996) konnte Kérekou als Präs. zweimal (1996, 2001) wieder gewählt werden. Gegenwärtiger Präs. ist Thomas Boni Yayi, ein Protestant, der die Präsidentschaftswahlen 2006 u. 2011 gewann u. 2012 auch zum Vors. der Afrikanischen Union gewählt wurde. B. ist eine Präsidialrep., der Präs. ist zugleich Reg.s-chef und ernennt die Minister. Die 83 Abgeordneten des Parlaments werden direkt gewählt und besitzen Budgetkontrollrechte. Zudem agieren unabhängige Institutionen wie das oberste Verfassungsgericht, die oberste Medienbehörde HAAC sowie der oberste Gerichtshof. Richard Banégas, La démocratie à pas de caméléontransition et imaginaires politiques au Bénin, Paris 2003. T. Bierschenk u. a., Benin, in: Development Policy Review 21 (2003), 161–178. Noel Dossou-Yovo, The Experience of Benin, in: International Journal on World Peace 16,3 (1999), 59–74. TILO G R Ä TZ
93
b en n i g s e n , r u d o l f v o n
Bennigsen, Rudolf von, * 12. Mai 1859 auf Gut Bennigsen bei Springe, † 3. Mai 1912 Berlin, □ Familiengruft in Springe, Ortsteil Bennigsen, ev.-luth. Sohn des nationalliberalen Politikers Rudolf v. Bennigsen. 1885 Reg.sassessor in den Reichslanden ElsaßLothringen. 1889–1892 Landrat des preußischen Kreises Peine. Ohne ersichtlichen Grund abrupte Aufgabe des Amtes u. Eintritt in die Kolonialabtlg. des Ausw. Amtes. 1893–1895 Finanzdirektor in →Dt.-Ostafrika. 1895–1899 Leiter der dortigen Finanzverwaltung und zeitweiliger Stellvertreter des →Gouv.s. Auf seine Veranlassung hin erfolgte d. Einführung der „Hüttensteuer“, deren rigorose Eintreibung zum Aufbegehren der indigenen Bevölkerung führte. Am 23.3.1899 Ernennung zum Gouv. von →Dt.-Neuguinea im Rang eines Rats III. Klasse ab 1.4.1899. Für die Dauer seiner dortigen Tätigkeit erhielt er den Anspruch auf den Titel „Exzellenz“. Bemühungen, die von ihm als „verwahrlost“ bezeichneten Zustände im →Schutzgebiet zu verbessern, blieben wenig erfolgreich. Von ähnlichem Temperament wie sein Vater, geriet er in Konflikte mit seinen Berliner Vorgesetzten. Nach einem ungeklärten Amoklauf seines einheim. Dieners Aufgabe des Amtes am 7.7.1901 wg. „gesundheitlicher Probleme“. Von 1902 bis zum Tod Vorstandsmitglied der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika. In dieser Funktion 1903 und 1910 Reisen in die Kolonie, auf denen er der Persianerzucht besondere Aufmerksamkeit schenkte. Ein Nachlaß hat sich in öffentlichen Archiven nicht erhalten. Hermann Hiery, Eliten in Elysium?, in: Markus Denzel (Hg.), Dt. Eliten in Übersee, St. Katharinen 2006, 423– 442. GE RHARD HUT Z L E R Berber. Der Begriff (arab. Barbar und Barâbir / Brâbir, Sing. Barbarî bzw. Barbarîya; frz. Berbères) bezeichnet eine Gruppe sprachlich und kulturell verwandter (eine „B.-Sprache“ sprechender) →Ethnien in Nordafrika. Die früher zu den „Hamiten“ gezählten B. bilden die autochthone Grundbevölkerung im Gebiet zwischen →Nil und →Atlantik; jetzt nehmen sie bei deutlich geschrumpftem Siedlungsraum in den Maghreb-Staaten (→Maghreb) den zweiten Platz nach den (großenteils mit ihnen vermischten) →Arabern ein (20–35 Mio). Der seit dem 8. Jh. von den arab. Eroberern popularisierte Name ist aus arab. barbara („wirr durcheinanderreden“) abgeleitet und reflektiert die Distanz der Neuankömmlinge zu Sprache und kulturellen Eigenheiten der Einheimischen. Letztlich geht er auf das griechische „Barbaroi“ (wörtlich Brabbler, Stammler) zurück, das in der Antike jedoch kein Ethnonym für die indigenen Nordafrikaner war (die man als „Libyer“ zusammenfaßte). Seiner ursprünglichen Bedeutung wegen lehnen die B. selber ihn heute zunehmend ab und ziehen die von kabylischen Berberisten um 1940 eingeführte Selbstbezeichnung Imazighen (Sing. Amazigh, „freie Männer“) vor; die eingedeutschte Form „Masiren“ konnte sich (noch) nicht durchsetzen. Älteste historische Zeugnisse über die B. reichen zurück ins frühdynastische →Ägypten (um 3000 v.Chr.) und verweisen auf die westlich des Nils lebenden Lebu (Libu, davon „Libyer“). Seit Hekataios und →Herodot begegnen uns in antiken Quellen die Namen vieler einzelner Völker bzw. Stämme 94
(Mauren, Numider, Pharusier, Gaetuler, Maker, Nasamonen, Marmarider, Garamanten u. a.), deren Zusammenhang mit rezenten Gruppen beliebter Gegenstand von Hypothesen und Spekulationen ist. Entgegen früheren Annahmen eines exogenen Ursprungs (Abstammung von Philistern, Himjariten, Arabern, Kelten, Ariern usw.) untermauern neuere Forschungen ihre Verwurzelung in den steinzeitlichen Kulturen des Atlas-Gebiets und der Sahara, doch haben →Eroberungen, Migrationsbewegungen und Fremdkontakte tiefe Spuren hinterlassen. Kräftige Impulse gingen von den seit dem 12. Jh. v. Chr. entlang der Küste aufblühenden phönizisch-karthagischen Hafenstädten aus, über die Eisentechniken, Fruchtbaumkulturen (Dattelpalme, Ölbaum), religiöse Vorstellungen sowie die punische Sprache (konnte sich punktuell bis ins 6. Jh. n.Chr. halten) und Schrift (Grundlage des „altlibyschen“ Alphabets) ins Hinterland vordrangen. Mit den Punischen Kriegen (264–146 v.Chr.) gerieten die B. politisch, wirtschaftlich und kulturell in den Bannkreis des aufstrebenden Rom. Bald nach dem Fall Karthagos begann die schrittweise Einverleibung der (zunächst als Verbündete der Römer hochgekommenen) B.-Reiche Numidia und Mauretania, während im Osten das alte Garamantenreich auf sein Kerngebiet →Fezzan zurückgeworfen wurde. Die römische Herrschaft – sie währte inkl. der byzantinischen Spätphase über ein halbes Jahrtausend und reichte auf ihrem Höhepunkt (1.–3. Jh. n.Chr.) bis Sala (jetzt →Rabat/Salé) am Atlantik – hat ganz Nordafrika auf allen Gebieten nachhaltig geprägt. Große Teile der B. wurden in die römisch-hellenistische Kultur integriert und sprachlich latinisiert; ab Mitte des 3. Jh.s wandten sie sich verstärkt dem Christentum zu und nahmen auch bedeutenden Anteil an seiner Entwicklung (Tertullian, Augustinus). Mitte des 7. Jh.s überrannten die Araber die nach längerem Niedergang (Donatisten, Vandalenreich 429–533) unter byzantinischer Kontrolle verbliebenen Restgebiete (698 Kapitulation Karthagos). Die B. leisteten anfangs zähen Widerstand (Aufstände des Kusaila 681–688 und der Kahina 688–701), schlossen sich aber dem →Islam massenhaft an, nachdem sie als Verbündete umworben (Aufnahme in die Armee) statt zu Unterworfenen degradiert wurden. Schon 711 bildeten sie das Rückgrat der nach Spanien übersetzenden Heere. In den erbitterten innerislamischen Auseinandersetzungen der Folgezeit ergriffen sie regelmäßig Partei für oppositionelle Strömungen (Kharidjiten, ismaelitische Schiiten, Barghawata-Häresie), bevor unter Almoraviden (1062–1147) und Almohaden (1147–1269) die bis heute herrschende sunnitisch-malekitische Richtung endgültig die Oberhand gewann. In beiden (in Europa v. a. durch die Reconquista bekannt gewordenen) „B.Reichen“ erlebte das Berbertum seine letzte Hochblüte, danach unterlag es einem zunehmenden Arabisierungsdruck. Auslöser war die sog. „Hilalische Wanderung“, eine um 1050 durch Abschiebung arab. Beduinenstämme (Banu Hilal, B. Sulaim) aus Oberägypten angestoßene Migrationswelle, die sich über mehrere Jh.e nach Westen vorschob und in ihren Ausläufern im 17. Jh. den →Senegal erreichte. Die in oral tradierten Heldenepen („Geste Hilalienne“) besungenen, von Ibn Khaldûn aber mit dem Einfall eines Heuschreckenschwarms verglichenen Er-
berg bAu
eignisse setzten Entwicklungen in Gang (wirtschaftliche Umwälzungen, weiträumige Bevölkerungsverschiebungen, kulturelle Transformation), die zu einer gravierenden Umgestaltung der ethnischen Landkarte führten. Im 15. Jh. erlangte die arab. Sprache das Übergewicht. Während der osmanischen Herrschaft bzw. unter den scherifischen Dynastien in →Marokko (16.–19. Jh.), in der Kolonialperiode (19./20. Jh.) und in den seit Mitte des 20. Jh.s unabhängigen Staaten ging der Gebrauch der Berbersprachen (Tamazight) immer weiter zurück. Die Auflösung des früher geschlossenen Lebensraums in eine Vielzahl räumlich getrennter „Siedlungsinseln“ verstärkte die kulturelle Fraktionierung der B. Gleichzeitig nivellierten intensive wechselseitige Beeinflussung und ethnische Verschmelzungsprozesse die kulturellen Unterschiede zu den Arabern, so daß es heute schwierig erscheint, abseits der Sprache klare Grenzlinien zwischen beiden Völkern zu ziehen. Frz. Versuche zur Rekonstruktion einer „reinen“ (d. h. vorarab.) B.-Kultur (Ende 19.-Mitte 20. Jh.) verfolgten das kolonialpolitische Ziel einer „Entorientalisierung“ und „Entislamisierung“ der B. und mündeten im Postulat genetischer und kultureller Verwandtschaft mit den Europäern („Le Berberie – c’est l’Europe!“). Die Mehrheit der B. lebt als seßhafte bäuerliche oder transhumante Bevölkerung im Atlasgebirge, v. a. in Marokko (ca. 40 % der Ew.) und →Algerien (15–20 %); kleinere Gruppen findet man weiter im Osten (→Tunesien, →Libyen, Ägypten) und in der Sahara („Oasen-B.“ und →Tuareg). Eine wachsende Anzahl ist in Großstädten anzutreffen (→Algier, Casablanca, Oran), und die europäische Diaspora wird auf 2,5 Mio. geschätzt. Zu den bedeutendsten ethno-linguistischen B.Gemeinschaften zählen in Marokko die Schlöh des Hohen Atlas (Chleuh, arab. Schulûh, berberisch: Ischilhyen; 5–8 Mio.), die Beraber im Mittleren Atlas (arab. Brâbir, berberisch: Imazighen; 3–5 Mio.) und die „Rifkabylen“ (arab. Ruwâfa, berberisch: Irifyen; 1–3 Mio.). In Algerien sorgen v. a. die politisch und kulturell sehr aktiven Kabylen (arab. Qabâ’il, berberisch: Iqbailyen; 3–5 Mio.) für internationales Interesse, daneben sind die Chaouia (arab. Schâwya, berberisch: Ischawyen; 1,5–3 Mio.) im Aurès und die wegen ihres ibaditischen Glaubens auffallenden Mozabiten in den Mzab-Oasen (üb. 100 000) zu nennen. Seit den 60er Jahren wächst in beiden Ländern unter berberischen Intellektuellen der Widerstand gegen postkoloniale Diskriminierung (v. a. der Sprache), staatlich verordnete Arabisierungsmaßnahmen sowie die systematische Leugnung ihres Anteils am nationalen historischen und kulturellen Erbe. In jüngster Zeit konnte die auch über Ländergrenzen hinweg vernetzte Berberismusbewegung einige Erfolge verbuchen, wie 2001 die Gründung des „Institut Royal de la Culture Amazighe“ (IRCAM) in Marokko (es widmet sich der Erforschung und Pflege des kulturellen Erbes und der Standardisierung der Sprache) und die Anerkennung des Tamazight als Nationalsprache in Algerien (2002). Gabriel Camps / Salem Chaker (Hg.), Encyclopédie Berbère, Paris (seit 1984). Hélène Claudot-Hawad, Berbères ou arabes?, Paris 2006. Gabriele Kratochwil, Die Berberbewegung in Marokko, Berlin 2002. L OT HAR BOHRMANN
Bergbau. Gewinnung wirtschaftlich relevanter Metalle oder Mineralien aus dem Erdreich; spielte im kolonialen Kontext v. a. in Mittel- und Südamerika, Südafrika, Australien und Neuseeland eine sehr große, in den dt. Kolonien insg. eine relativ geringe Rolle. 1. Südafrika. Hier machten reiche Gold-, Diamant- und Kohlevorkommen den B., v. a. den Gold-B., seit den 1860er Jahren zum mit Abstand wichtigsten Wirtschaftszweig. Eisen-B. wurde erst seit 1913 betrieben, die Eisen- und Stahlindustrie in den 1930er Jahren in großem Stil ausgebaut. Die Goldvorkommen im WitwaatersrandGebiet waren die größten der Erde. Bis zum →Burenkrieg waren sie unter Kontrolle der Buren-Rep.en. Allein in →Transvaal wurde 1884–1904 Gold im Wert von ca. 125 Mio. £ gefördert. Das leitende Personal im Gold-B. kam meist aus Großbritannien, die Mehrzahl der Arbeiter waren Afrikaner. Diese wurden aus Kostengründen überwiegend nicht in Südafrika, sondern in anderen brit. Territorien (→Basutoland, →Bechuanaland) und im Rahmen entspr. Absprachen mit Portugal v. a. in →Mosambik rekrutiert. Ca. 50 000 Chinesen, die man 1904 angeworben hatte, wurden bis 1909 repatriiert. Im Kohlen-B. arbeiteten Anfang des 20. Jh.s v. a. in →Natal viele Inder (ca. 45 % der Beschäftigten). Im Gold-B. waren 1920 knapp 23 000 Weiße und ca. 185 000 Afrikaner beschäftigt, dennoch war die Bruttolohnsumme der Weißen (11,3 Mio. £) wesentlich höher als die der Afrikaner (6 Mio. £). Unter den Weißen waren zahlreiche europäische Immigranten, die trotz der im Vergleich zum europäischen B. niedrigeren Sicherheitsstandards von den relativ hohen Löhnen angezogen wurden. 1922 führten geplante Lohnkürzungen für Weiße im Gold-B. zu Streiks, die derart eskalierten (ca. 200 Tote), daß die Reg. seitdem die Vorrangstellung der Weißen im Arbeitsleben nicht mehr antastete. Selim Gool, Mining Capitalism and Black Labour in the Early Industrial Period in South Africa, Lund 1983. John Lang, Power Base, Johannesburg 1995. 2. Australien. In den australischen Kolonien wurden seit 1796 Kohle, seit den 1840er Jahren Blei und Kupfer abgebaut. In den 1840er Jahren ließ die Reg. Victorias nach Gold suchen, um der Abwanderung von Kolonisten nach Kalifornien (→Goldrausch) entgegenzuwirken. Ergiebige Flußgoldvorkommen wurden zunächst in Victoria und New South Wales, dann auch in anderen Regionen des Kontinents entdeckt und zogen zahlreiche Goldsucher an, die auf eigene Faust in kleinen Claims tätig waren. Erst in den 1880er Jahren entstanden mit Hilfe von Fachleuten aus Großbritannien, den →USA und dem Dt. Reich Firmen, die in industriellem Maßstab förderten. Führend war die Broken Hill Propietary Company. Das im australischen B. investierte Kapital war überwiegend brit., zum kleineren Teil dt. Die Entscheidung zum Aufbau einer eigenen Eisen- und Stahlindustrie fiel 1915. Noela C. Deutscher, Historical Aspects, In: W. H. Richmond / P. C. Sharma (Hg.), Mining and Australia, St. Lucia 1983, 37–71. David Goodman, Gold Seeking: Victoria and California in the 1850s, Stanford 1994. 3. Neuseeland. Flußgoldfunde an der Westküste der Südinsel führten ab 1864 zur Einwanderung Tausender Goldsucher, v. a. aus Australien kommende Iren, auch Deut95
b er ing, v it u s j o n A s s en
sche, Italiener, Franzosen. Viele verließen Neuseeland nach Abebben des Goldbooms in den 1870er Jahren wieder. Kohle wurde seit 1863 v. a. auf der Südinsel (Grey Valley Coalfields, Buller Coalfields) gefördert. Die Zahl der Beschäftigten im Kohlen-B., die in Großbritannien rekrutiert wurden, lag 1880 bei wenigen Hundert und stieg bis zum Ersten Weltkrieg auf ca. 4 700. Der Zuzug führte zu teils unzumutbaren Wohnverhältnissen in den Bergarbeitersiedlungen, die neben den infolge geringer Sicherheitsstandards zahlreichen Unfällen (1900–1914 insg. 141 Tote) zur politischen Radikalisierung der Bergarbeiter beitrugen. Im Ersten Weltkrieg boykottierten die mehrheitlich in sozialistischen Gewerkschaften organisierten Arbeiter die Kriegsanstrengungen durch langsames Arbeiten (go-slow) und Streiks. 1920 konnten sie Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen durchsetzen. Lyndon Fraser, Castles of Gold, Wellington 2007. Len Richardson, Coal, Class & Communtiy, Auckland 1995. 4. Dt. Kolonien. Hier spielte der B. nur in →Dt.-Südwestafrika (Diamanten), auf Nauru und auf Angaur (Phosphat) eine nennenswerte Rolle. Die Diamantenausbeute in Südwestafrika hatte 1908–1914 einen Wert von insg. ca. 7 Mio. £, die Ausbeute an Kupfer-, Bleiund Zinkerz einen Wert von ca. 2,7 Mio. £. Auf Nauru wurden seit 1906 die reichhaltigen Phosphatvorkommen ausgebeutet. Paul Range, Geologie und Bergbau in den dt. Schutzgebieten in Afrika und in der Südsee, in: Der Tropenpflanzer 37 (1934), Nr. 4, 276–296; 38 (1935), Nr. 2, 47–84; 39 (1936), Nr. 4, 137–168; 40 (1937), Nr. 8, 330–351, 383–398. CHRI S TOP H KUHL 5. Hispoamerika. Schon vor der Ankunft der Spanier wurde in →Amerika B. betrieben und etwa in →Mexiko Obsidian und in →Peru Silber und Zinnober abgebaut: An vielen Stellen wurde auch Waschgold gewonnen. Nach der →Eroberung wurde besonders der Silberb. zum wichtigsten Bindeglied zwischen den span. Besitzungen der neuen Welt und dem inzipienten Welthandel. Am. Silber floß nach Europa, v. a. aber auch nach Asien, wo besonders China einen unstillbaren Bedarf entwickelte. In Europa trug das am. Silber wesentlich zur Finanzierung der span. Großmachtpolitik des 16. und 17. Jh.s bei. Die Krone erhob auf die Produktion mehrere Steuern, von denen eine Abgabe von 20 % auf die Bruttoproduktion (quinto), die wichtigste war; im 18. Jh. wurde sie generell auf 10 % gesenkt (diezmo). Der Abbau erfolgte vorerst mittels einer Kombination indigener und aus Europa importierter Technologien und Verfahren. Eine wahre technische Revolution stellte die Entwicklung des Amalgamationverfahrens 1557 in Mexiko dar, das es erlaubte, für europäische Verhältnisse unvorstellbare Mengen Erzes minderen Feingehaltes wirtschaftlich aufzubereiten. Dabei griff man sowohl auf freie und in der Regel gut bezahlte als auch auf zwangsverpflichte Indios und – in geringerem Ausmaß – afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) zurück. Die wichtigsten Förderzentren waren ursprünglich Potosí im heutigen →Bolivien und später die großen mexikanischen Minen von →Zacatecas und →Guanajuato, deren gewaltiger Aufschwung in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s auch von der Förderungspo96
litik der span. Krone profitierte. Der Silberb. selbst blieb dabei immer ein kapitalschwacher Wirtschaftszweig und vom Kredit der Kaufmannschaft und der Versorgung mit Quecksilber aus Europa abhängig – lediglich Peru verfügte in →Huancavelica über ein eigenes Quecksilbervorkommen Neben dem alles dominierenden Silber wurden in Hispanoamerika auch Gold, Quecksilber, Kupfer, Zinn, Blei und →Salz abgebaut. Carlos Marichal, The Spanish-American Silver Peso: Export Commodity and Global Money of the Ancien Regime, 1550–1800, in: Steven Topik / Carlos Marichal / Zephyr Frank (Hg.), From Silver to Cocaine, Durham / London 2006, 25–52. Julio Sánchez Gómez / Guillermo Mira Delli-Zotti / Rafael Dobado, La savia del imperio, Salamanca 1997. BER N D H A U SBER G ER Bering, Vitus Jonassen, * 12. August 1681 Horsens / Jütland, † 8. Dezember 1741 auf der Beringinsel, □ ebendort, ev.-luth. B., ein gebürtiger Däne, ging 1704 zur russ. Marine und avancierte bis 1724 zum Kapitän erster Klasse. Ende 1724 wurde er zum Leiter der ersten zwei großen →Expeditionen nach →Sibirien und dem Nordpazifik ernannt. B.s Instruktionen für die 1. →Kamtschatkaexpedition (1725–1730) sind sehr umstritten, hatten aber höchstwahrscheinlich eine Erkundung der nordwestlichen Küste Nordamerikas als ihr eigentliches Ziel. Nach einer mehrmonatigen Überlandreise nach Kamtschatka kulminierte die Expedition in B.s siebenwöchiger Seereise auf der St. Gabriel nordwärts durch die Straße, die nun seinen Namen trägt, und ins Nordpolarmeer, wo er am 16.8.1728 bei 67º 24′ Nord seine nördlichste Position erreichte. B. fand auf dieser Reise weder →Amerika noch dessen angenommene Landverbindung mit Asien, trotzdem aber hatte die Expedition das kartographische Bild russ. Besitztümer im Fernen Osten wesentlich verbessert. Die 2. Kamtschatkaexpedition (1733–1743), auch als die Große Nordische Expedition bekannt, war ein umfangreicheres Unternehmen, das mehrere Tausend Mann erforderte. Sie ergab nicht nur die erste umfassende Untersuchung der Flora, Fauna, Mineralressourcen und einheimischen Völker Sibiriens, sondern führte auch zu Ansätzen einer verbesserten staatlichen Infrastruktur östlich des →Urals. Wie bei B.s erster Expedition ging eine äußerst lange Überlandreise einer viel kürzeren Seereise voran, die diesmal mit zwei Schiffen unternommen wurde. B. (auf der St. Peter) und sein Kapitän Alexei Iljitsch Tschirikow (auf der St. Paul) stachen Anfang Juni 1741 von Kamtschatka in See und sichteten unabhängig voneinander Mitte Juli 1741 vor der südlichen Küste Alaskas Land. Beide Kapitäne aber traten sofort die Heimreise an, die sie an den Aleuten vorbeiführte. Gesundheitlich am Ende, landete B. am 6. Nov. auf den ca. 170 km östlich von Kamtschatka gelegenen Kommandeurinseln. Dort starb er einen Monat später auf der Insel, die nach ihm benannt wurde. B.s Expeditionen leisteten erstens einen bedeutenden Beitrag zur →Geographie Sibiriens und des Nordpazifiks, zweitens trugen sie zur Erschließung und Expansion des Russ. Reichs nach Osten bei. Aus geopolitischer Sicht wiesen die Ex-
berli n er wes tAf ri k A-k o n f eren z
peditionen auf Rußlands ersten Schritt zu einer Expansion nach Nordamerika. Raymond H. Fisher, Bering’s Voyages, Seattle / London 1977. Orcutt W. Frost (Hg.), Bering and Chirikov, Anchorage 1992. Ders., The Russian Discovery of America, New Haven / London 2003. JAME S BRAUND
onsgesellschaft 1824–1924, Berlin 1924. Lixin Sun, Das Chinabild der dt. protestantischen Missionare des 19. Jh.s, Marburg 2002. Andrea Schultze, „In Gottes Namen Hütten bauen“, Stuttgart 2005. TH O R STEN A LTEN A
Berliner Missionsgesellschaft (BMG). Als „Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden zu Berlin“ – wie die Gesellschaft bis zu ihrer Umbenennung in BMG 1907 hieß – von missionsbegeisterten Laien und Geistlichen am 29.2. 1824 gegründet, erfuhr das Missionsunternehmen von Anfang an nachhaltige Unterstützung v. a. von Missionsvereinen aus den östlichen Provinzen der Preußischen Landeskirche. Nach Eröffnung eines eigenen Seminars 1829 entsandte die Gesellschaft 1833 die ersten Missionare nach Südafrika. Hier baute die BMG in den folgenden Jahren unter ihrem Direktor Johann Christian Wallmann (1811–1865) sowie unter dessen paternalistischem Nachfolger Hermann Theodor Wangemann (1818–1894) trotz interethnischer Konflikte und beider →Burenkriege (1880/81, 1899–1902) systematisch ein großes, flächendeckendes Missionswerk auf, das bis 1914 auf sechs Synodalverbände anwuchs (Oranje-Synode, seit 1834; Brit.-Kafferland-Synode, seit 1837; Natal-Synode, seit 1847; Kap-Synode, seit 1852 sowie Süd- und Nordtransvaal-Synoden, seit 1865) und sie zur größten europäischen Missionsgesellschaft im Süden Afrikas machte. Ein neues Missionsgebiet wurde in den letzten beiden Dekaden des 19. Jh.s mit China erschlossen. Nachdem man anderen Gesellschaften bereits vereinzelt ChinaMissionare überlassen hatte, übernahm die BMG 1882 in eigener Verantwortung vom 1850 gegründeten „Berliner Hauptverein für die Evangelische Mission in China“ deren seit 1872 von der →Rheinischen Missionsgesellschaft betreutes Missionsgebiet im südchin. →Kanton (Provinz Kwangtung) als Ausgangspunkt für ein Stationsnetz. Zudem begann man 1898 eine dezidierte Kolonialmission im von Deutschland in Besitz genommenen →Kiautschou-Gebiet mit seinem Zentrum Tsingtau. Kolonialmissionarisches Engagement hatte die BMG auch bereits 1891, mit der Aufnahme einer Missionsarbeit im nördlichen Nyassagebiet (→Dt.-Ostafrika) sowie in →Daressalam (ab 1903), gezeigt, die sie, nur durch den →Maji-Maji-Aufstand (1905/06) gestört, bis 1914 ausweitete. Infolge beider Weltkriege verlor die BMG alle Missionsgebiete mit Ausnahme von Südafrika, wo die →Apartheid die Arbeit stark erschwerte. Überdies war die BMG von der dt. Teilung hart betroffen: Neben dem Verlust der östlichen Unterstützungsgebiete seit 1945 konnte sie von ihrer Zentrale in Ost-Berlin keine Missionare mehr aussenden. 1952 wurde daher eine Zweigstelle in West-Berlin gegründet. Erst 1991 kam es zur Zusammenführung beider Institutionen im weltweit mit Partnerorganisationen kooperierenden „Berliner Missionswerk“. Q: Missionsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden, Berlin 1829–1907. Berliner Missionsberichte, Berlin 1908– 1949. L: Julius Richter, Geschichte der Berliner Missi-
Berliner Westafrika-Konferenz. Diese – oft auch Kongo-Konferenz genannte – Zusammenkunft von Vertretern von 13 europäischen Staaten sowie der →USA und des Osmanischen Reiches fand vom 15.11.1884 bis zum 26.2.1885 unter dem Vorsitz Otto von →Bismarcks im ehem. Hôtel Radziwill in der Wilhelmstraße 77 (Reichskanzlerpalais) statt. Der Anlaß der Konferenz stand in Zusammenhang mit dem seit den 1880er Jahren verschärft einsetzenden „Wettlauf“ um Afrika. Als es am 26.2.1884 im Bereich des →Kongo zu einem engl.port. Vertrag kam, in dem England die port. Ansprüche gegen die belg. und frz. Bestrebungen anerkannte und dafür Handelsvorteile von Portugal zugesagt bekam, stießen diese Abmachungen auf den gemeinsamen Protest Frankreichs und Deutschlands. Die Beschlüsse der Verhandlungen wurden abschließend in der Generalakte in 38 Artikeln näher festgelegt. Außerdem bestätigte die Konferenz den Status und die Grenzen des im Jan. 1884 vom belg. Kg. Leopold II. gegründeten „KongoFreistaates“, der bereits im Apr. von den USA und im Nov. vom Dt. Reich anerkannt worden war. Zwar bedeutete die B. nicht die „Teilung Afrikas“ im eigentlichen Sinn des Worts; denn ihre Vertreter waren zusammengekommen, den freien Zugang für Handel und Mission in Afrika für alle Nationen vertragsmäßig festzulegen. Mit der Erklärung der Freiheit der →Schiffahrt auf Kongo und →Niger, der Schaffung der Kongo-Freihandelszone und der Erklärung der Missionsfreiheit in ganz Afrika erinnerte das Ergebnis der Konferenz immerhin an ihre ursprüngliche Zielsetzung. Die gleichzeitige Festlegung von Kriterien für die völkerrechtliche Anerkennung von Kolonialbesitz („effektive Besetzung“) löste jedoch einen Wettlauf um die noch nicht besetzten Gebiete sowie die definitive Abgrenzung des bisherigen Besitzstandes aus. Innerhalb weniger Jahre war Afrika bis auf →Liberia und →Äthiopien unter den europäischen Mächten aufgeteilt. Ohnehin war von den hehren Zielen, die die Delegierten in der Präambel der Generalakte formuliert hatten, nämlich der Betonung des Zivilisationsauftrags und der Verbesserung der, wie es wörtlich hieß, „sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften“, nicht viel übriggeblieben. Bereits auf der Konferenz – zu der kein afr. Vertreter eingeladen worden war – hatte man die Problematik der Souveränitätsrechte afr. Staatswesen schlichtweg übergangen, und auch künftig legten die europäischen Mächte in kolonialdiplomatischer Konvenienz die Grenzlinien Afrikas fest. Q: Protokolle und Generalakte der Berliner AfrikaKonferenz 1884–1885, hg. für das Bremer Afrika-Archiv von Frank Thomas Gatter, Bremen 1984. L: Elfi Bendikat (Hg.), Imperialistische Interessenpolitik und Konfliktregelung 1884/85. Berlin 1985. Stig Förster u. a. (Hg.), Bismarck, Europe, and Africa. Oxford 1988.
Berliner Vertrag →Samoa
H O R ST G RÜ N D ER
97
b er n At z ik, hug o A d o lf
Bernatzik, Hugo Adolf, * 26. März 1897 Wien, † 9. März 1953 Wien, □ Heiligenstädter Friedhof, ev.-luth. Österr. Ethnologe, Fotograf und Reisepublizist. B. war ein Vertreter der angewandten →Völkerkunde und gewissermaßen auch Vorreiter der visuellen Anthropologie. Der Matura 1915 folgte der freiwillige Kriegsdienst. Nach dem Abbruch seines Medizinstudiums (1920) unternahm B. ausgedehnte Reisen u. a. nach Nordwestafrika, →Ägypten, Somaliland und in den →Sudan. Anschließend (1930) nahm B. das Philosophiestudium (Teilgebiete Völkerkunde, →Geographie und Psychologie) in Wien auf. Promotion 1932. Es folgten weitere Reisen in den Pazifik (→Salomoninseln und →Neuguinea) sowie nach →Südostasien (u. a. →Indonesien, →Vietnam, →Indien und →Siam). 1935 Habilitation. 1939 Vorschlag der Ernennung zum außerplanmäßigen Prof. in Graz. B. war Mitglied der NSDAP, jedoch kein Verfechter des Nationalsozialismus. Während des →Zweiten Weltkriegs wurde B. der wissenschaftlichen Fälschung angeklagt und von Fachkollegen diskreditiert. Die Parteizugehörigkeit konnte ihn hiervor nicht bewahren. Dies bedeutete das Ende seiner akademischen Laufbahn. Bis dahin war B. einer der bekanntesten dt.sprachigen Völkerkundler gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Forschungsreisen (Albanien, →Marokko, Rumänien und Schweden). B. verfaßte überwiegend populärwissenschaftliche völkerkundliche Werke, in die auch seine Fotografien einflossen. Hauptwerke: Die große Völkerkunde, 3 Bde., Leipzig 1939; Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, 2 Bde., Innsbruck 1947. L: Doris Byer, Der Fall Hugo A. Bernatzik, Köln / Wien 1999. DOMI NI K E . S CHI E DE R Beschneidung bezeichnet generell die nicht geschlechtsspezifische operative Entfernung oder Veränderung von Teilen der äußeren Geschlechtsorgane von Kindern oder Erwachsenen aus traditionellen, religiösen, medizinischen, sexuellen oder ästhetischen Gründen. Die B. wird überwiegend nach der Geburt oder während der Pubertät, im Rahmen der Initiation, von Reifeweihen und Übergangsriten, die eine Veränderung vom Kind- zum Erwachsenenstatus beschreiben, vorgenommen. Man unterscheidet die B. der Vorhaut des männlichen Gliedes (Zirkumzision), bspw. bei jüdischen Knaben (Brit Mila), von verschiedenen Aus- und Beschneidungsformen (Exzisionen) der weiblichen Geschlechtsorgane, wie etwa der vollständigen oder teilweisen Entfernung der Klitoris (Klitoridektomie) und der kleinen und/oder großen Schamlippen (Labiotomie), regionalspezifisch im nordöstlichen Afrika auch mit der Vernähung der großen Schamlippen (Infubulation) verbunden. Die B. weiblicher Geschlechtsorgane, praktiziert im westlichen und nordöstlichen Afrika und teilweise im arab. Raum, sowie in →Indien, →Indonesien und →Malaysia wird von Internationalen Organisationen als Menschenrechtsverletzung verstanden und aktiv bekämpft. Bernhard Streck, Körperveränderung, in: Ders. (Hg.), Wörterbuch der Ethnologie, Wuppertal 2000, 129–133. DOMI NI K E . S CHI E DE R
98
Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik in Lateinamerika bis zum 20. Jahrhundert. In der Geschichte L.s sind steigende Geburtenraten und ein dauerhaftes Bevölkerungswachstum ein sehr junges Phänomen. Tatsächlich war L. über Jh.e hinweg mit einem Mangel an Bevölkerung konfrontiert und wies bis zum 20. Jh. eine defekte →Demographie auf, die durch eine hohe Mortalität und niedrige Geburtenraten gekennzeichnet war. Diese Entwicklung war zum einen deutlich nach Regionen differenziert, zum anderen wies sie jeweils eigene Tendenzen für die europäische, indigene, afroam. sowie asiatische Bevölkerung auf, die in L. lebten. So kann es kaum überraschen, daß die Demographie sowohl in der historischen Forschung zu L. als auch in der lateinam. Eigen- und Fremdwahrnehmung eine bedeutende Rolle gespielt hat und noch spielt. Nach der Ankunft der Europäer gegen Ende des 15. Jh.s kam es zunächst in der →Karibik und dann auf dem am. Festland zu einem massenhaften Sterben der indigenen Bevölkerung, das in einer Vielzahl zeitgenössischer Dokumente belegt ist. Über das Ausmaß dieser demographischen Katastrophe wird indessen immer noch diskutiert. Es fehlen verläßliche Angaben über die Bevölkerung zum Zeitpunkt der sog. Entdeckung und →Eroberung →Amerikas sowie über die Sterberaten bis ca. 1620, so daß Schätzungen an die Stelle der Zahlenwerke treten. Hier treffen die sog. Maximalisten, die von einer Bevölkerung von 18 bis 30 Mio. zum Zeitpunkt des ersten Kontaktes ausgehen, auf die Minimalisten, die eine am. Bevölkerung von lediglich ca. 3,5 Mio. annehmen. Folglich gehen auch die Angaben über das Ausmaß der demographischen Katastrophe deutlich auseinander. Verschiedenen Schätzungen zufolge starben auf diese Weise bis zum Beginn des 17. Jh.s 80–85 % der indigenen Bevölkerung. Diese Annahmen werden durch neuere Forschungsarbeiten für →Mexiko und den Andenraum bestätigt, greifen aber zu kurz für die Karibik, wo bis ca. 1542 die autochthone Bevölkerung ausgestorben war. Jedwedes indigenes Erbe heutiger Ew. der Karibik stammt von Bevölkerung, die vom Festland auf die Inseln zwangsumgesiedelt worden war. Der Entvölkerung der Karibik begegnete Spanien auch mit der Zwangsmigration afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), die hier – anders als in anderen Regionen – eine große demographische Bedeutung erlangen sollten. Einigkeit herrscht in der Forschung über die Ursachen des Massensterbens: Hierfür waren hauptsächlich bis dahin unbekannte europäische Krankheiten verantwortlich, die vielfach dem militärischen Eroberungszug vorauseilten. Auch die rasche Veränderung der Lebensbedingungen und der Umwelt sowie die wirtschaftliche Ausbeutung, die Kampfhandlungen selbst und die damit verbundenen Fluchtbewegungen der Bevölkerung forderten viele Opfer. Tod, Gewalt und Entwurzelung wirkten sich auch auf die indigene Landwirtschaft und Viehzucht aus, so daß es zu Hungersnöten kam, in denen viele Menschen starben. Der Zeit des permanenten Bevölkerungsrückgangs folgte zwischen 1700 und 1800 ein erstes Bevölkerungswachstum, das die wachsende Resistenz der indigenen Bevölkerung gegen die europäischen Krankheiten und die Zunahme der mestizischen Bevölkerung belegt, die am
bev ö lk e r u ng s en twi ck lu n g u n d bev ö lk eru n g sP o li ti k
stärksten wuchs. Hingegen blieb die span. Zuwanderung über die gesamte Kolonialzeit hinweg nahezu gleich hoch. Das →Vize-Kgr. Mexiko wies um 1800 die größte Ew.-zahl des span. Amerika auf, dennoch war auch hier diese Entwicklung nicht geeignet, die Mortalität der vorangegangenen Jahre auszugleichen. Indigene Gemeinschaften, die sich in demographischer Hinsicht von den Auswirkungen der Eroberung erholten fanden sich nur in →Chile und Teilen Mexikos. Insg. blieb der am. Doppelkontinent dünn besiedelt. Die Europäer bildeten auch noch gegen Ende der Kolonialzeit eine Minderheit. Obschon der Import von afr. Sklaven in L. vielfach eine untergeordnete Rolle spielte, war sie für die auf Monokulturen konzentrierten Regionen wie →Brasilien und →Venezuela sowie auf →Kuba von großer demographischer Bedeutung. Der Unabhängigkeit folgte ein neuerlicher demographischer Einbruch, der durch die Kriege selbst und deren Folgen bedingt wurde. Erneut starben in den militärischen Konflikten viele Menschen, es kam zu Flucht und Hungersnöten. Da auf die Emanzipationskämpfe vielerorts Bürgerkriege bzw. bürgerkriegsähnliche Zustände folgten und politische Stabilität sowie wirtschaftlicher Aufschwung ausblieben, wurde die erhöhte Mortalität von einem Einbruch in der Fertilität begleitet. Im weiteren Verlauf des Jh.s sollten erneut regelmäßige Ausbrüche von →Cholera, Masern oder Röteln die Bevölkerungsentwicklung behindern. Die Bedeutung der Epidemien für die demographische Entwicklung variiert von Region zu Region und ist von der Forschung noch genauer zu untersuchen. Im wesentlichen bleiben die jungen Nationalstaaten aber mit den demographischen Problemen der Kolonialzeit konfrontiert. Deren Ausmaß läßt sich einmal mehr nur erahnen, weil auch für die Epoche der Unabhängigkeitskriege und die ersten Jahrzehnte der Nationalstaatlichkeit keine Zensuserhebungen vorliegen. In einigen Ländern wirkten sich militärische Konflikte negativ aus, so sind hier der →Tripelallianzkrieg für →Paraguay (1865–1870) und die lange Phase des bewaffneten Kampfes der Mexikanischen Revolution (1910–1917) zu nennen. Nach dem Willen der politischen Eliten sollte das fehlende natürliche Bevölkerungswachstum im 19. Jh. durch die gezielte Anwerbung und Allokation von Europäern ausgeglichen werden. Dies erklärt die Hinwendung der überwiegenden Mehrheit der lateinam. Staaten zu einer aktiven Einwanderungspolitik, die primär auf den Zuzug europäischer Siedler abzielte. Rassistische Überzeugungen und eugenische Vorstellungen spielten dabei ebenfalls eine bedeutende Rolle. Eine große Zahl europäischer Migranten traf allerdings nur in →Argentinien, Brasilien und Uruguay ein, deren Bevölkerung durch diesen Zustrom stark anwuchs. Im Zeitalter der europäischen Massenmigration (1870–1930) wanderten schätzungsweise 13 Mio. Europäer nach L. ein, jedoch hatten Länder wie Mexiko oder →Peru an dieser Wanderungsbewegung kaum Anteil. Wie auch Kuba nahmen diese beiden Länder später viele asiatische Migranten und v. a. Chinesen auf, die vielfach gegen ihren Willen nach Amerika gebracht worden waren und somit das Schicksal afr. Sklaven teilten. Sie wurden vielerorts zur Zielscheibe xenophober Ausbrüche (→Xenophobie) und in Mexiko zu Beginn des 20. Jh.s zu
Opfern regelrechter Pogrome. Nach Brasilien wanderte im 20. Jh. hingegen in großer Zahl jap. Migranten ein, die zunächst gezielt angeworben wurden und mit der Unterstützung der brasilianischen Reg., später mit jap. Hilfe ins Land kamen. Nach Jh.en der demographischen Stagnation erfuhr L. schließlich dauerhaftes Bevölkerungswachstum. Zwischen 1930 und 1963 hatte sich die Bevölkerung – nach Ländern differenziert – bereits mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung war auf eine steigende Lebenserwartung sowie eine sinkende Kinder- und Müttersterblichkeit zurückzuführen, die u. a. das Ergebnis einer verbesserten Ernährung und Versorgung waren sowie auf Fortschritte im Bereich des Erziehungs- und Gesundheitswesen zurückgeführt werden konnten. Zunächst wurde dieser Bevölkerungszuwachs positiv wahrgenommen, besonders weil die pronatalistischen Überzeugungen des 19. Jh.s fortwirkten. Ab den 1950er und 1960er Jahren wurde diese Entwicklung jedoch zunehmend problematisiert. Es kam zu Diskussionen über die Wünschbarkeit und Verkraftbarkeit des Bevölkerungswachstums sowie über seine politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Der Druck der westlichen Industriestaaten und die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Wissenschaftlern, besonders aus den →USA, wirkten sich hierbei aus. In der Folge erfuhr die Ausbildung besonders geschulten medizinischen Personals sowie die Gründung eigener medizinischer Zentren zunehmende Aufmerksamkeit. Dies führte auch – zumindest offiziell – in vielen Ländern zu einem neuen Familienideal und großen staatlichen Aufklärungskampagnen. Anders stellt sich die Situation auf Kuba dar, das nach der Revolution 1959 einen echten Babyboom erlebte, dem nach der Verschlechterung der Lebensbedingungen in den 1970er und 1980er Jahren ein deutlicher Geburtenrückgang folgte. Auch die Erfahrung von Militärdiktatur und staatlicher wie nichtstaatlicher Gewalt hat sich auf die demographische Entwicklung ausgewirkt. In Ländern wie Chile kam es auf Grund der Repression zu einer starken Abwanderung in andere Länder, in Mittelamerika waren die Bürgerkriege seit den 1970er Jahren hierfür verantwortlich. Auch hat sich gezeigt, daß sich die Fertilität auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen hin sehr schnell verändert. Die demographische Transition, welche die westlichen Staaten und besonders Deutschland auf Grund ihrer weitreichenden Konsequenzen schon länger beschäftigt, ist nun auch in L. angekommen. Seit den 1980er Jahren sinken allg. die Fertilitätsraten während die Lebenserwartung weiter steigen dürfte. Auf Grund ihres geringen Durchschnittsalters wird die lateinam. Bevölkerung bis zur Mitte des 21. Jh.s indessen weiter wachsen. Aktuelle Bevölkerungsprojektionen gehen von einem verlangsamten aber weiterhin konstanten Wachstum aus, als dessen Ergebnis 2050 ca. 767 Mio. Menschen in L. leben werden. S. a. →Demographie. Noble David Cook, Born to Die: Disease and New World Conquest 1492–1650, Cambridge 1998. J. R. McNeill, Mosquito Empires. Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620–1914, Cambridge 2010. John W. Verano / Douglas H. Ubelaker (Hg.), Disease and Demography in the Americas, 1992. DELIA GONZÁLEZ DE REUFELS 99
b ev ö l ke r ungs e n t w i c k l u n g u n d b ev ö lk e ru n g s Po li ti k
Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik in Südasien bis zum 20. Jh. Auch wenn sich in allen Ländern SA.s das Bevölkerungswachstum in den letzten zwei Jahrzehnten etwas verlangsamt hat, so bleibt es doch insgesamt hoch. Beispielsweise weist die neueste 2011 in →Indien durchgeführte Bevölkerungszählung (Zensus) schon eine Gesamtbevölkerung von 1,21 Milliarden Menschen für dieses Land aus und es wird vermutet, daß Indien China als das bevölkerungsreichste Land der Erde im Jahr 2025 ablösen wird. Zwar wird das massive Bevölkerungswachtum und die hiermit häufig einhergehenden Bevölkerungsbewegungen in die Städte (→Urbanisierung in Südasien) oft als nachkoloniales Phänomen beschrieben, die Anfänge sind aber schon in der Zeit der britischen Herrschaft (→British Raj) zu erkennen. Auch regionale Unterschiede haben sich in dieser Zeit verfestigt oder sind neu entstanden. In allen Ländern und Regionen SA.s wurde die Bevölkerungsentwicklung vorwiegend von der Sterberate (Todesfälle pro Einwohner) gesteuert und weniger über die Geburtenrate (Geburten pro Einwohner), die auf Grund der doch vorwiegend jungen Bevölkerung auch in der Gegenwart noch sehr hoch ist. Schätzungen zufolge lebten bereits vor Beginn der christlichen Zeitrechnung 100–140 Millionen Menschen auf dem indischen Subkontinent. Es wird angenommen, daß diese Größenordnung bis zu Beginn der europäischen Einflußnahme relativ stabil blieb. Regionale Unterschiede lassen sich für diesen Zeitraum auch aus den unterschiedlichen Umweltbedingungen ableiten. So wiesen die Reisanbaugebiete der östlichen →Gangesebene und der Küstengebiete am Golf von →Bengalen eine wesentlich höhere Bevölkerungsdichte auf als beispielsweise das eher bergige Dekkan-Plateau. Auch eine Verbindung zwischen der Ausbreitung einiger Krankheiten und dem zunehmenden Austausch mit Europa und Ostasien wurde als Ursache für eine Erhöhung der Sterberate im 15. und 16. Jh. postuliert. Neuere Forschungen weisen jedoch auf den kontinuierlichen Kontakt und den Austausch von Krankheitserregern zwischen den Großregionen hin. Während die britische Ostindien Kompanie (→Ostindienkompanien) ihren Einflußbereich in Nordindien im späten 18. und im frühen 19. Jh. ausdehnte, fand in diesen Gebieten ein sehr geringes Bevölkerungswachstum oder möglicherweise sogar ein Bevölkerungsrückgang statt. Im Allgemeinen wird dies mit der Vielzahl an kriegerischen Auseinandersetzungen sowie mit den Folgen des Zusammenbruchs des →Mogulreichs in Verbindung gebracht. Im Anschluß setzte ein langsames, aber recht stetiges Bevölkerungswachstum ein, so daß am Ende des 19. Jh.s in einigen Gunsträumen des indischen Subkontinents eine Bevölkerungsdichte von 150 Menschen pro Quadratkilometer erreicht wurde. Hier sind das Industiefland, das Gebiet des heutigen Bangladeshs, sowie einige Teile →Gujarats zu nennen. Die Verbesserung der sanitären Situation sowie Fortschritte in der medizinischen Versorgung (→Medizinische Systeme Südasiens mit Fokus auf Ayurveda) werden als Gründe genannt. Im Gegensatz zeichnet sich diese Periode aber auch durch häufig auftretende Hungersnöte aus, welche die Sterberate zeitweilig erneut erhöhten. Als Ursachen werden in neuerer Zeit die markt100
induzierte Überteuerung des Getreide- und Reispreises sowie der gesteigerte Export von Nahrungsmitteln nach Großbritannien angeführt. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag unter 25 Jahren. Im zentralen und westlichen Himalaya des britischen Kolonialgebiets setzte, ähnlich der Entwicklungsphase im Tiefland, in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s ebenfalls ein Wachstum der Bevölkerung ein. Teilweise ging dies mit einer Verdoppelung der Einwohnerzahlen einher. Im Gegensatz zum Tiefland waren diese Gebiete weniger stark von Nahrungsmittelknappheit betroffen, so daß die Sterberate etwas niedriger war. Nach 1920 verringerte sich die Sterberate aber in fast allen Gebieten Südasiens und mündete in ein beschleunigtes Bevölkerungswachstum, das bis in die Gegenwart anhält. Migrationsbewegungen (→Migration in Südasien) stellen über den gesamten Zeitraum einen wichtigen Teil der Bevölkerungsentwicklung in Südasien dar. Insbesondere die Wanderung in städtische Siedlungen ist hier hervorzuheben, wenn auch auf Grund des oft temporären Aufenthalts sowie der häufig vorzufinden dörflichen Siedlungs- und Wirtschaftsweise in den Übergangsgebieten eine klare Trennung zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung erschwert ist. Während bis in die erste Hälfte des 19. Jh.s städtische Zentren vorwiegend im Inland zu finden waren, setze in der zweiten Hälfte ein Wachstum von Küstenstädten bzw. Hafenstädten wie →Bombay und →Kalkutta ein. Generell blieb der Grad der Verstädterung im 19. Jh. relativ gering, wenn auch einige Zentren der Tuch- und Stoffindustrie, wie Ahmedabad und Kanpur, erneut an Bedeutung gewannen. In die Migrationsbewegungen wurden auch die Gebirgsräume des Himalayas zunehmend miteinbezogen. Es wird angenommen, daß ab Mitte des 19. Jh.s mehrere zehntausend Arbeitskräfte jährlich aus →Nepal nach Indien migrierten. Die Industriezentren, aber auch die Teeplantagen des nordöstlichen Himalayas waren die wichtigsten Ziele dieser Wanderungsbewegungen. Im Allgemeinen hat die britische Kolonialverwaltung keine ernsthaften Versuche unternommen, eine koordinierte Bevölkerungspolitik umzusetzen. Die Intervention in Heiratsbräuche und die Familie wurden mit dem Verweis auf das Leitbild der Nichteinmischung in die internen Angelegenheiten ethnischer Gruppen abgelehnt. Erst in den 1920er und 1930er kamen Diskussionen über Geburtenkontrolle und Eugenik auf, die auch vom indischen Nationalkongreß (→Indian National Congress) geführt wurden. Von besonderer Bedeutung sind jedoch die umfangreichen Bevölkerungszählungen durch die britische Kolonialverwaltung, die ab 1871 regelmäßig alle zehn Jahre durchgeführt wurden. Auch wenn diese logistisch äußerst umfangreichen Erhebungen keine direkten bevölkerungspolitischen Maßnahmen nach sich zogen, legten sie doch einen weiteren Grundstein für eine Vereinheitlichung der britischen Politik auf dem Subkontinent sowie für eine nach westlichen Rationalitätsprinzipien ausgerichtete Bemessung der Steuergrundlage und der wirtschaftlichen Planung. Allerdings lassen sich durch diese Erhebungen erste genauere Aussagen über das schon während der Kolonialzeit einsetzende und später beschleunigende Bevölkerungswachstum treffen. Der von der britischen Verwaltung durchgeführte Zensus gibt
b i cen tenA ri o d e lA i n d eP en d en ci A
eine Gesamtbevölkerung von 190 Millionen für das gesamte Kolonialgebiet an. Die erste nach der Unabhängigkeit durchgeführte Bevölkerungszählung im Jahre 1951 wies für das gesamte indische Unionsterritorium bereits 361 Millionen Bewohner aus. Die im selben Jahr durchgeführte Zählung in Pakistan ergab eine Bevölkerung von 75,8 Millionen, wobei 42 Millionen Bewohner auf Ostbengalen (Ostpakistan) entfielen. Diese ersten durch die unabhängigen Staaten durchgeführten Bevölkerungszählungen berücksichtigten auch schon die Wanderungsbewegungen zwischen Indien und Pakistan (→PakistanBewegung), die durch die Unabhängigkeiten im August 1947 hervorgerufen wurden und die Anteile der religiösen Gruppen an den Gesamtbevölkerungen stark veränderten. Es wird geschätzt, daß etwa 15 Millionen Hindus (→Hinduismus), Sikhs (→Sikhismus) und Muslime (→Islam) ihren Wohnort verließen und in das jeweilige andere Land migrierten, wobei der etwas größere Anteil auf die Einwanderung nach Indien entfiel. Am augenscheinlichsten wird diese Entwicklung am Beispiel des →Panjabs, wo vor der Teilung die Bevölkerung etwa 50 % Muslime, 30 % Hindus und 12 % Sikhs umfaßte. Nach der Trennung bildeten Muslime nur eine wenige Prozent umfassende Minderheit im indischen Teil. In ähnlicher Größenordnung waren im pakistanischen Teil Hindus und Sikhs zu finden. In der indischen Gesamtbevölkerung verringerte sich die Anzahl der Muslime auf 35 Millionen, denen 304 Millionen Hindus gegenüberstanden. In Westpakistan, dem heutigen Pakistan, betrug die Hindubevölkerung weniger als 2 %, während sie in Ostpakistan, noch deutlich höher lag, sich aber auch hier sukzessive über die folgenden Jahrzehnte verringerte. In der Phase der Dekolonialisierung und frühen Unabhängigkeit wurden Fragen der Geburtenkontrolle und das weiter zunehmende Bevölkerungswachstum v. a. in Indien verstärkt thematisiert. Fünf Jahre nach der Unabhängigkeit wurde hier das erste Geburtenkontrollprogramm initiiert und landesweit umgesetzt. Trotz steigendem Budget wurde in der Anfangsphase vorwiegend nur die besser gebildete städtische Mittel- und Oberschicht erreicht. Während sich das Programm zu Anfang auf Aufklärungskampagnen und das Verteilen von Verhütungsmittel (z. B. Kondome) beschränkte, wurden seit den 1960er und 1970er verstärkt Sterilisationen durchgeführt. Diese teilweise freiwillig, gegen Entgelt und auch unter Zwang durchgeführten Maßnahmen erregten weitreichende Proteste und werden als ein Grund für die Abwahl Indira Gandhis als Ministerpräsidentin 1977 angeführt. S. a. →Demographie. Kingsley Davis, The Population of India and Pakistan, Princeton 1951. Mike Davis, Late Victorian Holocausts, London & New York 2001. Tim Dyson (Hg.), India’s Historical Demography, London 1989. MART I N GE RWI N Bhutan. Kgr. im östlichen Himalaya; etwa so groß wie die Schweiz mit einem Zehntel der Ew.-zahl. B. hat seine heutige Form seit dem Vertrag von Sinchu La (1865), in dem es endgültig auf die dem Gebirge vorgelagerten Gebiete verzichtete. Vorangegangen waren wiederholte Auseinandersetzungen seit Mitte des 18. Jh.s mit der brit. Ostindien-Kompanie (→Ostindienkompanien) und spä-
ter der brit.-ind. Reg., denen an den für den Teeanbau (→Tee) geeigneten Duars und an einem Zugang nach Tibet gelegen war. Über Jh.e hinweg stand B. unter der Herrschaft sich ständig befehdender religiöser und weltlicher Führer; erst gegen Ende des 19. Jh.s kam es zu einer Einigung und politischen Konsolidierung der Provinzen, die 1616 als theokratisches Reich entstanden waren. Die Bevölkerung – und mehr noch die Oberschicht –, stammt größtenteils aus Tibet, mit dem durch die Geschichte enge religiöse, politische, wirtschaftliche und oftmals kriegerische Beziehungen bestanden. Weitere enge Beziehungen bestanden mit Cooch Behar, Assam und →Nepal. 1910 mußte B. die brit. Führung in der Außenpolitik anerkennen. Seit der Unabhängigkeit 1947 ist →Indien de facto B.s Schutzmacht. B. ist seit 1907 Kgr., heute konstitutionelle Monarchie mit gewähltem Parlament. Françoise Pommaret-Imaeda, Bhutan, Hongkong 2007. WO LFG A N G -PETER ZIN G EL
Biafra. Region im Südosten →Nigerias, Siedlungsgebiet der christl. →Ethnie der Ibo, die seit der Unabhängigkeit Nigerias von Großbritannien 1960 mit den musl. Ethnien der →Hausa und Fulani um die Vorherrschaft rivalisierte; 1966 war ein überwiegend von Ibo-Offizieren geführter Militärputsch gescheitert. Die von Hausa und Fulani getragene Reg. setzte daraufhin im Mai 1967 eine Gebietsreform in Kraft, die erkennbar das Ziel hatte, die Ibo von der Kontrolle über die nigerianischen Erdölvorkommen, die u. a. in B. liegen, abzuschneiden. Neben den Pogromen gegen die Ibo, die infolge des gescheiterten Militärputsches 1966/67 stattgefunden hatten, war diese Gebietsreform Ursache für die Ausrufung der unabhängigen Rep. B. am 30.5.1967, die den B.-Krieg auslöste. Er dauerte bis Jan. 1970, endete mit der Wiedereingliederung B.s in den nigerianischen Staat und kostete durch Kampfeinwirkung und Hunger nach verschiedenen Schätzungen 1–2,5 Mio. Menschen, überwiegend Ibo, das Leben. Frederick Forsyth, The Biafra Story, Barnsley 42001. Bernard Odogwu, No Place to Hide, Enugu 22002. C H R ISTO PH K U H L
Bicentenario de la Independencia. Nach mehr als 300 Jahren europäischer Kolonialherrschaft über →Lateinamerika führten Unabhängigkeitskriege, die nahezu den gesamten Subkontinent erfaßten, zur Abtrennung von Spanien bzw. Portugal und zur Bildung von Nationalstaaten. Seit 2009 wird in →Argentinien, →Bolivien, →Chile, →Ecuador, El Salvador, →Kolumbien, →Mexiko, →Paraguay und →Venezuela in besonderer Weise der Ereignisse gedacht, die vor 200 Jahren mit der Gründung formal souveräner Nationalstaaten Lateinamerikas endeten. Von 2009 – beginnend mit Bolivien und Ecuador – bis 2021 (abschließend mit den zentralam. Staaten) wird in den jeweiligen Ländern durch Ausstellungen, Tänze, Lieder, Militärmärsche, Geschichtssendungen in Radio und Fernsehen sowie die Einweihung oder Wiedereröffnung symbolträchtiger Gebäude (wie z. B. die Einweihung des Arco del Bicentenario in Mexiko-Stadt am 15.9.2010 oder die Wiedereröffnung des Teatro Co101
b i e r m Ann, f r i e d r i c h lo u i s
lón in →Buenos Aires am 24.5.2010) an die Taten der Befreier erinnert. Zahlreiche Projekte und Ausstellungen befassen sich mit Themen wie →Menschenrechte, Technik und Fortschritt, Nachwuchsforschung und Umwelt. Am eigentlichen Unabhängigkeitstag wurden bisher pompöse Umzüge auf den Hauptstraßen der jeweiligen Hauptstädte mit Feuerwerksspektakeln und Ansprachen der Präs. abgehalten. Obwohl die Feierlichkeiten sich stark auf die jeweilige Hauptstadt konzentrieren, wird trotzdem darauf Wert gelegt, daß sich die jeweiligen Provinzen bzw. Bundesstaaten an den Feierlichkeiten beteiligen. Obwohl sich die Feierlichkeiten in jedem der beteiligten lateinam. Staaten an die gesamte Bevölkerung richten, sind oftmals, trotz der Bemühungen die Gesamtbevölkerung einzubinden, einige Minderheiten (meist Indigene, im Fall Boliviens die weiße Oberschicht, die unabhängig von der Reg. ihre eigenen Festlichkeiten zum B. initiierte) unterrepräsentiert. Wie schon bei den →Centenario-Feiern nutzten erneut einige Politiker die Feierlichkeiten zur Propaganda und Durchsetzung innenpolitischer Interessen. Hierauf weist auch die Tatsache hin, daß über die B.-Feiern mancher Länder besonders ausführlich in den Medien berichtet wird, während an anderen Ländern eher geringes Interesse gezeigt wird. V. a. die linksorientierten Reg.en Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien) und Daniel Ortega (Nicaragua) inszenierten die außenpolitische Souveränität und wirtschaftliche Unabhängigkeit von den ungleichen Handelsbeziehungen mit Europa und den →USA medienwirksam als „zweite Unabhängigkeit“. Als meistdiskutiertes Beispiel ist die Bewerbung und Umsetzung der B.-Feiern in Venezuela zu nennen. Seit seinem Amtsantritt 1999 vertrat dort Präs. Chávez den „Sozialismus des 21. Jh.s“ und forderte eine Weiterführung der bolivarianischen Revolution in Lateinamerika. Im Kampf für ein geeintes Lateinamerika predigte er einen wenig tiefgründigen Nationalismus und bediente sich dabei einer bizarren Revolutionsromantik. Dies wurde besonders bei der venezolanischen Umsetzung der B.-Feiern deutlich. Der Kult um Befreier, Retter, Erlöser und Revolutionäre hat sich erneut verstärkt, so inszenierte Chávez bspw. die Exhumierung des Freiheitshelden Simón →Bolívar. Oberste Priorität der Außenpolitik Chávez’ besaß aber nach wie vor der Kampf gegen die USA. Vehement forderte er die wirtschaftliche Loslösung vom großen Nachbarn im Norden und versuchte dazu auch gleichgesinnte Reg.en zu animieren. Festzuhalten bleibt, daß nicht zuletzt an der wirtschaftlichen Abhängigkeit Venezuelas und vieler anderer lateinam. Staaten von den USA, aber v. a. auch an Haiti – trotz frühster Unabhängigkeitserklärung 1804 heute kurz nach dem Erdbeben 2010 der unselbstständigste und hilfloseste Staat Lateinamerikas – deutlich wird, daß anstelle der einstigen Abhängigkeit vom Mutterland Spanien nur andere Abhängigkeiten getreten sind. Zwar wurden u. werden derzeit fast überall in Lateinamerika Zweihundertjahrfeiern zur Unabhängigkeit zelebriert, jedoch ist der Unabhängigkeitsprozeß im eigentlichen Sinne (noch) unvollendet. Dieser Umstand hindert die lateinam. Reg.en nicht daran – gerade weil dadurch innenpolitische Konflikte überspielt werden können – farbenfrohe und heitere Feierlichkeiten zu in102
szenieren. Der B. bietet Gelegenheit, die Geschehnisse seit der Separationsbewegung zu resümieren und die Frage der Unabhängigkeit neu zu diskutieren. Er ist ein Vehikel für die Bestätigung, Festigung und Neukonstruktion nationaler Identität. Malte Daniljuk, Feiern zu 200 Jahre Unabhängigkeit beginnen, in: Portal amerika21.de. (http://amerika21. de/nachrichten/inhalt/2010/apr/bicent_203948_vene), [Letzter Zugriff: 15.08.2013]. Josef Oehrlein, Die Vermessung der Unabhängigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. 41–42, 2010, Beilage: Revolution in Lateinamerika. Gabriel Mario Santos Villarreal, El Bicentenario de la Independencia en América Latina, ¿más allá de la reflexión? Mexiko-Stadt 2010. JO N A S B R EN N ER / A N N A LEN A EIG N ER
Biermann, Friedrich Louis, * 23. November 1856 Berlin, † 3. Januar 1929 Berlin, □ aufgelassen, ev.-ref. Volljurist. 11.5.1886 Eintritt ins Auswärtige Amt. Mai 1888 – Dez. 1890 Vizekonsul in Apia. Apr. 1890 – Febr. 1892 ksl. Kommissar mit Rang Vizekonsul auf MarshallInseln. Jan. 1892 – Dez. 1895 als Konsul erneut in Apia. Anschließend Konsul in →Bombay, ab Mai 1898 bis zum Ende des →Burenkrieges in →Pretoria. Nach Zwischenstation in Helsinki bis Kriegsbeginn 1914 Generalkonsul in St. Petersburg. In Petrograd nochmals Mai-Juli 1918. 1920 – Nov. 1923 Präs. der Reichs-Wiedergutmachungskommission für Auslandsschäden. Nachlaß im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Die Edition seiner Erinnerungen ist in Vorbereitung. G ERH A R D H U TZLER
Bihar und Orissa. Region im östlichen →Indien. Das antike Magadha entspricht annähernd dem modernen B., während das antike Kalinga und Utkal Gebiete das moderne O. bilden, das für seine Tempel und Wallfahrtszentren, insb. den Jagannatha-Tempel in Puri, berühmt ist. B. wurde im 12. Jh. durch Muhammad Ghoris General Bakhtiyar Khilji erobert (→Delhi-Sultanat) und später, um 1576, zusammen mit →Bengalen vom Mogulherrscher (→Moguln) →Akbar annektiert. O., das die afghanischen Statthalter der Moguln in Bengalen 1568 den Gajapatifürsten (→Gajapati-Dynastie) abrangen, fiel ebenfalls unter musl. Herrschaft. Nach dem Sieg der engl. Ostindien-Kompanie (→Ostindienkompanien) in der Schlacht von Baksar 1764 erhielt diese für Bengalen das Recht, das Steuereinkommen einzutreiben und zu verwalten (diwani). B. u. O. waren bis 1912 Teil der Provinz Bengalen des →British Raj. In diesem Jahr wurden B. und die Küstengebiete O.s aus der ehem. Provinz Bengalen herausgelöst und mit einigen Fürstentümern unter die Kontrolle eines Gouv.s gestellt. 1936 wurde die Provinz dann in 3 Teile geteilt: B. (überwiegend hindisprachig, →Hindi), O. (überwiegend oriyasprachig) und die Territorien der verschiedenen indirekt verwalteten Fürstentümer, die unter die Verwaltung der Eastern States Agency gestellt wurden. Satish Chandra, Medieval India, Delhi 1997. Anand A. Yang, Bazaar India, Berkeley 1998. SO U MEN MU K H ER JEE
bi ld u n g i n ch i nA
Bijapur-Sultanat. (1490–1686; Hauptstadt: Bijapur) Gegründet durch Yusuf Adil Shah, einem Adligen des →Bahmani-Sultanats iranischer Herkunft und Gründer der Adil Shahi-Dynastie. Das B.-S. entwickelte sich schrittweise zu einem Zentrum für →Kunst und Kultur im mittelalterlichen Dekkan; es wird v. a. mit der Entwicklung der Dakhni-Sprache und der Förderung von Chronisten wie Ferishta (ca. 1560 – ca. 1620, →Chroniken und Geschichtsschreibung) und sufistischen Heiligen (→Sufismus) verschiedener Orden in Verbindung gebracht. Ebenso waren kriegerische Auseinandersetzungen ein regelmäßiger Bestandteil der Geschichte des Sultanats. Diese beinhalteten sowohl Allianzen der Dekkan-Sultanate gegen das →Vijayanagara-Reich (das 1565 in der Schlacht von Talikota geschlagen wurde), als auch Kriege zwischen den Sultanaten, die 1619 zu der →Eroberung Bidars führten. Das 17. Jh. brachte den allmählichen Niedergang des B.-S. mit sich. Die erste Bedrohung stellte der Aufstieg →Shivajis, dem Gründer des Reichs der →Marathen, dar; kurze Zeit später gelangte das Mogulreich (→Moguln) zu wachsender Dominanz in der Region, die 1686 in der vollständigen Eroberung des B.-S. durch den Mogulherrscher Aurangzeb gipfelte. Satish Chandra, Medieval India, Delhi 1997. Richard M. Eaton, Sufis of Bijapur 1300–1700, Princeton 21996. S OUME N MUKHE RJE E
Bikman ist die pidginisierte (→Pidgin- und Kreolsprachen) Form des ethnologischen Fachbegriffes „BigMan“. Der ethnologische Terminus steht wiederum für etliche indigene Status-Terme in melanesischen Sprachen. Im Pidgin-Englisch kommt als alternativer Terminus auch „bigfella man“ vor. Ein melanesischer B. ist ein Mann, der es auf Grund persönlicher, organisatorischer und manipulativer Fähigkeiten zu Macht und Ansehen bringt. Er stützt sich dabei in der Regel zu Beginn seiner Laufbahn auf seine Verwandten und gibt Feste, bei denen er großzügig Güter und Lebensmittel verteilt. Dadurch gewinnt er Prestige und mit Hilfe des somit angesammelten „symbolischen Kapitals“ (Pierre Bourdieu) kann er neue Anhänger innerhalb und außerhalb des Verwandtenkreises rekrutieren, die bereit sind, ihm weitere Güter und Lebensmittel zu stellen, die dann auf weiteren Festen umverteilt werden. Durch solche Umverteilungen (Redistributionen) kann ein erfolgreicher B. den Kreis seiner Anhänger erweitern und sich dadurch auch den Anspruch auf politische Führerschaft erwerben. Der Status des B. ist also erworbener Status im Sinne der Soziologie. Ein B. entfaltet seine Wirksamkeit in einem von Wettbewerb geprägten sozialen Umfeld, wie es für die traditionalen, politisch diffusen melanesischen Gemeinwesen charakteristisch ist, die oft über kein formales Regierungssystem verfügen. Die Gefolgschaft eines B. ist flüchtig und muß durch immer neue Umverteilungen gebunden werden. Läßt er in seinen ökonomischen und organisatorischen Anstrengungen nach, dann sinkt folglich sein Stern rasch, seine Anhänger verlassen ihn und wechseln zur Gefolgschaft eines Konkurrenten. Das B.-Wesen ist daher, für sich selbst betrachtet, kein stabiles Instrument politischer Führerschaft. Es kann einzel-
nen Bikmen zwar immer wieder gelingen, einen Sohn als Nachfolger aufzubauen, in der Regel bilden sich aber keine Dynastien heraus. In die Ethnologie wurde der Terminus „Big-Man“ durch Marshall D. Sahlins (1963) eingeführt. Sahlins stellte ihn im Sinne einer Idealtypologie anderen politischen Statusbegriffen gegenüber („Poor Man“, „Rich Man“, „Chief“). Sahlins’ Typologie war von einigem Einfluß auf die Theoriedebatten der Ethnologie und wurde oft kommentiert und für verschiedene Ansätze verwendet. Der Versuch, damit spezifische Unterschiede zwischen den indigenen politischen Systemen Melanesiens und Polynesiens herauszuarbeiten (Big-Man Systeme auf der Grundlage des erworbenen Status in Melanesien, Häuptlingssysteme auf der Grundlage des zugeschriebenen Status in Polynesien) gilt als gescheitert, da sich die Meinung durchgesetzt hat, daß in Melanesien einerseits Systeme des zugeschriebenen Status („Häuptlings“-Systeme) eine größere Rolle spielen, als früher angenommen, und daß auch der erworbene Status eine bedeutendere Rolle in Polynesien spielt. So übernimmt dort oft ein „Häuptling“ gerade auf Grund seines zugeschriebenen Status die Rolle des B. durch die Organisation umfangreicher Umverteilungen. Bereits 1971 verwies Justin Stagl ferner auf die grundsätzliche Komplementarität von B. und Lineageältesten in Melanesien, die auf Grund von Alter und Erfahrung, also zugeschriebenem Status, die Geschicke eines Gemeinwesens lenken und deren Einfluß eher dauerhaft ist. Auf Grund seines Erscheinungsortes und der deutschen Sprache wurde diese Arbeit zunächst nicht rezipiert; seine Sicht hat sich heute jedoch durchgesetzt. Der B. ist in diesem Sinne die melanesische Spielart des in allen menschlichen Gesellschaften existierenden „Selfmade Man“, der im Rahmen der voherrschenden Bedingungen seine unternehmerischen Fähigkeiten zur Geltung bringt – sei es als Unternehmer, Mafia-Pate, Volkstribun, charismatischer Heerführer, Politiker, usw. In diesem Sinne fand der Terminus „Big-Man“ auch Eingang in sozialwissenschaftliche Diskurse jenseits des spezifisch ethnologischen Forschungsfeldes (siehe z. B. van Bakel et alii, 1986). Martin van Bakel et alii (Hg.), Private Politics, Leiden 1986. Marshall D. Sahlins, Poor Man, Rich Man, BigMan, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, in: Comparative Studies in Society and History 5/2 (1963), 285–303. Justin Stagl, Älteste und Big Men. Politische Führungsrollen in Melanesien, in: Zeitschrift für Politik 18 (1971), 368–383. TH O MA S B A R G ATZK Y Bildung in China. Die Spannung zwischen privaten B.sbemühungen und offiziellen B.seinrichtungen hatte es seit der Einführung der Staatsprüfungen in der TangZeit (618–906 n. Chr.) gegeben. Seit der auch als Beginn der Frühen Neuzeit in China geltenden Song-Zeit (960–1279) hatte sich der Charakter und der soziale Status des Lernens geändert und eine Verschiebung des Lernens aus dem häuslichen und familiären Umfeld in die „Öffentlichkeit“ stattgefunden. Neben einem staatlich organisierten Schulsystem gab es zugleich Akademiegründungen – im 13. Jh. gab es über vierhundert Akademien –, die auch als Reaktionen auf das staatliche Schul- und 103
b i l dung i n i n d i en
Prüfungssystem zu sehen sind und in enger Beziehung zu der Durchsetzung der später als Neokonfuzianismus bezeichneten „Lehre vom Weg“ (daoxue) standen. Die Zunahme der Absolventenzahl bei den Staatsprüfungen im 19. Jh., Folge und Element der krisenhaften Entwicklungen jener Zeit, verursachte eine Krise des Bildungssystems und führte schließlich zur Abschaffung des Staatsexamenssystems. Durch die sprunghafte Vermehrung der Titelträger wurde die Einheit und die Solidarität der Titelträger aufgebrochen und das labile Gleichgewicht zwischen Amtsanwärtern und Amtsinhabern zerstört. Zhang Zhitong’s Throneingabe vom Januar 1904 mit dem Titel „Denkschrift zum versuchsweisen allmählichen Abbau des Prüfungssystems“ und das bestätigende Edikt führten zusammen dann zur Abschaffung des Prüfungssystems im Jahr 1905. An dessen Stelle traten Reformversuche, unter japanischem Einfluß, aber auch unter Anleitung christlicher Missionare, v. a. aber durch Adaption westlicher Modelle. Die Bewertung der Qing-Gelehrsamkeit wurde damit freilich nicht gänzlich negativ. So attestiert noch Liang Qichao 1920 der Qing-Gelehrsamkeit die Leistung, das Erbe geordnet zu haben, ganz so wie dies in Europa die Renaissance getan habe. Hintergrund solcher historischer Rekonstruktion war die Bestrebung, mit den Neuerungen auch an eigene chinesische Traditionen anzuknüpfen. Die vier Jahrzehnte zwischen den Aufständen der Taiping (1851–1864) und dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie jedenfalls wurden auch nachträglich als Periode der „Transformation der Chinesischen Gesellschaft“ gewertet. Teil dieses Prozesses war eine Neubewertung des Militärs und ein Aufstieg einer neuen Militärkaste, die sich im Zuge der Unterdrückung der Aufstände zwischen 1850 und 1874 gebildet hatte. Militärs wie Militärveteranen spielten eine wesentliche Rolle bei der Überwindung der Rolle der alten Literatenschicht, indem sie einer fachlichen Spezialisierung und innovativem Wirtschaftshandeln Geltung verschafften. Der Staatsmann und General Zeng Guofan hatte zwar noch nach der Devise gehandelt: „Die Bauern durch konfuzianische Literaten führen“ (yong rusheng ling nong), doch nach dem →Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/95 hatte die Armee allmählich die Vorreiterrolle übernommen. Eine militärische Karriere wurde attraktiver als eine Zivilkarriere und militärischer Geist fand zunehmend Eingang in die Erziehungsverbände. Nationale militärische Erziehung (junguomin jiaoyu) wurde im Jahre 1911 auf dem nationalen Erzieherkongreß zur ersten Devise erklärt. Mit den gesteigerten Westkontakten hatte sich eine westlich orientierte Intelligenz herausgebildet, die bis auf Provinzebene – oft als „Beauftragte“ (weiyuan) bezeichnet – Einfluß gewannen. Der Fortbestand dieser neuen Schichten wurde gesichert durch moderne Schulen, deren Zahl sich zwischen 1905 und 1912 auf nahezu 90000 verdreifachte. Wichtig waren in jener Zeit auch als „Studiengesellschaften“ (xuehui) bezeichnete Zirkel, die häufig politische Aktivitäten bis hin zur Aktion entfalteten und die ihren Niederschlag auch in den 1909 gewählten Provinzversammlungen fanden. Im Jahre 1912 erließ die Republik China unter dem ersten Erziehungs- und Bildungsminister Cai Yuanpei 蔡元 培 – der in Berlin und Leipzig studiert hatte – eine neue 104
Universitätsverordnung mit Gelehrsamkeit, Förderung von Begabungen und Vermittlung von breitem Wissen als Bildungszielen. Unter seiner Führung als Rektor der Peking-Universität nahm diese Ende des zweiten Jahrzehnts des 20. Jh.s eine Sonderentwicklung, bei der insbesondere Erfahrungen aus dem deutschen Universitätssystem aufgegriffen wurden. Die 4.-Mai-Bewegung und die damit verbundene literarische Bewegung sowie die Rezeption des Marxismus und anderer zeitgenössischer politischer, ästhetischer und wirtschaftlicher Strömungen begleitete die Geburtsstunde des modernen China. Benjamin A. Elman und Alexander Woodside, Education and Society in Late Imperial China, 1600–1900, Berkeley und Los Angeles 1994. H ELWIG SCH MID T-G LIN TZER
Bildung in Indien. In →Indien gibt es eine lange Tradition organisierter B.; die frühesten Träger waren wohl die Institutionen der Gurukulas. Gurukulas waren die Schulinternate traditioneller hinduistischer B. (→Hinduismus), in der Regel Klöster oder das Haus des Lehrers. Der Unterricht war kostenlos, aber von Schülern aus wohlhabenden Familien wurde eine freiwillige Spende, die Gurudakshina, am Ende der Ausbildung erwartet. Die Lehrer vermittelten Wissen über Religion, die klassischen Schriften, Philosophie, Literatur, Kriegs- und Staatskunst, Mathematik, Medizin, Astrologie und Geschichte. In der Regel erfolgte der Unterricht mündlich und Wissen wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Allerdings war der Zugang zu B. auf Männer aus höheren Kasten (→Kastensystem) beschränkt. Durch das Aufkommen des →Buddhismus, →Jainismus u. anderer heterodoxer religiöser Strömungen wurde seit dem 6. Jh. v. Chr. breiteren Teilen der Gesellschaft Zugang zu geschlechterspezifischer B. ermöglicht. Im 1. Jahrtausend unserer Zeit blühte die höhere B. im Umfeld der Universitäten von Nalanda, Taxila Ujjain und Vikramshila auf. Die Universitäten spezialisierten sich jeweils in bestimmten Bereichen. In der Folgezeit etablierten sich auch madrasas und Khankahs (islamische Schulen und religiöse Ausbildungsstätten) als wichtige Zentren der B. In der Frühen Neuzeit befanden sich in nahezu jedem Dorf, von tols (Sanskritschulen) und madrasas einmal abgesehen, Grundschulen (die pathsalas oder maktabs), in denen Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens, der Buchführung u. a. berufsrelevanter Fähigkeiten vermittelt wurden. Der Unterricht erfolgte in der lokalen Umgangssprache. Das Alter der Schüler war, wie auch der Tagesablauf an den Schulen, wenig reglementiert. Die Unterrichtszeiten waren an die Landwirtschaft angepaßt und so Studenten aus weiten Teilen der Gesellschaft zugänglich. Aus frühen brit. Berichten läßt sich erkennen, daß der B.sgrad auch im späten 18. Jh. hoch war, da in den meisten Gegenden jeder Tempel, jede Moschee oder jedes Dorf eine Schule unterhielt. Lokale Schulen und Universitäten wurden durch steuerbefreites Land, durch den Staat oder die Dorfgemeinschaft finanziert. Das →British Raj schnitt das lokale B.ssystem durch die Politik einer Maximierung der Grundsteuererträge u. a. Veränderungen, die es auf dem Subkontinent einleitete, nicht nur von seinen Finanzquellen ab, sondern brand-
bi rs A m u n dA
markte es aus ideologischen Gründen als rückschrittlich und überflüssig. →Gandhi beschrieb das traditionelle, ind. B.ssystem als einen „beautiful tree“, der unter der brit. Herrschaft gefällt wurde. Das heutige B.ssystem nach westlichem Vorbild und Lerninhalten wurde Mitte des 19. Jh.s durch die Briten eingeführt und gefördert, die sich dabei an Lord Macaulays Vorschlägen aus seinem Minute on Education (1835) orientierten. Da es die vorherrschende Idee hinter dem kolonialen B.ssystem war, eine billige und funktional ausgebildete Verwaltungsklasse für das Empire bereitzustellen, vernachlässigte die Reg. unter diesem elitenzentrierten Ansatz die allg. B. breiterer Bevölkerungsschichten und veränderte die bestehenden pädagogischen Strukturen erheblich. Die flexiblen Unterrichtszeiträume und -abläufe, die zentrale Bedeutung mündlicher Wissensvermittlung und die Autonomie der Lehrkräfte vor Ort wurden durch eine rigide Fixierung auf feste Klassenräume, starre Stundenpläne und Zeitabläufe, einheitliche Schulbücher und angestellte Lehrkräfte ersetzt. Damit war das neue System wirtschaftlich, sprachlich und kulturell außer Reichweite der Mehrheit der Bevölkerung. Dennoch half dieses System bei dem Aufbau eines anglisierten Bildungsbürgertums, das 1947 die politische Macht von den Briten übernahm. (→Ind. Nationalismus, →Indian National Congress) Nigel Crook (Hg.), Transmission of Knowledge in South Asia, Delhi 1996. Dharampal, The Beautiful Tree, Delhi 1983. P RABHAT KUMAR Bilharziose (Schistosomiasis). Schistosomen sind Saugwürmer von einer Länge von 15–20 mm. In ihrem Lebenszyklus ist der Mensch der Wirt, verschiedene Wasserschnecken sind die Zwischenwirte. Die Eier der Würmer gelangen über den menschlichen Kot oder Urin ins Wasser, werden von Schnecken aufgenommen und können nur hier ihre Entwicklung fortsetzen. Die Larven werden ins Wasser abgegeben, können aktiv die menschliche Haut durchdringen und gelangen über die Blutbahn zu den Organen, wo sie sich zu reifen Formen entwickeln. Einige Wochen nach der Infektion kommt es zum sog. Katayama-Fieber, welches einige Wochen anhält. Unbehandelt entwickelt sich ein chronisches Stadium, welches Jahre bis Jahrzehnte dauern kann. Die Art der Organmanifestation ist abhängig vom Subtyp. S. haematobium, vorkommend in Afrika, speziell im Niltal (→Nil), Ostafrika, →Zaire und Nigertal (→Niger), sowie im mittleren Osten, verursacht v. a. Komplikationen am Harntrakt. Bei einer Erkrankung durch S. mansoni ist der Dickdarm hauptsächlich betroffen. Diese Form wird in vielen afr. Ländern, im mittleren Osten, in der →Karibik, und in Südamerika beobachtetet. Beim S. japonicum ist zusätzlich der Dünndarm und die Leber betroffen. Diese Form wird in →Südostasien verbreitet. Insg. wird die Zahl der Erkrankten auf 200–300 Mio. Menschen geschätzt. Mittel der Wahl in der Therapie ist Biltricide. Adel A.F. Mahmoud (Hg.), Schistosomiasis, London 2001. DE T L E F S E YBOL D Bioko →Fernando Po’o
Birma (engl. Burma). Vielvölkerstaat im Südosten des ind. Subkontinents mit vorrangig buddh. Bevölkerung (→Buddhismus). Lange Tradition von Handels- und Kulturkontakten nach →Indien und China sowie nach →Südostasien. Bis Mitte des 18. Jh.s verschiedene Kgr.e in der Region. Unter Kg. Alaungpaya, dem Begründer der Konbaungdynastie, und seinen Nachfolgern wurde die Region zum ersten Mal unter einem Herrscher geeint. Sich entwickelnde territoriale Spannungen mit Brit.Indien und v. a. wirtschaftliche (Teak-Holz, Edelsteine, später auch Erdöl) und geopolitische Interessen der Kolonial-Reg. führten ab 1824/26 zu drei Anglo-Burmesischen Kriegen. Der 1. Krieg endete mit der Annexion der Küstengebiete Arakan und Tenasserim; 1852 wurde Nieder-B. besetzt, das bis ca. 1910 zum führenden Reisproduzenten (→Reis) der Welt ausgebaut wurde. 1885 wurde auch der Rest des Landes annektiert. Durch eine Bevorzugung indischer Bewerber im Verwaltungsdienst kam es in der Folge zu einer fast vollständigen Verdrängung der einheimischen Bevölkerung aus dem politischen Prozeß. Auch der Ausbau und die Intensivierung des Reisanbaus im Rahmen einer Plantagenwirtschaft, die die lokalen Naturräume z. T. massiv umgestaltete, geschah mit dem Kapital indischer Geldgeber (→Chettiar), so daß die indigene Bevölkerung auch im Wirtschaftsleben kaum Anteil an der gesellschaftlichen Entwicklung hatte. Trotz dieser Marginalisierung wurde die politische Willensbildung innerhalb des Landes bis 1920 von engl. gebildeten Eliten dominiert, die auf eine konstitutionelle Lösung dieser Konflikte setzten. In der Folge jedoch entwickelte sich auch eine breitenwirksame Massenbewegung, die mit radikaleren Ansätzen die Unabhängigkeit des Landes verfolgte. Verschiedene Steuerboykotte u. a. Widerstandsmaßnahmen in den 1920er und 30er Jahren, z. T. von buddh. Mönchen geführt, erreichten die Loslösung B.s aus der administrativen Marginalisierung Brit.Indiens und die Einsetzung einer eigenen nationalen Reg. mit beschränkten Befugnissen 1937 (→Government of India Act, 1935). Nach Ausbruch des →Zweiten Weltkriegs schlug sich die birmanische Nationalbewegung zunächst auf die Seite Japans, das B. erobert hatte (1942) und Kriegsgegner Großbritanniens war. Ab 1944 gab es auch wieder Verhandlungen mit der brit. Kolonialmacht und schließlich wechselte B. Ende März 1945 die Seiten. Im Zuge der Dekolonisierung Indiens wurde das Land 1948 unter Premierminister U Nu unabhängig. Jos Gommans u. a. (Hg.), The Maritime Frontier of Burma, Amsterdam 2002. Thant Myint-U, The Making of Modern Burma, Cambridge 2001. TILMA N FR A SC H / H A N S H O MMEN S
Birsa Munda (d. h. dem Munda-Stamm angehörig), * 15. November 1875 Ulihatu, † 9. Juni 1900 Gefängnis von Ranchi, □ u. Rel. unbek. B.M. war einer der wichtigsten Reformer und politischen Führer der Chota Nagpur Region in Ostindien im späten 19. Jh. Aus einer Familie von Farmpächtern aus der Region Jharkhand (im südlichen →Bihar) stammend, wurde B.M. Zeuge der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformationen in der Region zu seiner Zeit, einerseits in Folge der wachsenden Durchdrin105
b i s m A r c k , h e r b e rt f ü r s t v o n
gung der lokalen Gesellschaft durch den Kolonialstaat (sarkar, →British Raj) und dessen Institutionen, andererseits durch den verstärkten Einfluß auswärtiger Großgrundbesitzer (dikus), z. T. aus dem Umfeld städtischer Wirtschaftseliten. Seine prägenden Jahre verbrachte er in einer christlichen Missionsschule, aber er distanzierte sich später vom Christentum in der Überzeugung, daß er seine eigenen Heilkräfte zum Wohle der Munda-Gesellschaft einsetzen sollte. Bald darauf begann er seine neuen Ideen zu predigen und wurde als Prophet und religiöser Führer (bhagwan) anerkannt. Mit seinen Forderungen, die Pachtzahlungen an Steuerverwalter (zamindars, →Steuersysteme) einzustellen, Land pachtfrei zu halten und die alten Munda-Gesetze der autonomen vorkolonialen Gemeinwesen wiederherzustellen, übertraf er bald die restaurative Einstellung der Sardar-Bewegung (1890–1892). Er wurde von der Kolonialmacht verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt. Während der Aufstände (ulgulan) 1899–1900 wurden Forderungen nach einer von europäischem Einfluß freien Herrschaft (raj) unter B.M.s Führung laut. Am 3. Februar 1900 erneut verhaftet, starb er unter ungeklärten Umständen im Gefängnis von Ranchi. Kumar S. Singh, Birsa Munda and His Movement, 1872– 1901, Kalkutta 2002. Surendra P. Sinha, Life and Times of Birsa Bhagwan, Ranchi 1964. NI T I N VARMA Bismarck, Herbert Fürst von, * 28. Dezember 1849 Berlin, † 18. September 1904 Friedrichsruh, □ Bismarck-Mausoleum zu Friedrichsruh, ev.-luth. B. wurde als ältester Sohn Otto v. B.s geboren. Nach dem Jura-Studium in Bonn, wo er Mitglied des exklusiven Corps Borussia wurde, und der Teilnahme am Dt.-Frz. Krieg (1870/71) trat er im Jan. 1874 in den auswärtigen Dienst ein, in dem er, gefördert durch seinen Vater und Friedrich von Holstein, rasch Karriere machte: 1880 Legationsrat, 1881 Botschaftsrat in London und 1884 in St. Petersburg, im gleichen Jahr Gesandter in den Niederlanden. 1885 wurde B. zum Unterstaatssekretär und 1886 zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts berufen und damit neben bzw. unter seinem Vater verantwortlich für die dt. Außenpolitik. 1887 ernannte ihn Wilhelm I. zum Wirklichen Geheimen Rat und 1888 zum preußischen Staatsminister. Als Otto v. B. 1890 zurücktrat, folgte ihm sein Sohn gegen den Willen Wilhelms II. Politisch trat er nun nur noch gelegentlich als Abgeordneter des Reichstags hervor, dem er von 1881–1889 und von 1893 bis 1904 angehörte. Nach einer Aufsehen erregenden Affäre mit der verheirateten Fürstin Elisabeth zu Carolath-Beuthen, die zu beenden ihn sein Vater 1881 zwang, heiratete B. 1892 in Wien Gräfin Marguerite Hoyos (1871–1945), die ihm drei Söhne und zwei Töchter gebar. B.s Bild in der Forschung wird v. a. dadurch getrübt, daß er stets im Schatten seines Vaters stand. Beider Verhältnis war nie spannungsfrei, doch ordnete sich der Sohn letztlich immer unter und unternahm keine ernsthaften Versuche, sich zu emanzipieren. Echtes staatsmännisches Wesen fehlte B., doch war er zweifellos ein erfahrener Diplomat von hoher Begabung und Sachkenntnis, der in zahlreichen Sondermissionen erfolgreich agierte. Auf dem Felde der Kolonialpolitik sind hierbei besonders zu 106
nennen die Verhandlungen mit London über die Zukunft →Ägyptens und die Bereinigung der dt.-brit. Spannungen in den 1880er Jahren sowie der Abschluß des SamoaVertrags 1889. S. a. →Herbertshöhe. Q: Herbert Fürst von Bismarck, Politische Reden. Gesamtausgabe. Veranst. v. Johannes Penzler, Berlin 1905. L: Louis L. Snyder, Diplomacy in Iron, Malabar, Fla. 1985. Heinrich Stamm, Graf Herbert von Bismarck als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Braunschweig 1979. MATTH IA S STICK LER Bismarck, Otto Fürst (seit 1871) von, * 1. April 1815 Schönhausen, † 30. Juli 1898 Friedrichsruh, □ Mausoleum zu Friedrichsruh, ev.-luth. B. wurde nach den sog. Einigungskriegen am 21.3.1871 zum Reichkanzler ernannt (Entlassung am 20.3.1890). Die Entscheidung zum Eintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte 1884 geht auf ihn als Reichskanzler zurück, obwohl er sich immer wieder ablehnend gegenüber Kolonialerwerb geäußert und die territoriale Saturiertheit des Reiches betont hatte. Dies hat in der Forschung zu einer – noch immer anhaltenden – Diskussion über seine Grundhaltung gegenüber Kolonien und seine Motive zum direkt-formalen Erwerb von Kolonialbesitz geführt. Während mehrheitlich von seiner häufig bezeugten negativen Einstellung gegenüber Kolonialbesitz ausgegangen wird, halten ihn andere Forscher nicht für prinzipiell antikolonial eingestellt und sehen in der sog. →Samoa-Vorlage von 1880, die im Reichstag abgelehnt wurde, den Beginn einer aktiven dt. Kolonialpolitik. Die divergente Seite sieht darin lediglich ein Bemühen um die Stabilisierung des Außenhandels mit Reichsmitteln, also rein wirtschaftspolitische Erwägungen. Die Ablehnung der Samoa-Vorlage ließ ihn jedenfalls in der Folgezeit noch umsichtiger taktieren. Als grundlegend für seine Hinwendung zur Kolonialpolitik müssen wohl einerseits der Impuls aus der Nation und andererseits die außenpolitisch günstige Lage während der ersten Hälfte der 1880er Jahre (eigenes Bündnissystem, Rivalitäten der anderen Kolonialmächte) gesehen werden. Außerdem wird man von einem Motivbündel ausgehen müssen, um dem Kalkül des Reichskanzlers gerecht zu werden. Über die Gewichtung der einzelnen Motive herrscht in der historischen Forschung noch Uneinigkeit. Während die Sozialimperialismus-These (Wehler) in den Hintergrund getreten ist, werden v. a. konkrete innen-, außen- und wirtschaftspolitische Ursachen diskutiert, also situationsbezogene, pragmatische Motive mit europapolitischer Funktion, wie z. B. das Ausloten einer Annäherung an Frankreich, präventives Taktieren im Hinblick auf die vermutete Herrschaftsübernahme des Kronprinzen Friedrich Wilhelm (sog. KronprinzenThese), dazu ein Gewinn an Popularität auch im Hinblick auf die Wahlen im Herbst 1884. Als Initialzündung gewirkt haben dürfte die Befürchtung der Bedrohung der dt. Handelsinteressen in Westafrika durch das Vordringen anderer Kolonialmächte mit ihren Schutzzöllen und wirtschaftlich-kolonialen Abmachungen, auf die ein Memorandum Adolph →Woermanns Anfang 1883 verwiesen hatte. Obgleich B. sich wohl kaum Illusionen über kurz- oder mittelfristige gesamtwirtschaftliche
bi zi li n g á n
Vorteile hingegeben hat, kann man davon ausgehen, daß er doch langfristig auch auf ökonomischen Nutzen, v. a. Absatzmärkte, hoffte. B. hatte spezielle Vorstellungen, wie die →Schutzgebiete, eine von ihm eigens kreierte Bezeichnung, verwaltet werden sollten, nämlich nach dem Vorbild der engl. Chartergesellschaften möglichst ohne Belastung des Staates. Dieses Konzept der Kolonien mit beschränkter Haftung scheiterte bald an der Realität. Nach 1885 wollte B. die Kolonien am liebsten aufgeben und mit dem „Kolonialschwindel“ nichts mehr zu tun haben. Noch 1884/85 hatte er sich als Vermittler engagiert und zur →Berliner Westafrika-Konferenz eingeladen, auf der es um koloniale Interessenabgrenzung und u. a. um die Schaffung einer Kongo-Freihandelszone ging. Um Kolonialausgleich ging es auch bei dem etwas verkürzt als →Helgoland-Sansibar-Vertrag bezeichneten Abkommen mit England von 1890, welches zwar in die Reg.szeit Leopold von →Caprivis fiel, aber noch von B. vorbereitet worden war. Während dieses Vertragswerk in seinen Gedanken und Erinnerungen Erwähnung findet, gibt es keine eigentliche Auseinandersetzung mit der Kolonialpolitik. Q: Winfried Baumgart (Hg.), Bismarck u. der dte. Kolonialerwerb 1883–1885. Eine Quellensammlung, Berlin 2011. L: Konrad Canis, Bismarcks Außenpolitik 1870 bis 1890, Paderborn u. a. 2004. Otto Pflanze, Bismarck, 2 Bde., München 1997/98. Axel T.G. Riehl, Der „Tanz um den Äquator“, Berlin 1993. KAT HARI NA ABE RME T H Bismarckarchipel (engl. Bismarck Archipelago) heißt seit 1885 nach einem Vorschlag des Kaiserl. Kommissars für →Dt.-Neuguinea, Gustav v. →Oertzen, der Inselarchipel nordöstl. von →Neuguinea. Während die dazugehörigen Inseln mit der Ausnahme von Neuhannover (New Hanover) nach dem →Ersten Weltkrieg wieder anglisiert wurden – →Neupommern => New Britain, Neumecklenburg => New Ireland, Neulauenburg => Duke of York Group – blieben der Name B. zusammen mit dem dazugehörigen Meeresteil des Pazifik (Bismarck Sea) erhalten. In →Australien 1922 alternativ vorgeschlagene Namen wie „Kitchener Archipelago“ konnten sich nicht durchsetzen. Zum B. gehören auch die St. MatthiasGruppe u. die Inseln Tabar, Lihir u. Tanga im Norden sowie Witu im Südwesten, die Admiralitätsinseln (Hauptinsel Manus), Kaniet, Hermit, Ninigo u. die sog. „Polynesian Outliers“ (→Polynesier) Aua u. Wuvulu im Nordwesten. Hermann Hiery, The Neglected War, Honolulu 1995, 232 u. 337–338. HE RMANN HI E RY Bissau ist die am nördlichen Ufer im Mündungsgebiet des Rio Geba gelegene Hauptstadt des Staates →GuineaB. Seit Anfang des 16. Jh.s ließen sich port. Händler und Missionare in B. nieder. 1692 wurde B. durch die Verleihung des Kapitänsstatuts offiziell mit Portugal verbunden, blieb aber weiterhin Cacheu, dem Hauptort des von den Kapverdischen Inseln verwalteten Distriktes Guinea, untergeordnet. 1707 wurde B. aufgegeben und das 1696 erbaute Fort zerstört. Der Handel lag zu dieser und in der Folgezeit in den Händen von Franzosen und Lançados (illegalen port./kapverdischen Händlern). 1753 begannen
die Portugiesen erneut mit dem Bau einer Befestigungsanlage. Bis in die 1850er Jahre war B. Umschlagspunkt für Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel). B. entwickelte sich zum Hauptort des Distriktes Guinea, verlor diese Position jedoch schon 1879 an Bolama, das zur Hauptstadt der neu geschaffenen Provinz Port.-Guinea wurde. Der Handel wurde von frz., kapverdischen und dt. Handelshäusern dominiert. Portugal gelang es erst in den 1930er Jahren, sein Handelsmonopol durchzusetzen. Auf Grund der unsicheren Lage und infolge ständiger kriegerischer Auseinandersetzungen mit der lokalen Bevölkerung blieb B. bis zur Niederschlagung des letzten Widerstandes 1915 ein kleiner Ort, der lediglich aus einem Fort und angrenzenden Händlerquartieren bestand. Erst in der Folgezeit, insb. nach der erneuten Verlegung der Hauptstadt von Bolama nach B. 1941, begann die Stadt in größerem Umfang zu wachsen. Nach der Unabhängigkeit Guinea-B.s 1973/74 entwickelte sich B. zum politisch-administrativen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Während des Bürgerkrieges von 1998/99 kam es zu schweren Beschädigungen der Infrastruktur. B. zählt heute ca. 410 000 Ew. Josef Ernst Kasper, Bissau, Bern 1995. MA N FR ED STO PPO K
Bizilingán (Sing. Izilingán). Wort in Beti-Pahuin-Sprachen, das ursprünglich eine besondere Art von Verbrechern bezeichnete. Das Phänomen entstand in der dt. Kolonialzeit in der kamerunischen Küstenstadt Kribi. Danach breitete es sich aus und erreichte um 1900 die politisch und wirtschaftlich strategische Jaunde-Station im Hinterland. Die B. waren Männer, die sich insgeheim einen Hinterhalt im Wald errichteten, aus dem sie hervorkamen, nur wenn sie nachts ein Dorf oder einen Menschen, dem sie aufgelauert hatten, mit Messer oder Speer überfallen wollten. Bei Angriffen wurden Menschen ermordet, v. a. Frauen und Kinder, die nicht fortlaufen konnten. Der Besitz der Opfer wurde ebenfalls vernichtet. Den B. zum Opfer fielen besonders Mitarbeiter der dt. Verwaltung und ihre Familien. Um furchterregend und fremd auszusehen, pflegten die B. sich Leopardenfelle umzuhängen. Fanden sie keines, so bestrichen sie sich mit schwarzer und weißer Farbe. Allerdings flüchteten die B. vor stärkeren Menschen. Die Kolonialverwaltung erließ scharfe Verbote, um den ständig zunehmenden Brauch zu bekämpfen. Auf jede Attacke folgten energische Gegenangriffe der Reg. Durch eine Sensibilisierungskampagne trugen auch die Missionare zu diesem Kampf bei genauso wie die lokale Bevölkerung, die jede Aktion und jeden Verdächtigen denunzierte. So verlor das Phänomen an Macht. Die Übergriffe der B. werden auch manchmal als eine mittelbare Widerstandsbewegung angesehen. Die Absicht wäre gewesen, die Kolonialverwaltung von ihren einheimischen Arbeitskräften zu trennen. Unter dem Wort B. werden heutzutage in den Beti-Gemeinschaften Verbrecher, Amokläufer und Terroristen aller Art subsumiert. Karl Atangana / Paul Messi, Jaunde-Texte, Hamburg 1919. Carl Meinhof (Hg.), Zeitschrift für EingeborenenSprachen. Jahrgang 1919–1920, Ndr. Vaduz 1965. G ER MA IN N YA D A
107
b l A n q u e A m ie n to
Black Saturday →Tamasese Blackbirding →Australien Blanqueamiento, branqueamento. Der Begriff des b. beschreibt auf Spanisch und Portugiesisch den Prozeß einer staatlich geförderten oder verordneten „Aufweißung“ der Gesamtbevölkerung. Insb. im späten 19. und frühen 20. Jh. versuchten die politischen Eliten in vielen lateinam. Staaten, ihre als unterentwickelt und rückschrittlich empfundenen Nationen an das europäisch-nordam. Vorbild von „Ordnung, Fortschritt und Zivilisation“ durch eine „Verbesserung der Rasse“ anzugleichen. Auf Grund des großen Einflusses zunächst sozialdarwinistischer Ideen, später dann explizit rassebiologischer Theorien wie v. a. der →Eugenik, setzte sich bei den meist weißen Eliten die Überzeugung durch, daß eine Weiterentwicklung „ihrer“ Nationen nur durch die Höherentwicklung bzw. Austilgung „minderwertiger“ Bevölkerungsteile möglich sei. Es ging v. a. darum, afroam. und indianische Elemente langfristig verschwinden zu lassen. Nur eine „weiße“, im Idealfall nordeuropäisch geprägte Bevölkerung, sei demnach als Träger des Fortschritts geeignet. Dieses eindeutig biologisch begründete Rassekonzept wurde dabei jedoch nicht immer nach dem europäischen oder US-am. Muster angewandt, denn viele führende Rassebiologen des 19. und 20. Jh.s sahen eine weitere Vermischung der Rassen – auch durch europäische Einwanderung – durchaus kritisch. So sei durch Rassenmischung nur eine stärkere Degeneration zu erwarten. Dennoch folgte die unter dem Einfluß des →Positivismus stehende Reg. in →Brasilien gegen Ende des 19. Jh.s diesem Dogma nicht und förderte statt dessen gezielt die europäische Einwanderung. Kontingente von europäischen Arbeitern und Bauern sollten die Wirtschaft des Landes voranbringen, aber auch zu einer allmählichen „Aufweißung“ großer Bevölkerungsteile afr. Herkunft beitragen. Obwohl im 19. Jh. hauptsächlich Südeuropäer nach →Lateinamerika emigrierten, hielten die politischen Eliten ihren Kurs des b. unbeirrt bei, in manchen Fällen noch bis in die 1940er Jahre. Insb. nach dem Ende der →Sklaverei betrachteten die politischen Eliten in →Kuba (1886) und Brasilien (1888) die nunmehr freie schwarze Bevölkerung als größten Hemmschuh für die Entwicklung ihrer Länder. Deren Vermischung mit europäischem Blut schien ihnen somit angeraten, um im Laufe von wenigen Generationen das afr. Erbe vollständig zu tilgen. Daß die Strategie des b. sogar in den lateinam. Staaten ein Thema war, die sich bis heute als eher „europäisch“ definieren, zeigt v. a. das Beispiel →Argentiniens. Denn auch auf dem Gebiet des früheren →Vize-Kgr.s Río de la Plata war die Sklaverei noch bis in das 19. Jh. hinein verbreitet und folglich ein großer Teil der Bevölkerung afr. Herkunft. Dieses „Problem“ lösten die politischen Eliten schließlich durch die oftmals unfreiwillige Rekrutierung afr. Soldaten bei besonders verlustreichen Kriegen (z. B →Tripelallianzkrieg gegen →Paraguay), die massive europäische Einwanderung ab der zweiten Hälfte des 19. Jh.s sowie die erzwungene Umsiedlung schwarzer Argentinier von den Städten in die ländlichen Regionen, wo sie sich mit der 108
überwiegend weißen Bevölkerung vermischen sollten. Das zweite „Problem“, nämlich das der indígenas, löste die argentinische Reg. im Laufe des 19. Jh.s durch eine großangelegte Vernichtungskampagne, die sog. Campaña del desierto (= Eroberung der Wüste). Obwohl die wissenschaftliche Grundlage des b. mit der Zeit immer mehr an Überzeugungskraft einbüßte, hielten viele lateinam. Staaten noch bis in die 1940er Jahre Einreisebeschränkungen gegenüber bestimmten „Rassen“ aufrecht. Davon waren insb. Asiaten, Osteuropäer, Afrikaner und Juden betroffen. Die Nachwirkungen des b. sind darüber hinaus in zahlreichen lateinam. Ländern bis heute zu spüren, haben aber längst die Form eines subtilen →Rassismus angenommen, der nur noch selten biologistische Komponenten aufweist. George Reid Andrews, Afro-Latin America 1800–2000, New York 2004. Andreas Hofbauer, Das Konzept der „Rasse“ und die Idee des „branqueamento“ im Brasilien des 19. Jh.s – Ideologische Grundlagen des „brasilianischen Rassismus“, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1 (2003), 38–63. Astrid Windus, Afroargentinier und Nation, Leipzig 2005. SV EN SCH U STER
Bleek, Wilhelm, * 8. März 1827 Berlin, † 17. August 1875 Mowbray (→Kapstadt), □ nicht erhalten, ev.-luth. Sohn des Theologie-Prof.s Friedrich B. Studium der klassischen Philologie und der Theologie in Bonn und Berlin. 1851 Promotion. 1855 Reise zu philologischen und ethnologischen Studien nach →Natal. 1856 Berufung zum Bibliothekar des Gouv.s der →Kapkolonie. Seit 1858 Übersetzer beim Native Affairs Department. B. wurde zum Erforscher der südafr. Eingeborenen-Sprachen, insb. der von ihm erstmals sog. Bantu-Sprachen (→Bantu). Mit dem Werk „A comparative grammar of South African languages“ (2 Bde.) schuf er die Grundlagen der vergleichenden Bantuistik. Fortführung der wissenschaftlichen Arbeit und Ausbau der ethnologischen Sammlung durch Tochter Dorothea (1868–1948) und Schwägerin Lucy Cathleen Lloyd († 1911). 1924 Übergabe der Sammlung an Witwaters-Rand-Universität in Johannesburg. Dadurch wurde deren EthnologieMuseum das bedeutendste seiner Art in Südafrika. Das grundlegende Werk „Über den Ursprung der Sprache“ gab posthum 1868 sein Schwager Ernst Haeckel heraus. B.s Publikationen sind neben den Arbeiten Heinrich →Barths zu den zentralafr. Sprachen die bedeutsamsten dt. Beiträge zur Afrikanistik des 19. Jh.s. Q: The Hottentot Language, London 1858. Handbook of African, Australian and Polynesian Philology, Kapstadt / London 1858. The Bushman Language, London 1862. L: Otto Spohr, Wilhelm Heinrich Immanuel Bleek, in: Bonner Geschichtsblätter 18 (1964). G ERH A R D H U TZLER Bligh, William, * 9. September 1754 Plymouth, † 7. Dezember 1817 London, □ St. Mary Churchyard / Lambeth, anglik. B. ging um 1770 erstmals zur See und diente während des darauffolgenden Jahrzehnts auf verschiedenen Schiffen der kgl. Marine, insb. auf James →Cooks Resolution auf dessen dritter Entdeckungsreise; während dieser
bo A s , frA n z
Reise assistierte B. bei Vermessungen, und war anwesend bei Cooks Tod 1779 auf →Hawai’i. Nach dreijährigem Dienst als Kapitän von privaten Handelsschiffen in Westindien wurde B. 1787 zum Kommandanten der →Bounty ernannt, mit dem Auftrag, Ableger des Brotfruchtbaums von dem Südpazifik nach Westindien zu bringen, wo die Brotfrucht eine billige Nahrungsquelle für Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) bieten sollte. Kurz nach der Abreise der Bounty im Apr. 1789 von Tahiti aber meuterte eine Hälfte der Besatzung unter Führung von Fletcher Christian. B. wurde mit achtzehn getreuen Besatzungsmitgliedern in einer Barkasse ausgesetzt, und steuerte das kleine Boot irgendwie über 3 600 Meilen offener See nach Timor, von wo aus man im März 1790 schließlich England erreichte. Von Schuld am Verlust der Bounty offiziell freigesprochen, erhielt B. den Befehl, eine zweite →Expedition in den Pazifik zu unternehmen, und stach 1791 mit der Providence und Assistant in See. Er schaffte es diesmal, Brotfrucht nach Westindien zu verpflanzen, konnte sich jedoch während des Gerichtsverfahrens gegen die gefangengenommenen Meuterer, das in seiner Abwesenheit stattfand, zu Vorwürfen über sein Kommando über die Bounty nicht äußern. Diese Vorwürfe hatten eine abträgliche Wirkung auf seinen Ruf in der Öffentlichkeit, aber auf lange Sicht schadeten sie seiner Karriere nicht. B., der nach Ausbruch der Napoleonischen Kriege wieder als Kapitän eingesetzt wurde, nahm an den Seeschlachten von Kamperduin und Kopenhagen teil, und wurde 1805 zum Gouv. der brit. Kolonie New South Wales ernannt. Trotz seines mißlungenen Versuchs, korrupte brit. Offiziere zu zügeln, wurde er nach seiner Rückkehr nach England zum Konteradmiral (1811) und Vizeadmiral (1814) befördert. B. war ein Seefahrer ersten Ranges und genoß eindeutig das Vertrauen seiner Vorgesetzten wie auch seines Förderers Sir Joseph →Banks. Die Beziehungen zu seinen Untergeordneten aber ließen viel zu wünschen übrig. B. war nach den Maßstäben seiner Zeit kein übermäßig strenger Kapitän, und peitschte in der Tat relativ selten aus. Er pflegte statt dessen seine Leute auf eine besonders starke und verletzende Weise zu beschimpfen, die oft als erniedrigend wahrgenommen wurde. Dies trug zweifelsohne zu seinem negativen Bild bei, das bis zum heutigen Tag fortbesteht. Caroline Alexander, The Bounty, New York 2003. Greg Dening, Mr Bligh’s Bad Language, Cambridge 1992. Gavin Kennedy, Captain Bligh, London 1989. JAME S BRAUND
Blutrache. Unter B. versteht man eine bei verschiedenen →Ethnien etablierte Rechtspraxis, die Tötung eines Angehörigen der eigenen sozialen Gruppe mit der Tötung eines Mitgliedes der verursachenden Gruppe zu rächen. Bei der B. muß im Unterschied zur abendländischen Rechtspraxis also nicht unbedingt das verursachende Individuum belangt werden. Allerdings können die wechselseitigen Sühneverpflichtungen bedeutende Opfer fordern, bevor ein Friede hergestellt wird. Die Verpflichtung zur B. wird durch sozialen Druck verstärkt. Ein Beispiel dafür stellten die Küstenbewohner der Gazellehalbinsel im damaligen →Dt.-Neuguinea dar. Jemand, der sich
weigerte, den Tod eines Angehörigen zu rächen, galt in den Augen der Einheimischen als „schlecht“, erfuhr also eine ethisch-moralische Abwertung. Die Gelegenheiten für B. waren zahlreich: V. a. die verbreitete Vorstellung, daß der Tod eines Menschen nicht auf „natürliche“ Ursachen zurückzuführen wäre, sondern z. B. auf magische Praktiken einer verfeindeten Ethnie, sorgte für immer neue Anlässe zur B. August Kleintitschen, Die Küstenbewohner der Gazellehalbinsel, ihre Sitten und Gebräuche, Hiltrup 1910. G.W. Trompf, Payback. The Logic of Retribution in Melanesian Religions, Cambridge 1994. SIMO N H A B ER B ER G ER
Board of Trade and Plantations. Bis zur Gründung des BoT durch kgl. Charta am 15.5.1696 waren seit den 1630er Jahren koloniale Angelegenheiten in der Regel durch die Lords of the Committee of Trade and Plantations, einer Unterkommission des Privy Council, beraten worden. In Anordnungen wurden sie durch Beschlüsse des Privy Council selbst umgesetzt. Organisatorische Änderungen etwa 1675 hatten für keine größere Effizienz, v. a. für keinen größeren Einfluß der Krone auf die brit. Kolonien im atlantischen Raum gesorgt. Die Unzufriedenheit mit diesem Zustand führte 1695 zu Bemühungen im engl. Parlament, per Gesetz eine zentrale Institution für die Kolonialverwaltung zu schaffen. Mit dem Beschluß vom 9.12.1695, ein solches Gremium durch kgl. Anordnung zu gründen, blockierte die Krone die parlamentarische Initiative. Die „Lords Commissioners of Trade and Plantations“, wie das Gremium offiziell hieß, bestand aus ex-officio Kabinettsministern und aus anderen Politikern, die sich wie John Locke, John Methuen oder John Pollexfen mit Handelsfragen befaßt hatten. Zu den Aufgaben der neuen Behörde gehörten alle Handelsfragen und -politik, Fragen der Armenfürsorge, des Arbeitsmarktes und koloniale Angelegenheiten, wobei die Hauptaufgabe darin lag, den wirtschaftlichen Nutzen der Kolonien für das Mutterland zu erhöhen. Prinzipiell war offizielle Korrespondenz der Kolonien nur an diese Institution zu richten. Da der BoT nicht selbst entscheiden konnte, wurden seine Vorschläge an den Privy Council weitergeleitet, der darüber entschied. Schnell zeigte sich, daß weniger der BoT, als vielmehr der Secretary of State, der für die südliche Hemisphäre zuständig war, Entscheidungen über koloniale Fragen fällte. Erst mit den Reformen von 1752 und 1757, mit der Einrichtung eines eigenen Ministeriums am 20.1.1768 und der Ernennung von Wills Hill, Earl of Hillsborough zum für die Kolonien zuständigen Minister sollte sich dies endgültig ändern. Oliver Morton Dickerson, American Colonial Government 1696–1765, Cleveland 1912. Ian Kenneth Steele, Politics of Colonial Policy, Oxford 1968. Peter D. Thomas, The Townshend Duties Crisis, Oxford 1987. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Boas, Franz, * 9. Juli 1858 Minden, † 22. Dezember 1942 New York, □ Dale Cemetery / Ossining, jüd. Sohn eines Händlers. Studium in Heidelberg, Bonn und Kiel. 1881 Promotion in Physik. Führte 1883–1884 eine geophysikalische →Expedition nach Baffin-Land durch, 109
b o d e nr e c h t
in deren Verlauf er auch ethnologisches Wissen sammelte. Spätere völkerkundliche Expeditionen widmeten sich dem Nordwesten →Amerikas, insb. dem Volk der Kwakiutl in British Columbia. B. arbeitete an verschiedenen dt. und US-am. Universitäten und Museen, am längsten 1899–1936 als Prof. für Anthropologie an der Columbia University, New York. B. war einer der ersten Vertreter des einflußreichen am. Four-Field-Approach der Ethnologie (Kulturanthropologie, Archäologie, Linguistik, physische Anthropologie). Er lehnte gängige Großtheorien wie das biologische Rassendenken zugunsten einer relativistischen Perspektive ab. Franz Boas, The Mind of Primitive Man, New York 1911. Michael Dürr u. a. (Hg.), Franz Boas, Berlin 1992. RAL F E MI NG
Boat People →Bootsflüchtlinge Bodenrecht. Im dt. →Recht wird öffentliches B., das Recht der Bauleitplanung, vom privaten B., dem Grundstücksrecht als Teil des Sachenrechts, unterschieden. Für letzteres wird, in direkter aber unpräziser Übersetzung des engl. Begriffs „landlaw“ auch zuweilen die Bezeichnung „Landrecht“ verwendet, was sich aber auf Grund der Verwechslungsgefahr mit dem Landesrecht der dt. Bundesstaaten in Geschichte und Gegenwart verbietet. Dies wird am Beispiel des Allg. Landrechts für die Preußischen Staaten vom 5.2.1794 deutlich, das sich keineswegs lediglich auf Grundstücksrecht beschränkte, sondern vielmehr verschiedene Rechtsgebiete umfaßte. Der hier verwendete Begriff B. bezieht sich auf das private B. Er umschreibt die auf den Boden bezogenen Rechte, unter Ausschluß anderer Personen Land in einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung besitzen, nutzen, zu belasten und darüber verfügen zu dürfen. Je nach Gesellschaftsordnung können Rechte an Boden als Eigentums- oder Nutzungsrechte individuell, z. B. durch eine natürliche Person, kollektiv, bspw. durch einen Familienverband oder eine kulturelle oder ethnische Gemeinschaft, oder kommunal, etwa durch eine lokale Gemeinschaft, begründet werden. B. kann Bestandteil formellen (staatlichen) Rechts, informellen Rechts (Gewohnheitsrecht und sog. „lebendes Recht“, engl. people’s law, →Eingeborenenrecht) und religiösen Rechts (z. B. Islamisches Recht, Hindu Recht) sein und kann sowohl in kodifizierter Form als auch in ungeschriebener, gewohnheitsrechtlich anerkannter Form bestehen. Wichtig ist, daß eine in der Gemeinschaft anerkannte Autorität in der Lage ist, für die Durchsetzung bodenrechtlicher Anordnungen zu sorgen. Dies können staatliche Stellen (z. B. Gerichte, Verwaltungsbehörden) oder nicht-staatliche Institutionen (etwa die „Erdherren“ in Westafrika) sein. Für die Überseegeschichte ist B. insoweit bedeutsam, daß mit der Landnahme durch europäische Kolonialmächte häufig eine Kommerzialisierung des Bodens einherging. War Boden in vielen Gesellschaften zuvor meist unverkäuflich, bspw. weil er als unveräußerliches Gut der Familie oder einer lokalen Gemeinschaft angesehen wurde, beanspruchten die Kolonialmächte gemeinhin die größten Teile ihrer Kolonialgebiete als staatliches Land (z. B. Kronland), das sie teils an natürliche und ju110
ristische Personen aus Europa zu Eigentum gaben. Damit wurde zum einen ein bis heute andauernder Prozeß in Gang gesetzt, der zur Individualisierung von B.en führte, zur Umwandlung von Nutzungs- in Eigentumsrechten, zur Registrierung von Rechten an Boden und zur Absicherung dieser Rechte durch offizielle Titel. Westliche Geberländer und -organisationen fördern diesen Prozeß im Rahmen ihrer Entwicklungspolitik (→Entwicklung). Zum anderen kam es durch die koloniale Bodenpolitik in vielen Überseegebieten zur Entstehung von Großgrundbesitz, der teils bis heute existiert. Manche Staaten (z. B. Südafrika, →Namibia) reagieren darauf mit einer Redistribution von Land im Rahmen einer auf rechtlicher Grundlage beruhenden Bodenreform. Für Landenteignungen, die auch in Rechtsstaaten grundsätzlich möglich sind, sind die gemeinhin bestehenden Verfahrensregeln zu beachten und angemessene Entschädigungen zu gewähren. Da in zahlreichen Gesellschaftsordnungen noch immer eine Ungleichbehandlung der Geschlechter besteht, haben Frauen oftmals eingeschränkte Rechte an Boden. Harald Sippel, Die Bodenreformgesetzgebung von Namibia, in: Recht in Afrika 10 (2007), 231–243. Gordon R. Woodman u. a. (Hg.), Local Land Law and Globalization – A Comparative Study of Peri-Urban Areas in Benin, Ghana and Tanzania, Münster 2004. H A RA LD SIPPEL Bogaert, Harmen Meyndertsz van den, * 1612 Niederlande, † 1648 bei Fort Orange / New York (ertrunken im →Hudson) Der gelernte Barbier kam 1630 an Bord des Schiffs De Eendracht nach Neuniederland, reiste 1634/35 im Dienste der ndl. →Westind. Compagnie zu den Mohawk im Hudsontal und verfaßte dabei ein Tagebuch, das als eine der wichtigsten Quellen eines Augenzeugen über die Kultur der Mohawk und ndl.-indianische Beziehungen der Kolonialzeit gilt. 1638 erwarb B. Anteile an einem Schiff, mit dem er auf der Suche nach span. Prisen in die →Karibik segelte. 1640 heiratete er eine Niederländerin und starb auf der Flucht vor der neu-ndl. Reg., die ihn auf Grund einer Anzeige wegen homosexueller Handlungen mit einem schwarzen Diener bestrafen wollte. Charles Gehring / William Starna, (Hg.), A Journey Into Mohawk and Oneida Country, 1634/35, Syracuse 1988. CLA U D IA SC H N U R MA N N
Bolívar, Simón, * 24. Juli 1783 Caracas, † 17. Dezember 1830 Santa Marta, □ Nationalpantheon in der Kirche Santísima Trinidad / Caracas, rk., Freimaurer B., im span.-sprachigen Südamerika, v. a. in →Venezuela, →Kolumbien, →Ecuador, →Peru und →Bolivien auch als el Libertador (der Befreier) bezeichnet, eigentlich Simón Antonio José de la Trinidad Bolívar y Palacios, entstammte einer Familie der kreolischen (→Kreole) Oligarchie von Caracas. Die Familie B., Neuchristen aus dem Baskenland, geht auf Simón B. „den Alten“ (Bolibar, * 1532 Vizcaya, † 9.3.1612 Caracas) zurück, der nach langem Dienst in Santo Domingo (→koloniale Metropolen) 1589 in das neugegründete Caracas (1567) kam, dort siedelte und wichtigstes Mitglied der kgl. Verwaltung (procurador general, regidor perpetuo von
bo lí vA r, s i m ó n
Caracas) wurde – nicht zuletzt wegen seiner baskischen Hidalguía (niederer Adel). B. der Alte gehörte zu den Begründern der Kolonie und der →Sklaverei in Venezuela. 1593 verlieh ihm der Gouv. dafür auch den Titel eines Contador General de la Real Hacienda (Oberster Rechenmeister der kgl. Finanzen). B. der Alte zählte damit zur neuen Elite in der Postwelser-Kolonie, die im Grunde nur deswegen noch Aufmerksamkeit der span. Krone erlangte, weil sie Grenzgebiet gegenüber den port. Besitzungen, aber am Ende des 16. Jh.s vor allen gegen das Vordringen von Engländern (Walter →Raleigh) und Niederländern (Salzfahrten nach Araya) darstellte. Die Welserzeit (→Welser) Venezuelas (1528–1556) hat auch Spuren in der Genealogie B.s hinterlassen. Seine Mutter, María de la Concepción Palacios y Blanco, stammte mütterlicherseits von einem Familienclan mit dem Namen Xedler (Gedler oder Schedler) ab – zweifellos ein oberdt. Name. Um den B. des 19. Jh.s zu verstehen, sind die Bezüge zu Simón „dem Basken“ und seiner Namenslinie wichtiger als die Welserbezüge. Die Familiengenealogie birgt einige Geheimnisse. Unter den Ahninnen des Libertadors, der zweiten Frau seines Ur-Ur-Großvaters Juan de B. am Beginn des 18. Jh.s, findet sich auch eine María Petronila de Ponte, deren Mutter wiederum illegitimes Kind einer Frau war, die im Taufregister nur unter den Vornamen María Josefa eingetragen ist – für gewöhnlich Ausweis über die Herkunft aus einer Verbindung zwischen Herr und Sklavin. B. war unermeßlich reich, als 1810 die Rebellion der Oberschichten begann, die als Independencia (Unabhängigkeit) in die Geschichte eingegangen ist. Nach dem Tod seines älteren Bruders besaß er mindestens fünf Mayorazgos (unteilbarer Besitz einer Oberschichtenfamilie, Basis für einen Adelstitel), ein Stadtpalais und mehrere hundert Sklaven. Doch B. entfernte sich von der traditionellen Oligarchie, ohne ihren Habitus jemals ganz abzulegen. Von 1799 bis 1806 lernte er auf Reisen Spanien, Frankreich und weitere Länder Europas kennen und bewunderte Napoleon. 1806 kehrte er endgültig nach Venezuela zurück, nachdem er schon 1802/03 versucht hatte, sich mit seiner Frau († 1803), einer engen Verwandten, als Plantagenbesitzer niederzulassen. Als die kreolischen Oligarchien 1808 bis 1810 in Präventivrebellionen (Junta-Bewegung) versuchten, die Macht über ihre Territorien zu übernehmen und trotzdem im Imperium zu verbleiben, kam es zu schweren Konflikten. B. gehörte 1810–1816 zu den radikalen Kreolen, die sich zunächst hinter Francisco de →Miranda versammelt hatten, eine radikal-militärische Trennung von Spanien propagierten und im bald ausbrechenden Bürgerkrieg als Milizchefs handelten. Die radikale Gruppe der jakobinischen Oberschichten-Kreolen war angesichts der Aufstände der Spanier und armen Weißen sowie Pardos allerdings extrem klein. B. stieß mit seinen Milizen mehrfach auf Caracas vor und ließ 1813 die „guerra a muerte“ (Krieg bis zur Ausrottung) erklären. Gegen span. Milizen und die Reitertruppen der Llaneros, die unter José Tomás Boves aus den südlichen Llano-Grenzregionen gegen die Städte des Nordens vorstießen, konnten sich die kreolischen Milizen nicht halten. Im Bürgerkrieg wurde mehr als die Hälfte der kreolischen Oberschichten massakriert. B. ging mehrfach nach Neu-Granada (heute Kolumbien,
→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) und führte dort militärische Aktionen an (Bogotá, →Cartagena). 1815 allerdings entsandte die span. Krone ein Heer von 12 000 Veteranensoldaten der antinapoleonischen Kämpfe unter General Pablo →Morillo nach Venezuela und Neu-Granada, um dort die koloniale Ordnung – v. a. gegen die Llaneros – wieder herzustellen. B. mußte in die →Karibik fliehen und bald nach Haiti. Dort bekam er Hilfe und Truppen aus haitianischen Soldaten von Präs. Alexandre Pétion. Im Gegenzug mußte er die Befreiung der Sklaven versprechen. Auch karibische und engl. Schmuggler sowie Piraten und Korsaren unterstützten ihn. 1817 konnte sich sein Ejercito Libertador nach mehreren Landungen und erfolglosen Versuchen, direkt auf Caracas vorzustoßen, in der Hinterlandsstadt Angostura am →Orinoko festsetzen. Nach der Allianz mit Haiti gelang es B. 1818, sich mit den Llanero-Reitertruppen unter José Antonio Páez u. anderen Guerillamilizenführern (→Guerilla) zu verbünden. Mit Hilfe anderer kreolischer Armee- und Milizoffiziere (v. a. Antonio José de Sucre, Francisco de Paula Santander) vermochte er sich gegen die Konkurrenz des Anführers der Pardomilizen, Manuel Piar, im Lager der Patrioten durchzusetzen und dank einer starken Immigration von europäischen Offizieren (v. a. Iren, Engländer, Amerikaner und Hannoveraner) eine Armee nach europäischen Vorbildern zu formieren. B. ließ auch einen Staatsrat bilden und rief Wahlen zu einem konstituierenden Kongreß aus. In der Eröffnungsrede des Kongresses von Angostura bezeichnete B. den Unabhängigkeitskrieg als Revolution und rief zur Abolition der Sklaverei auf. Noch aber okkupierten (→Okkupation) span. Truppen große Teile Südamerikas. Von Angostura aus überquerten die Truppen unter B.s Führung die Anden und befreiten Bogotá (1819), Venezuela (1821–1824), Ecuador (1822) und schließlich in mehreren Schlachten Peru (1824, Schlacht bei Ayacucho) und Alto Peru (1825), das sich B. zu Ehren Bolivien nannte. B. wurde auf den verfassunggebenden Kongressen von Angostura (1819) und Cúcuta (1821) zum Präs. auf Lebenszeit von „Groß“-Kolumbien (etwa die heutigen Staaten Ecuador, Kolumbien, →Panama und Venezuela) gewählt; 1826 versuchte er eine föderale Einigung aller neuen Rep.en des ehem. Span.-Amerika (zu dieser Zeit noch nicht →Lateinamerika) im Kongreß von PanamaStadt zu bewerkstelligen, während er zugleich mit der Idee spielte, Protektor des freien →Amerika zu werden. Insg. konnte B. sich aber mit seinen Gesellschafts-, Politik- und Verfassungsvorstellungen nicht gegen die wieder erstarkenden Oligarchien und regionalen Mentalitäten durchsetzen, zu deren Repräsentant seit 1826 mehr und mehr Santander einerseits und die lokalen Oligarchien von Caracas andererseits wurden. B. versuchte eine konstitutionelle Neuregelung. Als diese mißlang, proklamierte er die Diktatur. Der Großstaat Kolumbien (1819–1830) zerbrach; B. starb 1830 in Santa Marta auf dem Weg ins Exil. John Lynch, Simón Bolívar. A Life, New Haven u. a. 2006. Michael Zeuske, Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008. Ders., Simón Bolívar. History and Myth, Princeton 2012. MICH A EL ZEU SK E 111
b o l ivA r iA n i s m o
Bolivarianismo (dt. Bolivarianismus oder Bolivarismus) bezeichnet eine politische Ideologie, die im historischen Kontext der Unabhängigkeitsbewegungen im Kampf gegen die span. Kolonialherrschaft seit 1780 in →Lateinamerika entstand. Wesentlich geprägt wurde diese geistige Strömung durch den venezolanischen Freiheitskämpfer, Unabhängigkeitshelden und Staatsmann Simón →Bolívar. Der Begriff B. bezieht sich auf politisch gleichgesinnte Denker in Lateinamerika, die sich im Lauf des 19. Jh.s auf das Gedankengut Bolívars beriefen. Das angestrebte Ideal dieser antiimperialistischen Bewegung war ein in Kultur, Wirtschaft und Politik vereintes und freies Lateinamerika (mit Ausnahme von →Brasilien). Auf Einladung von Bolívar, der erster Präs. →Großkolumbiens war, wurde 1826 auf dem Congreso Anfitiónico de Panamá von den teilnehmenden hispanoam. Rep.en eine „ewige Konföderation“ beschlossen, die jedoch nie zustande kam. Mit dem Auseinanderbrechen Großkolumbiens 1830 in die Nationalstaaten →Kolumbien, →Venezuela und →Ecuador (1903 löste sich auch →Panama von Kolumbien) war Bolívars Vision der „Vereinigten Staaten von Lateinamerika“ endgültig beendet. Auf Grund der →Monroe-Doktrin und des immer stärker werdenden →US-Interventionismus in Lateinamerika charakterisierte den B. besonders auch der Widerstand gegen die Expansionspolitik des „Kolosses im Norden“. Mit dem Begriff des B. wurden seit Ende des 19. Jh.s oftmals auch sozialistische Bestrebungen verknüpft, welche das Postulat der →Emanzipation auf die innere Befreiung der lateinam. Gesellschaften übertrugen. Nach dem vielerorts ausbleibenden Erfolg der neoliberalen Wirtschaftsreformen der neuen demokratisch legitimierten Reg.en sowie der daraus resultierenden steigenden Armut und →sozialen Ungleichheit in vielen Ländern Lateinamerikas gewann der B. zu Beginn des 21. Jh.s erneut an Bedeutung. Führer und Initiator der neuen bolivarianischen Bewegung in Lateinamerika war der Präs. Venezuelas Hugo Chávez (nach 1999). Chávez leitete zunächst in Venezuela den „Sozialismus des 21. Jh.s“ ein. Er berief sich dabei auf den Freiheitskämpfer Bolívar, benannte Venezuela in República Bolivariana de Venezuela um und versprach, die bolivarianische Revolution weiterzuführen. Die anti-US-am. Bewegung deklariert sich selbst als bolivarianisch, sozialistisch, revolutionär und antiimperialistisch. Ziel ist ein v. a. wirtschaftlich geeintes Lateinamerika (auch Brasilien und die →Karibik sollen integriert werden). Daher konnte Chávez v. a. mithilfe der Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América (ALBA), einem auf Kooperation, Komplementarität und Solidarität beruhenden Freihandelsabkommen (→Freihandel) unter Leitung Venezuelas, einige linksorientierte Reg.en Lateinamerikas dazu animieren, ihn in seinem Vorhaben zu unterstützen. Hierzu gehören neben dem sozialistischen →Kuba, die Reg.en von Evo Morales in →Bolivien, Rafael Correa in Ecuador, Daniel Ortega in Nicaragua und einige karibische Inselstaaten. Kennzeichnend für die neuen linken Reg.en in Lateinamerika sind die Verstaatlichung der natürlichen Rohstoffressourcen und zahlreiche soziale Reformen im Kampf gegen Armut und →soziale Ungleichheit. 112
Hans-Joachim König, Kleine Geschichte Kolumbiens, München 2008. A. Salamanca Serrano, Bolivarismo, in: Enciclopedia Latinoamericana de Derechos Humanos, São Leopoldo 2010 (http://www.scribel.com/ doc/89688293/Bolivarismo) [Letzter Zugriff: 24.5.2013]. Hartmut Sangmeister, Die „Bolivarische Revolution“, in: GIGA Focus Lateinamerika 3 (2008), 1-8. JO N A S B R EN N ER
Bolivianische Revolution (1952). Nach der mexikanischen (1910–1917) stellt die b. R. von 1952 in der zeitlichen Abfolge die zweite von vier nationalgeschichtlichen Zäsuren im lateinam. Raum dar, die diese Bezeichnung wirklich verdienen. „Revolution“ steht für einen historischen Wendepunkt, der Veränderungen hervorbringt, durch die sich die neue politische und sozioökonomische Realität von den Charakteristika der alten Ordnung markant unterscheidet. Im bolivianischen Fall betraf dies die weitgehende Entmachtung der traditionellen Oligarchie durch umfangreiche Enteignungen im Bergbau- und Agrarsektor, eine immense Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und die Ausdehnung des Wahlrechts auf die bis dahin kraß diskriminierte Bevölkerungsmehrheit der Indígenas. Das vorrevolutionäre →Bolivien präsentierte sich 1950 als eine vorwiegend ländlich geprägte Gesellschaft, deren Bevölkerung mehrheitlich nur marginal in die nationale Wirtschaft integriert war. 72 % der Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Der symbiotische Komplex aus Latifundien und Minifundien konservierte äußerst rückständige Produktionsverhältnisse, auf Grund derer Ackerbau und Viehzucht nur ⅓ zum BIP beisteuerten. Die Gesamtproduktion des Sektors reichte nicht aus, den Ernährungsbedarf der Bevölkerung zu decken, so daß regelmäßig ein bedeutender Teil der knappen Devisen für den Import von Grundnahrungsmitteln (1950–52: 19 %) aufgewendet werden mußte. 60 % der Landbesitzer verfügten über maximal fünf ha Betriebsfläche und mußten sich zwecks Sicherung ihres Existenzminimums auf den Ländereien der Großgrundbesitzer verdingen. Die Spitze der Agraroligarchie bildeten jene 6 % der Großgrundbesitzer, deren Betriebe jeweils 1 000 ha und mehr umfaßten und die zusammen 92 % sämtlicher Agrarflächen kontrollierten, von denen aber lediglich 1,5 % tatsächlich genutzt wurden. Sehr viel kleiner, dafür aber ungleich vermögender war der im Bergbausektor (weit überwiegend Zinn) engagierte andere Teil der nationalen Oligarchie, der im wesentlichen aus den Familien Patiño, Hochschild und Aramayo bestand. Zinn bildete damals seit Jahrzehnten das wichtigste Exportprodukt, das trotz geringer Besteuerung den Großteil der Staatseinnahmen generierte. Ende Okt. 1952 wurden die Produktionsanlagen der drei ZinnDynastien (auf die ca. ⅔ der heimischen Fördermenge entfielen) nationalisiert und der Kontrolle der kurz zuvor geschaffenen staatlichen Minengesellschaft COMIBOL unterstellt. Im Aug. 1953 trat ein Gesetz in Kraft, daß sämtliche große →Haciendas im bolivianischen Hochland (Altiplano) konfiszierte und diese Ländereien unter den örtlichen Indígena-Kleinbauern und -pächtern bzw. deren comunidades aufteilte. Die den enteigneten Großgrundbesitzern gewährte Entschädigung in Form lang-
bo li v iA n i s ch e rev o lu ti o n
fristiger Schuldpapiere erwies sich v. a. wegen der hohen Inflation de facto als vollkommen wertlos. In der Analyse der historischen Entwicklungslinien, die 1952 im Zusammenbruch der überkommenen Machtstruktur kulminierten und damit die skizzierten radikalen Reformen ermöglichten, kommt dem nationalen Trauma des →Chacokrieges (1932–1935) eine Schlüsselstellung zu. Weil der Grenzverlauf in der weitgehend unbesiedelten Chaco-Region umstritten war, war es dort immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen bolivianischen und paraguayischen Militäreinheiten gekommen. Im Juli 1932 nutzte Präs. Salamanca einen der häufigen Grenzzwischenfälle zu einer raschen Eskalation des Konflikts, weil er darin ein probates Mittel sah, um von den durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten ökonomischen und innenpolitischen Problemen abzulenken. Gegen den ausdrücklichen Rat der Militärführung ordnete der Staatschef eine große Offensive gegen →Paraguay an. Nach Anfangserfolgen der bolivianischen Truppen wendete sich das Kriegsglück zugunsten des Gegners. Der Krieg endete nach der Absetzung von Präs. Salamanca durch das Militär und der Rückeroberung einiger Städte und mehrerer Ölfelder im Juni 1935 mit dem Friedensvertrag von →Buenos Aires. Bolivien hatte erhebliche Territorialverluste und mehr als 65 000 Tote (ca. 25 % der eingesetzten Truppen) zu beklagen. Der Krieg und seine (sozial-psychologischen) Folgen erschütterten das Land in seinen gesellschaftlichen und politischen Grundfesten. In dieser Umbruchsituation konnten sich politische Positionen und Interessen Gehör verschaffen, die zuvor nur ein Randdasein geführt hatten, wodurch das seit 1880 von den traditionellen Machtgruppen dominierte politische System rasch sein definitives Ende fand. Der politische Mobilisierungsgrad der bolivianischen Gesellschaft stieg infolge des Krieges enorm an. Linke Gruppierungen stießen mit ihren Forderungen nach einer radikalen Reform der wirtschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnisse auf wachsende Resonanz. Die Vereinigung der Veteranen des Chacokriegs, die erstarkende Arbeiterbewegung sowie das Offizierskorps stimmten darin überein, eine Restaurierung des oligarchischen politischen Systems zu verhindern. Mit der Ablösung von Salamancas Vize-Präs. Tejada durch einen Militärcoup begann im Mai 1936 eine Periode von Reg.en, die von jungen Offizieren der Chaco-Generation angeführt wurden. Die unter den Obristen Toro und Busch durchgeführten Reformen waren mit Ausnahme der Konfiskation der US-Erdölgesellschaft Standard Oil (1937) gemäßigten Zuschnitts. Unter Busch wurde neben einem modernen Arbeitsrecht auch eine neue Verfassung erarbeitet, die u. a. Beschränkungen für das Privateigentum enthielt. Die Ergebnisse der 1940 durchgeführten Wahlen belegten die mittlerweile eingetretenen politischen Kräfteverschiebungen: auch wenn der von den traditionellen Interessengruppen unterstützte Kandidat (General Peñaranda) Präs. wurde, ergab sich im Parlament eine Mehrheit (überwiegend gemäßigter) linker Parteien. Zu jener Zeit entstand der Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), der alsbald zur wichtigsten politischen Partei des Landes aufsteigen sollte. Wie die weiter links stehenden Parteien POR und PIR befürwortete der MNR die
Nationalisierung der Zinnminen, blieb im Gegensatz zu jenen in der Indio-Frage aber lange Zeit indifferent. Ein →Massaker an Minenarbeitern 1942 in Catavi bot dem MNR die Gelegenheit, sich als Protektor des militantesten Segments der nationalen Arbeiterbewegung zu profilieren. Ende 1943 stürzte eine dissidente Offiziersfraktion mit Unterstützung des MNR die Reg. Peñaranda und etablierte eine Militär-Reg. unter Major Villaroel, an der drei Minister aus den Reihen des MNR beteiligt waren. Damals intensivierten sich nicht nur die Beziehungen zur Minenarbeitergewerkschaft, sondern der MNR öffnete sich programmatisch auch gegenüber den Belangen der diskriminierten Indígenas. Die rücksichtslose Repression der radikalen Linken sowie der extremen Rechten durch das Villaroel-Regime vereinte die beiden ungleichen Gruppen zu einer taktischen Allianz, die öffentliche Proteste initiierte, in deren Folge der Präs. im Juli 1946 einem Lynchmob zum Opfer fiel. Der ob des autokratischen Herrschaftsstils Villaroels diskreditierte MNR brauchte drei Jahre, um sich von diesem Imageverlust zu erholen. Die Renaissance des MNR wurde durch den Charakter der von 1946 bis 1952 amtierenden Reg. begünstigt, an der neben traditionellen Parteien auch der nominell sozialistische PIR beteiligt war. In eklatanter Verkennung der politischen Gegebenheiten versuchte diese Reg., die in den vergangenen beiden Dekaden entstandenen politischen Bewegungen mit zumeist repressiven Mitteln zu neutralisieren, was deren Radikalisierung beschleunigte. Nach den Kongreßwahlen von 1947, die dem MNR hohe Stimmengewinne einbrachten, verschärften sich die innenpolitischen Spannungen. Die gewerkschaftsfeindliche Politik führte im Zusammenhang mit einer sich verschlechternden Wirtschaftslage zu einer Serie von Streiks, auf welche die Reg. mit Gewalteinsatz reagierte. Im Sept. 1949 organisierte der MNR eine von Arbeitern und Teilen der Mittelschicht getragene Revolte, die das Militär blutig niederschlug. Obwohl sich MNR-Führer Paz Estenssoro im Exil befand, gewann die Partei im Mai 1951 die Präsidentschaftswahlen mit großem Vorsprung. Um die Reg.sübernahme des MNR zu verhindern, intervenierte das Militär. Die Putsch-Reg. annullierte die Wahlen und verbannte die siegreiche Partei auf Grund ihrer „kommunistischen Ideologie“ aus dem politischen System. Der MNR entschied sich daraufhin, seinen politischen Führungsanspruch mit Waffengewalt durchzusetzen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen lancierten die Aufständischen am 9.4.1952 eine Revolte, die nach drei Tagen intensiver Kämpfe mit der Niederlage der Putsch-Reg. und der Zerschlagung der Streitkräfte endete. Die Ausschaltung des Militärs, an dessen Stelle nach der siegreichen Revolution Arbeitermilizen traten, erleichterte die rasche Umsetzung der nachfolgenden Reformen. Auch wenn die vom MNR in Gang gesetzten Veränderungen einen deutlichen Bruch mit der Vergangenheit vollzogen, erwiesen sich die revolutionären Errungenschaften langfristig als nicht effektiv. Der Zinnsektor büßte wegen fortdauernder Unterkapitalisierung alsbald seine dominante volkswirtschaftliche und fiskalische Bedeutung ein. Die Agrarreform verwandelte die indigenen Kleinpächter in Kleineigentümer, ohne deren Lebensbedingungen nennenswert zu verbes113
b o l ivie n
sern. Das ab 1956 mit Hilfe der →USA wieder aufgebaute Militär agierte ab Mitte der 1960er Jahre für ca. zwei Dekaden als gewichtigster reformfeindlicher und antidemokratischer Machtfaktor der bolivianischen Politik. León Bieber, Bolivien, in Walther L. Bernecker u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3, 821–845. Herbert S. Klein, A Concise History of Bolivia, Cambridge 2003. Waltraud Queiser Morales, Bolivia. A Short History, New York 2003. KARL - DI E T E R HOF F MANN
Bolivien. Der südam. Staat, der sich über eine Fläche von 1 098 581 km2 erstreckt und 10 389 903 Mio. Ew. (Volkszählg. 2012) hat, liegt zwischen →Brasilien im Norden und Osten und →Peru und →Chile im Westen. Südlich grenzt er an →Paraguay und →Argentinien. Die Bevölkerung besteht etwa zur Hälfte aus Hochlandindianern, Mestizen (→Casta) stellen über 30 % und Weiße 15 %. Das heutige Staatsgebiet B.s gehörte bis zu dessen →Eroberung durch Francisco →Pizarro größtenteils zum →Inkareich. Als „Real →Audiencia de →Charcas“ gehörte es bis 1776 zum →Vize-Kgr. Peru, anschließend zum Vize-Kgr. →Buenos Aires, bevor es 1825 als letztes der Territorien Span.-Amerikas unabhängig wurde. Der Staatsname ist eine Hommage an Simon →Bolívar, den Hauptinitiator der Unabhängigkeit. Präs. Santa Cruz (1829–1839) vereinigte B. und Peru zur BolivianischPeruanischen Konföderation, deren Auflösung Chile und Argentinien militärisch erzwangen. Für B. folgten Jahrzehnte des Bürgerkriegs und der Anarchie. Im →Salpeterkrieg verlor es zudem 1883 den Zugang zum Pazifik. Erst gegen Ende des 19. Jh.s setzte eine Phase wirtschaftlicher Prosperität ein, die bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 anhielt. Der außerordentlich verlustreiche →Chacokrieg gegen Paraguay führte in den 1930er Jahren zum Verfall der Autorität der traditionell das Land beherrschenden Zinnminen- und Großgrundbesitzer-Oligarchie und begünstigte den Aufstieg des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), der sich in der →Bolivianischen Revolution 1952 die führende Position erkämpfte und seitdem Reformpolitik betrieb. U. a. verschaffte eine 1953 durchgeführte Landreform zahlreichen Arbeitern eigenen Landbesitz. 1964 mußte der MNR die Staatsmacht dem putschenden Militär überlassen, das erst 1985 wieder demokratische Präsidentschaftswahlen zuließ. Seitdem versuchten sowohl vom MNR als auch von anderen politischen Kräften gestellte Präs. mit mäßigem Erfolg, die wirtschaftliche Lage B.s zu verbessern. Mit Evo Morales, dem Vorsitzenden des MAS (Movimiento al Socialismo), wurde 2005 erstmals ein Angehöriger der indianischen Bevölkerungsmehrheit zum Präs. gewählt. Morales erhöhte die Staatseinnahmen durch Verstaatlichung zahlreicher Betriebe (insb. Betriebe der Erdöl- und Erdgasindustrie), baute den Sozialstaat aus, ging auf Distanz zu den →USA (Ausweisung des US-Botschafters) und setzte eine neue Verfassung durch, die 2010 in Kraft trat. Mit ihr wurden kommunale und provinzielle Selbstverwaltungsrechte gestärkt und die Rechtsstellung der indianischen Bevölkerungsmehrheit verbessert. Neben 114
der span. wurden außerdem alle 37 in B. gesprochenen indianischen Sprachen als Amtssprachen anerkannt. Herbert S. Klein, A Concise History of Bolivia, Cambridge u. a. 22011. CH R ISTO PH K U H L Boluminski, Franz, * 12. November 1863 Lessen (Łasin), Westpreußen, † 28. April 1913 Käwieng, □ Kavieng Cemetery (nahe Markt), Freimaurer. B. ist bis heute einer der bekanntesten dt. Kolonialbeamten in →Papua-Neuguinea, dem ein besonderes →Mana zugeschrieben wird. Urspr. in der Schutztruppe →Dt.Ostafrikas, st. etwa 1890 in →Dt.-Neuguinea, Angesteller der NGC u. ihrer Tochtergesellschaften. 1900 erster Stationsleiter von →Neumecklenburg mit Sitz in Käwiéng. Nach der Erhebung Käwiéngs zum Bezirksamt (1. April 1910) Bezirksamtmann. Ohne militärische Hilfsmittel u. nur mit einer kleinen indigenen Polizei ausgerüstet, gelang B. die Pazifizierung Neumecklenburgs v. a. durch den Aufbau u. Erhalt einer geregelten Infrastruktur. Er verband den Norden mit dem Süden der Insel durch die längste Straße der Kolonie, die st. der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas seinen Namen trägt (B. Highway, 264 km). Äußerlich zackig-militärischpreußisch auftretend u. mit zahlreichen Orden behängt, die er für seine Hilfe u. Unterstützung für den Erwerb von Ethnographika über die Museen von den diesen tragenden deutschen Bundesstaaten regelrecht einforderte, wirkte er für europ. Fremde wie die lebende Version einer Karikatur des preußischen Kaiserreiches. Seine Geradlinigkeit u. der forsche Habitus, der keine Abweichungen zuließ, machten ihn jedoch aus indigener Sicht zu einem berechenbaren Charakter, der leichter zu durchschauen u. mit dem einfacher umzugehen war als mit anderen Kolonialbeamten, deren Entscheidungen aus einh. Perpsektive inkonsequent u. damit irrational erschienen. Diese, auf den ersten Blick merkwürdige Annäherung völlig unterschiedlicher Kulturen u. Verhaltensweisen, war der Hauptgrund dafür, daß seine Anordnungen nahezu widerspruchslos umgesetzt wurden und auf beiden Seiten der Einsatz militärischer Gewalt unterblieb. Trotz seines autoritären Gebarens war B. ein Freigeist mit einem sozialen Ethos. Ganz bewußt setzte er ältere Frauen ein u. übertrug ihnen die Verantwortung für die Reinigung der Straße, weil er damit ihre Position in den indigenen Kulturen heben wollte. In einem Gerichtsfall, in dem sich Einheimische gegenseitig wegen Kannibalismus (→Anthropophagie) beschuldigten, wollte er zunächst alle wegen „Mißachtung des Gerichts“ („contempt of court“) verurteilen, weil sie ihm als Richter widersprachen, er als Richter aber entschieden habe, daß Kannibalismus nicht existiere und jeder, der anderes behaupte, lüge. Der Luxemburger Schriftsteller Jacques, der B. vor Ort erlebte, setzte ihm ein literarisches Denkmal als „Gneisenau der Südsee“. B. starb nach einem Schlaganfall. Sein Grab wird immer noch frequentiert. Sein Schreibtisch u. Teile seiner Kutsche wurden noch 2003 im New Ireland Tourism Bureau in Kavieng aufbewahrt. Q: Franz Boluminski, Bericht über den Bezirk NeuMecklenburg, in: Deutsches Kolonialblatt 1904, 127–
bo o ts f lü ch tli n g e
134. Norbert Jacques, Südsee, München 1922. L: Hermann Hiery, The Neglected War, Honolulu 1996. HE RMANN HI E RY
Bombardiere. Mit dem verstärktem Aufkommen von Feuerwaffen begann sich ab dem 14. Jh. der neue Handwerkerberuf der Büchsenmeister, wohl aus der Zunft der Metallgießer und Schmiede, herauszubilden. Anfangs erfolgte sowohl die Herstellung als auch der Umgang mit Pulver und Geschützen durch die gleiche Personengruppe unter Mitwirkung mehrerer Hilfskräfte. Im Verlauf des 16. Jh.s setzte bereits eine erste Spezialisierung ein, die die allmähliche Loslösung der als Artilleristen kämpfenden B. von der Zunft der Büchsenmeister einleitete. Aus den auf Grund ihres Rohstoffreichtums und ihrer präindustriellen Produktionsstrukturen führenden Rüstungszentren Oberdeutschlands (→Nürnberg, →Augsburg), Böhmens, des Alpenraums (Tirol) sowie Oberitaliens erfolgte ein ständiger Export von Waffen-, Pulver und Erzen auf nahezu alle europäischen Märkte. Auch die B. und Geschützgießer selbst wiesen einen hohen Mobilitätsgrad auf und gehörten seit dem späten Mittelalter zu den hochbesoldeten und vielerorts umworbenen Fachkräften. Portugal, das seit Ende des 15. Jh.s nahezu gleichzeitig in Afrika, Südamerika (→Brasilien) und im →Ind. Ozean (Estado da Índia) expandierte, deckte seinen Bedarf lange Zeit durch Waffenimporte und durch die Anwerbung ausländischer Spezialisten (vorwiegend Niederländer, Deutsche, Italiener). 1489 gründete João II. ein kgl. Artillerieelitekorps, die sog. Bombardeiros da nómina. Deren Mitglieder, der Herkunft nach mehrheitlich aus Mitteleuropa stammend, genossen zahlreiche Privilegien und waren speziell für den Einsatz zur See vorgesehen. Ihr Schicksal ist von Anfang an eng mit der Geschichte der Lissaboner Bartholomäusbruderschaft verknüpft. Seit 1514 unterhielten sie mit Erlaubnis des port. Gouv.s auch im südind. Cochin eine eigene Kapelle. Der Flame Guillaume von Brügge († 1543) gründete in →Goa die erste Pulverfabrik und stieg dort nach über 20 Dienstjahren zum Oberbefehlshaber der Artillerie (condestável-mor) auf. Bis zur Mitte des 17. Jh.s muß der mitteleuropäische Anteil in der Gattung der Feuerwaffen auf den Schiffen und Forts in Übersee beträchtlich gewesen sein, auch wenn die äußerst dünne Quellenlage kaum genaue Zahlenangaben zuläßt. Einige von ihnen wie Hans →Staden, der in einem port. Stützpunkt in der Nähe des brasilianischen São Vicente als Festungskommandant stationiert war, oder der in kastilischen Diensten an der La Plata-Expedition 1535 teilnehmende Ulrich →Schmidel, erlangten später durch ihre aufsehenerregenden Reiseberichte Berühmtheit. Das sich entwickelnde span. Kolonialreich profitierte ebenfalls in größerem Umfang von Waffenlieferungen aus den Niederlanden und Oberdeutschland. In diesem Fall muß man jedoch auf Grund der größeren Eigenressourcen an Material und Fachkräften sowie der restriktiven Politik der Krone von einer prozentual geringeren Beteiligung von Auswärtigen ausgehen. Trotzdem lassen sich auch in kastilischen Diensten immer wieder Mitteleuropäer wie die 1521 an der →Eroberung →Mexikos mitwirkenden Nürnberger B. oder die an Magellans Weltumsegelung
teilnehmenden Deutschen um Hans Vargue († 1526) nachweisen. Carlo Cipolla, Guns and Sails in the Early Phase of European Expansion, 1400–1700, London 1965. Gregor M. Metzig, Kanonen im Wunderland – Dt. Büchsenschützen im port. Weltreich (1415–1640), in: MGFN 14 (2010), 267–298. Gustav T. Werner, Die Beteiligung der Nürnberger Welser und der Augsburger Fugger an der Eroberung des Rio de la Plata und der Gründung von Buenos Aires, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs 1 (1967), 494–592. G REG O R M. METZIG Bombay, anglisierte Form des port. Wortes Bombaim, das heutige Mumbai – der Name leitet sich von der Hindugöttin (→Hinduismus) Mumbadevi ab –, ist die Hauptstadt des ind. Bundesstaates Maharashtra und das Zentrum der ind. Finanz- und Unterhaltungsindustrie. Die Portugiesen (→Estado da India) eigneten sich 1534 die 7 Inseln, auf denen die Stadt liegt, von Sultan Bahadur Shah, dem Herrscher →Gujarats, an. 1661 erwarben die Engländer das Gebiet von den Portugiesen durch die Heirat Karls II. mit Katharina von Braganza. Im 17. Jh. wurden die Inseln an die engl. Ostindien-Kompanie (→Ostindienkompanien) verpachtet und bis 1687 entwickelten sie sich zu der Hauptniederlassung der Kompanie in →Indien; die Reg. B.s wurde 1753 allerdings →Kalkutta unterstellt. B.s Hafen gewann nach der Eröffnung des →Suezkanals 1869 erheblich an Bedeutung. Die Stadt nahm ab Ende des 19. Jh.s eine Spitzenstellung ein, wirtschaftlich durch die Baumwollindustrie (→Industrialisierung) und politisch durch die Nationalbewegung (→Ind. Nationalismus). So fand die 1. Sitzung des →Indian National Congress 1885 in B. statt. Die Stadt gilt als sehr weltoffen, der Großteil der 18 414 288 Ew. (Greater Mumbai, Zensus 2011) besteht aus Hindus, gefolgt von Muslimen, Christen, Jainas (→Jainismus), →Parsen, Buddhisten (→Buddhismus), Sikhs (→Sikhismus) und Juden. Meera Kosambi, Bombay in Transition, Stockholm 1986. Ravi Ahuja u. a. (Hg.), Mumbai – Delhi – Kolkata, Heidelberg 2006. SO U MEN MU K H ERJEE Bootsflüchtlinge (engl. Boat People). Bezeichnung für die Menschen, die aus →Vietnam flohen, nachdem 1975 das kommunistische Nordvietnam Südvietnam besetzt hatte. Unter ihnen waren zahlreiche Menschen, die aus religiösen Gründen kommunistische Unterdrückung zu fürchten hatten (Katholiken, Buddhisten), sowie viele Angehörige der →chin. Minderheit in Vietnam, die wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Staaten Schikanen ausgesetzt war. Nur wenige der insg. ca. 2,2 Mio. Flüchtlinge, die das Land bis Ende der 1980er Jahre verließen, taten dies auf dem Landweg via →Kambodscha nach →Thailand. Die große Mehrheit floh auf dem Seeweg, viele in nicht hochseetauglichen Fahrzeugen. Auf See fielen schätzungsweise 200 000–220 000 Flüchtlinge Hunger, Piratenüberfällen oder Unwettern zum Opfer. In den Nachbarländern waren die Flüchtlinge nicht willkommen. Meist wurden sie in abgelegenen Lagern sich selbst überlassen und allenfalls vom UNHCR notdürftig versorgt. Seit Ende der 1970er Jahre ließen 115
b o r ne o
Thailand und →Malaysia nur noch Flüchtlinge ins Land, wenn ein Drittstaat sich zu deren Übernahme bereit erklärt hatte. Die →USA erkannten ihre Mitverantwortung für die Entwicklung in Vietnam an, indem sie die meisten Flüchtlinge aufnahmen – bis 1979 ca. 400 000, danach weitere 800 000 im Rahmen des Familiennachzugs gemäß den Beschlüssen der Genfer Indochina-Flüchtlingskonferenz vom Juli 1979. Damit wurden die Vietnamesen binnen weniger Jahre zur zweitgrößten Flüchtlingsgruppe in den USA hinter den Exil-Kubanern. Weitere wichtige Aufnahmeländer waren China (260 000), →Kanada (200 000), Australien (185 000) und Frankreich (130 000). William C. Robinson, Terms of Refuge, London 1998. Nghia M. Vo, The Vietnamese Boat People, Jefferson 2006. CHRI S TOP H KUHL Borneo. Seit die Europäer in den Gewässern des südostasiatischen Archipels auftauchten, war ihnen auch B. bekannt. Den ersten substantiellen Bericht lieferte →Pigafetta, der auf der Weltumseglung der Magellan-Expedition auch das Sultanat →Brunei besuchte. Neben dem machtvollen Brunei-Sultanat gab es an den Küsten zahlreiche weitere, kleinere malaiische Fürstentümer. Das Landesinnere, das den Europäern bis ins 19. Jh. weitgehend verborgen blieb, war von Dayakstämmen besiedelt. B. nahm in den kolonialen bzw. Handelsaktivitäten bis ins 19. Jh. nie einen zentralen Stellenwert ein. Dennoch existierten bereits im 16. Jh. Handelsbeziehungen zwischen dem port. →Malakka und Brunei. Mit den span. →Philippinen gab es dagegen häufige gewaltsame Konflikte um die Beherrschung der Inselwelt zwischen B. und den Philippinen. Die Holländer trieben zwar später ebenfalls Handel, z. B. mit Diamanten an der Westküste und →Pfeffer an der Südküste. Permanente Siedlungen konnten und wurden aber nicht gehalten. Über lange Perioden bestanden keinerlei Beziehungen zu den diversen malaiischen Küstenstaaten. Die Holländer beschränkten sich im späten 18. Jh. darauf, Verträge v. a. im Westen und im Süden abzuschließen, die je nach politischer Konstellation eingehalten wurden oder nicht. Die Krise der →Vereinigten Ostind. Kompanie, dann die →Eroberung →Ndl.-Indiens durch die Engländer, überließen B. zunächst einmal wieder sich selbst. Erst in den 1820er Jahren, nach der Rückgabe der Kolonie an die Holländer, schlossen diese mit der Mehrzahl der Fürstentümer im Süden, Westen und Osten Verträge ab. Das zunehmende Vordringen der Engländer im Norden, das als Bedrohung der eigenen Territorien angesehen wurde, veranlaßte die Holländer, die von ihnen beanspruchten Gebiete zu arrondieren und dauerhafte Präsenz aufzubauen. Ab 1842 hatte nämlich der Privatier James →Brooke begonnen, sich die Brunei-Territorien Stück für Stück anzueignen, bis 1890 nur der heute noch existierende Reststaat übrig blieb. Das Brooke-Reich wurde unter dem Namen →Sarawak bekannt. Dem begegneten die Holländer mit dem Vordringen entlang des Kapuas-Flusses ins Inselinnere, um die dortigen Dayak davon abzuhalten, sich Brooke anzuschließen. Ndl.-B. wurde in die Westerafdeeling und die Zuider- en Oosterafdeeling mit jeweils einem Residenten gegliedert. Eine ernsthafte Bedrohung ndl. 116
Interessen wurden die zahlreichen chin. Einwanderer, die von den malaiischen Herrschern in West-B. ins Land gerufen worden waren, um dort Gold zu schürfen. Sie hatten sich in machtvollen kongsi organisiert und forderten die Macht der malaiischen Herrscher von Sambas und Montrado heraus und damit auch die der Holländer. In einer blutigen Kampagne wurden die Chinesen 1854 niedergeworden. Gleichzeitig wurde das Gebiet unter unmittelbare Kontrolle der Kolonialmacht gestellt. Ähnliches widerfuhr Banjarmasin im Süden, dessen Sultan sich gegen die Herrschaft der Holländer auflehnte. Nach fünf Jahren Krieg gelang es den Holländern, 1864 die Region zu befrieden und auch dort die direkte Herrschaft einzuführen. Im Innern hielt sich der Widerstand aber bis 1905. Bis zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jh.s hatten die Holländer alle von ihnen beanspruchten Territorien unter ihre Kontrolle gebracht. Oft war dies eine indirekte Herrschaft, die durch malaiische Herrscher an den Küsten und großen Flußläufen ausgeübt wurde. Für die Völker im Innern brachte das große Probleme mit sich, da die malaiischen Herrscher, nun mit der ndl. Autorität im Rücken, die sog. „freien“ Dayakstämme unter Druck setzen und ausbeuten konnten. Das ehemals mächtige Brunei verlor im 19. Jh. jeglichen Einfluß und auch den größten Teil seines Territoriums. Nicht nur die Brookes verleibten sich einen Teil nach dem anderen ein. Der Norden, das heutige →Sabah, wurde von der →British North Borneo Company in Besitz genommen. Sie stützten sich dabei auf einen Vertrag, den ihr Vorläufer, der österr. Kaufmann Overbeck 1877 mit dem Sultan von Brunei geschlossen hatte, der allerdings keine Abtretung des Gebiets als Territorium vorgesehen hatte. Damit waren fast alle brit. Besitzungen auf B. in Privatbesitz. Ausnahme war nur die Brunei vorgelagerte Insel Labuan, die die Krone in Besitz genommen hatte, um einen Stützpunkt und Bunkerplatz auf dem Seeweg nach China zu haben. Um die brit. Positionen im Hinblick auf die Konkurrenz der Holländer zu stärken wurden allerdings alle Besitzungen 1888 zum brit. →Protektorat erklärt. 1906 wurde schließlich ein Resident in Brunei selbst eingesetzt, womit das ehemals mächtige Sultanat den letzten Rest an Selbständigkeit eingebüßt hatte. Ökonomisch spielte B. bis ins 20. Jh. nur eine untergeordnete Rolle. Es gab keine bekannten Bodenschätze, und die Bedingungen für Plantagenwirtschaft waren weitaus weniger günstig als in Malaya bzw. →Sumatra. Erst im 20. Jh. wurde Öl gefunden, das hauptsächlich in Brunei und Ostkalimantan offshore gefördert wurde. Hinzu kam eine sich stetig entwickelnde Holzwirtschaft. Der Einmarsch jap. Truppen 1942 bedeutete das Ende des status quo. Deren Herrschaft war begleitet von Gewaltexzessen, die v. a. in Westkalimantan zu regelrechten →Massakern führten. Die jap. Besatzung veränderte das Schicksal B.s für immer. Die Holländer konnten zwar nach 1945 ihre Gebiete wieder okkupieren (→Okkupation) und einige Pseudostaaten einrichten, die aber keinen Bestand hatten. Sie gingen 1950 nach der indonesischen Unabhängigkeit im indoensischen Einheitsstaat auf. Die Region wurde in vorläufig drei (später vier) Provinzen aufgeteilt. Auch im Norden wurde der status quo ante nicht wieder hergestellt. Zwar übernahmen die Engländer wieder die
bo s to n
Kontrolle, jetzt aber in Form von →Kronkolonien. Nach der Unabhängigkeit von Brit.-Malaya strebte man Anfang der 1960er Jahre die Vereinigung Malayas mit den B.-Gebieten an. Dies gestaltete sich schwieriger als gedacht, da einerseits Brunei dem nicht folgen wollte und andererseits →Indonesien die Bildung von →Malaysia verhindern wollte und Anspruch auf die fraglichen Territorien erhob. Ferner standen noch historische Ansprüche Bruneis auf Sarawak und Sabah sowie der →Philippinen auf Sabah im Raum. Gegen alle Widerstände wurde aber die Bildung Malaysias 1963 mit der Inkorporation von Sabah und Sarawak vollzogen. Brunei blieb brit. Protektorat, bis es 1984 die vollständige Unabhängigkeit erhielt. Damit ist Brunei das einzige malaiische Sultanat, das bis heute als unabhängiger Staat Bestand hat. Donald E. Brown, Brunei: The Structure and History of a Bornean Sultanate, Brunei 1970. Karl M. Helbig, Die Insel Borneo in Forschung und Schrifttum, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg 52 (1955), 105–395. Graham Irwin, Nineteenth-century Borneo, ’s-Gravenhage 1955. F RI T Z S CHUL Z E Bornu, Kanem-Bornu. B. (Engl. Borno) ist der jetzt im Nordosten →Nigerias gelegene Bereich des Reiches K.B. welches, um 1100 entstanden, sich bis zum heutigen Tag als traditionelles Emirat gehalten hat. B. ist die Bezeichung für eine Region nordwestlich des →Tschadsees, K. für eine nordöstlich. In letzterer liegen die Ursprünge als im 11. Jh. durch die Herrscherdynastie der Sayfuwa der →Islam übernommen wurde. Im 13. Jh. wechselte der Hof auf Grund von Konflikten aber wohl auch klimatischen Fluktuationen nach B. Im 15. Jh. wurde dort eine Hauptstadt, Birni Gazargamo, errichtet, welche bis zu ihrer Zerstörung durch die jihād der Fulani 1807 ein mächtigstes politisches und religiöses Zentrum im Sudangürtel (→Sudan) wurde. Nach 1807 kam es zu einem Wechsel der Herrscherdynastie, als El Kanemi die Fulani zurückschlug und sich selbst an die Spitze des Staates setzte. Während des 19. Jh.s wurde K.-B. von zahlreichen auch dt. Reisenden besucht, so Heinrich →Barth, Gustav →Nachtigal und Gerhard →Rohlfs. 1893 wurde das Reich vom in den Mahdistenkriegen emporgekommenen Usurpator Rabeh eingenommen. Rabeh wurde 1900 von einem frz. Expeditionskorps geschlagen. B. gehörte ab 1902 zu Brit.- Nigeria, die Regionen südlich des Sees zu →Kamerun. In Dikwa wurde eine dt. Station errichtet, welche allerdings 1914 kampflos verlassen wurde. Sitz des Emirs ist heute die Stadt Maiduguri in B. State, Nigeria. Detlef Gronenborn, Kanem-Borno, in: Christopher DeCorse (Hg.), West Africa During the Atlantic Slave Trade, London / Washington 2001, 101–130. Yves Urvoy, Histoire de l’empire du Bornou, Paris 1949. DE T L E F GRONE NBORN
Bose, Subhash Chandra, * 23. Januar 1897 in Cuttack / Orissa, Todestag und -ort ungeklärt (18.8.1945 ?) Neuntes von 14 Kindern einer wohlhabenden bengalischen Familie. Philosophiestudium in →Kalkutta und Cambridge. 1921 brach B. sein Studium jedoch nach einer Begegnung mit →Gandhi zugunsten politischer Be-
tätigung mit dem Ziel der Unabhängigkeit →Indiens ab. Auf Grund organisatorischen Geschicks stieg er rasch im →Indian National Congress auf. Ab 1927 gemeinsam mit →Nehru, dessen Generalsekretär er wurde. 1937 wurde B. zum Vorsitzenden des INC gewählt. Die Radikalität seiner zur Erreichung der Unabhängigkeit propagierten Methoden führten zur Entfremdung von Gandhi und zur wiederholten Einkerkerung durch die Briten. Nach Kriegsausbruch unter Hausarrest gestellt, floh B. Anfang 1941 über Moskau nach Deutschland. Mit Billigung Hitlers stellte er eine „Legion Freies Indien“ auf, die, in die Wehrmacht integriert, gegen Großbritannien kämpfen sollte. Im Frühjahr 1943 gelangte er mit Hilfe eines dt. U-Boots nach Japan. Dort baute er aus Kriegsgefangenen und Plantagenarbeitern die 40 000 Mann starke →Indian National Army auf, die in Birma und zur →Eroberung der →Andamanen und Nikobaren eingesetzt wurde. In der am 21.10.1943 gegründeten Exil-Reg. Azad Hind, die die Achsenmächte und Japan anerkannten, übernahm er das Amt des Netaji (= Führer). Am 18.8.1945 wollte B. von →Singapur nach Tokio fliegen. Das Flugzeug kam nie an. In der Hauptstadt der Andamanen, Port Blair, befindet sich ein Denkmal für B. Jan Kuhlmann, Subhas Chandra Bose und die Indienpolitik der Achsenmächte, Berlin 2003. Nilanjana Sengupta, A Gentleman’s Word. The Legacy of Subhas Chandea Bose in Southeast Asia, Singapur 2012. G ERH A R D H U TZLER
Boston. Nach dem gleichnamigen Ort in Lincolnshire, England, genannte Stadt, die 1630 auf der Shawmut Halbinsel in Massachusetts Bay gegründet wurde. Dank ihres ausgezeichneten Hafens entwickelte sich die Stadt im 17. Jh. zum internationalen Handelszentrum von Massachusetts und der anderen engl. Kolonien in Nordamerika. Nach dem →Siebenjährigen Krieg Zentrum des Widerstandes gegen die neue engl. Politik (→Boston Tea Party, →Am. Revolution), verlor B. gegenüber den wichtigsten Konkurrenten New York und Philadelphia allmählich an Boden. 1790 zählte die Stadt 18 038, Philadelphia dagegen 44 096 Ew. Als Mittelpunkt konservativ-förderaler Parteipolitik, die von den großen Kaufmannsfamilien getragen wurde, stilisierte sich B., nun wichtiger Industriestandort, im 19. Jh. zum kulturellen Zentrum der →Vereinigten Staaten einerseits, zum Bewahrer am. Werte und Tugenden andererseits. Zugleich veränderte sich der Charakter der Stadt: Sie wurde zum Anziehungspunkt für Iren, Deutsche, Francokanadier und osteuropäischer Juden. Im 20. Jh. mauserten sich B. und Massachusetts zu einem Hort liberaler Politik. Als Ort der ältesten und bis heute bedeutenden Universitäten der USA, der →Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology, galt und gilt B. bis heute als intellektuelles und naturwissenschaftliches Zentrum der USA. Thomas H. O’Connor, The Athens of America, Amherst, MA 2006. Darrett B. Rutman, Winthrop’s Boston, Chapel Hill, NC 1965. Walter Muir Whitehill, Boston, Cambridge, MA ³2000. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
117
b o s to n t e A PA rty
Boston Tea Party, vom 16.12.1773. Höhepunkt der Proteste gegen brit. Politik. Die erste Protestwelle der Bostoner Sons of Liberty richtete sich 1765 gegen die Stempelsteuer (Stamp Act), mit der England Nordamerika an der Tilgung seiner Schulden beteiligen wollte. Auch zu den Handelszöllen, die das engl. Parlament 1767 verabschiedete, beschloß →Boston schon am 1.8.1768 einen Handelsboykott brit. Waren. Inzwischen hatte sich in der Stadt eine wohl organisierte oppositionelle Subkultur entwickelt. Als Reaktion auf die Verabschiedung der „Tea Act“ faßte die Versammlung der Stadtbürger am 5.–6.11.1773 Beschlüsse, die wie die der Kaufleute New Yorks und Philadelphias die Anlandung von →Tee von Schiffen der East India Company (→Ostindienkompanien) zu verhindern trachteten. Als →Gouv. Thomas Hutchinson dies zu erzwingen suchte, enterten wenige Tage vor Ablauf der Zahlungsfrist für den Hafenzoll als Mohawk verkleidete Bostoner Bürger das Schiff und warfen den Tee in das Hafenwasser. Die engl. Reg. reagierte hart. Sie brachte drei Gesetze im engl. Parlament ein. Das erste verfügte die Schließung des Bostoner Hafens bis zur Entschädigung für den Tee, das zweite änderte die Verfassung von Massachusetts, und das dritte gab dem Gouv. das Recht, Kolonisten, die engl. Kronbeamten angegriffen hatten, zur Aburteilung in eine andere Kolonie oder nach England deportieren zu lassen. Diese Beschlüsse veranlaßten den zweiten Kontinentalkongreß im Okt. 1774, die Kontinentalassoziation zu verabschieden. Peter D. G. Thomas, Tea Party to Independence, Oxford 1991. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Botha, Louis * 27. September 1862 Greytown, Natal Südafrika, † 27. August 1919 Pretoria / Südafrika, □ Church Street Friedhof / Pretoria / Gauteng / Südafrika, ev.-ref. B. wuchs auf einer Farm im Freistaat →Transvaal (Südafrika) auf und erhielt seine Schulausbildung an der örtlichen dt. Missionsschule. Als Abgeordneter des Vryheid-Distrikts wurde er 1897 Mitglied des Parlaments von Transvaal. Trotz seiner prinzipiellen AntiKriegseinstellung war er darauf vorbereitet, sich jeglichen Handlungen zu widersetzen, welche die Integrität seines Landes angriffen. Im ‚Zweiten →Burenkrieg‘ (Südafr. Krieg, 1899–1902) spielte er eine herausragende Rolle in Colenso und Spioenkop. Nach der Belagerung von Pretoria führte B. eine Guerilla-Kampagne gegen die Briten an. Er wurde nach dem Tod von P. J. Joubert Oberbefehlshaber der →Afrikaners (‚Boers‘) in Transvaal. Nach der Niederlage im Südafr. Krieg arbeitete B. auf den Frieden mit den Briten hin. Er führte sein Volk während der Friedensverhandlungen von 1902 und der Unterzeichnung des ‚Friedens von Vereeniging‘ (Treaty of Vereeniging). Um Geldmittel für den Wiederaufbau seines Landes nach dem Krieg zu beschaffen, reiste B. ins Ausland. Im Jan. 1905 gründete er die politische Partei ‚Het Volk‘ in Transvaal, welche die Wahlen gewann. B. wurde Premierminister von Transvaal von 1907 bis 1910. Mit der Unterstützung von Jan →Smuts gründete er 1911 die ‚South African Party‘ (SAP). Jedoch konnte B. sein Volk nie vereinen und wurde von den Nationa118
listen wegen seiner beschwichtigenden Rolle gegenüber Großbritannien und der mangelnden wirtschaftlichen Entwicklung des Landes kritisiert. B. wurde 1910 zum ersten Premierminister der ‚→Südafrikanischen Union‘ (ZAR) gewählt. Nach seinem Tod 1919 folgte ihm Jan Smuts. Hermann Giliomee und Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Johannes Meintjes, General Louis Botha, London 1970. A N N EK IE JO U B ERT Botswana →Bechuanaland Bottego, Vittorio, * 29. Juli 1860 Parma, † 17. März 1897 Daga Roba, □ sterbliche Überreste verschollen, rk. Der it. Offizier B. ließ sich 1887 nach →Eritrea (ab 1890 it. Kolonie) versetzen, um 4 Jahre lang geographische →Expeditionen in der unerforschten und schwer zugänglichen Danakil-Wüste durchzuführen und tierisches, pflanzliches und weiteres wissenschaftlich zu verwertende Material zu sammeln. 1891 unternahm er zwei Forschungsexpeditionen unter dem Dach der It. Geographischen Gesellschaft in andere, wenig bekannte Regionen am Horn von Afrika. Von 1892 bis 1893 unternahm er als einer der ersten Europäer eine Forschungsreise durch den südlichen Teil des heutigen →Somalia, dem Jubaland, entlang des gesamten Flußlaufes des Juba bis zu seiner Quelle. Während der Reise verlor die Gruppe ca. 90 % ihrer Teilnehmer durch Krankheiten, Überfälle der lokalen Bevölkerung, wilde Tiere und Fahnenflucht. Es gab 35 Todesopfer. Die Ergebnisse sind 1895 publiziert worden. Von 1895 bis 1897 zog B. durch das unerforschte obere Jubaland zum Turkanasee und an die Flüsse Sobat und Omo in →Äthiopien auf der Suche nach der Quelle des Omo (zwischen →Addis Abeba und Nekemte). Zu dieser Zeit stand Italien im Krieg mit dem äthiopischen Ksr. Durch Boten des Ks.s Menelik II. wurden er und die ihn begleitenden 250 Soldaten aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. B. wählte jedoch den Kampf und wurde getötet. Zwei seiner Begleiter, die Leutnants Carlo Citerni und Lamberto Vannutelli, berichteten im Anschluß über die Expedition (1899). In seiner Geburtsstadt Parma erinnert seit 1907 ein Monument (erbaut von Ettore Ximenes) an den Forscher. Vittorio Bottego, Il Giuba Esplorato, Parma 1997. Carlo Citerni u. a., L’Omo, Mailand 1899. A LK E D O H RMA N N
Boturini Benaducci, Lorenzo, * 1702 Sondrio, † 1755 Madrid, □ unbek., rk. Ursprünglich in der österr. Verwaltung tätig, verließ B. nach Ausbruch des Polnischen Erbfolgekrieges Wien, um sich neutralen Kg.shäusern anzudienen. Ohne Erfolg verließ er Spanien 1736 in Richtung →Mexiko in Begleitung eines Geistlichen, der sein Interesse für die überseeischen Gebiete geweckt hatte. Aus Begeisterung für die Jungfrau von →Guadalupe begann er zunächst die Geschichte dieses Kultes, dann die prähispanische Geschichte insg. zu studieren und trug die bis dahin größte Sammlung von Dokumenten und Codizes jener Zeit zur Thematik zusammen. Sein Bemühen um die Krönung der Jungfrau von Guadalupe als Symbol der Eigenstän-
b o u gA i n v i lle, lo u i s A n to i n e d e
digkeit Neuspaniens weckte die Aufmerksamkeit der span. Behörden. Auf Grund der fehlenden Aufenthaltsgenehmigung wurde seine Sammlung konfisziert und B. nach einigen Monaten Haft 1743 des Landes verwiesen. Fürsprecher und Petitionen führten dazu, daß sich der Consejo de Indias B.s annahm, während dieser sich an die Abfassung einer Idea de una Nueva Historia General de la América Septentrional machte, in der er unter dem Einfluß von Giambattista Vicos Scienza nuova die Geschichte der indigenen Bevölkerung Neuspaniens beschrieb. Den Anhang stellt eine komplette Auflistung der Dokumente seines heute teils verstreuten, teils verlorenen Museo histórico indiano dar. →Philipp V. ernannte B. in der Folge zum Cronista en Indias und erlaubte ihm die Rückkehr nach Neuspanien, die für B. jedoch mangels finanzieller Mittel nicht in Frage kam. Seine in Spanien begonnene Historia General de la América Septentrional blieb unvollendet. Die Aufgabe, eine Geschichte →Amerikas zu schreiben, wurde der Real Academia de la Historia übertragen. Manuel Ballesteros Gaibrois (Hg.), Lorenzo Boturini Benaducci, Historia General de la América Septentrional, Mexiko-Stadt ²1990. Miguel León-Portilla (Hg.), Lorenzo Boturini Benaducci, Idea de una Nueva Historia General de la América Septentrional, Mexiko-Stadt ²1986. Álvaro Matute, Lorenzo Boturini y el pensamiento histórico de Vico, Mexiko-Stadt 1976. AL E XANDRA GI T T E RMANN
Bougainville heißt die nach dem frz. Marineoffizier Louis Antoine de B. (1729–1811) benannte, größte (Größenangaben variieren zwischen 8 646 u. 10 049 km2, abhängig von der Einbeziehung benachbarter Inseln) Insel der →Salomonen, die, auf Antrag von →Richard Parkinson von Deutschland annektiert u. der Kolonie der →Neu-Guinea-Compagnie unterstellt (13. Dezember 1886; Flaggenhissung durch SM Adler, 30.10.1886) wurde, nach der dt.-brit. Kolonialteilung des Pazifik 1899 im deutschen Bereich verblieb und deswegen heute zu →Papua-Neuguinea und nicht zu den unabhängigen Salomonen gehört. Christianisierung durch dt. u. frz. →Maristen. Reg.station Kiëta (1905), erster Stationsleiter August Döllinger. Die Bev. wird wegen ihrer dunkelhäutigen äußeren Erscheinung in Papua-Neuguinea als „Buka“ – der Name der Insel nördlich von B. – bezeichnet, wobei „Buka“ im →Tok Pisin heute als Synonym für schwarz gebraucht wird. Reiche Kupferu. Goldvorkommen, die noch während der Kolonialzeit ab November 1970 von einem internationalen Syndikat unter brit.-austral. Leitung, einem Tochterunternehmen von Rio Tinto, in Panguna abgebaut wurden. Auseinandersetzungen um die Entschädigung der indigenen Landbesitzer u. ihre Forderung nach Übertragung der Mine in einheim. Besitz eskalierten seit November 1987 in einem blutigen Bürgerkrieg. Der Konflikt um die Einnahmen der Mine u. ihre gerechte Verteilung unter der Bev. B.s, Sorge um die ökologischen Folgen der Produktion, verbreitete Mißstimmung gegen die aus allen Teilen Papua-Neuguineas angereisten Fremdarbeiter u. ein immer stärker werdendes Verlangen nach mehr Autonomie, bis hin zur völligen Sezession, schaukelten sich
auch deswegen hoch, weil weder die Anteilseigner des Syndikats, noch die Reg. von Papua-Neuguinea bereit waren, wirkliche Zugeständnisse zu machen. Im Bürgerkrieg kämpfte die Armee Papua-Neuguineas, deren Reg. die Mine unter staatl. Kontrolle erhalten wollte, gegen eine indigene Gruppe von Widerstandskämpfern unter dem Sprecher der indigenen Landbesitzer, Francis Ona (* 1952, † 24. Juli 2005), die sich als B. Revolutinary Army (BRA) formierte. Ona rief am 17. Mai 1990 einseitig eine Rep. Me’ekamui (d. h. Heiliges Land) aus; genau sieben Jahre später proklamierte er das Kgr. Me’ekamui u. sich selbst zum Kg. (17. Mai 2004). Der Brügerkrieg wurde am 30. April 1998 durch den Waffenstillstand von Arawa beendet, initiiert durch die Reg. von →Aotearoa, die von allen Seiten als objektiv angesehen wurde. Die austral. Haltung in dem Konflikt war dagegen sehr ambivalent, zum einen, weil in der Minengesellschaft austral.-ökonomische Interessen vertreten waren, zum anderen, weil austral. Firmen von Waffenlieferungen an alle miteinander verfeindeten Kriegsparteien profitierten. Der zehnjährige Krieg, der nahezu unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit verlief, wurde äußerst grausam geführt. Morde an der Zivilbev., Vernichtung von Feldern u. Dörfern, Folter, Kidnapping bis hin zu →Sklaverei u. Massenvergewaltigungen, gehörten zum Alltag des Krieges auf allen Seiten, bei dem am Ende die Frontlinien nicht mehr erkennbar waren, weil sie mitten durch Dörfer, Ethnien u. sogar Familien liefen u. die B.-Bev. untereinander u. gegeneinander kämpfte. Die Infrastruktur u. Verwaltung, Schulen, Kirchen u. öffentliche Gebäude wurden nahezu ausnahmlos zerstört. Angaben über die Zahl der Toten variieren sehr stark, doch besteht ein pol. Interesse daran, die Zahlen eher niedrig zu halten. Im März 1998 wurde von einer Hilfsorganisation die Zahl der getöteten u. direkt oder indirekt durch den Krieg verstorbenen Zivilpersonen mit 7 639 angegeben. Die Zahl der auf beiden Seiten getöteten Soldaten ist unbekannt. Es blieb eine zutiefst traumatisierte Bev., der von der Reg. Papua-Neuguineas eine Volksabstimmung über ihre pol. Unabhängigkeit in Aussicht gestellt wurde. Q: Hilde Thurnwald, Menschen der Südsee. Charaktere u. Schicksale. Ermittelt auf einer Forschungsreise in Buin auf Bougainville, Stuttgart 1937. L: Volker Böge, Bougainville. Krieg, Friedenskonsolidierung u. Staatsbildung, Neuendettelsau 2008 (kleine, aber informative Schrift). Donald Denoon, Getting under the Skin. The Bougainville Copper Agreement and the Creation of the Panguna Mine, Carlton 2000 (austral. Sicht). Hermann Mückler, Entkolonialisierung u. Konflikte d. Gegenwart in Ozeanien, Wien 2013. H ER MA N N H IERY Bougainville, Louis Antoine de, * 12. November 1729 Paris, † 31. August 1811 Paris. □ Sarkophag im Pantheon, rk. Der Sohn eines kgl. Notars verfaßte 1752 eine Studie über die Integralrechnung und wurde dafür in die Royal Society in London aufgenommen. Ab 1756 als Adjutant dcs Generals de Montcalm Teilnahme am Krieg gegen Großbritannien in →Kanada. 1764 gründete er eine frz. Kolonie auf den →Falklandinseln, die er nach St. Malo Les nouvelles Malouines nannte. Sie hatte nur kurze Zeit 119
bounty
Bestand. 1766 erhielt B. von seinem Kg. den Auftrag, mit den Schiffen La Boudeuse und L’Etoile die erste frz. Weltumseglung durchzuführen. Anfang 1768 erreichten seine beiden Schiffe den Pazifik. Am 6.4.1768 nahm er Tahiti für den frz. Kg. als Nouvelle Cithère in Besitz. Auf der Weiterreise erkundete er die Neuen Hebriden und die →Salomonen-Gruppe. über die →Molukken und →Sumatra kehrte er im März 1769 nach Saint Malo zurück. 1772 wurde B. persönlicher Sekretär von Louis XV. 1779–1782 kämpfte er als Admiral gegen die Briten im nordam. Unabhänigkeitskrieg. Die Frz. Revolution überlebte er, zeitweise inhaftiert. 1795 Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Durch Napoleon wurde er mehrfach ausgezeichnet: 1799 Senator, 1804 Großoffizier der Ehrenlegion, 1808 Comte de l’Empire. Mit seinem idealisierten Bild der SüdseeInsulaner als „→edle Wilde“ verschaffte er Rousseaus Thesen Popularität. Nach ihm sind die größte Insel der Salomonen-Gruppe und die tropische Pflanzengattung Bougainvillea benannt. Q: Voyage autour du monde par la frégate du Roi La Boudeuse et la flute L’Etoile, 3 Bde, Paris 1771/72. Dt. Ausgabe von Detlef Brennecke (Hg.), Stuttgart u. a. 2002. L: John Dunmore, Storms and Dreams: Louis de Bougainville, Auckland 2005. Béatrice Elisabeth Waggaman, Le Voyage autor du monde de Bougainville, Nancy 1992. GE RHARD HUT Z L E R
Bounty. Name eines bewaffnetes Transportschiff der brit. Kriegsmarine, das Ableger des Brotfruchtbaums von Tahiti nach Westindien (→Westind. Inseln) brachte; die B. wurde frühmorgens am 28.4.1789 zum Schauplatz der berühmtesten Meuterei in der Geschichte der Seefahrt, als ca. die Hälfte der Besatzung unter Führung des 2. Offiziers Fletcher Christian das Schiff kaperte und dessen Kapitän, William →Bligh, mit 18 getreuen Besatzungsmitgliedern in einer Barkasse aussetzte. Bligh steuerte dieses kleine Boot über 3 600 Meilen offener See nach Timor, von wo aus er im März 1790 England schließlich wieder erreichte. Die 25 Meuterer versuchten zunächst, eine Siedlung auf dem Atoll Tubuai in den Australinseln zu gründen. Nachdem dies gescheitert war, kehrten sie im Sept. 1789 nach Tahiti zurück, wo sie sich in zwei Gruppen teilten. Eine Gruppe, 16 Mann, beschloß auf Tahiti zu bleiben. Dort wurden im März 1791 die 14 Überlebenden von einer brit. Suchexpedition festgenommen. Zehn dieser Leute wurden nach England zurückgebracht und im Sept. 1792 vors Kriegsgericht gestellt, drei wurden hingerichtet. Die andere Gruppe, bestehend aus neun Meuterern unter Führung von Christian und vermehrt durch sechs →Polynesier und zwölf Polynesierinnen, segelte am 20.9.1789 mit der B. von Tahiti und erreichte am 15.1.1790 die Insel →Pitcairn, wo man acht Tage später das Schiff in Brand setzte. Das Leben dieser zweiten Gruppe auf ihrem kleinen, entlegenen Zufluchtsort erwies sich mit der Zeit als alles Andere als eine Südseeidylle. Spannungen zwischen den Männern führten bald zum Mord und kulminierten um Okt. 1793 in einer Blutorgie, die vier Polynesier und fünf der Europäer, darunter Christian, das Leben kostete. Diese tragischen Ereignisse blieben der Außenwelt völlig unbekannt bis 120
1808, als Schiffe Pitcairn anliefen und man nur einen der ursprünglichen Meuterer, umgeben von den übrigen Polynesierinnen und ein paar Dutzend gemischtrassigen Kindern, noch am Leben vorfand. Ihre Nachkommen, nun mehrere Tausend an der Zahl, leben heute größtenteils in Australien und Neuseeland. Die Geschichte der Meuterei auf der B. hat in den letzten 200 Jahren eine erstaunliche Anzahl von wissenschaftlichen und populären Sachbüchern, Romanen und Verfilmungen angeregt. Diese andauernde Faszination ist insb. auf Blighs heldenhafte Überlebensgeschichte nach seiner Aussetzung und auf die Exotik der Südsee zurückzuführen, die sich gerade um die Zeit der Meuterei im europäischen Bewußtsein etablierte und bis zum heutigen Tag fortbesteht. Caroline Alexander, The Bounty, New York 2003. Greg Dening, Mr Bligh’s Bad Language, Cambridge 1992. Gavin Kennedy, Captain Bligh, London 1989. JA MES BR A U N D
Bourguiba, Habib, * 3. August 1903 Monastir, † 6. April 2000 Monastir, □ Mausoleum in Monastir, musl. Aus wohlhabender Familie stammend, studierte B. 1924–1927 an der Sorbonne Rechts- und Politikwissenschaft. 1927 Heirat mit einer Algerien-Französin. Als Anwalt tätig, gründete er i. Nov. 1932 d. Zeitschrift L’Action tunisienne zur Propagierung der Unabhängigkeit →Tunesiens, die „Keimzelle“ der Neo-DestourPartei (Destour = Verfassung) wurde. Von der Kolonialmacht 1934–1936 verbannt und 1938–1942 in Haft genommen. 1947 Übersiedlung nach →Kairo, um in der Arab. Liga die Interessen Tunesiens wahrzunehmen. 1950 nach Tunesien zurückgekehrt, erneut bis Anfang 1955 in frz. Haft. Vom Gefängnis aus Verhandlungen mit frz. Reg. wegen Entlassung des Landes in Unabhängigkeit. Nach 1956 erfolgter Unabhängigkeit Minister-Präs., nach Abschaffung der Monarchie ab 25.7.1957 Präs. der Rep. Tunesien, ab 1975 auf Lebenszeit. Stark orientiert an Politik des von ihm bewunderten →Atatürk, regierte B. autoritär. 1962–1986 war er mit Wassila ben Ammar, einer Tunesierin aus einflußreicher Familie, in 2. Ehe verheiratet. Seit 1980 litt er unter Demenzerscheinungen, die seine Reg.sfähigkeit zunehmend beeinträchtigten. Im Okt. 1987 wurde er deshalb von Innenminister Zine el Abidine mit Hilfe des Militärs abgesetzt. Q: H.B., My Life, My Ideas, My Struggle, Tunis 1979. L: Tahar Belkhodja, Les trois décennies Bourguiba, Paris 1998. Sigrid Faath, Herrschaft und Konflikt in Tunesien, Hamburg 1989. Derek Hopwood, Habib Bourguiba of Tunisia, Basingstoke 1992. G ERH A R D H U TZLER Boxeraufstand, Boxerkrieg 1900/01. Als B. bezeichnet man die von der Boxerbewegung im Frühjahr 1900 unternommenen Angriffe auf chin. Christen und in China lebende Ausländer, die zu einer regional begrenzten, aber gleichwohl verheerenden internationalen Militärintervention in China führten. Die Boxer (chin. meist als Yihetuan, d. h. „in Rechtschaffenheit vereinigte Milizen“, bezeichnet) waren eine um 1898 in Nordchina entstandene soziale Bewegung, die sich aus der chin. Volksreligion und -kultur speiste. Ihre überwiegend bäuerlichen Anhänger wandten sich zunächst gegen die
bo �erAu f s tAn d , b o �erk ri eg
ausländischen Missionare und christl. Gemeinden, da diese für eine Reihe von Naturkatastrophen verantwortlich gemacht wurden. Sie griffen damit indirekt auch das imperialistische Vertragssystem an, auf dem die Präsenz des Christentums in China beruhte. Ein wichtiges Kennzeichen der Boxerbewegung waren Unverwundbarkeitsrituale, die Schutz auch vor modernen Kanonen und Gewehren bieten sollten. Wegen der von ihnen angewandten Kampf- und Meditationstechnik des Schattenboxens wurde diese Bewegung von den Missionaren „Boxer“ genannt. Dabei ist der Terminus „B.aufstand“ allerdings insofern problematisch, als er innerhalb eines politischen Systems die Erhebung gegen einen Herrscher, eine politische Klasse oder eine soziale Elite suggeriert. Doch die „Boxer“ unterstützten zumindest während der Hochphase ihrer Erhebung die Qing-Dynastie, während sie sowohl Ausländer als auch christl. missionierte Chinesen bekämpften. Die in China agierenden Kolonialmächte wiederum übten ihre formelle Herrschaft lediglich in den kleinen Stützpunktkolonien aus, so daß sich der gegen ihre Fremdherrschaft richtende Befreiungskrieg nur aus imperialistischer Perspektive als „Aufstand“ bezeichnen läßt. Im Sommer 1899 verstärkte sich der Zulauf zu den „Boxern“ und breitete sich im Laufe des Jahres 1900 bis nach Peking aus. Der chin. Ks.hof, an welchem sich eine prowestliche und eine antiwestliche Fraktion bekämpften, gab seine anfängliche Zurückhaltung auf und schloß seine Soldaten mit den Aufständischen zusammen. Spätestens seit Anfang Juni 1900 fühlten sich die ausländischen Gesandtschaften in Peking bedroht und baten ihre Reg.en um militärische Unterstützung durch die im Gelben Meer stationierten Flotten. Die unter dem brit. Vizeadmiral Edward Seymour von der Hafenstadt Tianjin entsandten Marinetruppen scheiterten jedoch an den wiederholten Angriffen der „Boxer“ und mußten den Rückzug antreten. Im Gesandtschaftsviertel in Peking überschlugen sich daraufhin die Ereignisse. Auf die Ermordung des jap. Botschaftssekretärs folgte die des dt. Gesandten Clemens von Ketteler am 20.6.1900 durch einen Angehörigen der chin. Armee. Einen Tag später erklärte der chin. Ks.hof den ausländischen Mächten den Krieg und setzte die regulären Streitkräfte gegen die Alliierten in Marsch. Dies war auch der Beginn der legendären 55-tägigen Belagerung des Gesandtschaftsviertels, die in vielen Memoiren als Heldenepos einer zivilisierten Bastion gegen die Boxerhorden beschrieben wurde. Dabei war jedoch bereits den Zeitgenossen bewußt, daß die ausländische Enklave nicht überlebt hätte, wenn der Ks.hof tatsächlich deren Vernichtung beschlossen hätte. Am 15.8.1900 eroberten schließlich engl., russ. und jap. Matrosen das Gesandtschaftsviertel. Zwei dt. MatrosenKompanien kamen, ähnlich wie andere Kontingente, mit zweitägiger Verspätung in Peking an. Nach der „Befreiung“ fanden barbarische Plünderungen und Ausschreitungen gegen die chin. Zivilbevölkerung statt, an denen alle ausländischen Truppen beteiligt waren. Die alten Kolonialmächte England, Frankreich und Rußland hatten sich mit den ambitionierten Neulingen Deutschland, Italien, Österreich-Ungarn, den →USA und Japan verbündet und ihre Truppenkontingente zu der ersten internationalen Eingreiftruppe überhaupt formiert. Die Beute,
v. a. Kunstgegenstände, wurde in langen Karawanen von Mauleseln abtransportiert. Angesichts der Geschehnisse in China hatten die Mächte bereits im Frühsommer 1900 beschlossen, nicht nur auf die vor Ort stationierten Flotten zu vertrauen, sondern weitere Militärkräfte nach Ostasien zu schicken. Der dt. Ks. Wilhelm II. konnte Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee zum Kommandeur eines internationalen Expeditionskorps berufen. Ihm unterstanden ca. 90 000 Soldaten aus acht Nationen, darunter auch ind. und afr. Soldaten. Am 27.7.1900 verabschiedete Wilhelm II. in Bremerhaven dt. Soldaten in den „B.“ und rief sie dabei nachdrücklich zum Bruch des Völkerrechts auf. Diese Rede ging als „→Hunnenrede“ in die Geschichte ein. Als jedoch das Gros der internationalen Streitmacht im Sept. 1900 in China ankam, war keine angespannte Kriegssituation zu bewältigen: Das Land militärisch besiegt, die Bevölkerung verängstigt, die Boxer zerstreut, die Armee aufgelöst und der Ks.hof von Peking nach Xian geflohen. Zudem beschränkte sich der Krieg auf die nordöstlichen Provinzen, weil sich die südlichen Provinz-Gouv.e neutral verhielten und stärker daran interessiert waren, aus dem →Transport und der Versorgung der ausländischen Truppen Profit zu ziehen. Die Aufgabe für die internationale Streitmacht lautete jetzt, das Land zu beruhigen und die letzten „Boxer“ zu verfolgen. Diese waren jedoch nicht einfach auszumachen, da sie ihre spezielle Kleidung abgelegt und von den Zivilisten nicht mehr zu unterschieden waren. So waren die ausländischen Soldaten auf Hinweise aus der chin. Bevölkerung angewiesen. Damit war dem Denunziantentum Tor und Tür geöffnet und die Truppen konnten sehr leicht für inner-chin. Auseinandersetzungen instrumentalisiert werden. Von Herbst 1900 bis Frühjahr 1901 fanden unzählige Strafexpeditionen statt, die jeweils in unterschiedlichen nationalen Zusammensetzungen geführt wurden. Verschleppungen, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Plünderungen sowie das Abbrennen ganzer Dörfer kennzeichneten die schon zeitgenössisch umstrittene alliierte Kriegsführung in China. Auch wenn diese Gewalt nicht systematisch, sondern punktuell angewandt wurde, handelte es sich doch um Verstöße gegen das nationale und internationale Militär- und Kriegsrecht, welches Übergriffe gegen wehrlose Zivilisten verbot. Die Gesamtzahl der Toten auf chin. Seite ist bis heute unbekannt. Allein in Peking soll es über 100 000 Tote gegeben haben. Offiziell beendet wurde der B. am 7.9.1901 mit der Unterzeichnung des sog. „Boxerprotokolls“. Die Großmächte verzichteten darin darauf, China in einzelne Kolonien aufzuteilen, legten dem Reich der Mitte aber drakonische Strafen auf: Eine finanzielle Entschädigung, die China ruinierte, aber die Kassen der Mächte sanierte, mußte gezahlt und zudem viele der militärischen Anlagen geschliffen werden. Hinzu kamen symbolische Unterwerfungsgesten: China mußte sich nicht nur entschuldigen, sondern auch sog. Sühnemissionen u. a. nach Deutschland senden. Zudem hatten ausländische Kriegsschiffe weiterhin das Recht, auf Flüssen zu patrouillieren und führten den Chinesen die Anwesenheit und Kontrolle der Ausländer jeden Tag vor Augen. Susanne Kuß / Bernd Martin (Hg.), Das Dt. Reich und der Boxeraufstand, München 2002. Mechthild Leutner 121
b r A df o r d, w il li Am
/ Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China, Berlin 2007. Lanxin Xiang, The Origins of the Boxer War. A Multinational Study, London 2003. S US ANNE KUS S / T HORAL F KL E I N
Bradford, William,* um 19. März 1590 Austerfield, † 9. April 1657 Plymouth, □ Burial Hill / Plymouth, puritan. Sohn eines Farmers gleichen Namens und von Alice Hanson, Tochter eines Ladenbesitzers; schloß sich schon früh einer Gruppe frommer Kritiker der anglik. Kirche an, die sich im Haus von William Brewster im nahegelegenen Ort Scrooby regelmäßig traf. 1606 organisierte sich diese Gruppe als separate Gemeinde, die 1608 unter der Führung des Pfarrers John Robinson in die Niederlande flüchtete und sich ein Jahr später in Leiden niederließ. Nach längeren Verhandlungen mit der Virginia Company entschloß sich die ca. 100 Personen starke Gemeinde 1617, Leiden zu verlassen und nach Nordamerika in das Gebiet der Virginia Company auszuwandern. B., der von seiner Frau Dorothy begleitet wurde (ein Sohn kam später nach), gehörte zur Führungsgruppe um John Carver, William Brewster, und Edward Winslow, und unterschrieb wie alle andere männliche Mitglieder den Mayflower Compact während der 65 Tage dauernden Reise. Das Schiff Mayflower landete am 11.11.1620 in Cape Cod in Provincetown Harbor, wie der Ort später genannt wurde. Nach dem Tod von John Carver fiel B. das Amt des →Gouv.s der kleinen, 1624 ca. 180, knapp 20 Jahre später aber um die 1 000 Personen zählenden Kolonie zu, in welches er mit nur wenigen Unterbrechungen bis ein Jahr vor seinem Tod gewählt wurde. Er initiierte in den 1620er Jahren den Übergang von der Kollektiv- zur Individualwirtschaft, beharrte auch gegenüber der bald übermächtigen Kolonie Massachusetts auf kirchlicher Eigenständigkeit und betrachtete auch nach 1640 die politische und religiöse Entwicklung in England mit Skepsis. Von B.s außerordentlichem Geschick und Leistungsfähigkeit zeugt nicht zuletzt seine Darstellung Of Plymouth Plantation, 1620–1647, einer in nüchterner Sprache geschriebenen Chronik der ersten drei Jahrzehnte der Pilgrims in Nordamerika. Q: William Bradford, Of Plymouth Plantation, (Hg.) Samuel Eliot Morison, New York 2001. L: John Demos, A Little Commonwealth, New York 1970. George Langdon, Pilgrim Colony. New Haven 1966. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Brandão, Ambrósio Fernandes, * um 1560 Portugal, † nach 1618 Brasilien, □ unbek., jüd., dann rk. Nach →Frei Vicente do Salvador kam B. zu Beginn der 1580er Jahre als Steuereintreiber in das nordöstliche Brasilien, blieb dort mehr als 10 Jahre, um nach einem Zwischenaufenthalt in Lissabon in die Zuckerwirtschaft (→Zucker) Brasiliens zurückzukehren. Seine Spuren verlieren sich nach 1618, dem Jahr, in dem B. die ‚Diálogos das grandezas do Brasil‘ abgeschlossen hat. Das Werk ist eine Darstellung der Gegebenheiten Brasiliens, die von den Bewohnern über die Wirtschaft bis zu Beschreibungen der Tier- und Pflanzenwelt reicht. In sechs unverbundenen Gesprächen, u. a. über die großartigen, ungenutzten Möglichkeiten Brasiliens, stehen sich 122
dabei Brandônio, B.s alter ego, und der neu aus Portugal gekommene Alviano gegenüber. Das flüssig und bildhaft geschriebene Werk wurde erst im 19. Jh. veröffentlicht und gilt seither als zentrale Quelle zur frühen Geschichte Basiliens. Ambrósio Fernandes Brandão, Diálogos das grandezas do Brasil, hg. u. m. Anm. vers. v. José Antônio Gonsalves de Mello, Recife 31996. C H R ISTIA N H A U SSER Brandeis, Eugen, * 23. September 1846 Freiburg i. Br., † 1. November 1919 Berlin, □ aufgelassen, rk. Ingenieurausbildung an TH Karlsruhe. Verheiratet mit Tochter der Prinzessin Salima von →Sansibar. 1880– 1886 beim Eisenbahnbau in Südamerika. 1886–1888 Berater des deutscherseits favorisierten samoanischen „Kg.s“ →Tamasese. Ad interim von März 1889 bis 1892 Vertreter des ksl. Kommissars in Jaluit. 1893/94 kommissarischer Richter in Herbertshöh(e). 1895–1897 Referent für Infrastrukturmaßnahmen in Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes. Ad interim ab März 1898, etatmäßig von Febr. 1900 bis März 1906, ksl. Landeshauptmann der Marshall-Inseln. 1906 auf Grund einer →Tropenerkrankung Versetzung in den Ruhestand. G ERH A R D H U TZLER
Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie. 1682 gegründete Handelsgesellschaft, die zur Abwicklung der kolonialen Überseegeschäfte des Großen Kurfürsten →Friedrich Wilhelm I. geschaffen wurde. 1711 wurde die erste dt. Aktiengesellschaft vom preußischen Kg. Friedrich I. wieder aufgelöst. Mit der B., die auf Vorschlag des ndl. Reeders und späteren brandenburgischen Marinedirektors Benjamin →Raule entstand, wurde die ursprüngliche Idee des Kurfürsten von 1651 Realität, eine orientalische Handelsgesellschaft zur Beförderung des Überseehandels ins Leben zu rufen. Nach der ersten, Erfolg versprechenden Kontaktaufnahme zur Gründung der brandenburgischen Handelskolonie →Großfriedrichsburg entstand am 7.3.1682 mit dem „Edict wegen Octroyierung der aufzurichtenden Handelscompagnie auf denen Küsten von →Guinea“ die „Handelscompagnie auf denen Küsten von Guinea“, die später B. genannt wurde und das brandenburgische Monopol für den Dreieckshandel Europa-Afrika-Amerika inne hatte. Sie konnte eigene Stützpunkte errichten, was sie an der westafr. Küste, im heutigen →Ghana, auf der heute zu →Mauretanien gehörenden Insel →Arguin und auf der Karibik-Insel St. Thomas auch tat. Zunächst in Königsberg und Pillau ansässig, wurde 1683 Emden der Stammsitz der Gesellschaft. Aus verschiedenen, v. a. finanziellen Gründen, die zum Niedergang des kolonialen Abenteuers des Großen Kurfürsten führten, mußte die B. 1692 – trotz einiger Gewinne durch den transatlantischen →Sklavenhandel – den Bankrott feststellen. Durch ein kurfürstliches Edikt entstand aus der B. die „Brandenburgisch-Afrikanisch-Amerikanische Compagnie“ (BAAC), wobei die Aktien der B. um die Hälfte abgewertet wurden. Gerettet werden konnte die Handelskompanie indes nicht. Mit der Umwandlung allen Besitzes der Kompanie in staatliches Eigentum hörte die B. auf, zu existieren; Besitz und Inventar wurden liquidiert.
brA s i lh o lzg ewi n n u n g
Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste, Berlin 22001. Katharina Jahntz, Privilegierte Handelscompagnien in Brandenburg und Preußen, Berlin 2006. Eberhard Schmitt, Die brandenburgischen Überseekompanien im XVII. Jh., in: Schiff und Zeit 11 (1980), 6–20. UL RI CH VAN DE R HE YDE N
Brandt, Maximilian von, * 8. Oktober 1835, Berlin, † 24. August 1920 Weimar, □ Weimar, ev. B. war der Sohn des preußischen Generals und Militärschriftstellers Heinrich von B. Nach Beendigung seiner Offizierskarriere nahm er als Attaché an der preußischen →Expedition nach Ostasien unter der Leitung von Friedrich Graf von Eulenburg teil, die in den Jahren 1861/62 mit Japan, China und Siam Handels- und Freundschaftsverträge abschloß. B. wurde am 8.5.1862 zum preußischen „Konsul in Japan“ ernannt und erhielt in der Folge den Status Geschäftsträger (11.2.1867), Konsul (3.12.1867) bzw. Generalkonsul des Norddt. Bundes (20.7.1868). Im Febr. 1872 wurde er zum Ministerresidenten des Dt. Reiches ernannt. Am 9.11.1874 erfolgte seine Ernennung zum Gesandten in Peking, einem Posten, den er 20 Jahre bekleiden sollte. 1893 mußte B. wegen seiner Heirat mit der US-Amerikanerin Helen Maxima Heard seinen Abschied nehmen. Er widmete sich fortan einer regen publizistischen Tätigkeit, vorwiegend mit Ostasien-Bezug, wobei seine Schriften eines propagandistisch-polemischen Zuges nicht entbehrten. B. verbrachte seine gesamten 33 Dienstjahre in Ostasien, wobei China seine Asienperspektive eindeutig bestimmte. Er galt als international anerkannter FernostExperte, dessen Schriften in viele Sprachen übersetzt wurden. In der Endphase des →Chin.-Jap. Krieges von 1894/95 wurde B. vom Auswärtigen Amt in Berlin als Ostasien-Autorität reaktiviert und gewann maßgeblichen Einfluß auf Deutschlands Stellungnahme zum FernostKonflikt. Durch seine Befürwortung einer rückhaltlosen Anbindung an die Politik des Zarenreiches in Ostasien und damit einer gewollten Unterstützung des geschwächten China lieferte er die Argumente, die die dt. Teilnahme an der Tripelintervention (gemeinsam mit Rußland und Frankreich) gegen das siegreiche Japan im Apr. 1895 ökonomisch wie kolonial- und weltpolitisch begründeten und plausibel machten. Dabei nahm B. in Kauf, daß dieser pro-chin. Kurs das in den 1880er Jahren aufgebaute freundschaftliche dt.-jap. Verhältnis spürbar eintrübte. B. war ein energischer Verfechter preußisch-dt. Interessen in Ostasien. Von ihm stammte der Vorschlag, die jap. Nordinsel Hokkaido durch Deutsche zu kolonisieren. Er entwickelte ein besonderes Interesse an der Kultur Ostasiens, was sich in einer ausgedehnten Sammelleidenschaft ausdrückte, aber auch in der von ihm initiierten Gründung der Gesellschaft für Natur- und →Völkerkunde Ostasiens in Tokio 1873, deren erster Präs. er bis zu seiner Berufung nach China blieb. Max von Brandt, Dreiunddreißig Jahre in Ost-Asien, 3 Bde., Leipzig 1901. Rolf-Harald Wippich, „Strich mit Mütze“. Max von Brandt und Japan, Tokio 1995. ROL F - HARAL D WI P P I CH
Branqueamento →Blanqueamiento
Brant, Joseph oder Thayendanegea, * März 1743 (?) Cuyahoga / Ohio, † 14. November 1807 am Ontario See / Kanada Als Mohawk-Indianer gehörte der Sohn von Peter und Margaret Tehonwaghkwangearahkwa wie seine Mutter, die einer Häuptlingsfamilie entstammte, dem Wolf-Clan an. B.s Schwester Molly wurde 1759 common law wife des Superintendenten für indianische Angelegenheiten, Sir William Johnson. B. nahm am →Siebenjährigen Krieg teil. Nach dem Frieden von Paris 1763 war er für kurze Zeit an Eleazar Wheelocks Schule für Indianische Kinder in Connecticut. Bei Ausbruch der →Am. Revolution gehörte B. zu jenen Mohawk, die sich energisch für einen Kriegseintritt der Six Indian Nations auf brit. Seite einsetzten. Nach Ende des Krieges war er an den vergeblichen indianischen Bemühungen beteiligt, ein weiteres Vordringen der weißen Siedler gen Westen zu verhindern. Er starb in seinem Haus am Grand River. Isabel Thompson Kelsey, Joseph Brant, Syracuse 1984. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Brasilholzgewinnung. Brasilholz ist ein zu den Rothölzern gehörender Laubbaum. Auf Grund seiner roten Farbe wurde das Holz seit dem 12. Jh. aus Asien als Färbemittel nach Europa unter den Namen brasil, brasile oder brisilli eingeführt. In →Brasilien ist das Holz im atlantischen Regenwald der Küste zu finden. Eventuell hat auch die rötliche, an Glut (port.: brasa) erinnernde Färbung des Harzes – der geläufigste Name in der TupíSprache ist ibirapitanga oder ibirapiranga (rotes Holz) – dem am. Holz und dem Land seinen Namen gegeben. Zu Beginn der port. Präsenz in →Amerika war nur das lukrative Brasilholz wirtschaftlich von Interesse. Neben den Portugiesen beteiligten sich Franzosen an der Gewinnung, motiviert durch die große Nachfrage von seiten der aufblühenden nordfrz. Textilindustrie. Die B. war, u. a. bedingt durch die Härte des Holzes, eine anstrengende Arbeit, für die die indigene Bevölkerung, ihre Kenntnisse der lokalen Holzvorkommen sowie deren Unterstützung als Verbündete gegen Konkurrenten, zu gewinnen war. Im Gegensatz zur Arbeit auf Zuckerplantagen (→Zucker) war das gemeinsame Schlagen von Holz eine vertraute Arbeit für indigene Männer. Dabei wurden die Bäume gefällt, von Ästen und Rinde befreit und der Stamm in ca. 20–30 kg schwere Blöcke zerlegt. Die Ureinwohner ließen sich ihre Zusammenarbeit mit den Europäern, das Schlagen des Holzes und dessen →Transport an die Küste im Tauschhandel v. a. mit Werkzeugen aus Eisen, Töpfen, Waffen und Kurzwaren entlohnen. Der Preis richtete sich auch nach der Entfernung zum Verladeplatz, die als Folge der Abholzung rasch größer wurde. 1534 wurde der Brasilholzbestand zum Eigentum der Krone erklärt. Die B. führte im Laufe der Jh.e zur Abnahme des Bestandes, so daß der Baum heute unter Naturschutz steht und 1978 zum Nationalbaum Brasiliens erklärt wurde. Warren Dean, With Broadax and Firebrand, Berkeley / Los Angeles 1995. CH R ISTIA N H A U SSER Brasilien im portugiesischen Kolonialreich →Portugiesisches Kolonialreich 123
b r A s i l ie n s e it d e r u nA b h Ä n g i g k ei t
Brasilien, niederländisches →Niederländisch-Brasilien Brasilien seit der Unabhängigkeit. Im Unterschied zu Span.-Amerika verlief der Staatsbildungsprozeß in B. zunächst leichter und wesentlich unblutiger, da er sich im Rahmen dynastisch-monarchischer Kontinuität abspielte. Auf der Flucht vor den napoleonischen Truppen hatte die port. Krone 1808 ihren Sitz von Lissabon nach →Rio de Janeiro verlegt und die ehem. Kolonie 1815 zum gleichberechtigten Kgr. erklärt. Als Kg. Dom →João VI. 1821 auf Drängen liberaler Kräfte, die 1820 die Macht in Portugal übernommen hatten und die Einführung einer konstitutionellen Monarchie verbunden mit Bs. erneuter Herabstufung zur Kolonie forderten, nach Lissabon zurückkehrte, sah sich ein großer Teil der Eliten B.s in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten eingeschränkt. Es gelang ihnen in der Folge, den in B. verbliebenen Kronprinzen von der Notwendigkeit der Unabhängigkeit zu überzeugen, die dieser am 7.9.1822 ausrief (Grito de Ipiranga) und als Dom Pedro I. zum Staatsoberhaupt eines unabhängigen Ksr.s wurde. Erhebungen von Anhängern der port. Krone, zu denen es unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung kam, konnten rasch niedergeschlagen werden. Die politische und wirtschaftliche Stabilität B.s war damit allerdings nicht erreicht. Zunächst scheiterte der Versuch nach wirtschaftlicher und politischer Autonomie strebender regionaler Eliten, die exekutiven Vollmachten des Ks.s durch eine liberale Verfassung einzuschränken. Gestützt auf konservative Machtgruppen, die sich v. a. aus der im Land verbliebenen port. „Aristokratie“ sowie den sklavenhaltenden Fazendeiros rekrutierten, gelang es dem Ks. 1824, seine „eigene“ Verfassung zu oktroyieren. Neben einem elitären Zwei-Kammer-Parlament (Asambléia Geral), der Judikative und dem Staatsrat (Conselho de Estado) kam darin dem Ks. als „vermittelnde Kraft“ (Poder Moderador) die entscheidende Stellung im politischen System zu. Auf Grund eines äußerst restriktiven Zensuswahlrechts betrug der Anteil der Wahlberechtigten selbst gegen Ende des Imperiums nicht mehr als 1,5 %. Wirtschaftlich war das Ksr. von seiner „Schutzmacht“ England abhängig, das auf Grund seiner finanziellen und materiellen Unterstützung bei der Flucht der kgl. Familie mit niedrigen Einfuhrzöllen für den Import seiner Fertigwaren belohnt wurde. Im internationalen Wirtschaftssystem fiel B. daher die Rolle des Exporteurs von →Rohstoffen und Agrargütern zu, dessen wichtigste Absatzmärkte in Europa lagen. Von dort wiederum importierten die Eliten B.s in erster Linie Konsum- und Luxusartikel, was lange die Entstehung selbst rudimentärer Industrien zur Eigenversorgung behinderte. Die Beziehungen zum wichtigsten Handelspartner waren zudem nicht frei von Spannungen, da England seit den 1830er Jahren verstärkt auf die Einstellung des transatlantischen →Sklavenhandels drängte. Auf Grund wirtschaftlichen und militärischen Drucks erreichten die Briten dieses Ziel 1850, als B. die Einfuhr afr. Sklaven per Gesetz untersagte und dies auch durchsetzte. Langfristig konnte der immer schneller steigende Arbeitskräftebedarf der Agrarexportwirtschaft daher nicht mehr durch die Arbeit von Sklaven 124
gedeckt werden, da deren Reproduktionsrate zu niedrig war. Eine erneute Phase politischer Instabilität löste 1831 die Abdankung Dom Pedros I. aus, der sich wegen innenpolitischer Probleme, aber auch auf Grund dynastischer Streitigkeiten um die Nachfolge des 1826 verstorbenen Dom João VI. nach Portugal begab, wo er sich schließlich im Kampf um die Krone gegen seinen Bruder Dom Miguel durchsetzte. In B. blieb der damals fünfjährige Kronprinz, der spätere Ks. Dom Pedro II., zurück. Bis zu dessen vorgezogener Volljährigkeitserklärung 1840 drohte das Ksr. mehrfach an regionalen Aufständen und Separationsbewegungen zu zerbrechen. Erst als der Ks. auf Betreiben konservativer Kräfte, die sich um die Einheit des Landes sorgten, vorzeitig für volljährig erklärt wurde, begann eine längere Phase der Stabilität und des inneren Friedens. Liberale und Konservative organisierten sich nun in Parteien und legten ihre Konflikte im Rahmen der bestehenden Ordnung und unter Vermittlung des Ks.s bei, was v. a. einer geschickten Kooptationspolitik geschuldet war. So erhob der Ks. zahlreiche Gegner der Monarchie in den Adelsstand oder stattete sie mit anderen Privilegien aus. Die von Dom Pedro II. und seinen Beratern aus Staat und Wirtschaft angestrebte Modernisierung des Landes schritt in dieser Zeit ebenfalls voran. Der einsetzende Kaffeeboom (→Kaffee) bescherte insb. den Eliten im Südosten des Landes steigende Einnahmen, die nun auch in Infrastruktur (v. a. Eisenbahnen und Hafenanlagen) sowie in kleinere Industriebetriebe (insb. Textilien und Nahrungsmittel) investiert wurden. Diese in Ansätzen positive wirtschaftliche und politische Entwicklung wurde jedoch 1864–1870 durch den →Tripelallianzkrieg (B., →Argentinien und Uruguay gegen →Paraguay) unterbrochen, an dem B. als wichtigster militärischer Akteur beteiligt war. Neben den Folgen für den Haushalt des Imperiums, der auf Grund hoher Kreditaufnahme im Ausland dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen wurde, erwies sich der Krieg auch im Hinblick auf die Sklavenfrage als Zäsur. So stellte der Konflikt indirekt einen ersten Schritt auf dem Weg zur Abschaffung der →Sklaverei dar. Bereits seit der Mitte des 19. Jh.s war einem Teil der Eliten bewußt geworden, daß die Sklavenarbeit in naher Zukunft aus demographischen Gründen enden würde. Hinzu kam, daß auf Grund der informell tolerierten Rassenmischung sowie der häufig genutzten Möglichkeit des Freikaufs seit der Kolonialzeit (alforria) die Zahl der freien Schwarzen und Mulatten (→Casta) kontinuierlich anstieg. Als der Krieg gegen Paraguay begann, rekrutierte die Armee B.s Tausende Soldaten aus den Reihen der Sklaven. Deren Herren waren nur selten bereit, ihr eigenes Leben für die „Nation“ zu riskieren, an deren Fortbestand zu dieser Zeit längst noch nicht alle Ew. des Landes glaubten. Obwohl zahlenmäßig überlegen, hatte die Armee B.s erhebliche Schwierigkeiten, Paraguay niederzuringen. Aus einem blutigen Kampf, der in Paraguay ca. die Hälfte der Bevölkerung das Leben kostete und das Land komplett verwüstete, ging 1870 die Tripelallianz als Sieger hervor. Den am Krieg beteiligten Sklaven, die nach 1850 – also illegal – nach B. gelangt waren, wurde durch ein Gesetz 1866 die Freiheit gewährt. Nach 1870 änderte sich allmählich auch die Struktur der Gesellschaft. In größeren
br As i li en s ei t d er u n A bh Än g i g k ei t
Städten entstand, getragen vom wirtschaftlichen Aufschwung, der Kern einer bürgerlichen Mittelschicht, die sich in kulturellen Vereinigungen organisierte, politisch aktiv war sowie Presseprodukte nach europäischem Vorbild konsumierte. Besonders beeindruckend war das Wachstum →São Paulos. Die Gesamtbevölkerung B.s belief sich 1872 auf 9,93 Mio., 1900 bereits auf 17,5 Mio. Diese wirtschaftliche und demographische Entwicklung (→Bevölkerungsentwicklung) lief jedoch keineswegs gleichförmig und ohne soziale Verwerfungen ab. Während sich der Südosten dauerhaft als wirtschaftliches und politisches Zentrum B.s etablierte, verlor der ehemals wohlhabende und bevölkerungsreiche Nordosten an politischem und wirtschaftlichem Einfluß. Für die demographische Entwicklung B.s war zudem entscheidend, daß die „Kaffee-Barone“ im Südosten die Einwanderung ausländischer Kontraktarbeiter massiv förderten. In der Zeit zwischen 1887 und 1930 gelangten so über 3,8 Mio. Einwanderer, v. a. Italiener, Portugiesen, Spanier, Deutsche und Japaner, nach B. Ihre Nachfahren prägen das Land in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht bis in die Gegenwart. Ausgelöst durch Überlegungen, daß die Stabilität des Imperiums auf Dauer nicht gewährleistet werden könne, solange die Sklavenbevölkerung nicht besser integriert sei, wurde nach dem Ende des Krieges mit Paraguay die Sklaverei schrittweise abgeschafft. 1888 erreichte schließlich eine abolitionistische Kampagne das endgültige Ende der Sklaverei. In Abwesenheit von Dom Pedro II., der sich zu diesem Zeitpunkt aus medizinischen Gründen in Italien aufhielt, unterzeichnete die Thronfolgerin Prinzessin Isabel am 13. Mai das sog. „Goldene Gesetz“ (Lei Áurea) in Vertretung ihres Vaters. Dieses sah eine entschädigungslose Abschaffung der Sklaverei vor. Damit war zugleich das Ende der Monarchie besiegelt, die nun in den Augen vieler regionaler Eliten ihre Legitimation verloren hatte. Für die Monarchie sollte sich das Ende des Paraguay-Krieges noch in anderer Hinsicht desaströs auswirken, denn nie zuvor war das Versagen des Staates so deutlich geworden wie in diesem Konflikt, bei dem schlechte militärische Planung, fehlende Ausrüstung und mangelnde Koordination auf Seiten B.s zahlreiche unnötige Todesopfer gefordert hatten. So sahen es jedenfalls viele der Offiziere, die in diesem Krieg gedient hatten und häufig unter dem Einfluß des europäischen →Positivismus standen. Wenngleich ihre konspirativen Aktivitäten innerhalb des überwiegend konservativen Militärapparats nur bedingt von Erfolg gekrönt waren, so trugen ihre umstürzlerischen Tätigkeiten doch dazu bei, die Monarchie im Inneren weiter zu destabilisieren. Als die Aufhebung der Sklaverei, ein seit längerem schwelender Konflikt mit der rk. Kirche, sowie Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Elitenfraktionen 1889 schließlich eskalierten, fiel die Monarchie in sich zusammen. Ausschlaggebend hierfür war, daß Teile der Armeeführung und der Kaffee-Oligarchie sich von der Monarchie entfremdet hatten. Mit Zustimmung der Eliten aus São Paulo und Rio Grande do Sul putschte das Militär unter Führung von Marschall Deodoro da Fonseca am 15.11.1889 erfolgreich gegen die ksl. Reg., die sich widerstandslos ihrem Schicksal fügte. Die Rep. wurde ausgerufen und Fonseca setzte
sich an die Spitze einer provisorischen Übergangs-Reg. Noch am selben Tag wurde per Dekret die föderative Rep. als Staatsform bestimmt und die ehem. Provinzen als „Vereinigte Staaten von B.“ neu konstituiert. Der Ks. wurde ins europäische Exil geschickt. Sklaverei und Monarchie gehörten nun zwar der Vergangenheit an. Die bereits vorher latent vorhandenen sozialen Probleme traten jetzt jedoch in aller Deutlichkeit zu Tage. So waren die ehem. Sklaven nach der Ausrufung der Abolition praktisch auf sich alleine gestellt. Die neue republikanische Reg. zeigte keinerlei Interesse, Maßnahmen zur sozialen Integration der ehem. Sklaven und der verarmten Bevölkerung i. allg. zu ergreifen. Investitionen in öffentliche Bildung und Gesundheit flossen spärlich, ein wirtschaftliches Programm zur Entwicklung einer vom Rohstoff- und Agrarexport unabhängigen Wirtschaft gab es nicht. Im Großen und Ganzen diente der nun föderativ organisierte Staat den Außenhandels- und Agrarexportinteressen der regionalen Eliten. Da die rücksichtslose Durchsetzung regionaler Partikularinteressen den Zentralstaat schwächte, kam es außerdem zu zahlreichen gewaltsamen Konflikten in ländlichen Gebieten, von denen der religiös motivierte Krieg von →Canudos die größte Bekanntheit erlangte. Die Beteiligung am politischen Prozeß blieb in der Alten Rep. einem kleinen Teil der gebildeten und begüterten Oberschicht vorbehalten. Die Kategorie des „Bürgers“ hatte somit auf Grund fehlender Partizipationsmöglichkeiten und der kaum vorhandenen materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Bürgerrechte weitgehend symbolische Bedeutung. Es entstand ein als „Kaffee mit Milch“ (café-com-leite) bezeichnetes politisches Bündnis, in dem die Eliten der Gliedstaaten São Paulo („Kaffee“) und →Minas Gerais („Milch“, d. h. Viehzucht) den Ton angaben. Dieses Bündnis sollte mit einer kurzen Unterbrechung von 1910 bis 1914, als der Gaúcho Hermes da Fonseca regierte, bis 1930 halten. In diesem Jahr entriß der ebenfalls aus Rio Grande do Sul stammende Getúlio Vargas (1930–1945, 1950–1954) den traditionellen Eliten durch einen Militärputsch die Macht. Dem vorausgegangen war die Weigerung des letzten Präs. der Alten Rep., des Paulista Washington Luís (1926–1930), als Nachfolger einen Mineiro zu bestimmen, wie es ein 1913 geschlossener informeller Pakt zwischen den beiden Gruppen vorsah. Die Eliten aus Minas Gerais traten daraufhin aus dem Bündnis aus und ermöglichten Vargas den Griff nach der Macht. Die sog. „Revolution von 1930“ war zudem durch die Weltwirtschaftskrise begünstigt worden, die die Grenzen des Agrarexportmodells aufgezeigt hatte. In sozialer Hinsicht vertiefte sich 1889–1930 die bestehende →soziale Ungleichheit, wobei v. a. die schwarze Bevölkerung weiter ins Abseits gedrängt wurde. Die Nachfahren der Sklaven hausten nun oft unter erbärmlichen Bedingungen in hölzernen Baracken im Inneren der rapide wachsenden urbanen Zentren, den sog. cortiços („Bienenstöcke“). In ihren kulturellen, politischen und sozialen Aktivitäten unterlagen sie massiven Beschränkungen. Hinzu kam, daß die auf makroökonomisches Wachstum ausgerichtete Politik der politischen Eliten mit einem rassistischen Diskurs einherging, der das „afr. Element“ als Hindernis für die Entwicklung betrachtete. 125
b r A s i l ie n s e it d e r u nA b h Ä n g i g k ei t
Erst mit Getúlio Vargas, unter dessen Reg. die „Volkskultur“ eine deutliche Aufwertung erfuhr, änderte sich dies allmählich. Vargas begann zudem eine Sozialpolitik, die erstmals einem großen Teil der marginalisierten Bevölkerung zu Gute kam und ihm später den Beinamen „Vater der Armen“ einbrachte. Nachdem Vargas zunächst mit dem Widerstand regionaler Eliten, insb. in São Paulo, zu kämpfen hatte, gelang es ihm ab 1932, das Land zu zentralisieren und seine politische Macht auszuweiten. Erfolgreich konnte er über gelenkte Gewerkschaften zahlreiche der zuvor vom politischen Geschehen ausgeschlossenen Arbeiter integrieren und auch die wichtigsten wirtschaftlichen Akteure in ein korporatistisches System einbinden, das zunehmend nationalpopulistische (→Populismus) Züge trug. Der Machtzuwachs der Exekutive wurde dabei durch eine staatsdirigistische Wirtschaftspolitik getragen, die als Folge der Weltwirtschaftskrise nun die „Entwicklung nach innen“ propagierte. Ziel dieser Politik war es, die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Außenhandel schrittweise abzubauen und die Erlöse aus dem Agrarexport zum Aufbau einer eigenständigen Produktion von Fertigwaren zu nutzen, die zunächst durch Protektionismus vom Weltmarkt abgeschirmt werden sollte. Trotz unbestrittener wirtschaftlicher und sozialer Erfolge geriet das Vargas-Regime, das zudem immer häufiger auf Legitimationsfiguren der faschistischen europäischen Regime zurückgriff, sowohl aus dem rechten als auch aus dem linken Lager unter Beschuß. Unter Berufung auf eine angebliche jüdischkommunistische Verschwörung („Cohen-Plan“) führte Vargas 1937 einen Staatsstreich durch und herrschte bis 1945 diktatorisch. Daß der sog. „Neue Staat“ (→Estado Novo) dabei lediglich ideologische Versatzstücke sowie den gezielten Einsatz der Massenmedien von den Faschisten übernahm, zeigte sich 1942, als Vargas den Achsenmächten den Krieg erklärte und zwei Jahre später brasilianische Soldaten an der Seite der Alliierten in Italien zum Einsatz kamen. Insg. war die Außenpolitik der Vargas-Ära von Opportunismus und Pragmatismus geprägt, wobei die faschistischen Elemente im Inneren der Herrschaftssicherung und der sozialen Kontrolle dienten. Infolge der Zurückdrängung der traditionellen Eliten und des legalistischen Flügels der Armee im Estado Novo kam es 1945 zu einem weiteren Militärputsch, der zur Absetzung des Diktators führte. Nach einer instabilen Phase ziviler Reg.en unter Führung konservativer Politiker, die im Grunde an einer Wiederherstellung der föderativen Alten Rep. interessiert waren, kehrte Vargas 1950 an die Macht zurück, diesmal jedoch durch reguläre Wahlen. Sein erneuter Versuch, sich die Zustimmung der Mittel- und Unterschichten durch Umverteilungsmaßnahmen und Sozialprogramme zu sichern, sowie seine opportunistische Allianz mit linken Parteien führten jedoch abermals zu einem Konflikt mit dem Militär, „antinationalistischen“ Eliten und einem Teil der Mittelschicht. Einem absehbaren zweiten Putsch kam Vargas am 24.8.1954 durch seinen theatralisch inszenierten Selbstmord zuvor, der ihn in den Augen vieler zum Märtyrer machte. Die politische Instabilität setzte sich in den nächsten Jahren fort, wobei sich nun liberale, konservative und linkspopulistische Reg.en an der Macht abwech126
selten. Keiner Reg. gelang es indes, die zunehmend unvereinbar erscheinenden Interessen der verschiedenen Machtgruppen auf einen Nenner zu bringen, zumal deren Positionen als Folge der kubanischen Revolution (1959) auch in ideologischer Hinsicht immer radikaler wurden. Im Bereich der Wirtschaft setzten zuerst Präs. Juscelino Kubitschek (1956–1961), dann Jânio Quadros (1961) und schließlich João Goulart (1961–1964) das unter Vargas begonnene Programm der →importsubstituierenden Industrialisierung fort, wobei nun der Schwerpunkt auf dem Übergang von der Produktion einfacher Verbrauchsgüter hin zu kapitalintensiven und technologisch hochwertigen Industriegütern lag. Zu diesem Zwecke nahmen die Reg.en der 1950er und 1960er Jahre vermehrt Kredite im Ausland auf und regten die Beteiligung ausländischer Investoren an neu entstandenen Großbetrieben an. In diese Zeit infrastruktureller und industrieller „MegaProjekte“ fällt auch die Gründung der tief im Hinterland gelegenen neuen Hauptstadt Brasília (1960). Von derartigen Vorhaben erwarteten sich die fortschrittsgläubigen Eliten eine Entwicklung, die einen wirtschaftlichen Rückstand von „50 Jahren in fünf Jahren“ („50 anos em 5“) aufholen sollte. Da Präs. Goulart allerdings auf Grund seiner Annäherung an sozialistische Parteien, einer geplanten Landreform, der Stärkung der Gewerkschaften und zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten sowohl im Inneren (Militär) als auch im Äußeren (→USA) schnell an Unterstützung verlor, entriß ihm die Armee 1964 die Macht. Es begann die Zeit der Militärdiktatur, die bis 1985 dauerte. Das neue Regime unter der Führung von General Humberto Castelo Branco (1964– 1967) regierte autoritär und unterdrückte oppositionelle Bewegungen brutal. V. a. linke Gruppierungen wurden verfolgt oder ins Exil gezwungen. Trotz des offenkundig autoritären Charakters der Militärherrschaft waren die Generäle darum bemüht, den Anschein demokratischer Legitimität zumindest nach außen zu wahren. So wurde der Nationalkongreß zwar nicht aufgelöst, aber dafür dessen Zusammensetzung kontrolliert. Neben der einzig legalen Oppositionspartei MDB (Movimento Democrático Brasileiro) war nur noch die Partei der Militärs, die rechts-konservative ARENA (Aliança Renovadora Nacional), im Kongreß vertreten. Durch Manipulation und Wahlbetrug waren den Militärs stets Wahlerfolge garantiert, obgleich es ihnen bis in die 1970er Jahre durchaus gelang, einen beträchtlichen Teil der städtischen Mittelschichten für sich zu gewinnen. Verantwortlich hierfür war die auf den ersten Blick erfolgreiche Fortführung und Intensivierung der bisherigen Industrialisierungspolitik, die zeitweise Wachstumsraten von bis zu 11 % erreichte. Das sog. „brasilianische Wirtschaftswunder“ (milagre econômico brasileiro) zwischen 1969 und 1973 stand jedoch auf Grund massiver Kreditaufnahme im Ausland bei gleichzeitig abfließenden Gewinnen der multinationalen Unternehmen, steigendem Inflationsdruck sowie fehlender Innovationen und Reinvestitionen im Industriesektor auf tönernen Füßen. Solange indes für viele Angehörige der Mittelschicht Posten im aufgeblähten Staatsapparat oder in einem der Staatsunternehmen (z. B. Petrobras, Embraer) zur Verfügung standen und der Konsum importierter Güter gewährleis-
brA zzAv i lle
tet war, ging organisierter Widerstand gegen das Regime nur von der Linken (insb. →Guerillagruppen und Studentenorganisationen) sowie von Teilen der rk. Kirche aus. Auf Grund verschiedener gewaltsamer Aktionen gegen das Regime schlug der 1969 zum Staatschef ernannte General Emílio Médici einen noch repressiveren Kurs gegen die „Feinde des Vaterlandes“ ein, der u. a. in der Anwendung von Folter und der Praxis des „Verschwindenlassens“ bestand. Unter seinem Nachfolger Ernesto Geisel (1974–1979) kam es unter dem Zeichen des ersten Ölpreisschocks (1973/74) zu einer rapiden Verschlechterung der Wirtschaftsleistung sowie zu einer Staatsverschuldung bis dato unbekannten Ausmaßes, was die sozialen Probleme verschärfte. Unter der Präsidentschaft von João Figueiredo (1979–1985) hatte die Unzufriedenheit der Bevölkerung schließlich derartige Ausmaße angenommen, daß sich eine allmähliche demokratische Öffnung abzuzeichnen begann. Die Repressionsmaßnahmen wurden deutlich abgeschwächt. Inmitten einer schweren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Krise organisierte sich ab 1983 eine breite Bürgerbewegung, die unter dem Slogan „Direktwahlen sofort!“ (Diretas já!) die Direktwahl des Präs. und das Ende der Militärdiktatur forderten. Die freie Wahl der Gouv.e war bereits 1982 zugelassen worden. Daneben übten seit dem Ende der 1970er Jahre auch die Neuen Gewerkschaften, die linke Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und soziale Bewegungen wie die Landlosen-Vereinigung MST (Movimento dos Sem Terra, seit 1984) Druck auf die Militärs aus. Unter dem Druck der Straße und angesichts des bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs gaben die Machthaber schließlich nach und stimmten Wahlen zu, allerdings indirekten. Mit der Durchsetzung eines „handverlesenen“ Kandidaten in einem manipulierten Wahlmännergremium scheiterten sie jedoch. Statt dessen gewann Tancredo Neves, der Kandidat der Opposition, die Wahlen am 15.1.1985. Er starb jedoch kurz vor der Amtsübernahme. Als Nachfolger und erster Präs. der Neuen Rep. fungierte der eigentlich als Vize-Präs. vorgesehene José Sarney (1985– 1990), der während der Militärdiktatur verschiedene hohe Ämter bekleidet hatte. Am 5.10.1988 wurde die bis heute gültige Verfassung verabschiedet, welche die Macht der Exekutive deutlich beschnitt und statt dessen Parlament und →Justiz stärkte. Weiterhin verfügte die Verfassung eine Dezentralisierung der politischen Macht zugunsten der Gemeinden, begrenzte die Amtszeit des Präs. auf fünf Jahre und setzte das Wahlalter auf 16 Jahre herab. Das Wahlrecht für Analphabeten war bereits 1985 eingeführt worden. Die wirtschaftlichen Probleme B.s waren damit nicht gelöst. Die Inflation lag gegen Ende der 1980er Jahre bei Spitzenwerten um bis zu 1000 %. In einer von Korruptionsskandalen und Machtmißbrauch überschatteten Übergangszeit unter Sarney kam es zwar mehrfach zu Stabilisierungsversuchen, die erfolglos blieben. Ebenso wenig gelang es seinem erstmals direkt gewählten Nachfolger Fernando Collor de Mello (1990– 1992), der als bislang einziger Präs. B.s wegen Korruption vom Parlament zum Rücktritt gezwungen wurde, die Inflation zu bändigen und die Wirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen. Jedoch kam es unter Collor zu ersten
Privatisierungsmaßnahmen, durch die B.s marode Staatsbetriebe entweder umgebaut oder zerschlagen werden sollten. Nach der zweijährigen Interims-Reg. des ursprünglichen Collor-Vize-Präs. Itamar Franco (1992– 1995) sollte es dessen Nachfolger, dem renommierten Sozialwissenschaftler Fernando Henrique Cardoso (1995–2003) vorbehalten bleiben, die Hyperinflation zu stoppen und die neu eingeführte →Währung „Real“ im Rahmen des sog. Plano Real zu stabilisieren (1994). Zur weiteren Sanierung des Haushalts wurden unter Cardoso die Privatisierung ehem. Staatsbetriebe vorangetrieben und Deregulierungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen durchgeführt. 1999 wurde Cardoso nach einer Verfassungsänderung erneut zum Präs. gewählt, obwohl das Land wieder in einer wirtschaftlichen Krise steckte. 2003 trat Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei PT die Nachfolge Cardosos an. Trotz der ursprünglich linksgerichteten Programmatik seiner Partei setzte er die Wirtschaftspolitik seines Vorgängers im wesentlichen fort, wobei die endgültige Stabilisierung der Wirtschaft gelang, die seither wieder kontinuierlich hohe Wachstumsraten verzeichnet. B. gehört gegenwärtig zusammen mit Rußland, →Indien und China (BRIC-Gruppe) zu den am schnellsten wachsenden Schwellenländern und gilt nach Kaufkraftparität als neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Soziale Programme und Transferleistungen wie Fome Zero („Null Hunger“) oder Bolsa Família („Familienstipendium“) haben der Reg. Da Silva großen Zuspruch innerhalb der ärmsten Bevölkerungsschichten eingebracht. Seit 2004 führt B. zudem UN-Friedenstruppen in Haiti an und leistet internationale Entwicklungshilfe (→Entwicklung). In →Lateinamerika versucht das mittlerweile knapp 200 Mio. Ew. zählende Land seine Vormachtstellung zu behaupten, indem es sich u. a. im Rahmen des Gemeinsamen Marktes des Südens (→Mercosur) sowie der Union Südam. Staaten (União das Nações Sul-Americanas) für die regionale Integration einsetzt und in regionalen Konflikten vermittelt. Ferner ist B. in der „Gruppe der 20“ vertreten und strebt einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen an. Trotz der seit 1985 erzielten Erfolge weist B. noch immer einige grundlegende Strukturprobleme auf, deren Wurzeln teils weit in die Vergangenheit reichen. Hierzu gehören an erster Stelle die extrem ungleiche Einkommensverteilung, intransparente und informelle Verfahren in Politik und Wirtschaft, eingeschränkte Rechtsstaatlichkeit, ein qualitativ mangelhaftes und unterfinanziertes Bildungssystem, starke regionale Disparitäten, eine hohe Kriminalitätsrate, massive Umweltzerstörung, ein aufgeblähter Staatsapparat, weitverbreitete Korruption, →Klientelismus und Nepotismus, ein zersplittertes Parteiensystem und schwache Institutionen. Boris Fausto, História do Brasil, São Paulo 2009. Horst Pietschmann u. a., Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt/M. 2000. Mary del Priore / Renato Venancio, Uma breve história do Brasil, São Paulo 2010. SV EN SCH U STER
Brazzaville ist die Hauptstadt und größte Stadt der heutigen Rep. Kongo (→Kongo-B.). Sie wurde von den Franzosen als kolonialer Verwaltungssitz gegründet und nach 127
b r A z z Av i l l e
ihrem Gründer, Pierre Savorgnan de Brazza (1852–1905), Offizier und Afrikareisender, benannt. B. (100 km², 1,2 Mio. Ew.) liegt am rechten Ufer des →Kongo, gegenüber Kinshasa (→koloniale Metropolen), der Hauptstadt der Demokratischen Rep. →Kongo (ehemals Leopoldville), mit dem eine Fährverbindung existiert. Die Wirtschaft B.s wird von der Erdölindustrie, der Lebensmittelindustrie sowie dem Handel bestimmt. Wichtigste ethnische Gruppen sind die Bakongo, Sangha, M’Bochi und Teke. Frankreich hatte seit 1882 mittels Schutzverträgen mit einheimischen Autoritäten die Etablierung eines →Protektorats für seine Handelsniederlassungen vorangetrieben und sich 1885 mit dem Kongo-Freistaat über den Grenzverlauf geeinigt. B. wurde 1898 Hauptstadt der Kolonie Congo-Français und ab 1910 zugleich Hauptstadt der Kolonialföderation Afrique Équatoriale Française. Die Kolonie schloß sich im →Zweiten Weltkrieg dem Bündnis France Libre unter Führung von General de Gaulle an und war von 1940 bis 1943 dessen Hauptstadt. Hier fand im Jan. 1944 die Konferenz von B. zur Zukunft des frz. Kolonialbesitzes statt. Die Stadt erlebte eine große Zuwanderung, expandierte v. a. nach der politischen Unabhängigkeit (15.8.1960) enorm und wurde v. a. in der sozialistischen Periode (1963–1990) stark ausgebaut. In jüngerer Vergangenheit kam es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen, einige Teile der Stadt wurden während des Bürgerkrieges 1997 stark in Mitleidenschaft gezogen. B. verfügt über einen Flughafen (Maya Maya) und ist mit anderen Landesteilen v. a. mittels einer Eisenbahnstrecke nach Pointe-Noire und Mbinda sowie dem Schiffsverkehr auf dem Kongo verbunden. Georges Balandier, Sociologie des Brazzavilles noires, Paris 21985. Elisabeth Dorier-Apprill, Abel Kouyama, Christophe Apprill, Vivre á Brazzaville, Paris 1998. Phylis Martin, Leisure and Society in Colonial Brazzaville, Cambridge 2002. T I L O GRÄT Z Brazzaville, Konferenz von. Die K. v. B. diente im →Zweiten Weltkrieg der Erweiterung der Bewegung des „Freien Frankreichs“ unter General Charles de Gaulle, dessen Truppen nach der Niederlage Frankreichs 1940 gegen das Vichy-Regime und Hitler-Deutschland kämpften. Vertreter von France Libre trafen sich hier mit hohen frz. Kolonialbeamten aus den afr. Kolonien, um ihre Koalition zu bekräftigen und den Kampf für die Befreiung des frz. Mutterlandes zu intensivieren. Neben de Gaulle und dem Kolonialminister René Pleven nahmen 20 frz. Gouv.e teil. →Brazzaville, Hauptstadt Frz.-Äquatorialafrikas, war seit dem 26.10.1940 Hauptstadt des Freien Frankreichs. Die Mobilisierung von Hilfskontingenten aus den afr. Kolonien mußte aber mit Zugeständnissen seitens der Kolonialverwaltung erkauft werden. De Gaulle versprach Reformen und eine grundlegende Neuordnung der Beziehungen zwischen dem „Mutterland“ und seinen Kolonien. Dem General ging es dabei nicht um Unabhängigkeit, sondern um die Schaffung einer „Frz. Union“ mit einer Teilautonomie der jeweiligen Territorien. Für eine Politik der „Assimilation“ sprach sich auch der einflußreiche Gouv. Félix →Eboué (1884–1944) aus. Auf der Konferenz wurde 128
daraufhin die „Deklaration von Brazzaville“ verfaßt, die vorsah, daß Frankreich mit allen Kolonialgebieten vereint bleiben würde, aber in jeder Kolonie halbautonome Parlamente eingerichtet werden würden. Zugleich sollten die Bürger der frz. Kolonien das Recht erhalten, Vertreter in die nach dem Krieg einzurichtenden verfassungsgebenden Versammlungen zu entsenden, sowie Vertreter in das frz. Parlament zu wählen. Der öffentliche Dienst sollte für die Bevölkerung der Kolonien geöffnet werden. Ein wesentlicher Punkt war auch die Abschaffung des Code de l’indigénat und damit u. a. der →Zwangsarbeit. Schließlich wurden wirtschaftliche Reformen hin zu einer stärkeren eigenständigen Entwicklung der Kolonialgebiete eingeleitet. Anton Andereggen, France’s Relationship With Subsaharan Africa, Westport 1994. Edward Mortimer, France and the Africans, 1944–1960, London 1969. Martin Shipway, Reformism and the French ‚Official Mind‘, in: Tony Chafer / Amanda Sackur (Hg.), French Colonial Empire and the Popular Front, Basingstoke 1999, 131–151. TILO G R Ä TZ
Breitengrad (lat. latitudo). Die geographische Breite ist ein wichtiger Faktor für das →Klima eines geographischen Ortes. Wichtige Ausnahmen entstehen z. B. durch kalte Meeresströme an der Küste (HumboldtStrom vor →Chile), große Höhen (→Kilimandscharo mit Gletschern am Äquator, knapp 6 000 m Höhe) und Kontinentalklima (Wüste Gobi mit Wechseln zwischen extrem hohen und tiefen Temperaturen). Die geographische Breite folgt den, zum Äquator parallel zu den Polen hin laufenden Breitenkreisen, die in jeder Richtung in 90 Grad eingeteilt sind. Die Lage jedes Ortes auf der Erde ist durch seine Koordinaten, d. h. geographische Breiten und Längen, eindeutig bestimmt. Die geographische Breite wird seit der Antike durch die Polhöhe gemessen. Die in der frühen Neuzeit verbreitete Methode, die Breite am mittäglichen Sonnenstand abzulesen, kann, je nach Position der Sonne, zu Abweichungen bis zu ca. 20 Grad führen; sie muß nach einem bereits von Ptolemaeus (1. Jh. n. Chr.) gelehrten Verfahren korrigiert werden. Claudius Ptolemaeus, Ptolemy’s Almagest, Princeton 1998. Fritz Schmidt, Geschichte der geodätischen Instrumente und Verfahren im Altertum und Mittelalter, Stuttgart 1988. U TA LIN D G R EN Bretton-Woods-System. Bezeichnung für das im Juli 1944 in Bretton Woods durch 44 Staaten der später als Organisation der Vereinten Nationen (UNO) agierenden Alliierten des →Zweiten Weltkrieges geschaffene Währungssystem, durch das die als Folge der Weltwirtschaftskrise in den meisten Ländern aufgehobene Währungskonvertibilität wieder hergestellt werden sollte. Nach dem Plan des am. Verhandlungsführers Harry D. White (1892–1948) sah es feste Wechselkurse der →Währungen der beteiligten Staaten mit Orientierung am goldunterlegten US-$ vor, der mit 1 Unze Feingold je 35 US-$ definiert war. Die Federal Reserve Bank wurde verpflichtet, ihr angebotene US-$-Beträge der Mitgliedsländer zu dieser Rate in Gold umzutauschen. Den Zentralbanken der Mitgliedsländer wurde vorgeschrieben,
bri ti s ch - Ä th i oP i s ch er kri eg
die Kurse ihrer Währungen an dem festgelegten Austauschverhältnis zum US-$ mit geringen Abweichungen zu orientieren. Nur im Falle „fundamentaler Zahlungsbilanzstörungen“ waren Ab- oder Aufwertungen gestattet. Damit sollte für die laufenden Zahlungen aus dem Waren- und Dienstleistungsverkehr die Konvertibilität innerhalb des Mitgliederkreises gesichert werden. Die Sowjetunion war kein Mitglied des Systems. Die von ihr abhängigen COMECON-Länder schieden um 1948 aus. Da jedoch auch die Ostblockstaaten und später die Volksrep. China im internationalen →Zahlungsverkehr den US-$ als Rechnungsgrundlage nutzten, wurde dieser de facto zur Leitwährung der →Weltwirtschaft. Die Bundesrep. Deutschland wurde 1949 Mitglied, Japan 1951. Die Schweiz trat ihm nie bei. Solange die →USA große Außenhandelsüberschüsse erzielten und dadurch der US-$ international knapp war, funktionierte das System, obwohl die Goldreserven der USA nicht in dem Maße wuchsen wie die Geldmenge. Die Kosten des VietnamKrieges (→Vietnam) und der Rüstung im „Kalten Krieg“ führten schließlich zu einer schleichenden Geldentwertung in den USA. Als 1969 Frankreich und in seinem Gefolge eine Reihe anderer Staaten versuchten, ihre in US-$ gehaltenen Währungsreserven in Gold einzulösen, waren die USA dazu nicht in der Lage. Am 15.8.1971 mußte Präs. Nixon die Verpflichtung zur Einlösung des US-$ in Gold aufheben. Damit brach das System international fester Wechselkurse zusammen. Als Folgereaktion verkauften zahlreiche Mitgliedsländer ihre Dollarbestände. Dies führte zur Abwertung des US-$. Am 1.4.1973 wurde das System von Bretton Woods formell aufgegeben. Der International Monetary Fund als Gemeinschaftsgründung der Bretton-Woods-Mitglieder ist weiterhin als Hilfseinrichtung bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten der Mitgliedsstaaten tätig. GE RHARD HUT Z L E R Bridgetown. Barbados, Parish Saint Michael, Hauptstadt des in der östlichen →Karibik gelegenen Staates →Barbados, Mitglied des →British Commonwealth of Nations, Sitz des Parliament of Barbados. 2006 zählte das beliebte Touristenzentrum 96 578 Ew., das 1628 als Indian Bridge an der Mündung des später Constitution River genannten Flusses gegründet und ca. 1654 in Town of Saint Michael umbenannt wurde; B. bildet das Zentrum der Carlisle Bay an der Südwestküste der durch tektonische Verschiebungen entstandenen Insel; gilt als ursprünglicher Siedlungsort der →Arawak, die von den Briten getötet oder eventuell nach St. Lucia vertrieben wurden. Seit der Mitte des 17. Jh.s diente B. als wichtiger Handelsplatz und Hauptumschlagplatz der Zuckerproduktion (→Zucker), 1654 Bau der Nidhe Israel Synagogue, die 1831 von einem Wirbelsturm zerstört wurde. Der heutige Bau entstand 1983; Christen und →sephardische Juden aus den Niederlanden und den ndl. Kolonien Recife/→Brasilien, Curaçao und Surinam gewannen als Investoren, Pflanzer und Händler große Bedeutung für die Entwicklung des barbadischen Zuckergewerbes und den Wohlstand B.s, das im Zuge der barbadischen Besiedlung der Carolinas als urbanes Rohmodel fungierte.
Richard Ligon, History of Barbados, London 1657. Verene Sheperd (Hg.), Slavery Without Sugar, Gainesville / Florida 2002. CLA U D IA SC H N U R MA N N Bristol. Hafenstadt in Südwestengland mit Stadtrechten seit 1155 und County-Status seit 1373. B.er Kaufleute in Sevilla investierten bereits im späten 15. Jh. in den Westafrika-Handel. Von hier aus startete Giovanni →Caboto (John Cabot) seine Übersee-Expeditionen und landete 1497 in Neufundland. Bis zum Beginn des 19. Jh.s profitierten B.er, die Plantagen auf den →Westind. Inseln besaßen, Kaufleute, Reeder und Industrielle vom →Sklavenhandel, engl. Exportwaren und Rohstoffen aus Nordamerika und von den karibischen Inseln und von den Zulieferer- und Weiterverarbeitungsindustrien des Transatlantikhandels in der Stadt selbst. Bedeutende heimische Tabak- und Zuckerverarbeitungsunternehmen entstanden ab 1618. Ab dem 18. Jh. verlor die Stadt allmählich ihre Vormachtstellung im brit. Atlantikhandel an ihre Konkurrenten Glasgow (→Tabak), Liverpool (Sklaven) und London (→Zucker). B.s Hafen war für die größeren Schiffe nicht mehr zureichend. Der Stadt fehlte das ökonomische Hinterland von dem die Konkurrenten profitierten, der Handel selbst wurde wenig risikofreudig und zunehmend als bilaterale Unternehmen hauptsächlich mit →Jamaika und Virginia betrieben. Madge Dresser, Slavery Obscured, Bristol 2007. Kenneth Morgan, Bristol and the Atlantic Trade in the Eighteenth Century, Cambridge 2004. David Harris Sacks, The Widening Gate, Berkeley 1991. R A IN G A RD ESSER Britisch-Äthiopischer Krieg. 1867/68 drang eine brit. Militärexpedition unter dem Kommando von General Robert Napier (1810–1890) in →Äthiopien ein. Ziel war die Befreiung der durch den äthiopischen Ks. Tewodros II. inhaftierten Europäer. Der Konflikt hatte seinen Ausgang zu Beginn der 1860er Jahre genommen, als Tewodros Großbritannien um Unterstützung bei der →Eroberung der Küstenregion und der Hafenstädte am Roten Meer bat, die türk. und ägyptisch besetzt waren. Äthiopien wollte sich damit den Zugang zum Meer sichern. Nachdem Großbritannien sich zunächst zustimmend geäußert hatte, änderte es seine Haltung, da es die Türken gegen Rußland unterstützten zu müssen glaubte. Ein Brief Tewodros an die brit. Kg.in Victoria mit der Bitte, Militärexperten zu senden und die Waffenproduktion in Äthiopien zu unterstützen, stieß auf Ablehnung im brit. Außenministerium und blieb unbeantwortet. Der brit. Konsul in Äthiopien, Hauptmann Cameron, erhielt die Weisung, Äthiopien zu verlassen. Er wurde jedoch unter dem Vorwurf, zum Schaden Äthiopiens tätig gewesen zu sein, verhaftet. Auch während der Verhandlungen über seine Freilassung 1866 erhielt Tewodros nicht die erhoffte militärische Unterstützung. Noch während der Gespräche fing Großbritannien mit der Vorbereitung einer Invasion an. Sie begann im Okt. 1867 mit ca. 15 000 Soldaten plus ca. 9 000 Mann Hilfstruppen. Später kamen noch Verstärkungen hinzu. Insg. werden die Kosten mit 9 Mio. £ angegeben. Die wichtigste Schlacht fand am 10.4.1868, einem Karfreitag, bei Aroge auf dem Weg nach Magdala, der damaligen Hauptstadt des abessini129
b r i t is c he s k ol o n i A lr ei c h
schen Reiches statt. Die Truppen Tewodros wurden vernichtend geschlagen. Tewodros versteckte sich in seiner Festung in Magdala und ließ am 11. Apr. die Europäer frei. Am 13. Apr. begann Napier mit dem Sturm auf die Festung, dem Tewodros nicht standhalten konnte. Er gab auf und erschoß sich selbst. AL KE DOHRMANN Britisches Kolonialreich. Die kolonialen Ambitionen Englands bzw. (seit 1707) Großbritanniens konzentrierten sich zunächst auf den am. Kontinent nördlich des span. Herrschaftsbereichs. Hier wurde, beginnend mit Virginia, seit dem frühen 17. Jh. eine Reihe von →Charterkolonien errichtet, die im Lauf des 17. Jh.s sämtlich in →Kronkolonien umgewandelt wurden. Auch in der →Karibik faßte England im 17. Jh. Fuß, insb. auf →Barbados (1627) und →Jamaika (1655/56). Hier, wie in den südlichen Kolonien auf dem nordam. Festland, versprach auf →Sklaverei basierende Plantagenwirtschaft hohe Gewinne, weshalb die Karibik im 17. Jh. besonders viele engl. Siedler anzog. Zur Sicherstellung des Nachschubs an Arbeitskräften wurden Stützpunktkolonien in Afrika (→Afrika, Brit.) errichtet (→Gambia, Goldküste, →Sierra Leone). Zweck des brit. K. war, den Handelsinteressen des Mutterlandes zu dienen. Hierzu war eine straffe direkte Herrschaftsausübung in den Kolonien weder erforderlich noch von London beabsichtigt. Die Siedler in den Kolonien hatten von Anfang an gewisse Mitspracherechte durch eigene Parlamente. Erforderlich war jedoch gemäß der herrschenden merkantilistischen Lehre die ökonomische Unterordnung der Kolonien unter die wirtschaftlichen Interessen Englands, die der →Board of Trade and Plantations durch die →Acts of Trade and Navigation sicherzustellen suchte. Waren deren Bestimmungen für die Siedler lange erträglich, so änderte sich dies nach dem →Siebenjährigen Krieg. London drängte nun auf Ausweitung seiner Herrschaftsrechte in den Kolonien, um diese zur Abzahlung der horrenden brit. Kriegsschulden heranzuziehen. Folge war die →Am. Revolution. Großbritannien verlor damit den Kern seines Empire. Der seit Mitte des 18. Jh.s in Großbritannien gängige Begriff „Empire“ bezeichnete den brit. Kolonialbesitz und die mit diesem verbundene brit. Flotten- und Handelsmacht. Der Verlust der nordam. Kolonien, der wegen des späteren Erwerbs →Kanadas nicht das Ende brit. Präsenz in Nordamerika bedeutete, wirkte sich volkswirtschaftlich nicht dramatisch aus, weil die kurz darauf beginnende →Industrialisierung, in der Großbritannien Vorreiter war, erhebliche Wachstumskräfte freisetzte. Der Merkantilismus wurde im 19. Jh. von der Idee des →Freihandels abgelöst. Handelspartner außerhalb des b. K.es (→USA, →Lateinamerika) gewannen für den brit. Überseehandel stark an Bedeutung, einige im Rahmen des →informellen Empire. Zum neuen Kern des b. K.es wurde →Indien, in dem die East India Company (→Ostindienkompanien) seit 1613 Handelsposten unterhielt und bis Ende des 18. Jh.s durch geschickte Positionierung in Auseinandersetzungen zwischen den zahlreichen ind. Fürstentümern zum bestimmenden Machtfaktor geworden war. Die Ausweitung des brit. Herrschaftsgebiets in Indien war kein von London geplanter und zentral gesteuerter Prozeß, 130
vielmehr wurde er von interessierten Akteuren vor Ort, von →men on the spot wie Robert →Clive oder Charles Napier vorangetrieben und erreichte sein Endstadium 1858 mit der Errichtung des →British Raj. Der strategische Schutz Indiens bzw. der Seewege von Großbritannien nach Indien und von Indien nach China spielte bei vielen weiteren Kolonialerwerbungen eine Rolle. Das galt für die →Kapkolonie, die nach dem →Burenkrieg in der →Südafrikanischen Union aufging, ebenso wie für →Ägypten, Brit.-Somaliland, Brit.-Ostafrika (→Kenia), Birma, die →Straits Settlements und die Federated Malay States (→Malaysia) sowie eine Reihe kleinerer Erwerbungen (Aden, Gibraltar, Malta, Zypern, →Mauritius, die →Malediven, die →Seychellen). Andere Kolonien wurden wegen interessanter Rohstoffe (z. B. →Nigeria wegen Palmöl) oder zwecks Herstellung einer Verbindung zwischen schon bestehenden Kolonien erworben, so der anglo-ägyptische →Sudan und →Uganda zur Verbindung von Ägypten mit Brit.-Ostafrika. Auch anderen Staaten zuvorzukommen konnte ein Motiv für die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs sein, so im Fall Rhodesiens (→Sambia, →Südrhodesien), das Cecil Rhodes vor dem Zugriff Belgiens bzw. Portugals als Baustein des von Rhodes erstrebten durchgehenden brit. Herrschaftsraums von Ägypten bis Südafrika sicherte. Dieser durchgehende Herrschaftsraum konnte realisiert werden, als nach dem Ersten Weltkrieg →Dt.-Ostafrika an Großbritannien fiel. Zentrum des b. K.es blieb jedoch, sowohl Lukrativität als auch Prestige betr., Indien, wo der brit. Monarch seit 1876 als Ks. firmierte und sein Vertreter, der Vize-Kg., quasiabsolutistisch waltete. In den meisten Kronkolonien herrschte man nach dem Prinzip der →Indirect Rule unter Mitwirkung lokaler indigener Würdenträger, ohne deren Kooperation die Herrschaftsausübung für Großbritannien wesentlich personal- und kostenintensiver gewesen wäre. Das Ende des b. K.es wurde zwischen dem Ersten und dem →Zweiten Weltkrieg absehbar, als die von europäischen Siedlern dominierten Kolonien endgültig die Unabhängigkeit erlangten (→Dominions), in Indien und den Kronkolonien der Widerstand gegen die brit. Herrschaft wuchs und in der brit. Bevölkerung die Meinung an Boden gewann, man habe nicht die Mittel, das weitgedehnte Empire, dessen Profitabilität immer fraglicher werde, dauerhaft aufrechtzuerhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sukzessive alle Kolonien mit Ausnahme Gibraltars und einiger kleiner Inselgruppen (Bermudas, →Falklandinseln, einige Inseln der →Antillen, →Pitcairn u. a.) aufgegeben. W. Roger Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, 5 Bde., Oxford 1998/99. Peter Wende, Das Brit. Empire, München 2008, 32011. CH R ISTO PH K U H L British Commonwealth of Nations. Seit 1926 offizielle Bezeichnung des aus Großbritannien und den →Dominions bestehenden Verbunds. Wurde Ende der 1940er Jahre in eine Organisation transformiert, die Großbritannien lose mit den Staaten verbindet, die vormals brit. Kolonien waren; Mitglieder des B.C. sind Antigua und Barbuda, →Australien, die →Bahamas, Bangladesch, →Barbados, Belize, Botswana, →Brunei, Dominica, →Fidschi (Austritt 1987, Wiedereintritt 1997; Mit-
bri ti s h no rth bo rn eo co mPAn y
gliedschaft 2000–2001 u. st. 1.09.2009 suspendiert), →Ghana, Grenada, Guyana, →Indien, →Jamaika, →Kamerun, →Kanada, →Kenia, Kiribati, Lesotho, →Malawi, →Malaysia, die →Malediven, Malta, →Mauritius, →Mosambik, das nie brit. Kolonie war, 1995 aber dennoch aufgenommen wurde, →Namibia, →Nauru, Neuseeland (→Aotearoa), →Nigeria, →Pakistan, →PapuaNeuguinea, →Ruanda (Beitritt 2009, war wie Mosambik nie brit. Kolonie), Saint Christopher u. Nevis, Saint Lucia, Saint Vincent und die Grenadinen, die →Salomonen, →Sambia, →Samoa, die →Seychellen, →Sierra Leone, →Simbabwe, →Singapur, →Sri Lanka, Südafrika, das wegen der →Apartheid 1961–1994 ausgeschlossen war, →Swasiland, →Tansania, Tonga, Trinidad und Tobago, Tuvalu, →Uganda, →Vanuatu sowie Zypern. →Simbabwe trat am 7.12.2003, →Gambia am 2.10.2013 aus. Alle Mitgliedstaaten des B.C. erkennen den brit. Monarchen als symbolisches Oberhaupt der Organisation an. Das B.C. hat zwar keinerlei Befugnis zur Mitgestaltung der politischen Verhältnisse in seinen Mitgliedsstaaten, erfüllt jedoch eine nicht unbedeutende Funktion als Plattform des Meinungsaustauschs und der Zusammenarbeit zwischen seinen Mitgliedsstaaten. Die Zusammenarbeit ist institutionalisiert im alle zwei Jahre stattfindenden Gipfeltreffen der Staats- und Reg.schefs der Mitgliedsstaaten sowie im „Commonwealth Institute“, der „Commonwealth Parliamentary Association“ und einer Reihe weiterer Institutionen. Charles Arnold Baker (Hg), The Companion to British History, London / New York 22001, 187f. Bernard Porter, Commonwealth of Nations, in: John Cannon (Hg.), The Oxford Companion to British History, Oxford 2002, 232f. CHRI S TOP H KUHL
British East India Company →Ostindienkompanien British Leeward Inseln sind die nördlichen Inseln der Kleinen →Antillen. Sie liegen, und daraus leitet sich ihr Name ab, auf der dem Wind abgewandten Seite („leeward“). Der südliche Teil der Kleinen Antillen wird „Windward Islands“ genannt. Die wichtigsten Inseln der BLI sind Nevis, St. Kitts, Barbuda, Redonda und Antigua. Hauptstadt der Föderation der Inseln Nevis und St. Kitts ist Basseterre. Im frühen 17. Jh. begann die Besiedlung dieser beiden vulkanischen Inseln. Durch das gesamte 17. und 18. Jh. war die Geschichte dieser Konföderation durch Auseinandersetzungen zwischen den frz. und engl. Kolonisten bestimmt. 1783 sicherte sich England die völlige Kontrolle über beide Inseln. Auch die anderen drei Inseln sind seit der Mitte des 19. Jh.s in einer Föderation zusammengeschlossen. Die ernsthafte Besiedlung dieser Inselgruppe begann erst nach 1650. Für die Wirtschaft aller Inseln war der →Tabak, dann der Zuckerrohranbau (→Zucker) in Plantagen wichtig. Geschützt wurden die Inseln durch ein eigenes engl. Marinekontingent, wozu Admiral Horatio Nelson (* 29. September 1758 in Burnham Thorpe, Norfolk/England, † 21. Oktober 1805 vor Kap Trafalgar/Spanien) 1784 auf Antigua einen Marinestützpunkt ausbaute. Nach einer vier Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung erhielt diese Inselgruppe 1981 ihre Unabhängigkeit von Eng-
land; Nevis und St. Kitts folgten zwei Jahre später in die Unabhängigkeit. John Davy, The West Indies Before and Since Slave Emancipation, London 1971. Elsa V. Goveia, Slave Society in the British Leeward Islands at the End of the Eighteenth Century, Westport ²1980. Frank W. Pitman, The Development of the British West Indies, New Haven CT, 1917. H ERMA N N WELLEN REU TH ER British North Borneo Company. Die BNBC wurde 1881 in London von Alfred Dent gegründet, um das Gebiet von →Nord-Borneo, dem heutigen malaysischen Bundesstaat Sabah, zu verwalten. Auf Grund von finanziellen Problemen hatte der Sultan von →Brunei das Gebiet bereits 1875 für eine jährliche Zahlung von 15 000 Straits Dollar an Baron Gustav von Overbeck (nicht verwandt mit Hans Friedrich →Overbeck) verpachtet. 1877 stieg Dent als anfänglicher Geldgeber bei Overbeck ein. Für den Sultan war dieses Gebiet ökonomisch völlig unbedeutend, so daß er nach seiner Sichtweise garantierte jährliche Einnahmen für praktisch nichts erhielt. Overbeck konnte keine großen Geldgeber für den Aufbau einer Kolonie in Deutschland oder Österreich finden und verkaufte seine Anteile 1880 an Dent weiter. Obwohl die Zeit der europäischen Handelskompanien spätestens seit der Auflösung der brit. East India Company (→Ostindienkompanien) 1858 vorbei schien, verwaltete die BNBC zur Überraschung vieler Beobachter in Großbritannien und Europa das Territorium sehr erfolgreich und fuhr bald ausreichende Gewinne ein. Diese anfänglichen Erfolge führten dazu, daß noch in den 1880er Jahren weitere Handelsgesellschaften nach dem Vorbild der BNBC gegründet wurden, v. a. in Afrika. Die dt. →Neu-GuineaCompagnie wurde ebenfalls nach dem Muster der BNBC ins Leben gerufen. Unter der autokratischen Führung Dents und des Direktors W.C. Cowie begann die wirtschaftliche Erschließung des Gebietes. Von Großbritannien bereits 1888 mit Protektoratsstatus ausgestattet (→Protektorat), begann die BNBC mit dem Ausbau der Hauptstadt Jesselton (ca. 160 km nördlich von Brunei gelegen, das heutige Kota Kinabalu). Der natürliche Hafen Sandakan an der Ostküste →Borneos wurde zu einem Zentrum für die Verschiffung von Tropenhölzern ausgebaut. Zur Erweiterung des Plantagenanbaus holte man chin. →Kulis ins Land. Die erste staatliche Schule für Einheimische wurde erst 1915 in Jesselton für die Söhne von einheimischen Oberhäuptern eröffnet und beinhaltete lediglich ein dreijähriges Curriculum in malaiischer Sprache. Die Ausbildung chin. Schüler blieb ausschließlich in den Händen der chin. Gemeinde. 1912 wurde endlich ein legislativer Rat geschaffen, um die wirtschaftlichen Interessen der Pflanzer und Chinesen zu vertreten. Hingegen gab es bis zur jap. Besetzung im Dez. 1941 keinerlei Versuche, der einheimischen Bevölkerung größere politische Teilhabe an der Entwicklung Nord-Borneos zuzugestehen. Nach Ende des →Zweiten Weltkriegs übergab die BNBC am 1.7.1946 NordBorneo als →Kronkolonie an Großbritannien, da sie die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg nicht mehr tragen konnte. Die BNBC wurde nach Begleichung ihrer Schulden aufgelöst. 131
b r i t is h r A j
Rainer Pape, Gustav Frhr. von Overbeck (1830–1894), in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 28 (1959), 163–217. K. G. Tregonning, Under Chartered Company Rule: North Borneo 1881–1946, Kuala Lumpur 1957, Ndr. 2007. HOL GE R WARNK British Raj. Nach der Unterdrückung der Revolte von 1857 (→Ind. Aufstand) verabschiedete das brit. Parlament 1858 den →Government of India Act, mit dem die Autorität auf die brit. Krone übertragen wurde, die in →Indien durch einen Governor General repräsentiert wurde, der ab 1858 auch den Titel eines Vize-Kg.s trug. Damit begann die Zeit, die als B.R. bezeichnet wird, und zwar durch die formale Übernahme der ind. Besitzungen der engl. Ostindienkompanie (→Ostindienkompanien) und dem Ende von deren Verwaltungshoheit (Company Raj). 1877 wurde Kg.in Victoria zur Ks.in von Indien (Kaisar-i-Hind) ausgerufen. Der Begriff Raj bezieht sich auf ein bestimmtes ind. Konzept von Herrschaft. Das B.R. stellte einen signifikanten Bruch im Hinblick auf die Reg.sführung und Verwaltung dar, die von einer kolonialen Beziehung zwischen Großbritannien und dem ind. Subkontinent gekennzeichnet war. In seiner öffentlichen Selbstdarstellung wurde es jedoch, ganz im Gegensatz dazu, in einer Rhetorik der lokalen Selbstbestimmung sowie der Anerkennung einheimischer Wissensressourcen und indigener Herrschafts- und Legitimitätsmechanismen propagiert. Die Inszenierung des ksl. Durbar – einer Audienz für sämtliche lokalen Statthalter der Krone – gegenüber den unterworfenen Herrschern verschiedener Fürstenstaaten war ein symbolischer Akt, der diese Teilhabe an indigenen Netzwerken und Praktiken der Machtausübung zum Ausdruck bringen sollte. Das Territorium des B.R. umfaßte Aden (von 1858–1937), Niederbirma (von 1858–1937), Oberbirma (von 1886–1937), Brit.-Somaliland (1884–98) und →Singapur (1858–67). Das B.R. verwaltete nicht den gesamten ind. Subkontinent (→Indien) direkt: in 40 % davon blieben ca. 560 Fürstenstaaten (Rajas und Nawabs, →Ind. Reiche) bestehen, die aber der brit. Macht und Vorrangstellung („paramountcy“) untergeordnet blieben. Viktorianische Institutionen dienten als Vorbilder, auf deren Basis sich die Reg. des B.R. gründete. Der Vize-Kg. residierte in den Hauptstädten →Kalkutta (bis 1911) und →Delhi. Er war die oberste legislative und exekutive Instanz und direkt dem Indienminister in London unterstellt. Der Subkontinent wurde in Provinzen (suba) eingeteilt, die jeweils durch einen Gouv. oder Vize-Gouv. verwaltet wurden. Die einzelnen Provinzen waren in „divisions“ unterteilt, die sich wiederum aus mehreren Distrikten (zilla), den kleinsten Verwaltungseinheiten, zusammensetzten. Der Posten des Distriktvorsteher („district officer“) war entscheidend für das Funktionieren des B.R., da dieser nicht nur für die Steuererhebung verantwortlich war, sondern auch eine richterliche Funktion innehatte. Die Distriktvorsteher und die Beamten des B.R. wurden durch den Indian Civil Service (ICS) ernannt. Zu Beginn wurden diese Stellen ausschließlich mit Briten besetzt, aber ab dem Ende des 19. Jh.s sah sich der ICS gezwungen, diese rassistisch motivierte Politik aufzugeben und auch erfolgreiche ind. Bewerber aufnehmen. Die unte132
ren Dienstränge des Beamtenapparats wurden dagegen in großer Zahl an einheimische Angestellte vergeben. Durch das B.R. wurden auch andere Institutionen eines modernen Staatswesens wie Polizei, →Justiz und Armee aufgebaut, wodurch bereits bestehende Strukturen sich wandelten. Die Entstehung dieses kolonialen Staatsapparates sicherte die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft des B.R. auf dem ind. Subkontinent für nahezu ein Jh. Die Legitimität, Autorität und Herrschaft des B.R. wurden durch verschiedene Bewegungen und Ideen von Anfang an in Frage gestellt. Insb. die Nationalbewegung (→Ind. Nationalismus) untergrub durch einen langwierigen, häufig gewaltlosen, antikolonialen Kampf stetig die Grundlage der Legitimität des B.R. Gerüchte über die Gründung eines →Gandhi Raj, die in verschiedenen Gegenden Indiens in den 1920er Jahren weit verbreitet waren, deuten den Autoritäts- und Legitimitätsverlust des B.R. an, das 1947 durch die Unabhängigkeit der neu gegründeten Nationalstaaten Pakistan und Indien (→Teilung Brit.-Indiens) offiziell aufgelöst wurde. S. a. →Indirect Rule. Christopher Bayly, Indian Society and the Making of the British Empire, Cambridge 1988. Samuel Burke / Salim Quraishi, The British Raj in India, Karachi 2004. Thomas Metcalf, Ideologies of the Raj, Cambridge 1994. N ITIN VA R MA / G ITA D H A R A MPA L-FRICK
British South African Company. Die B. war das Lebenswerk von Cecil John Rhodes (1853–1902), der kurz nach der Schule England verließ, um seinen nach →Natal (Südafrika) ausgewanderten Bruder zu besuchen. 1870 dort angekommen, investierte er sofort etwas Geld in die Diamantenausgrabungen von Kimberly. In den 1880ern machte er daraus ein Vermögen und zog in die →Kapkolonie, um Politiker zu werden. Seine Vision war die Ausweitung des British Empire vom Kap bis nach →Kairo, das Nahziel der Zusammenschluß der Afrikaner-Rep.en (‚Boer republics‘) unter brit. Oberherrschaft mit der Kapkolonie als dominierendem Machtzentrum. Immer wieder versuchte Rhodes, den ‚Afrikaner Bond‘ als den größten Wählerblock im Parlament abzuwerben. Paul Kruger jedoch wollte einen republikanischen Staat, der frei von brit. Einfluß war. Die Erschließung der reichen Goldfelder von Johannesburg brachten Kruger und die ZAR (Südafr. Rep.) in eine vorteilhafte Position. Rhodes war entschlossen, Kruger zu beseitigen, doch es fehlte ihm die direkte politische Macht über die Afrikaner-Rep. von →Transvaal. Dazu gründete er 1889 die B. und übernahm 1890 das Amt des Premierministers der Kapkolonie. Der Afrikaner Bond gewährte ihm, das Diamantenmonopol von ‚De Beers Consolidated Mines‘ zu behalten und zugleich als Premierminister wie auch Vorsitzender der B. zu fungieren. Die B. und ihre Polizeitruppen wurden zur →Eroberung von Mashonaland (Ende 1890) und Matabeleland (Ende 1893) eingesetzt. Die neuen Kolonien wurden Süd- und Nordrhodesien genannt, heute tragen sie die Namen →Simbabwe und →Sambia. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. http://www.sahistory.org.
bro o k e, j Am es
za/pages/people/bios/rhodes-cj.htm (South African History Online; 24.08.2013). ANNE KI E JOUBE RT Brooke (s. 1852, urspr. Johnson), Charles, * 3. Juni 1829 Berrow, Somerset, England, † 17. Mai 1917 Cirencester, Gloucestershire, England, □ Sheepstor, Dartmoor, anglik. Charles Anthony Johnson wurde 1868 der zweite weiße Raja von →Sarawak. Nach seinem Dienst bei der Royal Navy trat er 1852 in die Verwaltung seines Onkels James →Brooke in Sarawak ein und übernahm dessen Namen. Er erhielt zunächst den Posten als Resident von Lundu, wo er sich bewährte. 1865 bestimmte ihn sein Onkel offiziell als seinen Nachfolger in Sarawak. Unter B. wurde das Gebiet Sarawaks nochmals weiter nach Norden ausgedehnt und erreichte seine heutige Ausdehnung. Seine Herrschaft galt als unnachgiebig und autokratisch. Innenpolitisch setzte er die Politik seines Onkels fort. B. hatte lange Zeit bei den Iban verbracht. Die Unterdrückung von Piraterie, →Sklaverei und Kopfjagd, v. a. bei den Iban, waren Hauptziele seiner Verwaltung, während er gleichzeitig versuchte, die Erschließung des Territoriums weiter voranzutreiben und Wirtschaft und Handel auszubauen. Die Einwanderung chin. Siedler zum Aufbau von Plantagen wurde stark gefördert. Staatliche Schulen wurden eingerichtet. 1891 gründete B. das Sarawak Museum. 1888 wurde er in England geadelt. Am 28.10.1869 heiratete er Margaret Alice Lili de Windt, die den Titel Ranee von Sarawak erhielt. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, von denen die ersten drei jung starben. Nach Bs. Tod wurde sein Sohn Charles Vyner →Brooke als sein Nachfolger eingesetzt. HOL GE R WARNK Brooke, Charles Vyner, * 26. September 1874 London, † 9. Mai 1963 London, □ Sheepstor, Dartmoor B. wurde 1917 der dritte und letzte weiße Raja von →Sarawak. Als ältester noch lebender Sohn von Charles →Brooke wurde er am 24.5.1917 offiziell als Raja eingesetzt. Geboren und aufgewachsen in London, trat er 1897 zunächst als District Officer in den Verwaltungsdienst in Sarawak ein, später wurde er Resident mehrerer Distrikte und von 1904 bis 1911 Vize-Präs. des Obersten Gerichtshofs von Sarawak. Von 1911 bis 1913 leistete er Militärdienst in London, während des Ersten Weltkriegs diente er inkognito als Gefreiter bei einer Luftabwehreinheit, danach als Mechaniker bei einer Flugzeugfabrik in London. 1911 heiratete er in England Sylvia Brett, die spätere Ranee von Sarawak, die einen wichtigen autobiographischen Bericht über ihr Leben in →Borneo verfaßte. Im Gegensatz zu seinem Vater leitete B. die Geschicke Sarawaks mit einer gewissen laissez-faireAttitude und wurde dadurch in der Bevölkerung recht populär. Die ersten Jahre seiner Herrschaft profitierten vom Kautschuk-Boom der 1920er Jahre und den ersten ergiebigen Erdölförderungen bei Miri an der Grenze zu →Brunei, was Sarawak hohe Einnahmen bescherte. Dadurch konnte die graduelle Modernisierung des Staates durch eine Reform der Verwaltung und der Einführung eines →Strafrechts (1924) nach ind. Vorbild vorangetrieben werden. B. schränkte die Tätigkeit der christl. Mission in Sarawak stark ein und stärkte dadurch die indi-
genen Religionen – die Kopfjagd blieb jedoch weiterhin verboten. 1927 wurde er in England geadelt. Im Sept. 1941 erließ B. eine Verfassung, die die Selbstverwaltung des Gebiets durch die Familie B. absicherte, durch die Kriegsereignisse im Pazifik jedoch obsolet wurde. Am 25.12.1941 landeten jap. Truppen in Sarawak und überrannten die schwachen alliierten Streitkräfte. B. konnte rechtzeitig fliehen und verbrachte den Krieg im australischen Sydney. Am 15.4.1946 kehrte er nach Sarawak als Raja zurück. Die hohen Kosten des Krieges brachten ihn dazu, Sarawak an die brit. Krone abzutreten, nicht ohne bittere Familienstreitigkeiten. Am 1.7.1946 übergab er Sarawak an die Briten als →Kronkolonie, durfte allerdings seine Titel und eine Pension behalten. Nur wenige Monate nach seinem Tod sollte Sarawak zusammen mit →Sabah, →Singapur und der Föderation Malaya die neue Föderation →Malaysia bilden. Sylvia Brooke, Queen of the Head-Hunters, Oxford 1970, 2 1990. Robert Pringle, Rajahs and Rebels. The Ibans of Sarawak Under Brooke Rule 1841–1941, Kuala Lumpur 1963, 22007. Naimah S. Talib, Administrators and their Service, Shah Alam 1999. H O LG ER WA R N K Brooke, James, * 29. April 1803 Secrore (Benares) / Indien, † 11. Juni 1868 Burrator, Devon, England, □ Sheepstor, Dartmoor B. wuchs in Indien auf und wurde mit 12 Jahren von seinen Eltern zur Schule nach England geschickt. Mehrfach von den brit. Schulen fortgelaufen, kehrte er 1819 nach Indien zurück und trat in die Bengalische Armee der brit. East India Company (EIC, →Ostindienkompanien) ein. Er wurde im Ersten Anglo-Burmesischen Krieg in Assam eingesetzt und 1825 schwer verwundet. Zur Ausheilung der Verletzungen kehrte er nach England zurück. 1830 ging er wieder nach Indien, durfte aber in sein Regiment nicht mehr eintreten. Daraufhin versuchte B. sein Glück als Händler in →Südostasien und kaufte von seinem erworbenen Kapital 1833 einen Segelschoner. 1838 lernte er in →Singapur Pangeran Muda Hassim, den Ersten Minister von →Brunei kennen, der dort um Unterstützung gegen eine Rebellion von verschiedenen Iban-Gruppen (die dominante →Ethnie in Nordwestborneo) warb. Durch B.s Hilfe konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Als Belohnung erhielt B. am 24.9.1841 den Titel „Raja von →Sarawak“ zuerkannt, als Ort seiner Herrschaft wurde ihm Kuching an der Mündung des Sarawakflusses an der Nordwestküste →Borneos zugewiesen. Nach mehreren Versuchen von Adeligen aus Brunei, B. von Sarawak zu vertreiben, wurde ihm 1846 sein Titel nochmals offiziell durch den Sultan Omar Ali Saifuddin II. von Brunei bestätigt. B. gelang es in dieser Zeit, die internen Fraktionskämpfe in Brunei zu seinem Vorteil auszunutzen. Er konnte 1843 sogar Schiffe der EIC unter dem Kommando von Henry Keppel zur Teilnahme an Expeditionen gegen angebliche Piraten in Sarawak gewinnen, was mit der EIC nicht abgesprochen und somit illegal war. B. begann nach 1846 seine Herrschaft zu konsolidieren und seinen „Privatstaat“ zu verwalten. Hierzu konnte er eine ganze Reihe befähigter brit. Kolonialbeamter anwerben (Hugh →Low, Spencer St. John u. a.). Schulwesen und medizinische Versorgung 133
bruce, jAmes
wurden zunächst von der anglik. Mission übernommen. 1847/48 kehrte B. zeitweilig nach London zurück, wo man ihn zum brit. Generalkonsul von Borneo ernannte und ihn zum Knight Commander of the Order of Bath schlug. Durch mehrere Verträge konnte er bis 1861 sein Territorium bis weit nach Bintulu ca. 700 km nordöstlich von Kuching ausdehnen. 1863 kehrte B. für immer nach England zurück. Erst in diesem Jahr wurden seine Herrschaftsansprüche von Großbritannien offiziell anerkannt. Unverheiratet und ohne legitime Nachkommen übertrug er die Verwaltung Sarawaks an einen seiner Neffen, Charles Anthony Johnson, der den Nachnamen B. annahm. Nigel Barley, White Rajah: A Biography of Sir James Brooke, London 2002. John H. Walker, Power and Prowess. The Origins of Brooke Kingship in Sarawak, Honolulu 2002. HOL GE R WARNK Bruce, James, Elgin, 8th Earl of E. and 12th Earl of Kincardine, * 20. Juli 1811 London, † 20. November 1863 Dharamsala (Indien), □ Friedhof St. John in the Wilderness, Dharamsala, anglik. Aus einer verarmten schottischen Adelsfamilie stammend, in der er das erste von acht Kindern war, blieb B. nur die Möglichkeit, eine Laufbahn im brit. Staatsdienst einzuschlagen. Nach dem Studium der klassischen Sprachen in Eton und Oxford war er kurzzeitig Unterhausabgeordneter für Southampton (1841) und wurde im Folgejahr zum Gouv. von →Jamaika ernannt. Nach der Beförderung zum Gen.-gouv. von Brit.-Nordamerika (1846) engagierte er sich für eine grundlegende Reg. sreform und den Abschluß eines Gegenseitigkeitsvertrages zwischen →Kanada und den →USA (1854). Als Kommissar mit außerordentlichen Vollmachten in den Fernen Osten entsandt (1857), half B. bei der Sicherung der brit. Herrschaft über Indien und führte in China einen militärisch erfolgreichen Angriff auf →Kanton, in dessen Folge der für brit. Handelsinteressen günstige Vertrag von Tientsin (26.6.1858) abgeschlossen werden konnte. Nachdem B. einen ähnlichen Vertrag mit Japan unterzeichnet hatte (26.8.1858), wurde er in Großbritannien als Held gefeiert und zum Generalpostmeister (1859–1860) und Lordrektor der Universität Glasgow (1859–1862) ernannt. Wegen der militärischen Niederlage seines Bruders Frederick (1814–1867) in China, der als brit. Gesandter auf dem Weg nach Peking gewesen war, wurde B. 1860 erneut nach Ostasien entsandt. Sein Marsch mit brit.-frz. Truppen auf Peking endete mit der Zerstörung des ksl. Sommerpalastes und der Besetzung der Hauptstadt (Okt. 1860). Mit der Ernennung zum Vize-Kg. von Indien (1862) erreichte er den Höhepunkt und das Ende seiner Laufbahn. Obwohl B. als typischer Repräsentant des brit. Imperialismus gilt, war der zweifellos mutige und fähige Staatsbeamte kein entschiedener Verfechter einer erzwungenen Handelspolitik gegenüber China und Japan, sondern sympathisierte mit den Interessen der einheimischen Bevölkerung, was ihm Kritik von Zeitgenossen einbrachte. Als seine wichtigste Leistung gilt allg. die Reform des kanadischen Reg.ssystems im liberalen Sinne. 134
Olive Checkland, Bruce, James, in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 8, 307–311. Sydney Checkland, The Elgins 1766–1917, Aberdeen 1988. BERT B EC K ER Brunei. Das Sultanat B. liegt an der Nordküste →Borneos und ist heute für seinen Erdölreichtum und als eine der letzten absoluten Monarchien auf der Welt bekannt. Die Ursprünge des Staates liegen im Dunkeln, jedoch nimmt man an, daß B. mit dem aus chin. Quellen des 12. Jh.s bekannten P’o-ni identisch ist. Im 14. Jh. wurde B. als einer der von dem Großreich Majapahit tributpflichtigen Staaten in altjavanischen Texten erwähnt. Malaiischen Quellen zufolge wurde B. im 15. Jh. von →Malakka aus islamisiert. Die erste ausführliche europäische Beschreibung stammt aus der Hand von Antonio →Pigafetta, der 1521 mit den Überlebenden der Expedition von Magellan B. erreichte, das zu dieser Zeit bereits ein erfolgreiches Handelszentrum an der Route von →Ternate und →Tidore im Osten →Indonesiens und von Süden aus →Java nach China war. Neben →Nelken, →Muskat, →Pfeffer, ind. Stoffen, →Salz oder →Reis wurden auch einheimische Produkte Borneos wie Gold, →Vogelnester, Sago, Holz, Baumharze, Wachs oder Rottan gehandelt. In seiner Blütezeit vom 16.–18. Jh. beanspruchte B. die Oberherrschaft über die Küsten Borneos von →Sarawak im Westen nach Sabah im Norden, die Ostküste Borneos bis zu den heutigen indonesischen Erdölgebieten von Balikpapan, den Sulu-Archipel sowie die Inseln der →Philippinen von Palawan bis zur Bucht von →Manila. Als sich die Spanier 1565 in Manila etablieren konnten, erkannten sie diese Ansprüche nicht an, was zu Konflikten mit B. führte. Im 17. Jh. verbündete sich B. zeitweise mit der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) im Kampf gegen die Spanier in Indonesien, blieb aber weitgehend von den territorialen Expansionsbestrebungen der VOC verschont. Bürgerkriege und Machtstreitigkeiten in der Sultanslinie schwächten B. im 18. und frühen 19. Jh. immer mehr. B.s Gebiete in den Philippinen wurden im 17. und 18. Jh. dem span. Herrschaftsbereich einverleibt. Angesichts erneuter innerer Probleme wurde 1841 der engl. Abenteurer James →Brooke zur Unterstützung gegen Rebellionen angeheuert. Als Belohnung für seine erfolgreiche Hilfe erhielt er am 24.9.1841 den Titel „Raja von Sarawak“, als Ort seiner Herrschaft wurde ihm Kuching an der Mündung des Sarawakflusses an der Nordwestküste Borneos zugewiesen. Bis 1905 konnten B. und seine Nachfolger nahezu das gesamte nordwestliche Borneo unter ihre Kontrolle bringen. Finanzielle Probleme brachten den Sultan von B. 1881 dazu, das Gebiet von →Nord-Borneo (das heutige Sabah) für eine jährliche Zahlung von 15 000 Straits Dollar an Alfred Dent und seine →British North Borneo Company abzutreten, wodurch B. auf sein heutiges Staatsgebiet, einen kleinen Küstenstreifen in Borneo, reduziert wurde. Der politische Druck aus Sarawak, Nord-Borneo und der brit. Kolonialmacht in der malaiischen Halbinsel auf B. wurde in den letzten Dekaden des 19. Jh.s immer größer, so daß der Sultan 1906 einen brit. „Berater“ nach Vorbild des Residentensystems in Brit.-Malaya an seiner Seite akzeptieren mußte, der nahezu alle Reg.sgeschäfte übernahm. Die ersten Erdölvorkommen wurden
bu ch d ru ck , k o lo n iA ler, i n lAtei nA m eri k A
1903 entdeckt, bereits 1910 wurden erste Bohrtürme und 1914 erste Pipelines gebaut. Die Erdölproduktion stieg bis zur Weltwirtschaftskrise stetig an. 1929 wurde das große Seria-Ölfeld entdeckt, das von Royal Dutch / Shell ausgebeutet wurde. Ab 1949 war B. der wichtigste Erdöllieferant für Großbritannien. Die Entdeckung weiterer Ölfelder vor der Küste 1963 ließ die Offshore-Ölförderung zu B.s Markenzeichen werden. Heute wird ca. die Hälfte von B.s Erdöl- und Erdgasförderung nach Japan geliefert. Die reichhaltigen Ölfunde sorgten dafür, daß B. und Sarawak zu den ersten Angriffszielen der Japaner im →Zweiten Weltkrieg gehörten. Am 16.12.1941 landeten in Kuala Belait jap. Truppen, die innerhalb von sechs Tagen den brit. Widerstand brachen. Nach dem Krieg gelangte B. wieder unter brit. Herrschaft. 1959 erhielt B. eine Teilautonomie unter der Bedingung der Einführung einer Verfassung. 1971 wurden diese und die volle interne Selbstverwaltung gewährt, während allerdings in außen- und sicherheitspolitischen Fragen die Souveränität eingeschränkt blieb. Eine Revolte der Volkspartei B.s (Parti Rakyat Brunei) unter Syeikh Azahari im Dez. 1962 wurde von den Briten umgehend niedergeschlagen. Die Verfassung wurde außer Kraft gesetzt, der daraufhin ausgerufene Notstand war bis 1980 in Kraft. Sultan Omar Ali Saifuddin III. gelang es, die absolute Monarchie zu bewahren. 1967 trat er zugunsten seines Sohnes Hassanal Bolkiah zurück, der bis heute die Geschicke B.s lenkt. Aus Furcht vor dem Verlust der absoluten Herrschaft und der Kontrolle über die Ölförderung trat B. 1963 nicht der neuen Föderation →Malaysia bei. 1984 erhielt der Staat als B. Darussalam die volle Unabhängigkeit und wurde Mitglied der ASEAN. Der 5 765 km² große Kleinstaat ist in die vier Distrikte Belait, Tutong, B. und Temburong unterteilt. Ökonomisch ist B. nahezu ausschließlich von seinen Erdöl- und Erdgasvorkommen abhängig. B. hat heute ca. 350 000 Ew., von denen ca. 75 000 aus dem Ausland angeworbene Arbeiter sind. B. ist eine absolute Monarchie, politische Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Arbeit politischer Parteien sind stark eingeschränkt. G. Braighlinn, Ideological Innovation Under Monarchy, Amsterdam 1992. Johannes C. Franz, Das Sultanat Brunei, Nürnberg 1980. Graham Saunders, A History of Brunei, Kuala Lumpur 1994. HOL GE R WARNK Bry, (Johann) Theodor (auch Dietrich bzw. Dirk), * 1528 Lüttich † 27. März 1598 Frankfurt/M., □ unbek., ev.-ref. B. verließ um 1570 als Glaubensflüchtling die Niederlande und ließ sich nach Zwischenstationen in Straßburg, Antwerpen (1577–1585), wo er Mitglied der Goldschmiedegilde wurde, und London (1586–1588), wo er mit dem Geographen und Publizisten Richard Hakluyt zusammenarbeitete, in Frankfurt nieder. 1590 begann er mit der Herausgabe zweier Sammlungen von Reiseberichten, der Collectiones peregrinationum in Indiam orientalem et Indiam occidentalem. Das Unternehmen wurde nach seinem Tod zunächst von seinen Söhnen Johann Theodor (1561–1623) und Johann Israel (1570–1611), später von Johann Theodors Schwiegersohn Matthäus Merian (1593–1650) fortgeführt. Die reich illustrierten Serien (bis 1634 insgesamt 25 Teile
mit ca. 1 500 Kupferstichen), die in dt. und lateinischer Sprache erschienen, stellen eine umfangreiche Chronik der europäischen Endeckungsgeschichte von Kolumbus bis zu den überseeischen Unternehmungen der Engländer und Niederländer im frühen 17. Jh. dar. Sie haben das Außereuropa-Bild des gebildeten (protestantischen) europäischen Publikums seiner Zeit maßgeblich geprägt, aber auch zur Verbreitung anti-span. und exotischer Stereotypen beigetragen. Susanna Burghartz (Hg.), Inszenierte Welten / Staging New Worlds, Basel 2004. MA RK H Ä BER LEIN Buchdruck, kolonialer, in Lateinamerika. Bereits wenige Jahrzehnte nach der Ankunft der Europäer in →Amerika etablierte sich der B. in den Hauptstädten der beiden span. →Vize-Kgr.e Neu-Spanien und →Peru. Die erste Druckerpresse auf dem am. Kontinent wurde 1539 auf Initiative des dortigen Bischofs, des Franziskaners Juan de →Zumárraga, in Mexiko-Stadt in Betrieb genommen, nur wenige Jahre nach der →Eroberung der Aztekenmetropole Tenochtitlán. Der vermutlich erste Drucker war Giovanni Paoli (Juan Pablos), ein Mitarbeiter des Druckerhauses Juan →Cromberger in Sevilla, das auch den Bücherhandel nach Hispanoamerika kontrollierte. Im Laufe des 16. Jh.s kamen weitere Drucker aus Europa in die wichtigste Stadt auf dem am. Kontinent, u. a. der seit ca. 1600 nachweisbare Hamburger Heinrich →Martin. Ab 1584 betrieb der vorher in →Mexiko tätige Drucker Antonio Ricardo in →Lima die erste Presse Südamerikas. Die span. Krone vergab zunächst nur sehr selten die Erlaubnis zur Einrichtung von Druckwerkstätten in Amerika. Im 17. Jh. geschah das außerhalb der beiden kolonialen Zentren nur in Puebla de los Angeles und in →Guatemala. Die Druckereien standen in enger Verbindung mit den politischen und kirchlichen Machtzentren in Amerika. An der Wende zum 18. Jh. konnten sich dann auch die Jesuitenmissionen (→Jesuiten) im Rio de la Plata-Gebiet zu wichtigen Druckereizentren entwickeln. Mit der zunehmenden politischen Dezentralisierung wurden im Laufe des 18. Jh.s schließlich in vielen neu entstehende Verwaltungseinheiten in ganz Hispanoamerika Druckerpressen eingerichtet. Es war mit so großem Prestige verbunden, über eine Druckmöglichkeit vor Ort zu verfügen, daß die neu geschaffenen Vize-Kgr.e Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) (1739) und Rio de la Plata (1776) ihre Hauptstädte Bogota und →Buenos Aires mit Pressen ausstatteten, die in benachbarten Zentren zwangsweise rekrutiert worden waren. Im Gegensatz zu der prinzipiell aufgeschlossenen Haltung der span. Krone war die port. Veröffentlichungspolitik in Amerika sehr restriktiv. Im 18. Jh. wurden in →Brasilien einige Werke ohne Autorisation gedruckt. Eine Druckerei mit offizieller Genehmigung nahm aber erst Anfang des 19. Jh.s im Rahmen der Übersiedlung des port. Kg.shofs nach Brasilien ihre Arbeit auf. Während der gesamten Kolonialzeit wurden in größerem Umfang Bücher aus Europa importiert und rezipiert. Die Leserschaft dieser Werke beschränkte sich auf eine kleine Gruppe gebildeter Kolonialbeamter, Geistlicher, Gelehrter und wohlhabender Bürger, die nicht nur kirchliche und universitäre Bibliotheken, sondern auch um135
b u c hdr u c k, ko lo n i A ler , i n s ü d o s tA s i e n
fangreiche Privatbibliotheken zusammentrugen. Die meisten dieser Werke wurden aus Spanien eingeführt. Aber das in Amerika entstehende eigenständige kulturelle und intellektuelle Leben manifestierte sich auch in eigenen Druckwerken. Den Anstoß zur Etablierung von Druckerpressen vor Ort gaben die Christianisierung der indigenen Bevölkerung und die in Hispanoamerika neu gegründeten Universitäten, denn der durch die Bildungsund Missionsaufgaben entstehende Bücherbedarf konnte nicht allein über Importe gedeckt werden. Die Mehrheit der gedruckten Werke waren zunächst religiöse Texte in indigenen Sprachen sowie Grammatiken und Sprachlehrwerke für Missionare, aber auch Universitätsschriften. Im 16. Jh. wurden in Mexiko ca. 200 Bücher gedruckt, das erste Werk erschien vermutlich 1539 unter dem Titel „Breve y más compendiosa doctrina cristiana en lengua mexicana y castellana“. Auch das erste in Peru hergestellte Buch war ein Katechismus: „Doctrina cristiana y catecismo para instrucción de los indios“ (1584), der im Anschluß an das Dritte Konzil von Lima (1582/83) veröffentlicht wurde. Diese am. Themen und Sprachen ließen sich nach Meinung einflußreicher Kirchenvertreter in Spanien nicht angemessen bearbeiten, weshalb sie sich mit Erfolg bei der Krone für Einführung und Verbreitung des B.s in Amerika einsetzten. Allerdings war die Haltung der Kirche insg. in dieser Frage widersprüchlich, da zwischen den Erfordernissen der Missionierung und den Ansprüchen der Inquisition erhebliche Gegensätze bestanden. So wurden die Bücherimporte kontrolliert und bei Verdacht auf Häresie ganze Büchersendungen verbrannt. Für jedes in Spanien und in Amerika hergestellte Werk mußte eine Druckerlaubnis eingeholt werden. Die Kontrollen und Vorschriften wurden in der Praxis aber häufig umgangen. Im Zuge der Missionierung entstanden erste ethnographische Studien über die autochthone Bevölkerung und wissenschaftliche Beschreibungen des Kontinents, die aber meist noch in Spanien gedruckt wurden. Im 17. Jh. erweiterte sich das Themenspektrum und die Anzahl der in Amerika publizierten Schriften erheblich. So wurden allein in Mexiko ca. 1 200 Werke veröffentlicht. Neben religiösen und philosophischen Texten erschienen jetzt auch verstärkt geschichtliche, naturkundliche und belletristische Werke sowie gedruckte Predigten. Darunter waren Arbeiten der bedeutenden Autoren Sor Juana Inés de la Cruz und Carlos Sigüenza y Gongóra. Im Laufe des 18. und Anfang des 19. Jh.s wurden zunehmend Flugschriften und die neu entstehenden Zeitschriften und Zeitungen gedruckt, die eine wichtige Rolle bei der Politisierung der Bevölkerung und der Entwicklung von Unabhängigkeitsbestrebungen spielten. In →Mesoamerika knüpfte die Herstellung von Büchern an die Tradition der Erstellung bedeutender vor-span. →Codices an. In Mexiko wie auch in den Jesuitenmissionen am Rio de la Plata waren indigene Handwerker an der Buchherstellung beteiligt, besonders an den Illustrationen und am Setzen der Werke in indigenen Sprachen. In ganz Iberoamerika variierten die produzierten Druckerzeugnisse stark in ihrer handwerklichen Güte, bedingt sowohl durch das unterschiedliche Geschick der Drucker als auch durch wiederholte Versorgungsengpässe bei wichtigen Arbeitsmaterialien wie Lettern und Druckfar136
ben. Dennoch entsprachen die in Hispanoamerika gedruckten Werke inhaltlich wie auch technisch den damals in Europa herrschenden Qualitätsstandards. Der ständige Mangel an Papier, das aus Europa importiert wurde, beeinträchtigte allerdings das Druckgewerbe während der gesamten Kolonialzeit. Die Werke erschienen daher oft in sehr kleinen Auflagen, so daß von vielen im kolonialen Iberoamerika gedruckten Büchern keine oder nur wenige Exemplare erhalten geblieben sind. Inwieweit am. Drucke auch in Europa verbreitet wurden, bleibt ein Desiderat der Forschung. Joaquín García Icazbalceta, Bibliografía mexicana del siglo XVI. Catálogo razonado de libros impresos en México de 1539 a 1600, Mexiko-Stadt Ndr. 1954. Julie G. Johnson, The Book in the Americas, Providence R.I. 1988. José Toribio Medina, Historia de la imprenta en los antiguos dominios españoles de América y Oceanía, 2 Bde., Santiago de Chile 1958. WIEBK E V O N D EY LEN
Buchdruck, kolonialer, in Südostasien Die Geschichte des kolonialen Buchdrucks in →Südostasien verlief regional unterschiedlich und in mehreren Etappen. Wie in Lateinamerika wurden Druckereien erstmals durch die Spanier eingeführt, die seit dem späten 16. Jh. ihre Herrschaft auf den →Philippinen etablierten. Das erste bekannte dort gedruckte Buch war „Doctrina Christiana“ in Kastilisch und Tagalog und erschien 1593 im Dominikanerkonvent von San Gabriel in →Manila. Die katholische Kirche spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Buchdrucks in den Philippinen und damit einhergehend auch bei der Einführung und Durchsetzung der lateinischen Schrift. Einige wenige Bücher wurden in einheimischen Schrifttypen (z. B. Ilokano in der Baybayin-Schrift) gedruckt, jedoch stellte man dies rasch ein, da die zahlreichen existierenden philippinischen Schriftsysteme in lokalen Sprachen in der Entwicklung von Druckstöcken teuer, unrentabel und im Gebrauch lokal begrenzt waren. Außer christlichen Texten in den Lokalsprachen wurden bald Grammatiken und Wörterbücher sowie Texte in Spanisch gedruckt. Neben den Dominikanern waren ab dem frühen 17. Jh. auch die Franziskaner und die Jesuiten im Buchdruck aktiv. „Successos Felices“, die erste Zeitung Südostasiens, erschien 1637 bei der Druckerei der Dominikaner und umfaßte 14 Seiten. Bücher aus den Philippinen zeigen im 17. und 18. Jh. die enge Verbindung zwischen katholischem Klerus und spanischer Kolonialmacht. So erschienen Bücher im Auftrag des Gouverneurs bzw. der Kolonialverwaltung, die gleichzeitig durch den Bischof von Manila herausgegeben wurden. Erst im späten 19. Jh. setzte sich eine stärkere Trennung von Kirche und kolonialem Buchdruck durch. Für die katholische Mission wurden weiterhin christliche Bücher, Grammatiken und Wörterbücher in den Philippinen gedruckt. Während der amerikanischen Kolonialzeit (1898–1946) wurden verstärkt Alphabetisierungskampagnen gestartet, was eine Ausweitung insbesondere der kolonialen Schulbuchproduktion in Lokalsprachen wie Tagalog, Ilokano, Cebuano, Maguindanao oder Tausug zur Folge hatte. Englisch löste Spanisch als Verwaltungssprache für offizielle Veröffentlichungen ab.
bu ch d ru ck , k o lo n iA ler, i n s ü d o s tA s i en
Während dieser Zeit konnten erstmals auch Filipinos eigene Verlage und Druckereien gründen. Die erste Druckerei in →Niederländisch-Indien entstand wohl in →Batavia 1659, das erste erhaltene, dort gedruckte Werk ist ein Vertrag aus dem Jahre 1668. Spätestens ab 1707 ist auch die Existenz einer Druckerei der niederländischen →Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) überliefert, die hauptsächlich offizielle Dokumente druckte. 1745 erschien mit den „Bataviasche Nouvelles“ die erste Zeitung in Niederländisch-Indien. Die 1778 gegründete Bataviaasche Genootschap van Kunsten en Wetenschappen gab seit 1779 ihre wissenschaftliche Zeitschrift „Verhandelingen“ heraus, die bereits mit dem vierten Band 1786 auch nach Europa und Indien ausgeliefert wurden. 1809 wurde die ehemalige VOC-Druckerei als Landsdrukkerij reaktiviert. Neben amtlichen Veröffentlichungen hatte sie bereits 1828 javanische und arabische Lettern zum Druck javanischer und malaiischer Texte. Nach den napoleonischen Kriegen wurden Druckaktivitäten in Niederländisch-Indien stark ausgeweitet, teils durch Missionsgesellschaften, teils durch selbständige Verlage. 1819 wurden die Druckereien der Nederlands Zendelings Genootschap auf →Ambon und der Sumatran Mission Press in Bengkulu eröffnet, in Kupang auf Timor war seit den 1830ern ebenfalls eine Druckerei der Mission aktiv. 1853 entstand die Rheinische Missions-Presse in Banjarmasin auf →Borneo. Neben christlicher Literatur in einheimischen Sprachen erschienen v. a. auch Grammatiken, Lehrbücher und Wortlisten. Die Liberalisierung der Pressegesetze in den Niederlanden in den 1850ern ermöglichte es auch Privatpersonen, einen Verlag zu gründen. Zu den ersten und wichtigsten Verlagen gehörten Lange & Co. (Batavia, ca. 1845 gegründet), Bruining (Batavia, 1852 gegründet), Kolff & Co (Batavia, 1854 gegründet), Gimberg & Co. (→Surabaya, ca. 1865 gegründet) und van Dorp (Semarang, ca.1866 gegründet). Erste Buchproduktionen von asiatischen Verlagen erschienen seit den 1870ern und waren zunächst meist in den großen Städten Javas konzentriert. Der Schwerpunkt dieser Verlage lag auf Werken in malaiischer Sprache. Mit der Ausweitung des Schulwesens nach 1900 mußte auch dem wachsenden Bedarf an geeignetem Lehrmaterial Rechnung getragen werden. Hierzu wurde 1908 die Commissie voor de Volkslectuur (mal. Balai Pustaka) als Staatsverlag eingerichtet, die sich rasch zu einem der bedeutendsten Wegbereiter und Produzenten moderner indonesischer Literatur entwickelte und bis heute fortbesteht. In den letzten drei Dekaden der niederländischen Kolonialherrschaft existierten zahlreiche Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, die in Niederländisch, →Malaiisch, Javanisch, Sundanesisch oder Balinesisch veröffentlichten. In den britischen Kolonien wurde die Buchproduktion in den letzten Dekaden des 18. Jhs. von Indien aus bestimmt. Insbesondere die Druckerei der amerikanischen Baptisten im indischen Serampur produzierte seit den 1790ern Bücher in Birmanisch, Malaiisch, Javanisch und Thai. Nach Ankunft der amerikanischen Baptistenmissionare in →Birma 1816 entstanden dort die ersten Druckwerke. Schon 1817 erschienen Auszüge aus der Bibel in Birmanisch, die von Adoniram Judson übersetzt wurde, 1840 wurde dann die vollständige Über-
setzung der Bibel bei der American Baptist Mission Press veröffentlicht. Neben →Rangun existierten Missionsdruckereien der Baptisten, der London Missionary Society und anderer Missionsgesellschaften in Tavoy, Moulmein, Mandalay oder auch Mergui. Die erste (englischsprachige) Zeitung „Moulmein Chronicle“ erschien in Moulmein 1836. Nach den Anglo-Birmanischen Kriegen von 1824–6, 1852 und 1885 und der Einrichtung der britischen Kolonialherrschaft in Birma wurde zunächst eine repressive Politik gegenüber Büchern und Zeitschriften in Birmanisch ausgeübt, da man in diesen Werken wohl nicht zu Unrecht antibritische Propaganda befürchtete. Birmanische Druckereien waren in den späten 1860ern in Rangun entstanden, englische Druckereien sind bereits für 1856 in Rangun belegt. Offizielle Veröffentlichungen gelangten lange über Druckereien in Kalkutta oder Delhi nach Birma. Eine staatliche Druckerei wurde um 1866 im kolonialen Verwaltungsitz Rangun eingerichtet. Selbständige Verlage und Druckereien entstanden neben Rangun auch in Moulmein, Mandalay, Tavoy. Wichtige Verlage waren Thomas Stowe Ranney (Rangun, gegründet in den 1850ern) und die Tenasserim Press (Moulmein, ca. 1880 gegründet). Liberalere Pressebestimmungen und die Entwicklungen in der nationalistischen indischen Presse nach 1900 hatten auch ihren Einfluß auf Birma, dessen einheimische Buchproduktion und Zeitungsauflagen stark zunahmen. Ende der 1930er zirkulierten mehr als 200 Zeitungen und Zeitschriften in Birma. Der Buchdruck im britischen Malaya (heutige Staaten →Malaysia und →Singapur) war zunächst auf die Territorien der →Straits Settlements beschränkt. Auch hier wurden die ersten Bücher durch Missionare gedruckt, zunächst von der London Missionary Society in →Malakka (1817), Singapur (1822) und →Penang (1824), dann auch von American Board of Commissioners for Foreign Missions (Singapur, 1834) und der katholischen Mission (Penang, 1850er). Nur wenig später entwickelte sich bereits ein einheimisches Verlagswesen. Im Gegensatz zu den Philippinen und NiederländischIndien wählten sowohl Missionen, staatliche Verlage als auch selbständige Verleger für Bücher in malaiischer Sprache nicht die lateinische Schrift, sondern die einheimische, auf arabisch-persischen Buchstaben basierende Jawi-Schrift. Die 1798 in Bayern erfundene Technik des Lithographiedrucks erwies sich hier als das geeignete Medium für eine zwischen 1860–1910 boomende malaiische und chinesische Druckindustrie. Erst 1876 wurde in Singapur ein Government Printing Office eingerichtet, das aus Kostengründen bald wieder aufgegeben wurde. Stattdessen wurden Druckaufträge an die methodistische American Mission Press (1890 gegründet), das Verlagshaus Kelly & Walsh (1887 gegründet) oder seltener auch an chinesische oder indische Druckereien in Singapur gegeben. Die ersten englischsprachigen Zeitungen waren der „Singapore Chronicle“ (1824), die „Singapore Free Press“ (1835) und die „Straits Times“ (1845). Die erste malaiischsprachige Zeitung „Jawi Peranakan“ erschien in Singapur 1876, chinesische und tamilischen Zeitungen folgten nur wenige Jahre später. Bereits in den 1880ern hatten einzelne malaiische Sultanate eigene Staatsdruckereien für malaiische Verordnungen, Bekanntmachun137
b u c hk A , ge r hAr d v o n
gen etc. mit Letterdruck. Der Letterdruck setzte sich nach 1910 immer mehr durch, malaiische Druckereien entstanden nun auch in kleineren Städten wie Ipoh, Kota Bharu oder Muar. Mitte der 1920er verstärkte die britische Kolonialverwaltung ihre Anstrengungen im Bildungssektor und richtete hierzu nach dem Vorbild des indonesischen Balai Pustaka eine Druckerei für Schulbücher und „geeignete“ Lektüre im Sultan Idris Training College in Tanjong Malim in Perak ein. Auch in →Französisch-Indochina entstanden erste Druckereien im Gefolge der Mission im 19. Jh. Zunächst waren ihre Aktivitäten auf die Gebiete von →Vietnam konzentriert. Die staatliche Druckerei Imprimerie Colonial wurde in den 1860ern in →Saigon eingerichtet, in den 1880ern kam eine weitere Druckerei in →Hanoi dazu. Neben amtlichen Verlautbarungen erschienen dort auch wissenschaftliche Publikationen zu Geschichte oder Landeskunde. In Saigon und Hanoi wurden bis ins 20. Jh. hinein auch Publikationen gedruckt, die für die Protektorate →Laos und →Kambodscha bestimmt waren. Ca. 1897 wurde in →Phnom Penh eine Imprimerie du Protectorat aufgebaut, in Vientiane erfolgte dies erst nach dem Ersten Weltkrieg. Publikationen in den dominierenden Landessprachen Vietnamesisch, Laotisch oder Khmer waren von diesen Druckereien nicht vorgesehen. Erst nach der Gründung der École Française d’Extrême-Orient (EFEO) 1898 konnten erste Werke in Khmer und Laotisch erscheinen. Vietnamesisch hatte bereits damals schon eine lateinisierte Umschrift erhalten, deren Druck weniger Probleme bereitete. In den 1880ern entstanden auch nichtstaatliche Verlage in Indochina, so z. B. F.-H. Schneider (Hanoi, gegründet ca. 1885, nach ca. 1906 in Saigon) oder Ménard & Legros (Saigon, vor 1900). Der Buchdruck in vietnamesischer Sprache begann erst nach 1900 nennenswerte Früchte zu tragen, u. a. auch durch rückkehrende Studenten aus Frankreich. In Kambodscha existierten bis 1927 keinerlei khmersprachigen Zeitungen und Zeitschriften, der erste Roman in Khmer erschien 1938. Erst das 1930 gegründete Institut Bouddhique in Phnom Penh druckte regelmäßig Publikationen in Khmer, zumeist theravada-buddhistische Texte und Legenden. Mauro Garcia, Philippine Rariora, Manila 1983. Ian Proudfoot, Early Malay Printed Books, Kuala Lumpur 1993. Katharine Smith Diehl, Printers and Printing In the East Indies to 1850. Volume 1: Batavia 1600–1850, New York 1997. HOL GE R WARNK Buchka, Gerhard von, * 22. Dezember 1851 Neustrelitz, † 12. November 1935 Rostock, ev.-luth. B., Jurist aus Mecklenburg und seit 1893 konservativer Reichstagsabgeordneter, wurde im Apr. 1898 zum Direktor der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt ernannt. Seine Amtszeit leitete eine wirtschaftspolitische Neupositionierung der dt. Kolonialpolitik ein. Mit der Einführung des später vielfach kritisierten Konzessionssystems versuchte er der Verwaltung neue Finanzquellen zur Erschließung der →Schutzgebiete zu eröffnen und stärkeren Einfluß auf die Kolonialwirtschaft zu gewinnen. Zugleich arbeitete er an der Reorganisation und Vereinheitlichung der Verwaltung und setzte sich für eine 138
verbesserte Ausbildung der Kolonialbeamten ein. Wenig Erfolg hatte er in seinem Bemühen um mehr Unabhängigkeit gegenüber dem Auswärtigen Amt. Insb. mußte er Konzessionen an das neu gegründete Reichsmarineamt machen, das mit dem Erwerb →Kiautschous (1897/98) ebenfalls Einfluß auf die dt. Überseepolitik erlangte. Verdienste erwarb er sich um die Förderung des Tropenhygienischen Instituts in Hamburg. Im Machtkampf zwischen Koloniallobby und Finanzwirtschaft verlor B. schließlich die Unterstützung maßgeblicher Persönlichkeiten. Nach einer Abrechnung mit seiner Politik im Reichstag und bei der Hauptversammlung der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika reichte er im Juni 1900 sein Entlassungsgesuch ein. Nach dem Rückzug aus der Kolonialpolitik war er Vizekanzler und Kurator der Universität Rostock und 1922 nichtgeistliches Mitglied der ersten ordentlichen Landesynode. 1929 trat er in den Ruhestand. Martin Buchsteiner, Gerhard von Buchka (1851–1935), Mecklenburgisches Jb. 122 (2007), 223–252. FLO R IA N H O FFMA N N
Buddhismus in Südasien. Der B. stellt eine der ältesten in Südasien entstandenen religiösen Traditionen dar. Seine Anhänger berufen sich auf die Lehren Siddharta Gautamas, genannt „Buddha“ (wörtl.: der Erwachte), der im 5. Jh. v. Chr. im Nordosten →Indiens lebte. Für die Anhänger des B. hat dieser durch sein Leben und seine Lehren einen Weg gewiesen, den Kreislauf des samsara (wörtl. „beständiges Wandern“, Zyklus von Werden und Vergehen, Kreislauf der Wiedergeburten) zu überwinden und den Zustand der Einsicht (nirvana) zu erlangen. Nach dem Tod Buddhas verbreitete sich seine Lehre (dharma) auch außerhalb Südasiens und erlebte im 3. Jh. v. Chr. auf dem ind. Subkontinent, unter dem bedeutenden Herrscher Ashoka, ihre Blütezeit. Seit Ende des 1. Jahrtausends n. Chr. wurde der B. aus seinem Ursprungsland Indien allmählich vertrieben bzw. in das religiöse System des Hinduismus reintegriert. Später trugen die islamischen Eroberer in der Gangesebene (→Ganges, →Ind. Reiche) ihren Teil zum Niedergang des B. in Indien bei. In →Sri Lanka und →Birma ist bis heute die Lehrtradition des Theravada (wörtl.: Weg der Älteren) etabliert, die sich als älteste buddh. Schule versteht und sich in Auslegungen der Lehre Buddhas von weiteren Systemen, wie der nördlichen Mahayana-Tradition (wörtl.: Großes Fahrzeug) oder dem tibetischen B., unterscheidet. Ab 1200 bestanden nennenswerte buddh. Gemeinden in Indien nur noch in entlegenen Regionen (Ladakh, Leh, Ostbengalen) oder als Einschlüsse innerhalb der Hindu-Gesellschaft weiter. Viele buddh. Monumente waren zerstört oder umgewandelt worden. Mit dem Niedergang der Gemeinden gerieten auch viele der zentralen Monumente des B. in Vergessenheit und wurden erst im Verlauf des 19. Jh.s von engl. Offizieren und Naturforschern wiederentdeckt. An der Wiederentdeckung des südasiatischen B. im ausgehenden 19. Jh. waren einerseits westliche Sprach- und Religionswissenschaftler, andererseits auch Theosophen beteiligt. Die Rückkehr des B. als eine lebendige Religion Indiens steht im Zusammenhang mit den Feiern zum mythischen 2500. Todestag Buddhas 1956 und ist nicht zuletzt der
b ü lo w, b ern h Ard g rAf
Konversion des Dalitführers (→Dalit-Bewegungen) →Ambedkar geschuldet. Im Okt. 1956 trat dieser in Nagpur öffentlich zum B. über und initiierte so eine der größten Massenkonversionen der Geschichte, an der fast eine halbe Mio. Dalits teilnahmen. Der Neo-B. Ambedkars bezog sich jedoch nicht auf eine der bestehenden Schulen oder Traditionen, sondern suchte nach neuen Inhalten. Entspr. wurde er „neuer Weg“ oder navayana genannt. Damit einhergehende Umdeutungen betreffen etwa den Begriff des nirvana als „Befreiung“. Ambedkar fokussierte auf die innerweltlichen, sozialen Komponenten der buddh. Lehre, die den Dalits soziale Gleichrangigkeit bescheren sollten. Entspr. sah Ambedkar den historischen B. als eine anti-brahmanische, egalitäre bzw. kastenlose Reformbewegung (→Kastensystem). Im gegenwärtigen Indien sollte die Religion den Dalits frei zugängliche Stätten für religiöse →Feste bereitstellen und über die Religion ihr Selbstbewußtsein stärken; daneben vertrat Ambedkar auch die Vorstellung, daß der B. als weltweit sinnstiftende Bewegung eine Alternative zu Marxismus und Kommunismus („The Buddha and the Future of his Religion“, 1950) bieten sollte. Schließlich hob Ambedkar v. a. die moralische Dimension hervor. Heute sind knapp 1 % der ind. Bevölkerung bzw. 8 Mio. Inder Buddhisten (Zensus von 2001; die Religionsstatistik d. Zählg. v. 2011 wurde bis Juli 2014 nicht veröffentlicht), wobei die Dunkelziffer weit höher liegen dürfte, da sich im ind. Zensus viele Buddhisten als Hindus registrieren, um ihre niederen Hindu-Kasten durch Quotenregelungen im Staatsdienst vorbehaltenen Stellen nicht zu gefährden. Sunita Dwivedi, Buddhist Heritage Sites of India, Delhi 2006. Gail Omvedt, Buddhism in India, Delhi 2003. T I L M A NN F RAS CH / RAFAE L KL ÖBE R
Buea ist die heutige Hauptstadt der engl.-sprachigen Südwest-Region →Kameruns. Die Stadt ist gleichzeitig Hauptort des Département Fako und liegt am südöstlichen Anhang des →Kamerunbergs auf einer Terrasse in 985 m Höhe. B. hat ca. 75 000 Ew. Am 19.12.1885 entsandte →Gouv. von →Soden, der in →Duala residierte, den damaligen Kanzler von Kamerun, Jesko von →Puttkamer, und den Geologen Krabbes in die Gegend. Die beiden mußten das Gebiet des Kamerunbergs erkunden, „um die schönen und fruchtbaren Berghänge der Kolonie nutzbar zu machen“ (Puttkamer 1912) Zur Zeit der oben genannten →Expedition stand das Gebiet unter der Herrschaft von Kuba, einem einheimischen Herrscher. Aus Erkundungen der Deutschen war bekannt, daß dort an den Berghängen, in 1 000 bis 1 500 m Höhe, ein angenehmes →Klima herrsche. Krabbes reibungsloser Expedition schloß sich anderen Forschungsexpeditionen an. Die erste dt. Expedition am 5.11.1891 stieß auf Feindseligkeit bei der lokalen Bevölkerung und endete mit dem Tod vieler Soldaten der →Schutztruppe. Dabei fiel auch der Expeditionsführer von Gravenreuth. Sein Begleiter von Stetten wurde schwer verletzt. Dieser stürmte schließlich B. am 22.12.1894. Nach drei Monaten kriegerischer Auseinandersetzungen und Verhandlungen mit der lokalen ethnischen Gruppe (Bakweri), wurden Friedensverträge abgeschlossen. Die Bakweri, die 1899
noch die festgesetzten Friedensbedingungen mißachteten und offen gegen die Etablierung der Station B. weiter kämpften, wurden angewiesen, mit ihren Familien die Ortschaft zu verlassen und sich auf einem herrenlosen Gelände anzusiedeln. 1901 verlegte von Puttkamer, der mittlerweile selbst zum Gouv. ernannt worden war, den Sitz des kamerunischen Gouvernements nach B. Zwar erfolgte die Übersiedlung angeblich wegen der schlechten Gesundheitsverhältnisse in Duala, doch lagen Puttkamers Entscheidung auch politische Motive zugrunde. Es ging besonders darum, den Einfluß des Duala-Volkes auf politische Entscheidungen einzuschränken. Während der dt. Besatzung befanden sich in B. außer dem Palast des Gouv.s und den Reg.sgebäuden auch das Obergericht, die Zoll- und Bauverwaltung, Faktoreien, eine Postagentur und eine Niederlassung der →Basler Missionsgesellschaft. Bis 1919 blieb der Ort mit einer kurzen Unterbrechung (von Apr.-Juni 1909 war die dt. Verwaltg. wg. eines Vukanausbruchs des Fako-Kamerunberges wieder in Duala) die Hauptstadt des damaligen dt. →Schutzgebiets Kamerun. 1949–1961 wurde die Stadt Sitz der Reg. von Southern Cameroon, dem kamerunischen Teil, der nach dem Ersten Weltkrieg der brit. Verwaltung unterstellt war. Heute befindet sich in B. die University of B., die einzige anglophone Staatsuniversität Kameruns. Ein paar Gebäude aus der dt. Kolonialzeit sind noch heute im Stadtzentrum zu sehen, darunter die prachtvolle Residenz des Gouv.s von Puttkamer. Q: Jesko von Puttkamer, Gouv.sjahre in Kamerun, Berlin 1912. Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Kolonial-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1920. L: Regina Fuchs, Kamerun, Bielefeld 2007. G ER MA IN N YA D A Bülow, Bernhard Graf (seit 1899) Fürst (seit 1905) von, * 3. Mai 1849 Klein Flottbek, † 28. Oktober 1929 Rom, □ Nienstedtener Friedhof in Hamburg-Nienstedten, ev.-luth; B. studierte Jura in Lausanne, Berlin und Leipzig und nahm 1870/71 am Dt.-Frz. Krieg teil. Ehrgeizig, rhetorisch begabt und gesellschaftlich gewandt, stieg er ab 1874 in der Diplomatie des Ksr.s rasch auf: Nach verschiedenen Verwendungen wurde er 1888 Gesandter in Bukarest und 1894 Botschafter in Rom. 1897 berief Wilhelm II. ihn zum Außen-Staatssekretär, 1900 zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräs. B. konnte sich wendig an wechselnde Lagen anpassen und kam deshalb mit Wilhelm II. und dem Reichstag anfangs gut zurecht. Die Kehrseite war ein Hang zum Opportunismus, der ihm zunehmend Mißtrauen eintrug. Innenpolitisch betrieb B. eine Politik der nationalen Sammlung gegen die Sozialdemokratie („B.-Block“), nach außen verfolgte er eine imperialistische Politik der freien Hand mit implizit anti-brit. Tendenz. Durch die Daily-Telegraph-Affäre (1908) verschlechterte sich das Verhältnis B.s zum Ks. Als der B.-Block 1909 zerbrach, ließ ihn Wilhelm II. fallen. B. hat die wilhelminische Weltmachtpolitik zwar nicht erfunden, doch wurde er ihr bekanntester Propagandist. Bereits in seiner Antrittsrede als Staatssekretär forderte er den sprichwörtlich gewordenen →„Platz an der Sonne“ ein. Kolonialpolitisch erreichte er 1897 den Erwerb →Kiautschous, der →Karolinen 139
b u e nos Air e s
(1899) und →Samoas (1900) und förderte den Bau der →Bagdad-Bahn sowie überhaupt die Durchdringung des Nahen Ostens durch das Dt. Reich, was den Gegensatz zu Rußland und Großbritannien verstärkte. In B.s Amtszeit fielen auch der →Herero-Nama-Aufstand in →Dt.-Südwestafrika (1904–1908) und der →Maji-MajiAufstand in →Dt.-Ostafrika (1905–1907), die Reformen in den →Schutzgebieten notwendig machten, sowie die Schaffung eines eigenständigen →Reichskolonialamts (1907). B.s auftrumpfender Aktionismus in der ersten Marokkokrise (1905/06) offenbarte ungewollt die schwache diplomatische Stellung Berlins. Langfristig waren die Folgen von B.s Politik verheerend, förderte sie doch die internationale Isolierung Deutschlands und bereitete damit die diplomatische Ausgangslage mit vor, die in den Ersten Weltkrieg führte. Gerd Fesser, Reichskanzler von Bülow, Leipzig 2003. Katharine Anne Lerman, The Chancellor as Courtier, Cambridge / New York 1990. Peter Winzen, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow, Göttingen / Zürich 2003. MAT T HI AS S T I CKL E R
Buenos Aires. Auch: Buenos Ayres, Bonaires, Bonus aer, Fanum S. Trinitatis. Stadt, bis 1621 zu →Paraguay gehörig, dann Reg.ssitz der Provinz Rio de la Plata; bis 1776 dem →Vize-Kgr. →Peru unterstellt, dann Hauptstadt eines eigenen Vize-Kgr.s; seit 1618/20 Bischofssitz, Suffragan von Lima; ab 1609 von →Charcas. Sitz einer →Audiencia 1661–1671, dauerhaft seit 1783 und eines Intendanten seit 1782; In vorkolumbianischer Zeit war die Region vornehmlich Siedlungsgebiet der Jarres, Querandí und Charrúa. Noch im 18. Jh. waren die nomadisierenden Charrúas in Quilmes im Gebiet um die Stadt präsent. Die Ersterwähnung des Siedlungsplatzes von BA. findet sich bei Kapitän Juan Díaz de Solis 1516, der beim Versuch, die Flußmündung zu erkunden, getötet wurde und dessen Besatzung daraufhin den Rückzug antrat. 1534/36 erfolgte die erste Gründung durch den →Adelantado Pedro de Mendoza als „Ciudad de la Santísima Trinidad y Puerto Santa María de los Buenos Aires“ mit elf Schiffen und ca. 1 500 Soldaten und Kolonisten. Unter den Soldaten in BA., zu denen neben Spaniern auch Italiener, Deutsche, Niederländer und Engländer gehörten, befand sich auch Ulrich Schmiedl, der zum ersten Chronisten über die Frühzeit der Stadt wurde. 1541 mußte BA. wegen Indianerangriffen und Mangels an Lebensmitteln aufgegeben werden. Durch den Licenciado →Vaca de Castro erfolgte 1542 eine kurzfristige Wiedergründung. Eine dauerhafte Neugründung erfolgte am 11.6.1580 durch Juan de Garay (1528–1583) und damit erst in einer späten Phase der Stadtgründungen. Durch die günstige Lage an der La Plata-Mündung konnte BA. 1620/1621 die Trennung von Paraguay vollziehen und wurde Verwaltungszentrum einer eigenen Provinz mit dem Namen Rio de la Plata und 1776 Hauptstadt eines eigenen Vize-Kgr.s, dessen erster Vize-Kg. Pedro de Cevallos (1716–1778) war. Die ob ihrer schönen Lage von Zeitgenossen gerühmte Stadt zeichnete sich auf Grund ihrer Bedeutung als zentraler Umschlagplatz für Handelswaren in →Lateinamerika aus. Obwohl der Rio de la Plata bis zur Mitte des 19. Jh.s wegen geringen Tiefgangs 140
und des Fehlens eines Hafens nur sehr bedingt schiffbar war, stellte die Stadt einen bedeutenden Markt dar, besonders dank des blühenden Schmuggelwesens mit port., ndl., frz. und engl. Beteiligung. Einerseits langte hier Silber aus Peru an (Autorisation für den Überlandexport von Silber 1613), andererseits konnten die Güter hier billiger eingekauft werden als jene, die über die legale Route Panama – Callao – Arica angelangt waren. Die Bedeutung als Schmuggelumschlagplatz nahm ab 1713 durch die →asientos de negros und das damit verstärkte Eindringen Englands noch zu. Durch eine Mischung von illegalen und legalen Transaktionen florierte der Hafen. 1760 verdiente auch die Krone durch die Ausgabe von Lizenzen als Straferlasse an dem Schmuggelsystem. Besonders die Sklavenschiffe (→Sklaverei und Sklavenhandel) führten neben der legalen Fracht noch große Mengen an Schmuggelwaren mit. Die Bebauung geschah vornehmlich in Ziegelbauweise. Herausragende Monumente waren die Kathedrale (1753–1791, fünf Vorgängerbauten seit 1618) und das Gebäude des Cabildos. Die Stadt teilte sich in vier Gemeinden (Concepción, San Nicolas, Monserrat und Piedad), besaß am Ende des 18. Jh.s fünf Konvente (zwei der Franziskaner, Observanten und Barfüßer; Dominikaner, Mercedarier und das Hospital der Bethelemiten) zwei Frauenkonvente (Kapuzinerinnen, Catalina) und ein Waisenhaus, bis 1767 zudem noch zwei Jesuitenkollegien (→Jesuiten, →Kollegium). Die Bevölkerung war span., besonders katalanischer und galizischer, Herkunft, es lebten aber auch viele Siedler mit port. Wurzeln hier. Hinzu kam eine große Anzahl von Afrikanern, die 1810 50 % der Ew. der Hauptstadt ausmachten. Haupteinnahmequelle neben dem Warenhandel war die Viehzucht, die auf Grund der großen Ländereien extensiv betrieben wurde. Dies erlaubte die Exportsteigerung bei Viehhäuten aus Montevideo (→koloniale Metropolen) und B. von 150 000 auf 875 000 zwischen 1778 und 1796. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte Bevölkerungswachstum mit sich. 1639 wohnten etwas über 1 000 Menschen in der Stadt, 1720 war die Ew.-zahl auf 9 000, 1750 auf 12 000 angewachsen, um 1775 25 000 Ew. und am Ende des Jh.s schließlich 50 000 Ew. erreicht zu haben. Mit der Erhebung zur Hauptstadt eines eigenen Vize-Kgr.s 1777 wuchs zudem die regionale politische Bedeutung erheblich, zumal nun die Ausrichtung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nicht mehr nach Nordosten in Richtung Peru zu erfolgen hatte. Diese neue Position wurde durch die gescheiterte Invasion der Engländer 1806 erschüttert, da die kaum 800 Mann umfassende Garnison den Angriff nicht abzuwehren vermochte. So bewies die von den Ew. von BA. selbst organisierte Gegenwehr, daß sie auf sich gestellt waren. Diese Erkenntnis ebnete den Weg zur Unabhängigkeitserklärung von 1811. Dabei führten jedoch die Interessen der in BA. dominierenden Kaufmannschaft gegenüber den Großgrundbesitzern auf dem Land schnell zur Spaltung des neu entstehenden Landes. Q: Antonio de Alcedo, Diccionario Geográfico Histórico de la Indias Occidentales o América. 5 Bde., Madrid 1786–1789. L: Miguel Artola (Hg.), Enciclopedia de Historia de España, Bd. 5, Madrid 1991. Mario Pastore, Taxation, Coercion, Trade and Development in a Fron-
bu ren
tier Economy: Early and Mid Colonial Paraguay, in: Journal of Latin American Studies, 29 (1997), 329–354. Horst Pietschmann, Die Einführung des Intendantensystems in Neu-Spanien im Rahmen der allg. Verwaltungsreform der span. Monarchie im 18. Jh., Köln 1972. L UDOL F P E L I Z AE US
Bujumbura, Hauptstadt und Reg.ssitz des zentralafr. Staates →Burundi, liegt im Westen des Landes an den Ufern des Tanganyika-Sees. Auf einer durchschnittlichen Höhe von 820 m ü.d.M. erstreckt sich die Stadt über eine Fläche von 110 km². Mit mehr als 500 000 Ew. ist B. zugleich das größte städtische Zentrum des Landes. Alle wichtigen Verwaltungs- und Finanzinstitutionen, Militäreinrichtungen und auch die UN-Mission und internationale Organisationen sind hier ansässig. 70 % der Ew. B.s sind im tertiären Sektor beschäftigt, darüber hinaus existieren einige verarbeitende Industrien und ein ausgeprägter informeller Sektor. B. – zunächst noch Usumbura – wurde 1897 von dt. Missionaren gegründet, die das Land dem dortigen „Häuptling“ abgekauft hatten. 1901 wurde Usumbura zur ‚Hauptstadt‘ der Kolonie Ruanda-Urundi (→Ruanda) ernannt. Mit Beginn der belg. Kolonialverwaltung (1918–1959) gehörte es dann zur Zollunion von Ruanda-Urundi und →Belg.-Kongo und wurde deren politische und wirtschaftliche Hauptstadt. Durch eine Verfassungsänderung nach der burundischen Unabhängigkeit im Juli 1962 wurde Usumbura in B. umbenannt. Die vormals kleine Kolonialhauptstadt wuchs durch die Errichtung neuer Stadtviertel schnell an. Heute wird das städtische Wachstum auf jährlich ca. 7 % geschätzt; v. a. in den Vierteln am Stadtrand ist die Bevölkerungsdichte sehr hoch. Der seit 1993 anhaltende innenpolitische Konflikt Burundis verursachte einen hohen Zulauf an Flüchtlingen und führte auch zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Stadtvierteln an der Peripherie. B.s heutige städtische Entwicklung wird auch durch die Folgen dieser Krise bestimmt: der Zerstörung von Infrastruktur und Häusern, einer hohen Kriminalitätsrate und anhaltenden politischen Spannungen. CHRI S T I ANE ADAMCZ YK
Buka →Salomonen Bukaniere. Der Ausdruck B. stammt aus dem Französisch-kreolischen des karibischen Raumes. Er bezeichnet die, mehrheitlich frz., Siedler, die sich im 17. Jh. auf kleinen karibischen Inseln niederließen und von der →Jagd lebten. Um das Fleisch der Tiere haltbar zu machen, wurde es nach karibisch-indianischer Art auf dem Räucherrost getrocknet. Dieses Gerät wurde im Französischen boucan genannt – die Siedler abfällig als Boucaniers bezeichnet. Neben der Jagd stellten Überfälle auf (Frankreich) feindliche Schiffe eine zusätzliche Einnahmequelle der Insulaner dar. Etwas später ließen sie sich v. a. auf Hispaniola nieder. Hierbei erhielten sie den Schutz Frankreichs (Freibriefe), da sich die frz. Krone von einer Besiedlung der Insel durch ihre Untertanen eine Stärkung des eigenen Anspruchs auf die Insel oder Teile von ihr erhoffte. Diese Überlegung erwies sich als richtig, denn Saint Domingue (Haiti) wurde im 18. Jh.
Frankreichs reichste Kolonie in Übersee. Dennoch, die Mischung aus →Freibeuterei, Piraterie und Siedlungskolonisation, die diese Gruppe prägte, wurde 1697 beendet, als die B. durch eine engl.-ndl. Flotte aufgerieben wurden. David Cordingly, Unter schwarzer Flagge. München 2001. Markus Rediker, Villains of All Nations, Boston 2004. D A G MA R BEC H TLO FF Bullen, päpstliche. Durch päpstliche B. – seit dem 15. Jh. die allg. Bezeichnung für mit Bleisiegel und dem Abdruck des Fischerrings versehene päpstliche Urkunden – wurden im Zuge der europäischen Expansion seit dem 14. Jh. wiederholt Schenkungen noch zu erschließender Gebiete an weltliche Herrscher vollzogen. In diese auch unter dem Eindruck der sog. Türkengefahr stehende spätmittelaterliche Praxis fügen sich die sog. alexandrinischen Schenkungen an die katholischen Kg.e durch vier B. Alexanders VI.: Erste →Inter cetera sowie Eximiae devotionis vom 3.5.1493; zweite Inter cetera vom 4.5.1493; Dudum siquidem vom 26.9.1493. In diesen B. werden den katholischen Kg.en sowie den Thronfolgern von Kastilien die westlich jenseits eines →Längengrades liegenden Gebiete geschenkt und umfassende Herrschaftsrechte zugewiesen; die in den B. vorgesehene Demarkation wurde 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Portugal und Spanien modifiziert. Die B., deren Inhalt und konkrete Ausgestaltung vor dem Hintergrund früherer Schenkungen an Portugal und der Italienpolitik des Borgia-Papstes zu lesen sind, hatten ihr juristisches Fundament in der Vorstellung des dominium des Papstes über den gesamten Erdkreis. Spätestens mit der Relectio de Indis von Francisco de Vitoria (1539) und den anschließenden Debatten wurde dieser Herrschaftstitel jedoch grundlegend in Frage gestellt. Da die Schenkung mit der Auflage der Evangelisierung verbunden war, wird in den B. auch der erste Schritt auf dem Weg zum durch spätere B. (als nächste Eximiae devotionis vom 16.11.1501 mit der Berechtigung zur Erhebung des Kirchenzehnt) errichteten Patronat der katholischen Kg.e über die Kirche in der Neuen Welt gesehen. Antonio García y García, La donación pontificia de Indias, in: Pedro Borges (Hg.), Historia de la Iglesia en Hispanoamérica y Filipinas (siglos XV-XIX), Bd. 1, Madrid 1992, 33–45. Josef Metzler, America Pontificia, Vatikanstadt 1991, insb. 71–89 (Nr. 1–3, 5). TH O MA S D U V E
Bulu →Samba Buren. Selbstbezeichnung Afrikaner, Afrikaander. Nachkommen der seit 1652 in Südafrika eingewanderten ndl. und dt. Siedler, die sich z. T. mit frz. →Hugenotten vermischten, heute einen bedeutenden Teil der europäischstämmigen Minderheit bilden. Seit etwa Ende des 18. Jh.s wird diese Bevölkerungsgruppe als B. bezeichnet. Als in den 1830er Jahren ein Großteil der burischen Siedler aus der →Kapkolonie vor der brit. Kolonialmacht ins Landesinnere floh (Großer Treck), wurden sie als Treck-B. bezeichnet. Die B. bewahren sich bis heute ihre Sitten und Sprache, das →Afrikaans, und die Tradi141
b u r e n k r ie g
tion ihrer ndl.-ref. Kirche. Die Bezeichnung als B. wird von den Betroffenen als diskriminierend angesehen, weil das Wort „Boer“ für „Bauer“ steht und dies mit rückständig, bigott und hinterwäldlerisch assoziiert wird. B. leben heute in der Rep. Südafrika, in →Namibia und in einigen Siedlungen in →Angola. UL RI CH VAN DE R HE YDE N Burenkrieg (1899–1902), im Süden Afrikas auch als Zweiter Unabhängigkeitskrieg der →Buren bezeichnet, neuerdings Südafr. Krieg oder Anglo-Boer War. Der B. war einer der ersten imperialistischen Kriege zur Neuaufteilung der Welt, die den Ersten Weltkrieg ankündigten. Es handelte sich um eine militärische Auseinandersetzung zwischen Großbritannien und den beiden burischen Staaten Südafr. Rep. (→Transvaal) und →Oranje-Freistaat, die sich auf Grund von Repressionen der Reg. in →Pretoria gegen brit. Einwanderer entzündete. Die wahren Ursachen für den B. waren jedoch machtpolitischer und ökonomischer Art. In Transvaal waren nämlich reiche Goldlagerstätten entdeckt worden, außerdem Diamanten in beträchtlichem Umfang – und dies, nachdem sich Großbritannien nach der zeitweiligen Annexion Transvaals 1877–1881 aus jenen Gebieten wegen zu hoher Kosten und angeblicher Unwirtschaftlichkeit der burischen Territorien zurückgezogen hatte. Mit dem B. hoffte London dem expansionistischen Ziel, ein brit. Reich vom Kap bis →Kairo in Afrika zu schaffen, einen Schritt näher zu kommen. Buren und Briten warfen sich gegenseitig vor, den Anlaß für den Krieg geliefert und später Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Briten hatten fast 450 000 Mann mobilisiert, von denen 22 000 umkamen. Auf burischer Seite kämpften ca. 88 000 Mann, von denen 7 000 fielen. Ca. 30 000 Afrikaner waren auf beiden Seiten in den Krieg involviert; Tausende von ihnen fanden den Tod. Durch die Kriegsfolgen, v. a. Hunger und →Seuchen, starb eine große Anzahl von afr., aber auch burischen Frauen und Kindern, die von den Briten in Konzentrationslagern eingesperrt worden waren. Die von den Buren erhoffte Intervention ausländischer Mächte, insb. Deutschlands, blieb aus. Im Friedensvertrag von Vereeniging am 31.5.1902 mußten die Buren, die nach anfänglichen militärischen Erfolgen zur Guerillakriegsführung übergegangen waren, schließlich vor der damals mächtigsten Militärmacht der Welt sowie wegen bereits begonnener und befürchteter Unruhen unter der afr. Bevölkerung kapitulieren. Die beiden burischen Rep.en verloren ihre Autonomie, erhielten dafür von London günstige ökonomische und politische Friedensbedingungen; letztlich auf Kosten der afr. Bevölkerung. Ian R. Smith, The Origin of the South African War 1899– 1902, London 1996. Peter Warwick (Hg.), The South African War, London 1980. Ders., Black People and the South African War 1899–1902, Cambridge / London 1983. UL RI CH VAN DE R HE YDE N Burjaten. Ca. 430 000 Menschen zählende mongolische →Ethnie im Osten →Sibiriens, die in der Region um den Baikalsee lebt; hier boten die Steppen die Grundlage für einen pastoralen Nomadismus, der jedoch durch die vierhundertjährige Russifizierung heutzutage kaum noch an142
zutreffen ist. In ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise ähnelten die B. den verwandten Stämmen in der Mongolei. Bis zur Mitte des 17. Jh.s waren sie von den waffentechnisch überlegenen russ. →Kosaken unterworfen worden, denen sie Tribut in →Pelzen (jasak) zu zahlen hatten. Einige der Stämme entzogen sich der Tributzahlungen durch Flucht in die nördliche Mongolei. Zur Mitte des 18. Jh.s waren die B. größtenteils schon zum Ackerbau übergegangen, heirateten Russen und konvertierten zum russ.-orth. Glauben. Es fand also eine zunehmende Akkulturation statt, die die alten Clanstrukturen aufbrach und den traditionellen schamanistischen Glauben untergrub. Im 18. Jh. drang aus der Mongolei und Tibet der lamaistische →Buddhismus vor und konnte zahlreiche Anhänger unter den B. gewinnen. Die orthodoxe Missionsarbeit hatte dem nichts zu entgegenzusetzen, da es ihr an finanzieller und personeller Ausstattung fehlte. Zudem erwies sich der lamaistische Buddhismus als attraktiv, weil er Rituale des Schamanismus tolerierte. Michail →Speranskijs Verwaltungsstatut von 1822 erkannte das Recht auf Selbstverwaltung und Ausübung des indigenen Gewohnheitsrecht an und setzte sich für eine Verringerung der staatlichen Abgaben ein, es wurde jedoch bereits in den 1830er Jahren durch restriktive Maßnahmen außer Kraft gesetzt. Mit dem Zustrom russ. Kolonisten setzte ein Verdrängungsprozeß ein, der den B. ihr Land und ihre Selbstverwaltung entzog. Nach der Oktoberrevolution, v. a. unter Stalins „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, setzte sich die ökonomische Verdrängung fort, die insb. während der Kollektivierung zu einem Ruin des burjatischen Pastoralnomadismus führte, was auch beabsichtigt war. Erklärtes Ziel war die dauerhafte Seßhaftmachung. Karin Fischer, Traditionelle Glaubensvorstellungen der Burjaten, Berlin 1988. Tilman Musch, Nomadismus und Seßhaftigkeit bei den Burjaten, Frankfurt/M. 2006. Dittmar Schorkowitz, Staat und Nationalitäten in Rußland, Stuttgart 2001. EVA -MA RIA STO LB ER G Burkina Faso ist die ehem. frz. Kolonie →Obervolta, die am 5.8.1960 die Unabhängigkeit erlangte. B. F. ist ein Binnenstaat (274 200 km2, 12 Mio. Ew.) und zugleich ein Sahelland, in dem ca. 80 % der heterogenen bäuerlichen Bevölkerung von der Vieh- und Landwirtschaft lebt. Die größten →Ethnien sind die Mosi (fast 50 %), die →Fulbe, die Bobo, die Gurma und die Senufo. →Baumwolle ist neben Vieh das wichtigste Exportprodukt. Seit den 1970er Jahren leidet das nördliche Sahelgebiet von B. F. unter wiederkehrenden Dürreperioden. Abwanderungen aus den ländlichen Räumen in die Städte nehmen infolge von Armut und Arbeitslosigkeit kontinuierlich zu. B. F. wurde von 1966 bis 1990 vom Militär regiert. Eine effiziente Entwicklungspolitik (→Entwicklung) bzw. Armutsbekämpfung wurde bisher kaum unternommen. Am 4.8.1983 gelang es den „revolutionären Offizieren“ unter Hauptmann Thomas Sankara, die Macht zu ergreifen. Sie bezeichneten den Putsch als eine Revolution zur Beseitigung von Mißwirtschaft und Armut und änderten am 4.8.1984 den Namen Obervolta in B. F. (d. h. „Land der Aufrichtigen“). Sankara trat für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Unterprivilegier-
b u ru n d i
ten ein (Bauern, Frauen) und senkte die Staatsausgaben sowie die Gehälter im öffentlichen Dienst. Damit stieß er auf den Widerstand der Gewerkschaften. Seine radikalen Maßnahmen lösten soziale Spannungen aus und führten zu einer internen Krise im Staatsapparat. Am 15.10.1987 wurde Sankara bei einem erneuten Militärputsch ermordet. Unter dem Druck internationaler Geldgeber und der Zivilgesellschaft leitete 1990 sein Nachfolger Hauptmann Blaise Compaoré einen Liberalisierungs- sowie Demokratisierungsprozeß ein. Gegenwärtig herrschen in B. F. zwar Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit, doch ist das politische Leben auch durch ein dichtes Klientelsystem gekennzeichnet. 44 % der Bevölkerung bekennen sich zum →Islam, 12 % zum Christentum (zumeist zum römischen Katholizismus), der große Rest folgt lokalen Religionen. Helmut Asche, Le Burkina Faso contemporain, Paris 1994. Roger Bila Kaboré, Histoire politique du Burkina Faso 1919–2000, Paris 2002. Andrea Reikat, Bisa ko. Regionalgeschichte im westafr. Kontext, Habil. Frankfurt/M. 2003. YOUS S OUF DI AL L O Burmeister, Carl Hermann Conrad, * 15. Januar 1807 Stralsund, † 2. Mai 1892 Buenos Aires, □ (nach Umbettung 1967) Sarkophag im Museo Argentino de Ciencias Naturales „Bernardino Rivadavia“ / Buenos Aires, ev.luth. B. war Arzt, Biologe mit den Schwerpunkten Entomologie, Meeresbiologie, Ornithologie, Zootomie, Zoographie und Paläoontologie, Prof. der Zoologie in Halle (1837–1861, ab 1842 Ordinarius). 1850–1852 bereiste er die brasilianischen Provinzen →Rio de Janeiro und Minas Gerais, um eine naturgeschichtliche Sammlung für seine wissenschaftlichen Forschungen anzulegen, die sich in zwei wissenschaftlichen Werken über die Fauna →Brasiliens niederschlugen. 1856–1860 unternahm er eine zweite Südamerikareise nach Uruguay (in die Pampas) und →Argentinien (in den subtropischen Teil und die Pampas) zu naturwissenschaftlichen Studien und Sammlungen. Urlaub und finanzielle Unterstützung für beide Reisen bekam B. durch die Fürsprache Alexander von →Humboldts. Die materielle „Ausbeute“ beider Reisen ging an das Zoologische Museum in Halle. B. wird in der Wissenschaftsgeschichte fast ausschließlich als bedeutender und produktiver Naturwissenschaftler wahrgenommen (der er auch war: er publizierte mehr als 280 naturwissenschaftliche Schriften und Reiseberichte und war Mitglied zahlreicher naturwissenschaftlicher Gesellschaften). Seine Beobachtungen zu den sozialen Verhältnissen in den bereisten Ländern sind weit weniger bekannt. Sein Bericht „Reise nach Brasilien, durch die Provinzen von Rio de Janeiro und Minas Geraes […]“ von 1853 ist z. B. trotz der zeitüblichen rassistischen Stereotypen über die afrobrasilianische und indigene Bevölkerung als Quelle für die Sozial-, Kultur- und Geschlechtergeschichte Brasiliens sehr wertvoll, weil B. das Alltagsleben der Brasilianer und soziale Mißstände genauestens beschrieb, sich für die Ehen und Lebensgemeinschaften der verschiedenen sozialen Schichten, die →Sklaverei und die gesellschaftliche Stellung der freien Farbigen sowie die Lebensbedingungen verschiedener
sozialer Schichten interessierte. 1862 wurde B. Direktor des Naturhistorischen Museums („Museo Público“) von Buenos Aires, das unter seiner Leitung die zoologischen und paläoontologischen sowie bibliothekarischen Bestände deutlich vergrößerte. B. veröffentlichte verschiedene Werke über die La-Plata-Staaten („Physikalische Beschreibung der Argentinischen Rep. […].“, Buenos Aires 1875 und „Reise durch die La-Plata-Staaten […], Halle 1861). Bei seiner wissenschaftlichen wie museologischen Arbeit wurde er von den argentinischen Präs. Domingo Faustino Sarmiento und Bartolomeo Mitre sowie vom Rektor der Universität Buenos Aires, Juan María Gutiérrez, der Sociedad Paleoontológica, der Provinz-Reg. von Buenos Aires und zahlreichen argentinischen und europäischen Wissenschaftlern unterstützt, die dem Museum ihre Funde aushändigten und/oder zeitweise für das Museum arbeiteten. 1869–1875 gründete er mit Unterstützung des argentinischen Präs. Sarmiento die naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Córdoba, scheiterte aber mit einer Gesamtreform der Universität. Die Gründe lagen in Konflikten mit den nach Córdoba berufenen dt. Kollegen, innenpolitischen Konflikten in Argentinien um die Stellung von Buenos Aires und Córdoba und der Inanspruchnahme B.s durch seine Tätigkeiten für das Museo Público sowie wissenschaftliche Publikationen. In den 1880er Jahren geriet B. immer mehr in die Kritik argentinischer Kollegen, v. a. Eduardo L. Holmbergs und Florentino Ameghinos, die im Gegensatz zu B. darwinistische Ideen vertraten, und isolierte sich immer mehr von der Wissenschaftlergemeinde von Buenos Aires. Nichtsdestotrotz erhielt er ein pompöses Begräbnis in Anwesenheit des argentinischen Präs. Carlos Pellegrini und post mortem etliche Ehrungen durch den argentinischen Staat. Seit den 1990er Jahren haben ihm auch seine Heimatstadt Stralsund und seine Wirkungsstätte, die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ehrungen und Ausstellungen gewidmet. Hans-Joachim Hacker / Gerhard Schulze u. a. (Hg.), Hermann Burmeister, Stralsund 1993. Cristina Mantegari, Germán Burmeister, Buenos Aires 2003. Karla Schneider u. a., Carl Hermann Conrad Burmeister, Halle (Saale) 2007. U LRIK E SC H MIED ER Burundi. Angrenzend an →Ruanda, →Tansania und die demokratische Rep. →Kongo erstreckt sich der zentralafr. Staat B. über eine Fläche von 27 834 km². B.s Relief wird neben Berg- und Hügelländern auch von der weitläufigen Ebene des Tanganyika-Sees geprägt, in der ein regenreiches Äquatorialklima herrscht, während das Bergland ein gemäßigteres →Klima aufweist. Fast 90 % der mehr als 8 Mio. Ew. B.s sind von Subsistenzlandwirtschaft abhängig, die meist auf kleinen intensiv bewirtschafteten Feldern betrieben wird. Außer →Kaffee und →Tee für den Export werden v. a. Süßkartoffeln, Maniok, →Reis und →Bananen angebaut. Daneben spielen auch die Viehhaltung (Rinder, Ziegen) sowie der Fischfang eine wichtige Rolle. B.s Bevölkerung setzt sich aus drei Gruppen zusammen, den Hutu (ca. 84 %), Tutsi (15 %) und Twa (1 %). Umstritten ist, ob es sich dabei um →Ethnien oder Berufsgruppen handelt, da sie Geschichte, Gebräuche und die Sprache Kirundi teilen. 143
b u s c h m Änne r
Miteinander verbunden waren die Gruppen zudem durch Klientel- und Klanbeziehungen. Die Entstehung des burundischen Kgr.s reicht zurück ins 16./17. Jh., seine Blüte erlebte es im 19. Jh. Zwar trug das Kg.tum sakrale Züge, doch die strenge hierarchische Verwaltung und ein komplexes Tributsystem zeugten auch von politischem Kalkül. Von dem 1896 am Tanganyika-See gegründeten dt. Militärposten Ujiji aus erfolgte 1897 die Gründung des Postens Usumbura, der 1901 zum Bezirksamt und 1906 zum Residentursitz für Urundi, anfangs außerdem zuständig für Ruanda, aufgewertet wurde. Die →Residentur gehörte zu →Dt.-Ostafrika. 1896 errichteten in Usumbura auch die rk. Weißen Väter ihre erste Missionsstation. Die koloniale Einbindung des Gebiets war von erheblichen Schwierigkeiten begleitet. Dt. Militärexpeditionen wurden 1899–1903 wiederholt von Kräften des Kg.s Mwesi IV. (1860–1908), Beiname Kisabo, angegriffen. Dieses Verhalten führte zu dt. Gegenaktionen und Überwachungsmaßnahmen. 1912 verlegte der Resident Erich von Langenn-Steinkeller seinen Sitz nach Gitega ins Landesinnere. 1916 nahmen belg.-brit. Truppen Usumbura und Gitega ein; 1923 erhielt Belgien das Mandat (→Mandatssystem) des →Völkerbunds über B.; 1946 wurde es →Treuhandgebiet der UN. Am 1.7.1962 wurde B. als konstitutionelle Monarchie unabhängig und die Hauptstadt in →Bujumbura umbenannt. Feindseligkeiten innerhalb der herrschenden Tutsi führten am 28.11.1966 zur Absetzung des Kg.s Ntara V. und zur Ausrufung der Rep. Die sich verschärfenden Spannungen zwischen Tutsi-Minderheit und Hutu-Mehrheit kosteten 1972 zwischen 100 000 und 300 000 Hutu das Leben und trieben fast 1,3 Mio. Menschen außer Landes. Ein Friedensvertrag (2000) und eine neue Verfassung (2005) öffneten den Weg zu einem Neubeginn. Nun gilt im Parlament ein Proporz 60:40 zugunsten der Hutu, doch bedrohen Machtkämpfe, Rebellenaktivitäten und Ressourcenknappheit den fragilen Frieden. Präs. ist seit 26.8.2005 der Tutsi Pierre Nkurunziza. 2008 wurden 8 Mio. Ew. gezählt. ⅔ der Bevölkerung bekennen sich zum Katholizismus, 13 % zum Protestantismus, 2,3 % zum →Islam. Landessprachen sind Kirundi und Französisch. Thomas Laely, Autorität und Staat in Burundi, Berlin 1995. Hans Meyer, Die Barundi, Leipzig 1916. Helmut Strizek, Ruanda und Burundi von der Unabhängigkeit zum Staatszerfall, Köln 1996. C H R I S T I A N E ADAMCZ YK / RE I NHART BI NDS E I L
durch viehzüchtende Khoi Khoin–Gruppen – die wie die San zur Sprachfamilie der Khoisan gehören – und BantuVölkern (→Bantu) verdrängt. Mit der Gründung der ndl. →Kapkolonie im 17. Jh. wurden die B. gezwungen, weiter in das Landesinnere zurückzuweichen. Widerstand wurde durch die ndl. Kolonialherren gebrochen. Während des 19. Jh.s fanden sich Gruppen von San, von burischen Farmern und einheimischen Ethnien unterdrückt und verfolgt, in den unwirtlichen Gegenden des südlichen Afrikas. Im Zuge der Kolonialisierung verdingten sich viele San als Farmarbeiter und verloren ihre ursprüngliche Lebensweise. Vertreibung, Entrechtung und Verlust der ursprünglichen Kultur bestimmen das Schicksal der B. bis heute. Verbreitung: Bewohnten die B. bei der Ankunft der Europäer noch den größten Teil des südlichen Afrikas, so waren sie Ende des 19. Jh.s auf brit. Gebiet nur noch in der Kalahari sowie in den Wüstengebieten im Norden und Osten →Dt.-Südwestafrikas zu finden. In heutiger Zeit sind sie auf die Gebiete der Staaten Botswana, →Namibia, →Angola, Südafrika und →Sambia beschränkt. Zahlenmäßig stellen sie heute mit 50 000– 100 000 Menschen eine kleine Minderheit dar. Lebensweise: Die traditionelle Lebensweise der B. entspricht der des Jägers und Sammlers. Flexible nomadisierende Gruppen stellen die höchste Form der gesellschaftlichen Organisation dar. Es findet eine geschlechterspezifische Arbeitsteilung statt, die →Jagd wird nur von Männern durchgeführt und erfolgt mit Hilfe von Fallen, Bogen, Speer und als Treibjagd. Bekannt ist die Verwendung von pflanzlichen und tierischen Pfeilgiften. Gesammelt werden hauptsächlich Wurzeln, Nüsse und Beeren, auch Kleintiere werden gefangen. Je nach Fruchtbarkeit des Gebietes kann Angebot an Nahrung schwanken. Um die Wasserversorgung in der Kalahari sicherzustellen, haben die B. spezielle Techniken entwickelt, etwa die Anlage von Wasservorräten in hohlen Straußeneiern. Die San folgen einer animistischen Religion und betreiben Ahnenkult. Tanz und Gesang sind sehr beliebt. Heute können nur noch wenige B. ausschließlich ihrer traditionellen Lebensweise folgen und so kann diese Kultur in ihrer Gesamtheit als bedroht gelten. Rolf Frei u. a., Buschmänner. Eine Reise zur Urbevölkerung Namibias, Göttingen / Windhuk 2001. Gustav Fritsch, Die Eingeborenen Süd-Afrika’s, 2 Bde., Breslau 1872. Jiro Tanaka, The San. Hunter-Gatherers oft the Kalahari, Tokio 1980. TH O MA S V Ö LK EL
Buschmänner. →Ethnie von Jägern und Sammlern aus dem südlichen Afrika. Sie gelten als die dortige Urbevölkerung. Namensentwicklung: Der Ausdruck „Buschmann“ geht auf das ndl. Wort „Bosjesman“ zurück, welches die Sitte der San beschrieb, ihr Nachtlager oder einen Hinterhalt aus Buschzweigen zu errichten. „San“ bedeutet in der Sprache der Nama Fremder oder Nichtsnutz. Beide Begriffe stellen Fremdbezeichnungen von negativer Konnotation dar, werden aber als Eigenbezeichnung genutzt. Geschichte: Die B. zählen zu den frühesten Bewohnern Afrikas, ihre Felszeichnungen können auf einige tausend Jahre in die Vergangenheit zurückdatiert werden. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich über ganz Südafrika und weit darüber hinaus. Sie wurden
Bustaman, Raden Saleh, * Mai 1811 Seramang, † 23. April 1880 Bogor, □ unbek., Religion unbek. Der javanische Maler B. war der erste moderne indonesische Mensch. Er wurde 1811 in die Familie des Bupati von Semarang geboren. Dieser Regent, Suraadimanggala mit Namen, war ein Freund Sir Stamford →Raffles und sowohl in der javanischen als auch in der europäischen Kultur zu Hause. Das zeichnerische Talent des jungen B. wurde bereits in der Familie entdeckt und früh von europäischen Lehrern gefördert. Er kam zunächst (1819) in die Obhut von Prof. Reinwarth, Leiter der Naturkundlichen Kommission für →Ndl.-Indien, der bald den belg. Kolonialmaler Payen beauftragte, sich um den jungen Javaner zu kümmern. Nachdem die Familie
144
cA bi n dA
B.s in Semarang, wegen ihrer Unterstützung Diponegoros, in Ungnade gefallen und ins Exil geschickt worden war, wurde B. in Cianjur Westjava als Reg.sschreiber angestellt. Dort traf ihn 1827 der dt. Missionar und Indologe Carl Gericke und beschrieb ihn als talentierten Maler. 1829 gelang B., was bis dahin kaum einem seiner Landsleute gelang: die Reise nach Europa. Dort glückte sofort das nächste Kunststück: er durfte bleiben und erhielt auf Kosten des ndl. Staates eine Ausbildung als Maler. In Den Haag studierte er beim geschätzten Porträtmaler Cornelis Kruseman und dem Landschaftsmaler Andries Schelfhout und beteiligte sich bald an den nationalen Kunstausstellungen in Den Haag und Amsterdam. 1839 glaubte die Reg., daß es an der Zeit sei, B. zurück nach →Java zu schicken. Sie genehmigte ihm noch eine abschließende Kunstreise durch die wichtigsten europäischen Museen, danach sollte er das Schiff nach →Batavia besteigen. Aus der geplanten sechsmonatigen Reise durch Deutschland und Frankreich wurde ein 12-jähriger Aufenthalt, der B. für immer für einen Posten in der kolonialen Verwaltung unbrauchbar machte. Entscheidend für seine künstlerische und intellektuelle Entwicklung sollte ein jahrelanger Aufenthalt in Dresden werden, das er im Sept. 1839 erreichte. Hier wurde aus dem kolonialen Subjekt B. zunächst ein orientalischer Prinz und dann ein respektiertes Mitglied der lokalen Künstlerzirkel und der bürgerlichen Salons. In Dresden fand B. neue Lehrer, etwa den norwegischen Maler Christian Dahl und zu seinem Stil. Dynamische orientalische Jagden wurden nun sein Markenzeichen und Alleinstellungsmerkmal. Durch sie hat er sich einen Platz in der dt. Kunstgeschichte des 19. Jh.s erworben. Während Dresden für B. zur bürgerlichen Selbsterfindung und zum universalen Bildungsereignis wurde, brachte ihn ein längerer Aufenthalt am Hof von Sachsen-Coburg-Gotha mit wesentlichen Vertretern der europäischen Hocharistokratie in Verbindung. Dabei kam es sogar zu persönlichen Bekanntschaften mit der engl. Kg.in Victoria und mit dem belg. Kg. Leopold I. Als sozial weniger erfolgreich, künstlerisch aber umso befriedigender, erwies sich sein Aufenthalt in Paris. Hier traf er endlich den von ihm bewunderten Maler Horace Vernet, dessen dramatische Schlachten- und Jagdbilder er sehr schätzte. Gleichzeitig entwickelte sich dort der starke Wunsch, wieder in seine Heimat Java zurückzukehren. 1852 wurde dieser Wunsch erfüllt. B. erreichte nach 23 Jahren in Europa Batavia. Zunächst besuchte er seine Verwandten in West- und Zentraljava, um sich dann in Batavia niederzulassen. Hier baute er, mit dem Geld seiner Frau Constanze Winckelhaagen, geb. von Mansfeld, seine große Villa im Süden der Stadt, die noch heute, als Teil des Krankenhauses in Cikini, steht. In Java malte er hauptsächlich Porträts und Landschaften, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellten. Innerhalb der javanischen Gesellschaft wurde er zur bedeutenden Größe, geachtet und geschätzt und von den höchsten Würdenträgern als gleichrangig behandelt. 1866, als die Trennung zwischen ihm und Constanze bereits vollzogen war, heiratete er die Nichte des Sultans von Yogyakarta, eine Verbindung, die für einen nicht-adeligen Javaner in der Regel unmöglich zu erreichen war. Anders begegnete ihm die ndl. Kolonialgesellschaft, die ihm nie verzieh,
daß er mit einer europäischen Frau zusammengewohnt hatte. 1869 wurde er am Rande einer lokalen Steuerrevolte in Bekasi verhaftet und zusammen mit seiner Frau vorübergehend festgenommen. Diese unverdiente Schmach löste bei ihm ein langanhaltendes Trauma aus, das seine künstlerische Kreativität stark beeinflußte und zu einer tiefen Entfremdung von der ndl.-ind. Reg. führte. Er plante, die Kolonie auf Dauer zu verlassen um sich in Deutschland anzusiedeln. Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha, der Freund aus früheren Tagen, lud ihn nach Coburg ein, das er 1875 erreichte. Ein Jahr lebte er als Gast des Herzogs im Schlößchen Rosenau. Da seine Frau das rauhe dt. →Klima nicht vertrug, zog die Familie 1877 nach Italien und Frankreich. Am Ende erwies sich die Hoffnung auf einen geruhsamen europäischen Lebensabend als unerfüllbar. Zu sehr hatten sich die Verhältnisse geändert. 1879 kehrte die Familie desillusioniert nach Java zurück. B. starb am 23.4.1880 in Bogor, seine Frau wenige Monate später. Die Bedeutung Raden Salehs innerhalb des Modernisierungsprozesses Javas kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf vielen Gebieten – künstlerischen, wissenschaftlichen, sozialen – bewies er, daß javanische Intellektuelle die gleichen Fähigkeiten wie Europäer entwickeln und verwirklichen können. In einer Zeit, die ihren Glauben an die Unterlegenheit der Nichteuropäer in jeder Weise ungeniert zelebrierte, bewies er die mögliche Ebenbürtigkeit und sogar Überlegenheit eines gebildeten Javaners. Damit hat er dem kollektiven Bewußtsein seines Volkes einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Daß er nebenbei die neue Malerei in →Indonesien einführte und wesentlich am Fortgang der modernen indonesischen Kunst beteiligt war, ist ein zusätzlicher und ebenfalls nicht zu unterschätzender Verdienst. WERN ER K RA U S Cabinda. Provinz des Staates →Angola und zugleich eine →Exklave, die vom Staatsterritorium durch einen Gebietsstreifen der Demokratischen Rep. →Kongo getrennt ist. C. liegt an der Atlantikküste und grenzt im Norden und Süden an die Rep. Kongo. C. (270 km²; 300 000 Ew.) mit dem gleichnamigen Hauptort und -hafen wird v. a. von Angehörigen der ethnischen Gruppe der Bakongo bewohnt. Die Wirtschaft C.s wird von der Erdölindustrie dominiert; daneben hat die Landwirtschaft (Export von →Kaffee, →Kakao, Palmöl und Edelhölzern) eine gewisse Bedeutung. Die Erdölförderung begann 1968; inzwischen hat C. den größten Anteil an der nationalen Produktion. Die Küstenregion stand seit dem 16. Jh. im Handel mit Portugal. 1853 nahmen port. Gesandte Beziehungen zu einheimischen Autoritäten auf. 1883–1885 wurden die luso-cabindischen Verträge abgeschlossen. Im Vertrag von Simulambuco vom 1.2.1885 wurde das Gebiet zum port. →Protektorat von Kakongo, Luango und Ngoio, was auf der →Kongo-Konferenz 1885 in Berlin mit der Dreiteilung des Kongos zwischen Portugal, Belgien und Frankreich in Bezugnahme auf drei historische Kgr.e (Loango, Ngoyo und Kako) bekräftigt wurde. 1956 gliederte Portugal das Protektorat C. in die Überseeprovinz Angola ein. Während der Unabhängigkeitsverhandlungen war die Eigenständigkeit C.s geplant, Angola reklamierte aber die Exklave für 145
c A b oc l o
sich und besetzte diese im Nov. 1975. Dies traf auf den Widerstand vieler Bewohner, von denen sich einige der Separatistenbewegung Frente de Libertação do Enclave de Cabinda/Forças Armadas de Cabinda (FLEC/FAC) anschlossen. Diese formierte eine Exil-Reg., die die „Rep. C.“ ausrief. Wiederholt kam es in den Folgejahren zu Auseinandersetzungen zwischen Sezessionisten und der angolanischen Armee. Daniel Dos Santos, Cabinda, in: Robin Cohen (Hg.), African Islands and Enclaves, Beverly Hills 1983, 101–117. Lukonde Luansi, Cabinda, in: Afrika Süd 3 (2004), 29– 32. Phylis Martin, Cabinda ans Cabindans, in: Jeffrey Stone (Hg.), Africa and the Sea, Aberdeen 1985, 80–96. T I L O GRÄT Z
Caboclo. Die Vermischung verschiedener →Ethnien war prägendes Merkmal der brasilianischen Gesellschaft seit Beginn der port. Landnahme. Wurden Ehen zwischen Europäern und indianischen Frauen teilweise auch offiziell gefördert, war die brasilianische Mischgesellschaft im wesentlichen Ergebnis außerehelicher Beziehungen. Der Vielfalt an ethnischen Einflüssen entsprechen zahlreiche Begriffe wie cafuso, mameluco, mulato oder C. Der Begriff C. entstammt der Tupi-Sprache und bezeichnete ursprünglich einen europäisch-indianischen Mischling. Im Laufe der Zeit verlor der Begriff seinen ausschließlich ethnischen Bedeutungsgehalt und wurde oft abwertend für die freien, ungebildeten, oft halbnomadisch lebenden, unteren Gesellschaftsschichten besonders im Landesinneren gebraucht. In diesem vagen Sinne hat sich der Begriff des C. weit über die Kolonialzeit hinaus erhalten, obwohl er bereits im 18. Jh. als abwertende Bezeichnung für die Nachkommen europäisch-indigener Ehen verboten wurde. Heute wird der Begriff v. a. für die im Amazonasgebiet (→Amazonas) lebende, ländliche Bevölkerung verwendet. Darüberhinaus werden C.s jene indigenen Geister genannt, die Aufnahme in die Götterwelt der afro-brasilianischen Kulte gefunden haben. CHRI S T I AN HAUS S E R
Cabora Bassa. (heute „Cahora“ B.) Wasserkraftwerk im Nordwesten →Mosambiks; sein Damm ist 137 m hoch und staut den Sambesi zum größtes Stausee des südlichen Afrika mit einem Fassungsvermögen von 57 Mio. m3 auf. Das Kraftwerk hat eine Leistung von ca. 2 000 MW (ca. das Doppelte der leistungsstärksten Wasserkraftwerke in Deutschland). Der Bau von C. B. war Teil des 1956–1965 entworfenen Planes des port. Überseeministeriums zur Nutzung des Sambesi-Beckens. Er sollte den Zuzug port. Immigranten im Sambesi-Tal ankurbeln, den →Bergbau in der Region fördern und dazu beitragen, die periodischen Überflutungen des Sambesi zu zügeln. Die Bauarbeiten begannen 1969 und wurden im Dez. 1974, kurz vor der mosambikanischen Unabhängigkeit, abgeschlossen. Der Bau wurde durch ZAMCO, ein südafr. Konsortium mit Partnern in Portugal, Deutschland, Italien und Frankreich, realisiert und sollte insb. durch Lieferung von preiswertem Strom nach Südafrika finanziert werden. Die 3 500 afr. Arbeiter arbeiteten unter harten Bedingungen und waren gegenüber den ca. 1 500 weißen Arbeitern extrem benachteiligt. Im 146
Zuge des Baus wurden große Teile der ländlichen Bevölkerung umgesiedelt. Im Hochplateau entstand eine Stadt für die europäischen und afr. Arbeiter, ca. 50 000 Bauern verloren durch die Stauung ihre Heimat. Ab 1972 wurde die lokale Bevölkerung gezwungen, in aldeamentos umzuziehen, durch port. Militär und lokale Milizen kontrollierte Ansiedlungen von 1 000–1 500 Ew. Durch den Verlust ihrer wirtschaftlichen Grundlage starben in der Folge viele der Umgesiedelten an Hunger und Krankheiten. Weitere Folge der Stauung waren unkontrollierte gewaltige Überflutungen unterhalb des Stausees, z. B. 2001, die ganze Dörfer überfluteten. Die marxistische →Befreiungsbewegung FRELIMO wandte sich strikt gegen den Bau des Staudamms, den sie v. a. als Energielieferanten für den Apartheidsstaat Südafrika sah. Der Kampf gegen den C.-B.-Staudamm wurde von der lokalen Bevölkerung ebenso wie von einer westlichen Solidaritätsbewegung nachhaltig unterstützt. Nach der Machtübernahme der FRELIMO 1975 lieferte das Kraftwerk jedoch weiterhin Strom für Südafrika zu einem enorm günstigen Preis, die Einkünfte gingen an Portugal. Die Elektrifizierung im Inland wurde durch Anschläge der von Südafrika unterstützten Rebellenbewegung RENAMO behindert. Während die mosambikanische Bevölkerung von der Energieerzeugung kaum profitierte, wurden durch die ökologischen Folgen des Staudamms wirtschaftliche Möglichkeiten in der Region eingeschränkt. Landwirtschaftliche Systeme, die auf der periodischen Überflutung basiert hatten, wurden unmöglich. Die →Fischerei unterhalb des Damms hat stark abgenommen, ebenso die Krabbenvorkommen im Sambesi-Delta, die seit den 1980er Jahren eine der wichtigen Devisenquellen Mosambiks gewesen waren. Seit dem Friedensabkommen von 1992 liefert C. B. Strom für Mosambik, nach →Simbabwe und Südafrika, seit 1994 auch nach →Malawi. 2005 hatten jedoch nur 5 % der mosambikanischen Haushalte Elektrizität, von denen 50 % in der Hauptstadt lagen. Allan Isaacman, Displaced People, Displaced Energy, and Displaced Memories, in: The International Journal of African Historical Studies 38 (2005), 201–238. CH R ISTIA N E REICH A RT-B U R IK U K IY E
Caboto, Giovanni, engl. John Cabot, * ca. 1450, † ca. 1498, rk. Der it. Seefahrer ging 1494 nach England, wo er 1496 von Kg. →Heinrich VII. ein Patent erhielt, das ihn und drei seiner Söhne, darunter Sebastian C. (ca.1484–1557), berechtigte, im Auftrag der engl. Krone den →Atlantik zu überqueren und bislang unbekannte Gebiete zu entdecken. Ein weiteres Ziel dieser Reise bestand in der Suche nach einem Westweg an die Ostküste Asiens. Die Vergabe des Patents an C. unterstreicht das Interesse der engl. Krone an der beginnenden europäischen Expansion trotz des 1494 geschlossenen Vertrags von Tordesillas (→Bullen), der die bekannte Welt in eine span. (Westen) und eine port. (Osten) Hemisphäre aufteilte. Nach Überlieferungen seines Sohnes Sebastian erreichte C. 1497 das nordam. Festland und passierte die Ostküste von Neufundland und Cape Breton im Norden Neuschottlands. Obwohl diese Gebiete im 15. Jh.
cA h o k iA
wahrscheinlich bereits vor C. von engl. Seefahrern aus →Bristol gesichtet worden waren, gilt der Italiener in der Geschichtsschreibung als der neuzeitliche Entdecker des nördlichen Teils der Neuen Welt. Nach seiner Rückkehr nach England erhielt C. 1498 ein weiteres kgl. Patent für eine zweite Reise, von der er nicht mehr zurückkehrte. Evan Jones, The Matthew of Bristol and the Financiers of John Cabot’s 1497 Voyage to North America, in: The English Historical Review 121 (2006), 778–795. Peter E. Pope, The Many Landfalls of John Cabot, Toronto 1997. David B. Quinn, John Cabot and the 1497 Voyage to Newfoundland, in: Newfoundland Studies 15 (1999), 104–110. S ABI NE HE E RWART Caciques. Ursprünglich stammt der Begriff C. aus der →Karibik und beschreibt in der Sprache der Taíno einen Herrscher. Die Bezeichnung wurde von den Spaniern übernommen und im Zuge der Conquista auf den indigenen Adel des am. Festlandes übertragen. Sie bezog sich vorwiegend auf die Gruppe des regionalen niederen Adels, da der Hochadel größtenteils in der Führungsschicht der Spanier aufging. Der Begriff wurde insb. in →Mesoamerika verwendet, während sich im Andenraum die Bezeichnung curacas durchsetzte. Durch die Verwendung eines sowohl im span. als auch im mesoam. Kontext neuen Terminus vermied die Krone die offizielle Anerkennung vor-span. Rechte und Machtansprüche, die ihre eigenen Herrschaftsbestrebungen hätten gefährden können. Ähnlich wie ein Hidalgo in Spanien genoß ein C. zahlreiche Privilegien, z. B. uneingeschränkte Rechtsfähigkeit und Tributfreiheit. Im Gegensatz zur nichtadligen indigenen Bevölkerung, den macehuales, durfte er span. Kleidung und Waffen tragen sowie →Pferde halten. Auch sein Landbesitz wurde nach der Conquista weitgehend anerkannt, teilweise in Form eines cacicazgo, einer Abwandlung des Majorats. Gerade im 16. Jh. waren die C. von zentraler Bedeutung für die Durchsetzung und Sicherung der span. Herrschaft in →Amerika. In Gebieten mit differenzierten politischen Strukturen aus vor-span. Zeit behielt der lokale Adel unter dem neuen Titel C. seine etablierte Machtposition. Im Gegenzug garantierte er eine Versorgung der Spanier mit Tributzahlungen, die häufig in Naturalien geleistet wurden, und die Stellung von Arbeitskräften. Für die C. wurde ein neues politisches Amt geschaffen, das die span. Munizipalordnung ergänzte, das Amt des gobernadors. Dieser stand an der Spitze eines pueblo de indios, einem Organ der indigenen Selbstverwaltung, das in seiner räumlichen Ausdehnung häufig dem vor-span. Machtbereich des lokalen Herrschers entsprach. Das Amt sollte durch Wahlen jährlich neu besetzt werden. Meist monopolisierten aber eine oder mehrere angestammte Familien das Amt über Jahrzehnte. Erst mit zunehmender Durchdringung der Gebiete mit span. Beamten und Siedlern verlor die Mittlerposition an Bedeutung, so daß für das ausgehende 18. Jh. nicht mehr für alle Regionen eine lokale Vormachtstellung der C. festgestellt werden kann. Anne Bos, The Demise of the Caciques of Atlacomulco, Leiden 1998. Joyce Marcus / Judith Francis Zeitlin, Caciques and Their People, Ann Arbor 1994. Dorothy
Tonok de Estrada u. a., Atlas ilustrado de los pueblos de indios. Nueva España, 1800, México D.F. 2005. WIEBK E V O N D EY LEN
Caesar, Caius Iulius, * 13. Juli 100 v. Chr Rom, † 15. März 44 v. Chr. Rom, □ nicht erhalten C.s Karriere als Feldherr und Politiker war früh von dem Drang begleitet, in Konkurrenz zu dem im Osten und im mediterranen Raum erfolgreichen Pompeius die (vermeintlichen) Grenzen der Oikumene im Westen zu überschreiten und dem römischen Imperium sowie den italischen Kaufleuten neue Räume im →Atlantik zu erschließen. Schon während seiner Statthalterschaft 69 v.Chr. in Spanien gelang es ihm, von Gades mit einer kleinen Flotte bis auf die Höhe von Brigantium (La Coruna) vorzustoßen. In den ersten Jahren seines gallischen Kommandos setzte er die Suche nach den sagenumwobenen Zinninseln fort und konnte 56 über den Kanal mit einer großen Flotte nach Britannien übersetzen. Diese Überfahrt galt aus römisch-mediterraner Sicht als echte Entdeckerleistung, da frühere Expeditionen (des Pytheras) als unglaubwürdig abgetan worden waren und in Rom allenfalls vage Vermutungen über die Insel kursierten. Dementspr. rühmten noch die ks.zeitlichen Autoren (Velleius Paterculus, Florus) C. dafür, mit Britannien eine „Neue Welt“ (alter orbis) gefunden und dem Imperium Romanum angefügt zu haben. Zusammen mit der →Eroberung des freien Gallien und den Vorstößen über den Rhein begründete deshalb der Britannienfeldzug den Nimbus C.s als einer der erfolgreichsten Eroberer der Antike, mit dessen Taten noch die span. Conquistadoren wetteiferten. C. hat mit seinen Expeditionen in den nordeuropäischen Binnenräumen und in den Atlantik einen entscheidenden Anstoß für die Erforschung der Nord- und Ostsee bis nach Skandinavien in der frühen Ks.zeit gegeben und damit die Tradition der massiliotischen Atlantikfahrten (Euthymenes, Pytheas) fortgesetzt. Umstritten sind die Motive und Ziele der Expansionsdynamik C.s. Vermutlich wird man eine für die späte Römische Rep. typische Kombination kompetitiver Ruhmsuche, materiellen Gewinnstrebens sowie persönlicher Machterweiterung voraussetzen, dem gegenüber die alte Forderung der Adelselite nach solidarischer Selbstbeschränkung zunehmend versagte. Geographische und ethnographische Erkenntnisinteressen spielten dagegen wohl nur eine sekundäre Rolle. Raimund Schulz, Caesar und das Meer, HZ 271 (2000), 281–309. R A IMU N D SC H U LZ Cahokia. Größte vorkolumbianische indianische Stadt auf dem Gebiet der späteren →USA in der Nähe der heutigen Stadt St. Louis am →Mississippi. Mit ihrer monumentalen Tempelarchitektur repräsentierte die ab ca. 650 n. Chr. erbaute Stadt, die zwischen 1150 und 1250 ihre Blütezeit erlebte und möglicherweise bis zu 20 000 Menschen beherbergte, die zentralen Elemente der Mississippi-Kultur. Die Gesellschaft dieser Kultur war durch religiösen Kult legitimierte Hierarchisierung geprägt, in der den Priestern der monumentalen Tempel die Herrschaft zufiel. C. war Zentrum einer groß angelegten handwerklichen Produktion von Schmuck und Kult147
cAillié, rené
gegenständen, deren Vertrieb die Stadt mit weiten Teilen Nordamerikas verband. Zur Ernährung der Bevölkerung wurde intensive Landwirtschaft betrieben; möglicherweise ruhte die Attraktivität dieser aus →Mesoamerika stammenden Mississippi-Kultur auf ihrem Wissen um den Maisanbau. Weshalb und wann die Stadt um 1400 zerfiel, ist in der Forschung umstritten. Ausführliche Bibliographie: Cahokia Mounds Full Scholarly Bibliography, in: http://www.cahokiamounds.com/ bibsch5–24–00.html. Francis Jennings, The Founders of America, New York 1993, 56–67. Timothy R. Pauketat, Ancient Cahokia and the Mississippians, Cambridge 2004. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Caillié, René, * 19. November 1799 Mauzé-sur-le-Mignon, † 17. Mai 1838 La Gripperie-Saint-Symphorien, □ La Gripperie-Saint-Symphorien, rk. / musl. C. wurde als Sohn eines Bäckers geboren und wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Durch Abenteurer-Literatur fasziniert, bereiste er die frz. Kolonien in →Senegal und die westind. Insel Gouadeloupe. Danach begleitete er eine brit. →Expedition nach Bondou im östlichen Hinterland des Senegal. Nach einem durch Tropenkrankheiten bedingten Genesungsaufenthalt in Frankreich brach er 1824 im Auftrage der Pariser Société de Géographie erneut nach Westafrika auf, um die sagenumwobene Stadt →Timbuktu am nördlichen Nigerbogen (heute →Mali) zu erreichen, die noch von keinem europäischen Reisenden wissenschaftlich erkundet worden war. Der Brite Gordon Laing war 1826 zwar dorthin gelangt, jedoch vor seiner Rückkehr ermordet worden. Das vehemente Mißtrauen gegenüber christl. Europäern bewog C., seine Identität als Forscher zu verheimlichen, zum →Islam überzutreten und sich als ägyptischer →Araber auszugeben. Am 19.4.1827 begann er seine Reise an der Küste des heutigen →Guinea, durchquerte die Gebirgsregion Fouta-Djalon und erreichte bei Kouroussa den oberen →Niger. Dann folgte er dem Flußlauf und erreichte über Jenné nach krankheitsbedingten Unterbrechungen Timbuktu am 20.4.1828. Insg. hielt er sich nur 14 Tage in der für den hohen Stand ihrer islamischen Gelehrsamkeit berühmten Stadt auf und schloß sich am 4. Mai einer die Sahara nach →Marokko durchquerenden Handelskarawane an. Über Fez und →Tanger kehrte er nach Frankreich zurück. Der von ihm verfaßte erste europäische Augenzeugenbericht über Timbuktu erschien 1830 unter dem Titel Journal d’un voyage à Temboctou et à Jenné dans l’Afrique Centrale. Literarisch verarbeitet wurde C.s Reise in Thomas Stangls Roman Der einzige Ort. UL RI CH BRAUKÄMP E R Cakobau, Seru, * zwischen 1810 und 1817 Bau Island, † Februar 1883 ebd., □ sau tabu / Mission Hill, ev.-method. (seit 1854) C. war ein hochrangiger fidschianischer Häuptling (Vunivalu of Bau, Tui Kaba) und Kriegsführer, unter dessen Herrschaft zahlreiche Inselhäuptlingstümer des Archipels vereint wurden. Seine Konvertierung zum Methodismus (1854) verhalf dem Christentum zum Durchbruch. C. wurde auch als Kg. von →Fidschi (Tui Viti) bezeichnet, wenngleich der Titel frei erfunden war. 148
Zahlreiche Nachkommen C. finden sich in wichtigen politischen und gesellschaftlichen Ämtern des kolonialen und nachkolonialen Fidschi. Deryck Scarr, Cakobau and Ma’afu, in: James W. Davidson, Deryck Scarr (Hg.), Pacific Islands Portraits, Canberra 1970, 95–126. D O MIN IK E. SC H IED ER Calancha, Antonio de la, * 1584 Chuquisaca (Sucre), † 1. März 1654 Lima, □ unbek., rk. C.s Hauptwerk, der erste Bd. seiner Chronik des Augustinerordens in →Peru, zeichnet sich durch den Quellenwert und die Gelehrsamkeit des Autors aus. Der Titel „moralisierte Chronik“ weist C.s Absicht aus, die Darstellung der historischen Ereignisse zur Erbauung der Leser mit Lehren aus der Bibel, den Werken der klassischen Antike und der Kirchenväter zu verbinden. In vier Büchern, 159 Kapiteln und 922 S., entfaltet C. ein Panorama der peruanischen Gesellschaft und der geistigen Strömungen seiner Zeit. Seine Chronik bietet eine Fülle historischer Informationen zur präkolumbischen, kolonialen und v. a. religiösen Geschichte Perus, die auf eigenen Erhebungen und z. T. auf heute verlorenen Primärquellen beruhen. Den zweiten Bd. seiner Chronik konnte C. nicht mehr vollenden. Q: Antonio de la Calancha, Cronica moralizada, hg. v. Ignacio Prado Pastor, 6 Bde., Lima 1974–1981. L: Sabine MacCormack, Calancha, Antonio de la (1584–1654), in: Joanne Pillsbury (Hg.), Guide to Documentary Sources for Andean Studies, 1530–1900, Bd. 2, Norman 2008, 95–101. Manuel Marzal, Historia de la antropología indigenista, Barcelona 1993. IRIS G A R EIS Calicut (Kozhikode). An der →Malabarküste gelegene Hafenstadt, avancierte im 11. Jh. zum Reg.ssitz des Zamorin (samudra) von C. sowie zu einem Zentrum des Handels mit →Gewürzen (v. a. →Pfeffer, Ingwer, Zimt, Kardamom) und des Schiffbaus im →Ind. Ozean. Traditionell garantierte der Herrscher die Sicherheit der internationalen Händlergemeinschaft (u. a. →Araber, Perser, Gujaratis, (→Gujarat), im Gegenzug festigten Einkünfte aus Handelsabgaben seine Macht. In den ersten Jahrzehnten des 15. Jh.s war C. mehrfach Ziel chin. Expeditionen unter →Zheng He (→Chin. Überseeexpeditionen). 1498 erreichte →Da Gama auf der Kaproute den Ort Capocate (Kappad) in der Nähe C.s (zweiter Aufenthalt 1502). Im 16. Jh. gelang es den Portugiesen (→Estado da India), trotz der Anwendung militärischer Gewalt nur kurzzeitig, sich in C. niederzulassen. Im darauffolgenden Jh. unterstützte die Stadt die Niederländer (Bündnis 1604) bei der Verdrängung der Portugiesen von der Malabarküste. Zusätzlich etablierten auch Engländer, Franzosen (17. Jh.) und Dänen (18. Jh.) Handelsniederlassungen (→Ostindienkompanien). 1766 fiel C. unter die Herrschaft Haider Alis von →Mysore und wurde 1792 an die Briten abgetreten (→British Raj). Seit 1956 gehört die Stadt zum ind. Bundesstaat Kerala (2 030 519 Ew., Zensus 2011). Holden Furber, Rival Empires of Trade in the Orient, Minneapolis 1976. V. Kunhali (Hg.), Calicut in History, Calicut 2004. M.G.S. Narayanan, Calicut, Calicut 2006. MA RTIN K R IEG ER
cAmP ech e
Calvert, George, 1st Lord Baltimore, * ca. 1580 Kipling / Yorkshire, † 15. April 1632, □ unbek., anglik., seit 1625 / 26 rk. C. war seit 1606 Privatsekretär von Sir Robert Cecil, seit 1608 Clerk des Privy Council, wurde 1617 zum Ritter geschlagen und war 1619–1625 Secretary of State. Er wurde aus seinem Amt gedrängt und konvertierte im Winter 1625/26 zum Katholizismus. Als Dank für seine Dienste wurde er am 27.3.1625 zum Lord Baltimore (irische Linie) ernannt. Nachdem seine Versuche, in Neufundland eine Kolonie (→Charter für die Kolonie Avalon vom 7.4. 1623) zu begründen, gescheitert waren, bat er im Aug. 1629 den Kg. um die Verleihung von Land in Virginia. Die Charter für die Kolonie wurde zwei Monate nach seinem Tod am 20.6.1632 auf den Namen seines Sohnes Cecilius C., 2nd Lord Baltimore (ca. 1605–1675) ausgestellt. Die neue Kolonie umfaßte das Gebiet vom Potomac-Fluß im Süden bis zum 40. →Breitengrad im Norden. Zu Ehren von Kg.in Henrietta Maria wurde sie „Maryland“ genannt. William Hand Browne, George Calvert and Cecilius Calvert, Barons Baltimore of Baltimore, New York 1890. John D. Krugler, English and Catholic. The Lords Baltimore in the Seventeenth Century, Baltimore 2004. Russell R, Menard / Lois Green Carr, The Lords Baltimore and the Colonization of Maryland, in: D. B. Quinn (Hg.), Maryland in a Wider World, Detroit 1982, 167–216. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Câmara (Senado da), dt.: Stadt(ältesten)rat. Lokale Verwaltungs- und Gerichtsbehörde in den port. Städten und als solche eine wichtige Institution bei der Ausdehnung und Festigung staatlicher Autorität in den überseeischen Besitzungen. Als Vertretung der Versammlung aller Bürger variierte die Zusammensetzung einer C. in Zahl und Ämtern je nach Region und Zeit. Den Kern stellten Richter und Ratsherren sowie ein Rechtsbeirat, welche durch Vertreter der Berufsstände ergänzt werden konnten. Insg. handelte es sich dabei um ca. ein halbes Dutzend Personen, von denen christl. Herkunft gefordert war. Die Mitglieder einer C. sollten adelig sein, rekrutierten sich aber meist aus den lokalen Honoratioren. Ihnen unterstanden Beamte für den Schriftverkehr, das Versorgungsund Meßwesen. Im Gegensatz zu den cabildos des span. Kolonialreiches war die Mitgliedschaft in der C. weder käuflich noch erblich. Die Mitglieder wurden alle drei Jahre von einem Wahlmännergremium gewählt, das lokale Größen bestimmten. Diese schlugen Kandidaten vor, die nach einem von einem Kronbeamten kontrollierten Losverfahren bestimmt wurden. Wichtige Aufgaben des Stadtregiments waren die Rechtsprechung, die Erhebung von Abgaben, die Verwaltung städtischen Besitzes und dessen Einnahmen, die Kontrolle der Märkte, des Handels und die Entwicklung der städtischen Infrastruktur. Damit waren Titel, Prestige und Einflußmöglichkeiten verbunden. Als untere Instanz der port. Kolonialverwaltung konnten die C.s zwischen den lokalen Verhältnissen und den Vorgaben der Krone vermitteln, wirkten aber in erster Linie im Interesse ihrer Mitglieder. Die C.s gewannen im Laufe der Zeit in →Brasilien Privilegien und eine beträchtliche Eigenständigkeit in den größeren Städten,
wo sie ein Gegengewicht zu höheren Territorialbehörden bildeten, während die C.s in der kolonialen Frühzeit Brasiliens das Ziel verfolgten, staatliche Herrschaft gegenüber den als Kolonisationsuntermehmern mit viel Macht ausgestatteten Besitzern einer donátaria durchzusetzen. Als einzige koloniale Behörde überlebten sie die Unabhängigkeit Brasiliens bis spät ins 19. Jh. Maria Fernanda Baptista Bicalho, As câmaras ultramarinas e o governo do Império, in: João Fragoso (Hg.), O Antigo Regime nos trópicos: a dinâmica imperial portuguesa (séculos XVI-XVII), Rio de Janeiro 2001, 191– 221. Anthony J. R. Russell-Wood, Local Government in Portuguese America: A Study in Cultural Divergence, Comparative Studies in Society and History 16 (1974), 187–231. CH R ISTIA N H A U SSER Caminha, Pero Vaz de, * um 1450 Porto (?), † 15.(?) Dezember 1500 Kalkutta, □ unbek., rk. C. nahm als Kronbeamter und Schreiber der zu errichtenden Faktorei in Kalkutta an einer Expedition teil, die unter der Leitung von Pedro Álvares Cabral nach →Indien in See stach. Auf ihrem Weg dorthin landete die Flotte am 22.4.1500 an der brasilianischen Küste. In einem auch als ‚Geburtsurkunde →Brasiliens‘ bezeichneten Brief an Kg. Manuel vom 1. Mai berichtet C. über die ersten Eindrücke des ‚Terra de Vera Cruz‘ (Land des wahren Kreuzes) genannten Landes und schildert detailreich die Schönheit und Fruchtbarkeit des Landes sowie die physische wie moralische Anmut seiner Bewohner. Erstmalig veröffentlicht wurde C.s Brief erst zu Beginn des 19. Jh.s. Pero Vaz de Caminha, Das Schreiben über die Entdeckung Brasiliens (1500), hg., übers. u. komm. v. Robert Wallisch, Frankfurt/M. 2000. CH R ISTIA N H A U SSER Campeche benannten die Spanier eine Maya-Stadt und die umliegende Region im Westen des Flachlandes von Yucatán. Der Name geht auf die indigene Bezeichnung der Ortschaft zurück. Hier ging 1517 eine span. Expedition unter Francisco Hernández de Córdoba und mit dem später berühmten Chronisten Bernal →Díaz del Castillo von →Kuba auf der Suche nach neu zu entdeckenden Gebieten und Arbeitskräften an Land. Im Anschluß an einen zunächst freundlichen Empfang brachen die Spanier wieder auf und kehrten nach einem verlustreichen Angriff im heutigen Champotón nach Kuba zurück. Nach zwei weiteren Expeditionen und der Entdeckung/→Eroberung des mexikanischen Hochlandes wandten sich die Spanier unter Francisco de Montejo als Capitán general erst ab 1526 wieder Yucatán zu. Von C. aus sollte die Halbinsel erobert und von den Franziskanern missioniert werden, endgültig gründete Francisco de Montejo Jr. um 1540 die Stadt und den Hafen San Francisco (de C.). Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt durch Konflikte zwischen Eroberern, Bewohnern der Stadt, Missionaren u. d. span. Kolonialverwaltung bezüglich des Umgangs mit der indigenen Bevölkerung, die stark zurückging und die teilweise rebellierte. Erst im 18. Jh. begann die Bevölkerung wieder zu wachsen. C. entwickelte sich zum zentralen Handels- und Kommunikationsplatz der Gobernación von Yucatán mit Sitz in Mérida und zum Schiffbauzen149
c A m Pil l o y c os í o , jo s é d e
trum. Insb. die örtliche Farbstoffproduktion (→Farbstoffe) stieß auf großes Interesse. In der Landwirtschaft dominierte lange die Viehhaltung und erst ab Anfang 18. Jh. kam der Maisanbau hinzu, später auch →Reis und Zuckerrohr (→Zucker). Schmuggel und (insb. engl.) Piraterie (→Freibeuterei) konnten während der gesamten Kolonialzeit trotz Errichtung militärischer Stützpunkte und einer Küstenwache nicht unter Kontrolle gebracht werden. Der insb. im 18. Jh. gewachsenen Bedeutung entspr. erhielt C. 1777 den Titel einer Ciudad. Der Forderung ab 1799 nach einem eigenen Consulado wurde allerdings nicht stattgegeben. S E BAS T I AN DORS CH Campillo y Cosío, José de, * 6. Januar 1692 Alles / Asturien, † 11. April 1743 Madrid, □ Convento Santa Ana y San José, Madrid (abgerissen 1811), rk. C. trat hervor mit drei unter der Herrschaft →Philipps V. verfaßten Schriften, „Lo que hay de más y de menos en España para que sea lo que debe ser y no lo que es“ (1741), „España despierta“ (1742) und „Nuevo sistema de gobierno económico para la América“ (1743), wobei die Autorschaft letzterer zuweilen angezweifelt wird. Seine Tätigkeit in der Marineverwaltung führte ihn 1719–1724 nach →Mexiko und →Kuba. C., Premierminister, Kriegs-, Marine- und Indienminister von 1741 bis 1743, stand in der Tradition des Merkantilismus, wie ihn Jahre zuvor Gerónimo de →Uztáriz für Spanien propagiert hatte. Er trat ein für die Förderung der Manufakturen, die Liberalisierung des Binnenhandels, die Reduzierung der untätigen Bevölkerung, die Förderung der Landwirtschaft innerhalb der bestehenden Besitzverhältnisse und ein auf Landbesitz basierendes Steuersystem. Unter seiner Ägide wurde eine Junta de Mejoras mit der Einführung eines neuen Reg. ssystems für die überseeischen Besitzungen beauftragt. Ziele waren die Ausdehnung des schon in Spanien eingeführten Intendantensystems auf Hispanoamerika zur Territorialisierung der Verwaltung, die Reform der Kirchenverwaltung und freier Binnenhandel für Produkte, die keine Konkurrenz für die span. Waren darstellten. C. hielt vorrangig die Förderung der am. Landwirtschaft anstelle der Ausbeutung der Minen für erforderlich, um das Potential der am. Besitzungen als Rohstofflieferanten besser auszuschöpfen. Zugleich forderte er den Ausbau des span. Gewerbes zur Befriedigung der am. Nachfrage, da andernfalls das span. Handelsmonopol nicht aufrechterhalten werden könne. Die indigene Bevölkerung sollte aus der Subsistenzwirtschaft in das koloniale Handelssystem eingegliedert und durch Landverteilung in das System integriert werden, um die span. Herrschaft zu festigen und die Wirtschaft zum Nutzen Spaniens zu fördern. Eine Generalinspektion sollte Aufschluß über die ökonomischen Gegebenheiten und Probleme geben. C.s Reformvorschläge für →Amerika fanden weite Verbreitung. Sein Nuevo sistema de gobierno económico para la América erschien 1779 als Bestandteil von Bernardo →Wards Proyecto económico, einer Schrift, die durch die Förderung von →Campomanes zu einer der meistgelesenen ökonomischen Schriften in den unter →Karl III. neu gegründeten Sociedades Económicas de Amigos del País und zur Grundlage von dessen Reformpolitik wurde. 150
Manuel Ballesteros Gaibrois (Hg.), José del Campillo, Oviedo 1993. Antonio Elorza, „José del Campillo, entre el arbitrismo y la Ilustración“, in: Antonio Elorza (Hg.), José del Campillo, Madrid 1969, 3–29. Enrique Fuentes Quintana (Hg.), Economía y economistas españoles, Bd. 2, Barcelona 1999. A LEX A N D R A G ITTER MA N N Campomanes, Pedro Rodríguez de, * 1. Juli 1723 Sorriba, † 3. Februar 1802 Madrid, □ Iglesia de El Salvador y San Nicolás, Madrid (abgerissen), rk. Der Jurist war als Kronanwalt einer der wichtigsten Protagonisten der Reformpolitik →Karls III. C. bemühte sich zunächst vornehmlich um die Vergrößerung des Kronbesitzes und damit der Ausweitung des kgl. Einflusses gegenüber Kirche und Feudaladel. Unter dem Einfluß engl. Ökonomen wie Petty, Davenant und Child verfaßte er 1762 im Zusammenhang mit den Bemühungen der Krone um eine Liberalisierung des Handels seine „Reflexiones sobre el comercio español a Indias“. In diesen setzte er sich für die Abschaffung des Monopols von Cadiz und die Öffnung aller span. Häfen für den Amerikahandel, die Beseitigung des Flottensystems und der Privilegien der Handelskompanien sowie eine Senkung der Abgaben für den Export span. Produkte ein. Diese Forderungen nach mehr Freiheit für den span. Handel wurden ergänzt durch ein utilitaristisches Bild der überseeischen Besitzungen, deren Nutzen für C. darin bestand, daß die Metropole unter Ausschluß anderer Länder mit ihnen Handel treiben und damit den eigenen Handel ausweiten könne. Zwar solle man die Landwirtschaft in der Kolonie fördern, doch auf keinen Fall dürfe man den Handel mit Früchten oder Manufakturwaren erlauben, die denen der Metropole Konkurrenz machten, um nicht die wirtschaftliche Abhängigkeit zu zerstören, die die Herrschaft der Krone über diese Gebiete ausmache. Nach dem Motín de Esquilache von 1766 gehörte C. zu den treibenden Kräften hinter der Vertreibung der →Jesuiten aus Spanien und seinen Kolonien. Von 1768 stammt ein Gutachten C.s, das er zusammen mit dem Kronanwalt José Moñino, dem späteren Conde de Floridablanca, über das Problem der Unruhen nach der Vertreibung der Jesuiten aus den überseeischen Besitzungen verfaßt hatte. Diese Unruhen ließen ihn offenbar Abstand von seinem streng utilitaristischen Blickwinkel nehmen, und zusammen mit Floridablanca suchte er in dem Gutachten nach Möglichkeiten, eine engere Bindung Hispanoamerikas an Spanien zu erreichen, was v. a. durch größere Aufstiegsmöglichkeiten für Hispanoamerikaner in der span. Verwaltung geschehen sollte. Die Forderung nach einer ökonomischen Unterordnung der überseeischen Gebiete unter die der Metropole blieb jedoch bestehen. 1783 wurde C. Interims-Gouv. des Kastilienrates, drei Jahre später Gouv. Obgleich C. 1789 den Vorsitz über die Cortes erhielt, verlor er zu dieser Zeit v. a. durch den Aufstieg Floridablancas, der den Kastilienrat zugunsten der Minister zu schwächen suchte, rapide an Einfluß und wurde 1791 abgesetzt. Enrique Fuentes Quintana (Hg.), Economía y economistas españoles, Bd. 3: La Ilustración, Barcelona 2000. Vicent Llombart Rosa, Campomanes, economista y político de Carlos III, Madrid 1992. Ders. (Hg.), Pedro
cA n u d o s
Rodríguez Conde de Campomanes, Reflexiones sobre el comercio español a Indias (1762), Madrid 1988. AL E XANDRA GI T T E RMANN
Canasatego, * ca. 1690, † Anfang September 1750 Indianer vom Stamme der Onondaga, Sprecher des Rates der Onondaga und einflußreicher Sprecher der Six Indian Nations. C. nahm wahrscheinlich schon 1736 an den Verhandlungen der Six Indian Nations mit Pennsylvania teil. In den Verhandlungen von 1742, 1744 und 1749 spielte er eine führende Rolle. Er nutzte die Verhandlungen von 1742 und 1744 zu Erklärungen, nach denen die Delaware von den Six Indian Nations besiegt worden und deshalb unfähig gewesen seien, eine eigenständige Politik zu betreiben. Ihr Land gehöre den Six Indian Nations. In den Verträgen wurde es scheibchenweise an Pennsylvania verkauft. Den Delaware wies er neues Siedlungsland jenseits der Alleghenies an. C. wurde von anderen Indianern vergiftet. Wiliam N. Fenton, The Great Law and the Longhouse, Norman 1998, 410–433. William A. Starna, The Diplomatic Career of Canasatego, in: William A. Pencak / Daniel K. Richter (Hg.), Friends & Enemies in Penn’s Woods, University Park 2004, 144–163. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Canton →Kanton Canudos war eine Stadt im Hinterland von →Brasiliens nordöstlichem Bundesstaat Bahia. Sie wurde 1893 von dem charismatischen Wanderprediger Antônio Vicente Mendes Maciel (1830–1897) auf dem Gelände einer kleinen bäuerlichen Ansiedlung gegründet und erhielt von ihm den Namen Belo Monte. Der alte Name des Ortes, Arraial de Candos, sollte nichtsdestotrotz weiterbestehen. Der ursprünglich aus dem Inneren der nördlichen Provinz Ceará stammende Mendes Maciel, der von seiner immer zahlreicher werdenden Gefolgschaft aus Landlosen, ehem. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), Mestizen (→Casta) und Indianern schlicht Conselheiro (= Ratgeber) gerufen wurde, war zuvor jahrelang durch die abgeschiedenen und verarmten Ortschaften des semiariden nordöstlichen Hinterlandes, des sog. Sertão, gezogen. Dort predigte er einen konservativen und weltabgewandten Katholizismus. Als jedoch republikanisch gesinnte Militärs am 15.11.1889 die brasilianische Monarchie durch einen Putsch beendeten, geriet der Conselheiro in einen offenen Konflikt mit der neuen Staatsmacht. Entspr. der Vorstellungen vieler Ew. des über Jh.e von Monarchie, Kirche, Großgrundbesitz und Sklavenhaltung geprägten Nordostens handelte es sich bei der „Allianz von Krone und Kreuz“ um eine gottgegebene Ordnung. So erklärten der Conselheiro und seine Anhänger in C., welches gegen Mitte der 1890er Jahre mit ca. 25 000 Ew. bereits zur zweitgrößten bahianischen Stadt nach Salvador da →Bahia aufgestiegen war, daß sie der „antichristl.“ Rep. niemals Gefolgschaft leisten würden. Ein Konflikt mit der brasilianischen Reg., die sowohl von Streitigkeiten innerhalb der politischen Elite zerrissen war als auch die Ausweitung des Gewaltmonopols auf das gesamte Territorium anstrebte, war somit vorpro-
grammiert. Im Gegensatz zur älteren Forschung, die sich vornehmlich auf den berühmten Augenzeugenbericht des Militäringenieurs und Journalisten Euclides da Cunha (1866–1909) als Quelle stützte (Os Sertões, 1902), sieht die neuere Forschung C. nicht als millenaristisches und messianisch geprägtes Gemeinwesen an. Der Ort war weder von den übrigen Ortschaften des Sertão isoliert, von denen er in wirtschaftlicher Hinsicht abhing, noch ging es den weltlichen Führern C.s bzw. dem Conselheiro darum, den Tag des Jüngsten Gerichtes in Form eines Krieges gegen die Bundesreg. heraufzubeschwören. Es hatten sich zwar neben gottesfürchtigen sertanejos, ehem. Sklaven und Indianern, auch zahlreiche flüchtige Verbrecher in C. niedergelassen. Von ihnen ging jedoch keine reale Gefahr für die Rep. aus. Vielmehr wurden die Ew. von C. zum Spielball politischer Interessen und Machtgruppen, die in den ersten Jahren der Rep. immer deutlicher auf eine Konfrontation zusteuerten. Während eine unter dem Einfluß des →Positivismus stehende Fraktion die Existenz des Ortes als Hindernis auf dem Weg zu Ordnung, Fortschritt und Zivilisation betrachtete, sahen z. B. die Großgrundbesitzer des Bundesstaates Bahia den Conselheiro als einen gefährlichen Sozialrevolutionär an. Der von ihm propagierte Gemeinschaftsbesitz hätte demnach an den Grundfesten des patrimonialen Systems des coronelismo gerüttelt und bewirkt, daß immer mehr Tagelöhner die →Fazendas in Richtung C. verließen. Für zahlreiche radikale Republikaner, die sog. „Jakobiner“, war der Ort hingegen ein Hort des Monarchismus. Diese Gruppe strebte eine modernistisch-urbane Entwicklungsdiktatur an und führte einen Diskurs, in dem C. zum Zentrum einer großangelegten Verschwörung von Ausländern, Klerikern und Monarchisten gegen die junge Rep. avancierte. Tatsächlich war der Conselheiro zwar empört über die antiklerikalen Maßnahmen der republikanischen Reg., die u. a. den kirchlichen Besitz einschränkte, die Zivilehe einführte und die Kirche aus dem Schulwesen zurückdrängte. Insg. hatten die im staatsfernen C. lebenden Menschen jedoch keinerlei Verlangen, die bestehende Ordnung auf nationalstaatlicher Ebene umzustürzen. Weil die canudenses Aufgaben wie den Kirchenbau oder die Pflege der Friedhöfe selbst übernahmen, war ihnen auch die rk. Kirche wenig gewogen. Da der „Fall“ C. von den Medien in →Rio de Janeiro und →São Paulo längst zu einer Zerreißprobe für die Nation stilisiert worden war, setzten die mehrheitlich der liberalen Kaffee-Bourgeoisie (→Kaffee) aus São Paulo entstammenden politischen Entscheidungsträger, die sich sowohl von konservativer als auch von radikalrepublikanischer Seite bedrängt sahen, am Ende alles auf die militärische Karte. Sie machten ihre eigene politische Existenz von der Niederwerfung der canudenses abhängig. Die angestrebte Vernichtung der autonomen Gemeinde durch das brasilianische Heer, das nach dem siegreichen →Tripelallianzkrieg gegen →Paraguay einen bedeutenden Professionalisierungsschub erfahren hatte, gestaltete sich jedoch außerordentlich schwierig. Obwohl technisch und personell weit überlegen, gelang es der Armee erst 1897, nach vier Expeditionen und unter Einsatz von 12 000 Mann, die hartnäckig Widerstand leistende Gemeinschaft zu vernichten. Die Mehrheit der 151
c A P i t ul Ac i ó n
Ew. fiel dabei einem →Massaker durch rachsüchtige Soldaten zum Opfer. Der religiöse Führer der Bewegung, Antônio Conselheiro, starb indes bereits kurz vor dem Fall der Stadt an Entkräftung und Dysenterie. Erst im Nachhinein sollte sich der negative Blick auf C. langsam verändern und einer versöhnlichen, gewissermaßen „nationalen“ Perspektive weichen. Insb. wegen des heute als Klassiker der brasilianischen Literatur geltenden Werkes Os Sertões setzte sich langfristig die Sichtweise durch, daß die politischen Eliten und die Militärs im Kampf gegen C. überreagiert hätten. Die Bewohner des Sertão wurden so nachträglich zu Mitgliedern der Nation erklärt, die sich tapfer gegen die nur vermeintlich zivilisierten Invasoren gewehrt hätten. Bei der damals zum Kampf der „Zivilisation gegen die Barbarei“ stilisierten Auseinandersetzung habe es sich in Wirklichkeit um einen Bruderkrieg gehandelt. Das Ereignis wurde somit als größter Sündenfall der „eurozentrischen“ Alten Rep. (1890–1930) gedeutet, die sich durch ihren Abscheu gegen Folklore und Volkskultur auszeichnete. Spätestens im Zeitalter des brasilianischen Nationalismus, der seinen Höhepunkt unter der ersten Reg. von Getúlio Vargas (1930–1945) erreichte und eine deutliche Aufwertung der Volkskultur mit sich brachte, avancierte C. endgültig zum nationalen Mythos. Der berühmte Roman „La guerra del fin del mundo“ (1981) des Peruaners Mario Vargas Llosa, der auf den Aufzeichnungen von Euclides da Cunha basiert und von Literaturwissenschaftlern oft als Palimpsest bezeichnet wird, gab dem Mythos C. zu Beginn der 1980er Jahre neue Nahrung. Bis heute lebt C., das in den 1970er Jahren im Rahmen eines Staudammprojekts weitgehend überflutet wurde, im kollektiven Gedächtnis des Nordosten Brasiliens fort. Auch die heute in Brasilien gebräuchliche Bezeichnung der urbanen Elendsviertel als favelas geht wahrscheinlich auf C. zurück. So war favela ursprünglich der Name einer Pflanze aus dem Sertão, nach der ein Hügel bei C. benannt war. Die auf diesem Hügel stationierten Reg.ssoldaten aus Rio de Janeiro wurden nach ihrer Rückkehr nicht bezahlt und sahen sich daher gezwungen, an den Rändern der Stadt Rio de Janeiro in einer Barracken-Siedlung zu hausen. Diesem Ghetto gaben sie den heute für alle Elendsviertel in Brasilien üblichen Namen favela. Dawid Danilo Bartelt, Nation gegen Hinterland, Stuttgart 2003. Robert Levine, Vale of Tears, Berkeley 1992.
C. von Santa Fe vom 17.4.1492, die Rechtsgrundlage. Während des gesamten 16. Jh.s – wenngleich in unterschiedlichem Maße – bediente sich die Krone dieses Mittels und erschloß und unterwarf sich auf die Weise große Territorien in Übersee. Mit dem Fortgang der Expansion wandelte sich der Inhalt der Vereinbarung, oft stand nun die Befestigung von Gemeinwesen und die Besiedlung im Mittelpunkt, außerdem spielte die Pflicht zur Beachtung von →Recht und Verfahren, überhaupt die bürokratische Indienstnahme, eine immer größere Rolle. Die Rechtsnatur der C. ist umstritten. Zwar handelt es sich – auch nach der zeitgenössischen Rechtsauffassung – im Grundsatz um Verträge. Da diese Einordnung für die Krone aber erhebliche Nachteile hatte, versuchten ihre juristischen Interessenvertreter eine Nähe zum Privileg zu konstruieren – mit dem Ziel, die rechtlichen Möglichkeiten einer einseitigen Auflösung der Bindung zu erweitern. Ihnen kam entgegen, daß die C., im Kontext von Kanzlei und Hof verhandelt und verschriftlicht, der Sprache und formalen Gestaltung nach dem Phänotyp einseitiger Rechtsakte entsprachen. Außerdem enthielten sie z. T. Regelungen, etwa zum Schutz der indigenen Bevölkerung, deren Adressat erkennbar nicht (nur) die jeweilige Partei war, sondern jedermann und die später ohne größere Änderungen in Gesetze eingefügt wurden. Die kolonialen C. waren kein isoliertes Phänomen. Auch auf vielen anderen Gebieten kooperierte die span. Krone im 16. Jh. mit privaten Unternehmern, den Asentistas. Die Bilanz dieser Vorgehensweise fällt zwiespältig aus. Einerseits erweiterte die Krone durch die Mobilisierung privaten Kapitals ihren Handlungs- und Einflußradius in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Andererseits mußte sie feststellen, daß es sich bei den C. in Wahrheit um Verträge zu Lasten Dritter handelte, daß nämlich ihre Vertragspartner sich den Ersatz für die geleisteten Investitionen bei denjenigen verschafften, die nach dem Herrschaftsverständnis der Zeit unter dem Schutz der Krone standen. Der nie eingestandene oder gar aufgelöste Widerspruch zwischen einer am Eigennutz des Einzelnen orientierten Expansionspolitik und einer interventionistischen Gemeinwohldoktrin führte regelmäßig zu schweren Konflikten und Verwerfungen. Daniel Damler, Imperium Contrahens, Stuttgart 2008. Marta Milagros del Vas Mingo (Hg.), Las capitulaciones de Indias en el siglo XVI, Madrid 1986.
S VE N S CHUS T E R
D A N IEL D A MLER
Capitulación. In einer C. verpflichtete sich ein privater Unternehmer gegenüber der Krone von Kastilien für diese, aber auf eigene Kosten und Gefahr, Unternehmungen in bisher nicht erkundeten, bevölkerten oder unterworfenen außereuropäischen Gebieten durchzuführen. Als Gegenleistung stellte die Krone ihren Partnern weitreichende Konzessionen in Aussicht. Auf der Basis übertrug sie ihnen in separaten Bestallungen Ämter, betraute sie mit der Rechtsprechung, militärischen Führung und Verwaltung des in der Urkunde definierten geographischen Raumes, sicherte ihnen die Personalhoheit und Steuervergünstigungen zu, beteiligte sie an den Einnahmen usw. Bereits für die erste Reise des Christoph →Kolumbus bildete eine solche Absprache, die
Caprivi de Caprera de Montecuccoli, Leo Graf (seit 1891) von, * 24. Februar 1831 Charlottenburg, † 6. Februar 1899 Skyren (Skórzyn), □ Gut Skyren, ev.-luth. C. wurde nach dem Abitur Berufsoffizier und machte im preußischen Heer rasch Karriere. Im Dt.-Frz. Krieg 1870/71 errang er beide Klassen des Eisernen Kreuzes und den Orden pour le mérite. Nach Verwendungen im preußischen Kriegsministerium und auf verschiedenen Kommandeursstellen wurde er 1883 zum Chef der Admiralität berufen. Von Wilhelm II. wegen Differenzen in der Flottenpolitik 1888 entlassen, ernannte dieser den General am 20.3.1890 als Nachfolger Otto v. →Bismarcks zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräs. Innenpolitisch verfolgte C. eine nach eigener Einschätzung
152
cA rg o -ku lte
gemäßigt konservative „Versöhnungspolitik“, weshalb er besonders von Sozialdemokratie, Freisinn und Zentrum geschätzt wurde. Seine Handels- und Militärpolitik entfremdete ihm allerdings zunehmend die Agrarlobby, die militärischen Eliten und die konservative Rechte. Bereits am 18.3.1892 legte C. das Amt des Ministerpräs. nieder, was seine Stellung nachhaltig schwächte. Außenpolitisch setzte er nach der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags auf die Stärkung des Dreibundes und gute Beziehungen zu Großbritannien. Vor diesem Hintergrund schloß er mit London am 1.6.1890 den →HelgolandSansibar-Vertrag ab. In diesem Zusammenhang erwarb das Dt. Reich auch den →„C.-Zipfel“. C. war dennoch, konträr zum Zeitgeist, ein impliziter Gegner weiterer kolonialer Expansion, weil seine Außenpolitik traditionell kontinentaleuropäisch und deshalb im weltpolitischen Maßstab pro-brit. ausgerichtet war. Am 26.10.1894 wurde C. aus seinen verbliebenen Ämtern entlassen und zog sich völlig aus dem öffentlichen Leben zurück. C.s politische Bilanz wurde, anknüpfend an die scharfe Kritik Bismarcks an seinem Nachfolger, jahrzehntelang eher negativ bewertet. Dieses Bild wich in jüngerer Zeit einer differenzierteren Betrachtung. C.s Versuch einer systemimmanenten liberal-konservativen Reformpolitik scheiterte letztlich am Widerstand des konservativen Establishments, dem sich der „Kanzler im Waffenrock“ nicht gewachsen zeigte. Klaus Rüdiger Metze, Leo von Caprivi (1831–1899), in: Wilhelm von Sternburg (Hg.), Die dt. Kanzler, Berlin 1998. 39–54. Effa Okupa, Carrying The Sun On Our Backs, Berlin / Münster 2006. Rolf Weitowitz, Dt. Politik und Handelspolitik unter Reichskanzler Leo von Caprivi. 1890–1894, Düsseldorf 1978. MAT T HI AS S T I CKL E R Caprivi-Zipfel. Dieses südliche Randgebiet des vorkolonialen Lozi-Kgr.s, ein schmaler, 450 km langer Landstreifen, wurde durch den →Helgoland-Sansibar Vertrag von 1890 als Teil eines weitreichenden dt.-brit. Gebietsaustausches der Kolonie →Dt.-Südwestafrika angegliedert. Von 1909 bis 1914 bestand in Schuckmannsburg (jetzt Katima Mulilo) im äußersten Osten des Gebiets die „ksl. →Residentur C.-Z.“. Die technische Umsetzung dt. Interessen an einem Zugangskorridor zum Sambesi stellte sich bald als utopisch heraus. Zunächst Teil einer Spottkampagne der dt. Koloniallobby gegen Reichskanzler Leo von →Caprivi ging die Bezeichnung C. nach der Jh.wende vom Volksmund in den Allgemeingebrauch über. 1990 wurde die C.-Region nach Jahrzehnten wechselhafter Kolonialverwaltung eine der 13 Regionen des unabhängigen →Namibias und bleibt seitdem sozioökonomisch weit unter dem Landesdurchschnitt. 1999 scheiterte der Versuch einer im Befreiungskampf gegen die Apartheid-Reg. (→Apartheid) wurzelnden Sezessionsbewegung, den C. durch Waffengewalt von Namibia loszulösen. Während des daraufhin von der SWAPOReg. verhängten Ausnahmezustand kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Seit 2004 stellt eine mit dt. Entwicklungshilfegeldern (→Entwicklung) nahe der Provinzhauptstadt Katima Mulilo erbaute Straßenbrücke eine über 2 500 km lange Teerstraßenverbindung des Kupfergürtels →Sambias und der Demokratischen
Rep. →Kongo mit dem namibischen Überseehafen Walfischbay her. Maria Fisch, Der Caprivizipfel während der dt. Zeit 1890–1914, Köln 1996. WO LFG A N G ZELLER / G ERH A R D H U TZLER
Cardim, Fernão, SJ, * 1549 Vila de Alvito, Alentejo (Portugal), † 27. Januar 1625 Aldeia de Espírito Santo (Vila de Abrantes), Bahia (→Brasilien), □ unbek., rk. C. trat 1566 in den Jesuitenorden (→Jesuiten) ein und studierte in Évora neben Theologie auch die Artes Liberales. Seit 1583 hielt er sich in Brasilien auf. Nach einer Reise nach Rom geriet C. auf der Rückfahrt nach einem Piratenüberfall in zweijährige engl. Gefangenschaft. Ab 1603 hielt sich C. wieder in Brasilien auf, wo er zum Provinzial aufstieg und Rektor des Kollegs (→Kollegium) von →Bahia war. Zu C.s Schülern gehörte auch der wortgewaltige António →Vieira. Im Laufe seiner mehr als dreißigjährigen Tätigkeit in Brasilien verfaßte C. zwei Abhandlungen über die natürlichen Gegebenheiten und die eingeborene Bevölkerung des Landes. Ein in zwei Briefen verfaßter Bericht über eine Visitation der Jesuitenprovinz in Brasilien ist eine ebenso anschauliche wie kritische Darstellung der kolonialen Gesellschaft. C.s Abhandlungen wurden 1625 auf Englisch veröffentlicht, auf Portugiesisch erst Mitte des 19. Jh.s. Das gesamte Werk liegt unter dem Titel ‚Tratados da terra e gente do Brasil‘ vor. Dauril Alden, The Making of an Enterprise, Stanford 1996, insb. 474–501. Fernando Amado Aymoré, Die Jesuiten im kolonialen Brasilien, Frankfurt/M. u. a. 2009. Fernão Cardim, Tratados da terra e gente do Brasil, (Hg.) Ana Maria de Azevedo, Lissabon 22000. CH R ISTIA N H A U SSER
Cargo-Kulte nennt man die in Melanesien (insb. in →Papua-Neuguinea u. d. →Salomonen) seit der Christianisierung aufgetretenen indigenen Bewegungen, die religiöse u. pol. Motive u. Zielsetzungen miteinander verbinden. Im Mittelpunkt stehen heilsgeschichtliche Prophezeiungen durch einen oder mehrere Anführer, nach denen der indigenen Bev. materielle Güter durch die Teilhabe an einem verborgenen, geheimen Wissen bei Erfüllung gewisser Gebote u. Beachtung gewisser →Tabus als eine Art „Geschenk des Himmels“ zukommen. Frühere europ. Deutungen, die einen Zusammenhang mit dem Abwurf von Nahrungsmitteln u. „survival kits“ zur Versorgung verstreuter alliierter Soldaten im Pazifik während des →Zweiten Weltkriegs sahen, finden sich durch die historische Entwicklung widerlegt. In der Tat lassen sich schon im zweiten Drittel des 19. Jh.s Ansätze für C. erkennen. Besonders bekannt geworden ist die von Europäern sog. „Vailala Madness“ im Golf von Papua unmittelbar nach Ende des →Ersten Weltkrieges. Der engl. Begriff „madness“ soll zum einen die rapide Dimension der Verbreitung des Phänomens unter einer bestimmten Bev. herausheben, zum anderen das europ. Unvermögen deutlich machen, die Anhänger der C. von der (aus europ. Sicht) Irrationalität der behaupteten Phänomene zu überzeugen – Indikatoren, die insges. für C. charakteristisch sind. Unzählige europ. Forschungen ha153
c A r onde l e t, lu i s f r A n c i s c o h é c to r b A r ón d e
ben herausgearbeitet, daß die C. historisch in mehreren Wellen verlaufen, insb. nach pol. u. mentalen Großkrisen (Erster u. Zweiter Weltkrieg). Während die C. gegen Ende der 60er Jahre des 20. Jh.s deutlich nachließen, so daß schon vom Verschwinden der C. gesprochen wurde, ist st. der Jahrtausendwende ein Wiederaufleben der C. zu erkennen, eine Tendenz, die in den letzten Jahren eher noch zunimmt. Folgt man der o.a. These, daß C. insb. zu Zeiten von Großkrisen auftreten, bedeutete dies im Umkehrschluß, daß wir uns heute in einer solchen befinden. C. besaßen eine pointiert antieurop. Tendenz, die sich teilweise auch gewalttätig manifestierte. Da sie diese auch nach der →Dekolonisation noch besitzen, ist eine Interpretation als antikoloniale Bewegung fragwürdig, es sei denn man postulierte, daß sich ein Neokolonialismus breitmacht. Eine bewußte Infragestellung etablierter Machtstrukturen, egal ob indigen oder europ., durch die C. erscheint jedoch plausibler. Ebenso erklärt die einfache Subsumtion der C. als Ausdrucksformen u. regionaler Variablen eines indigenen Christentums nur einzelne Aspekte der C. Die Bezüge zum AT u. NT u. insb. die Berufung auf prophetische Gaben dienen in einer stark durch das Christentum geprägten Kultur u. Gesellschaft eher als Rechtfertigung für eine sonst nicht legitimierte Usurpation von Befehlsgewalt als daß sie konstitutive Elemente einer synkretistischen Religion repräsentieren. Q: Zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte über Cargo-Kultbewegungen in allen Teilen der Erzdiözese Rabaul im MSC-Archiv Vunapope u. im Diözesanarchiv ebd. Ähnlich ausführliche Aufzeichnungen protest. Pastoren i. Archiv des Missionswerks d. Ev.-Luth. Kirche i. Bayern i. Neuendettelsau (darunter Friedrich Wagner, The Outgrowth and the Development of the Cargocult, Ms. 1964, 203 S.). L: Kenelm Burridge, Mambu, Princeton, NJ 1960, 21995. Friedrich Steinbauer, Die CargoKulte, 2 Bde., Diss. Erlangen-Nürnberg 1971. Peter Lawrence, Road belong Cargo, Manchester 1964, 21967. Peter Worsley, The Trumpet Shall Sound, London 1957, 2 1968. HE RMANN HI E RY Carondelet, Luis Francisco Héctor Barón de, * 1748 Bouchain, † 10. August 1806 Quito, □ Grabstätte in der Iglesia de la Catedral / Quito, rk. Adeliger, wallonischer Herkunft. Sohn von Juan Luis Chislain, Barón de C. y de Noyelles und Angelina Bernarda Bosoist, Vicomtesse von Langle. Trat sehr früh in das Wallonische Regiment der span. kgl. Garde ein und war bereits 1775 Befehlshaber der Vierten Division im Feldzug gegen Algerien, 1781 kämpfte C. unter Führung von Bernardo de Gálvez, dem Gouv. des span. Louisiana, in der Schlacht von Pensacola für die Rückeroberung Floridas von den Briten. 1787 kehrte er nach Spanien zurück und wurde zum Infanterie-Oberst befördert und im gleichen Jahr zum Ritter des Malteserordens geschlagen. Zwischen 1788 und 1792 war C. Intendant und Gouv. der Provinz San Salvador im Kapitanat von →Guatemala. Für seine Erfolge wurde er zum Feldmarschall befördert und zum Gouv. Louisianas und Westfloridas erhoben. Während seiner Reg.szeit bemühte sich C. um die wirtschaftspolitische Entwicklung von New Orleans, begann mit der Installation von Straßenlaternen 154
und förderte die Zuckerindustrie (→Zucker). Weiterhin ging er gegen Expansionsversuche der →Vereinigten Staaten entlang des →Mississippi vor. 1797 wurde er als Präs. in die Audienz von Quito entsandt. Sein Amt trat C. jedoch erst 1799 an. Ähnlich wie in Louisiana und in gleicher Weise vom aufgeklärten Ideal des Fortschritts und Gemeinwohls geprägt, ergriff C. eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur und der Wirtschaft in der Audienz. In der Hauptstadt veranlaßte er den Bau der Friedhöfe von San Diego und El Tejar, den der Kathedralkuppel und des Reg.spalasts. Weiterhin regelte C. den Einsatz von Nachtwachen, den Betrieb von Spielhäusern und Hahnenkämpfen und setzte sich für den Anbau von →Tabak und Chinarindenbäumen im Nordwesten und Süden der Audienz ein. In diesem Zusammenhang schickte er mehrere Behälter mit Proben der vielversprechenden Chinchona-Pflanze zur Linderung der →Malaria nach Madrid. Im Zeichen des „Regalismo“ gründete C. die säkularisierte „Real Universidad de Santo Tomas“, für die die vom Dominikanerorden geführte Universität mit dem ehem. Jesuitenkolleg (→Jesuiten, →Kollegium) San Luis zusammengelegt wurde. Eine weitere Initiative bestand im Bau der Verbindungsstraße „Malbucho“ zwischen Quito und der Provinz Esmeraldas. Dabei bat C. auch um die Konzession des →Freihandels mit der an der Nordwestküste liegenden Insel La Tola, dem Anlegeplatz von Händlern aus →Panama. Auf diese Weise sollte der nördliche Andenraum der Audienz an den Welthandel angeschlossen und die Abhängigkeit von den Häfen in →Guayaquil und →Lima verringert werden. Hierfür holte sich C. die Unterstützung der ebenfalls vom aufgeklärten Geist beeinflußten Wissenschaftler Antonio Meló, Pedro Muñoz und des Neu Granadiners Francisco José de Caldas. Schließlich unterstützte C. die wissenschaftlichen →Expeditionen von Juan Tafalla und Agustín Manzanilla und die Forschungsreise von Alexander von →Humboldt und Aimé Bonpland, die sich 1802 in der Audienz aufhielten. C. starb in Quito und wurde in der Kathedrale beerdigt. Der während seiner Amtszeit errichtete Reg.spalast trägt heute noch seinen Namen und gilt als Metonymie für die Reg. der Rep. →Ecuador. Carlos Manuel Larrea, El vigésimono presidente de la Real Audiencia de Quito, Quito 1970. G A LA X IS BO R JA G O N ZÁ LEZ
Carrera de Indias. Bezeichnet sowohl die Route als auch das Konvoisystem der span. Flotte („Indienflotte“, flota de Indias) für den Handel mit den am. Besitzungen. Spanien beanspruchte das alleinige Recht auf wirtschaftliche Ausbeutung seiner überseeischen Kolonien. Ausländer waren grundsätzlich seit dem Vertrag von Tordesillas (1494, →Bullen) von diesem Monopol ausgeschlossen. 1503 wurde in Sevilla die →Casa de Contratación gegründet und 1524 dem Consejo de Indias unterstellt. Die Schaffung dieser Institution zur Verwaltung und staatlichen Überwachung des Überseehandels verwirklichte den Ausschließlichkeitsanspruch der kastilischen Krone auf die Ausbeutung ihrer am. Besitzungen. Doch ebenso schnell begannen auch andere Mächte, ihr Interesse an den Gewinnen aus den span. Kolonien, v. a.
cArti er, j A cq u es
der →Edelmetalle, anzumelden. 1537 lief erstmals ein Verband von span. Handelsschiffen in Begleitung von Kriegsschiffen aus, die die Sicherheit des Konvois vor →Freibeutern und Kriegsschiffen feindlicher Nationen gewährleisten sollten. Sechs Jahre später wurde angeordnet, die alljährliche Überfahrt der Handelsschiffe auf einer vorgeschriebenen Route unter Beteiligung einer Schutzflottille zu organisieren. Zur Erhöhung der Sicherheit wurde die Flotte unter Berücksichtigung der Windverhältnisse aufgeteilt: ein Konvoi, die Flota, segelte im Mai nach →Mexiko (Nueva España) und ein zweiter, die Flota de Galeones, im Aug. nach Südamerika (Tierra Firme). Vom neu-span. Pazifikhafen →Acapulco wurde die Handelsverbindung zu den →Philippinen (galeón de →Manila) hergestellt. Beide Flotten liefen von Sevilla (über Sanlúcar de Barrameda) und später von Cadiz nach den Kanarischen Inseln aus, von dort die Flota über →Kuba nach Veracruz und die Flota de Galeones nach →Cartagena de Indias und weiter nach Nombre de Dios (ab 1598 Portobelo), wo der Warenaustausch mit →Panama und →Peru erfolgte. Die Waren wurden zwischen →Atlantik und Pazifik über den mittelam. Isthmus auf →Maultieren und auf dem Wasserweg entlang dem Río Chagres transportiert. Der Rückweg, zu dem sich die beiden Flotten nach dem Winter im Hafen von Havanna trafen, wurde gemeinsam über die Azoren angetreten. Ab 1717 löste Cadiz Sevilla ab. Mit der sukzessiven Einführung des imperialen →Freihandels (1765 für die →Karibik, 1778 für das südam. Festland, 1789 für Neu-Spanien) wurde das System der Carrera abgeschafft. 1790 segelte der letzte Flottenverband nach →Amerika. Das Konvoisystem war insg. erfolgreich, da die europäische Konkurrenz über 200 Jahre das span. Monopol nicht zu brechen vermochte. Bis auf wenige Ausnahmen (Erbeutung des gesamten Flottenverbands 1628 durch den Niederländer Piet →Heyn sowie 1656 durch den Engländer Robert Blake) gelangten die Schiffe sicher an ihr Ziel. Das Konvoisystem ermöglichte Spanien die Finanzierung seiner Kriege, allerdings trugen eine extrem hohe Inflation, der äußerst lebhafte Schmuggel zur Umgehung des kgl. Fünftels (quinto real) und schließlich der Abfluß der Edelmetalle von Spanien über →Genua, Antwerpen und Amsterdam in das restliche Europa dazu bei, auf lange Sicht die span. Wirtschaft zu schädigen. Mark Burkholder / Lyman Johnson, Colonial Latin America, New York 1990. Antonio García-Baquero González, La Carrera de Indias, Salamanca 1992. E. Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Europäischen Expansion, Bd. 4, Wirtschaft und Handel der Kolonialreiche, München 1988. NI KOL AUS BÖT T CHE R Cartagena de Indias. Hauptstadt der gleichnamigen provincia menor und gobernación im →Vize-Kgr. Nuevo Reino de Granada (im heutigen →Kolumbien), gegründet 1533 von dem Conquistador Pedro de Heredia. Der Name der Stadt geht auf die Ähnlichkeit des Naturhafens mit Cartagena in Spanien zurück. In der Kolonialzeit Sitz des Gouv.s / Generalkapitäns, einer Münzstätte und Zollbehörde sowie eines Tribunals der Inquisition. Der koloniale Stadtkern wurde von der Plaza Mayor in der Tradition kastilischer Städte mit Kathedrale und Verwal-
tungsgebäuden sowie der Plaza del Mar am Hafen als Mittelpunkt des Handels geprägt. Während der gesamten Kolonialzeit war C. strategischer und wirtschaftlicher Mittelpunkt Neu-Granadas (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) auf Grund der ungewöhnlich günstigen Lage des idealen Naturhafens. Nach verheerenden Plünderungen durch die Freibeuter (→Freibeuterei) Robert Baal (1544), Martin Cote (1560), John Hawkins (1569) und Francis →Drake (1586) wurde C. im 17. Jh. nach Plänen des it. Militärarchitekten Antonelli mit Stadtmauern und Befestigungsanlagen ausgestattet. Die Bedeutung der Stadt als größter Verteilermarkt des atlantischen →Sklavenhandels machte C. zu einem Handelszentrum erster Ordnung. Im Rahmen des →asiento de negros gelangten im 17. Jh. jährlich durchschnittlich über 5 000 Sklaven von der westafr. Küste nach C., von wo aus sie weiter ins Landesinnere an die Bergwerkszentren von Neu-Granada und über →Panama nach →Peru verkauft wurden. Die Hafenstadt bot außerdem alljährlich der span. Handelsflotte Schutz, bildete als Versorger des Binnenmarktes neben der Hauptstadt Santa Fe de Bogotá das Kernstück des Wirtschaftslebens von NeuGranada und flankierte als Militärstützpunkt den Isthmus von Panama. C. übernahm als obligatorische Anlaufstelle der span. Handelsflotte auf der →Carrera de Indias die Funktion eines Stützpunktes innerhalb des atlantischen Flottensystems. Auf der interkontinentalen Handelsroute war der Hafen Zwischenstation zum mittelam. Isthmus. Der Austausch der Waren aus Spanien, →Puertobelo, Panama und Peru sollte dem von der span. Krone verordneten Exklusivitätsprinzip des Amerika-Handels entspr. ausschließlich über C. abgewickelt werden. Auch auf dem Rückweg schlug die Flota de Galeones de Tierra Firme die Route vom Golf von Darién nach →Kuba über C. ein, da sich auf Grund der gefährlichen Windverhältnisse die direkte Strecke nicht empfahl. Ebenso wichtig war die Bedeutung von C. für die Versorgung des gesamten Hinterlandes. Die Nähe zur Flußachse Magdalena-Cauca sicherte der Stadt ihre Vormachtstellung im Binnenhandel gegenüber anderen nicht unbedeutenden Handelsplätzen wie Santa Marta oder Maracaíbo. Im 18. Jh. nahm die Bedeutung des Hafens von C. allmählich zugunsten Havannas ab. 1822 wurde C. unabhängig von Spanien. María del Carmen Borrego Pla, Cartagena de Indias en el siglo XVI, Sevilla 1983. Margaret Olsen, Slavery and Salvation in Colonial Cartagena de Indias, Gainesville 2004. N IK O LA U S B Ö TTC H ER Cartier, Jacques, * 1491 St. Malo, † 1. September 1557 ebd., □ nördl. Seitenkapelle d. Kathedrale St. Vincent, St. Malo, rk. C., der seit seiner Jugend Seemann im frz. St. Malo war, wurde 1532 von Bischof Jean le Veneur aus St. Malo dem Kg. wegen seiner Kenntnis von „Brasil“ und „Newfoundland“ als Leiter einer →Expedition nach Nordamerika vorgeschlagen. Er sollte Gold und einen Seeweg nach Asien suchen. Vom 20.4. bis 5.9.1534 erkundete C. mit zwei Schiffen das Mündungsgebiet des St. Lawrence-Stromes, auf einer zweiten Fahrt im folgenden Jahr (19.5.1535–16.7.1536) den Strom selbst bis 155
c A s A de lA c o n t r AtAc i ó n
zur Siedlung Hochelaga, dem späteren Ort von Montréal. Sein Auftrag für die dritte Expedition (23.5.1541 – Sommer 1542) bestand in der Suche des sagenhaft reichen Kgr.s „Saguenay“. Dieses dritte Unternehmen war dem Adeligen Jean-François de La Rocque de Roberval (ca. 1500–1560) unterstellt. C.s Expeditionen schufen die Grundlagen für die Inbesitznahme →Kanadas. Seine Kontakte zu den Irokesen (→Irokesen-Föderation) von Stadaconé und Hochelaga waren durch Hochmut und Geringschätzung der Irokesen geprägt. Henry Percival Biggar (Hg.), The Voyages of Jacques Cartier, Ottawa 1924. Marcel Trudel, Stichwort „Cartier, François“, in: Dictionary of Canadian Biography (online-edition). Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg, 126–132, 158–169. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Casa de la Contratación. Die 1503 in Sevilla gegründete Behörde (urspr. unter der Bezeichnung „Casa y Audiencia de Indias“) führte die Aufsicht über den span. Handel mit Hispanoamerika. Sie war die erste Institution, die speziell für am. Belange zuständig war. Als Vorbild diente bei der der Gründung die port. Casa da India, doch umfaßte die Zuständigkeit der C. einen deutlich größeren Bereich. Zu ihren Aufgaben zählten die Registrierung des gesamten Warenverkehrs mit →Amerika, die Lagerung von Waren und die Verproviantierung der Atlantikflotten, die Eintreibung verschiedener Handelsabgaben (Almojarifazgo, →Avería), die Registrierung aller Passagiere nach Amerika und die Rechtsprechung. Der legale Kolonialhandel konnte nur in Sevilla und ausschließlich von Spaniern abgewickelt werden, worüber die Behörde ebenfalls zu wachen hatte. Neben diesen administrativen und juristischen Funktionen oblagen ihr auch die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Navigation, die Sammlung geographischer Kenntnisse über Amerika, die Erstellung von Karten und die Ausbildung von Navigatoren. Somit war die C. zumindest im 16. Jh. auch eine herausragende europäische Lehr- und Forschungseinrichtung. Den Kern der Behörde bildeten anfangs drei leitende Beamte: ein Schatzmeister, der alle Gold-, Silber- und Edelsteinlieferungen für die Krone in Empfang nahm, ein Buchhalter sowie ein Lager- und Proviantmeister. Ab 1557 stand ein Präs. der rasch wachsenden Einrichtung vor, zu der schließlich über 100 Mitarbeiter zählten. Die Schaffung des „Consejo de Indias“ am Hof (1524), dem die C. fortan unterstellt war, und der Zusammenschluß der Sevillaner Amerika-Händler im „Consulado de Cargadores a Indias“ (1543), der nun ebenfalls in Fragen der Rechtsprechung und Handelsorganisation eingriff, führten dazu, daß die C. zunehmend auf Verwaltungsaufgaben begrenzt blieb. Im 17. Jh. verlagerte sich der Umschlag des Kolonialhandels durch die Versandung des Guadalquivir zunehmend nach Cadiz, da die Hochseesegler immer seltener den Flußhafen von Sevilla erreichen konnten. Aus diesem Grund wurde der Sitz der C. 1717 nach Cadiz verlegt. Da im Verlauf des 18. Jh.s die Entscheidungsgewalt über Fragen des Kolonialhandels verstärkt bei einem neu geschaffenen Indienministerium lag und ferner ab 1765 immer mehr Häfen zum Handel mit Hispanoamerika zugelassen wurden, 156
verlor die C. rasch an Bedeutung und wurde schließlich 1790 aufgelöst. Die von der Behörde angefertigten Passagierlisten und Verzeichnisse der Schiffe und Waren des Kolonialhandels stellen heute auf Grund ihrer detaillierten Angaben herausragende Quellen für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Kolonialzeit dar. Antonio Acosta Rodríguez u. a. (Hg.), La Casa de la Contratación y la navegación entre España y las Indias, Sevilla 2003. N IELS WIECK ER Casabe. Span. el casabe, ist wahrscheinlich ein Wort der Taíno-Sprache von Española (heute Haiti / Dominikanische Rep.) für eine Art Fladenbrot bzw. Cracker aus dem Mehl der Yuca-Pflanze (Manihot esculenta, Yucca, Maniok, Kassave). „Ihr Brot, das sie caçabi nennen“, schreibt →Kolumbus im Bordbuch der ersten Reise. Die Kapitäne, Mannschaften und span. ConquistadorenTrupps sowie ihre indianischen Hilfstruppen nutzten das unter subtropischen und tropischen Bedingungen sehr haltbare Mehl und die ebenfalls sehr haltbaren C.-Vorräte nicht nur bei der →Eroberung der kontinentalen Gebiete →Mexikos, Mittel- und Südamerikas. In den Amerikas noch heute v. a. in →Brasilien als farinha und in der Dominikanischen Rep. als C. weit verbreitet. Die Tainos hatten eine Methode entwickelt, der bitteren Yuca ihren giftigen Saft zu entziehen. Die Wurzeln wurden auf einer Holz-Steinreibe (Guayo) bearbeitet; die Masse in einem langen Netz (Cibucán) durch ihr Eigengewicht gepreßt, bis der giftige Saft abgeflossen war. Das Mehl wurde zu großen Fladen geformt und auf großen heißen Tonplatten (Burén-Scheiben, tönerne Bratplatten) ausgebacken. Gunther Franke (Hg.), Nutzpflanzen der Tropen und Subtropen, Bd. 3, Stuttgart 1994. Michael Zeuske, Naborías: Die ‚Sklaverei‘ der karibischen Taíno, in: Ders. (Hg.) Schwarze Karibik, Zürich 2004, 43–52. MIC H A EL ZEU SK E
Casas →Las Casas, Bartolomé Casta. Span.-am., kolonialzeitliche, pauschalisierende Bezeichnung für die aus der biologischen Vermischung von Europäern, Indigenen, Schwarzafrikanern und vereinzelt auch Asiaten, etwa Filipinos, hervorgegangenen Bevölkerungsanteile, die in den einzelnen Gebieten des kolonialen →Amerika je nach Bevölkerungszusammensetzung unterschiedliche Bedeutung bzw. Verwendung finden konnte; weit verbreitet seit dem 17. Jh., wird sie gegen Ende der Kolonialzeit in den städtischen Metropolen durch „plebe“ (von lat. plebs) verdrängt, hält sich aber in eher ländlichen Gebieten weit über die Unabhängigkeit hinaus. Die Bezeichnung, meist im Plural als „castas“ gebraucht, steht oft neben präziseren Bezeichnungen, wie „mestizo“ (Weiß u. Indio), „mulato“ (Schwarz u. Weiß), „zambo“ (Indigen u. Schwarz). Der Begriff ist keineswegs ausschließlich im europäischen Sinne als „rassisch“ zu verstehen, sondern umfaßt ein weites Spektrum zusätzlicher Wertungen sozialen Charakters, wie „illegitime Herkunft“, „potentiell kriminell“, „infam“, „arm“, „plebejisch“, „niedrig geachteten Tätigkeiten nachgehend“, „zweifelhafter Herkunft“ usw. Nicht jeder ethnische Mischling wurde unter dieser Be-
cAu d i lli s m o
zeichnung gefaßt, z. B. wurden der indigene Adel und besitzende oder gebildete Schichten nicht oder nur im Konfliktfall von ihren Gegnern so bezeichnet. Besondere Bedeutung erlangte diese Bezeichnung Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jh.s als Malschulen die von der Kunstgeschichte als „cuadros de mestizaje“ bezeichneten Bilderserien in Umlauf brachten, die bis hin zu theoretisch komplexen Mischungsverhältnissen spezifischen Bezeichnungen Physignomien, Kleidungsmerkmale und Lebensstile zuordneten. Diese Bilderserien, die je einen Mann, eine Frau und ein Kind zeigten, versuchten zugleich, anhand der Physiognomien die Mischungsverhältnisse zu verdeutlichen. Dabei wurde durchweg von ein- und demselben Maler die ganze Breite der Mischungsverhältnisse in Einzelbildern dargestellt. Besonders verbreitet war dieses Bildprogramm in →Mexiko, in geringerem Ausmaß in →Peru, in den übrigen Gebieten findet es sich gar nicht. Angesichts der komplexen und viele Bilder umfassenden Darstellungsform ist davon auszugehen, daß diese Abbildungen der „castas“ vornehmlich von Angehörigen der Eliten in Auftrag gegeben wurden, im Alltag die komplexen Spezifizierungen aber angesichts der damit verbundenen Definitionsprobleme kaum Bedeutung hatten. Letzteres war wohl auch der Grund dafür, daß der Begriff meist pauschalisierend und im Plural verwandt wurde. S. a. →Kastensystem. R. Douglas Cope, The Limits of Racial Domination, Madison 1994. Bernard Lavallé, Transgression et stratégie du métissage en Amérique coloniale, Paris 1999. HORS T P I E T S CHMANN
Castillo de Bobadilla, Jerónimo, * um 1546 Medina del Campo, † September 1605, □ unbek., rk. C., Autor der noch bis ins 18. Jh. hinein vielfach aufgelegten Política para corregidores y señores de vasallos (erste Auflage Madrid 1597), aus niederem Adel, studierte Cánones in Salamanca (Lizenziat 1568) und begann danach eine Laufbahn als praktischer Jurist, die ihn in verschiedene Ämter u. a. als →Corregidor und Pesquisidor (bis 1590), als Abogado vor den Consejos de la Corte (bis 1592), als Letrado de las Cortes (bis 1602) und schließlich in das Amt des Fiscal de la Real Audiencia y →Chancillería de Valladolid führte. Diese vielfältige praktische Erfahrung spiegelt sich in dem zwischen 1590 und 1595 verfaßten, vor der Publikation 1597 um einige Anmerkungen ergänzten Hauptwerk. Es wendet sich an Gouv.e, →Corregidores u. a. mit der Ausübung der Reg. und Verwaltung Betraute, und erläutert Grundregeln der Verwaltungstätigkeit, insb. der Justizverwaltung und der Abgrenzung der verschiedenen Jurisdiktionssphären. Wegen der praktischen Ausrichtung verfaßte C. seine Política – trotz der damit verbundenen, für die Verzögerung der Publikation verantwortlichen Probleme – in kastilischem Spanisch. Inhaltlich stützte C. sich nur wenig auf die naturrechtlichen Lehren seiner salmanticenser Lehrer, sondern auf Partikularrecht und v. a. auf die Autoren des ius commune. Diese gelehrte Praxis, der kasuistische Aufbau und der Stil seines Werks, lassen C. als typischen Vertreter der „Barockjurisprudenz“ an d. Wende zum 17. Jh. erscheinen.
Benjamín González Alonso, Jerónimo Castillo de Bobadilla y su Política para corregidores y señores de vasallos, in: Benjamín González Alonso, Sobre el Estado y la Administración en la Corona de Castilla y Aragón, Madrid 1981, 85–139. Francisco Tomás y Valiente, Castillo de Bobadilla. Semblanza personal y profesional de un juez del Antiguo Régimen, AHDE 45 (1975), 159–232. TH O MA S D U V E
Catlin, George, * 26. Juli 1796 Wilkes-Barre / Pennsylvania, † 23. Dezember 1872 Jersey City / New Jersey, □ unbek., anglik.-Episcopalian Der Sohn eines Juristen ergriff auf Wunsch des Vaters zunächst den Anwaltsberuf, der mit seinem ausgeprägten Wunsch nach einem ungebundenen Leben jedoch unvereinbar war. Daher gab C. den Beruf auf und zog nach Philadelphia, wo er dank seines Zeichen- und Maltalents bald als Porträtist von sich reden machte. In Philadelphia sah er erstmals eine Delegation nordam. Ureinwohner aus dem Gebiet westlich des →Mississippi, das von der US-Zivilisation noch nicht erschlossen war. C. wollte mehr über die →Indianer erfahren und reiste zu diesem Zweck 1832 erstmals ins Gebiet westlich des Mississippi. Bis 1840 fertigte er auf dieser und mehreren anderen Reisen Porträts von Angehörigen der indigenen Stämme zwischen Mississippi und Rocky Mountains an und malte auch Szenen aus deren alltäglichem Leben. Zudem erwarb er von den Indianern ethnographisch interessante Gebrauchsgegenstände wie Kleidung, Waffen und Musikinstrumente, die zusammen mit seinen Gemälden in New York (1837), London (1839) und Paris (1845) mit großem Publikumserfolg ausgestellt wurden. C.s Gemälden kommt zwar keine erstrangige Bedeutung in der Kunstgeschichte zu, doch haben sie zahlreichen Menschen in den →USA und Europa erstmals ein realistisches Bild von den nordam. Ureinwohnern vermittelt und so erheblich zur Überwindung der Klischees vom →edlen Wilden und vom blutrünstigen Wilden beigetragen. George Catlin, Letters and Notes on the Manners, Customs and Conditions of the North American Indians, New York / London 1841. Benita Eisler, The Red Man’s Bones, New York 2013. Horst Hartmann, George Catlin und Balduin Möllhausen, Berlin 1963. C H R ISTO PH K U H L
Caudillismo. Der C. charakterisiert einen autoritären Herrschaftstypus auf der Grundlage einer nicht institutionellen, personzentrierten, politisch-militärischen Weisungsgefolgschaftsbeziehung. Der Begriff (lat. caput = Kopf) geht auf die Zeit der Reconquista zurück. Als Caudillo bezeichnete man den Anführer einer Kämpferschar, die im Grenzgebiet zur maurischen Herrschaft von span. Seite aus kleine Eroberungs- und Beutezüge (cabalgadas) durchführte. Im Zuge der Conquista →Amerikas suchte sich dieser Typus bewährter militärischer Führer ein neues Betätigungsfeld in der Neuen Welt. Ihre kriegerische Erfahrung sowie ihre Fähigkeit, undisziplinierte Gruppen von Abenteurern zu disziplinieren, prädestinierten sie geradezu für diese Aufgaben. Mit der Festigung der span. und port. Herrschaft in Amerika ge157
c ec c h i , A n to n i o
wannen sie eine Schlüsselfunktion bei der Verdrängung und Bekämpfung der Ureinwohner in den Grenzgebieten der Kolonien. Der Begriff Caudillo ist in Südamerika weiter verbreitet als im karibischen Raum, in dem die indianische Entsprechung ‚Kazike‘ (→Caciques) einen vergleichbaren Typus bezeichnet. Mit Beginn der Unabhängigkeitskämpfe Anfang des 19. Jh.s, v. a. aber in den teilweise anarchischen Wirren der Nachkriegszeit, eröffnete sich den Caudillos ein neues Betätigungsfeld. Sie wurden nicht mehr nur als militärische, sondern zunehmend auch als politische Führer aktiv. Als Befehlshaber militärischer Verbände kämpften sie in den Bürgerkriegen für ihre eigenen und die Interessen ihrer Klientel. Der Wegfall der monarchischen Autorität, die bis dahin bestehende Interessenkonflikte zu überdecken vermocht hatte, ließ alte Rivalitäten wieder aufleben. Aus diesem Grund wird in der Forschung bisweilen die Funktion des Caudillo als Institutionsersatz angesehen, durch die die soziale und politische Ordnung v. a. auf dem Land aufrechterhalten werden konnte. Die dünne Besiedlung des Doppelkontinentes sowie die quasi feudale und klientelistische Gesellschaftsordnung der Haziendawirtschaft halfen den Caudillos ihren Machtanspruch, fernab der städtischen Zentren und der Zentralreg., zu behaupten und auszubauen. Literarisch errichtete der argentinische Nationalautor Domingo Faustino Sarmiento dem Caudillo mit seinem Werk ‚Facundo‘ (1945) ein Denkmal und initiierte damit gleichsam die wissenschaftliche Diskussion über das Thema. Als epochaler Stilbegriff bezeichnet der C. die Zeit zwischen 1820–1870. Ob mit der zeitlichen Einordnung das Phänomen zutreffend verortet werden kann, ist umstritten, weil der Caudillo im Laufe der sich mit ihm beschäftigenden wissenschaftlichen Forschung, häufig als eine Konstante in der lateinam. Politik und Gesellschaft betrachtet wurde. Aus dem politischen Vakuum der Unabhängigkeit entstanden, erfüllte der Caudillo, nach der Definition der charismatischen Herrschaft von Max Weber, die Legitimationsvoraussetzungen der Zeit. Charisma erscheint dabei als das wichtigste Element eines Caudillo. Der Soziologe Peter Waldmann fügte diesem die von der damaligen Bevölkerung als wichtig erachteten Eigenschaften Mut, Tatkraft, Männlichkeit, Stärke, rhetorische Gewandtheit und Menschenkenntnis hinzu. Im Zusammenhang mit dem C. wird auch immer wieder der Gewaltfaktor dieses Herrschaftsprinzips hervorgehoben. Hierin unterscheidet er sich vom Patron-Klient-Verhältnis. Oft wurden auch die Anführer sozialen Bandenwesens als Caudillos bezeichnet. In diesem Sinne kann man in der Fachliteratur eine konstante und kontroverse Diskussion über die Frage, ob der C. ein „Entwicklungshemmnis oder aber ein Ordnungselement“ (Rieckenberg, 239) darstellt, verfolgen. Gewalt muß sicherlich als ein wichtiger Aspekt in der Herrschaft eines Caudillo bezeichnet werden, hinzu tritt aber auch eine freiwillige Anerkennung seines Führungsund Machtanspruches durch die ihm Folgenden. Michael Rieckenberg, Caudillismus, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), 237–253. Peter Waldmann, Caudillismo als Konstante der politischen Kultur Lateinameri-
158
kas?, in: Jb. für Geschichte Lateinamerikas, 15 (1978), 191–207. STEPH A N K RO EN ER Cecchi, Antonio, * 18. Januar 1849 Pesaro, † 26. November 1896 Mogadischu, □ Cimitero Centrale / Pesaro, rk. C. studierte in Triest und →Venedig, wo er 1874 den Grad eines „Capitano di lungo corso“ erwarb. 1875 wurde er in den Dienst der Raffaele-Rubattino-Gesellschaft berufen. C. nahm 1877 an der zweiten Afrikaexpedition der It. Geographischen Gesellschaft nach Abessinien (heute →Äthiopien) teil, von der er erst im Jan. 1882 zurückkehren sollte. Dabei überstand er zahlreiche gefährliche Situationen und verbrachte über ein Jahr in Gefangenschaft. 1885 unternahm C. eine →Expedition, die ihn u. a. nach →Massawa und →Sansibar führte. Er fungierte danach als it. Generalkonsul in Aden (1887) und Sansibar (1892). Am 26.11.1896 wurde er in der Nähe von Mogadischu von Somalis ermordet. C. war ein kühner Entdecker, der immer wieder seine diplomatischen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Seine Werke zeichnen sich durch Detailreichtum zur →Geographie, Ethnographie und Sprachvielfalt Ostafrikas aus und sind zudem lebendige Reiseberichte. Q: Antonio Cecchi, Da Zeila alle Frontiere del Caffa, 3 Bde., Rom 1885–87. L: Gianfranco Flori, Antonio Cecchi, Pesaro 1996. Almerico Ribera, Vita di Antonio Cecchi, Florenz 1940. RO LA N D WIC K LES Celebes (Sulawesi). Port. Seefahrer hielten die vier langgestreckten Halbinseln irrtümlich für einen Archipel und Kartenzeichner sahen darin den Scherenschnitt einer Orchidee. Archäologische Funde sowie Höhlenzeichnungen, Sarkophage, Holzarbeiten, Schiffsbauteile und Spuren von Metallverarbeitung weisen u. a. auf weit zurückliegende Zivilisationsprozesse hin. Die erstaunliche Vielfalt der Insel – was Flora, Fauna und die unterschiedlichen Kulturen der indigenen →Ethnien wie der Bugis, der Toaraja oder →Minahasa angeht – erklärt sich sowohl aus ihrer geographischen Abschottung im Inneren wie auch aus der zentralen Position gegenüber den Schiffsrouten. Jh.elang war die Insel von außen beeinflußt und blieb eine Art Drehscheibe für Völkerwanderungen und Handelsbeziehungen ohne eine zentralistische Herrschaftsformation oder Kultur auszubilden. So entwickelten sich zahlreiche kleine Küstenstädte, die untereinander auf dem Landweg nahezu unerreichbar waren. Dessen ungeachtet siedelte im schwer zugänglichen Innern der altmalaiisch sprechende Clan der Toaraja, deren Naßreisanbau (→Reis), Beerdigungsrituale, Büffelkult und Architektur heute touristische Anziehungspunkte bilden. Neben der Land und Büffel besitzenden Oberschicht bestehen noch eine traditionelle Mittelschicht und eine sklavenähnliche Unterschicht. Ende des 13. Jh.s bildeten sich im Süden ind.-hinduistische Kgr.e der hier siedelnden Buginesen und Makassaren. Sie waren gefürchtete Seefahrer und beherrschten die Meerenge der Straße von →Makassar. Seit der Mitte des 14. Jh.s gehörten der Süden und der Osten der Insel zum ostjavanischen Reich Majapahit, das auf diese Weise auch den Gewürzhandel (→Gewürze) mit den →Molukken kontrollierte. Im 16. Jh. dominierte der mächtige Sultan
c en tenA ri o d e lA i n d eP en d en ci A
von →Ternate Nordost- und Mittelcelebes. Gleichzeitig begann gegen Ende des 16. Jh.s die Islamisierung, die durch Kaufleute insb. aus Nordindien getragen wurde. Mit den ersten Jahren des 17. Jh.s konnte das Sultanat von Makassar seinen Herrschaftsbereich über ganz C., Ceram, Timor, Buru, Solar und Flores nominell ausweiten. Kurz nach der spektakulären →Eroberung →Malakkas 1511 wagten sich die ersten Europäer, die Portugiesen, auf der Route zu den Gewürzinseln hierher und nannten die Insel, auf der sie bereits 1521 eine erste Handelsniederlassung gründeten, C. Damit wurde Lissabon für fast ein Jh. zum Zentrum des Gewürzhandels, doch bereits zu Beginn des 17. Jh.s folgten die Holländer ihnen und versuchten mit Gewalt und windigen Verträgen das Gewürzmonopol an sich zu bringen. Der Sultan von Makassar fühlte sich auch nach der Besetzung →Ambons durch die Holländer 1605 so stark, daß er – trotz ndl. Einschüchterungsversuche – den Handel mit den Molukken nicht einstellte. So blieb der Süden von C. so etwas wie eine „Freihandelszone“ für die konkurrierenden Europäer aus England, Spanien, Dänemark und Portugal, was nach dem Übergang Malakkas an die →Vereinigte Ostinidische Kompanie (VOC) 1641 besonders für die Portugiesen wichtig war. Erst 1666/67 gelang es Cornelis →Speelman – dank der Unterstützung durch die Buginesen – Südcelebes unter die Herrschaft der VOC zu zwingen. Die Reste einer vorhandenen Festung wurden um- und ausgebaut, in „Fort Rotterdam“ umbenannt, und dienten als administratives und militärisches Zentrum für Südcelebes. Im darin untergebrachten Gefängnis wurde der indonesische Nationalheld, Prinz Diponegoro von Yogyakarta (1785–1855) 27 Jahre – bis zu seinem Tode – gefangengehalten. Im Norden der Insel konnten sich die Holländer leichter durchsetzen – nicht zuletzt dank der eifrigen Missionierung. 1679 schlossen sie einen Freundschaftsvertrag mit den dortigen Minahasa, der 200 Jahre Gültigkeit behalten sollte. Die Kontrolle über das z. T. schwer erreichbare Innere der Insel – insb. des Toajara-Landes – übernahmen die Holländer erst im 20. Jh. Mit der fortschreitenden Kolonisierung trug auch die Missionierung zur „Befriedung“ der kriegerischen Stämme bei, die zugleich synkretistische Rituale hervorbrachte. Nach dem Ende der jap. Besetzung und mit der Unabhängigkeit der Rep. →Indonesien wurde C. in Sulawesi umbenannt und dem neuen Staat Indonesien 1950 eingegliedert. Art. „Celebes“, in: Encyclopaedie van Nederlandisch Indië, Bd. 1, 443–467. Jürgen N. Nagel, Der Schlüssel zu den Molukken, Hamburg 2003. S I GRUN WAGNE R Cemal, Ahmet, * 6. Mai 1872 Midilli (Mitilini), † 21. Juli 1922 Tiflis, □ Urne verschollen, musl. Sohn eines Militärarztes. Studium der Medizin, 1897 Promotion. Als junger Arzt im Heeresdienst Anschluß an Komitee für Einheit und Fortschritt. Im Juli 1908 maßgebende Beteiligung an der „jungtürk. Revolution“ und 1909 an Niederschlagung des reaktionären Gegenputsches. Aug. 1909 Ernennung zum Gouv. der Provinz Adana (Kilikien). Apr. 1911 Berufung zum Gen.-gouv. für Mesopotamien. Im Juli 1912 Verlust des Amtes nach Putsch der Anhänger des abgesetzten Sultans Abdül
Hamid II. Bei der erneuten Machtübernahme durch die „Jungtürken“ im Jan. 1913 Bestellung zum Militär-Gouv. und Chef der Geheimpolizei der Hauptstadt im Rang eines Generalleutnants mit dem Titel Paşa. Als Mitglied des „jungtürk. Triumvirats“ ab Dez. 1913 Minister für öffentliche Arbeiten. Gegen die von ihm als bedrohlich angesehene wirtschaftliche Dominanz des Dt. Reiches (→Bagdad-Bahn) Versuch der Knüpfung engerer Kontakte zu Frankreich, die dem Land eine große Anleihe zur Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen brachten. Im Febr. 1914 zusätzliche Übernahme des Marineministeriums. Während der Julikrise 1914 geheime Versuche, mit Frankreich ein Bündnis zu schließen und von Großbritannien die rasche Lieferung von zwei bereits bezahlten Schlachtschiffen zu erreichen. Beide Bemühungen scheiterten. Nach Kriegsausbruch faktisch aus dem Triumvirat verdrängt, Übernahme der Zivilverwaltung Syriens und Palästinas sowie des militärischen Befehls im Nahen Osten. Mitverantwortung für den Genozid (→Völkermord) an den Armeniern ist ihm anzulasten, ebenso wie für die weniger bekannten Gewalttaten gegen zionistische Siedler in Palästina, nestorianische Christen (→Nestorianer) und Drusen. Nach Waffenstillstand von Mudros Flucht nach Deutschland. 1919 in Istanbul in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1919–1922, gefördert durch Sowjetrußland, als Militärberater in Afghanistan mit der Absicht, Kampf gegen Großbritannien nach →Indien zu tragen. Ermordung durch Attentäter einer armenischen Geheimorganisation während einer Reise nach Moskau, die eine militärische und ökonomische Unterstützung der türk. Nationalbewegung durch die Sowjets zum Ziel hatte. G ERH A R D H U TZLER
Centenario de la Conquista →V Centenario Centenario de la Independencia. Die Unabhängigkeit →Lateinamerikas stellt die zweite große historische Zäsur seit der Entdeckung und →Eroberung des Kontinents nach 1492 dar. Die Betonung des Bruchs mit der kolonialen Vergangenheit sowie der Beginn einer neuen →Zeitrechnung waren für die jungen lateinam. Nationen von großer Bedeutung. Besonders nationale Feste boten sich an, um vergangene Perioden zu reflektieren und die Geschichtswahrnehmung der Bevölkerung entscheidend zu verändern. Durch die Inszenierung zahlreicher Feiertage (unter Bezugnahme auf Geburts- und Todesdaten von Unabhängigkeitshelden sowie Daten von entscheidenden Schlachten) und Mythen versuchten lateinam. Reg.en, ein ausgeprägtes Nationalgefühl zu kreieren. Nationale Symbole (Flaggen, Münzen, Straßennamen) wurden zusätzlich genutzt, um das Nationalgefühl auch in der alltäglichen Wahrnehmung der Gesellschaft zu verankern. Diese Anstrengungen nahmen gegen Ende des 19. Jh.s zu. Die Feierlichkeiten zur hundertjährigen Erklärung der Unabhängigkeit (C.d.l.I.) der verschiedenen Länder Lateinamerikas zu Beginn des 20. Jh.s bedeuteten einen Höhepunkt der Nationskonstruktion. Demnach stand überwiegend die Konsolidierung des „imaginario nacional“ im Vordergrund der jeweiligen Zentenarfeiern. Die Eliten resümierten die vergangenen 100 Jahre und verwiesen hierbei besonders auf die Errungenschaften so159
c fA- f rA n c
wie die Wunschvorstellungen für die Zukunft. Einerseits wurde durch die Inszenierung der Nation vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit bewußt das Nationalgefühl gestärkt, andererseits wurde die historische Last – die Bürgerkriege, die auf die Unabhängigkeitskriege folgten, die Grenzstreitigkeiten mit Nachbarstaaten, die ausländischen Interventionen und die wirtschaftlichen Krisen ausgeblendet. Durch ein „reencuentro con la madre patria“ und die Überwindung der „leyenda Negra“ über die brutale span. Conquista strebten die lateinam. Reg.en einen neuen Weg der internationalen Zusammenarbeit mit Spanien (und Portugal) an. Die Betonung der gemeinsamen kulturellen Wurzeln sowie die Vertiefung der Beziehungen zu Spanien (→Hispanismo / Hispanidad) sollten auch zu einer Stärkung der innerlateinam. Beziehungen führen, um so der Expansionspolitik der →USA entgegenwirken zu können. Da neben der Betonung der politischen Unabhängigkeit auch Modernität und Fortschritt nach europäischem Vorbild demonstriert werden sollte, realisierten die Reg.en auch zahlreiche wirtschaftlich geprägte Veranstaltungen und Ausstellungen. Adressaten waren v. a. ausländische Politiker und Eliten, um das internationale Ansehen des jeweiligen Landes zu steigern. Festzuhalten bleibt, daß die Hundertjahrfeiern den Reg. en v. a. dazu dienten, ihre innenpolitischen Interessen durchzusetzen. Die Inszenierung der Feierlichkeiten variierte in den Ländern auf Grund der verschiedenen historischen und innenpolitischen Umstände. Ramón Gutiérrez, Las celebraciones del centenario de las independencias, in: Apuntes 19 (2006), Nr. 2, 176– 183. (http://revistas.javeriana.edu.co/sitio/apuntes/sccs/ plantilla_ detalle.php?id_articulo=145&PHPSESSID =1457bfb6d6e0e77fcc5b0e04238225b) [Letzter Zugriff 26.08.2013]. Narrativas del Centenario y el Bicentenario de la independencia en Latinoamérica. Themennummer von Iberoamericana 39 (2010), 139–227. JONAS BRE NNE R
Ceuta →Afrika, Spanisches, →Port. Kolonialreich Ceylon →Sri Lanka CFA-Franc. Nach der Ratifizierung des Abkommens von Bretton-Woods (→Bretton-Woods-System) durch die Frz. Rep. am 26.12.1945 wurde als gemeinsame →Währung der frz. Kolonien in West- und Zentralafrika der CFA-F. geschaffen. CFA stand dabei bis 1958 für Colonies Françaises d’Afrique, dann für Communautés Françaises d’Afrique. Der CFA-F. hatte zunächst eine feste Bindung zum frz. Franken auf der Basis 1 CFA-F. = 1,70 frz. Francs. Er war jederzeit in die Währung des Mutterlandes umtauschbar. Infolge der Abwertung des frz. Franken am 17.10.1948 änderte sich das Verhältnis auf 1:2. Die 1958 in Frankreich als Erleichterung gedachte Einführung des Neuen Franc, die in Streichung von zwei Dezimalstellen bestand, machte der CFA-F. nicht mit. Es galt dann bis zum 12.1.1994, also über die Dekolonisation hinaus, die Relation 1 (Neuer) Franc = 50 CFA-F. Am 13.1.1994 erfolgte, angabegemäß zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der in der CFA-Währungsunion zusammengefaßten ehem. 160
Kolonien, eine 50 %-ige Abwertung auf 100 CFA-F. = 1 Franc. 1999 wurde 1 CFA-F. mit = 0,0015 € definiert (1 € = 655,957 CFA-F.). Mit der Bildung der aus →Äquatorialguinea, →Gabun, →Kamerun, →Tschad, der →Zentralafr. Rep. und der Rep. Congo bestehenden Coopération Financière en Afrique Centrale und der Communauté Financière d’Afrique, deren Mitglieder →Benin, →Burkina Faso, →Elfenbeinküste, →GuineaBissau, →Mali, →Niger, →Senegal und →Togo sind, wurde der CFA-F. durch die beiden gleichwertigen Währungen CFA-F. BCEAO (= Banque Centrale des États de l’Afrique de l’Ouest) und CFA-Franc BEAC (= Banque Centrale des États d’Afrique Centrale) ersetzt. G ERH A R D H U TZLER
Chacokrieg. Der sog. C. zwischen →Bolivien und →Paraguay 1932–1935 ging auf einen typischen →Grenzkonflikt zurück. Die Spannungen zwischen Bolivien und Paraguay nahmen im Lauf der 1920er Jahre zu, weil die Grenze zwischen beiden Ländern im Chaco Boreal nie definitiv gezogen worden war. Der juristische Hintergrund der Streitigkeiten läßt sich bis in die späte Kolonialzeit zurückverfolgen. Einerseits gehörte der Chaco Boreal nach den kgl. Verordnungen (cédulas reales) von 1561 und 1563 zum Gerichtskreis (→Audiencia) →Charcas, andererseits war er mit den Verwaltungsreformen unter →Karl III. 1782 Teil der neu geschaffenen Provinzintendanz von →Asunción geworden. Nach der Beendigung der span. Kolonialherrschaft meldeten Bolivien und Paraguay unter Berufung auf das uti possidetis Territorialforderungen an. Bolivien erhob Anspruch auf das Gebiet der Audiencia Charcas, Paraguay auf dasjenige der Verwaltungsreform von 1782. Bolivianische und paraguayische Reg.en versuchten, Gebietsansprüche auf dem Verhandlungsweg durchzusetzen. Ausländische Diplomaten spielten dabei als „dritte“ Instanz eine Rolle. Nach dem verlustreichen →Tripelallianzkrieg fällte 1878 US-Präs. Rutherford B. Hayes (1877–1881) einen Schiedsspruch, der den Chaco Boreal als paraguayisches Staatsgebiet anerkannte. Bilaterale Verhandlungen zwischen bolivianischen und paraguayischen Reg.en zur definitiven Grenzziehung führten in der Folge zu Vertragsprojekten, die jedoch auf Grund von Maximalforderungen auf beiden Seiten immer im Ratifizierungsprozeß steckenblieben. Paraguayische Reg.en machten neben „historischen Rechten“ die faktische Durchdringung mit „paraguayischen“ Siedlern geltend; sie betrachteten den Chaco Boreal als integralen Bestandteil des paraguayischen Territorialstaates. Bolivianische Reg.en hoben dagegen geostrategische Interessen hervor; ihnen ging es v. a. darum, über die Flüsse Pilcomayo und Río Paraguay einen Zugang zum →Atlantik sicherzustellen. Nach dem Debakel im →Pazifikkrieg, der mit der Abtrennung Boliviens vom Pazifik endete, richtete sich der Blick der Entscheidungsträger vermehrt nach Osten. Bolivianische Politiker forcierten in den 1920er Jahren den Bau von neuen militärischen Forts. Die paraguayische Seite antwortete mit weiteren Siedlungsprojekten. 1924 ließen sich u. a. 1 165 kanadische →Mennoniten in der umstrittenen Zone nieder. Hinzu kam, daß das wirtschaftliche Interesse beider Staaten am Chaco wuchs,
ch A lm ers , j Am es
als ausländische Erdölfirmen ab den 1920er Jahren den Blick auf dieses Gebiet richteten. Die Standard Oil of New Jersey auf paraguayischer und die Royal Dutch Shell auf bolivianischer Seite sicherten sich Bohr- und Förderrechte. Die vermuteten Erdölvorkommen dürften die strategischen Ziele beider Länder beeinflußt haben. Aber sie sind keine hinreichende Erklärung für die Eskalation; die These, daß die ausländischen Erdölkonzerne die eigentlichen Kriegstreiber gewesen seien, ist nie empirisch nachgewiesen worden. Wichtiger waren wirtschaftliche Krisenerscheinungen. Ökonomisch ohne Rezept gegen den Verfall der Zinnpreise, in der Erdölpolitik ohne überzeugende Alternative und hinsichtlich der Unterschichtenintegration in Abwehrstellung, suchte der bolivianische Präs. Salamanca ab Juli 1932 sein Heil in einer militärischen Vorwärtsstrategie im Chaco Boreal. Obwohl die liberalen paraguayischen Reg.en eine bewaffnete Auseinandersetzung zu verhindern suchten, bereiteten auch sie sich ab Mitte der 1920er Jahre durch Käufe von Kriegsmaterial und Schulung von Soldaten auf einen Waffengang vor. Ab 1928 beschäftigten sich panam. und südam. Kommissionen sowie der →Völkerbund mit dem Konflikt, um es nicht zum äußersten kommen zu lassen. Auch die Nachbarstaaten →Argentinien und →Chile versuchten die Konfliktparteien zur Räson zu bringen. Doch wertvolle Zeit verstrich, weil die →USA und oftmals auch Großbritannien ebenso wie die Reg.en in →Buenos Aires und Santiago in Verfahrensfragen vom Völkerbund abweichende Meinungen vertraten. Die paraguayische Reg. nutzte einen Angriff bolivianischer Truppen auf die Festungsanlage Carlos Antonio López am 15.6.1932 als Vorwand zum Abbruch der Gespräche. Zwischen Juni und Sept. begannen die offenen Kampfhandlungen. Während die Armee Boliviens auf einen modernen Krieg vorbereitet war, in dem verschiedene Waffengattungen zum Einsatz kommen würden, hatte Paraguay seine Anstrengungen auf den Aufbau eines schlagkräftigen Infanterieheeres konzentriert. Die Professionalisierung der Armeen war u. a. durch europäische Militärberater vorangetrieben worden. Beide Armeen hatten sich mit Kriegsmaterial in Europa und den USA eingedeckt. Nach Anfangserfolgen wurden die bolivianischen Angreifer in einen aufwendigen Kleinkrieg verwickelt, in dem immer mehr taktische Überlegungen, Ortskenntnis, die Topographie und v. a. das →Klima ausschlaggebend für Erfolg oder Mißerfolg waren. Die paraguayischen Truppen unter José Félix Estigarribia kamen mit diesen Gegebenheiten besser klar als die bolivianischen. Unterernährung, Wassermangel und Epidemien forderten auf der bolivianischen Seite bei den massenhaft an die Front geschickten Hochlandindianern zahlreiche Opfer. Während der Kampfhandlungen gingen die Friedensbemühungen fieberhaft weiter. Eine Völkerbundkommission vor Ort scheiterte jedoch mit ihrem Friedensplan an der Ablehnung der paraguayischen Reg. Erst 1935 gelang der argentinisch-chilenischen Diplomatie, zu der auch Vertreter der USA, →Brasiliens, →Perus und Uruguays hinzugezogen wurden, bei Verhandlungen in Buenos Aires der Durchbruch. Die Streitparteien stimmten einem Friedensvertrag zu, der keiner Seite entscheidende Vorteile brachte und der von der gegen Ende
überlegenen paraguayischen Seite als Benachteiligung betrachtet wurde. Grundlage der formalen Beendigung der Kriegshandlungen am 12.6.1935 war der Bericht an die außerordentliche Vollversammlung des Völkerbundes vom 24.11.1934. Salamanca war inzwischen anläßlich eines Besuchs im militärischen Hauptquartier Villamontes am 24.11.1934 von unzufriedenen Armeeführern gestürzt und durch Vize-Präs. José Luis Tejada ersetzt worden. Zwischen 57 000 und 80 000 Bolivianer, mehrheitlich cholos und Hochlandindianer, waren in den Auseinandersetzungen von 1932 bis 1935 getötet worden; die Verluste auf der Seite Paraguays werden auf 36 000 bis 50 000 Personen beziffert. Die Kosten beliefen sich auf 75 Mio. für Paraguay bzw. 150 Mio. US-$ für Bolivien. Beide Länder wurden in ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen. Nicht folgenlos blieb der Machtzuwachs der Armeen, die wiederholt in die Innenpolitik eingriffen und →autoritäre Regime errichteten. Obwohl der Friedensschluß von Paraguay und Bolivien respektiert wurde, schob sich die Erinnerungskultur in beiden Ländern gegenseitig die Schuld für den Krieg zu. Adrian J. English, The Green Hell, Stroud 2007. Bruce W. Farcau, The Chaco War. Bolivia and Paraguay 1932– 1935, Westport 1996. Michael Herzig, Der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay 1932–1935, München 1996. TH O MA S FISC H ER Chalmers, James, * 4. August 1841 Ardrishaig, † 8. April 1901 Goaribari Island, □ nie vorhanden, ev.-ref. Schottischer Pioniermissionar, der auf Rarotonga, den →Cook Inseln, und in →Papua-Neuguinea missionierte. Nach seiner Ordination 1865 gingen er und seine Braut Jane Hercus nach Rarotonga, wo sie von 1866 bis 1876 lebten und für die London Missionary Society (→Protestantische Missionsgesellschaften) missionarisch tätig waren. Ab 1877 arbeitete er auf eigenen Wunsch hin in Papua in den Orten Suau, Port Moresby, Toaripi und Saguane. Seine Frau starb 1879. Der von den Einheimischen ‚Tamate‘ genannte Missionar verrichtete unter schwierigsten klimatischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen seine Arbeit, die ihn in verschiedene Regionen Neuguineas, u. a. in das Gebiet des Fly Rivers auf die Kiwai Insel, in das Purari Delta und jenes des Aird Rivers von seinem Stützpunkt in Motumotu führte. C. gilt als einer der ersten Weißen, der den Purari befuhr. Zwei Reisen nach England unterbrachen seine Arbeit. Eine Fahrt nach Goaribi Island endete für ihn, seinen Begleiter Oliver Tomkins sowie elf ihn begleitende Papuas tödlich. Die Inselbewohner luden C. und seine Mitstreiter ein, an Land zu gehen. Vermutlich im Zeremonialhaus des Dorfes wurde die Gruppe von Einheimischen mit Keulen ermordet. Der Anlaß für das →Massaker ist unklar. C. Beschreibungen und die Erfassung mehrerer Eingeborenensprachen (u. a. Bugi, Bugilai, Tagota), die er in vier Büchern niederlegte, trugen wesentlich zur Kenntnis mehrerer Regionen, v. a. im Küstenbereich des südöstlichen Papua Neuguineas bei.
161
c h A m is s o, Ade lb ert v o n
James Chalmers, Pioneering in New Guinea, London 1887. Diane Langmore, Tamate – A King, Melbourne 1974. Richard Lovett, James Chalmers, London 1903. HE RMANN MÜCKL E R
Chamisso, Adelbert von (eigentlich: Louis-Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt), * 30.1.1781 Schloß Boncourt, Champagne / Frankreich, † 21. August 1838 Berlin, □ Ehrengrab auf dem Friedhof am Halleschen Tor, Berlin, ev.-ref. (Hugenotte) C. ist am besten bekannt als Dichter der dt. Spätromantik, insb. als Verfasser der phantastischen Kindernovelle Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814). Weit weniger bekannt ist seine Teilnahme als Naturforscher („Titulargelehrter“) an der Weltumsegelung der Brigg Rurik, die vom russ. Grafen Nikolai Petrowitsch Rumjanzew zwecks Entdeckung und Erkundung der legendären →Nordwestpassage finanziert wurde. Diese Reise, die von 1815 bis 1818 unter dem Kommando des Kapitäns Otto von →Kotzebue, eines russ. Seeoffiziers dt.baltischer Abstammung, stattfand, führte die Rurik westwärts um Kap Hoorn und quer über den Pazifik zu den →Marshallinseln, von wo aus man 1816/17 zwei ausgedehnte Sommerkampagnen zu den eisigen Gewässern des Nordpazifiks unternahm. Während der ersten Kampagne stieß die Brigg nordwärts bis zum heutigen Kotzebue-Sund vor. Im nächsten Juli aber, gerade als man einen zweiten Vorstoß in die Beringstraße machte, gab Kotzebue krankheitshalber plötzlich das Expeditionsziel auf und trat sofort die Heimreise an, die die Rurik über →Hawai’i, die →Philippinen, das →Kap der guten Hoffnung und England schließlich wieder nach Kronstadt brachte. C., der sich zunächst vornehmlich als Botaniker an Bord der Rurik eingeschifft hatte, interessierte sich im Verlauf der →Expedition zunehmend für die vielen einheimischen Völker, denen er im pazifischen Raum begegnete, und stellte eifrig an den besuchten Orten nicht nur naturhistorische, sondern auch ethnographische und sprachliche Studien an. Angesichts seines späteren Rufs als Dichter ist der lyrische Ertrag von C.s Reise relativ gering (er beläuft sich nur auf eine Handvoll Gedichte), zu den wichtigeren Ergebnissen seiner Weltumsegelung zählen jedoch sein Reisetagebuch Reise um die Welt, das er 1836 z. T. aus Unzufriedenheit mit dem offiziellen Expeditionsbericht von 1821 veröffentlichte, und seine Grammatik über die Sprache der Hawai’ianer (1837). Gesellschaft für Interregionalen Kulturaustausch (Hg.), Mit den Augen des Fremden: Adelbert von Chamisso, Berlin 2004. Beatrix Langer, Der wilde Europäer, Berlin 2008. Gisela Menza, Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815–1818“, Frankfurt/M. 1978.
ist. Im 20. Jh. hat das Englische die Rolle der dominanten Sprachen übernommen, so daß das C. mit ca. 60 000 Muttersprachlern auf Guam und den →Northern Marianas mittelbar vom Aussterben bedroht ist. Die Hispanität des C. zeigt sich an Sätzen wie dem folgenden, in dem alle span. Wörter kursiv gedruckt sind: Ensigidas ha aksepta si Gadao todu i tinago’-ñiha ya ha komple gi siette dihas. „Gadao nahm sofort alle ihre Aufgaben an und erledigte sie in sieben Tagen.“ Dessen ungeachtet ist das C. in seiner Grundstruktur unbeeinträchtigt geblieben. Thomas Stolz, Die Hispanität des Chamorro als sprachwissenschaftliches Problem, in: Iberoamericana 22 (1998), 5–38. TH O MA S STO LZ Champlain, Samuel de, * 13. August 1574 (?) Brouage / Saintonge, † 25. Dezember l635 Quebec, □ unbek., ev.ref. (Hugenotte), rk (vor 1603) C. war Geograph, Kartograph und erster →Gouv. →Kanadas. Über seine Herkunft ist wenig bekannt. Er wurde wahrscheinlich in Brouage/Saintonge (Département Charente-Maritime) als Kind einer protestantischen Familie geboren. C.s erster Aufenthalt in Kanada ist für 1603 belegt. Zusammen mit François Gravé du Pont erkundete er den Sankt-Lorenz-Strom (siehe Reisebericht C.s), zwischen 1605 und 1606 dann die Küste des heutigen Neuenglands. C. gilt als der Gründer der Hauptstadt der Nouvelle France, Quebec (1608), und der Handelsniederlassung Place Royale (1611), dem späteren Montreal, ebenso als Entdecker des nach ihm benannten Champlainsee (heutiges Vermont/New York State) und des Huronsees. C. etablierte Handelsbeziehungen und militärische Bündnisse mit den Montagnais am SanktLorenz und den →Huronen am Großen See. 1609 war er an Militäraktionen Frankreichs am Champlainsee, 1615 im Gebiet der Irokesen (→Irokesen-Föderation) beteiligt. 1627/28 – bis zur Gründung der Compagnie des Cent-Associés – war C. Generalstatthalter der Kolonie in Quebec. Ab 1628 bis zu seinem Tod 1635 diente C. während der Abwesenheit von Kardinal Richelieu, dem Gründer der Compagnie des Cent Associés, als erster Gouv. der Nouvelle France. Nachdem Quebec von 1629 bis 1632 von den Engländern besetzt worden war, gelang es der frz. Reg., 1632 im Frieden von Saint-Germainen-Laye die Ansprüche Frankreichs auf Akadien und Quebec gegenüber England durchzusetzen. C. übernahm zwischen 1633 und 1635 noch einmal das Regiment in Kanada. Henry P. Biggar, The Works of Samuel de Champlain in Six Volumes, Toronto 1922–1936. Francine Lagaré, Samuel der Champlain. Father of New France, Montreal 2004. Raymonde Litalien / Denis Vaugeois (Hg.), Champlain. The Birth of French Canada, Montreal 2004.
JAME S BRAUND
SU SA N N E LA C H EN ICH T
Chamorro. Das C. ist die indigene austronesische Sprache der →Marianeninseln im Westpazifik. Es hat seit dem ersten Kontakt mit Magellans Expedition 1521 starken Einfluß seitens des Spanischen bis zum Ende der span. Kolonialherrschaft 1898/99 erfahren, so daß sein heutiger Wortschatz bis zu 60 % aus Hispanismen besteht und auch die Grammatik in Teilen hispanisiert
Chancillería. Die C. von Valladolid und Granada, die Vorbilder der kolonialen →Audiencias in Iberoamerika, waren in Kastilien im 16. Jh. die höchste gerichtliche Instanz (mit administrativen Funktionen) unterhalb der Ebene der Consejos mit dem Recht zur Führung des kgl. Siegels. An Rang und Autorität übertrafen sie die normalen Audiencias. Erst unter →Philipp II. erfolgte die volle
162
chA rles to n
Gleichstellung der iberoam. Audiencias mit den C. von Valladolid und Granada und die Übertragung des Rechts der Siegelführung, die es erlaubte, im Namen des Kg.s formgleich zu urkunden. Im Okt. 1570 ordnete der Kg. an, daß in den Audiencias de Indias fortan órden y estilo der beiden höchsten kastilischen Gerichtshöfe zu achten sei. DANI E L DAML E R Charcas. Der größte Audienciadistrikt im kolonialen Südamerika und ein Name der Stadt Sucre (→Bolivien). In vor-span. Zeit prägten die Tiahuanaco-Kultur (600– 1200 n. Chr.) und seit dem 13. Jh. regionale Kgr.e aymara-sprachiger →Ethnien (u. a. Colla, Lupaca, C.) die Altiplano-Region südöstlich des Titicacasees. Mitte des 15. Jh.s integrierten die Inka (→Inkareich) die AymaraKgr.e in ihren südlichen Reichsteil (Collasuyo). Nach der span. →Eroberung erschlossen Hernando und Gonzalo →Pizarro die von den Spaniern „C.“ oder Hochperu genannte südandine Region. Die 1538/39 gegründete Stadt Chuquisaca hieß in der Kolonialzeit auch C. oder – wegen ihrer Nähe zu den 1545 entdeckten Silberminen von Porco und Potosí – La Plata. Weitere Städtegründungen fanden in La Paz (1548), Santa Cruz de la Sierra (1561), Cochabamba (1571), Tarija (1574) und Oruro (1606) statt. Unter →Philipp II. wurde 1559/61 die →Audiencia von C. (Sitz in Chuquisaca) eingerichtet. Der Bereich dieser wichtigen Gerichtsbehörde umfaßte seit 1568 das heutige Bolivien, den Südosten →Perus, Nordchile, Teile →Argentiniens und →Paraguay und wurde zum flächenmäßig größten Audienciadistrikt im →Vize-Kgr. Peru. Im Osten hatte die Grenze „→Frontier“-Charakter, da die Chiriguanos und Tiefland-Ethnien Widerstand leisteten. Wirtschaftlich war C. vom →Bergbau abhängig. Nach Einführung von indigener →Zwangsarbeit (→mita) und Amalgamierung im Cerro Rico von Potosí durch VizeKg. Francisco de →Toledo (1572) begann ein bis Mitte des 17. Jh.s anhaltender Boom des Silberbergbaus, zu dem auch die 1595 entdeckte Mine von Oruro beitrug. Beide Minenstädte bezogen Mais und Weizen aus der Cochabamba-Region, Coca aus den Yungas sowie Wein und →Zucker aus Tucumán. La Plata hatte sich im 16. und 17. Jh. zu einer wohlhabenden Stadt von Minenbesitzern und Encomenderos sowie zum kulturellen Zentrum Hochperus entwickelt (1552 Bistum, 1609 Erzbistum; 1624 Universität). Vom frühkolonialen Reichtum der Städte profitierten span., it., aber auch mestizische und indigene Maler und Bildhauer der Barockzeit. Infolge der Silberproduktions-Krise (ca. 1650–1750) ging die Bevölkerung in den Bergbaugebieten rapide zurück, was sich negativ auf die sie beliefernden landwirtschaftlichen Regionen auswirkte. Gleichzeitig wurde La Paz zu einem agrarischen Zentrum und zu einer der größten Städte in Hochperu (um 1750 ca. 40 000 Ew.). Der Silberbergbau erholte sich zwar seit Mitte des 18. Jh.s, erlangte aber nicht mehr das frühere Niveau. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s kam es zu tiefgreifenden Veränderungen in Hochperu. So wurden die →Jesuiten 1767/68 aus ihren im Audienciadistrikt und Erzbistum von C. unterhaltenen Missionen und Reduktionen, z. B. aus Santa Cruz, Moxos, Chiquitos und Paraguay vertrieben. Die Bourbonischen Reformen sorgten für eine administrative
Neuordnung, bei der die Audiencia von C. dem 1776 geschaffenen Vize-Kgr. von Río de la Plata unterstellt wurde. Nach Einführung des →Freihandels 1778 war →Buenos Aires die wichtigste Hafenstadt, über die die meisten europäischen Produkte nach C. gelangten und das Potosí-Silber abflossen. Gebiet und Macht der Audiencia von C. wurden weiter beschnitten, als sie die Provinzen Tucumán, Paraguay und Río de la Plata an die 1783 errichtete Audiencia von Río de la Plata (Sitz in Buenos Aires) verlor; in Hochperu entstanden fünf Intendencias. Auf Grund dieser territorialen Neugliederungen gewann Buenos Aires im lange anhaltenden Machtkampf mit →Lima vorerst die Kontrolle über C. Während des 18. Jh.s fanden in den Anden zahlreiche Aufstände statt, die in der indigen-mestizischen Großen Rebellion (1780–1783) kulminierten. Deren Anführer Tupac Amaru II. (→Cuzco), Tomás Katari (Potosí) und Tupac Katari (La Paz) unterlagen aber den kolonialen Autoritäten. Die späteren „patriotischen“ Rebellionen in Chuquisaca und La Paz (1809), die auf Napoleons Invasion Spaniens (1808) reagierten, wurden von vizekgl. Truppen aus Peru ebenso unterdrückt wie ländliche Guerillabanden (→Guerilla) oder Befreiungsversuche aus Buenos Aires. Nach der Niederschlagung dieser frühen Unabhängigkeitsbestrebungen (1809–1816) galt C. als royalistische Bastion, deren kreolische (→Kreole) Eliten erst nach der Unabhängigkeit Perus (1824) umschwenkten. Im Anschluß an die Befreiung Hochperus durch Antonio José de Sucre (Schlacht von Tumusla, 1.4.1825) proklamierten die Delegierten des hochperuanischen Kongresses von Chuquisaca am 6.8.1825 die Unabhängigkeit der „Rep. Bolívar“. So entstand ein autonomer Staat mit ca. einer Mio. Ew., dessen Grenzen ungefähr mit denen der Audiencia von C. nach 1783 übereinstimmten. C., die erste Region Hispanoamerikas, in der 1809 die Unabhängigkeit erklärt wurde, war die letzte, die sie errang. Boliviens Hauptstadt La Plata erhielt 1839 zu Ehren des Unabhängigkeitshelden ihren vierten Namen: Sucre. 1898/99 wurde aber La Paz Reg. ssitz, während in Sucre, der bis heute verfassungsmäßigen Hauptstadt, lediglich der Oberste Gerichtshof verblieb. Seit 1991 gehört der koloniale Kern der „weißen Stadt“ Sucre zum UNESCO-Weltkulturerbe. Josep M. Barnadas, Charcas. Orígenes históricos de una sociedad colonial, La Paz 1973. Herbert S. Klein, A Concise History of Bolivia, Cambridge u. a. 2003. Inge Wolff, Reg. und Verwaltung der kolonial-span. Städte in Hochperu, 1538–1650, Köln / Wien 1970. O TTO D A N WERTH
Charleston. Stadt im Bundesstaat South Carolina (→USA): 120 083 Ew. (Zensus 2010), Fläche 376,5 km2. 1670 in den Carolinas als Charles Town (nach dem engl. Kg. Karl II.) gegründet, war C. bereits 1690 mit 1 200 Ew. die fünftgrößte Stadt in den engl. Kolonien in Nordamerika. In C. siedelten Engländer (v. a. Anglikaner) und ab 1679/80 auch frz. Protestanten (→Hugenotten). →Sepharden, Schotten, Deutsche und Iren ließen sich hier im Laufe des 18. Jh.s nieder. 1749 wurde in C. die erste Synagoge auf dem nordam. Festland errichtet. In den 1820er Jahren war die Mehrheit der Ew. C.s 163
c h A rt e r
afro-am. Herkunft. Mitte des 18. Jh.s wurde C. zu einem der wichtigsten Seehäfen im atlantischen Raum südlich von Philadelphia und diente v. a. als Umschlagplatz für den atlantischen →Sklavenhandel zwischen Afrika und den Amerikas, aber auch für den innerkolonialen Handel zwischen den Bermudas, den →Westind. Inseln und dem nordam. Festland; der meiste →Reis wurde über C. exportiert. Mit dem späten 19. Jh. entwickelte sich C. zu einem wichtigen Zentrum des Handels mit der in South Carolina produzierten →Baumwolle. Während des Unabhängigkeitskrieges widerstand das C. vorgelagerte Fort Moultrie auf Sullivan’s Island 1776 den Briten. 1861 begannen hier die Kampfhandlungen des →Am. Bürgerkrieges (1861–1865) zwischen Konföderierten (Südstaaten) und der Union (Nordstaaten). 1886 wurde C. fast völlig von einem Erdbeben zerstört. Die Stadt bewahrt bis heute ihre im Wiederaufbau gewonnene Architektur des späten 19. Jh.s. Walter J. Fraser, Charleston! Charleston!, Columbia SC 1989. Robert Rosen, A Short History of Charleston, Columbia SC 21997. S US ANNE L ACHE NI CHT Charter. Gründungsurkunde, von lat. Carta, Urkunde, mit der Landbesitz und Privilegien innerhalb der rk. Kirche Englands auf Zeit oder unbefristet übertragen wurden; im 16. und 17. Jh. wichtigstes kgl. Instrument zur Verleihung von Land und der Schaffung von Rechtstiteln und Privilegien in der Neuen Welt. Die Grundstruktur der C. wurde zwischen 1501 und 1578 entwickelt; bis zur C. für Georgia (9.6.1732) blieb sie unverändert. Sie legte die Grenzen des verliehenen Gebietes fest, bestimmte die Dauer der Verleihung und definierte die Herrschaftsrechte: Diese waren durch drei Klauseln eingeschränkt: Herrschaft hatte sich an engl. →Recht zu orientieren, daß Bewohner, die die Kolonie besiedelten, ihre Rechte als engl. Bürger behielten, und neue Gesetze waren gemeinsam mit der Gemeinschaft der Siedler zu formulieren. Zwei Typen von C. lassen sich unterscheiden: Erstens jene, die an einzelne Personen wie Sir Humphrey Gilbert, dessen Halbbruder Sir Walter →Raleigh für →Roanoke am 25.5.1584, an George →Calvert, 1st Lord Baltimore am 20.6.1632 für Maryland, und an William Penn für Pennsylvania am 4.3.1681 oder an Personengruppen wie an ein Adelskonsortium für die Carolinas vom 24.3.1663, und an Treuhänder für Georgia am 9.6. 1732 verliehen wurden. Mit der Reorganisation der Kolonialverwaltung in den 1670er Jahren geriet dieser C.Typ in Verruf. Dieses gilt noch früher für den 2. Typ der C., die Handelsgesellschaften berechtigte, Kolonien zu gründen. Die wichtigsten waren die C. an eine Londoner Aktienhandelsgesellschaft zur Gründung von Virginia (10.4.1606, 2. C. 23.5. 1609), und an die →Massachusetts Bay Company (4.3.1649). Letztere begründete die durch hohe Eigenständigkeit geprägten Verfassungsformen der sog. C.-Kolonien Massachusetts Bay, Connecticut und Rhode Island. Q: Francis N. Thorpe (Hg.), The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies, Now or Heretofore Forming the United States of America, 7 Bde.,Washington DC 1909. L: Viola F. Barnes, Land 164
Tenure in English Colonial Charters of the Seventeenth Century, in: Charles McLean Andrews u. a. (Hg.), Essays in Colonial History Presented to Charles McLean Andrews, New Haven 1931, 4–40. Philip S. Haffenden, The Crown and the Colonial Charters, 1675–1688, in: WMQ 3. Serie 15, 1958, 297–311, 452–466. Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg, Münster 2004. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Charterkolonie. Kolonien innerhalb des →Brit. Kolonialreichs, die auf Grund einer kgl. →Charter gegründet und regiert wurden; diese zerfallen in drei Gruppen: Eigentümerkolonien (→Eigentümer), in denen ein Stück Land per Charter mit allen Reg.sprivilegien in der Regel engl. Adeligen übereignet wurden (Virginia 1607 an die Virginia Company, New York 1664 an James, Duke of York, Nord und Süd Carolina 1663 an eine Gruppe von acht Adeligen), Eigentümerkolonien (Maryland 1632 an George →Calvert, First Lord Baltimore, Pennsylvania 1681 an William Penn) und die sog. C.en New Englands (Massachusetts, Connecticut und Rhode Island). Mit Ausnahme der Eigentümer- und der C.en wurden noch im 17. Jh. alle andere Kolonien in Nordamerika und in Westindien von der Krone übernommen und als →Kronkolonien durch kgl. →Gouv.e verwaltet. Diesen erteilte der 1696 gegründete →Board of Trade and Plantations kgl. Instruktionen, die allerdings auch für die anderen Kolonien eine Art Rechtsrahmen darstellten. Theoretisch galt in den Kronkolonien die Krone als alleinige Quelle des →Rechts, wobei die Juristen allerdings überwiegend der Ansicht waren, daß die Bestimmungen der Charter auch die Krone banden. In Eigentümerkolonien und C.en bildeten die Charters die Grundlage für die kolonialen Verfassungen. In Rhode Island behielt die Charter als Staatsverfassung bis 1842 Gültigkeit. Q: Leonard Woods Labaree (Hg.), Royal Instructions to British Colonial Governors, 1670–1776, 2 Bde., New York 1935. L: Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jh.s, Münster 22004. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Chennai →Madras Cherokee. Ursprünglich im Südosten Nordamerikas, entlang des Ohio River bis nach Georgia und Alabama hinein beheimateter Indianerstamm (→Indianer). Die C. gehören zur Sprachfamilie der Irokesen (→IrokesenFöderation) und waren zunächst in drei Unterstämmen organisiert. Charakteristisch für die C. war ihr, entgegen anderen Indianerstämmen, gut organisiertes Staatswesen, in dem es u. a. ein Reg.s- und Verwaltungssystem sowie zivile Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser und Gerichte gab. Zu den bedeutensten Häuptlingen der C. gehörten The Bowl (1756–1839), Attakullakulla „Little Carpenter“ (1708–1777) und Sequoya (1770–1843). Sowohl im French and Indian War (→Siebenjähriger Krieg) als auch im Am. Unabhängigkeitskrieg kämpften die C. auf Seiten der Briten. Verträge, die der erste Präs. der →USA, George →Washington mit den C. aushandelte, erlaubte es europ. Einwanderern, in deren Territorium zu
c h i cA g o
siedeln. Bereits 1802 begannen erste Umsiedlungsmaßnahmen. 1831 beklagten die C. vor dem Supreme Court die Souveränitätsrechte des Staates Georgia über ihren Stamm. Die Klage und damit die indianische Selbstverwaltung wurde verworfen. Der Indian Removal Act von Präs. Andrew Jackson und vermehrt Goldfunde in ihrem Gebiet führten ab Mitte der 1830er Jahre zur gewaltsamen →Deportation von ca. 19 000 C. nach Westen („Trail of Tears“) ins Indian Territory (heute Oklahoma und Kansas), wobei ca. 4 000 C. ums Leben kamen. Auf Grund des Curtis Act von 1899, der allen Indianern eine eigene Gerichtsbarkeit verbot und der gesetzlichen Abschaffung der Stammes-Reg.en 1907 erlebten die C. zu Beginn des 20. Jh.s eine erneute Rezession ihrer Kultur, die erst mit dem Indian Reorganisation Act von 1934, in dem Indianern Land und Selbstverwaltung zuerkannt wurden, ein Ende nahm. 1961 erhielten die C. 17 Mio. US-$ Entschädigung zugesprochen, 1970 ein eigenes Areal entlang des Arkansas. Nach der US-Volkszählung des Jahres 2010 stellen die Nachkommen der C. mit 819 105 Mitgliedern die größte Nachkommenschaft aller Indianerstämme Nordamerikas. William L. Anderson (Hg.), Cherokee Removal. Before and After, Athens GA 1991. Amy H. Sturgis, The Trail of Tears and Indian Removal, Westport CT 2007. F L ORI AN VAT E S
Chettiar. Genauer Nattukottai Chettiar oder Nakarattar. Angehöriger einer primär im Handel- und Bankwesen tätigen südind. Kaste (→Kastensystem). Die C.s haben ihren Ursprung im Chettinadu, einer Region in den Distrikten Sivaganga und Pudukkottai des ind. Bundesstaats Tamil Nadu. Der wirtschaftliche Erfolg der C.s ist eng mit ihrer Verwandtschaftsorganisation und den damit einhergehenden Tausch- und Geschäftsbeziehungen verbunden. Die Nattukottai C.s lassen sich erst im 17. Jh. klar als solche in Quellen identifizieren. Zunächst als Salzhändler (→Salz) und dann im Getreide- und Baumwollhandel (→Baumwolle) sowie im Geldverleih tätig, verlagerten die C.s ihre Aktivitäten auf Grund wirtschaftlicher und politischer Faktoren im Laufe des 19. Jh.s zunehmend nach →Sri Lanka und →Südostasien. Dort agierten sie erfolgreich als Geldverleiher für asiatische Kreditnehmer und als Investoren v. a. im birmesischen Reishandel (→Birma, →Reis) und der Kautschuk- und Zinnproduktion Brit.-Malayas. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf C.-Unternehmen stark und verstärkte Spannungen zwischen C.s und ihren Kreditnehmern. Bis heute finden sich viele C.s in den Ländern Südostasiens. David W. Rudner, Caste and Capitalism in Colonial India, Berkeley 1994. TORS T E N T S CHACHE R Chibcha ist eine Sprachfamilie in Süd- und Mittelamerika. Wichtigste →Ethnie waren die auf dem zentralen Hochland von →Kolumbien ansässigen Muisca. Der Spanier Gonzalo Jiménez de Quesada unterwarf sie 1537. Die verschiedenen Stämme bekriegten sich zu dieser Zeit gegenseitig und waren keine geschlossene Macht. Sie bauten Mais, Quinoa und Kartoffeln an. Fleischnahrung lieferte die →Jagd von Rotwild, Tauben, Enten, Rebhühnern und Fisch. Für den Handel wurde Überschuß
produziert. Bedeutendes Handelsgut war das →Salz, das aus Solequellen durch Verdunsten des Wassers gewonnen wurde. In den Tempeln wurden religiöse Bildnisse aus →Edelmetallen, Stein und Holz verehrt. Hohe Berge, Seen, Flüsse und große Bäume galten als heilig. In Flüssen und Seen wurden Heil- und Reinigungsrituale durchgeführt. Die Tempel und Wohnhäuser waren aus Holz. Herausragende Handwerkskunst war die Verarbeitung von Gold. Das C. der Muisca ist seit dem 18. Jh. ausgestorben. In der Kolonialzeit gab es in Bogotá an der Universität einen Lehrstuhl für die Sprache, wo Geistliche für die Mission ausgebildet wurden. Tätig war dort Pater Bernardo de Lugo, der 1619 eine Grammatik der Muisca verfaßte. In der Gegenwart zählen zur Sprachfamilie in Kolumbien die Guambiano, Paez, Kwaiker und Arhuaco; in →Ecuador die Cayapas und Colorados; in Nicaragua die Sumu und Mískito; in →Panama die Kuna. Angel López-García, Gramática muisca, München 1995. Eliécer Silva Celis, Estudios sobre la cultura chibcha, Tunja 2005. BER N D SCH MELZ Chicago. Von dem Potawatomi-Begriff Checagou (Zwiebeln, Stinktier, Land, das nach Zwiebeln stinkt), Spitznamen: windy city, city of the broad shoulders, second city, Metropole im US-Bundesstaat Illinois, am Südwestufer des Lake Michigan gelegen, ca. 2,7 Mio. Einw. auf einer Fläche von 606 km² (Zensus 2010). Von der indigenen Bevölkerung als morastiger Ort gemieden, gründete in den 1770er Jahren Jean Baptiste Point du Sable einen Handelsposten, ehe dann 1803 Fort Deerborn entstand; auf Grund der verkehrsstrategisch günstigen Lage, den Kanal- und Eisenbahnbauten, wuchs C. rasant. 1837 wurde die Siedlung mit 4200 Einw. zur Stadt erklärt. 1836–1848 erfolgte der Bau des Illinois & Michigan Canal und 1848 die Eröffnung der Galena & C. Union Railroad. 1850 zählte die Stadt 30 000, 1880 500 000, und 1890 1 Mio. Ew. Die günstige Infrastruktur und eine boomende Industrie (Schlachthöfe, Maschinenbau etc.) zog Migranten von der Ostküste und aus Europa an. Weder ein verheerendes Feuer 1871, noch Streiks und soziale Unruhen wie der Lager Beer Riot 1855 oder das harte Durchgreifen der Polizei gegen Gewerkschaften, die am 1.5.1886 für eine Reduktion der Arbeitszeiten von 12 auf 8 Stunden täglich demonstrieren, das als Haymarket Riot bekannt wurde, minderten die Attraktion des Tors zum Westen. C. avancierte zum Experimentierfeld für moderne Architektur. Stahlskelettbauweise und Erfindungen wie feuerfeste Aufzüge, Hydraulik und Klimaanlagen beeinflußten maßgeblich die Genese der C.er Bauschule mit ihren Wolkenkratzern, ein Begriff, der in C. aufkam (Home Insurance Building 1885). Architekten wie Dankmar Adler, Louis Sullivan und später Mies Van der Rohe oder Frank Lloyd Wright prägten die einmalige Stadtlandschaft, die auch wesentliche Impulse durch die Weltausstellung, die World Columbian Exposition, vom Mai bis Okt. 1893 erfahren hatte. James R. Grossman u. a. (Hg.), The Encyclopedia of Chicago, Chicago 2004. Claudia Schnurmann / Iris Wigger (Hg.), Tales of Two Cities / Stadtgeschichten: Hamburg und Chicago, Münster / Hamburg ²2007. Robert G. Spin165
c h i c him e c A s
ney, City of Big Shoulders: A History of Chicago, DeKalb / Ill. 2000. CL AUDI A S CHNURMANN Chichimecas. Bereits die Azteken bezeichneten die nördlich ihres Reiches lebenden, entspr. den natürlichen Gegebenheiten mehr oder weniger nomadisch lebenden indigenen →Ethnien, die überwiegend zur uto-aztekischen Sprachfamilie gehörten, pauschal als C. Bald nach der →Eroberung Tenochtitláns durch Hernán →Cortés bürgerte sich für den weiten Norden des späteren →Mexiko die geographische Bezeichnung „Gran Chichimeca“ ein. Das so bezeichnete Gebiet erstreckte sich etwa vom heutigen Querétaro aus trichterförmig nach Norden, umfaßte aber weder das westnordwestlich von Tenochtitlán (Mexiko-Stadt) gelegene Reich der Tarasken oder Purépecha im heutigen Michoacán, noch die ostnordöstlich gelegene Region entlang des bei Tampico mündenden Flusses Pánuco (Huasteca). Die reichen, gegen Mitte des 16. Jh.s entdeckten Silbererzfunde (→Guanajuato; →Zacatecas) in dieser Frontier-Region (→Frontier) begünstigten deren Eroberung in einer Reihe von Feldzügen im weiteren Verlauf des 16. Jh.s, an denen maßgeblich aztekische und tlaxcaltekische Hilfstruppen beteiligt waren, deren Anführer vielfach ausgezeichnet und sogar zu Mitgliedern der span. Ritterorden ernannt wurden. Diese wurden vielfach als „Besatzungstruppen“ in dort neu gegründeten Städten angesiedelt und bilden dort teils bis heute entspr. bezeichnete Stadtviertel (barrio mexicano, barrio tlaxcalteca, z. B. San Luis Potosí und Guadalajara). Seit dem ausgehenden 16. Jh. unter dem Vize-Kg. →Velasco, dem Jüngeren, setzte in diesem Raum eine planmäßige Ansiedlungspolitik meist tlaxcaltekischer, mit besonderen Privilegien begünstigter Indios ein, die sich späterhin deutlich von den in der Region ursprünglich ansässigen Ethnien als „erste Eroberer und Kolonisten“ abgrenzten. Aus diesem zweiten Eroberungsprozeß gingen die als eigene Reinos (Kgr.e) bezeichneten Verwaltungsbereiche von Nueva Galicia, Nueva Vizcaya, Nuevo León und Nuevo México mit den ihnen zugeordneten Provincias von Sinaloa, Sonora, Coahuila und Texas hervor, die nur in administrativen Teilbereichen dem Vize-Kg. in Mexiko-Stadt untergeordnet waren. Andrés Fábregas Puig / Mario Alberto Nájera Espinoza / José Francisco Román, coord., Regiones y esencias. Estudios sobre la Gran Chichimeca. Seminario permanente de estudios de la Gran Chichimeca, El Colegio de Jalisco, Universidad de Guadalajara, Universidad Autónoma de Zacatecas u. a. 2008. Philip Wayne Powell, Soldiers, Indians, and Silver, Berkeley 1952. David J. Weber, The Spanish Frontier in North America, New York / London 1992. HORS T P I E T S CHMANN Chihuahua. An der Stelle der heutigen Stadt C. im Nordwesten des →Vize-Kgr.s Neu-Spanien gründeten Spanier 1709 nach dem Fund einiger Silberminen im Zentrum von Nueva Vizcaya die Siedlung San Francisco de Cuéllar, welche per Dekret 1718 in Villa de San Felipe del Real C. umbenannt wurde. Schon seit Ende des 16. Jh.s führten in der Region Spanier u. a. unter Francisco de Ibarra erste Erkundungen durch, dabei wurde 1565 Santa Bárbara als erste span. Siedlung gegründet. Sie 166
wurden von Beginn an begleitet von kriegerischen Auseinandersetzungen mit der indigenen Bevölkerung, insb. mit den nicht-seßhaften Tarahumaras und →Apachen. Die Missionierung übernahmen wie andernorts auch hier zunächst v. a. die Franziskaner, ab Anfang des 17. Jh.s auch →Jesuiten. C. wuchs wegen der sehr reichen Silberminen und als Handelszentrum und trotz der dauernden Bedrohung schnell zum Zentrum des nördlichen Teils der Provinz Nueva Vizcaya und zum Ausgangspunkt der Militäroperationen gegen die rebellierenden Indigenen. Als Provincia mayor wurde C. 1786 Teil der Intendanz →Durango. SEB A STIA N D O R SC H Chilam Balam. Als Bücher des C.B. (wörtlich „Sprecher des Jaguars“ bzw. „Prophet Balam“) werden Manuskripte bezeichnet, die zwischen dem 17. und 19. Jh. im Norden Yucatáns entstanden. Die in den auf Maya, aber mit europäischen Schriftzeichen verfaßten Textsammlungen enthaltenen Informationen reichen teilweise Jh.e zurück. Fast alle C.B.-„Bücher“ waren ungegliederte, lose Blattsammlungen. Weil sie immer wieder kopiert und verändert wurden, sind ihre „Schichten“ schwer zu datieren. Offenbar hatten die Verfasser lokale Schreiberämter (→Escribano) inne, waren maestros oder gehörten zur indigenen Elite (→Caciques). Die für den mündlichen Vortrag bestimmten Werke mischen verschiedene Textgenres, z. B. Almanache, Rituale, Rezepturen, historische Berichte und astrologische Prophezeiungen. Den prognostischen Texten liegt ein zyklisches Geschichtsbild zugrunde, dem zufolge vergangene Ereignisse in zukünftigen Epochen wieder eintreten. Katun-Zyklen von ca. 20 Jahren (20 tun à 360 Tage = 7200 Tage) gliedern dabei den Zeitverlauf. Nach 13 Perioden (256 Jahren) wiederholen sich Katun-Namen und angeblich auch analoge Geschehnisse gleichnamiger Zyklen. Die in Prophetien oder annalistischen Passagen angeführten historischen Daten sind aber oft schwer zu deuten. 1837 kopierte der erste Maya-Philologe, Juan Pío Pérez (1798–1859), eine Version des C.B.-Buchs von Maní. Seine Entdeckung, die durch John Lloyd Stevens’ Incidents of Travel in Yucatán (1843) verbreitet wurde, führte im 19. und frühen 20. Jh. zu weiteren Funden, aber auch zum Diebstahl solcher Handschriften aus Dörfern. Die erhaltenen Originale befinden sich heute in wissenschaftlichen Sammlungen (v. a. in Mexiko-Stadt und Princeton); weitere Texte dürften verloren oder verborgen worden sein. Das ca. tausendseitige bekannte Corpus besteht neben dem Codex Pérez aus acht C.B.-Büchern, die gemeinhin nach ihren Entstehungsorten benannt sind: Chan Cah, Chumayel, Ixil, Kaua (Teil I und II), Nah (nach Besitzern benannt, aus Teabo), Tekax, Tizimín und Tusik. Die Forschung diskutiert, ob Hieroglyphen-Texte und/oder orale Traditionen diesen Dokumenten als Vorlagen dienten. Intertextuelle Bezüge zwischen den lokal gefärbten C.B.-Büchern verdanken sich gemeinsamer historischer Erfahrung: Die Bücher behandeln Aspekte der Maya-Kultur zu vor-span. Zeit (z. B. Chichen Itza), in der Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit →Mexikos (1821). Gleichzeitig haben europäische Quellen die Handschriften – nicht nur linguistisch – beeinflußt. Inhaltlich gilt dies für Tierkreiszeichen oder christl. Ele-
ch i le, ges ch i ch te s ei t d er u n A bh Än g i g k ei t
mente, ikonographisch für Zeichnungen (Katun-Räder). Es wurden sogar medizinische Rezepte und Erzählungen islamischen Ursprungs (aus 1001 Nacht) identifiziert, die in Al-Andalus bekannt waren und über die iberische Halbinsel nach →Mesoamerika gelangten. Trotz einiger Interpretationsprobleme stellen die C.B.-Bücher die bedeutendste spätkoloniale Quellengattung lateinschriftlicher Maya-Manuskripte für das nördliche Yucatán dar, die einzigartige Einblicke in die vergangene Zukunft der Maya gestatten. Alfredo Barrera Vásquez / Silvia Rendón, El libro de los Libros de Chilam Balam, Mexiko-Stadt 1948. Munro S. Edmonson (Hg.), The Ancient Future of the Itza, Austin 1982. Antje Gunsenheimer, Geschichtstradierung in den yukatekischen Chilam Balam-Büchern, Bonn 2002. OT TO DANWE RT H
Chile, Eroberung. Die Niederwerfung der chilenischen Ureinwohner durch span. Eroberer, Aufbau einer span. Kolonialverwaltung und rk. Kirchenorganisation und schließlich des chilenischen Nationalstaats war ein Jh.e dauernder Prozeß. Nachdem es den Spaniern innerhalb weniger Jahre gelungen war, das riesige →Inkareich zu unterwerfen, stießen sie in C. auf langen und hartnäckigen Widerstand. Die erste größere Expedition fand 1535– 1537 unter Diego de →Almagro statt, welcher ca. 500 Spanier und Tausende von Indios mit ihren inkaischen Anführern über die Anden gen Süden führte. Da aber in der Region keine Silber- und Goldschätze gefunden wurden wie im Inkareich und die Mapuche den Eroberern heftige Gefechte lieferten, kehrte man nach →Cuzco zurück. 1540 zog Pedro de Valdivia mit einem wesentlich kleineren Gefolge in das heutige C. Er gründete 1541 Santiago und wenig später Valparaiso. Auch wenn Santiago im selben Jahr beinahe von den Indios eingenommen wurde, gelang es den Spaniern, die Stadt in den nächsten zehn Jahren als koloniale Siedlung auszubauen und dauerhaft zu etablieren. Allerdings scheiterte Pedro de Valdivia mit seinem Versuch, den span. Herrschaftsbereich weiter nach Süden auszudehnen. 1553 überrannten die Mapuche die neu von den Spaniern eroberten Gebiete und töteten dabei auch Pedro de Valdivia. Zwar gelang es ihnen nicht, Santiago einzunehmen, ihr Widerstand sollte allerdings die Geschichte des Südens, des sog. „Flandes indiano“, des heutigen C. für Jh.e bestimmen. Hugh R. S. Pocock, The Conquest of Chile, New York 1967. John L. Rector, The History of Chile, Westport / London 2003. Sergio Villalobos u. a., Historia de Chile, Bd. 1, Santiago 1974. UL RI CH MÜCKE Chile, Geschichte seit der Unabhängigkeit. Die erste Phase der chilenischen Unabhängigkeit – sie wird in der chilenischen Historiographie als patria vieja bezeichnet – begann mit der Erklärung der Loyalität zum span. Kg., der von Napoleon festgesetzt worden war, und mit der Einberufung eines Kongresses am 18.9.1810. Vier Jahre später scheiterte der span. Versuch einer Rückeroberung, als die „Andenarmee“ unter dem argentinischen General José Francisco de →San Martín (1778–1850) die Schlacht von Chacabuco am 12.2.1817 gewann. Bernardo O’Higgins (1776–1842) fungierte nach dem
Sieg als erster Präs. C.s bzw. als Director Supremo. Er hatte sich als militärischer caudillo (→Caudillismo) profiliert und genoß das Vertrauen von San Martín. 1818 rief O’Higgins am Jahrestag der Schlacht von Chacabuco formell die Unabhängigkeit C.s aus und leitete so die zweite Phase der chilenischen →Emanzipation ein, die patria nueva. Sie wurde am 5.4.1818 in der Schlacht bei Maipú erfolgreich verteidigt. O’Higgins regierte diktatorisch, ein aufklärerischer Impetus zeigte sich in der Abschaffung der →Sklaverei (1823) und der Neugründung von Institutionen wie der Nationalbibliothek und des Instituto Nacional. Obwohl sich im Süden des Landes der span. Widerstand halten konnte (bis 1826), wurde C. zur wichtigen Ausgangsbasis der Emanzipation Südamerikas. Dieses militärische Engagement verschlang ernorme Summen, weshalb es 1822 zur Aufnahme eines ersten Kredites in London kam. Mit dem Nachlassen der Kampfhandlungen schwand die Machtbasis von O’Higgins, der am 28.1.1823 sein Amt niederlegte und ins Exil ging. Ihm folgten mehrere Präs., welche in der Geschichtsschreibung dem liberalen Lager zugezählt werden; diese Trennung in Konservative und Liberale ist allerdings problematisch. Im Bürgerkrieg von 1829/1830 errang das konservative Lager die Vorherrschaft, die vierzig Jahre andauern sollte. Diego Portales (1793– 1837) stieg zum mächtigsten Mann auf und blieb bis zu seiner Ermordung im Juni 1837 die politisch bestimmende Figur. Zu seinen Leistungen gehört die Verfassung von 1833, welche den Grundstein für politische Stabilität legte. Ferner ließ Portales die Staatsverwaltung ordnen und eine wirksame Verwaltung aufbauen. In ökonomischer Hinsicht waren Handel und →Bergbau wichtig, die stark wuchsen. Das politische System C.s wies einen autoritären Charakter auf: Portales erstickte jegliche Aufstandsbewegungen und ging kompromißlos gegen vermeintliche und echte politische Gegner vor. C. erlebte eine im Vergleich zu seinen Nachbarn erstaunliche innenpolitische Ruhe, es zahlte dafür aber einen hohen Preis. Nur 10 % der Bevölkerung durften wählen, auch gab es keine echte Kontrolle der Exekutive durch den Kongreß und eine starke präsidiale Autorität. Um die Mitte des 19. Jh.s begannen die Durchdringung und Erschließung der Gebiete südlich des Río Bío-Bío und der Kampf gegen die Mapuche. Wirtschaftliche und politische Interessen führten ab 1869 zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die indigene Bevölkerung. Die Überlebenden wurden ihres Landes beraubt, das später an europäische und besonders dt. Einwanderer verteilt wurde, die man zur Kolonisierung des Südens gezielt angeworben hatte. Der ökonomische Aufstieg C.s, das in den 1840er Jahren einen landwirtschaftlichen Boom erlebt hatte, vorteilhafte Kolonisierungsgesetze und innereuropäische Entwicklungen führten zu einer großen Zuwanderung im Zeitalter der europäischen Massenmigration. Infrastrukturelle Maßnahmen wie der Ausbau des pazifischen Hafen Valparaíso und die erste chilenische Eisenbahntrasse zwischen Caldera und Copiapó (1851) machten den Fortschritt des Landes deutlich, in dem 1843 die Universidad de Chile gegründet worden war. In den 1850er Jahren verdeutlichten zwei Bürgerkriege – auch als Revolution von 1851 bzw. 1859 bekannt –, daß es unter der Oberflä167
c h i l e , g e s c h i c h te s e i t d e r u n A b h Ä n g i g k ei t
che von politischer Stabilität gärte. Rückläufige Exporte von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Kupfer lösten ferner einen wirtschaftlichen Abwärtstrend aus, der sich nach dem Krieg gegen Spanien (1862) weiter verstärkte. Obschon sich C. in seiner Geschichte immer wieder auf einen Konflikt mit →Argentinien vorbereitet hat, blieb dieser aus: Der Streit um den Grenzverlauf im Süden des Landes wurde 1920 durch einen Schiedsspruch des brit. Kg.s beigelegt, den C. und Argentinien annahmen. 1836 war es zum Krieg gegen die peruanisch-bolivianische Konföderation gekommen, der von inneren chilenischen Problemen ablenkte. Der Antagonismus zu →Bolivien und →Peru brach im →Salpeterkrieg (1879– 1883) erneut auf, dessen Schauplätze der Pazifik und die Atacamawüste waren. Vor der Mitte des 19. Jh.s hatten chilenische Unternehmer begonnen, dort Salpeter abzubauen und mit großem Gewinn auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Von dieser Nutzung leitete C. territoriale Ansprüche ab, die zum Krieg führten. In diesen Konflikt spielten auch die weltweite Konjunkturkrise der 1870er Jahre und die inneren Krisen der drei Kriegsparteien hinein. Die Schlacht von Huamachuco brachte am 20.7.1883 schließlich den Sieg. Er bedeutete für C. auch den Gewinn von Antofagasta und Arica, bis ins 20. Jh. blieben die Besitzrechte an Arica jedoch strittig. Trotz des Sieges war der Krieg eine zwiespältige Erfahrung: Er hatte große Summen verschlungen und die Schwächen des chilenischen Militärs offenbart. Es folgte eine wichtige militärische Modernisierungs- und Professionalisierungskampagne, die das chilenische Militär tiefgreifend veränderte. Der Ausbau des Minensektors und ein allg. ökonomischer Aufschwung ließen eine zahlenmäßig bedeutende Mittelschicht von Bergabeitern, Handwerkern, Siedlern und Unternehmern entstehen. Sie forderte eine größere Teilhabe am politischen Geschehen, das nach wie vor von den Großgrundbesitzern bestimmt wurde. Die politischen Spannungen entluden sich in den Ereignissen von 1891, die bisweilen auch als Revolution gedeutet worden sind. Sie rissen C. in einen Bürgerkrieg, aus dem die Kongreßpartei als Sieger hervorging und die mit dem Selbstmord des Präs. José Manuel Balmaceda (1838–1891) endete. Es folgte die Errichtung eines parlamentarischen Systems, in dem der Kongreß gegenüber der Exekutive ein deutliches Übergewicht hatte. Diese „Parlamentarische Rep.“ geriet nach dem Ersten Weltkrieg in eine sich weiter verschärfende wirtschaftliche und soziale Krise. 1924 kam es zum Eingriff der Armee in die Politik und zum Rücktritt des amtierenden Präs. Arturo Alessandri y Palma (1868–1950), der ins Exil ging. Unter dem Druck des Militärs trat die Verfassung von 1925 in Kraft, welche die Position des Präs. gegenüber dem Kongreß stärkte. Bis zum Ausbruch des →Zweiten Weltkrieges wurde C. durch eine verstärkte Hinwendung zu den →USA, durch die Weltwirtschaftskrise und die Entwertung des Salpetermonopols geprägt. Eine Politik der Eliten wich einer Politik der Massen. Im Zweiten Weltkrieg nahm die Wirtschaft einen großen Aufschwung, der auf dem Export kriegswichtiger →Rohstoffe, v. a. in die USA, beruhte. Auf Druck dieses wichtigen Handelspartners brach C. 1943 die diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten ab, allerdings 168
ohne dem Dt. Reich den Krieg zu erklären. 1945 kam es dann zur Aufnahme C.s in die Vereinten Nationen und seine internationale politische Integration. Nach Kriegsende führte das Abklingen der internationalen Nachfrage erneut zu einer schweren ökonomischen Krise, die mit einer inflationären Entwicklung einherging. Auf die ökonomische Krise folgte die politische Krise, die im Reformstau begründet war und die durch Naturkatastrophen wie dem schweren Erdbeben von 1960 noch verschärft wurde. Die Bevölkerung war seit Beginn des 20. Jh.s kontinuierlich gewachsen; 1960 betrug die Ew.-zahl 7,6 Mio. Aus den Präsidentschaftswahlen von 1964 ging Eduardo Frei Montalva (1911–1982) als Sieger hervor. Die erste christdemokratische Reg. →Lateinamerikas versprach ein umfassendes Reformprogramm und eine „Revolution in Freiheit“, die als Alternative zum revolutionären Weg →Kubas galt. Eine Reihe von Strukturreformen wurde durchgesetzt, die „Chilenisierung“ blieb jedoch hinter den Erwartungen vieler Chilenen zurück. Die Präsidentschaftswahl von 1970 konnte der Sozialist Salvador Allende Gossens (1908–1973) mit knappem Vorsprung für sich entscheiden. Er war mit der Unidad Popular und einem Programm des „Sozialismus in Freiheit“ angetreten, jedoch führte die Nationalisierung verschiedener Wirtschaftszweige zu außenpolitischen Problemen, während die Wirtschaftspolitik der UP insg. ein Mißerfolg war. Das „sozialistische Experiment“ erfuhr jedoch weltweite Aufmerksamkeit. Am 11.9.1973 putschte das chilenische Militär und errichtete eine Militärdiktatur unter Führung von General Augusto Pinochet Ugarte (1915–2006), die bis 1989 bestand. Die Bilder vom ersten öffentlichen Auftritt der Militärjunta gingen um die Welt, die bald auch von Staatsterror und massiven Menschenrechtsverletzungen durch das Regime erfuhr. Gegner wurden gefoltert, ermordet und „verschwanden“. Ökonomische Reform im Sinne des Neoliberalismus der Chicagoer Schule (→Chicago) von Milton Friedman, umfassende „Säuberungen“ öffentlicher Institutionen sowie radikale Veränderungen im Bildungssektor und im Kulturbereich zwangen tausende Chilenen ins Exil. Das Ende der Diktatur wurde schließlich durch den Versuch herbeigeführt, im Plebiszit vom 5.10.1988 eine weitere Verlängerung der Präsidentschaft von Pinochet zu erreichen. Als „Concertación de Partidos por el No“ (Bündnis der Parteien für das Nein) gelang es der Opposition, das „Nein“ zu Pinochet und freie demokratische Wahlen durchzusetzen. Aus ihnen ging am 14.12.1989 der Christdemokrat Patricio Aylwin (* 1918) als Sieger hervor. Allerdings blieb Pinochet Oberkommandierender der Streitkräfte und später als Senator auf Lebenszeit ein wichtiger politischer Akteur, der für seine Verbrechen zu Lebzeiten nicht mehr verurteilt wurde. Die Diktatur ist bislang nur unzureichend aufgearbeitet. Die Transition, d. h. der Übergang C.s zur Demokratie, kann trotz aller Schwierigkeiten als gelungen gelten. Mit der Sozialistin Michelle Bachelet (* 1951), war von 2006 bis 2010 erstmals eine Frau, die zudem Tochter eines Opfers der Diktatur war, in das höchste Staatsamt gewählt worden. 2010 trat der Christdemokrat Eduardo Frei Ruiz-Tagle (* 1942), Sohn des Präs. Eduardo Frei Montalvo, das
ch i m u ren gA
Amt des chilenischen Präs. an, das er zuletzt von 1994 bis 2000 innehatte. Pamela Constable / Arturo Valenzuela, A Nation of Enemies: Chile Under Pinochet, New York 1991. Alfredo Jocelyn-Holt Letelier, La independencia de Chile, Santiago de Chile 2009. Stefan Rinke, Cultura de masas, reforma y nacionalismo en Chile, 1910–1931, Santiago de Chile 2002. DE L I A GONZ ÁL E Z DE RE UF E L S Chilembwe-Aufstand. Im Jan. 1915 kämpften mehrere hundert Menschen im Süden des brit. →Protektorats Nyassaland, des heutigen →Malawi, für ihre Befreiung von der brit. Kolonialherrschaft. Die zentrale Figur des Aufstands war der Kirchenführer John C. (ca. 1871– 1915), der seine Ausbildung zum baptistischen Pastor in den →USA erhalten hatte. Zurück in Nyassaland, gründete er um 1900 in Chiradzulu eine unabhängige kirchliche Organisation. Seine Providence Industrial Mission entwickelte sich zu einem Netzwerk von Kirchen, Schulen und modernen Farmen. Westliche Bildung und harte Arbeit, so C.s Vision, sollten Afrikanern trotz des institutionalisierten →Rassismus im Protektorat sozialen Aufstieg ermöglichen. Zunehmend desillusioniert protestierte er ab 1913 gegen die Ausbeutung von Afrikanern durch weiße Plantagenbesitzer und besonders gegen die Zwangsrekrutierung von Afrikanern im Ersten Weltkrieg. Im Jan. 1915 faßte eine heterogene Gruppe um C. den Entschluß, ein deutliches Zeichen gegen diese Zustände zu setzen und für ein freies Land zu kämpfen. Am 23.1.1915 attackierten sie eine für ihre schlechten Arbeitsbedingungen berüchtigte Plantage. Danach verlor der Aufstand wegen des Mangels an Waffen und weiterer lokaler Unterstützung an Kraft und wurde nach wenigen Tagen von Reg.struppen niedergeschlagen. John C. wurde kurz darauf von ihnen „auf der Flucht erschossen“, seine Anhänger Repressalien ausgesetzt, ihre Kirche zerstört.Trotz seines Scheiterns ging der C.A. als Wendepunkt in die Geschichtsschreibung Malawis ein. C. wird bis heute als Begründer des malawischen Nationalismus verehrt. Der Einfluß afroam. und millenaristischer Ideen auf den Aufstand, Verbindungen zur späteren Unabhängigkeitsbewegung und C.s Persönlichkeit werden bis heute kontrovers diskutiert, wobei zunehmend die religiösen und bildungspolitischen Dimensionen seines Wirkens betont werden. Desmond D. Phiri, Let Us Die For Africa, Blantyre 1999. George Shepperson / Thomas Price, Independent African, Blantyre 1987. KAT HARI NA Z ÖL L E R Chillicothe. Am Scioto River im späteren US-Staat Ohio gelegene Hauptsiedlung einer gleichnamigen Untergruppe der Shawnee; zwischen 1720 und 1760 hatten sich die Shawnee allmählich, dem Druck der europäischen Siedler nachgebend, aus den mittelatlantischen östlichen Gebieten wieder in ihre alten Stammesgebiete in Ohio zurückgezogen. Als einer der wichtigsten Siedlungen der Shawnee wurde C. sowohl in Lord Dunmore’s War 1774 als auch während der →Am. Revolution mehrfach von am. Milizverbänden angegriffen. Die Siedlung wurde mehrfach zerstört und erlebte unter gleichem
Namen sechs Neugründungen. C. war 1803–1810 und 1812–1816 Hauptstadt des jungen Staates Ohio. Colin G. Calloway, The American Revolution in Indian Country, Cambridge 1995. Helen Hornbeck Tanner (Hg.), Atlas of Great Lakes Indian History, Norman 1986. H ERMA N N WELLEN REU TH ER Chimú. Der C.-Staat war zwischen 1000–1470 n. Chr. das größte vorinkaische Reich an der Küste →Perus. Sein Gebiet reichte von Túmbes im Norden bis zum Chillón-Fluß an der Zentralküste. Die Hauptstadt Chan Chan, nahe der Stadt Trujillo, zählt zu den größten Lehmziegelanlagen der Welt. Sie nahm eine Fläche von 20 km² ein und umfaßte eine Vielzahl an Palastanlagen, Verwaltungsbauten und Handwerkervierteln. Die C. errichteten in ihrem Reich verschiedene Verwaltungszentren, die auch Werkstätten zur Herstellung von Luxusgütern beherbergten. Deren Produktion und Umverteilung bildete ein Mittel der Machtsicherung. Zu den Prestigegütern zählten Gold- und Silberobjekte, feine Holz- und Muschelarbeiten, reich verzierte Textilien und schwarz gebrannte Keramik. In diesen Zentren residierten die politischen Machthaber der Region mit administrativen und zeremoniellen Architekturkomplexen. Um 1470 eroberten die Inka unter Tupac Yupanqui das C.-Reich. Neben der Aufgabe Chan Chans und der Entmachtung der C.Elite kam es zu Plünderungen, hohen Tributforderungen und zur Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen. Besonders Metall-, Textil- und Keramikspezialisten wurden nach →Cuzco oder in die Provinzen geschickt. Klaus Koschmieder, Siedlungsweise und Subsistenzstrategien an der südlichen Peripherie des Chimú-Imperiums, Berlin 2003. Eugen F. Meyer, Chanchán – vor-span. Stadt in Nordperu, München 1982. BER N D SCH MELZ Chimurenga. Wörtlich übersetzt: „Der Sohn Gottes hat sich erhoben“. Damit verweist der Begriff auf die Bedeutung religiöser Instanzen bei den Shona-sprechenden Völkern in →Simbabwe (ehem. →Südrhodesien) für politisch motivierte Revolten, in deren Zentrum stets die Landfrage gestanden hat. Heute wird zwischen dem ersten, zweiten und dritten C. unterschieden, deren erster Gegenstand intensiver Erinnerungskultur geworden ist, an die die beiden späteren dann anzuknüpfen suchten. Der erste C. war als gemeinsame Revolte von den Nedebele und den Shona-sprachigen Völker geplant worden. Im März 1896 formierten sich zunächst die →Ndebele, das zweitgrößte Volk des Landes, nur sieben Jahre nachdem die →British South Africa Company (BSAC) unter Leitung Cecil Rhodes’ von Großbritannien als Verwalterin des Territoriums eingesetzt worden war. Bereits 1893 hatte sie sich des Nebele-Herrschers Lobengula durch einen fadenscheinig begründeten Krieg entledigt. Seine enormen Herden wurden konfisziert, das Land enteignet und die Aristokratie entmachtet. In beiden Verwaltungsbezirken des Gebiets, Matabeleland und Mashonaland, wurden afr. Männer zudem durch massive Besteuerung zur Arbeit in europäisch geführten Minen gezwungen. Die Revolte war eine logistische Glanzleistung, die verfeindete Völker und zerstrittene Fürsten einte, letztlich aber am Fehlen einer zentralen militärischen Entschei169
c h i n e s i s c h e e �PA n s i o n
dungsinstanz scheiterte. Während die BSAC-Truppen zu einem Eroberungsfeldzug im →Transvaal ausgerückt waren, organisierten sich die Regimenter der Nedebele. Sie brauchten jedoch Unterstützung von den Shona, deren Konföderation sie bei ihrer Einwanderung in das Gebiet unterworfen hatten. Während die Ndebele im März 1896 losschlugen, im Apr. eine empfindliche Niederlage einsteckten und im Aug. Friedensverhandlungen mit Cecil Rhodes begannen, beteiligten sich die Shona erst ab Juli 1896 an den Kämpfen. Als die Ndebele im Jan. 1897 einem Friedensschluß zustimmten, tobte der Kampf im Mashonaland weiter. Angesichts der Sprengung ihrer Rückzugshöhlen und einer erneuten Dürre mußten jedoch auch die Shona im Sept. 1897 aufgeben. Im Okt. bzw. Dez. 1897 wurden ihre Anführer Kagubi und Nehanda gefangengenommen. Beide wurden im Apr. 1898 als Anführer des Aufstands hingerichtet. Da es an der einigenden Kraft charismatischer Führer fehlte, hatten spätere Versuche, eine erneute Erhebung zu organisieren, keinen Erfolg mehr. Der zweite C. wurde ab 1972 überwiegend im Mashonaland als Guerillakrieg geführt. Der Kampf einte die zerstrittenen Parteien ZANU und ZAPU zur Patriotic Front (PF). In diesem Befreiungskampf wurde ausdrücklich eine C.-Tradition konstruiert. Die Unterstützung der Guerilla durch die ländliche Bevölkerung war von entscheidender Bedeutung. Der zweite C. führte 1979 zur Gründung der unabhängigen Rep. Simbabwe. Als im Jahr 2000 weiße Farmer unter dem Mugabe-Regime vertrieben und Oppositionelle mundtot gemacht wurden, geschah dies wiederum in der Rhetorik des Befreiungskampfes. Seither ist von einem dritten C. die Rede. David N. Beach, War and Politics in Zimbabwe 1840– 1900, Gweru 1994. Bill Derman / Anne Hellum, Land, Identity & Violence in Zimbabwe, in: Bill Derman u. a. (Hg.), Conflicts over Land & Water in Africa, Michigan 2008, 161–186. Norma J. Kriger, Zimbabwe’s Guerrilla War, Cambridge 1992. ANDRE A ME S T E R Chinesisch-Japanischer Krieg →Japanischer Imperialismus Chinesische Expansion und europäische Expansion in China. Das nach langen Bürgerkriegswirren sich etablierende Manchu-Qing-Reich (1644–1911) dehnte sich bis ins 18. Jh. gegenüber den Grenzen der vorhergehenden Ming-Dynastie insbesondere nach Westen und Norden erheblich aus und kolonisierte – auch als Folge eines Bevölkerungswachstums – im Inneren weite bis dahin von Minderheiten besiedelte oder gänzlich unbesiedelte Gebiete. Mit der Wirtschafts- und Regierungskrise im ausgehenden 18. Jh. wurde jedoch der innere Zusammenhalt aufgelöst und es kam insbesondere in Nordostund Zentralchina vermehrt zu Unruhen und Aufstandsbewegungen, die zu regionalen Machtbildungen bis hin zur Gründung unabhängiger Staaten auf chinesischem Territorium v. a. in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s führten. Die um 1860 erreichte Ausdehnung des Qing-Reiches blieb die Grundlage für den Territorialanspruch der 1912 ausgerufenen Republik China und der diese 1949 ablösenden Volksrepublik. Die in der Folge des sog. 170
Opiumkrieges geschlossenen →Ungleichen Verträge, der Übergang →Hongkongs an Großbritannien (1842) und die Sonderrechte der europäischen Mächte in den Küstenstädten, namentlich in Shanghai, der Verlust des Nordostens (1858–1860) und der Dsungarei (1864) an Rußland (→Russisches Kolonialreich), der Verlust Taiwans an Japan (1895) sowie die Unabhängigkeit Tibets (1910) und der Mongolei (1911), bedeuteten insgesamt eine Traumatisierung Chinas, die bis in die Gegenwart nachwirkt. Insbesondere nach den Erfahrungen mit der japanischen Aggression in den 30er und 40er Jahren des 20. Jh.s (u. a. →Massaker von Nanjing) und der Gründung des Vasallenstaates Mandschukuo (1932–1945) sowie nach dem chin.-sowjetischen Grenzkonflikt und den Grenzstreitigkeiten mit Indien in den 60er Jahren des 20. Jh.s ist die Grenzfrage auch innenpolitisch weiterhin ein besonders sensibles Thema. Dies gilt besonders für Tibet, wo es nach von den →Vereinigten Staaten von Amerika beförderten Unruhen im Jahre 1959 zu einem massiven Militäreinsatz der chinesischen Armee kam. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der Nordwesten, insbesondere die Provinz Xinjiang, in den Sog separatistischer Bestrebungen geraten. Während China weiterhin die Sicherung seiner Grenzen und einiger umstrittener Inseln im Ostchinesischen sowie im Südchinesischen Meer verfolgt, sind expansionistische Tendenzen nicht zu erkennen. So wichtig die territoriale Expansion Chinas in der Frühen Neuzeit und die Herausforderungen durch Beherrschungsinteressen der westlichen Länder einschließlich Rußlands und Japans waren, so werden diese doch überlagert durch seit dem 16. Jh. verstärkte Einbeziehung Chinas in den internationalen Waren- und Währungskreislauf. Dadurch wurde China, insbesondere seit der Mitte des 19. Jh.s, unter einen extremen Veränderungsdruck gestellt, der bis in die Gegenwart anhält und China grundlegend verändert. In diesem Prozeß der Veränderung Chinas wird auch die Identität der Grenzregionen vor neue Herausforderungen gestellt, woraus auch Unabhängigkeits- und Selbständigkeitsbestrebungen entstehen können, die China vor neue Herausforderungen stellen. Pamele Kyle Crossley, The Wobbling Pivot. China Since 1800, Chichester 2010. Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas 1279–1949. München 2006. D. R. Howland, Borders of Chinese Civilization, Durham 1996. H ELWIG SCH MID T-G LIN TZER
Chinesische Minderheiten in Südostasien. Seit Jh.en reisen Menschen aus China nach →Südostasien, zwecks Handel oder Migration. Sie überquerten in frühesten Zeiten die Landgrenzen zu →Birma/Myanmar, →Laos und →Vietnam, bevor diese Reiche gebildet wurden. Neben ethnischen Minderheiten, die beiderseits der Grenzen lebten und z. T. noch leben, sind aus der Mehrheit der Han-Chinesen viele auch über See nach Südostasien gelangt und z. T. dort seßhaft geworden. Für die Kontakte zwischen Südchina und seinen Nachbarn waren die maritimen Verbindungen sogar wichtiger als die Ländergrenzen. Der Südosten Chinas, v. a. die Provinzen Guangdong und Fujian mit den großen Hafenstädten →Kanton (Guangzhou) u. a., war ein dichtbesiedeltes
ch i n es i s ch e mi n d erh ei ten
Gebiet, das sehr früh in Austausch mit anderen Ländern trat. Hier verlief die „Seidenstraße des Meeres“, die durch Südostasien nach →Indien führte. Der Wechsel der Monsune zwang die Handelsschiffe, einige Monate in Südostasien auf günstige Winde zu warten. So entstanden geschlossene Siedlungen und Emporien chin. Händler in den Häfen, wo sie →Seide, →Tee und Porzellan gegen Naturprodukte, Rohstoffe und landwirtschaftliche Erzeugnisse tauschten. Auch wenn die Händler gewöhnlich nach China zurückkehrten, blieben einige dort, heirateten einheimische Frauen, paßten sich mehr oder weniger der einheimischen Lebensweise an und wurden peranakan – zu Landeskindern werdend – genannt. Etwa ab dem 17. Jh. kamen Bauern, um Exportprodukte wie →Zucker, Gambir (Uncaria gambir) oder →Pfeffer in weniger besiedelten Gebieten anzubauen, sowie Bergleute, die Zinn in Südthailand, Malaya und Teilen von →Indonesien schürften. Das 19. Jh. sah den „Großimport“ von chin. Kontraktarbeitern, sog. →Kulis für →Bergbau, →Tabak- u. a. Plantagen, nach →Singapur, Malaya und Indonesien durch entspr. Gesellschaften. Soweit die Kulis die willkürlichen, „pönalen“ Bestrafungen und teils unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Kontraktzeit überlebten und nicht nach China zurückkehrten, siedelten sie in Südostasien. Das Gewaltmonopol der Kolonialverwaltung galt nicht auf den Plantagen. Neuankömmlinge hießen totok oder sinkeh (Gäste). Andere reisten aus China nach, um sich in den urbanen Zentren niederzulassen. Dort waren sie Kaufmänner, Handwerker und Arbeiter. Als Kleinhändler zogen sie bis in die Dörfer, boten den Bauern Kredite für den Anbau von Exportprodukten wie →Reis, Zucker, Kopra oder Kautschuk an und leiteten die Ernten an die Märkte in Asien und im Westen weiter. Ende des 19. Jh.s begannen auch chin. Frauen einzuwandern; sie gründeten Familien und Clans. In ihren Stadtvierteln gab es Tempel und Schulen. Die Männer bildeten eigene Landsmannschaften und Handelsvereine. Den kulturellen Mittelpunkt schufen sie sich mit Hilfe von tempelartigen Vereinshäusern für die Mitglieder. Eine ganz eigene, synkretistische Kultur prägten die „Baba-Chinesen“ z. B. an der Westküste →Malaysias aus. Sie sind z. T. Nachkommen von Malaysierinnen, die Chinesen heirateten. Die Nachfahren dieser chin. Einwanderer – früher auch Überseechinesen genannt – sind in allen südostasiatischen Ländern zu finden, v. a. entlang der alten Handelswege, und insb. dort, wo Handel und Kommerz konzentriert sind. Kleinere Siedlungen existieren dort, wo früher Chinesen in der Landwirtschaft und im Bergbau tätig waren, aber i. allg. sind Chinesen „urbaner“ als die einheimische Bevölkerung. Die Kolonialverwaltungen behandelten sie sehr unterschiedlich und verboten ihnen z. T. den Landerwerb. Es ist schwer, heute ihre absolute Zahl zu bestimmen; sie liegt bei ca. 40–45 Mio. Ihr Anteil in der Bevölkerung rangiert von fast 77 % in Singapur über 24 % in Malaysia (nach offiziellen Statistiken), 10–14 % in Thailand und ca. 2 % in Indonesien bis zu 1 % oder weniger in den anderen Ländern. Kulturelle und politische Faktoren machen genauere Schätzungen unmöglich. Viele Menschen chin. Herkunft haben sich so weit an die Kultur ihrer Umgebung angeglichen, daß sie
als „assimiliert“ gelten und ihre chin. Herkunft nicht mehr identitätsstiftend ist. Ein „chin. Hintergrund“ kann aber politisch problematisch werden. Während Anfang des 20. Jh.s die chin. Reg. diese Menschen als chin. Staatsbürger betrachtete und in der Zeit nach dem →Zweiten Weltkrieg einige Länder Hindernisse gegen die Einbürgerung der chin. Minderheiten errichteten, sind jetzt fast alle Ew. chin. Herkunft Staatsbürger ihrer Wohnländer. Die Ausnahme bilden ältere Menschen oder Immigranten, wobei die meisten Länder neue Immigranten nicht mehr zulassen. Die chin. Minderheit zeichnet sich durch einen relativ höheren wirtschaftlichen Wohlstand und einen besseren Bildungsstand im Vergleich zu den Einheimischen aus. Obwohl seit der Unabhängigkeit der ehem. Kolonien Südostasiens die Reg.en versuchten, die wirtschaftliche Macht zugunsten der Einheimischen abzubauen, behielten die „Chinesen“ weitgehend ihre ökonomische Vorrangstellung. Große multinational agierende Firmen und Banken, z. B. in Indonesien, Thailand oder den →Philippinen, sind in den Händen eingewanderter Chinesen oder ihrer Nachkommen. Auch Kleinhandel, →Transport, kleine verarbeitende Betriebe, selbst Grundbesitz (in den Städten) kann heute oft in chin. Hand sein. Maßnahmen, die die Position der Einheimischen in solchen Bereichen fördern sollten, wie in Malaysia die New Economic Policy, sind über die Jahre nur bedingt, wenn überhaupt erfolgreich gewesen. Was erklärt diesen Erfolg? Ein früher Autor (Levinus Hulsius, Nürnberg 51625) bezeichnet die prächtig gekleideten chin. Kaufleute „wie auch ihre Weiber“ als „behende kluge leut und beynach wie die Juden alhie.“ Er fügt Abbildungen von Blei- und Kupfermünzen hinzu, die in China gemacht und „in Jawa und India gangbar“ sind. Vor einigen Jahren versuchten Beobachter, den Erfolg durch besondere „Werte“ der Geschäftsleute zu erklären und soziale Netzwerke hervorzuheben, die auf der Grundlage von „Beziehungen (guanxi)“ und „Vertrauen (xinyong)“ und in einem Familiensystem funktionieren, das wie diese Werte auf Konfuzianismus aufbaut und äußerste Strebsamkeit verlangt. Abgesehen davon, daß die Chinesen eher →Buddhismus und Daoismus praktizieren und heutzutage z. T. auch Christen sind, scheint dieses Argument wenig ergiebig zu sein. „Networking“ oder „Vertrauen“ kommen auch in anderen Geschäftskulturen vor. Statt dessen richten neuere Studien ihr Augenmerk auf den Umgang mit Geld, auf Sparen und Investieren. Hinzu kommt ein hohes Maß an Flexibilität, die Möglichkeit, Kapital im Ausland und zur Not ins Ausland zu schaffen, Interesse an Innovationen, ein waches Auge für ökonomische Vorteile, und nicht zuletzt Privilegien von politischen Machthabern für favorisierte Geschäftsmänner: Subventionen, Tarifbarrieren und Monopole. Schließlich fehlt es auch nicht an sozialdarwinistischen und rassenbiologischen Spekulationen. Die Beschäftigung mit wenigen Reichen verstellt den Blick auf viele, die nur mäßig erfolgreich sind. Fast alle Länder – bis auf Singapur – haben Restriktionen gegen chin. Kultur und Bildung verordnet, doch ist Indonesien zwischen 1965 und 1998 am weitesten gegangen, angeblich mit dem Ziel der „Assimilation“ der chin. Mitbürger. Familiennamen wurden indonesiert und der Gebrauch chin. Schrift171
c h i n e s i s c h e ü be r s ee- e� P ed i ti o n e n
zeichen untersagt. Schulischer Unterricht auf Chinesisch wurde abgeschafft, die chin. Presse verboten, das Vereinswesen aufgelöst. Außerdem waren Chinesen Objekt von sporadischen Gewaltausbrüchen, meist aus trivialen Anlässen. Die Situation hat sich seit den schweren Ausbrüchen 1998 verändert. Die neuen Reg.en haben sowohl die kulturellen Freiheiten als auch die politischen Rechte der Minderheit erweitert. Einige Faktoren werden die Zukunft der Minderheiten in Südostasien bestimmen. Die Zahl der „Chinesen“ in Südostasien steigt zwar an, aber ihr Anteil an der Bevölkerung ist im Abnehmen. Rückmigration nach China findet ebenso statt wie Migration in westliche Länder. Die natürliche Zunahme der chin. Population als weitgehend urbane Bevölkerung ist wahrscheinlich niedriger als die der Einheimischen. Ein gewisser Assimilationsdruck geht von der Gesellschaft aus, so daß, wie erwähnt, einige sich nicht mehr als Chinesen identifizieren. Auf der anderen Seite könnte ein Erstarken des →Islam in Ländern wie Malaysia und Indonesien eine Barriere bilden – mit wenigen Ausnahmen sind Chinesen keine Muslime. Zudem können der zunehmende Wohlstand und die neue Machtposition der Volksrep. China einen gewissen Sog auf die Minderheit ausüben. Auch wenn es primär aus Neugierde oder aus rein wirtschaftlichem Interesse geschieht, sucht man Geschäftskontakte, schickt die Kinder zum Sprachunterricht, besucht die alte Heimat und vertieft sich in chin. Traditionen. Jan Breman, Taming the Coolie Beast. Plantation Society and the Colonial Order in South East Asia, Delhi 1989. Christian Chua, Chinese Big Business in Indonesia, London / New York 2008. Leo Suryadinata (Hg.), Chinese Diaspora Since Admiral Zheng He With Special Reference to Maritime Asia, Singapur 2007. MARY S OME RS HE I DHUE S
Chinesische Übersee-Expeditionen. Obwohl mehr als 17 000 km des chin. Festlands ans Meer grenzen, entwickelte sich China erst spät und für nur relativ kurze Zeit zu einer Seemacht. Dabei datieren die ältesten archäologischen Spuren für Schiffbau bereits ins 6. vorchristl. Jahrtausend. Auch legen vereinzelte chin. Schriftquellen Handelsexpeditionen nach Japan, Korea und →Sibirien für das 5.–3. Jh. v.Chr. nahe. Ferner ist in einem Geschichtswerk über den ersten Ks. (Qin Shi Huangdi) zu lesen, der 219 v. Chr. „Turmschiffe“ (louchuan; Schiffe mit Aufbauten?) gen Süden schickte, um eine aufmüpfige Lokalmacht zu bekämpfen. Andere Schriftquellen berichten von einer Seeflotte, die 109 v. Chr. gegen Korea vorging, oder von 2 000 „Turmschiffen“, die 43 n. Chr. ein kleines Reich im heutigen Nordvietnam (→Vietnam) angriffen. In den folgenden Jh.en vermißt man jedoch ähnlich eindeutige Hinweise auf eine aktive Seepolitik. Erst für die Sui-Dynastie (589–618) ist bspw. schriftlich überliefert, daß sich eine Erkundungsmission an die Ostküste der Malaiischen Halbinsel aufmachte. Überdies sollen Flotten Landfeldzüge auf Korea unterstützt haben und gegen Taiwan vorgegangen sein. Folgt man den entspr. Geschichtsbüchern, bestimmte während der TangZeit (618–906) der sog. „Tributhandel“ das Geschehen auf den chin. Meeren. Allerdings empfing man die Tri172
butleistungen seiner manchmal nur nominellen Vasallen offenbar meist im eigenen Land und entsandte selbst nur selten Schiffe, um die obligatorischen Gegengeschenke zu überreichen. Die Song-Dynastie (960–1279) etablierte erstmals eine permanente, eigenständig verwaltete Hochseeflotte, die 1237 ca. 52 000 Seeleute umfaßte. Bei Bedarf wurde sie mit Schiffen, Besatzung und Proviant von der privaten Handelsmarine unterstützt. So stieg China Anfang des 13. Jh.s zur dominierenden Macht im Ostchin. Meer auf. Schließlich verloren die Song jedoch nicht nur ihre Herrschaft und ihre letzten Territorien im Süden Chinas an die mongolische Yuan-Dynastie (1279– 1368), sondern auch ihre komplette Flotte. Da diese ihren Einfluß auch in Ost- und →Südostasien ausweiten wollten, starteten sie sofort nach der Machtübernahme ehrgeizige Schiffsbauprogramme. Trotzdem blieben ihre Expeditionen z. B. gegen Japan (1274, 1281), Nord- und Südvietnam (1283–1288) oder →Java (1293) stets erfolglos. Die berühmtesten Überseefahrten fanden indes während der Ming-Dynastie (1368–1644) statt, deren Schiffe unter Leitung von →Zheng He zwischen 1405 und 1433 ganz Südostasien durchkreuzten, bis Südindien und Arabien segelten und an die Ostküste Afrikas vordrangen. Daß sich China erst seit der Song-Zeit intensiver den Weltmeeren zuwandte, hat viele Gründe. Der wichtigste ist wohl, daß die Mongolen die Song zunächst nach Südchina verdrängten und sie damit von ihren traditionellen ökonomischen und kulturellen Zentren trennten. Jene waren nun gezwungen, die sozial lange Zeit geächteten Privathändler zu fördern, die sich über das Meer neue Märkte erschlossen und damit den Großteil der Staatseinnahmen sicherten. Die Yuan- und Ming-Dynastien verfolgten mit ihren maritimen Unternehmungen primär machtpolitische Ziele. Letztere stellten ihr Engagement vielleicht auf Grund der hohen Belastungen oder der andauernden Bedrohung durch die Mongolen im Norden bald nach 1433 ein. Damit war das Ende der chin. Ü.-E. weitestgehend besiegelt. Jung-pang Lo, The Emergence of China as a Sea Power During the Late Sung and Early Yuan Periods, in: Far Eastern Quarterly 14.4 (1955), 489–503. Colin A. Ronan (Hg.), Joseph Needham, The Shorter Science and Civilisation in China, Bd. 4, Cambridge 1994. Roderich Ptak, Die maritime Seidenstraße, München 2007. A RMIN SELB ITSCH K A
Cholera. Akute Darmerkrankung durch im Wasser lebende Bakterien (Choleravibrionen); die Übertragung erfolgt durch mit Fäkalien verseuchtes Trinkwasser. Krankheitssymptome sind profuse wässerige Durchfälle und Erbrechen. Bei voll ausgeprägtem Krankheitsbild tritt der Tod durch Wasser- und Salzverluste in einigen Tagen ein. Seit dem Altertum war die C. endemisch in →Indien. Eine größere Epidemie dort trat 1817/18 im Zusammenhang mit der brit. Kolonisation auf. Über Rußland breitete sie sich nach Europa aus. Bereits Mitte des 19. Jh.s wurde der Zusammenhang der Infektion mit der Wasserversorgung vermutet und 1883 von Robert →Koch bewiesen. Infolge der besseren Stadthygiene war Deutschland seit 1872 weitgehend frei von C. mit Ausnahme der Epidemie 1896 in Hamburg. Heute ist die
c h ri s tiAn i s i eru n g
C. weiterhin endemisch in Indien, Afrika und Südamerika. Dhiman Barua, Cholera, New York 1992. DE T L E F S E YBOL D
Cholula (vor-span.: Cholollan). Eine der ältesten und bedeutendsten religiösen Metropolen →Mesoamerikas. Es liegt in Zentralmexiko auf 2 200 m im Hochbecken von Puebla in der Nähe der Vulkane Popocatépetl und Ixtaccíhuatl. Die ältesten Zeugnisse einer Besiedlung werden auf ca. 5000 v. Chr. datiert. Auf die Zeit der ersten nachchristl. Jh.e geht der Bau einer gewaltigen Pyramide zurück, die Alexander von →Humboldt auf seiner Reise durch →Mexiko mit denen →Ägyptens verglich. Im 12. Jh. errichteten die Tolteken der Gottheit Quetzalcóatl in C. einen Tempel. Dieser wurde zur wichtigsten Kultstätte Mesoamerikas, die hunderttausende Pilger weit über das mexikanische Hochland hinaus anzog. Die Ew.-zahl C. lag zu dieser Zeit bei einigen Zehntausend. Die Stadt war auch ein bedeutendes Handwerkszentrum und zentraler Marktplatz mit Handelsverbindungen bis zur mittelam. Landenge. Diese herausgehobene Position im religiösen und wirtschaftlichen Bereich wurde nicht durch miltärische Macht gestützt. Dennoch bildete C. eine der wenigen politischen Einheiten in Zentralmexiko, die nicht vom Aztekischen Dreibund unterworfen wurden. Doch durch innere Rivalitäten der verschiedenen in der Stadt lebenden →Ethnien wurde die Lage gegen Ende des 15. Jh.s zunehmend instabil. Die Haltung C.s gegenüber den unter →Cortés anrückenden Spaniern war ambivalent, so daß es zu keinem klaren Bündnisangebot gegen die Azteken kam wie im benachbarten Tlaxcala. Spanier und Tlaxcalteken verübten 1519 in C. ein berüchtigtes →Massaker, die matanza de C., bei dem einige Tausend Menschen getötet wurden, darunter auch große Teile der politischen und religiösen Führungsschicht. Nach der Conquista verschob sich das Kräfteverhältnis im Hochbecken erheblich. Tlaxcala nahm als Verbündeter der Spanier eine Sonderstellung ein. Nur wenige km von C. entfernt wurde 1531 von den Spaniern die Stadt Puebla de los Angeles gegründet, die zum neuen Zentrum der Region aufstieg. Zwar erhielt auch C. 1537 span. Stadtrecht, dennoch verlor es seine religiöse und wirtschaftliche Vormachtstellung dauerhaft an Puebla, und seine Bevölkerung sank auf einige Tausend ab. Als Zeichen der erfolgreichen Christianisierung des Hochbeckens wurde der obere Teil der großen Pyramide in C. zerstört und auf seinen Fundamenten eine weithin sichtbare Kirche errichtet. Wiebke von Deylen, Ländliches Wirtschaftsleben im spätkolonialen Mexiko, Hamburg 2003. Ignacio Marquina (Hg.), Proyecto Cholula, Mexiko-Stadt 1970. WI E BKE VON DE YL E N
Christianisierung. 1732 sollen die Christen nur ein Sechstel der Weltbevölkerung ausgemacht haben, die Moslems ein Fünftel, der Rest galt als „Heiden“. Heute sind es 21 % Moslems, aber ein Drittel Christen: 19 % Katholiken, 7 % Protestanten, 3 % Orthodoxe, 1,5 % Anglikaner, 3 % „Sonstige“. Um 1900 lebten 80 % der Christen in Europa, Nordamerika und Rußland, um 2000
waren es nur noch 40 %. In Afrika gab es 1965 75 Mio Christen, davon 34 Mio Katholiken und 21 Mio Protestanten, um 2000 waren es 351 Mio, 175 Mio und 110 Mio sowie 66 Mio „Sonstige“. Dieser Zuwachs ist nur zum Teil auf „Mission“ zurückzuführen. Denn dieser Begriff, der für Heidenbekehrung erstmals im 16. Jh. verwendet wurde, bezeichnet die einseitige Einwirkung von Vertretern einer „besseren“ Religion und Kultur auf religiös und kulturell Minderwertige. Er übersieht, daß viele →Indianer, Afrikaner und Asiaten sich das Christentum auf kreative Weise selbst angeeignet oder nach ihren Bedürfnissen umgestaltet haben. Unter „Sonstige“ verbergen sich Millionen Angehörige einheimischer Kirchen, die ein sehr eigenwilliges Christentum praktizieren. Der biblische Bekehrungsauftrag (Mk 16, 15–16; Mt 28, 18–20) enthält ja keine Bindung an ein konfessionelles Christentum. Zu seinem Impuls gehört aber auch die Vorstellung, daß alle Ungetauften in der Hölle enden (Mk 16, 16). Seit die Europäer im 16. Jh. erstmals neben Juden und Moslems in Amerika auch polytheistische „Heiden“ kennenlernten, kämpften ihre Missionare bis ins 20 Jh. einen verzweifelten Kampf, um möglichst viele Seelen vor diesem Schicksal zu retten. Daher die frühen Massentaufen nach oberflächlicher Belehrung. Ungeachtet orthodoxer und etlicher bemerkenswerter evangelischer Bemühungen blieb die Mission bei den neu entdeckten Heidenvölkern bis ins 18. Jh. überwiegend eine katholische Angelegenheit, weil die europäische Expansion von Portugal und Spanien ausging und weil die katholische Kirche in Gestalt der Bettelorden, später auch der →Jesuiten über geeignetes hoch motiviertes Personal verfügte. Kraft ihrer Weltherrschaftsansprüche teilten die Päpste im 15. Jh. die Welt zwischen Spanien und Portugal, wobei Mission als Legitimation diente. Seither gingen Mission und Kolonialismus Hand in Hand, auch wenn immer wieder Missionare wie Bartolomé de →Las Casas im 16. oder Franz Michael Zahn im 19. Jh. dieser Symbiose entgegentraten. Aber für Missionare blieb die europäische Expansion die gottgesandte Chance zur Seelenrettung, während manche Eroberer Sieg und Beute als Gottes Lohn für ihre Verdienste um die Ausbreitung des Evangeliums betrachteten. So wurden Spanisch- und Portugiesisch-Amerika christianisiert und an den Grenzen weiter missioniert. In →Asien hingegen mußten die Missionare auf eigenes Risiko arbeiten. So wurden nur die spanischen →Philippinen ein katholisches Land. Zwar haben sich die Jesuiten in Japan, China und Indien in unerhörtem Ausmaß auf die fremden Kulturen eingelassen, konnten aber nur vorübergehend in den politischen und kulturellen Krisen Japans im 16., Chinas im 17. Jh. Erfolge erzielen. Denn wenn die hard power des politischen Systems ins Wanken gerät, hat die soft power einer neuen Religion Chancen, außerdem bei marginalen Gruppen des Systems. Die wiedererstarkte hard power hingegen stößt sie ab. Umgekehrt beugen sich Angehörige nicht-europäischer Kulturen eher der soft power der Mission, wenn sie von der hard power der Kolonialherrschaft beeindruckt sind. Denn der Christengott hat sich dadurch als stärker erwiesen und der christlichen Lebensweise scheint die Zukunft zu gehören. Das Papsttum versuchte mittels seiner 1622 gegründeten 173
c h r is t us o r de n
Missionsbehörde (Congregatio de Propaganda Fide) die iberische Missionsherrschaft aufzubrechen. Es geriet in Asien stattdessen in Abhängigkeit von Frankreich mit der absurden Folge, daß noch die antiklerikale französische Republik im 20. Jh. den französischen Missionspatronat im Nahen Osten eisern aufrecht erhielt. Doch war mit dem Ende des Ancien Régime auch die von ihm getragene katholische Mission erst einmal am Ende. Das 19. Jh. wurde die große Zeit der protestantischen Mission, die dank der Erweckungsbewegungen viel Dynamik entfaltete. Träger waren weniger die Kirchen als die seit dem 18. Jh. neu gegründeten Missionsgesellschaften, die zunächst Mitglieder verschiedener Denominationen ebenso vereinten wie Angehörige verschiedener Nationen. Schauplatz war vor allem das spät eroberte →Afrika, wo dann auch die Katholiken mit moderner Organisation und Finanzierung wieder aufholten. Allerdings spielte neben der konfessionellen nun auch die nationale Rivalität eine große Rolle. Mit der →Dekolonisation wurden hard und soft power definitiv entkoppelt, das Christentum ist heute ausschließlich auf die letztere angewiesen. Da außerdem der Glaube an die Verdammnis der Ungetauften weithin verschwunden ist, gehört Mission nurmehr der Geschichte an. Q: Klaus Koschorke / Frieder Ludwig / Mariano Delgado, Außereuropäische Christentumsgeschichte: (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450–1990, Neukirchen / Vluyn 22006. L: Luke Clossey, Salvation and Globalization in the Early Jesuit Missions, Cambridge 2008. Martin Fuchs / Antje Linkenbach / Wolfgang Reinhard (Hg.), Individualisierung durch christliche Mission? Wiesbaden 2014. Horst Gründer, Welteroberung und Christentum: ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992. The Cambridge History of Christianity, 9 Bde., Cambridge 2006–2009. Wolfgang Reinhard, Globalisierung des Christentums, Heidelberg 2007. WOL F GANG RE I NHARD
Christusorden. Der C. wurde 1319 als port. Nachfolgeorden des 1312 aufgelösten Templerordens gegründet. Wie alle Ritterorden verband er religiöse mit kriegerischweltlichen Motiven und diente dem bewaffneten Kampf gegen die Feinde des Christentums. Auf der Iberischen Halbinsel bezog sich dieser Kampf zunächst auf die Vertreibung der Mauren im Rahmen der sog. Reconquista, die in Portugal jedoch bereits Mitte des 13. Jh.s abgeschlossen war. Trotzdem wurde der C. in seiner Gründungsbulle mit dem Kampf gegen die „Ungläubigen“ gerechtfertigt. Als die port. Expansion 1415 mit der →Eroberung Ceutas auf Afrika übergriff, integrierte die Krone den Orden in ihre Eroberungspläne. 1420 erhielt →Heinrich der Seefahrer, Sohn Kg. Joãos I., die Ordensleitung übertragen. Damit wurde die Verbindung zwischen Krone, Orden, Expansion und Kreuzzugsideologie (→Kreuzzüge) noch verstärkt. Zugleich legitimierte der Papst den von den Portugiesen geführten „→Heiligen Krieg“ gegen den →Islam. An den Kämpfen beteiligten sich zwar auch Ritterbrüder, doch auf die Dauer steuerte der Orden v. a. finanzielle Mittel zur Übersee-Expansion bei. Dafür erhielt er 1457 ein Zwanzigstel aller Einnahmen aus dem Guinea-Handel mit Sklaven (→Sklaverei 174
und Sklavenhandel), Gold und Fisch zugesprochen, was zu einer erheblichen Besitzsteigerung führte. Zudem erhielt er die geistliche Jurisdiktion über die atlantischen Inseln und das marokkanische und afr. Festland bis →Guinea. Wichtiger als die materielle Beteiligung an der Expansion waren die ideologischen Grundlagen, die von den Ritterorden auf die Eroberungspolitik übertragen wurden. Insb. das politische Programm Kg. Manuels I., der seit 1484 Meister des C. war und unter dessen Herrschaft (1495 bis 1521) die Entdeckung des Seewegs nach →Indien, der Aufbau des Kolonialreichs im →Ind. Ozean sowie die Landnahme →Brasiliens erfolgte, weist mit seinem Kreuzzugsmessianismus eine große Ähnlichkeit zur spirituellen Welt auf, welcher der C. seit seiner Gründung verbunden war. Gleichzeitig wurde der Orden zunehmend laizisiert. Seit Ende des 15. Jh.s durften die Ritterbrüder heiraten und brauchten kein Armutsgelübde mehr abzulegen. Im ersten Viertel des 16. Jh.s wurden ihnen zahlreiche Kommenden für die geleisteten Dienste in Übersee verliehen. Dies führte zu einer Zunahme der Kommendenzahl unter der Reg. Kg. Manuels I. von 72 auf knapp 450. War bereits im 15. Jh. die Ordensleitung auf die Kg.ssöhne übergegangen, so lag sie seit Manuel I. in den Händen des Kg.s selbst und wurde schließlich 1551 vom Papst für alle Zeiten an die port. Kg.e verliehen. Im 17. Jh. war die Vergabe von Ordenstiteln zu einem Herrschaftsinstrument geworden, mit dem der Kg. militärische, politische und verwaltungstechnische Dienste in den Peripherien des Imperiums wirtschaftlich und sozial honorierte. 1834 wurde der Orden wie alle anderen port. Ritterorden offiziell aufgelöst, um wenig später als Verdienstorden neu gegründet zu werden. Während der Ersten Rep. (1910–1926) und des Estado Novo (–1974) verlieh die offizielle port. Geschichtsschreibung dem C. und insb. der Person Heinrich des Seefahrers eine übermächtige und verzerrte Rolle. Seine Mythen und Symbolik wurden zur Stärkung der nationalen Identität verwendet. Fernanda Olival, The Military Orders and the Nobility in Portugal, 1500–1800, in: Mediterranean Studies 11 (2002), 71–88. Jorun Poettering, Die Rolle des Christusordens in der port. Expansion unter Heinrich dem Seefahrer, in: Sacra Militia. Rivista di Storia degli Ordini Militari 3 (2002), 89–110. Luís Filipe Thomaz, L’idée impériale manuéline, in: Jean Aubin (Hg.), La découverte, le Portugal et l’Europe, Paris 1990, 35–103. JO R U N PO ETTERIN G
Chroniken und Geschichtsschreibung in China. Die chinesische G. ist hinsichtlich ihrer Materialfülle wohl einzigartig und das in nahezu allen Kulturkreisen bekannte Problem mangelnder historischer Aufzeichnungen ist in China weitestgehend unbekannt. Bis weit zurück in die erste Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends liegen durchgehende, häufig von Zeitgenossen verfaßte Materialien vor und es gibt ab dieser Zeit eigentlich keine der sonst so üblichen schwarzen Flecken mehr in den Aufzeichnungen. Im Gegenteil hat der Historiker oftmals das Problem, daß er sich einer wahren Flut an geschichtlichen Quellen gegenüber sieht, aus denen er eine Auswahl treffen muß. Trotz aller spä-
c h r o n i k en u n d ges ch i ch ts s ch rei bu n g i n ch i nA
terer Materialfülle liegen jedoch die exakten Ursprünge der chinesischen Historiographie mangels erhaltener Quellen noch im Dunkeln. Einen richtig faßbaren Beginn hat man erst mit den Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu). Diese annalistische Chronik des Staates Lu behandelt den Zeitraum von 722 bis 481 v. Chr. Nach traditioneller Ansicht ist sie von Konfuzius (551–479 v. Chr.) persönlich redigiert, mit dem Ziel, eine Art Regierungsspiegel für nachfolgende Generationen zu erstellen. Erweitert wird das knappe annalistische Werk durch den Kommentar Überlieferungen des Zuo (Zuozhuan), in dem die einzelnen Annalen durch ausführlichere Anekdoten vervollständigt oder ergänzt werden. Diese beiden Werke werden stilprägend für den Annalen-Stil in der Chinesischen Geschichtsschreibung. Der nächste große Entwicklungsschritt vollzieht sich einige Jh.e später mit dem Chronisten Sima Qian (?145–86 v. Chr.). Der im Westen bisweilen mit dem Attribut „chinesischer Herodot“ versehene Autor kompiliert seine Aufzeichnungen des Chronisten (Shiji) und revolutioniert damit die chinesische Geschichtsschreibung. Das private Unterfangen betrachtet den Zeitraum vom Gelben Kaiser bis hin zu Kaiser Wu der Han. Es reicht also bis in die eigene Zeit des Historikers hinein. Obwohl Sima Qian damit fast 3000 Jahre Geschichte darstellt, liegt sein Schwerpunkt doch deutlich auf den Ereignissen und Entwicklungen des ersten Jh.s der Han Dynastie (ab 206 v. Chr.). Bei seiner Darstellung löst der Autor sich vom etablierten Annalen-Stil und teilt die von ihm gesammelten Informationen in verschiedene Kategorien ein. Im Detail kompiliert er für seine Aufzeichnungen folgende separate Abschnitte: 1. Chronologisch geordnete Kaiserannalen (benji): Stichpunktartige Aufzeichnungen über Omina, Wechsel im Beamtenapparat, Kaiserreisen, Opfer, Rebellionen und wichtige Ereignisse. Sie geben den groben historischen Ablauf wieder. 2. Angeordnete Überlieferungen und Anekdoten (liezhuan): Sammelkapitel mit detaillierten Anekdoten und Überlieferungen, die in sich wiederum chronologisch geordnet sind. Diese können sowohl zu Personen als auch zu Fremdvölkern sein. 3. Tabellen (biao): tabellarische Darstellung verschiedener Sachverhalte. 4. Traktate (shu): kompilierte Informationen zu abgegrenzten Einzelthemen wie etwa Ritualen, Himmelsbewegungen oder Opfern. 5. Erbhäuser-Kapitel (shijia): mehrheitlich Informationen zu den Herrscherfamilien vor der Han Dynastie. Mit dieser Einteilung begründet er den zweiten großen Stil der chinesischen Historiographie: den Annalen-Biographien-Stil. Selbiger erfreut sich großer Beliebtheit und wird für die nächsten Jh.e dominant. Nach einigen heute leider verlorenen Autoren betritt Sima Qians großer Nachfolger Ban Gu (32–92 n. Chr.) in der Späteren Han Dynastie (25–220 n. Chr.) die Bühne der Historik. Er verfaßt, inspiriert von Sima Qians Stil, ein Werk in einem leicht modifizierten Annalen-Biographien-Stil über die gesamte Han Dynastie und damit die erste richtige „Dynastiegeschichte“. Das Werk erweckt Interesse bei Kaiser Ming und dieser beauftragt Ban Gu schließlich
auch mit den ersten Kapiteln für das Geschichtswerk zur Späteren Han. Bis zur endgültigen Fertigstellung der heute bekannten Dokumente der Späteren Han durch Fan Ye (398–446 n. Chr.) vergehen noch einmal rund 300 Jahre. Dennoch markiert Ban Gu mit seinen Dokumenten der Han den Beginn der Tradition, daß Geschichtswerke im Annalen-Biographien-Stil für abgeschlossene Dynastien geschrieben werden. Das ermöglicht die historiographische Umsetzung der Idee des himmlischen Mandats. Diese Regierungserlaubnis für ein Herrscherhaus kann der Himmel bei schlechter Amtsausübung wieder entziehen und an ein anderes Geschlecht weitergeben. Den Vorarbeiten von Sima Qian und Ban Gu verdanken wir daher die heute sehr berühmten 24 (bisweilen auch 25) Korrekten Geschichten (zhengshi) oder, im Westen geläufiger, auch Dynastiegeschichten. Das „korrekt“ (zheng) im Titel bezieht sich dabei auf deren Beschreibung akzeptierter Dynastien. Dem gegenüber stehen in den Literaturkatalogen unter anderem die UsurpatorenGeschichten (bashi), also Werke zu nicht anerkannten Dynastien, sowie Alte Geschichten (gushi). Mit letzterem werden Werke bezeichnet, die sich in ihrem Aufbau am eingangs genannte Annalen-Stil orientieren. Die 24 Dynastiegeschichten sind für die frühen Dynastien heute die wichtigsten Quellen. Ihre aktuelle Dominanz ist jedoch irreführend und darf nicht unüberlegt auf frühere Zeiten übertragen werden. Zum einen gab es in vielen Fällen mehrere parallel existierende Annalen-BiographienWerke für eine einzige Dynastie. Zum anderen erlebte der eingangs beschriebene Annalen-Stil zum Ende der Späteren Han Dynastie (25–220 n. Chr.) seine Renaissance. Der Historiker Xun Yue (148–209 n. Chr.) überarbeitet hier im kaiserlichen Auftrag Ban Gus Dokumente der Han dahingehend, daß sie in Form und Gestalt den Frühlings- und Herbstannalen und den Überlieferungen des Zuo ähneln. Hierzu ordnet er die Informationen daraus chronologisch an und kürzt relativ große Teile. Die so entstehenden Annalen der Han erfreuen sich großer Beliebtheit und als Yuan Hong (328–376) ohne kaiserlichen Auftrag dann in der Östlichen Jin Dynastie (317–420) eine ähnliche Überarbeitung an den vorhandenen Geschichtswerken zur Späteren Han vornimmt, führt er damit den Annalen-Stil endgültig zu seiner zweiten Blüte. In der Folgezeit entstehen eine Vielzahl von Geschichtswerken in beiden Genres und diese koexistieren jeweils auch für mehrere Jh.e. Der Literaturkatalog aus den Dokumenten der Sui (fertiggestellt im Jahr 636) zeigt dieses Gleichgewicht zwischen Annalen-Biographien-Stil und Annalen-Stil. Folgende Auflistung verdeutlicht dies am Beispiel der Jin Dynastie (265–420):
175
c h r onike n und g es c h i c h t s s c h r e i b u n g i n c h i nA
a. 11 Werke im Annalen-Biographien-Stil
b. 11 Werke im Annalen-Stil
Jinshu《晉書》von Wang Yin 王隱
Jinji《晉紀》von Lu Ji 陸機
Jinshu《晉書》von Yu Yu 虞預
Jinji《晉紀》von Gan Bao 幹寶
Jinshu《晉書》von Zhu Feng 硃鳳
Jinji《晉紀》von Cao Jiazhi 曹嘉之
Jin Zhongxingshu《晉中興書》von He Fasheng 何法盛
Han Jin Yangqiu《漢晉陽秋》von Xi Zaochi 習鑿齒
Jinshu《晉書》von Xie Lingyun 謝靈運
Jinji《晉紀》von Deng Can 鄧粲
Jinshu《晉書》von Rong Xu 榮緒
Jin Yangqiu《晉陽秋》von Sun Sheng 孫盛
Jinshu《晉書》von Xiao Ziyun 蕭子雲
Jinji《晉紀》von Liu Qianzhi 劉謙之
Jin Shicao《晉史草》von Xiao Zixian 蕭子顯
Jinji《晉紀》von Wang Shaozhi 王韶之
Jinshu《晉書》von Zheng Zhong 鄭忠
Jinji《晉紀》von Xu Guang 徐廣
Jinshu《晉書》von Shen Yue 沈約
Xujin Yangqiu《續晉陽秋》von Tan Daoluan 檀道鸞
Dongjin Xinshu《東晉新書》von Yu Xian 庾銑
Xu Jijji《續晉紀》von Guo Jichan 郭季產
Ab der Tang Dynastie wird unter Taizong (r. 626–649) die zunächst in erster Linie aus privaten Anstrengungen entstandene Historiographie dann verstaatlicht und es wird das Geschichts-Amt eingerichtet. In selbem werden ab dann von Historiker-Teams Geschichtswerke kompiliert. Zu deren Aufgaben gehört unter anderem auch die Anfertigung von ausführlichen Annalen, den sog. „wahrheitsgetreuen Aufzeichnungen“ (shilu), aus denen später dann die Dynastiegeschichten kompiliert werden. Sima Guang (1019–86) führt in der Song Dynastie den Annalen-Stil zu seinem Höhepunkt, indem er aus einer Vielzahl von Quellen eine annalistische Gesamtgeschichte destilliert. Vermutlich ist es der Qualität und Praktikabilität des Zizhi Tongjian zuzurechnen, daß der Stil danach an Bedeutung verliert und daß eine ganze Reihe von annalistischen Werken nicht mehr weiter überliefert werden. Gleichzeitig verschwinden laut den Literaturkatalogen aber auch eine Vielzahl der über die frühere Zeit parallel verfügbaren Quellen im Annalen-BiographienStil. Woran dies liegt, ist nicht ganz klar. Zum einen hat vermutlich der kostspielige Buchdruck, der in dieser Zeit entsteht, das Textkorpus verkleinert. Zum anderen werden in der Song Dynastie auch andere Genres der Biographie wichtiger, etwa die Pinselnotizen (ein Sammelsurium von Prosaschriften, Aufzeichnungen u. Notizen v. Privatpersonen). Die Wahrheitsgetreuen Aufzeichnungen und Dynastiegeschichten werden jedoch bis in die Republik-Zeit (ab 1912) weiter kompiliert. Einzig die Geschichte der Qing wurde bisher nicht vollendet. Durch den – trotz bisweilen häufiger Dynastiewechsel – relativ stabilen Beamtenapparat des chinesischen Kaiserreichs wurde also eine Vielzahl historischer Quellen in den Archiven gesammelt, aus denen die Historiker dann ihre Werke kompilieren konnten. Für den an China interessierten Historiker sind deren vielfältige Erzeugnisse eine wahre Schatzkammer. Dabei darf jedoch trotz aller suggerierter Objektivität nicht vergessen werden, daß die 176
Werke zu einem bestimmten Zweck kompiliert wurden. In der chinesischen Tradition hatten historische Beispiele stets eine hohe Bedeutung und kaum eine Throneingabe oder ein Befehl kamen ohne Anführung eines historischen Beispiels aus. Auch philosophische Schriften nutzten gerne historische Begründungen. Dadurch erklärt sich vielleicht, warum Mythen in der chinesischen Historiographie nie als solche bezeichnet und von der übrigen Darstellung unterschieden wurden und warum viele Anekdoten topisch und bisweilen ähnlich schematisch wie exempla aus der römischen Tradition wirken. Die wahrheitsgetreue, im westlich-europäischen Verständnis „historisch-objektive“ Wiedergabe historischer Sachverhalte war niemals das alleinige Ziel der Werke, mindestens ebenso wichtig war die erzieherische Komponente. Zudem war gerade bei den frühen Werken die Abfassung oftmals privat motiviert, je nach Werk muß man also auch auf eventuelle Autorenintentionen achten. Dennoch wird die enorme Leistung der chinesischen Historiker dadurch nicht geschmälert. Für jedes Jahr der chinesischen Geschichte lassen sich dank ihrer Werke Informationen zu den wichtigsten Vorkommnissen, sowie zu den beteiligten Personen (v. a. Beamten und Literaten), finden. Dabei sind alle Informationen in standardisierter Weise aufbereitet und eindeutig nach Kaisern und Regierungsdevisen datiert. Chinesische Historiographie endet jedoch nicht bei den Grenzen des Kaiserreichs. Chinesische Chroniken und Annalen enthalten auch wichtige Informationen zu den Nachbarvölkern Chinas – weit über die Grenzen Chinas hinaus – und deren Gepflogenheiten, über die man von Gesandtschaftsberichten oder militärischen Auseinandersetzungen wußte. Werke im Annalen-Biographien-Stil enthalten von Anfang an standardmäßig Kapitel zu den Völkerschaften, welche die heutigen Gebiete der Mongolei, Korea, Vietnam, Tibet, usw. besiedelten. In den Annalen-Stil-Geschichtswerken finden sich diese Informationen dem Genre entsprechend
ch ro n i s ti k , i n d i g en e, i m PA zi f i k
chronologisch eingefügt wieder. Für die Frühgeschichte vieler schriftloser Nachbarvölker Ost- und Zentralasiens – etwa der Xiongnu, der Xianbei oder der Qiang, um nur einige davon zu nennen – sind die chinesischen Historiographien damit die wichtigste und oftmals einzige Quelle. Neben diesen direkten Nachbarn wissen die Geschichtswerke aber auch über weiter entfernte Gebiete wie etwa Parthien und Indien zu berichten. Ab den Dokumenten der Späteren Han und den dazugehörigen Quellen finden sich dann auch bereits einige, wenn auch spärliche, Informationen zum römischen Reich und seinen Bewohnern. Q: Ban Gu, Hanshu, Peking 1962 (teilw. übers.: Homer Dubs, The History of the Former Han Dynasty by Pan Ku, Baltimore 1938. John E. Hill, Through the Jade Gate to Rome: A Study of the Silk Routes during the Later Han Dynasty, 1st to 2nd Centuries CE. An Annotated Translation of the Chronicle on the ‚Western Regions‘ from the Hou Hanshu, Charleston 2009. Bai Shouyi, Zhongguo shixue shi, Shanghai 1986. Sima Guang, Zizhi Tongjian, Peking 1976 (teilw. übers. Rafe de Crespigny, To Establish Peace, Honolulu 1997). Sima Qian, Shiji, Peking 1959 (teilw. übers. William H. Nienhauser Jr. [Hg.], The Grand Scribe’s Records, 9 Bde., Bloomington 1994 ff. u. Burton Watson, Records of the Grand Historian of China: The Shih chi of Ssu-ma Ch’ien, 2 Bde., New York 1961). Endymion Wilkinson, Chinese History: A New Manual, Harvard 2013. L: On-cho Ng / Q. Edward Wong, Mirroring the Past – The Writing and Use of History in Imperial China, Honolulu 2005. S E BAS T I AN E I CHE R
Chroniken und Geschichtsschreibung in Südasien. Ch. sind ein bedeutendes Element für das Verständnis der Geschichte des vormodernen →Indien. Spätestens ab dem 8. Jh. bis ins beginnende 18 Jh. sind Hunderte mittelalterlicher Ch. überliefert, geschrieben in verschiedenen Sprachen, Literaturgattungen und -stilen. Sie wurden von offiziellen Historikern oder einzelnen, protegierten Gelehrten verfaßt. Obwohl sie wertvolle Quellen für die höfische Kultur, Staatsführung, das öffentliche und private Leben der herrschenden Eliten, deren geistige Vorstellungswelt und den kulturelle Kosmos ihrer Zeit darstellen, herrschten umfangreiche Debatten über die Glaubwürdigkeit und den historiographischen Wert dieser Ch. für die moderne Geschichtsschreibung. Seit den Anfängen des →Kolonialismus sprachen die Briten den Indern ein Geschichtsbewußtsein ab, eine Einschätzung, die sich noch bis vor kurzer Zeit wirkungsmächtig zeigte. Diese Vorwürfe und die folgenden Polemiken sind verantwortlich für die Wahrnehmung der Ch. nach den Maßstäben des europäischen Geschichtsbildes des 19. Jh.s, das durch seine Wurzeln in der europäischen →Aufklärung nicht in der Lage war, einem nichtwestlichen Geschichtsverständnis Rechnung zu tragen. Die Darstellung mit einem festen Anfang und Ende, ein linearer Zeitablauf und ein Verständnis von Geschichte als stetiger Fortschritt waren die Maßstäbe, nach denen die ind. Ch. bewertet wurden. Durch die allmähliche Akzeptanz alternativer und kulturell bedingter Sicht- und Überlieferungsweisen der Vergangenheit wurde jedoch
auch diesen Ch. mittlerweile ein historiographischer Wert zugestanden. Ch. sind stets, wie jede Art von Geschichtsschreibung, in der vorherrschenden Literaturgattung einer bestimmten Gemeinschaft oder Kultur zu einer bestimmten Zeit verfaßt. Als z. B. das mythologische Epos der purana-Literatur den Stil dominierte, wurde dementspr. Geschichte im purana-Stil überliefert; Ch. aus der Zeit des kavya-Stils orientierten sich an diesem. Als wichtige Ch. für die Frühzeit Indiens gelten u. a. Banas Harsacharita (frühes 7. Jh.), Bilhanas Vikramankadevacharita (10./11. Jh.) und Kalhanas Rajatarangini (um 1150). Die Epoche des →Delhi-Sultanats im 13. und 14. Jh. wurde ausführlich von Autoren wie Ziya Barani, Amir Khusrau, Isami, Shams ud-Din Siraj Afif und Yahya Sirhindi geschildert. Ab dem 16. Jh. kam es zu einer Blütezeit der Ch. und G. durch die Förderung der →Moguln. Namhafte Autoren waren Abul Fazl (Akbar Nama, Ain-i-Akbari), Abdul Qadir Badauni (Muntakhab ut-Tawarikh) und der Mogulherrscher →Jahangir (Tuzuk-i-Jahangiri). Alle unterschiedlichen Stile haben gemein, daß sie Geschichtsschreibung und Literatur vereinen, woraus das Problem resultiert, beides auseinander zu halten. Allerdings gibt es bestimmte Kennzeichen im Text, in Syntax- und Ausdrucksformen, sowie metrischen Prinzipien, allesamt Anzeichen, die eine Unterscheidung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung ermöglichen. Der Charakter der historischen Überlieferung unterscheidet sich erheblich von dem der Literatur, obwohl beide sich stilistisch stark ähneln können. Als ein Grund dafür, daß diese Differenzen häufig übersehen werden, gilt, daß modernen Historikern der Kontext, in dem die Texte zu lesen sind, oft schwer zugänglich ist. Für jede Geschichte ist die Beziehung zwischen dem Erzähler und dem Adressaten von zentraler Bedeutung, und wenn dieser besondere Zusammenhang verloren geht, kommt es automatisch zu Verständnisproblemen. Liest man die Ch. unter Berücksichtigung des literarischen und historischen Kontextes, können sie einen neuen und alternativen Zugang zur Vergangenheit bieten und Licht auf einige wertvolle Aspekte der Geschichte des Subkontinents werfen. Velcheru N. Rao u. a., Textures of Time, New York 2003. Romila Thapar, Time as a Metaphor of History, Delhi 1996. PR A B H AT K U MA R Chroniken und Geschichtsschreibung in Südostasien →Sejarah Melayu. Chronistik, indigene, im Pazifik. Im Inselpazifik war, außerhalb der →Osterinseln, keine Schrift entwickelt worden. Infolgedessen gab es vor Ankunft der Europäer auch keine Geschichtsschreibung oder indigene Chroniken. Bei einer eher zyklischen (→zyklisches Geschichtsbild) als linearen Vorstellung von Zeit und Zeitabläufen existierten v. a. fünf Formen, um historische Persönlichkeiten und Ereignisse einer Nachwelt zu überliefern. 1) mündlich tradierte Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben u. von Europäern in der Regel ab dem 19. Jh. als oral history schriftlich aufgezeichnet wurden. In Einzelfällen, etwa in den Marianen, die von den Spaniern schon im zweiten 177
c h r onis t ik, ind i g e n e , i m PA z i f i k
Drittel des 16. Jh.s okkupiert worden waren, sind diese einheimischen Geschichten von Europäern auch schon deutlich früher erfaßt worden. Die Tradition mündlich überlieferter Geschichte und Geschichten bestand im Pazifik auch noch über den Europäerkontakt u. die Alphabetisierung der Bev. hinaus. Insb. in Melanesien wurden auch nach der Übernahme europ. Schriftlichkeit weiter mündliche Geschichte(n) erzählt und weitergegeben – häufig eine Art indigene „Gegengeschichte“ zur schriftlich-europ. Form von Geschichte. Die Erzählung mündlich tradierter Geschichte u. Geschichten ist auch heute noch virulent, bspw. in →Papua-Neuguinea, wo die indigene Version von Geschichte etwa im Falle des →Zweiten Weltkriegs hinsichtlich der Beurteilung der Japaner z. T. sehr stark von der verschriftlichten, von Australiern und US-Amerikanern dominierten Historiographie abweicht. 2) Genealogien einzelner Familien, Clans u. ganzer Ethnien. V. a. in Polynesien u. Mikronesien praktiziert, dienten diese vornehmlich der Rechtssicherheit u. d. Durchsetzung von Ansprüchen auf Titel, besonderer Privilegien u. Landbesitz. Teilweise wurden Genealogien erweitert um Erzählungen, die einen Europäer an „res gestae“ erinnern, die Geschichten berühmter Ahnen, sowohl männlich wie weiblich, deren Taten die Sonderstellung der jeweiligen Familie, Clans etc. begründeten. Im ganzen Pazifik existierten u. existieren 3) Tänze, die keineswegs nur zur Rekreation, Entspannung u. sexuellen Attraktion abgehalten werden, sondern die historische u. aktuelle Ereignisse verarbeiten und über Generationen immer wieder neu präsentieren. 4) Bildertafeln (z. B. Im Sepik-Gebiet; in den sogenannten „bai“ →Palaus oder bei den →Maori) stellen ebenso vergangene Ereignisse dar, deren Bedeutung so groß war, daß sie memoriert werden sollten. Schließlich existieren 5) Piktogramme nicht nur bei den →Aborigines →Australiens, sondern auch in anderen Teilen des Pazifik, insb. in →Mikronesien, die, wie in Europa auch, zu den ältesten historischen Zeugnissen gehören. Indigene u. europ. Deutung. Der →Chamorroführer Huaro kritisierte schon im ausgehenden 17. Jh., daß die Spanier sich über Chamorro-Vorstellungen von Geschichte mokierten: „Sie behandeln unsere Geschichte als Fabel u. Fiktion“ (Scarr 1990, 220). An dieser Einstellung hat sich bis heute wenig geändert. In vielen Fällen wird indigen-oralen Geschichten pauschal die Historizität von Ereignissen, die außerhalb des europ. Erfahrungs- u. Glaubenshorizontes liegen, bestritten. Europ. Wissenschaftler rekurrieren zwar durchaus auf indigen-pazifische Geschichten, zumeist jedoch nur, um sie europ. zu interpretieren u. ihre eigenen Theorien damit zu substantiieren. Generell läßt sich zudem sagen, daß das Bestreben, aus indigenen Geschichten europ. Strukturen u. v. a. eine europ. Chronologie abzuleiten, dominiert. Ein typisches Beispiel ist die Entstehungsgeschichte von →Nan Madol. Während die einh. Bev. darauf insistierte (und immer noch insistiert), daß der Bau ohne ihre Einwirkung und Hilfsdienste erfolgte, konstruierten europ. Wissenschaftler aus indigenen Traditionen u. Erzählungen eine sozusagen „purierte“ Geschichte, die zwar der europ. Logik entsprach, den indigenen Geschichten aber diametral widersprach, weil sie zentrale Elemente daraus als „unglaubwürdig“ 178
von vornherein unter den Tisch fallen ließ. Ähnliches gilt für alle pazifische Geschichten, die auffällige Analogien zu biblisch-altorientalischen Geschichtsereignissen (z. B. „Sündenfall“, große Flut) aufweisen u. die allein aus diesem Grunde von Ethnologen u. europ. Historikern a priori devaluiert bzw. falsifiziert u. damit entwertet werden. Ganz generell besteht die Gefahr, daß Europäer bei der Erfassung einh. Geschichte(n) diese nicht wirklich wortwörtlich aufgezeichnet, sondern europ. gedeutet u. genau so verzeichnet haben. Eine sorgfältige Quellenkritik ist deshalb auch für die europ. Überlieferung pazifischer Geschichte(n) unumgänglich. Der absurde Fall, daß die westlich-europ. erfaßte und wiedergegebene Form der einheimischen Geschichte(n) als indigen akzeptiert wird, ist nicht nur theoretisch vorstellbar, weil in vielen Fällen der Zugang zu indigenen Quellen heute nicht mehr möglich ist. Häufig wird von vornherein unterstellt, mündlich tradierte Geschichten oder Genealogien seien durch multipersonale Weitergabe über lange Zeiträume verfälscht worden. Dabei wird kaum beachtet, daß eine ganze Reihe von pazifischen Kulturen u. Ethnien besondere Sorgfalt darauf verwandten, daß diese Geschichten oder Genealogien unverändert konserviert und durch die Zeiten getragen wurden. Dies wurde u. a. dadurch erreicht, daß die Personen, die solche Geschichten memorierten und selbst wieder an Nachfolgende weitergeben sollten, mit Bedacht ausgewählt und ausgebildet wurden. Dabei war die Akkuratheit des Erinnerns u. Wiedergebens ein Hauptkriterium bei der Selektion dieser indigenen Historiker, das auch mit teilweise drakonischen Strafen abgesichert u. durchgesetzt wurde. Darüber hinaus gab es Ethnien, die ihre eigene(n) Geschichte(n) als Geheimwissen behandelten, das nur einem exklusiven Kreis bekannt war u. zu dem man Personen von außerhalb einer exklusiven Gruppe, gleichgültig ob aus der eigenen Ethnie oder Fremden, den Zugang verwehrte, teilweise, indem man ein besonderes Vokabular oder eine Art Geheimsprache entwickelte. Die indigen-pazifische Geschichtsschreibung beginnt mit der Übernahme europ. Schriftlichkeit ab ca. 1830, zunächst in der Form indigener Erfahrungs- und Erlebnisberichte im europ. Kontaktfeld (indigen-pazifische Walfänger, Missionare etc.) oder Reiseberichte (Maori). Erste indigene Geschichtswerke sind chronik- u. stichpunktartig, konzentriert auf das, was als das Wesentliche angesehen wurde. Indigene Historiker verweisen darauf, daß die europ. Historiographie sich auch bei Kenntnis indigen-schriftlicher Historiographie beharrlich weigerte, deren Sicht der Dinge zur Kenntnis zu nehmen. So hat der Hawai’ianer Noenoe Silva gut dokumentiert, daß die ersten um 1800 entstandenen indigenen Geschichtswerke von Hawai’ianern in hawai’ianischer Sprache von am.-europ. Historikern noch bis nach der Jahrtausendwende negiert wurden, obwohl deren Existenz durchaus bekannt war. Auch in der verschriftlichten Form von Geschichte differiert die indigene Sichtweise häufig von der europ. So schreibt die hawai’ianische Geschichtsschreibung z. B. detailliert von Erfahrungen mit Europäerkontakten vor →Cook. Q: Aotearoa: Renata’s Journey, hg. v. Helen Hogan, Christchurch 1994. Cookinseln: Maretu, Cannibals and Converts, hg. v. Marjorie Tuainekore Crocombe, Suva
c h ro n i s ti k , i n d i g en e, i n m es o Am eri k A
1983. The Works of Ta’unga. Records of a Polynesian Traveller in the South Seas, 1833–1893, hg. v. Marjorie Tuainekore Crocombe / Ronald Crocombe, Canberra 1968, Suva 21984. Hawai’i: Briefe v. Kg. Kalakaua über seine Eindrücke in Europa 1881 i. Faksimile, in: Karl Wernhart, Der König von Hawaii in Wien 1881, Wien u. a. 1987, 164–169. Marianen: Charles Le Gobien, Histoire des isles Marianes, Paris 1700. Ponape: Luelen Bernart, The Book of Luelen, hg. v. John Fisher u. a., Canberra 1977. Salomonen: Na Tututi Moa Pa Ghanogga (Historical Tales of Ranongga Island), hg. v. Kenneth Roga, Gizo 1989. Samoa: I’iga Pisa, Chronologie d. samoan. Bürgerkriege, in: National Library of New Zealand, MS-Papers-4879-060. Te’o Tuvale, An Account of Samoan History up to 1918, http://nzetc. victoria.ac.nz/tm/scholarly/TuvAcco-fig-TuvAccoP003a. html (6.8.2014; Samoa). L: Hermann J. Hiery, Eingebunden, aber nicht eingefangen. Der Pazifik, in: Bernd Hausberger / Jean-Paul Lehners (Hg.), Die Welt im 18. Jh., Wien 2011, 42–69. Helen Hogan, Bravo Neu Zeeland. Two Maori in Vienna 1859–1860, Christchurch 2003. Rufino Mauricio, A History of Pohnpei History or Poadoapoad: Description and Explanation of Recorded Oral Traditions, in: Donald Rubinstein (Hg.), Pacific History. Papers from the 8th Pacific History Association Conference, Guam 1992, 351–380. Ders., Peopling of Pohnpei Island. Migration, Dispersal, and Settlement Themes in Clan Narratives, in: Man and Culture in Oceania 3 (1987), 47–72. Deryck Scarr, The History of the Pacific Islands, Melbourne 1990. Noenoe K. Silva, Aloha Betrayed, Durham NC 2004. HE RMANN HI E RY Chronistik, indigene, in Mesoamerika. Bereits in vorspan. Zeit wurden in →Mesoamerika wichtige Ereignisse in der Geschichte der dortigen Kulturen durch Bilderhandschriften dokumentiert und über Generationen tradiert. Im Zuge der Conquista kam es zu wesentlichen Erweiterungen und Veränderungen in dieser Form der indigenen C. Anknüpfend an die verschiedenen präkolumbischen Zeichensysteme begannen Missionare aus Spanien bald mit der Verschriftlichung der autochthonen Sprachen und mit der Unterweisung der einheimischen Eliten im Lesen und Schreiben lateinischer Buchstaben. Auf der Grundlage dieser Traditionen und Kenntnisse entwickelte sich in Mesoamerika während der Kolonialzeit eine große thematische und formale Bandbreite indigener Geschichtsschreibung. Einige der erhaltenen Werke wurden bereits im 19. Jh. in →Mexiko oder in Europa publiziert, wo zahlreiche Abschriften und einzelne Originaldokumente in Museen oder Bibliotheken verwahrt werden. Im 20. Jh. erschienen dann vermehrt kritische Ausgaben und Faksimiles. Die meisten präkolumbischen Bilderhandschriften wurden zu Beginn der Kolonialzeit zerstört oder gingen verloren. Da ihre Inhalte für die indigene Bevölkerung bedeutend blieben, so etwa zur Durchsetzung eigener Interessen im span. Rechtssystem, entstanden im 16. Jh. zahlreiche Rekonstruktionen dieser Kodizes. Die traditionellen bildlichen Darstellungen wurden um schriftliche Erläuterungen ergänzt, die die präkolumbische Tradition der mündlichen Überlieferung ersetzten. Aber auch unabhängig von kon-
kreten vor-span. Vorlagen wurden bis ins 18. Jh. weiterhin Kodizes erstellt, in denen sich allerdings zunehmend europäische Einflüsse bemerkbar machten. Bekannte Werke dieser Art sind der Codex Mendoza, der Codex →Boturini oder der Codex Aubin. Zeitlich bezog sich die indigene C. im kolonialen Mesoamerika sowohl auf die vor-span. Vergangenheit als auch auf die Conquista und die Gegenwart der Autoren, räumlich auf große Herrschaftsgebiete und lokale Einheiten. Besonders gut untersucht wurden in den letzten Jahrzehnten die Werke aus Zentralmexiko, die vorwiegend auf Nahuatl verfaßt wurden. Im Kerngebiet des ehem. →Aztekenreiches sind besonders viele der in der Kolonialzeit erstellten bildlichen und schriftlichen Zeugnisse erhalten geblieben. Aber auch in anderen Kulturen Mesoamerikas gab es lange historiographische Traditionen – so etwa bei den Mixteken oder den Maya, von denen ebenfalls bedeutende Aufzeichnungen überliefert sind wie die →Chilam Balam-Bücher oder das Popol Vuh. Im Verlauf der Kolonialzeit entstanden zunehmend schriftliche Darstellungen in indigenen Sprachen oder auf Spanisch, die namentlich bekannten Verfassern zugeordnet werden können. Auch sie verbinden formal und inhaltlich Elemente der europäischen C. mit präkolumbischen Traditionen. Unter den Autoren waren Missionare, die mündliche Berichte der autochthonen Bevölkerung zusammenfaßten, wie etwa Bernardino de Sahagún, Diego Durán oder Diego de →Landa, aber auch Angehörige der indigenen Eliten sowie Mestizen (→Casta), die der einheimischen Lebenswelt verbunden blieben. Diese Chronisten, deren wichtigste Vertreter hier kurz vorgestellt werden, waren umfassend mit beiden Sprachen und Kulturen vertraut und schufen mit ihren Werken bis heute relevante Quellen zum Verständnis der präkolumbischen Geschichte und der indigenen Sicht auf die Conquista und die Kolonialzeit. Ihre Darstellung und Bewertung der Ereignisse unterschied sich je nach Zugehörigkeit und Loyalität zu den verschiedenen vor-span. Machtbereichen und Herrscherfamilien erheblich, wie die folgenden Beispiele zeigen. So schildert die Historia de Tlaxcala die Ereignisse der Conquista vorwiegend aus der Sicht der wichtigsten indigenen Verbündeten der Spanier. Ihr Verfasser, Diego Muñoz Camargo (1528/29–1599), war der Sohn eines Spaniers und einer Tlaxkaltekin, der wenige Jahre nach der →Eroberung in Tenochtitlán bzw. Mexiko-Stadt und später in Tlaxcala lebte. Sein auf Spanisch verfaßtes Werk schildert die Geschichte Tlaxcalas von der präkolumbischen Vergangenheit bis in die Kolonialzeit. Daneben erstellte er im Auftrag des span. Kg.s →Philipp II. die Relaciones geográficas de Tlaxcala, die mit umfangreichem Bildmaterial ergänzt wurden. Auch Fernando de Alva Ixtlilxochitl (1578?–1650), ein Mestize, der mütterlicherseits von der Herrscherfamilie in Texcoco, einem Mitglied des aztekischen Dreibunds, abstammte, schrieb seine historischen Darstellungen auf Spanisch. Seine Hauptwerke sind vier Relaciones und die Historia de la nación chichimeca, die auf mündlichen Überlieferungen und vielen später verlorenen Quellen basieren. Sie beschäftigen sich ausführlich mit der vor-span. Geschichte, der Conquista und der frühen Kolonialzeit im Hochtal von Mexiko aus einer mit Tenochtitlán konkurrierenden 179
c h r onis t ik, ind i g e n e , i n P e r u
Perspektive und heben die Verdienste seiner Familie hervor. Dies kontrastiert mit dem Werk von Hernando Alvarado Tezozomoc (1537/38- nach 1609), mütterlicherseits ein Enkel →Moctezumas, des letzten Herrschers in Tenochtitlán vor der Eroberung durch die Spanier. Seine Werke sind die 1598 auf Spanisch geschriebene Crónica mexicana, und die 1609 auf Nahuatl verfaßte Crónica mexicayotl. In beiden Chroniken wird die Geschichte der Mexica erzählt, in der Crónica mexicana mit Schwerpunkt auf ihren Kriegszügen und in der Crónica mexicoyotl auf der Genealogie der Herrscherfamilien in Tenochtitlán. Die Zuordnung der Autorschaft der Crónica mexicayotl ist umstritten, da sie sowohl eine Textpassage von Alonso Franco enthält als auch Anmerkungen des Chronisten Chimalpahin (1579 – nach 1631), in dessen Besitz das Manuskript nach Tezozomocs Tod gelangt war. Chimalpahin, der mit vollem Namen Domingo de San Antón Muñón Chimalpahin Quauhtlehuanitzin hieß, stammte aus einer indigenen Adelsfamilie aus Chalco und schrieb sein umfangreiches historiographisches Werk ausschließlich auf Nahuatl. Viel zitiert und analysiert werden bis heute seine acht Relaciones, die unter dem Titel Diferentes historias originales bekannt wurden. In ihnen berichtet Chimalpahin auf einer breiten Quellengrundlage umfassend über die Ereignisse im Tal von Mexiko, insb. in seiner Herkunftsregion Chalco, und umspannt dabei einen Zeitraum, der von vor-span. Gründungsmythen bis zur Gegenwart des Chronisten im 17. Jh. reicht. Diese Annalen sind durch die Verbindung präkolumbischer Traditionen mit europäischen Elementen, wie der Berufung auf die göttliche Vorsehung oder dem Anspruch einer Universalgeschichte, beispielhaft für die indigene C. im kolonialen Mexiko. S. a. →Chilam Balam, →Codices. Q: Berthold Riese (Hg.), Crónica Mexicayotl. Die Chronik des Mexikanertums des Alonso Franco, des Hernando de Alvarado Tezozomoc und des Domingo Francisco de San Antón Muñón Chimalpahin Quauhtlehuanitzin. Aztekischer Text ins Deutsche übers. und erläut., Sankt Augustin 2004. Domingo de San Antón Muñón Chimalpahin Quauhtlehuanitzin, Diferentes Historias Originales. Aus dem Nahuatl übers., komment. und hg. v. Elke Ruhnau, 2 Bde, Markt Schwaben 2001. L: James Lockhart, The Nahuas After the Conquest, Stanford 1992. José Rubén Romero Galván (Hg.), Historiografía novohispana de tradición indígena, Mexiko-Stadt 2003. WI E BKE VON DE YL E N
Chronistik, indigene, in Peru. Anders als in →Mesoamerika waren in den Anden zu vor-span. Zeit Schriftsysteme nicht bekannt. So begannen indigene Autoren im →Vize-Kgr. Peru erst etwa eine Generation nach der →Eroberung damit, Traditionen und Ereignisse aus prähispanischer wie frühkolonialer Zeit aufzuschreiben. Zur indigenen C. Perus zählen nur wenige Werke aus dem späten 16. und frühen 17. Jh.: Neben der Nueva Crónica y Buen Gobierno von Guaman Poma de Ayala sind dies die Berichte des Titu Cusi und des Pachacuti Yamqui; einige Forscher rechnen das Manuskript von Huarochirí ebenfalls dazu. All diese Quellen wurden erst im späten 19. oder im 20. Jh. veröffentlicht. Die früheste und 180
einzige autobiographische Schrift eines Inkaherrschers über die Eroberung Perus und den anti-span. Widerstand stammt von Diego de Castro Titu Cusi Yupanqui (ca. 1533–35 bis 1570–71). Titu Cusi, ein Sohn Manco Incas, war seit 1559/60 Herrscher im inkaischen Reststaat von Vilcabamba. 1566 unterwarf er sich der kastilischen Krone, erhielt bedeutende →Encomiendas und wurde 1568 getauft. Mit Hilfe seines Beichtvaters Marcos García verfaßte Titu Cusi 1570 in Vilcabamba die span.sprachige Relación de cómo los españoles entraron en el Perú y el suceso que tuvo Manco Inga en el tiempo que entre ellos vivió (Bericht darüber, wie die Spanier in Peru eindrangen und was Manco Inga widerfuhr, als er unter ihnen lebte). Der für Kg. →Philipp II. bestimmte Bericht stellt zunächst die Verdienste Manco Incas heraus, um dessen Ruf als Rebell zu korrigieren; er erläutert Mancos Belagerung →Cuzcos (1536/37) und seinen Rückzug nach Vilcabamba (1539). Danach beschreibt Titu Cusi seine eigenen Erfahrungen mit den Spaniern. Das Original des Textes ist zwar verloren, doch befindet sich eine 1574 entstandene Abschrift im Escorial. Joan de Santa Cruz Pachacuti Yamqui Salcamaygua (Lebensdaten unbekannt), ein Angehöriger des regionalen indigenen Adels aus Orcusuyo (Region Canas y Canchis), sprach Spanisch und Quechua, vielleicht auch Aymara. Um 1613, spätestens 1625 schrieb er in span. Sprache die Relación de antigüedades del Perú. Dieser Bericht über die Altertümer Perus ist in vier Zeitalter gegliedert. Pachacuti Yamquis Darstellung der vor-span. Geschichte liegt eine christl.-providentialistische Haltung zugrunde. Nach einer präinkaischen Dunkelzeit habe der Prophet Tunapa bzw. Apostel Thomas vergeblich den Süden Perus missioniert. Während danach einige Inkaherrscher den Polytheismus förderten, hätten andere die Notwendigkeit eines einzigen Schöpfergotts (Viracocha) anerkannt. Als bekennender Christ versucht der Autor, Elemente der autochthonen Religion als mit dem Christentum kompatibel darzustellen. In seine Darstellung sind inkaische, regional-andine und europäische Einflüsse eingegangen. Der mit Zeichnungen versehene Bericht stellt trotz mancher chronologischer Fehler eine außergewöhnliche Deutung der andinen Geschichte bis zur Ankunft Francisco →Pizarros dar; zudem dokumentiert er Riten und Quechua-Gebete, die kein anderer Chronist erwähnt. Das Manuskript dieses Textes wird, wie das Original des folgenden Werks, in der Nationalbibliothek von Madrid aufbewahrt. Der einzige umfangreiche, vollständig auf Quechua verfaßte frühkoloniale Text indigenen Ursprungs hält orale Traditionen aus Huarochirí, einer ca. 80 km östlich von →Lima gelegenen Bergregion, fest. Der Pfarrer von San Damián de Huarochirí und spätere extirpador de idolatrías, Francisco de Avila, veranlaßte ihre Aufzeichnung (ca. 1598–1608). Das anonyme Manuskript von Huarochirí ist weder datiert noch betitelt (Incipit: „Runa yndio ñiscap machoncuna“). Es erzählt von Mythen, Glaubensvorstellungen, Riten und Gottheiten, wie den Taten des Kulturheros’ Pariacaca und seiner Schwester Chaupiñamca. Kämpfe zwischen Pariacaca und seinem Widersacher Wallallo Caruincho repräsentieren die Konflikte zwischen den diese Gottheiten verehrenden Gruppen (z. B. Checa und Yunka).
c h r o n i s ti k u n d ges ch i ch ts s ch rei bu n g i n A f ri kA
Obwohl der Text hauptsächlich präinkaische Themen behandelt, reflektiert er auch Ereignisse aus inkaischer und frühkolonialer Zeit. Span. Einflüsse, biblische Parallelen und Bezüge zur kolonialen Gegenwart lassen sich mit der komplexen Textgenese erklären: Neben indigenen Informanten waren Quechua-Sprecher beteiligt, die den Stoff bearbeiteten, sowie F. de Avila als klerikaler Kontrolleur. Diese „Auto-Ethnographie“ ermöglicht einen einzigartigen Blick in die autochthone Vorstellungswelt einer andinen Region – vom frühen 17. Jh. bis zurück in die vorinkaische Zeit. Q: Pachacuti Yamqui Salcamaygua, Joan de Santa Cruz [ca. 1613], Relación de Antigüedades deste Reyno del Piru. Estudios de Pierre Duviols y César Itier. Lima / Cuzco 1993. Gerald Taylor (Hg.), Ritos y tradiciones de Huarochirí del siglo XVII. Estudio de Antonio Acosta, Lima 1987. Titu Cusi Yupanqui [1570], History of How the Spaniards Arrived in Peru. Introduction and translation by Catherine Julien, Indianapolis / Cambridge 2006. L: Iris Gareis, Die Geschichte der Anderen. Zur Ethnohistorie am Beispiel Perus (1532–1700). Berlin 2003. OT TO DANWE RT H Chronistik und Geschichtsschreibung in Afrika. Stärker noch als anderen Weltregionen wurde →Afrika durch Europa lange ein eigenes geschichtliches Bewußtsein abgesprochen (Hegel). Die schrittweise „Entdeckung“ afrikanischer Geschichtsschreibung seit dem 19. Jh. trug daher ebenso zu einer Revision des europäischen Afrikabildes wie zu einem wachsenden afrikanischen Selbstbewußtsein bei. „Afrikanisch“ oder „endogen“ können diese historiographischen Formen insofern genannt werden, als ihre Autoren, Sichtweisen und Adressaten dem eigenen Kontinent zugehörten, im Kontrast zu den Werken externer (griechisch-lateinischer, arabischer, europäischer und amerikanischer) Herkunft. Interaktionen mit, und selektive Aneignung von, externen Mustern und Interpretationen spielten aber durchaus eine Rolle in der afrikanischen Historiographie, insbesondere seit der Zeit der Kolonialherrschaft und des antikolonialen Kampfes. Wie bei den historischen Quellen Afrikas ganz allgemein, bietet aus westlicher Perspektive die Identifizierung und Analyse historiographischer Narrative Afrikas besondere Herausforderungen. Dies hängt u. a. mit der deutlich begrenzteren Verbreitung der Schriftlichkeit in vorkolonialen Kulturen Afrikas als etwa in der europäischen Geschichte zusammen. Immerhin sind für Nordafrika frühe, oft annalenartig aufgebaute Historiographien bereits aus dem alten Ägypten und aus der römisch-hellenistischen Zeit bekannt. Chronikartige Texte (ta‘rīkh bzw. māghāzī) erscheinen hier ab dem 9. Jh. Historische Fragen werden im arabisierten und islamisierten Nordafrika aber eher von Geographen als von Historikern und nur peripher behandelt (berühmteste Ausnahme: IbnKhaldun, 1332–1406). Das subsaharische Afrika hingegen wurde lange der (schriftlosen) „Vorgeschichte“ zugeordnet. Umso sensationeller wirkte in Europa die Entdeckung, seit den 1850er Jahren, daß einheimische, teils namentlich bekannte Gelehrte auch südlich der Sahara bereits seit Jh.en, gestützt auf arabische Schrift und (bis 19. Jh.) arabische Sprache, eine reiche historiographi-
sche Literatur produziert hatten. Viele solcher Manuskripte, oft im Besitz lokaler Gelehrter und Familien, harren bis heute der Wiederentdeckung. Die bekanntesten Texte behandelten die Geschichte der Reiche der westlichen Sudanzone (etwa Al-Sa‘adī‘s Ta‘rīkh alSūdān oder der Ta‘rīkh al-Fettāsh der Kati-Familie, beide im 17. Jh. in den Handels- und Gelehrtenzentren →Timbuktu bzw. Jenne entstanden), von Stadtstaaten der ostafrikanischen Swahili-Küste (z. B. das Kilwa Chronicle, 16. Jh.?) und des →Hausa-Gebiets (z. B. das Kano Chronicle, 19. Jh.), und sogar von Gebieten außerhalb des islamisierten Bereichs (z. B. das Gonja Chronicle/Kitāb al-Ghunja, heutiges →Ghana). Bedeutende Texte stellen auch die Königslisten dar, die etwa in →Bornu entstanden. Auch nichtarabische Schriftkulturen, insbesondere →Äthiopien, erzeugten eine eigene Chronikliteratur (mindestens seit dem 14. Jh., in Ge‘ez, später Amharisch). Hinsichtlich ihres zeitlich-linearen Aufbaus können diese frühen historiographischen Schriften des subsaharischen Afrika als „Chroniken“ bezeichnet werden. Freilich lassen sie sich nicht ohne weiteres mit der religiös geprägten, auf tradierten Mustern aufbauenden, herrschaftslegitimierenden „Chronistik“ des europäischen Mittelalters vergleichen. In der neueren Forschung werden solche Texte weniger als Quellen für historische Fakten, denn als Deutungen geschichtlicher Prozesse interpretiert, die im Diskurs von Geschichtsgelehrten entstanden, die afrikaspezifische Periodisierungen vorschlagen (etwa: die Zeit der europäischen Frühen Neuzeit, nach dem Ende der sudanischen Großreiche, als Periode des Niedergangs), und die lokale oder regionale Ereignisse in Bezug zu weiterreichenden Entwicklungen setzen. In großen Teilen Afrikas – an den Küsten Westafrikas sowie im zentralen und südlichen Afrika – wurden historiographische Narrative freilich bis gegen Ende des 19. Jh.s vor allem mündlich erzeugt und tradiert. Diese besondere Herausforderung führte dazu, daß Afrikahistoriker bei der Analyse und Deutung „oraler Traditionen“ weit über Afrika hinaus Pionierleistungen erbracht haben. Gründungsepen wie die des →Mali-Reichs (Sundjata) im westlichen →Sudan oder des Luba-Reichs in Südzentralafrika, die an Herrscher und Ereignisse des 13. bzw. 15. Jh.s erinnern, gehören zu den bedeutendsten Werken der Oralliteratur Afrikas. Auch viele andere charismatische Herrscher und die von ihnen begründeten Dynastien, Machtsymbole und Siedlungsgebiete, bis hinunter zur Ebene des Dorfs, stützen sich auf orale Traditionen. Neben Erzählungen gehören hierzu auch Lobgesänge (Praise Poems), die Namen, Taten und ehrende Beinamen der Herrscher überliefern. Sie wurden von höfischen Experten (im heutigen Mali etwa djeli oder griot genannt) erinnert, vorgetragen, dabei auch von den individuellen Autoren weiterentwickelt, und an ihre Nachfolger weitergegeben. Seit der Kolonialzeit (etwa unter der britischen →Indirect Rule) haben lokale Historiker orale Traditionen verstärkt in ethnische und lokale Identitätsbildungen eingearbeitet. Die Grenze zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung war freilich oft fließend: So sind orale Traditionen schon früh in die Chronikliteratur eingeflossen. Seit dem 19. Jh. haben auch Europäer (Reisende, Kolonialagenten und –admi181
c h u l A l ongkor n
nistratoren; Missionare, Ethnologen und Historiker), seit dem 20. Jh. verstärkt wieder afrikanische Historiker, zur Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen beigetragen. Dabei wurden auch koloniale, postkoloniale und globale Diskurse (z. B. zum Status „lokaler Herrscher“ oder „indigener Völker“), aber auch geschichtswissenschaftliche Werke rezipiert und adaptiert. Dies wirft verstärkt die Frage der Interpretation solcher („oraler“ bzw. „lokaler“) historischer Narrative auf: als Quelle zur Rekonstruktion von Realgeschichte, als Instrument von Macht- und Identitätspolitik, als Zeugnis kollektiver (Erinnerungs-)Kultur, oder als sich wandelnde Deutung geschichtlicher Prozesse?.Eine weitere offene Frage ist, inwieweit mündliche Überlieferungen, angesichts ihrer oft engen Bindung an Herrschaft und kollektive Identitätsbildung auch Aufschluß über die Geschichtswahrnehmungen machtferner bzw. minoritärer Akteure geben können. Afrikahistoriker haben sich neuerdings intensiv mit nicht-konventionellen Quellen beschäftigt, die früher eher als Domäne der Ethnologie galten, um hier Ansätze für Historiographien „von unten“ bzw. aus des Alltags zu gewinnen. So sind z. B. Lieder, Tänze und andere performative Praktiken im südlichen Afrika als Darstellungen von Erinnerung an Ausbeutung und Protest in der Kolonialzeit interpretiert worden. Auch bildliche Darstellungen, urprünglich meist in religiöse Praktiken eingebunden, wie Skulpturen und Masken (von Ahnen u. a. Geistern), gemalte Heiligenviten (Äthiopien), etwa auch kalligraphische Darstellungen der Genealogie islamischer Bruderschaften (silsila; Ostafrika), können bei sorgfältiger Kontextualisierung als Deutungen von Geschichte gelesen werden. Orts- und Personennamen sind in Verbindungen mit lokalen Überlieferungen als „mentale Kartierung“ von Erinnerungsorten und –landschaften verstanden worden. Besonders im muslimischen Afrika sind schließlich schon früh Darstellungen lebensgeschichtlicher Art entstanden, etwa die Biographien (manāqib) bedeutender Lehrer und „Heiliger“ der islamischen Bruderschaften. Seit dem 20. Jh. gibt es schließlich eine zunehmende Zahl biographischer und autobiographischer Texte, die individuelle Lebensläufe erzählen und damit Individualität hervorheben, und diese zugleich in alltags-, sozial-, religions- und politikgeschichtliche Narrative einbinden. Auch (auto)biographische Texte stehen oft im Grenzbereich schriftlicher und mündlicher Überlieferung; Lebenserzählungen von Afrikanern und Afrikanerinnen, zumal abseits der Bildungseliten, wurden und werden oft mit Methoden der „Oral History“ (persönlich erinnerte und mündlich erzählte Geschichte) gesammelt und verschriftlicht. Die vorangegangene Darstellung konzentrierte sich auf die eigenständige, nichtakademische Historiographie Afrikas. Es muß aber mit Nachdruck auf die wissenschaftliche Produktion westlich-akademisch ausgebildeter Historiker aus Afrika verwiesen werden, die Ende des 19. Jh.s begann (Reindorf, Johnson) und dann seit Mitte des 20. Jh.s (Ki-Zerbo, Ade Ajayi u.v.a) erhebliche Bedeutung in nationalen wie globalen Debatten zur Geschichte Afrikas erlangte. Q: John O. Hunwick, Timbuktu and the Songhay Empire. Al-Sa‘dī‘s Ta‘rīkh al-sūdān down to 1613 and other Contemporary Documents, Leiden 1999. Gregory Mad182
dox, Practicing History in Central Tanzania. Writing, Memory, and Performance, Portsmouth 2006. L: Axel Harneit-Sievers (Hg.), A Place in the World. New Local Historiographies from Africa and South Asia, Leiden 2002. Joseph Ki-Zerbo (Hg.), UNESCO General History of Africa, Bd. 1: Methodology and African Prehistory, Paris / Oxford 1981. Leroy Vail / Landeg White, Power and The Praise Poem: Southern African Voices in History, Charlottesville 1991. Jan Vansina, Oral Tradition as History, Madison 1985. A C H IM V O N O PPEN Chulalongkorn, auch Rama V., Reg.sname: Phra Chula Chomklao Chaoyuhua, * 20. September 1853 Bangkok; † 23. Oktober 1910 Bangkok, □ Leiche eingeäschert, Buddhist Ch. bestieg als ältester Sohn Kg. Mongkuts (Rama IV.) am 11.11.1868 den Thron von →Siam. Bereits früh interessierte sich Ch. für die Entwicklungen im Ausland, v. a. in Europa. Mehrere ausgedehnte Auslandsreisen führten ihn u. a. nach Italien, Deutschland, Schweden, in die Niederlande und die Schweiz. Die Briefe über seine Eindrücke, die er nach Hause sandte, liegen mittlerweile auch in Übersetzung in westlichen Sprachen vor. Während seiner 42-jährigen Reg.szeit gelang es Siam, als Pufferstaat zwischen dem brit. →Birma und →Frz.Indochina seine Unabhängigkeit zu behalten, allerdings nur unter massiven Gebietsverlusten (→Laos, 1893) bzw. durch Aufgabe von Ansprüchen auf die siamesische Hegemonie (→Kambodscha, 1904/1907; nördliches →Malaysia, 1909). Dabei spielte er nicht nur seine unmittelbaren Nachbarn Großbritannien (in Birma) und Frankreich (in Kambodscha und Laos) gegeneinander aus, sondern knüpfte auch Beziehungen zum Dt. Reich oder den Niederlanden, die Technik und Staatsbedienstete nach Siam lieferten. Die Öffnung zum Ausland betrachtete er als Chance für sein Land. Innenpolitisch muß man während seiner Reg. von einer geglückten Reform von oben sprechen. Ch. modernisierte Siam durch Einführung einer Reg. mit modernen Ministerien und einer modernen Staatsverwaltung. 1882 ernannte er (als weiterhin absoluter Monarch) ein Kabinett aus zwölf loyalen Mitgliedern, von denen neun seine Brüder waren. Das Innenministerium unterstand ab 1892 seinem befähigten Halbbruder Prinz Damrong Rajanubhab (1862–1943), der weitgehende Reformen der Provinzialverwaltung nach westlichem Vorbild vornahm, ohne jedoch traditionelle Formen der Administration gänzlich aufzugeben. 1896 wurden die von verschiedenen Rechtsauffassungen geprägten Provinzialgerichte unter Bangkoks Aufsicht vereinheitlicht. 1905 wurde die →Sklaverei endgültig abgeschafft. Aus strategischen Gründen wurde ab 1891 der Bau von Eisenbahnen in den Norden und Nordosten des Landes vorangetrieben, unter aktiver Inanspruchnahme von dt. technischen Personal und chin. Arbeitskräften. Das westliche Bildungswesen wurde weiter ausgebaut. Herausragende Schüler erhielten ohne Rücksicht auf Herkunft und gesellschaftlichen Rang Stipendien für ein Studium in Großbritannien, Deutschland, Dänemark oder Rußland. Bis heute ist Ch. in Thailand eine der am meisten verehrten Persönlichkeiten, der durch alle äußeren Bedrohungen durch Kolonialmächte hindurch das
ci mA rró n
Land sicher in die Moderne geleitete. Eine kritische Annäherung an seine Reg.szeit steht in Thailand allerdings noch aus. Tej Bunnag, The Provincial Administration of Siam 1892–1915, Kuala Lumpur 1977. Chulalongkorn, Itinéraire d’un voyage à Java en 1896, Paris 1993. Barend J. Terwiel, Thailand’s Political History, Bangkok 2005. HOL GE R WARNK
Chulia. Sammelbegriff für an der Südostküste →Indiens ansässige, tamilsprachige musl. Händlergruppen. Der Begriff leitet sich vermutlich vom Namen der südind. Chola-Dynastie ab. Musl. Händlergruppen lassen sich an der ind. Südostküste bereits um das Jahr 1000 nachweisen; zu einem wichtigen Faktor für den Handel im Golf von →Bengalen entwickelten sich die C.s aber erst ab dem 17. Jh., insb. im Handel mit →Südostasien von →Birma im Norden bis →Java im Süden, aber auch mit →Sri Lanka und Bengalen. Gehandelt wurden v. a. Baumwollstoffe (→Baumwolle), →Gewürze, Metalle und Kriegselefanten. Daneben beteiligten sich C.s auch an der Perlenfischerei (→Perlen) und am →Sklavenhandel. Außerdem spielten sie eine wichtige Rolle an Fürstenhöfen in Südindien und Südostasien und agierten als Mittelsmänner zwischen den Höfen und europäischen Handelskompanien (→Ostindienkompanien). Im 19. Jh. nahm der Einfluß der C.s mit dem Niedergang südostasiatischer Staaten und der Etablierung europäischer Kolonialreiche deutlich ab, obwohl sie weiterhin in Südostasien als Händler vertreten waren und sind. Sinnappah Arasaratnam, The Chulia Muslim Merchants in Southeast Asia, 1650–1800, Moyen Orient et Océan Indien 4 (1987), 125–143. J. Raja Mohamad, Maritime History of the Coromandel Muslims, Chennai 2004. TORS T E N T S CHACHE R
Church Missionary Society →Angloamerikanische Protestantische Missionsgesellschaften Cieza de León, Pedro de, * um 1520 Llerena, † 2. Juli 1554 Sevilla, □ Kirche San Vicente / Sevilla, rk. Zwei Jahre nach →Eroberung des →Inkareichs schiffte sich der junge Pedro de León in Sevilla nach Südamerika ein. Von 1535 bis 1541 nahm er als Soldat an span. Expeditionen („entradas“) im nordandinen „Nuevo Reino de Granada“ (Neu-Granada, im heutigen →Kolumbien, →Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) teil; 1543 erhielt er eine kleine →Encomienda. „Pedro de Cieza“, wie er sich seit Ende 1546 nannte, zog 1547 mit Pedro de la →Gasca nach →Peru, um auf Seiten der Krone die Rebellion des Gonzalo →Pizarro zu bekämpfen. Seit 1548 setzte er seine um 1540 begonnene Chronistentätigkeit unter dem Namen „Pedro de Cieza de León“ fort und reiste 1549–1550 durch die zentralen Anden, u. a. nach →Cuzco und Potosí. In Sevilla, wo sich C. nach seiner Rückkehr 1551 niederließ und heiratete, erschien 1553 der erste Teil seiner Chronik Perus. Die Publikation des auf vier Teile angelegten Gesamtwerks erlebte der Autor nicht, da er 1554 starb. Der erste Teil stellt einen geographisch-ethnographischen Überblick der Andenregion vom heutigen Kolumbien bis →Bolivien
dar. 1880 wurde der zweite Teil, die früheste umfassende Geschichte der Inkaherrschaft, in Madrid veröffentlicht. Zwar erkannte C. den archäologischen Wert vorinkaischer Ruinen, doch hätten erst die Inka Reg. und „Zivilisation“ eingeführt. C. bewertete das „Tahuantinsuyo“ wohlwollend, aber nicht unkritisch. Im dritten, vollständig 1979 in der Bibliothek des Vatikan entdeckten Teil der Chronik über die Entdeckung und Eroberung Perus (→Peru, Eroberung) äußerte C. einerseits Bewunderung für Leistungen bei Stadtgründungen und Christianisierung, andererseits kritisierte er Gier und Gewalt gegen die indigene Bevölkerung. Der vierte, ausführlichste Teil behandelt die „Bürgerkriege“ zwischen Pizarristen und Almagristen (→Peru, Bürgerkriege) sowie die Erhebung des Gonzalo Pizarro in fünf, nach Schlachten benannten Manuskripten: Las Salinas (1538), Chupas (1542), [Aña]Quito (1546), Guarina (1547) und Xaquixaguana (1548). Während die drei erstgenannten Manuskripte in Madrid (1877, 1881) veröffentlicht wurden, sind die restlichen wohl nicht vollendet worden. C. selbst verkaufte fast 300 Exemplare seines Erstlingswerks in Spanien; weitere sandte er nach Santo Domingo (→koloniale Metropolen), Honduras und Lima. 1554 erschienen drei span. Auflagen dieses „Bestsellers“ in Antwerpen und 1555–1576 sieben it. Ausgaben (Rom und →Venedig). C. hatte es den Testamentsvollstreckern überlassen, seine Bücher über die Inka und über die Eroberung Perus zu veröffentlichen oder sie Bartolomé de →Las Casas zu senden; der Teil über die Bürgerkriege sollte frühestens 15 Jahre nach seinem Tod erscheinen. C.s Bruder, der Priester Rodrigo C., klagte vergeblich beim Indienrat auf Herausgabe der unveröffentlichten Manuskripte. Diese wurden von Antonio de Herrera y Tordesillas, seit 1596 „cronista mayor de las Indias“, ausgiebig in der „Historia general de los hechos de los castellanos en las islas y tierra firme del mar océano“ (Madrid 1601–1615) plagiiert. C. stützte sich auf eigene Beobachtungen, Augenzeugen und schriftliche Quellen. Seine indigenen „Informanten“, Mitglieder der inkaischen Elite aus Cuzco, aber auch lokale „→kurakas“, befragte er mit Hilfe von Übersetzern (Quechua und Aymara). Unter den konsultierten Spaniern befanden sich Verwaltungsbeamte, Kleriker und Soldaten. Daneben trug C. Dokumente aus Stadtarchiven zusammen und überprüfte ihren Aussagewert. Obwohl C. wie andere „Soldaten-Chronisten“ seine geringe Bildung beklagte, schrieb der belesene Autodidakt anschaulich und präzise. Er war um Offenheit und Ausgewogenheit bemüht. Die frühe Aufzeichnungszeit, die hohe Qualität der Informationen und die souveräne Bewältigung der Stoffülle machen C.s mehr als 700 Kapitel umfassende „Chronik Perus“ zu einer erstrangigen Quelle für die vor-span. und frühkoloniale Geschichte des Andenraums. Pedro de Cieza de León, Crónica del Perú, (Hg.) Franklin Pease u. a., 7 Bde., Lima 1984–1994. Luis Millones Figueroa, Pedro de Cieza de León y su crónica de Indias, Lima 2001. O TTO D A N WERTH Cimarrón, der (el cimarrón; Mz.: cimarrones; Engl. maroon; Frz.: marron). Im frühneuzeitlichen span.-am. Kolonialbereich entstandene Bezeichnung für einen ge183
Činggis Khan
flohenen Sklaven. In den Zeiten der Conquista und frühen Siedlung von Europäern im karibischen Raum 1493– 1570 entstanden die ersten palenques, palisadenbefestigte Siedlungen geflohener Indios. Die ersten C.es waren nicht schwarze negros (Sklaven aus Afrika), sondern Indios, Sklaven aus Afrika kamen erst später dazu. Der Begriff C. ist abgeleitet vom Wort simaran, was in der Sprache der karibischen Taíno „Pfeil, der von einem Bogen abgeschossen wurde und nicht mehr wieder zu finden ist“ (Juan José Arrom) bedeutet. Er wurde auch auf geflohenes oder verlorenes Großvieh, v. a. Rinder, angewendet. Um 1530 setzte massiver atlantischer →Sklavenhandel nach den Großen →Antillen und die Formierung der ersten Zuckerwirtschaften (→Zucker, →Ingenio) ein. Als C.es wurden seit der Mitte des 16. Jh.s v. a. einzelne geflohene schwarze Sklaven oder Gruppen von ihnen bezeichnet. Ansiedlungen von schwarzen C.es nannten sich ebenfalls Palenques, in anderen Territorrien auch →quilombos, mocambos (v. a. in →Brasilien), cumbes oder rochelas (→Venezuela). C. repräsentierte auch die von Kolonialbehörden, Sklavenhändlern und -besitzern intendierte „Visibilität“, die Sicht- und Unterscheidbarkeit geflohener schwarzer und farbiger Sklaven. Koloniale Sklavenhaltereliten erließen seit 1520 Gesetze, wie mit C.es umzugehen sei (reglamentos de cimarrones, slave codes). Für die ehem. Sklaven bedeutete C. zu sein eine eigenständige Lebensweise sowie in einigen Gebieten politische Autonomie (wie z. B. im 17. Jh. im berühmten Quilombo Palmares in Brasilien oder im 19. Jh. im Palenque San Basilio in →Kolumbien). 1966 verwendete Miguel Barnet das Wort C. als Titel seines berühmtesten Werkes; eine novela testimonio („Testimonialliteratur“) im Feld zwischen Literatur und historischer Ethnologie. Als junger Ethnologe hatte Barnet in einem Altersheim auf →Kuba 1964 den hundertjährigen Esteban Montejo y Mera gefunden, den er zu seinem Leben als C. im 19. Jh. befragte und den Bericht als eine der Urformen der Testimonialliteratur publizierte. Trotz Bearbeitung und Strukturierung durch den Literaten Barnet stellt der Lebensbericht Montejos die einzige authentische Stimme eines ehem. Sklaven der Zuckerwirtschaft in der Spätzeit der Sklaverei im span. Kolonialbereich dar. Miguel Barnet, Der Cimarrón, Frankfurt/M. 1999. Jane Landers, Cimarrón Ethnicity and Cultural Adaptation in the Spanish Domains of the Circum-Caribbean 1503– 1763, in: Paul E. Lovejoy (Hg.), Identity in the Shadow of Slavery, London / New York 2000, 30–54. Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004. MI CHAE L Z E US KE
Činggis Khan, (Vor-)Name: Temüǰin, *zwischen 1155 und 1167 (am wahrscheinlichsten gilt 1162) Deli’ün Boldaq, † September 1227, wahrscheinlich im Reich der Tanguten (die heutigen chinesischen Provinzen Gansu und Ningxia), □ unbek., Schamanismus Temüǰin, der spätere Č. K., stammte aus einer aristokratischen Familie von Hirtennomaden, die zwischen den Flüssen Onon und Kerülen siedelten. Die verschiedenen Gemeinschaften waren führerlos und handelten zumeist eigenverantwortlich, ernährten sich vom Fisch- und Wildfang und waren im frühen 12. Jh. dem sozialen und 184
ökonomischen Verfall nahe. Temüǰins Vater, der Stammesfürst Yisügei Ba’atur, der trotz widriger Umstände der Familie ein akzeptables Leben ermöglichen konnte, wurde von dem feindlichen Stamm der Tatar vergiftet. Die Familie geriet in das gesellschaftliche Abseits und Temüǰin, der zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt war und gerade mit einem Mädchen namens Börte verheiratet wurde, lebte mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in bitterer Armut. Als er erwachsen wurde, setzte er sich zum Ziel, die Stämme seines Vaters wieder zu vereinen und unter die Herrschaft seiner Familie zu stellen. Seine Methode, den anderen Stämmen mit Ermordung zu drohen, sollten sie sich ihm nicht freiwillig unterwerfen, hatte Erfolg und so kam es, daß er in 10 Jahren über 30 Schlachten gewann und im Herbst des Jahres 1206 von den mongolischen Stämmen zum ersten Großkhan überhaupt ausgerufen wurde. Die Nomenklatur läßt sich, wie der russische Zar, direkt von Caesar-Kaisar ableiten. Langsam entstand ein einheitlicher Staat, dessen Zentrum die drei Flüsse Onon, Kerülen und Tu’ula bildeten. Damit war Č. K. zum Herrscher aller mongolischen Völker geworden. Die Gründe für seine anschließende Eroberungspolitik sind unterschiedlich. Dazu gehören die Sicherung der Unabhängigkeit, die Erschließung von neuen Weideplätzen und die Handelsgarantie über die Seidenstraße. Č. zog 1214, zusammen mit seinen Söhnen, gegen die nördliche Jin-Dynastie (nordöstliches China), unterwarf die Kara Kitai (heutiges Xinjiang) und stieß damit bis an die Grenze des Reichs der Choresmschahs, die er 1225 ebenfalls besiegte. Weitere Feldzüge in den Kaukasus folgten und man unternahm erste Spähzüge in die russischen Fürstentümer und die Wolgaregion. Č. verunglückte während eines Feldzuges gegen die Tanguten und erlag im September 1227 seinen Verletzungen. Seine Diener brachten den Leichnam in die Mongolei zurück und begruben ihn an einem geheimen Ort. Q: Erich Haenisch (Übers.), Die geheime Geschichte der Mongolen, Leipzig 1941, 21948. L: Walther Heissig, Die Mongolen. Ein Volk sucht seine Geschichte, Düsseldorf 1964. Claudius Müller / Henriette Pleiger (Hg.), Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen, München 2005. SA N D R A MIK LI Clive, Robert, 1st Baron Clive of Plassey (1762), * 29. September 1725 Styche Hall, † 12. November 1774 London, □ St. Margaret / Moreton Say, anglik. Brit. General und Staatsmann; der Sohn eines Juristen aus Stropshire stand seit 1744 im Dienst der East India Company (→Ostindienkompanien) und gilt als Begründer der britischen Kolonialmacht in Indien. Nach seinem Überraschungssieg 1751 über die Franzosen bei Arcot nahe →Madras, siegte er 1757 dank des Überlaufens eines Teils der gegnerischen Truppen über den Nawab Siraj-ud-Dawlah von →Bengalen, wo er die brit. Herrschaft sicherte. 1757–1760 war C. Gouv. der EIC Besitzungen in Bengalen →Indien. 1760 kehrte er nach England zurück und wurde 1761 ins Unterhaus gewählt. 1765–1767 diente er erneut als Gouv. in Indien. Nach seiner Rückkehr nach England wurde C. des Betrugs an-
co d i ces , i n d i g en e,
geklagt, jedoch von einer Kommission des Parlaments für unschuldig befunden. 1774 beging er Selbstmord. Mark Bence-Jones, Clive of India, London 1974. Mervyn A. Davies, Clive of Plassey, London 1939. Michael Edwardes, The Battle of Plassey and the Conquest of Bengal, London 1963. AL E Š S KŘI VAN JR. Coatzacoalcos heißt seit 1825 die Hafenstadt im Isthmus von Tehuantepec, bei der der gleichnamige Fluß in den Golf von →Mexiko mündet. Vor Ankunft der Spanier hatten hier die Olmeken eine wichtige Stadt, die Gonzalo de Sandoval auf Geheiß von Hernán →Cortés nach der Unterwerfung von Tenochtitlan eroberte. 1522 gründete jener an dieser strategisch günstigen Stelle die Siedlung Villa del Espíritu Santo. „Coatzacoalco“ heißt auf náhuatl „Ort, an dem die Schlange verschwand“ und bezieht sich auf den unter der indigenen Bevölkerung verbreiteten Mythos des Quetzalcóatl, der hier im Meer verschwunden sein und seine Rückkehr angekündigt haben soll. 1525 wurde Espíritu Santo Sitz einer sehr ausgedehnten Alcaldía mayor. Die Errichtung eines Bischofssitzes wurde zwar erörtert, aber nicht realisiert. Die Siedlung entwickelte sich bald zum Zentrum der Unterwerfung der indigenen Bevölkerung, welche fast ausstarb. Anfang des 17. Jh.s war auch Espíritu Santo – u. a. wegen häufiger Angriffe von Piraten – fast vollständig entvölkert, der Sitz der Alcaldía mayor wurde nach Acayucan verlagert. Ab 1771 war der Fluß C. immer wieder Gegenstand von Planungen einer Verbindung zwischen atlantischem und pazifischem Ozean. S E BAS T I AN DORS CH Cochinchina. Das Deltagebiet des Mekongflusses im Südosten der hinter-ind. Halbinsel war seit dem 18. Jh. integraler Teil des Kgr.s Annam. Nach der Besetzung von →Saigon durch frz. Truppen (Febr. 1859) trat Annam 1862 drei Provinzen von C. an Frankreich ab und gestand im übrigen Gebiet freie Ausübung der rk. Religion und den unbehinderten Verkehr auf dem Mekong sowie die Öffnung von drei Häfen zu. Am 25.6.1867 erfolgte die Annexion als frz. Kolonie und die Abtretung drei weiterer, westlich vom Mekong gelegener Provinzen von C. durch Annam, was durch den Vertrag vom 15.3.1874 bestätigt wurde. Die Spitze der Verwaltung bildete ein frz. Admiral mit dem Titel eines Gouv.s und seit 1888 mit der Einsetzung eines Gen.-gouv.s von →Frz.-Indochina ein stellv. Gouv., der C. von der Hauptstadt Saigon aus als eine der fünf Großregionen der Union selbständig und mit eigenem, nur durch den Gen.-gouv. genehmigungspflichtigem Haushalt verwaltete. Zu den Haupterzeugnissen zählten Zuckerrohr (→Zucker), →Reis, →Baumwolle, →Tabak und Betelpfeffer. Die 1946 gebildete autonome Rep. C. existierte bis zur Vereinigung mit →Vietnam (1949); von 1954 bis 1975 war C. Teil der Rep. Vietnam (Südvietnam), nach 1975 Teil der sozialistischen Rep. Vietnam. Pierre Brocheux / Daniel Hémery, Indochina. An Ambiguous Colonization, 1858–1954, Berkeley 2009 (frz. Ausg. Paris 1995). Claude Liauzu (Hg.), Dictionnaire de la colonisation française, Paris 2007; Stephen H. Roberts, The History of French Colonial Policy 1870–1925, London 1928 / 1963. BE RT BE CKE R
Codices, indigene, in Mesoamerika. Die meso-am. Kulturen des alten →Mexiko der Maya, Mixteken und Nahua (Nahuatl sprechende Bewohner Zentralmexikos) besaßen eigene Schriftsysteme. Ihre Schrift verwendet stilisierte Bilder statt einer Buchstabenschrift. Lange Zeit galten die indigenen Aufzeichnungen deswegen als Bilder. Erst im Verlauf des 20. Jh.s gelang es, die Schriften zu entziffern. Geschrieben wurde auf Papier (amatl), das aus der Rinde des Ficusbaumes hergestellt wurde, oder auch auf gegerbtem →Leder. Diese Materialien wurden mit einer feinen Kalkschicht überzogen und dann farbig beschrieben: „in tlilli in tlapalli“ – Schreiben in Rot und Schwarz nannten es die Nahuas. Die Seiten wurden meist beidseitig beschriftet. Die Bildschriften konnten wie eine Zieharmonika zusammen und auseinander gefaltet werden (Leporello-Faltung). In der span. Kolonialzeit verwendete man auch Baumwolltücher (lienzos), die eingerollt werden konnten. Als Bezeichnung für diese Aufzeichnungen bürgerte sich der Begriff Codex (lat., pl. C.) ein, der auch für mittelalterliche Handschriften Verwendung findet. Conquistadoren und Missionare verbrannten viele der präkolumbianischen C. Mit den Schriften vernichteten sie auch das darin enthaltene →Wissen, ein Vorgehen, das bereits im 16. Jh. kritisiert wurde. Heute sind noch ca. 500 Handschriften erhalten, die sich in europäischen, nordam. und mittelam. Museen und Bibliotheken befinden. Allerdings ist die Mehrzahl der erhaltenen Bücher erst im 16. Jh. entstanden. Als eindeutig präkolumbianisch gelten nur elf, darunter die Maya C. (z. B. Codex Dresden, Codex Perisianus) und die Borgia-Gruppe (z. B. Codex Borgia, Codex Laud, Codex Fejérváry-Mayer) und Quellen aus der Region von →Oaxaca (z. B. Codex Nuttall, Codex Vindobonensis). Die Nahua-C. aus Zentralmexiko werden allg. eher auf die Zeit nach der →Eroberung Mexikos (1519–1521) datiert. Sie beruhen jedoch teilweise auf Aufzeichnungen aus präkolumbianischer Zeit (z. B. Codex Borbonicus). Als C. werden auch Schriften bezeichnet, die nicht mehr bildschriftlich verfaßt sind, sondern die indigene Schrift mit dem lateinischen Alphabet verwenden, das erst mit der Eroberung eingeführt wurde (z. B. Florentiner Codex). Der Inhalt der C. ist historischer, religiöser und kalendarischer Art. Es finden sich aber auch Auflistungen für Tributpflichten. So zeigen die mixtekischen C. umfangreiche Herrschergenealogien in prachtvollen und kunstfertigen Bildschriften, während die Borgia-Gruppe C. mit vorwiegend religiösem und kalendarisch-augurischem Inhalt enthält. Der Codex Mendoza, benannt nach dem Auftraggeber Antonio de Mendoza (1490–1552), dem ersten Vize-Kg. von Neu-Spanien, enthält neben einem kulturgeschichtlichen und historischen Teil eine Aufstellung der Tribute, die an die Mexica zu entrichten waren. Die Entzifferung und Interpretation der C. ist ein aktives Feld der internationalen disziplinenübergreifenden Forschung. Carmen Arellano Hoffmann, Peer Schmidt (Hg.), Die Bücher der Maya, Mixteken und Azteken, Frankfurt/M. 1997. Elizabeth Boone, Stories in Red and Black, Austin 2000. Howard F. Cline, Robert Wauchope (Hg.), Hand-
185
c o e n, j A n P i e t er s zo o n
book of Middle American Indians: Guide to Ethnohistorical Sources. Bd. 14, 15, Austin 1974–1975. ANJA BRÖCHL E R
Coen, Jan Pieterszoon, * 8. Januar 1587 (Taufdatum) Hoorn, † 20./21. September 1629 Batavia, □ Stadhuis / Batavia, umgebettet in die Kruiskerk (Holländische Kirche) Batavia, Calvinist Der Sohn des wohlhabenden Kaufmanns und Schiffseigners Pieter Willemszoon C. aus Twisk erhielt ab 1601 eine Ausbildung im Handelskontor des Joost de Visscher aus Oudenaarde (Justus Pescatore) in Rom und kehrte, der doppelten Buchführung und mehrerer Sprachen mächtig, 1607 nach Hoorn zurück, um noch im selben Jahr als Unterkaufmann im Dienst der →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) nach Ostindien zu segeln. Über seinen ersten, bis 1611 währenden Asienaufenthalt ist wenig bekannt, außer, daß er 1609 Zeuge der Ermordung des ndl. Admirals Verhoeff auf →Banda wurde. Im Rang eines Oberkaufmannes und Kommandeurs zweier Schiffe reiste C. am 12.5.1612 erneut nach Ostindien und erreichte Bantam (→Banten / →Java) am 9.2.1613. Innerhalb eines Jahres stieg er zum Generaldirektor über den gesamten Asienhandel der Kompanie und damit in die zweite Position nach dem Gen.-gouv. auf. Am 30.4.1618 erfuhr er, daß das Leitungsgremium in den Niederlanden, die Heeren XVII, ihn auf diesen höchsten Posten in Übersee berufen hatten. Wegen anhaltender Spannungen mit den Bantamern und der konkurrierenden East India Company (EIC, →Ostindienkompanien) beschloß C., die Hauptniederlassung der VOC nach Jakarta zu verlegen, wo er die bestehende Handelsloge befestigen ließ. Ende 1618 kam es vor Jakarta zu einem Seegefecht gegen die Engländer. C. holte Verstärkung aus den →Molukken und eroberte im Mai 1619 Jakarta, auf dessen Trümmern er das neue ndl. Zentrum in Asien, Batavia, gründete. Gemäß eines von ihm selbst bereits 1614 entwickelten Plans verknüpfte er in den folgenden Jahren die verstreuten Niederlassungen der Kompanie zu einem dichten intra-asiatischen Handelsnetz. 1621 wandte sich C. gegen die Banda-Inseln, deren Bevölkerung die Monopolverträge mit der VOC gebrochen und Muskatnuß und –blüte (→Muskat) u. a. an die Engländer geliefert hatte. Er ließ einen großen Teil der Einheimischen töten, den Rest als Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) nach Batavia verschleppen und die entvölkerten Inseln mit asiatischen Kolonisten besetzen, die fortan für die Kompanie Muskatnuß anbauten. Dieses Vorgehen widersprach dem 1619 in Europa zwischen VOC und EIC geschlossenen Vertrag, wonach den Engländern ⅓ der Gewürzernte (→Gewürze) zufallen sollte. Ein 1622 unternommener Versuch, →Macao zu erobern und den port. Chinahandel zu übernehmen, scheiterte. Im Febr. 1623 trat C. als Admiral der Retourflotte die Heimreise an und erreichte Texel am 19. Sept., um wenige Tage später den Heeren XVII über die Lage in Übersee Bericht zu erstatten und die gebührenden Ehrungen und Belohnungen zu empfangen. 1624 entwarf er einen neuen Organisationsplan für Handel und Machtsicherung in Ostindien, der die Ansiedlung europäischer Kolonisten, die Übernahme des intra-asiatischen Handels durch europäische 186
Privatkaufleute und ein Kompaniemonopol auf den Warenverkehr zwischen Asien und Europa vorsah. Obwohl nie durchgeführt, brachten die Vorschläge C. eine zweite Ernennung zum Gen.-gouv. ein. Wegen diplomatischen Protestes Englands verzögerte sich seine Abreise. Seit dem 30.9.1627 wieder im Amt, erlebte er 1628 und 1629 eine zweimalige, erfolglose Belagerung Batavias durch das Heer des Sultans von →Mataram. Völlig unerwartet starb C. während der zweiten Auseinandersetzung in der Nacht vom 20. auf den 21.9.1629 an einer Tropenkrankheit und wurde am folgenden Tag im Rathaus der Stadt beigesetzt, das wegen Zerstörung der Kirche als Gotteshaus diente. Er hinterließ seine junge Frau Eva Ment und eine Tochter, die 1630 starb. Die Lage seiner endgültigen Ruhestätte ist umstritten. Erhalten ist eine Gedenktafel, die an den ehem. Friedhof der Kriuskerk erinnert, auf dem außer ihm 18 weitere Gen.-gouv.e bestattet wurden. Sein historisches Bild ist zwiespältig. Dem →Massaker an den Bandanesen stehen die Gründung Batavias und der entscheidende Aufbau des intra-asiatischen Handelssystems der VOC gegenüber. H. T. Colenbrander, Jan Pieterszoon Coen, s’Gravenhage 1934. Jurrien van Goor, Jan Pieterszoon Coen, in: Jurrien van Goor (Hg.), Prelude to Colonialism, Hilversum 2004, 67–82. P.C. Molhuysen u. a. (Hg.), Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, 6. Teil, Leiden 1924, 311–316. A N N ELI PA RTEN H EIMER-BEIN Cofradías (pl.) ist die span. Bezeichnung für Bruderschaften. Innerhalb des Kirchenrechtes stellen C. Laienvereinigungen dar, die über ein formales Gründungsdekret verfügen und sich v. a. der Förderung der Andacht und der Vertiefung des religiösen Lebens der Gemeinde widmen. Besitzen sie dieses Gründungsdekret nicht, gelten sie kirchenrechtlich als „Barmherzige Vereinigungen“, als „→Hermandades“. Da der Prozeß der formalen Anerkennung oftmals sehr langwierig und kompliziert war, nannten sich zahlreiche Laienvereinigungen in Übersee C., obwohl sie dies in kirchenrechtlicher Hinsicht nicht waren. Generell wurden kirchliche Laienvereinigungen als ausgezeichnetes Instrument zur Verankerung des christl. Glaubens in den jungen Gemeinden gesehen. Pedro de →Gante gründete in den 1520er Jahren die erste indianische C. →Amerikas, die C. del Santissimo Sacramento, die im Einzugsgebiet der heutigen Metropole Mexiko-Stadt lag. Auch in anderen überseeischen nichtchristl. Ländern wurden im Zuge der Missionstätigkeit C. ins Leben gerufen. In Japan (Nagasaki) wurde 1606 die Confraria do Rosário geschaffen. Ebenso wurde im Kgr. Kongo 1610 eine Bruderschaft do Rosário errichtet. Später (1621) gründeten die aus dem Kongo in den Nordosten →Brasiliens (Olinda) verschleppten Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) hier die Confraria do Rosário dos Homens Pretos. Dagmar Bechtloff, Bruderschaften im kolonialen Michoacán, Münster / Hamburg 1991. Elizabeth W. Kiddy, Blacks of the Rosary, Pennsylvenia 2005. João Paulo Oliveira e Costa, The Brotherhoods (Confrarias) and Lay Support for the Early Christian Church in Japan,
co m u n i dAd d e i n d i o s
Japanese Journal of Religious Studies (2007) 34/1, 67– 84. DAGMAR BE CHT L OF F Cola →Kola College of William & Mary. In der Hauptstadt der Kolonie Virginia, Williamsburg, durch kgl. →Charter von Wilhelm III. und Maria II. am 8.2.1693 auf Initiative von →Gouv. Francis Nicholson und dem anglik. Kommissar James Blair als Ausbildungsstätte für angehende anglik. Kleriker gegründetes College als Gegenstück zu dem kongregationalistischen →Harvard College in Massachusetts. Im Unterschied zu Harvard und dem 1701 gegründeten Yale hatte das College in Williamsburg schon zu der Zeit, als es 1727 seinen vollen Lehrbetrieb aufgenommen hatte, seinen konfessionellen Charakter weitgehend verloren. In dem dt. Gymnasien ähnlichen College wurden neben den klassischen Fächern auch naturwissenschaftliche Disziplinen und praktische Kenntnisse wie Landvermessung gelehrt. Susan H. Godson u. a. (Hg.), The College of William & Mary, 2 Bde., Williamsburg, VA 1993. David S. Zubatsky, The History of American Colleges and their Libraries in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Champaign, IL 1979. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Committees of Inspection and Observation. Auf Grund des 11. Artikels in der Bundesakte (→Association) des 1. Kontinentalkongresses vom 20.10.1774 in allen Orten, Counties und Kolonien gewählte Ausschüsse, deren Aufgabe die Überwachung der Bundesvereinbarungen sein sollten. Dazu gehörten die Handels- und Konsumboykottbestimmugen der Artikel 1–10, und die Anordnungen zur Wirtschaftsmoral, Förderung der Manufakturen und Preisdisziplin in den Artikeln 8–10 und 13. Die Ausschüsse hatten das Recht, Verletzungen der Bundesakte in Zeitungen anzuprangern, und die Übeltäter als „Feinde der am. Freiheit“ zu bezeichnen, zu denen kein Anhänger der Revolution Beziehungen unterhalten dürfe. Diese europäischen Ächtungsmodellen nachempfundene Kompetenz trug entscheidend zur Revolutionierung der am. Gesellschaft und zur Ausgrenzung der Loyalisten bei. Hermann Wellenreuther (Hg.), The Revolution of the People, Göttingen 2006. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Commonwealth →British Commonwealth of Nations Commonwealth of Australia →Australien Commonwealth of the Northern Mariana Islands →Northern Marianas Commonwealth-Statut, niederländisches →Niederländisches Kolonialreich Compadrazgo. Der span. Begriff bezeichnet in der Wortbedeutung eine Paten- oder Gevatterschaft. Im Zuge der Conquista wurde die Institution aus Spanien nach →Amerika importiert. Die Patenschaft, etwa bei einer
Kindstaufe, verband die Eltern des Kindes und die Paten als compadres bzw. comadres in einer fiktiven, rituellen Verwandtschaft, dem C. In Amerika differenzierte sich der Begriff allmählich noch weiter aus. So entstand in kreolischen (→Kreole) und indigenen Gemeinden ein komplexes Geflecht sozialer Beziehungen, das durch die Verknüpfung verschiedener C. (Taufe, Heirat usw.) zustande kam. IRIS G A R EIS Comunidad de indios. Der Begriff C. wird ähnlich verwendet wie república de indios und kann weit gefaßt als das Gemeinwesen der indigenen Bevölkerung verstanden werden. In seiner engen Bedeutung bezeichnet er für die Kolonialzeit ein Organ der indigenen Selbstverwaltung, das mit der Einführung der span. Munizipalordnung in Hispanoamerika geschaffen worden war. Mit den C. wollte die span. Krone auf der einen Seite die indigene Bevölkerung vor Übergriffen schützen und die Missionsarbeiten der religiösen Orden fördern sowie auf der anderen Seite die Herrschaft der Krone durchsetzen und eine Versorgung mit Tributen und Arbeitskräften sicherstellen. Diese Ziele sollten zunächst mittels der →encomienda erreicht werden, einem System aus der Zeit der Reconquista in Spanien, das nun den Conquistadoren in →Amerika Tribut- und Arbeitsleistungen im Austausch für eine Schutzfunktion garantierte, aber zu einer massiven Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geführt hatte. Vor diesem Hintergrund setzte sich im Laufe des 16. Jh.s das Konzept der „dos repúblicas“ durch. Es sah eine strenge Aufteilung in ein Gemeinwesen der Spanier und einer república de indios vor. Eine solch strikte Trennung ließ sich in der Realität nicht vollständig durchsetzen, aber es entstanden eigenständige Munizipien der indigenen Bevölkerung, die C. oder auch pueblos de indios. Ihre räumliche Ausdehnung entsprach häufig den lokalen vor-span. Herrschaftsgebieten. Sie umfaßten einen Hauptort, die cabecera, und mehrere Dörfer, die sujetos. Einige der cabeceras in den Gebieten der vor-span. Hochkulturen in →Mexiko erhielten zudem das Stadtrecht. An der Spitze all dieser Einheiten stand ein gewählter gobernador aus der Gruppe der →Caciques, der meist aus dem vor-span. lokalen Adel stammte. Im 16. und Anfang des 17. Jh.s wurde die stark dezimierte und verstreut lebende indigene Bevölkerung umgesiedelt und innerhalb der C. zu größeren Einheiten zusammengefaßt (congregaciones oder reducciones). Die so entstandene Verteilung hielt sich mit einigen Modifikationen bis gegen Ende der Kolonialzeit, als viele sujetos nach Eigenständigkeit strebten und eigene Munizipien bildeten. Die pueblos de indios verfügten über eine Vielzahl von Gemeindeämtern, die nur von der indigenen Bevölkerung ausgeübt werden konnten, nicht aber von in den pueblos lebenden Spaniern oder Mestizen (→Casta). Jede C. besaß eine eigene Gemeindekasse (caja de comunidad) aus der bspw. die Tribute entrichtet werden konnten, und Landstücke (tierras de comunidad), die entweder gemeinschaftlich genutzt oder an Tribut zahlende Gemeindemitglieder verteilt wurden. Je nach Ausmaß der Integration in die regionale Wirtschaft waren diese kollektiven Institutionen für die Bewohner der pueblos de indios von unterschiedlicher ökonomischer Bedeutung. 187
c o n Akry
In ihrer Gesamtheit leisteten die C. aber während der Kolonialzeit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Eigenständigkeit der indigenen Bevölkerung in Hispanoamerika. Magnus Mörner, La Corona Española y los foráneos en los pueblos de indios de América, Madrid 21999. Dorothy Tanck de Estrada, Atlas ilustrado de los pueblos de indios: Nueva España 1800, Mexiko-Stadt 2005. WI E BKE VON DE YL E N
Conakry ist seit 1958 die Hauptstadt von →Guinea. Der Ort war ursprünglich ein kleines Fischerdorf der Baga auf der Insel Tumbo und lag vor der Halbinsel Kaloum im →Atlantischen Ozean. Tumbo war wie andere europäischen Niederlassungen der westatlantischen Küste ein Stützpunkt für den transatlantischen Handel. 1885 wurde die Insel mit ca. 300 Ew. als Teil der Kolonie „Rivières du Sud“ von den Franzosen besetzt und Tumbo zur Sitz eines Residenten gemacht. Durch Verträge mit lokalen Herrschern brachte Frankreich das Hinterland unter seine Kontrolle und gründete 1893 die Kolonie Frz. Guinea mit C. als Sitz der Verwaltung. Der erste Gouv. Eugène Ballay (1893–1900) war der Initiator der planmäßigen Entwicklung von C. Die von ihm geleiteten großen Infrastrukturmaßnahmen der 1890er Jahren, insb. der Anschluß von Tumbo an das Festland und der Ausbau von Straßen und Hafen, sind Meilensteine der urbanen Entwicklung und Modernisierung der neuen Hauptstadt gewesen. Land-Stadt-Migration sowie Zuwanderung aus den Nachbarkolonien →Senegal und →Sierra Leone nahmen zu. 1914 wurde C. mit Kankan im Nigergebiet (→Niger) durch eine Eisenbahn verbunden. Mit der Rekrutierung von Arbeitskräften wuchs die Zahl der Ew. weiter. Nur wenige Europäer lebten in C. Hingegen waren Levantiner (Libanesen und Syrer) seit 1897 auch im Landesinneren aktiv und trieben dort Kautschukgeschäfte, deren Erschöpfung zu einer Phase der Stagnation in der urbanen Entwicklung C. führte. Trotzdem konnte sich eine Kommunalverwaltung entwickeln, die der in anderen Hauptstädten Afrikas vergleichbar ist. Die Ew.zahl wird heute auf bis zu 1 Mio. geschätzt. Odile Georg, Pouvoir colonial, municipalités et espaces urbains, Bd. 1, Paris 1997. YOUS S OUF DI AL L O Conny, Jan, * Mitte 17. Jh., Geburtsort und -tag, Todesdatum, Sterbeort, □ u. Konfession unbek. Auch Johann Cuny, Jean Cunny, Jan Konny, John Conni. In der oralen Tradition der westafr. Küstenbevölkerung um Princess Town im heutigen →Ghana ein afr. Herrscher oder Häuptling; in Wirklichkeit wohl eher ein „Makler“, der vermutlich schon mit Beginn des brandenburgischen Kolonialengagements seit 1683 als Zwischenhändler vom Aufbau und Unterhalt der brandenburgischen, seit 1701 preußischen Festung →Großfriedrichsburg profitierte; aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Brandenburger im transatlantischen →Sklavenhandel verstrickt war. Er soll über eine Art Privatarmee verfügt haben, mit der er spätestens ab 1706 die Region der preußischen Küstenkolonie beherrschte. Da er auf Seiten der Preußen gegen die koloniale Konkurrenz, trotz gelegentlicher Überfälle auf seine dt. Verbündeten, 188
aber auch gegen andere Europäer kämpfte, setzte ihn der letzte preußische Kommandant der Festung Großfriedrichsburg 1718 als Sachverwalter ein, bevor er mit den ihm verbliebenen Leute nach Europa zurückkehrte. In Berlin verkaufte der Soldaten-Kg. Friedrich Wilhelm I. Großfriedrichsburg an die Ndl.-Westind. Kompanie und beendete damit das überseeische Engagement Preußens. Als die Niederländer die in Europa erstandene Festung in Besitz nehmen wollten, verteidigte C. die Festung bis 1724 gegen die anrückenden europäischen Kolonialkonkurrenten. Seine Weigerung, die brandenburgische Festung an die Niederländer zu übergeben, wurde im 19. Jh. von Befürwortern eines dt. Engagements in Afrika propagandistisch in mehreren Büchern, Gedichten, Theaterstücken und Artikeln verherrlicht. Es entstand die Legende vom treuen „schwarzen Preußen“. Aber auch in der →Karibik, wohin die Brandenburger bzw. Preußen Sklaven transportiert hatten, gedenkt man C. in Form des „John-Canoe-Festivals“, in denen er als Sklave verherrlicht wird, der erfolgreich einen Aufstand angeführt hat. Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste, Berlin 22001. U LR ICH VA N D ER H EY D EN Conquista →Expansion, iberische Conquista espiritual. Der Begriff ist zunächst ein Synonym für die friedliche Evangelisation im Entdeckungszeitalter, denn es ging darum, fremde Heidenvölker und ihre Kulturen möglichst sanft für die Kirche zu gewinnen. J. de →Zumárraga OFM, der erste Bischof →Mexikos, bezeichnete deswegen die Missionare in einem Brief an Ks. →Karl V. vom 27.8. 1529 als „Conquistadores espirituales“, als geistliche Eroberer. Die friedliche Evangelisation war ein gemeinsamer Traum aller Missionsorden. Gleichwohl bestehen Unterschiede im Verständnis dessen, was sie unter den gegebenen Umständen bedeutet. Zunächst war es der Dominikaner P. de →Córdoba, der bereits 1515 von einer rein apostolischen Evangelisation ohne vorhergehende →Eroberungen und ohne Soldatenschutz träumte. Enttäuscht von den Vorgängen in den Großen →Antillen, wo Conquistas (Eroberungskriege als ingressus der Spanier in →Amerika) und →Encomiendas (Tribut- und Dienstleistungszuteilung von zahlenmäßig unterschiedlich großen Indio-Gruppen an die Conquistadores z. T. mit Ausbeutungscharakter als progressus der span. Präsenz) diesen Traum unmöglich machten, begeisterte er Dominikaner und Franziskaner Hispaniolas zur Erprobung dieser Methode an der Perlenküste →Venezuelas. Auch der Weltpriester B. de →Las Casas versuchte dort die rein apostolische Mission sowie später als Dominikaner im „Kriegsland“ Mittelamerikas, d. h. in den heutigen Bistümern Chiapas und Verapaz. Auch die Franziskaner kamen nach Mexiko „den Fußspuren unseres Vaters Sankt Franziskus folgend“, wie es in der Instruktion vom 4.10.1523 des Generalministers F. de los Angeles Quiñones für die ersten zwölf Brüder der Mexikomission heißt, die von R. Ricard als eine C. historisiert worden ist. Doch bald erkannten sie, daß nicht nur der Soldatenschutz, sondern auch ein paternalistischer Zwang seitens der Missionare nötig war. Wie J. de →Mendieta OFM 1596 schreibt, sollten die Franziskaner
c o n s ei l d e co m m erce
die Indios nötigen, damit sie in die Herde Christi eintreten, wenn auch „nicht mit Gewalt und ohne sie an den Haaren unter groben Mißhandlungen (wie einige dies tun, was einem Skandal gleichkommt und dazu führen wird, sie völlig zu verlieren) hereinzuzerren, sondern indem man sie mit der Autorität und Macht der Väter führt, die in der Lage sind, bei allem Übel und Schädlichen ihren Kindern gegenüber handgreiflich zu werden und sie zum Guten und Nützlichen zu ermutigen, zumal in allem, wozu sie verpflichtet sind und was zu ihrem Heil förderlich ist.“ Mit dieser Mentalität praktizierten die Franziskaner der Mexikomission die Reduktionsmethode, d. h. die Gründung von Christendörfern, in denen die Indios unter der Kirchenglocke leben sollten. Las Casas konnte den Begriff Conquista nicht leiden, da er ihn für „tyrannisch, mohammedanisch, mißbräuchlich, ungeeignet und höllisch“ hielt. Er kritisierte auch den paternalistischen Zwang der Franziskaner, die vor Inquisitionsprozessen oder vor Züchtigungsmethoden nicht zurückschreckten, und ihren nicht gerade zimperlichen Umgang mit den Vertretern und Symbolen indianischer Religionen. Seine bitteren Worte in De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem sind nicht zuletzt an Zumárraga und die Franziskaner der Mexikomission gerichtet: „Die Geistlichen, die sich der Predigt und Unterrichtung der Indios unserer westind. Welt widmen, indem sie versuchten, diese Indios wegen irgendeiner von ihnen vor oder nach ihrer Bekehrung begangenen Sünde – sei es mit eigner Hand oder auf ihren Befehl hin von fremder Hand – durch Peitschen, Fesseln, körperliche →Strafen und indem sie ihnen →Angst einjagen, zu bessern, ja gar zu bestrafen, irren und verschulden sich sehr – auch dann, wenn sie die Macht und Autorität von Bischöfen haben mögen.“ Demgegenüber sollte die rein apostolische Evangelisation für Las Casas, außer dem radikal friedlichen ingressus ohne Soldatenschutz, folgende Merkmale aufweisen: die Indios sollten erkennen, daß die Glaubensapostel keine Herrschaft über sie zu erlangen trachten, daß sie nicht die Begierde zum Predigen bewegt, daß sie sich friedlich und demütig, sanftmütig und mild zeigen, daß sie die Nächstenliebe und ein untadeliges Lebensbeispiel praktizieren. Das von Córdoba und Las Casas vertretene Ideal einer rein apostolischen Evangelisation blieb bei vielen Missionaren lebendig. Einige davon versuchten es um 1600 in China und Japan zu verwirklichen, nachdem sie eingesehen hatten, daß es in Amerika und auf den →Philippinen auf Grund der Verquickung von Mission und →Kolonialismus nicht möglich war. Besonders interessant ist die Position des →Jesuiten J. de →Acosta in seinem Werk De procuranda indorum salute (1576 in →Peru abgeschlossen, 1588 in Salamanca). Er spricht von drei Missionsmethoden, die man im Entdeckungszeitalter anwenden könne: die erste ist die rein apostolische Methode unter noch nicht unterworfenen Völkern und ohne jedweden Soldatenschutz; die zweite betrifft die Glaubenspredigt unter bereits unterworfenen Völkern; die dritte schließlich bestünde in der Evangelisation von noch nicht unterworfenen Völkern, aber unter Soldatenschutz. Von der ersten Methode, die auch die Córdobas und Las Casas’ war, meint Acosta, daß sie unter den Indern, Chinesen und Japanern z. B.
von den Jesuiten praktiziert werde, während sie unter den meisten Indios Amerikas, wie die Praxis zeige, eine sehr gefährliche und stupide Methode sei, die fahrlässig zum Martyrium der Glaubensapostel führe und daher nicht zu empfehlen sei. Hier sollen eher die anderen zwei Methoden zur Anwendung kommen. In der Amerika- und Philippinenmission wählten die Jesuiten v. a. die dritte Methode, die sie zur Grundlage ihrer Reduktionsarbeit machten. Nicht zuletzt aus diesem Grund bezeichnete diese der Jesuit A. Ruiz de Montoya 1639 als C. Nach der Auflösung und Vertreibung der Gesellschaft Jesu wurde diese Methode vom Franziskaner J. Serra praktiziert, der zwischen 1769 und 1782 eine ganze Kette von Missionsdörfern an der oberkalifornischen Küste gründete, in denen die Indios von den Missionaren mit einem sanften Zwang zu einem Leben unter der Kirchenglocke angeleitet wurden. Extreme Befürworter der vorhergehenden Unterwerfung oder des Soldatenschutzes wie der Humanist J. Ginés de Sepúlveda, der Franziskaner T. de Benavente (Motolinía) oder der Jesuit A. →Sánchez sahen in den Conquistadores gar „Koadjutoren des Evangeliums“, da sie die Evangelisierungsarbeit und somit die C. ermöglichten. Q: J. de Acosta, De procuranda indorum salute (Corpus Hispanorum de Pace 23–24), Madrid 1984–1987. L: B. Hausberger, La violencia en la conquista espiritual, in: JbLA 30 (1993), 27–54. E. J. A. Maeder, La „conquista espiritual“ de Montoya y su alegato sobre las misiones, in: Teología, 46 (1985), 122–136. A. Ruiz de Montoya, La conquista espiritual del Paraguay, Rosario (Argentinien) 1989. R. Ricard, La conquista espiritual de México, Mexiko-Stadt 1986. MA RIA N O D ELG A D O Conseil de Commerce (ab 1722 Bureau de Commerce). Vom einflußreichen frz. Finanzminister Jean-Baptiste Colbert eingerichtete zentrale Behörde zur Verwaltung der frz. Kolonien; sie blieb jedoch bis zu ihrer Reorganisation durch kgl. Edikt vom 20.6.1700 bedeutungslos, da Colbert sich persönlich um Kolonialfragen kümmerte. Das Edikt von 1700 übertrug die Beratung aller Handelsfragen dem Gremium. Dazu gehörte die Regelung, welche Häfen sich am Kolonialhandel beteiligen durften und die Überwachung des →l’exclusif. Zu Mitgliedern des Gremiums wurden neben dem Marine- und dem Finanzminister zwei maîtres des requêtes des Pariser Cour de Parlement und zwölf Deputierte der elf wichtigsten Außenhandelshäfen Frankreichs ernannt. Wie in England konnte der C. jedoch nur geringen Einfluß auf die Kolonialpolitik ausüben, da er keine Entscheidungskompetenz besaß. Alle wichtigeren Angelegenheiten wurden direkt vom Marineminister dem Kg. zur Entscheidung vorgelegt. Am 22.6.1722 wurde die Neuregelung von 1700 rückgängig gemacht und der Rat als B. neu konstituiert. Albert Duchêne, La politique coloniale de la France, Paris 1928. Dale Miquelon, New France 1701–1744, Toronto 1987. Armin Reese, Europäische Hegemonie und France d’outre-mer, Stuttgart 1988. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
189
c o n t i, ni c c o l ò d e ’
Conti, Niccolò de’, * 1395 Chioggia, † 1469 Venedig, □ unbek., rk / musl. C. war ein venezianischer Kaufmann und Reisender. 1414 verließ er Venedig und zog nach Damaskus, wo er Arabisch studierte. In den folgenden 25 Jahren fuhr er als musl. Händler u. a. nach Syrien, Arabien, Persien, →Indien (zum Grab des Hl. Thomas), →Südostasien und →Ägypten. Dabei starben seine Frau und zwei seiner vier Kinder auf Grund einer Epidemie. 1439 kehrte C. nach Italien zurück und lebte bis zu seinem Tod als angesehener Kaufmann in der Gegend seiner Heimatstadt. Da er seinen christl. Glauben zugunsten des →Islams abgelegt hatte, bat er Papst Eugen IV. um Vergebung und mußte daraufhin dessen Sekretär, Gianfrancesco Poggio Bracciolini, über seine Reisen unterrichten. Die Niederschrift „De Varietate Fortunae“ (1445, Buch IV) ist einer der wichtigsten Reiseberichte des 15. Jh.s über Vorderasien und Indien. C. erweiterte das europäische →Wissen über den Orient grundlegend und regte dadurch zu weiteren Entdeckungsfahrten an. Poggio Bracciolini, De Varietate Fortunae, hg. v. Outi Merisalo, Helsinki 1993. Niccolò da Conti, Viaggi in Persia, India e Giava, hg. v. Mario Longhena, Mailand 1929. Richard H. Major (Hg.), India in the Fifteenth Century, London 1857. ROL AND WI CKL E S Cook, James, * 27. Oktober 1728 Marton-in-Cleveland (Yorkshire), † 14. Februar 1779 Kealakekua Bay (Hawai’i), □ zur See vor Kealakekua Bay, anglik. C., Sohn eines armen Landarbeiters, ging 1746 erstmals zur See und erlernte in den folgenden neun Jahren auf Kohlenschiffen in der Nordsee sein Handwerk als Seemann. Im Juni 1755 ging er zur kgl. Marine und avancierte zwei Jahre später zum Master (Steuermann); im Frühjahr 1758 wurde er nach Nordamerika versetzt, in dessen nordöstlichen Gewässern er den Großteil des nächsten Jahrzehntes verbrachte. Während des →Siebenjährigen Kriegs nahm er an den Belagerungen von Louisburg (1758) und Quebec (1759) teil und zeichnete sich durch seine Vermessungen des Sankt-Lorenz-Golfs und der Küsten Neufundlands während der 1760er Jahre als außerordentlich fähiger Hydrograph aus. C.s hervorragendes seemännisches Können verhalf ihm im Apr. 1768 zu seiner Ernennung zum Leiter einer wissenschaftlichen →Expedition in den Südpazifik, die die →Royal Geographical Society zur Beobachtung des Venusdurchgangs 1769 plante. Sein Schiff, die Endeavour, war ein umgebautes Kohlenschiff. Zu seinem wissenschaftlichen Personal zählten der vermögende Naturforscher Joseph →Banks und dessen Assistent, der schwedische Botaniker und Linnaeus-Schüler Daniel Solander. Im Mai 1768 zum 1. Leutnant befördert, stach Cook am 25. Aug. in See, umfuhr im Jan. 1769 Kap Hoorn und erreichte Mitte Apr. Tahiti. Nachdem der Venustransit am 3. Juni erfolgreich beobachtet worden war, segelte C. Anfang Aug. südwärts bis zum 40. →Breitengrad und steuerte dann, da er kein Land gefunden hatte, westwärts nach Neuseeland (→Aotearoa), das er Anfang Okt. sichtete. Nach einer sechsmonatigen Umsegelung dieser Inselgruppe fuhr er Anfang Apr. 1770 westwärts nach Neuholland (→Australien) weiter und anschließend nord190
wärts an dessen östlichem Küstenstrich entlang. Nachdem er im Juni am Great Barrier Reef beinahe gescheitert war, lief er vier Monate später in →Batavia ein, um die Endeavour gründlich überholen zu lassen. Dort aber fiel fast die ganze Besatzung Krankheiten zum Opfer. C. verlor insg. 30 Mann, die meisten davon auf der Weiterfahrt, die er Ende Dez. antrat. Einem vierwöchigen Aufenthalt am →Kap der guten Hoffnung folgte eine ereignislose Weiterreise nach England, das er am 12.7.1771 wieder erreichte. Trotz C.s hervorragender seemännischer Leistungen und der spektakulären naturhistorischen Ergebnisse der Reise blieb eine wichtige geographische Frage – die Existenz eines postulierten großen Südkontinents – unentschieden. Die Planung einer neuen Entdeckungsreise, die diese Frage endgültig beantworten würde, begann bald nach der Rückkehr der Endeavour aus der Südsee. Im Herbst 1771 wurde der inzwischen zum Kapitän beförderte C. als Leiter dieser Expedition bestätigt. Diesmal verfügte er über zwei Schiffe – die Resolution, die er selbst befehligte, und die Adventure unter dem Kommando von Tobias Furneaux. Anstelle von Banks und Solander schifften sich der Deutsche Johann Reinhold →Forster und dessen Sohn Georg in letzter Minute als Naturforscher ein. Die beiden Schiffe – sie waren wie die Endeavour ehem. Kohlenschiffe – legten am 13.7.1772 in England ab und erreichten Ende Okt. das Kap der guten Hoffnung, von wo aus sie drei Wochen später eine ausgedehnte Kreuzfahrt in antarktischen Gewässern antraten. C. überquerte am 17.1.1773 als erster den südlichen Polarkreis und segelte dann ostwärts, aber ohne einen Südkontinent zu sichten. Nachdem er am 8. Febr. den Kontakt zur Adventure verloren hatte, steuerte er nordostwärts und erreichte Ende März Dusky Bay am südwestlichen Ende der Südinsel Neuseelands, wo er seine Leute ausruhen und das Schiff überholen ließ, bevor er sechs Wochen später nach Queen Charlotte Sound, an der nördlichen Spitze der Südinsel, weitersegelte; dort fand er die Adventure, die inzwischen über Van-DiemensLand (Tasmanien, →Diemen) gekommen war. C. hatte diesen Sund im Verlauf seiner ersten Weltumsegelung bereits besucht und ihn wegen dessen natürlicher Vorteile zu einem Stützpunkt für seine zweite Reise gewählt. Von diesem Ort aus unternahm er zwei große Kreuzfahrten in den Pazifik. Die erste, die von Anfang Juni bis Anfang Nov. 1773 dauerte, führte seine Schiffe ostwärts dann nordwärts zu den Gesellschaftsinseln, speziell Tahiti, Huahine und Raiatea (die von Mitte Aug. bis Mitte Sept. besucht wurden), weiter nach den Inseln Eua und Tongatapu im →Tonga-Archipel (Anfang Okt.), und dann wieder nach Queen Charlotte Sound. Kurz bevor er seinen gewohnten Ankerplatz erreichte, wurden aber die Schiffe in einem Sturm vor der Ostküste Neuseelands voneinander getrennt. Furneaux konnte den Kontakt zu C. nicht wieder aufnehmen und segelte mit der Adventure über Kap Hoorn und das Kap der guten Hoffnung nach England, das er Mitte Juli 1774 erreichte. Er brachte den jungen Gesellschaftsinsulaner →Omai mit, der in engl. Salons für eine Sensation sorgen sollte. Nachdem er drei Wochen in Queen Charlotte Sound umsonst auf die Adventure gewartet hatte, trat C. gegen Ende Nov. 1773 mit der Resolution seine zweite große pazifische Kreuzfahrt
co o k , j A m es
dieser Reise an. Südwärts in hohe Breiten segelnd, überquerte er wieder den Polarkreis und erreichte am 30.1.1774 bei 71º 10′ S den südlichsten Punkt der Reise, bevor er wieder nach Norden bog. Es folgten Aufenthalte auf d. →Osterinsel (Mitte März), in den Gesellschaftsinseln (Ende Apr. bis Anfang Juni) und Tonga (Ende Juni). Westwärts weiterfahrend, erforschte er im Juli und Aug. die Neuen Hebriden (heute Vanuatu) und im Sept. →Neukaledonien, das er als erster Europäer sichtete. Anfang Okt. steuerte er wieder südwärts, um zum letzten Mal auf dieser Reise nach Queen Charlotte Sound zu segeln. Er erreichte Mitte Okt. seinen alten Ankerplatz, weilte noch drei Wochen dort und fuhr dann ostwärts quer über den Pazifik nach Feuerland weiter, dessen westliche Küste er in der zweiten Dez.-Hälfte kurz erforschte. Von Kap Hoorn aus nahm er Kurs auf den Südatlantik, wo er im Jan. 1775 Südgeorgien und die benachbarten Südsandwich-Inseln sichtete, bevor er nordwärts zum Kap der guten Hoffnung steuerte, um die Resolution wieder zu verproviantieren. Nach einem sechswöchigen Aufenthalt trat er Ende Apr. die Rückreise nach England an, wo er am 30.7.1775 endlich Anker warf. C.s zweite Weltumsegelung, auf der er nur vier Besatzungsmitglieder verlor, und keinen wegen →Skorbut, galt sofort als eine großartige seemännische Leistung. C. wurde folglich mit verschiedenen Ehren bedacht. Er begann, sein Tagebuch zur Veröffentlichung vorzubereiten, beendete aber im Frühjahr 1776 seinen kurzfristigen Ruhestand, um das Kommando über eine neue Expedition in den Pazifik zu übernehmen, deren ausdrückliches Ziel die Entdeckung der legendären →Nordwestpassage war. C. stach am 12.7.1776 wiederum mit zwei Schiffen – der Resolution, die er abermals selbst befehligte, und der Discovery unter dem Kommando von Charles Clerke – in See, diesmal ohne speziell ernannte Naturforscher. Er lief Mitte Okt. das Kap der guten Hoffnung an, wo er sich ca. sechs Wochen aufhielt, und erreichte Anfang März 1778 nach 16 Monaten Reise westwärts über Van-Diemens-Land, Queen Charlotte Sound, Tonga, die Gesellschaftsinseln (wo Omai repatriiert wurde) und →Hawai’i (das er im Jan. 1778 als erster Europäer sichtete), die Küste des heutigen US-Staates Oregon. Im Laufe der nächsten sechs Monate vermaß er den pazifischen Küstenstrich Nordamerikas, segelte durch die Beringstraße und erkundete kurz die Küsten Nordwestalaskas und Nordostsibiriens. Die Nordwestpassage fand er jedoch nicht. Wieder südwärts steuernd, hielt er sich im Okt. 1778 drei Wochen auf der Aleuten-Insel Unalaska auf, bevor er Kurs auf Hawai’i nahm, um sich im kommenden Sommer dort auf eine zweite Suche nach der Nordwestpassage vorzubereiten. Es sollte jedoch sein letzter Besuch in der Südsee sein. Die kumulativen Strapazen von ca. zehn Jahren auf langen Entdeckungsreisen hatten einen merklichen psychischen Tribut von C. gefordert. Der Mann, der seine Besatzungen wie auch die Südseeinsulaner, denen er unterwegs begegnete, einst mit einer aufgeklärten Menschlichkeit behandelt hatte, war zunehmend reizbar und weniger besonnen. Als er Anfang 1779 zum zweiten Mal Hawai’i besuchte, gingen seine bessere Einsicht und sein Glück schließlich zu Ende. Bei einem unüberlegten Versuch, einen gestohlenen Kutter zurück-
zubekommen, wurde er am 14. Febr. in einem Scharmützel mit Einheimischen in der Kealakekua Bay getötet. Seine Leute mußten nun seine Mission ohne ihn beenden und erreichten erst 18 Monate später, Anfang Okt. 1780, unter dem Kommando von John Gore endlich wieder England. Clerke, der Cook bei dessen Tode als Leiter der Expedition nachfolgte, war im Aug. 1779 gestorben. C., bereits zu seinen Lebzeiten als großer Entdecker gefeiert, wurde in zahlreichen Nachrufen umso ausgiebiger gepriesen, sobald die Nachricht von seinem Tode Europa im Jan. 1780 erreichte. Er wurde bald zum Gegenstand einer langen Reihe von fast durchgehend positiven biographischen Studien, die 1787 mit Georg Forsters Essay „C., der Entdecker“ begann und bis heute nicht abgerissen ist. C. sollte v. a. in Neuseeland und Australien, deren Küsten er als erster kartierte, eine besondere Stellung im populären Bewußtsein einnehmen. Noch heute ist in diesen beiden ehem. brit. Kolonien im Pazifik eine erstaunlich große Zahl von geographischen Merkmalen, Straßen, Schulen u. a. öffentlichen Einrichtungen nach ihm, seinen Schiffen bzw. seinen Begleitern benannt. Die Faszination, die immer noch von C. ausgeht, spiegelt sich auch in dem unverhältnismäßig großen Beitrag zur Fachliteratur über C. bzw. seinen Mitreisenden (Joseph Banks, die beiden Forster usw.) wider, den Neuseeländer und Australier geleistet haben. Man denke nur an die Studien von J. C. Beaglehole, Bernard Smith, Michael Hoare, Anne Salmond, John Gascoigne und Nicholas Thomas – um nur die wichtigsten zu nennen. C.s posthumes Ansehen blieb fast 200 Jahre größtenteils unangefochten. Seit Ende der 1970er Jahre aber hat man den großen Entdecker etwas kühler, skeptischer und kritischer betrachtet. Diese veränderte Einstellung zu C. ist teils auf die Etablierung postkolonialen Denkens im kritischen Diskurs zurückzuführen, andererseits auch im Licht der Selbstbestimmungsforderungen indigener Völker der pazifischen Region zu verstehen, deren extremere Befürworter gelegentlich so weit gehen, C. als Agenten des europäischen Imperialismus bzw. als Vorboten des →Kolonialismus einzustufen. Trotz seiner Fehler – der tatsächlichen wie der angeblichen – kann man jedoch gewisse wichtige historische Tatsachen nicht bestreiten. Erstens vollbrachte C. unter oft schwierigen Verhältnissen und unter Nutzung von technischer Ausrüstung, die nach heutigen Maßstäben recht primitiv war, außerordentliche seemännische Leistungen. Zweitens erweiterte er erheblich die zeitgenössischen europäischen Kenntnisse über den Pazifik i. allg.: die wenigen Lücken, die bei seinem Tode in der europäischen Karte des Pazifiks übrigblieben, waren dank seiner Bemühungen relativ klein. Drittens gibt es nicht zuletzt jene Fülle von ethnographischen, naturhistorischen und künstlerischen Schätzen sowie die vielen Tagebücher, die er und seine Begleiter aus der Südsee zurückbrachten und die nach mehr als 200 Jahren von Fachleuten wie von Laien immer noch besprochen und bewundert werden. James C. war ohne Zweifel der größte Seefahrer seines Zeitalters und bleibt einer der größten Forschungsreisenden aller Zeiten. J. C. Beaglehole (Hg.), The Journals of Captain James Cook on His Voyages of Discovery, 3 Bde., Cambridge 1955–1967. J. C. Beaglehole, The Life of Captain James 191
c o o k , t homA s
Cook, Stanford 1974. Anne Salmond, The Trial of the Cannibal Dog: Captain Cook in the South Seas, London 2003. JAME S BRAUND Cook, Thomas, * 22. November 1808 Melbourne, † 18. Juli 1892 Leicester, □ Welford Road Cemetery / Leicester, bapt. C. ging als Erfinder des modernen →Tourismus in die Geschichte ein. Er organisierte 1841 für die Teilnehmer eines Kongresses erstmals einen Sonderzug von Leicester nach Loughborough. In den folgenden Jahren arrangierte er die ersten Pauschalreisen mit fachkundiger Reisebegleitung auf das europäische Festland (1855) und in die →USA (1866). Thomas Cook, Letters from the Sea and from Foreign lands, London 1873. Jill Hamilton, Thomas Cook, London 2005. T HOMAS F I S CHE R Cookinseln (Cook Islands). Inselgruppe und abhängiger Staat im westlichen Zentralpazifik, bestehend aus den nördlichen und den südlichen C. Zum Staatsgebiet zählen folgende 15 Inseln: Aitutaki, Atiu, Mangaia, Manihiki, Manuae, Mauke, Mitiaro, Nassau, Palmerston, Penrhyn (Tongareva), Pukapuka, Rakahanga, Rarotonga, Suwarrow, Takutea sowie das Tema Reef. Hauptstadt ist Avarua auf Rarotonga. Alternative/historische Namen: Cook Group, Cook’s, Harvey, Islands, Hervey Group, Hervey Islands. Die Inselgruppe wurde vom russ. Seefahrer und Kartograph Johann von →Krusenstern 1824 nach James →Cook benannt. Die nördlichen Inseln sind Korallenatolle mit Lagunen, mit Ausnahme von Nassau, welches eine gehobene Koralleninsel ist. Die südlichen Inseln bestehen aus gehobenen Atollen mit einem Korallenwall im Küstenbereich (makatea; Atiu, Mangaia, Mitiaro und Mauke), einer vulkanischen Insel mit Atoll und Lagune (Aitutaki), Korallenatollen mit Lagunen (Manuae, Palmerston), einer niederen Koralleninsel (Takutea) bzw. einer vulkanischen Insel mit Saumriff (Rarotonga). Jährliche Durchschnittstemperatur auf den südlichen Inseln 24° C, durchschnittliche Niederschlagsmenge ca. 2 100 mm; die nördlichen Inseln sind durchwegs trockener und heißer. Von Dez. bis März Gefahr von Zyklonen. Die Bevölkerung besteht aus →Polynesiern mit der Bezeichnung Cook Island Maori, die ihre Herkunft von →Samoa, →Tonga und Raiatea ableiten. Gesamtbevölkerung (2004) ca. 18 500 Ew. mit abnehmender Tendenz. Bevölkerungswachstum in den 1990er Jahren: -0,5 %; Geburtenrate (1999), 2,35 %; Sterberate (1999): 5,2 %. Bevölkerungsdichte (1998): ca. 76,7 Ew./ km². Sprachen: Cook Island Maori, austronesische Sprache, dem neuseeländischen →Maori und dem Tahitianisch verwandt. Mehrere Dialekte. Englisch als offizielle Amtssprache. Religion: über 70 % Protestanten der C. Christian Church (CICC), der Rest verteilt sich auf Katholiken, Seventh Day Adventists, Bahai u. a. Religionen. Ethnische Zusammensetzung: über 81 % Polynesier, 15,4 % polynesische Mischlinge, 2,4 % Europäer und 0,9 % Sonstige. Eine schrittweise Verringerung der Bevölkerung auf den C. ist durch massive Abwanderung nach Neuseeland feststellbar; über 30 000 Cook Islander leben in Neuseeland, v. a. in und um Auckland, mit 192
steigender Tendenz. Die C. sind ein mit Neuseeland assoziiertes Territorium mit interner Selbstverwaltung seit dem 4.8.1965. Wirtschaftlich sind →Kaffee, Muscheln, Alkoholika, Kopra, Ananas, →Bananen, Zitrusfrüchte, Kunsthandwerk als Exportprodukte von Bedeutung. Auf Grund des großen Mißverhältnisses zwischen Import und Export (mehr als 10:1) hohe Auslandsverschuldung, die aber von Neuseeland aufgefangen wird. Inflationsrate in den 1990er Jahren ca. 3,2 %. Eine Besonderheit stellen in der Muschelzucht schwarze →Perlen dar. Hohe Abhängigkeit vom →Tourismus, insb. auf Rarotonga und Aitutaki. Viele Cook Islanders arbeiten und leben in Neuseeland; deren Geldsendungen (remittances) stellen eine bedeutende Einnahmequelle dar. Teile der C. wurden vor ca. 1 200–1 400 Jahren besiedelt. Der Überlieferung nach zuerst aus dem heute Frz.-Polynesien bezeichneten Raum durch den polynesischen Kulturheros namens Ru. Rarotonga wurde nachweislich um 800 n. Chr. besiedelt. Archäologische Spuren auf Mangaia weisen jedoch auf eine frühe Besiedlung bereits vor ca. 500 v.Chr. hin. Der Spanier Alvaro de Mendaña y Neyra entdeckte mit Pedro Fernandez Quiros am 20.8.1595 Pukapuka. Am 2.3.1606 wurde von Quiros Rakahanga entdeckt. James Cook entdeckte am 23.9.1773 Manuae und am 16.6.1774 Palmerston. Ab 1821 begann die christl. Missionierung, zuerst auf Aitutaki, initiiert und forciert durch den Missionar der London Missionary Society (→Protestantische Missionsgesellschaften) John Williams. Der brit. Einfluß nahm in den 1870er Jahren zu. Am 11.6.1901 wurde die Insel neuseeländischer Verwaltung unterstellt, nachdem Lord Ranfurly bereits am 8.10.1900 die Übernahme durch Neuseeland verkündet hatte. Innere Selbstverwaltung wurde am 4.8.1965 mit der Einführung einer Verfassung etabliert, der eine Abstimmung über die weitere Zukunft der C. vorangegangen war. Die Politik des Inselstaates wurde wiederholt durch Korruptionsaffären sowie durch Mißmanagment verursachte Verschuldung des Staatshaushaltes erschüttert; daraus resultierende politische Machtwechsel prägten die politische Parteienlandschaft in den 1970er bis 1990er Jahren. Richard Gilson, The Cook Islands 1820–1950, Wellington 1980. Simon Milne, The Economic Impact of Tourism in the Cook Islands, Auckland 1987. Jeffrey Sissons, Royal Backbone and Body Politics, in: The Contemporary Pacific, Bd. 6, Nr. 2, Honolulu 1994, 371–396. H ER MA N N MÜ CK LER
Córdoba, Pedro de, * 1482 Córdoba / Spanien, † 4. Mai 1521 Hispaniola, □ Santo Domingo (genauer Ort nicht ermittelbar), rk. Der Dominikaner (OP) und Missionar trat ca. 1500 in den Predigerorden ein und kam im Sept. 1510 als stellv. Oberer der ersten Dominikanerkommunität nach Hispaniola. Unter seiner Leitung hielt Antón Montesino am 21.12.1511 eine epochale Predigt über die Unterdrückung der Eingeborenen, die als Beginn der prophetischen Theologie in der Neuen Welt gilt; gegenüber dem Statthalter Diego Kolumbus verteidigte C. die Predigt als Werk der ganzen Kommunität. Er fuhr 1512 nach Spanien, erwirkt die Gesetze von Valladolid (1513) als Linderung der Gesetze von Burgos (1212) sowie die Er-
co rreg i d o r
laubnis zur friedlichen Evangelisierung der Perlenküste (→Venezuela), wo er, von der kolonialen Ausbeutung der Indios in Hispaniola sehr enttäuscht, ohne Soldatenschutz sein Konzept der →Conquista espiritual (geistliche Eroberung) verwirklichen wollte. 1514 kehrte er nach Hispaniola zurück. Am 4.7.1515 überlebte er mit Glück einen Sturm vor der Küste Venezuelas und konnte dort mit Ordensbrüdern als Missionar arbeiten. 1516 reiste er erneut nach Spanien, um gegen die Korruption der Verwaltung auf Hispaniola zu protestieren und kehrte 1517 zurück nach Hispaniola und Venezuela. Mit Erlaß vom 20.5.1519 wurde er zusammen mit Alonso Manso, dem ersten Bischof von San Juan (Puerto Rico), zum Inquisitor Westindiens ernannt. 1520 reiste er zum dritten Mal nach Spanien, um Missionare für das Festland zu rekrutieren und kehrte im selben Jahr zurück nach Hispaniola, wo er 1521 an Lungenentzündung und →Tuberkulose starb. Sein Vermächtnis ist der prophetische Freimut, das Bemühen um eine friedliche Evangelisierung der Eingeborenen sowie ein untadeliges Lebensbeispiel als Ordensmann; Bartolomé de →Las Casas, sein bester Schüler, sah in ihm den Vater der friedlichen Evangelisation im Entdeckungszeitalter. C. schrieb einige Briefe zur Verteidigung der Eingeborenen sowie die erste Christenlehre zu ihrer Evangelisierung, die mit einigen mexikanischen Anhängen von Domingo de Betanzos 1544 in →Mexiko gedruckt wurde. Sie zeichnet sich durch rhetorische captatio benevolentiae, diskursive Widerlegung der Eingeborenenreligionen, lebensnahe Beispiele und regen Gebrauch des Schriftbeweises aus und hatte großen Einfluß auf andere Missionskatechismen. B. de Las Casas, Historia de las Indias, Buch II und Buch III, Madrid 1994. M. Á. Medina, Doctrina cristiana para instrucción de Indios, Salamanca 1987. Ders., Una comunidad al servicio del indio. La obra de Fr. Pedro de Córdoba, O.P. Madrid 1983. MARI ANO DE L GADO Cornstalk, * ca. 1720, † 10. November 1777 Fort Randolph, □ unbek., autochthon Der einflußreiche Häuptling der Shawnee leitete während des →Siebenjährigen Krieges zum Schutz des Stammesgebietes Kriegszüge gegen Virginia und möglicherweise auch gegen Pennsylvania. Er war aktiv an dem Krieg der westlichen indianischen Stämme gegen die britische Armee und die Kolonien 1763–1765 beteiligt. 1764/65 gehörte er mit zu den Geiseln, mit denen der General der brit. Truppen, Henry Bouquet, die Einhaltung der Kapitulationsbedingungen erzwingen wollte. Während des sog. Lord Dunmore War (1773/74), in dem die Shawnee ihr Jagdterritorium bewahren wollten, riet C. vergeblich zum Ausgleich mit den Kolonien. Während sich die Mehrheit der Shawnee 1776 der brit. Armee anschloß, hielt C. an seiner neutralen Politik fest. Am 10.11.1777 wurde er bei dem Versuch, in Fort Randolph am OhioFluß vom Kommandanten festgehaltene Shawnee zu befreien, mit seinem Sohn von am. Milizionären ermordet. Colin G. Calloway, The American Revolution in Indian Country, Cambridge, 1995. Hermann Wellenreuther / Carola Wessel (Hg.), Herrnhuter Indianermission in der
Amerikanischen Revolution. Die Tagebücher von David Zeisberger 1772–1781, Berlin 1995. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Corregidor. In der 2. Hälfte des 15. Jh.s wurden aus Gründen politischer Stabilisierung die Räte (regidores) kastilischer Städte zu käuflichen und vererbbaren Ämtern. Zur Sicherung königlichen Einflusses ernannte die Krone in der Folge befristete C.es als Leiter des Stadtregiments und erstinstanzliche Richter neben den beiden alle zwei Jahre gewählten Alcaldes (Repräsentanten des Gemeinwesens), deren Zuständigkeit die unterschiedlich ausgedehnten, oft zahlreiche Dörfer einschließenden Jurisdiktionsbereiche (= Corregimiento) umfaßte. Mit der Übertragung des kastilischen Munizipalverwaltungssystem nach →Amerika gelangte die Institution seit Ferdinand und Isabella in die neue Welt, differenzierte sich dort aber weiter aus. In der →Karibik beschränkt auf spanische Städte, erlangten mit →Karl V. auf dem mittelamerikanischen Festland auch indigene Ansiedlungen Stadtrechte (Verbündete bei der Eroberung von Tenochtitlán und im weiteren Verlauf der Landnahme in eroberten Gebieten angesiedelte indigene Hilfstruppen) mit allen Vorrechten spanischer Städte aber indigenem Stadtrat unter der Leitung eines C. Mit der später erfolgenden Zusammensiedlung indigener Bevölkerungsteile in nach dem Schachbrettmuster trassierten Dörfern (= congregación) wurden mehrere indigene Dörfer nach dem Munizipalsystem, nur in Neuspanien teils auch mit Stadtrechten, organisiert u. einem C. (später meist „C. de indios“ genannt) unterstellt. Daneben unterstellte man auf Grund des Kronregals über Bodenschätze auch Bergwerkszentren (= real y minas) mit den Deputierten der Minenbetreiber einem C., bevor ihnen später oft Stadtrechte verliehen wurden. Mehrere C.s wurden nur in Neuspanien (→Mexiko) einem →alcalde mayor als übergeordnete Gerichtsinstanz unterstellt. Da die C. de Indios aus indigenen Tributzahlungen bezahlt werden sollten, vermischten sich mit dem Rückgang der Tributeinnahmen (indigener Bevölkerungsrückgang) später beide Ämter. Im später organisierten →Vizekönigreich →Peru gab es neben den spanischen Städten und Reales y Minas keine indigenen Städte, sondern nur Dorfgemeinschaften ohne Stadtrechte unter einem C. de Indios. Seit dem 17. Jh. wurden diese zwar befristet und teils von der Krone gegen finanzielle oder sonstige Dienste (Art v. Ämterhandel), teils von den Vizekönigen aus deren Begleitpersonal ernannt, erhielten aber kein Gehalt mehr, sondern betrieben ein mehr oder weniger freiwilliges Handelssystem auf Kreditbasis (ähnlich dem Verlagssystem) mit den Bewohnern ihrer Distrikte. Mitte des 18. Jh.s wurden die C. der spanischen Städte verschiedentlich durch Gouverneure ersetzt, die spezifische Form des Ämterhandels abgeschafft, bevor die Intendantenreform nach 1776 das Amt überwiegend obsolet machte. Horst Pietschmann, Die staatliche Organisation des kolonialen Iberoamerika. Handbuch der Lateinamerikanischen Geschichte. Teilveröffentlichung, Stuttgart 1980. H O R ST PIETSC H MA N N
193
c o rt é s , h e r n An d o
Cortés, Hernando, * 1485 Medellín, † 2. Dezember 1547 Castilleja de la Cuesta, □ La Iglesia del Hospital de Jesús, Mexiko-Stadt, rk. Eroberer →Mexikos (1519–1521). Mit den Berichtsbriefen, die C. an Ks. →Karl V. schrieb, hat er maßgeblich das Bild einer heroischen Conquista geprägt. Sein Selbstbild war das eines loyalen Kriegsherrn der Krone, der mit machiavellischem Machtinstinkt, strategischem Kalkül und wenn notwendig mit brutaler Gewalt ein mächtiges und prächtiges Reich erobert hat. Die Berichtsbriefe sind trotz ihres strategischen Umgangs mit der Geschichtsdarstellung eine wichtige historische Quelle über die Ereignisse der →Eroberung, da sie die einzige zeitnahe Schilderung darstellen. Hernando (auch Fernando) C. wurde 1485 (bzw. 1482) in der Stadt Medellín in der Estremadura geboren. Seine Familie stammte aus dem niederen Adel ohne großen Reichtum. Seine regionale Herkunft und Stand waren nicht untypisch für einen Conquistadoren. Aus der armen Provinz Estremadura suchten viele als Eroberer ihr Glück in der neuen Welt. Ob C. an der angesehenen Universität von Salamanca ein juristisches Studium aufnahm, ist nicht geklärt. Seine Rechtskenntnisse kann er auch von seinem Onkel Francisco Núñez de Valera erworben haben, der in Salamanca als Notar tätig war und in dessen Haus er einige Zeit wohnte. Im Alter von ca. 19 Jahren brach er 1504 nach Hispaniola auf. Der Gouv. Nicolás de Ovando, ein entfernter Verwandter, ernannte ihn zum →Escribano, zum Schreiber des Stadtrates von Azúa, einer notarähnlichen Tätigkeit. C. beteiligte sich an der Eroberung →Kubas (1511) unter Diego Velázquez und wurde dessen Sekretär. Er erhielt eine ertragreiche →encomienda am Fluß Duaban, Baracoa. 1514 wurde er zum →alcalde (Bürgermeister) von Santiago in Kuba ernannt. Mit knapp 30 Jahren hatte es C. zu Ansehen und Wohlstand gebracht. An seinem weiteren Lebensweg zeigt sich die Dynamik der Eroberungen →Amerikas, die keine von der span. Krone organisierten und v. a. auch finanzierten Unternehmungen waren. Erfolgreiche Conquistadoren wie Velázquez und später C. investierten in neue Eroberungen, so daß jede Conquista eine Vielzahl weiterer hervorbranchte. Die häufig anzutreffende Einschätzung der Conquistadoren als reine Abenteuerer trifft angesichts des unternehmerischen Charakters der Eroberung nicht zu. Seine große Chance erhielt C., als ihn Velázquez als Kommandant mit einer Handelsexpedition zur Erkundung des mexikanischen Festlands betraute. Eine Entscheidung, die Velázquez allerdings bald bereuen sollte. Am 18.11.1518 verließ der 34-jährige C. mit 16 Schiffen und einer Besatzung von ca. 600 Mann, darunter schwarze Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), kubanischen Tainos und auch einige Frauen sowie 16 →Pferden, Kuba. Anfang 1519 erreichte seine Expedition die Halbinsel Cozumel, eine Insel, die der östlichen Küste der mexikanischen Halbinsel Yukatán vorgelagert ist. Aber C. wollte mehr als nur im Auftrag eines Anderen erkunden und handeln. So segelte er weiter nördlich an der Küste des Golfes von Mexiko entlang und gründete im Mai 1519 die Stadt Villa Rica de la Vera Cruz. Vom neuen Stadtrat ließ sich C. zum capitán general wählen, ein juristischer Kniff, um unabhängig von Velazquez und sei194
nen Instruktionen zu sein. Von jetzt an handelten C. und seine Männer auf eigene Rechnung. In Diego Velázquez hatten sie nun einen mächtigen Feind. Auch kämpften sie ohne ausdrücklichen Auftrag und Legitimation durch die span. Krone. Die Eroberung Mexikos nahm ihren Anfang. Durch Gewalt und diplomatisches Geschick gewann C. rasch indigene Verbündete, denn die Mexica (Azteken) hatten mit ihrer agressiven Expansionspolitik viele Stadtstaaten des Hochtals von Mexiko unterworfen. Nun sahen sie ihre Chance gekommen, sich mit Hilfe der span. Eroberer zur Wehr zu setzen, zudem das Reich der Mexica (→Aztekenreich) kein einheitliches, zentralistisch regiertes Reich mit stehendem Heer war. Als strategisch bedeutend erwies sich für C. ein Bündnis mit Tlaxcallan, einem Stadtstaat, der sich Jahrzehnte erfolgreich gegen die Mexica behaupten konnte. An der Seite der wenigen Hundert Spanier kämpften mehrere Tausend mit ihnen verbündeter indigener Krieger. Die vermeintlich überlegene Waffentechnik der Spanier spielte angesichts der Bedeutung der indigenen Bündnisse eine weit geringere Rolle für den Erfolg der Eroberung, als es teilweise dargestellt wird. Daß C. von den Mexica und ihrem Herrscher →Moctezuma Xocoyotl (Moctezuma der Jüngere) für einen ihrer Götter gehalten wurde, was maßgeblich zum Sieg der Spanier beigetragen haben soll, wird in der Forschungsliteratur überwiegend als nachträgliche Legendenbildung eingeschätzt (QuetzalcoatlMythos). Nach dem Sieg über die Mexica am 13.8.1521 holte C. das Problem seines Verrats an Gouv. Velázquez und sein eigenmächtiges Handeln gegenüber der Krone wieder ein. Nach dem militärischen Triumph benötigte er nun die politische Anerkennung. Am Hof in Spanien hatte C. viele Feinde, aber sein Vater Martín C. betrieb erfolgreich Lobbyarbeit für seinen Sohn. Zwar setzte die Krone zunächst Cristobál de Tapía als Gouv. in den von C. eroberten Gebieten ein. Aber C. gelang eine schmale Gratwanderung, den neuen Gouv. nicht anzuerkennen, ohne sich jedoch offen gegen den Kg. zu stellen. Diese Handlungsweise erwies sich als erfolgreich. Im Okt. 1522 erhielt C. seine von ihm ersehnte Ernennung zum Gouv. von Neu-Spanien. Seine Autorität war jedoch nur von kurzer Dauer. Um ihre Position zu stärken, schickte die Krone rasch Kronbeamte nach Neu-Spanien, welche die Interessen der Krone wahrnehmen sollten. Der Dynamik der Eroberungen folgend, unternahm C. eine Expedition nach Honduras (1524/25), die allerdings erfolglos verlief. Zudem erwies sich die politische Lage in Mexiko als instabil. Während seiner Abwesenheit km es zu Unruhen und Machtkämpfen. Die Krone nutzte C.s Abwesenheit, um ihn teilweise zu entmachten. Im Juli 1526 wurde er vom Untersuchungsrichter Luis Ponce de León sogar seines Amtes als Gouv. enthoben. In Mexiko konnte C. nun nichts mehr ausrichten. Er kehrte 1528 nach Spanien zurück, um sich persönlich beim Ks. für seine Interessen einzusetzen. Der erfolgreiche Conquistador wurde am Hof mit großen Ehren empfangen, konnte seine politischen Ziele jedoch nicht durchsetzen. Er wurde nicht wieder als Gouv. eingesetzt, behielt aber das Amt des Generalkapitäns, also den militärischen Oberbefehl u. den Adelstitel (Marqués del Valle de Oaxaca) mit einer ausgedehnten Grundherrschaft. Der finanzielle Nutzen
c ro m berg er
dieses Titels war beträchtlich, auch wenn C. sich Zeit seines Lebens beklagte, daß er finanzielle Einbußen erlitten habe. Nur wenigen Conquistadoren gelang es, zu einem so beträchtlichen Vermögen zu kommen. Im Juli 1530 kehrte C. nach Mexiko zurück, blieb aber politisch kaltgestellt. In den nächsten zehn Jahren finanzierte er weitere Expeditionen zur Erkundung der Küstengebiete und verwaltete erfolgreich seine encomienda. Zudem betrieb er lukrative Zuckermühlen (→Zucker). Er galt als einer der reichsten Männer Neu-Spaniens. 1540 kehrte er nach Spanien zurück. Q: Hernán Cortés, Letters from Mexico, hg. u. übers. v. Anthony Pagden, New Haven 1986. L: Claudine Hartau, Hernando Cortés, Hamburg 1994. José Luis Martínez, Hernán Cortés, Mexiko-Stadt 1990. ANJA BRÖCHL E R Côte d’Ivoire →Elfenbeinküste Country Trade. Mit C. T. wird der innerasiatische Zwischenhandel bezeichnet, der im 17. und 18. Jh. von staatlich privilegierten europäischen Handelskompanien und privaten Händlern in →Indien, →Südostasien und China betrieben wurde. Hauptträger waren die brit. East India Company (EIC; seit 1600, →Ostindienkompanien) und die ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC; seit 1602). Die EIC stützte sich besonders auf die von ihr lizenzierten freien brit. Kaufleute, oft frühere Mitarbeiter der Kompanie, die wesentlich flexibler und profitabler arbeiteten und teilweise unter Einbeziehung asiatischer Partner kapitalkräftige Agenturen (Agency Houses) unterhielten. 1790 gab es in →Kalkutta 15 solcher Firmen, die den brit. C. T. in Indien sowie nach →Malaysia und China kontrollierten. Der ndl. C. T. stützte sich v. a. auf asiatische Händler, doch verlor die VOC ihre dominierende Position nach 1760 an die EIC. Der brit. C. T. trat in direkte Konkurrenz mit dem chin. Dschunkenhandel und konzentrierte sich auf Produkte, für die traditionell eine starke Nachfrage in China bestand (Baumwollwaren (→Baumwolle), →Opium, →Kampfer, Elefantenzähne, Rattanprodukte, Zinn, →Gewürze). Zwischen 1775 und 1795 kam bereits mehr als ⅓ der Einnahmen der EIC aus dem C. T.; bis 1823 bildete ind. Rohbaumwolle das wichtigste Stapelgut. Der Hauptgrund, warum der C. T. mit China für Großbritannien von erstrangiger Bedeutung war, lag darin, daß die steigende engl. Nachfrage nach →Tee zu keiner Zeit durch Chinas geringen Bedarf an brit. Manufakturwaren ausgeglichen werden konnte. Sowohl die EIC als auch die VOC trugen zur Entwicklung eurasischer Handelsdynastien bei, welche die urbane Wirtschaft und die regionalen Handelsbeziehungen bis weit ins 19. Jh. dominierten. Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel, Darmstadt 2007. Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft, München 1989. BE RT BE CKE R Coutre, Jacques de, * ca. 1572 Brügge, † Juli 1640 Saragossa, □ San Andrés Hospitalkirche, Madrid (1854 abgerissen), rk. C. (eigentlich Jacobus van der Koutere, manchmal auch Jaques do Couto – der Familiename seiner port. Ehefrau) war als Bewohner Brügges ein Untertan des Kg.s v. Spa-
nien, der zwischen 1581 u. 1640 auch als Kg. v. Portugal reg. Zusammen mit seinem Bruder Joseph ließ er sich 1593 als Soldat für die Portugiesen rekrutieren u. verließ Europa in Richtung Ostindien über →Brasilien u. das →Kap der guten Hoffnung. Der Bruder blieb in →Goa u. heiratete dort kurz nach seiner Ankunft. Der junge C. dagegen reiste nach →Malakka weiter. Er kam dort 1594 an u. gelangte in den Haushalt eines älteren venezianischen Juweliers. Von seiner neuen Heimat Malakka durchreiste C. ganz →Südostasien, insb. →Siam, →Birma, die malaiische Halbinsel, →Brunei u. →Manila. Seine Beschreibungen von Land und Leuten in Siam u. Brunei gehören zu den ältesten europ. Augenzeugenberichten überhaupt. C. kehrte 1603 nach Goa zurück, wo er Catarina do Couto, eine jüngere Schwester der Frau seines Bruder heiratete. Als selbständiger Juwelier benutzte C. Goa als seine Basis für seine Geschäfte. Damit war er einer der Konkurrenten von Ferdinand →Cron. In dieser Zeit unternahm er zwei Reisen nach Europa, die ihn über die Levante führten. Obwohl beide C. in eine bekannte einheimische Familie eingeheiratet hatten, konnten sie das Mißtrauen der einh. Bev. gegenüber ihnen als eingewanderten erfolgreichen Fremden nie überwinden. Zusammen mit Cron wurden sie verhaftet u. während Cron seine Deportation zunächst noch verhindern konnte, wurden die Gebrüder C. am 1. April 1623 nach Lissabon abgeschoben. Dort kämpften sie um ihre Rehabilitation. Um diese zu erreichen, verfaßte C. eine Autobiographie u. zahlreiche Gutachten, in denen er die span. u. port. Behörden über die politischen u. wirtschaftlichen Hintergründe der Regionen von der Ostküste Afrikas bis nach Japan informierte. Die darin enthaltenen Nachrichten u. Informationen über eine derart ausgedehnte Region waren für ihre Zeit einzigartig u. sind auch heute noch überaus wertvolle Quellen für die historische Forschung. Lange vergessen, wurden seine Schriften in den 1960er Jahren in Madrid wiederentdeckt. Eine flämischsprachige Übersetzung seiner Autobiographie erschien 1988 u. eine engl. Teilübersetzung der Autobiographie u. der Gutachten, die sich auf →Südostasien beziehen, wurde 2014 veröffentlicht. Q: Andanzas asiáticas, hg. v. Eddy Stols / Benjamin Teensma / Johan Verbeckmoes, Madrid 1991. Aziatische omzwervingen. Het Leven van Jaques de Coutre, hg. v. Eddy Stols, Berchem 1988 (Flemish translation of C.s. Biography). Peter Borschberg, The Memoirs and Memorials of Jacques de Coutre, Singapur 2014. L: Peter Borschberg, Jacques de Coutre as a Source for the early 17th Century History of Singapore, the Johor River, and the Straits, in: Journal of the Malaysian Branch of the Royal Asiatic Society 81.2 (2008), 71–97. Ders., The Singapore and Melaka Straits: Violence, Security and Diplomacy in the 17th Century, Singapur / Leiden 2010. PETER BO R SC H B ER G
Cricket →Kricket Cromberger. Drucker- und Kaufmannsfamilie in Sevilla, betrieb die erste Buchdruckerei in →Amerika (→Buchdruck, kolonialer); Jakob (Jacobo) C. (1472/73–1528), Hans (Juan) C. (1500–1540), Jácome C. (1525–1560) 195
c r o n � k r o n �, f e r d i n A n d
Jakob C. war ein wohl aus Deutschland (→Nürnberg?) stammender Drucker. Er lebte seit ca. 1495 in Sevilla, einem der damals bedeutendsten Druckorte in Spanien. 1500 heiratete er Comincia de Blanquis, die Witwe des Druckers Meinard Ungut. Er übernahm dessen Anteil an der Druckerei Ungut y Polonus, beide aus Neapel eingewandert, in der er vermutlich bereits als Geselle gearbeitet hatte. Ab 1504 war er alleiniger Inhaber des Betriebes, der unter seiner Leitung wichtigste Druckerei der Stadt wurde. Die von ihm verlegten und gedruckten Bücher wurden bis nach Portugal und Nordkastilien verkauft. Daneben beteiligte sich C. am zunehmend wichtiger werdenden Handel mit der Neuen Welt und vertrieb außer Büchern auch zahlreiche andere Güter. Seine kaufmännischen Aktivitäten beschäftigten ihn immer stärker, so daß er ab 1525 bis zu seinem Tod 1528 die Druckerei zusammen mit seinem Sohn Hans (Juan) C. führte. Jakob C. war sowohl ein geschickter Drucker, der handwerklich hochwertige Bücher erstellte, als auch ein Verleger mit Gespür für profitable Editionen. Durch die Beteiligung am Atlantikhandel diversifizierte er seine Geschäfte und konnte damit finanzielle Engpässe im Druckergewerbe überwinden, die viele zeitgenössische Betriebe ruinierten. 1528 übernahm Hans C. eine erfolgreiche Druckerei, die in den folgenden Jahren mehr als die Hälfte aller in Sevilla erscheinenden Bücher produzierte. Auch Hans C. war ein versierter Verleger, der eine große Bandbreite an Titeln herausgab, darunter viele Neuauflagen erfolgreicher Werke. Er erhielt das Monopol für die Buchausfuhr in die Neue Welt und schickte 1539 seinen Mitarbeiter Juan Pablos nach Mexiko-Stadt, der dort die erste Druckerei Amerikas gründete. Mit seinem wachsenden Reichtum erwarb er u. a. Silberminen in →Mexiko. Nach seinem frühen Tod 1540 führte sein minderjähriger Sohn Jácome zusammen mit der Mutter Brígida Maldonado die Geschäfte in Sevilla fort. Zwar erwirkten sie die Verlängerung des Buchhandelsmonopols um weitere zehn Jahre, dennoch verschlechterte sich die ökonomische Lage des Betriebes zusehends. Einerseits wuchs die Konkurrenz lokaler Werkstätten und ausländischer Großbetriebe, andererseits verschärfte sich die Lage im Druckergewerbe durch Zensurmaßnahmen. Die Druckerei wurde von der Familie nach dem Tod Jácome C.s 1560 nicht mehr weitergeführt. In den 60 Jahren ihres Bestehens wurden mindestens 557 Editionen gedruckt. Im Hinblick auf die Neue Welt waren besonders die Briefe von Hernán →Cortés an Ks. →Karl V. u. a. frühe Beschreibungen Amerikas ebenso von Bedeutung wie zahlreiche religiöse Werke für die Missionierung der indigenen Bevölkerung Amerikas. Clive Griffin, The Crombergers of Seville, Oxford 1988. Enrique Otte, Jacob und Hans Cromberger und Lazarus Nürnberger, die Begründer des Deutschen Amerikahandels, in: Günter Vollmer / Horst Pietschmann (Hg.), Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern, Stuttgart 2004, 161– 197. WI E BKE VAN DE YL E N Cron (Kron), Ferdinand, * 1559 Augsburg, † 1637 Madrid, □ unbek., urspr. ev.-luth., seit 1586 rk. 196
Der Sohn des Augsburger Kistlers und Bürgermeisters Heinrich C. vertrat seit 1587 die Handelsfirmen „Markus und Matthäus →Welser“ und „Georg Fuggerische Erben“, die mit der port. Krone Kontrakte über die Abnahme ind. →Pfeffers abgeschlossen hatten, in Ostindien. Nach Auslaufen dieser Verträge 1592 baute C. von Cochin und →Goa aus ein eigenes Unternehmen mit Handelsverbindungen bis nach →Macao und →Malakka auf. Er heiratete 1592 die Portugiesin Doña Isabel Leitoa und integrierte sich in die koloniale Führungsschicht. 1609 ernannte ihn Philipp III. zum Fidalgo des kgl. Haushalts. Im Auftrag der Kg.in rüstete C. Japanflotten aus, deren Profite für den Bau eines Klosters eingesetzt wurden. Seine Augsburger Arbeitgeber und die port. Krone versorgte er mit Informationen aus →Indien, wobei er sich der Landroute bediente. Ferner sandte er ind. Textilien und Edelsteine über Lissabon nach Antwerpen. Ungeachtet seiner Verdienste wurde C. auf Grund wohl unbegründeter Denunziationen als Spion 1619 zeitweilig inhaftiert und 1624 gefangen nach Portugal gebracht. In Madrid, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte, erreichte er seine Rehabilitation. S. a. →Coutre, Jacques de Hermann Kellenbenz, Ferdinand Cron, in: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 9, Weißenhorn 1966, 194–210. Sanjay Subrahmanyam, An Augsburger in Ásia Portuguesa, in: Roderich Ptak / Dietmar Rothermund (Hg.), Emporia, Commodities and Entrepreneurs in Asian Maritime Trade, c. 1400–1750, Stuttgart 1991, 401–425. MA RK H Ä BER LEIN Crowther, Samuel, * 1811 Osogun (Iseyin), † 31. Dezember 1891 Lagos, □ Lagos, anglik. C. wirkte als anglik. Bischof, Theologe und Linguist in →Sierra Leone und →Nigeria. Geboren 1811 in Osogun im Yorubaland, wurde er als Zehnjähriger von Sklavenjägern entführt und an port. Sklavenhändler verkauft. Später wurde er von einem brit. Marineschiff im Zuge der Anti-Sklaverei-Kampagne (1807 erließ GB das Gesetz gegen den →Sklavenhandel) befreit. Anschließend kam er nach →Freetown in Sierra Leone, wo er als Hausangestellter einer Missionarsfamilie arbeitete und die Schule besuchte. 1825 wurde C. getauft und nahm den Namen Samuel C., in Erinnerung eines anglik. Pfarrers, an. Später besuchte C. das 1827 gegründete Fourah Bay College bei Freetown. Nach seinem Schulbesuch arbeitete er ab 1829 als Lehrer und heiratete die ehem. Sklavin Asano Susanna. 1841 begleitete C. den Missionar Jakob Friedrich Schön auf einer Expedition, der ihn zur Ausbildung für den kirchlichen Dienst empfahl. C. ging nach London und studierte Theologie am Islington College. Nach seinem Studium wurde er 1843 durch den Bischof von London zum Priester geweiht. Nach kurzer Rückkehr nach Sierra Leone begann C. ab 1845 seine Missionstätigkeit in Abeokuta, Yorubaland, zusammen mit den Missionaren H. Townsend und K.A. Gollmer. Die drei errichteten Schulen und Werkstätten. In Abeokuta traf C. auch seine Mutter wieder. Später wurde er von der Church Missionary Society mit der Gründung und Leitung einer Mission in Onitsha für das Nigergebiet (→Niger) beauftragt, die er 1857 gründete, und wo er auch Christen aus Sierra Leone ansiedelte. 1864 wurde er in
czek A n o ws k i , A le� An d er
Canterbury zum Bischof des Nigergebiets geweiht, und wählte Lagos als Bischofssitz. C. war der erste schwarzafrikanische Bischof überhaupt. Er starb in Lagos, wo er auch beerdigt wurde. Zu den bedeutendsten Leistungen C.s gehörten die Übersetzung der Bibel ins Yoruba und zahlreiche theologische Werke. V. a. seine linguistischen Arbeiten förderten entscheidend die Verschriftlichung der Yoruba-Sprache. Paul Hair, The Early Study of Nigerian Languages, Cambridge 1967. Lamin Sanneh, The CMS and the African Transformation, in: Kevin Ward u. a. (Hg.), The Church Mission Society and World Christianity, Grand Rapids 2000, 173–197. Andrew Walls, The Legacy of Samuel Ajayi Crowther, in: International Bulletin of Missionary Research, 16(1), Ventnor City 1992, 15–21. T I L O GRÄT Z
Curaçao →Antillen Custer, George Armstrong, * 5. Dezember 1839 New Rumley / Ohio, † 25. Juni 1876 Montana Kavallerieoffizier während des →Am. Bürgerkriegs und Kämpfer gegen die Indigenen im Westen der →USA; C. diente nach seinem Abschluß in Westpoint (1861) im Stab General George McClellans. Wegen seines Wagemuts rasch befördert, wurde er nach dem Bürgerkrieg als Oberstleutnant in Fort Riley / Kansas, stationiert. 1876 führte er sein Kavallerieregiment gegen das Bündnis von Cheyenne und →Sioux in Montana (→Sitting Bull und Crazy Horse). Hier wurde sein Regiment am 25.6.1876 von einer überlegenen indianischen Armee aufgerieben, nachdem er, entgegen der Warnung seiner Scouts, den offenen Kampf gegen die Indianer gesucht hatte. Jeffrey D. Wert, Custer, New York 1996. NORBE RT F I NZ S CH
Cuzco (auch Cusco). Stadt und Region im südöstlichen →Peru. Ehem. Inka-Hauptstadt und wichtige Kolonialstadt in den zentralen Anden. Die Stadt C. liegt auf ca. 3 380 m Höhe im fruchtbaren Tal des Huatanay-Flusses zwischen den Flußtälern Vilcanota/Urubamba und Apurimac. Inkaische Ursprungsmythen berichten von einer Wanderung der ersten Inka in das Huatanay-Tal, wo das Geschwisterehepaar Manco Inca und Mama Ocllo C. gegründet hätten. Nach archäologischem Befund fielen die Stadtgründung und die Entstehung des Inkastaats in die späte Killke-Periode (1200–1400 n.Chr.). Um 1400 hatten die Inka die Region um C. unter ihrer Führung vereinigt. Keimzelle des im 15. Jh. expandierenden Inkareichs (Tahuantinsuyu) war dessen Hauptstadt C., die von Inka Pachacuti Yupanqui grundlegend umgestaltet worden sein soll. Um 1500 prägten das Stadtbild der Hauptplatz Aucaypata und mörtellos gemauerte Gebäude zwischen den kanalisierten Flüssen Huatanay/Saphi und Tullumayu: Paläste der Inkaherrscher, das Sonnenheiligtum Coricancha und die Festung Sacsayhuamán. In Ober- und Unterstadt lebten mehr als 20 000 Ew. Bei der →Eroberung Perus (→Peru, Eroberung) zog Francisco →Pizarro im Nov. 1533 plündernd in C. ein und gründete die Stadt als eine span. neu (23.3. 1534). Sie wurde 1536 während ihrer Belagerung durch Manco Inca massiv beschädigt,
bald aber neu aufgebaut. Ein Teil des Inkahauptplatzes wurde zur Plaza de Armas, wo im 16.–17. Jh. Cabildo, Kathedrale und Jesuitenkirche (→Jesuiten) entstanden. Man errichtete über dem Coricancha das Dominikanerkloster, auf Grundmauern von Inkapalästen Kirchen und Residenzen für Eroberer. Nach dem schweren Erdbeben von 1650 wurde die Stadt weiter gemäß span. Vorstellungen verändert. Auf Grund von Naturkatastrophen, Epidemien und Migration sank die Bevölkerungszahl der Provinz C. von ca. 350 000 Ew. Ende des 16. Jh.s auf 130 000 Ew. (1689), bevor sie 1792 ca. 300 000 Ew. erreichte. In der Stadt C. lebten im frühen 17. Jh. ca. 20 000 Menschen, 1689 waren es ca. 13 000, Ende des 18. Jh.s 32 000; die Zahl der indigenen Stadtbewohner sank von 77 % auf 45 % (1689–1792). Die Inka blieben auch in der Kolonialzeit die dominierende indigene Gruppe in C. Sie beherrschten die Dörfer der Provinz C. und nahmen als hispanisierte Eliten am wirtschaftlichen und zeremoniellen Leben teil. Durch die 1535 gegründete Hauptstadt des →Vize-Kgr.s, →Lima, verlor C. zwar an politischem Gewicht, blieb aber ein wichtiges Zentrum im südandinen Raum. In kultureller Hinsicht verbindet man mit der Stadt etwa den dort geborenen Autor →Garcilaso de la Vega el Inca (1539–1616) und die indigen-mestizische Malerschule von C. (17.–18. Jh.). Die wirtschaftliche Bedeutung der zwischen Hochland und Amazonastiefland (→Amazonas) gelegenen C.-Region verdankte sich der Textilproduktion, der Viehzucht sowie dem Anbau von Weizen, Mais, Zuckerrohr (→Zucker) und Coca. Die Stadt C. war zudem ein Knotenpunkt auf der Handelsroute zwischen →Lima und der Bergbaustadt (→Bergbau) Potosí, bis die Schaffung des neuen VizeKgr.s von La Plata und die Einführung des →Freihandels (1776/1778) Silbertransport und Güterhandel über C. obsolet machten, was zum wirtschaftlichen Niedergang der südlichen Anden beitrug. Aus der Region um C. stammte der bekannteste andine Rebell des 18. Jh.s: José Gabriel Condorcanqui (1738–1781), der sich nach dem letzten, 1572 in C. hingerichteten Inkaherrscher Tupac Amaru nannte, wurde im Mai 1781 ebenda geköpft. Obwohl die Nachkommen des Inka-Adels in C. diese Rebellion nicht unterstützten, verbot die Krone Manifestationen des Inka-„Nationalismus“ und errichtete 1787 hier den Sitz einer →Audiencia. Nach der Unabhängigkeit Perus (1824) wurde C. Hauptstadt des gleichnamigen Departamento. Dessen Grenzen stimmten mit denen der 1784 gegründeten Intendancia überein und blieben vom späten 18. Jh. bis heute fast identisch. Brian S. Bauer, Ancient Cuzco: Heartland of the Inca, Austin 2004. David T. Garrett, Shadows of Empire, Cambridge u. a. 2005. Raúl Porras Barrenechea, Antología del Cuzco, Lima 1992. O TTO D A N WERTH Czekanowski, Alexander, * 1832 im Gouvernement Wolhynien, genaues Geburtsdatum unbek., † 30. Oktober 1876 St. Petersburg, □ unbek., rk. Der polnische Naturforscher studierte in Kiew und Dorpat Medizin. Wegen seiner Teilnahme am polnischen Aufstand von 1863 wurde er von der Zaren-Reg., wie die meisten Beteiligten dieses Aufstands, ins sibirische Irkutsk, einen traditionellen Verbannungsort (→De197
d A g A m A , vA s c o
kabristen), verbannt. Die Verbannung war jedoch kein schweres Los. Im Auftrag der →Russ. Geographischen Gesellschaft erforschte C. die →Geologie des Gouvernement Irkutsk. In den 1870er Jahren folgten →Expeditionen an die Untere Tunguska und an die Lena. 1876 wurde er vom Zaren begnadigt und ging nach St. Petersburg, verübte jedoch wenig später Selbstmord. 1877 wurde sein Wörterverzeichnis zur tungusischen Sprache posthum veröffentlicht. John J. Stephan, The Russian Far East, Stanford 1994.
Doch angesichts der zunehmenden angelsächsischen Dominanz wurden die verbliebenen dän. Indienbesitzungen (Tranquebar, Serampore und Balasore) 1845 an die brit. East India Company (→Ostindienkompanien) verkauft. 1848 scheiterten endgültig die Kolonisierungsversuche auf den Nikobaren; 1868 gab Dänemark alle Ansprüche auf die Inselgruppe zu Gunsten Großbritanniens auf. Stephan Diller, Die Dänen in Indien, Südostasien und China (1620–1845), Wiesbaden 1999. Martin Krieger, Kaufleute, Seeräuber und Diplomaten, Köln u. a. 1998.
E VA- MARI A S TOL BE RG
JÖ R G H A U PTMA N N
Da Gama, Vasco, Graf von Vidigueira * um 1469 Sines, † 24. Dezember 1524 Cochin, □ zunächst in der Kirche des Hl. Franz von Assisi in Cochin beigesetzt, 1538 nach Portugal überführt und begraben in der Kapelle des Klosters Nossa Senhora das Relíquias in Vidigueira, rk. Der port. Abenteurer, Entdecker und Reg.sbeamte leitete die erste erfolgreiche Expedition von Portugal über den Seeweg nach →Indien und erreichte →Calicut am 20.5.1498. Zuvor war da G. bereits 1492 von Kg. Johann II. von Portugal nach Setubal, einen Hafen südlich von Lissabon, und an die Algarve beordert worden, um frz. Schiffe aufzubringen, eine Vergeltungsmaßnahme für Plünderungen port. Schiffe in Friedenszeiten – eine Aufgabe, die da G. erfolgreich ausführte. Im folgenden ernannte ihn der neue Kg. Manuel I. zum Anführer einer Expedition nach Indien, die der Route Bartolomeu Dias folgen sollte, der bereits 1488 das →Kap der guten Hoffnung umrundet und so den Weg in den →Ind. Ozean geebnet hatte. Die Expedition verließ Portugal 1497 und erreichte Calicut 1498, navigiert durch einen ind., musl. Lotsen aus Ostafrika. Nach seiner Rückkehr wurde da G. in Portugal und dem Rest der Welt als Pionier in den Beziehungen zwischen Orient und Okzident verklärt. Er unternahm zwei weitere Reisen nach Indien und starb 1524 in Cochin. Kavalam M. Panikkar, Asia and Western Dominance, London 1959. Sanjay Subrahmanyam, The Career and Legend of Vasco Da Gama, Cambridge 1997.
Dänische Goldküste. Die afr. Besitzungen des →Dän. Kolonialreiches wurden zumeist unter dem Sammelbegriff „D. G.“ oder „Dän.-Guinea“ zusammengefaßt. Diese Kolonien stellten jedoch nie ein zusammenhängendes Territorium dar, sondern bestanden aus Stützpunkten bzw. Handelsposten an der Küste des heutigen →Ghana, wo die Dänen mit anderen Europäern wie Briten, Niederländern, Portugiesen, Franzosen, Schweden und Brandenburgern rivalisierten. Die Forts dienten vom 17. bis in das beginnende 19. Jh. ganz überwiegend dem →Sklavenhandel nach →Amerika. Als erste dän. Niederlassung wurde 1650 Kongesten bei Ada errichtet. Es folgten 1657 die Stützpunkte Witsten in Takoradi und William in Anomabu sowie Cape Coast und Christiansborg bei →Accra 1659. Der letztgenannte Ort wurde zum dän. Hauptquartier ausgebaut und konnte mit Unterbrechungen, wie zeitweiligen →Eroberungen durch Einheimische, diese Position bis Mitte des 19. Jh.s behaupten. Takoradi und Cape Coast wurden bereits in den 1660er Jahren von den Briten übernommen. 1784 legten die Dänen erneut Niederlassungen in Ningo, Ada und Keta im Westen der Goldküste und als letzten Stützpunkt 1787 Teshie unweit Christiansborg an. Mit dem Verbot des Sklavenhandels durch die europäischen Staaten zu Beginn des 19. Jh.s (in Dänemark 1803) verloren die westafr. Kolonien ihren wirtschaftlichen Wert, zumal neue Handelsgüter wie Palmöl noch nicht erschlossen waren. 1850 gaben die Dänen ihre territorialen Ansprüche an der Goldküste zugunsten Großbritanniens auf. Trotz ihrer für die Geschichte des Landes destruktiven Auswirkung werden die Forts im heutigen Ghana als Bestandteil seines kulturellen Erbes verwaltet.
L E NI TA CUNHA E S I LVA
Dänisch-Indien umfaßte die von 1620 bis 1845/48 auf dem ind. Subkontinent (→Indien) bestehenden dän. Besitzungen. Ihre Geschichte ist eng mit der Dän.-Ostind. Kompanie (1616–1840) verknüpft. Zentrum war die südind. Stadt →Tranquebar (Tharangambadi) mit dem Fort Dansborg. Seit dem 17. Jh. wurden weitere Handelsstützpunkte insb. an der →Malabarküste (Oddeway Torre 1696–1722, →Calicut 1752–91, Colachel 1755– 1824) und in →Bengalen (Pipli 1625- vor 1643, Balasore 1636–1643, 1763–1845, Gondalpara/Danmarksnagore 1698–1714, Serampore/Frederiksnagore 1755–1845) errichtet. Wiederholt wurde seit 1754 versucht, die Inselgruppe der Nikobaren/Frederiksøerne (→Andamanen und Nikobaren) in Besitz zu nehmen. Während sich in den Konflikten des 17. und 18. Jh.s die politische Neutralität wiederholt vorteilhaft für den dän. Asienhandel erwies, besetzten die Briten infolge des dän.-frz. Bündnisses zur Zeit Napoleons D.-I. (1801/02 und 1808–1815). Nach dem Wiener Kongreß folgte 1815 die Rückgabe. 198
U LR ICH BR A U K Ä MPER
Dänisches Kolonialreich. Das d. K. bestand aus der →Dän. Goldküste, Dän.-Westindien, →Dän.-Indien und →Grönland. Dän.-Guinea war eine Handelskolonie an der Küste von →Ghana, die durch eine Reihe von Forts gesichert war, die die Dän. Afr. Kompanie (1674 mit der Dän.-Westind. Kompanie zur Westind.-Guineischen Kompanie fusioniert) errichtet hatte. Sitz des Gouv.s war Fort Christiansborg im heutigen →Accra. Aus Dän.Guinea wurden v. a. Sklaven nach Dän.-Westindien verschifft. Nachdem Dänemark 1803 als erster europäischer Staat den Sklavenhandel verboten hatte, rentierte sich Dän.-Guinea nicht mehr. Um die Unterstützung Großbritanniens im Dt.-Dän. Krieg zu gewinnen, wurde es am 17.8.1850 an Großbritannien verkauft. Dän.-Westindien bestand aus den drei Antilleninseln (→Antillen) St.
d A h o m ey
Thomas (Inbesitznahme 1671), St. John (Inbesitznahme 1718) und St. Croix (1735 von Frankreich gekauft). Zunächst Eigentum der Westind.-Guineischen Kompanie, fiel es nach deren Auflösung 1755 mit Dän.-Guinea an den dän. Staat. Die Zahl der dän. Ew. war gering, das Gros der Bevölkerung bestand aus engl. und ndl. Siedlern. Dän.-Westindien lebte vom Export von →Zucker und →Rum, mit deren Gewinnung 1802 ca. 35 000 aus Afrika verschleppte Sklaven beschäftigt waren. Die Konkurrenz durch europäischen Rübenzucker und die Abschaffung der →Sklaverei 1848 machten die Kolonie seit Mitte des 19. Jh.s wirtschaftlich immer unattraktiver. Am 4.8.1916 verkaufte Dänemark Dän.-Westindien für 25 Mio. Golddollar an die →USA. Der Vertrag wurde nach einer Volksabstimmung i. Dänemark (14.12.1916) ratifiziert u. trat am 1.4.1917, nur wenige Tage vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg, offiziell in Kraft. Die Inselgruppe heißt seitdem US Virgin Islands. Dän.-Indien setzte sich aus den beiden Handelsniederlassungen im bengalischen Serampore und in →Tranquebar an der Südostküste →Indiens sowie der Tranquebar vorgelagerten Inselgruppe der Nikobaren (→Andamanen und Nikobaren) zusammen. In Tranquebar warfen Textilherstellung und -handel hohe Gewinne ab. Die Niederlassung in Serampore exportierte v. a. Textilien, →Gewürze, Zucker und →Kaffee. Im 18. Jh. profitierte Dän.-Indien von der Neutralität Dänemarks in den großen europäischen Kriegen. Dän. Schiffe waren die einzigen, die das Handelsgut der Kriegsparteien gefahrlos nach Europa transportieren konnten. Seit dem frühen 19. Jh. bewirkte die extrem aggressive Konkurrenz der Briten den allmählichen wirtschaftlichen Niedergang Dän.-Indiens. Q: Isidor Palewonsky, Eyewitness Accounts of Slavery in the Danish West Indies, St. Thomas 1987. L: Eva Heinzelmann u. a. (Hg.), Der dän. Gesamtstaat. Ein unterschätztes Weltreich?, Kiel 2006. Dieter Lohmeier (Hg.), Sklaven – Zucker – Rum, Heide in Holstein 1994, insb. 7–20. CHRI S TOP H KUHL Dagombakriege. Die Dagomba sind eine →Ethnie, die den nördlichen Teil des heutigen →Togo und →Ghana bevölkert. Schon im 15. Jh. gründeten die Dagomba ein Kgr., das sich bis zum Süden der schwarzen Volta ausdehnte. Im Laufe der nächsten fünf Jh.e bis ins 19. Jh. hinein hatten die Dagomba mehrere Kriege gegen das Kgr. der →Ashanti geführt. Ab Mitte des 18. Jh.s wurde das Dagomba-Kgr. von den Ashanti besiegt, und mußte diesen Tribute aus Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) zahlen. Diese Kriege nahmen die an der Goldküste etablierten Engländer zum Anlaß, um gegen 1874 Schutzverträge mit der an der Küste wohnenden Bevölkerung zu schließen. 1884 war es auch den Deutschen gelungen, die dt. Flagge in Baguida und in →Lomé wehen zu lassen (→Flaggenhissung in den dt. Kolonien). Von da an begann der Lauf um die →Eroberung des Hinterlandes. Im Nordtogo, südlich von Sansane Mangu, erhob sich das muslimische Volk der Dagomba-Konkomba 1896 gegen das Eindringen deutscher Truppen. Anfangs durchaus erfolgreich, wurden die Krieger der DagombaKonkomba, obwohl zahlenmäßig überlegen, bis 1898
durch eine Truppe togolesischer Kolonialsoldaten unter Leitung des Leutnant Valentin von Massow in einer Serie von Gefechten besiegt. Entscheidend für den Erfolg der deutschen Kolonialtruppe war zum einen die bessere Bewaffnung u. Ausrüstung, zum anderen aber auch das rücksichtslose Vorgehen v. Massows, der die Zivilbevölkerung durch das planmäßige Niederbrennen ihrer Dörfer in den Krieg mit einbezog. Von allen kriegerischen Auseinandersetzungen in Togo während der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft waren die D. die blutigsten und dauerten am längsten. Karl-Heinz Hasselmann, Bassar. Historische Streiflichter aus vorkolonialer u. kolonialer Zeit, Simmern 2012. Peter Sebald, Togo 1884–1914, Berlin 1988. YA O ESEBIO A B A LO / H ERMA N N H IERY
Dahomey. Fruchtbare und wasserreiche Region, die sich vom Golf von →Guinea ca. 600 km ins westafr. Binnenland erstreckt und seit der Kolonialzeit 112 622 km2 umfaßt. Sie grenzt im Westen an →Togo, im Osten an →Nigeria und im Norden an →Niger und →Obervolta (→Burkina Faso). Die 9,056 Mio. Ew. (2010) sind mehrheitlich Sudanesen (davon →Ewe 60 %, Yoruba 15 %). 45 % bezeichnen sich als Christen, 28 % als Muslime; der Rest hat animistische Glaubensvorstellungen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in den Küstengebieten. Die nördlichen Landesteile sind nur dünn besiedelt. Die im 15. Jh. aus dem nördlichen Togo eingewanderte kleine →Ethnie Fon verschaffte sich mit Hilfe der von Portugiesen im Tausch gegen Sklaven erworbenen Feuerwaffen nach und nach die Herrschaft über das Land. Gemäß Überlieferung nannte sich ihr Oberhaupt nach Vorbildern aus musl. geprägten nigerianischen Gebieten ab ca. 1610 „Kg.“. Das von ihm regierte Reich war wegen seiner Sklavenjagden, die sich bis weit in den Norden und Westen erstreckten, gefürchtet. Dafür stand dem Herrscher eine bis auf 7 000 Männer und 5 000 Frauen („Amazonencorps“) ausgebaute Berufsarmee zur Verfügung. Der Sklavenhandel bildete bis ins 19. Jh. die wirtschaftliche Grundlage des Staates. Hauptabnehmer waren →Brasilien (bis zum dort 1888 erlassenen Verbot der →Sklaverei) und Inseln der →Karibik. In Konkurrenz zu port. Stützpunkten gründete auf Initiative von Ludwigs XIV. Finanzminister Colbert die Compagnie des Indes Orientales Stützpunkte an der Küste. Diese wurde zunächst in Frankreich, ab Mitte des 18. Jh.s allg. in Europa „→Sklavenküste“ genannt. Ein Versuch Portugals, dort 1886 durch Verträge mit lokalen Autoritäten ein →Protektorat zu errichten, scheiterte. Nach der Niederlage des indigenen Kg.s Behansin gegen eine frz. Armee, die hier erstmals Kolonialtruppen aus dem →Senegal einsetzte, fiel D. 1895 an Frankreich. Im folgenden Jahr erfolgte die Eingliederung in das Generalgouvernement Afrique Orientale Française. 1946 wurde D. Überseeterritorium, 1958 Autonome Rep. innerhalb der Communauté Française. 1960 erlangte das Land, ohne darauf vorbereitet worden zu sein, die Unabhängigkeit. Als Folge waren die innenpolitischen Verhältnisse labil. Es kam zu fortwährendem Wechsel in der Staatsführung unter Eingriffen der sich als die Elite verstehenden Armee. Eine 1969 erlassene Verfassung existierte weitgehend nur auf dem 199
dAkAr
Papier. 1975 erfolgte durch eine linksorientierte Reg. in Anlehnung an die Hochkultur von →Benin im heutigen Nigeria geschichtsklitternd die Umbenennung des Staates in Volksrep. Benin. Als Folge der durch die Sozialisierungen eingetretenen verheerenden Wirtschaftslage und des Zusammenbruchs des das Land stützenden Sowjetimperiums kam es ab 1990 zu einer politischen Neuorientierung, die eine Demokratisierung Benins bewirken soll. Das Land zählt weiterhin zu den ärmsten Afrikas. Es ist besonders bei der Ausbildung der stark wachsenden Bevölkerung, im Gesundheitswesen und in der Infrastruktur rückständig (laut Human Development 134. Platz von 169). Französisch ist weiterhin alleinige Staatssprache. Die Bevölkerung benutzt daneben über 50 Regionalsprachen und -dialekte. Das Land gehört zum Währungssystem (→Währung) des →CFA-Franc. Robert Cornevin, Histoire du Dahomey, Paris 1962. Ulf Hagemann, Das Kgr. Dahomey zwischen Sklavenhandel und frz. Kolonie, www.lwg.uni-hannover.de [4.10.2013]. Patrick Manning, Slavery, Colonialism and Economic Growth in Dahomey 1640–1960, Cambridge u. a. 1982. GE RHARD HUT Z L E R
Dakar. Die Hauptstadt des →Senegal sowie der Region D. ist die größte Stadt des Landes (ca. 1 Mio. Ew.) und die westlichste des afr. Kontinents. Auf der Halbinsel Cap Vert gelegen, vereint die Region D. auf 0,28 % der Fläche (550 km²) mehr als 20 % der Ew. und 80 % der Wirtschaftsleistung des Senegal. D. ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt (Seehafen, Flughafen) für Westafrika, Sitz der Banque Central des Etats de l’Afrique de l’Ouest sowie höherer Bildungsanstalten (Université Cheikh Anta Diop, Institut Fondamental d’Afrique Noire). Bereits 1765 kaufte der Gouv. von →Gorée ein Dorf namens D. (Wolof: Ndakaaru) auf der Halbinsel Kap Vert vom Kg. des Wolofreiches Kayor. Seit 1800 kam die Halbinsel zunehmend unter den Einfluß der Lebu (Wolof). Ab 1845 gab es verstärkt Versuche, die Halbinsel unter frz. Einfluß zu bringen und die Lebu zurückzudrängen. Mit der Fertigstellung der Eisenbahnverbindung D. – Saint-Louis (1886) beschleunigte sich die Besiedlung. 1887 wurde D. administrativ von Gorée unabhängig, 1902 zum Sitz des General-Gouvernements für Afrique Occidentale Française (AOF). In Reaktion auf eine Pestepidemie (1914, →Pest) entstanden verschiedene Stadtteile: das von Europäern bewohnte Plateau (heute Sitz vieler internationaler Organisationen), das Hafenviertel, in dem Europäer und Afrikaner zusammenlebten und die für Afrikaner vorgesehene Medina. Von 1904 bis 1945 stieg die Ew.-zahl D.s von 18 000 auf 150 000. Seit 1957 ist D. die Hauptstadt des Senegal. Obwohl D. mit der Unabhängigkeit (1960) und dem Zerfall der AOF einen wirtschaftlichen und politischen Bedeutungsverlust hinnehmen mußte, stieg die Ew.-zahl bis 1990 auf eine Mio. an. Seit 1990 gibt es das international bekannte zweijährig stattfindende Kunstfestival Dak’Art (biennale d’art africaine contemporaine). Gegenwärtig unterteilt sich die Region D. in vier Departments (D., Pikine, Guédiawaye, Rufisque) und das Department D. in 19 Stadtbezirke. 200
Assan Seck, Dakar, métropole ouest-africaine, Dakar 1970. Alain Sinou, Comptoirs et villes coloniales du Sénégal, Paris 1993. G EO RG MATERN A Dalit-Bewegungen. Die D.-B. gehören zu den einflußreichsten gesellschaftlichen Bewegungen im modernen →Indien. Im weiteren Sinne können sie als politische und kulturelle Widerstandsbewegungen der sog. „unteren Kasten“ und/oder „Unberührbaren“ gegen die „hochkastigen“ Hindus (→Hinduismus) oder die brahmanische Vorherrschaft betrachtet werden. Zwar verorten einige Wissenschaftler die Ursprünge der D.-B. in den Anfängen des →Kastensystems, doch in ihrer heutigen Form entstanden sie erst in der Kolonialzeit. Der allg. Gebrauch des Begriffs D. als Selbstbeschreibung untergeordneter Gruppen der Kastengesellschaft stammt aus den 1960er Jahren. Wörtlich übersetzt bedeutet er „gebrochen“ oder „zerstört“. Die Annahme dieser Bezeichnung kennzeichnet an sich einen Wandel der Ideologie der D.-B. – weg von der passiven Annahme von Zugeständnissen, die Hindus höherer Kasten ihnen gewährten (z. B. durch die von →Gandhi gegründete Harijan Sewak Sangh, der „Vereinigung im Dienst des ‚Volkes Gottes’“ – wie Gandhi die D. nannte), hin zur →Emanzipation von innen heraus durch das Einfordern der eigenen Rechte und den Kampf gegen Ungerechtigkeit (vertreten z. B. durch die „D. Panthers“, 1967). Die D.-B. der Kolonialzeit traten v. a. durch die provokative Aneignung bestimmter prestigeträchtiger ritueller Symbole in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, bspw. durch das Tragen der heiligen Schnur der religiös Initiierten oder das Betreten von Tempeln der hochkastigen Bevölkerung (z. B. im Rahmen der Vaikkam-Satyagraha, 1924/25 und der Guruvayur-Satyagraha, 1930/31). Neben religiöser Gleichrangigkeit wurden aber auch soziale Rechte gegenüber den Hindus der höheren Kasten eingefordert. Verschiedene Widerstandsformen, von Aufständen über Boykotte bis hin zu gewaltlosem Widerstand (→Satyagraha), wurden angewandt, um die Rechte der D. zu behaupten. An dem Brauch des nadar (Frauen hatten barbusig vor Brahmanen zu erscheinen) entzündeten sich die Travancore-Unruhen (1859). Namasudras in →Bengalen weigerten sich 1872, auf den Feldern von Grundbesitzern der Kayastha-Kaste zu arbeiten. 1927 organisierte →Ambedkar in Mahad eine Satyagraha gegen eine Verordnung der Stadtverwaltung, die „Unberührbaren“ das Trinken aus öffentlichen Wasserreservoirs verbot. Die soziale Verbundenheit und die Widerstandsbereitschaft unter den D. wurde durch Bewegungen unter der Führung von Persönlichkeiten wie z. B. Narayan Guru in Kerala gestärkt. Sie betonten schlichte Hingabe und soziale Gleichheit und stellten so die brahmanisierten Grundlagen des hinduistischen Kastensystems in Frage. Mitglieder von Bewegungen wie Ad Dharma im →Panjab und Adi Hindu in den United Provinces behaupteten, die „ursprünglichen“ (adi) Ew. des Subkontinents zu sein, die durch zugewanderte Bevölkerungsgruppen der Arier (die mit den Hindus der höheren Kasten identifiziert wurden) unterworfen worden seien. Sie forderten nicht nur Anerkennung sondern auch Entschädigung für dieses „historische Unrecht“. Die Satnampanthis unter den
d An i lews k i , ni k o lA i
Chamars (d.i. Dalits) aus Chhattisgarh nahmen für sich in Anspruch, über den Brahmanen zu stehen. Obwohl diese Bewegungen zeitlich beschränkt waren, trugen sie dazu bei, den Zusammenhalt der D. zu stärken und ein Bewußtsein gegen die soziale Hierarchie der brahmanisierten Gesellschaft zu schaffen. Persönlichkeiten wie →Ambedkar und die von ihm geführte Bewegung, die einen vergleichsweise dauerhaften Einfluß auf die D.-B. hatten, auch über die Unabhängigkeit hinaus, kämpften für säkulare und politische Lösungen gegenüber sozialer und religiöser Benachteiligung. Diese D.-Verbände und Organisationen kämpften nicht nur für den Zugang zu öffentlichen Institutionen für die Mitglieder ihrer Gemeinschaft, sondern auch für Quotenregelungen der Reg. auf Kastenbasis, um eine adäquate Vertretung von D. im Staatsdienst sicherzustellen. Sekhar Bandyopadhyay, Caste, Protest and Identity in Colonial India, Richmond 1997. Martin Fuchs, Kampf um Differenz, Frankfurt/M. 1999. Gail Omvedt, Dalit Visions, Delhi 2006. P RABHAT KUMAR Dallmann, Eduard, * 11. März 1830 Flethe bei Bremen, † 23. Dezember 1896 Blumenthal (jetzt Ortsteil von Bremen), □ Familiengrab auf dem Friedhof der alten ref. Kirche in Bremen-Blumenthal, ev.-ref. Ausbildung als Seemann. 1861 Kapitänspatent. 1872 Auftrag der Dt. Polar-Schiffahrtsgesellschaft zur Erkundung der antarktischen Wal- und Robbenbestände. Mit dem Dampfsegler Groenland 1873/74 Eindringen in die Packeisregion der →Antarktis und Entdeckung u. a. der Bismarck-Straße sowie der Ks.-Wilhelms-Inseln. 1877– 1884 Beteiligung an der Erschließung des Seeweges entlang der Nordküste →Sibiriens bis zum Ob und Jenissei. Dabei Betreten der Wrangel-Insel als erster Europäer. 1884–1885 seemännische Leitung der von Otto →Finsch mit dem Dampfer Samoa durchgeführten Erkundungsfahrten nach Neuguinea und den vorgelagerten Inseln. 1887–1893 im Dienste der →Neu-Guinea-Compagnie Kartographierung der Nordostküste Neuguineas. D. galt bei seinen Zeitgenossen als hervorragender Navigator und sehr umsichtiger Schiffsführer. Er hat wichtige Pionierarbeit in außereuropäischen Gewässern geleistet. Das vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung auf King George Island / Süd-Shetland Islands betriebene D.-Labor erinnert an ihn. In Bremen wurde 1928 die Kapitän-D.-Straße nach ihm benannt. Peter Michael Pawlik, Von Sibirien nach Neu-Guinea. Kapitän Dallmann, seine Schiffe und Reisen 1830–1896. Ein Lebensbild in Selbst- und Zeitzeugnissen, Bremen 1996. GE RHARD HUT Z L E R Dalrymple, Alexander, * 24. Juli 1737 Newhailes (Musselburgh), † 19. Juni 1808 London, □ St. Marylebone Parish Church, anglik. D. diente von 1753 bis 1763 als Schreiber und Sekretär der brit. Ostindien-Kompanie EIC (→Ostindienkompanien) in →Madras, von wo aus er 1759–1763 im Auftrag der Kompanie Teile des südlichen Indiens und der →Philippinen auskundschaftete. Nach seiner Rückkehr 1765 nach England wurde er bekannt als ein führender Verfechter der Theorie eines großen bisher unentdeck-
ten Südkontinents (Terra Australis Incognita), das als Gegengewicht zu den Landmassen der Nordhalbkugel wirken sollte. 1767 schlug die Kgl. Gesellschaft ihn zum Leiter einer →Expedition in die Südsee vor, die sie zur Beobachtung des Venusdurchgangs 1769 plante, das Kommando über die Expedition aber erhielt schließlich James →Cook, der im Laufe dieser sowie seiner zweiten Entdeckungsreise die Existenz von D.s angenommenem großem Südkontinent endgültig widerlegte. D., der ab 1769 Karten privat veröffentlicht hatte, wurde 1779 von der EIC beauftragt, unter Nutzung von den zahlreichen in deren Besitz befindlichen Schiffsjournalen Karten und Navigationshinweise zu publizieren. Über die nächsten drei Jahrzehnte hinweg veröffentlichte er eine erstaunlich große Anzahl von größeren und kleineren Karten, speziell von Häfen und Küstenstrichen im ostind. und ind. Raum. Während dieser Zeit beriet D. die brit. Reg. auch über geographische Angelegenheiten, und er plädierte für die Erschließung bisher unerforschter Gebiete sowie für die Expansion von brit. Handel; die Entdeckung einer →Nordwestpassage war ihm ein besonderes Anliegen. 1795 wurde er zum Ersten Hydrographen der Admiralität ernannt. D. bekleidete dieses Amt, während er weiterhin in Diensten der EIC stand, bis kurz vor seinem Tode. Andrew Cook, Alexander Dalrymple and the Hydrographic Office, in: Alan Frost u. a. (Hg.), Pacific Empires, Melbourne 1999, 53–68. Howard T. Fry, Alexander Dalrymple and the Expansion of British Trade, London, 1970. JA MES B R A U N D Danilewski, Nikolai, * 10. Dezember 1822 St. Petersburg; † 19. November 1885 Tiflis, □ unbek., russ.-orth. D. war ein bedeutender russ. politischer Schriftsteller, der den Panslawismus beeinflußte. Sein Hauptwerk ist das 1871 in St. Petersburg veröffentlichte Buch „Rußland und Europa“. Hier entwarf D. Rußland als eigenen Kulturtypus. Er war wie andere europäische Denker des 19. Jh.s ein Anhänger der Kulturtypentheorie und der These von der Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung von Zivilisationen. Danach durchlaufen alle Völker die Phasen des Aufstieges, des Fortschritts, der Stagnation und des Verfalls. D. arbeitete wie seine Zeitgenossen mit biologischen Termini. Wesentlich für seine Schrift „Rußland und Europa“ ist die diametrale Gegenüberstellung Rußlands als „slawischen Kulturtypus“ zu dem „germanoromanischen Kulturtypus“ Westeuropas. D. lehnte die Werte des Westens wie Individualismus, Säkularität und Rationalismus ab und plädierte für die russ.-slawischen Werte wie Kollektivismus, Orthodoxie, Emotionalität (im Sinne einer russ. „Volksseele“, was in diesem Zusammenhang als Volkstümlichkeit zu verstehen ist). D. war ein Wegbereiter der späteren „eurasischen“ Denkschule, die um Sergei Trubeckoj in der russ. Emigration der 1920er Jahre entstanden ist. Im heutigen Rußland hat D.s Philosophie großen Einfluß auf die Neokonservativen, die für einen Hegemonieanspruch Rußlands eintreten. Nikolai Danilewski, Rußland und Europa, Stuttgart u. a. 1920. EVA -MA R IA STO LB ER G 201
d A r e s s Al A m
Daressalam (arab. Dār as-Salām = „Haus des Friedens“) liegt an der Küste des →Ind. Ozeans in Ostafrika. Es ist mit ca. 3 Mio. Ew. größte Stadt →Tansanias, zudem Sitz eines lutherischen und eines rk. Bischofs sowie mehrerer Universitäten. Gewöhnlich wird der im 1. Jh. n. Chr. erwähnte Handelsort Rhapta an der Küste von „Azania“ mit dem heutigen D. gleichgesetzt. Der Sultan von →Sansibar begann 1862 mit dem Ausbau eines Dorfes an der Küste, um seine Residenz hierher zu verlegen. Er nannte es Bandar as-Salâm (arab.: „Hafen des Friedens“). Sein Nachfolger gab das Vorhaben auf, ließ aber seine Plantagen in der Nähe des Ortes weiter bewirtschaften. Dessen Nachfolger wiederum verpachtete die gesamte Küste des heutigen Tansania inkl. D. an die →Dt.-Ostafr. Gesellschaft, die das Pachtgebiet 1890 kaufte und 1891 die Verwaltung der Kolonie →Dt.-Ostafrika nach D. verlegte. 1897 wurde in D. das erste große Reg.skrankenhaus eröffnet, 1902/03 im nahegelegenen Amani ein modernes biologisch-landwirtschaftliches Institut, in dem auch Robert →Koch arbeitete. Die brit. Mandatsmacht behielt ab 1920 D. als Verwaltungssitz ihres Tanganyika Territory bei. 1961–1981 war D. Hauptstadt des unabhängigen Tanganjika bzw. seit 1964 des mit Sansibar vereinigten Tansania. 1974 wurde der Reg.ssitz nach Dodoma verlegt. D. blieb wirtschaftliches Zentrum Tansanias; es gibt hier ca. 575 größere Industriebetriebe. Der Hafen von D. gilt als Hauptgüterumschlagplatz für ganz Ostafrika. Die Eisenbahn verbindet D. mit dem Kilimandscharo-Gebiet (→Kilimandscharo), dem →Victoriasee, dem Tanganjikasee sowie mit →Sambia und dem südafr. Bahnnetz. Jürgen Becher, Dar es Salaam, Tanga u. Tabora. Stadtentwicklg. i. Tansania unter dter. Kolonialherrschaft, Stuttgart 1997. GI S E L HE R BL E S S E Dawes-Plan. Der nach dem US-Bankier Charles G. Dawes (* 27 August 1865, † 23. April 1951; Central Trust Co. of Illinois) benannte Bericht eines internationalen Expertenkomitees, das Ende 1923 einberufen worden war, um Vorschläge zur Regelung der deutschen Reparationszahlungen zu erarbeiten. Das am 9. April 1924 veröffentlichte Gutachten, das die Handschrift der USExperten Dawes und seines Kollegen Owen D. Young (*17. Oktober 1874, † 11. Juli 1962; General Electric) trug, sah vor, daß die deutschen Reparationszahlungen bis 1929 auf jährlich 2,5 Mrd. Reichsmark ansteigen sollten. Um die deutsche Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen, erhielt Deutschland eine Anleihe in Höhe von 800 Mio. Reichsmark, die hauptsächlich von der New Yorker Hochfinanz aufgebracht wurde. Zur Sicherstellung des deutschen Schuldendienstes wurden die Reichsbahnen und Teile der deutschen Industrie verpfändet und das Deutsche Reich engmaschigen Finanzkontrollen durch den „Generalagenten für Reparationszahlungen“, einen Amerikaner, unterworfen. Formal traten Dawes und Young als regierungsunabhängige Experten auf, denn die US-Regierung war nicht bereit, eine offizielle politische Verantwortung der USA für die europäische Krise anzuerkennen, die sich 1923/24 durch die französische Ruhrbesetzung und die deutsche Hyperinflation gefährlich zuspitzte. Tatsächlich aber repräsentierte der D. einen breiten Konsens der politischen und ökonomi202
schen Eliten in den USA darüber, daß eine Stabilisierung Deutschlands und Europas im amerikanischen Interesse lag. In der Tat trug der D. entscheidend zur Entschärfung der Reparationskrise bei. Nachdem er im August 1924, unter tatkräftiger Vermittlung der USA, von den europäischen Mächten angenommen worden war, räumte Frankreich das Ruhrgebiet. Der nun einsetzende Zustrom amerikanischen Kapitals nach Deutschland und Europa ermöglichte Deutschland die Zahlung seiner Reparationsverpflichtungen und den Alliierten die Zahlung ihrer Kriegsschulden in den USA. Dieses „Karussell“ sorgte für eine zeitweilige Prosperität, geriet aber bald ins Schleudern und wurde 1929 durch den Young-Plan abgelöst. Die Große Depression machte alle Hoffnungen auf wirtschaftliche Stabilisierung und friedlichen Wandel in Europa zunichte. Manfred Berg, Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika, Baden Baden 1990. Frank Costigliola, Awkward Dominion, Ithaca / London 1984. Bruce Kent, The Spoils of War, Oxford / New York 1989. MA N FR ED BER G
Decken, Carl-Claus von der, * 8. August 1834 Kotzen, † 2. Oktober 1865 Bardera, □ unbek., ev. Ostafrikaforscher. Nach einer Offizierskarriere im Hannoverschen Militärdienst führten Kontakte mit Heinrich →Barth 1860 zur Ausrüstung einer →Expedition. Die Reise des vermögenden Barons von →Sansibar zum Malawi-See (→Malawi) zur Fortsetzung der Forschungen Albrecht Roschers schlug fehl und kam nicht über kartographische Erträge hinaus. 1861 erkundete D. mit dem Geologen Richard Thornton das Gebiet des →Kilimandscharo. Die Angaben des Missionars Johannes Rebmann von 1848 über die Existenz des Gipfelschnees wurden bestätigt. Da die Besteigung scheiterte, unternahm D. 1862 in Begleitung von Otto Kersten einen zweiten Versuch, der unweit der Schneegrenze endete. 1863 führt ihn eine Küstenreise von Lamu zum Cap Delgado, zu den →Komoren und den →Seychellen. Die 1864 vorbereitete Großexpedition zur Erforschung der Flüsse Tana und Juba scheiterte 1865 am Oberlauf des Juba. Der Wegbereiter der wissenschaftlichen Erforschung des Kilimandscharo-Gebietes und der kenyanisch-somalischen Flußsysteme wurde von Somali ermordet. Heinz Schneppen, Sansibar und die Deutschen, Münster 2006. TILL PH ILIP K O LTER MA N N Dekabristen. Am 26.12.1825 (14.12. nach dem Julianischen Kalender) verweigerte eine Gruppe von hochrangigen adligen Offizieren den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. Der Geheimbund wurde von einer oppositionellen Bewegung der russ. Oberschicht getragen, deren politisch-soziales Programm auf das Ende der Autokratie durch einen militärischen Staatsstreich, Einführung parlamentarischer Institutionen und die Aufhebung der →Leibeigenschaft abzielte. Einige der Offiziere waren während der Napoleonischen Kriege nach Westeuropa gekommen und hatten die Rückständigkeit des Zarenreiches erkannt. Nikolaus I. reagierte mit Repressionen. So wurden die fünf Anführer Michail Bestuschew-Rjumin, Pawel Pestel, Sergei Murawjow-Apostol, Kondrati Ry-
d ek o lo n i sAti o n
lejew und Pjotr Kachowski, zum Tod verurteilt, ca. 120 weitere D. nach →Sibirien verbannt. Ungeachtet des Bekenntnisses zur Abschaffung der Autokratie gab es kein einheitliches, stringentes politisches Programm der D. So bildete sich eine sog. „Südgesellschaft“ um den Obersten Pestel (1793–1826) in der Ukraine und eine sog. „Nordgesellschaft“ um Murawjow (1792–1863) mit Sitz in St. Petersburg. Das Programm der Nordgesellschaft kam dem westlichen Demokratiekonzept am nächsten. Murawjow dachte an eine konstitutionelle Monarchie. Dagegen gestand die Südgesellschaft um Pestel zumindest für eine Übergangsreg. diktatorische Vollmachten zu, denn nur so könne radikal eine republikanische Staatsform eingeführt werden. Ein weiterer wesentlicher Unterschied bestand darin, daß Murawjow von einer Gleichberechtigung aller Nationalitäten im Russ. Reich ausging und daher eine Föderation vorschlug. Pestel dagegen befürwortete eine zentralistische Staatsform, wobei er lediglich den Polen Sonderrechte einräumen wollte. Nicht allein die staatlichen Repressionen entzogen den D. die Basis für ein erfolgreiches politisches Wirken, die politische Zerstrittenheit zwischen der „Süd“- und der „Nordgesellschaft“ hat wesentlich zum Scheitern der Bewegung beigetragen. Jedoch spielten die verbannten D. nach 1825 eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft in Sibirien, indem sie z. B. Schulen und Zeitungen gründeten. Hans Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln 1963. Andreas von Rosen, Aus den Memoiren eines russ. Dekabristen, Leipzig 1874. Adam B. Ulam, Rußlands gescheiterte Revolutionen, München 1985. E VA- MARI A S TOL BE RG Dekker, Eduard Douwes, * 2. März 1820 Amsterdam, † 19. Februar 1887 Ingelheim, □ eingeäschert 23. Februar 1887 Gotha, rk. (st. 1842) 1860 erschien in den Niederlanden der Roman Max Havelaar of de Kooffiveilingen der Nederlandsche Handelmaatschappy. Das Buch prangerte die willkürliche Ausbeutung der javanischen Bevölkerung durch einheimische Regenten mit Wissen und Unterstützung der ndl. Kolonialverwaltung an. Der Autor nannte sich Multatuli (lat. „viel habe ich gelitten“). Hinter dem Pseudonym verbarg sich D., der ohne Hoffnung auf Karriere in der Heimat 1839 nach →Batavia ging. Dort war er zunächst in der Verwaltung tätig, bevor er sich nach West-Sumatra (→Sumatra) versetzen ließ, wo er als Kolonialbemater in →Natal Aufstände der unterdrückten Bevölkerung erlebte. Nach weiteren Aufenthalten in Nord-Celebes (→Celebes) und auf →Ambon wurde er 1856 AssistentResident in West-Java. Hier kritisierte er öffentlich – im Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit – die Lage der unterdrückten und wehrlosen Bauern und machte die ndl. Verwaltung dafür verantwortlich. Der Ankläger wurde selbst zum Opfer. Unehrenhaft entlassen, war er ohne Einkommen und kehrte nach Amsterdam zurück. In nur einem Monat schrieb er seinen in Tagebuchform gehaltenen Roman Max Havelaar (1860). Weder die Verwendung des Pseudonyms noch die breite Unterstützung liberaler Kreise, die ohnehin den Zwangsanbau (cultuurstelsel) verurteilten, gaben ihm Schutz vor Verachtung
und Verfolgung durch die ndl. Reg. Er wurde ins Exil nach Deutschland getrieben, 1887 starb er in Ingelheim. D. hat sein Lebensziel, nicht allein mit der Feder, sondern auch mit Wort und Tat erfolgreich für ein gerechteres →Ndl.-Indien zu kämpfen, nicht erreicht. Die literarische Wirkung seines Buches wurde aber schließlich mit Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte (1851/52) und José →Rizals Noli me tangere (1887) verglichen. Im heutigen →Indonesien werden D.s Buch und seine Verfilmung wenig geschätzt. Statt eine kritische Analyse des Systems der indirekten Herrschaft zu liefern und das Ende der Kolonialzeit zu fordern, so der Vorwurf, empöre sich D. moralisierend und idealistisch über Symptome und beleidige die traditionelle Kultur. Die umfangreiche Literatur zu D. und insb. zu „Multatuli“ umfaßte zeitweise eine eigene Zeitschrift, Multatuliana. Eduard Douwes Dekker, Max Havelaar, Amsterdam 1860. Art. „Douwes Dekker, Eduard“, in: ENI, Bd. 1, 638 f. Willem Frederik Hermans, De raadselachtije Multatuli, Amsterdam 1987. WILFRIED WA G N ER Dekolonisation ist der Prozeß, der eine Kolonie, gewöhnlich über die Gewährung von mehr u. mehr autonomen Rechten u. den Abbau kolonialer Herrschafts- u. Verwaltungsstrukturen, schließlich in die pol. Unabhängigkeit entläßt; in weiterem Sinne auch das Ende von politischer Fremdbestimmung durch einen anderen Staat. Geprägt wurde der Begriff vom dt. Nationalökonomen Moritz Bonn (1873– 1965; →Kolonialkritik). Vom Sonderfall →Liberias abgesehen, kann man historisch sieben Hauptwellen von D. festmachen. 1) Latein- u. Mesoamerika, dessen Staaten von Spanien u. Portugal zu Beginn des 19. Jh.s. die Unabhängigkeit erstritten (→Bolivar, Simon), beginnend mit →Ecuador (1809) u. endend mit Uruguay (1828). 2) Naher Osten, Südasien u. Südostasien gegen oder unmittelbar nach Ende des →Zweiten Weltkrieges durch einseitige Erklärung (etwa Syrien von Frankreich 1944, Israel von Großbritannien 1948, →Indonesien von den Niederlanden, →Vietnam von Frankreich, 1945 u. die →Philippinen von den USA, 1946) bzw. auf vertraglicher Grundlage durch die ehem. Kolonialmacht in die Unabhängigkeit entlassen (→Indien und →Pakistan 1947, →Birma u. →Sri Lanka 1948). Dieser Prozeß, der auch die frz. Kolonien einbezog (→Kambodscha u. Laos 1953/54) war mit der Unabhängigkeit →Malaysias 1957 abgeschlossen. 3) Nordafrika, wo die Unabhängigkeit seiner Kolonien zunächst dem Weltkriegsverlierer Italien aufoktroyiert wurde (→Libyen, 1951) u. sich die D. dann in den frz. Protektoraten (→Marokko u. →Tunesien, 1956) u. dem offiziellen ägypt.-brit. →Kondominium →Sudan (1956) fortsetzte, schließlich, nach einem erbitterten Unabhängigkeitskrieg, auch in →Algerien (1962). 4) das brit. u. frz. Westafrika, zusammen mit dem brit. Ostafrika ab Ende der 50er Jahre des 20. Jh.s. Beginnend mit →Ghana (1957) u. →Guinea (1958) über nahezu alle frz. Kolonien (u. a. →Kamerun, →Togo, →Madagaskar, 1960, dazu das ehem. brit. →Nigeria 1960), die belgischen Kolonien (→Ruanda, →Burundi, 1962), mit Verzögerung im brit. verwalteten →Kenia (1963 unabhängig; →Mau Mau) u. 203
d e l A f os s e , e r n e s t f rA n ç o i s m Au r i c e
zuletzt in →Gambia (1965). 5) die ehem. brit. Kolonien in Südafrika ab 1964 (→Malawi u. →Sambia) bis 1968 (→Mauritius, →Swasiland). In diese D.sphase fiel auch die Unabhängigkeit des span. →Äquatorialguinea (1968). Aus der Reihe fällt →Südrhodesien, das als brit. Siedlerkolonie erst 1980 die Unabhängigkeit erlangte (→Simbabwe). 6) die port. Kolonien in Westu. Ostafrika ab 1973 (→Guinea-Bissau) bis 1975 (u. a. →Angola u. →Mosambik) u. die pazifischen Inselstaaten ab 1968 (zuerst →Nauru; →Samoa 1962 fällt aus dem Rahmen; zuletzt →Vanuatu 1980). Schließlich 7) die mit der Zeitenwende 1990 zusammenfallende D. der russ. Kolonien in Zentralasien (zuletzt unabhängig →Kasachstan, 16.12.1991) u. der letzten völkerrechtlich unter Aufsicht stehenden Gebiete, darunter das letzte ehem. Mandatsgebiet des →Völkerbundes (Namibia, 1990) u. die sog. „Trust Territories“ der Vereinten Nationen: die verschiedenen Inselstaaten Mikronesiens (zuletzt →Palau, 1994). Dem D.sprozeß gingen z. T. blutige Auseinandersetzungen u. Befreiungskriege voraus. Diese richteten sich z. T. nicht nur gegen die ehem. Kolonialmacht, sondern gelegentlich auch gegen benachbarte Staaten, v. a. wenn es um den Umfang u. das genaue Ausmaß des neuen Staatsterritoriums ging so daß man zu Recht von Staatsgründungskriegen (bspw. im Falle Israels) sprechen kann. Auffällig ist, daß die →Vereinigten Staaten, die in den 50er u. 60er Jahren des 20. Jh.s die D. durch eine aktiv-fordernde Politik vehement unterstützten, den von ihnen verwalteten abhängigen Territorien erst als letztes die politische Unabhängigkeit gewährten bzw. diese Unabhängigkeit bis in die Gegenwart verweigern (→Guam, US-Samoa, Puerto Rico). Rudolf v. Albertini, Dekolonisation, Köln 1960, 21966. Talbot C. Imlay, International Socialism and Decolonization during the 1950s, in: American Historical Review 118 (2013), 1105–1132. W. David McIntyre, Winding up the British Empire in the Pacific Islands, Oxford / New York 2014. HE RMANN HI E RY Delafosse, Ernest François Maurice, * 20. Dezember 1870 Sancergues / Frankreich, † 16. November 1926 Paris, □ ebd., rk. D. war der Begründer der Afrikanistik in Frankreich. Nach einem Studium an der Ecole des Langues Orientales in Paris 1894 wurde er zunächst als Stipendiat des Muséum d’Histoire Naturelle zur →Elfenbeinküste entsandt, entschloß sich dann jedoch für eine Laufbahn als Kolonialbeamter, in der er administrative mit wissenschaftlichen Tätigkeiten optimal zu verbinden verstand. Seit 1900 unterrichtete er an der Ecole des Langues Orientales, die 1909 einen festen Lehrstuhl für ihn einrichtete. Als einer der Mitbegründer des Institut d’Ethnologie an der Sorbonne war er über die rein akademische Lehre in Sprach- und Sozialwissenschaften auch an der Ausbildung von Kolonialbeamten beteiligt. Somit wurde er in Frankreich Wegbereiter der später als „Angewandte Ethnologie“ bezeichneten Teildisziplin. Seine offenkundig emotionale Zuneigung zu den Afrikanern brachte ihn immer wieder in kritische Distanz zur staatlichen Kolonialpolitik. Zu erwähnen ist sein Beitrag zur Entstehung des 204
International African Institute in London und seiner frz. Dependenz, die seit den 1920er Jahren einen erheblichen Aufschwung der ethnologischen, historischen und linguistischen Forschungen über Afrika bewirkten. Ungeachtet seiner ausgeprägten Praxisorientierung zeigte sich D. in seinen Studien auch an Theorienbildung interessiert, die ihn mitunter allerdings zu unbeweisbaren und spekulativen Schlußfolgerungen führte. Bspw. postulierte er eine Gründung des westafr. Ghana-Reiches (seit dem 3. Jh. n. Chr.) durch hellhäutige Einwanderer aus dem Orient und eine jüdische Herkunft der →Fulbe. Von seinen zahlreichen Werken gilt Haut Sénégal-Niger (1912, 3 Bde.) als das bedeutendste. U LR ICH BR A U K Ä MPER Delaware (Fluß). Der D. entspringt in New York, erreicht unterhalb der kleinen Stadt Easton, Pennsylvania, das atlantische Piedmont und weitet sich hinter der Stadt Wilmington, Delaware zur D.-Bucht. Der Fluß markiert über weite Teile die Grenze zwischen New York und Pennsylvania, die Grenze Pennsylvanias zu New Jersey und zwischen diesem Staat und dem Staat Delaware. Seit seiner Erkundung durch den Niederländer A. van der Donck vor 1650, der den Fluß „Zuidrivier“ taufte, ist der D. einer der wichtigsten Wasserwege der mittelatlantischen Region. Zu einer Art nationaler Ikone wurde der Fluß durch General George →Washingtons Flußüberquerung mit seinem Heer am Weihnachtstag 1776 und seinem erfolgreichen Überfall auf hessische Truppen in Trenton, New Jersey. Ben Cohen, The Delaware and Bay, 1600–1999. A Selective Bibliography, Newcastle 2008. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Delhi. Das historische D. liegt am Westufer des YamunaFlusses. Die früheste Siedlung, Indrapat (auch als Indraprastha bekannt), befand sich auf dem Hügel, auf dem heute Dinpanah liegt. Der Bereich wurde vorübergehend aufgegeben und dann durch die Tomara-Rajputen (→Rajputen) genutzt. Im 11. Jh. erfolgte der Bau einer Zitadelle und einer Außenmauer gegen musl. Angriffe. Nach der →Eroberung durch die Khalji Dynastie des →Delhi-Sultanats ließ Aybak 1192 in einer neu angelegten Festung Qil’a Ray Pithora eine Moschee erbauen. Qil’a Ray Pithora blieb bis 1289 Sitz der Sultane, dann folgte Kilokhri am Ufer des Yamuna. 1320 gründeten die Tughluqiden (→Tughluq Dynastie) östlich der Qil’a Ray Pithora eine neue Stadt („Tughluqabad“). Fünf Jahre später fügte Muhammad bin Tughluq das Fort Adilabad hinzu. Obgleich der Sultan 1327 seine Hauptstadt nach Daulatabad auf den Dekkhan verlegte, ließ er das Gebiet zwischen Siri und der Qil’a Ray Pithora mit einer Mauer versehen. Auf diese Weise entstand das Viertel Jahanpanah. Auch der letzte bedeutende Herrscher des Delhi Sultanates, Firuz Shah, schuf für sich mit Firuzabad einen eigenen Reg.ssitz. Nach dem Einfall Timurs (1398) bauten zwar noch einige Statthalter der Sayyid Dynastie Residenzen in D., doch verlegten die Lodis (→Lodi-Dynastie) ihr Herrschaftszentrum nach →Agra. Erst der Moguln-Ks. Humayun (→Moguln) übernahm wieder D. als Hauptstadt und befahl die Anlage der Festung Dinpanah. In der Folgezeit verlor D. an Bedeutung,
dem Pwo lf f, otto
denn →Akbar und →Jahangir zogen Agra und →Lahore vor. Erst 1639 wurde auf Geheiß Shahjahans der Grundstein für jene neue Palastanlage („Shajahanabad“) gelegt, die man bis heute unter dem Namen „Rotes Fort“ kennt. Aurangzeb, der letzte wichtige Mogulherrscher, verbrachte die meiste Zeit seiner langen Reg.szeit auf dem Dekkhan. 1858 zerstörten die Briten während des →Ind. Aufstandes viele historische Gebäude. Neue Hauptstadt Brit.-Indiens (→British Raj) wurde zudem →Kalkutta. 1911 kehrte man nach D. zurück. Seit 1947 ist NeuD. die Hauptstadt des unabhängigen →Indien (Zensus 2011: 16 314 838 Ew. i. Groß-D.). Robert Frykenberg (Hg.), Delhi Through the Ages, Delhi 1993. Percival Spear, Delhi. Its Monuments and History, Delhi 2008. S T E P HAN CONE RMANN Delhi-Sultanat. Bedeutendes islamisches Reich (→Ind. Reiche) in der Nordhälfte des ind. Subkontinents. Es entstand aus den Raubzügen des Sultans Mu‘izzuddin Ghuri zwischen 1173 und 1206 vom heutigen Afghanistan aus. Nach Ghuris Tod 1206 begründete sein General Quṭbuddin Aibak die sog. Sklavendynastie (1206–1290) und führte die →Eroberungen weiter. Sein Schwiegersohn Iltutmish (1210–1236) festigte das Reich weiter. Das D.S. begriff sich als Bollwerk des →Islam gegen die Mongolen (→Mongolische Expansion). Es stützte sich auf Militärsklaven (Mamluken) und war von häufigen Putschen und Dynastiewechseln gekennzeichnet. Die geographische Ausbreitung des D.S. variierte unter einzelnen Herrschern ebenso wie die Stabilität der inneren Strukturen, besonders der Verwaltung. Die Machthaber entstammten sehr verschiedenen Hintergründen, sahen sich jedoch allg. als Einwanderer und verachteten die Einheimischen, auch musl.; nichtdestotrotz waren sie auf alteingesessene Lokalfürsten und Wirtschaftseliten angewiesen. Die wichtigsten Sultane waren: A‘lauddin Khalji (1296–1315), der bedeutendste Herrscher der Khalji Dynastie (1290–1320), der →Gujarat und den nördlichen Dekkan tributpflichtig machte, Muhammad ibn Tughluq (1325–1351), der die Hauptstadt in den Dekkan verlegte, diesen aber schließlich wieder verlor, und Firoz Shah Tughluq (1351–1388), der in Nordindien eine Friedensperiode einleitete. In die Zeit der →Tughluq-Dynastie (1320–1413) fiel auch die Plünderung →Delhis 1398 durch die Mongolen unter Timur. Danach begann das Sultanat in seine Provinzen zu zerfallen und die Sayyid Dynastie (1414–1451) herrschte faktisch nur noch über das Kernland um Delhi. Der Dynastie der Lodis (1451– 1526, →Lodi-Dynastie) gelang es danach noch einmal Nordindien unter ihrer Herrschaft zu einigen, bevor die →Moguln sich als Herrscher etablierten. Im D.S. wurden die islamische Architektur und Literatur →Indiens begründet. Wichtigster Dichter war Amir Khusrau aus Delhi, der auch historische Werke hinterlassen hat. Weitere Historiker waren Ziya‘uddin Barani, Shamsuddin Siraj ‘Afif, Yaḥya ibn Ahmad Sirhindi und ‘Isami (→Chroniken und Geschichtsschreibung in Südasien). Peter Jackson, The Delhi Sultanate, Cambridge 1999. Kamal S. Srivastava, A Political, Social and Cultural History of Delhi Sultanate, Delhi 2007. S T E P HAN P OP P / XE NI A Z E I L E R
Dembei Tatekawa →Atlassow Demographie. Wissenschaft, die sich auf Grundlage statistischer Untersuchungen mit der langfristigen zahlenmäßigen Entwicklung der Bevölkerung befaßt. Der europäische →Kolonialismus hatte in allen Weltregionen, denen er sich zuwandte, erhebliche demographische Verwerfungen zur Folge, die zahlenmäßig im Einzelnen allerdings schwer zu erfassen sind, da einschlägige statistische Grundlagen meist nur lückenhaft, wenn überhaupt, vorhanden sind. Für Mittel- und Südamerika wird für die Zeit zwischen 1492 und 1650 der Rückgang der indianischen Bevölkerung von ca. 35 auf ca. vier Mio. Menschen geschätzt. Ursache dieses Rückgangs waren v. a. eingeschleppte Krankheiten. Die Zahl der eingewanderten Europäer und der eingeführten schwarzafr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) lag bis Ende des 17. Jh.s bei je ca. 700 000. Das im weiteren Verlauf geringe Wachstum der weißen und das starke Anwachsen der Mischlingsbevölkerung, die bis Ende der Kolonialzeit einen Anteil von 32 % der Bevölkerung erreichte und mehrheitlich aus Mestizen (→Casta) bestand, ist v. a. darauf zurückzuführen, daß der Frauenanteil unter den eingewanderten Europäern mit höchstens ⅓ relativ gering war. In Afrika führten neben Krankheiten gewalttätige Auseinandersetzungen während der Kolonialherrschaft in einigen Regionen, z. B. dem Kongo-Freistaat, zu drastischen Bevölkerungsrückgängen. Für den afr. Kontinent lassen sich vergleichbar genaue Globalangaben wie für →Lateinamerika infolge fehlenden statistischen Materials und regional stark abweichender Bestimmungsfaktoren für die Bevölkerungsentwicklung nicht machen. In →Australien ging durch Krankheiten und zahlreiche von europäischen Siedlern systematisch verübte →Massaker die Zahl der Ureinwohner (→Aborigines) zwischen 1788 und 1860 von ca. 500 000 auf ca. 180 000 zurück. S. a. →Bevölkerungsentwicklung Walther L. Bernecker u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 1, Stuttgart 1994, 313–328, 597–605. Leonhard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jh., München 22006, 157–162. Ben Kiernan, Erde und Blut, München 2009. C H R ISTO PH K U H L Dempwolff, Otto, * 25. Mai 1871 Pillau (Baltijsk), † 27. November 1938 Hamburg, □ Hamburg-Ohlsdorf W 32/427, ev.-luth. Als promovierter Mediziner arbeitete D. 1895–1897 bei der →Neu-Guinea-Compagnie und anschließend bis 1911 als Sanitätsoffizier bei der Kol.verwaltung bzw. →Schutztruppe (→Dt.-Südwestafrika, →Dt.-Ostafrika). Mit den Sprachen Afrikas und Austronesiens begann er sich nach dieser Tätigkeit intensiv zu beschäftigen, so daß er sich 1920 an der Universität Hamburg habilitieren konnte (Afr. und Südseesprachen). Seine Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Austronesistik hatten auf internationaler Ebene für lange Zeit Vorbildcharakter (besonders seine Vergleichende Lautlehre des austronesischen Wortschatzes, die 1934–1938 in Berlin erschien (3 Bde.). Darüber hinaus hat er sich in der Bantuistik (→Bantu) betätigt und über das Sandawe und das Nama, zwei Khoisansprachen, Einschlägiges publiziert. 205
d e nhA r dt, c l e m en s
Ernst Dammann, Zur Erinnerung an Otto Dempwolff, in: Africana Marburgensia 4 (1971), 71–77. T HOMAS S TOL Z
Denhardt, Clemens, * 3. August 1852 Zeitz, † 7. Juni 1928 Bad Sulza, □ Stadtfriedhof Bad Sulza, ev-luth. Denhardt, Gustav, * 16. Juni 1856 Zeitz, † 17. Juli 1917 Leipzig, □ Unterer Johannisfriedhof Zeitz, ev-luth. Aus wohlhabender Familie stammend, interessierten sich die Brüder D. schon früh für Aktivitäten in Übersee. 1878/79 unternahmen sie zusammen mit dem Arzt Gustav Adolph Fischer eine Forschungsreise nach Ostafrika, die die Erkundung und Kartographierung der Tana-Region zum Ziel hatte. Als wissenschaftliches Ergebnis veröffentlichte Clemens D. 1883 eine Anleitung zu geographischen Arbeiten bei Forschungsreisen. 1884 starteten die Brüder eine →Expedition in das in der nordöstlichen Küstenregion →Kenias gelegene Sultanat Witu. Dort schlossen sie im Apr. 1885 mit dem Sultan Ahmad ibn Fumo Bakari einen Vertrag, durch den die von den Brüdern gegründete Tana-Gesellschaft ein Gebiet an der kenianischen Küste von ca. 1 600 km² erwarb. Clemens D. beantragte dafür den Schutz des Dt. Reiches, der am 27.5.1885 erteilt wurde. Ca. 1 350 km2 des Landes übertrugen die Brüder auf die Dt. Witu-Gesellschaft, an der sie die Mehrheit hielten. Im →Helgoland-SansibarVertrag verzichtete das Dt. Reich auf Ansprüche im Sultanat Witu. Die D.s erstritten daraufhin vom Reich eine Entschädigung von 150 000 Mark. GE RHARD HUT Z L E R
Denkmäler, koloniale. Ob es sich um das Reiterdenkmal in Windhoek / →Namibia oder das früher sog. „KolonialEhrenmal“ in Bremen handelt, bis heute zeugen Denkmäler in Deutschland, Afrika und in der Pazifikregion davon, daß das Dt. Reich zwischen 1884 und dem Ersten Weltkrieg zum Kreis der europäischen Kolonialmächte gehörte. Die vor dem Ersten Weltkrieg im „Mutterland“ errichteten K. dienten der Popularisierung und Propagierung des mit Größe, nationalem Prestige und Weltmachtstreben konnotierten Kolonialgedankens. Über die Erinnerung an „große dt. Kolonialpioniere“ wie Hermann von Wissmann und Carl →Peters oder gefallene Kolonialsoldaten sollte die Identifikation der Deutschen mit dem in Übersee liegenden Kolonialreich gestärkt werden. Ebenso war der Heldenkult in den Kolonien nicht allein eine Sache der Trauer um die umgekommenen Kolonialdeutschen. Die dort aufgestellten Monumente waren in erster Linie Herrschaftsmale, durch die der eroberte koloniale Raum symbolisch besetzt werden sollte. Nach dem Ende des Dt. Reiches als Kolonialmacht 1919 wurden die alten und die bis Ende der 1930er Jahre neu geschaffenen K. Kultstätten, an denen die dt. Kolonialbewegung aufmarschierte, um öffentlichkeitswirksam neokoloniale Propaganda zu betreiben. Was die in den vormaligen dt. Kolonialgebieten stehenden Monumente betrifft, so wurden sie zumeist von den neuen Mandatsmächten demontiert. Die Denkmalplastiken wurden an Deutschland zurückgegeben und dort erneut aufgestellt. Eine Ausnahme stellt das ehem. →Dt.-Südwestafrika 206
(heute Namibia) dar, wo die neue südafr. Mandatsmacht die Denkmäler ausnahmslos unangetastet ließ und sie bis auf den heutigen Tag zur historisch-politischen Topographie des Landes gehören. Selbst nach der 1990 erfolgten Unabhängigkeit Namibias kam es nicht zu dem von vielen Weißen befürchteten Bildersturm. Nach 1945 wurden nicht wenige der nach dem →Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch erhaltenen Kolonial(krieger)denkmäler abgetragen, in der DDR flächendeckend. Der nun einsetzende weltweite Dekolonisationsprozeß brachte es mit sich, daß das alte eurozentristisch geprägte Welt- und Geschichtsbild zu erodieren begann. Es kam in der Bundesrep. Deutschland zu Denkmalstürzen, was die Musealisierung von K. (→Kolonialmuseen) und Umwidmung zu „antikolonialen Mahnmalen“ einschließt; letzteres ging stets auf zivilgesellschaftliches Engagement zurück, v. a. auf Dritte-Welt- und Solidaritätsgruppen. In das Gedenken mit eingeschlossen wurde nun auch die in den →Kolonialkriegen umgekommene und bis dato aus dem Gedächtnis ausgeschlossene Kolonialbevölkerung. Durch die symbolische Aufwertung der afr., ozeanischen und chin. Opfer sollte die Schuld früherer, im dt. Namen begangener Kolonialverbrechen abgetragen werden. In der offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik Deutschlands spielt der →Kolonialismus hingegen keine oder allenfalls eine marginale Rolle. Winfried Speitkamp, Kolonialherrschaft und Denkmal, in: Wolfram Martini (Hg.), Architektur und Erinnerung, Göttingen 2000, 165–190. Joachim Zeller, Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein, Frankfurt/M. 2000. Ders., Zwischen Wilhelmshaven und München: (Post-) Koloniale Erinnerungskultur in Deutschland, in: Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hg.), Kolonialismus hierzulande, Erfurt 2008. JO A CH IM ZELLER Dependenztheorien entstanden in den 1960er und 1970er Jahren als genuin lateinam. Alternative zu bisherigen, meist „westlichen“ Entwicklungsstrategien (→Entwicklung). Eine kleine, hinsichtlich ihrer disziplinären Ausrichtung und ihrer Methoden heterogene Gruppe von lateinam. Ökonomen und Soziologen, v. a. aus →Argentinien, →Brasilien und →Chile, machte sich auf, um konkrete Situationen der Abhängigkeit (Dependenz, dependencia) zu untersuchen. In der D. sahen sie einen Erklärungsansatz für die Unterentwicklung, und in ihrer Analyse glaubten sie den Schlüssel für Lösungen zu deren Überwindung zu finden. Neben der CEPAL sorgten universitäre Institute und einige Planungsbüros lateinam. Staaten für einen lawinenartigen Verstärkereffekt der wichtigsten Thesen. Wissenschaftler und Technokraten aus diesen Institutionen bildeten eine Bewegung mit einem gemeinsamen Fokus. Die Kategorie der D. fand in popularisierter Form Eingang in die Massenmedien, in Schulbücher und in das künstlerische Schaffen. V. a. in Südamerika breitete sich ein D.-Diskurs aus. Die Resonanz war groß, weil das Aussagefeld der D. nicht nur auf eine theoretische Grundannahme verwies, sondern zugleich auch eine lateinam. Befindlichkeit reflektierte. D. waren konstitutiver Bestandteil lateinam. Identität. Gemeinsam vertraten die Anhänger der D.-Bewegung die These, daß die lateinam. Entwicklungsdefizite auf
d erech o i n d iA n o
eine jh.ealte, die nationale Souveränität deformierende Fremdeinwirkung, von den Spaniern über die Engländer bis zu den →USA, zurückzuführen war. Die Fehlentwicklung wurde als fremdgesteuert und historischstrukturell bedingt empfunden. Abhängigkeit war die logische Konsequenz der ungleichen Handels-, Kapital-, Technologie- und Humankapitalbeziehungen. Im Prozeß der weltweiten Ausdehnung des Kapitalismus wurde die Welt in Zentren und Peripherien eingeteilt – diese Denkfigur wurde wie das Theorem des ungleichen Tausches von den Cepalisten übernommen. Jede Etappe der wirtschaftlichen Entwicklung →Lateinamerikas wurde als Resultat der Interaktion zwischen äußeren wirtschaftlichen Strukturen und inneren Bedingungen verstanden. Man kann die D.-Bewegung in eine „orthodoxe“ (auch: „holistische“) und eine „unorthodoxe“ Richtung einteilen. Ein Vertreter des „orthodoxen“ Ansatzes war bspw. André Gunder Frank, repräsentativ für die „unorthodoxe“ Perspektive Fernando Henrique Cardoso. Der „orthodoxe“ Ansatz zeichnete sich durch utopisches Wunschdenken, einen hohen Politisierungsgrad und fehlenden Falsifizierungswillen aus, während bei der „unorthodoxen“ Perspektive diese Elemente lediglich in abgeschwächter Form auftreten. In den 1980er und 1990er Jahren verstärkte sich die Kritik an der D.-Theorie. Hervorgehoben wurden in diesem Zusammenhang folgende Punkte: Erstens sei die Gültigkeit „Großer Theorien“ zur Analyse und zur Überwindung von Unterentwicklung nicht gegeben (dabei übersahen die Kritiker mehrheitlich, daß die Vertreter der D. fast immer Abhängigkeitssituationen untersuchten und keine geschlossenen Theorien präsentierten). Zweitens wurde moniert, daß die Entwicklungswege lateinam. Länder und Gesellschaften trotz ähnlicher kolonialer Erfahrungen sehr unterschiedlich waren und daher nicht mit einem gemeinsamen Raster analysiert werden könnten. Das Konzept der →„Dritten Welt“ halte einer empirischen Überprüfung nicht stand. Drittens wurde hervorgehoben, daß die Anhänger der D.-Thesen innere Faktoren, die zu Unterentwicklung führten, nicht angemessen berücksichtigten. Viertens erachteten die Kritiker die Handlungsempfehlungen, die sich aus der Analyse von Abhängigkeitssituationen ergaben, für problematisch: Für Maßnahmen wie die Abkoppelung vom Weltmarkt („Dissoziation“) und – damit verbunden – den Zusammenschluß mit anderen lateinam. Staaten, der Übergang zu „autozentrierter Entwicklung“, die Rückbesinnung auf eigene Ressourcenpotentiale, die Zerschlagung von Monokulturen und Latifundien sowie Verstaatlichungs- und Besitzumverteilungsprogramme könne nicht der empirische Nachweis erbracht werden, daß sie zu einer „besseren“, nachhaltigeren Entwicklung führten. Mit dem Übergang zu autoritären Regimen in den meisten lateinam. Ländern in den 1970er Jahren wurden die Thesen der D.-Anhänger schließlich mit Gewalt aus der Welt geschafft. Der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der offenkundige Mißerfolg des kubanischen Modells sorgten schließlich dafür, daß D.-Theorien vollends obsolet wurden, wenngleich das sich seit dem Washington Consensus durchsetzende neoliberale Paradigma ebenfalls keine überzeugenden
Lösungsansätze für die lateinam. Entwicklungsprobleme bot. Walther L. Bernecker / Thomas Fischer, Entwicklung und Scheitern der Dependenztheorien in Lateinamerika, in: Periplus 5 (1995), 98–118. Robert A. Packenham, The Dependency Movement, Cambridge (Mass.) 1992. TH O MA S FISC H ER
Deportation. In kolonialem Kontext konnte D. die Zwangsverschickung straffällig gewordener Europäer in eine Kolonie oder die straffällig gewordener bzw. politisch unliebsamer Indigener von einer Kolonie in eine andere bedeuten. Großbritannien nutzte seit dem 18. Jh. v. a. →Australien, Frankreich, →Neukaledonien und Guyana für die D. von Straftätern (→Strafkolonien). Die hohen Kosten sowie der mit der Zahl freier europäischer Siedler in diesen Kolonien ständig wachsende Protest gegen weitere D. von Kriminellen bewirkten im 19. Jh. fast überall die Einstellung der D. (Australien 1867, Neukaledonien 1894, Frz.-Guyana erst 1951). Das Dt. Reich führte die D. dt. Straftäter in seine Kolonien gar nicht erst ein, nachdem sich 1895/96 die →Gouv.e aller dt. Kolonien dagegen ausgesprochen hatten. Die D. einheim. Bevölkerungsgruppen aus einer Kolonie in eine andere kam jedoch auch im dt. Kolonialreich vor. So wurden etwa die Überlebenden des →Herero-Nama-Aufstandes aus →Dt.-Südwestafrika nach →Togo und →Kamerun deportiert, wo viele von ihnen umkamen. Frankreich griff in Reaktion auf den seit den 1940er Jahren in seinen nordafr. Kolonien bzw. →Protektoraten wachsenden Nationalismus des öfteren zur D. 1945 wurde der Vorsitzende der algerischen Volkspartei, Achmed →Messali Hadj, nach Frz.-Äquatorialafrika deportiert, was die Situation für Frankreich ebenso wenig verbesserte wie 1953 die D. des marokkanischen Kg.s Mohammed V., dem Paris zu große Sympathie für nationalistische Kräfte in →Marokko zur Last legte, nach →Madagaskar. Nicht zuletzt ist auf die D. zahlreicher Indianer auf Anordnung der US-Reg. in den 1830er Jahren zu verweisen (→Cherokee), die Tausende Betroffene das Leben kostete. Ben Kiernan, Erde und Blut, München 2009. K. Rathgen, Deportation, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 294f. C H R ISTO PH K U H L Derecho Indiano. In der rechtshistorischen Forschung v. a. durch Ricardo Levene (Introducción a la Historia del D., 1924) etablierte Bezeichnung für das →Recht, das in den zur span. Monarchie gehörenden Reynos de las Indias anwendbar war. Dieses D. im weiteren Sinne wird unterteilt in das D. im engeren Sinn sowie in das Recht Kastiliens und die indigenen Rechte. Das D. im engeren Sinn bezeichnet die speziell für die oder in der Neuen Welt geschaffenen Normen und wurde bald in Ordenanzas oder Cédularios (→Encinas) gesammelt, bevor 1680 die Recopilación de los Reynos de las Indias (RI) einen Teil der Normenproduktion überarbeitet zusammenfaßte. Das kastilische Recht war von Anbeginn der Expansion das Modell für die rechtliche Ordnung und wurde bald für grundsätzlich anwendbar erklärt (Real Cédula →Karls V. von 1530, später leicht modifiziert in RI 2.1.2 und 1614 restriktiv ergänzt, RI 207
d e r n b ur g , b e r n h Ar d
2.1.39, 40). Damit wurden zugleich die frühneuzeitliche kastilische Rechtsquellenvielfalt sowie die Regeln über den Anwendungsvorrang übertragen (Ordenamiento de Alcalá de Henares, 1348; Leyes de Toro, Ley I, 1505); danach war dem kastilischen ius proprium das ius commune subsidiär nachgeordnet, so daß mit dem mittelalterlichen römischen und kanonischen Recht auch die opinio doctorum eine Systemstelle erhielt. Daneben trat das Gewohnheitsrecht der indigenen Bevölkerung, das in begrenztem Umfang anwendbar war (RI 2.1.4). Dieses nach der Theorie der Rechtsanwendung gezeichnete Bild suggeriert freilich eine Systematik, die so nie Realität war. Deswegen, weil trotz der Offenheit für soziologisches Rechtsdenken bei Ricardo Levene und seinen Schülern bald legalistische und etatistische Paradigmen des späten 19. und frühen 20. Jh.s auf die Vorstellung vom D. übertragen wurden, wegen der unterschätzten Bedeutung der Rechtsgewohnheiten u. a. handlungsleitender, dem Recht funktional vergleichbarer Autoritäten (Theologie, Morallehren), wird der Forschungsbegriff D. in zunehmendem Maße kritisiert. Auch werden in jüngerer Zeit v. a. die erheblichen regionalen Differenzen, die Bedeutung des lokalen Rechts und die Kontinuitäten über die Unabhängigkeit hinaus unterstrichen, wodurch der Begriff weitgehend auf eine inhaltlich offene, forschungspraktische Epochenbezeichnung reduziert wird. Víctor Tau Anzoátegui, Nuevos Horizontes en el Estudio Histórico del Derecho Indiano, Buenos Aires 1997. Ders., Una visión historiográfica del Derecho indiano provincial y local, in: José de la Puente Brumke u. a. (Hg.), Derecho, instituciones y procesos históricos, Lima 2008, Bd. 2, 309–336. T HOMAS DUVE Dernburg, Bernhard, * 17. Juli 1865 Darmstadt, † 14. Oktober 1937 Berlin, □ Mausoleum im Berliner Friedhof Grunewald, jüd., ev.-luth. (ab 1871) Der aus einer angesehenen Gelehrtenfamilie stammende Sohn des nationalliberalen Publizisten Friedrich D. (1833–1911) entschied sich entgegen der Familientradition zu einer kaufmännischen Ausbildung im Bankwesen in Berlin (Berliner Handels-Gesellschaft) und New York (Ladenburg, Thalmann & Co.). Bereits 1890 Geschäftsführender Direktor der zum Einflußbereich der Dt. Bank zählenden Dt.-Am. Treuhand-Gesellschaft, der Vorgängerin der Dt. Treuhand-Gesellschaft. 1892 juristische Promotion. 1901 Vorstandsmitglied der Bank für Handel und Industrie in Berlin (Darmstädter Bank-Gruppe). In dieser Funktion gemeinsam mit Hugo Stinnes Sanierung luxemburgischer und lothringischer Montanbetriebe und deren Zusammenschluß zur Dt.-luxemburgischen Bergwerks-AG. 1906 Berufung zum preußischen Bevollmächtigten beim Bundesrat, nach Entlassung Oscar →Stuebels am 5.9.1906 zum Direktor der KolonialAbteilung des Auswärtigen Amtes als Konzession an die liberalen Kräfte im Reichstag. Nach den Aufständen in den Kolonien und der Aufdeckung von Kolonialskandalen war ein radikaler Kurswechsel in der bisherigen Kolonialpolitik nötig. Die anschließende Reformphase ist so stark von D. geprägt, daß man von der Ära D. sprach. Zunächst boten die Ablehnung des Nachtragsetats und die Angriffe von SPD und Zentrum auf die Ko208
lonialverwaltung den äußeren Anlaß zur Auflösung des Reichstages, zu den folgenden sog. Hottentottenwahlen (25.1.1907) und zur Bildung des Bülow-Blocks (→Bülow). Neben dem im Wahlkampf gesteigerten nationalen Interesse für die Kolonien war es diese parlamentarische Neugruppierung, welche die Voraussetzung für D.s Reformpolitik schuf. Im Mai 1907 wurde D. erster Staatssekretär des neugeschaffenen →Reichskolonialamtes. Nach Bestandsaufnahmen, denen auch Informationsreisen nach →Dt.-Ostafrika und →Dt.-Südwestafrika dienten, begann er die Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft nach rationalen, ökonomischen und wissenschaftlichen Kriterien zu reformieren. Es gelang ihm, die Reichszuschüsse für die →Schutzgebiete zu reduzieren. Neben durchgreifenden organisatorischen und personellen Veränderungen im Beamtenapparat, einer speziellen Ausbildung der Kolonialbeamten und der kolonialen Finanzreform setzte er den Schwerpunkt auf wirtschaftspolitische Fördermaßnahmen. Als eine seiner Hauptleistungen wurde die verkehrstechnische Erschließung durch forcierten Eisenbahnbau gesehen. Neuartig war seine Haltung in der Eingeborenenpolitik. Er bemühte sich um eine humane Behandlung der Eingeborenen, dieses – wie er sich ausdrückte – wichtigsten Aktivums der Kolonien, und deren Schutz u. a. durch eine konsequentere und gerechtere Gesetzgebung. Seine (vermeintliche?) Privilegierung großer Kapitalgesellschaften in den afr. Kolonien führte 1910 zu scharfen Angriffen im Reichstag („Millionengeschenke“), die ihn im Juni 1910 zum Rücktritt veranlaßten. 1913–1918 Angehöriger des preußischen Herrenhauses. 1914–1915 Sonderbeauftragter der Reichsreg. und des Dt. Roten Kreuzes in den →USA. Nach Kriegsende Mitbegründer der Dt. Demokratischen Partei. 1919 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Kurzzeitig Vizekanzler und Reichsfinanzminister im Kabinett Scheidemann. Aus Protest gegen Annahme des →Versailler Vertrages Rücktritt von diesen Ämtern. 1920–1930 Reichstagsmitglied der DDP, ohne besonders hervorzutreten. 1931 bis 21.8.1934 Vorsitzender des Aufsichtsrats der zur Bewältigung der Bankenkrise gegründeten Akzept- und Garantiebank. Die politische Karriere D.s war ungewöhnlich und singulär: Ein linksliberal gesinnter Finanzmann bürgerlicher Herkunft und jüdischer Abstammung, ohne das – für die damalige Zeit wichtige – Reserveoffizierspatent, ohne akademischen Werdegang und ohne Erfahrungen in der Politik wurde zum Staatssekretär berufen und gelangte damit in die Führungsschicht des wilhelminischen Ksr.s. Umfangreicher Nachlaß im Bundesarchiv Koblenz. Eigene Publikationen (Auswahl): Zielpunkte des Dt. Kolonialwesens, Berlin 1907; Koloniale Finanzprobleme, Freiburg i. Br. 1907; Industrielle Fortschritte in den Kolonien, Berlin 1909. L: Werner Schiefel, Bernhard Dernburg. 1865–1937. Kolonialpolitiker und Bankier im Wilhelminischen Deutschland‚ Zürich / Freiburg i. Br. 1974. K ATH A R IN A A B ER METH / G ERH A R D H U TZLER
Desarrollo hacia afuera (Entwicklung nach außen). Der Begriff d. h. a. entstammt den ersten programmatischen Schriften der CEPAL. Unter dieser Vokabel versteht man ein liberales, auf den Weltmarkt ausgerichtetes
d es ch n j o w
Entwicklungsmodell (→Entwicklung), das die modernen Eliten →Lateinamerikas ca. 1850 als Paradigma annahmen und bis in die 1930er Jahre beibehielten, als sie sich auf Grund global veränderter Bedingungen gezwungen sahen, verstärkt den Binnenmarkt zu bewirtschaften und eine importsubstituierende →Industrialisierung in Gang zu setzen. Das Konzept d. h. a. ist somit auch hilfreich, um die Geschichte (nach wirtschaftlichen Prämissen) zu periodisieren. Nach der Unabhängigkeit beendeten die Entscheidungsträger in den jungen Nationalstaaten Lateinamerikas eine sehr kleine kreolische (→Kreole) Gruppe von Berufspolitikern, Finanziers und Kaufleuten, die während der Kolonialzeit vorherrschende einseitige Ausrichtung auf die „Mutterländer“ und gingen dazu über, den gesamten Weltmarkt mit lateinam. →Rohstoffen und Bergbauprodukten zu bedienen. Im Gegenzug wurden aus Westeuropa und schon bald auch aus den →USA Fertigprodukte, Technologie, Maschinen und Kapital importiert. Voraussetzung für diesen umfassenden Wandel war eine Reihe von Reformen: Eine der ersten Maßnahmen bestand zumeist in der Lockerung der Monopole für den Bau und den Betrieb von Transportlinien. Zugleich wurden die Vorschriften für den Anbau von Exportprodukten – etwa →Tabak, →Kaffee, Indigo oder Koschenille – gelockert. Man senkte die Umsatzsteuern oder schaffte sie ganz ab. Dies führte zu Preissenkungen auf den Verkaufsmärkten. Dadurch wurden lateinam. Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger. Die verbesserten Gewinnaussichten führten dazu, daß Ausländer sich vermehrt in Lateinamerika engagierten. Ihnen wurde ebenso wie den lokalen Eliten erlaubt, Boden zu erwerben und zu handeln. Im Gegenzug wurden auch die tarifären Hemmnisse für den Importhandel gelockert. Außerdem wurden die Arbeitsbeziehungen flexibler gestaltet. Man begann bspw., indianische Gemeinschaften kapitalistischen Regeln zu unterwerfen. Zentral war in diesem Zusammenhang der Versuch, Kommunalland und Reservate von indianischen Gemeinschaften zu privatisieren. Ein Meilenstein war sodann die definitive Beendigung der Sklavenarbeit. Die Umstellung auf das Prinzip der Lohnarbeit hatte erhebliche Auswirkungen in den auf Plantagenarbeit beruhenden Ökonomien →Kubas und →Brasiliens. Darüber hinaus wurde die (rk.) Kirche vom Staat getrennt und die Religionsfreiheit eingeführt. Außerdem gaben immer mehr führende Politiker ein klares Bekenntnis zur Pressefreiheit ab. Durch die Zulassung des Wettbewerbs im Bereich der Meinungen und der Religionen sollten die Kompetenzen des Individuums in der Gesellschaft gestärkt und die Anreize für die private Initiative erhöht werden. Die Einführung der Meinungs- und Religionsfreiheit war in Verbindung mit dem Ausbau der Transportinfrastruktur und der Handelsund Gewerbefreiheit eine wichtige Voraussetzung für die (erwünschte) Einwanderung von Europäern. Das Modell des d. h. a. führte zu einer Dynamisierung der wirtschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika. Die meisten Länder spezialisierten sich auf einige wenige Bergbau- oder Agrarprodukte, die sie exportierten – etwa →Chile auf Nitrat und Kupfer, →Argentinien auf Fleisch und Weizen, →Guatemala auf Kaffee, →Peru auf Guano, →Zucker und Silber. Damit waren sie aber auch von den Welt-
märkten abhängig und oftmals Konjunkturschwankungen ausgesetzt. Außerdem erlangten einige ausländische Firmen wie die →United Fruit Company starken Einfluß auf nationaler Ebene. Dies führte in den 1970er Jahren zur Debatte über das Problem der Dependenz (→Dependenztheorien) in der Entwicklung Lateinamerika. Thomas Fischer, Die verlorenen Dekaden. „Entwicklung nach außen“ und ausländische Geschäfte in Kolumbien 1870–1914, Frankfurt/M. 1997. Raúl Prebisch, El desarrollo económico de América Latina y algunos de sus problemas, in: Boletín Económico de América Latina 7 (1962). TH O MA S FISC H ER Deschnjow (Deschnew), Semjon Iwanowitsch, * 1605 Weliki Ustjug, † 1673 Moskau, genaues Geburts- und Todesdatum unbek., □ unbek. Der russ. →Kosake und „Seefahrer“, welcher der sog. pomorschen, ethnisch-russ. Bevölkerung des russ. Nordens entstammte, umschiffte 1648 als erster Europäer den östlichsten Punkt Eurasiens, das Nordost-Kap. Dieser Vorstoß D.s hätte, sofern er in Europa bekannt geworden wäre, die die damalige Wissenschaft (im Hinblick auf die Hypothese einer einzigen Urheimat des Menschen) brennend interessierende Frage nach dem Vorhandensein einer Landverbindung zwischen Asien und →Amerika verneinend beantwortet. D. traf 1638 im ostsibirischen Jakutsk ein. Daraufhin griffen seine durch die Aussicht auf →Pelze und Walroßzähne motivierten Unternehmungen immer weiter nach Osten aus. 1640 trieb er den Pelztribut an der Jana ein, 1642 wandten sich D. und Michail Staduchin der 1639 (von Posnik Iwanow) entdeckten Indigirka zu. Schon 1644 erreichte D. mit zwölf Kosaken die Kolyma und vereinigte sich dort mit dem Trupp Staduchins, welcher 1643 (mit D. M. Sirjan) die Kolyma entdeckt hatte. Nachdem dieser den Ostrog SredneKolymsk als Ausgangspunkt für weitere Expeditionen gegründet hatte (1644), schloß sich D. 1647 einem von Fedot Alexejew Popow, selbst Agent eines reichen Moskauer Geschäftsmanns, ausgerüsteten Unternehmen an. Dessen Ziel war der in der Sprache der Einheimischen „Pogitscha“ geheißene, später als Anadyr bezeichnete Fluß, an dem es laut Hörensagen große Pelztiervorkommen geben sollte. Aus dem Nichterreichen des Anadyr 1647 resultierte die Expedition im Sommer 1648, die das gleiche monetäre Ziel verfolgte und nichtsdestotrotz in die Geschichte eingehen sollte. D. und F. Alexejew, die über sechs Schiffe und 90 Mann verfügten, gelang die Umrundung des Nordostkaps. Dann wurde D., unfreiwillig getrennt von Alexejew, südlich der Anadyrmündung an Land geworfen. Er schlug sich bis an dieselbe durch, zog den Fluß aufwärts und konnte im Frühjahr 1650 Kontakt zu Kosaken, die von der Kolyma aufgebrochen waren, herstellen, so daß die Entdeckung der Tschuktschen-Halbinsel im Prinzip abgeschlossen war. Selbstverständlich hatte D. zugleich das Beringmeer entdeckt. Aber die Nachricht über seine Entdeckungen verbreitete sich nicht über →Sibirien hinaus. Schließlich fand der dt. Historiker G. F. Müller den relativ aussagekräftigen Reisebericht D.s 1736 in den Archiven von Jakutsk – der zuständige Gouv. hatte das Schriftstück seinerzeit nicht nach Moskau weitergeleitet. Im Juni 1898 bestimmte Ni209
d e t z ne r , he r m An n
kolaus II. per Ukas, daß die Ostspitze Eurasiens fortan „Kap D.“ zu nennen sei. Dietmar Hentze, Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Bd. 2, Graz 1983, 63–66. Peter Littke, Vom Zarenadler zum Sternenbanner, Essen 2003. CHRI S T I AN HANNI G
Detzner, Hermann, * 16. Oktober 1882 Speyer, † 11. Dezember 1970 Heidelberg, □ im Heidelberger Bergfriedhof aufgelassen, rk. D. wurde 1902 Fähnrich, 1903 Leutnant im bayerischen Infanterieregiment 11. 1908 kommandierte man ihn als Oberleutnant zur →Schutztruppe in →Kamerun. Von Sept. 1908 bis Juni 1909 und von Aug. 1912 bis Juni 1913 nahm D. an der brit.-dt. Expedition zur Grenzvermessung zwischen →Nigeria und Kamerun teil (→Grenzfestsetzung). Ende 1913 war er mit der Leitung der brit.-dt. Kommission zur Kontrolle der 1909 getroffenen Grenzvereinbarung im Inneren Neuguineas beauftragt. Am 1.4.1914 wurde er zum Hauptmann befördert. Vom Ausbruch des Weltkrieges wurde D. im Landesinneren überrascht. Er ignorierte die vom geschäftsführenden Gouv. →Haber vollzogene Kapitulation der Streitkräfte und hielt sich mit wenigen einh. Polizeisoldaten (→Polizei) im unwegsamen Gebiet des Zentralgebirges versteckt. Nach eigener Darstellung unternahm er mehrere gescheiterte Versuche, nach →Ndl.-Indien zu gelangen. Erst am 22.12.1918 ergab er sich den australischen Truppen. Nach Deutschland zurückgekehrt und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, ließ er sich als „→LettowVorbeck der Südsee“ feiern. 1920 wurde er zum Major der Reichswehr befördert. 1921 erhielt er eine gut dotierte Position in der Berliner Ministerialbürokratie. Als bekannt wurde, daß Schilderungen seiner Kriegserlebnisse nicht immer wahrheitsgemäß waren und die als eigene Forschungsergebnisse publizierten ethnologischen Beobachtungen großenteils von Missionaren (→Neuendettelsauer Mission) stammten, die ihm im Krieg geholfen hatten, mußte er 1932 den Staatsdienst quittieren und wurde als „Münchhausen der Südsee“ verspottet. Er fand bis 1945 Beschäftigung in einem Heidelberger Verlag. Hermann Detzner, Ks.-Wilhelmsland nach dem Stande der Forschung im Jahre 1919, Berlin 1919. Ders., Vier Jahre unter Kannibalen, Berlin 1920. Ders., Im Lande der Dju-Dju, Berlin 1923. GE RHARD HUT Z L E R Deutsch-Asiatische Bank. Angeregt von Reichskanzler →Bismarck erfolgte die Gründung am 12.2.1889 in Berlin. Gesellschafter waren die Direction der Disconto Gesellschaft (805 Anteile), Generaldirektion der Kgl. Preuß. Seehandlungs-Sozietät (175), Dt. Bank (575), S. Bleichröder (555), Berliner Handels-Gesellschaft (470), Bank für Handel und Industrie (Darmstädter Bank) (310), Robert Warschauer & Co., Berlin (310), Mendelsohn & Co., Berlin (310), Jacob Stern, Frankfurt/M. (470), M. A. Rothschild & Söhne, Frankfurt/M. (310), Norddt. Bank, Hamburg (380), Sal. Oppenheim jr. & Co., Köln (175) und Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank (175). Das Statut legte als Geschäftszweck „Betrieb von Bankgeschäften und Förderung des Handelsverkehrs zwischen Deutschland und Asien“ fest. 210
Depositen- und Girogeschäft innerhalb des Dt. Reiches waren ausgeschlossen. Eintragung in das Gesellschaftsregister (=Handelsregister) des ksl. dt. Generalkonsulats in Shanghai am 15. 5.1889 als Aktiengesellschaft des Allg. Preußischen Landrechtes. Das Grundkapital wurde mit 5 Mio. Shanghai →Tael (2,5 Sh T ≈ 3 Mark) festgesetzt und voll einbezahlt. 1904 Kapitalerhöhung auf 7,5 Mio. Sh T. Zwischen 1890 und 1911 Errichtung von Niederlassungen in den sechs wichtigsten Städten Chinas sowie in →Singapur, →Hongkong, →Kalkutta, Yokohama und Kobe. Die Tätigkeit der Bank konzentrierte sich auf kurzfristige Außenhandelsfinanzierungen sowie Plazierung von Anleihen des chin. Staates und der Eisenbahngesellschaften im Norden Chinas. Auf Grundlage einer durch Karl →Helfferich entworfenen ksl. Verordnung vom 30.10.1904 erteilte der Reichskanzler am 8.6.1906 eine zunächst auf 15 Jahre befristete Konzession zur Ausgabe von auf mexikanische HandelsDollar und lokale Tael lautenden Banknoten durch die im Pachtgebiet →Kiautschou und in China befindlichen Niederlassungen. Daraufhin erfolgte am 26.6.1906 eine Änderung des Bankstatuts. Zur Notendeckung übernahmen die Gründerbanken selbstschuldnerische Bürgschaften. Für die Konzession erhielt der Reichsfiskus eine Abgabe von 1 % p. a. des durchschnittlichen Notenumlaufes. Ende 1912 waren 2,74 Mio. mexikanische Dollar und 132 000 Tael emittiert. Am 24.1.1910 erteilte der Reichskanzler der Bank das Recht zur hypothekarischen Immobilienbeleihung und zur Ausgabe mündelsicherer Hypothekenpfandbriefe in Reichsgoldwährung, lokalen Tael-Währungen (→Währung) und mexikanischen Silber-Dollars. Diese Geschäftssparte erlangte bis zum Kriegsausbruch keine Bedeutung. Im Laufe des Ersten Weltkrieges mußten die Filialen in Ostasien geschlossen werden. Durch den →Versailler Vertrag kam es zur Enteignung. 1922 erfolgte ein Neubeginn in China als Spezialinstitut zur Außenhandelsfinanzierung. Das Ende des →Zweiten Weltkriegs führte erneut zur Schließung. 1953 begann die Bank von Hamburg aus an frühere Verbindungen anzuknüpfen. 1972 ging sie in der durch die Dt. Bank gegründeten Europäisch-Asiatischen Bank auf. Maximilian Müller-Jabusch, Fünfzig Jahre Dt.-Asiatische Bank 1890 / 1939, Berlin 1940. G ERH A R D H U TZLER
Deutsch-Neuguinea. Der nordöstl. Teil der Insel →Neuguinea wurde, zusammen mit dem östl. vorgelagerten Inselarchipel, am 17. Mai 1885 durch zwei kaiserliche Briefe unter dt. Schutz gestellt. Das sog. →Kaiser-Wilhelmsland u. der →Bismarckarchipel, dazu die nördl. →Salomonen (eigener ksl. Schutzbrief vom 13. Dezember 1886), blieben faktisch bis zur Besetzung durch austral. Truppen ab 11. September 1914, völkerrechtlich bis zur Übertragung der Kolonie durch den →Völkerbund als C-Mandat an →Australien am 11. Februar 1921, dt. Kolonie. Zur Verwaltung Dt.-Neuguineas, so der amtliche Name der Kolonie, gehörten auch das 1899 von Spanien erworbene mikronesische Inselgebiet u. st. 1. April 1906 auch die →Marshallinseln, einschließlich →Naurus. Die Administration erfolgte zunächst durch die →Neu-Guinea-Compagnie, vom 1. November 1889 bis
d eu ts ch -n eu g u i n eA
31. August 1892 vorübergehend u. dann ab 1. April 1899 endgültig durch das Reich. Zollrechtlich war D. N., wie alle dt. Kolonien, Ausland. Mit dem dt.-brit. Abkommen über →Samoa vom 14. November 1899 wurden die Shortlandinseln, Choiseul u. Ysabel von D. N. abgetrennt u. Teil der brit. Salomonen. Kolonialvor- u. frühgeschichte. Deutsche gab es seit etwa den 1830er Jahren, verstärkt dann ab den 60er Jahren des 19. Jh.s, in allen Teilen der Südsee. Es waren v. a. dt. Männer, die auf Walfängerschiffen angeheuert hatten u. sich dann als →Beachcomber auf einzelnen Inseln niederließen, einh. Frauen heirateten u. dt.-indigene Familien gründeten. Ihre Herkunft aus Deutschland, vor Ort zunächst irrelevant, benutzte die Firma →Godeffroy ab 1857 auf Samoa, ab ca. 1874 auch im Bismarckarchipel, als Grundlage einer bewußten Handelsstrategie. Sie baute systematisch überall da Handelsstationen auf, wo mit Deutschen Kontakt aufgenommen werden konnte. Diese dt. Zwischenhändler besaßen nicht nur den Vorteil, mit der Fa. auf Dt. kommunizieren zu können – was gegenüber der brit. Konkurrenz vorteilhaft war, weil Marktmechanismen u. Preise eher verborgen werden konnten –, sondern ihre Verankerung in der indigenen Gesellschaft ermöglichte erst den Zugang zu örtlichen Entscheidungsträgern u. lokalen Produkten. Die Präferenz für dt. Siedler-Händler setzte wiederum einen weiteren Zuzug von Dt. in Bewegung. Das Zentrum der dt. Siedler-Händler im später so genannten Bismarckarchipel waren die Duke-of-York-Inseln, die Blanchebucht u. New Ireland – frühere Wasser- u. Proviantstationen der Walfänger. Der ksl. Schutzbrief diente einerseits dem Schutz dt. Handels u. dt. Händler im Bismarckarchipel. Für N. selbst, wo es 1884/85 solchen bzw. solche nicht gab, wurden international humanitäre Beweggründe angegeben, v. a. das sog. „blackbirding“, das Einfangen u. die Entführung melanesischer Männer u. Frauen in die Zuckerrohrplantagen →Queenslands. →Bismarck benutzte dieses Argument, weil bekannt war, daß auch Großbritannien den austral. subimperialistischen Forderungen nach Annexion von N. genau aus diesen Gründen zurückhaltend gegenüberstand. Angesichts völlig ungeordneter Verhältnisse, einer nicht pazifierten Bev., ungesunder Klima- u. Gesundheitsverhältnisse kamen mit der NGC aus Europa v. a. Abenteurer, gescheiterte Individueen u. Verbrecher ins Land, die ihre Probleme in Alkoholexzessen zu ertränken suchten u. teilweise vorhandene Gewaltphantasien an Arbeitern u. der indigenen Bev. austobten. Diese versuchte, die weißen „masalai“ (Geister) durch traditionelle Mittel wie Magie, Vergiften oder offenes Bekämpfen wieder loszuwerden. Gewalt war auch im bereits kolonisierten D. N. lange Zeit eine Alltagserfahrung. Der Aufbau von Tabakkulturen mit Hilfe von aus Ndl.- Indien u. China eingeführten Fremdarbeitern (→Kuli, →Vertragsarbeit) gelang teilweise, doch war auf Grund der hohen Mortalitätsziffern für Arbeiter u. Angestellte sowie einem permanenten Wechsel in der Leitung vor Ort kein dauerhafter Erfolg möglich. Grundzüge d. Kolonialverwaltung 1899–1914. Maßgeblich geprägt durch →Gouv. Dr. Albert →Hahl erfolgte ein planmäßiger Aufbau von Verwaltung u. Infrastrukur. Dazu diente der Aufbau von Regierungsstationen, an denen
Verwaltung, Rechtsschutz (Polizei) u. Rechtsprechung, Gesundheitsversorgung u., von indigener Seite, Markt u. Handel regional konzentriert wurden. Daraus entwickelten sich in der Folge Städte, z. B. Kavieng (dt. Käwiëng), Madang oder →Rabaul. Auf dem Land, zunächst im Bismarckarchipel, wurde ab 1898 versucht, über traditionelle Hierarchien (→Bikman) ein System indirekter Herrschaft (→Indirect Rule) aufzubauen. Die einh. Richter hießen „Luluai“, ihre Assistenten, die bereits den Kernbereich der dt. Verwaltung kennengelernt hatten u. →Tok Pisin verstanden, „Tultul“. Wo nichtstratifizierte Kulturen vorherrschten (v. a. im Kaiser-Wilhelmsland) erfolgte der Aufbau von Luluai u. Tultul erst nach der Pazifizierung der Gebiete i. d. R. durch rückkehrende Pflanzungsarbeiter im besonderen Auftrag. Die Pazifizierung gelang durch den langsamen, aber stetigen Ausbau des Einflußbereiches der Regierungsstationen, den Einsatz der indigenen →Polizei, Mission u. Christianisierung u. durch das, was man den Dominoeffekt des etablierten Landfriedens nennen könnte. Gebiete, die bereits pazifiziert waren, übten auf die Menschen in benachbarten Regionen eine Art heilsame Anziehungskraft aus. Nachweisbar sind deshalb im letzten Jahrzehnt der dt. Kolonialherrschaft zunehmend autonom-indigene Anfragen, den Bereich der gesicherten Verwaltung auf die von ihnen bewohnten Regionen auszudehnen. Damit verschwanden in den pazifizierten Gebieten die traditionell praktizierten Blutrache u. Stammeskriege. Einiges deutet aber darauf hin, daß die Fälle von „sanguma“ (Zauberei) u. „poisen“ (Vergiftung) dadurch zunahmen. Die dt.-koloniale Rechtsprechung in D. N. berücksichtigte die fundamentalen Unterschiede zwischen einh. u. europ. Grundeinstellungen. Die geographische Nähe oder Ferne zu Zentren der europ. Kolonialverwaltung war deshalb bei der Strafzumessung ein entscheidendes Kriterium. Bei Mord, der in D. N. nur auf Anzeige hin verfolgt wurde, galten traditionelle Verhaltensweisen u. die Ferne von Europäerkontakt als strafmildernd. Die gängige Strafe in solchen Fällen war die Verbannung von der Heimatgemeinde in das koloniale Zentrum, um sich mit den Sichtweisen der Europäer vertraut zu machen u. Tok Pisin zu lernen. Wegen der Schwierigkeit, für abgelegene Gebiete in nichtstratifizierten Kulturen eine indirekte Herrschaft aufzubauen, war es deshalb nichts Ungewöhnliches, daß derart Verurteilte nach der Rückkehr in ihre Heimatgemeinden als „Luluai“ bzw. „Tultul“ eingesetzt wurden. Auffällig bei der Rechtprechung ist zudem, daß das einh. Prinzip der Kompensation auch in die europ.-koloniale Urteilsfindung bei Strafverfahren aufgenommen wurde, zuerst nur in indigenen Straffällen, später jedoch auch in europ. Eine Art „Mischzone“ zwischen europ. u. einheim. Vorstellungen bildete auch das koloniale Eherecht in D. N. Zum einen wurde jetzt polygames Verhalten (→Polyandrie) auch staatlich sanktioniert, wenn die indigene Ehe „traditionell“, d. h. nicht christlich geschlossen worden war (die seit dem Kulturkampf in Deutschland übliche obligatorische Zivilehe wurde bei indigenen Eheschließungen negiert), zum anderen mußte der einh. Ehemann eine Pflicht zur Alimentenzahlung anerkennen. Zudem erhielt die Frau ein eigenes Recht auf Ehescheidung. Kinderreichtum (ab dem 211
d e ut s c h - os tA f r i k A
vierten Kind) wurde steuerrechtlich anerkannt. Der erwachsene einh. Mann, der ab März 1907 steuerpflichtig (5 Mark jährl.; st. April 1910 5, 7 oder 10 M, je nach Prosperität des Bezirks) war, wurde dadurch steuerfrei. Unterricht wurde hauptsächlich durch Missionsschulen geleistet, doch gab es st. 1907 eine Reg.schule für indigene junge Männer in Rabaul-Namanula, der wie im dt. Schulsystem üblich, auch eine Handwerkerschule angegliedert war. Als Umgangssprache in der Kolonie wollte Hahl →Kuanua einführen. Er scheiterte jedoch am Widerstand der europ. Siedler. D. N. entwickelte sich jedoch nie zu einer Siedlerkolonie. Am 1. Januar 1914 lebten insg. nur 1 130 Europäer (einschließlich Japaner, die nach dt. Recht als Europäer bzw. „Weiße“ gezählt wurden) in D. N., genauer gesagt im Kaiser-Wilhelmsland u. im Bismarckarchipel. Davon waren 817 Männer u. 313 Frauen. Die Männer besaßen die Möglichkeit, über indirekte Wahlen bzw. Wahlvorschläge Vertreter in den →Gouvernmentsrat zu entsenden, ein vorparlamentarisches Gremium, das dem Gouv. beratend zur Seite stand. Im dt. Mikronesien gab es zum 1.1.1914 510 Europäer/Japaner, dav. 407 Männer u. 103 Frauen. Von 1 640 Europäern im ganzen Schutzgebiet waren am 1.1.1914 1 150 Dt. (70,1 %), 236 Japaner (14,4 %), 73 Briten (4,5 %) u. 69 Australier bzw. Neuseeländer (4,2 %). Dazu kamen 2 019 Chinesen (davon 102 Frauen), 168 Malaien (davon 46 Frauen), 127 Pazfikinsulaner außerhalb von D. N., 76 Filipinos u. 2 Inder. In den Dörfern waren im Kaiser-Wilhelmsland bis zum 1.1.1914 35 535 einh. Personen namentlich erfaßt bzw. in Steuerlisten aufgenommen worden. Ökonomisch u. sozial prägten die Großpflanzungen europ. Firmen die Kolonie. 1913 wurden insg. 10 848 Arbeiter in Kaiser-Wilhelmsland u. dem Bismarckarchipel angeworben. 3 462 oder knapp 32 % kamen aus Neumecklenburg, Neuhannover u. den dazugehörigen Inseln; 1 955 (18 %) aus dem Raum Madang; 1 608 (14,8 %) aus Neupommern; 1 312 (12,1 %) aus den Nordsalomonen u. 1 057 vom Sepik (9,7 %). Ein neue Arbeiterverordnung, die ältere Ausbeutungsbestimmungen aus der Zeit der NGC beseitigte, sollte zum 1. Januar 1915 in Kraft treten. Danach sollte u. a. die tägliche Arbeitszeit von zehn auf neun Stunden herabgesetzt, für weibliche Arbeiter ein Schwangerschaftsschutz eingeführt, eine Zwangspockenimpfung für Arbeiter auf Kosten der Arbeitgeber vorgenommen u. der Arbeitslohn sofort u. ganz in bar (statt wie im kolonialen Pazifik üblich erst am Vertragsende u. teilweise in Tauschwaren) ausbezahlt werden. Die →Prügelstrafe als Disziplinarmittel der Arbeitgeber sollte aber erhalten bleiben. Q: BA, RKolA 6598 (letzter, unveröffentlichter Jahresbericht für 1913/14). L: Hermann Joseph Hiery, Das Dt. Reich in der Südsee (1900–1921), Göttingen 1995. Ders. (Hg.), Die dt. Südsee 1884–1914, Paderborn 22002, Stuttgart 32015. Ders., The Neglected War. The German South Pacific and the Influence of World War I, Honolulu 1995. HE RMANN HI E RY Deutsch-Ostafrika. Die Entstehung von DOA vollzog sich in Etappen. Sie begann mit den Verträgen, die Carl
212
→Peters im Namen der „→Gesellschaft für dt. Kolonisation“ Ende 1884 mit einheimischen Herrschern auf dem ostafr. Festland abgeschlossen hatte. Mit dem →Schutzbrief des dt. Ks.s vom 27.2.1885 übernahm dieser die „Oberhoheit“ über die Besitzungen der Gesellschaft. Damit war der Konflikt mit dem Sultan von →Sansibar programmiert, der diese Gebiete als die seinen beanspruchte. Ohne Beteiligung des Sultans bestimmten die brit. und die dt. Reg. den territorialen Besitz des Sultans und damit auch die Grenzen der dt. Erwerbungen, wobei sie im Londoner Vertrag vom 1.11.1886 den Festlandsbesitz des Sultans auf einen schmalen Streifen an der Küste reduzierten. Mit Unterstützung der dt. Reg. pachtete jedoch die (nunmehrige) „→Dt.-Ostafr. Gesellschaft“ (DOAG) am 28.4.1888 den Küstenstreifen vom Sultan. Ungeschicktes Auftreten von Vertretern der DOAG führte zu einer Irritation der Bevölkerung, die sich im „→Araberaufstand“ („Aufstand der Küstenleute“) sowohl gegen die dt. Präsenz als auch gegen das Verhalten von Sultan Khalifa richtete. Angesichts der Schwäche der DOAG sah sich die Reichsreg. veranlaßt, den Aufstand durch Einheiten der Marine und eine Söldnertruppe (→Söldner) unter dem Kommando des Majors (von) Wissmann niederzuschlagen. Logische Konsequenz war die Übernahme der Besitzungen der DOAG am 1.1.1891 durch das Dt. Reich. Zuvor hatten sich am 1.7.1890 die brit. und dt. Reg. im →Helgoland-Sansibar-Vertrag über die Abgrenzung ihrer Interessensphären in Ostafrika geeinigt. Nach der Festlegung der Grenzen begann die innere Erschließung des Landes durch ein loses Netz von Bezirksämtern und Militärstationen. An der Spitze der Kolonialverwaltung stand der vom Ks. ernannte →Gouv., der in →Daressalam residierte. Verwaltung wie →Schutztruppe verfügten nur über einen minimalen Personalbestand. Es dauerte Jahre, bis es der Schutztruppe gelang, „aufrührerische Stämme“ im Innern und am →Kilimandscharo dt. Herrschaft zu unterwerfen. Aber es war v. a. der vielschichtige →Maji-Maji-Aufstand von 1905–1907, der durch die von der Schutztruppe praktizierte Politik der verbrannten Erde unter der Bevölkerung zahlreiche Opfer verursachte. Einer der Gründe für den Aufstand war der Versuch der dt. Verwaltung, die afr. Bevölkerung durch Arbeitszwang und Besteuerung an der Entwicklung des Landes zu beteiligen. Mit Gouv. Albrecht Frhr. von →Rechenberg (1906–1912) und Kolonialstaatssekretär Bernhard →Dernburg (1906–1910) begann eine Zeit der Reformen, die jedoch auf den Widerstand der weißen Siedler stießen. Der Ausbruch des Weltkriegs setzte dieser Entwicklung ein zu frühes Ende. 1914–1918 haben die Truppen unter General Paul von →Lettow-Vorbeck eine Übermacht von Gegnern gebunden, aber zugleich den Krieg ins Land getragen. Der→Versailler Vertrag übertrug 1919 den größeren Teil von DOA den Briten als Mandat des →Völkerbunds, während den Belgiern das Mandat über →Ruanda und →Burundi zugesprochen wurde. Q: BA Berlin (RKolA). L: Jutta Bückendorf, „Schwarzweiß-rot über Ostafrika!“, Münster 1995. John Iliffe, Tanganyika Under German Rule, Cambridge 1969. Ju-
deu ts ch -o s tA f ri kA n i s ch e ges ells ch A f t
hani Koponen, Development for Exploitation. Helsinki / Hamburg 1994. HE I NZ S CHNE P P E N Deutsch-Ostafrikanische Bank. Gründung am 6.1.1905 in Berlin als Kolonialgesellschaft mit 2 Mio. Mark Grundkapital durch die →Dt.-Ostafr. Gesellschaft (Anteil 70 %), Dt. Bank (7,5 %), Disconto-Gesellschaft (7,5 %) und sieben dt. Privatbankiers (insg. 15 %). Vom Reichskanzler am 15.1.1905 genehmigte Satzung legte als Geschäftszweck fest „Regelung und Erleichterung des Geldumlaufes und der Zahlungsausgleichungen in →Dt.-Ostafrika. sowie des Geldverkehrs des →Schutzgebietes mit Deutschland und dem Auslande“. Auf das Grundkapital erfolgte zunächst die für Kolonialgesellschaften vorgeschriebene Mindestquote von 25 %. Je weitere 25 % wurden im Jan. 1909, im Sept. 1912 und Febr. 1914 von den Aktionären eingefordert. Am 23.6.1905 eröffnete die Bank Niederlassung in →Daressalam. Zwischen Juni 1906 und Okt. 1907 richtete sie Agenturen in den wichtigen Hafenplätzen Tanga, Bagamojo und Lindi sowie in Tabora im Landesinneren ein. In →Sansibar, →Mombasa und →Bombay arbeiteten für sie brit. Korrespondenten. Auf Grundlage einer durch Karl →Helfferich entworfenen Konzession erteilte am 15.1.1905 der Reichskanzler der Bank das Notenausgaberecht. Danach konnte sie Banknoten bis zum Dreifachen des eingezahlten Grundkapitals in Umlauf bringen. Die Deckungsvorschriften orientierten sich an den für die Reichsbank geltenden Bestimmungen. So mußte die Bank für mindestens ⅓ ihrer Notenemission liquide Deckung nachweisen. Die Bank gab zunächst Banknoten zu 5, 10, 50 und 100 →Rupien aus. Ende 1912 folgte ein Höchstwert von 500 Rupien. Der Notenumlauf blieb bis Kriegsbeginn weitgehend auf die Küstenregion und das Einzugsgebiet der ins Landesinnere führenden Bahnlinien beschränkt. Am 31.7.1914 betrug er 3,8 Mio. Rupien. Für die Konzessionsgewährung erhielt der Schutzgebietsfiskus aus dem festgestellten Netto-Jahresgewinn eine Abgabe. Außerdem hatte die Bank analog der Regelung im Reich bei vorübergehender Unterdeckung der Noten eine Notensteuer genannte Strafe zu bezahlen Somit hatte Dt.-Ostafrika neben dem Schlagschatz aus den Landesmünzen weitere Einnahmen, die den anderen Schutzgebieten fehlten. Der Notenvorrat der Bank zu Kriegsbeginn von 2,3 Mio. Rupien war bis Sommer 1915 weitgehend aufgebraucht. Deshalb ließ die Niederlassung Daressalam im Schutzgebiet Interimsnoten herstellen. Der →Gouv. verordnete dafür „unter Kriegsrecht“ vorübergehende Aussetzung der Konzessionsvorschriften zu Eigenkapital und Notendeckung. In den letzten beiden Jahren des Weltkrieges kamen neben diesen Provisorien noch mit Stempeln gefertigte „Buschnoten“ in den Umlauf. Nach Kriegsende wurden alle PapiergeldFriedens- und Kriegsausgaben von der DOB in Berlin – insg. 17,8 Mio. Rupien, davon 11,3 Mio. Rupien Kriegsausgaben – in Papiermark zur Parität 1 : 1,33 eingelöst. Gerhard Hutzler, Die Geldgeschichte von Dt.-Ostafrika, in: JbEÜG 7 (2007), 129–162 u. 8 (2008), 121–151. GE RHARD HUT Z L E R
Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft. Am 28.3.1884 gründeten Felix Graf Behr-Bandelin und Dr. Carl →Peters die zunächst nicht im Handelsregister eingetragene „→Gesellschaft für dt. Kolonisation“, deren Zweck die Schaffung von Ackerbau- und Handelskolonien sein sollte. Ab Okt. 1884 schlossen Beauftragte der Gesellschaft, darunter Joachim Graf →Pfeil, in Ostafrika Verträge zum Landerwerb mit 12 regionalen Herrschern. Am 2.4.1885 erfolgte die Eintragung ins Berliner Handelsregister als offene Handelsgesellschaft unter der Firma Dt.-Ostafr. Gesellschaft Carl Peters & Genossen. Am 5.5.1886 wurde Umwandlung in Kommanditgesellschaft durchgeführt. In ihr besaß der Bankier Carl v. d. Heydt mit einer Kommanditeinlage von 100 000 Mark den größten Anteil nach der Stillen Einlage Ks. Wilhelms I. von 500 000 Mark. Sie wurde nach kurzer Zwischenperiode als Aktiengesellschaft preußischen Rechtes am 26.2.1887 in Kolonialgesellschaft mit 3,727 Mio. Mark haftendem Kapital umgewandelt, die am 4.7.1889 die Rechte einer Reichskorporation verliehen erhielt. Ihr Präs. wurde Dr. Peters. Die Rechtsaufsicht übte der Reichskanzler aus. Durch →Schutzbrief vom 27.2.1885 gewährte das Reich Schutz für die Gebiete, auf die die DOAG Ansprüche auf Grund der geschlossenen Verträge herleitete. Im Apr. 1888 kam zwischen der Gesellschaft und dem Sultan von →Sansibar ein Vertrag zustande, der die Zollerhebung in vom Sultan beanspruchten ostafr. Küstengebiet der DOAG übertrug. Dies löste den sog. →Araberaufstand auf. Da dieser nur mit Hilfe der ksl. Marine und der neugebildeten →Schutztruppe niedergeschlagen werden konnte, mußte die Gesellschaft durch Vertrag vom 20.11.1890 dem Reich die Verwaltung des →Schutzgebietes überlassen und auf die im Schutzbrief zugestandenen Souveränitätsrechte verzichten. Dadurch erhielt der Reichsfiskus u. a. die Zolleinnahmen. Die DOAG bestand als sog. Privilegierte Gesellschaft fort. Sie behielt das Recht, herrenloses Land zu bewirtschaften, Eisenbahnen zu bauen und zu betreiben, eine Bank mit Notenausgabeprivileg einzurichten, eigene Münzen zu prägen (bis 1902) und Bergbaukonzessionen (→Bergbau) zu beanspruchen. Am 5.10.1891 nahm die DOAG am Berliner Kapitalmarkt eine Anleihe vom 10,5 Mio. Mark auf, für die das Reich garantierte und zum Kapitaldienst aus den Zolleinkünften des Schutzgebietes einen jährlichen Zuschuß von 600 000 Mark leistete. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges arbeitete die Gesellschaft erfolgreich. Für 1913 wurde auf das in mehreren Tranchen auf 8 Mio. Mark aufgestockte Eigenkapital eine Dividende von 9 % ausgeschüttet. Nach Kriegsende kam es zur Enteignung des überseeischen Besitzes. Im Tanganyika-Mandat erwarb die DOAG ab 1926 in kleinerem Umfang wieder Beteiligungen an Sisal- und →Kaffee-Plantagen, die im →Zweiten Weltkrieg verlorengingen. Daneben war sie bis 1939 von Berlin aus als Überseehandelsgesellschaft vornehmlich in Mittel- und Südamerika erfolgreich tätig. Nach 1945 knüpfte die DOAG an ihre alten Verbindungen nach →Lateinamerika an. 1971 erfolgte Verlegung des Firmensitzes nach Hamburg. 1975 Änderung der Firma in DOAG Warenhandels-AG, 1986 neuerliche Änderung in DOAG Holding AG. 2002 Fusion mit Langbein-Pfanhauser Werke 213
d e ut s c h - s ü d w es tA f r i k A
AG. Das Archiv der Gesellschaft ging 1945 durch Brand verloren. Bruno Kurtze, Die Dt.-Ostafr. Gesellschaft, Jena 1913. Jutta Bückendorf, Schwarz-weiß-rot über Ostafrika. Dt. Kolonialpläne und afr. Realität, Münster 1997. J. Wagner, Dt.-Ostafrika. Geschichte der Gesellschaft für dt. Kolonisation und der Dt.-Ostafr. Gesellschaft nach den amtlichen Quellen, Berlin 1886. GE RHARD HUT Z L E R Deutsch-Südwestafrika. Bezeichnung für die 1884– 1919 zum Dt. Reich gehörende Kolonie im südlichen Afrika zwischen der port. Kolonie →Angola im Norden, der →Kapkolonie bzw. -provinz im Süden und der Beckenlandschaft der Kalahari (→Bechuanaland) im Osten. An der Küste erstreckt sich die Wüste Namib („Skelettküste“). Die verkehrsfeindliche, für damalige Besiedlung ungeeignete Küste war den Portugiesen seit dem ausgehenden 15. Jh. bekannt (1486 Diogo Cão, 1487 Bartolomeu Dias). Erst im 18. Jh. liefen regelmäßig Walfänger die Küste an (Walvis Bay). Anfang des 19. Jh.s begann die christl. Mission, seit den 1840er Jahren waren verstärkt Missionare der →Rheinischen Missionsgesellschaft im Land tätig. 1871 ließen sich aus dem Kapland stammende Baster in Rehoboth nieder. Nachdem Großbritannien 1878 Walvis Bay annektiert hatte, seine Herrschaft jedoch nicht weiter ausdehnte, erwarb der Bremer Kaufmann Adolf →Lüderitz seit 1883 Land nördlich der Oranjemündung, das durch Erklärung der dt. Reichsreg. gegenüber den europäischen Mächten 1884 sog. „→Schutzgebiet“ wurde, womit das Dt. Reich in den Kreis der Kolonialmächte eintrat. Verträge des Dt. Reichs mit Portugal (1886) über die Nordgrenze am Cunene und Großbritannien (Vertrag zwischen Deutschland und England über die Kolonien und Helgoland, 1890) über die Ostgrenze (Erwerb des „→Caprivi-Zipfels“ durch das Dt. Reich als Zugang zum Sambesi) sollten die Interessensphären abgrenzen und die willkürliche europäische Grenzziehung legalisieren. Zu dieser Zeit wurde das von den Deutschen mit beanspruchte Hinterland durch den Konflikt zwischen den im Süden lebenden Nama (zu den Khoi Khoi, pejorativ „→Hottentotten“) und den im 16.–18. Jh. von Norden eingewanderten Herero (Mbandu) geprägt. Weitere z. T. bis zu Zehntausende Menschen umfassende Bevölkerungsgruppen in DSWA waren u. a. Afrika(a)ner (zu den Orlam), Baster, Batswana, Berseba (zu den Orlam), Bondelswarts (zu den Nama), Damara („Bergdama(ra)“), Himba, Kavangos, Khoisan (Khoi Khoi und San) und →Ovambo. Der oberste dt. Verwaltungsbeamte trug 1885–1891 den Titel eines Kommissars, 1891–1898 den eines Landeshauptmanns, seit 1898 den eines →Gouv.s. Auf den ersten Geschäftsträger Heinrich →Goering (1885–1891) folgten Kurt von →François (1891–1894), Theodor →Leutwein (1894–1905), Friedrich v. →Lindequist (1905–1907), Bruno v. Schuckmann (1907–1910) und Theodor →Seitz (1910–1915[19]). Sitz der Zentralverwaltung war 1891– 1915 Windhoek (eingedeutscht Windhuk), wichtigste Hafenplätze waren Swakopmund und Lüderitz(bucht). Seit 1909 erhielten diese und einige weitere Ortschaften Gemeinderecht (ohne Stadtrecht). Vertreten waren dt. Siedler ferner seit 1899 im Gouvernementsrat, seit 214
1909 im Landesrat. Die Kolonialwirtschaft wurde von verschiedenen Gesellschaften und Syndikaten vorangetrieben, darunter als größte Boden- und Bergbaugesellschaft (→Bergbau) die „Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika“. Der Kolonialstaat förderte die Unternehmungen u. a. durch teure Infrastrukturmaßnahmen (Eisenbahnbau) und Möglichkeiten zur Rekrutierung und Kontrolle weitgehend rechtloser afr. Arbeiter. 1907 wurde die Karakulschafzucht eingeführt. 1908 wurden bei Lüderitz Diamanten gefunden, was zu einem kurzzeitigen Boom und zur Errichtung eines Sperrgebiets führte (Dt. Diamantengesellschaft). Industrialisiert wurde die Diamantenförderung allerdings erst seit den 1920er Jahren (DeBeers). Die insb. von der →Dt. Kolonialgesellschaft und dem Alldt. Verband propagierte Ansiedlung dt. Farm- und Kleingrundbesitzer u. a. durch die „Siedlungsgesellschaft für Dt.-Südwest-Afrika“ verlief insg. wenig erfolgreich. 1913 lebten ca. 14 800 rechtlich privilegierte „Weiße“ (davon ca. 12 300 Deutsche) und ca. 200 000 rechtlich benachteiligte sog. „Eingeborene“ in der Kolonie. Trotz verschiedener anfänglicher Land- („Schutzverträge“) und Konzessionsabtretungen seitens einheimischer Eliten erfolgte die dt. Inbesitznahme in erster Linie mit militärischer Gewalt. Zur Absicherung ihrer Herrschaft führten die Deutschen Krieg gegen die Witbooi unter dem heutigen Nationalhelden →Namibias Hendrik →Witbooi (zu den Orlam) und mit diesen verbündete Nama (1893/94, 1904–1907) sowie gegen die Herero (1896, weitgehende Vernichtung in der Omaheke nach der Schlacht am Waterberg 1904, → Herero-Nama-Aufstand). Die auf erheblichen Widerstand treffende dt. Kolonialpolitik in Südwestafrika war mitgeprägt u. a. von Diskriminierung, rassistisch motivierter ethnischer Segregation (→Mischehenverbote), Enteignungen und Gewalt. 1914/15 erfolgte die Besetzung der Kolonie durch Truppen der →Südafrikanischen Union. Zum Jahresbeginn 1920 wurde der Union nach den Bestimmungen des →Versailler Vertrages die Verwaltung des Landes als Mandatsgebiet übertragen, was die dt. Herrschaft in Südwestafrika völkerrechtlich beendete, jedoch an der kolonialen Situation wenig änderte. Nach dem →Zweiten Weltkrieg weigerte sich Südafrika, das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen. 1966 erfolgte der Entzug des völkerrechtlichen Mandats durch die UNO-Vollversammlung. Erst 1988 erklärte sich Südafrika dazu bereit, die Besatzung und einhergehende Politik der →Apartheid aufzugeben. Die ersten freien Wahlen 1989 gewann die Südwestafr. Volksorganisation (SWAPO). 1990 wurde das Land unter der (bereits 1968 von der UNO anerkannten) Bezeichnung Namibia unabhängig. Helmut Bley, South-West Africa Under German Rule, Münster 1998 (zuerst dt. Hamburg 1968). Medardus Brehl, Vernichtung der Herero, Paderborn 2007. Klaus Dierks, Chronology of Namibian History, Windhoek 2 2002. JA N H EN N IN G BÖ TTG ER Deutsch-Westafrikanische Bank. Gründung am 14.10.1904 in der Rechtsform der Kolonialgesellschaft mit Firmensitz Berlin durch ein von der Dresdner Bank und der Dt.-Westafr. Handelsgesellschaft bestimmtes
d e u t s ch e g es ells ch Af t f ü r ei n g ebo ren en s ch u tz
Konsortium. Das zunächst mit 25 % eingezahlte Grundkapital betrug 1 Mio. Mark. Satzungsgemäß war eine Erhöhung bis 5 Mio. Mark möglich. Eine darüber hinausgehende Aufstockung erforderte die Genehmigung des Reichskanzlers. Als Geschäftszweck wurde festgelegt, den Zahlungsausgleich in den →Schutzgebieten →Kamerun und →Togo sowie deren Geldverkehr mit Deutschland u. a. Staaten zu erleichtern. Dafür durften →Edelmetalle gehandelt, Wechsel und ähnliche Papiere diskontiert und verkauft, kurzfristige Darlehen gegen Faustpfänder gewährt, Wertpapiere gehandelt und deponiert sowie Einlagen angenommen werden. Eine Beteiligung an anderen Kreditinstituten erforderte die Genehmigung des Reichskanzlers. Die DWB errichtete Zweigniederlassungen in Kamerunstadt / →Duala und →Lomé. Bei ihr unterhielten die ksl. Gouvernements von Kamerun und Togo Konten, über sie wickelten sie einen Teil ihres →Zahlungsverkehrs ab. „Zur Förderung des Sparsinns der Eingeborenen“ richtete die Zweigniederlassung in Lomé 1906 eine Sparkassenabteilung ein, die sich nur zögernd entwickelte. 1913 hatte sie knapp 400 Kunden, davon ca. 50 Europäer. Ab dem 2. Geschäftsjahr Dividendenausschüttung, bis 1913 auf 10 % ansteigend. Im Ersten Weltkrieg in Lomé und Duala von den Besatzungsmächten unter Sequester gestellt, erfolgte 1920 die Liquidation. GE RHARD HUT Z L E R Deutsche Afrikabank AG. Die Direktion der DiscontoGesellschaft und die mit ihr verflochtene Norddt. Bank in Hamburg sowie mehrere diesen Banken nahestehende Industrie-, Schiffahrts- (→Schiffahrt) und Handelsunternehmen gründeten am 28.6.1906 das Kreditinstitut mit Firmensitz in Hamburg. Als Geschäftszweck wurde festgelegt, den →Zahlungsverkehr zwischen Deutschland, dem →Schutzgebiet →Dt.-Südwestafrika und den brit. Besitzungen in Südafrika zu erleichtern und im Schutzgebiet alle gesetzlich zugelassenen Bankgeschäfte inkl. der hypothekenmäßigen Beleihung zu tätigen. Sie errichtete in Windhuk, Swkopmund und Lüderitzbucht Zweigniederlassungen und übernahm die Bankabteilungen der Damara- und der Namaqua-Handelgesellschaft. Für das ksl. Gouvernement war sie als Hausbank tätig. Außerdem wirkte sie als Vertreterin der Diamantenregie. Das Grundkapital der DAAG betrug zunächst 1 Mio. Mark. Davon wurden 1906 25 % eingezahlt, 1909 weitere 25 %, 1910 der Rest. 1913 erfolgte in Anpassung an das erreichte Geschäftsvolumen eine Kapitalerhöhung auf 2 Mio. Mark. Die Bank arbeitete stets rentabel. Für das erste Geschäftsjahr erfolgte eine Dividendenausschüttung von 4 %, in den folgenden Jahren von je 8 %. Das Kreditinstitut arbeitete auch während der Besetzungszeit im Ersten Weltkrieg. Ende 1919 erfolgte die Schließung durch die →Südafrikanische Union, in Deutschland daraufhin 1921 die Liquidation. G. Zöpfl, Stichwort „Dt. Afrikabank“, in: Dt. KolonialLexikon Bd. 1, 299f. GE RHARD HUT Z L E R Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde. Die Gesellschaft trat 1913 zunächst unter dem Namen →Dt. Gesellschaft für Eingeborenenschutz an die Stelle der 1910 gegründeten →Dt. Kongo-Liga. Hinter ihr stan-
den gemäßigte und reformerische Kolonialkreise, die sich zum Ziel gesetzt hatten, „die Schäden, welche die Auswüchse der modernen Kultur unseren (...) Farbigen zugefügt haben, zu beseitigen und Krankheiten, die in ihrer Mitte wüten, zu bekämpfen“ (Dt. Koloniallexikon, 1920). Erster Vorsitzender war Christian v. Bornhaupt, Mitteilungsorgan die Koloniale Rundschau. Vor dem Ersten Weltkrieg trat die Gesellschaft mit zwei Eingaben zum „Schutz der eingeborenen Arbeiter“ sowie zur Kindersterblichkeit in den dt. Kolonien hervor, die noch im Frühjahr 1914 im Reichstag verhandelt wurden. 1925 erfolgte unter Vorsitz von Diedrich Westermann die Neugründung als Dt. Gesellschaft für Eingeborenkunde mit dem Satzungsziel des „Studiums der Eingeborenen zwecks Förderung ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Wohlfahrt“. Die DGE geriet zunehmend unter den Einfluß der →Dt. Kolonialgesellschaft, die bereits 1919 die Koloniale Rundschau übernommen hatte. Vom Auswärtigen Amt beauftragt, widmete sie sich durch ihren Geschäftsführer Alfred Mansfeld der „Unterstützung der in Deutschland lebenden Eingeborenen unserer ehem. Kolonien“; zugleich sollte sie die Rückkehr politisch unerwünschter Schwarzer nach Afrika organisieren. Nach 1933 war die DGE unter Vorsitz des früheren Kolonialstaatssekretärs Friedrich v. →Lindequist an der Erfassung der in Deutschland lebenden Menschen mit Herkunft aus den früheren dt. Kolonien und an der Organisation der 1936 eingerichteten „Dt. Afrika-Schau“ beteiligt. Susann Lewerenz, Die Dt. Afrika-Schau (1935–1940), Frankfurt/M. 2006. Heiko Möhle, Betreuung, Erfassung, Kontrolle. Die Dt. Gesellschaft für Eingeborenenkunde, in: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller, Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, 243–251. H EIK O MÖ H LE Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenschutz. Als Fortsetzung der aus politischen Gründen aufgelösten →„Dt. Kongo-Liga“ entstand am 5.12.1913 in Berlin eine paritätische „Dt. Gesellschaft für Eingeborenenschutz“. Ihr gehörten von der Seite ehem. Kolonialbeamter u. a. Kolonialstaatssekretär a. D. Bernhard →Dernburg und die ehem. →Gouv.e Graf von →Zech und Theodor →Leutwein an, von katholischer Seite Matthias →Erzberger und P. Amandus Acker, von protestantischer die Professoren Gottlieb Haußleiter, Diedrich Westermann, und Carl Mirbt, ferner A. W. Schreiber, Reinhard Mumm und Johann K. →Vietor sowie der neue Chef des Hauses →Woermann, Eduard Woermann. Vorsitzender war Christian v. Bornhaupt, Schatzmeister Ernst Vohsen. Als Zweck betonte die DGE die „Mitarbeit an dem Schutz und der Hebung aller unterentwickelten Rassen, v. a. der Eingeborenenbevölkerung in den dt. →Schutzgebieten, im Sinne der Kongoakte“ (§ 1 der Satzung). Konkrete Programmpunkte waren die durch Wanderarbeit verursachte Entvölkerungsfrage in Teilen von →Dt.-Ostafrika sowie die Bekämpfung der Schlafkrankheit in den dt. tropischen Kolonien. Die DGE bestand in der Weimarer Rep. fort. A. W. Schreiber, Die dt. Gesellschaft für Eingeborenenschutz, Koloniale Rundschau 12 (1920), 24–32. H O R ST G RÜ N D ER
215
d e ut s c h e g e s e lls c h Af t z u r e r f o r s c h u n g Ä q uAto ri A lAf ri k As
Deutsche Gesellschaft zur Erforschung Äquatorialafrikas. Angeregt von den um die Mitte des 19. Jh.s verstärkt deutlich werdenden Ambitionen verschiedener Interessengruppen und Einzelpersönlichkeiten in der dt. Gesellschaft, den afr. Kontinent für die Europäer zu erforschen, wurde nach dem Bekanntwerden der gewaltigen Entdeckerleistungen von David Livingstone auch in Deutschland eine Gesellschaft nach engl. Vorbild gegründet, die sich die Erforschung des Inneren von Afrika zum Ziel setzte. Am 19.4.1873 konstituierte sich auf Veranlassung Adolf →Bastians und der Berliner →Gesellschaft für Erdkunde die DGEÄ mit dem ausdrücklichen Ziel der wissenschaftlichen Erschließung der noch unbekannten Gebiete Zentralafrikas. Ihr Sitz war in Berlin. Sie wurde von der dt. Reg. zunächst mit recht beträchtlichen Mitteln ausgestattet. In den ersten vier Jahren unterstützte die Gesellschaft eine Reihe von Forschungsreisenden, so Paul Güßfeldt, Paul →Pogge und Heinrich Wißmann. Am 29.4.1878 vereinigte sich die DGEÄ mit dem dt. Nationalkomitee, kurz „Dt. Afr. Gesellschaft“ genannt, der „Commission Internationale d’Exploration et de Civilisation de l’Afrique“ zur „Afr. Gesellschaft in Deutschland“, die nunmehr hauptsächlich die dt. →Schutzgebiete erforschen sollte. Sie organisierte und finanzierte dorthin zahlreiche Forschungsexpeditionen (→Expeditionen). Sie gab das „Korrespondenzblatt der Afr. Gesellschaft“ heraus. 1889 stellte die „Afr. Gesellschaft“ mit der Herausgabe der letzten Ausgabe der „Mitteilungen“ ihre Tätigkeit ein. Die dt. Reg. hatte ihr die finanzielle Unterstützung entzogen, da sie selbst über die Vergabe der Mittel für Forschungsexpeditionen entscheiden wollte. Das ursprüngliche Ziel, Äquatorialafrika zu erforschen, war zu jener Zeit ohnehin weitgehend erfüllt. UL RI CH VAN DE R HE YDE N Deutsche Handels- u. Plantagen-Gesellschaft der Südsee-Inseln zu Hamburg →Godeffroy, →SamoaVorlage Deutsche Kolonialgesellschaft. Koloniale Agitationsvereine trugen wesentlich zur dt. Teilnahme am europäischen Wettstreit zur Aufteilung der Welt bei. Bereits 1878 wurde in Berlin der Zentralverein für Handelsgeographie und Förderung dt. Interessen im Ausland gegründet und drei Jahre darauf in Düsseldorf der Westdt. Verein für Kolonisation und Export, woraus am 6.12.1882 neben einer Vielzahl kleinerer Kolonialgruppierungen der Dt. Kolonialverein mit dem Publikationsorgan Dt. Kolonial-Zeitung als kolonialpolitischer Dachverband hervorging. Als Konkurrenz dazu verstand sich zunächst die in Berlin am 28.3.1884 ins Leben gerufene Gesellschaft für dt. Kolonisation, die im Gegensatz zum Dt. Kolonialverein den Zweck verfolgte, im Rahmen einer aktiven Kolonialpolitik Überseegebiete zur Schaffung von Ackerbau- und Handelskolonien zu erwerben, wohin die dt. →Auswanderung gelenkt werden sollte. Im Febr. 1885 erhielt die Gesellschaft für dt. Kolonisation für Gebietserwerbungen, die Carl →Peters in Ostafrika vorgenommen hatte und die nur wenige Jahre später die Grundlage für die Kolonie →Dt.-Ostafrika bilden sollten, einen ksl. →Schutzbrief. Um das gemeinsame Anliegen, 216
die Förderung des kolonialen Gedankens in Deutschland, voranzutreiben, fusionierten am 19.12.1887 der Dt. Kolonialverein und die Gesellschaft für dt. Kolonisation zur DKG mit Sitz in Berlin. Die praktische Kolonisierung Ostafrikas übernahm derweil die 1885 von der Gesellschaft für dt. Kolonisation abgespaltene und rechtlich verselbständigte →Dt.-Ostafr. Gesellschaft. Die DKG, die nicht mit der 1888 in das Allg. Dt. Handelsgesetzbuch eingeführten gleichnamigen Handelsgesellschaftsform zu verwechseln ist, trat fortan vehement für eine aggressive Kolonialpolitik Deutschlands ein. Durch die Verbreitung von Publikationen und die Organisation von Vorträgen, Ausstellungen und Kongressen zu kolonialen Themen übte die DKG einen maßgeblichen Einfluß auf die Meinungsbildung der Öffentlichkeit zur Kolonialfrage aus. Überdies förderte sie die dt. überseeischen Interessen, indem sie sich in mannigfaltiger Weise nicht nur im Dt. Reich und in dessen Kolonialgebieten, sondern auch im Ausland für die Belange von Emigranten aus Deutschland einsetzte. Die Zahl ihrer Mitglieder stieg seit ihrer Gründung von knapp 15 000 auf ca. 43 000 zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Nach 1918 propagierte die DKG die Wiedererlangung des ehem. dt. Kolonialbesitzes. Als Präs. der DKG amtierten Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg (1887–1895), Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg (1895–1920), Theodor →Seitz (1920–1930) und Heinrich →Schnee (1930–1936). 1936 ging die DKG mit den anderen im Dt. Reich bestehenden Kolonialvereinen im Reichskolonialbund auf, dem bis zu seiner 1943 erfolgten Auflösung Franz Xaver Ritter von Epp vorstand. Horst Gründer, Geschichte der dt. Kolonien, Paderborn 6 2012. Edgar Hartwig, Dt. Kolonialgesellschaft (DKG) 1887–1936, in: Ders. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 1, Köln 1983, 724–748. Richard V. Pierard, The German Colonial Society, in: Arthur J. Knoll u. a. (Hg.), Germans in the Tropics, New York 1987, 19–37. H A R A LD SIPPEL
Deutsche Kongo-Liga. Die DKL entstand im Zusammenhang mit der Aufdeckung des besonders menschenverachtenden Ausbeutungssystems im Leopoldinischen Kongo. Unmittelbares Vorbild war die 1903 in England gegründete Congo Reform Association. Allerdings wurde die DKL erst am 31.3.1910, hauptsächlich aus liberalen Wirtschafts- und protestantischen Missionskreisen, gegründet, also zu einer Zeit, als der belg. Staat bereits den privaten Besitz des belg. Kg.s übernommen hatte (18.10.1908). Als Ziele formulierte die DKL: 1. Aufklärung über die Kongofrage, 2. Bürgschaften für die Wohlfahrt der Eingeborenen, 3. Beseitigung der Handelsmonopole, 4. Wiederherstellung der Handelsfreiheit, 5. Entsendung dt. Berufskonsuln in den belg. Kongo, 6. Einberufung einer neuen →Kongo-Konferenz. Nach der Anerkennung der Annexion durch die engl. Reg. und der Auflösung der engl. Congo Reform Association am 16.6.1913 löste sich auch die DKL am 5.12.1913 auf. An ihre Stelle trat nach dem Vorbild der engl. →Aborigines Protection Society die →„Dt. Gesellschaft für Eingeborenenschutz“.
d eu ts ch e P o s tei n ri ch tu n g en i n ü bers ee
August Wilhelm Schreiber, Die Dt. Kongoliga, Berlin 1911. HORS T GRÜNDE R Deutsche Posteinrichtungen in Übersee. Am 23.11. 1869 legte Heinrich Stephan, der Generaldirektor der Bundespost des Norddt. Postbezirkes, dem Norddt. Reichstag ein Memorandum vor, in dem er empfahl, daß Aktivitäten dt. Kaufleute in Übersee von der Post durch Einrichtung von Dienststellen in Regionen begleitet werden, deren Post keine Gewähr für einen zuverlässigen Nachrichtenaustausch bietet. Als Beispiele dafür nannte er das →Osmanische Reich inkl. →Ägypten, China, den Süden →Brasiliens und die Inseln im Stillen Ozean. Bei der Realisierung ihrer Pläne wollte sich die Postverwaltung an den seit Jahrzehnten von der K. K. Österr. Post mit positivem Ergebnis betriebenen Ämtern in der Levante orientieren. Die Abgeordneten nahmen die Vorschläge „interessirt“ zur Kenntnis. Daraufhin veranlaßte Stephan als Betriebsversuch die Eröffnung einer „Norddt. Post-Agentur“ in Pera, dem Europäerviertel Konstantinopels am 1.3.1870. Nach den dem Leiter gegebenen Instruktionen sollten dort Erfahrungen für geplante „weitere Posteinrichtungen im Ausland“ gesammelt werden, wobei der Arbeit mit fremden Geldsystemen besondere Beachtung zu schenken war. Als am 12.5.1871 die Dt. Reichspost ihre Arbeit aufnahm, wurde die Agentur in ein „Dt. Reichs-Post-Amt“ umgewandelt. Da seine Entwicklung „überraschend glücklich“ verlief, erfolgte am 1.1.1876 im Zentrum Konstantinopels die Einrichtung eines Zweigpostamtes. Den 1883 dem Reichskanzler von Staatssekretär Stephan vorgetragenen Wunsch, Postdienststellen in Orten Kleinasiens, Syriens, Palästinas und Ägyptens in Verbindung mit den dort bestehenden Konsulaten zu betreiben, lehnte →Bismarck mit dem Argument „Rücksichtnahme auf Großbritannien“ ab. Dagegen hatte er keine Bedenken gegen die Eröffnung von Postämtern in China, auf →Samoa sowie in Ostafrika außerhalb des Dt.-Ostafr. →Schutzgebietes in Lamu und →Sansibar „zur Sicherung der Handelsinteressen dt. Firmen“. Daraufhin wurde am 16.8.1886 die erste Postagentur in Shanghai in Betrieb genommen. Ihr folgten in den nächsten Jahren an 15 weiteren Orten Chinas Dienststellen. Der dt. Postdienst nahm nach dem →Boxeraufstand einen schnellen Aufschwung. Deshalb wurde Shanghai am 1.4.1902 zur „Ksl. Dt. Postdirection“ hochgestuft. Auf Samoa wurde am 21.9.1886 eine 1888 in eine Postexpedition umgewandelte „Dt. Postdampfschiffs-Agentur“ eingerichtet. In Lamu und Sansibar bestanden ab Ende 1888 kurzfristig als Postämter eingestufte Dienststellen, die die örtlichen Konsulate betrieben. Sie wurden nach Abschluß des sog. →Helgoland-Sansibar-Vertrages aufgegeben. Reichskanzler Hohenlohe Schillingsfürst hatte kurz vor der Jh.wende hinsichtlich der Ausweitung des Postdienstes im Osmanischen Reich nicht mehr die Bedenken, die Bismarck zu einer Ablehnung veranlaßten. So wurde in etwa zeitgleich mit der 2. Orientreise Ks. Wilhelms II. in Jaffa ein Postamt eröffnet. Ab 1900 folgten Niederlassungen in Smyrna, Beirut und Jerusalem. Die letzte überseeische Region, in der die Reichspost Fuß faßte, war das Kgr. →Marokko. Dort waren ab 1893 zunächst
auf der Rechtsgrundlage eines vom Reich mit Marokko geschlossenen Handelsvertrages Agenten der Hamburger Reederei Carl →Woermann für die dt. Postverwaltung tätig. Das erste Postamt wurde am 20.12.1899 in →Tanger eröffnet. Ihm folgten bis 1909 14 weitere Dienststellen unterschiedlicher Größe. Die Auslandspostanstalten in China, Marokko und der Türkei unterstanden den Oberpostdirektionen in Berlin, Bremen und Hamburg. Gegenüber dem Weltpostverein galten sie – im Gegensatz zu den Schutzgebieten und dem Pachtgebiet – als „Bestandteil“ der Reichspost, die auch den internationalen Abrechnungsverkehr für sie durchführte. Für die Auslandspostgebiete in China, Marokko und dem Osmanischen Reich gab die Reichspost neben auf Mark und Pfennig lautenden Briefmarken eine Anzahl spezieller Wertzeichen heraus, die auf mexikanische (China), frz., span. und türk. →Währung lauteten. Die Einbindung der in der ersten Phase der Kolonialgründungen 1884/1885 in Afrika und der Südsee entstandenen Schutzgebiete in den internationalen Postverkehr war ein Anliegen des Reichskanzlers Bismarck. Er wünschte, daß jeweils sofort nach der →Flaggenhissung die Anmeldung eines jeden Schutzgebietes als eigenständiges Mitglied im Weltpostverein erfolgte. Es dauerte dann jedoch jeweils mehrere Jahre, bis der Postdienst, zunächst meist in sehr eingeschränktem Umfang, aufgenommen wurde: – in →Kamerun am 1.2.1887, – in →Dt.-Neuguinea am 15.2.1888, – in →Togo am 1.3.1888, – in →Dt.-Südwestafrika am 17.7.1888, – auf den →Marshallinseln am 23.3.1889, – in →Dt.-Ostafrika am 4.10.1890. In den beiden 1899 von Spanien erworbenen Schutzgebieten →Karolinen und →Marianen erfolgte unmittelbar nach der Flaggenhissung die Aufnahme des Postbetriebs. In Samoa wurden mit der Einrichtung des Schutzgebietes auf der Grundlage des Vertrages, den das Dt. Reich mit dem Vereinigten Kgr. und den →USA 1899 schloß, am 1.3.1900 die Postdienststellen im Reichs-Postamt vom Referat „Dt. Post im Ausland“ in das Referat „Post in den Schutzgebieten / Kolonien“ umgegliedert. In Samoa selbst gab es dadurch keine Veränderungen. Im chin. Pachtgebiet →Kiautschou wurde der Postdienst nahezu zeitgleich mit dem formellen Übergang der Verwaltung auf die ksl. Marine Anfang 1898 aufgenommen. Die Schließung der dt. Postanstalten im Osmanischen Reich erfolgte am 30.9.1914, als Folge der Kündigung der sog. Kapitulationen, die die völkerrechtliche Grundlage für die Tätigkeit bildeten. In China lief der dt. Postbetrieb bis zum Kriegseintritt des Landes am 16.3.1917. In Marokko wurde im frz. Protektoratsgebiet (→Protektorat) sofort nach Kriegsausbruch am 5.8.1914 der Dienst eingestellt. Im span. Protektoratsgebiet wurde er bis 12.6.1919 weitergeführt, in der als neutral deklarierten Stadt Tanger sogar bis zum 19.8.1919. In den Schutzgebieten und in Kiautschou schlossen die Besatzungsmächte die Posteinrichtungen sofort. Lediglich in Teilen Kameruns konnte bis Anfang 1916 und in Binnengebieten Dt.-Ostafrikas bis zum Waffenstillstand ein stark eingeschränkter Dienst aufrecht erhalten werden. Von Kamerun aus bestand über die span. Besitzung Rio Muni 217
d eu t s c he r e vAn g eli s c h er m i s s i o n s - A u s s ch u s s
auch eine Verbindung in neutrale Länder, nicht jedoch in die Heimat. Auf den Schiffahrtsrouten (→Schiffahrt) über den Nordatlantik und nach Südamerika wurden ab 1891 auf Passagierdampfern des Norddt. Lloyd und der →HAPAG von der Reichspost, teils in Zusammenarbeit mit der US-Postverwaltung, sog. Seeposten eingerichtet, die einerseits während der Fahrt die Bearbeitungen der in den Häfen aufgelieferten Sendungen durchführten, andererseits aber auch Post an Bord annahmen. Diese Seepost-Einrichtungen bestanden bis zum Kriegsausbruch 1914 und wurden 1921 reaktiviert. 1939 erfolgte die endgültige Einstellung des Dienstes. Den Verkehr nach Afrika, Ostasien und Australien übernahmen zwischen 1885 und 1914 auf der Grundlage des sog. Reichspostdampfergesetzes (→Postdampfer-Linien) laufende Schiffe privater Reedereien, deren Besatzungen für →Transport und Bearbeitung der Post an Bord verantwortlich waren. Für sieben in Ostasien und der Südsee eingesetzte Schiffe der ksl. Marine wurde 1895 versuchsweise das 1891 auf dem Weltpostkongreß in Wien geregelte Verfahren der Marine-Schiffsposten eingeführt, das einen Postverkehr zwischen den Schiffen und der Heimat zu ermäßigten Gebührensätzen vorsah. Zum 1.6.1897 erfolgte die Ausdehnung dieser Regelung auf alle außerhalb der Heimatgewässer befindlichen Kriegsschiffe mit Posteinrichtung. Im Apr. 1899 wurde generell für die Marine-Schiffspost in die Heimat und in Schutzgebiete sowie nach Kiautschou der Inlandsposttarif eingeführt. Mit einer kurzen Unterbrechung in der Endphase des Ersten Weltkrieges bestanden die Marine-Schiffsposten bis 1939, seit 1935 mit der amtlichen Bezeichnung „Dt. Kriegsmarine-Schiffspost“. Während der →Kolonialkriege in Dt.-Südwestafrika und des →Maji-Maji-Aufstands in Dt.-Ostafrika sowie im Zusammenhang mit den sog. Boxer-Unruhen in Nordchina bestanden dort dt. Feldpostämter, die Post von Mannschaftsdienstgraden der eingesetzten Truppen portofrei beförderten. Im Ersten Weltkrieg wurde im asiatischen Teil des Osmanischen Reiches eine Feldpostorganisation für die dort stationierten dt. Truppen eingerichtet, die zeitweise auch Ämter in West-Persien und im besetzten Teil Georgiens unterhielt. Die in türk. Dienste übernommenen Schiffe der dt. „Marine-Division Mittelmeer“ behielten ihre dt. Marine-Schiffsposteinrichtungen bis 1918 weiter. In Dt.Ostafrika bestand bis ca. Herbst 1917 ein bescheidener Feldpostdienst. In Dt.-Südwestafrika, Kamerun und Dt.Neuguinea war für die Postversorgung der Militärangehörigen die zivile Post zuständig. Die seit Sept. 1937 aufgebaute Feldpost der Wehrmacht wurde im →Zweiten Weltkrieg außerhalb Europas nur in Nordafrika tätig. Dort bestanden in →Libyen, →Tunesien und der westlichen Grenzregion Ägyptens zwischen Febr. 1941 und Mai 1943 zeitweise 11 Feldpostämter zur Versorgung des Dt. Afrika-Korps. Die von der Bundeswehr 1982 eingerichtete Feldpostorganisation kam in Übersee erstmals 1993 in →Kambodscha zum Einsatz, wo im Rahmen eines UN-Mandates eine Sanitätseinheit stationiert wurde. Bis 2010 folgten Feldpostämter in Afghanistan, →Gabun und der Demokratischen Rep. →Kongo. Hans-Henning Gerlach, Dt. Kolonisation und die dt. Post in den Kolonien und im Ausland, München 1985. 218
P. Preuß, Die ehem. dt. Schutzgebiete – Geschichte, Post und Verkehr, Leipzig 1935. W. Schmidt / H. Werner, Geschichte der Dt. Post in den Kolonien und im Ausland, Leipzig 1939 (stark vom damaligen Zeitgeist geprägt). G ERH A R D H U TZLER
Deutscher Evangelischer Missions-Ausschuß (DEMA). Mit dem Erwerb dt. Kolonien seit 1884 sahen sich auch die etablierten protestantischen dt. Missionsgesellschaften zunehmend dazu veranlaßt, ihr Verhältnis zum jungen Kolonialstaat definieren zu müssen. Daher gründeten sie im Rahmen der vom 27. bis 29.10.1885 in Bremen stattfindenden „Kontinentalen Missionskonferenz“ – einem seit 1866 bestehenden, üblicherweise alle vier Jahre tagenden Kommunikationsforum der verschiedenen dt. (und ursprünglich auch einiger ausländischer) Missionsgesellschaften – den „Ausschuß der dt. evangelischen Missionen“ (am 28.4.1910 umbenannt in DEMA). Er diente als gemeinschaftliche Interessensvertretungsinstanz gegenüber der Reg. sowie kolonialen Institutionen, besaß aber keine Entscheidungsbefugnis gegenüber den in ihm vertretenen Missionsgesellschaften, da diese weiterhin größtmögliche Autonomie im Inneren behalten wollten und zudem den Verlust ihrer historisch gewachsenen Charakteristika fürchteten. Zum ersten Vorsitzenden wählte man den Missionswissenschaftler und -theologen Gustav →Warneck (bis 1905). Obwohl bei den Mitgliedern weitgehend Einigkeit darüber bestand, daß die Mission einen internationalen Charakter zu wahren habe, markiert die Gründung des Ausschusses den Beginn einer organisatorischen Annäherung von dt. protestantischer Mission und Kolonialstaat. Angesichts des Verlusts fast aller Missionsgebiete nach dem Ersten Weltkrieg und einer desperaten finanziellen Situation der einzelnen Missionsgesellschaften schlossen sich die meisten von ihnen 1922 zum Dt. Evangelischen Missionsbund (DEMB) zusammen, wobei dessen Geschäftsführung dem DEMA mit Sitz in Tübingen übertragen wurde. Als schließlich 1933 die Eingliederung der Mission in die von den Dt. Christen geprägte Reichskirche drohte, entstand dann aus dem DEMB der Dt. Evangelische Missionstag (DEMT) mit dem Dt. Evangelischen Missionsrat (DEMR) als Exekutivorgan, der damit den DEMA ablöste. Tobias Eiselen, Mission macht Politik, in: Ulrich van der Heyden, Holger Stoecker (Hg.), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen, Stuttgart 2005, 663– 674. Horst Gründer, Christl. Mission und dt. Imperialismus, Paderborn 1982. Kontinentale Missionskonferenz (Hg.), Bericht über die Verhandlungen der Kontinentalen Missions-Konferenz, Gütersloh 1893. TH O RSTEN A LTEN A
Deutscher Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien. 1887 wurde der Deutschnationale Frauenbund gegründet, aus dem am 30.4.1888 der Dt. Frauenverein für die Krankenpflege in den Kolonien hervorging. 1909 schloß sich der Verein dem Dt. Roten Kreuz an und nannte sich DFVvRK für die Kolonien. Zu den führenden Gründungsmitgliedern gehörte die spätere Kolonialschriftstellerin Frieda von Bülow. Seine
d e ut s c h er v e r b An d zu r be k Äm Pf un g d es Af ri k An i s ch en brA n n twei n hAn d els
Hauptaufgabe war es, Krankenschwestern in die Kolonien des Dt. Reiches zu senden, um dort kranke Weiße und Einheimische zu versorgen. Außerdem hatte sich der Verein hygienische Maßnahmen zur Trinkwassergewinnung sowie den Bau von Krankenhäusern zur Aufgabe gemacht. Durch mikroskopische Arbeiten halfen die Schwestern bei der Bekämpfung von →Malaria und der Schlafkrankheit, versuchten durch professionelle Pflege die hohe Säuglingssterblichkeit in den Kolonien zu senken und waren im Bereich der Kinderbetreuung tätig. Die Frauen verpflichteten sich vertraglich, für eine bestimmte Dienstzeit in den Kolonien zu bleiben. Der Verein bezahlte die Ausbildung der Krankenschwestern, sowie Reisekosten, Gehalt, Dienstkleidung und Ausstattung. Außerdem sorgte er für eine möblierte Unterkunft in den Kolonien. Der Frauenverein zeichnete sich durch die aktive Beteiligung des wohlhabendsten und höchsten Adels aus und stand unter dem Protektorat der Ks.in. Im Laufe der Vereinsgeschichte entstanden im gesamten Dt. Reich zahlreiche Abteilungen und Landesverbände, die teilweise unter hochherrschaftlichem Schutz standen. Die Mitgliederzahl stieg von 250 (1888) auf ca. 20 000 Mitglieder (1914). Die ersten vom Frauenverein ausgesandten Schwestern kamen 1888 nach →Dt.-Ostafrika. Ab 1891 waren Krankenschwestern des Vereins in →Dt.-Neuguinea tätig, ab 1892 in →Kamerun, ab 1893 in →Dt.-Südwestafrika, ab 1894 in →Togo, ab 1902 in →Tsingtau und in →Samoa ab 1905. Seine wichtigste Einrichtung war das am 24.9.1909 eingeweihte Kg.inCharlotte-Krankenhaus in →Lomé (→Togo). Darüber hinaus war der Verein an der Ausstattung und Unterhaltung von weiteren Lazaretten, Kindergärten und einem Wöchnerinnenheim in Windhuk beteiligt. Insg. waren bei Kriegsausbruch 66 Schwestern in den Kolonien stationiert. Auch nach dem Verlust der Kolonien setzte der Frauenverein seine Arbeit fort und lebt noch heute in der Nachfolgeorganisation Schwesternschaft Übersee e. V. weiter. Margrit Davies, Public Health and Colonialism, Wiesbaden 2002. Bernhard Naarmann, Koloniale Arbeit unter dem Roten Kreuz, med. Diss. Münster 1986. Lora Wildenthal, German Women for Empire 1884–1945, London 2001. L I VI A L OOS E N / HORS T GRÜNDE R Deutscher Kolonialverein →Deutsche Kolonialgesellschaft Deutscher Verband zur Bekämpfung des afrikanischen Branntweinhandels. 1910 am Rande des Berliner Kolonialkongresses (→Berliner Westafrika-Konferenz) öffentlichkeitswirksam konstituiert, verlangte diese Vereinigung vehement nach Lösungen für ein Problem, das nicht nur in den deutschen Kolonien zeitweise massiv auftrat: den florierenden Alkoholhandel mit den Afrikanern. Europäischer Schnaps hatte sich als gängige Tausch- und Handelsware an den Küsten schon länger durchgesetzt. Mit Errichtung formeller Kolonialherrschaft im 19. Jh. und fortschreitender Erschließung des Hinterlandes bekam sein Absatz eine neue Dimension. Skrupellose Geschäftemacher lieferten nicht nur minderwertige Billigware, sondern brachten einer in der
Regel ahnungslosen Bevölkerung auch das Alkoholproblem (→Drogen / Drogenkonsum) mit seinen negativen Folgeerscheinungen. Bereits Mitte der 1880er Jahre erkannte man in der protestantischen Missionsbewegung (→Protestantische Missionsgesellschaften) dringenden Handlungsbedarf und setzte das Problem auf die kolonialpolitische Agenda. Zum einen störte das Alkoholgeschäft die eigene Entwicklungs- und Erziehungsarbeit vor Ort. Zum anderen sah man sich in der humanitären Pflicht, die afrikanische Klientel vor dieser negativen Begleiterscheinung von Kolonialismus und Kulturkontakt zu schützen. Vom Staat wurden daher effektive Gegenmaßnahmen eingefordert. Verkaufs-, Abgabe- und Importbeschränkungen bis hin zu radikalen prohibitiven Regelungen sollten das Problem entschärfen. Darüber hinaus galt es, in der deutschen Öffentlichkeit durch entsprechende Aufklärungsarbeit Problembewußtsein zu schaffen. Nach ersten Diskussionen und zunächst noch wirkungslosen Vorstößen bei den politischen Entscheidungsträgern konstituierte sich 1896 als direkter Vorläufer des „Deutschen Verbandes“, orientiert an einem englischen Vorbild („Native Races and the Liquor Traffic United Committee“), eine gleichnamige „Kommission“. Vertreter der protestantischen Missionslobby waren dabei tonangebend. Finanziert wurde die Arbeit durch Zuwendungen von Privatpersonen sowie vom „Evangelischen Afrika-Verein“, der auch seine Zeitschrift „Afrika“ als Publikationsorgan zur Verfügung stellte. Immerhin führte die andauernde Kritik dazu, daß der Kolonialstaat schließlich reagierte. Beschränkungen im Alkoholhandel wurden seit 1907 fester Bestandteil eines aktiven „Eingeborenenschutzes“. Eine Neuorganisation brachte dann die Gründung des „Deutschen Verbandes“, der neben intensiver Aufklärungsarbeit auch die internationale Ebene im Visier hatte. Man wußte, daß sich das Problem inzwischen genauso in den nicht deutschen Besitzungen zeigte. So wurde nun verstärkt für ein koordiniertes Vorgehen der Kolonialmächte plädiert und bei verschiedenen Anlässen dazu Lösungsvorschläge unterbreitet. Nach außen intendierte der Verband eine möglichst breite, politisch wie konfessionell neutrale Sammlung aller kolonialen Alkoholgegner. Tatsächlich stand jedoch auch dieser Ansatz klar unter protestantischer Dominanz. Immerhin hatten sich bis 1912 zehn Missionsgesellschaften, 17 regionale Missionskonferenzen sowie fünf weitere, ebenfalls der evangelischen Mission nahestehende Vereinigungen, dem Verband angeschlossen. Von Bedeutung war zudem die Teilnahme der größten säkularen Gruppierungen der zeitgenössischen deutschen Antialkoholbewegung. Die Temperenzler und Abstinenzler motivierte dabei eher der generelle Kampf gegen den Alkohol „an allen Fronten“, so eben auch in den Kolonien. Die Beteiligung katholischer Mitstreiter, die das Problem ebenfalls schon länger monierten und dagegen vorgingen, wurde zwar ausdrücklich erwünscht, blieb jedoch die Ausnahme. Trotz der bekundeten grundsätzlichen Übereinstimmung in der Sache zeigten sich auf beiden Seiten Vorbehalte. Latente Konfessionsrivalität und das klare protestantische Übergewicht im Verband behinderten letztlich die Zusammenarbeit unter dem Dach einer gemeinsamen Organisation. Dennoch: 219
d e ut s c h n At i o n A l er k o l o n i A lv e r ei n
Ohne den kontinuierlichen Einspruch der Alkoholgegner auch nach dem faktischen Ende der deutschen Kolonialherrschaft – immerhin überlebte der D. V. noch bis 1943 – wären die Folgen des Alkoholhandels für die Afrikaner zweifellos noch gravierender gewesen. Dietrich Döpp, Humanitäre Abstinenz oder Priorität des Geschäfts? Die Diskussion um die Legitimität des kolonialen Alkoholhandels in der deutschen Öffentlichkeit (1885–1914), in: Horst Gründer (Hg.), Geschichte und Humanität, Münster / Hamburg 2 1994, 121–135. DI E T RI CH DÖP P
Deutschnationaler Kolonialverein. Der 1904 gegründete Verein vertrat eher kleinbürgerliche Siedlerinteressen gegenüber dem kapitalistischen Konzessionssystem. Er trat deshalb für den Ausbau der Selbstverwaltung in den Kolonien ein sowie für eine Vertretung der Kolonien im Reichstag, weshalb er einen „kolonialen Wahlschatz“ für die Reichstagswahlen schuf. Vereinsorgane waren die Monatsschrift „Die dt. Kolonien“ sowie die wöchentliche illustrierte „Koloniale Zeitschrift“. HORS T GRÜNDE R
Dhaka (Dacca) ist eine der wichtigsten Städte →Bengalens und liegt am Fluß Dhaleswari im Ganges-Brahmaputra-Delta (→Ganges); die Stadt ist ein bedeutendes Handels-, Industrie- und Kulturzentrum, auch durch die Nähe zu dem Hafen von Narayanganj. Sie gewann im 17. Jh. an Bedeutung, als die Hauptstadt Bengalens von Raj Mahal nach D. verlegt wurde. Unter den →Moguln blieb D. die Hauptstadt der Provinz Bengalen von 1608–1639 und später von 1660–1704. In diesem Zeitraum stiegen die Produktion von und der Handel mit dem berühmten D.-Musselin an. Während der Mogulherrschaft befand sich die Stadt unter der Zuständigkeit eines Faujdar (Beamter mit exekutiven und militärischen Funktionen) und 6 Amins (Steuerbeamten). Durch die Verlegung der Provinzhauptstadt nach Murshidabad (1704) und einer Krise der Musselinprodukion begann für D. eine Phase wirtschaftlicher Schwäche. 1765 fiel die Stadt unter brit. Kontrolle (→British Raj) und erhielt 1864 den Status einer Gemeinde („municipality“), verlor aber weiter an Bedeutung, bis sie, während der Teilung Bengalens (1905–1911), Hauptstadt des östlichen Teils der Provinz wurde. Als Zentrum der musl. Mehrheit in Ostbengalen entwickelte sich D. im 20. Jh. zu einem Zentrum nationalistischer Agitation (→Ind. Nationalismus). In den 1940er Jahren war D. auch Schauplatz von Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen, die der →Teilung Brit.-Indiens und der Gründung →Pakistans 1947 den Weg bereiteten. 1971 wurde D. (heute 6,7 Mio. Einw.) Hauptstadt des unabhängigen Bangladesch. Sharif U. Ahmed, Dhaka. Past, Present, Future, Dhaka 1991. Md. Abu Musa, History of Dhaka through Inscription and Architecture, Dhaka 2000. NI T I N VARMA Díaz del Castillo, Bernal, * 1495 oder 1496 Medina del Campo, † 1584 Santiago de Guatemala (Antigua Guatemala), □ unbek., rk. Autor eines der bekanntesten Augenzeugenberichte über die →Eroberung →Mexikos (1519–21), der Historia 220
Verdadera de la Conquista de La Nueva España (Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Mexikos). D. wurde 1495 oder 1496 als Sohn des regidor (Ratsherrn) Francisco D. d. C. in Medina del Campo geboren. Wie viele Eroberer Mexikos konnte D. bereits Erfahrungen aus vorausgegangenen Conquistas mitbringen. Mit ca. 19 Jahren beteiligte er sich 1514 an der Expedition von Pedrarias Dávila nach Darien (→Panama). Von dort ging er nach →Kuba. Der Gouv. Diego Velázquez war ein entfernter Verwandter. 1517 beteiligte D. sich an der Expedition von Francisco Hernández de Córdoba nach Yucatán, bei der Hernández und viele andere Conquistadoren umkamen. D. schrieb, er habe auch an der Expedion von Juan de Grijalva (1518), der bereits vor Hernando →Cortés, die Küstengebiete Mexikos erkundete, teilgenommen. Das ist aber strittig. 1519 schloß er sich der Eroberung Mexikos durch Hernando Cortés an. Mit Pedro de Alvarado beteiligte er sich an der Eroberung →Guatemalas (1523/24). Kurz darauf ging er mit Cortés auf dessen verlustreichen Eroberungszug nach Honduras (1524–1526). Er ließ sich in Santiago de Guatemala (dem heutigen Antigua Guatemala) nieder und übernahm dort öffentliche Ämter (regidor, fiel ejecutor). 1550 reiste D. nach Spanien, um sich am Hof für die Interessen der Conquistadoren einzusetzen. Ziel war die Durchsetzung des Erbrechts für die →encomiendas (encomiendas perpetuas), das die Eroberer von der Krone erhalten wollten. Für die Interessen der Conquistadoren erwies sich das politische Klima allerdings als schwierig, denn in Valladolid fand 1550/51 die berühmte Debatte zwischen dem Dominikaner und Bischof von Chiapas Bartolomé de →Las Casas und dem Juristen Juan Ginés de Sepúlveda über den Rechtsstatus der indigenen Bevölkerung statt. Bereits 1542 hatte Las Casas eine Streitschrift verfaßt, die „Brevísima relación de la destruición de las Indias – Ganz kurzer Bericht über die Zerstörung Westindiens“. In seiner bedeutenden und bis heute viel publizierten Schrift warf Las Casas den Conquistadoren Grausamkeit, Habgier und Massenmord an der indigenen Bevölkerung vor. In diesem politischen Umfeld sah D. sowohl die materiellen Interessen der Conquistadoren als auch ihr Andenken (memoria perpetua) bedroht. Er wollte ihnen ein eigenes Denkmal setzen und begann seine Geschichte, die er die wahre Geschichte nannte, aufzuschreiben. Neben den Briefen von Cortés ist die Historia Verdadera de la Conquista de La Nueva España (Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Mexikos) eine wichtige Quelle zur Eroberung Mexikos aus der Perspektive der siegreichen Conquistadoren. D. stilisierte sich zum einfachen Soldaten in einer Geschichte „von unten“. Diese Selbstdarstellung ist in zweifacher Hinsicht irreführend. Erstens gehörte D. zwar nicht dem Adel an, stammte aber immerhin aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Seine in flüssiger Schrift geschriebenen Briefe an den Ks. →Karl V. zeigen zudem, daß er keineswegs der kaum gebildete einfache Mann aus dem Volk war, als der er oft charakterisiert wird. Zweitens zeugt seine Verwendung des Begriffs „soldado“ von zeitlichem Abstand zwischen der Conquista Mexikos und seiner Niederschrift. Erst 1568, also knapp 50 Jahre nach den Ereignissen, stellte D. eine erste Fassung seiner Geschichte fertig. Auf Grund der restrik-
di em en
tiven Publikationspolitik unter dem span. Kg. →Philipp II. (* 1527, Kg. 1556–1598) konnte D. sein Buch nicht veröffentlichen. Er starb 1584 in Santiago de Guatemala. Der erste Druck erschien 1632. Seitdem wurde seine anschaulich geschriebene Geschichte in vielen Sprachen publiziert. Bernal Díaz del Castillo, Historia verdadera de la conquista de la Nueva España. Manuscrito Guatemala, (Hg.) José Antonio Barbón Rodríguez, Mexiko-Stadt 2005. Bernal Díaz del Castillo, Geschichte der Eroberung von Mexiko, (Hg.) Georg A. Narciß, Frankfurt/M. 1988. ANJA BRÖCHL E R Diederichs, Ernst Otto, von, Admiral z. D., * 7. September 1843 Minden / Westfalen, † 8. März 1918 in BadenBaden, □ 12. März 1918 verbrannt, Baden-Baden, am 13. März 1918 die Urne der Familie übergeben, erst am 6. März 1928 Beisetzung am Urnenplatz in der Vorhalle der Leichenhalle, Friedhof Baden-Baden / Lichtental, ev.-luth. Nach einem kurzen Dienst als Fähnrich im Ostpreußischen Füsilier Regiment 33 im Jahr 1862, diente D. in der preußischen Handelsmarine. Im September 1865 trat er in die Preußische Marine als Offiziersaspirant und Matrose II. Klasse ein. Nach Verwendungen in der Stammdivision der Ostseestation und auf verschiedenen Schiffen übernahm er am 24. Juli 1870 als Oberleutnant zur See das Kommando des Kanonenboots Natter, welches er im Deutschen-Französischen Krieg führte. Seit 1875 Assistent der Torpedo-Versuchs- und Prüfungskommission; Dienststellungen als Erster Offizier auf verschiedenen Korvetten und Fregatten im Rang eines Korvettenkapitäns. 1886 bis 1887 im Rang eines Kapitäns zur See als Lehrer an der Marineakademie in Kiel. 1892 Beförderung zum Konteradmiral mit der Dienststellung eines Oberwerftdirektors der kaiserlichen Werft in Kiel. Es schlossen sich Verwendungen als Chef der II. Division des Manövergeschwaders zwischen 1893 und 1894 und in den Jahren 1895 bis 1896 als Chef des Stabs der Ostseestation an. Von Juni 1897 bis April 1899 führte er die Kreuzerdivision (ab 23. November 1897 Kreuzergeschwader) in Ostasien. In dieser Funktion leitete er die Besetzung der →Kiautschou-Bucht. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde D. zum Generalstab der Preußischen Armee kommandiert. Von Anfang 1900 bis August 1902 diente er als Chef des Admiralstabs in den Rängen eines Vizeadmirals und eines Admirals. Am 19. August 1902 wurde er zur Disposition à la suite des Admiralstabs gestellt. 1904 erhielt Diederichs das Bürgerrecht in Baden-Baden. Im Ersten Weltkrieg wurde er nicht reaktiviert. Zusammen mit seiner Ehefrau (Henriette von Diederichs, geb. Klopp, * 27. Juni 1853 Leer, † 17. Dezember 1917 Baden-Baden) im Urnengrab Baden-Baden / Lichtental bestattet. Hans Hildebrand / Ernest Henriot: Deutschlands Admirale 1849–1945, Bd. 1, Osnabrück 1988, 242–244. ANDRE AS L E I P OL D
Dieffenbach, Ernst, * 27. Januar 1811 Gießen, † 1. Oktober 1855 Gießen, □ unbek., ev.-luth.
1828 begann der Sohn des Theologen Ludwig Adam D. das Medizinstudium in Gießen, war aber 1833 auf Grund seines Engagements in der Burschenschaft Germania gezwungen, nach Zürich zu emigrieren, wo er 1835 Doktor der Medizin wurde. Im folgenden Jahr wurde er aus der Schweiz ausgewiesen und ging nach England, wo er ab 1838 für die Edinburgh review und die British Annals of Medicine arbeitete. 1839 wurde er von der →New Zealand Company mit der wissenschaftlichen Leitung einer →Expedition nach →Neuseeland beauftragt. Er unternahm zahlreiche Forschungsreisen auf der Nordinsel Neuseelands, darunter u. a. die Erstbesteigung des Taranaki durch einen Europäer, und den Chatham-Inseln. Nachdem sein Vertrag mit der New Zealand Company 1841 auslief und er für die weitere Erforschung Neuseelands keine finanzielle Unterstützung fand, kehrte D. Im Okt. 1841 nach England zurück. Die Ergebnisse der Expedition veröffentliche er in New Zealand, and Its Native Population (1841) und Travels in New Zealand (2 Bde., 1843). 1843 kehrte D. nach Gießen zurück. In den folgenden Jahren übersetzte und publizierte er Darwins Journal of Research, bis er 1848 die Redaktion der Freien hessischen Zeitung übernahm. 1849 wurde er Privatdozent und 1850 außerordentlicher Prof. für →Geologie an der Universität Gießen. 1851 heiratete D. Katharina Emilie Reuning und starb am 1.10.1855, nur drei Wochen vor der Geburt seiner zweiten Tochter, an →Typhus. Gerda Bell, Ernest Dieffenbach, Palmerston North 1976. Philip Temple, New Zealand Explorers, Christchurch 1985. JO H A N N ES BER N ER Diemen, Antonie / Antonio / Anton / Antonius van, * 1593 (?) Culemborg, † 19. April 1645 Batavia, □ Kruiskerk (Holländische Kirche) Batavia, Calvinist Sohn des Bartholomeus van D., Bürgermeister von Culemborg, und der Elisabeth Hoevenaer, ließ sich der junge Kaufmann 1616 in Amsterdam nieder, mußte aber schon 1617 Bankrott anmelden. Auf der Flucht vor seinen Gläubigern musterte er unter falschem Namen als Soldat bei der →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) an und erreichte auf der Mauritius am 22.8.1618 Bantam (→Banten/→Java), wo seine Fähigkeiten den Gen.gouv. →Coen bewogen, ihn als Schreiber in seinem Sekretariat anzustellen. Obwohl den Heeren XVII der Identitätsschwindel inzwischen aufgefallen war und sie D.s Entlassung angeordnet hatten, machte er in Ostindien Karriere, wurde am 31.1.1623 von Coen zum Oberkaufmann und 1625 von den bewindhebbers zum Ordentlichen Rat von Indien ernannt. 1627 stieg er als Generaldirektor und Handelskoordinator in die zweithöchste Position der VOC in Asien auf und kehrte 1631 als Admiral der Retourflotte in die Niederlande zurück. Auf Bitten der Kompaniedirektoren reiste er 1632 im alten Rang erneut nach Batavia und übernahm am 1.1.1636 den Posten des Gen.-gouv.s. Während seiner neunjährigen Amtszeit veranlaßte er mehrere →Expeditionen in unbekannte Gewässer. Während die Erkundungen im Norden und Osten Japans 1643 wenig Erfolg hatten, gelang Abel J. →Tasman 1642/43 und 1644 eine Umrundung des noch unbekannten Australiens, bei der Tasmanien (damals „Van Diemens Land“), die Westküste Neusee221
d i s r Ae l i , be n j Am i n
lands und Abschnitte der Nordküste des Kontinents entdeckt wurden. Um die Sicherung des Gewürzmonopols (→Gewürze) und die Ausweitung des Kompaniehandels machte D. sich verdient, indem er 1636/37 und 1638 persönlich Aufstände in den →Molukken niederschlug, 1639 einen Waffenstillstand mit Bantam erreichte, Krieg gegen die Portugiesen auf Ceylon (→Sri Lanka, Waffenstillstand 1644) und in →Malakka (→Eroberung 1641) führte und Verträge mit Atjeh (Aceh) auf →Sumatra, →Ternate, →Tidore, Gilolo (Jailolo/Halmahera), →Laos, →Cochinchina und Tonkin (heute →Vietnam) schloß. Nach der Ermordung der Mitglieder einer VOCGesandtschaft in →Kambodscha 1643 schickte D. eine Strafexpedition (Schlacht auf dem Mekong vor →Phnom Penh am 12.6.1644). Als Japan 1636 außer den Chinesen und Niederländern alle Ausländer auswies, erkannte er die Chance des exklusiven Handelsvorteils und akzeptierte die strengen jap. Reglementierungen. Seit dem 17.1.1630 in kinderloser Ehe mit Maria van Aelst verheiratet, bemühte sich D. auch um ein besseres Zusammenleben in Batavia. 1639 wurden die Grundsteine für das Kranken- und das Waisenhaus gelegt. 1642 folgte die Einführung der Bataviasche statuten, eines ersten bürgerlichen Gesetzbuches. D. stiftete 1640 die Kriuskerk und 1644 ein weiteres Gotteshaus und gründete 1642 eine Lateinschule. Am 19.4.1645 starb er in Batavia und wurde in der Kruiskerk beigesetzt. Nach Coen ist er wahrscheinlich der wichtigste Erbauer des VOCHandelnetzes in Asien. In Würdigung seiner Verdienste erhielt seine in die Niederlande übersiedelte Witwe von den Heeren XVII ein Geldgeschenk in Höhe von 20 000 Gulden. Alfons van der Kraan, Murder and Mayhem in Seventeenth-Century Cambodia, Leiden 2009. P.C. Molhuysen u. a. (Hg.), Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, 5. Teil, Leiden 1921, Sp. 127f. L.P. van Putten, Ambitië en onvermogen, Rotterdam 2002, 66–71. ANNE L I PART E NHE I ME R- BE I N
Disraeli, Benjamin, 1st Earl of Beaconsfield (1876), * 21. Dezember 1804 London, † 19. April 1881 London, □ St Michael’s Church / High Wycombe, jüd. / anglik. (1817) Brit. konservativer Politiker und Schriftsteller. Der Sohn eines jüdischen Literaten wurde 1817 getauft. Seit 1837 saß er für die Konservativen im Unterhaus, wo er Protagonist des Schutzzollflügels war (1848–1852). 1846 trat er im Zusammenhang mit der Aufhebung der Getreideschutzzölle gegen Peel auf. In den Kabinetten Derby (1852, 1858, 1866–1868) diente D. als Finanzminister (Chancellor of the Exchequer) und war verantwortlich für die Durchsetzung des zweiten Wahlgesetzes (1867). Nach Derbys Tod (1869) wurde D. Vorsitzender der Konservativen Partei und war zweimal Premierminister (1868; 1874–1880). Als Anhänger der imperialen Idee bemühte er sich um den Ausbau des →Brit. Kolonialreichs. 1875 kaufte er für Großbritannien (4 Mio. £) die Aktien der Suez-Kanal-Gesellschaft (→Suez). Er unterhielt beste Beziehungen zu Kg.in Victoria, die 1876 Ks.in von →Indien wurde. Im selben Jahr wurde D. in den Grafenstand erhoben. Auf dem Berliner Kongreß 222
(1878) konnte er nach dem →Russ.-Türk. Krieg die Hauptziele der brit. Politik in der →Orientfrage durchsetzen. Nach der Wahlniederlage 1880 trat er zurück und starb 1881. D. schrieb die Romane Vivian Grey (1826), Contarini Fleming (1832), Coningsby or the New Generation (1844), Sibyl, or the two Nations (1845) und Tancred or the New Crusade (1847). Robert Blake, Disraeli, New York 1966. James B. Conancher, The Emergence of British Parliamentary Democracy in the Nineteenth Century, New York 1971. Sneh Mahajan, British Foreign Policy, Routledge 2002. A LEŠ SK ŘIVA N JR.
Djihad →Heiliger Krieg Dobrizhoffer, Martin, SJ, * 7. September 1718 Friedberg (Frymburk) oder Graz, † 17. Juli 1791 Wien, □ unbek., rk. 1736 Eintritt in d. Jesuitenorden (→Jesuiten). 1748 Überfahrt, 1749–1767 Missionar in →Paraguay in den zum Bistum Santa Fe gehörigen Mocobí-, Abipones-, Tobas- und Itatines-Missionen des Gran Chaco in Concepción, San Jerónimo, San Fernando (heute: Resistencia), Santa María de Fé, San Joaquín und San Estanislao. 1763 wiederum zu den Abipones versetzt, gründete dort die Reduktion Santo Rosario y San Carlos, zuletzt ab 1765 bis zur Ausweisung 1767 erneut in San Joaquín. 1768 →Deportation nach Cadiz, dann über Italien nach Österreich, dort 1769–1773 u. a. in Wien Prediger und Präses der Handwerkerkongregation. Nach der Jesuitenaufhebung 1773 bis zu seinem Tod 1791 als Hofprediger am Ks.hof, wo Maria Theresia ihm eine Pension gewährte. 1773–1778 verfaßte er sein 1784 in Wien erschienenes Hauptwerk, die lateinische „Historia de Abiponibus“ – neben den Arbeiten der PP. Anton →Sepp und Florian Paucke eines der wichtigsten Quellenwerke für die Missionsgeschichte Paraguays mit ethno-linguistischen, landeskundlichen und kulturanthropologisch wertvollen Studien über die indianische Kultur, die Flora und Fauna, →Geographie und Naturgeschichte. Seine „Sprachproben aus Paraguay“ edierte Christoph Gottlieb von Murr im „Journal zur Kunstgeschichte und zur allg. Litteratur“, Teil IX, (Nürnberg 1780), 96–106. Q: „Geschichte der Abiponer“, hg. v. A. Kreil, 3 Bde., Wien 1783/84. Neuausgabe durch Julius Platzmann, „Des Abbé Martin Dobritzhoffer Auskunft über die abiponische Sprache“, Leipzig 1902; Neuauflage: Walter von Hauff, „Auf verlorenen Posten bei den Abiponen“, Leipzig 1928, engl. Bearbeitung London 1822. Span. Edition: Historia de los Abipones, 3 Bde., übers. v. Edmundo Wernicke, Resistencia/Chaco 1967–1970. L: Guillermo Fúrlong Cárdiff SJ, Noticia biográfica y bibliográfica del Padre Martín Dobrizhoffer, in: Dobrizhoffer, Historia de los Abipones. 3 Bde., Bd. 1, Resistencia / Chaco 1967, 15–78. Hernán Benítez Jump, Der Ethnograph Martin Dobrizhoffer aus Friedberg im Böhmerwald, in: Jb. für Sudetendt. Museen und Archive (1991) 217–243. Angelika Kitzmantel, Die Jesuitenmissionare Martin Dobrizhoffer und Florian Paucke und ihre Beiträge zur Ethnographie des Gran Chaco im 18. Jh., München 2004. MICH A EL MÜ LLER
d ri tte welt
Dodo →Mauritius DOM →TOM Dominica →Antillen Dominions. Seit 1926 offizielle Bezeichnung derjenigen brit. Kolonien, die vom Mutterland zuvor schon die Befugnis zur Selbstverwaltung erhalten hatten. Diese Befugnis war zunächst nur Kolonien zuerkannt worden, in denen brit. Siedler dominierten. Den Anfang machte →Kanada (1867), gefolgt von Australien (1901), Neuseeland (1907), Neufundland (1907; gab 1933 die Selbstverwaltung auf und wurde wieder →Kronkolonie, bevor es 1949 an Kanada angeschlossen wurde) und der →Südafrikanischen Union (1910). Dieses Recht zur selbständigen Regelung innerer Angelegenheiten (home rule) war keineswegs gleichbedeutend mit Souveränität. Die 1926 tagende Empire-Konferenz beschloß, die über home rule verfügenden Kolonien zu D. zu erheben. Der Status eines D. war durch „independence under the crown“, d. h. vollständige Autonomie charakterisiert, was de facto der Erhebung der genannten Kolonien zu souveränen Staaten gleichkam. 1931 versicherten die D. im „Westminster Statute“, weiterhin „durch gemeinsame Treue zur [brit.] Krone miteinander verbunden“ bleiben zu wollen. Diesen Anspruch lösten sie ein, indem sie an der Seite Großbritanniens am →Zweiten Weltkrieg teilnahmen. 1947 wurde im Rahmen der Dekolonisation →Indien die erste nicht von brit. Siedlern dominierte ehem. Kolonie, die den Status eines D. erhielt. 1952 wurde die Bezeichnung D. offiziell durch den Ausdruck „country of the Commonwealth“ ersetzt. Charles Arnold-Baker (Hg), The Companion to British History, London / New York 22001, 187f. Imanuel Geiss, Geschichte griffbereit, Bd. 4, Gütersloh / München 2002, 764. Bernard Porter, Dominions, in: John Cannon (Hg.), The Oxford Companion to British History, Oxford 2002, 299f. CHRI S TOP H KUHL Douwes →Dekker Drake, Francis Sir (1581), * um 1540 Tavistock, † 28. Januar 1596 vor Puerto Bello (Portobelo), □ Seebestattung, anglik. Engl. Admiral, Seefahrer und Entdecker; diente seit seiner Jugend in der Flotte. In den 1570er Jahren nahm er an zahlreichen Angriffen auf span. Häfen teil. 1577–1580 umsegelte er als erster Engländer und als zweiter Mensch überhaupt die Welt. Kg.in →Elisabeth I. erhob ihn in den Ritterstand. 1585–1587 kämpfte er erneut gegen Spanien und wurde 1587 im Zusammenhang mit dem Angriff auf den span. Hafen Cadiz populär. 1588 war D. Vizeadmiral der engl. Flotte, die die span. Armada abwehrte. Er starb 1596 auf See. Samuel Bawlf, The Secret Voyage of Sir Francis Drake, New York 2003. Harry Kelsey, Sir Francis Drake, the Queen’s Pirate, New Haven 1998. Garett Mattingly, The Defeat of the Spanish Armada, London 1959. AL E Š S KŘI VAN JR.
Dravidische Sprachen. Die D.S. (auch: drawidisch) sind nach den indo-arischen Sprachen die zweitgrößte Sprachgruppe Südasiens und bilden zusammen mit diesen die beiden großen Sprachfamilien auf dem ind. Subkontinent. Die Zahl der Sprecher der D.S. beträgt mehr als 220 Mio., das entspricht ca. 24 % der Bevölkerung Südasiens. Das Hauptverbreitungsgebiet der D.S. liegt im Süden →Indiens und im Norden und Osten →Sri Lankas. Daneben finden sich zahlreiche Sprachinseln in Zentralindien sowie einige wenige in Nordindien und in →Pakistan (→Pakistan-Bewegung). Die D.S. stellen einen, von den in Nordindien verbreiteten indo-arischen Sprachen, unabhängigen Sprachstamm dar, der sich bereits vor der vermuteten Ankunft der Arier im ind. Subkontinent etabliert hatte. Der Name „dravidisch“ ist eine Entlehnung des engl. Wortes dravidian, das Mitte des 19. Jh.s auf der Basis des Sanskritwortes dravida (das südind. Bevölkerungsgruppen bezeichnet) von Robert Caldwell, dem Verfasser der ersten vergleichenden dravidischen Grammatik, geprägt wurde. Innerhalb der dravidischen Sprachfamilie werden heute insg. 27 Sprachen unterschieden. Die 4 wichtigsten und größten D.S. sind Tamil, Telugu, Kannada (auch Kanaresisch) sowie Malayalam. Diese 4 Sprachen sind einerseits die 4 großen dravidischen Literatursprachen, anderseits die jeweiligen offiziellen Amtssprachen der 4 südind. Bundesstaaten. Das Tamil, mit 60 Mio. Sprechern in Indien und 3 Mio. Sprechern in Sri Lanka, ist die Älteste der 4 dravidischen Hauptsprachen und hat die längste, sich über 2000 Jahre erstreckende Literaturtradition. Tamil ist die offizielle Amtssprache des südöstlichen ind. Bundesstaates Tamil Nadu. Das Telugu ist mit 74 Mio. Sprechern die größte D.S. und zugleich die Amtssprache des Bundesstaates Andhra Pradesh an der Ostküste Indiens, der an Tamil Nadu angrenzt. Das Kannada mit 37 Mio. Sprechern ist die offizielle Amtssprache des Nachbar-Bundesstaates Karnataka an der Westküste Indiens. Die literarische Überlieferung dieser beiden Sprachen beginnt knapp 1000 Jahre später als die des Tamil. Das Malayalam mit 33 Mio. Sprechern ist die Jüngste der 4 dravidischen Hauptsprachen. Es ist gegen Ende des 1. Jahrtausends aus einem Tamil-Dialekt entstanden und heute offizielle Amtssprache des südwestlichen ind. Bundesstaates Kerala. Die in den zentral- und nordind. Sprachinseln verstreuten dravidischen Sprachen sind zumeist schriftlose Stammessprachen. Bhadriraju Krishnamurti, The Dravidian Languages, Cambridge 2006. Sanford B. Steever (Hg.), The Dravidian Languages, London 2006. Kamil V. Zvelebil, Dravidian Linguistics, Pondicherry 1990. TH O MA S LEH MA N N
Dritte Welt. In den 1950er Jahren in Frankreich in Anlehnung an den Begriff „Dritter Weg“, der die Vorstellung einer von der kommunistischen Partei unabhängigen Opposition gegen die konservativen Parteien beschrieb, geprägte Bezeichnung für die asiatischen und afr. Länder, die in den 1940er und 50er Jahren aus Kolonien zu souveränen Staaten geworden waren. Innerhalb dieser Staatengruppe bezeichnete der Begriff DW im Rahmen des Ost-West-Konfliktes zunächst nur die Staaten, die sich 223
d r oge n
für blockfrei erklärten. Als die schwierige wirtschaftliche Lage der meisten dieser Staaten verstärkt Beachtung fand, bürgerte sich der Ausdruck „Entwicklungsländer“ (→Entwicklung) ein, der seitdem synonym zum Begriff DW benutzt wird. Die Beschränkung auf blockfreie Staaten entfiel. Damit wurde der Anwendungsbereich des Begriffs DW auf →Lateinamerika ausgedehnt, das wegen der sicherheitspolitischen Verträge der meisten lateinam. Staaten mit den →USA zuvor zum westlichen Block gerechnet worden war. Die wirtschaftliche Rückständigkeit der meisten Staaten der DW beruht nicht ausschließlich auf noch nicht überwundenen Folgen des →Kolonialismus, sondern auch auf Unzulänglichkeiten in der Modernisierungs- und Investitionspolitik der postkolonialen indigenen Eliten. Nach den Unterschieden im Stand der wirtschaftlichen Entwicklung wird innerhalb der DW auch begrifflich differenziert. Während für die ärmsten Staaten der DW mitunter der Begriff „Vierte Welt“ verwendet wird, bezeichnet man die Staaten der DW, die zwischenzeitlich ihren Industrialisierungsgrad (→Industrialisierung) erheblich erhöhen und den ökonomischen Abstand zu den westlichen Industrieländern verringern konnten, als Schwellenländer. Helmut Vogler, Dritte Welt, in: Ulrich Albrecht / Helmut Vogler (Hg.), Lexikon der internationalen Politik, München / Wien 1997, 109–112. CHRI S TOP H KUHL
lonialismus, Berlin 1987, 19–40. Annerose Menninger, Genuß im kulturellen Wandel, Stuttgart 2004.
Drogen, Drogenkonsum. Zusammenfassende Bezeichnung aller psychoaktiven, d. h. das Bewußtsein beeinflussenden Substanzen mit – unterschiedlich starker – suchterzeugender Wirkung; in Europa waren seit dem Altertum Alkohol und →Opium geläufige Drogen. In der Frühen Neuzeit setzte die überseeische Expansion Europas Austauschprozesse auch auf dem Gebiet der Drogen in Gang. Aus →Amerika gelangte →Tabak nach Europa. Die Europäer brachten ihrerseits die →Ethnien Amerikas mit dem diesen bislang unbekannten Alkohol und die Chinesen erstmals in großem Maßstab mit dem Rauchopium in Berührung. Für die außereuropäische Bevölkerung wirkten sich diese Austauschprozesse überwiegend negativ aus. Der unkontrollierte Alkoholkonsum forderte unter den am. Ureinwohnern zahlreiche Opfer. China wurde im 19. Jh. militärisch zur massenhaften Abnahme europäischen Opiums gezwungen. Für den dt. →Kolonialismus spielte der →Schnapshandel eine wichtige Rolle, da Alkoholimportzölle zu den größten Einnahmequellen der dt. Kolonialverwaltungen – wie der der anderen Kolonialmächte – in Afrika zählten. Die von Missionaren und Sozialdemokraten erhobene Forderung, den für die Indigenen schädlichen exzessiven Alkoholkonsum durch Verbot des Alkoholexports in die Kolonien zu unterbinden, war gegen die Interessen der Spirituosenindustrie und der Kolonialverwaltungen nur allmählich durchsetzbar. Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Drogenkonsum, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart / Weimar 2005, Spn. 1133–1136. Leonhard Harding, Die Berliner Westafrikakonferenz von 1884/85 und der Hamburger Schnapshandel in Westafrika, in: Renate Nestvogel / Rainer Tetzlaff (Hg.), Afrika und der dt. Ko-
C H R ISTIA N H A N N IG
224
CH R ISTO PH K U H L
Drygalski, Erich Dagobert von, * 9. Februar 1865 Königsberg, † 10. Januar 1949 München, □ unbek., ev.luth. Der Geograph und Geophysiker D. leitete 1901–1903 die erste dt. →Expedition in die →Antarktis (Gauß-Expedition), in deren Rahmen am 22.2.1902 Ks.-WilhelmII.-Land entdeckt wurde. Zu den 32 Teilnehmern zählten insb. der Meteorologe (inkl. Erdmagnetik) Friedrich Bidlingmaier, der Geologe Emil Philippi, der Botaniker und Zoologe Ernst Vanh und Hans Gazert, zuständig für ärztliche und bakteriologische Arbeiten. Mittels einer Ballonfahrt wurde ein erloschener Vulkan entdeckt und als Gauß-Berg benannt. Parallel zur Hauptexpedition unterhielten die Wissenschaftler Josef Enzensperger (Meteorologie), Karl Luyken (Geomagnetik) und Emil Werth (Botanik) eine geomagnetische und meteorologische Beobachtungsstation auf den Kerguelen, deren Aufgabe es war, Vergleichsdaten zu sammeln. Der Expeditionsbericht (22 Bde.) enthält v. a. meteorologische und zoologische Daten. Den Namen D.s tragen die D.-Berge im Kg.in-Maud-Land. Erich von Drygalski (Hg.), Die Dt. Südpolar-Expedition 1901–1903, 20 Bde. und 2 Atlanten, Berlin 1905–1931. Dschibuti. Der kleine Staat am „Tor der Tränen“ (Bab al-Mandab) zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden grenzt an →Eritrea, →Äthiopien und →Somalia (Somaliland). Seine Fläche umfaßt ca. 23 000 km2 mit ca. 800 000 Ew., von denen ca. 500 000 in der gleichnamigen Hauptstadt leben. Die Bevölkerung setzt sich zu 60 % aus Issa-Somali und zu 35 % aus Afar zusammen. Die restlichen 5 % sind Europäer (v. a. Franzosen), →Araber (v. a. Jemeniten), Äthiopier und Flüchtlinge aus Somalia. Über 90 % bekennen sich zum sunnitischen →Islam. Offizielle Landessprachen sind Französisch und Arabisch, gesprochen wird jedoch Somali bzw. Afar. D. gehört zu den heißesten Gegenden der Welt mit Durchschnittstemperaturen von 26–36° C. Der jährliche Niederschlag liegt bei nur 130 mm. Das Land gliedert sich in das Danakil- und Afar-Tiefland (Assalsee mit 173 m unter NN tiefster Punkt Afrikas) und die Danakilberge (Mousa Ali 2 063 m), vorwiegend von Wüsten, Halbwüsten oder Dornensavannen geprägt. Zwischen dem 7. und 10. Jh. übernahmen arab. Sultane die Herrschaft über die Gebiete des heutigen D. und islamisierten die nomadische Bevölkerung. Später gehörte D. zum Osmanischen Reich. Ab 1896 wurde D. zur Kolonie Frz.-Somaliland, die erst 1977 unabhängig wurde. Seither ist D. eine präsidiale Rep. Der Präs. wird auf sechs Jahren direkt gewählt und hat weitreichende Machtbefugnisse. Von 1991 bis 1994 herrschte ein Bürgerkrieg zwischen Afar-Rebellen und der Issadominierten Reg. Wegen seiner strategisch wichtigen Lage haben die →USA und Frankreich Militärstützpunkte in D. Obwohl D. den größten Teil des Bruttoinlandprodukts im Dienstleistungssektor erwirtschaftet, lebt der Großteil der Bevölkerung von der Nah-
d u chA i llu , PA u l bello n i
rungsproduktion (extensive Viehwirtschaft, Fischfang). Industrien sind kaum entwickelt. Die Arbeitslosenquote erreicht über 40 %. D. lebt hauptsächlich von Einnahmen aus dem Übersee- und Transithandel (Freihafen seit 1981) und vom im Land stationierten Militär. Es muß den größten Teil seiner Nahrungsmittel importieren und ist eines der Länder mit der größten Ernährungsunsicherheit in Afrika. AL KE DOHRMANN Dschihad →Heiliger Krieg Dschingis Khan →Činggis Khan Duala hat eine dreifache Bedeutung: es bezeichnet erstens eine Stadt, zweitens eine Volksgruppe und drittens eine Sprache in →Kamerun. Als Stadt ist D. (früher Cameroons, Kamerunstadt, Dualatown) die Wirtschaftsmetropole und die größte Stadt Kameruns mit ca. 3 Mio. Ew. Die Stadt liegt auf einer Höhe von 13 m ü. NN mit einer Fläche von 210 km2. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 28° C und der Jahresniederschlag beträgt 3847 mm. Die Stadt ist auch der Sitz der Provinz (seit 2008 „Région“) Littoral. Der Name „Kamerun“ ist auf diese Gegend am Südufer der breiten Trichtermündung des Wuri-Flusses zurückzuführen, an der port. Seefahrer 1472 ankerten. Der Wuri wimmelte von Krabben (callianassa turnerana) und so nannten die Portugiesen den Fluß „Rio dos camaroes“ (Krabbenfluß). Um 1500 erreichte auch eine span. Handelsflotte dieselbe Trichtermündung (damals Ambas bay). Angesichts der zahlreichen Krabben im Wuri sprachen auch sie von einem „Rio dos camarones“, aus dem die seit 1840 an der Insel →Fernando Póo ansässigen engl. Missionare den Namen „Cameroons Town“ generierten, um die ganze Küste zu benennen. D. spielt eine entscheidende Rolle in der politischen Entwicklung Kameruns seit Anfang der Neuzeit. Der Ort war ein wichtiger Handelspunkt zwischen der lokalen Bevölkerung und Europäern. Bis zur Ankunft dt. Händler, die „Cameroons Town“ zunächst in „Kamerunstadt“ verwandelten, bestand D. aus fünf großen Dörfern. Jedes Dorf unterstand einem lokalen Anführer. Am linken Ufer des Wuri lagen Belldorf, Akwadorf und Jossdorf. Flußaufwärts lag Bonambela (Deido), während Bonaberi auf der rechten Flußseite lag. Die damaligen Dörfer gelten heutzutage als klar identifizierbare Stadtviertel in D. Am 12.7.1884 unterzeichneten drei der oben genannten lokalen Anführer einen Vertrag mit Deutschland. Demgemäß wurde aus diesem Küstengebiet ein dt. „→Schutzgebiet“. Damals lebten ca. 30 000 Ew. in Kamerunstadt. Im Anschluß an ein Dekret der Kolonialverwaltung am 1.1.1901 wurde der Name „D.“ für die Stadt angewandt, während „Kamerun“ das ganze dt. Territorium bezeichnete. Als dt. Kolonisten nach einem Verstoß gegen den „Schutzvertrag“ das kamerunische Hinterland okkupierten (→Okkupation), wurde D. Sitz der Gouvernementsverwaltung. Doch der Mangrovengürtel, in dem D. lag, war für die Kolonialherren nicht günstig. Daher wurde der Sitz der Kolonialverwaltung 1908 nach →Buea am →Kamerunberg verlegt. Wegen eines Ausbruchs des Vulkans am Kamerunberg 1909 wurde D. wieder Hauptsitz kolonialer Verwaltung bis
kurz vor der Unabhängigkeit Kameruns. Auf Grund seines Hafens, wo Schiffe direkt an der Landungsbrücke anlegen können, hat D. nie seinen Stellenwert verloren. Volksguppe: D. bezeichnet auch die damaligen Ew. der beiden Wuri-Ufer und ihre aktuelle Nachkommenschaft. In der dt. Kolonialzeit waren D. hauptsächlich zwischen dem Wuri und dem Dibamba-Fluß ansässig. Anthropologen zufolge seien die D. 1578 aus dem Hinterland über die Demokratische Rep. →Kongo zu ihrem aktuellen Wohnsitz vorgedrungen. Ihre Vorgänger am Wuri sind zwei andere Gemeinschaften, die Bassa und die Bakoko, die nach der Ankunft der D. ins Landesinnere rückten. Die D. gehören den Sawa („Wassermenschen“) an, einem Ethnonym für alle Bantuvölker (→Bantu), die am kamerunischen Küstengebiet leben. Sprache: D. ist zudem eine Bantusprache in Kamerun (bwambo ba duálá). In der linguistischen Klassifizierung wird die Dualasprache durch A 24 bezeichnet. 1862 publizierte der engl. Missionar Alfred Saker, der seit dem 16.6.1845 bei King Akwa am heutigen Temple du Centenaire wohnte, die erste Bibelübersetzung in der Dualasprache. Er legte auch den Grundstein für eine Grammatik und skizzierte ein Wortverzeichnis. In der dt. Kolonialzeit entstand eine Literatur in Dualasprache. Auf Grund diverser Handelsbeziehungen zwischen den D. und den benachbarten Völkern gewann das D. beträchtlich an Bedeutung und dehnte sich über die Wuri-Ufer aus. Im Küstengebiet wurde die Dualasprache neben dem Pidgin-Englisch (→Pidgin- und Kreolsprachen) die lingua franca der kamerunischen Küste. Wegen der frz. Assimilationspolitik, die in Kamerun seit 1916 herrschte, wurde die Entwicklung des D. zu einer Nationalsprache eingedämmt. In ihrer Verschriftlichung hat die Dualasprache eine engl., eine dt., eine frz. und seit der Anwendung eines Alphabets kamerunischer Sprachen 1978 schließlich eine kamerunische Schreibform durchlaufen. Andreas Eckert, Die Duala und die Kolonialmächte, Münster 21999. Victor Julius Ngoh, History of Cameroon Since 1800, Limbe 1996. Gilles Séraphin, Vivre à Douala, Paris 2000. G ER MA IN N YA D A Du Chaillu, Paul Belloni, * 31. Juli 1835 Réunion, † 29. April 1903 St. Petersburg, □ Woodlawn Cemetery / New York, rk. D. war Sohn eines Pariser Kaufmanns, der an der Küste von →Gabun Handelsgeschäfte betrieb. 1851–1853 erkundete er die Flußgebiete des Ogoué und Mouni und organisierte 1855 im Auftrag der Academy of Natural Sciences in Philadelphia/→USA eine Forschungsreise in das Hinterland dieser den Europäern noch weitgehend unbekannten Flußsysteme in Richtung Kongobecken (→Kongo). Eine zweite große →Expedition, die 1863 begann, führte ihn im Verlauf der nächsten beiden Jahre bis in das Ashango-Gebiet östlich des 12. →Längengrades und damit 300 km weiter ins Innere des zentralafr. Regenwaldes, als Europäer bislang erreicht hatten. Auseinandersetzungen mit Einheimischen und Tropenkrankheiten zwangen ihn 1865 zum übereilten Rückmarsch an die Küste. D. lieferte die ersten neuzeitlichen Augenzeugenberichte über die →Pygmäen, die kleinwüchsigen Jäger- und Sammlerbevölkerungen der afr. Hyläa. Auf225
d u f t s to f f e
sehen erregten auch seine Beschreibungen über Gorillas, die allerdings – in offenkundig sensationsheischender Weise verfaßt – heutigen Erkenntnissen erheblich widersprechen. Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit D.s wurde schon von Zeitgenossen angezweifelt, doch bestätigten spätere Untersuchungen viele seiner ethnologischen und zoologischen Forschungsdaten. Von 1871–1878 bereiste D. die skandinavisch-russ. Gebiete Nordeuropas und legte ausführliche Berichte darüber vor. Als sein bekanntestes Werk ist L’Afrique sauvage; nouvelles excursions aux pays des Ashangos (Paris 1868) hervorzuheben. Jean-Marie Hombert, Cœur d’Afrique. Gorilles, cannibales et Pygmées dans le Gabon de Paul Du Chaillu, Paris 2007. Stuart McCook, It May be Truth, but it is not Evidence. Paul Du Chaillu and the Legitimation of Evidence in the Field Sciences, in: John P. Jackson (Hg.), Science, Race, and Ethnicity, Chicago u. a. 2002, 341–361. Michel Vaucaire, Gorillajäger. Leben u. Abenteuer d. Gorillajägers Paul Du Chaillu, Wien 1933. Dokumentarfilm v. Luc-Henri Fage, Sur les traces de Paul Du Chaillu (2007). UL RI CH BRAUKÄMP E R Duftstoffe. Auch: Parfüm nach lateinisch: per (durch) fumus (Rauch). Die früheste Verwendung als Räucherwerk ist für den ägyptischen Raum ca. um 2500 v. Chr. nachweisbar. Der Gebrauch der importierten Gummiharze beschränkte sich zunächst auf sakrale und medizinische Bereiche. Infolge der einsetzenden kosmetischen Verwendung, in Zusammenhang mit einem ausgeprägten Hygieneverständnis innerhalb des mesopotamischen Raums, wurden Blüten, Kräuter, →Gewürze, Wurzeln, Blätter, Fruchtschalen und Holz im Verlauf zu wichtigen Grundstoffen innerhalb der Gewinnung ätherischer Öle. Als Lösungsmittel dienten Schweine- oder Rinderfette, sowie Wasser und Öl. Seit der Entdeckung der Alkoholdestillation (11. Jh.) ersetzte diese weitgehend die anderen Flüssigkeiten. Tierische Stoffe, wie Moschus und Amber ergänzten erst ab der römischen „Blütezeit“ das Angebot. Typische Gewinnungsverfahren stellten die Enfleurage, die Mazeration und v. a. die mit dem Aufstieg der Alchimie verbundene Destillation dar. Wesentlich später vervollständigten oder ersetzten Pressen, Zentrifugieren, sowie die Solventextraktion herkömmliche Verfahren. Um die Qualität der gewonnenen Substanz zu erhalten, wurden sie in Gefäßen aus Glas oder Porzellan aufbewahrt, woraus eine enge Verbindung zwischen der Duftstoff- und der Glas- bzw. Porzellanherstellung resultierte. Insb. für frühe Phasen sind genauere botanische Bestimmungen nur eingeschränkt möglich. Das heute noch als Räucherwerk Verwendung findende Harz des Weihrauchbaums sowie die Myrrhe gelangten erst auf Fernhandelsrouten in persische Städte. Bis ca. 1600 bildete Alexandria den führenden Handelsumschlagplatz für D. Die vom Hauptproduzentenland →Indien einlaufenden Schiffe lieferten qualitativ und quantitativ die bedeutendsten Waren. Die Anwendung von D. konzentrierte sich überwiegend auf „Hochkulturen“. Entspr. gelangten kretische Aromen über Griechenland nach Rom, wohin die Komponenten über ein weitgespanntes Handelsnetz mit Arabien, Indien und China importiert wurden. Hier 226
weitete sich die umfangreich ausgeübte Parfümierpraxis auf Lebensmittel, sakrale und profane Räume, Kleidung – später auch zur Insektenabwehr – und Tiere aus. Besonderes Charakteristikum der arab.-islamischen Zivilisation war die enge Verbindung zwischen Parfümerie und Heilkunst. Entwicklungen arab. Gelehrter ermöglichten ab dem 8. Jh. die Seifenherstellung, für die sich im Verlauf →Genua, Bologna und die Provence als Produktionszentren etablierten. Mitte des 19. Jh.s verbrauchte diese Industrie den größten Anteil an ätherischen Ölen. Infolge der →Kreuzzüge importierte arab. D. erweiterten die bislang auf medizinische Verwendung beschränkten Aromen des christl. Okzidents. Weitere Einflüsse kamen aus arabo-muselmanischen Kulturen Spaniens, sowie Italien, insb. Genua und →Venedig. Auf Grund engster Verbindungen zum Gewürzhandel dominierten entspr. zunächst Portugal, dann die Niederlande und Großbritannien den Markt. Als erstes „modernes“ Parfüm gilt Ungarisches Wasser, dessen sich auf Grund schlechter Hygieneverhältnisse ab dem 14. Jh. in Europa reichlich bedient wurde. Weitere stark duftende „Kompositionen“ folgten, nicht selten auch in medizinischer Anwendung. V. a. während „Seuchenperioden“ (→Seuchen) wurde ihnen eine heilende bis prophylaktische Wirkung zugesprochen. Neben der Erweiterung maritimer Handelsrouten bereicherten europäische →Eroberungen das Duftstoffangebot. Mit der Renaissance veränderten sich Hygiene- und Schönheitskonzepte, woraus umfassende Parfümentwicklungen resultierten. Frankreich trat insb. unter Ludwig XV. als größter Duftstoffverbraucher in den Vordergrund. Grasse, als Kettenglied zwischen der neuen atlantischen Welt und älteren Mittelmeerkulturen, sowie Montpellier mit seinem tradierten Kräuteranbau stiegen zu wichtigen Produktionszentren auf. Als wichtiges Distributionszentrum sowie Drehpunkt der Eleganz und des Finanzkapitals erwies sich Paris. Seit Ende des 19. Jh.s ersetzen und ergänzen infolge technischer Entwicklungen erzeugte synthetische D. ätherische Öle. Allein dadurch kann die Befriedigung der stetig anwachsenden Nachfrage ermöglicht werden. Edwin T. Düfte, Die Kulturgeschichte des Parfums, Düsseldorf / Zürich 2006. Annik Le Guérer, Le parfum. Des origines à nos jours, Paris 2005. Günther Ohloff, Irdische Düfte – Himmlische Lust. Eine Kulturgeschichte der Duftstoffe, Frankfurt/M. 1996. K RISTIN A STA R K LO FF Durango. Hauptstadt der gleichnamigen Provincia mayor und der Gobernación von Nueva Vizcaya (im heutigen Nordwesten von →Mexiko), gegründet 1563 von Francisco de Ibarra, seit 1620/23 Sitz des Bistums Nueva Vizcaya, seit 1629 Titel einer Ciudad. Insb. vor der Ankunft der Spanier beheimatete die von der Sierra Madre Occidental durchzogene, (semi)aride Region eine Vielzahl seßhafter und nomadisierender indigener →Ethnien. Ab dem späten 16. Jh. war D. Ausgangspunkt zur span. Kolonisierung, wirtschaftlichen Erschließung (Silberund Goldminen, Landwirtschaft) und zur Missionierung des Nordwestens von Neu-Spanien. Letztere übernahmen insb. die Franziskaner und dann die →Jesuiten. Die Minenorte der Provinz waren die produktivsten im Norden des →Vize-Kgr.s. Die wirtschaftliche Erschließung
e bo u é, f éli �
führte zur zunehmenden Konzentration der nutzbaren Flächen in den Händen der Spanier. V. a. bis Mitte des 17. Jh.s wehrten sich insb. die Conchos, die Tarahumaras, die Acaxees und die Tepehuanes in groß angelegten Aufständen gegen ihre Verdrängung. Die indigene Bevölkerung ging in Folge von Krankheiten und teils brutalen Repressionen stark zurück. Nicht zuletzt wegen des Arbeitskäftemangels erlebte die Region ab Mitte des 17. Jh.s einen wirtschaftlichen Stillstand. Erst die demographische Erholung und die Anwerbung von Arbeitskräften mittels Entgeltung mit Naturalien und zu einem Teil mit Geld (in der Landwirtschaft) bzw. mit Anteilen an den geförderten →Edelmetallen führten ab Anfang des 18. Jh.s zu einer allmählichen wirtschaftlichen Erholung. Von 1750 bis 1810 hatte sich die Bevölkerung auf dann ca. 180 000 vervierfacht. Im Zusammenhang mit den Bourbonischen Reformen des 18. Jh.s erhielt insb. der Silberbergbau (→Bergbau), die Viehwirtschaft und der Handel einen neuen Aufschwung. Als Teil der Comandancia general de las Provincias Internas (ab 1787 bzw. 1804 de Oriente) erhielt D. 1786 den Status einer Intendanz. Die Stadt erlebte eine städtebaulichen Erneuerung. Graziella Altamirano (Hg.), Durango: Una historia compartida, Mexiko-Stadt 1997. S E BAS T I AN DORS CH Duveyrier, Henri, * 28. Februar 1840 Paris, † 25. April 1892 Sèvres, □ Sèvres, rk. Der Sohn eines bekannten frz. Dramatikers zeigte von frühester Jugend an ein ausgeprägtes Interesse für die Kulturen und Sprachen des Orients und Afrikas, das er u. a. durch Begegnungen mit dem dt. Forschungsreisenden Heinrich →Barth intensivierte. Von 1857 bis 1862 bereiste D. von Biskra aus die südlich an die frz. Kolonie →Algerien angrenzenden Sahara-Gebiete bis in das Tassili n’Ajjer-Gebirge und gelangte ostwärts bis in den →Fezzan im heutigen →Libyen. Seine langjährige Forschungstätigkeit bei den Ajjer-Tuareg (→Tuareg) führte zu einer reichen Ausbeute ethnologischer und historischer Materialien, die in sein Hauptwerk Exploration du Sahara: Les Touaregs du Nord (Paris 1964) und zahlreiche Artikel in den Annales des voyageurs sowie Jahresberichten der Société Géographique eingingen. Bis ins 20. Jh. hinein blieben sie die wichtigste Wissensgrundlage über die berbersprachigen (→Berber) Nomadenstämme der Sahara und legten den Grundstein für eine romantisierende Sichtweise auf ihre Kultur. Eine Ausweitung der Studien D.s zu den weiter südlich lebenden TuaregGruppen im Ahaggar-Gebirge scheiterte an seiner zerrütteten Gesundheit und an logistischen Schwierigkeiten. Seit den 1870er Jahren ließ D. sich zunehmend für die Ziele der kolonialen Expansion Frankreichs in Nordafrika einspannen, die u. a. den Erwerb →Tunesiens, →Marokkos und den Bau einer Eisenbahnlinie durch die Sahara bis an den →Niger vorsahen. Er scheiterte an den sich nunmehr ergebenden beruflichen und privaten Schwierigkeiten und nahm sich 1892 das Leben. UL RI CH BRAUKÄMP E R
Ebermaier, Karl * 2. Oktober 1862 Elberfeld, † 21. August 1943 Bernried am Starnberger See, □ Friedhof Bernried b. d. Hofmarkskirche, ev.-luth.
Der Jurist E. wirkte nach seinem Eintritt in die Koloniallaufbahn in der Kolonialabteilung in Berlin, als Oberrichter und Auditeur der →Schutztruppe in →Dt.-Ostafrika und als Erster Referent und Oberrichter in →Kamerun, ehe er 1912 zum →Gouv. von Kamerun ernannt wurde. Wichtige Themen seiner Amtszeit waren die Reorganisation der Verwaltung in den Residenturbezirken (→Residentur) des islamischen Nordens, die wirtschaftliche Lage im Süden der Kolonie (Kautschukkrise) und Auseinandersetzungen um die Rassentrennung in →Duala. 1912/13 bereiste er selbst den Norden und suchte durch neue Residenturrichtlinien, den Einfluß der bisher weitgehend autonomen indigenen Machthaber einzuschränken. Durch die Aburteilung und Hinrichtung der DualaFührer Rudolf →Manga Bell und Ngoso Din verursachte er 1914 eine schwere innenpolitische Krise. Innerhalb der dt. Gemeinschaft ist v. a. seine Auseinandersetzung mit den Spitzen der Militärverwaltung hervorzuheben, die seine gesamte Tätigkeit in Kamerun begleitete. E. wandte sich gegen eine Ausweitung der militärischen Präsenz und förderte die Überführung der Binnenlandbezirke in zivile Verwaltung. Im Weltkrieg suchte er in erster Linie den Bestand des →Schutzgebiets zu erhalten. Anfang 1916 verließ er mit dem Gros der Schutztruppe die Kolonie und wurde im neutralen Spanien interniert. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland trat er 1921 in den Ruhestand. Florian Hoffmann, Als letzter dt. Gouv. in Kamerun: Karl Ebermaier (1862–1943), in: Geschichte im Wuppertal 2006, 18–27. FLO RIA N H O FFMA N N Eboué, Félix, * 26. Dezember 1884 Cayenne, † 17. Mai 1944 Kairo, □ Urne im Pariser Pantheon, rk., Freimaurer Enkel eines afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel). Jurastudium als Stipendiat in Bordeaux. Weiterbildung an der Kolonialschule in Paris, die er mit Auszeichnung 1908 verließ. Erfolgreiche Bewerbung um Amt des Chefadministrators (Gouv.s) von Ubangi-Schari, das er bis 1932 ausübte. Anschließend kurzzeitig Generalsekretär auf →Martinique. 1934 Berufung zum Gouv. des Frz. Sudan. 1936 Auftrag, die Politik der Front Populaire auf Guadeloupe umzusetzen. 1939 Gouv. des →Tschad. Im Juni 1940 lehnte E. die Umsetzung der Waffenstillstandsbedingungen im Tschad ab und unterstellte sich de Gaulle. Daraufhin Amtsenthebung durch Petain und Verurteilung in Abwesenheit zum Tod. Auf der Konferenz von →Brazzaville über die Zukunft der frz. Territorien in Afrika im Jan. 1944 konnte E. zwar die ihm wichtig erscheinende verstärkte Einbindung der Einheimischen in die Verwaltung und die Umorganisation der Kolonien nach ethnischen Erfordernissen durchsetzen. Er scheiterte aber mit den Forderungen nach Autonomie und Gleichberechtigung der Kolonien mit dem Mutterland. E. war der erste hohe frz. Kolonialbeamte schwarzafr. Abstammung. Sein bleibendes Verdienst liegt darin, daß er in den von ihm verwalteten Gebieten erfolgreich die Modernisierung des materiellen Lebens mit der Erhaltung der Werte der traditionellen Kulturen verband. Brian Weinstein, Governor-general Félix Eboué, in: L. H. Gann / Peter Duignan (Hg.). African Proconsuls, New York 1978, 157-184. G ERH A R D H U TZLER 227
ecuAdor
Eckhout, Albert →Niederländische Malerei Ecuador. Der Staat im Nordwesten Südamerikas, der seinen Name seiner Lage am Äquator verdankt, umfaßt 272 045 km2 und grenzt an den →Pazifischen Ozean, →Peru und →Kolumbien. Die Bevölkerung (2011 ca. 14,3 Mio.) besteht zu ca. 40 % aus Mestizen (→Casta), je ca. 20 % entfallen auf Weiße, Afr.-stämmige (inkl. Mulatten) und Indianer. Bis zur →Eroberung durch span. Truppen unter Sebastián de Benalcázar (1480–1551) 1533/34 war das heutige Staatsgebiet E.s – mit Ausnahme der Galapagosinseln – Teil des →Inkareiches. Anschließend gehörte es als →Audiencia von →Quito bis 1739 zum →Vize-Kgr. Peru, seitdem zum Vize-Kgr. Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.). Die anti-span. Unabhängigkeitsbewegung nahm 1809 in Quito ihren Anfang und kam 1822 zum Erfolg. E. gehörte zu →Großkolumbien, bevor es 1831 zum selbständigen Staat wurde, der jahrzehntelang von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Oligarchenfamilien geprägt war. Erst der Diktator García Morena (1861–1875) setzte, gestützt auf Militär und kath. Kirche, eine zentrale Staatsgewalt durch. Aus den Machtkämpfen, die auf seine Ermordung folgten, gingen die Liberalen als beherrschende Kraft hervor. Sie nahmen 1907 der kath. Kirche den Status der Staatskirche und betrieben eine Wirtschaftspolitik, die v. a. auf den Ausbau der Kakaowirtschaft (→Kakao) setzte. Deren Niedergang in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 hatte gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge, die das Ende der Vorherrschaft der Liberalen herbeiführten. Es folgte eine Periode ständiger Eingriffe des Militärs in die Politik (der auf Sozialreformen bedachte Präs. Velasco Ibarra wurde zwischen 1935 und 1972 viermal vom Militär abgesetzt), die 1963–1967 und 1972–1979 in offener Militärdiktatur kulminierte und 1979 mit der Rückkehr zur demokratischen Ordnung endete. Wegen Meinungsverschiedenheiten über den Grenzverlauf kam es 1941 zum Krieg mit Peru, das siegreich blieb und E. im Protokoll von →Río de Janeiro 1942 zwang, den Anspruch auf ca. 200 000 km2 umstrittenes, praktisch unbesiedeltes Land im Amazonasgebiet (→Amazonas) aufzugeben. Da E. das Protokoll nicht anerkannte, kam es 1981 und 1995 zu weiteren Waffengängen. Erst 1999 wurde der Konflikt – im wesentlichen zugunsten Perus – endgültig beigelegt. Neben dem traditionellen Kakao sind E.s wichtigste Exportgüter heute →Kaffee, →Bananen und seit den 1970er Jahren Erdöl. Oswald Hugo Benavides, Making Ecuadorian Histories, Austin 2004. Oscar Efren Reyes, Breve historia general del Ecuador, 3 Bde., Quito 121979. CHRI S TOP H KUHL Edelmetalle. Seit dem Mittelalter importierte das christl. Abendland aus dem Baltikum, der Levante und – durch Vermittlung orientalischer Kaufleute – aus Süd- und Ostasien wertmäßig deutlich mehr Waren, als es dorthin exportierte. Der – modern ausgedrückt – Handels- und Zahlungsbilanzausgleich erfolgte durch E., die somit nach Osten abflossen. Diese Entwicklung setzte sich nach den E.funden in →Amerika verstärkt fort, die nunmehr den Europäern in immer größerem Maße den Erwerb insb. 228
von asiatischen Luxusgütern gestatteten. Von größter Bedeutung war hierbei das am. Silber, das – ökonomisch betrachtet – an der Produktionsstätte in Potosí den im Vergleich zu Gold u. anderen Waren geringsten Wert besaß, in Süd- und Ostasien hingegen über die höchste Kaufkraft verfügte, da →Indien und China – trotz all ihres Reichtums – silberarme Länder waren. Die aus Amerika kommenden Silberströme flossen daher zu einem großen Teil gleichsam durch Europa hindurch, übten jedoch nichtsdestoweniger einen herausragenden Einfluß auf die europäischen und – in gewissem Sinne – auch auf die außereuropäischen Wirtschaftsstrukturen aus. Afrikan. Gold als Initiator der europäischen Expansion Um 1400 herrschte in Europa eine extreme Knappheit an E.n, die Bergwerksproduktion war rückläufig, aber weiterhin flossen E. in großem Umfang über den defizitären Asienhandel nach Osten ab. Die Suche nach E.n – v. a. nach Gold – war daher ein zentrales Motiv der in dieser Zeit einsetzenden port. Expansion nach Nord- und dann nach Westafrika, galt doch der sog. „Sudan“ (das subsaharische Afrika) als goldreiches Land, woher das Gold über arab. Zwischenhändler in den Mittelmeerraum kam. Mit der →Eroberung von Ceuta 1415 erlangten die Portugiesen Zugang zu einem Zentrum des Handels mit afr. Gold. 1442 fanden erste Tauschgeschäfte an der westafr. Küste gegen Gold statt, 1447 wurden feste Handelsbeziehungen zum Goldhandelsplatz Messa etabliert, und 1481 das Fort Sao Jorge da Mina für den Goldhandel mit den →Ashanti gegründet, wobei die Portugiesen im Goldhandel aber immer auf einheimische Zwischenhändler angewiesen blieben. Bis 1520 erhielten die Portugiesen aus →Guinea ca. 450 kg Gold pro Jahr. Bereits um die Mitte des 16. Jh.s ging der Goldhandel der Portugiesen durch die Konkurrenz und die Kaperfahrten der anderen europäischen Nationen und durch die Rückführung des Goldhandels von der Küste auf die saharischen Karawanenwege durch den Sultan von →Marokko stark zurück. Als sich die Niederländer am Ende des 16. Jh.s an der Goldküste festsetzten, dominierten sie den westafr. Goldhandel das 17. Jh. über – trotz massiver Konkurrenz von fast 30 europäischen Handelsstationen. Portugal hingegen kompensierte seine Handelseinbußen in Westafrika durch die Einnahme ostafr. Handelsstützpunkte, wo ebenfalls Gold erworben werden konnte, das aber nun nicht mehr nach Europa, sondern nach →Goa zum Einkauf ind. Waren floß. Lateinam. E. als Motor des internationalen →Zahlungsverkehrs und Handels Auch für die span. Expansion stellte der Hunger nach Gold ein entscheidendes Motiv dar. Nach der Eroberung der →Antillen flossen die vergleichsweise bescheidenen Bestände thesaurierten Schmuckgoldes der Indios (ca. 900 kg pro Jahr) nach Spanien ab (sog. Goldzyklus der Antillen, 1494–1525), und seit 1513 suchte man nach den sagenhaften Goldländern bzw. dem „Dorado“ auf dem Festland. Nach der erneuten Dethesaurierung des geraubten Schmuckgoldes folgte das Auswaschen des goldhaltigen Flußsandes im sog. Goldkastilien. Nutznießer waren v. a. Kaufleute, die die Versorgung der Heere über erste Handelsniederlassungen sicherstellten und das erbeutete Gold nach Spanien transferierten. In gleicher
ed elm etA lle
Weise wurde bei der Eroberung der Reiche der Azteken und der Inkas vorgegangen. Die Ausbeute dieser Jahre an Gold belief sich nur auf einige wenige Tonnen, brachte allerdings die Vernichtung hochkarätiger Kunstschätze mit sich. Nach der Dethesaurierung des Schmuckgoldes der indigenen Bevölkerung wurde der freie Abbau von Gold und Silber gegen eine 10 oder 20 %-ige Abgabe an die Krone gestattet, da das Kronmonopol auf Bergbauprodukte (→Bergbau) schlicht nicht kontrollierbar war. Die frühen Siedler bezahlten mit ihrer Ausbeute ihre Importe aus Spanien. Seit der ersten Hälfte des 16. Jh.s gewann man bis weit ins 19. Jh. hinein v. a. Waschgold aus den Flüssen Neu-Granadas (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.). Hierin ist auch das Kolonisationsunternehmen der Augsburger (→Augsburg) →Welser einzuordnen, die in den 1530er und 1540er Jahren im Gebiet des heutigen →Venezuela versuchten, die Waschgoldvorkommen des legendären Goldmannes, des Dorado, zu erobern. Seit den 1540er Jahren wurde dann Silber das dominierende E. in →Lateinamerika, und der gigantische Silberreichtum →Perus und →Mexikos wurde zu einem Motor des internationalen Zahlungsverkehrs und Handels. Ab 1545 baute man am Cerro Rico in Potosí Silber in bisher nicht gekannten Mengen ab, ab 1546 im mexikanischen →Zacatecas und ab 1550 in →Guanajuato. Dabei war es gelungen, durch das patio-(Hof-) Verfahren, d. h. der Amalgamation unter Einsatz von Quecksilber, größere Ausbeute aus dem Erz zu erzielen: Dieses Verfahren war in Neuspanien entwickelt und bis 1563 durchgesetzt worden, in Potosí dann ab 1571, zumal man das erforderliche Quecksilber durch Funde in →Huancavelica ab 1566 erhielt. Seit den 1560er Jahren war das Silber das Hauptexportprodukt Lateinamerikas, mit welchem alle Importe bezahlt wurden, denn andere Exporte aus Hispanoamerika nach Spanien waren vielfach schon auf Grund der langen Reisezeit unrentabel. Die Relation der E.- zu den Nichtedelmetallexporten belief sich bis 1518 auf ca. 99:1, danach betrug der Anteil der E. immer über 70 %, meist über 80 %. Die jährlichen E.sendungen gelangten in Schiffskonvois nach Sevilla. Da die ergiebigsten Minen und die beständigsten Märkte im →Vize-Kgr. Peru (Potosí, Lima) mit Häfen an der Pazifikküste (Callao) lagen, entwickelte sich folgendes Handelssystem: Der Austausch der europäischen Waren gegen peruanisches Silber fand im Isthmus von →Panama auf den Messen zu Nombre de Dios, ab 1584/1597 zu Portobelo statt. Das E. gelangte aus dem peruanischen Hochland auf Tragtierkolonnen an die Küste, wurde auf die Armada del Sur verladen und nach Panama gebracht, dann wieder auf Tragtieren nach Nombre de Dios oder Portobelo geschafft und von dort mit der jährlichen Transatlantikflotte (→Atlantik) nach Europa verschifft, während die Waren den umgekehrten Weg nahmen. Potosí entwickelte sich zur größten Stadt des Vize-Kgr.s Peru und zu einer der größten Städte der Welt, aus der z. T. mehr als die Hälfte der Weltjahresproduktion an Silber stammte. Die Minenbesitzer finanzierten sich über lokale Kaufleute, die das Silber unterhalb des offiziellen Preises ankauften, dafür Warenkredite gewährten; der gesamte Bergbau wurde indirekt durch Großkaufleute aus →Lima kontrolliert. Als inoffizieller ‚Hinterausgang‘
für die peruanische Silberproduktion diente nach 1580 das La-Plata-Delta mit →Buenos Aires, wohin Silber in großen Mengen geschmuggelt wurde; dieser Silberstrom wurde erst mit der Gründung des Vize-Kgr.s Rio de la Plata 1776 legalisiert. In Mexiko (Vize-Kgr. Neuspanien) war der Umschlaghafen an der Atlantikküste Vera Cruz, von welchem die Silbertransporte Richtung Europa abfuhern. Hinzu kam der Handel mit den verwaltungsmäßig dem Vize-Kgr. Neuspanien zugehörigen →Philippinen, die seit 1573 über Huatulco, später über →Acapulco an Mexiko angebunden waren. Die jährlichen, nach ihrem Zielort Manila-Galeonen genannten, Schiffe versorgten Mexiko und teilweise auch Peru (ab 1565) mit chin. Waren und brachten dafür in ebenfalls großen Mengen Silber nach →Manila. Der Gesamtabfluß an Silber nach Asien wird für den Zeitraum zwischen 1570 und 1780 mit ca. 25–30 % der nach Spanien verschifften Menge veranschlagt. Die Manila-Galeonen waren bis weit in das 18. Jh. hinein die einzige, regelmäßig transpazifische Verbindung, die auf Grund des hohen Wertes von Silber in China gegenüber Gold aber auch in höchstem Maße profitabel war. War in Peru die Silberproduktion im 17. Jh. – zumindest offiziell – stark zurückgegangen, hatte steigende Ausgaben für Verwaltung und Verteidigung der Verschiffungen hinnehmen müssen und erst im 18. Jh. (bis 1790) wieder einen Aufschwung erlebt, so war die Produktion in Mexiko im 18. Jh. von einem enormen Aufschwung geprägt. Das Silber wurde in Barren verschiedener Form und Größe (z. T. in Form von Piñas, Zapfen) und in Münzen nach Europa verschifft bzw. in die →Karibik, nach Nordamerika oder nach China geschmuggelt, wobei die ausgeprägte Münze, der Real oder Peso de a ocho (Engl.: Spanish oder – auf Grund seiner Herkunft – Mexican Dollar), sich durch hohe Stabilität auszeichnete und zu einer, wenn nicht der wichtigsten →Handelsmünze der Frühneuzeit und des 19. Jh.s wurde. Seit dem ausgehenden 17. Jh. wurden die E.exporte aus Lateinamerika sogar nochmals gesteigert, als Gold in →Brasilien, im Gebiet der heutigen Bundesstaaten →Minas Gerais, Goiás und Mato Grosso, gefunden wurde. Erst um 1680 fanden →Bandeirantes aus Sao Paolo auf Sklavenfang (→Sklaverei und Sklavenhandel) Gold im Rio das Velhas, was eine enorme Wanderungsbewegung in die Bergbauzone in Bewegung setzte. Im 18. Jh. wurde Brasilien zum bedeutendsten Goldproduzenten der Welt: Bis um 1730 war der Anstieg der Produktion besonders stark, blieb dann bis um 1760 auf einem hohen Niveau (Zeit des „Goldzyklus“), um dann wieder deutlich abzufallen. Das Gold wurde – wenig kapitalintensiv – hauptsächlich aus dem Schwemmsand der Flüsse gewonnen und großenteils nach London geschmuggelt, z. T. bis zu 50 000 Pfund pro Woche. Die Bedeutung des lateinam. E.s für die europäischen und asiatischen Wirtschaften in der Frühneuzeit 1. Die aus Lateinamerika kommenden E. vergrößerten mindestens kurzfristig das in Europa zirkulierende Volumen an E. – kurzfristig deshalb, da sie einerseits vielfach als Vermögen zur „Toten Hand“ gehortet wurden (die prachtvollen span. Kathedralen legen davon ein beredtes Zeugnis ab), andererseits gleichsam durch Europa hindurch weiter nach Osten – nach Indien und →Süd229
e d e l m e tA l l e
ostasien – flossen, wo sie den europäischen Kaufleuten und Handelskompanien zum Erwerb der begehrten →Gewürze u. a. Luxusgüter dienten. Die Frage, inwieweit die am. E. zum unstrittigen säkularen Preisanstieg (sog. „Preisrevolution“) in Europa im sog. „langen 16. Jh.“ beitrugen, wird bislang von der Forschung nicht eindeutig beantwortet; allerdings wird ihre Bedeutung – zumindest für Mitteleuropa – nicht mehr so hoch eingeschätzt wie noch in früheren Jahrzehnten. Man geht im wesentlichen davon aus, daß die importierten E. einen bereits vor der Entdeckung Amerikas begonnenen, v. a. durch die Bevölkerungsvermehrung verursachten Preisanstieg innerhalb Europas verstärkten, nicht aber, daß dieser durch die Vergrößerung der verfügbaren E.menge ausgelöst wurde. 2. Die E.lieferungen aus der Neuen Welt trugen direkt und über die durch sie erst in großem Umfang ermöglichten Einfuhren von asiatischen Luxusgütern darüber hinaus auch noch indirekt erheblich mit dazu bei, daß die Überseehäfen an der europäischen Atlantikküste ökonomisch wesentlich stärker in Wert gesetzt wurden als in allen vorherigen Jh.en. Sevilla, später Cadiz wurden die zentralen Umschlagplätze für die E. aus Span.-Amerika, Lissabon und London im 18. Jh. dann für Gold aus Brasilien. Der E.import und der dadurch ermöglichte Überseehandel in großem Stil beförderte die bereits von Fernand Braudel betonte Entwicklung der Verlagerung des Zentrums der europäischen Wirtschaft aus dem Mittelmeerraum an die Atlantikküste und der Ablösung der traditionellen Führungsrolle Italiens durch die aufstrebenden Handelsmächte Nordwesteuropas im 16. und beginnenden 17. Jh. Dies gilt in besonderer Weise für den europäischen Zahlungsverkehr dieser Epoche. Denn der europäische Zahlungsverkehr konzentrierte sich nun – geographisch und politisch geradezu zwangsläufig – mehr und mehr im westeuropäisch-atlantischen Raum, während der it.mediterrane zunehmend an Bedeutung verlor. Die aus Amerika eintreffenden E. wurden großenteils nicht durch die span. Krone selbst in Umlauf gesetzt, sondern dienten als Sicherheit für Kredite, die – vornehmlich it., speziell genuesische – Handelshäuser der Krone gewährten. Die Abrechnung dieser Kredite erfolgte dann bargeldlos über mehrmals jährlich stattfindende Messeveranstaltungen, die Kastilischen Messen, die wiederum mit den zentralen Finanzmärkten des 16. Jh.s, →Genua, →Venedig, Florenz, den Lyoner Messen und Antwerpen, in enger Verbindung standen. Als Medium dieses bargeldlosen Zahlungstransfers diente dabei der Wechsel: Die Krone verkaufte ihr Silber in Sevilla an Münzmeister, die dafür Wechsel auf die Kastilischen Messen zogen, mit welchen dann die Krone ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Kreditgebern nachkam oder ihre Ausgaben tätigte. So wurden bspw. die span. Militäroperationen in den Niederlanden während des Achtzigjährigen Krieges (1560– 1640) teilweise durch am. E., teilweise durch Wechsel auf Antwerpen finanziert. Damit diente das nach Europa gelangende am. E. als wichtigster Katalysator der Verlagerung des Schwerpunkts des europäischen Zahlungsverkehrs – v. a. des bargeldlosen! – vom Mittelmeerraum hin zum Atlantik. Die Wechselmärkte der iberischen Atlantikküste und der Niederlande, seit dem 17. Jh. 230
zunehmend auch London, wurden zu zentralen Finanzzentren ihrer Zeit, die das System des europäischen bargeldlosen Zahlungsverkehrs dominierten. Aber auch die binneneuropäischen Wechselmärkte gerieten im 16. und beginnenden 17. Jh. in immer stärkere Abhängigkeit von den span.-am. E.lieferungen. So dienten die bedeutendsten internationalen Wechselmessen der zweiten Hälfte des 16. und ersten Hälfte des 17. Jh.s, die Genuesischen Bisenzone-Messen im it. Piacenza, als zentrale Vermittlungsstelle des bargeldlosen Zahlungsverkehrs zwischen den Bankiers der span. Krone, vorrangig hochvermögenden Handelsherren aus Genua, und ihren Geschäftspartnern in ganz Italien. Mit den verschiedenen span. Staatsbankrotten seit der zweiten Hälfte des 16. Jh.s und den rückläufigen am. Silberlieferungen im 17. Jh. nahm der Einfluß der überseeischen E. auf das europäische Zahlungsverkehrssystem zwangsläufig wieder ab; doch die im 16. Jh. entstandenen neuen Atlantik-orientierten Strukturen blieben bestehen und verstärkten sich weiter. Die Niederlande und ihr Finanzzentrum Amsterdam, seit der zweiten Hälfte des 18. Jh.s London, etablierten sich als die zentralen Finanzdrehscheiben Europas, ja als Weltfinanzmärkte. 3. Ein Großteil der aus Lateinamerika kommenden E. flossen gleichsam durch Europa hindurch und nach Asien ab, da in den silberarmen Ländern Asiens Silber relativ mehr wert war als in Europa oder gar in Lateinamerika. Dieser Silberabfluß konnte – auf Grund der bestehenden Handelsbilanzdefizite – auf dem Landwege über die Levante oder Südrußland, dann den →Kaukasus und nach Mittelasien oder über das Baltikum und →Sibirien nach China erfolgen. Durch Vermittlung der europäischen Seefahrtsnationen gelangten am. E. – direkt oder indirekt – zur See nach Asien, wo die europäischen Importe im 17. und 18. Jh. zu ca. ⅔ in Silber – darin eingerechnet auch das Silber der Manila-Galeone – bezahlt wurden. Seit der Mitte des 16. Jh.s beherrschten E. – allerdings unter Einschluß des in Indien hochbegehrten Kupfers – die Ausfuhren der europäischen Kompanien nach Asien. Auf diese Weise vermochten die Europäer asiatische (Luxus)Waren aller Art auf (relativ) kostengünstige Weise zu erwerben (der →Transport als enormer Kostenfaktor bleibt hier außer Acht), ohne durch die steigende Nachfrage zugleich einen Preisanstieg für die entspr. Waren in den asiatischen Ländern zu verursachen. Durch den Abfluß des ‚überschüssigen‘ Silbers nach Asien gelang es in Europa, den Silberpreis trotz steigender Produktionsmengen verhältnismäßig stabil zu halten. Schließlich beförderte das lateinam. E. auf diese Weise die Ausdehnung der Seefahrt und des Handels in Asien: Asien wurde im 18. Jh. zu einem „Angelpunkt der europäischen Wirtschaftsentwicklung“ (Dietmar Rothermund). Demgegenüber stimulierte der Silberzufluß aus Lateinamerika bzw. Europa die wirtschaftliche Entwicklung der Agrarländer Indien und China nur marginal, da das sich daraus ergebende Handelsnetz nicht genügend im Binnenmarkt verankert war. Da das eingeführte Silber nicht investiert, sondern gehortet oder als Schmuck thesauriert wurde, induzierte es kein marktwirtschaftliches Wachstum und führte auch nicht zu einer gesteigerten Nachfrage nach europäischen Waren.
ed ler w i ld er
4. Der Aufstieg Londons zum Weltfinanzzentrum seit der zweiten Hälfte des 18. Jh.s stand dann im Zusammenhang mit dem Wiederanstieg der Silberlieferungen aus Span.-Amerika – nunmehr vorrangig aus Mexiko – und den Goldfunden im brasilianischen Minas Gerais. Im 18. Jh. wurde London nicht nur zu einem zentralen Handelsplatz für mexikanisches Silber, sondern profitierte zugleich auch von den über Portugal auf Grund der engen Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern nach dem Methuen-Vertrag von 1703 nach Großbritannien gelangten Goldsendungen aus Brasilien. Sie erst ermöglichten der aufstrebenden ersten sich industrialisierenden Nation Europas den schrittweisen Übergang zur Goldwährung (→Währung) bereits im 18. Jh. und legten damit den Grundstein zur ersten europäischen Goldwährung und der daraus resultierenden weltweiten währungspolitischen Dominanz des Pfund Sterling im 19. und beginnenden 20. Jh. Die Bedeutung von E. für die Wirtschaftsentwicklung im 19. und 20. Jh. Gold und Silber spielten in der Wirtschaftsentwicklung des 19. und 20. Jh.s zwar durchaus noch eine bemerkenswerte, aber keineswegs mehr so dominierende Rolle wie in der Frühneuzeit. Dies war zum einen dadurch begründet, daß im 19. Jh. Steinkohle, im 20. Jh. dann Erdöl sowie Erdgas zu den herausragenden nicht-agrarischen →Rohstoffen mit einem Anteil von 50–60 % am Weltbergbauwertes wurden. Zum anderen verlor Silber, das zu Beginn des 19. Jh.s noch sehr wichtig gewesen war, spätestens seit den 1850er Jahren an Relevanz gegenüber Gold, das seit den gold rushs in Kalifornien (1848) und Australien (ab 1851–1853) zum weltweit wichtigsten E. überhaupt wurde. Diese Entwicklung wurde verstärkt durch die Goldfunde in den 1890er Jahren in Südafrika und in Alaska. Hintergrund ist dabei insb. der schrittweise Übergang der ökonomisch wichtigsten, bald annähernd aller Länder zu einem auf Gold basierenden Währungssystem; die Einführung des Goldstandards zuerst in den Industrieländern Europas nach dem Vorbild Großbritanniens und danach in den meisten anderen Ländern weltweit (außer China und Persien) führten zum sog. System des Goldstandards, das den internationalen Zahlungsverkehr zwischen den 1870er Jahren und dem Ersten Weltkrieg dominierte. Das Silber verlor in diesem Zusammenhang in wenigen Jahrzehnten seine vormals gewichtige, ja dominierende Rolle als Währungsmetall an das Gold (und an Papier sowie bargeldlose Zahlungsmittel), wobei zugleich der Silberpreis im Vergleich zu Gold rasant verfiel: Dies war bedingt zum einen durch die enormen Silberverkäufe der Staaten bzw. Zentralbanken, die auf Goldwährung umstellten und daher ihre bisherigen Währungsreserven losschlugen, auf dem Weltmarkt und zum anderen durch die Zunahme der Silberproduktion nach den neuen Funden in den Rocky Mountains (Nevada) in den 1870er Jahren. Da eine immer größere Zahl an Staaten sich gleichsam ‚gezwungen‘ sah, zur Goldwährung überzugehen, die Industriestaaten aber nur noch Gold als Bezahlung für ihre exportierten Industriewaren akzeptierten, glich diese Entwicklung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. einer Spirale, die letztlich denjenigen Ländern, die beim Silber
als Währungsmetall blieben, im internationalen Handel gravierende Nachteile einbrachte. In beiden Weltkriegen, aber auch in der Zeit der Restauration des (nach dem Kriegsausbruch 1914 in den meisten Ländern suspendierten) Goldstandards in den 1920er Jahren, die bis zu den Abwertungsrunden zu Beginn der 1930er Jahre im Gefolge der Weltwirtschaftskrise andauerte, spielte zumindest Gold noch durchaus eine bedeutende Rolle als Zahlungsmittel, während Silber diese Funktion nur noch in einzelnen Volkswirtschaften wahrnahm (z. B. in China oder in →Äthiopien bis nach dem →Zweiten Weltkrieg). Das 1944 entwickelte →Bretton-WoodsSystem beendete dann endgültig die Rolle des Goldes als internationales Zahlungsmittel, das nunmehr nur noch der Wertaufbewahrung dient und wie auch das Silber in industriellen Fertigungsprozessen Verwendung findet. Beide E. gelten heute als sog. „Zwittermetalle“, die sowohl die Funktion von Industriemetallen als auch zur Kapitalanlage in sich vereinigen, wobei letztere für das Silber gerade erst wiederentdeckt worden ist. Markus A. Denzel, Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914, Stuttgart 2008. Dennis O. Flynn u. a. (Hg.), Global Connections and Monetary History, 1470–1800, Aldershot / Burlington 2003. Jürgen Schneider / Thomas Schleich, Edelmetalle, in: Piet C. Emmer u. a. (Hg.), Wirtschaft und Handel der Kolonialreiche, München 1988, 393–411. MA R K U S A . D EN ZEL Edler Wilder. Verklärte Vorstellung der Europäer des von ihrer „Zivilisation“ angeblich unverdorbenen Naturmenschen, die seit der Antike, besonders aber im Zeitalter der →Aufklärung, existierte und teilweise heute noch anzutreffen ist. Das Konzept vom E. W. drückt die Vorstellung aus, daß der Mensch ohne Bande der Zivilisation von Natur aus gut sei. Überseeische Völker wurden in diesem Zusammenhang von Gesellschaftskritikern im Vergleich mit ihrem eigenen gesellschaftlichen Umfeld oft als sanft, gut, friedliebend, unverdorben, edel, gerecht beschrieben und stellten sich damit dem vorherrschenden Bild der wilden, barbarischen, rohen, unbeherrschten und unkultivierten Bewohner fremder Kontinente, welches als ideologische Basis für die Durchsetzung der europäischen Expansion diente, entgegen. Nach der europäischen Entdeckung und →Eroberung →Amerikas hatte diese Vorstellung einige Verbreitung, den besonders Alonso de Ercilla y Zúñiga in seinem Epos „La Araucana“ (um 1570) zum Gegenstand machte. Ausgangspunkte für die sich dann verbreitenden und ausformulierenden Ansichten, zu deren bekanntesten Vertreter zahlreiche Aufklärer, wie Michel Eyquem de Montaigne und Jean-Jacques Rousseau gehörten, waren vielfach Schriften von denjenigen christl. Missionaren aus Europa, in denen die autochthonen Bewohner fremder Erdteile vorwiegend als gute, schutzbedürftige Menschen geschildert wurden. Die Idealisierung fremder Kulturen fand jedoch meist erst nach deren Zerstörung durch die Europäer statt. Nach der Großen Frz. Revolution von 1789 schwächte sich die Diskussion in Europa um die Frage nach dem gesellschaftlichen oder politischen Naturzustand des Menschen ab, verschwand 231
e g e de , h A ns
indes nicht vollständig. Standen zunächst die Indianer im Mittelpunkt des Idealbildes, waren es nunmehr die Südseeinsulaner, bei denen man ein Paradies der Sinnlichkeit vermutete. Hier schienen die Menschen auch die sexuelle Freiheit gefunden zu haben. Der Begriff E. W. erhielt eine Weiterung, die nicht nur politisch, sondern auch frivol war. Er verkörperte nunmehr ein neues Ideal von menschlichen und politischen Beziehungen, die eine ganze Reihe von gesellschaftlich relevanten Theorien auslöste. Aber kaum eine von ihnen hat in den vergangenen drei Jh.en eine solche Wirkung ausgeübt wie das politische Erwachen, welches die Indianer unter den Europäern, vermittelt etwa durch Gelehrte wie Lewis Henry Morgan, hervorriefen. Robert Edgerton, Trügerische Paradiese, Hamburg 1994. Ter Ellingson, The Myth of the Noble Savage, Berkeley / Los Angeles 2001. Karl-Heiz Kohl, Entzauberter Blick, Frankfurt/M. 1981. Gerd Stein (Hg.), Die edlen Wilden, Frankfurt/M. 1984. UL RI CH VAN DE R HE YDE N
Egede, Hans (Poulsen), * 31. Januar 1686 Senjen, Nordland (Norwegen), † 5. November 1758 Stubbeköbing, Insel Falster (Dänemark), □ unbek., ev.-luth. Der Sohn eines dän.-stämmigen Richters wurde nach dem Studium in Kopenhagen 1707 Pfarrer in Vaagan auf einer der Lofoteninseln. Dort erhielt er Nachrichten über das Ende des 10. Jh.s von →Wikingern besiedelte →Grönland. E. bemühte sich seit 1710 beim Bischof von Bergen um einen Missionsauftrag für Grönland und wandte sich 1719 direkt an Kg. Friedrich IV. von Dänemark, der mit der Missionierung auch wirtschaftliche und kolonialpolitische Interessen verband. Auf einem Schiff der neu gegründeten Grönländischen Kompanie erreichte E. die Insel 1721. Während seines fünfzehnjährigen Aufenthalts missionierte er die Inuit in ihrer Sprache („Apostel Grönlands“) und unternahm mehrere Erkundungsreisen. Seine auch ins Deutsche übersetzten Publikationen (Ausführliche und wahrhafte Nachricht vom Anfange und Fortgange der Grönländischen Mission, 1740; Des alten Grönlandes Neue Perlustration, 1742) und seine Karte bildeten die Grundlage der weiteren geographischen Erforschung. Nach Ausbruch einer Blatternepidemie, der die meisten christianisierten Inuit und seine Frau Gertrud zum Opfer fielen, kehrte E. 1736 nach Dänemark zurück. Er bildete dort Missionare und Katecheten aus und war seit 1740 Superintendent der Grönlandmission. Sein Sohn Paul (1708–1789), ebenfalls als Missionar bei den Inuit tätig, erstellte ein Wörterbuch der Inuitsprache und aktualisierte 1788 die Grönlandkarte seines Vaters. Louis Bobé, Hans Egede: Colonizer and Missionary of Greenland, Kopenhagen 1952. Dietmar Henze, Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Bd. 2, Graz 1983, 154–156. MARK HÄBE RL E I N Ehlers, Otto Ehrenfried, * 31. Januar 1855 Hamburg † um den 3. Oktober 1895 im Finisterregebirge in der Grenzregion von Dt.- u. Brit.-Neuguinea, □ nie vorhanden, ev.-luth. (?) Jahrelanges Studium der Rechtswissenschaften in Jena, Heidelberg u. Bonn ohne produktives Ergebnis. 232
Rittergutsbesitzer in Lankow (Lakowo), Hinterpommern. Ab 1886 Berufsreisender, u. a. Ägypten, Sansibar, →Dt.Ostafr. Vergeblicher Versuch einer Erstbesteigung des Kilimandscharo. Kurzfristig Leiter der Station Moschi für die →DOAG. Von dort brachte er im Mai 1889 eine Gesandtschaft des Sultans Mandara zu Ks. Wilhelm II. nach Berlin. Wieder in Dt.-Ostafr. u. von dort weitere Reisen nach →Indien, den Himalaya u. Hinterindien, worüber er dem staunenden dt. Publikum in dt. Tageszeitungen, v. a. der „Tägliche Rundschau“ (Berlin), später auch in Buchform berichtete. 1894 eilte er nach →Samoa in der Hoffnung, er könne als einer der ersten von der dt. Flaggenhissung vor Ort berichten. Das war zwar (noch) nicht der Fall, aber mit journalistisch-flott geschriebenen Zeilen, in dener er Samoa den Deutschen als „Perle der Südsee“ anpries u. damit an verdeckte Sehnsüchte appellierte, beeinflußte E. die öffentliche Meinung zugunsten eines dt. Erwerbs von Samoa ganz erheblich. So bekannte der erste dt. Gouv. Samoas, →Solf, 1902, er verdanke seine ersten Informationen über Samoa u. die Vorstellung von der „Perle der Südsee“ dem Buch von E. Von Samoa reiste E. nach →Dt.Neuguinea. Als erster wollte er dort eine Nord-SüdDurchquerung wagen. Ohne jede praktische Erfahrung von Neuguinea, dessen Geographie, Klima u. Menschen, ließ er sich auch von Warnungen u. Vorhaltungen des kommissarischen Landeshauptmanns Hugo Rüdiger u. dessen Vertreter Curt von →Hagen, der später wegen E. sein Leben lassen mußte, von seinem Vorhaben nicht abbringen. Am 14. August 1895 begann E. vom Huongolf aus sein Unternehmen. Völlig unzureichend ausgestattet, glaubte er aber, eine Kiste Münzen u. ein Bett mit Metallrahmen in den Urwald von Einh. mitschleppen lassen zu müssen. Irgendwo im Finisterregebirge kam es dann zur Katastrophe. Das wahrscheinlichste Szenario ist, daß E. u. sein Begleiter, der Polizeimeister Wilhelm Piering, von einh. Polizisten u. Trägern getötet wurden. Die Überlebenden, die völlig entkräftet u. erschöpft am 24. Oktober in der brit. Missionsstation Motu Motu nordwestl. von Port Moresby ankamen u. damit tatsächlich die Nord-Süd-Durchquerung Neuguineas geschafft hatten, beschuldigten sich später gegenseitig des Hungerkannibalismus (→Anthropophagie). E. war ein beratungsresistenter Selbstverwirklicher, ein Besserwisser par excellence, der es gleichwohl verstand, den Geist der Zeit aufzunehmen, für sich zu nutzen u. noch zu verstärken. Gerade deshalb wurde er beachtet u. gern gelesen, so sehr, daß er sogar im Reichstag zitiert wurde. Ursächlich u. prägend für das Meinungsbild der Dt. zu Samoa, wurde er, wie die meisten Zeitgeistgrößen, schnell vergessen. Q: Otto Ehlers, Samoa. Die Perle der Südsee à jour gefaßt, Berlin 1895, mehrere Auflagen, Ndr. Düsseldorf 2008. L: Hermann Joseph Hiery, Zur historischen Bedeutung eines dt. Weltreisenden, in: Otto Ehlers, Samoa, Ndr. Düsseldorf 2008, 149–187. H ERMA N N H IERY Eigentümer (engl. Proprietors). Besitzer von Kolonien, die ihnen von der engl. Krone im 17. Jh. in der Regel (Ausnahme New Jersey) als Gegenleistung für besondere Dienste verliehen wurden. George →Calvert, 1st Lord
ei n u n d zwA n zi g f o rd eru n g en
Baltimore, erhielt die →Charter für Maryland von Karl II. als Dank für seine Dienste als Secretary of State; das adelige Konsortium, dem die Carolinas 1663 verliehen wurde, hatte Karl II. während seines Exils finanziell unterstützt und 1660 seine Rückkehr auf den Thron gefördert; und William Penn erhielt von Karl II. die Kolonie Pennsylvania als Gegenleistung für finanzielle Hilfe, die Penns Vater Karl II. gewährt hatte. James, Duke of York, erhielt von seinem Bruder Karl II. am 12.3.1664 das vormalige Nieuw Nederland als Kolonie New York verliehen; mit dessen Proklamation zum Kg. wurde New York →Kronkolonie. Von den verbleibenden drei E. gaben jene von North und South Carolina auf Druck der Kolonisten in den 1720er Jahren ihre Lehen zurück. In Pennsylvania verloren die Söhne von William Penn als Folge der Charter of Liberties and Privilegies von 1701 einen großen Teil ihres Einflusses auf die Entwicklung der Kolonie. Einzig in Maryland konnte die Familie Calvert ihren großen Einfluß bis ins Frühjahr 1776 behalten. Charles M. Andrews, The Colonial Period of American History, 4 Bde., New Haven, CT 1934–38, insb. Bd. 2–3. Lou H. Roper / Bertrand Van Ruymbeke (Hg.), Constructing Early Modern Empires, Leiden 2007. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Eingeborenenrecht. Der von der Kolonialadministration geprägte Begriff (engl. native law, frz. droit indigène) umschreibt das in den Überseegebieten für die autochthone Bevölkerung geltende Gewohnheitsrecht, das nicht vom rezipierten →Recht der jeweiligen Kolonialmacht oder dem →Kolonialrecht verdrängt wurde. Zur Entstehung kommt Gewohnheitsrecht innerhalb einer Rechtsgemeinschaft durch lang andauernde und wiederholte Übung, in der die allg. Überzeugung von der Existenz eines entspr. Rechtssatzes zum Ausdruck kommt. Es ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, daß es mündlich tradiert wird, also weder niedergeschrieben noch in der Form von Präjudizien niedergelegt ist und sich daher verändernden Gegebenheiten, wie z. B. neuen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, leicht anpassen kann. Sobald herkömmliche Rechtssätze kodifiziert sind, spricht man nicht mehr von Gewohnheitsrecht, sondern von Gesetzen oder Verordnungen, die sich im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht statisch verhalten. Im Laufe der Zeit konnte sich innerhalb der verschiedenen autochthonen Gemeinschaften in den kolonialen Überseegebieten jeweils eigenes Recht entwickeln, dem die Aufgabe zukam, die sehr komplexen sozio-ökonomischen Verhältnisse im Familien- und Gemeinschaftsverband zu reglementieren. Dieses Recht basierte auf einer allg. akzeptierten konkreten sozialen Praxis, die in engem Bezug zur ökonomischen, kulturellen und natürlichen Situation einer Gemeinschaft stand und zudem eng mit dem dort bestehenden religiösen und sozialen Wertesystem verbunden war. Auf Gewohnheitsrecht beruhten weitgehend die zivilrechtlichen Verhältnisse der autochthonen Bevölkerung in den kolonialen Überseegebieten. Insb. waren davon das für das Zusammenleben in Familie und Gemeinschaft relevante Erb- und Familiensowie das →Bodenrecht betroffen. Im Bereich der Strafrechtspflege und in den Angelegenheiten, in denen die
herkömmlichen Rechtsgebräuche dem Rechtsempfinden sowie den Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit der jeweiligen kolonialen Machthaber entgegenstanden, wurde das E. allerdings aus macht- und ordnungspolitischen Gründen verdrängt. Die Kolonialadministration hatte bis zur vollständigen Unterwerfung der autochthonen Völker kein Interesse daran, in deren Alltagsleben einzugreifen. Auf Grund der Komplexität des Gewohnheitsrechts und der besonderen Bedeutung des Rechts zur dauerhaften Beherrschung von Menschen und Gebieten wurde es in den Kolonialmächten von der juristischen Wissenschaft und Praxis für erforderlich gehalten, das E. näher zu erforschen. Teils wurden die so gewonnenen Erkenntnisse über das Gewohnheitsrecht im Rahmen der kolonialen Justiz nutzbar gemacht, dadurch fixiert und von formellen Instanzen kontrolliert (→Kolonialjustiz). Soweit die Konfliktregelung vor informellen Instanzen stattfand, zogen diese ihr jeweils eigenes Recht heran (sog. lebendes Recht, engl. people’s law), das sich auf Grund des Kontaktes mit der Kolonialadministration und der Koexistenz verschiedener kultureller Gemeinschaften neben dem E. aus weiteren Quellen (z. B. religiöses Recht, Elemente des staatlichen Rechts) speisen und auch neue rechtliche Ausgestaltungen aufweisen konnte, je nachdem was von der betr. Instanz und in der jeweiligen Gemeinschaft als Recht praktiziert und anerkannt wurde. Erich Schultz-Ewerth / Leonhard Adam (Hg.), Das Eingeborenenrecht, 2 Bde., Stuttgart 1929/30. Harald Sippel, Der Dt. Reichstag und das „Eingeborenenrecht“, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 61 (1997), 714–738. H A RA LD SIPPEL Einundzwanzig Forderungen. Die zwischen Aug. und Dez. 1914 entstandenen E. F. überreichte Japan der chin. Rep. am 18.1.1915. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zielten sie darauf, Japan dominierenden politischen und wirtschaftlichen Einfluß in China zu verschaffen. Gefordert wurde u. a. - Übertragung der Deutschland in →Kiautschou gewährten Rechte auf Japan - Erweiterung und Verlängerung bestehender Nutzungsrechte an Hafenstädten (v. a. Port Arthur) und Bahnlinien in der Mandschurei und der inneren Mongolei - Lizenz zur Ausbeutung von Metall- und Mineralvorkommen in Mandschurei, innerer Mongolei und im Yangtse-Gebiet durch Japan sowie zum Bau und Betrieb der dazu erforderlichen Bahnlinien - Gemeinsame jap.-chin. Kontrolle über die chin. Streitkräfte (Militär und Polizei) und deren Waffenarsenale Zudem sollte China keine Konzessionen an auswärtige Mächte mehr vergeben – eine Forderung, die insb. gegen die →USA gerichtet war und das Ende der bisherigen „open-door-policy“ in China implizierte. Die Umsetzung der E. F. hätte China zum jap. →Protektorat gemacht. Die chin.-jap. Verhandlungen über die E. F. verliefen schleppend. Japan sah sich daher am 26.4.1915 genötigt, eine abgeschwächte Fassung der Forderungen zu präsentieren (u. a. wurde die Forderung nach gemeinsamer Kontrolle der chin. Streitkräfte fallengelassen, die Forderungen betr. Bergbaurechte eingeschränkt) und deren Annahme 233
e i s e nb A hnwe s e n i n d en d e u t s c h e n ko lo ni en
bis zum 9.5.1915 ultimativ zu verlangen. China nahm das Ultimatum an, die entspr. Verträge wurden am 25.5.1915 in Peking unterzeichnet. Japan gewann somit an Einfluß in China, wenn auch in geringerem Ausmaß als in den ursprünglichen Forderungen angestrebt. Wichtiger war, daß die E. F. das Verhältnis zwischen Japan einerseits und Großbritannien und insb. den USA andererseits dauerhaft belasteten. Peter Lowe, Great Britain and Japan 1911–1915, London 1969, 220–258. CHRI S TOP H KUHL Eisenbahnwesen in den deutschen Kolonien. In den dt. Kolonien wurde zur Erschließung wirtschaftlicher Ressourcen v. a. der Eisenbahnbau forciert. Seine hohen Kosten – je nach Gelände zwischen 40 000 und ca. 200 000 Mark pro km – waren ein wesentlicher Grund dafür, daß mit Ausnahme →Togos und →Samoas alle dt. Kolonien bis 1914 durchgehend auf Zuschüsse aus dem Reichshaushalt angewiesen blieben. Folgende Bahnlinien wurden in Betrieb genommen: Kolonie
Linie
Dt.-Südwestafrika
Post in den Kolonien und im Ausland, Leipzig 21942. Helmut Schroeter, Die Eisenbahnen in den einstigen dt. Schutzgebieten, Krefeld 1993. CH R ISTO PH K U H L Ekuador →Ecuador Eldorado. Span. El Dorado, kolonialzeitlicher Mythos von einem „goldenen Mann“ bzw. „Mann aus Gold“, dessen Ursprung im nördlichen Südamerika zahlreiche Entdeckungsexpeditionen auslöste. Im Rahmen der indigenen Strategie, den span. „Goldhunger“ jeweils mit Hinweisen auf benachbarte Kulturen oder ethnische Gruppierungen zu beantworten, um die Eroberer zum Weiterziehen zu veranlassen, wurde den Spaniern 1534 (Sebastián de Benalcázar) im heutigen →Ecuador dieser Mythos berichtet. Sein historischer Ursprung liegt im Hochland des heutigen →Kolumbien, wo bei den zur Chibchakultur (→Chibcha) gehörenden Muisca der Stammesführer (→Cacique) jährlich mit Goldstaub gepudert in eine Lagune, wohl Guatavita, zu einem ReiniStreckenlänge (in km)
fertig gestellt im Jahr
Swakopmund – Windhuk
382
1902
Swakopmund – Tsumeb (sog. Otavi- Bahn)
567
1906
Otavi – Grootfontein
92
1908
Lüderitzbucht – Keetmanshoop
366
1908
Seeheim – Kalkfontein Süd
180
1909
Windhuk – Keetmanshoop
506
1912
Kolmanskop – Bogenfels
70
1913
Kiautschou
Tsingtao – Tsinan (sog. Shantung- Bahn)
435
1904
Togo
Lomé – Anecho
45
1905
Lomé – Palime
119
1907
Lomé – Atakpame
167
1911
Kamerun
Duala – Nkongsamba
160
1911
Dt.-Ostafrika
Tanga – Moshi (sog. Usambara-Bahn)
352
1911
Daressalam – Kigoma (sog. Tanganjika-Bahn)
1252
1914
In →Kamerun wurde die Mittellandbahn von →Duala nach Mbalmayo bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht fertig, 1914 waren 181 von geplanten 283 km fertiggestellt. Der Straßen- und Wegebau, der oft im Verantwortungsbereich indigener Einflußträger lag (so in Togo, Kamerun, →Neuguinea), wurde ebenso wie der Telegrafenbau meist in Koordination mit dem Eisenbahnbau vorangetrieben. Die Beförderung von Post von Deutschland in die Kolonien nahm einen Zeitraum zwischen 17 Tagen (Togo) und mehreren Monaten (pazifische Kolonien) in Anspruch. 1909 verkürzte sich die Beförderungsdauer in Richtung der pazifischen Kolonien auf ca. sechs Wochen, da die Post seitdem mit der →Transsibirischen Eisenbahn auf dem Landweg bis zur Pazifikküste transportiert werden konnte. Horst Gründer, Geschichte der dt. Kolonien, Paderborn 6 2012. Willi Schmidt / Hans Werner, Geschichte der dt. 234
gungskult hinausfuhr, wie durch vor-span. Goldarbeiten aus der Region indirekt bestätigt ist. Die sich wie ein Lauffeuer verbreitende Nachricht, von mehreren Chronisten wie Gonzalo →Fernández de Oviedo, Juan de Castellanos, Fray Pedro Aguado u. a. überliefert, veranlaßte zahlreiche spätere span. Expeditionen, die Unternehmungen der dt. Conquistadoren →Federmann und von Hutten bis hin zu dem Engländer Sir Walter →Raleigh sich auf die Suche nach dem wechselnd zwischen dem heutigen Kolumbien, dem Amazonas-Gebiet (→Amazonas), Guayana und →Venezuela verorteten E. zu machen, zumal sich der Mythos mit dem von einem reichen Zimtland vermischte. Nach Raleigh im 17. Jh. flaute das Interesse ab, obwohl E. nun öfter auf Karten verschieden lokalisiert begegnet. Vereinzelten Unternehmungen folgte noch 1773 auf Grund eines indigenen Berichts von einem Goldberg von Guayana aus die Entsendung einer
e lf en bei n k ü s te
span. Expedition an den →Orinoko, die außer der Erkundung einer unbekannten Region ergebnislos blieb. Walter Raleigh, The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Guiana, With a Relation of the Great and Golden City of Manoa (which the Spaniards call El Dorado)…, London 1948. Demetrio Ramos, El mito de El Dorado. Su génesis y proceso, Caracas 1973. HORS T P I E T S CHMANN
Elefantiasis, Elephantiasis →Filiariasis Elfenbein. Auf Grund seiner außergewöhnlichen Farbgebung, Feinkörnigkeit, Härte, Widerstandsfähigkeit gegen Zersetzung, aber auch der leichten Transportiermöglichkeiten diente E. seit Jahrtausenden als bevorzugter Werkstoff. Meist spielte die Bedeutung seines Trägers, dem Elefanten, eine nicht weniger wichtige Rolle. Als größtes Land-, Lasten- und Kriegstier findet er in →Indien und Afrika göttliche Verehrung, im Abendland galt er als Symbol für Stärke und Klugheit. E.produkte beschränkten sich lange auf die Repräsentation religiöser und weltlicher Macht in Skulpturen, Geräten und Schmuck und waren überwiegend Herrschern, bzw. oberen Klassen vorbehalten. Erfolgte die E.gewinnung über Jahrtausende relativ geregelt, reduzierte der ansteigende Bedarf seit dem 19. Jh. die Bestände so gravierend, daß 1989 jeglicher Handel mit E. durch die CITES (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora) verboten wurde. Als „echtes“ E. werden die Stoßzähne von asiatischen und afr. Elefanten bezeichnet, wobei letztgenannte hochwertiger und leichter zu verarbeiten sind. Fossile Mammutstoßzähne minderer Qualität beschränken sich auf Fundorte in →Sibirien und Alaska. Weitere E. stammen vom Flußpferd, Narwal, Pottwal und Walroß. Als hochwertigstes wird das siamesische und ostafr. eingestuft. Die Bewertung erfolgt nach Kriterien der Farbe, Dichte und Materialkonsistenz. E. fand in nahezu allen großen Kulturkreisen zur Herstellung von Kultfiguren, Grabbeigaben, aber auch zur Verzierung von geistlichen und weltlichen Machtinsignien, sowie Luxusgegenständen Verwendung. Älteste Funde werden auf das Paläolitikum zurückdatiert. Die Bewohner Mesopotamiens und →Ägyptens nutzten es etwa im 4. Jahrtausend zur Herstellung von kultischen Geräten, sowie Verzierungen religiöser Möbel. Phönizische Handels- und Weihegaben beeinflußten die Entwicklung einer neuen hellenistischen E.kunst, die monumentale Götterbilder hervorbrachte. Das Material stammte aus →Äthiopien und Indien. Rom besaß eine wahre „Massenproduktion“ elfenbeinerner Produkte. Neue Entwicklungen brachte das Konstantinische Zeitalter. Der reizvolle Werkstoff für Möbel, Luxus- und Gebrauchsartikel stand nun bis ins Mittelalter im Dienst des Sakralen. Eine neue Glanzzeit erlebte die E.kunst mit dem Beginn des Barock. Auf Grund verbesserter Handelsverbindungen und →Eroberungen europäischer Seemächte konnten große Mengen des Rohmaterials nach Europa importiert werden. Selbst bedeutende Herrscher widmeten sich der E.schnitzerei. Eine einschneidende Konkurrenz stellte die Erfindung des Porzellans dar, wodurch nur wenige Werkstätten, darunter →Venedig, Dieppe,
→Nürnberg, Geislingen und Erbach die Schnitztradition aufrechterhielten. Wirtschaftliche, industrielle und gesellschaftliche Veränderungen des 19. Jh.s führten zu einer nie zuvor erreichten Nachfrage an erschwinglichen Luxusartikeln aus E. Daneben benötigten überwiegend die →USA, Frankreich und Deutschland große Mengen des in den Häfen von London, Liverpool, Antwerpen und Hamburg einlaufenden Rohstoffs zur Herstellung von Billardkugeln und Klaviertasten, was verheerende Auswirkungen auf die Elefantenbestände und Menschen v. a. im Gebiet Ostafrikas hatte, da sich keine ökonomische Basis für zukünftige Entwicklungen bildete. Über Jh.e etablierte Handelsrouten zwischen afr. Trägerkarawanen, Zwischenhändlern und arab. Küstenkaufleuten brachen zusammen. Im Vergleich war der Jahrtausende weit zurückdatierbare Verbrauch südasiatischer Kulturen wesentlich konstanter. Trotz einheimischer Bestände bevorzugten ind. Schnitzer die bessere Qualität der afr. Stoßzähne, die v. a. seit dem 18. und 19. Jh. über →Sansibar und Aden nach →Bombay verschifft wurden. Auf Grund politischer Umbrüche entstanden unterschiedlichste Stile pflegende Zentren der E.verarbeitung. China kann anders als Japan, das eine späte „Blütezeit“ erlebte, auf eine lange und sehr kunstvolle Verarbeitungstradition zurückweisen. Mit der Ausrottung des chin. Elefanten mußten andere Rohstoffquellen bis nach Indien und später auch Ostafrika genutzt werden. Edward A. Alpers, Ivory and Slaves, Berkeley / Los Angeles 1975. Iris Hahner-Herzog, Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jh., München 1990. Roland Steffan (Hg.), Glanz und Fluch des Elfenbeins, Sankt Gallen 1998. K RISTIN A STA R K LO FF
Elfenbeinküste (frz. Côte d’Ivoire) war eine frz. Kolonie. 1842 schloß der Marinekapitän Edouard BouetWillaumez Verträge mit den traditionellen Herrschern der Küstenregion ab und bereitete den Weg für die Besetzung des Landesinneren. In den 1860er Jahren gründete der Marineoffizier und Geschäftsmann Arthur Verdier das Handelshaus Compagnie Française de Kong und führte →Kaffee und →Kakao ins südliche Gebiet der E. ein. Der Forscher Marcel Treich-Laplène gilt als Gründer der Kolonie. Er war neben Verdier der zweite Résident de France und sollte die Interessen Frankreichs vertreten. 1893 wurde Louis Binger erster Gouv. der E., deren Grenzen zu der Goldküste 1898 und zu →Liberia 1907 festgelegt wurden. Mitte der 1930er Jahre entstanden wegen Diskriminierung und →Zwangsarbeit Konflikte zwischen lokalen Bauern und frz. Plantagenbesitzern. Die darauf folgenden Ereignisse bestimmten den Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung. Nach der Gründung der Gewerkschaft der afr. Pflanzer 1944, mit Houphouet-Boigny als Vorsitzendem, entstand 1946 die Parti démocratique de Côte d’Ivoire. Am 7.8.1960 erlangte die E. (322 563 km2) die Unabhängigkeit. Félix Houphouet-Boigny (1905–1993) wurde Präs. und errichtete ein Einparteienregime. Bis zu seinem Tod galt die E. als Vorbild für politische Stabilität und war ein relativ wohlhabendes Land. Danach wurde die E. von einer sozioökonomischen Krise heimgesucht. 1999 ergriff 235
e l iot, j ohn
General Robert Guéi die Macht, um das Land aus der Korruption und Mißwirtschaft der Reg. Konan Bédiés, des Nachfolgers Houphouet-Boignys, zu führen. Trotz der schnellen Rückkehr zur Zivil-Reg. im Jahr 2000 waren gewaltsame Konflikte zwischen dem mehr islamisch geprägten Norden und dem christl. wie lokalreligiös ausgerichteten Süden sowie Abspaltungen innerhalb der Streitkräfte nicht mehr zu vermeiden, so daß im Sept. 2002 ein Bürgerkrieg ausbrach. Die größten Gruppen der Einheimischen innerhalb der ca. 16 Mio. Ew. stellen die Baule (23 %) und die Agni (11 %), dann die Kru, die Mande-Gruppen (v. a. Malinke um Kong herum, aber als Dyula-Händler weit verbreitet) und die Dan. Robert J. Mundt, Historical Dictionary of Côte d’Ivoire, London 1995. Ruth Schachter Morgenthau, Political Parties in French-Speaking West Africa, Oxford 1964. Aristide R. Zolberg, One-Party Government in the Ivory Coast, Princeton 1969. YOUS S OUF DI AL L O Eliot, John, * um 5. August 1604 Widford, † 20. Mai 1690 Roxbury (Boston), □ Eliot Burying Ground / Roxbury (Boston), puritan. Puritanischer Geistlicher und Missionar, wurde als „Apostle to the Indians“ bekannt. Geboren in Widford, Hertfordshire, siedelte E. 1631 in die Massachusetts Bay Colony aus, wo er sich für die Christianisierung der ortsansässigen indianischen Stämme engagierte. 1651 gründete er das erste von insg. 14 Dörfern für Konvertiten (sog. „Praying Indians“), in denen zeitweilig bis zu 4 000 Menschen (ca. 25 % der damals noch in Neuengland verbliebenen Urbevölkerung) lebten. Durch die als „Eliot’s Indian Tracts“ bezeichneten Werbeschriften erzeugte er in England Interesse an der Indianermission und erreichte 1649 die Gründung der „Society for the Propagation of the Gospel in New England“. Neben seiner Übersetzung der Bibel in die Algonkin-Sprache (1661–63) verfaßte E. Katechismen und Schulbücher (1654, 1669) sowie The Christian Commonwealth (1669). Michael Clark (Hg.), The Eliot Tracts, Westport 2003. Richard Cogley, John Eliot’s Mission to the Indians before King Philip’s War, Cambridge 1999. Ola Winslow, John Eliot, Boston, 1968. JAN S T I E VE RMANN Elisabeth I., * 7. September 1533 Greenwich / England, † 24. März 1603 Richmond / England, □ Westminster Abbey, anglik. Die Hoffnung, daß E.s Mutter Anne Boleyn Kg. →Heinrich VIII. als dessen zweite Ehefrau den gewünschten legalen männlichen Thronfolger gebären würde, lieferte seit 1530 den wesentlichen Grund für die engl. Reformation mit der Schaffung der Church of England (1534) und dem engl. Monarchen als deren Oberhaupt (Supreme Head), da eine Scheidung Heinrichs von seiner ersten Frau, der span.-habsburgischen Fürstin Katharina von Aragón mit Zustimmung des von Ks. Karl I. kontrollierten Papstes Clemens VII. nicht durchsetzbar gewesen war, und allein die Trennung von Rom eine landeskirchlich legale, neue Eheschließung des Kg.s zuließ. Dieser Umstand sollte E.s spätere Position als offiziell betont protestantischer Monarchin und ihre Haltung zu Rom, rk. Herrschern, den Katholiken in ihrem Herrschaftsbereich 236
und ihrer Cousine Maria Stuart nachhaltig beeinflussen. E. verlebte eine komplizierte Kindheit und Jugend. 1536 wurde sie nach der Hinrichtung ihrer Mutter für illegitim erklärt, lebte zeitweise im Tower, lernte früh, ihre Persönlichkeit zu kontrollieren und aus Selbsterhaltungstrieb keine klaren Positionen zu beziehen. 1544 wurde sie per Gesetz auf Platz 3 der Thronfolge gesetzt. Erst nach dem Tod ihrer Vorgänger auf dem Thron, ihres Halbruders Eduard VI. und ihrer Halbschwester Maria Tudor kam sie 1558 nach manchen Querelen auf den engl. Thron. Nach ihrer Krönung in Westminster Abbey am 15.1.1559 mußte sie sich wiederholt mit nationalen und internationalen Gegnern auseinandersetzen, die ihre Thronübernahme als illegal bekämpften. Gerüchte um fiktive und reale Verschwörungen gegen die Kg.in kursierten in England und verunsicherten Krone und Bevölkerung gleichermaßen. Der Papst rief zur Ermordung der Ketzerin E. auf. Maria Stuart galt lange als Drahtzieherin mancher Attacken gegen E. Trotz dieser Spannungen im Lande und erratischer Verhaltensweisen der Monarchin selbst rückte England unter E. langsam wieder in die Reihe der bedeutenden europäischen Staaten ein – eine Position, die das Land unter dem pompösen, selbstherrlichen, aber außenpolitisch unfähigen Heinrich VIII. eingebüßt hatte. Mit bescheidenen finanziellen Mitteln, aber mit Visionen für künftige Weltgeltung und politischem Pragmatismus, bemühten sich die Monarchin und ihre Untertanen in den 1580er Jahren relativ erfolglos um koloniale Expansion in Nordamerika, das zu Ehren der ‚virgin queen‘ E. als Virginia bezeichnet wurde. Erfolgreicher gestalteten sich der Ausbau der engl. Marine, die Ausschaltung der Hanse vom engl. Markt, die Entwicklung der heimischen Gewerbe, Landgewinnung, Konsolidierung der Finanzen und der Church of England durch die Uniformitätsakte von 1559. E. selbst favorisierte religiöse Toleranz und setzte sich damit propagandistisch geschickt von ihrer Halbschwester Maria Tudor ab. Als Ausgleich zu ihrer eigenen problematischen Situation als unverheiratete Frau, die männliche Untertanen regierte und seit der Erneuerung der Suprematsakte als Supreme Governor of the Church of England fungierte, begünstigte E. zielstrebig den Kult um ihre Person. Wichtige Unterstützung lieferten Schriftsteller (William Shakespeare, Ben Johnson, Christopher Marlowe) und der Maler Nicholas Hilliard. Sie entwickelten das Image von E. als unnahbarer, den irdischen Nichtigkeiten entrückter jungfräulicher Kg.in (virgin queen), Gloriana und neuer, weltlicher Maria und versuchten damit die Gerüchte um E.s undurchsichtiges Privatleben und ihre etwaigen Liebhaber zu ersticken. Die hochgebildete, intelligente, kokette und eitle E., die mehrere Sprachen beherrschte, dichtete, komponierte, den Tanz zelebrierte und – glaubt man manchen Kommentaren von Zeitgenossen – derbem Fluchen nicht abgeneigt war, erwies sich meist als geschickte Diplomatin, die Attacken von Gegnern im In- und Ausland glänzend parierte und wichtige Verträge schloß (z. B. 3.4.1559: Frieden von Cateau-Cambrésis, der den 1553 begonnen Krieg mit Frankreich beendete und die Konsolidierung der engl. Wirtschaft ermöglichen sollte). Den Wunsch ihrer Untertanen, sie möge einen geeigneten Ehepartner finden, verwandelte sie gekonnt in politische Optionen
e mP i re m A rk eti n g bo Ard
und spielte jahrelang die Höfe Frankreichs, Spaniens und dt. Fürstentümer im Heiratskarussell gegeneinander aus, um dann doch im Wissen um die Probleme in der Ehe ihrer Halbschwester Maria Tudor mit dem span. Kg. →Philipp II. auf eine Heirat zu verzichten und sich publikumswirksam als Braut Englands zu gerieren. Alle Erfolge ihrer Reg. wurden geschickt eingesetzt, um E. als Personifizierung eines betont protestantischen Englands zu lancieren. Wesentliche Ereignisse ihrer Reg. wurden dieser Idee eines protestantischen Englands unterworfen: der Untergang der span. Flotte 1588, deren Besatzung von Philipp II. mit der Invasion Englands und Beseitigung E.s beauftragt worden war; die Hinrichtung von E.s Cousine, der ehem. schottischen Kg.in Maria Stuart 1587; E.s Engagement zugunsten der aufständischen Niederlande 1585 oder Francis →Drake’s Weltumseglung und seine Nadelstiche gegen das span. Kolonialreich seit den 1570er Jahren. Der Mythos E. funktionierte und hält in der Hochschätzung des Elisabethanischen Zeitalters in den Medien bis heute unvermindert an. Da E. den Sohn Maria Stuarts, Kg. →Jakob VI. von Schottland, als ihren Nachfolger anerkannt hatte, konnte der Schotte nach dem Tod von E. unangefochten auf den engl. Thron gelangen und als Jakob I./James I künftig England und Schottland in Personalunion regieren. Günther Lottes, Elisabeth I. Eine politische Biographie, Göttingen 1981. Claudia Schnurmann, Vom Inselreich zur Weltmacht, Stuttgart 2001. Roy Strong, Gloriana. The Portraits of Queen Elizabeth I, London 1987. CL AUDI A S CHNURMANN
Ellice Islands →Gilbert and Ellice Islands Emanuel, Jack →Tolai Emanzipation. Im altrömischen Privatrecht Bezeichnung für die Entlassung des erwachsenen Sohnes aus der väterlichen Gewalt (lat. emancipatio). Unter derselben Bezeichnung fand diese Rechtsfigur Eingang in die großen Kodifikationen der Neuzeit, z. B. in das preußische Allg. Landrecht. Unter dem Einfluß der Philosophie der →Aufklärung wandelte sich das Begriffsverständnis im 18. Jh. Statt eines privaten Rechtsakts verstand die kritische Öffentlichkeit unter E. fortan die Idee, bislang benachteiligte gesellschaftliche Gruppen rechtlich mit den übrigen Staatsbürgern gleichzustellen. In globaler Ausweitung dieses Begriffsverständnisses zielte der Begriff seit dieser Zeit auf die Forderung nach Abschaffung der in vielen Kolonien noch praktizierten →Sklaverei, bevor er Mitte des 20. Jh.s schließlich zum Synonym für Dekolonisation wurde. Gerhard Grohs, Stufen afr. Emanzipation, Stuttgart u. a. 1967. Diethelm Klippel / Gerrit Walther, Emanzipation, in: Friedrich Jaeger (Hg,), Enzyklopädie der Neuzeit Bd.3, Stuttgart / Weimar 2006, 238–246. Michael Zeuske, Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich 2004. CHRI S TOP H KUHL Emin Pascha (d. i. Eduard Schnitzer) * 28. März 1840 Oppeln (Opole), † 23. Oktober 1892 Kinena, □ nicht vorhanden, jüd., ev., musl.
Schnitzer besuchte das Katholische Gymnasium in Neisse und studierte in Breslau, Königsberg und Berlin Medizin. Ohne Approbation trat er in Osmanische Dienste, zunächst auf dem Balkan als Quarantänearzt, dann als Hausarzt Ismail Hakki Paschas an wechselnden Orten. Nach dem Tod seines Gönners kehrte Schnitzer mit dessen Witwe und Hausstaat 1874/75 über Arco nach Neisse zurück. Er verließ die Witwe, reiste nach →Khartum und fand durch Vermittlung Carl →Giegler Paschas in der von Charles →Gordon geleiteten ägyptischen Äquatorialprovinz eine Anstellung als Arzt. Nach politischen Missionen zu den Kg.en von Unyoro und →Uganda beerbte er Gordon als Gouv. der Provinz und sorgte für deren wirtschaftlichen Aufschwung. Nach der Ermordung Gordons 1885 in Khartum (→Mahdiyya) wurde Schnitzer, der sich inzwischen E. nannte, durch die Derwische (Ansar) von der Außenwelt abgeschnitten. Der Missionar Robert Felkin und der Forschungsreisende Wilhelm Junker machten auf E.s Schicksal in Europa aufmerksam. Nun starteten mehrere Entsatzexpeditionen, die wichtigsten unter Henry →Stanley und Carl →Peters. Stanley erreichte den Eingeschlossenen 1889 und führte ihn an die Küste nach Bagamoyo (→Dt.Ostafrika). Zum Ärger des Empire leitete E. ab 1890 eine dt. Expedition in das Landesinnere. Bald geriet E. auf Grund der geänderten politischen Lage (→HelgolandSansibar-Vertrag) mit Reichskommissar von Wissmann in Dissenz und mißachtete dessen Befehle. Von Krankheit gezeichnet, schloß E. sich 1892 einer Karawane vorher von ihm bekämpfter arab. Sklavenjäger (→Sklaverei und Sklavenhandel) an, die ihn schließlich bei Kinena im Kongo-Freistaat ermordeten. E.s Führungsqualitäten waren umstritten, seine schillernde Persönlichkeit führte zu Mythenbildungen. Internationale wissenschaftliche Anerkennung fanden seine biologischen und geographischen Aufzeichnungen. Seine Sammlungen bereicherten zahlreiche völker- und naturkundliche Museen. Q: Franz Stuhlmann (Hg.), Die Tagebücher von Dr. Emin Pascha, 5 Bde., Hamburg 1916–1927. L: Christian Kirchen, Emin Pascha, Paderborn 2014. C H R ISTIA N K IR C H EN
Empire →Britisches Kolonialreich Empire Marketing Board. Das E.M.B. war eine im Mai 1926 gegründete brit. Reg.sbehörde, welche den Handel zwischen Großbritannien und den Ländern des Empire fördern sollte. Als Ergebnis des Ersten Weltkriegs war Großbritanniens weltwirtschaftliche Position geschwächt, und in einer zunehmend protektionistischen →Weltwirtschaft schien der Außenhandel am ehesten über die innerimperialen Wirtschaftsbeziehungen zu beleben zu sein. Da die Konservative Partei gegen die immer noch freihändlerisch eingestellte Öffentlichkeit keine protektionistische Handelspolitik durchsetzen und den innerimperialen Warenverkehr entspr. durch Vorzugszölle stärken konnte, wurden statt dessen jährlich 550 000 £ bereitgestellt, aus denen die drei Komitees des E.M.B. eine breite Palette von Maßnahmen initiieren und organisieren sollten: Das „Research Committee“ finanzierte und förderte agrarwissenschaftliche Forschung, 237
e n c in As , d ie g o d e
um die Marktfähigkeit von Nahrungsmittelprodukten des Empire zu verbessern. Das „Marketing Committee“ betrieb Marktforschung und versorgte Distributionsorganisationen mit Informationen. Das „Publicity Committee“ schließlich verfolgte eine Verbrauchslenkung durch propagandistische Erziehung der brit. Konsumenten: Lebensmittel aus Großbritannien und den überseeischen Besitzungen sollten gegenüber denen aus Drittländern bevorzugt werden. Hierzu wurden Ausstellungen und „Empire Shopping Weeks“ organisiert, Informationsmaterial für Schaufenster sowie für die Schulbildung konzipiert und die gewünschte Botschaft über Radiosendungen, innovative Dokumentarfilme, Zeitungsanzeigen und Posterkampagnen professioneller Werber transportiert. Propagiert wurde ein Bild funktional komplementärer Ökonomien: Die überseeischen Gebiete liefern Großbritannien ihre Primärprodukte und sind im Gegenzug der Absatzmarkt der brit. Gewerbeprodukte; der Kauf überseeischer Erzeugnisse würde somit indirekt brit. Industriearbeitsplätze sichern. Faktisch galt diese Komplementarität aber bestenfalls für den tropischen Kolonialbesitz, kaum für →Indien und gar nicht für die sich industrialisierenden →Dominions. Zudem wickelte Großbritannien weniger als 40 % seines Außenhandels mit dem übrigen Empire ab, gerade dies galt es ja zu ändern. Handelsstatistisch meßbar war ein Erfolg der Kampagnen allein aus methodischen Gründen kaum. Die hauptsächliche Wirkung des E.M.B. lag somit eher darin, ein Image des Empire als friedliche, einander in internationaler Arbeitsteilung ergänzende, gleichberechtigte Völkerfamilie im Sinne der zweiten →Balfour-Deklaration zu konstruieren und das überkommene, desavouierte Bild eines auf militärische →Eroberung und Herrschaft gründenden Weltreichs zu überlagern. Gleichwohl blieben mit der funktionalen Festlegung der tropischen Kolonien auf die Primärgüterproduktion rassische Stereotype bestehen (z. B. Tropenbewohner als schlichte Bauern, die paternalistischer Anleitung durch Weiße bedürfen). Die Arbeit des E.M.B. wurde von Zeitgenossen moderat positiv aufgenommen. In Reg.skreisen blieb man dem E.M.B. gegenüber auf Grund seiner Budgetautonomie und der modernen Strategie einer Lenkung der Öffentlichkeit teilweise skeptisch eingestellt. Schon durch die Haushaltszwänge in der Weltwirtschaftskrise unter Druck, verlor das E.M.B. durch das 1932 im →British Commonwealth of Nations beschlossene Präferenzzollsystem seine Existenzberechtigung. Es wurde zum Sept. 1933 aufgelöst, Forschungs- und Marketingaktivitäten auf andere Einrichtungen aufgeteilt. Stephen Constantine, Buy & Build. The Advertising Posters of the Empire Marketing Board, London 1986. David Meredith, Imperial Images. The Empire Marketing Board, in: History Today 37 (1987), 30–36. AL E XANDE R E NGE L
Encinas, Diego de, * ca. 1525, † 1612, □ unbek., rk. E., seit 1556 Schreiber im Dienst des Indienrates und von 1571 bis zu seinem Ausscheiden 29 Jahre später als Oficial mayor de la escribanía de justicia auf mittlerer Hierarchieebene beschäftigt, ist Autor der in der Forschung heute meist nach ihm bezeichneten Sammlung von 238
Rechtsnormen, die 1596 im Auftrag des Indienrates zum internen Gebrauch gedruckt wurde. Aus den ca. 200 000 bis dahin vorliegenden (v. a. als Cédulas, aber auch durch Carta oder Provisión verkündeten) Normen wählte E. 2 472 aus, transkribierte sie bei vereinzelten Kürzungen ohne größere redaktionelle Eingriffe und unter Ergänzung weniger Normen aus der Nueva Recopilación für Kastilien. Lediglich durch selbst verfaßte Rubriken geordnet, läßt sich hinter der ursprünglich in 116 Hefte eingetragenen Sammlung die Verwaltungsgliederung in gobernación, justicia, hacienda, guerra erkennen. Trotz ihrer geringen Auflage von nur 48 Exemplaren gewann die Sammlung erhebliche praktische Bedeutung, wohl auch, weil andere Projekte wie der geplante Código von Juan de →Ovando nicht verwirklicht wurden. Exemplare wurden in der →Casa de la Contratación de Indias und in der Contaduría de la Casa genutzt, gelangten in die Neue Welt und wurden von Autoren der späteren Recopilaciones verwandt. Mit der Recopilación de las leyes de los reynos de las Indias von 1680 verlor das Cédulario seine Bedeutung. E., nach jahrzehntelanger entbehrungsreicher Arbeit fast erblindet und durch erhebliche eigene Aufwendungen verarmt, wurde vom Consejo für seine Arbeit wiederholt gewürdigt, vom Monarch jedoch nur zögerlich entlohnt. Alfonso García-Gallo, El Cedulario de Encinas, in: Ders. (Hg.), Los orígenes españoles de las instituciones americanas, Madrid 1987, 131–255. TH O MA S D U V E Encomienda. Ende des 15. und Anfang des 16. Jh.s bezeichnete der vieldeutige spanische Begriff E. einen Bezirk in den den Ritterorden im Verlauf der →Reconquista zur Administration und Christianisierung der Mauren überlassenen Gebieten. Diese Distrikte wurden einem Angehörigen des Ritterordens meist auf Lebenszeit übertragen, verpflichteten diesen zur Christianisierung, Verwaltung und Ausübung der Gerichtsbarkeit in diesem Gebiet, gestanden ihm als Gegenleistung und zur Beibehaltung seiner militärischen Einsatzfähigkeit Abgaben der maurischen Bevölkerung des Distriktes zu. Nach der Eroberung →Mexiko-Tenochtitláns übernahm Hernán →Cortés dieses kastilische Modell angesichts der angetroffenen Verhältnisse unter der indigenen Bevölkerung und der Notwendigkeit, die Teilnehmer seines Eroberungszuges weiter an das Unternehmen zu binden, um eine dauerhafte Herrschaft zu errichten. Die zahlenmäßigen Verhältnisse und das Vorhandensein eines mächtigen indigenen Adels mit eigenen (Grund-) Herrschaften, der zu einem erheblichen Teil durch Gestellung von Truppen zur Eroberung beigetragen hatte, zwangen Cortés die Rechte des Adels anzuerkennen und ihm Privilegien, wie sie spanische Hidalgos innehatten zu gewähren (das Tragen von Waffen, zu Pferd zu reiten, keine Abgabenverpflichtungen usw.). Diese weitgehende Übernahme der indigenen Herrschaftsverhältnisse zwangen aber auch dazu, die besonders verdienten spanischen Teilnehmer des Eroberungszuges durch entsprechende Belohnungen zufriedenzustellen, zumal die Kriegsbeute eher unter den allgemeinen Erwartungen der Spanier lag. Als Belohnung für ihre Verdienste verteilte Cortés an seine Gefolgsleute E.s in Form der Zuweisung von
en g elh Ard t, A u g u s t
zahlenmäßig sehr unterschiedlichen Gruppen – eine solche Zuweisung konnte zwischen 10 und mehreren hundert umfassen – der einfachen indigenen Bevölkerung an die Teilnehmer des Eroberungszuges unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Status und militärischen Beitrags. Die Begünstigten sollten über den indigenen Adel für die Christianisierung, den Anbau europäischer Nutzpflanzen usw. sorgen, jederzeit militärisch einsatzbereit sein. Als Gegenleistung für diese Vergabe durften sie Tributleistungen, sei es in Waren, sei es in Dienstleistungen, verlangen. Aus Sorge vor einer Feudalisierung suchten die Kronbehörden diese von zahlreichen Streitigkeiten und Mißbräuchen begleitete Vorgehensweise zu unterbinden, doch gelang es Cortés bei einem Besuch am Hofe →Karls V. den Kaiser zunächst zu überzeugen. Als die E. sich bald darauf zu einer Einrichtung entwickelte, um die heftig gestritten wurde (B. de las →Casas, F. de Vitoria, J. G. de Sepúlveda), erließ der Indienrat auf Anweisung des Kaisers mit den Neuen Gesetzen 1542/3 eine restriktive Gesetzgebung, die die E. zeitlich auf ein bis zwei Leben einschränkte, bevor unter →Philipp II. versucht wurde, die E. durch administrative Maßnahmen auf ein Renteneinkommen zu reduzieren und die direkte Verbindung der Encomenderos zu den ihnen zugeteilten Tributpflichtigen zu kappen. Auf Grund der zeitversetzten Abfolge der Landnahme, spielte die E. in nahezu allen Gebieten Spanischamerikas zumindest zeitweise eine wichtige, wenn auch in Form und Inhalt sehr unterschiedliche Rolle. Robert Himmerich y Valencia, The Encomenderos of New Spain 1521–1555. Austin, Tx 1991. Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas. Münster 1980. HORS T P I E T S CHMANN
Endertá. Die Region E. in der Provinz Tigray in Nordäthiopien war ab dem Ende des 9. Jh.s mit ihrer Hauptstadt Hintalo ein Herrschaftssitz im abessinischen Reich, der bis ins 19. Jh. Schauplatz vieler bedeutender historischer Ereignisse war. Im 20. Jh. ist E. durch die „Schlacht von E.“, auch „die Schlacht am Amba (Berg) Aradam“ genannt, bekannt geworden. Der in E. gelegene Amba Aradam galt als strategisch wichtiger Punkt, von dem aus die bedeutsamsten Verbindungswege in die südlichen Regionen Hochäthiopiens kontrolliert werden konnten. Er war einer der zentralen Schauplätze im 2. It.-Äthiopischen Krieg auf dem Wege Italiens zur →Eroberung der äthiopischen Hauptstadt →Addis Abeba. Die Schlacht zwischen der it. Armee unter dem Oberbefehlshaber Marschall Pietro Badoglio und der ksl. Garde unter Ras (Herzog) Mulugeta Yeggazu, der gleichzeitig äthiopischer Kriegsminister war, begann am 10.2.1936. Obwohl die it. Truppen in ihrer militärischen Ausstattung den äthiopischen weit überlegen waren, konnte die äthiopische Seite an den steilen Berghängen fünf Tage standhalten. Nach schwerem Artilleriebeschuß und Luftangriffen, bei denen auch Kampfgas zum Einsatz kam, mußte Ras Mulugeta den Rückzug antreten. Dabei kam er selbst ums Leben. Nach der gewonnenen Schlacht konnte Badoglio die drei restlichen äthiopischen Armee-
einheiten der Nordfront angreifen und besiegen; damit war der Weg nach Addis Abeba frei. A LK E D O H RMA N N
Engelhardt, August, * 27. November 1877 in Nürnberg, † 6. Mai 1919 auf Kabakon, □ Inabui, Mioko, ev.-luth. (?). E. entstammte einer wohlhabenden Nürnberger Fabrikantenfamilie. Nach dem Abitur 1896 lehnte er die Übernahme der väterlichen Lackfabrik ab. Studium in Erlangen (Physik, Chemie). Abbruch des Studiums nach Tod beider Eltern. Mit reichem Erbteil ausgestattet, wandte er sich ganz den Ideen der Lebensreform zu. Diese Bewegung propagierte vegetarische Kost, Nudismus und freie Liebe als Antwort auf die Auswüchse der Industrialisierung und der bürgerlichen Moral. Im Herbst 1899 in der Naturheilanstalt „Jungborn“ im Harz. Hier verbreitete er erstmals seine Überzeugung, daß die Kokosnuß alle Bedürfnisse des Menschen abdecke. Nach militärischer Pflichtdienstzeit (1900–1901) Aufenthalt auf dem Monte Verità nahe Ascona bei einer Gemeinschaft von Lebensreformern unter dem Motto „Zurück zur Natur“. Am 15. September 1902 traf E. im Bismarckarchipel in der Kolonie →Deutsch-Neuguinea ein. Er kaufte von „Queen“ Emma die Insel Kabakon, 20 km nö. von →Herbertshöhe, 86 ha groß, mit einer Kokospalmenplantage. Hier lebte er als einziger Weißer nach dem 2. Oktober 1902 für seine Selbstverwirklichung. E. genoß als Nudist sein Aussteigerleben und widmete sich seiner Kokosplantage, die er von Einheimischen bearbeiten ließ. Den alleinigen Verzehr von Kokosnüssen bezeichnete er als Kokovorismus, die Anhänger dieser Idee Kokovoren. Die Sonne erklärte er zum zentralen Lebensquell; durch sie erhalte der Mensch eine göttlich-ätherische Astralnahrung – aufgenommen durch die der Sonne am nächsten liegenden Organe, Haare und Kopfhaut, die wiederum das Gehirn mit Sonnennahrung versorgten. Der Kokovorismus erzeuge beim Menschen ein unsterbliches, paradiesähnliches Dasein. E. sah sich als Ersten Kokosapostel seiner Lehre, die er Evangelium nannte. Er warb um gleichgesinnte Sympathisanten, denen er auf Kabakon das Paradies versprach. Der erste Anhänger starb schon sechs Wochen nach seiner Ankunft. Mitte 1906 erschien sein Freund August Bethmann auf Kabakon. Beide verfaßten eine Schrift unter dem Titel „Eine sorgenfreie Zukunft“ und gründeten den „Sonnenorden“ als äquatoriale Siedlungsgesellschaft auf Kabakon, „in der sich alle Kokovoren vereinigen sollen“: Es haben sich auf dem Höhepunkt des Sonnenordens um 1906 jedoch nicht mehr als drei bis vier Anhänger gleichzeitig auf Kabakon aufgehalten. Insgesamt können bislang 17 Kokovoren zwischen 1903 bis 1914 namentlich nachgewiesen werden. Der bekannteste war Max Lützow, ein seinerzeit europabekannter Kapellmeister, Klavier- und Geigenvirtuose. Ankommende Sympathisanten reisten bald wieder ab oder starben durch Unfälle, Mangelernährung oder Malaria. E. war überzeugt, das Nichtbefolgen seiner Vorschriften würde ihr Scheitern erklären, so bei Bethmanns Tod: „Er folgte dem Weibe statt der Gottheit, da … sank er in die Grube“. Selbst wiederholt schwerkrank, wurde E., voller Geschwüre, entkräftet 239
e n g e nho
und völlig abgemagert, mehrfach im Regierungshospital von Herbertshöhe behandelt. Wiederhergestellt träumte E. von einem Weltreich des Kokovorismus am Äquator: „Der Sonnenorden wird zunächst Kabakon, von da aus den Bismarck-Archipel besiedeln, dann Neuguinea und die Inseln des Stillen Ozeans, schließlich das tropische Amerika, Asien und Afrika“. 1909 Gründung der programmatischen Zeitschrift „Für Sonne, Tropen und Kokosnuß“. Warnungen von Überlebenden und präventive Maßnahmen der Kolonialverwaltung zeigen abschreckende Wirkung. E.s Kokosplantage verfällt, bis sich der ehemalige Anhänger Wilhelm Bradtke als Verwalter um die Pflanzung kümmert und den Verkauf der Kokosnüsse organisiert. Der Kokosapostel wird durch seine auffällige Lebensweise zur touristischen Attraktion, die aufgesucht und fotografiert wird. Über die Todesumstände ist nichts näheres bekannt. Seine Bibliothek wurde im Meer entsorgt. E. kann als Vorläufer der Hippies und Aussteiger angesehen werden. Dabei zeigte die angestrebte Perfektionierung seiner Lehre von der göttlichen Allmacht der Sonne und Kokosnuß immer extremere Züge. Zwar gelang es dem selbsternannten Kokosnußapostel, einige zivilisationsmüde Jünger in sein versprochenes SüdseeParadies zu locken, doch scheiterten sie alle an der Radikalität von Engelhardts Sonnenorden. Die zeitgenössischen Reaktionen spiegeln die Extreme von Es. Theorien kontrovers wider: neben Neugier und Bewunderung stieß Engelhardts Lehre mit durchaus paranoiden Zügen auf Mißtrauen und entschiedene Ablehnung. Nach seinem Tod so gut wie vergessen, gewinnt E. im Zuge aktueller Reformansätze neue Attraktivität, wie die historische Forschung und nicht zuletzt zwei in jüngster Zeit erschienene Romane über ihn belegen. Q: August Engelhardt / August Bethmann, Eine sorgenfreie Zukunft, Kabakon 51905. August Engelhardt, Für Sonne, Tropen und Kokosnuss! Zeitschrift für den Gottesdienst der Tat und für die Unsterblichkeit!, Weinböhla 1909–1913. L: Dieter Klein, Engelhardt und Nolde: Zurück ins Paradies, in: Helmuth Steenken (Hg.), Die frühe Südsee, Oldenburg 1997, 112-135. Ders., Neuguinea als deutsches Utopia, August Engelhardt und sein Sonnenorden, in: Hermann Joseph Hiery (Hg.): Die deutsche Südsee 1884–1914. Ein Handbuch, Paderborn u. a. 22002, 450-458. Sven Mönter, Following a South Seas Dream: August Engelhardt and the Sonnenorden, Auckland 2008. DI E T E R KL E I N
Engenho (dt. Zuckermühle). Der Begriff e. (span.: →ingenio) bezeichnet alle Apparaturen, die der Verarbeitung von Zuckerrohr dienten, den Ort, an dem die Verarbeitung stattfand, und den dazugehörigen Besitz wie Zuckerrohrfelder, Herrenhaus, Unterkünfte der Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und Arbeiter, Arbeitsgebäude und Kapelle. Über die atlantischen Inseln war der →Zucker im Gefolge der iberischen Landnahme in die Amerikas gekommen, wo er besonders in der →Karibik und in →Brasilien günstige Anbaubedingungen vorfand. Das erste e. in Brasilien wurde um 1518 errichtet. Zuckergewinnung war ca. seit Mitte des 16. Jh.s der wichtigste Wirtschaftszweig des kolonialen Brasilien, der am Ende der Kolonialzeit allein in →Bahia und →Rio de Janeiro 240
auf fast 1 000 e.s basierte. Die Größe eines e.s umfaßte im Durchschnitt 65 Arbeitskräfte; einzelne e.s konnten auch über 100 zählen, die meisten davon Sklaven. Die Verdienstspanne lag bei ca. 10 %, war aber stark abhängig von natürlichen Einflüssen; Überschwemmungen, Dürre, Krankheiten, mangelnde Versorgung mit Holz und Konjunkturen konnten die Rendite schwer beeinträchtigen, so daß e.s großen Gewinn versprachen, aber auch wegen Zahlungsunfähigkeit häufig den Besitzer wechseln konnten. Im Gegensatz zum hispanoam. Zucker, der v. a. in Spanien raffiniert wurde, umschloß die Zuckerherstellung in Brasilien den gesamten Prozeß vom Schlagen des Rohres bis zum Raffinieren des kristallinen Zuckers. Viele Betriebe lagen an Flüssen, die für den Antrieb der dann e. real genannten Mühle sorgten. Wo Göpelwerke mit geringerer Produktivität arbeiteten, war u. a. die abschätzige Bezeichnung engenhoca gebräuchlich. In der Presse wurde der Saft aus Zuckerrohr gewonnen, welches zuvor Sklaven auf den Feldern des e. geschnitten hatten oder von Zuckerrohrpflanzern ohne eigene Mühle angeliefert wurde. Dieser Saft wurde dann durch Erhitzen in Siedekesseln gereinigt und eingedickt. Mehrere Tage der Abkühlung in Zuckerhüten genannten Keramikformen ergaben Zucker verschiedener Reinheitsgrade; auch Schnaps, sog. cachaça oder geribita, wurde hergestellt. Die Zuckerproduktion hing von der Größe des e. ab; die Tagesproduktion größerer Mühlen lag bei ca. 16 Zuckerhüten, ca. 100 kg. Vom fertigen Zucker erhielten die Rohrlieferanten ihren Anteil. Der Großteil war für den Export bestimmt und wurde, in Kisten verpackt, auf dem Wasser- oder Landweg zum nächsten Hafen gebracht. Ein e. war ein kapitalintensives Unternehmen, welches Land, Arbeitskräfte, Apparaturen und große Mengen an Brennholz erforderte. Die arbeitsintensive Zuckergewinnung hatte großen Bedarf an Arbeitskräften, Freie, v. a. aber Sklaven, oft mit speziellen Kenntnissen und handwerklichen Fähigkeiten. Die Versklavung der indigenen Bevölkerung wurde durch die von Afrikanern abgelöst, so daß seit ca. 1600 etwa in Bahia nahezu alle Sklaven afr. Herkunft waren. Ein e. war zugleich als wirtschaftliche Unternehmung Teil eines weitreichenden Geflechtes, zu dem Europa als Lieferant von Fertigprodukten sowie als Absatzmarkt für den Zucker ebenso gehörte wie Afrika als Lieferant von Sklaven oder der lokale Markt, der mit Brennholz, Nahrungsmitteln und Vieh versorgte; als soziale Institution spielte das e. eine wichtige Rolle beim Entstehen der kolonialen Gesellschaft, da es als ländlicher Siedlungskern Sklaven verschiedener afr. Völker, freie Handwerker und Pflanzer aus Europa, eine durch Zucker zu Reichtum gekommene Oberschicht zusammenführte, die eine komplexe gesellschaftliche Hierarchie in einem ethnischen und kulturellen Mischprozeß hervorbrachte. Stuart B. Schwartz, Sugar Plantations in the Formation of Brazilian Society, Cambridge u. a. 1985. C H R ISTIA N H A U SSER
Englisch-Japanische Allianzen (1902, 1905, 1911). Eine Reihe von Offensiv- und Defensivbündnissen, die von 1902 bis 1923 zwischen Japan und England geschlossenen wurden. 1902: Nach dem Jap.-Chin. Krieg (→Japanischer Imperialismus) wollte einerseits Japan
e n twi ck lu n g
eine andere Großmacht als Bündnispartner gewinnen, um seine Expansionspolitik nach Korea und China durchführen zu können und um sich gegen Rußland, das ähnliche Interessen hatte, zu wehren. Wegen des Interessenkonflikts in Asien mit Rußland war England andererseits ebenfalls auf der Suche nach einem Bündnispartner in Asien. Beim →Boxeraufstand 1900 zeigte Japan seine militärische Stärke, was von England honoriert wurde. Als Rußland nach dem Boxeraufstand Truppen in der Mandschurei stationierte, verschärfte sich der Konflikt mit Japan. Während zwar einige jap. Politiker – etwa Hirobumi Itō – ein Bündnis mit Rußland befürworteten, wurden vom jap. Gesandten in England, Tadasu Hayashi, Bündnisverhandlungen geführt. Am 30.1.1902 wurde die erste E. unterzeichnet. Der Vertrag erkannte die Interessen von England in China und die von Japan in Korea und China an. Ferner enthielt der Vertrag eine Neutralitätsgarantie im Falle eines Krieges mit einem dritten Land, sowie ein Beistandsversprechen bei einem Krieg mit mehr als zwei Ländern. Die Gültigkeitsdauer wurde auf 5 Jahre festgelegt. 1905: Kurz vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Japan und Rußland wurde am 12.8.1905 das zweite Allianzabkommen zwischen Japan und England geschlossen. Dieser Vertrag betonte die Anerkennung der gegenseitigen Kolonialherrschaft in Asien. Während England die jap. Rolle in Korea anerkannte, billigte Japan die speziellen engl. Interessen in der Umgebung der Landesgrenze von →Indien. Die Gültigkeitsdauer des Vertrages wurde auf 10 Jahre festgelegt. 1911: Am 13.7.1911 wurde das Engl.-Jap. Bündnis ein letztes Mal verlängert. Nach dem Russ.-Jap. Krieg hatten sich die Beziehungen zwischen Japan und den →USA auf Grund von Interessenkonflikten in China verschlechtert. Der Bündnisvertrag stellte sicher, daß England im Falle eines Krieges zwischen Japan und den USA nicht eingreifen mußte. Deutschland wurde hingegen als gemeinsamer Gegner verstanden. Das Engl.-Jap. Bündnis gab Japan den Vorwand für seinen Eintritt in den Ersten Weltkrieg. In der Folge des Ersten Weltkriegs näherte sich England an die USA an, während der Konflikt zwischen den USA und Japan eskalierte. Auf der Washingtoner Konferenz von 1920 wurde das Bündnis beendet und durch das Vier-Mächte-Abkommen zwischen den USA, England, Frankreich und Japan ersetzt. Phillips P. O’Brien, The Anglo-Japanese Alliance 1902– 1922, London 2004. YUKO MAE Z AWA Enklave, Exklave. Ist ein kleiner Teil des Gebietes eines Staates vollständig vom Gebiet eines anderen Staates umschlossen, wird dieses umschlossene Gebiet von dem Staat, dessen Gebiet es umschließt, als Enkl. (von frz. enclaver, festnageln), von dem Staat, zu dem das umschlossene Gebiet gehört, als Exkl. (Ausschluß) bezeichnet. Einzige Enkl. innerhalb der dt. Kolonien war die zum →Brit. Kolonialreich gehörende Walfischbai in →Dt.-Südwestafrika. Ihr Zustandekommen erklärte sich aus der zeitlich weiter zurückliegenden Beanspruchung dieses günstigen Ankerplatzes durch Großbritannien, das bereits 1878 hier die Flagge gehißt und das Gebiet im Umkreis von 15 brit. Meilen für sich reklamiert hatte. Das umliegende →Schutzgebiet Dt.-Südwestafrika
wurde erst 1884 eingerichtet. Im übrigen Afrika sind bis heute Ceuta u. Melilla span. Exkl. u. Enkl. in →Marokko. →Cabinda ist eine Exkl. von →Angola, →Lesotho eine Enkl. in der →Südafrikanischen Union. →Alaska u. d. Marinestation Guantanamo Bay (Enkl. in →Kuba) sind Exkl. der →Vereinigten Staaten. Hubert Auhagen, Die völkerrechtl. Stellg. d. Enklaven u. Exklaven, Göttingen 1967. A. Meyer-Gerhard, Dt.Südwestafrika, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 410–445, hier 444. Manfred Schmidt, Exklaven u. Enklaven u. andere territoriale Anomalien, München 2008. CH R ISTO PH K U H L / H ER MA N N H IERY
Entwicklung wird innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung und der E.spolitik als ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Prozeß verstanden, der ökologisch nachhaltig zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse führt. Der Kern dieses deskriptiven Begriffs von E. zeigt sich deutlich im „Index der menschlichen E.“, der jährlich vom „United Nation Development Programm“ (UNDP) publiziert wird. Der Index kombiniert Daten zur Lebenserwartung bei der Geburt (als Indikator für Gesundheit), zum Schulbesuch (für Bildung) sowie zum verfügbaren Volkseinkommen pro Kopf (berechnet nach Kaufkraftparitäten). Darüber hinaus werden je nach politischer Position ergänzende E.sziele formuliert, u. a. ökologische Nachhaltigkeit, Gleichstellung der Geschlechter, Verwirklichung von Menschen- und Freiheitsrechten. Spätestens mit diesen Erweiterungen wird deutlich, daß E. ein normativer Begriff ist und wünschbare Ziele benennt. Hinter diesem verbreiteten Verständnis von E. stehen kontroverse Debatten über eine angemessene theoretische Beschreibung und eine sinnvolle e.spolitische Praxis. Der Begriff E. (dazu Kößler, 15ff.) taucht im Deutschen erstmals im 17. Jh. auf und wurde bei Leibnitz und ähnlich bei Kant im Sinne von auswickeln von etwas Vorhandenem bzw. Angelegtem verstanden. Seine heutige Verwendung als die „E. der E.sländer“ wurde in den 1950er Jahren bedeutsam und bezog sich besonders auf die damals dekolonisierten Staaten in Asien und später in Afrika. Damit verbunden war die Vorstellung, daß der E.sprozeß der E. sländer durch gezielte E.spolitik befördert werden könne, eine Idee, die bereits den „Colonial Development and Welfare Acts“ der brit. Reg. von 1940 und 1945 zugrunde lag. Als theoretischer Rahmen für das Feld der E.spolitik und der E.sländerstudien wurden in den 1960er Jahren die Modernisierungstheorien herangezogen, die das Konzept einer nachholenden E. nach dem Muster des Westens propagierten. Modernisierungstheorien sowie die jeweiligen e.spolitischen Anstrengungen verstanden E. im wesentlichen als endogenen Prozeß. Diese verengte Sichtweise und der mäßige Erfolg der E.spolitik wurden von den zunächst in →Lateinamerika entwickelten Abhängigkeitstheorien (→Dependenztheorien) kritisiert. Die Abhängigkeitstheorien verwiesen auf exogene Verflechtungen von E.s- und Industrieländern, die die E. der Industrieländer befördert haben, jedoch in den E. sländern Unterentwicklung und eine wachsende strukturelle Heterogenität mit partiell entwickelten Teilen von 241
e n v e r , is m A e l
Ökonomie und Gesellschaft u. a. unterentwickelten Teilen hervorgebracht haben. Konsequenterweise lehnten sie den Begriff „E.sländer“ als Euphemismus ab und sprachen entweder von „→Dritter Welt“ oder „Peripherie“. E.schancen sahen die Vertreter der Abhängigkeitstheorien in einer konsequenten Abkopplung vom Weltmarkt. Auf den Abhängigkeitstheorien aufbauend, formulierte Immanuel Wallerstein seine „→Weltsystemtheorie“ (ein Vorläufer der aktuellen Globalisierungsdebatte), die historische E.sprozesse und -blockaden als einen weltumspannenden Prozeß analysiert. Bis in die 1970er Jahre waren E.stheorie und -politik eng verknüpft. Es dominierte die Vorstellung einer planbaren E., die durch geeignete und gezielte Maßnahmen zu verwirklichen sei. Die Wege und Maßnahmen waren und sind heftig umstritten. Weder die Modernisierungs- noch die Abhängigkeitstheorien hatten eine ausreichende empirische Fundierung und Anschlußfähigkeit, um konkrete E.svorhaben produktiv anzuleiten. Der e.spolitische Diskurs entfernte sich von dieser Art abstrakter Theoriedebatten, die sich zudem in den 1980er Jahren erschöpften, so daß das „Ende der großen Theorien“ (U. Menzel) ausgerufen wurde. Die in den 1980er Jahren beginnende Ausdifferenzierung der Analyseansätze hat bis heute Bestand und spiegelt sich in einer Vielzahl von Theorien und Konzepten wider, die teilweise miteinander verwoben sind, ohne eine übergreifende allg. anerkannte Theorie hervorzubringen. Ein wichtiger Strang der Forschung sind Studien auf der Mikro- und Mesoebene von Ethnologie, Soziologie und →Geographie mit dem Blick auf E., getragen von Menschen auf der „Graswurzelebene“ und einer darauf gegründeten Kritik an der Arbeitsweise des E.shilfeapparates. Diese Kritik mündet zum einen in einer anwendungsbezogenen Debatte mit Forderungen nach mehr Partizipation der Betroffenen an e.spolitischen Projekten und der Förderung gesellschaftlicher Selbststeuerung. Zum anderen gibt es radikale Positionen (Post-Development-Debatte) mit einer Fundamentalkritik am Konzept der E. Mitte der 1990er Jahre nahm der Ethnologe A. Escobar eine diskursanalytische Dekonstruktion des E.sbegriffs vor. Das Konzept der E. habe der Vorherrschaft des Westens gedient und die damit verbundene E.spolitik zwinge den Menschen Lösungen für Probleme auf, die sie selbst erst konstatiere. Eine neoliberal geprägte ökonomische Debatte zielt auf die Beschneidung staatlicher Aufgabenbereiche, ausgelöst durch die Reaktion auf die Verschuldung der E.sländer und entspr. Auflagen im Rahmen von Strukturanpassungsmaßnahmen. Mitte der 1990er Jahre wurde E. zunehmend im Kontext der →Globalisierung gefaßt. Damit einher geht die Betrachtung von E.sprozessen im Rahmen von weltweiten Verflechtungen in Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Neu ist die Aufhebung der Dichotomie zwischen Industrie- und E.sländern und damit die Anerkennung der Rolle neuer Industrieländer – u. a. China, →Indien, →Brasilien, →Mexiko, Südafrika (→Südafrikanische Union) – und der wachsenden Bedeutung von Süd-Süd-Beziehungen. Dies konstituiert das Konzept einer multipolaren Welt, in der auch die Industrieländer Anpassungsleistungen zu erbringen haben. Neuere e.spolitische Analysen berücksichtigen (erneut) 242
den Staat als Garant bzw. Motor von E., dynamischen Wirtschaftskräften und der Zivilgesellschaft. Aktuelle E.sdebatten setzen dementspr. auf die Stärkung und Verbesserung der staatlichen Institutionen (good governance, Korruptionsbekämpfung), auf die Beteiligung der Bevölkerung an politischen und ökonomischen Prozessen (Demokratisierung, Zivilgesellschaft) bzw. auf das freie Spiel der Marktkräfte. Ausdruck dieser pragmatischen Konzeptualisierung von E. ist das Hexagon der E. mit den Teilelementen politische Stabilität, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, kulturelle Identität und gesellschaftliche Partizipation, die auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse hinwirken sollen. Die Teilelemente stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zum globalen Kontext (Stockmann, 14). Besonders innerhalb der Soziologie ist eine wachsende Distanz gegenüber dem Begriff E. erkennbar. Neben der Globalisierungsperspektive werden gesellschaftliche Wandlungsprozesse als Reaktionen auf die Moderne interpretiert. Moderne wird dabei als industriell-technisch und institutionell verstanden (Staat, Gewaltmonopol, industrielle Produktion, Kapitalismus) (Giddens) mitunter ergänzt durch das Projekt politischer →Emanzipation (z. B. Eisenstadt). Anders als bei den Modernisierungstheorien der 1960er Jahre wird die Ausgestaltung der Moderne nicht als automatischer und bereits determinierter Prozeß angesehen. Im Gegenteil ist die Rede von der Vielfalt der Moderne (Eisenstadt), die als Folge von historischen Konstellationen und daran anschließender Pfadabhängigkeit von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zustande kommt. Die Theorien der Moderne und aus anderer radikaler Perspektive die Post-Development Debatte vermeiden bzw. lehnen den Begriff der E. ab. Trotzdem wird es kaum möglich sein, generell auf das Konzept zu verzichten. Neben dem weltweit wirkenden Geflecht der E.sorganisationen, die E.spolitik konzipieren, verhandeln und umsetzen, ist der Begriff besonders in den Diskursen und Zukunftsentwürfen innerhalb der E.sländer mit seiner normativen Bestimmung und Orientierung am Wohlstand und des Westens als Maßstab und Ziel verankert. Bei aller Kritik an diesem Konzept können dessen Bedeutung und die hinein projizierten Hoffnungen nicht ignoriert werden. Reinhart Kößler, Entwicklung, Münster 1998. Uma Kothari (Hg.), A Radical History of Development Studies, Kapstadt u. a. 2002. Reinhard Stockmann u. a., Entwicklungspolitik, München 2010. D IETER N EU BERT Enver, Ismael, * 22. November 1881 Bitola (Monastir / Mazedonien), † 4. August 1922 b. Baldschuwan, □ Abide i Hürriyet Gedenkstätte / Istanbul, musl. Sohn eines Bahnarbeiters, der ihm unter großen Opfern Technikstudium ermöglichte. 1899 Eintritt ins Militär. Dort rasche Karriere. Im Juli 1908 maßgebende Beteiligung an der von Thessaloniki ausgehenden „jungtürk. Revolution“ des Komitees für Einheit und Fortschritt. Ende 1908 als Major zum Militärattaché in Berlin berufen. Dort Entwicklung zum engagierten Verfechter dt.türk. Zusammenarbeit auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet. 1911/1912 Befehlshaber osmanischer
eri tre A
Streitkräfte in →Libyen im Krieg mit Italien. Durch die ihm im 2. Balkankrieg gelungene Rückgewinnung von Edirne [Adrianopel] Stilisierung zum Kriegshelden. 1913 Ernennung zum Kriegsminister als Mitglied des „Jungtürk. Triumvirats“ und Beförderung zum General, verbunden mit dem Titel Paşa. 1914 Heirat einer Nichte des Sultans Mehmet V. Reşad. Nach Ausbruch des Weltkrieges Durchsetzung der Allianz mit Deutschland gegen Widerstand des Triumviratskollegen →Cemal. Bis kurz vor Kriegsende Leitung der militärischen Operationen als Vizegeneralissimus. Er war neben Talât Hauptverantwortlicher für die als „kriegsbedingt“ kaschierten →Massaker an ethnischen und religiösen Minderheiten. Anfang 1917 Ernennung zum Stellvertreter des Großwesirs Talât Paşa. Ab Mitte 1918 schrittweise Entmachtung wegen ihm (teilweise unberechtigt) angelasteter gravierender strategischer Fehler. 4.10.1918 Entlassung aus allen Ämtern. Nach Waffenstillstand von Mudros Flucht nach Deutschland. 1919 in Istanbul in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Versuch, die Wirren nach der sowjetischen Oktoberrevolution zur Erlangung der Unabhängigkeit islamischer Turkvölker Zentralasiens von Rußland zu nutzen und neues Kalifat in Samarkand zu errichten, führten nach ergebnislosen Verhandlungen mit Lenin zum Kampf mit der Roten Armee, in dem er den Tod fand. In Deutschland genoß E. als Garant des Militärbündnisses weit über das Ende des Ersten Weltkrieges hinaus Ansehen und Popularität. Kurt Okay, Enver Pascha, Berlin 1935. GE RHARD HUT Z L E R
Eriksson, Leiff, * ca. 970 Eiriksstaðir, † ca. 1020 Brattahlið, □ unbek., rk. Der Darstellung in der Eriks-Saga (Eiríks saga rauða) entspr. wird der Isländer häufig als Entdecker →Amerikas genannt. Die zuverlässigere Grönland-Saga (Grœnlendinga saga) schreibt dieses Verdienst hingegen Bjarni Herjúlfsson zu, der 985 oder 986 im Westen bewaldetes Land bzw. Hügel sichtete. Ob es sich dabei um die Labradorhalbinsel gehandelt hat, ist unklar. Jedenfalls entdeckten die →Wikinger als erste Insel Nordamerikas →Grönland. Als dessen Entdecker wird z. T. E.s Vater, Erik der Rote, angesehen. Der versierte Seefahrer nahm E. schon als Zehnjährigen auf die hohe See mit. E. gelang um das Jahr 1000 die Anlandung in von ihm als „Helluland“ (flaches, steiniges Land), „Markland“ (bewaldetes Land) bzw. „→Vinland“ (Wein- oder Weideland) bezeichneten Gebieten. Von dort kehrte er mit Holz und Trauben heim, so daß er offensichtlich in Nordamerika gewesen war. Betreffs Lokalisierung der drei genannten „Länder“ besteht fast Einigkeit, daß Helluland die Baffininsel ist. Dies ergibt sich aus der Schilderung der Vinlandfahrt Thorfinn Karlsefnis (ca. 980 – ca. 1020) 1010 (oder 1009). Dann ist das Waldtundra aufweisende Labrador allem Anschein nach das Markland der Wikinger. Die genaue Lage Vinlands wurde lange Zeit intensiv diskutiert. Gestützt auf die einfachste Übersetzung von „vin“ (lat.: vinum) als „Wein“, vertraten etliche Forscher die Auffassung, es müßte weiter südlich liegen, vorzugsweise im Bereich Neuschottland/Neubraunschweig. Indessen hat sich mittlerweile die Einschätzung durchgesetzt, daß die
Benennung Vinlands entweder auf einer Assoziierung am. Beerenarten mit der Blaubeere, aus der die Skandinavier ein alkoholisches Getränk namens win herstellten, oder darauf beruht, daß die Temperaturen um die Jahrtausendwende wesentlich höher waren. Das Vinland Thorfinns war jedenfalls Neufundland. Seine 160 Personen umfassende Expedition, darunter 16 Frauen, gelangte nämlich zu einem die Küstenlinie tief einschneidenden sog. Strömungsfjord („Straumsfjordr“). Hier konnten die Wikinger sich ansiedeln und drei Jahre gegen die Indianer halten, bevor sie endgültig abreisen mußten. Die Lokalisierung des „Straumsfjordr“ ergab sich aus der spektakulären Freilegung eines kleinen Wikingerortes in L’Anse aux Meadows am Nordende Neufundlands ab 1961, genau am östlichen Ausgang der Belle-Isle-Straße. Die Gruppe segelte in Küstennähe nach Süden weiter und erreichte einen Ort, dem sie den Namen „Hóp“ gab (Haff, Lagune, Bucht), und der wahrscheinlich bei South Brook am Ende der Halls Bay lag. Wo E.s Vinland lag, ist nicht mit Gewißheit zu ermitteln. Er teilt der Nachwelt mit, jenseits Marklands nach Südwesten abgebogen zu sein und dann in einer deutlich wärmeren, frostfreien Gegend überwintert zu haben. Demgemäß ist klar, daß E. (zeitlich vor Karlsefni) irgendwelche Ufer des SanktLorenz-Golfs als Vinland ansah, naturgemäß eher an der Nordküste. Sehr auffällig ist, daß Karlsefni offenbar der Überzeugung war, das ursprüngliche Vinland nicht gefunden zu haben und zuerst eine kleine Gruppe nach Norden entließ, um es sodann selbst in nördlicher Richtung weiter zu suchen. Dabei soll er laut den Sagas das ehem. Lager E.s benutzt haben, das sog. Leifsbuðir. Nach allem ist unzweifelhaft, daß sich E. im Sankt-LorenzGolf aufhielt und als erster (uns bekannter) Europäer auf der Labradorhalbinsel am. Festland betrat. Die Auffassung, →Kolumbus habe Amerika entdeckt, muß kritisch bewertet werden, da Bischof Adam von Bremen (vor 1050–1081/1085) die Entdeckung Nordamerikas (Vinlands) in der „Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum“ publik machte. Ferner dürften vor Kolumbus baskische Fischer Neufundland wiederentdeckt haben. Schließlich soll E. das Christentum nach Grönland gebracht haben (Eriks-Saga). Walter Illing, Drachenschiffe vor Amerika, Leipzig 1976. CH R ISTIA N H A N N IG
Eritrea. Der Staat am Roten Meer grenzt an den →Sudan, →Äthiopien und →Dschibuti, ist 124 000 km2 groß und zählt über fünf Mio. Ew. Davon leben ca. 650 000 in der Hauptstadt Asmara und ca. 800 000 im Ausland (Europa und Nordamerika). Die eritreische Bevölkerung setzt sich aus neun größeren →Ethnien zusammen (Tigrinya, Tigre, Saho, Afar, Bedscha/Hedareb, Bilen, Kunama, Nara, Rashaida), von denen die Tigrinya und die Tigre zusammen ca. 80 % ausmachen. Nach offiziellen Angaben ist die Bevölkerung je zur Hälfte christl. und musl. Amtlich nicht zugelassene religiöse Gruppen sind starken Repressionen ausgesetzt. E. als Einheit entstand erst 1890 mit der Gründung der it. Kolonie Colonia Eritrea. Ab 500 v. Chr. lag das eritreische Hochland im Einflußbereich des axumitischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten, während die Küstenregionen später 243
e r ob e r u n g
verschiedenen islamischen Herrschern unterstanden und schließlich zur Provinz Habesch des →Osmanischen Reiches wurden. Mit der Besetzung Äthiopiens durch Italien 1936 wurde E. Teil von It.-Ostafrika. Nach der Niederlage Italiens 1941 wurde E. brit. verwaltet. 1951 erzwang die UNO eine Föderation mit Äthiopien, das E. 1961 offiziell annektierte. Damit begann ein dreißigjähriger Unabhängigkeitskrieg, den E. 1991 gewann. 1998 kam es zum äthiopisch-eritreischen Grenzkrieg, aus dem keine Seite als Sieger hervorging. Die Grenzregion wurde bis 2008 von der UN-Beobachtermission UNMEE (United Nations Mission in Ethiopia and Eritrea) kontrolliert. E. ist eine präsidiale Rep., in der die Einheitspartei PFDJ (People’s Front for Democracy and Justice) dominiert; andere Parteien sind nicht zu Wahlen zugelassen. Oppositionsgruppen haben wenig Einfluß. Der Ausnahmezustand ist bis heute nicht aufgehoben und verhindert eine demokratische Legitimierung des Regimes. Es gibt nur staatliche, streng kontrollierte Medien, und es kommt häufig zu Menschenrechtsverletzungen. Elisabeth Furrer-Kreski, Handbuch Eritrea, Zürich 1990. Kefelew Zelleki, Das orthodoxe Äthiopien u. Eritrea i. jüngster Geschichte, Heidelberg 2001. AL KE DOHRMANN
Eroberung. Im Völkerrecht wird unter E. die gewaltsame Aneignung eines Gebiets durch Truppen eines Herrschers bzw. Staates, der bislang nicht im Besitz des betr. Gebiets war, verstanden. Der legitime Anspruch auf das eroberte Gebiet entstand dabei nach alteuropäischer Vorstellung entweder durch langfristigen Besitz eines einmal eroberten Gebietes oder – Bezug nehmend auf die von Thomas von Aquin entwickelte Denkfigur des gerechten Krieges – durch Berufung auf einen gerechten Grund (iusta causa) für die Kriegshandlung, die zur E. eines Gebietes geführt hatte. Obwohl die seit Ende des 15. Jh.s entdeckten überseeischen Gebiete gewaltsam in Besitz genommen wurden, beriefen sich die europäischen Mächte zur Legitimation ihrer Herrschaft über diese Gebiete in der Regel nicht auf das E.srecht, da dies nach europäischem Herkommen die Anerkennung des indigenen Gegners als gleichrangiges Völkerrechtssubjekt bedeutet hätte. Statt dessen wurde v. a. von Spanien die – allerdings von anderen europäischen Mächten bestrittene – Position vertreten, der Tatbestand der Entdeckung und die Aufgabe der Christianisierung der indigenen Bevölkerung genügten zur Legitimation des Besitzanspruchs auf die entdeckten Gebiete. Mit der Philosophie der →Aufklärung setzte sich im 18. Jh. ferner der Verweis auf die überlegenen zivilisatorischen Fähigkeiten der Europäer, die diesen im Gegensatz zu den Indigenen die vorteilhafte Nutzung der Ressourcen der betr. Gebiete erlaubte, zur Begründung europäischer Besitzansprüche durch. Horst Carl, Okkupation, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart / Weimar 2009, 382–389, insb. 388. Hans-Joachim König / Bardo Fassbender, Eroberung, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart / Weimar 2006, 495–504. CHRI S TOP H KUHL 244
Erster Weltkrieg 1914–1918. 1) Der E. W. als globale Auseinandersetzung. Urspr. ein Krieg der Europäer, wurde der europ. Krieg sehr schnell zum globalen Krieg und das nicht erst seit dem Eintritt der →Vereinigten Staaten in diesen Konflikt (1917). Das tropische Afrika gehörte, ganz im Gegensatz zum →Zweiten Weltkrieg, zu den wichtigsten Schauplätzen des E. W. Der militärische Konflikt um die Besetzung der dt. Kolonien entwikkelte sich bis 1918 zum ersten großen panafr. Krieg, in den Hunderte afr. Ethnien hineingezogen wurden. Mit Ausnahme des Krieges in →Dt.-Südwestafr., wo Europäer Europäer bekriegten (mit etwa 33 000 ind. u. afr. Trägern), kämpften hauptsächlich afr. Soldaten. In Westafrika (→Togo, →Kamerun), wo der Krieg am kürzesten dauerte, waren es, konservativ geschätzt, insg. mindestens 28 000 afr. Soldaten, dav. wurden etwa 5 000 (d. i. 17,9 %) getötet. Dazu kamen mehr als 40 000 afr. Träger, die ihre Heimatdörfer im Kongo oder auch in Nigeria hatten verlassen müssen. Zu den Kriegsfolgen in Westafrika, die weit über die dt. Kolonien Togo u. Kamerun hinausgingen, gehörten Zwangsumsiedlungen, Deportationen, Vernichtung der Lebensgrundlage der einh. Bev. u. Massaker an der Zivilbev. Durch die Entscheidung der dt. Militärführung, von Kamerun nach Span.Guinea durchzubrechen (weil Spanien im Krieg neutral war), wurden etwa 5 000 Kameruner, v. a. Männer, nach →Fernando Póo umgesiedelt. Zur wirklichen Katastrophe für die indigene Bev. wurde indes der Krieg in u. um →Dt.-Ostafrika. Zwar wurden auf Anordnung von General →Smuts die Afrikaner zunächst nur zu Hilfs- u. Arbeitseinsätzen rekrutiert, doch verselbständigte sich der Krieg mit zunehmender Dauer. Unterschiede zwischen Trägern, Hilfstruppen u. Soldaten verschwammen ebenso wie etwa urspr. Anordnungen, wonach auch die →Askari auf dt. Seite keine Maschinengewehre bedienen durften. 90 % der dt. Truppen waren Afrikaner. Insges. haben etwa 11 000 Askari in Dt.-Ostafr. gekämpft, davon starben 1 800 (üb. 16 %). Auf brit. Seite waren Afrikaner aus dem belg. Kongo (ca. 250 000 Träger), aus Uganda, Kenia, Mosambik, Somalia, Rhodesien, Malawi, Nigeria, Ghana u. Gambia eingesetzt. Und dies war nicht nur der erste panafr. Krieg, der auf ostafr. Boden ausgetragen wurde, es war über Afrika hinaus ein multiethnischer Krieg. Inder, Nepalesen u. selbst ein Regiment Karibikinsulaner kämpften in Ostafrika. Die Träger kamen bis aus den →Seychellen. Insges. dürften es auf brit. Seite allein über eine Million afr. Träger aus allen Teilen des Kontinents gewesen sein. 95 000 starben. Der Krieg wurde auf beiden Seiten äußerst brutal u. ohne Rücksicht auf die afr. Zivilbev. geführt; ganze Landstriche wurden verwüstet, die Felder u. Dörfer abgebrannt. Viele Ethnien waren auf der Flucht oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Afrika verblutete sich in Ostafrika. Allein 45 000 Kenianer verstarben, das waren annähernd 1/8 der ges. männlichen Bev. (Leonhard). Seriöse Schätzungen gehen von mindestens 250 000 bis 650 000 indigenen Toten aus, die im ostafr. Krieg ihr Leben ließen. Rechnet man die Kriegsfolge-Toten (kriegsspezifische Krankheiten, v. a. →Typhus, →Tuberkulose u. Unterernährung) hinzu, dann hat der E. W. im subsaharischen Afrika zwischen 1,5 bis 2 Millionen Tote gekostet (Mi-
ers ter weltk ri eg 1 9 1 4 – 1 9 1 8
chel). Selbst wenn man niedrigere Zahlen ansetzt, führt an der Feststellung kein Weg vorbei, daß der Weltkrieg nicht in Europa, sondern in Afrika „die höchste zivile Todesrate“ (Leonhard, 204) forderte – jedenfalls bevor Ende 1918 der Ausbruch der sog. →Spanischen Grippe noch ganz andere Mortalitätsziffern zeitigen sollte. In Asien kämpften nach der jap. Kriegserklärung vom 23. August 1914 an Deutschland jap. Soldaten in China. Mit der Eroberung Tsingtaus (→Kiautschou) war das jap. Ausgreifen nach China aber noch nicht abgeschlossen. Im gewissen Sinne ist der E. W. der Anfang der jap. Aggression gegenüber China (→Einundzwanzig Forderungen). Im Pazifik führte die austral. Invasion in →Dt.Neuguinea zu einem Gefecht bei Bitapaka auf Neupommern. Die meisten Opfer gab es unter einh. Polizeisoldaten. Tote gab es auch auf Tahiti, wo Papeete vom dt. Ostasiengeschwader (→Ostasiatisches Kreuzergeschwader) bombardiert wurde. 2) Afrikaner, Asiaten u. Pazifikinsulaner auf dem europ. Kriegsschauplatz. Fast eine halbe Million afr. Soldaten haben für Frankreich in Europa gekämpft: üb. 172 000 Algerier, 170 000 Schwarzafrikaner aus den tropischen Kolonien des frz. Afrika – →Tirailleurs sénégalais v. a. aus Senegal, Guinea, Elfenbeinküste, Mali, Burkina Faso, Mauretanien, Niger –, etwa 100 000 Tunesier u. Marokkaner u. 40 000 Madegassen (Zahlen nach Marc Michel). Ihr Blutzoll lag deutlich höher als der der Franzosen. Üb. 22 % der mobilisierten Afrikaner überlebten das Kriegsende nicht (gegenüber 17,4 % Franzosen; Michel). Zu den afr. Soldaten kamen noch einmal 100 000 Algerier u. 40 000 Marokkaner, die als Zwangsarbeiter in der frz. Kriegsindustrie beschäftigt wurden. Auch in den frz. Kolonien aus Südostasien u. dem Pazifik wurden einh. Männer ab 1916 zwangsrekrutiert u. zum Kampfeinsatz in Europa gezwungen. Die Anzahl der Neukaledonier u. Tahitianer war im Vergleich mit anderen Ethnien gering. Zu 600 polynesischen Arbeiter kamen 500 Tahitianer, die im August 1917 an die Front sollten. Der erste Kampfeinsatz des sog. pazifischen Bataillions war aber nicht vor dem 25. Oktober 1918, als der Krieg sich dem Ende zuneigte. Etwa 90 000 Vietnamesen wurden 1916 nach Frankreich geschickt, die meisten, knapp 50 000 als Arbeiter, der Rest wurde in der Etappe eingesetzt. 4 800 Vietnamesen in vier Bataillions kamen zum Fronteinsatz. Die Briten vermieden den Einsatz von Afrikanern in Europa – Smuts war dagegen –, aber dafür kämpften 33 Gurkha-Bataillione mit üb. 200 000 Gurkhas (davon 20 000 gefallen) b. Ypern, in der Türkei (→Gallipoli), in Palästina u. Mesopotamien. In →Aotearoa wurden insg. 2 227 →Maori für den Kriegseinsatz in Europa angeworben. Wegen der beharrlichen Weigerung insb. der Waikato, sich diesem Aufruf anzuschließen, verzichtete die Reg. darauf, die den Pakeha auferlegte Wehrpflicht auch unter den Maori umzusetzen. Als äußeres Zeichen der indigenen Beteiligung am Krieg des Empire wurden mit viel Mühe auch 458 Pazifikinsulaner, meist Cookinsulaner (→Cookinseln), viele mit brit. Vätern, rekrutiert. Die Maori kämpften u. a. in Gallipoli u. an der Somme, die Cookinsulaner wurden zum Transport von Munition eingesetzt (insg. 336 Tote). 3) Unruhen u. Aufstände als Folge des Krieges. In Aotearoa agitierte der Maori-Prophet Rua Kenana
unter den Tuhoe gegen die brit. Vorherrschaft u. verkündete, ein dt. Sieg würde zur Rückgabe des von Engländern weggenommenen u. enteigneten Landes führen. Unter dem Vorwurf, er würde die Tuhoe bewaffnen u. auf Seiten Deutschlands in den Krieg führen, wurde er verhaftet u. wegen Aufruhr verurteilt. In →Fidschi behauptete der Prophet Ratu Sailose, sein Geist habe ihm offenbart, Großbritannien habe gegenüber dem Dt. Reich kapituliert, der brit. Gouv. in Fidschi wäre abgesetzt u. man bräuchte jetzt keine Steuer mehr zahlen. Auch er wurde verhaftet. Überall in Melanesien ist der E. W. der eigentliche Beginn der sog. →Cargo-Kulte, die gemeinhin als synkretistische Bewegungen interpretiert werden, die aber v. a. pol. Ursachen haben. Indigene Aufstände gegen die Europäer werden nach 1914 zu einem globalen Phänomen. Der E. W. ist eine Blaupause für eine Fülle von antikolonialen Aufständen in Afrika, Asien u. im Pazifik. Zwangsrekrutierungen führten zu Rebellionen in Algerien, dem westl. Voltagebiet (Burkina Faso), Madagaskar u. in →Neukaledonien. Die Duala in Kamerun (1914), die Reheboter Baster in Dt. Südwestafr. (1915), John →Chilembwe im Nyassland / Malawi (1915), die Barue u. →Makonde / Makombe in Port.-Ostafr. (1917) oder die Egba im Westen Nigerias (1917) erhoben sich. Allen diesen Aufständen lagen grundsätzliche Mißstimmungen gegen die europ.-koloniale Herrschaft zu Grunde. Der E. W. brachte das Faß, bildlich gesprochen, zum Überlaufen. Die Aufstände wurden überall mit Gewalt gebrochen u. ihre Führer hingerichtet. Sie gelten heute in den unabhängigen Staaten als Nationalhelden. Der Dschihad (→Heiliger Krieg), den Sultan Mehmed V. am 11. November 1914 gegen Engländer, Franzosen u. Russen erklärte, gilt i. allg. als wenig erfolgreich, da viele Araber die Briten gegen das →Osmanische Reich unterstützten. Ein genauerer Blick zeigt aber, daß der Islam sehr wohl im E. W. eine Rolle spielte. Im Süden Libyens kämpfte die islamische Bruderschaft der →Senussi gegen die it. Kolonialherrschaft, in Ägypten gegen die Briten. In der sog. „Singapore Mutiny“ rebellierten musl.-ind. Truppen im Februar 1915 u. befreiten 35 Männer der Emden aus der Internierungshaft in Singapur. Auch hier wurde der Widerstand mit Gewalt gebrochen u. am 25. März 1915 öffentliche Massenexekutionen mit üb. 15 000 Zuschauern durchgeführt. In den russ. Kolonien Zentralasiens brachen 1916 Unruhen aus, die sich urspr. ebenfalls gegen Einberufungen zum russ. Kriegsdienst richteten, die aber bald „Züge eines nationalen Befreiungskampfes“ u. „Ansätzes eines Dschihad“ (Mark, 43) aufwiesen u. ganz Mittelasien erfaßten. Das Resultat war eine blutige Katastrophe, die in ihren Dimensionen fast mit Ostafr. vergleichbar ist: üb. 100 000 Kasachen u. Kirgisen wurden getötet; 200 000 Menschen waren auf der Flucht. Nicht der Zweite, sondern der E. W. war die eigentliche Epochenscheide, die das Ende der Kolonialreiche einleitete. Die ganze, bislang europ. geprägte Welt war aus den Fugen geraten. Das mühsam ausgetüftelte →Mandatssystem überdeckt, das die gesamte nichteurop. Welt – mit Ausnahme →der längst unabhängigen Staaten Lateinamerikas – in Aufregung versetzt worden war. Ein „zurück“ zur Zeit vor 1914 war nach 1918 auch für die europ. Kolonien ausgeschlossen. 245
e rwe c k u n g s b e w eg u n g en , n o r d A m e r i k A ni s ch e
Allg.: Santanu Das (Hg.), Race, Empire and First World War Writing, Cambridge u. a. 2011. Jörn Leonhard, Die Büchse d. Pandora, Müchen 2014. Timothy Winegard, Indigenous Peoples of the British Dominions and the First World War, Cambridge u. a. 2012. Lawrence Sondhaus, World War One. The Global Revolution, Cambridge u. a. 2011. Afrika: Heiko Brendel, Guerilleros für den Kaiser? Asymmetrische Kriegsführung in Ostafrika, 1914–1918, in: Sebastian Buciak (Hg.), Asymmetrische Konflikte im Spiegel der Zeit, Berlin 2008, 235–265. Brian Digre, Imperialism’s New Clothes. The Repartition of Tropical Africa, 1914–1919, New York u. a. 1990. Marc Michel, L’Afrique dans l’engrenage de la Grande Guerre, Paris 2013. Ders., Les Africains et la Grande Guerre, Paris 2003, 22014. Edward Paice, Tip and Run. The Untold Tragedy of the Great War in Africa, London 2007. Melvin Page (Hg.), Africa and the First World War, London 1987. Terence Ranger, Revolt in Portuguese East Africa. The Makonde Rising of 1917, Carbondale 1963. Naher Osten: Raghid El-Solh (Hg.), The Sultanate of Oman 1914–1918, Reading 2000. David Fromkin, A Peace to End all Peace. Creating the Modern Middle East, 1914– 1922, London 1989. Adolf Hasenclever, Ägypten im Weltkrieg, in: Berliner Monatshefte 14 (1936), 462–477. Charles Townshend, Desert Hell. The British Invasion of Mesopotamia, Cambridge, Mass. 2011. David Woodward, Hell in the Holy Land. World War I in the Middle East, Lexington, Ky. 2006. Zentralasien: Rudolf Mark, Krieg an fernen Fronten. Die Dt. in Zentralasien u. am Hindukusch 1914–1924, Paderborn u. a. 2013. Südasien: Gordon Corrigan: Sepoys in the Trenches, Stroud 1999, 22006. Douglas Gressieux, Les troupes indiennes en France 1914–1918, Saint-Cyr-sur-Loire 2007. David Omissi (Hg.), Indian Voices of the Great War. Soldiers’ Letters, 1914–1918, Basingstoke u. a. 1999. Kaushik Roy (Hg.), The Indian Army in the Two World Wars, Leiden u. a. 2012. Ostasien: Wolfgang Bauer, Tsingtau 1914 bis 1931, München 2000. Charles Burdick, The Japanese Siege of Tsingtau. World War I in Asia, Hamden, Conn. 1976. Justin Corfield, A Bibliography of the First World War in the Far East and Southeast Asia, Lewiston, N.Y. 2003. Frederick Dickinson, War and National Reinvention. Japan in the Great War, Cambridge, Mass. 1999. Wilhelm Donko, Japan im Krieg gegen ÖsterreichUngarn 1914–1918, Berlin 2014. Michael Summerskill, China on the Western Front, Britain’s Chinese Work Force in the First World War, London 1982. Guoq Xu, China and the Great War, New York 2005. Südostasien: Cornelis van Dijk, The Netherlands Indies and the Great War 1914–1918, Leiden 2007. Tilak Sareen, Secret Documents on Singapore Mutiny 1915, New Delhi 1995. Pazifik: Hermann Joseph Hiery, The Neglected War. The German South Pacific and the Influence of World War I, Honolulu 1995. Andreas Leipold, Die dt. Seekriegsführung im Pazifik in den Jahren 1914 u. 1915, Wiesbaden 2012. Yuko Maezawa, Mikronesien im Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 2015. Adrian Muckle, Specters of Violence in a Colonial Context. New Caledonia 1917, Honolulu 2012. Nordamerika: Timothy Winegard, For King and Kanata. Canadian Indians and the First World War, Winnipeg 2012. Südamerika: Phillip Dehne, From „Business 246
as Usual“ to a More Global War: The British Decision to Attack Germans in South America during the First World War, in: Journal of British Studies 44 (2005), 516–535. Heiliger Krieg: Wilfried Loth (Hg.), Erster Weltkrieg u. Dschihad, München 2014. Kriegsmaßnahmen gegen dt. Auswanderer in den Dominions: Gerhard Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia, 1914–1920, St. Lucia 1989. Andrew Francis, ‚To Be Truly British We Must Be Anti-German‘. New Zealand, Enemy Aliens and the Great War Experience, 1914–1919, Bern u. a. 2012. H ERMA N N H IERY Erweckungsbewegungen, nordamerikanische. Ob ,,Erweckung“ religiöse Erneuerung beschreibt, ist umstritten. Gewöhnlich verstehen Historiker die „erste große E.“ als Teil eines atlantischen Phänomens, das an die Reise George Whitefields nach →Amerika 1739/40 anknüpft. Die Rezeption seiner ,,Herzensreligion“ blieb jedoch auf die mittelatlantischen und neuengl. Kolonien beschränkt; weder die →Karibik noch die südlichen Kolonien wurden davon berührt. Schon früher hatten ndl. Pietisten in New York und New Jersey den Boden bereitet: Sie vertraten die Überzeugung, der Mensch müsse sich als Sünder vor Gott bekennen, um durch Gnade Christi Erbarmen und Rettung gewinnen zu können. Das Herz müsse eine „neue Geburt“ erleben und daraus ein völlig „konvertiertes“ Verhalten gegenüber Mitmenschen und Gott entstehen. Weil sich in Virginia Presbyterianer und Baptisten erst in den 1760er Jahren dieser „Bewegung“ anschlossen, bezweifeln einige Historiker, ob der Begriff „Erweckung“ solche Entwicklungen adäquat beschreibe. Andere behaupten, erst eine „long Great Awakening“ zwischen den 1730er und 1780er Jahren erkläre die Entstehung einer dauerhaften Version des „evangelical“ Protestantismus in Nordamerika. In den Quellen läßt sich keine politische Verbindung zwischen ,,Erweckten“ und Republikanismus oder „Patriotismus“ erkennen. „Erweckte“ gehörten auch nicht zu den sozialen Randgruppen. Zwar waren einige von ihnen für eine „Demokratisierung“ der sozialen Verhältnisse in Amerika (inkl. Religion), andere aber lehnten dies ab. Auseinandersetzungen über →Sklaverei, Bundespostdienst am Sonntag, Alkoholkonsumverbot, die Rolle der Frau innerhalb der Bewegung sowie die Entstehung verschiedener ,,Utopien“ während der ,,zweiten großen Bewegung“ (1798–1836) bezeichnen Anliegen der „Erweckten. Vor dem →Am. Bürgerkrieg bildeten die „Erweckten“ keine politische Bewegung. „Holiness“-Strömungen innerhalb der E. entstanden erst mit der Betonung der „letzten Tage“ und mit der Kritik der persönlichen sowie sozialen Sünden. Adventisten der 1840er Jahre bildeten die Vorläufer der „Holiness“-Bewegung der 1880er–1920er Jahre. Sie verbreiteten gleichzeitig eine äußerst pessimistische „pre-millennial“-Theologie. Zugleich warteten sie voll glühender Hoffnung noch im Diesseits auf die Möglichkeit einer neuen Taufe durch den Heiligen Geist. Ob man die E. auch als Resultat der sozialen Umwandlung der →USA von einer agrarischen in eine industrielle und urbanisierte Gesellschaft erklären kann, ist umstritten. Nicht nur soziale Notlagen, sondern auch Kriege dienten als Erklärung für das Muster der Bewegungen.
e rzberg er
So sei der →Siebenjährige Krieg als Triumph über den Katholizismus gedeutet worden. Der Revolutionskrieg und der Krieg von 1812 hätten zur Neuordnung der USGesellschaft beigetragen. Einige erkennen eine dritte Erweckungsphase nach dem Kollaps des ersten Verfassungssystems im Bürgerkrieg und den sozialen Unruhen während der →Industrialisierung. Eine ähnliche Hypothese wurde für die Zeit nach 1968 vorgeschlagen, als der Vietnamkrieg (→Vietnam) mit seinen sozialen Auseinandersetzungen die Weltanschauung des evangelikalen Protestantismus desavouiert habe. Ziel dieser Hypothese ist es, die Entstehung der massiven Bewegungen von „TV-Evangelisten“, die Kreuzzüge Billy Grahams und die Genese von 50 Mio. selbstidentifizierten „born again“-Protestanten zu erklären. Als „New Age“-Spiritualisten, charismatische Katholiken u. a. „Erweckte“ sprengten sie im ausgehenden 20. und frühen 21. Jh. die Grenzen des Protestantismus. David W. Bebbington, The Dominance of Evangelicalism, Downers Grove 2005. Philip Jenkins, Mystics and Messiahs, New York 2000. Thomas S. Kidd, The Great Awakening, New Haven 2007. A. GRE GG ROE BE R Erzberger, Matthias, * 20.09.1875 Buttenhausen, † 26.08.1921 Bad Griesbach, □ Kath. Friedhof Biberach a. d. Riß, rk. Aus kleinbürgerlichen, schwäbisch-katholischen Verhältnissen stammend, arbeitete E. zunächst als Volksschullehrer, bevor er durch sein Engagement für das württemberg. Zentrum 1895 Redakteur bei dem parteieigenen „Deutsches Volksblatt“ wurde. Darüber hinaus betätigte er sich im südwestdeutschen Verbandskatholizismus und spielte 1899 eine wichtige Rolle bei der Gründung der christlichen Gewerkschaften. 1903 wurde er als Zentrumskandidat für den Wahlkreis Bibrach in den Reichstag gewählt. Durch seine Nachrichtenagentur Korrespondenz für die Zentrumspresse finanziell unabhängig, konnte E. sich auf eine Laufbahn als Berufspolitiker konzentrieren. In Berlin macht er sich durch überdurchschnittliche Präsenz, Fleiß, seine Debattierkünste aber auch seinen Ehrgeiz schnell einen Namen. Über seine Arbeit in der Budgetkommission, der er seit 1904 angehörte, entwickelte er sich schnell zu einem Fachmann in der Sozial-, Finanz-, Militär- und Kolonialpolitik. Reichsweit wurde er mit seinem Feldzug gegen die sog. „Kolonialskandale“ 1905/06 bekannt. Dabei kritisierte er öffentlich Mißstände in der kolonialen Verwaltung: wiederholte, nicht zu kontrollierende Budgetüberschreitungen der Kolonialverwaltung, Monopolverträge zu Lasten des Reichs und negative Auswirkungen einer schlecht organisierten Verwaltung (z. B. Korruption, Mißhandlung von Eingeborenen, unzureichend ausgebildete Beamte). Seine Hartnäckigkeit und der öffentliche Druck kosteten Oscar →Stübel (1905) und Ernst II. zu Hohenlohe-Langenberg (1906) ihren Posten als Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes. Erst deren Nachfolger Bernhard →Dernburg, seit 1907 Staatssekretär des →Reichskolonialamtes, gelang es, die Krise zu entschärfen und notwendige Korrekturen und Reformen auf den Weg zu bringen. Auch spielten die Skandale eine nicht unwesentliche Rolle für die Auflösung des Reichstags
und die sog. „Hottentottenwahlen“ 1907. 1909 war E. maßgeblich an der Ausarbeitung der Reichsfinanzreform beteiligt und rückte 1912, obwohl selbst in der eigenen Partei nicht unumstritten, in den Fraktionsvorstand vor. Während des Krieges erwuchsen E. neben seinen Aufgaben als Abgeordneter zahlreiche weitere Aufgaben. So organisierte er von 1914 bis 1917 die deutsche Auslandspropaganda und war in diesem Zusammenhang auch in nachrichten- und geheimdienstliche Unternehmungen involviert. Darüber hinaus wurde E. für außenpolitische Sondermissionen eingesetzt. So versuchte er zusammen mit Fürst Bülow 1915 vergeblich den Kriegseintritt Italiens zu verhindern. Sein Versuch, 1916 die rumänische Neutralität zu erhalten, blieb ebenso erfolglos wie die von ihm im Frühjahr 1917 initiierten Sondierungsgespräche mit Russland über einen Waffenstillstand in Stockholm. Durch seine einzigartige Stellung (Nachrichtendienst, Innenpolitik, Finanzen) war E. einer der bestinformierten Politiker während des Krieges. So wandelte sich der Pragmatiker E. vom glühenden Annexionisten zum Verfechter eines „Verständigungsfriedens“, scharfen Gegner des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und Initiator der Friedensresolution des Reichstags vom 19.07.1917. Nach dem Sturz Bethmann Hollwegs, an dem er beteiligt war, schwand sein Einfluß auf die Reichsleitung unter Michaelis und Hertling. Anfang Oktober 1918 wurde er Staatssekretär ohne Portefeuille im Kabinett Max von Baden. Nachdem der Linksliberale Conrad Haußmann wegen Erkrankung (→Influenza) die Leitung der Waffenstillstandskommission nicht, wie von der Reichsregierung vorgesehen, übernehmen konnte, trat E. an dessen Stelle und unterzeichnete am 11.11.1918 den Waffenstillstand von Compiègne. E. blieb bis zur Pariser Friedenskonferenz auch im Kabinett Scheidemann in dieser Funktion (Staatssekretär beauftragt mit Fragen des Waffenstillstands). Sein Einfluß trug entscheidend dazu bei, die ablehnende Haltung in der SPD und im Zentrum gegenüber der Ratifikation des Versailler Vertrages zu überwinden. Im Kabinett Bauer wurde er Vizekanzler und Finanzminister und setzte eine große Finanzreform durch, mit der die Steuererhebung vereinheitlicht und die Finanzhoheit des Reiches sichergestellt wurde. Bereits seine Rolle in den „Kolonialskandalen“ trug E. die Feindschaft nationaler u. konservativer Kreise ein, die durch seine Haltung im Krieg und seine Rolle in der Republik noch verstärkt wurde. Erwähnenswert sind hier v. a. die Angriffe durch Karl →Helfferich, denen er versuchte, gerichtlich zu begegnen. Die Feststellungen des Gerichtes zwangen allerdings E. dazu, am 12.03.1920 als Finanzminister zurückzutreten. Bevor E. wieder in die Politik zurückkehren konnte, wurde er am 26.08.1921 von zwei ehemaligen Marineoffizieren, Angehörige des Germanenordens und der Organisation Consul, in Bad Griesbach im Schwarzwald erschossen. Christopher Dowe, Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt/M. 1976. Christian Leitzbach, Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches 1895–1914, Frankfurt/M. 1998. JO H A N N ES BER N ER
247
e s c r ib A no
Escribano. Die Figur des E. begleitete vom ersten Moment an die Etablierung der span. Herrschaft in der Neuen Welt; ein Großteil der Dokumente, aus denen die Geschichte →Lateinamerikas rekonstruiert wird, sind von ihrer Feder geschrieben. Keine letrados und deswegen hierarchisch auf mittlerer Ebene stehend, waren die E. im täglichen Rechtsleben unentbehrlich. Wie in der kastilischen Tradition, in der sich die Vorstellung eines officium des notarius als eines Amtsträgers herausgebildet hatte, der im justiziellen wie auch im privatrechtlichen Bereich tätig wurde und dessen wichtigste Aufgaben darin bestanden, Dokumenten „öffentlichen Glauben“ zu verleihen und Register zu führen, etablierten sich auch in der Neuen Welt die Fülle verschiedener, letztlich nur historisch zu erklärender Ausprägungen des Amtes. So kannte man E.s Públicos (z. B. Escribanías del Número, Escribanías del Concejo, E.s Reales) und solche, die an Institutionen gebunden waren (z. B. Escribanías de la Casa de Contratación, E.s de Naos etc.). Eine Sonderstellung nahm der kirchliche notarius ein. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Tätigkeit der E.s wurden in den Ordenanzas de las →Audiencias und durch punktuelle Normsetzung geschaffen (vgl. Recopilación de los Reinos de las Indias, 5.1). Diese Normen beschreiben die Praktiken der Ernennung, Zuständigkeiten und Amtsführung dieses von den Zeitgenossen häufig mißtrauisch beäugten und dennoch regelmäßig begehrten Amtes allerdings nur unvollständig. María de los Angeles Guajardo-Fajardo Carmona, Escribanos en Indias durante la primera mitad del siglo XVI, 2 Bde., Madrid 1995. Thomas Duve, Geschichte des Notariats und Notariatsrechts im frühneuzeitlichen Hispanoamerika und im späteren Argentinien, in: Handbuch zur Geschichte des Notariats der europäischen Tradition, hg. v. Mathias Schmoeckel / Werner Schubert, Baden-Baden 2009. T HOMAS DUVE Eskimo, Namensstreit. Wahrscheinlich aus dem Frz. „esquimaux“ (möglicherweise aber auch über das Russ. Эскимосский) erst zu Beginn des 19. Jh.s eingedeutschter Begriff, unter dem man die Bewohner des arktischen Amerika, von Grönland im Osten bis zur Beringstraße im Westen, verstand. Die von dem am. Anthropologen Samuel Morton (1799–1851; „Crania Americana“, Philadelphia 1839) vorgeschlagene Bezeichnung „Mongol-Amerikaner“ konnte sich dagegen nicht durchsetzen. Das dt. Publikum war st. Ende der 50er Jahre des 19. Jh.s (Universal-Lexikon von Pierer 1857, Konversations-Lexikon von Meyer, 1863) darüber informiert, daß der Ausdruck E. aus der Algonkinsprache abgeleitet wurde. „Eskinmantick“, „Eshkimai“ bzw. „Eski-mwhan“ sollte demnach „Rohfleischesser“ oder „Mensch, der rohe Fische ißt“, bedeuten. Die Algonkin-sprechenden Abenaki, die zu den sog. „First Nations“ (→Kanada) gehören, hätten den Begriff zuerst für ihre nördl. Nachbarn an der Küste von Labrador verwendet. Wegen Ähnlichkeiten in Sprache, Verhaltensweisen, Traditionen, körperlicher Konstitution u. äußerer Erscheinung wäre der Name von den Europäern auf verwandte Ethnien u. schließlich auf alle Bewohner des arktischen Amerika übertragen worden 248
– vielleicht auch, weil zahlreiche indigene Ethnien der östlichen u. westlichen Arktis sich einmal jährlich in der Nähe der Mündung des Mackenzieflusses versammelten, wo sie bis zum Ende der russ. Herrschaft in Alaska mit Händlern zusammenkamen, um Seehundfelle, →Pelze u. andere einh. Waren gegen europ. einzutauschen. Eine breite dt.sprachige Öffentlichkeit wußte aber schon st. 1863: „die E. selbst nennen sich Innuit“ (Meyer’s neues Konversations-Lexikon Bd. 6, 21863, 377), eine Aussage, die sich in allen großen dt. Universallexika der Zeit findet (u. a. Brockhaus Bd. 6, 141894, 353: „während sie sich selbst Innuit, d. h. Menschen nennen“, dazu Verweise bei „Inuit“ u. „Innuit“; ähnlich der rk. Herder Bd. 3, 31904, 260). Daß der Name E. dennoch popularisiert wurde, ist auf die Fachwissenschaftler, insb. die Ethnologen, zurückzuführen. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter, der Dt.-Amerikaner Franz →Boas, schrieb ständig über die E.: „The Central E.“ (1888, Ndr. 1891, 1964, 1970), „The E. of Siberia“ (1913, Ndr. 1975), die E. „of Port Clarence, Alaska“ (1897), „The E. of Baffin Land and Hudson Bay“ (1901) oder – in dt. – über den „E.-Dialekt des Cumberlandes-Sundes“ (1894). Boas verfestigte damit den Gebrauch des Wortes. In den 70er Jahren des 20. Jh.s wurde, insbes. in Grönland u. Kanada, massive Kritik an der Bezeichnung E. geübt, die pejorativ wäre. In der kanadischen Verfassung (Constitution Act, Art. 35, Abs. 2) von 1982 wurden die „Inuit“, nicht die E., als Ureinwohner explizit genannt. Auch die indigenen Bewohner Grönlands lehnten die Bezeichnung E. für sich ab – eine Tatsache, die ebenfalls einer aufmerksam lesenden dt. Öffentlichkeit st. über 100 Jahren bekannt war (Art. „Innuit“ in Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 9, 31876, 299). Eine generelle Übernahme des Namens „Inuit“, wiewohl verschiedentlich angestrebt, scheiterte aber am Widerspruch der indigenen Bev. in Alaska, wo nur eine von vier indigenen Gruppen die Bezeichnung „Inuit“ adaptierte, auf den Aleuten u. v. a. in Sibirien. Hier wird die Benennung E. – neben den jeweiligen Eigennamen –, von der indigenen Bev. selbst praktiziert. Nachdem Linguisten in der jüngeren Vergangenheit darauf verwiesen haben, daß die urspr. Worterklärung falsch u. das Wort E. völlig anders u. keineswegs abschätzig gemeint war, hat sich die akademische Auseinandersetzung, die unter manchen Ethnologen fast schon Klassenkampfcharakter angenommen hatte, entschärft. Nicht auf dem Stand der Wissenschaft sind dagegen leitende dt. Wörterbücher, die dem Benutzer durchaus penetrant die Aufgabe des Gebrauch des Wortes E. nahelegen (Duden – Herkunftswörterbuch 42007, 188 u. 368). José Mailhot, L’étymologie de „Esqimau“ revue et corrigée, in: Etudes Inuit 2,2 (1978), 59–70. Russell Tabbert, The Names EskimO, Inuit, and Inupiaq/Inupiat, in: Names. A Journal of Onomastics 37 (1989), 79–82. H ERMA N N H IERY
Essequibo. Der größte Fluß Guyanas entspringt im Bergland von Guyana (Acarai Mountains), nahe der brasilianischen Grenze. Nach 1 010 km mündet er ca. 30 km westlich der Hauptstadt Georgetown in den →Atlantik. Sein dünn besiedeltes Einzugsgebiet ist von tropischem
es tA d o no v o
Regenwald und Feuchtsavanne geprägt. Die Mündung des E. wurde bereits 1499 von Alonso de Ojeda gesichtet. Auf der Suche nach dem sagenhaften →Eldorado erkundete Lawrence Keymis den Fluß seit 1596 näher. Die Niederländer errichteten 1616 an der Mündung des E. die gleichnamige Kolonie. Während die Niederländer im Mündungsbereich des E. Zuckerrohrplantagen (→Zucker) mit Sklavenwirtschaft (→Sklaverei und Sklavenhandel) etablierten, siedelten am unzugänglicheren Oberlauf weiterhin →Kariben und →Arawak. Zentrum der Kolonie war Fort Kykoveral (Kijkoveral) auf einer Flußinsel am Zusammenfluß von E. und Mazaruni (nahe dem heutigen Bartica). Die administrative Eigenständigkeit der Kolonie E. endete erst unter brit. Herrschaft 1831. Unterstützt durch die →Royal Geographical Society erforschte Robert →Schomburgk ab 1835 den E. und weitere Teile Brit.-Guyanas. Die von ihm als Grenzkommissar festgelegte Grenzziehung zu →Venezuela (Schomburgk-Linie), wurde vom Nachbarland, welches das brit. Gebiet bis zum E. beanspruchte, erst 1899 anerkannt. Peter Rivière (Hg.), The Guiana Travels of Robert Schomburgk 1835–1844, 2 Bde., 2006. JÖRG HAUP T MANN
Estado da India. Bildete als Repräsentant der Krone in Asien die staatliche port. Instanz zur Monopolisierung des Asienhandels. Die Verknappung und Verteuerung des Gewürzangebots in Europa hatte Portugal im 15. Jh. veranlaßt, einen Seeweg entlang der Küste Afrikas nach →Indien und →Südostasien zu erkunden. Als 1498 die erste Flotte →Calicut erreicht hatte, waren die Portugiesen auf ein jh.ealtes Fernhandelssystem mit einflußreichen Kaufmannsgruppen und vielfältigen Handelspraktiken gestoßen (→Ind. Ozean). Trotz anfänglich massiven Gewalteinsatzes und der →Eroberung wichtiger Hafenstädte erwies sich, angesichts des geringen eigenen Potentials und der etablierten Strukturen, die Errichtung eines Handelsmonopols als Illusion; nichtsdestotrotz konnte sich Portugal in Europa zum Hauptlieferanten asiatischer Güter aufschwingen und den venezianisch dominierten Landhandel über den Mittleren Osten zurückdrängen. Das Kerngebiet des E.d.I. wurden die →Malabarküste und →Gujarat, mit →Goa als Zentrum. Auf Ceylon (→Sri Lanka) gelang es 1518, ein Marktmonopol für Zimt zu errichten, das bis zur ndl. Eroberung Mitte des 17. Jh.s aufrechterhalten wurde. Mit der Eroberung von Hormuz 1515 kontrollierte der E.d.I. den Zugang zum Persischen Golf. Die Handelswelt Südostasiens wurde 1511 durch die Eroberung des Handelsstützpunkts →Malakka erschlossen, zu dem kleinere befestigte Niederlassungen auf den →Molukken und Timor traten. Zentrum des Ostasienhandels wurde das 1557 gegründete →Macao in Südchina, von wo aus bis 1615, über Firando (= Hirado) und Nagasaki, ein intensiver Japanhandel betrieben wurde. Nachdem zunächst die port. Warenpalette zur Finanzierung ausgereicht hatte, mußte Portugal seit Mitte des 16. Jh.s zunehmend Silber exportieren, um das wachsende Handelsdefizit auszugleichen. Der Warentransport nach Europa reichte als alleiniges Standbein bereits seit den 1530er Jahren
nicht aus, weswegen der E.d.I. sich am innerasiatischen Handel beteiligte und zunehmend Konzessionen für bestimmte Geschäftsfelder und Handelsrouten vergab. Im Zuge dessen ging in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s die Kapitalbeteiligung der Krone kontinuierlich zurück. Nach 1540 bediente der E.d.I. selbst nur noch die Route von Goa zu den Molukken, nach 1570 wurde auch die Kap-Route nach Europa konzessioniert. Zur wichtigsten wirtschaftlichen Ertragsquelle wurde so die Vergabe von Pässen, die zum Handel in den port. kontrollierten Regionen berechtigten und von der Flotte kontrolliert wurden (cartaz-System). Die Kontrollkapazitäten waren groß genug, um die Kosten der militärisch-administrativen Präsenz mehrheitlich zu finanzieren. Der E.d.I. beruhte auf einer feudalen Konstruktion, in der die Ämter in Administration, Handel und Flotte als Pfründe an Angehörige des niederen Adels vergeben wurden und ein Vize-Kg. in Goa an der Spitze stand. Grundsätzlich vertrat er gegenüber allen port. Untertanen in Asien die Krone, doch waren die Verbindungen in der Praxis nur lose. Bereits in den ersten Jahrzehnten etablierten private, dauerhaft in Asien ansässige Kaufleute (casados), relativ unabhängige Handelsstützpunkte unter dem Schutz indigener Herrscher. Auch die Rolle als Schutzmacht der rk. Missionsorden, für die Goa als Erzdiözese (seit 1557) zuständig war, hatte vorrangig ideellen Charakter. Die schwache Marktposition des E.d.I., bedingt durch steigende Kosten für die Silberbeschaffung in Verbindung mit Versorgungsschwierigkeiten bei →Gewürzen, die einsetzende Rivalität mit den westeuropäischen Handelskompanien (→Ostindienkompanien), die den Verdrängungswettbewerb auch mit Waffengewalt führten, das Festhalten an einem überkommenen feudalen System sowie die zu geringe Verwurzelung im asiatischen Handelssystem führte zu Beginn des 17. Jh.s zur Marginalisierung des E.d.I., allerdings nicht zu seinem völligen Untergang. Goa und Macao blieben bis ins 20. Jh. port. Kolonien, und Handelsstützpunkte überdauerten außerhalb des staatlichen Verbunds. Hier ermöglichte die Akkulturation ihrer Bewohner die Fortdauer eines luso-asiatischen Erbes bis in die Gegenwart. Peter Feldbauer, Estado da India, Wien 2003. Michael Kraus / Hans Ottomeyer (Hg.), Novos Mundos – Neue Welten, Dresden 2007. Sanjay Subrahmanyam, The Portuguese Empire in Asia 1500–1700, London 1993. JÜ RG EN G . N A G EL
Estado Novo (1937–1945). Mit der Ausrufung des E. N. (dt. „Neuer Staat“) am 10.11.1937 begann in →Brasilien die ca. achtjährige diktatorische Reg.szeit von Präs. Getúlio Vargas, dessen Regime in vielem den zu dieser Zeit in Europa herrschenden faschistischen und autoritär-korporatistischen Staaten ähnelte. In einer weiteren Perspektive ist der E. N. als Gegenentwurf zur oligarchisch-föderalen „Alten“ Rep. (1889–1930) allerdings kaum von den vorangegangenen sieben Jahren zu trennen. Schon die „Revolution“ von 1930, mit der Vargas erstmals an die Macht gelangt war, hatte etwa durch die faktische Abschaffung des Föderalismus, den gezielten Ausbau des Zentralstaates und dessen verstärktes Engagement im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik 249
e t hnie
eine völlig neue Richtung eingeschlagen, die in ihren Grundzügen bis zum Ende des E. N. beibehalten wurde. Anlaß und Ausrichtung dieses Kurswechsels standen dabei ganz im Zeichen der Weltwirtschaftskrise, die gerade auch die brasilianische Volkswirtschaft auf Grund ihrer Exportorientierung hart getroffen hatte. Den Weg aus der Krise wies dagegen die von Vargas in den folgenden Jahren konsequent betriebene Förderung des Binnenmarktes, die neben der Belebung der Landwirtschaft v. a. eine importsubstituierende →Industrialisierung zum Ziel hatte. Abgesehen von vielfältigen, zumeist kreditfinanzierten Förderprogrammen avancierte der Staat dabei selbst zum Unternehmer und gründete besonders in der Zeit des E. N. mehrere Großbetriebe in Schlüsselbereichen wie der Energieversorgung, dem Erzbergbau und der Schwerindustrie. Der 1937 vollzogene Schritt in die Diktatur diente Vargas hingegen allein zur Verlängerung und Absicherung seiner eigenen Macht, da er zu den für 1938 angesetzten Präsidentschaftswahlen nicht antreten durfte. Davon abgesehen hatte auch die zunehmende Radikalisierung des politischen Klimas in den 1930er Jahren – etwa in Form des kommunistischen Aufstandsversuchs von 1935 und der Agitation der rechtsextremen Integralisten – eine autoritäre Lösung nahegelegt. Die Verkündung des E. N. ging daher mit der Schließung des Kongresses und dem Verbot aller politischen Parteien einher, während die Gliedstaaten weiterhin von staatlichen Interventoren kontrolliert wurden. Institutionell ergänzt wurde das neue Regime durch die korporatistische Neuordnung der Arbeitsbeziehungen, die Unternehmer und Arbeiter nach dem Vorbild des it. Faschismus unter staatlicher Ägide zwangsvereinigte. Ein ostentativer Anti-Kommunismus sowie die kontrollierte Mobilisierung der Massen im Zeichen einer neuen nationalistischen Ideologie waren weitere Kennzeichen des E. N. Das Bild des Diktators allerdings entsprach dabei keineswegs dem des charismatischen Führers. Vargas agierte statt dessen lieber im Hintergrund als geschickter Taktiker und Moderator widerstreitender Interessengruppen, während er sich in erster Linie auf das Militär und den Sicherheitsapparat verließ. Trotz Zensur und Repression war das Regime aber dennoch stets darum bemüht, mittels sozialpolitischer Maßnahmen (Mindestlöhne, Krankenversicherung, Arbeitsschutz etc.) sowie durch den Verweis auf seine wirtschaftlichen Erfolge die allg. Zustimmung zu erhöhen. Pragmatisch war auch der außenpolitische Kurs, wenngleich der aufziehende →Zweite Weltkrieg bald eine Festlegung auf die →USA erzwang und wenig später im Kriegseintritt auf seiten der Alliierten (Mitte 1942) gipfelte. Mit dem sich abzeichnenden Sieg über die Diktaturen in Europa wuchs sodann auch der innen- und außenpolitische Druck auf den brasilianischen Diktator. Als Vargas sich aber auch nach Endes des Zweiten Weltkrieges einer raschen Redemokratisierung in den Weg stellte, schritt schließlich das Militär ein und erzwang Ende Okt. 1945 seinen Rücktritt. Zur ambivalenten Bilanz des E. N. zählen nicht nur die beachtlichen Industrialisierungsfortschritte und eine Reihe sozialer Errungenschaften für Industriearbeiter, sondern auch die Vernachlässigung der ländlichen Bevölkerung, das Ausbleiben einer Agrarreform und die Akzentuie250
rung der Entwicklungsdifferenzen zwischen Nord- und Süd-Brasilien. Jens R. Hentschke, Estado Novo, Saarbrücken 1996. Ders. (Hg.), Vargas and Brasil, Houndmills 2006. Robert M. Levine, Father of the poor?, Cambridge 1998. SÖ REN BR IN K MA N N
Ethnie (griech. ἔθνος, „Ethnos“, „Volk“), auch ethnische Gruppe, ist ein Grundbegriff der Geistes- und Sozialwissenschaften, der in Ablehnung negativ konnotierter Begriffe wie Stamm und Rasse und zuweilen auch Volk entstand und Anwendung findet. Im alltäglichen Gebrauch hat der Begriff an definitorischer Schärfe verloren. E. bilden sich auf Grund gemeinsamer „Abstammung“ (kulturellspezifische Verwandtschaft), gemeinsam erfahrener Geschichte und/oder weiterer kultureller Merkmale, wie Sprache und Tradition, die zusammen Abgrenzungskriterien darstellen. Diese sind wandelbar. Ethnische Grenzen sind darüber hinaus fließend und werden zuweilen als das wesentliche Merkmal (d. h. das Entstehen und Weiterbestehen kollektiver ethnischer Grenzen) von E. verstanden. E. erhalten ihre kollektive, ethnische Identität, bzw. ihr Wir-Bewußtsein durch Eigen- und/oder Fremdzuschreibung(en). Das Selbstzuschreibungskriterium einer Wir-Gruppe ist zumeist wesentlich. Der hiermit verbundene Prozeß der Differenzierung, als universelles, jedoch subjektives und konstruktivistisches Phänomen zur Sicherung von Mitgliedschaft, sowie den Zugang zu Macht, bzw. Ressourcen, wird als Ethnizität bezeichnet. Primordialisten gehen von einem a priori empfundenen Wir-Bewußtsein aus, das kulturell überformt wird. Subjektivisten beschreiben die Formierung von E. im Zuge sozialer Empfindungen, Umständen und Interessen (wirtschaftliche, politische, usw. Gründe). E., Nation und Staat sind Begriffe, die zuweilen deckungsgleich sein können, jedoch keineswegs müssen. Oftmals kommt es zu einer Verabsolutierung eigener Werte und Normen (→Ethnozentrismus). E. sind fallweise zu bestimmen. Viele ethnische Gruppen, insb. in überseeischen Gebieten, sind ein Produkt des →Kolonialismus (Grenzziehungen, Schaffung von Verwaltungseinheiten, etc.). Frederik Barth (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries, Oslo 1969. Jack Eller, From Culture to Ethnicity to Conflict, Ann Arbour 2002. Georg Elwert / Peter Waldmann (Hg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken 1989. D O MIN IK E. SC H IED ER
Ethnische Differenzierung und politische Ordnung in →Lateinamerika. Infolge der lateinam. Unabhängigkeitsbewegungen zwischen 1808 und 1826 entstanden im ehem. span. Herrschaftsgebiet zahlreiche Staaten, die sich durch eine auf die Kolonialzeit zurückgehende große kulturelle Heterogenität auszeichneten. Im Gegensatz zum angelsächsischen Nordamerika und zu den meisten europäischen Kolonien in Afrika und Asien war es im span. Amerika zu einer umfangreichen und geographisch weit in den Kontinent vordringenden Kolonisierung gekommen, die nicht zu einer Ausmerzung oder Verdrängung der einheimischen Bevölkerung, sondern zu einem von der Krone reglementierten Zusammenleben von
eth n i s ch e d i f f eren zi eru n g
Spaniern, Indigenen und afr. Sklaven führte. Eine besondere Herausforderung hatte sich zunächst durch die Integration der indigenen Bevölkerungsmehrheit in die entstehende koloniale Sozialordnung ergeben. Die Krone entschied sich bald, die indigene Bevölkerung räumlich von den span. Einwanderern zu trennen, um die Christianisierung und die Tributeinnahmen der neuen Untertanen zu gewährleisten sowie Mißbrauch durch span. Siedler einzudämmen. Die indigene Bevölkerung bekam daher eigene Wohngebiete zugewiesen, in den Städten Viertel, auf dem Land Dörfer (pueblos de indios). So entstanden zwei unterschiedliche politische Gemeinwesen, ein span. (república de los españoles) und ein indigenes (república de los indios). Im Alltagsleben ließ sich diese räumliche und soziale Differenzierung der Bevölkerung jedoch nicht aufrechterhalten, und sexuelle Beziehungen über die postulierten kulturellen Grenzen hinweg nahmen stetig zu. Im Laufe der Kolonialzeit etablierte die span. Krone daher eine auf ethnischen Kriterien basierende soziale Hierarchie, an deren Spitze die span.-stämmige Bevölkerung stand, gefolgt von den sog. Mischlingen (Mestizen, Mulatten u. a., →Casta) sowie der indigenen Bevölkerung und den afroam. Sklaven. Für alle diese Gruppen galten spezifische Rechte und Pflichten, sozialer Auf- oder Abstieg ging mit einem Wandel der ethnischen Identität einher. Mit der Unabhängigkeit der ehem. span. Kolonialgebiete übernahmen die →Kreolen (d. h. die in →Amerika geborenen Spanier) die politische Kontrolle der neuen Staaten. In den 1820er Jahren unternahmen die mehrheitlich liberalen Reg.en erste Anläufe, das koloniale Erbe der rechtlichen Ungleichheit im Rahmen der Etablierung moderner Staatsbürgernationen europäischen Typs zu überwinden. Angesichts der chronischen Finanzprobleme der neuen Staaten und des Widerstands konservativer Kreise dauerte es aber noch bis zum Ende der 1850er Jahre, bis die rechtliche Sonderstellung der indigenen Bevölkerung und auch die →Sklaverei weitgehend abgeschafft wurden. Die indigene Bevölkerung, die zu Beginn des 19. Jh.s in weiten Teilen →Mexikos, →Guatemalas und des südam. Andenraums immer noch die Bevölkerungsmehrheit darstellte, stand den politischen Veränderungen der Zeit ambivalent gegenüber. Während der Unabhängigkeitskämpfe fand sie sich sowohl auf Seiten der span. Krone wie auch – zunehmend – auf patriotischer Seite wieder. In den neuen Nationalstaaten blieb der indigenen Bevölkerung durch das restriktive Wahlrecht und die anhaltenden sozialen Vorurteile der kreolischen Oberschicht zwar weiterhin die Partizipation an der nationalen Politik verwehrt. Im Gegenzug gelang es ihr aber, wirtschaftliche, politische und kulturelle Traditionen zu bewahren. Erst infolge einer neuen Welle liberaler Reformen in den 1860er Jahren erhöhte sich allerorts der Druck auf die indigene Bevölkerung, die sich vor Gericht und durch verschiedene Aufstände gegen die voranschreitende Auflösung großer Teile ihres Gemeindelandes zu wehren versuchte. Die forcierte Weltmarktintegration und die Stärkung der zentralstaatlichen Autorität im ausgehenden 19. Jh. brachte in den meisten lateinam. Staaten eine von der kreolisch-mestizischen Oberschicht getragene Fortschrittsideologie hervor, aus deren Perspektive
indigene Lebenswelten nur noch als Hort der Tradition, wenn nicht der Barbarei erschienen. Die Folge war das militärische Vorgehen gegen solche indigene Gruppen, die sich auf Grund ihrer isolierten geographischen Lage dem staatlichen Zugriff bislang hatten entziehen können, so etwa im Süden →Chiles und →Argentiniens. In Ländern mit einer großen indigenen Bevölkerung wie →Peru, →Bolivien, Guatemala oder auch einigen Regionen Mexikos, die zudem seit Jh.en unterworfen – und damit teilweise akkulturiert – waren, hieß die Lösung hingegen unbedingte Assimilation. In den genannten Ländern entstanden zu Beginn des 20. Jh.s verschiedene Varianten einer als →Indigenismus (indigenismo) bezeichneten intellektuellen und politischen Strömung, die zwar die anhaltenden schlechten Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung und deren Ausbeutung anprangerte, als einzigen Ausweg aus dieser konstatierten Misere allerdings die von oben gelenkte Umerziehung zu westlicher Lebensweise und Werten – inkl. der span. Sprache – sah. Während die indigenen Traditionen verklärt und weitgehend auf die vor-span. Hochkulturen der Azteken und Inka reduziert wurden, galt für die Gegenwart der „Mestize“ als genuin lateinam. Ergebnis jh.elanger biologischer und kultureller Vermischung als offizielles Symbol der Nation. Eine auf den ersten Blick positive Auswirkung hatte diese Haltung durch die in verschiedenen lateinam. Ländern in den 1960er und 70er Jahren mehr oder minder ambitioniert betriebenen Landreformen, die der verarmten Bevölkerung durch die gesetzliche Beschneidung des Großgrundbesitzes mehr Land zur Verfügung stellen sollten. Ähnlich wie im Falle der mancherorts aufgelegten Alphabetisierungs- und Schulprogramme war der Erfolg dieser Landreformen aber eher gering. Oftmals waren die zugeteilten Böden für die Landwirtschaft wenig geeignet, zum anderen fehlten der indigenen Bevölkerung Kapital, Infrastruktur und know how zur erfolgreichen Vermarktung ihrer Produktion. Darüber hinaus ignorierte diese auf der Vergabe von privatem Landeigentum basierende Politik die traditionellen korporativen Lebens- und Wirtschaftsweisen eines Großteils der indianischen Bevölkerung und wurde daher von dieser nicht angenommen. Spätestens Anfang der 1990er Jahre hatte sich der Versuch, aus der indigenen Bevölkerung mestizische Bauern (campesinos) zu machen, als Illusion erwiesen. Im Kontext der Vorbereitung zu den 500-Jahr-Feiern der „Entdeckung“ Amerikas durch Christoph →Kolumbus kam es lateinamerikaweit zu einer Re-Ethnisierung sozialer Beziehungen und politischer Bewegungen. Während klassenspezifische Unrechtsdiskurse im Zuge der Auflösung der Sowjetunion und des Ost-West-Gegensatzes an Bedeutung verloren, waren es nun die Anerkennung kultureller Differenz und die Etablierung pluri-ethnischer oder multi-kultureller Gemeinwesen, die auf der politischen Agenda der lateinam. Staaten und der Weltöffentlichkeit (z. B. in der UNO) standen. Im Gegensatz zum Elitenphänomen des Indigenismus im frühen 20. Jh. waren und sind es bis heute Akteure aus den Reihen der indigenen und zunehmend auch der afroam. Bevölkerung, die für bessere Lebensbedingungen und eine angemessene politische Repräsentation streiten. Wie dieses berechtigte Anliegen zu 251
e t hnoz e nt r is m u s
erreichen und institutionell zu verankern ist, bleibt in der Gegenwart ein viel diskutiertes und umstrittenes Thema. Christian Büschges / Barbara Potthast, Vom Kolonialstaat zum Vielvölkerstaat. Ethnisches Bewußtsein, soziale Identität und politischer Wandel in der Geschichte Lateinamerikas, in: GWU 52 / 10 (2001), 602–620. Stephan Scheuzger, Die Re-Ethnisierung gesellschaftlicher Beziehungen – neuere indigene Bewegungen, in: Walther L. Bernecker u. a. (Hg.), Lateinamerika 1870–2000, Wien 2007, 191–211. CHRI S T I AN BÜS CHGE S Ethnologie →Völkerkunde Ethnozentrismus. Vom US-Soziologen William G. Sumner (1840–1910) 1906 geprägter Begriff für eine Einstellung, die die Gruppe, der man selbst angehört, zum Zentrum der Weltwahrnehmung erhebt und jeden, der nicht der eigenen Gruppe angehört, mit den Wertmaßstäben mißt, die in der eigenen Gruppe gelten. Daraus ergibt sich i. d. R. eine positive Wahrnehmung der eigenen Gruppe und eine negative, zu Feindschaft führende Wahrnehmung aller übrigen Individuen bzw. Gruppen. Der vom Sozialdarwinismus geprägte Sumner erachtete E. als ein für primitive Gesellschaften charakteristisches Phänomen und damit für einen Gegenstand der Ethnologie, die er ausschließlich als Erforschung des durch Fortschritt überwundenen Urzustands der modernen westlichen Zivilisation auffaßte. Erst nach dem →Zweiten Weltkrieg wurde in der wissenschaftlichen Diskussion über den E.-Begriff die Auffassung vertreten, daß E. nicht ausschließlich bei wenig entwickelten Gesellschaften in der →Dritten Welt vorkomme, sondern in Gestalt ideologisch geprägter Stereotype und Vorurteile (z. B. →Rassismus) auch in der modernen westlichen Gesellschaft verbreitet sei. Diese, von europ. Maßstäben und europ. Perspektive ausgehende Sichtweise, nennt man Eurozentrismus. Jean-François Bürki, Der Ethnozentrismus und das Schwarzafrikabild, Bern u. a. 1977. Donald T. Campbell / Robert A. LeVine, A Proposal for Cooperative CrossCultural Research on Ethnocentrism, in: Journal of Conflict Resolution 5 (1961), 82–108. Roy Preiswerk / Dominique Perrot, Ethnocentrisme et Histoire, Paris 1975. CHRI S TOP H KUHL
Europäisierung. Die europäische Expansion hat eine europäisch geprägte Welt hinterlassen. Das klingt eurozentrisch, weil die Sache selbst eurozentrisch ist. Kritischer Eurozentrismus verbindet damit aber keine Wertung mehr, weil auch das Handeln von Nicht-Europäern zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Oft haben diese sich europäische Impulse nicht nur angeeignet, sondern damit zugleich die Europäer enteignet. So ist z. B. das amerikanische oder indische Englisch längst nicht mehr the Queen’s English. Die Europäisierung der Welt ist heute fast wie die einstige Romanisierung von Teilen Europas nur noch ein historischer Sachverhalt. Außerdem hat sie sich inzwischen umgekehrt: Europa ist einerseits amerikanisiert und unterliegt andererseits Masseneinwanderung aus dem Rest der Welt. Historisch ist es aber äußerst sinnvoll, nach der weltweiten Prägung von Um252
welt, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur durch Europa zu fragen. Dabei besteht ein Unterschied zwischen Ländern, die nach Verdrängung der Ureinwohner von europäischen Einwanderern besiedelt wurden: Teile Lateinamerikas, Nordamerika, →Sibirien, →Australien, Neuseeland (→Aotearoa), und anderen in →Asien und →Afrika, in denen europäische Siedler in der Minderheit blieben oder es nur vorübergehend anwesende europäische Administratoren gab. Denn in den zuletzt genannten haben in der →Dekolonisation Einheimische mit Vorbehalten gegen Europa die Macht übernommen. Die Länder der ersten Gruppe hingegen sollten nicht selten ein besseres Europa werden als das alte. In Spanisch- und Französisch Amerika wurden bürokratische Monarchien ohne die Stände des Mutterlandes durchgesetzt, während gleichzeitig Missionare mit ihren →Indianern christliche Utopien verwirklichen wollten. In Neu-England entstand eine Extremform englischer Selbstverwaltung mit religiösem Sendungsbewußtsein, das in säkularisierter Gestalt in den USA weiterlebt. Der Umsturz der Ökosysteme durch die europäische Herrschaft betrifft diese „neuen Europa“ vielleicht noch mehr als die übrigen Kolonien. Neue Pflanzen, Tiere und Wirtschaftsformen haben ganze Länder radikal verändert. Aus den Savannen des zentralen Nordamerika ist eine der Kornkammern der Erde geworden, aber Tiefpflügen und Monokulturen haben zu schweren Umweltschäden geführt. Die Einführung der in →Amerika, Australien und Neuseeland unbekannten europäischen Haustiere war eine ökologische Revolution mit Auswirkungen auf die Ernährung und die Lebensweise der Menschen. So verwandelten sich die Prärie- und Pampasindianer in berittene Jägernomaden. Dem stehen aber die Katastrophen eingeschleppter Infektionskrankheiten für die bisher isolierten Bewohner Amerikas, Australiens und der Pazifikinseln gegenüber. Zwangsmigration von Afrikanern ersetzte die Bevölkerungsverluste. Manchmal hatten spätere Wanderungen von „freien“ Kontraktarbeitern ähnliche Folgen; dem afroamerikanischen Haiti entspricht das indische →Mauritius. Ökonomisch bedeutete →Kolonialismus die Ausbreitung europäischer und amerikanischer Kulturpflanzen über die ganze Erde, wobei Erdräume, die bisher nur extensiv von Jägern und Nomaden genutzt wurden, intensiver landwirtschaftlicher Nutzung zugeführt wurden. Mit →Kartoffeln in Europa, Mais und Maniok in Afrika, Mais und Süßkartoffeln in China wurde die Nahrungsmittelproduktion für die Menschheit gesteigert. Dazu kam die Ausbeutung der Bodenschätze vom Silber Spanisch-Amerikas über Gold (→Edelmetalle), Diamanten und Erze Afrikas zum heute wichtigsten Primärprodukt, dem Erdöl. Dritte Säule der Kolonialwirtschaft war die Erzeugung hochwertiger tropischer Agrarprodukte wie Zucker, Kaffee, Tee durch kapitalintensive Großbetriebe, häufig mit brutaler Ausbeutung nicht-europäischer Arbeitskraft von Sklaven (→Sklaverei), Kontrakt- und Zwangsarbeitern. Daneben gab es auch Produktion für den Weltmarkt durch einheimische Kleinbauern: →Kakao in →Ghana, Erdnüsse in →Senegal, →Kopra auf →Neuguinea. Unterlassene →Industrialisierung führte aber zur Abhängigkeit der Rohstoffproduzenten vom Weltmarkt, die nur für das strategische Erdöl ins Gegen-
e vA n g eli s ch e mi s s i o n s g es ells chAf t
teil verkehrt werden konnte. Strukturelle Fehlentwicklung bedeutet aber keine irreversible Unterentwicklung im Sinne der →Dependenztheorien. Die Kolonisierten waren keine hilflosen Opfer des Kolonialismus, sondern wußten sich die Verhältnisse geschickt zunutze zu machen, mit Folgen bis heute. Auf der anderen Seite beweisen gerade wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen für nachholende Industrialisierung mit Vernachlässigung der Landwirtschaft den politischen Operationsspielraum nachkolonialer Staaten. Denn der moderne Staat mit Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, Militär und Bildungswesen ist die Hinterlassenschaft des Kolonialismus auf dem Felde der Politik. Die nachkolonialen Staaten konnten aber kaum an vorkoloniale Gemeinwesen anknüpfen, sondern erbten koloniale Herrschaftsformen und Grenzen. Mangels einer entwickelten Zivilgesellschaft fehlte ihnen die soziale Infrastruktur für das Funktionieren der übernommenen demokratischen Institutionen. Damit lag der Rückgriff auf einheimische klienteläre Traditionen nahe oder die Machtergreifung durch das Militär entpuppte sich als einzige Alternative zu einer dadurch korrumpierten Staatsklasse. Denn das Militär gehört zu den neuen gesellschaftliche Gruppen westlichen Zuschnitts, die der Kolonialismus hervorgebracht hat: Arbeiter und Unternehmer, Techniker und Lehrer, Freiberufler und Journalisten, Juristen und Beamte sowie als deren gemeinsames Milieu die moderne Großstadt und ein Verkehrs- und Kommunikationswesen westlichen Zuschnitts. Dazu kommen neue Rollen für die Frauen, nicht selten mit Emanzipation von den bisherigen Verhältnissen. Westlicher Lebensstil in Kleidung, Ernährung und Unterhaltung ist selbstverständlich geworden. Unter der Authentizitätsdemonstration durch traditionale Gewänder verbirgt sich Assimilation in Gestalt westlicher Unterwäsche. Das Brot hat den Brei verdrängt und statt mit den Händen wird mit Besteck gegessen. McDonalds ist ebenso allgegenwärtig wie das Fernsehen als Standardunterhaltung und der →Fußball als Nationalsport. Das alles beruht auf westlicher Naturwissenschaft und Technik, Medizin und Ökonomie sowie auf Ideen und Ideologien wie Rationalismus und Individualismus, Rechtsstaatsprinzip und →Menschenrechten, Christentum und Sozialismus, die mehr oder weniger westlicher Herkunft, inzwischen aber Allgemeingut der Menschheit geworden sind. Denn der Kolonialismus hat langfristig eben nicht nur Unterdrückung gebracht, sondern auch Befreiung von den Fesseln der eigenen Tradition (Ali A. Mazrui). Selbst die sogenannten „Postkolonialisten“ müssen sich zur mentalen „Provinzialisierung Europas“ europäischer Philosophie bedienen. L: Alfred W. Crosby, Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport 1972. Ders., Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900–1900, Frankfurt 1991, 2. engl. Aufl. Cambridge 2004. Shmuel Eisenstadt: Multiple Modernities. In: Daedalus 129,1 (2000), 1–29. Braj B. Kachru (Hg.), The Handbook of World Englishes, Oxford, 2006. Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983–1990 (Neubearbeitung erscheint 2015). Dietmar Rothermund (Hg.), Aneignung und Selbstbehauptung. Antworten auf die europäische
Expansion, München 1999. Rudolf Wendorff, Dritte Welt und westliche Zivilisation, Opladen 1984. WO LFG A N G R EIN H A RD
Eurozentrismus →Ethnozentrismus Evangelische Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika (EMDOA/Berlin III/Bethel-Mission). Unter ihrem ursprünglichen Namen „Dt.-Ostafr. Missionsgesellschaft“ im Frühjahr 1886 als dritte Missionsgesellschaft in Berlin gegründet (daher die inoffizielle Bezeichnung „Berlin III“; ab 1887 dann E.), war die Gesellschaft zunächst mehr Produkt kolonialer als missionarischer Begeisterung. Diese von den etablierten Missionsgesellschaften kritisierte Ausrichtung, das Scheitern erster Unternehmungen in →Sansibar und →Daressalam 1887/88 sowie finanzielle und personelle Probleme brachten die E. rasch an den Rand des Zusammenbruchs. Eine Abkehr vom kolonialmissionarischen Kurs und eine systematische Missionstätigkeit setzten ab März 1890 unter der Ägide Friedrich von Bodelschwinghs (1831–1910), dem Leiter der Betheler Anstalten bei Bielefeld, ein. Als Charakteristikum entsandte die Gesellschaft fortan nur in Bethel ausgebildete Diakone und Diakonissen als Missionshilfskräfte sowie Volltheologen als Missionare. 1891 begannen die ersten dieser Missionare, Ernst Johannsen (1864–1934) und Paul Wohlrab (1866–1949), eine erfolgreiche Missionsarbeit im dt.-ostafr. Usambaragebiet; 1907 bzw. 1910 wurden Missionstätigkeiten in →Ruanda und in Bukoba am →Victoriasee jeweils mit Unterstützung einheimischer Christen eingeleitet. Mit der Verlegung des Sitzes der Gesellschaft von BerlinLichterfelde nach Bethel 1906 verwuchs die Missionsarbeit zunehmend mit dem Anstaltsbetrieb; die Umbenennung in „Bethel-Mission“ erfolgte 1920. Im selben Jahr wurden die ersten einheimischen Pastoren in Usambara ordiniert, da die letzten Missionare als Folge des Ersten Weltkrieges Ostafrika verlassen mußten; erst 1925 durften sie nach Usambara und 1928 nach Buhaya zurückkehren. Daher unterstützte man bereits ab 1920 die „Salatiga-Mission“ der Neukirchner Missionsgesellschaft in →Ndl.-Indien (→Indonesien). Während der nationalsozialistischen Diktatur stellte sich die Bethel-Mission auf die Seite der Bekennenden Kirche, mußte aber ab 1939 die Internierung fast aller Missionare hinnehmen. Im und nach dem →Zweiten Weltkrieg übernahmen zunächst am. und schwedische Missionsgesellschaft treuhänderisch die Arbeitsgebiete; nach Rückkehr eigener Missionare nach Ostafrika in den 1950er Jahren bereitete die Bethel-Mission die Selbständigkeit der z. T. bereits vor dem Weltkrieg konstituierten einheimischen Kirchen vor. Nach Gründung der „ev.-luth. Kirche in Tanganyika“ 1963 (ELCT, seit 1964 „in →Tansania“) unterstützte die Bethel-Mission im Rahmen des von Amerikanern, Skandinaviern und Deutschen gebildeten „Tanzania Assistance Committee“ in ihren ehem. Missionsgebieten die ELCT. 1971 fusionierte sie mit der „→Rheinischen Missionsgesellschaft“ zur „Vereinigten Evangelischen Mission“ mit Sitz in Wuppertal. Q: Matthias Benad (Hg.), Bethels Mission, Bd. 1 und 3, Bielefeld 2001 / 2003. Nachrichten aus der ostafr. Mis253
ewe
sion, Berlin / Bethel 1887–1921. L: Gustav Menzel, Die Bethel-Mission, Neukirchen-Vluyn 1986. T HORS T E N ALT E NA
Everett, Edward →Gettysburg Address Ewe bezeichnet sowohl eine Sprache als auch eine Völkergruppe. Die E. sind ein westafr. Volk, das den südlichen Teil von →Togo, auch teilweise →Ghana und →Benin bevölkert. Man könnte sie in zwei Hauptgruppen klassifizieren: die Anlo, die im Südghana leben und die Gruppe Adja-Tado, die in Südtogo und Südbenin zu finden sind. Nach Überlieferungen kommen die E. ursprünglich aus Oyo (→Nigeria) und hatten in sich in Südtogo im 16. oder 17. Jh. niedergelassen. Die gerade erwähnten Hauptgruppen bestehen jeweils aus verschiedenen kleinen Sprachuntergruppen, die als Dialekte oder E.-Varianten bezeichnet werden können. Jedoch können sich die Angehörigen der jeweiligen Gruppen sprachlich verstehen, da die Unterschiede zwischen den verschiedenen gesprochen Sprachvarianten sehr gering sind. Überdies sind die kulturellen Denkweisen der beiden Volksgruppen sehr ähnlich, so daß man geneigt ist, auf eine kulturelle Einheit zu schließen. So ist es für einen E. aus Südtogo sehr leicht, sich mit einem E. aus dem Südghana zu verständigen und umgekehrt. Ein aufschlußreiches Beispiel ist die Bezeichnung von Gott durch das Wort „Mawu“. Obwohl dieses Wort mit verschiedenen Akzenten je nach der Region ausgesprochen wird, bezeichnet das Wort „Mawu“ sowohl die (kleinen) Götter der Naturreligion als auch den allmächtigen Gott. Im Fall vom allmächtigen Gott wird in manchen Regionen das Adjektiv „ga“ (groß) dem Wort Mawu (Mawuga) hinzugefügt. Die E. leben vom Fischfang oder von der Landwirtschaft und bauen Maniok, Mais, und Yams an. Sie praktizieren eine Naturreligion namens Voudou. In der Naturreligion spielt die Vergötterung der Ahnen eine sehr bedeutende Rolle. In der Voudou-Religion stehen die Ältesten und die Eingeweihten als Vermittler zwischen den Ahnengeistern und den Lebenden. Selbst wenn diese Religion heutzutage vom Christentum verdrängt zu werden scheint, wird sie noch von vielen gleichzeitig neben dem Christentum praktiziert. Die soziale Organisation bei den E. beruht auf der Anerkennung der Hierarchie und der Verwandtschaft und Familienbeziehungen. Die E. sind in Clans organisiert, in denen der Chef eine zentrale Rolle spielt. Er sowie die Voudou-Priester sind die Vermittler zwischen den Ahnen und dem Volk. Bei den E. ist die Wertigkeit der Familie sehr ausgeprägt, deshalb gehört die Heirat fest zum sozialen Leben. Wer nicht heiratet und keine Kinder hat, wird als unfruchtbar angesehen und hat daher keine Stimme in der Gesellschaft. Aus diesem Grund war die Polygamie in früheren Zeiten sehr hoch angesehen. Sie ist zugleich ein Zeichen von Macht und Fruchtbarkeit des Familienchefs. Selbst wenn heutzutage zur Monogamie tendiert wird, wird die Polygamie in einigen Regionen praktiziert, die den kulturellen Sitten der Vorfahren treu bleiben wollen. In der Familienstruktur ist die Rolle des Mannes sehr wichtig. Traditionell wirbt der Mann um die Frau, indem er der Schwiegerfamilie die Aussteuer oder Mitgift während einer Zeremonie, an der die Ältesten der 254
beiden Familien teilnehmen, präsentiert. Die Zusammenstellung der Aussteuer ist unterschiedlich und unterscheidet sich je nach der Familie, dem Clan oder der Region. Jakob Spieth, Die Ewe-Stämme, Berlin 1906. YA O ESEB IO A B A LO
Exklave →Enklave Expansion, iberische. Die iberische E. wird gemeinhin als 1492 mit der Fahrt des →Kolumbus beginnendes Phänomen der Neuzeit betrachtet, das zur Errichtung der beiden Kolonialreiche Portugals und Spaniens in Übersee führte. In dem Maße, in dem sich zunehmend seit dem ausgehenden 20. Jh., insbesondere dem 500. Jubiläum der Kolumbusfahrt 1992, der Begriff des „Imperiums“ für beide Reichsbildungen durchsetzte und die ältere Kolonialismusbegrifflichkeit nachrangig werden ließ, ist der Bezug auf die hoch- und spätmittelalterliche Vorgeschichte im Rahmen der Reconquista, der christlichen Rückeroberung der Halbinsel von maurischer Herrschaft unverzichtbar geworden. Abgesehen von dem Pyrenäen-Reich Navarra haben die drei großen christlichen Königreiche auf der Halbinsel, Aragón mit seinen Teilreichen Katalonien und Valencia, das ebenfalls aus verschiedenen Reichsteilen zusammengesetzte Kastilien und Portugal, nach dem raumgreifenden, von Truppen Navarras, Aragóns und Kastiliens getragenen Vorstoß der Reconquista nach Süden im Gefolge der Schlacht von Navas de Tolosa, 1212, je eigene, über die Halbinsel hinausreichende Expansionspläne entwickelt und in bezug auf das maurische Nordafrika z. T. auch vertraglich abgestimmt. Begünstigt wurde dies im Zeitalter der Kreuzzüge durch den Santiago-Mythos (Grab des Apostels Jacobus in Santiago de Compostela), die definitive Vereinigung der Königreiche León, mit eigener ephemerer Imperiums – Tradition, und Kastilien, 1248 mit der Eroberung Sevillas, nach der als letztes Maurenreich nur noch das von Kastilien umschlossene Granada verblieb und der Eroberung der Balearen durch Kg. Jakob d. Eroberer v. Aragón, der seinen Sohn mit Konstanze, der Tochter des Staufers Manfred von Sizilien, verheiratet, so daß 1282 im Gefolge der sizilianischen Vesper Sizilien an Aragón bzw. Seitenlinien der aragonesischen Krone fällt. Der Mittelmeerraum wurde so zum Expansionsgebiet Aragóns, das im 14. Jh. Sardinien erobert und Söldnerkompanien im östlichen Mittelmeerraum die Herzogtümer Athen und Neopatras erobern läßt. Mitte des 13. Jh. formulierten römisch-rechtlich geschulte Juristen im Auftrag Alfons X., des Weisen, von Kastilien die Theorie „rex est imperator in regnum suum“ im Kodex der Siete Partidas, der 1348 kastilisches Grundgesetz wurde, nachdem Alfons sich 1257 als Enkel Philipps von Schwaben vergeblich hatte zum deutschen König wählen lassen. Seinem Sohn Sancho IV. gelang 1292 die Eroberung der Festung Tarifa und damit die Beendigung der maurischen Kontrolle der Straße von Gibraltar. Sowohl Aragón und Kastilien als auch Portugal betrieben zeitgleich den inneren Landesausbau auch mit Hilfe der zunehmend „national“ orientierten Ritterorden, begründeten in Anlehnung an das Vorbild italienischer Stadtstaaten u. teils mit italienischem Personal militärische Zent-
e� PAn s i o n , i beri s ch e
ralinstitutionen zur Flotten- und Heeresorganisation und ersetzten in der Administration zunehmend das Lateinische durch die Volkssprachen. Ende des 13. u. zu Beginn des 14. Jh.s lenkten genuesische Seefahrer zudem die Aufmerksamkeit Kastiliens und Portugals auf die Westafrika vorgelagerten Seegebiete, nachdem 1291 die Gebrüder Vivaldi eine später verschollene Expedition durch die Meerenge von Gibraltar entlang der westafrikanischen Küste nach Süden unternahmen. 1336 unternahm der Genuese Lancellotto Malocello von Lissabon aus eine Erkundungsreise in der gleichen Richtung, die zur Wiederentdeckung der Kanarischen Inseln, der Insulae Fortunatae der Antike, führten. Diese Ereignisse signalisieren zugleich das wirtschaftliche Ausgreifen Genuas und konkurrierender italienischer Handelsstädte in den westlichen Mittelmeerraum auf der Suche nach Zugang zu den in den nordafrikanischen Küstenstädten eintreffenden Goldvorräten aus dem Süden der Sahara und günstigen Anbaugebieten für den westwärts wandernden Zuckerrohranbau als ertragreiches Handelsgut. Im 14. Jh. sind mehrere Fahrten von Sklavenjägern, aber auch Missionaren zu den Kanarischen Inseln überliefert. Bündnispolitisch über die Halbinsel ausgreifende Thronfolgekonflikte im späteren 14. und zu Beginn des 15. Jh.s behinderten zunächst ein stärkeres iberisches Engagement im Atlantik. In Kastilien folgte zunächst die Dynastie der Trastámara auf dem Thron, während sich 1385 in Portugal die Dynastie der Avis mit Hilfe des niederen Adels und des Stadtbürgertums gegen die mit der Krone Kastiliens verbundene legitime Erbin durchsetzte und 1411 von Kastilien anerkannt wurde, bevor 1412 in Aragón durch den Schiedsspruch von Caspe eine Nebenlinie der Trastámara inthronisiert wurde. Die daraus resultierenden inneriberischen Konflikte ließen es zu, daß 1402 der Normanne Jean de Béthencourt mit Unterstützung des Ritters Gadifer de la Salle den Versuch der Eroberung der Kanarischen Inseln unternehmen konnte, sich dabei aber durch einen Lehnseid gegenüber Heinrich III. v. Kastilien und eine Papstbulle rückversicherte. Es gelang die Einnahme einiger kleinerer Kanarischen Inseln, die Gründung von Stützpunkten, ja, eines ephemeren Bistums, doch litt das Unternehmen zunehmend an Nachschub- und Finanzierungsschwierigkeiten und dem Widerstand der Ureinwohner auf den größeren Inseln, um sich nach 1420 in diffusen und kleinteiligen Aktivitäten zu verflüchtigen. Die dichter werdenden Aktivitäten in diesem Seegebiet veranlaßten 1415 Johann I. von Portugal mit hohem militärischen Einsatz zu einem Angriff auf die marokkanische Handelsstadt Ceuta. Die Eroberung mündete in die maurische Abriegelung der Stadt, die trotz intensiver Anstrengungen nicht durchbrochen werden konnte. Aus dieser Situation im Umfeld des Konzils von Konstanz folgte eine politische Doppelstrategie. Während der 2. der 5 Söhne Johanns, Peter, sich ins Heilige Römische Reich wandte und schließlich 1426 an der Seite Kaiser Sigismunds auf dem Balkan mit 800 portugiesischen Rittern verlustreich gegen die Türken kämpfte, wurde der 4. dieser Söhne, Heinrich, in Ceuta zum Herzog von Viseu ernannt und seit 1420 Großmeister des Christusorden, als →Heinrich der Seefahrer zum ersten erfolgreichen Expansionsunternehmer. Gestützt
auf die materiellen und personellen Ressourcen des Christusordens und langjähriger Erfahrungen portugiesischer Fischfangflotten trieb er die Erkundung und Inbesitznahme westafrikanischer Küstenzonen und atlantischer Inseln voran. Die langsam nach Süden vordringenden Fahrten entlang der westafrikanischen Küste endeten aus Gründen der Segelbedingungen meist in weit in den Atlantik ausholenden und dann mit dem Golfstrom zur Küste zurücksteuernden Fahrten, in deren Verlauf innerhalb von etwa 10 Jahren die Inseln Madeira und Porto Santo und schließlich auch die Azoren entdeckt wurden. Mit der Kolonisation dieser Inseln betraute Heinrich Kolonisationsunternehmer, die mit Hilfe von Landverteilungen Siedler anzogen und mit dem Wein- und Zuckerrohranbau exportfähige Produkte erzeugten. Entlang der Küste ließ Heinrich durch steinerne Markierungen an der Küste die Besitznahme dokumentieren, beschränkte sich ansonsten aber auf die Gründung von Stützpunkten, von denen aus Handel mit dem Binnenland betrieben wurde. Parallel dazu ließ er entlang der Küste die reichen Fischvorkommen und Meeressäugervorkommen ausbeuten. So gelang es dem Infanten ein ausgedehntes Handelsimperium zwischen der Guineaküste, den Azoren, Madeira und der Algarve zu begründen, dessen neu erworbene Gebiete er sich stets vom inzwischen wieder in Rom residierenden Papst bestätigen ließ. Sein Versuch, sich auf diese Weise in den Besitz der Kanaren zu setzen, stieß trotz päpstlicher Zustimmung auf den energischen Widerstand Kastiliens. Die Bemühungen des älteren Bruders dagegen mündeten zumindest indirekt in dynastische Verbindungen des Königshauses mit Burgund und 1458 auch mit dem Kaisertum, aus der Kaiser Maximilian hervorging, der seinerseits bemüht war, die Verbindungen zur Iberischen Halbinsel und zum Expansionsprozeß zu stärken. Die Folge dieser Bemühungen war, daß nicht nur Kolumbus selbst im portugiesischen Expansionsmilieu seine Erfahrungen sammelte, sondern sich auch eine zahlenmäßig starke deutsche Kaufmannskolonie in Lissabon formieren konnte, der auch Martin →Behaim angehörte. Mit der Eroberung Granadas im Jahre 1492 endete zugleich auch die als Reconquista bezeichnete Phase der iberischen Geschichte, die in Kastilien im Gefolge der Fahrt des Kolumbus in die Conquista Amerikas mündete. Dies erklärt sich daraus, daß im Spätmittelalter die Rückeroberung maurischer Gebiete oftmals nicht aus formellen, von der Krone angeführten Kriegszügen resultierte, sondern häufig eine Folge von aus den →Frontier-Regionen heraus vorgetragenen, privat organisierten Einfällen in maurisches Gebiet mit dem Ziel des Beutemachens war. Nach diesem Modell war auch der 1482 begonnene Krieg gegen Granada ausgebrochen, bevor nach einem erfolgreichen Handstreich die Krone die planmäßige Rückeroberung Granadas einleitete. Nach den beiden ersten Kolumbusfahrten begann die Krone nach diesem Modell auch privat organisierte und finanzierte Züge in Amerika zu lizensieren, deren Anführern im Erfolgsfall die mehr und mehr reglementierte Regentschaft der in Besitz genommenen Gebiete übertragen wurde, während die übrigen Teilnehmer solcher Züge nach Beendigung der Feindseligkeiten frei waren, ihrer Wege zu ziehen. Die Beteiligung des hohen 255
e � P e dit i o n e n
Adels an den Unternehmungen in Amerika verbot die Krone mit Erfolg. Dies erklärt sich wohl v. a. daraus, daß die Könige der inzwischen in Matrimonialunion vereinigten Königreiche Aragón und Kastilien mehr oder weniger zeitgleich an zwei anderen Fronten Krieg führten. In Neapel führten sie – schließlich erfolgreich – Krieg gegen Frankreich mit dem Ziel, der Herrschaft über Sizilien und Sardinien auch die Krone Neapels hinzuzufügen. In diesen Kriegen formierte Gonzalo Fernández de Córdoba, der Gran Capitán, die spanische Infanterie, die bis zum 30jährigen Krieg auf den europäischen Schlachtfeldern dominierte. Bis zum Regierungsantritt Karls V., 1518, betrieben Ferdinand d. Katholische, als Regent der Kardinal Cisneros, Erzbischof von Toledo, und der andalusische Adel die Eroberung der nordafrikanischen Küstenstädte bis Tripolis als eine Verlängerung der Reconquista. In dieser Phase übernahmen andalusische Adelige die Regierung der eroberten Städte, in die sorgfältig nach Funktionen ausgesuchte, aus den Einnahmen der Kreuzzugsbulle besoldete Siedler entsandt wurden, die auch das Umland kolonisieren sollten. Ziel dieser Politik waren, u. a. angesichts der hohen Zahl nicht assimilierter maurischer Minderheiten auf der Iberischen Halbinsel, die Kontrolle des westlichen Mittelmeerraumes, dessen militärische Sicherung gegen türkisches und islamisches Vordringen und die Unterbindung der endemisch von diesen Städten ausgehenden Piraterie. Die beiden Expeditionen Karls V. gegen Nordafrika lassen erkennen, daß dieser Politik kein Erfolg beschieden war. Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann, Geschichte Spaniens, Stuttgart 42005. M. Bertrand / N. Planas (Hg.), Les sociétés de frontière de la Méditerranée à l’Atlantique, Madrid 2011. Salvatore Bono, Piraten und Korsarentum im Mittelmeer, Stuttgart 2009. Rafael Gutiérrez Cruz, Los presidios españoles del Norte de África en tiempo de los Reyes Católicos, Melilla 1997. Jürgen Pohle, Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jh.. Münster u. a. 2000. Horst Pietschmann (Hg.), Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760. Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, hg. v. Walther L. Bernecker / Raymond Th. Buve / John R. Fisher / Horst Pietschmann / Hans Werner Tobler, Bd. 1, Stuttgart 1994. HORS T P I E T S CHMANN Expeditionen. Im Unterschied zu Entdeckungsreisen, bei denen – mit oder ohne entspr. Intention – bis dato vollständig unbekannte Gebiete betreten werden, sind unter E. Erkundungsreisen in zwar bekannte, jedoch noch nicht oder nur wenig erschlossene Gebiete zu verstehen. E. von Europäern in den Kolonien waren entweder durch wissenschaftliches Erkenntnisinteresse (besonders auf den Gebieten der →Geographie und →Ethnologie, →Wissen) oder durch die Absicht motiviert, Möglichkeiten infrastruktureller Verbesserungen (→Infrastruktur) im Hinblick auf Ermöglichung bzw. Erleichterung wirtschaftlicher Tätigkeit in den Kolonien zu erkunden. Im Bereich der dt. Kolonien traf ersteres v. a. auf die 1908–1910 durchgeführte große →Hamburger SüdseeExpedition zu, letzteres auf eine Reihe kleinerer E. in den dt. Kolonien in Afrika. 256
Q: Alexander Kuhn, Bericht über die im Jahre 1901 nach Dt.-Südwestafrika entsandte technische Studienexpedition für Bewässerungsanlagen, Berlin 1904. Georg Thilenius, Ergebnisse der Hamburger Südsee-Expedition 1908–1910, 9 Bde., Hamburg 1927ff. L: Markus Schindelbeck, Dt. wissenschaftliche E. und Forschungen in der Südsee bis 1914, in: Hermann Joseph Hiery, Die dt. Südsee 1884–1914, Paderborn u. a. 22002, 132–155. CH R ISTO PH K U H L
Exterritorialität. Bezeichnet die durch das Völkerrecht begründete Ausnahme bestimmter Personen und Sachen von der Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt des Gaststaates. Art und Ausmaß der E. ergeben sich aus völkerrechtlichen Vereinbarungen und dem Gewohnheitsrecht. Genießt etwa ein Bürger des Landes A im Land B das Privileg der E., so sind seine Person wie sein Eigentum jedem richterlichen oder administrativen Zugriff des Gastlandes entzogen. Er darf in diesem Fall in Land B nicht vor Gericht gestellt, sondern muß zur Aburteilung an sein Heimatland überstellt werden. Dies trifft v. a. für das Diplomatische Corps zu. Entspr. ist ein exterritoriales Gebiet ein Gebiet, in dem lokales →Recht keine Anwendung findet. Beispiele sind diplomatische und konsularische Vertretungen, deren Grundstücke zwar Teile des Territoriums des Gastlandes bleiben, jedoch nicht dessen Rechtsprechung unterliegen. Die Ursache für die E. entspringt einerseits den Notwendigkeiten des diplomatischen Verkehrs, andererseits dem Grundsatz von der Gleichheit aller Staaten, der es verbietet, daß ein Staat der Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt eines anderen Staates unterworfen ist. Otto Franke, Zur Geschichte der Exterritorialität in China, in: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1935, 884–944. James E. Hoare, Extraterritoriality in Japan, 1858–1899, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan, 3. Serie, Bd. 18, Juli 1983, 71–97. H A R A LD WIPPICH Eyadema →Gnassingbe Fa‘a Samoa. Eine gängige samoan. Redensart, auf Dt. etwa: „samoan. Art u. Weise“; „das ist in S. Brauch u. Sitte“. Für Samoaner identitätsverstärkend u. zugleich Fremde – →Papalagi (nicht nur Europäer, sondern auch andere Südseeinsulaner) – ausschließend, dient das Schlagwort zunehmend dazu, unerwünschte Kritik von außen abzuweisen u. ein weiteres Hinterfragen von vornherein unmöglich zu machen, im Sinne von: „Das versteht Ihr nicht!“, bzw.: „Das könnt ihr gar nicht verstehen“ (weil ihr eben keine Samoaner seid). Diese erweiternde Bedeutung von „so läuft’s halt auf S., ob es euch paßt oder nicht“, wird in S. häufig als Rechtfertigung für alles und jedes gebraucht. Dabei ist es durchaus fragwürdig, ob alles so samoanischer Brauch u. samoanische Sitte ist, was als solche(r) tabuisiert (→Tabu) wird. F.S. dient im innersamoan. Diskurs auch dazu, alters- u. geschlechtsspezifische Strukturen u. Hierarchien sowie zweifelhafte Verhaltensweisen sakrosankt erscheinen zu lassen. Immer stärker wird aber
fAi d h erbe, l o u i s léo n cés Ai re
von jüngeren Samoanern in Frage gestellt, ob geduldete Praktiken wie etwa Inzest, die mit F.S. entschuldigt werden, tatsächlich F.S. reflektieren. Kennedee Jeffs, Fa‘a Too Much, in: Spasifik 13 (2006), 32–33. Feleti Ngan-Woo, Fa‘a Samoa. The World of Samoans, Auckland 1985. Serge Tcherkézoff, FaaSamoa, une identité polynésienne, Paris u. a. 2003. HE RMANN HI E RY
Fabelwesen. Europäische Bezeichnung für Tiere und Menschen, die in Sagen, Märchen oder Fabeln als Ausgeburten menschlicher Phantasie vorkommen, die aber nie wirklich existierten. V. a. in frühen europäischen Kontakt- und Reiseberichten über außereuropäische Kulturen und in außereurop. Historien finden sich eine Fülle von F. Methodenkritisch werden sie häufig als Beleg dafür verwendet, daß solche Reisen und Kontakte nicht wirkliche Ereignisse, sondern nur Phantasieberichte darstellten (→Polo, Marco) und daß außereurop. Chroniken nichts anderes sind als Sagen u. Mythen. F. sind zu trennen von Geistwesen, Gespenstern und Dämonen. Während jene in außereuropäischer Vorstellung zwar auch reell existieren können, aber der Sphäre des Übernatürlichen angehören, gelten F. in vielen außereuropäischen Kulturen als reale, natürliche Lebewesen mit auffälligen körperlichen Merkmalen, die historisch existierten, aber verschwunden oder durch den Menschen verdrängt worden sind. Dazu zählen andere Menschenarten, insbesondere Zwerge und Riesen (im ganzen Inselpazifik), Mischwesen zwischen Tier und Mensch (Chimären), wie Kynokephalen (hundsköpfige Menschen: Ägypten, Australien, Indien, Persien), Löwen- (Ägypten, Persien, Singapur), Echsen- (Ägypten, Mikronesien), Fisch- (Assyrien, Babylon, weltweit) und Vogelmenschen (Garuda: Indien, Südostasien). Bei den F.tieren sind das Einhorn (qilin in China, Europa, Indien, Korea, Persien), der Drache (Amerika, China, Europa, Melanesien, Vorderer Orient) und verschiedene Riesenvögel (Rokh, arab. Arruḫḫ; Peng und Fenghuang in China) besonders auffällig. In eurozentrischen, interpretativen Übersetzungen gehen die Charakteristika indigener Bezeichnungen für F. verloren. Bekannt ist die automatische Substitution von Nashorn für Einhorn (Vorderer Orient, Nordindien) oder Krokodil für Drache (Melanesien), selbst dann, wenn indigene Namen zwischen Tier und F. deutlich unterscheiden. Neuere europ. Forschungsansätze gehen davon aus, daß F.tieren wirkliche Tiere zugrunde liegen, die durch Überlieferung überzeichnet wurden (Reichholf). Weitergehende Erklärungen, die in F. tatsächlich existente, aber mittlerweile ausgestorbene Kreaturen sehen, stehen außerhalb der Wissenschaft (sog. Kryptozoologie). Josef H. Reichholf, Einhorn, Phönix, Drache. Frankfurt/M. 2012. Rudolf Wittkower, Die Wunder des Ostens. Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In: Ders., Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 2002, 87–150. Salome ZajadaczHastenrath, Fabelwesen, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 6. München 1973, 739–816. HE RMANN HI E RY
Fabri, Friedrich, * 12. Juni 1824 Schweinfurt, † 18. Juli 1891 Würzburg, □ unbek., ev.-luth. F. entstammte einer fränkischen Pfarrersfamilie, wirkte seit 1848 als Würzburger Stadtvikar und übernahm 1851 eine Patronatspfarrei in der Nähe von Kissingen. 1857 erhielt er eine Berufung auf den Posten des leitenden Inspektors der →Rheinischen Missionsgesellschaft in Wuppertal-Barmen. Das Erlebnis der 1848er Revolution hatte ihn zu der Suche nach einer konservativen, sozialdefensiven „Lösung der großen sozialen Frage“ geführt. Standen seine christl.-konservativen Lösungsvorschläge zunächst noch unter dem Einfluß des Gemeinschaftsideals der →Erweckungsbewegung und dem Rettungsgedanken der Inneren Mission, so trat durch die Erfahrungen des frühen Industriekapitalismus im Wupper-Tal der ökonomische Aspekt der „sozialen Frage“ in den Vordergrund. Zu ihrer Lösung sollten auch die dt. Kolonien dienen, deren wirksamster und einflußreichster Propagandist F. wurde. Vehement propagierte er, nicht zuletzt in seiner in Massenauflage verbreiteten Schrift „Bedarf Deutschland der Kolonien“ (1879), eine Exportoffensive an Waren, Kapital und Menschen durch überseeische „Massenauswanderung“ (→Auswanderung). 1884 zwang ihn allerdings seine kolonialpropagandistische Betriebsamkeit mit der umlaufenden Rede von „F.s Mißwirtschaft“ – steigende Verschuldung der Mission und Zusammenbruch der von ihm 1869 gegründeten „Missions-Handels-Gesellschaft“ – zum Abschied vom Barmer Missionshaus. Er behielt jedoch seine einzigartige Stellung im Management der organisierten Kolonialbewegung, seine Berater- und Vermittlerfunktion zwischen Missionsgesellschaften, Reichsreg. und kommerziellen Interessen sowie nicht zuletzt seine Rolle als Vertrauensmann Otto von →Bismarcks. 1889 erhielt er eine Honorarprofessur an der Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Schließlich engagierte sich F., trotz seines vielfältigen Schrifttums mehr Praktiker als geistiger Anreger, in der Diskussion um das Verhältnis von Staat und Kirche, wobei er insg. eine stärkere Zurückdrängung des Staates aus der Kirche verlangte. Klaus J. Bade, Friedrich Fabri u. d. Imperialismus der Bismarckzeit, Freiburg i. Br. 1975. F. W. R. Schmidt, Mission, Kirche u. Reich Gottes bei Friedrich Fabri, Stuttgart 1965. H O R ST G RÜ N D ER Faidherbe, Louis Léon Césaire, * 3. Juni 1818 Lille, † 28. September 1889 Paris, □ Cimetière de l’Est, Lille, Religion unbek. Der spätere General und Kolonialbeamte besuchte nach der École Polytechnique ab 1840 die Ingenieurschule in Metz. 1844–1847 diente er in →Algerien, 1848/49 in Guadeloupe und danach wieder in Algerien, wo er an mehreren Expeditionen gegen die Kabylen teilnahm. 1852 wurde F. in den →Senegal versetzt und war 1854– 1863 Gouv. der Kolonie. In der damaligen Hauptstadt St. Louis richtete er u. a. eine nichtkonfessionelle Schule ein. In die Kolonialgeschichte ging F.s Name v. a. wegen seiner Verdienste um die frz. Expansion in Westafrika ein. Er verfolgte hier eine Art „Flußpolitik“, indem er entlang der Flüsse Verträge mit lokalen Herrschern abschloß. Sein besonderes Problem war die Rekrutierung 257
fA i l e d s tAt e s
von Soldaten. Nach dem Bau der Festung von Podor begann er 1857 mit der Ausbildung afr. Soldaten, die unter dem Namen →Tirailleurs sénégalais bekannt geworden sind. Mit diesen Truppen führte er von St. Louis aus Feldzüge nach Süden und bekriegte den musl. Führer al-Hajj Umar Tal, der sich gegen die frz. →Eroberung zur Wehr setzte. Die Niederlage von Umar Tal war die entscheidende Ursache der verbreiteten FrankreichFeindschaft am Senegal in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. F. seinerseits war an einem Ausgleich mit dem →Islam und mit lokalen Kulturen interessiert. Im Rahmen seiner politique d’association kooperierte er u. a. mit einflußreichen Religionsgelehrten, finanzierte ihnen Pilgerreisen nach Mekka und ließ islamische Gerichtshöfe einrichten. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurde F. mehrfach Abgeordneter in der Nationalversammlung sowie im Senat. Ein Bahnhof der Pariser U-Bahn ist nach ihm benannt. Leland Barrows, Louis-Léon César Faidherbe, in: L. H. Gann / Peter Duignan (Hg.), African Proconsuls, New York 1978, 51-79. Myron Echenberg, Colonial Conscripts, 1991. David Robinson, La guerre sainte d’alHajj Umar, Paris 1988. YOUS S OUF DI AL L O
Faisal I., * 20. Mai 1883 Ta’if (→Hedschas), † 8. September 1933 Bern, □ Mausoleum in Bagdad nicht erhalten, musl. Geboren als dritter Sohn des Großscherifen Hussein ibn Ali von Mekka, dessen Familie sich vom Urgroßvater Mohammeds, Hāschim ibn ’Abd al-Manāf, ableitet. 1913 Abgeordneter des Hedschas im osmanischen Parlament. 1915 Anschluß an die durch die Briten geförderte arab. Nationalbewegung. Ab 1916 gemeinsam mit Oberst Lawrence Guerillaaktionen gegen →Hedschas-Bahn und osmanische Stützpunkte. Als Sprecher der →Araber auf den Pariser Vorortskonferenzen Eintreten für arab. Unabhängigkeit. Am 3.1.1919 gemeinsam mit Chaim Weizmann Unterzeichnung des Abkommens, das d. →Balfour-Deklaration billigte. Am 7.3.1920 Proklamierung zum Kg. von Syrien durch syrischen Nationalkongreß, jedoch von Mandatsmacht Frankreich vertrieben. Daraufhin am 23.8.1921 durch Mandatsmacht Großbritannien zum Kg. des Irak bestellt und durch Volksabstimmung bestätigt.1930 erreichte er durch Freundschaftsvertrag mit Großbritannien (formale) Unabhängigkeit des Landes, 1932 seine Aufnahme in den →Völkerbund.
Failed States. Die Staatsrechtslehre geht davon aus, daß ein Gemeinwesen als Staat bezeichnet werden kann, wenn es über ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt verfügt. Unter Staatsgewalt ist dabei im Anschluß an den Soziologen Max Weber die Fähigkeit des Staates zu verstehen, innerhalb seiner Grenzen das Monopol auf die legitime Ausübung von Gewalt, d. h. auf die gesetzlich eingehegte Anwendung physischer Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zu errichten und dauerhaft zu behaupten. Der Begriff F. S. (dt. gescheiterte Staaten) bezeichnet Gemeinwesen, in denen dieses Monopol nicht aufrechterhalten, d. h. die vom Staat proklamierte Rechtsordnung gegen systematische Mißachtung nicht durchgesetzt werden kann. Die meisten F. S. liegen auf dem afr. Kontinent, als Paradebeispiel gilt →Somalia. Viele F. S. waren Kolonien europäischer Staaten, was einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern der postkolonialen Eigenstaatlichkeit und der kolonialen Herrschaftspraxis nahelegt, die in der Regel nicht der Staatsorganisation des jeweiligen Mutterlandes entsprach. Vielmehr wurden viele Kolonien mit einem sehr kleinen europäischen Beamtenstab unter ausgeprägter Mitwirkung lokaler indigener Machthaber regiert. So entstand in den Kolonien keine Tradition moderner europäischer Staatlichkeit, an die nach der →Dekolonisation hätte angeknüpft werden können. Zumeist sind die indigenen →Ethnien Anhänger ihrer traditionellen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen geblieben. Die Rechtsordnungen der postkolonialen Staaten werden, sofern sie sich an europäischen Vorbildern orientieren, gegenüber den traditionellen Vorstellungen oft als unbeachtliche artifizielle Konstrukte empfunden. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 22000. Harvey Starr (Hg.), Dealing With Failed States, London 2009. CHRI S TOP H KUHL
Falkenthal, Ernst, * 5. April 1858, † 8. März 1911 Stettin, □ u. Religion unbek. Nachdem →Bismarcks Charterplan-Konzept gescheitert war, wurde 1885 der Jurist F. in der Position eines ksl. Kommissars als erster Beamter in die Kolonie →Togo entsandt. Gemäß § 35 der Kongo-Akte mußte das Dt. Reich zur Wahrung der Gebietsansprüche das Vorhandensein einer Obrigkeit zusichern. F. baute in Togo eine „Polizeitruppe“ (→Polizei) auf (Erlaß vom 30.10.1885), die einen militärischen Charakter aufwies. Ferner forcierte er die Ausdehnung der Kolonie. Am 1.2.1887 legte er mit dem stellv. Gouv. Bayol die Grenze zu den frz. Besitzungen in Dahomé (→Benin) fest. F. verließ 1887 Togo aus gesundheitlichen Gründen. Peter Sebald, Togo 1884–1914, Berlin 1987, 96f. Bettina Zurstrassen, „Ein Stück dt. Erde schaffen“. Koloniale Beamte in Togo 1884–1914, Frankfurt/M. 2008, 12f.
258
G ERH A R D H U TZLER
B ETTIN A ZU RSTR A SSEN
Falklandinseln. Die F. liegen zwischen 52° Süd und 50° West 600 km östlich von →Argentinien und bestehen aus 200 Inseln. Die wichtigsten Inseln sind die West- und Ost-F., mit einer Größe von je 6 000 km2. Sie werden durch den Falklandsund getrennt. Die Hauptstadt ist Stanley mit ca. 2 000 Ew. Der höchste Punkt ist der Mount Usborne mit einer Höhe von 708 m über dem Meeresspiegel. Das subarktische →Klima ist kalt und regnerisch, so daß die durchschnittliche Jahrestemperatur bei nur 5° C liegt. Die heutige Bevölkerung setzt sich aus Einwanderern von den Brit. Inseln, die seit 1830 ins Land kamen, zusammen. ⅔ der Bevölkerung konzentriert sich in Port Stanley, dem Hauptort der West-F. Die übrige Bevölkerung lebt in 120 Orten mit jeweils weniger als 50 Ew. Nach einer Volkszählung von 2004 lebten 2 913 Menschen auf der Insel. Die Sprache der Bevölkerung ist eine Mischung aus Schottisch und Norfolk-Englisch. Überwiegend ist die Konfession als anglik.-protestan-
fA rbs to f f e
tisch zu bezeichnen. Die anglik. Kirche untersteht direkt dem Erzbischof von Canterbury. Die wichtigsten Wirtschaftsgüter sind Schafe und Fische. Die Inselgruppe wurde 1592 durch den engl. Seefahrer John Davis entdeckt, doch erst 1690 durch John Strong erforscht und nach dem Grafen von Falkland benannt. 1764 gründete der frz. Seefahrer Louis Antoine de →Bougainville die erste Siedlung auf der frz. benannten Inselgruppe: Les Nouvelles Malouines. Seit 1766 befand sich die Insel in span. Besitz, seit 1837 in brit. Die Inselgruppe sollte bis 1982 ein Streitpunkt zwischen Großbritannien und Argentinien bleiben und wurde nach dem Falklandkrieg 1982 endgültig als Großbritannien zugehörig betrachtet. Seit 1985 haben die Inseln eine eigene Verfassung, welche die Staatsvertretung aus Parlament und Gouv. konstituierte. Die Parlamentsmitglieder werden nach dem Annuitätsprinzip gewählt. ANDRE AS L E I P OL D Fanon, Frantz, * 20. Juli 1925 Fort-de-France, † 6. Dezember 1961 Bethesda, □ Märtyrerfriedhof, Aïn Kerma, Algerien, rk. F. wurde 1925 auf der Karibikinsel →Martinique geboren. Seine Eltern finanzierten seine Schulbildung im Privatlycée Schoelcher. Dort unterrichtete ihn u. a. Aimé Césaire, der die Négritude-Bewegung konzipierte. Im →Zweiten Weltkrieg schloß sich F. freiwillig der frz. Armee an. 1947–1951 studierte er Medizin und Philosophie in Lyon. Im 1952 erschienenen „Peau Noire, Masques Blancs“ zeigt F. die ethnozentrische Überbewertung des Weißen auf, die zur Übernahme der weißen Denkweise durch den Schwarzen führe. 1953 wurde er Chefarzt des Militärhospitals in Blida-Joinville, Algerien, und erlebte dort die Grauen des →Algerienkrieges, die „Les Damnés de la Terre“ (1961) prägten. F. setzte fortan stärker auf das Mittel der Gewalt zur →Emanzipation des Kolonisierten. Er verließ 1956 das Militärhospital und schloß sich der „Front de Libération Nationale“ an, die für eine gewaltsame Befreiung Algeriens eintrat. 1961 starb er in den →USA an Leukämie. F. gilt als einer der wichtigsten Theoretiker zur Frage der →Dekolonisation. Seine Werke wurden von zahlreichen →Befreiungsbewegungen rezipiert. Frantz Fanon, Les Damnés de la Terre, Paris 1961. David Macey, Frantz Fanon, London 2000. Albert Memmi, „The Impossible Life of Frantz Fanon“, Massachusetts Review 14 (1973), 9–39. ROL AND WI CKL E S Farbstoffe (bis ins 18. Jh. als Farbezeug, Färbermaterialien, colores tinctorum) sind lösliche Substanzen mit der Eigenschaft, Materialien zu färben (im Gegensatz dazu die unlöslichen Pigmente). Verwendung: überwiegend zum Färben und Bedrucken von Textilien; lediglich zu einem geringem Anteil in der Malerei, der Medizin und Pharmazie, beim Färben von Lebensmitteln, Federn, →Leder, Haaren etc. sowie für Tinte. Vor der Synthese künstlicher F. im 19. Jh. waren ausschließlich Natur-F. verfügbar. Diese werden unterschieden nach 1) ihrer chemischen Natur in anorganische und organische; 2) ihrem Ursprung in mineralische, tierische (Purpur, Cochenille, Kermes) und pflanzliche (Indigo, Krapp, Farbhölzer); 3) ihrer Anwendung in Direkt-F., Küpen-F. (Waid, Indigo,
Purpur), die zur Anwendung einer Fermentation bedürfen, und Beiz-F. (Krapp, Blauholz), vor deren Auftrag eine Behandlung des zu färbenden Materials notwendig ist. Die Anwendung erfolgt mit sog. „Hilfsstoffen“ (Beizen, Dickungsmittel, Appretturen); Alaun, Pottasche, Schwefelsäure, Gummi Arabicum u. andere nicht färbende „Textilchemikalien“ gehörten daher ebenso zum Stammsortiment eines F.händlers. Neben den traditionell in Europa verwendeten, zumeist heimischen F., v. a. die Pflanzen-F. Waid, Wau und Krapp; Rinden- und Flechten-F. (Quercitron, Orseille), sowie die aus dem Mittelmeerraum importierten Galläpfel, fanden seit dem 17. Jh. aus tropischen Ländern auf dem Seeweg importierte F. außerordentlichen Absatz in den entstehenden großangelegten Manufakturen und ersten „Fabriken“ der Textilveredelungsgewerbe. Insb. die mit diesen außereuropäischen haltbaren F. bedruckten Baumwollstoffe (Kattune, →Baumwolle) wurden zu Modeartikeln der Zeit, die in der Folge eines Technologietransfers seit dem ausgehenden 18. Jh. aus Nordwesteuropa weltweit exportiert wurden. Große Mengen Indigo (aus dem ind. Raum, Mittel- und Nordamerika und der →Karibik), Cochenille (aus Zentralamerika) und Farbhölzer (aus Mittel- und Südamerika) füllten die Speicher europäischer Großkaufleute, welche sich zunehmend auf die außereuropäischen F. spezialisierten. Europäische Länder mit eigener F.produktion und protektionistischer Wirtschaftspolitik sprachen hingegen noch bis ins 18. Jh. Verbote für die importierten „Teufelsfarben“ aus (Frankreich, Großbritannien, dt. Länder). Der Beruf des Färbers war durch Zunftgesetze unterteilt in den 1) Schwarzfärber oder Schlechtfärber, der mit den traditionellen Techniken heimische, „schlichte“ Direkt-F. verarbeitete, und den 2) Kunstfärber oder Schönfärber, dessen Gilden es in Europa seit Beginn des 17. Jh.s erlaubt war, die importierten „guten Farben“ mit Baumwolle zu verarbeiten. Der engl. Chemiker Charles O’Neill führte 1860 in seiner Klassifikation die folgenden häufig verwendeten Natur-F. an: Indigo aus der Indigopflanze (blau), Blauholz (Blau, violett und schwarz), Krapp oder Färberröthe (rosa und rot, violett und schwarz, hellrot, Schokoladentöne), Brasilholz (→Brasilholzgewinnung) (rot, braun und schwarz), Cochenille und Kermes aus Schildläusen (rot, blutrot und scharlachrot, violett und pfirsichfarben) Färberwau und Fustikolz (gelb, grau(-braun), olivenfarben), Quercitron aus der Färbereichenrinde und Safran (gelb), Orseille oder Lackmusflechte (rot, violett), Catechu oder GerberAkazie (braun und grau), Galläpfel (schwarz und grau). Die F. waren seit dem ausgehenden 17. Jh. von besonderem Interesse in den entstehenden Naturwissenschaften (Physik, Chemie). Mit der Synthese von Mauvein (1856), Fuchsin (1858), Alizarin (1869) und schließlich Indigo (1878) wurde eine umwälzende Entwicklung der Farbenindustrie eingeleitet, in der Deutschland die Führung übernahm, seine Vormachtstellung jedoch nach dem Ersten Weltkrieg zugunsten von Frankreich und Großbritannien verlor. Vielen der f.produzierenden Regionen in Übersee kam innerhalb kurzer Zeit ihre wirtschaftliche Grundlage abhanden. Augustí Nieto-Galan, Colouring Textiles, Dordrecht 2001. Charles O’Neill, Chemistry of Calico Print259
fA r uk i .
ing, Dyeing and Bleaching Including Silken, Woollen and Mixed Goods. Practical and Theoretical, London 1860. Helmut Schweppe, Handbuch der Naturfarbstoffe, Landsberg am Lech 1992. ANJA T I MME RMANN Faruk I., * 11. Februar 1920 Kairo, † 18. März 1965 Rom, □ Al-Rifa’i Moschee / Kairo, musl. Sohn Kg. Fuads I. von →Ägypten. Thronbesteigung 1936, bis 1937 unter Regentschaftsrat. Wegen Willkürherrschaft, Günstlingspolitik, persönlicher Bereicherung und angeblicher Bevorzugung der koptischen Minderheit schnell Verlust des Rückhalts in der Bevölkerung. Im →Zweiten Weltkrieg von Großbritannien gezwungen, angeblich achsenfreundliche Reg. seines Vertrauens zu entlassen. Versuch, die Niederlagen im 1. Palästinakrieg gegen Israel durch Annahme des Titels „Kg. von Ägypten und des →Sudan“ 1951 zu kompensieren und mehr Einfluß auf den als →Kondominium zusammen mit Großbritannien verwalteten Sudan zu gewinnen, blieb erfolglos. Durch einen von Naguib und →Nasser geleiteten Offiziersputsch am 26.7.1952 zum Thronverzicht zu Gunsten seines Sohnes Fuad II. 1952 gezwungen. Nach Ausrufung der Rep. am 18.6.1953 ging F. mit Familie nach Italien ins Exil. Dort machte er nur durch Exzesse Schlagzeilen. Tod während einer Alkoholorgie. GE RHARD HUT Z L E R
Faschoda-Krise. Nach der →Eroberung des mahdistischen →Sudan 1898 durch anglo-ägyptische Truppen unter dem General und „Sirdar“ (ägypt. Kommandant) Horatio Herbert →Kitchener (1850–1916) kamen sich engl. und frz. Afrikainteressen massiv in die Quere. Zur selben Zeit hatte nämlich der frz. Kapitän Jean-Baptiste Marchand (1863–1934) seinen kleinen, nach dem im →Senegal zu Ruhm gekommenen General →Faidherbe (1818–1889) benannten Dampfer vom Mbomu aus über die Nil-Kongo-Wasserscheide tragen lassen und sich an die Durchquerung des Nilbeckens in okkupatorischer Absicht gemacht. Das Ziel einer frz. →Dakar-Dschibuti-Linie durchkreuzte damit die brit. Kap-Kairo-Idee an einer Stelle, die seit dem Sieg des charismatischen Dongolaners Muhammad Ahmed al-Mahdi (1848–1885) in imperialen Kreisen als unbesetztes Land galt. Als Marchand am 10.7.1898 im ehemals osmanischen Fort Faschoda, ca. 100 km unterhalb des Zusammenflusses von Weißem →Nil und Sobat, die Trikolore hißte und den Ort in Fort Saint-Louis (nach dem Eroberer von Damiette im Nildelta zu Kreuzfahrerzeiten) umbenennen wollte, konnte er zunächst noch mahdistische Restkräfte in die Flucht schlagen, den bald darauf von Kitchener den Nil aufwärts befehligten 5 Kanonenbooten mit ihren 2000 Sudanesen und 100 Cameron Highlanders hatte er aber nichts entgegenzuhalten. Trotzdem weigerte er sich zu weichen, und es bedurfte einer hektischen Krisendiplomatie zwischen London und Paris, bis der frz. Außenminister Delcassé dem nach →Kairo zitierten Leutnant Baratier den Rückzugsbefehl übergab. Von seiner eigenen Reg. enttäuscht, steuerte Marchand nach sechs Wochen vergeblichen Hoffens sein Schiff den Sobat aufwärts bis zum äthiopischen Gambela, wo er es versenkte und mit den Seinigen den Landweg zum frz. Hafen →Dschibuti 260
einschlug. Der nach der Residenz des Priester-Kg.s der nordnilotischen Schilluk benannte Ort wurde 1905 in Kodok umbenannt – der Name sollte nicht weiter die Entente cordiale der beiden Kolonialgiganten belasten – der wirkliche Kg.shof (Faschoda) befindet sich heute etliche Kilometer flußaufwärts. Robert Caix de Saint-Aymour, Fachoda, Paris 1899. BER N H A R D STREC K
Fautua →Ali’i Sili Favela →Canudos Fazenda (dt.: Gut). Der Begriff f. bezeichnet im Portugiesischen als Kollektivsingular alle kommerzialisierbaren Güter; als f., f. do rei oder f. real konnte auch der Fiskus gemeint sein. Im engeren und meist gebrauchten Sinne ist eine f. ein landwirtschaftlicher Betrieb, der sich auf die Produktion großer Mengen eines meist für den überregionalen Markt bestimmten Erzeugnisses konzentriert. Obwohl unterschiedlicher Größe, meint f. in der Regel einen Großgrundbesitz, auf dem entweder Monokulturen angebaut oder Viehzucht betrieben wurde. Typische Erzeugnisse einer f. waren →Tabak, →Baumwolle oder Rinder, im 18. Jh. auch zunehmend →Kaffee. Für den Zuckeranbau (→Zucker) fand der Begriff auch auf Betriebe Anwendung, die im Gegensatz zum →Engenho nicht über eigene Zuckermühlen und -siedereien verfügten. Größe und Produktion einer f. paßten sich den gelegentlich wechselnden Umständen der Produktion und den Gegebenheiten des Marktes an; damit blieb auch die Rendite beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Nicht selten wurde der Betrieb einer f. aufgeben oder diese verkauft. Auf Grund ihrer oft von größeren Ansiedlungen weit entfernten Lage stellten f.s weitgehend geschlossene wirtschaftliche und soziale Einheiten dar. Als eine solche Einheit hat die f. von der Forschung weit weniger Aufmerksamkeit erfahren als ihr hispanoam. Äquivalent, die →Hacienda (→ingenio). Stuart B. Schwartz, Sugar Plantations in the Formation of Brazilian Society, Cambridge u. a. 1985. C H R ISTIA N H A U SSER
Federated States of Micronesia →Föderierte Staaten von Mikronesien Federmann, Nikolaus, * um 1505 Ulm, † 22./23. Februar 1542 Valladolid, □ u. Religion unbek. (v. d. Inquisition als Lutheraner verdächtigt) Anfang 1530 führte F. Siedler und Bergleute in die Kolonie →Venezuela, die →Karl V. 1528 dem Augsburger Handelshaus →Welser übertragen hatte. Nachdem ihn Gouv. Ambrosius Dalfinger zu seinem Stellvertreter ernannt hatte, brach F. im Sept. 1530 von Coro aus mit 110 Fußsoldaten, 16 Reitern und indianischen Trägern ins Landesinnere auf, um das „Südmeer“ zu suchen und Gold zu erbeuten. Die Expedition drang bis ins Tal von Barquisimeto vor, mußte dort aber umkehren und traf im März 1531 wieder in Coro ein. F.s Bericht über diese Reise wurde 1557 posthum als Indianische Historia gedruckt. Nach einem Aufenthalt in →Augsburg kehrte
f erd i nA n d v i.
F. 1534 als Generalkapitän gemeinsam mit dem neuen Gouv. Georg Hohermuth von Speyer nach Venezuela zurück. Nachdem Letzterer zu einem Zug ins Landesinnere aufgebrochen war, führte F. 1537–1539 eine Expedition ins Hochland von Bogotá, wo er auf die Conquistadoren Jimenez de Quesada und Benalcázar traf. Gemeinsam gründeten die drei Truppenführer die Stadt Santa Fé de Bogotá. Um seine Rechte geltend zu machen, reiste F. anschließend über →Cartagena nach Flandern, wo die Welser ihn wegen Untreue und Verletzung seiner Dienstpflichten verklagten. Um sich vor dem Indienrat zu rechtfertigen, begab sich F. 1541 nach Spanien, wo er inhaftiert wurde, erkrankte und starb. Jörg Denzer, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika (1528–1556), München 2005. MARK HÄBE RL E I N
Feitoria (dt. = Faktorei) ist die port. Bezeichnung für einen Handelsstützpunkt. Im europäischen Spätmittelalter schlossen sich Kaufleute im Ausland in nach Herkunft organisierten Niederlassungen, sog. Faktoreien, zusammen. Im Verlaufe der Expansion Portugals nach Übersee wurden seit dem frühen 15. Jh. Handelsposten an den Küsten Afrikas und Asiens, später auch →Brasiliens mit einheimischer Erlaubnis angelegt. Die erste F. Brasiliens wurde um 1503 nördlich von →Rio de Janeiro errichtet. In der Frühzeit der Landnahme dienten die Faktoreien dabei v. a. der Lagerung des Brasilholzes (→Brasilholzgewinnung), bevor dieses nach Europa verschifft wurde. F.s bildeten die Grundlage einer Handelskolonisation, die zunächst nicht auf umfassende Landnahme, sondern auf die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit der Bevölkerung vor Ort abzielte. Hoheitsansprüche wurden, meist ohne Erfolg, v. a. gegenüber anderen europäischen Herrschern geltend gemacht. In noch geringerem Maße als in Afrika oder Asien übernahmen F.s in Brasilien militärische oder diplomatische Funktionen. Die Gründung von Faktoreien stellte letztlich keinen wirksamen Schutz gegen das Eindringen anderer europäischer, besonders frz. Färbholzhändler nach Brasilien dar. Während der Regentschaft von João III. wurde dieses Modell deshalb ab 1530 zugunsten von Siedlungskolonien aufgegeben. Einige F.s bildeten dabei den Ausgangspunkt späterer Ansiedlungen. Virgínia Rau, Feitorias e feitores, in: Brotéria 81 (1965), 458–477. CHRI S T I AN HAUS S E R Fellmann, Heinrich, * 25. Dezember 1872 Atzhausen bei Gerolzhofen / Grabfeldgau, † 26. Juli 1946 Ludwigsburg, □ Alter Ludwigsburger Friedhof, method. F. war 1896–1912 als Missionar der methodistischen Wesleyanischen Gemeinschaft im →Schutzgebiet Dt.Neuguinea tätig. Die Eingeborenen, die ihn lib mista pelman nannten, schätzten ihn. →Gouv. →Hahl berief ihn in den Gouvernementsrat und zum (Hilfs)Beisitzer des Obergerichtes in Herbertshöhe bzw. Rabaul. 1909 übersetzte er Teile der Bibel in die Tolai-Sprache →Kuanua. 1912 ging F. nach Sydney, um die Leitung der dt. methodistischen Gemeinde Australiens zu übernehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Deutschland zurück. Zeitweise war er Missionsdirektor der methodis-
tischen Mission, zuletzt 1939–1945 Superintendent der Württembergischen Methodistischen Kirche. F. fertigte im Schutzgebiet zahlreiche Fotos ethnologisch interessanter Objekte, von denen zeitgenössische Abzüge durch den Gouv. in die völkerkundliche Sammlung der Nürnberger Naturhistorischen Gesellschaft gelangten. Ulrich Fellmann (Hg.), Von Schwaben in den Bismarckarchipel. Wiesbaden 2009. Karl Voigt, Fellmann, Heinrich, in: Bautz Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVII, Nordhausen 2000, 367–377. G ERH A R D H U TZLER
Ferdinand VI., * 23. September 1713 Madrid, † 10. August 1759 Villaviciosa de Odón, □ Kirche Salesas Reales / Madrid, rk. F. war der Sohn →Philipps V. aus erster Ehe und seit Juli 1746 Kg. von Spanien. Er setzte die merkantilistische Politik seines Vaters fort, indem er die industrielle Produktion von Luxusgütern in span. Manufakturen förderte, während die überseeischen Gebiete als Rohstofflieferanten dienen sollten. In Spanien baute man das Intendantenwesen aus, das zum Ziel hatte, administrative Aufgaben direkt der staatlichen Hoheit zu unterstellen und damit alte persönliche Abhängigkeiten in den Provinzen abzulösen. Unter der Führung des Ministers Ensenada wurden zudem private Steuerpächter durch staatliche Beamte abgelöst. In Hispanoamerika erhielten die Vize-Kg.e den Titel des General-Superintendanten der Finanzen und den Auftrag, die wichtigen Verbrauchssteuern in staatliche Verwaltung zu übernehmen. Die Einführung des Intendantenwesens schien dort aber zu riskant. Die deutlichen Mehreinnahmen, die aus der Reform der Fiskalverwaltung resultierten, nutzte Ensenada zum Ausbau der Befestigungsanlagen, zur Verbesserung der Infrastruktur und zum Ausbau der Flotte. Zugunsten des Flottenbaus kürzte Ensenada die Mittel des stehenden Heeres und förderte dafür die Provinzialmilizen. In der Verwaltung setzte man zunehmend Personen ein, die aus dem niederen Adel stammten und die Militärlaufbahn durchlaufen hatten. Auch dies schwächte alte Abhängigkeiten und stärkte die Position der Krone. Der Ämterkauf wurde weitgehend abgeschafft, was in →Amerika den Zugang der kreolischen (→Kreole) Oberschicht zur Ämterlaufbahn, die sie bis dahin dominierte, einschränkte. Der Förderung des Handels sollte die Ersetzung der Handels- und Konsumsteuern durch die sog. única contribución dienen, die den Landbesitz belasten sollte, weshalb das Vorhaben am Widerstand von Adel und Klerus scheiterte. Man förderte die naturwissenschaftlichen Studien in den Militärakademien, gründete dazu 1753 das Observatorium von Cadiz und entsandte wissenschaftliche →Expeditionen nach Amerika. Die Historie erhielt ebenfalls eine wichtige Rolle, als vor Abschluß des Konkordates von 1753 mit der Kurie eine großangelegte Suche nach Archivalien durchgeführt wurde, die die Position der span. Reg. stärken sollten. 1748 wurde die Real Academia de la Historia gegründet, 1752 zur Förderung der Künste die Real Academia de Bellas Artes de San Fernando. All diese Projekte wurden ermöglicht durch die konsequente Friedenspolitik des Herrscherpaares. F.s Ehe mit Barbara von Braganza blieb kinderlos, 261
f e r nánde z d e o v i ed o y vAld é s , g o n z A lo
so daß die Krone nach seinem Tod an seinen Halbbruder →Karl III. fiel. José Miguel Delgado Barrado, El proyecto político de Carvajal, Madrid 2001. José Luis Gómez Urdáñez, El proyecto reformista de Ensenada, Lleida 1996. AL E XANDRA GI T T E RMANN
Fernández de Oviedo y Valdés, Gonzalo, * 1478 Madrid, † 26. Juni 1557 Santo Domingo, □ unbek., rk. Der Sproß einer asturischen Adelsfamilie verbrachte – gemeinsam mit dem Kolumbus-Sohn (→Kolumbus) Diego Colón – einen Teil seiner Jugend im Gefolge des Prinzen Juan. Als dieser 1497 starb, begab sich F. nach Italien. Dort trat er in den Dienst des Herzogs von Mailand, Ludovico Sforza, an dessen Hof er nach eigenen Angaben die Bekanntschaft mit Leonardo da Vinci machte. Bald setzte er seine Reise durch Italien nach Süden fort mit Stationen u. a. in Mantua, Rom und Neapel. Als er im Alter von 24 Jahren nach Kastilien zurückkehrte, bemühte er sich wieder um eine Anstellung bei Hof, zeitweise arbeitete er auch als Notar und Sekretär des Consejo de la Santa Inquisición. Nach einem kurzen Intermezzo als Sekretär des Gran Capitán schloß er sich der Expedition des Pedrarias Dávila an und überquerte 1514 zum ersten Mal den →Atlantik. Zuvor hatte er seine Ernennung zum veedor de las fundiciones de oro de la Tierra Firme erhalten. Bis zu seinem Tode residierte er nun in Las Indias, allerdings unternahm er immer wieder Reisen nach Spanien und behielt die Verhältnisse dort im Blick. Seit 1532 hatte er das Amt eines Cronista de Indias inne. 1533 wurde er zum alcaide der Festung von Santo Domingo (→koloniale Metropolen) ernannt. Umgeben von den Schriften it., span. und antiker Autoren arbeitete er in seinem Domizil in der →Karibik die meiste Zeit unbehelligt an seinem Hauptwerk, der Historia general y natural de las Indias. In den Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit der Herrschaft der „Alten“ über die „Neue“ Welt stand F. auf Seiten derer, die der indigenen Bevölkerung jede zivilisatorische Gleichrangigkeit absprachen. Nicht nur den Gegenspieler von →Las Casas in der berühmten Kontroverse von Valladolid, Juan Ginés de Sepúlveda, versorgte er mit vermeintlichen Belegen „aus erster Hand“ für die Richtigkeit dieser These. Das brachte F. die Todfeindschaft des Bischofs von Chiapas ein. Die Gegnerschaft des Las Casas war wohl auch ein wesentlicher Grund dafür, daß nur der erste der drei Teile der monumentalen Historia zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wurde. Erst 1851–55 erschien die vollständige Fassung. Ebenso blieben bis ins 19. Jh. unveröffentlicht die Quinquagenas de la nobleza de España u. a. kleinere Schriften, die F. als Kenner des (alt-) kastilischen Adels und Hofes ausweisen. Hingegen erlebte der Autor noch den Erfolg seines Sumario de la Historia general y natural de las Indias (1526). F. gehört zu den Zentralgestalten der europäischen Renaissance, die durch ihn (und durch Diego Colón) gleichsam zu einer atlantischen Renaissance erweitert wurde. Die literarischen Defizite seines Oeuvre werden mehr als ausgeglichen durch die perspektivische Vielfalt des Werkes, das in einzigartiger Weise Einsichten in die höfische und humanistische Lebenswelt 262
Europas mit existentiellen Erfahrungen von Natur und Umwelt im frühkolonialen →Amerika verbindet. Jesús María Carrillo Castillo, Naturaleza e Imperio, Madrid 2004. Juan Pérez de Tudela, Vida y escritos de Gonzalo Fernández de Oviedo, in: Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés, Historia general y natural de las Indias, Bd. 1, I-CLXXV. D A N IEL D A MLER Fernando Póo (1973–1979 umbenannt in Macías Nguema Byogo, seit 1979 Bioko). Die 2 017 km2 große Insel im Golf von →Guinea ist heute Teil von →Äquatorialguinea. Das gebirgige Eiland (Pico Basilé, 3 011 m) gehört wie die südwestlich liegenden Inseln Princípe (bis 948 m), São Tomé (bis 2 024 m) und Annabón (bis 600 m) sowie den auf dem nördlichen Festland mit dem →Kamerunberg (4 070 m) sich fortsetzenden Höhenzügen zur vulkanischen Kamerunlinie. F.P. ist die größte Insel im Golf von Guinea und auf Grund ihrer Nähe zum afr. Festland (40 km) als einzige bereits in vorkolonialer Zeit (zwischen 700 und 1000 n. Chr.) von →Bantu (Bubi) besiedelt worden. Der port. Seefahrer Fernando Póo (Fernão do Pó) entdeckte 1472 die nach ihm benannte Insel, der er zunächst den Namen Formosa gab. Die Portugiesen nahmen sie 1474 offiziell in Besitz. Während die zuvor unbewohnten Inseln →São Tomé und Príncipe seit dem 15. Jh. besiedelt und kolonisiert wurden (Zuckerrohrplantagen, →Zucker), beschränkten sich die Portugiesen auf F.P. lediglich auf die zeitweilige Errichtung von Stützpunkten. Die Insel war v. a. für Sklavenjagd und →Sklavenhandel von Bedeutung. 1641/48 scheiterte ein ndl. Versuch sich auf dem Eiland festzusetzen. Portugal übereignete 1777/78 F.P. (sowie Ansprüche auf dem gegenüberliegende Festland und die Insel Annobón) gegen Ansprüche in →Brasilien an Spanien. U. a. wegen des für Europäer ungünstigen →Klimas konnten sich die Spanier zunächst (1778/80) nicht auf F.P. festsetzen. Zur Bekämpfung des Sklavenhandels in Westafrika (und in Abstimmung mit Spanien) errichteten die Briten 1827 den Flottenstützpunkt Port Clarence, der sich zur Hauptstadt F.P.s (und später Span.- bzw. Äquatorialguineas) entwickelte (1843 Santa Isabel, seit 1973 Malabo). Die Briten überließen 1843 die Insel wieder den Spaniern, die ihren Besitzansprüchen neuen Nachdruck verliehen. Seit 1858 residierte ein span. Gouv. in Santa Isabel. Nach dem Vorbild von São Tomé und Príncipe führten die Spanier die Plantagenwirtschaft ein. Durch den arbeitskräfteintensiven Anbau von →Kakao und →Kaffee war F.P. bis zur Mitte des 20. Jh.s auf den Zuzug von Migranten vom afr. Festland angewiesen. (In diesem Zusammenhang führte der teilweise systematische Menschenhandel in →Liberia 1929/30 zum F.-P.-Skandal und zum Rücktritt der liberianischen Reg.). Gemeinsam mit freigelassenen Sklaven, welche die Briten in der 1. Hälfte des 19. Jh.s auf die Insel gebracht hatten, bildeten die Arbeitsmigranten die Bevölkerungsgruppe der Fernandinos, während sich im Landesinnern die einheimischen Bubi, unter dem Eindruck verstärkter Sklavenjagden, seit Mitte des 18. Jh.s zusammengeschlossen hatten. Durch die Plantagenwirtschaft wurde die Insel bedeutendster Teil Span.-Guineas, zu welchem auch das 1885/1900 erworbene Festlandsgebiet Rio Muni (Mbini) und die
f ezzA n
kleineren Inseln Elobey, Annobón und Corisco zählten. Seit 1950 formierte sich in der span. Kolonie eine Unabhängigkeitsbewegung. Der „Provinzialisierung“ 1959/60 folgte die begrenzte Autonomie 1963 und 1968 die Unabhängigkeit als Äquatorialguinea. Bonifacio Ondó Edu, der v. a. von F.P. unterstützt wurde, hatte als Reg.schef 1963–1968 den Weg in die Unabhängigkeit wesentlich mitbestimmt. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen 1968 unterlag Edu seinem Kontrahenten Francisco Macías Nguema, der seine Anhänger eher auf dem Festland hatte. Die blutige Diktatur Nguemas (1968–1979) kostete ca. 40 000 Menschen (d. h. einem Zehntel der Bevölkerung) das Leben und führte zum wirtschaftlichen Niedergang des Landes. Nach einem Putsch gegen Nguema wurde sein Neffe, Gouv. von F.P. und Armeekommandant, Teodoro Obiang Nguema Mbasogo neuer Präs. Äquatorialguineas. Nicht nur die weiterhin restriktive Politik und die Manipulation von Wahlen sichert die Herrschaft Nguema Mbasogos, sondern auch die in den 1990ern vor F.P. und Rio Muni entdeckten umfangreichen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Mariano de Castro / Maria Luisa de la Calle, La colonización española en Guinea ecuatorial (1858–1900), Vic (Barcelona) 2007. Dolores García Cantús, Fernando Póo,Valéncia 2004. Ibrahim K. Sundiata, Equatorial Guinea, Boulder (Colorado) 1990. JÖRG HAUP T MANN
Feste (religiös/kulturell/staatlich) in Südasien. Den ind. Subkontinent kennzeichnet eine enorme sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt. Dies spiegelt sich auch in den zahlreichen F.n der unterschiedlichen Gemeinschaften wider. Neben den Feiertagen der einflußreichen religiösen Traditionen finden sich unzählige regionalund sozialspezifische F., die auf bestimmte Stammes-, Sprach-, Kasten- oder religiöse Gruppen beschränkt bleiben. Bei vielen Religionsgemeinschaften haben sich diverse, als besonders heilig empfundene Orte herausgebildet, die sich historisch zu religiösen Pilgerzentren mit teilweise bedeutsamer politischer und ökonomischer Strahlkraft entwickelt haben. Die meisten der zahllosen Tempel, Schreine und heiligen Orte unterschiedlichster religiöser Zuschreibungen kennen eigene rituelle Feierlichkeiten. Grundsätzlich ist anzumerken, daß sich die Begehungen und mythischen Begründungen religiöser und kultureller Gedenktage durch historische Entwicklungen und Modernisierungsprozesse selbstverständlich immer wieder transformiert haben. Zu den indienweit meist verbreiteten Festivitäten der Hindutraditionen (→Hinduismus) zählen sicherlich das sog. Lichterfest Divali (Dipavali) im Okt./Nov., Dasara (Dussehra) zur Feier des Sieges des Guten über das Böse im Sept./Okt. und das farbenfrohe Holi im Febr./März, zu dessen Anlaß buntes Pulver und gefärbtes Wasser verspritzt wird. Die genauen Daten, Namen und Begehungsformen der Feierlichkeiten können sich regional, je nach vorgestellten mythischen Hintergründen oder →Zeitrechnungen, teilweise erheblich unterscheiden. Durch ihre dominierende Rolle werden viele Hindu-F. auch von einigen anderen Religionsgemeinschaften begangen bzw. wurden mit eigenen religiösen Vorstellungen synthetisiert. Zu
den höchsten Feiertagen der Sikh Gemeinde (→Sikhismus) zählen insb. die Geburtstage des ersten und letzten Gurus, bzw. die von Guru Nanak (Okt./Nov.) und Guru Gobind Singh (Dez./Jan.). Weiterhin feiern die Sikhs das Fest Baisakh (Apr./Mai), als Erinnerung an die Initiation einer frühen Sikhanhängerschaft durch Guru Gobind Singh. Unter den Jainas (→Jainismus) wird generell der Geburtstag Mahaviras, des letzten von 24 Tirthankaras, festlich begangen. Die Buddhisten (→Buddhismus) →Indiens gedenken v. a. des Geburtstags von Gautama Buddha (Apr./Mai), wobei besonders die in den Grenzgebieten zu →Bhutan und →Nepal verbreiteten lamaistischen Traditionen noch etliche weitere religiöse F. kennen. Die 6 saisonalen, die Jahreszeiten ehrenden F. der Parsis (→Parsen), die sog. Gahambars, gehören neben dem Todestag Zarathustras zu den parsischen Hauptfestivitäten. Die Anhänger musl., christl. und jüdischen Glaubens feiern in der Regel die international gebräuchlichen Festtage der jeweiligen Traditionen, wenngleich v. a. die Muslime zahlreiche lokale F. der Heiligenverehrung kennen. Das unabhängige Indien begeht folgende offizielle nationale Feiertage: den Unabhängigkeitstag am 15. Aug., den Tag der Rep. am 26. Jan., welcher an die Verabschiedung der ind. Verfassung erinnert, sowie den Geburtstag →Gandhis am 2. Okt. Zusätzlich hat es sich eingebürgert, den Geburtstag →Nehrus am 14. Nov. als „Tag der Kinder“ zu feiern. Rajeev Chugh, Faiths, Fairs and Festivals of India, Delhi 2008. G.D. Gururani, Indian Fairs and Festivals, Delhi 2007. R A FA EL K LÖ BER Fezzan. Der arab. fizzân genannte Teil der Wüste Sahara umfaßt ca. 600 000 km2 mit kaum einer halben Mio. Ew., die sich in und um die Oasenstädte Murzuk, Sabha, Ghadames und Ghat konzentrieren. Um diese herum breiten sich riesige Sand-, Kies- und Felswüsten aus. Die Bewohner des F. wurden in der Antike Garamanten genannt. Ihr Reich mit der Hauptstadt Djerma (Garama) wurde wohl 20 v. C. von Römern erobert, obwohl sie den von →Pferden gezogenen Streitwagen kannten, der auch in Felsbildern eingraviert wurde. Die Garamanten tauschten mit Rom Luxuswaren gegen exotische Tiere, →Elfenbein, Felle, Edelsteine und →Salz, wahrscheinlich auch Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel). Ihre aus dem phönizischen Alphabet entwickelte Schrift ist dem heute noch von →Tuareg verwendeten Tifinagh verwandt. Um 560 sollen die Garamanten auch das Christentum angenommen haben, kurz bevor sie islamisiert wurden. In arab. Zeit brachten die Banu Sulaym endgültig das Dromedar mit, und Murzuk entwickelte sich zum Zentrum des Transsaharahandels, das im 13. Jh. dem Sultanat Kanem-Bornu (→Bornu) unterstand. Ab dem 16. Jh. erhob das →Osmanische Reich über den F. Ansprüche, ab 1911 Italien, das aber erst in den 1930er Jahren die Stämme endgültig niederwerfen konnte. Seit 1951 bildet der F. zusammen mit →Tripolitanien und der Cyrenaika das Staatsgebiet →Libyens. Nach Resten des alten Garamantenreiches suchten als erste Heinrich →Barth (1821–1865) und Henri →Duveyrier (1840– 1892). 1869 fand bei Ghat die ndl. Reisende →Tinné den Tod. 263
f i d Al g o , jo A q u í n fr A n c i s c o
Jean Lethielleux, Le Fezzan, Tunis 1948. Erwin M. Ruprechtsberger, Die Garamanten, Mainz 1997. BE RNHARD S T RE CK
Fidalgo, Joaquín Francisco, * 1758 (?) Lérida, † 1820 (?) Sevilla, □ unbek., rk. 1794 wurde F. gemeinsam mit Cosme Damián Churruca von →Karl IV. beauftragt, die südam. Nordküste von der Mündung des →Orinoko bis zum Isthmus von →Panama zu kartographieren, um einen „Atlas marítimo de la América septentrional“ zu erstellen, der exakte geographische Positionen aller Buchten, Kaps, Inseln usw. auf der Grundlage astronomischer Messungen, Angaben zur Wassertiefe und sonstiger Besonderheiten enthalten sollte. Da beide zwischendurch aus Spanien immer wieder neue Explorations- und Vermessungsaufträge erhielten, zog sich das Unternehmen bis 1810 hin. In →Cartagena traf A. v. →Humboldt auf die →Expedition und betont in seinem Reisebericht die Bedeutsamkeit seiner Begegnung mit F., der in dieser Stadt an der Errichtung einer 1810 eröffneten nautischen Schule beteiligt war. María Dolores Higueras (Hg.), Marinos – cartógrafos españoles, Madrid 2002. HORS T P I E T S CHMANN Fidschi, parlamentarische Rep., Inselstaat im südwestlichen Pazifik, ca. 330 Inseln, Gesamtlandfläche 18 272 km². Die Hauptinseln, Viti Levu (10 429 km²) und Vanua Levu (5 556 km²) machen zusammen ca. 87 % der Landesfläche aus. ⅓ der Inseln ist dauerhaft bewohnt. Die Inseln sind überwiegend vulkanischen Ursprungs, daneben einige Atolle. Hauptstadt: Suva, ca. 86 000 Ew. Die Urbanisierungsrate liegt bei 51 %. F. ist ein regionaler Hauptverkehrsknotenpunkt und Standort internationaler Organisationen. (Amts-) Sprachen: Englisch, Fidschianisch und →Hindi. Bevölkerungsstruktur: 827 900 Ew., 57 % Fidschianer, 38 % Indo-Fidschianer (Nachfahren von Plantagenarbeiter und freien Immigranten aus dem Gebiet des heutigen →Indiens) und 5 % andere (Europäer, Rotumanen, Asiaten u. andere Pazifikinsulaner). Religion: 52,9 % Christen (überwiegend Methodisten, dazu Katholiken, Adventisten u. andere), 38,1 % Hindus, 7,8 % Muslime, 0,7 % Sikhs und 0,5 % andere. Wirtschaft: Insb. Zuckerrohr- (→Zucker) und Kokosnußplantagen, →Tourismus, in Subsistenzwirtschaft angebaute Knollengewächse und importierte Gemüsesorten. Daneben →Fischerei, →Bergbau, Holzwirtschaft und Bekleidungsindustrie. Geschichte: Erstbesiedlung der Inselgruppe vor ca. 3 500 Jahren. 1643 sichtete →Tasman als erster Europäer Teile des Archipels. Um 1800 begann der Handel mit →Sandelholz, wenige Jahre später die Zucht von →bêche-de-mer. 1835 kamen die ersten europäischen Missionare (Methodisten) nach F. Bis in die 1860er Zentralisierungsbestrebungen im Zuge anhaltender Fehden zwischen fidschianischen Häuptlingstümern. Am 10.10.1874 wurde F. brit. →Kronkolonie. Die ersten ind. Kontraktarbeiter kamen 1879. Viele blieben dauerhaft auf F. 1920 Verbot des Rekrutierungssystems. Während des →Zweiten Weltkriegs diente F. als Stützpunkt und Nachschubbasis für Briten und Amerikaner. Hierdurch erfolgte der Ausbau der Infrastruktur. Am 10.10.1970 erlangte F. die Unabhängigkeit und wurde zu einer par264
lamentarischen Monarchie nach brit. Vorbild (Westminstersystem). 1987 gewann die multi-ethnische Arbeiterpartei die Wahlen gegen die seit der Unabhängigkeit regierende Häuptlingspartei. Zwei Militärputsche stellten die Vormachtstellung fidschianischer Eliten wieder her. F. wurde zur Rep. Die Verfassung des Jahres 1990 garantierte den Fidschianern eine herausragende Stellung. In der Folgezeit kam es zunehmend zu ethnischen Spannungen, regionalen Fragmentierungen, wirtschaftlichen Problemen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Eine neue Verfassung (1997) garantierte der indo-fidschianischen Bevölkerung mehr Mitspracherechte. 1999 wurde erstmalig ein ind.-stämmiger Premierminister gewählt. 2000 kam es zu einem zivilen Staatsstreich gegen die Labour-Reg., der vom Militär zerschlagen wurde. In der Folgezeit verfiel die durch das Militär eingesetzte fidschianisch dominierte Reg. der Korruption und dem Nepotismus. Im Dez. 2006 vollzog das Militär einen erneuten Staatsstreich, um F. aus der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise zu führen. Dies konnte bis dato nicht umgesetzt werden. 465 km nördlich von F. liegt die 43 km2 große vulkanische Insel Rotuma, die von Europäern 1791 erstmals gesichtet wurde und seit 1881 zu den F.-I. gehört. Rotumanen unterscheiden sich kulturell und physisch von Fidschianern. R. wurde evtl. von →Samoa und →Tonga aus besiedelt und war im 19. Jh. Anlaufpunkt von Walfängern und Strandräubern. R. ist in Distrikte organisiert. Traditionelle Würdenträger spielen bis heute eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle. Von den ca. 10 000 Rotumanen leben heute nur ca. 2 000 auf R. Die überwiegende Mehrheit emigrierte nach F. und in andere Teile des Pazifiks. Ronald A. Derrick, A History of Fiji, Suva 1957. Hermann Mückler, Fidschi, Wien 1998. Dominik Schieder, Das Phänomen der coup culture. Politische Konflikte auf d. Fidschi-Inseln, Wiesbaden 2012. D O MIN IK E. SC H IED ER
Filchner, Wilhelm, * 13. September 1877 München, † 7. Mai 1957 Zürich, □ Friedhof Enzenbühl / Zürich, rk. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs F. bei Verwandten in München auf und schlug eine Offizierskarriere ein. 1900 nutze er einen Urlaub für eine Reise über den Pamir. 1901 bis 1903 studierte F., inzwischen Leutnant, Vermessungskunde und →Geographie in München und sammelte praktische Erfahrungen u. a. am Astrophysikalischen Institut und dem Metereologischmagnetischen Observatorium in Potsdam. 1903–1905 leitet F. die dt. →Expedition nach Tibet und China. 1910 unternahm er eine Expedition nach Spitzbergen und 1911/12 eine Expedition in die →Antarktis. Im Ersten Weltkrieg wurde F. an der Westfront und danach in Norwegen eingesetzt. 1926–1928 unternahm er eine weitere Expedition nach China und Tibet und 1935–1937 seine dritte Tibetexpedition. 1939 brach er zu einer Expedition nach →Nepal auf, die er 1940 durch den Krieg und Krankheit abbrechen mußte. Er wurde in →Indien interniert, wo er ungehindert forschen konnte und kehrte erst 1949 nach Europa zurück. Er ließ sich in Zürich nieder, wo er am 7.5.1957 starb. Die Ergebnisse dieser Reisen wurden der Öffentlichkeit in zahlreichen populärwis-
fi s ch erei
senschaftlichen Reiseberichten zugänglich gemacht. Für seine Forschungsergebnisse erntete er international Anerkennung, obwohl er die Auswertung und Publikation der Ergebnisse anderen überließ und sich selbst v. a. als Geodät sah. Wilhelm Filchner, Ein Forscherleben, Wiesbaden 1956. M. Kneißl, Wilhelm Filchner zum Gedächtnis, in: Zeitschrift für Vermessungswesen 82 (1957), 314–320. JOHANNE S BE RNE R
Filiariasis. Erkrankungen durch parasitäre Fadenwürmer. Der Wirt ist der Mensch, die Larven werden von blutsaugenden Mücken aufgenommen. Sie sind für die weitere Entwicklung notwendige Zwischenwirte. Die Mücken übertragen die Larven wieder auf neue menschliche Opfer. Von den zahlreichen Filiarien sind nur einige menschenpathogen. 1. Die F. Wucherereia bancrofti. In der akuten Phase treten rezidivierende Entzündungen der Lymphbahnen und Lymphknoten auf, in chronischem Stadium entwickelt sich eine Elephantiasis, das ist eine abnorme Vergrößerung eines Körperteiles, meist der Beine, mit stark verdickter Haut. Betroffen können auch die urogenitalen Organe sein. Diese Infektionen sind in südlichen Ländern weit verbreitet, besonders in Asien. Die Morbidität wird für →Samoa mit 50 %, für Ostafrika mit 80 % angegeben. 90 Mio. Menschen sollen betroffen sein. 2. Filiaren (Subtyp onchocerra volvulus) sind die Ursache der Flußblindheit, verbreitet im tropischen Afrika sowie Mittelamerika, sowie der Augenwurmerkrankung (F. Loa Loa) im tropischen Afrika. Thomas D. Nutman (Hg.), Lymphatic Filiariasis, London 2000. DE T L E F S E YBOL D Finanzimperialismus. Bezeichnung für die wirtschaftliche Interessenwahrnehmung europäischer Banken in weniger entwickelten außereuropäischen Staaten, insb. für die Zeit bis 1914; Grundlage der entspr. Finanzgeschäfte, v. a. Staatsanleihen, war der Geldbedarf dieser Staaten (insb. →Ägypten, →Marokko, →Osmanisches Reich, →Tunesien). Die Geschäftsbedingungen gestalteten sich infolge der ungleichen wirtschaftlichen Machtverhältnisse jeweils eindeutig zugunsten der europäischen Banken, die große Profite machten. Nutzen für die außereuropäischen Staaten im Sinne des Anstoßes wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse blieb hingegen aus. Ihre horrende Überschuldung wurde durch die Erträge der Staatsanleihen nicht beseitigt, sondern wuchs ständig. Daher wurden in einigen Staaten mit Vertretern der europäischen Banken besetzte Gremien eingerichtet, die de facto die Steuerung der Wirtschafts- und Finanzpolitik des jeweiligen Staats übernahmen (z. B. 1878 die Administration de la Dette Publique Ottoman im Osmanischen Reich), während dessen Souveränität formal unangetastet blieb. Die sozialen Verwerfungen, die die Arbeit dieser Gremien in den betroffenen Staaten nach sich zog, führte mitunter dazu, daß europäische Mächte entgegen ihrer erklärten Absicht zur Gewährleistung der politischen Stabilität eine direkte koloniale Herrschaft errichten mußten (so 1882 Großbritannien in Ägypten). Mit dem politischen Imperialismus der europäischen Nationalstaaten des späten 19. und frühen 20. Jh.s war
der F. zwar verzahnt, doch waren beider Interessen nicht immer deckungsgleich. Z. B. waren dt. Banken mangels Profitaussicht nicht zu politisch erwünschten verstärkten Investitionen in →Angola bereit, das Deutschland als Kolonie von Portugal zu übernehmen hoffte. Wolfgang J. Mommsen, Europäischer Finanzimperialismus vor 1914, in: HZ 224 (1977), 17–81. C H R ISTO PH K U H L
Finsch, Otto (Dr. h. c. 1868, Prof. h. c. 1910), * 8. August 1839 Warmbrunn (Schlesien), † 31. Januar 1917 Braunschweig, □ nicht erhalten, ev.-luth. Nach Schulabbruch absolvierte F. eine Lehre als Kaufmann, als Autodidakt erwarb er Kenntnisse der Zoologie und Ethnologie. Auf Grund seiner ornithologischen Arbeiten wurde er bereits mit 25 Jahren zum Konservator der naturgeschichtlichen Sammlungen der Hansestadt Bremen berufen. 1866 bis 1878 wirkte er in Bremen als Direktor des neu eingerichteten Völkerkundemuseums. Durch teilweise gemeinsam mit dem Zoologen Alfred Brehm durchgeführte Forschungs→Expeditionen nach Nordamerika, Lappland und Zentralasien festigte er seinen Ruf als Zoologe. 1879–1882 bereiste er erstmals die Südsee. 1884/85 erkundete er im Auftrag des Neu-Guinea-Consortiums (Vorläufer der →Neu-Guinea-Compagnie) mit dem Dampfer Samoa die Nordküste Neuguineas und die Inseln der Duke of York Group. Dabei entdeckte er den größten Fluß Neuguineas, den Sepik. Bis Juni 1886 war er als Berater der Neu-Guinea-Compagnie in Berlin tätig. Seine Hoffnung, deren Landeshauptmann im →Schutzgebiet Dt.-Neuguinea zu werden, erfüllte sich nicht. 1898 wurde er zum Konservator des Rijksmuseum voor Volkenkunde in Leiden berufen, 1910 zum Direktor des Städtischen Museums in Braunschweig. F. gilt als einer der bedeutendsten dt. Forschungsreisenden des 19. Jh.s. Mehrere von ihm entdeckte und beschriebene Vogelarten tragen seinen Namen. Q: Otto Finsch, Samoafahrten, Leipzig 1888. Ders., Ethnologische Erfahrungen und Belegstücke aus der Südsee, Wien 1888/1893. L: Gabriele Weiss, Aus dem Pazifik. Ein Sammler aus Leidenschaft, Wien 2012. G ERH A R D H U TZLER
First Nations →Kanada Fischerei. Während das F.wesen in drei wesentliche Produktionsbereiche: Teichwirtschaft/Fischzucht, Fluß-, sowie Hochsee-F. aufgegliedert werden kann, so verdient hier lediglich letzterer eine detaillierte Betrachtung, da es nur hier zu globalen wirtschaftlichen Interdependenzen und Wachstumseffekten kam. Während gewisse internationale Verflechtungen Nordwesteuropas im Fischhandel (Lübeck, Schonen, Norwegen) bereits seit Mitte des 14. Jh.s beobachtbar waren, kam es erst in der Hochsee-F. der Frühen Neuzeit zu einem hohen weltwirtschaftlichen Verflechtungsgrad, sowie Frühformen der →„Globalisierung“ von Produktion und Verbrauch. Hauptsächliche Akteure waren Schottland, England, Island, Norwegen und Holland. Konsumiert wurde getrockneter und gesalzener Fisch (v. a. Kabeljau, Hering; weniger Lachs) als beliebtes Fleischsubstitut, vorzugsweise in küstennahen 265
f i t z ro y, ro b e rt
städtischen Ballungsräumen und zur Fastenzeit. Doch die eigentliche Dynamik war auf der Angebotsseite, im Produktions- und Vertriebssektor, zu verzeichnen. Eine frühe Spezialisierung der ndl. Agrarwirtschaft hin zur Veredelungswirtschaft erforderte umfangreiche regelmäßige Getreideimporte aus dem Baltikum. Bereits um 1600 waren der polnische und ndl. Getreidemarkt stark integriert; die Korrelationskoeffizienten der in Danzig und Amsterdam jährlich verzeichneten Roggen- und Weizenpreise strebten gen eins. Dieses auch in den Sundzollregistern durchscheinende Pattern von Marktintegration und Spezialisierung, sowie einer absoluten Führungsposition der Holländer im Heringsfang resultierte u. a. aus dem Aufbau einer leistungsstarken Handels- und Heringsfangflotte. Im küstenfernen Heringsfang erwies sich Holland selbst in den weiter nördlich gelegenen Gewässern (Schottland, England) bis um die Mitte des 18. Jh.s als Vorreiter. Dies war im wesentlichen einem rationalisierten Produktionsablauf, hohen Kapitalkoeffizienten, sowie der Tatsache geschuldet, daß die ndl. Fangschiffe zugleich den Fisch verarbeiten und dann verkaufsfertig anlanden konnten. Der mit dieser Expansion der Fang- und Transportkapazitäten einhergehenden wirtschaftlichen Entwicklung verdankten die Holländer in der Folgezeit (c.1600–1750) ihr „Goldenes Zeitalter“, mit dem europaweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen und Handelsvolumen, den höchsten Wachstumsraten des Sozialprodukts, sowie einer führenden Position im Reexporthandel. Ein ähnliches Beispiel bietet der Kabeljau. Hier erwies sich die engl. Nachfrage nach span. Wolle und port. Wein als Motor des Fortschritts. Engl. Händler schalteten sich nach 1500 verstärkt in den Fang und Vertrieb von hauptsächlich um Nordamerika, Neufundland und Island vorkommendem Kabeljau ein. Dieser erwies sich als zum Ausgleich einer negativen Zahlungsbilanz mit Spanien und Portugal geeignet, da die Engländer sich den saisonal variierenden Märkten anpaßten, und keine kostenintensiven Leertouren mehr auf dem Hinweg England-Spanien/Portugal die Gesamtkostenbilanz der auf engl. Rechnung gehenden Woll- und Weinimporte ins Ungleichgewicht brachte. Den saisonalen Anforderungen dieses Handelszweigs trug man Rechnung, indem man Bilbao, Hauptverschiffungspunkt der Wollernte, bereits im Frühjahr nach der Schafschur anlief und mit nordam. Kabeljau versorgte. Porto dagegen wurde vorzugsweise in den Sommer- und Herbstmonaten mit neufundländer oder isländischem Kabeljau angefahren und wenige Wochen später wieder mit frischem Wein gen England verlassen. Die Dynamik dieses Handelszweiges war beachtlich; so stieg etwa zwischen 1630 und 1800 das durchschnittliche jährliche Importvolumen von Kabeljau nach Bilbao um das zehnfache an. Somit ergaben sich in der frühmodernen Hochsee-F. durch globale Vernetzung und Arbeitsteilung eine Vielzahl von Multiplikatoreffekten und Wachstumsimpulsen für die Erzeugernationen, welche weit über die in diesem Wirtschaftszweig erzielten Löhne und Gewinne hinausgingen. Erst um 1750 ergaben sich gravierende strukturelle Verschiebungen. Im Welthandel übergaben die Niederlande die Führungsposition an England. In der Herings- und KabeljauF. betraten andere, neben England vornehmlich für kurze 266
Zeit Schottland, dann aber nachhaltiger Schweden und Norwegen, die Bühne des internationalen Wettbewerbs. Regina Grafe, Popish Habits vs. Nutritional Need: Fasting and Fish Consumption in Iberia in the Early Modern Period, Oxford 2004. Philipp Robinson Rössner, Scottish Trade With German Ports, 1700–1770. A Study of the Atlantic Economy on Ground Level, Stuttgart 2008. Richard W. Unger, Dutch Herring, Technology and International Trade in the Seventeenth Century, in: Journal of Economic History 40 (1980), 253–279. PH ILIPP RÖ SSN ER
FitzRoy, Robert, * 5. Juli 1805 Ampton, † 30. April 1865 Upper Norwood (London), □ All Saints Church / Upper Norwood (London), anglik. F. ging 1818 zur kgl. Marineakademie und erhielt 1828 das Kommando über die Beagle, womit er 1828–1830 die Magellanstraße und die Küsten Feuerlands vermaß und dann im Laufe einer viel längeren Vermessungsreise (1831–1836) die Westküste Südamerikas von Kap Hoorn nordwärts nach →Peru erforschte; der Naturforscher der Beagle auf dieser zweiten Reise war der junge Charles Darwin, dessen naturwissenschaftliche Beobachtungen während der Reise, insb. 1835 auf den Galápagos-Inseln, den Anstoß zu seiner Evolutionstheorie gaben. Bei seiner Rückkehr 1836 nach England erntete F. viel Lob wegen seiner hydrographischen Verdienste, und er setzte mit der Arbeit an seinem Bericht über seine Reisen mit der Beagle an, der 1839 veröffentlicht wurde. Im Frühjahr 1843 wurde F. zum zweiten Gouv. von Neuseeland (→Aotearoa) ernannt. Er kam im Dez. 1843 dort an, um die knapp vierjährige Kolonie fast bankrott und mit erheblichen Konflikten zwischen den europäischen Siedlern und den indigenen →Maori vorzufinden. F.s Antwort auf die wirtschaftliche Krise der Kolonie aber erwies sich bald als schlecht überlegt, wenn nicht unbeholfen, und seine Versuche, die Bedrohung eines Maoriaufstands mit Diplomatie zu überwinden, ließen ihn allzu beschwichtigend aussehen. Er fiel schließlich einer andauernden Propagandakampagne, die man gegen ihn in Neuseeland und in England führte, zum Opfer, und wurde im Apr. 1845 abberufen. John R. Gribbin, FitzRoy, London 2003. Paul Moon, FitzRoy, Auckland 2000. Peter Nichols, Evolution’s Captain, Pymble 2003. JA MES BR A U N D Flaggenhissung in den deutschen Kolonien. Durch das Hissen seiner Nationalflagge in einem neu entdeckten überseeischen Gebiet erhob ein Staat Anspruch auf die Herrschaft über das betr. Gebiet. War das Gebiet bereits bekannt, jedoch noch von keinem anderen Staat beansprucht, bestand die Möglichkeit, sog. Schutzverträge mit indigenen Potentaten abzuschließen. Der Herrschaftsanspruch wurde dann aus diesen Verträgen abgeleitet, so daß nicht immer eine zusätzliche F. erfolgte. Das Dt. Reich begründete für eine Reihe seiner Kolonien seinen Herrschaftsanspruch durch Schutzverträge. Das traf auf →Togo, wo die dt. Flagge am 5.7.1884 durch das Kanonenboot Möwe in Bagida, tags darauf in →Lomé und in den folgenden Tagen in Porto Seguro und Klein Popo gehißt wurde, ebenso zu wie auf →Kamerun. Hier
f li eg en d er ho llÄn d er
wurde die Flagge am 14.7.1884 in Bell-, Akwa-, und Didotown (Siedlungen der →Duala, benannt nach deren gleichnamigen Häuptlingen) gehißt. Auch in →Dt.Südwestafrika, wo die Korvetten Elisabeth und Leipzig am 7.8.1884 in der Lüderitzbucht die dt. Flagge hißten, folgte dieser Schritt auf entspr. Vertragsabschlüsse. In →Dt.-Ostafrika, wo ebenfalls Verträge mit einheimischen Potentaten der Einigung mit Großbritannien über die Abgrenzung der beiderseitigen Ansprüche vorausgegangen waren, entsprach das im Apr. 1885 als Reaktion auf Einsprüche des Sultans von →Sansibar erfolgende Aufkreuzen von acht dt. Kriegsschiffen vor der Küste Sansibars rechtlich der F. Die F., die Carl →Peters 1886 auf den →Komoren und →Madagaskar veranlaßte, war unerheblich, da das Dt. Reich auf diese Inseln im folgenden keinen Anspruch erhob. Auf →Neuguinea hatte in großem Maßstab Landerwerb durch ein dt. Handelskonsortium stattgefunden, bevor am 17.11.1884 die Korvette Elisabeth die dt. Flagge auf der Insel Matupi im →Bismarckarchipel und in den folgenden Wochen mehrfach vor der Nordostküste Neuguineas hißte. Der damit bekundete dt. Herrschaftsanspruch auf Neuguinea konnte nach Einigung mit Großbritannien 1886 endgültig etabliert werden. Im Aug. 1885 hißte die Besatzung der Iltis die dt. Flagge auf der zu den →Karolinen gehörenden Insel Jap. Da Karolinen und →Palau-Inseln auch von Spanien beansprucht wurden, gelangten diese Inselgruppen erst 1899 in dt. Hand, nachdem Spanien auf seinen Anspruch verzichtet hatte. Im Nov. 1897 lieferte die Ermordung zweier dt. Missionare in der chin. Küstenprovinz Shantung den Anlaß zur F. durch drei dt. Kriegsschiffe in der Bucht von →Kiautschou, die im folgenden von China offiziell gepachtet wurde. Auf →Samoa wurde die dt. Flagge am 1.3.1900 nach endgültiger Regelung der dortigen Herrschaftsverhältnisse zwischen dem Dt. Reich, Großbritannien und den →USA gehißt. Horst Gründer, Geschichte der dt. Kolonien, Paderborn 6 2012. G. Wahl, Erwerbung der dt. Kolonien, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 578–585. CHRI S TOP H KUHL Fleckfieber. Infektion mit Rickettsien, diese sind parasitäre Bakterien in lebenden Zellen. Übertragung erfolgt durch Läuse, Flöhe und Zecken. Nach 10-tägiger Inkubationszeit treten hohes Fieber, Gliederschmerzen, Verwirrtheit auf. Therapie: Antibiotisch mit Tetracyclinen. F. trat seit dem Mittelalter in Europa oft auf, es wurde oft als →Typhus bezeichnet. Größere Epidemien wurden während der Rußlandfeldzüge 1812 und 1941–44 beobachtet. Aktuell ist F. verbreitet in den subtropischen Regionen. Alfredo M. Marcello, Fleckfieber als selbständiges Krankheitsbild, Bonn 1969. DE T L E F S E YBOL D Flegel, Eduard Robert, * 1. Oktober 1855, Wilno (Vilnius), † 11. September 1886 Brass / Nigeria, □ nicht erhalten, ev.-luth. F. absolvierte die Schulausbildung in Mitau und Riga, besuchte eine Handelsschule in München. 1875 übernahm er eine Position in der Faktorei der Hamburger Palmölproduzenten Gaiser und Witt in →Lagos. Nach
Ablauf des Vertrages arbeitete F. 1879 als Buchhalter für die Church Missionary Society und bereiste den Benue bis nach →Kamerun. Er dokumentierte ansässige →Ethnien und legte, nach William Balfour Baiki, wissenschaftliche Grundlagen für die Erforschung des Flußlaufes. F. kehrte nach Europa zurück und suchte nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten. Die Dt. Afr. Gesellschaft versah ihn schließlich mit Mitteln, um die Quellregion des Benue zu erkunden. 1880 brach er zu seiner zweiten Afrikareise auf und verfolgte den Flußlauf aufwärts, erreichte schließlich 1882 Adamaua. Nach einer weiteren →Expedition 1883/84 kehrte er 1884 nach Deutschland zurück. F. erreichte kurzfristig einen hohen Bekanntheitsgrad und knüpfte Kontakte bis in die höchsten Reg.skreise. 1885 kehrte er zurück, starb allerdings an der nigerianischen Küste in Brass. F. war durchdrungen von der Idee, den Benue bis Adamaua für Deutschland zu erschließen. Trotz dieser kolonialen Bestrebungen war er den Afrikanern gegenüber sensibel, nahm zwei seiner Reisebegleiter mit in die Heimat und setzte sich mit deren Deutschlandrezeption auseinander. Wissenschaftlich bedeutend sind seine geographischen Erkundungen des Benue-Laufs bis nach Ngaoundéré im heutigen Kamerun. Q: Eduard Robert Flegel, Lose Blätter aus dem Tagebuche meiner Haussa-Freunde und Reisegefährten, Hamburg 1885. L: Jörg Adelberger, Eduard Vogel and Eduard Robert Flegel. History in Africa 27, 2000, 1–29. D ETLEF G R O N EN B O R N
Fliegender Holländer, der Fliegende Holländer. Der Ursprung des Mythos vom F.H. ist in der seriösen Forschung nicht hinreichend untersucht. Während der Mythos in Westeuropa außer in Großbritannien und in den Niederlanden originär kaum geläufig zu sein scheint, gewinnt er in Deutschland in der Romantik des 19. Jhs. große Popularität. Diese Beliebtheit geht auf literarische Verarbeitungen des Stoffs durch Heinrich Heine (Memoiren des Herrn von Schnabelewopski, veröffentlicht 1834) und Richard Wagner (Oper Der fliegende Holländer, uraufgeführt 1843) zurück, die ihrerseits nicht unmittelbar auf historischen Quellen fußen. Bisher ist nur eine erzählende Quelle bekannt, die den Stoff in Seefahrerkreisen des 18. Jhs. überhaupt als bekannt ausweist: die Lebenserinnerungen des britischen Admirals Jeffrey Baron de Raigersfeld (1771–1844), die um 1830 als Privatdruck erschienen und die den Mythos möglicherweise durch die Erinnerung unbewußt gefiltert und stilisiert wiedergeben. Danach ist der F.H. ein aus dem Nichts kommendes mysteriöses Geisterschiff im Indischen Ozean nahe dem →Kap der guten Hoffnung, das ebenso unversehens auftaucht wie es verschwindet und im Bewußtsein von Hunderten von Seeleuten, die den Seestrich befahren, als jederzeit reale Möglichkeit, ihm zu begegnen, präsent ist. Das Geisterschiff gilt als lautloser Überbringer der Botschaft von einer eben vor sich gegangenen Schiffskatastrophe oder einer unmittelbar bevorstehenden schrecklichen Havarie. Es gibt eine umfangreiche populärwissenschaftliche Literatur, die sich in Spekulationen über den Ursprung des F. H.s ergeht: Danach ist er u. a. der zu ewiger Seefahrt verdammte Erstumrunder der Südspitze 267
f l i e r l , j ohA n n
Afrikas im Jahr 1487, der Portugiese Bartolomeu Dias, der seinerzeit vom Satan Beistand erhielt, oder auch der Ewige Jude Ahasverus der christlichen Volkssage, der auf seine Erlösung wartet. Doch nicht eine dieser spekulativen Deutungen ist mit einer Quelle aus Seefahrerkreisen belegt. Unabhängig von diesem Tatbestand darf man annehmen, daß der Mythos vom F.H. wohl nur bei jenen Nationen eine Chance sich zu entfalten hatte, die Seefahrt um das Kap der guten Hoffnung nach Ostindien (d. h. Asien in heutiger Sprache) betrieben, also i.w. Portugal, die Niederlande und Großbritannien. Da in Notariats-, Seefahrer- und Handelsarchiven dieser Nationen und weiterer europäischer Nationen, die ab etwa 1600 nach Ostindien Handel trieben, noch umfangreiche bisher nicht eingesehenen Materialien ruhen, darf man erwarten, daß künftig der eine oder andere Quellenfund den Mythos vom F.H. aufzuhellen in der Lage ist. Q: Eberhard Schmitt, Admiral Raigersfeld: Begegnung mit dem „Fliegenden Holländer“ im Indischen Ozean? (1787). In: Ders.(Hg.), Indienfahrer 2. Seeleute und Leben an Bord im Ersten Kolonialzeitalter (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 7, Dok. 36), Wiesbaden 2008, 245–248. L: Dieter Flohr, Der Fliegende Holländer. Legenden und Tatsachen, Rostock 2002. G.(errit) Kalff Jr., De sage van den Vliegenden Hollander. Naar behandeling, oorsprong en zin onderzocht, Zutphen 1923. E BE RHARD S CHMI T T Flierl, Johann, * 16. April 1858 Buchhof (heute Birgland) b. Sulzbach / Oberpfalz, † 30. September 1947 Neuendettelsau, □ Neuendettelsau, ev.-luth. F. war ev.-luth. Pioniermissionar in →Dt.-Neuguinea u. legte die Grundlagen für die heutige Evangelical Lutheran Church in →Papua-Neuguinea. Der Sohn von Kleinbauern aus einem kleinen Weiler in der Oberpfalz wollte früh Missionar werden. St. 1878 in →Australien, tätig in der zentralaustral. Wüste auf der Missionsstation Bethesda für die Christianisierung der Dieri-→Aborigines. Nach Etablierung dt.-kolonialer Verwaltungsstrukturen Ankunft am 12. Juli 1886 in Finschhafen, Hauptsitz der →Neu-Guinea-Compagnie. Aufbau einer ersten Missionsstation im Dorf Simbang, später auf der Insel Tami. Errichtung rel. u. technischer Infrastruktur, Schulen, Straßen. Mission in den Regionalsprachen Yabim/Jabem (Seminarschule i. Logaweng ab 1907) u. Kâte (Seminarschule 1910, i. Heldsbach ab 1914). Erste indigene Taufen am 20. August 1899 (Kamusanga, Taufnahme Silas u. Kaboeng, Taufname Tobias) durch F.s Mitarbeiter Georg Pfalzer. Seit 1892 auf dem Sattelberg, ein von der einh. Bev. gefürchteter Geisterplatz, ab 1904 in Heldsbach. Ruhestand 1930 in Tanunda, Australien. Als F. verließ, gab es bereits etwa 50 000 ev. Christen in Neuguinea. Diese Evangelisation war nicht zuletzt seinem eigenen persönlichen Einsatz zu verdanken. Schon äußerlich mit seinem langen Bart wie ein alttestamentlicher Prophet erscheinend, machte er als Person u. durch seinen Charakter u. seine persönliche Lebensführung einen tiefen Eindruck auf die indigene Bev., die ihn nicht nur respektierte, sondern auch akzeptierte u. zuletzt verehrte. Im hohen Alter 1937 Rückkehr nach Neuendettelsau. 268
Traugott Farnbacher / Gernot Fugmann (Hg.), Johann Flierl. Ein Leben für die Mission, Mission für das Leben, Neuendettelsau 2008. Susanne Froehlich (Hg.), Als Pioniermissionar in das ferne Neu Guinea. Johann Flierls Lebenserinnerungen, Wiesbaden 2015. Georg Pilhofer, Die Geschichte der Neuendettelsauer Mission in Neuguinea, 2 Bde., Neuendettelsau 1961/1963. H ER MA N N H IERY
Flinders, Matthew, * 16. März 1774 Donington , † 19. Juli 1814 London, □ St. James Church, Hampstead Road / London, anglik. F. ging 1790 erstmals zur See und nahm an der zweiten Brotfrucht-Expedition William →Blighs (1791–1793) teil, ist jedoch am besten bekannt für seine Erforschung der Küsten →Australiens, die in seiner Umsegelung jenes Kontinents (1801–1803) kulminierte. Während seines ersten Australienaufenthalts (1795–1800) unternahm F., wenn seine Pflichten als Offizier ihn nicht anders beschäftigten, mehrere kürzere Vermessungsfahrten von Port Jackson (Sydney) aus die östliche Küste des Kontinents entlang. Diese Fahrten führten ihn bis nach Tasmanien, das er 1798–1799 zusammen mit George Bass als Erster umsegelte, im Süden und bis nach Hervey Bay, nördlich der heutigen Großstadt Brisbane, im Norden. Bei seiner Rückkehr 1800 nach England wurde er auf das Betreiben Sir Joseph →Banks’ zum Kommandanten der Investigator ernannt, mit dem Auftrag, die Küsten Australiens näher zu erforschen. F. schaffte es zwischen Dez. 1801 und Okt. 1802 die Südküste und Teile der Ostküste des Kontinents zu vermessen, mußte aber im Febr. 1803 bei der westlichen Einfahrt in den Golf von Carpentaria wegen des schlechten Zustands seines Schiffes die Vermessung abbrechen. Er setzte trotzdem seine Umsegelung von Australien möglichst schnell fort, und erreichte im Juni 1803 Port Jackson wieder. F. brach nach England auf, um Ersatz für die Investigator zu finden, wurde aber im Dez. 1803 durch die frz. Behörden auf →Mauritius aufgehalten und konnte erst 1810 seine Heimat wiedersehen. Er ging nie wieder zur See, und schrieb in abnehmender Gesundheit seinen Bericht über seine Reise nach Australien mit der Investigator, der erst ein paar Tage vor seinem Tode erschien. Miriam Estensen, The Life of Matthew Flinders, Crows Nest 2002. Jean Fornasiero u. a., Encountering Terra Australis, Kent Town 2004. JA MES BR A U N D Föderierte Staaten von Mikronesien (engl.: Federated States of Micronesia, FSM). Bundesrep. aus vier Bundesstaaten in freier Assoziierung mit den →USA; Bundesstaaten: Yap, Chuuk, Pohnpei und Kosrae. Hauptstadt: Kolonia, Reg.ssitz: Palikir (beide auf Pohnpei). Die FSM sind Teil der →Karolinen, bestehend aus 607 Inseln mit einer Gesamtlandfläche von ca. 700 km²: Yap (Jap): 145 Inseln, 119 km²; Chuuk (Truk): 294 Inseln, 127 km²; Pohnpei (Ponape): 163 Inseln, 344 km²; Kosrae: 5 Inseln, 110 km². Gesamt-Atollausdehnungen: ca. 7 200 km². Der Staat besteht geologisch aus niederen und gehobenen Koralleninseln, gehobene Teile des asiatischen Festlandschelfs sowie vulkanische Inseln. Tropischer Regenwald in den Höhen und Tälern der vulkanischen Inseln, Mang-
fo lli , bo n i fAti u s
rovengürtel um die hohen Inseln sowie primär Kokosnuß und Pandanus auf den korallinen Böden prägen die Vegetation. Tropisches →Klima mit Temperaturen zwischen 24° und 34° C. Gesamtbevölkerung der FSM (Zensus 2010): 102 843 Ew.; tendenzielle Abnahme der Bevölkerung. Es lassen sich neun mikronesische und polynesische →Ethnien unterscheiden. Bevölkerungswachstum in den 1990er Jahren: 2,4 %; Geburtenrate (1998), 2,8 %; Sterberate (1998): 0,6 %. Bevölkerungsdichte (1998): ca. 170 Ew./km². Sprachen: Neun mikronesische und polynesische Sprachen und mehrere Dialekte; daneben Englisch als Amtssprache und teilweise Verständnis des Japanischen. Religion: über 90 % Katholiken, der Rest verteilt sich auf Protestanten, Bahai u. a. Religionen. Die FSM sind eine Bundesrep. aus vier Bundesstaaten seit 1980, nach einer Verfassung von 1979, in freier Assoziierung mit den USA (Compact of Free Association, seit 1986 in Kraft), der 2001 enden sollte, aber verlängert wurde. Alle 2 Jahre wird auf bundesstaatlicher Ebene, alle 4 Jahre national gewählt. Die Unabhängigkeit wurde am 3.11.1986 erklärt und am 22.12.1990 umgesetzt. Hohe ökonomische und finanzielle Abhängigkeit von den USA; Empfänger von massiver Wirtschaftshilfe seitens der EU, Japan, Neuseeland und Australien. Geschichte und Gegenwart: Archäologische Indizien lassen eine Erstbesiedlung der Region zumindest im westlichen Teil vor ca. 4 000 Jahren möglich erscheinen. Funde, v. a. auf Yap, Pohnpei sowie den sog. Polynesian Outliers (→Polynesier) bestätigen Handelsverbindungen nach →Südostasien. Im Vergleich zu anderen Inselstaaten weisen die FSM durch die Steinruinen von →Nan Madol (Pohnpei) und Lelu (Kosrae) markante komplexe Baudenkmäler aus voreuropäischer bzw. vorkolonialer Zeit auf, die auf eine wechselvolle Geschichte mit hochentwickelten Herrscherdynastien Rückschlüsse erlauben. Die europäische Entdeckung erfolgte durch die Spanier, deren genaue Sichtungen aber heute teilweise nicht mehr genau zuordbar sind. Entdeckungen von Diego de Rocha am 1.10.1525 (wahrscheinlich Ulithi), Alvaro de →Saavedra Ceron am 29.12.1527 und 1.1.1528 (Fais, Yap) sowie Ruy Lopez de Villalobos markieren den Beginn einer Kontaksituation, die häufig durch Konflikte zwischen Inselbewohnern und Europäern gekennzeichnet war. Dt. Handelshäuser und deren Agenten begannen im 19. Jh. ein Netz von Handelsstationen zu errichten und gerieten mit Spanien in Konflikt. Am 12.2.1899 wurden die Karolinen an das Dt. Reich verkauft. Bis 1914 setzte das Dt. Reich massive Infrastrukturmaßnahmen und entwickelte die Inseln. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der dt. Teil →Mikronesiens von Japan besetzt und ab 1921 als Mandatsgebiet verwaltet. Die jap. Reg. baute mehrere Inseln zu militärischen Stützpunkten aus (insb. Chuuk) und siedelte Japaner an. Während des →Zweiten Weltkriegs spielten die Inseln eine zentrale Rolle bei der Rückeroberung de pazifischen Inseln durch die USA ab 1942 sowie als Aufmarschgebiet und vorgeschobene Stützpunkte (Ulithi) für die →Eroberung von Iwo Jima, Okinawa und Angriffe auf Japan. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Region am 18.7.1947 Teil des von der UNO beschlossenen US-verwalteten Trust Territory of the Pacific Islands (TTPI), welches 1986 auslief.
Seit 1978 (beschlossen; umgesetzt ab 1980) existieren die FSM, die nach langen Verhandlungen zwischen den vier teilnehmenden (Bundes-)Staaten sowie mit den USAmerikanern um finanzielle Unterstützung sowie den Status im Rahmen eines Compact of Free Association, geschaffen wurden. Der 2001 ausgelaufene Compact wurde nach langwierigen Verhandlungen ausgedehnt und eine weitere finanzielle Unterstützung der FSM durch die USA festgelegt, was aber eine Fortsetzung der unmittelbaren Abhängigkeit des Landes von den USA auch für die Zukunft bedeutet. Der Bestand des Staates wird durch seine ökonomische (u. politische: die Außenpolitik u. das Abstimmungsverhalten in der UNO werden in Washington bestimmt) Abhängigkeit zu den USA sowie durch seine zentrifugalen Kräfte im Inneren geprägt. Mittelfristig wird sich die Abhängigkeit zu den USA kaum verringern, obwohl zunehmend andere Einnahmequellen gesucht werden und die Beziehungen zu anderen Ländern, v. a. in Ostasien (Japan und China) intensiviert werden. Der innere Zusammenhalt des Staates ist bereits bei dessen Gründung einer harten Probe unterzogen worden. Bis heute gibt es Tendenzen, Yap auszugliedern u. mit →Palau zusammenzuschließen. Kulturelle und historisch gewachsene Unterschiede sowie der Wettstreit um die Zuteilung der Ressourcen verlangt der politischen Führung ein hohes Maß an Ausgleichsfähigkeit zwischen den vier (Bundes-)Staaten ab und behindert immer wieder Entwicklungsmaßnahmen auf Grund langer Entscheidungsfindungsprozesse. Aus diesem Grund wird das langfristige Überleben des Staates von manchen Beobachtern skeptisch beurteilt. Frederick W. Christian, The Caroline Islands, London (1899) 1967. Helmut Christmann u. a., Die KarolinenInseln in dt. Zeit, Hamburg 1991. Francis X. Hezel, The New Shape of Old Island Cultures, Honolulu 2001. H ERMA N N MÜ CK LER
Folli, Bonifatius, * 24. Oktober 1877 (?) Anecho / Togo, † 1947 Deutschland, genaues Sterbedatum und Begräbnisort unbek., rk. Geboren in einer Familie von Chiefs der Glidji-→Ewe, trat F. als Koch früh in die Dienste hoher dt. Kolonialbeamter in Togo und →Kamerun. Mit dem letzten dt. →Gouv. von Togo, Adolf Friedrich zu →Mecklenburg, kam er 1914 nach Deutschland. 1930 erhielt F. die preußische Staatsbürgerschaft. Von 1926 bis 1947 wirkte er an der Universität Berlin als Sprachlehrer für die westafr. Sprachen Ewe u. →Hausa. Hier arbeitete er eng mit dem Afrikanisten Diedrich Westermann zusammen, der F. auch zu linguistischen, phonetischen und ethnologischen Untersuchungen heranzog. Daneben trat F. als Komparse in diversen Filmen auf, u. a. in dem kolonialen Propagandafilm „Carl →Peters“ von 1940/41. F. war in den Zwischenkriegsjahren eine prominente Bezugsperson für die sich herausbildende afro-dt. Community. Bonifatius Folli, Bonifatius Folli aus Glidji in Togo. Koch und Händler, in: Diedrich Westermann (Hg.), Afrikaner erzählen ihr Leben, Essen 1938. Holger Stoecker, Sprachlehrer, Informant, Küchenchef, in: Ulrich van der Heyden (Hg.), Unbekannte Biographien, Berlin 2008, 217–237. Diedrich Westermann, Kindheitserinnerungen 269
f o r s t e r , j oh A n n geo r g �e � A d A m
des Togonegers Bonifatius Folli, in: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen 34 (1931), 1–69. HOL GE R S TOE CKE R
Forster, Johann Georg(e) Adam, * 27. November 1754 Nassenhuben bei Danzig, † 10. Januar 1794 Paris, □ unbek., ev.-luth., Freimaurer Der erstgeborene Sohn des Naturforschers Johann Reinhold →F. fiel bereits als Kind durch seine Begabung für Fremdsprachen und sein Interesse an Naturgeschichte auf. 1765 begleitete er seinen Vater auf einer Reise nach Rußland, um über die dt. Siedlungen im Wolgagebiet zu berichten. Im folgenden Jahr reisten Vater und Sohn nach England, wo sie Kontakte zu Gelehrten und Naturwissenschaftlern knüpften. Als der Vater kurzfristig Joseph →Banks als Naturforscher auf der zweiten Entdeckungsreise James →Cooks ersetzte, nahm er Georg als Assistenten mit. Offiziell fungierte dieser nur als Zeichner, tatsächlich aber führte er einen beträchtlichen Teil der botanischen Arbeiten durch. Während der Reise fertigte er mehr als 500 naturgeschichtliche Zeichnungen an. F.s unautorisierte, unter Verwendung des Reisetagebuchs seines Vaters verfaßte Beschreibung dieser Weltumsegelung (Voyage round the World, 1777; dt.: Reise um die Welt, 1778–1780), wurde überwiegend positiv aufgenommen. Als er Ende 1778 wieder dt. Boden betrat, war ihm sein Ruhm als Begleiter Cooks bereits vorausgeeilt. Sein Renommee führte zu Professuren in Kassel (1779–1784) und Wilna (1784–1787) sowie zur Ernennung zum Naturforscher auf der geplanten russ. Südseeexpedition (→Expeditionen) unter Grigori Iwanowitsch Mulowsky, die Ende 1787 abgesagt wurde. 1788 nahm F. eine Stellung als Universitätsbibliothekar in Mainz an. Abgesehen von einer dreimonatigen Reise auf dem Niederrhein und nach England in Begleitung Alexander von →Humboldts (1790) blieb er dort bis zur Einnahme der Stadt durch frz. Revolutionstruppen Ende 1792. F. trat daraufhin in den lokalen Jakobinerklub ein und fuhr im Frühjahr 1793 als Delegierter des Rheinisch-Dt. Nationalkonvents nach Paris, wurde aber durch den Fall der Mainzer Rep. und die Anfänge des Terrors überrascht. Von seinen Landsleuten isoliert und gesundheitlich am Ende, starb er neununddreißigjährig in der frz. Hauptstadt. F.s Engagement als Revolutionär, für welches er später häufig als Vaterlandsverräter denunziert wurde, hat seine Errungenschaften als Naturforscher und Geograph überschattet. In seiner Zeit war er einer der wichtigsten dt. Vermittler der außereuropäischen Welt, besonders des pazifischen Raums, dem er über zwei Jahrzehnte hinweg in Reisebeschreibungen, Übersetzungen, Aufsätzen und Rezensionen mehr als 6 000 Druckseiten widmete. Georg Forster, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Berlin 1958. Georg-Forster-Studien, Kassel 1997ff. Ludwig Uhlig, Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794), Göttingen 2004. JAME S BRAUND Forster, Johann Reinhold, * 22. Oktober 1729 Dirschau (Preußen), † 9. Dezember 1798 Halle a. d. Saale, □ Stadtfriedhof Halle, ev.-luth. 270
F. studierte Theologie in Halle und wurde 1753 Pfarrer der Landgemeinde Nassenhuben bei Danzig. Sein eigentliches Interesse galt indes Naturwissenschaften und →Geographie. 1765 brach er in Begleitung seines zehnjährigen Sohns Georg nach Rußland auf, um im Auftrag der Reg. die Lage dt. Siedler an der Wolga zu untersuchen. Nachdem F.s Empfehlungen von den russ. Behörden ignoriert wurden, reiste er 1766 mit Georg nach England; seine Frau und die übrigen sechs Kinder ließ er 1767 nachkommen. Die nächsten fünf Jahre, während denen er als Lehrer, Rezensent und Übersetzer von Reiseliteratur wirkte, waren zwar durch Geldsorgen gekennzeichnet, doch wurde er auch in wissenschaftliche Gesellschaften aufgenommen und knüpfte Beziehungen zu einflußreichen Gelehrten. 1772 wurde F. zum Naturforscher auf der zweiten Entdeckungsreise James →Cooks ernannt und nahm Georg als Assistenten mit. Die dreijährige →Expedition lief u. a. Neuseeland (→Aotearoa, dreimal), Tahiti und →Tonga (je zweimal), →Neukaledonien und die →Osterinsel an und zeitigte außerordentlich reiche naturwissenschaftliche und ethnographische Ergebnisse. Nach seiner Rückkehr nach England überwarf sich F. mit der brit. Admiralität, und das Erscheinen von Georgs „Voyage round the World“ (1777) sowie der eigenen „Observations Made during a Voyage round the World“ (1778), die heute als klassische Beiträge zur Reiseliteratur gelten, wurde durch die Verschlechterung der Beziehungen zu den brit. Behörden überschattet. Nur die Berufung auf eine Professur für Naturgeschichte in Halle 1779 rettete F. vor dem finanziellen Ruin. Er kam im Sommer 1780 in Halle an und verbrachte dort den Rest seines Lebens. Außer seinen akademischen Pflichten beschäftigte er sich mit der Übersetzung und Herausgabe zeitgenössischer Reiseberichte und der Verarbeitung der Ergebnisse der eigenen Weltreise. F. war einer der wichtigsten dt. Geographen des 18. Jh.s, erwarb aber zu Lebzeiten nie das Renommee, das er verdiente. Er ließ viel unveröffentlicht, und in privaten wie beruflichen Angelegenheiten rief sein taktloses und schroffes Verhalten häufig Konflikte hervor. Erst seit den 1970er Jahren wurde er wieder als bedeutender früher Naturforscher und Geograph anerkannt. Michael E. Hoare, The Tactless Philosopher: Johann Reinhold Forster (1729–98), Melbourne 1976. Michael E. Hoare (Hg.), The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster, 1772–1775, London 1982. Nicholas Thomas u. a. (Hg.), Johann Reinhold Forster: Observations Made During a Voyage round the World, Honolulu 1996. JA MES BR A U N D
Fotografie. Erzeugen von Abbildungen auf lichtempfindlichem Material; im Weiteren werden darunter sowohl das Erzeugungsverfahren als auch die Abbildungen verstanden. Lange Zeit wurden F.n weniger als subjektiv gestaltete Bildzeugnisse, sondern als objektive Belege angesehen. Heutigen Ansichten zufolge sind F.n sowohl als subjektive Konstruktionen zu sehen, die Auskunft über zeitgenössische Intentionen, Wahrnehmungen und Rezeption geben, als auch als historische Quellen, die auf Grund einer spezifischen Verbindung mit dem Aufnahmegegenstand entstanden. In der Vielzahl historischer
f rA n k en
fotografischer Quellen lassen sich solche unterscheiden, die physische Erscheinungsformen des Menschen (physiognomische, anthropologische F.n) dokumentieren und solche, die Lebensverhältnisse, Sitten und Gebräuche, kulturelle Erscheinungen und das sog. materielle Kulturinventar (ethnographische F.n) abbilden. Mit der sich in alle Weltgegenden ausdehnenden westlichen Kolonialherrschaft und dem Aufkommen moderner Verkehrsmittel in der Mitte des 19. Jh.s, gelangte eine Vielzahl fotografierender Europäer nach Übersee. Bald nach der Vorstellung der F. (1839) setzte ein kaum mehr zu übersehender Strom von Bildzeugnissen überseeischer Menschen und ihren Kulturen ein. Selbst in entlegensten Winkeln der Erde präsentierten Fotostudios seit Mitte des 19. Jh.s ein umfangreiches Bildangebot: Landschaften und Sehenswürdigkeiten, exotische Pflanzen und Früchte, besonders aber Genredarstellungen der Einheimischen. Spezielle Wünsche fanden in erotischen Inszenierungen Befriedigung. Das kommerzielle Bildangebot wurde vielfach und wohl auch aus Einsicht in technische wie bildnerische Unzulänglichkeiten, mit eigenen Schnappschüssen kombiniert. Mischformen setzten sich bis in die ethnologische Literatur hinein fort. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gelangte fotografisches Bildmaterial in großer Zahl an völkerkundliche Museen, Institute oder wissenschaftliche Gesellschaften. Die fotografische Erfassung der Welt sollte ein direkte Vergleiche ermöglichendes Ordnungssystem begründen und so auch dem befürchteten „Aussterben der Naturvölker“ zuvorkommen. Die vermehrte Verwendung von Bildmaterial zu wissenschaftlichen Zwecken wird heute als „Verwissenschaftlichung des Blickes“ oder „pictorial turn“ für Ethnologie und physische Anthropologie bezeichnet. Um 1900 zeitigten Neuerungen der fotografischen Technik, andere Formen des Kulturkontaktes, das ansatzweise Aufkommen der sog. „teilnehmenden Beobachtung“ neue Formen der Bilddokumentation. Neue gestalterische Momente waren neben der auch weiterhin praktizierten statuarischen, habituellen F., Dynamik und Bewegung der Figuren. Das Einzelbild verlor seine Bedeutung gegenüber Bildserien von Herstellungsabläufen oder sozialen Prozessen. Ob die von Alexander von →Humboldt so hoch geschätzte „unnachahmliche Treue“ der F. auch ein besseres Verstehen fremder Lebenswelten ermöglichte, bleibt fraglich. Indem sie Menschen als „→Edle Wilde“ oder „Rückständige Primitive“ inszenierte, erscheint die F. im Kontext des kolonialistischen Diskurses auch als Medium visueller Besitzergreifung fremder Völker und Kulturen. Sebastian Dobruskin u. a., Faustregeln für die Fotoarchivierung, Esslingen 42001. Elizabeth Edwards (Hg.), Anthropology & Photography, New Haven / London 1992. Thomas Theye (Hg.), Der geraubte Schatten, München / Luzern 1989. T HOMAS T HE YE
Seit 1657 war er Mitarbeiter des Nürnberger Verlegers Endter, bei dem auch viele seiner Schriften erschienen. 1688 wurde er Rat des Grafen zu Hohenlohe-Langenburg und Gleichen. F. verfaßte zahlreiche Schriften verschiedener literarischer Gattungen. Neben geistlichen Liedern, Erbauungsbüchern und historischen Schriften publizierte er umfangreiche Werke über die außereuropäische Welt (Ost- und West-Ind. wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten, 1668; Guineischer und Americanischer Blumen-Pusch, 1669; Neu-polirter Geschicht-, Kunstund Sitten-Spiegel ausländischer Völcker, 1670), die als „Kuriositätenkabinette“ Wissenshorizont und Weltbild eines mitteleuropäischen Barockautors widerspiegeln. Gerhard Dünnhaupt, Erasmus Francisci, in: Philobiblon 19 (1975), 272–303. Karl Kohut (Hg.), Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett, Frankfurt/M. 1995.
Francisci (eigentlich Finx), Erasmus, * 19. November 1627 Lübeck, † 20. Dezember 1694 Nürnberg, □ unbek., ev.-luth. Der Sohn eines Anwalts begleitete nach dem Jurastudium ein Mitglied der Familie von Wallenrodt auf einer Kavalierstour durch Italien, Frankreich und die Niederlande.
JA N H EN N IN G BÖ TTG ER
MA RK H Ä BER LEIN
François, Kurt (Curt) Karl Bruno von, * 2. November 1852 Luxemburg, † 30. Dezember 1931 Königs Wusterhausen, □ Invalidenfriedhof Berlin, ev.-luth. F. besuchte die Kadettenanstalten in Wahlstatt und GroßLichterfelde; 1870/71 Freiwilliger im Dt.-Frz. Krieg, 1888 Hauptmann, 1895 Major. Er verließ 1883 Hamburg, um sich 1884/85 der zweiten Forschungsexpedition (→Expeditionen) Hermann von Wissmanns in das Stromgebiet des Kassai anzuschließen. 1885 erkundete er gemeinsam mit George Grenfell die linken KongoNebenflüsse (→Kongo) Lulongo (Lulango) und Tschuapa (Ruki). 1888 leitete F. im Auftrag des AA die erste Reichsexpedition zur Erforschung des Hinterlandes von →Togo, die bis nach →Ouagadougou vordrang (Abschluß von „Schutzverträgen“ mit Sultanaten im Gebiet des oberen Volta). Er wurde 1889 zum Kommandeur der als „wissenschaftliche Expedition“ deklarierten dt. Söldnertruppe (→Söldner) in Südwestafrika bestimmt. Noch 1889 ließ er am Swakop bei Tsaobis eine improvisierte befestigte Station (sog. „Wilhelmsfeste“) zur Kontrolle des „Baiwegs“ errichten. 1890 befahl er den Bau einer kleinen Festung in Windhoek. Seit 1891 ad interim Reichskommissar, wurde F. 1893 erster Landeshauptmann von →Dt.-Südwestafrika. Wie sein Vorgänger Heinrich →Goering führte er zunächst Verhandlungen mit den Witbooi. Nach dem Friedensschluß zwischen Witbooi und Herero beschloß er jedoch den Überfall auf Hornkranz (12.4.1893), der mit dem Tod zahlreicher afr. Zivilisten endete, während Hendrik →Witbooi und seinen Männern der Rückzug gelang. F. ließ Hornkranz besetzen, dem heraufbeschworenen Kleinkrieg war er jedoch taktisch nicht gewachsen. 1894 erfolgte seine Ablösung durch Theodor →Leutwein, der den eingeschlagenen militärischen Kurs bis zur Kapitulation der Witbooi fortsetzte. F. nahm 1895 seinen Abschied, widmete sich ausgedehnten Studienreisen und schrieb über die Besonderheiten afr. →Geographie und Kriegführung. Franken (Feringgi). Malaiisierte Form des lateinischen „Franci“. Diese Bezeichnung wird schon im 3. Jh. n. Chr. bei den Römern geläufig und findet sich im östlichen Mittelmeerraum seit dem Ersten Kreuzzug 271
f r A n k l in, be n j Am i n
(→Kreuzzüge) für die westeuropäischen, meist nordfrz. Begründer der Kreuzfahrerstaaten. Wie die gegenüber jh.elangem Brauch verengte Bezeichnung zum Synonym für Kreuzritter im islamischen Kontext wird, konnte bisher noch nicht befriedigend geklärt werden. Ihre vermutlich erstmalige Verwendung im malaiischsprachigen Raum findet sich in der malaiischen Chronik →Sejarah Melayu sowie in dem Roman über Hang Tuah anläßlich der Ankunft der Portugiesen 1509 bzw. 1511. Er setzt hier die Konnotationen „ungläubig, räuberisch, verlogen, wortbrüchig“ voraus und unterstellt die Absicht zur gewaltsamen Etablierung von Kreuzfahrerstaaten. Er ist ein Etikett, mit dem das Auftauchen der christl. Portugiesen in einen geschichtlichen Rahmen eingeordnet wird, der sich auf islamische Überlieferungsräume bezieht. Für einen unveränderten Gebrauch der Bezeichnung F. im außerislamischen Kontext spricht der Hinweis des Gelehrten Kon Ying-Siang, daß fo-lang-ki (F.) der Name eines Landes und nicht der einer Kanone sei. Wilfried Wagner, Myths Surrounding Malacca’s Downfall and Portuguese Triumphant Interpretations, in: Fritz Schulze / Holger Warnk (Hg.), Insular Southeast Asia, Wiesbaden 2006, 111–130. WI L F RI E D WAGNE R Franklin, Benjamin, * 17. Januar 1706 Boston, † 17. April 1790 Philadelphia, □ Christ Church Cemetery Philadelphia, Puritaner, Freimaurer F. war nicht nur einer der erfindungsreichsten Naturforscher des 18. Jh.s, sondern neben George →Washington auch der bedeutendste Gründervater der →Vereinigten Staaten. Als einziger am. Staatsmann unterzeichnete er alle vier Gründungsdokumente der USA: Die Unabhängigkeitserklärung von 1776, den frz.-am. Freundschafts- und Handelsvertrag vom 6.2.1778, den brit.-am. Friedensvertrag vom 3.9.1783 und die Unionsverfassung von 1787. Geboren wurde F. als jüngster Sohn des Seifensieders Josiah F., eines puritanischen Glaubensflüchtlings aus England, und dessen zweiter Frau Abiah Folger und wuchs mit sechzehn Geschwistern in einer Großfamilie auf, die der Vater gemäß den asketischen und moralisch anspruchsvollen Grundsätzen der calvinistischen Tradition anleitete. Zu seiner ersten und bleibenden Lieblingslektüre zählten die Essays to do Good (1710) des puritanischen Predigers Cotton Mather, der seine Leser mit beredten Worten darauf hinwies, daß das Vollbringen guter Taten als der große Zweck des Lebens zu gelten habe und daß die praktische Frömmigkeit den Kern der Religion ausmache. Nach kurzem Besuch der Lateinschule trat F. 1718 als Lehrling in die Druckerei seines Bruders James ein, wo er schon bald ein großes Geschick im neu erlernten Gewerbe unter Beweis stellte. Daneben bildete er sich in seinen wenigen Freistunden auf den unterschiedlichsten Wissensgebieten als Autodidakt weiter. 1728 eröffnete er sein eigenes Geschäft in Philadelphia. Dort heiratete er 1730 Deborah Read, mit der er drei Kinder großzog. Als erfolgreicher Drucker, Hg. der auflagenstärksten am. Tageszeitung Pennsylvania Gazette und Autor eines sehr populären Almanachs gehörte er seit Ende der 1730er Jahre zu den vermögenden und angesehenen Unternehmern Nordamerikas. Seit 1736 betätigte er sich überdies als einflußreicher Ab272
geordneter im →Abgeordnetenhaus von Pennsylvania, zunächst als Schriftführer, dann auch als Abgeordneter. Politisch-gemeinnützig handelte er zudem als Initiator zahlreicher Bürgerinitiativen, mit deren Hilfe er öffentliche Bibliotheken, Krankenhäuser, Schulen und den Vorläufer der University of Pennsylvania begründete. Nach seinem 1748 erfolgten Rückzug aus dem Druckereibetrieb, dessen Geschäftsführung er seinem Teilhaber David Hall übertrug, wurde F. dann auch als Wissenschaftler für das Gemeinwohl tätig. In langjährigen physikalischen Experimenten lüftete er das Geheimnis der Elektrizität und wies nach, daß Blitze elektrischer Natur waren. Mit seiner Erfindung des Blitzableiters stellte er ab 1752 ein einfaches und doch probates Mittel zur Bändigung einer bedrohlichen Naturerscheinung bereit. 1757 wurde er als Agent der Kolonie nach London entsandt, wo er nach Beendigung des →Siebenjährigen Krieges auch zunehmend die Interessen anderer am. Kolonien vertrat. Als entschiedener Gegner der brit. Besteuerung Amerikas entwickelte er sich seit den frühen 1770er Jahren zu einem der schärfsten Kritiker der brit. Reg. So plädierte er gleich nach seiner 1775 erfolgten Rückkehr nach Philadelphia für eine am. Unabhängigkeitserklärung, die er dann 1776 selbst redigierte und mit unterzeichnete. Während des Unabhängigkeitskrieges war er als Chefdiplomat der Vereinigten Staaten am Hof von Versailles Architekt der kriegsentscheidenden frz.-am. Militärallianz. Nach Kriegsende erarbeitete er in Paris den brit.-am. Friedensvertrag von 1782/83. Als frischgekürter Präs. Pennsylvanias beteiligte er sich 1787 auch an den Beratungen des in Philadelphia tagenden am. Verfassungskonventes, der die bis heute gültige US-Verfassung entwarf. H. W. Brands, The First American. The Life and Times of Benjamin Franklin, New York 2000. Walter Isaacson, Benjamin Franklin. An American Life, New York 2003. Jürgen Overhoff, Benjamin Franklin. Erfinder, Freigeist, Staatenlenker, Stuttgart 2006. JÜ RG EN O V ERH O FF Franz Xaver →Xaver, Franz Französisch-Indochina. Die seit 1888 einheitlich von einem frz. Gen.-gouv. in →Saigon bzw. →Hanoi (seit 1902) verwaltete und direkt dem Kolonialministerium in Paris unterstehende Indochinesische Union (L’Union Indochinoise oder L’Indochine Française) bestand aus fünf Großregionen, nämlich der älteren Kolonie →Cochinchina, den →Protektoraten →Laos (1893 erworben), →Kambodscha (1863–1884 erworben) und AnnamTonkin (1873–1885 erworben und getrennt verwaltet) sowie dem auf chin. Gebiet liegendem Pachtgebiet →Guangzhouwan (1898 erworben). Der östliche Teil der hinterind. Halbinsel war seit 1862 schrittweise durch Verträge mit annamitischen Herrschern an Frankreich gelangt: Mit der endgültigen Erwerbung Cochinchinas (1874) ging die Öffnung des Roten Flusses und der Häfen Hanoi, Qui-Nhon und Haiphong einher, gefolgt von der Übernahme der Verwaltung Tonkins (1883), die auch die außenpolitische Unabhängigkeit Annams beendete. Im Vertrag von Tientsin (9.6. 1885) erkannte China die Herrschaft Frankreichs in seinem früheren Vasallen-
f rAn zö s i s ch e bes etzu n g m e� i k o s
staat an. Die 1907 von →Siam an Kambodscha abgetretene Provinz Battambang war die letzte territoriale Erweiterung, die aber 1941 auf Druck Japans an Siam zurückgegeben wurde. Entscheidend gefördert wurde die Kolonialverwaltung unter Gen.-gouv. Paul Doumer (1896–1902) mit der Aufstellung eines einheitlichen Staatshaushalts, der die Schaffung zentraler Reg.sbehörden ermöglichte, obwohl das föderale System mit höchst unterschiedlichen politischen Zuständigkeiten und Verwaltungen in den einzelnen Landesteilen bestehen blieb. Wirtschaftlich dominierten Kohle (Tonkin), →Reis (Cochinchina) und nach 1910 Kautschuk (Cochinchina und Kambodscha), deren Erzeugung von der Banque de l’Indochine unterstützt wurde. In den 1920er Jahren entstanden einheimische nationalistische Bewegungen, darunter die 1930 gegründete Kommunistische Partei mit ihrem Führer →Ho Chi Minh. Die frz. Verwaltung wurde im März 1945 von Japan gewaltsam beseitigt. Nach der jap. Kapitulation rief Ho Chi Minh am 2.9.1945 die Demokratische Rep. →Vietnam aus; in Kambodscha und Laos blieben die monarchischen Systeme bestehen. Trotz der frz.-vietnamesischen Abkommen (März 1946), in denen Frankreich einen „Freistaat Vietnam“ als Teil einer zukünftigen frz. kontrollierten indochinesischen Föderation anerkannte, brach ein jahrelanger Krieg zwischen frz. Expeditionskorpstruppen und einer – seit 1949 von der Volksrep. China ideell und materiell unterstützten – vietnamesischen Guerilla aus. Der Sieg vietnamesisch-chin. Verbände in der Schlacht von Diên Biên Phu im Nordwesten Vietnams (Nov. 1953 – Mai 1954) zwang Frankreich zu einer diplomatischen Beendigung des Krieges. In den Genfer Abkommen vom 21.7.1954 wurde die provisorische Teilung Vietnams in zwei Staaten im Norden und Süden beschlossen und der Abzug der frz. Truppen geregelt. Pierre-Richard Feray, Le Viêt-Nam, Paris 2001. Claude Liauzu (Hg.), Dictionnaire de la colonisation française, Paris 2007. Virginia Thompson, French Indo-China, New York 1968. BE RT BE CKE R Französisch-Westafrika. Afrique Occidentale Française war von 1895 bis 1956 der offizielle Name der frz. Besitzungen im westlichen Afrika. Dazu gehörten die Kolonien →Senegal, Frz.-Sudan (heute →Mali), →Guinea, →Elfenbeinküste, →Obervolta (heute →Burkina Faso), →Dahomey (heute →Benin), →Niger und Mauretanien. Saint-Louis war bis 1902 die erste Hauptstadt dieser Föderation, bevor ein Dekret des Gen.-gouv.s Ernest Roume (1902–1908) den Reg.ssitz nach →Dakar verlegte. Das koloniale Herrschaftssystem war zentralistisch und pyramidal. An der Spitze der Föderation stand der Kolonialminister in Paris. Er bestimmte den Lauf der Dinge in den Kolonien durch Verordnungen und war allein dem Parlament gegenüber verantwortlich. Sein direkter Untergebener war der Gen.-gouv. in Dakar, der seinerseits den Gouv.en der Kolonien Weisungen gab. Die Kolonien ihrerseits waren in Départments, Kantone und Dörfer aufgeteilt. Für jede dieser Verwaltungseinheiten gab es einen Chef. Das Hochschul-, Finanz- und Militärwesen war Sache der Föderation. Die sonstige Verwaltung der Kolonien lag in den Händen der
Gouv.e. Verschiedene Verwaltungsreformen modifizierten die Binnenstruktur von F., ohne allerdings auf eine Unabhängigkeit hinzuarbeiten. Als institutioneller Nachfolger der Föderation wurde 1946 zunächst die Union Française gegründet, die sich als Assoziation zwischen Frankreich, seinen Départments und überseeischen Besitzungen verstand. Die Kolonien wurden jetzt überseeische Territorien genannt. Dennoch amtierte immer noch der Kolonialminister, und die Hauptverwaltung in Dakar kontrollierte alle wichtigen politischen Angelegenheiten inkl. der →Justiz. Erst nach der Reform des Loi-cadre 1956 gewannen die überseeischen Territorien an Autonomie, die dann den Weg zur Unabhängigkeit freimachte. Robert & Marianne Cornevin, L’histoire de l’Afrique des origines à nos jours, Paris 1966 (dt. Frankfurt/M. 1980). Joseph Ki-Zerbo, Geschichte Schwarzafrikas, Frankfurt/M. 1981/90. Y O U SSO U F D IA LLO Französische Besetzung Mexikos. Im Winter 1861/62 landeten Truppen Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens an der mexikanischen Golfküste; sehr schnell wurde allerdings deutlich, daß die Ziele der beteiligten Staaten stark divergierten: Während Großbritannien und Spanien durch die militärische Intervention v. a. finanzielle Ansprüche durchsetzen wollten, ging es dem frz. Ks. Napoleon III. darum, maßgeblichen frz. Einfluß in und auf →Mexiko zu sichern. Als den Reg.en in London und Madrid klar wurde, was Napoleon im Schilde führte, zogen sie ihre Truppen zurück. Das bot dem frz. Monarchen die erwünschte Gelegenheit, mit Hilfe der Konservativen, die im Bürgerkrieg besiegt worden waren, eine mexikanische Monarchie in Abhängigkeit von Frankreich zu etablieren. Dieses Vorhaben gelang allerdings nicht vollends. Zunächst entsandte Frankreich nur 5 500 Soldaten, weil es auf die Unterlegenheit der mexikanischen Truppen und die militärische Zusammenarbeit mit den Konservativen hoffte. Nachdem sich beide Annahmen als Irrtum erwiesen hatten, wurde 1862 das Heer unter General Forey auf 30 000, 1863 unter General Bazaine schließlich auf 42 000 Mann (davon 34 000 Franzosen) erweitert. Die Guerillaeinheiten (→Guerilla) des seit 1861 amtierenden Präs. Benito Juárez, eines Liberalen indianischer Abstammung und Mentors der liberalen Verfassung von 1857, konnten geschlagen werden. Am 7. Juni besetzten Bazaines Truppen die Hauptstadt. 1865 konnte sich Juárez nur noch in den nördlichen Grenzregionen zu den →USA halten. Eine willfährige Notablenversammlung proklamierte 1863 die Errichtung einer Monarchie, der „zweiten“, da es kurz nach der Unabhängigkeit unter Ks. Agustín de Iturbide von 1822 bis zu dessen Ermordung 1823 bereits diese Staatsform gegeben hatte. Da ein rk. Erbprinz gesucht wurde, wurde die Krone Erzherzog →Maximilian von Österreich angeboten. Er nahm an und brachte im Mai 1864, gewissermaßen als Hausmacht, ein österr. Expeditionskorps in Brigadestärke sowie belg. Freiwillige mit. Allerdings war die Übereinstimmung zwischen den mexikanischen Konservativen und Maximilian von Anfang an minimal, denn dieser wollte die mexikanische Politik durchaus liberal ausrichten. Er wollte die Kirche mittels eines Konkordates der weltlichen Herrschaft unterordnen (dazu 273
f r A n z ös i s c h e s k o l o n i A l r ei c h
gehörte die Übernahme des Bildungswesens durch den Staat), die Pressefreiheit verankern und den →Freihandel durchsetzen. Hinsichtlich der Politik gegenüber den indigenen Gemeinden entschied er allerdings nach konservativen Grundsätzen: Er versprach indígena-Gemeinden mit genossenschaftlichem Nutzungssystem des Bodens wiederherzustellen. Außerdem machte er sich bei den Latifundisten unbeliebt, weil er für eine Entschuldung der Knechte (peones) eintrat. Mit seiner Politik beraubte sich Maximilian seine Basis in der Bevölkerung selbst. Die Konservativen wandten sich von ihm ab, die Liberalen konnte er aus grundsätzlichen Erwägungen nicht gewinnen. Es blieb die Armee. Als nach dem Ende des →Am. Bürgerkriegs im Apr. 1865 Napoleon III. von der US-Reg., die sich bei solchen Gelegenheiten auf die →Monroe-Doktrin berief, massiv unter Druck gesetzt wurde, und US-Präs. Andrew Johnson sogar Truppen an der mexikanischen Grenze zusammenzog und die mexikanischen Truppen mit Waffen und Munition versorgte, begann Napoleon III. am 21.5.1866 mit dem Rückzug aller frz. Truppen aus Mexiko und der Einstellung jeglicher Finanz- und Wirtschaftshilfe. Damit war das Schicksal des zweiten mexikanischen Ksr.s besiegelt. Maximilian wurde am 19.6.1867 von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Am 15. Juli zog Juárez in Mexiko-Stadt ein. In den folgenden Monaten wurde die Verfassung von 1857, die den Bürgerkrieg vor der frz. Intervention verursacht hatte, in Kraft gesetzt. Erst durch das Intermezzo der frz. Besetzung waren die Konservativen diskreditiert worden. René Chartrand, The Mexican Adventure 1861–67, London 1994. Christine Ibsen, Maximilian, Mexico, and the Invention of Empire, Vanderbilt 2010. Johann Lubienski, Der maximilianische Staat: Mexiko 1861–1867, Wien 1988. T HOMAS F I S CHE R Französisches Kolonialreich. Frankreich erwarb seine ersten Kolonien am Ende des 16. Jh.s. Im 19. Jh. war das Land die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt nach Großbritannien. Heutzutage stehen nur noch wenige überseeische Territorien unter frz. Verwaltung. Schon in den 1950er Jahren zeichnete sich der Zusammenbruch der frz. Überseebesitzungen ab. Frankreich besaß Kolonien und →Protektorate in Afrika wie Frz.-Äquatorialafrika, -Westafrika oder -Nordafrika, in Asien wie Frz.-Indien oder →Frz.-Indochina, in der →Antarktis, in →Amerika wie Akadien oder Louisiana und in Ozeanien. Die Eroberungszeit des Reiches läßt sich in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase begann 1546 und endete, als Frankreich durch den Pariser Frieden 1763 den größten Teil seiner am. und ind. Gebiete an Großbritannien abgeben mußte. In dieser Phase eroberte Frankreich das heutige →Kanada, das Zentralgebiet der →USA und einige karibische Inseln. Bestandteile des Kolonialreiches waren genauer Neufrankreich, die →Antillen, Westindien sowie Handelsniederlassungen und mannigfaltige Inseln. Die damaligen Kolonien wurden in der Epoche der Monarchie erobert. Deswegen hieß das Reich empire royal. Dem frz. →Kolonialismus lagen Machtrivalitäten mit dem span. Kolonialreich und Prestigegewinn zugrunde. Es ging auch darum, entfernte Völker zum Chris274
tentum zu bekehren und den Konsumbedarf der Elite in der Metropole mit „exotischen“ Produkten wie →Kaffee und →Zucker zu decken. Der Friede von Utrecht (1713) kündigte den Zusammenbruch dieser Phase der Besetzung an, denn Frankreich mußte in Nordamerika Neuschottland, Neubraunschweig und die Insel Neufundland an Großbritannien abtreten und das besetzte Gebiet um die Hudson Bay an die Briten zurückgeben. Danach verblieben Frankreich nur ein paar Kolonien in →Indien, die Insel →Gorée im →Senegal, Guadeloupe, →Martinique, Saint-Martin, Guyana sowie Saint-Pierre und Miquelon, die nach 1946 Übersee-Départements wurden. Die zweite Phase der imperialistischen Expansion begann 1830 unter Napoleon III., dem es gelang, die Fläche des ersten Kolonialreiches zu verdreifachen. Wegen seiner Einschränkung und Überwachung durch andere europäische Länder und die Niederlage Napoleons setzte Frankreich die →Eroberung Afrikas, die mit der Kolonisation →Algeriens (1830–1847) startete, an. Dann erfolgte die militärische Besetzung West- und Zentralafrikas, Indochinas und zahlreicher Inseln in Ozeanien. Der Höhepunkt des Reichs war der Erste Weltkrieg, als Syrien und der Libanon unter frz. Verwaltung gestellt wurden. 1939 betrug die Gesamtfläche des Kolonialreiches ca. 13,5 Mio. km2, inkl. der Metropole und des Territoriums →Fezzan, das 1943 okkupiert (→Okkupation) und 1951 an →Libyen abgegeben wurde. In Westafrika wurde die Angliederung neuer Gebiete durch einige Faktoren erleichtert, nämlich die Entwicklung eines Hafens in →Dakar und die Inbesitznahme ganz Senegals ab 1840, wo die ersten Außenposten 1612 eingerichtet wurden. Andere Faktoren waren die Gründung der →Tirailleurs Sénégalais, Regimente afr. Kolonialtruppen und ein Handelsstützpunkt, der 1859 gegründet wurde. Daraus entstand 1895 das sog. →Frz. Westafrika. Sein zentralafr. Pendant, das später ins Leben gerufen wurde, begann mit dem Erwerb der Küste →Gabuns 1862. Weitere Eroberungen im heutigen Zentralafrika führten 1910 zur Gründung von Frz.-Äquatorialafrika. Mit der Übernahme des nach Ende des Ersten Weltkriegs im Besitz des →Völkerbundes stehenden Territoriums →Kamerun als Mandat wurde Äquatorialafrika 1919 erweitert. Während des →Zweiten Weltkriegs spielten die frz. ÜberseeTerritorien eine entscheidende Rolle, insofern als Kolonialtruppen gegen Hitler-Truppen kämpften. Nach der aktiven Teilnahme ihrer jeweiligen Herkunftsländer an der Befreiung Frankreichs und angesichts ihrer schweren Verluste im Krieg stellten die Kolonisierten 1946 den Kolonialismus als politisches System in Frage. Die meisten von ihnen lehnten das Angebot Frankreichs, aus ihnen autonome Rep.en innerhalb einer „Frz. Gemeinschaft“ (Union Française) zu machen, ab. Die mit dem Widerstand gegen dieses Projekt einer Fortführung der wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete einhergehenden Bewegungen und Demonstrationen führten nach blutigen Unterdrückungen zu den ersten Unabhängigkeiten der Kolonien, wie z. B. in →Guinea (1958). In Ostafrika ging es Frankreich wesentlich darum, den Einfluß Großbritanniens zu konterkarieren. Der 1862 mit →Madagaskar unterzeichnete Handelsvertrag zielte bspw. darauf ab. In Nordafrika wurde die frz. Armee in →Tu-
f r A u en b u n d d er d eu ts ch en k o lo n iA lg es ells ch Af t
nesien verstärkt. Nach der Eroberung Algeriens begann die Inbesitznahme von →Kambodscha, →Cochinchina (im heutigen →Vietnam), →Neukaledonien, →Polynesien und Senegal. In Afrika wie in Asien war der Zweite Weltkrieg der Auslöser der Auflösung des Imperiums, die ab den 1950er Jahren auf die Unabhängigkeit der meisten Kolonien hinauslief. Damit erfolgte, dies jedoch nur theoretisch, die totale Unabhängigkeit frz. Kolonien von der Metropole. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Gebiete Frz.-Somaliland (→Dschibuti) und →Komoren 1977 und 1975 betrachtet Frankreich die noch unter seiner Verwaltung verbliebenen Territorien zum einen als integrale Bestandteile d. frz. Rep., zum anderen als Übersee-Gemeinschaften. Dazu zählen ca. zehn Inseln und Inselketten im →Atlantischen Ozean, in der →Karibik, im →Ind. Ozean, im Süd-Pazifik und in der Antarktis. Hinzu kommt ein Territorium in Lateinamerika. Insg. sind es 120 656 km², d. h. ein Bruchteil von 1 % der Gesamtfläche des Reichs zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs. Allerdings ist der politische Status der ehem. →Strafkolonie Neukaledonien seit 2003 provisorisch anders als der der anderen frz. Überseegebiete. Ab 2014 muß sein Status durch eine →Volksabstimmung definitiv festgelegt werden. Auf Grund seiner DOM-TOM (Départements d’Outre-Mer: Guadeloupe, Martinique, Frz. Guyana, Réunion u. st. 2011 →Mayotte und Territoires d’Outre-Mer, Übersee-Territorien, →TOM – seit 2003 offiziell Collectivités d’outre-Mer: Frz.-Polynesien u. Wallis u. Futuna), besitzt Frankreich heutzutage die zweitgrößte exklusive Wirtschaftszone auf der Welt, ca. 1,1 Mio. km2. Udo Scholze u. a., Unter Lilienbanner und Trikolore. Zur Geschichte des frz. Kolonialreiches. Darstellung und Dokumente, Leipzig 2001. Joseph Ki-Zerbo, Histoire de l’Afrique noire, Paris 1972. Jean Meyer u. a., Histoire de la France coloniale, des origines à 1914, Paris 1990. GE RMAI N NYADA
Frauen im dt. Kolonialismus. 1913 kamen auf 15 323 weiße Männer im gesamten dt. Kolonialgebiet nur 4 817 weiße F., obwohl ihre Zahl seit Beginn der Kolonisation stetig angestiegen war. Es handelte sich dabei um Missionsangehörige, Krankenschwestern, Hausmädchen, Lehrerinnen, Ehefrauen von Beamten, Farmern oder Pflanzern. Die koloniale Propaganda schrieb den dt. F. eine bedeutende nationale Aufgabe im Kolonisierungsprozeß zu: Von ihnen wurde erwartet, als vorbildliche Ehefrau, Hausfrau und Mutter für die Ausbreitung des „Deutschtums“ in den Kolonien zu sorgen und der „Rassenmischung“ entgegenzuwirken. Obwohl die Ausreise in die Kolonien auch ein geringes emanzipatorisches Potential barg, vertrat die koloniale Frauenbewegung ein sehr konservatives Frauenbild. Die bedeutendsten Zusammenschlüsse kolonial interessierter F. im Dt. Ksr., die auch die Übersiedlung von dt. F. in die Kolonien organisierten, waren der 1888 gegründete →Dt. Frauenverein vom Roten Kreuz für die Kolonien und der 1907 gegründete →Frauenbund der Dt. Kolonialgesellschaft. Die rechtliche Stellung der dt. F. in den Kolonien unterschied sich nicht von der in der Heimat, teilweise fand jedoch eine ideelle und soziale Aufwertung statt, die – besonders in
den Kolonien in Afrika – eng mit der Abwertung der einheimischen F. verbunden war. Die Forschung verweist darauf, daß die Positionierung der F. im sozialen Raum durch die Trias Geschlecht – Rasse – Klasse zu bestimmen ist. Dt. F. in den Kolonien werden als „unterlegenes Geschlecht der überlegenen Rasse“ bezeichnet. Die F. der kolonialisierten Völker wurden aus europäischer Sicht von ihren Männern unterdrückt, was als Beleg für die kulturelle Rückständigkeit der Kolonialisierten galt und durch die „Kulturmission“ behoben werden sollte. Tatsächlich litten die indigenen F. jedoch wohl oft mehr unter den Mißhandlungen durch die Kolonialherren. In der Forschung wird immer wieder darauf hingewiesen, daß weiße F. bezüglich der Mißhandlungen Einheimischer nicht nur als Mitwisserinnen, sondern auch als Täterinnen gesehen werden müssen. Q: Kolonie und Heimat in Wort und Bild, Berlin 1.1907/08–8.1914/15. L: Karen Smidt, Germania führt die dt. Frau nach Südwest, Magdeburg 1995. Katharina Walgenbach, Die weiße Frau als Trägerin dt. Kultur, Frankfurt/M. 2005. Lora Wildenthal, German Women for Empire, London 2001. LIV IA LO O SEN Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft. Der ‚Deutschkoloniale Frauenbund‘, wie er zunächst heißen sollte, wurde 1907 in Berlin von Gattinnen führender Militärs, Ministerialbürokraten und Adeliger gegründet. Zu seinen primären Zielen gehörte die Prävention sog. →Mischehen in der Siedlungskolonie →Dt.-Südwestafrika sowie die Etablierung des ‚Deutschtums‘ in den Kolonien. Darüber hinaus wollte er Frauen für die koloniale Frage gewinnen sowie den geistigen und wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen Kolonien und Heimat festigen. Die Namensänderung ‚F.‘ dokumentierte 1908 die Anbindung an die →Dt. Kolonialgesellschaft. Als korporatives Mitglied behielt der F. allerdings seine organisatorische und personelle Autonomie. Für die Publikation seiner Vereinsinterna wählte er die Zeitschrift „Kolonie und Heimat“. Der Verein war in zahlreiche Abteilungen bzw. Gauverbände untergliedert, die v. a. im Dt. Ksr. aktiv waren. Hier wurden Spenden für koloniale Projekte gesammelt und Propagandaveranstaltungen durchgeführt. Abteilungen in den dt. Kolonien waren die Ausnahme. Mitglied im F. waren insb. Frauen und Männer der gesellschaftlichen Elite. Die Mitgliederzahl stieg bis zum Ersten Weltkrieg kontinuierlich an (1907: 1 000 Mitglieder; 1909: 3 925; 1910: 8 014; 1914: 18 680). Unter dem Vorsitz von Hedwig Heyl (*1850 †1934) in den Jahren 1910–1920 erlebte der F. eine enorme organisatorische Prosperität. Mit ihr kam es ebenfalls zu einer verstärkten Anbindung an die bürgerliche Frauenbewegung, die sich z. B. 1911 in dem Beitritt zum Bund Dt. Frauenvereine äußerte. Zu den zentralen Projekten des F.s gehörte die Stellenvermittlung, Auswahl und finanzielle Unterstützung der Überfahrt von Dienstmädchen nach Südwestafrika, die dort dt. Siedler ehelichen sollten. Mit ihrem Kampf gegen sog. Mischehen verfolgte der F. bevölkerungspolitische bzw. rassistische Ziele. Zwischen 1908–1914 vermittelte der F. jährlich ca. 60– 100 Dienstmädchen im Alter von 20–35 Jahren. Darüber hinaus eröffnete er 1910 in Südwestafrika das ‚Heimat275
f r A u e nwA hl r e c h t
haus Keetmanshoop‘ und 1912 das ‚Jugendheim Lüderitzbucht‘. Im Dt. Ksr. beteiligte sich der Bund an den Frauenkolonialschulen in Witzenhausen, Bad Weilbach und Carthaus. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges verlagerte der F. seine Aktivitäten in den ‚Nationalen Frauendienst‘. Erst 1924 widmete er sich wieder der Förderung des ‚Deutschtums‘ in den ehem. dt. Kolonien und begann 1926 erneut mit Stellenvermittlungen. In den 1930er Jahren verzeichnete der F. einen Rekordzuwachs an Mitgliederzahlen: Vor seinem freiwilligen Beitritt in die ‚Dt. Frauenfront‘ der Nationalsozialisten hatte er einen Mitgliederstand von ca. 23 000 Personen. Im Juni 1936 löste sich der F. auf eigenen Beschluß auf und wurde in den Reichskolonialbund überführt. Q: Bundesarchiv Berlin, R 8023 / DKG Bestand Dt. Kolonialgesellschaft (Nr. 153–157). L: Katharina Walgenbach, Die weiße Frau als Trägerin dt. Kultur, Frankfurt/M. / New York 2005. Lora Wildenthal, German Women for Empire 1884–1945, London 2001. KAT HARI NA WAL GE NBACH
Frauenwahlrecht. Die Bereitschaft, Frauen mehr politische Rechte zuzubilligen, war v. a. in jenen außereurop. Gebieten ausgeprägt, wo europ. Männer in besonderer Weise von der Unterstützung der Frauen abhängig waren. Auf der Pazifikinsel →Pitcairn gaben sich die Nachfahren der Meuterer der →Bounty 1838 eine Verfassung, die das F. enthielt. Bei ihrer Übersiedlung zur Insel →Norfolk 1856 wurde auch dort das F. eingeführt. Europ. Siedlungskolonien, namentlich in Grenzlagen (Wyoming Territory 1869, Utah Territory 1870, Colorado 1893, South Australia 1895, Idaho 1896, Western Australia 1899), führten als erste das aktive (South Australia auch das passive) F. ein. Der Commonwealth of Australia beschloß nach seiner Gründung das aktive und passive F. 1902, doch dauerte es bis 1943, ehe die erste Frau im Bundesparlament saß. V. a. war das australische F. rassistisch, denn Aboriginesfrauen waren bis 1962 vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dagegen galt in Neuseeland das aktive F. seit 1893 auch für Maorifrauen (1919 passives F., 1933 erste Abgeordnete, 1941 F. auch für den Legislative Council). In europ. Siedlungskolonien war die Verleihung des F. häufig mit der Erwartung verbunden, durch die Stimmen der Frauen würden Gesetze zur →Prohibition erleichtert. In Utah erhoffte man sich davon die Abschaffung der Polygamie. Als die Frauen in Utah dieser Erwartung nicht entsprachen, wurde das F. 1887 vom Kongreß der Vereinigten Staaten wieder abgeschafft. 1915, 1918 und 1919 scheiterten Gesetzesvorlagen zur Einführung des allgemeinen F. in den USA. Mit dem 19. Zusatzartikel zur Verfassung wurde das F. am 18.8.1920 in den USA Bundesrecht (letzte Ratifizierung Mississippi erst 1984). In Lateinamerika war →Ecuador das erste Land, das das F. einführte (1929), in Asien →Birma (1922) und die →Mongolei (1924). In →Südrhodesien konnten europ. Frauen seit 1919 im bestehenden Besitzwahlrecht wählen (erste gewählte Frau 1920; →Tawse Jollie). Das erste allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen, unterschiedslos ihrer ethnischen Zugehörigkeit, galt 1889 für einige Monate auf Francaville (Port Vila) in den Neuen Hebriden, als sich die 276
Stadt für unabhängig erklärte (passives Wr. nur für europ. Männer). In Deutschland war die Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19.1.1919 die erste nationale, bei der Frauen wählen konnten, nachdem am 12.11.1918 das aktive und passive F. durch den Rat der Volksbeauftragten eingeführt worden war (Großbritannien: 1928; Frankreich: 1944). Die weibliche Wahlbeteiligung lag bei über 80 %. Im →Schutzgebiet →Dt.-Ostafrika hatte der progressive →Gouv. →Rechenberg 1909 auch Frauen das Wahlrecht in den Städten zugestehen wollen, was allerdings vom →Reichskolonialamt abgelehnt wurde. Am 6.5.1910 beschloß der Landesrat für →Dt.Südwestafrika das aktive Wahlrecht für dte. Frauen, die eine Farm besaßen und sie allein bewirtschafteten. 2014 besaßen Brunei und Saudi-Arabien kein F. Jan Christopher Fletcher u. a. (Hg.), Women’s Suffrage in the British Empire, London 2000. Ute Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, BadenBaden 1998. Karen Smidt, ‚Germania führt die deutsche Frau nach Südwest‘, Münster 1997. Lola Van Wagenen, Sister Wives and Suffragists. Polygamy and the Politics of Woman Suffrage, New York 1994. H ER MA N N H IERY / K ATH A RIN A A B ER METH
Frederi(c)ks, Josef, * vor 1842, † 20. Oktober 1892 Bethanien, □ unbek., ev. Der Führer der Bethanier-Nama wurde von Missionaren der →Rheinischen Missionsgesellschaft (Wuppertal) erzogen und nach dem Tod seines Vaters David Christiaan F. am 15.5.1881 in der Kirche von Bethanien in sein Amt als Kapitän eingeführt. Am 1.5. 1883 verkaufte er unter Mithilfe der Missionare Angra Pequena (heute Lüderitz mit Lüderitzbucht) an den Bremer Tabakwarenhändler (→Tabak) F. A. E. →Lüderitz, im Aug. ein weiteres Gebiet, das sich entlang der Küste von der Mündung des Oranjeflusses bis zum 26° südlicher Breite und 20 Meilen landeinwärts erstreckte. Reichskommissar Gustav →Nachtigal bestätigte am 28.10.1884 diese „Abtretungen“ durch einen Schutzvertrag des Dt. Reiches mit F. H O RST G RÜ N D ER
Freeman, John Derek, * 16. August 1916 Wellington / New Zealand, † 6. Juli 2001 Canberra, □ unbek. (vermutlich verbrannt und Asche verstreut), presbyt., später buddh. F.s Vater war gebürtiger Australier. Seine Mutter stammte aus einer angesehenen Familie in Wellington. Sie legte großes Gewicht auf seine religiöse Erziehung als Presbyterianer, ermutigte ihn aber auch in seinem vielfältigen intellektuellen Streben. An der Victoria Universität Wellington studierte er Psychologie und Philosophie unter Ernest Beaglehole, einem Schüler von Edward Sapir und Bewunderer des Werkes von Margaret →Mead. Während der Studienzeit begegnete er Jiddu Krishnamurti und blieb seither auf Lebenszeit dem →Buddhismus verbunden. 1948 erwarb F. den M. Phil. an der University of London mit der unveröffentlichten Diploma Thesis „The Social Structure of a Samoan Village Community“. Diese Arbeit beruhte auf seinen Feldforschungen in Sa’anapu (West)samoa, 1940–1943. Dort wurde F. der aristokratische Name (bzw. „Häuptlingstitel“) Lon-
frei beu terei
gona verliehen, was sich formend auf seine Binnensicht der samoanischen Kultur auswirkte. 1949–1951 führte er Feldforschungen in →Nord-Borneo durch, begleitet von seiner Frau Monica (geb. Maitland). 1953 wurde F. mit der unveröffentlichten Doktorarbeit „Family and Kin among the Iban of →Sarawak“ zum Ph.D. an der Universität Cambridge promoviert. Diese Forschungen über die Iban (bzw. Sea Dayak) führten zur Publikation der Monographie „Report on the Iban“ (1955/1970). Eine weitere Feldforschung in →Samoa führte F. 1966–1968 durch. F. war u. a. Prof. of Anthropology an der Australian National University (Canberra), sowie „Foundation Prof. of Anthropology“ und „Consultant on Samoan Studies“ der neugegründeten University of Samoa (Apia). F. war einer der brilliantesten Ethnologen des 20. Jh.s. Seine Beiträge zur Ethnographie →Borneos, zur Verwandtschaftsethnologie, zur Wissenschaftsgeschichte, zur Kulturtheorie, zum Leib-Seele-Problem und zur Ethnographie Samoas sind maßstäbesetzend. Seine Abhandlung „On the Concept of the Kindred“ (Journ. Of the Royal Anthrop. Inst. 91, 1961) gewann den Curl Preis. Weit über sein Fach hinaus erlangte er jedoch Berühmtheit durch sein Buch „Margaret Mead and Samoa“ (1983), in dem er nicht nur das von Margaret Mead in ihrem Buch „Coming of Age in Samoa“ (1928) gezeichnete Bild eines idyllischen, konfliktfreien und sexuell libertären Südseeparadieses widerlegt, sondern die Lehre des von Franz →Boas inaugurierten Kulturdeterminismus zurückweist. Methodologisch ließ er sich dabei von Karl Poppers Falsifikationismus leiten, den er jedoch zu unbeweglich vertrat und dessen Fortentwicklung er ignorierte. So berücksichtigte er die theoriegeleitete Konstruktion von Fakten zu wenig und war davon überzeugt, mit seiner Widerlegung Meads über einen unwiderleglichen Beweis gegen den Kulturdeterminismus zu verfügen. Aus gleicher Überzeugung sah er in indigenen religiösen Vorstellungen nur „error systems“. Die Kontroversen mit führenden Vertretern der am. „Cultural Anthropology“, in denen teilweise der ideologische Charakter dieses Wissenschaftszweiges offenbar wurde, prägten die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens. In seinem Buch „The Fateful Hoaxing of Margaret Mead“ (1999) zeichnet er Meads Feldforschung detailliert nach und vertritt u. a. die These, daß Mead von ihren Informantinnen mit falschen Informationen gleichsam geneckt worden sei. F. war eine starke, aber auch exzentrische Persönlichkeit. Die Derek F. Papers 1940– 2001 (Mandeville Special Collections Library, Geisel Library, University of California, San Diego) enthalten alle Unterlagen zu seiner Samoaforschung und einige Dokumente zu den Iban-Studien. Thomas Bargatzky, Über die Mead-Freeman Kontroverse, in: H. Hiery (Hg.), Neuauflage „Die dt. Südsee“, Stuttgart 2015. Hiram Caton (Hg.), The Samoa Reader: Anthropologists Take Stock, Lanham 1990. Donald Tuzin, Derek Freeman (1916–2001), American Anthropologist 104 (2002). 1013–1015. T HOMAS BARGAT Z KY Freetown. Hauptstadt der Rep. →Sierra Leone und ehem. brit. Kolonie (seit 1961 unabhängig). Frühere Bezeichnungen sollen „Romarong“, die „Stadt der Wehklagen“ sowie „Granville Town“ gewesen sein. F. hat ca.
820 000 Ew. und besitzt einen bedeutenden Überseehafen. Die Landwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftszweig, daneben spielt der Handel mit und die Verarbeitung von Diamanten eine wichtige Rolle. Zudem gibt es Betriebe der Nahrungsmittel-, Verpackungs- und Tabakindustrie (→Tabak). Bedeutende Handelsprodukte sind Holz, Gold, Bauxit, Rutil, Eisenerz, →Kaffee und Ingwer. F. liegt an der Nordwestspitze der Freetown Peninsula, im tropisch-feuchten →Klima und einer tropischen Regenwaldvegetation. 1462 gründeten Portugiesen hier einen ersten Stützpunkt. Die Gründung der heutigen Stadt steht im engen Zusammenhang mit der Abolitionsbewegung sowie der Sklavenemanzipation (→Emanzipation) in Großbritannien. 1787 begann die Besiedelung des heutigen Stadtgebietes durch befreite Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), die aus England, →Kanada, den →USA und →Jamaika im Gebiet der Kolonie Sierra Leone angesiedelt wurden. Bunce Island, eine F. vorgelagerte Insel, war lange Zeit der größte Sklavenumschlagsplatz Westafrikas. F. war Ende der 1990er Jahre Schauplatz eines Bürgerkrieges. Die Stadt wurde 1998 von Truppen der ECOWAS eingenommen, die von Rebellen der Revolutionary United Front angegriffen wurden. Nach einem Waffenstillstand im Mai 1999 kam es Anfang 2002 mit Unterstützung der Vereinten Nationen (UNAMSIL) zur Beendigung des Krieges. F. ist Sitz des UN Sondergerichtshofs für Sierra Leone. Die Verkehrsinfrastruktur ist schlecht, die Stadt verfügt aber über einen internationalen Flughafen. F. ist ein bedeutender Bildungsstandort, u. a. mit der University of Sierra Leone, die u. a. aus dem Fourah Bay College, der 1827 gegründeten ältesten Universität Westafrikas, besteht. Mac Dixon-Fyle / Cole Gibril (Hg.), New Perspectives on the Sierra Leone Krio, New York u. a. 2006. Odile Goerg, Pouvoir colonial, municipaliés et espaces urbains, Paris 1997. Jacqueline Knörr, Kreolisierung versus Pidginisierung als Kategorien kultureller Differenzierung, Münster 1995. TILO G R Ä TZ Frei Vicente do Salvador →Salvador, Frei Vicente do Freibeuterei. Unter F. versteht man die staatliche Sanktionierung privater bewaffneter Schiffe in Kriegszeiten, die durch eine offizielle Vollmacht (Kaperbrief, letter of marque) ihrer Reg. zu Angriffen auf feindliche Schiffe autorisiert waren. Dies konnten bewaffnete Kauffahrteischiffe sein, die im Stile des späteren Kreuzerkrieges bei sich bietender Gelegenheit feindliche Segler als Prisen nahmen; dies konnten aber auch ausschließlich für den Kampf- und Beutezweck ausgerüstete Privatkriegsschiffe sein, die im gesetzlichen Rahmen die Aufbringung feindlicher Handelsschiffe als primäres Ziel verfolgten. Die Absicht war in beiden Fällen die Schädigung des gegnerischen Seehandels. Für schwächere Seemächte bot sich damit eine effektive Möglichkeit, einem stärkeren Gegner empfindliche Verluste zuzufügen. Die F. war eine akzeptierte Form maritimer Kriegführung zwischen dem 16. und 19. Jh., die von allen wichtigen europäischen Seemächten praktiziert wurde. Ihre Anfänge reichen bis ins 13. Jh. zurück. Ihren Höhepunkt erreichte die F. von 1589 bis 1815, als Freibeuter in Ergänzung zu einer oder 277
freihAndel
als Substitut für eine staatliche Seemacht dienten. In besonderer Weise kristallisierten sich Ziele und Methoden der F. in den machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den iberischen Reichen Portugal und Spanien und den maritimen Herausforderern England, Holland und Frankreich im 16./17. Jh. heraus, als die →Karibik zu einem Hauptschauplatz der Kaperei geriet. Engl. Freibeuter bestimmten seither weitgehend das Bild des maritimen Abenteurers und Draufgängers in der Populärkultur. Die engl. F. hatte um 1780 mit über 450 Schiffen und ca. 19 000 Seeleuten ihren Zenit erreicht; ca. 20 % dieser Freibeuterflotte stellten private Kriegsschiffe. Als Freibeuter (engl. privateer – der Begriff taucht erstmals 1664 auf!) bezeichnete man sowohl das staatlich autorisierte Privatkriegsschiff als auch dessen Kommandanten bzw. dessen Mannschaft. Im Bestreben, die überseeischen Interessen vor der staatenlosen Seeräuberei zu schützen, zeichneten sich in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s Schritte zur Abgrenzung von F. und Piraterie ab. Bereits in den 1730er Jahren war die F. als nützliches Hilfsmittel im Krieg rechtlich in den Kontext internationaler Beziehungen eingebunden. Obwohl die F. in einem legalen Rahmen wie andere maritime Unternehmungen betrieben wurde, bestand unter den Seemächten keine Einigkeit darüber, inwieweit neben den klar benannten feindlichen Zielen auch neutrale Schiffe angegriffen werden durften. In der Realität verwischte die Grenze zur Piraterie, da sich Ziele und Methoden ähnelten. Die engl. Seehelden John Hawkins, Francis →Drake und Walter →Raleigh waren als privateers und als Piraten erfolgreich. Bei beiden Spielarten maritimer Gewaltanwendung ging es ums Beutemachen; Risiken und Gewinnaussichten bestimmten die Organisation der Unternehmung. Aus Sicht des geschädigten Staates unterschieden sich Freibeuter kaum von gemeinen Piraten und wurden daher bei der Ergreifung oft drakonisch bestraft. Um Verfehlungen bei der F. vorzubeugen, sollten über rechtmäßig erbeutete Schiffe Prisengerichte entscheiden und Kaperbriefe nur im Namen des Souveräns ausgestellt werden. Der Mangel an Disziplin, die Gier nach Beute sowie die Ausweitung der Raubzüge über einen Friedensschluß hinaus, machte die F. jedoch zu einem unkalkulierbaren Instrument des Seekrieges, das anerkannte Regeln der Kriegführung wiederholt verletzte. Die Pariser Deklaration von 1856 erklärte die F. und damit diese besondere maritime Spielart nicht-staatlicher Gewalt für beendet, aber nicht alle Staaten, so z. B. die →USA, stimmten dem zu. James McDermott, Martin Frobisher, New Haven / London 2001. David J. Starkey, British Privateering Enterprise in the Eighteenth Century, Exeter 1990. Virginia West Lunsford, Piracy and Privateering in the Golden Age Netherlands, New York 2005. ROL F - HARAL D WI P P I CH
Freihandel. Internationaler Handel, der nicht durch protektionistische Maßnahmen (z. B. Importkontingente, Zölle) beschränkt ist, so daß kein Marktteilnehmer durch die am F. teilnehmenden Staaten privilegiert oder benachteiligt wird; infolge der →Industrialisierung war im brit. Liberalismus des 18. Jh.s (zuerst bei Josiah Tucker) die Auffassung entstanden, Großbritannien könne 278
durch F. seine industrielle Vormachtstellung sichern. Die Politik machte sich diese Auffassung zu Eigen, Großbritannien wurde im 19. Jh. zum Hauptverfechter und Hauptprofiteur des F.s in der Welt. Durch Abschluß entspr. Handelsabkommen mit zahlreichen, v. a. außereuropäischen Staaten gelang Großbritannien die Errichtung eines →informellen Empire, das bis zum Ersten Weltkrieg zur Sicherung der führenden Stellung des Landes im Welthandel beitrug und in einigen Regionen (z. B. Westafrika) die Vorstufe der formellen Einverleibung dieser Regionen ins British Empire bildete. Im Rahmen der Aufteilung Afrikas verständigten sich die Kolonialmächte auf der →Berliner Westafrika-Konferenz 1885 zudem auf die Einrichtung einer gemeinsamen F.szone, die außer dem Kongo-Freistaat weitere Gebiete Zentralafrikas sowie ganz →Dt.-Ostafrika und einen Teil →Kameruns umfaßte. Im Kongo-Freistaat hebelte Leopold II. seit 1891 durch Vergabe exklusiver Konzessionen an verschiedene Firmen, insb. die Anglo-Belgian India Rubber and Exploration Company, den F. aus. Die Kolonialmächte ignorierten diese fortgesetzte vorsätzliche Verletzung der auf der Berliner Westafrika-Konferenz getroffenen Bestimmungen. Erst die wachsende Empörung der europäischen und US-am. Öffentlichkeit über die →Kongo-Greuel setzte 1908 dem Kongo-Freistaat ein Ende. Martin Lynn, The Imperialism of Free Trade and the Case of West Africa, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 15 (1986), 22–40. Karl Rathgen, Freihandelszone, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, 662f. Bernard Semmel, The Rise of Free Trade Imperialism, Cambridge 1970. CH R ISTO PH K U H L
Freinademetz, Josef, SVD, * 15. April 1852 AbteiOies, † 28. Januar 1908 Taika, □ unter der 12. Station des Kreuzwegs in Taika, rk. Der Südtiroler China-Missionar F. trat drei Jahre nach seiner Priesterweihe (25.7.1875) in die von Arnold Janssen infolge des Kulturkampfes im ndl. Steyl gegründete Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes (Societas Verbi Divini, →Steyler Missionare) ein. Ein Jahr später sandte ihn die Gesellschaft, zusammen mit dem Missionar Johann Baptist →Anzer, nach China (Ankunft Ende Apr. 1879), wo er 28 Jahre ununterbrochen als Missionar in der Provinz Süd-Shantung wirkte. Er war Verwalter der Missionsgebiete, Rektor des Seminars, geistlicher Leiter der ersten chin. Priester und mehrfach Administrator sowie Provinzial und Provikar. Mit den dt. Kolonialbehörden arbeitete er weitgehend konfliktfrei zusammen und befürwortete gelegentlich auch drastische Maßnahmen, so in der Yenchowfu-Angelegenheit und nach der Ermordung von zwei Steyler Missionaren am 1.11.1897. Andererseits bemühte er sich auch um einen Ausgleich mit den chin. Behörden und setzte sich v. a. im karitativen Bereich für die Chinesen und seine chin. Gemeinde ein. F. wurde 1975 selig, 2003 heilig gesprochen. Sein chin. Name lautete „Shengfu Ruose“ (Vater Zitter). Fritz Bornemann, Der selige P. J. Freinademetz 1852– 1908, Bozen 1977. H O RST G RÜ N D ER
f ri tz, geo rg
Fremdenlegion (frz.: Légion étrangère). Eine frz. Infanterie-Einheit, wurde am 9.3.1831 von Kg. Louis Philippe zur Kolonialisierung →Algeriens in der Sukzession des Régiment de Hohenlohe gegründet. Der erste Kommandeur war der Schweizer Christoph Anton Stoffel, der nach der Indienststellung mit deutlichen Disziplinproblemen und heterogenen Ausbildungsständen zu kämpfen hatte. In der Konsequenz wurde das Hauptquartier der F. im algerischen Sidi-Bel-Abbès disloziert und der Einsatz in Frankreich zunächst verboten. Ihren Ruf als Eliteeinheit erlangt die F. einerseits durch ihren Einsatz in den meisten frz. →Kolonialkriegen des 19. Jh.s. V. a. verlustreiche Gefechte wie Camerone (→Mexiko, 1862), Tuyen Quang (Tonkin, 1885) oder über die Kolonialkriege hinausgehend Diên Biên Phu (→Vietnam, 1954) zeigen sowohl den korpsimmanenten Kodex („La Légion est notre patrie“) als auch deren konstante Rezeption das Traditionsbewußtsein der Einheit, die Kapitulation nur im äußersten Notfall in Betracht zieht. Andererseits trägt die Aushebung und die konsequent auf überseeische Einsätze ausgelegte Ausbildung, die bis heute über dem Standard generischer Infanterie liegt, dazu bei. So bildet die F. die Vorhut in nahezu allen überseeischen Einsatzgebieten Frankreichs nach dem →Zweiten Weltkrieg. Rekrutiert werden die anfangs bis zu 40 000 Legionäre — damals wie heute — zum Großteil aus Freiwilligen europäischer Länder, die ihre Heimat aus politischen, wirtschaftlichen oder juridischen Gründen verlassen haben. Seit Algeriens Unabhängigkeit (1962) wandelt sich das Spektrum der F. und der Führungsstab befindet sich heute in Aubagne, wie auch die Mehrzahl der Verbände in Südfrankreich stationiert ist. Zahlreiche Einheiten bleiben aber weiterhin in frz. Überseedepartements disloziert. Heute ist die F., die noch ca. 7 900 Soldaten zählt, eine schnelle Eingreiftruppe, der weltweit in friedenssichernden Einsätzen operiert und integraler Bestandteil des frz. Heeres ist. Douglas Boyd, The French Foreign Legion, Stroud 2006. Christian Koller, Die Fremdenlegion, Paderborn 2013. Martin Specht, „Heute trifft es vielleicht dich.“ Dt. i. d. Fremdenlegion, Berlin 2014. HART MUT HOP P E RDI E T Z E L
French and Indian War →Siebenjähriger Krieg Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, * 16. Februar 1620 Berlin, † 9. Mai 1688 Potsdam, □ Dom zu Berlin, ev.-ref. Als Sohn des Kurfürsten Georg Wilhelm in Berlin geboren, legte er nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges die Grundlagen für den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Brandenburgs und später Preußens. Im Westfälischen Frieden von 1648 versuchte er durch militärische und außenpolitische Aktivitäten seine unzusammenhängenden Gebiete zu arrondieren. Das dazu aufzubauende Heer und die zentralisierte Verwaltung verursachten hohe Kosten, die durch eine prosperierende Wirtschaft aufgebracht werden sollten. Getreu seiner Maxime „Seefahrt und Handlung [Handel] sind die fürnehmsten Säulen eines Estats [Staates], wodurch die Unterthanen beides zu Wasser, als auch durch die Manufakturen zu
Lande ihre Nahrung und Unterhalt erlangen“, baute F., inspiriert von seinen Erfahrungen in der Jugend, die er in den Niederlanden verbracht hatte, mit Hilfe des ndl. Reeders Benjamin →Raule eine kleine hochseetüchtige Flotte auf. Mit der Errichtung der westafr. Handelskolonie →Großfriedrichsburg 1683 begann er seine überseeischen Aktivitäten, nachdem sein vorangegangenes Engagement, in Übersee Kolonialbesitz zu erlangen, erfolglos geblieben war. Von Anfang an entsprachen seine Pläne nicht den realen Möglichkeiten Brandenburgs. Er erwarb auch noch die Insel →Arguin im heutigen Mauretanien und pachtete vom dän. Kg. die Hälfte der Insel St. Thomas in der →Karibik – Voraussetzungen für den Überseehandel, insb. den transatlantischen →Sklavenhandel. Organisieren und durchführen ließ er dies durch die →Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie, die seit 1683 im zu Brandenburg gehörenden Emden ihren Sitz hatte. Nach dem Tod des Großen Kurfürsten 1688 ging das Interesse seiner Nachfolger am Überseegeschäft verloren und es geriet weitgehend in Vergessenheit. Erst als sich das Dt. Reich anschickte, in Übersee Kolonialgebiete zu erobern, berief man sich auf das Vorbild F.s als Schöpfer einer dt. Marine und angeblicher Begründer dt. Kolonialpolitik. Gerd Heinrich (Hg.): „Ein sonderbares Licht in Teutschland“, Berlin 1990. Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste, Berlin 22001. Ders., BrandenburgPreußens Streben in die Welt, in: Preußen 1701 – Eine europäische Geschichte, hg. v. Dt. Historisches Museum und Stiftung Preußische Schlösser und Gärten BerlinBrandenburg, Berlin 2001, 139–146. U LRICH VA N D ER H EY D EN
Fritz, Georg, * 21. November 1865 Alzey, † 14. November 1944 Alzey, □ Stadtfriedhof Alzey, ev.-luth. 1888 Forstreferendar. Ab 1889 Tätigkeit im argentinischen Gran Chaco und in →Paraguay. 1894–1899 Reg.sassessor in der hessischen Finanzverwaltung. 1899–1907 wegen seiner Spanischkenntnisse erster dt. Bezirksamtmann in Saipan (Marianen). Dort zeichnete er sich durch eine sehr umsichtige Vorgehensweise aus. Er förderte Sprache u. Kultur der →Chamorro, u. a. durch Reindigenisierung kolonialer Namen u. durch Heranziehung lokaler Eliten in Justiz u. Verwaltung (→Indirect Rule). 1908–1909 Vize-Gouv. in Ponape (Ostkarolinen). 1909– 1910 zuständig für West-Karolinen und Marianen mit Sitz in Jap. 1911 frühzeitige Verabschiedung u. Pensionierung mit Charakter eines Geheimen Reg.srates (Kritik von F. an der Haltung der kath. Mission beim →Ponapeaufstand). Er verfaßte während seiner Tätigkeit in der Südsee wissenschaftliche Werke zur Linguistik und Ethnographie indigener Völkerschaften. Zwischen 1925 bis 1930 wiederholt als forstwirtschaftlicher Berater in Südamerika (Paraguay, →Chile, →Bolivien). In La Paz 1928 Zusammentreffen mit Ernst Röhm (beide waren homosexuell). Wahrscheinlich unter dessen Einfluß Publizierung antisemitischer Pamphlete. Lückenhafte Personalakte im Archiv des Auswärtigen Amtes erhalten. Ein Nachlaß hat sich erhalten u. wird gegenwärtig zur Veröffentlichung vorbereitet. 279
f r ob e nius , l e o
Georg Fritz, Wörterbuch und Grammatik der Chamorrosprache, Berlin 21910. Georg Fritz, Die zentralkarolinische Sprache, Berlin 1911. G E R H ARD HUT Z L E R / HE RMANN HI E RY
Frobenius, Leo, * 29. Juni 1873 Berlin, † 9. August 1938 Biganzolo (Verbania), □ Zentralfriedhof Frankfurt/M., ev.-luth. Als Autodidakt hatte es F. zeitlebens schwer, in der Fachwelt anerkannt zu werden, doch gehört sein Werk zu den größten Leistungen der dt.-sprachigen Ethnologie. Zu Beginn seines Suchens in Völkerkundemuseen und Afrikabibliotheken stand der Kolonialenthusiast unter dem Einfluß von Friedrich →Ratzel (1844–1904) und dessen Schüler Heinrich Schurtz (1863–1903). 1904 begann mit den immer aufwendiger gestalteten „Dt. Innerafr. Expeditionen“ (DIAFE) seine empirische Phase, bis der Erste Weltkrieg ihn zur Veränderung seiner Kulturkonzeption zwang. Den „Riß von 1914“ verarbeitete er tiefsinnig in der „Paideuma“ genannten Standortbestimmung von 1921, in der er z. T. nach dem Vorbild Oswald →Spenglers (1880–1936) eine Lehre vom Lebenszyklus aller, auch der schriftlosen Kulturen entwarf. An die Stelle des Sammelns von Volkserzählungen, in denen er getreu nach Johann Gottfried Herder (1744–1903) die Seelen der Völker wieder erkennen zu können glaubte, trat in den →Expeditionen der Zwischenkriegszeit vermehrt die Aufnahme von Felsbildern, in denen F. bereits alle entscheidenden Menschheitsgedanken vermutete. Nach F.’ Weltanschauung verbarg sich hinter der Welt der Tatsachen eine Welt der Wirklichkeit und Wirksamkeit, in der das Spiel, die Zweckfreiheit, v. a. aber das Schicksal walteten. Am Anfang jedes Kulturschaffens stehe das Rätsel Tod, und die menschlichen Gesellschaften bewältigten es hauptsächlich durch imitatio naturae, einer gläubigen Mimesis zunächst des Tieres (Jäger und Sammler), dann der Pflanze (Bauern), schließlich der Gestirne (Staaten). Mit seiner Begeisterung für kultur- und schicksalsbestimmte Zucht und Ordnung (paideuma) war der fachwissenschaftliche Außenseiter dem Kreis um den abgedankten Ks. Wilhelm II. im ndl. Doorn willkommen; die Mythologen Walter F. Otto (1874–1958) und Karl Reinhardt (1886–1958) sorgten 1925 für die Übernahme seines bankrotten Privatinstituts von München nach Frankfurt/M. F. übernahm 1934 das Frankfurter Völkerkundemuseum und machte sein „Forschungsinstitut für Kulturmorphologie“ zum geistigen Brennpunkt eines ebenso expressionistischen wie konservativen Exotismus. Umfangreicher Nachlaß im F.-Institut. Q: Leo Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921. Ders., Erlebte Erdteile, 7 Bde., Frankfurt/M. 1925–29. L: Hans-Jürgen Heinrichs, Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius: Ethnologe, Forschungsreisender, Abenteurer, Wuppertal 1998. Bernhard Streck, Leo Frobenius, Frankfurt/M. 2014. BE RNHARD S T RE CK
Frontier (Grenze). Bezeichnet im nordam. Sprachgebrauch die Grenze zwischen dem von Weißen besiedelten, „kultivierten“ Land und dem „freien“ Land, der „Wildnis“ im Westen. Diese fiktive Grenze wurde im 280
Laufe der am. Geschichte immer weiter nach Westen verschoben: Zur Revolutionszeit hatte sie die Appalachen erreicht, um die Mitte des 19. Jh.s überschritt sie den →Mississippi. Die Volkszählung des Jahres 1890 befand, daß das gesamte Land besiedelt und die F. nunmehr „geschlossen“ sei. Umgehend begann eine Debatte darüber, welche Auswirkungen die F. auf die Entwicklung der →Vereinigten Staaten gehabt habe. Der Historiker F. J. Turner behauptete, die Existenz der F. habe die USA einzigartig gemacht. Alle herausragenden Merkmale des Landes, insb. seine Demokratie sowie sein von Individualismus und Egalität geprägtes Gesellschaftsmodell, seien aus der Erfahrung eines andauernden Siedlungsprozesses zu erklären. Gleichzeitig wurde vielerorts die Frage aufgeworfen, wie das Land nach dem Ende der Westexpansion seine Einzigartigkeit bewahren solle. Mußten nicht neue F.s geschaffen werden, damit die USA ihre egalitäre Demokratie bewahren konnte? Der Begriff der F. drang so im Laufe des 20. Jh.s tief in den am. Sprachgebrauch ein und wurde zu einer Metapher für die künftigen Herausforderungen, mit denen sich das Land konfrontiert sah. Der Erklärungswert der F.-These für die am. Geschichte blieb unter Historikern umstritten. Turners Sichtweise galt weithin als die verbindliche Interpretation der Geschichte der USA, bis sie in den 1950er Jahren von Historikern zurückgewiesen wurde, die die europäischen Ursprünge am. Demokratie in den Vordergrund rückten. Für heutige Historiker des am. Westens ist der Begriff der F. unlösbar mit einer aus weißer Perspektive geschriebenen Geschichte verbunden, in der die Leidtragenden der Westexpansion (Indianer, hispanics, schwarze Sklaven, →Sklaverei und Sklavenhandel) kaum vorkamen. In den letzten Jahren findet der Terminus wieder Interesse bei vergleichend arbeitenden Historikern, die über die politisch-sozialen Auswirkungen kolonialer Expansionsprozesse forschen. Christoph Marx, Grenzfälle. Zu Geschichte und Potential des Frontierbegriffs, in: Saeculum 54 (2003), 123– 143. Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46 (1995), 101–138. Matthias Waechter, Die Erfindung des am. Westens, Freiburg i. Br. 1996. MATTH IA S WA ECH TER Fülleborn, Friedrich, * 13. September 1866 Kulm (Chełmno), † 9. September 1933 Hamburg, □ Hamburg, Ohlsdorfer Friedhof, ev.-luth. F. wurde als Sohn des Rechtsanwalts Friedrich und Clara F. geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Kulm und Berlin studierte er Medizin und Naturwissenschaften in Berlin. Er arbeitete unter Virchow, →Luschan und Waldeyer als Famulus und erlangte 1895 den Grad des Dr. med. Während seiner Studien konnte er im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine zoologische Untersuchung in Nordamerika durchführen. 1896–1900 versah F. seinen Dienst als Oberstabsarzt in →Dt.-Ostafrika und begleitete in dieser Funktion die Nyassa-Kinga-Gebirgsexpedition (→Expeditionen). Seit 1901 hatte er eine Stelle als Assistent am Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg inne. Als Leiter und Experte für Tropenkrankheiten verbrachte F. den ersten Abschnitt der →Hamburger Südsee-Expedi-
fu n k , b ern hArd
tion 1908/09 in Melanesien. Während des Ersten Weltkrieges diente F. als Hygieneberater und Stabsarzt an der Westfront und auf dem Balkan. Nach seiner Rückkehr wurde F. zum Extraordinarius an die 1919 neu gegründete Hamburger Universität und zum außerordentlichen Prof. an die medizinische Fakultät berufen. In dieser Funktion konnte er 1923 eine Reise nach Zentral- und Südamerika unternehmen. Seit 1930 leitete er als Nachfolger Nochts das Tropeninstitut in Hamburg. Konflikte mit den NSMachthabern ließen ihn aus seinem Amt scheiden, doch verstarb F. eine Woche vor seiner Pensionierung. Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, Ndr. Wiesbaden 1996, 670. ANDRE AS L E I P OL D
Fugger. Die Augsburger Kaufmannsfamilie (Reichsgrafenstand seit 1526/30, Patriziat seit 1538) stieg unter Jakob F. dem Reichen (1459–1525) und seinem Neffen Anton (1493–1560) durch den Handel mit alpenländischem und slowakischem Kupfer und Kredite an das Haus Habsburg zur erfolgreichsten mitteleuropäischen Unternehmerfamilie ihrer Zeit auf. Ihr direktes überseeisches Engagement hatte episodischen Charakter: 1505/6 waren sie mit fünf weiteren oberdt. Firmen an einer port. Indienfahrt und 1525 an der Finanzierung einer erfolglosen span. Molukkenfahrt (→Molukken) beteiligt. Ein 1531 vom F.faktor in Sevilla ausgehandelter Vertrag über die Kolonisation →Chiles wurde nicht ratifiziert. 1586–1592 partizipierten die „Georg Fuggerischen Erben“ an den Kontrakten, in denen die port. Krone privaten Konsortien die Vermarktung ind. →Pfeffers übertrug. Stärker ist die mittelbare Rolle der F. an interkontinentalen Handelsbeziehungen zu gewichten: als größte europäische Edelmetallproduzenten (→Edelmetalle) des frühen 16. Jh.s stellten sie essentielle Handelsgüter für den port. Asien- und Afrikahandel bereit. Die F.faktorei in Sevilla exportierte Textilien (Barchent) in die Neue Welt und empfing am. →Perlen und Edelmetalle als Rückzahlung für Kredite an die span. Krone. Der Export von Quecksilber aus Almadén nach →Peru, wo es im Amalgamierungsverfahren zur Silbergewinnung eingesetzt wurde, war im späteren 16. Jh. einer der lukrativsten Geschäftszweige des Unternehmens. In der von Jakob F. dem Reichen gestifteten Armensiedlung in →Augsburg, der Fuggerei, wurde am. Guajakholz in der Syphilistherapie eingesetzt. Hans F. (1531–1598) nutzte das Handelsnetz der Firma zur Beschaffung außereuropäischer Heilmittel (Sarsaparilla, Bezoarsteine) und zur Besorgung exotischer Raritäten für fürstliche Kunden. Handschriftliche Zeitungen (F.zeitungen) hielten die Familie über Entwicklungen in Übersee auf dem Laufenden. Im 18. Jh. unterstützten Mitglieder des Hauses die Chinamission der →Jesuiten. Mark Häberlein, Die Fugger, Stuttgart 2006. Ronnie PoChia Hsia (Hg.), Noble Patronage and Jesuit Missions: Maria Theresia von Fugger-Wellenburg (1690–1762) and Jesuit Missionaries in China and Vietnam, Rom 2006. Hermann Kellenbenz, Die Fugger in Spanien und Portugal bis 1560, München 1990. MARK HÄBE RL E I N Fulbe (Fulani, Fula, Peul, Fellata, Sg. Pulo) ist die Eigenbezeichnung einer kulturell heterogenen Gruppe, die
vom →Senegal bis an den Rand des äthiopischen Hochlandes in 20 afr. Staaten verbreitet ist. Die Zahl der Sprecher des Ful(fulde), das zum Westatlantischen Zweig der Kongo-Kordofanischen Sprachfamilie gehört, dürfte ca. 25 Mio. betragen. Große Bevölkerungsteile bilden sie in Senegal, →Guinea, →Mali, →Niger, →Nigeria und →Kamerun, wo sich ihre Sprache teilweise als lingua franca ausgebreitet hat. Während früher mitunter bizarre Hypothesen über den Ursprung der F. vertreten wurden, überwiegt heute die Auffassung, daß ihre Ethnogenese sich im Senegal-Gebiet vollzog, wo sie seit dem 11. Jh. den →Islam annahmen und sich dann als Hirten und Eroberer nach Osten verbreiteten. Im 15. Jh. erreichten sie das Tschadsee-Gebiet (→Tschadsee), im 17. Jh. Darfur und um 1910 die Region des Blauen →Nils. Ihre bedeutendsten Reichsgründungen waren Futa-Djalon in Guinea (seit 1725) und Sokoto mit Schwerpunkt in Nigeria und Kamerun (seit 1804). Nach ihren kulturellen und sozioökonomischen Grundmustern lassen sich die F. in vier Hauptgruppen gliedern: 1. die als Bororo bezeichneten hellhäutigen Rinderhirten, die zwischen dem Sahel und dem tropischen Regenwaldgürtel nomadisieren und in vielen Ländern heute eine unter politischer Unterdrückung leidende Minderheit darstellen, 2. die Fulbe nai (Rinder-F.) genannten halbseßhaften Agropastoralisten, 3. die als seßhafte Bauern, Handwerker und Stadtbewohner lebenden Fulbe sire (Haus-F.) und 4. die Torobe und Tukulor, die als Verbreiter des Islam mit friedlichen und kriegerischen Mitteln agierten und zur religiösen und politischen Elite in ihren jeweiligen Wohngebieten aufstiegen. Ein einigendes Band besteht außer in der gemeinsamen Sprache und der islamischen Religion im Pulaaku, einem spezifischen Wertesystem und Verhaltensmuster der F. Youssouf Diallo, Nomades des espaces interstitiels, Köln 2008. U LR ICH BR A U K Ä MPER Funk, Bernhard, * 8. August 1844 Neubrandenburg, † 12. April 1911 Berlin, □ am Alten Friedhof in Neubrandenburg 1946 aufgelassen, ev.-luth. Medizinstudium in Berlin und Tübingen. Im Dt.-Frz. Krieg Unterarzt. 1872–1877 Schiffsarzt der HamburgAmerika-Dampfschiff-Compagnie und des Norddt. Lloyd auf der Nordamerika- bzw. der Karibik-Route. Ab 1880 praktizierte er als erster europäischer Mediziner auf →Samoa. Dabei gelangen ihm Erfolge bei der verbreiteten endemischen Form der Bindehauterkrankung. Er gewann Mitglieder der „großen“ Familien als Patienten und war bei der Bevölkerung beliebt. Ehrenamtlich führte er ab 1890 im Observatorium Mulinu’u meteorologische Beobachtungen für die Hamburger Seewarte durch. Im Apr. 1900 wurde ihm durch Gouv. →Solf, der ihn schätzte, die Funktion des (beamteten) Hafenarztes zusätzlich übertragen. Er gab 1904 aus Gesundheitsgründen die Praxis auf und kehrte in die Heimat zurück. Seine umfangreiche ethnographische Sammlung überließ er dem Museum seiner Vaterstadt. F. war zweimal kinderlos verheiratet: 1881 kurzzeitig mit der Tochter Leonore des berüchtigten →Beachcombers William „Bully“ Hayes, ab 1882 mit der samoanischen Häuptlingstochter Seni281
f u s s b Al l in A f r i k A
tima Takea. Nachlaß teils im Regionalmuseum Neubrandenburg, teils in Privathand. Werk: Kurze Anleitung zum Verständnis der Samoanischen Sprache, Berlin 1893. L: Peter Maubach, Dr. Bernhard Funk (1844–1911). Ein Neubrandenburger in der Südsee, Neubrandenburger Mosaik 19, Neubrandenburg 1995. GE RHARD HUT Z L E R Fußball in Afrika. Die Forschung hat F. lange nicht als wichtiges Thema anerkannt. Seit Ende der 1990er Jahre zeigt sich aber ein erstarkendes Interesse. F. kann als Ausgangspunkt für soziale, kulturelle, politische, geographische und wirtschaftliche Fragestellungen zu Vergangenheit und Gegenwart dienen. Seine Erforschung bietet Einblicke in transnationale Institutionen, nationale Projekte und lokale Initiativen sowie in die Verschränkungen von lokalen und globalen Prozessen. F. gehört zu den populärsten Sportarten in Afrika. Seine Verbreitung seit den 1860er Jahren war zunächst eng verknüpft mit der Präsenz europäischer Handelshäuser, Missionsstationen und Kolonialverwaltungen. Deren Vertreter spielten F. zum eigenen Vergnügen, aber auch mit dem Ziel, Körper und Geist junger afrikanischer Männer im Sinne sportlicher Werte zu disziplinieren. Doch schon früh bildeten sich auch rein afrikanische F.teams. Seit den 1920er und 1930er Jahren war F. eine der am meisten praktizierten städtischen Freizeitaktivitäten junger Afrikaner, die diesen Sport zugleich zu etwas eigenem machten. In diesem Kontext entwickelte sich F. zu einem zentralen Feld der Aushandlung von sozialem Status, Einfluß und Identifikation. Die Beliebtheit von F. machten sich auch die neuen Regierungen unabhängiger Staaten in Afrika zunutze. 1957 fand der erste Afrika-Cup statt. Die Bildung eines afrikanischen F.verbands und die Mitgliedschaft in der FIFA verliehen Afrika neuen Einfluß, v. a. mit der Suspendierung von Südafrika unter der →Apartheid. Die Austragung der ersten „afrikanischen“ Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika hatte damit auch symbolische Bedeutung. Zugleich machte sie deutlich, wie sehr Afrika Teil eines globalen F.-Business geworden ist. Einige der größten internationalen F.stars kommen aus Afrika. Lokale Ligen haben aber oft einen schweren Stand: Vereine und Verbände sind vielfach verstrickt mit persönlichen Interessen und dem Aufbau von Klientelverbindungen. Es fehlt an Mitteln für die Nachwuchsarbeit, und viele Talente wandern ins Ausland ab. Weniger prestigereiche Bereiche, wie der Frauen-F., können sich nur begrenzt durchsetzen. F. als Breitensport ist häufig ein Produkt privater Initiativen, ob in Form von lokalen Amateurmannschaften oder F.schulen. Der Begeisterung für den F. tut dies keinen Abstrich. F. bildet eine bedeutende Arena von Populärkulturen in Afrika. Peter Alegi, African Soccerscapes, Athens, OH 2010. S US ANN BAL L E R
Fußball in Indien. In →Indien wurde der F. während der Kolonialzeit durch das brit. Militär und Missionare eingeführt und breitete sich von der Hauptstadt →Kalkutta aus, wo in den 1880er Jahren die ersten ind. F.-Clubs entstanden. Die Indian Football Association (IFA) wurde 1892 als Dachverband für die Clubs in →Bengalen ge282
gründet. 1937 folgte die Gründung der All India Football Federation (AIFF) als Dachverband für alle Clubs in Brit.-Indien. Die Clubs wetteiferten um den Sieg in drei großen ind. Wettbewerben: dem Indian Football Association Shield in Kalkutta (seit 1893), dem Rovers Cup in →Bombay (seit 1891) und dem Durand Cup in Simla, der seit 1888 ausgetragen wird und damit das drittälteste große F.turnier der Welt ist. Der F. war zunächst Indikator der gemeinsamen Identität aller Inder und entwickelte sich rasch zu einer Ausdrucksform sowohl des →Ind. Nationalismus als auch der verschiedenen sozialen, ethnischen und regionalen Besonderheiten des Landes. Von politischer Bedeutung war der Sieg des Clubs Mohun Bagan (barfuß spielend) 1911 im Finale des IFA Shield, bei dem erstmals eine ind. Mannschaft ein brit. Team bezwang. In der von zunehmendem und blutigem Widerstand gegen die Kolonialherrschaft erschütterten Hauptstadt Brit.-Indiens wirkte dieser Sieg höchst ermutigend auf den antikolonialen Widerstand und stellte das Vorurteil, Europäer seien Südasiaten rassisch überlegen, fundamental in Frage. Neben Kalkutta waren die Garnisonsstädte →Madras, →Bangalore, →Haiderabad, Ambala, →Delhi, Peshawar und Dhaka Hochburgen des ind. F.s. Seit der Unabhängigkeit Indiens haben v. a. ostbengalische Clubs den heimischen F. bestimmt. Höhepunkt des ind. F.s ist regelmäßig das Aufeinandertreffen der rivalisierenden Spitzenclubs Mohun Bagan und East Bengal, die beide in Kalkutta beheimatet sind. In den 1930er Jahren nahmen ind. Teams an Turnieren in →Malaysia, →Singapur, China, Japan und Südafrika (→Südafrikanische Union) teil. 1950 qualifizierte die ind. Nationalmannschaft sich für die Weltmeisterschaft in →Brasilien, mußte sich jedoch wegen widriger Umstände (Mangel an internationaler Erfahrung, Erschöpfung durch lange Anreise, Schwierigkeit des traditionellen Barfußspiels) aus dem Wettbewerb zurückziehen. Bei den Olympischen Spielen 1956 erreichte das ind. Team, das bis Mitte der 1960er Jahre als eine der drei besten F.-mannschaften Asiens galt, den vierten Platz. Bei den Asian Games in Delhi (1951) und Jakarta (1962) gewann es die Goldmedaille. Seitdem hat die Qualität des ind. F.s stark nachgelassen, das Land rangiert heute auf Platz 146 der Weltrangliste. Ind. F. zeichnet sich allerdings weiterhin durch seine Traditionen und seine große Beliebtheit aus. Frauen-F. kam in Indien mit der Frauenrechtsbewegung des ausgehenden 19. Jh.s auf. Erste Ansätze sind für die 1890er Jahre nachweisbar. Das erste Turnier im Frauen-F. fand – trotz erheblicher Widerstände traditonell orientierter sozialer Gruppen – 1929 statt. 1938 wurde die Women’s Sports Federation als Dachverband des Frauen-F.s ins Leben gerufen. Kausik Bandyopadhyay, Scoring Off the Field: Football Culture in Bengal 1911–80, London 2011. Paul Dimeo / James Mills (Hg.), Soccer in South Asia, London 2001. Boria Majumdar / Kausik Bandyopadhyay, Goalless: The Story of a Unique Footballing Nation, Delhi 2006. SO U V IK N A H A
Fußball in Lateinamerika. Der F. gelangte durch kulturellen Transfer aus seinem Mutterland England nach →Lateinamerika. Engl. u. andere Einwanderergruppen
g Abo ro n e
im Cono Sur spielten dabei als Mittler eine wichtige Rolle. Engl. Immigranten gründeten 1867 den Buenos Aires Football Club. Die ersten F.-vereine in →Argentinien, Uruguay, →Brasilien und →Chile trugen engl. Namen, und die Spieler waren vorwiegend Engländer. Beim ersten internationalen Spiel zwischen einer argentinischen und einer uruguayischen Mannschaft 1889 in Montevideo (→koloniale Metropolen) spielten auch Engländer mit. Aus Großbritannien stammten das Spielgerät, die Regeln, die Sprache. 1893 wurde die Argentine Association Football League gegründet. Neben Briten erwiesen sich um die Wende zum 20. Jh. Galicier, Katalanen und Basken, Ligurer und Sizilianer und auch ein paar Deutsche als Wegbereiter der F.-kultur. F. war der Sport der Immigranten im Cono Sur. Schon bald jedoch diffundierte F. innerhalb der Bevölkerung im Cono Sur. Es kam immer mehr zur Gründung barrio- oder klassenspezifischer Klubs. Die Vereine hatten bald ein eigenes Image, und in kurzer Zeit gab es „Klassiker“ in der Meisterschaft (River-Boca, Racing-Independiente etc.), bei denen die Rivalität zum Ausdruck kam. 1910 spielten in →Buenos Aires anläßlich des →Centenario de la Independencia in der Copa Centenario Revolución de Mayo Uruguayer, Chilenen und Argentinier ihr erstes Freundschaftsturnier, und ab 1916 fand der Campeonato Sudamericano de Selecciones de la Confederación Sudamericana de Fútbol, statt. 1960 wurde erstmals die Copa Libertadores de América durchgeführt. F. war der Mannschaftssport der männlichen Mittelschicht, wurde jedoch rasch zum hegemonialen Massensport. Mit Ausnahme →Venezuelas, wo der nordam. beísbol (→Baseball) dominierte, wurde in den 1920er Jahren in Südamerika F. als hybrides Konstrukt Teil der kulturellen Nationen. Auch in →Mexiko setzte sich F. als wichtigste sportliche Freizeitbeschäftigung durch. In Zentralamerika dominierte meist beísbol. Das Spiel der lateinam. F.-Mannschaften emanzipierte sich allmählich vom kraftvollen engl. Kick-and-Rush. Häufig spielte man kurze Pässe oder lief mit dem Ball am Fuß, dribbelte und versuchte, den Gegner mit Tricks zu düpieren. 1930 fand die erste F.-Weltmeisterschaft – in Uruguay – statt. Den teilnehmenden lateinam. Nationen bot sich eine willkommene Gelegenheit, sich als Nation zu präsentieren und sich gegen andere abzugrenzen. Die beteiligten Länder präsentieren sich mit ihren Nationalhymnen und Flaggen. Der erste Weltmeister hieß Uruguay, der Vizetitel ging an Argentinien. Uruguay war zuvor bereits 1924 und 1928 Olympiasieger geworden und konnte seinen Erfolg 1950 bei der Weltmeisterschaft in Brasilien (im Finalspiel gegen Brasilien) wiederholen. Ab den 1930er Jahren wurden in lateinam. Städten große Stadien gebaut; der F. wurde zu einer Massenveranstaltung, die Spektakel garantierte, in der sich das Individuum, unterstützt durch die periodischen Veranstaltungen und Rituale (Hymnen usw.) als Teil im Ganzen wahrnahm. F. war damit zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Hinzu kam die regelmäßige Medienberichterstattung, welche aus dem F. auch in den Klatschspalten ein relevantes Ereignis machte. Die Politik versuchte ihn zu vereinnahmen – das zeigte am deutlichsten die Veranstaltung der WM 1978 in Argentinien, welche die argentinische Mi-
litärdiktatur für Propagandazwecke nutzte. Bereits Juan Domingo Perón (→Peronismus) hatte F. als vorbildhaften Volkssport (für Männer) propagiert. Die Verehrung von F.-spielern nahm mitunter quasireligiöse Züge an. Es kam aber auch wiederholt zu gewaltsamen Ausschreitungen. F. hatte zudem eine kompensatorische Funktion ein, wenn Institutionen und politische Eliten die Bedürfnisse der Menschen nicht zu befriedigen vermochten. Helden und Idole sorgten für Schlagzeilen und eine Vielzahl von Narrativen. F. war ein zentrales Vehikel der Konstruktion nationaler Identität. Zudem begann nun bereits die Kommerzialisierung. Als Profifußballer konnte man es zu Wohlstand und Ansehen bringen. Ab 1931 wurde F. in Argentinien ein Beruf. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s professionalisierten die großen Klubs die Spielerausbildung. Nicht zuletzt wegen der finanziellen Perspektiven für die Erfolgreichen übte F. vermehrt eine ungeheure Faszination auf Vorstadt- und Kinder aus den favelas und barrios pobres aus. Seit 1990 wurden in den führenden F.-ländern des am. Kontinents v. a. von ehem. Stars F.schulen gegründet. Südam. Spitzenfußballer wechselten auf Grund ihrer technischen Fertigkeiten und ihrer Kreativität in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in wachsender Zahl zu den Klubs der großen europäischen Ligen. Im Jahr 2000 wechselten ca. 700 brasilianische Talente für kürzere oder längere Zeit ins Ausland, zehn Jahre später waren es bereits deutlich über 1 000. Trainer, Berater und Klubs verdienten an den Transfers kräftig mit. Pablo Alabarces, Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation, Frankfurt/M. 2010. Eduardo P. Archetti, Masculinidades: fútbol, tango y polo en la Argentina, Buenos Aires 2003. Dario Azzellini / Stefan Thimmel (Hg.), Futbolistas, Fußball und Lateinamerika, Hamburg 2006. Fútbol, historia y politica. Compilación de Julio Frydenberg / Rodrigo Daskal, Buenos Aires 2010. TH O MA S FISC H ER Gaborone. Hauptstadt von →Botswana (geschätzte Ew.zahl 2010: ca. 250 000), gegründet 1964 zur Vorbereitung von Botswanas Selbstverwaltung 1965 und Unabhängigkeit von Großbritannien 1966. Bis dahin war das →Protektorat →Bechuanaland, wie Botswana damals hieß, von der Imperial Reserve (brit.-koloniales Verwaltungshauptquartier) von Mafeking in Südafrika aus regiert worden. Die neue Hauptstadt wurde auf einem beträchtlichen Gelände gebaut (dem früheren Gaberones Block), das überwiegend aus unentwickeltem Land bestand und vorher in Privatbesitz gewesen war. Durch dieses Gelände verlief der Ngotwane-Fluß, der aufgestaut werden konnte. G. wurde an die Bahnlinie angeschlossen (damals die Rhodesian Railways), die Südafrika mit Rhodesien (später →Simbabwe) durch Ost- und Nordost-Botswana hindurch verband. Der Name G. ist vom Namen eines langjährigen Herrschers (kgosi) des Tlokwa-Volkes abgeleitet, das bei der Hauptstadt und nahe eines alten kolonialen Verwaltungsstützpunkts lebt, der Gaberone (auch „Fort Gaberones“) genannt wurde. G. wurde als Verwaltungszentrum gebaut, mit nahegelegenen Wohnquartieren für Reg.sangestellte und ausländische Botschaften, sowie einem kleinen Einkaufsviertel in seinem Zentrum. Im Laufe der Jahre wurden G. nach Prozent283
g A b un
zahlen zu einer der am schnellsten wachsenden Städte Afrikas, und zum Zentrum der nationalen Reg., des Finanzwesens und Handels, der Landwirtschaft und Industrie, des →Transports und der Bildung. Die Diamantenindustrie unter Führung von DeBeers und Debswana, die den größten Teil des Wohlstands des Landes liefert, hat ihr Hauptquartier hier ebenso wie die internationalen Bergbaugesellschaften, die Kupfer, Kohle, Gold, Uran und Soda fördern. Die vielen Dörfer in den sog. tribal lands rings um die Hauptstadt sind zu Satellitenwohnstädten geworden, die mit G. durch ein weitgespanntes Straßennetz verbunden sind. Im Großraum G. (im Radius von 50 km) hat die Gesamtbevölkerung schätzungsweise 850 000 Ew. erreicht, d. h. 40 % der gesamten Staatsbevölkerung. Zugleich ist G. zu einem Sekundärzentrum für zahlreiche Unternehmen aus Südafrika geworden, die hier Niederlassungen unterhalten. Südafr. Gesellschaften produzieren hier Autos, Kleidung, verarbeitete Nahrung, und eine Reihe von Dienstleistungen und Ausrüstungsgegenständen für den botswanischen Markt. Die Hauptstadt ist auch Standort der einzigen nationalen Universität (der University of Botswana mit ca. 15 000 Studierenden), einer Anzahl privater Bildungseinrichtungen im sekundären und tertiären Bereich und Wohnsitz der meisten in Botswana lebenden Ausländer. Unter diesen sind Asiaten (Hindus, Muslime) die zahlreichsten, gefolgt von Simbabwern, weißen Südafrikanern, Europäern, Chinesen und Amerikanern. Fred Morton u. a. (Hg.), Historical Dictionary of Botswana, Methuchen 42008. F RE D MORTON Gabun (République Gabonaise) ist eine ehem. frz. Kolonie (Unabhängigkeit 1960). Der Staat (267 667 km²; 1,5 Mio. Ew.) liegt beiderseits des Äquators und weist ein Regenwaldklima auf. Im Norden grenzt G. an →Äquatorialguinea und →Kamerun, im Osten und Süden an die Rep. Kongo. Daneben besitzt es im Westen 800 km Atlantikküste. Der größte Teil der Bevölkerung sind Katholiken (60 %), weiterhin finden sich Protestanten und Muslime (jeweils 5 %) sowie Anhänger lokaler Religionen (30 %). Die größten ethnischen Gruppen sind Fang, Punu, Nzebi, Teke, Kota und Myene. Französisch ist Amts- und Verkehrssprache. G. ist wirtschaftlich vom Erdölexport geprägt, weitere Exportgüter sind Holz und Mangan. G. (Nationalfeiertag: 17. Aug.) ist eine präsidiale Demokratie, deren politisches System sich sehr an Frankreich anlehnt, mit einem vom Präs. ernannten Premierminister, einer Nationalversammlung (Assemblée Nationale, 120 Sitze) und dem Senat (102 Sitze). Der Zentralstaat mit neun Provinzen, geführt von vom Präs. ernannten Gouv.en, ist untergliedert in Départments und Distrikte. Das Land ist von der jahrzehntelangen Regentschaft von Omar Bongo Ondimba geprägt. Er übernahm 1967 die Macht und konnte sie auch nach der Einführung eines Mehrparteiensystems und freien Wahlen erhalten. Enge Beziehungen zu Frankreich und Ressourcen aus Anteilen der Erdölförderung halfen Bongo dabei, sein neopatrimoniales Regime zu stärken. Bongo war zugleich Vorsitzender der dominierenden „Parti Démocratique Gabonais“ (PDG), der früheren Einheitspartei, die eine liberal-marktwirtschaftliche Politik und eine enge 284
Bindung an Frankreich vertritt. Oppositionsparteien sind die UPG und UGDD. Im Nov. 2005 wurde Bongo ein letztes Mahl im Amt bestätigt. Nach seinem Tod im Juni 2009 wurde zunächst Rose Francine Rogombé als Senats-Präs.in gemäß der Verfassung als Nachfolgerin eingesetzt. Aus den Präsidentschaftswahlen im Sept. 2009 ging der ehem. Verteidigungsminister Ali Bongo Ondimba als Sieger hervor. David E. Gardinier, Historical Dictionary of Gabon, Lanham ³1994. Douglas Andrew Yates, The Rentier State in Africa, Trenton 1996. TILO G R Ä TZ Gajapati-Dynastie. Wörtlich: Herr der Elefanten. Herrschertitel und Name der von Kapilendra begründeten Suryavamsa-Dynastie (1434–1540). Kapilendra usurpierte nach dem Tod des Ganga-Kg.s Bhanudeva IV. 1434 den Thron des hinduistischen Kgr.s von Orissa (→Bihar und Orissa). Die materielle und ideologische Grundlage des G.-Kg.tums war durch die Ganga-Kg.e Codaganga, Anangabhima III. und Narasimha I. gelegt worden. Codaganga hatte mit dem Bau des Jagannatha-Tempels in Puri die Grundlage geliefert, welche Anangabhima durch eine Herrschaftsideologie, die Jagannatha zum eigentlichen Herrscher und ihn zu dessen Stellvertreter erhob, ergänzte. Sein Nachfolger Narasimha I. führte den G.Titel ein. Kapilendra, dem es als Usurpator an Legitimation fehlte, nutzte die enge Verbindung des G.-Kg.tums mit dem Jagannatha-Kult zur Legitimierung seiner Herrschaft, indem er sich als „Auserwählten“ Jagannathas und als dessen „Diener“ bezeichnen ließ. Letzteres hat bis heute als Überbleibsel des G. –Kg.tums im rituellen Kehren vor dem Wagen Jagannathas durch den Raja von Puri während des Wagenfests, überlebt. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung umfaßte das Reich der G.s Orissa, sowie Teile Andhra Pradeshs und →Bengalens. 1568 fand die Herrschaft der G.-Kg.e durch die Invasion des in bengalischen Diensten stehenden Afghanen-Generals Kalapahar ihr Ende. Hermann Kulke, Jagannatha-Kult und Gajapati-Kg.tum, Wiesbaden 1979. Hermann Kulke / Burkhard Schnepel (Hg.), Jagannath Revisited, Delhi 2001. K ATIA RO STETTER
Galaup, Comte (1776) de la Pérouse, Jean-François, * 23. August 1741 Albi, † 1788 (?) verschollen, □ unbek., rk. Sohn eines verarmten Patriziers aus dem Languedoc. 1756 Eintritt in die Ecole des Gardes de la Marine in Brest. Zur Vermehrung der Karrierechancen fügte G. seinem Familiennamen, bezugnehmend auf einen Hof nahe Albi, der früher Familienbesitz war, de la Pérouse hinzu, so ein Adelsprädikat suggerierend. Während des Frz.-Engl. Krieges 1757–1763 zeichnete er sich bei Seegefechten in nordam. Gewässern aus. 1772 übergab ihm der Gen.-gouv. für die frz. Besitzungen in →Indien den Befehl über die Fregatte La Belle Poule zur Erkundung und Kartographierung des →Ind. Ozeans. 1776 wegen seiner Verdienste Erhebung in den Grafenstand. Als anknüpfend an die Weltumseglung →Bougainvilles Frankreich erneut eine Forschungsreise in den Pazifik plante, bewarb sich la Pérouse erfolgreich um das Kommando.
g Am bi A
Am 1.8.1785 stach er mit den Fregatten L’Astrolabe und La Boussole von Brest aus in See. Ende Jan. 1786 wurde Kap Hoorn umrundet und die Robinson-Insel Juan Fernandez angesteuert. Von dort ging es über →Hawai’i und Alaska nach Kalifornien, dessen Küste G. erstmals kartographisch aufnahm. Im Nov. 1786 begann von Monterey aus die Durchquerung des Pazifischen Ozeans nach Westen. Der port. Hafen →Macao wurde Ende Jan. 1787 erreicht. Weiter ging die Fahrt durch das Chin. Meer, vorbei an der Westküste Japans, zur sibirischen Halbinsel Kamtschatka. Nach Süden gewendet, wurden die →Kurilen und Sachalin erforscht und kartographiert. Die La-Pérouse-Straße zwischen Sachalin und Hokkaido erinnert daran. Im Dez. 1787 erreichte die →Expedition →Samoa. Dort kam es aus nie ganz geklärten Gründen zu Auseinandersetzungen mit Eingeborenen, bei denen mehrere Besatzungsmitglieder den Tod fanden. G. segelte weiter über →Tonga, an der Nordinsel Neuseelands vorbei, nach →Australien. In der Botany Bay, heute ein Vorort Sydneys, warfen die Schiffe Anker. Von dort gelangten der letzte, am 10.3.1788 verfaßte Bericht und das Logbuch der Astrolabe nach Frankreich. Danach war geplant, über →Neukaledonien und die →Salomonen zur Nordküste →Neuguineas zu fahren, um in den Ind. Ozean zu gelangen. Doch G. kam dort nie an. Die Schiffe verschwanden spurlos. 1791 entsandte die Frz. Nationalversammlung zur Suche nach den Verschollenen eine Expedition, die erfolglos blieb. 1828 fand man auf der Salomonen-Insel Vanikoro Gegenstände aus dem Besitz von Besatzungsmitgliedern. 1967 entdeckten Taucher im Riffgürtel von Vanikoro die Schiffswracks. Jean-François de Galaup de la Pérouse, Louis Marie Milet Mureau u. a. (Hg.), Entdeckungsreise in den Jahren 1785, 1786, 1787 und 1788, Berlin 1799f. La Pérouse’ns Entdeckungsreise um die Welt, hg. v. M. C. A. Milet Mureau, Berlin 1800. GE RHARD HUT Z L E R Gallipoli. In der Schlacht von G. (19.02.1915–9.01.1916) im Ersten Weltkrieg trafen Truppen und Kriegsschiffe des Britischen Empire (aus Großbritannien, →Australien, Neuseeland, Indien und Neufundland) und Frankreichs (auch aus Frz.-Westafrika) auf Verbände des →Osmanischen Reiches, unterstützt von einigen wenigen deutschen Offizieren und Einheiten. Ziel des Angriffs der Alliierten war die Sicherung und Besetzung der Dardanellen, um letztlich die Meerengen zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer zu beherrschen und das Osmanische Reich von seinen Verbündeten abzuschneiden sowie eine Seeverbindung zum Russischen Reich herzustellen. Nach anfänglichen Seeangriffen auf osmanische Stellungen erfolgte am 25. April 1915 die Landinvasion der Halbinsel G. Nach monatelangen, heftigen Gefechten mit minimalen Landgewinnen, aber enormen Verlusten entschlossen sich die Alliierten im November 1915 zur Evakuierung der verbliebenen Truppen, die sich vom 18. Dezember 1914 bis zum 9. Januar 1916 hinzog. Insgesamt kämpften während der gesamten Kampagne ca. 548.000 Mann auf alliierter Seite und ca. 315.500 Soldaten auf osmanischer. Die Verluste betrugen schätzungsweise 44.000 Gefallene und 97.000 Verwundete auf alliierter Seite und 57.000 Gefallene und 157.000
Verwundete auf osmanischer. Für die Überseegeschichte besonders wichtig sind die Folgen des Einsatzes des Australian and New Zealand Army Corps (→ANZAC). Insgesamt wurden während der Schlacht ca. 55.000 australische und 8.500 neuseeländische Soldaten, darunter 477 →Maori, eingesetzt. Durch die verhältnismäßig besonders hohen Verlustraten – 8.709 Australier und 2.721 Neuseeländer (darunter 50 Maori) fielen – und die letztliche Vergeblichkeit der Schlacht entstand auf australischer und neuseeländischer Seite der Eindruck, daß ihre Truppen als ‚Kanonenfutter‘ mißbraucht wurden. Die Schlacht trug auf maßgebliche Weise zum Entstehen eines australischen und neuseeländischen Nationalgefühls bei, nicht zuletzt durch die jährliche Mythisierung der Kämpfe am ANZAC Day (25. April, in Australien seit 1916, in Neuseeland seit 1920), der in beiden Ländern zum eigentlichen Nationalfeiertag wurde. Peter Hart, Gallipoli, London 2011. MA RK U S PLATTN ER
Gama →Da Gama, Vasco Gambia (Republic of the G.) ist eine ehem. brit. Kolonie (Unabhängigkeit 18.2.1965) und einer der kleinsten Staaten Afrikas. G. besitzt eine Fläche von 11 295 km² und 1,7 Mio. Ew. Die Amtssprache ist Englisch; bedeutende Alltagssprachen sind Malinké, Wolof, Diola und Fulfulde. Die Hauptstadt ist →Banjul (1,7 Mio. Ew.). Die überwiegende Zahl der Ew. bekennt sich zum →Islam (90 %), 8 % sind Christen, der Rest bekennt sich zu lokalen Religionen. Die Wirtschaft des rohstoffarmen Landes beruht auf Landwirtschaft, →Tourismus und Exportlandwirtschaft. Mitte des 15. Jh.s gründeten Portugiesen erste Stützpunkte, Mitte des 17. Jh.s folgte auf eine kurze ndl. Besetzung eine frz. Dominanz, bevor die Briten das Territorium übernahmen. Seit Mitte des 17. Jh.s bestanden hier bedeutende Umschlagplätze des →Sklavenhandels. 1765 gründeten die Briten die Kolonie Senegambia, und 1894 wurde das →Protektorat G. errichtet. G. wird vom Staatsgebiet →Senegals umschlossen, der Grenzverlauf wurde in brit.-frz. Abkommen 1889 und 1904 festgelegt. Nach der Unabhängigkeit 1965 wurde die erste Rep. gegründet, die 1982 mit Senegal eine Konföderation einging, die 1989 aufgelöst wurde. G. ist eine Präsidialrep. mit einem direkt gewählten Präs. und einem Parlament, dessen 52 Abgeordnete überwiegend nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden, zudem ernennt der Staatschef vier weitere Abgeordnete. Der im Nov. 2011 zum wiederholten Male als Präs. wiedergewählte Yahya Jammeh ist zugleich Vorsitzender der bedeutendsten Partei APRC (Alliance for Patriotic Reorientation and Construction); die wichtigsten Oppositionsparteien sind UDP (United Democratic Party), NDP (National Democratic Party) und NRP (National Reconciliation Party). Staatsund Reg.schef ist nach einem Putsch seit 1994 Yahya A. J. J. Jammeh (APRC). Er wurde in Wahlen 1996, 2001, 2006 und zuletzt am 24.11.2011 im Amt bestätigt. In G. hat auch die African Commission on Human and Peoples’ Rights (ACHPR) ihren Sitz.
285
g â n d Avo, P ê r o m Ag A lh ã es d e
Alice Bellagamba, Ethnographie, histoire et colonialisme en Gambie, Paris 2002. Donald Wright, The World and a very small Place in Africe, Armonk 2004. T I L O GRÄT Z
Gândavo, Pêro Magalhães de, * (Geburtsjahr nicht ermittelbar) Braga, Portugal, † vermutlich nach 1576 (Sterbeort nicht ermittelbar), □ unbek., rk. G. war ein port. Humanist, geboren als Sohn eines Flamen. Als Kronbeamter hatte sich G. möglicherweise einige Jahre in →Brasilien aufgehalten, bevor er als Archivar der Krone nach Portugal zurückkehrte. 1574 veröffentlichte G. eine der ersten Grammatiken des Portugiesischen. Außerdem verfaßte G. eine Abhandlung über die Provinz Brasilien, die allerdings erst im 19. Jh. gedruckt wurde. Diese Abhandlung diente auch als Vorlage für G.s bekanntestes Werk, die ‚História da província de Santa Cruz, a que vulgarmente chamamos Brasil‘. Bei dem Werk, gedruckt 1576, handelt es sich um die erste ausschließlich auf Brasilien bezogene Veröffentlichung in port. Sprache. Obwohl als Geschichte betitelt, ist die ‚Historia‘ v. a. eine landeskundliche Darstellung, die in der Absicht geschrieben wurde, seine Landsleute auf die vielversprechenden port. Besitzungen in →Amerika aufmerksam zu machen. Den unprätentiösen Stil des detailreichen Werkes lobt auch Camões in einem dem Werk vorangestellten Gedicht. Pero de Magalhães de Gândavo, A primeira história do Brasil, hg. v. Sheila Moura Hue, Ronaldo Menegaz, Rio de Janeiro ²2004. CHRI S T I AN HAUS S E R Gandhi, Mohandas Karamchand, (auch genannt Mahatma), * 2. Oktober 1869 Porbandar, † 30. Januar 1948 Delhi, □ Asche auf mehrere Urnen verteilt (beigesetzt in Triveni Sagam, am Girgaum Chowpatty, im Self-Realization Fellowship Lake Shrine/Los Angeles und im AgaKhan-Palast/Pune), Hindu Führungsfigur der Nationalbewegung (→Ind. Nationalismus), soziokultureller Denker, Reformer. Heirat im Mai 1883 mit Kasturba Makhanji. Ab 1888 Jurastudium in London. Für seinen ersten Auftrag als Anwalt reiste G. 1893 nach Südafrika, wo er am eigenen Leibe die diskriminierenden Praktiken und die Verweigerung bürgerlicher und politischer Rechte erfuhr, der die ind. Immigranten ausgesetzt waren; dies war eine Erfahrung, die seine weitere Entwicklung entscheidend prägte. In seinem Kampf gegen die Diskriminierung seiner ind. Landsleute durch die südafr. weiße Führungsschicht benutzte G. erstmals die aus seinen politischen Überlegungen entstandene Strategie des gewaltlosen Widerstands (→satyagraha) und schuf damit die Grundlage für eine Bürgerrechtsbewegung, zuerst in Südafrika und später weltweit. Angesichts der allgegenwärtigen Armut und des Elends der ind. Massen, organisierte G. nach seiner Rückkehr nach →Indien 1915 Bauern-Protestbewegungen in Kheda (→Gujarat) und Champaran (→Bihar und Orissa) und versuchte, einen Disput zwischen Industriellen und Textilarbeitern in Ahmedabad zu schlichten. Als Reaktion auf die willkürliche koloniale Gesetzgebung, initiierte G. im Apr. 1919 eine landesweite Protestkampagne, die von der Kolonial-Reg. mit massiver Gewalt 286
niedergedrückt wurde, welche im →Amritsar-Massaker kulminierte. Inzwischen war G. zu einer wichtigen Persönlichkeit in der ind. Politik aufgestiegen und übernahm 1920 die Führung des →Indian National Congress, den er zu einer Massenorganisation umgestaltete. Seine Aufrufe zur „Nichtzusammenarbeit“ (non-cooperation) mit dem Kolonialstaat erfuhren enthusiastische Resonanz auf dem ganzen Subkontinent. Er proklamierte, daß das politische Ziel swaraj (politische Selbstbestimmung), durch ethisches Verhalten, Integrität, Opferbereitschaft und ahimsa (Gewaltfreiheit) erreicht werden sollte. Ab 1924 zog er sich für einige Jahre aus der aktiven Politik zurück und widmete sich dem Versuch, den kommunalen Frieden zwischen Hindus und Muslimen zu fördern, sowie gegen Diskriminierung der sogen. Unberührbaren (→Dalit-Bewegungen) zu kämpfen. Die nächste Kampagne zivilen Ungehorsams, die G. organisierte, war der heute legendäre Salzmarsch nach Dandi im März 1930, mit dem er gegen das staatliche (brit.) Salzmonopol (→Salz) protestierte. Mit dem Ziel die basisdemokratischen Strukturen zu stärken, zog sich G. 1934 von der Kongreß-Politik zurück und widmete sich seinem „Konstruktiven Programm“ des dorfwirtschaftlichen Aufbaus. Er setzte sich u. a. für das Spinnen und Weben von eigener Hand ein, das er als Möglichkeit betrachtete, auf jene ökonomische Unabhängigkeit hin zu arbeiten, die für ihn untrennbar mit dem Konzept swaraj verbunden war. Der von Großbritannien unilateral beschlossene Eintritt Indiens in den →Zweiten Weltkrieg wurde vom Indian National Congress und G. vehement abgelehnt. Es wurde beschlossen, die brit. Kriegsanstrengungen nur im Gegenzug für die sofortige und vollständige Gewährung der Unabhängigkeit für Indien zu unterstützen. Nach erfolglosen Verhandlungen, initiierte G. im Aug. 1942 die „Quit-India“-Bewegung. In den nachfolgenden Gesprächen zur Unabhängigkeit, setzte sich G. entschieden gegen eine →Teilung Brit.-Indiens ein, stimmte dieser aber letztendlich doch zu, in der Hoffnung damit den kommunalen Frieden wiederherzustellen. Mit der Unabhängigkeit am 14./15.8.1947 wurde die Teilung des Subkontinents in zwei Nationalstaaten, Indien und →Pakistan, vollzogen. Während der bürgerkriegsartigen Unruhen in Folge der Teilung gelang es G. in →Kalkutta durch ein Fasten gegen die Gewalt zumindest teilweise, die dort ansässigen Muslime und Hindus wieder zu einen. Durch ein weiteres Fasten am 13.1.1948 in Delhi erreichte G. eine gerechte Aufteilung der Staatskasse Brit.-Indiens zwischen den Nachfolgestaaten Indien und Pakistan. Am 30.1.1948 wurde G. auf dem Weg zu einem abendlichen Gebetstreffen von dem Hindu-Nationalisten Nathuram Godse erschossen. Am darauffolgenden Tag wurde sein Leichnam in Delhi verbrannt, und seine auf verschiedene Urnen verteilte Asche wurde in verschiedene Landesteile für Gedenkveranstaltungen gesandt. Judith Brown, Gandhi and Civil Disobedience, Cambridge 1977. Dietmar Rothermund, Mahatma Gandhi, München 1989. Susanne Hoeber Rudolph / Lloyd I. Rudolph, Postmodern Gandhi and Other Essays, Delhi 2006. N ITIN VA R MA / G ITA D H A R A MPA L-FRICK
g A rci lA s o d e lA v eg A
Ganges. Einer der wichtigsten Flüsse auf dem ind. Subkontinent. Der G. fließt auf einer Strecke von 2 500 km aus dem Himalaja-Gebirge im nördlichen →Indien in südöstlicher Richtung bis nach Bangladesh, wo er in den Golf von →Bengalen mündet und mit dem Brahmaputra das Delta der Sundarbans bildet. Benannt nach der hinduistischen Göttin Ganga, bereitet der Fluß den Boden für einige der fruchtbarsten und am stärksten bevölkerten Gebiete der Erde. Viele hinduistische Traditionen sehen im G. einen heiligen Fluß, dessen mythologische Erzählungen in den Epen (insbes. im Mahabharata und Ramayana) und den Puranas (mythologische Geschichten) zusammengefaßt werden. Ein zentrales Thema bildet dabei die Episode der Niederkunft des G. auf die Erde, die in verschiedensten Traditionen, Sprachen und Texten weitergegeben wird (→Orale Traditionen). Topoi wie Reinigung, Fruchtbarkeit und Tod sind essentielle Leitthemen in diesen Mythen und finden sich auch in ikonographischen Darstellungen der Flußgöttin Ganga an den Hindutempeln des Mittelalters wieder. Wichtige Pilgerorte am G. sind Varanasi, Allahabad (am Zusammenfluß von G., Yamuna und dem mythologischen Fluß Sarasvati) und Haridwar. Die Kumbh Mela, ein mehrere Wochen dauerndes religiöses Pilgerfest (→Feste), bei dem Millionen von Gläubigen im G. baden, wird alle 12 Jahre in Allahabad und Haridwar abgehalten. Steven G. Darian, The Ganges in Myth and History, Delhi 2001. Makkhan Lal, Settlement History and Rise of Civilisation in the Ganga-Yamuna Doab, Delhi 1984. NI T I N VARMA
Gante, Pedro de (eigentlich Peter van de Moere), * um 1480 Ayghem-Saint Pierre / Gent, † 20. Juni 1572 Tlatelolco (jetzt Mexiko-Stadt), □ nicht erhalten, rk. Im Apr. 1522, ein Jahr nach Beendigung der militärischen →Eroberung des Reiches der Mexica, verließ er zusammen mit zwei Mitbrüdern Gent und landete am 13.8.1523 in Veracruz – noch vor Beginn der offiziellen Missionstätigkeit der sich Zwölf Apostel nennenden ersten Franziskanermission aus Spanien. Nur noch als G. bekannt, weigerte er sich, die flämische Muttersprache je wieder zu benutzen und nahm statt dessen náhuatl, die Sprache der Azteken, als die seine an. Bis zum Ende seines langen, rastlos tätigen Lebens verließ er das Hochland von →Mexiko nicht mehr. Neben Missions- und Katechesearbeit innerhalb der indigenen Bevölkerung im Tal von Mexiko, gilt die Gründung des ersten →Kollegiums der Neuen Welt für den einheimischen Adel als sein Lebenswerk. Im Großraum der heutigen Stadt Mexiko, in Santiago Tlatelolco erbaut und unter den besonderen Schutz des Heiligen Kreuzes gestellt, wurde am 6.1.1536 die Studienanstalt, „El Colegio de Santa Cruz de Tlatelolco“ in Anwesenheit des Vize-Kg.s und des Erzbischofs feierlich eingeweiht. Die Ausbildung der Schüler ermöglichte vielen von ihnen, der Wissenschaft verpflichtet zu bleiben. Bernardino de Sahagún rekrutierte seine Mitarbeiter für die „Geschichte Neuspaniens“ aus ehem. Schülern der Lehranstalt. Das Colegio, das später in die Verantwortung ehem. Studenten überging, bestand gegen Widerstände der kreolisch-span. (→Kreole) öf-
fentlichen Meinung bis zum Ende des 16. Jh.s. G. gilt als ein Begründer der „Mexicanidad“. Dagmar Bechtloff, Begegnungen zwischen Europa und Amerika (1522–1572), in: Eberhard Schmitt, Thomas Beck u. a. (Hg.), Barrieren und Zugänge, Wiesbaden 2004, 63–81. Pedro Ramírez Vázquez, Fray Pedro de Gante, Mexiko-Stadt 1995. D A G MA R BEC H TLO FF Garcilaso de la Vega, * 12. April 1539 Cuzco, † 22./23. April 1616 Córdoba, □ Mezquita de Córdoba, rk. Sechs Jahre nach →Eroberung des →Inkareichs wurde in Cuzco Gómez Suárez de Figueroa geboren, der sich später „Inca Garcilaso de la Vega“ nannte. Er war ein unehelicher Sohn des span. Hauptmanns Sebastián Garcilaso de la Vega und der inkaischen Adligen Chimpu Ocllo. Als einer der ersten Mestizen (→Casta) →Perus wuchs der Junge in zwei Kulturen auf. Nach dem Tod seines Vaters brach G. 1560 mit geerbten 4 000 Pesos nach Spanien auf und ließ sich im Dorf Montilla (→Andalusien) nieder. 1561–1563 bat er vergeblich beim Indienrat in Madrid um eine Pension in Anerkennung der väterlichen Dienste. G., wie er sich seit 1563 nannte, nahm 1569–70 als Hauptmann an der Niederschlagung des MoriskenAufstands in den Alpujarras teil. Als Erbe seines Onkels Alonso de Vargas konnte er sich ab 1570 in Montilla mit Muße dem Studium von Geschichte und Literatur der Antike und Renaissance widmen und begann, wohl nach dem Tod seiner Mutter (1571), den Namenzusatz „Inca“ zu verwenden. In Córdoba, wo er seit 1591 lebte und schrieb, hatte G. mit Beatriz de la Vega einen unehelichen Sohn, Diego de Vargas. Später wurde G. Laienbruder und erwarb eine Seelenkapelle in der Kathedrale von Córdoba. Nach seinem Tod am 22./23.4.1616 wurde er hier begraben. Teile seiner sterblichen Überreste überführte der span. Kg. Juan Carlos 1978 in die Kathedrale von Cuzco. Obwohl G. in Peru als „Spanier“ und in Spanien als „indio“ oft mißverstanden wurde, ruht der Mestize seither in beiden Welten, die ihn prägten. G.s erstes Buch (Madrid 1590) war eine span. Übersetzung der it. LiebesDialoge, die der jüdische Arzt Judah Abrabanel (alias Leone Ebreo) 1535 in Rom publiziert hatte; 1612 verbot die span. Inquisition spätere Ausgaben. In Lissabon erschien 1605 La Flórida del Inca, eine Geschichte der gescheiterten Expedition von Hernando de Soto im Südosten Nordamerikas (1539–1543). Auf Grundlage schriftlicher Quellen und Befragungen von Veteranen entstand eine mit erfundenen Reden angereicherte Chronik. 1608/09 veröffentlichte G. den Ersten Teil der Kgl. Kommentare der Inka in Lissabon. Gestützt auf Erinnerungen, mündliche Überlieferung und Chroniken (u. a. von →Cieza de León, José de →Acosta, Blas Valera) entwarf er eine materialreiche, stilistisch brilliante Geschichte des Tahuantinsuyo. Seine Idealisierung der Inkaherrschaft als weiser Reg. trägt Züge einer Utopie, eines Renaissance-Genres. Das Inkareich bildet in G.s Konzeption der andinen Geschichte das zweite von drei Zeitaltern: auf eine „barbarische“ Epoche folgten das inkaische „Zivilisierungswerk“ und die span. Zeit. G.s von der Vorsehung geprägte Geschichtsphilosophie zeigt die Inka als Wegbereiter des Christentums. Teil zwei der Comentarios Reales erschien posthum (Córdoba 1616/17) unter dem von der Krone 287
gAscA, Pedro de lA
gewählten Titel Historia General del Perú und beschrieb den turbulenten Übergang von der inkaischen zur span. Herrschaft in den Anden. Während G. Kolonisation und Christianisierung Perus befürwortete, richtete sich die Historia General v. a. gegen Vize-Kg. →Toledo, der Tupac Amaru hinrichten ließ (1572), das Inkareich als Tyrannis darstellte und Mestizen benachteiligte. Dagegen bestand G.s Ideal einer kolonialen Gesellschaftsordnung im friedlichen Zusammenleben von „Indios, Mestizen und →Kreolen“ Perus, denen das Buch gewidmet ist. G. war der erste in →Amerika geborene Autor des Siglo de Oro, der bald europaweit gelesen wurde; im 17. und 18. Jh. erschienen zahlreiche frz., engl. und dt. Übersetzungen seiner Werke. Hinzu kamen neue, in Spanien gedruckte Ausgaben, die auch in Hispanoamerika breit rezipiert wurden. Während der andinen Revolten wurden seine Bücher auf Grund ihres „neo-inkaischen“ Inhalts in Peru verboten (1782). Die Kgl. Kommentare inspirierten im späten 18. Jh. auch europäische Romane und Opern. Gleichzeitig begannen Historiker, an ihrem Quellenwert zu zweifeln. Im 19. und 20. Jh. wurde zunehmend kritisiert, daß G. historische Fakten mit fiktiven Elementen vermischt und negative Aspekte des Inkareichs (z. B. Gewalt bei Expansion, →Menschenopfer) verschwiegen habe. Auch wenn man G.s Darstellung der Inka zurecht punktuell bezweifeln mag, sind seine Bücher über die andine Geschichte keinesfalls historisch wertlos. Sie genügten zeitgenössischen Standards und sind, was ihr Titel verspricht: subjektive „Kommentare“. G.s elegante Apologie der Inkaherrschaft hat nachhaltig mestizische und kreolische Diskurse sowie Vertreter einer „andinen Utopie“ bis heute beeinflußt. Raquel Chang-Rodríguez (Hg.), Beyond Books and Borders, Lewisburg 2006. John G. Varner, El Inca, Austin 1968. Garcilaso de la Vega, El Inca [1609], Comentarios reales de los Incas, (Hg.) Carlos Araníbar, 2 Bde., Lima u. a. 1991. OT TO DANWE RT H Gasca, Pedro de la, * August 1493 Navarregadilla, † 10. November 1567 Sigüenza, □ St. Maria Magdalena / Valladolid, rk. G. wurde im Aug. 1493 als erster Sohn der Eheleute Juan Jiménez de Avila und María Gasca geboren. Er studierte an den Universitäten von Alcalá und Salamanca. Als Licenciado in Kirchenrecht wurde er vom Erzbischof von Toledo 1537 als Vikar mit der Jurisdiktion von Alcalá de Henares betraut. Nachdem er 1541 Mitglied der Inquisition geworden war, beauftragte ihn die Krone 1545 mit der Niederschlagung des Aufstands von Gonzalo →Pizarro in →Peru (→Bürgerkriege, Peru). G. schiffte sich 1546 nach →Amerika ein. Vor seiner Weiterreise nach Peru nahm er Verhandlungen mit Pizarro auf, der aber nicht bereit war, sich der Krone zu unterwerfen. 1547 segelte G. mit einer Streitmacht von ca. 800 Mann nach Peru. Dort besiegte er im Apr. 1548 in einer Schlacht in der Nähe von →Cuzco Gonzalo Pizarro, dessen Truppen in Scharen zu G. überliefen. Nach Hinrichtung der wichtigsten Anführer der Aufständischen und Belohnung der Kg.streuen kehrte er 1550 nach Spanien zurück. 1551 wurde er zum Bischof von Palencia und 1562 zum Bischof von Sigüenza ernannt, wo er am 10.11.1567 starb. 288
José Antonio del Busto Duthurburu, La pacificación del Perú, Lima 1984. Teodoro Hampe Martínez, Don Pedro de La Gasca, Lima 1989. U LR ICH MÜ CK E Gelbe Gefahr. Erstmals in den 1870er Jahren im Westen der →USA im Zusammenhang mit verstärktem Auftreten chin. Arbeitsmigranten aufgekommener Ausdruck (yellow specter), der Ende des 19. Jh.s in der gesamten westlichen Welt Verbreitung fand (yellow peril, péril jaune); maßgeblich hierfür waren, neben dem in dieser Zeit zunehmendem Interesse der westlichen Kolonialmächte an Ostasien, die erheblich schneller als in Europa und den USA wachsende Bevölkerung in Ostasien und der sehr rasche Aufstieg Japans zur Großmacht, der im Jap.-Chin. Krieg 1894/95 erstmals offensichtlich geworden war. Diese Faktoren, interpretiert durch einen stark malthusianisch und sozialdarwinistisch geprägten Zeitgeist, begünstigten die Befürchtung, die bevölkerungsreichen asiatischen Länder könnten unter Führung Japans für Europa und die USA zu einer ernsten Bedrohung im „Kampf ums Dasein“ werden. Das Dt. Reich bemühte sich Anfang des 20. Jh.s, sich diesbezügliche Befürchtungen in den USA zu Nutze zu machen. Das Schüren dieser Befürchtungen sollte die USA dazu veranlassen, den Schwerpunkt ihrer Außen- und Sicherheitspolitik vom →Atlantik zum Pazifik zu verlagern und zugleich einen Keil zwischen die USA und Großbritannien treiben, das Japan aufgeschlossener gegenüberstand. Diese Bemühungen schlugen fehl. Heinz Gollwitzer, Die Gelbe Gefahr, Göttingen 1962. Yorimitsu Hashimoto, The „Yellow Peril“: Anglo-Japanese Perspective, 1893–1913, Diss. Lancaster 2008. Ute Mehnert, Deutschland, Amerika und die „Gelbe Gefahr“, Stuttgart 1995. CH R ISTO PH K U H L Gelbfieber. Das G.–Virus ist verbreitet in den tropischen und subtropischen Regionen Mittel- und Südamerikas sowie in Afrika. In Asien ist G. unbekannt. Die Übertragung erfolgt durch Stechmücken; in Afrika ist es Aedes africanius, in →Amerika sind es Hämagogusarten. Die Mücken sind das eigentliche Virusreservoir. Der Mensch und der Affe sind Zwischenwirte. Die Erkrankung beginnt mit plötzlich einsetzenden hohen Fieber, welcher meist drei Tage anhält. Sonst bestehen allg. Krankheitszeichen. Nach einer kurzen Besserung kann ein Versagen der Leber und der Nieren verbunden mit schweren Blutungen aus dem Magendarmtrakt folgen, die in der zweiten Woche zum Tode führen können. Die Schwere des Krankheitsverlaufes variiert. Häufig verläuft sie auch milde wie eine unspezifische Fiebererkrankung. Die Letalität liegt bei 10 bis 50 %. Eine überstandene Infektion hinterläßt keine Dauerschäden aber lebenslange Immunität. G.-Kranke sind für sechs Tage quarantänepflichtig. Eine G.-Impfung ist für 10 Jahre wirksam. Größere G.-Epidemien treten immer wieder auf, wenn das Virus auf eine nichtimmunisierte Population trifft. Derzeit werden jährlich 200 000 Erkrankungen gemeldet. Historisch bedeutsam sind die Epidemien, die Napoleons Truppen 1803 auf Haiti zum Rückzug bewogen und jene, die den Bau des →Panamakanals erschwerten.
g en f er k o n f eren z
James Dickerson, Yellow Fever, Amherst 2006. DE T L E F S E YBOL D
Gender-Bewegungen werden im ind. Kontext meist mit Frauenbewegungen gleichgesetzt. Die Konstruktion männlicher Rollenbilder innerhalb sozialer und politischer Bewegungen ist allerdings ebenso wichtig und sollte nicht vernachlässigt werden. Im südasiatischen Kulturraum ist die Dominanz der strikten Dualität zwischen Männlichem und Weiblichem neueren Datums. Im Gegensatz dazu, herrscht in hinduistischen Glaubenskonzepten (→Hinduismus) der Gedanke der Einheit zwischen Männlichem und Weiblichem vor, in der Grenzen zwischen den Geschlechtern sehr viel fließender sind. In der Darstellung Shivas als Ardanarishwar verkörpert der hinduistische Gott Maskulinität und Femininität als eine sich ergänzende Einheit, die erst in der Synthese Vollkommenheit erreicht. Frühzeitliche Darstellungen im Khajuraho-Tempel (950–1050 n. Chr.) in Madhya Pradesh deuten neben der Vorstellung von fließenden Geschlechtergrenzen auch auf die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher sexueller Praktiken hin, was ebenfalls Hinweise auf eine Relativierung ausschließlich dichotomischer Geschlechterrollen gibt. Die hinduistische Philosophie kennt das Konzept eines „dritten Geschlechts“ (tritiya-prakriti: dritte Natur), das z. B. die Akzeptanz, die Integration in religiöse Rituale und die z. T. semi-göttliche Stellung von hijras („Transvestiten“) in →Indien erklärt. Unter der Ägide kolonialer Beamter und ind. Reformgesellschaften (→Soziale und religiöse Reformbewegungen), wie dem Arya Samaj, kam es im 19. Jh. in Brit.-Indien zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in der ind. Gesellschaft. Auf der Agenda der Sozialreformer standen z. B. die Ermöglichung der Wiederverheiratung von Witwen und →Bildung für Frauen sowie das Verbot der Witwenverbrennung (→sati) und der Kindesheirat. Diese Reformbewegungen waren fast ausschließlich von Männern initiiert und standen in einem engen Verhältnis zum Kolonialisierungsprojekt der Briten und dessen Werten. So war die „Frauenfrage“ ein wichtiges Werkzeug in der Konstruktion eines der kolonialen Topoi, der Degeneration der ind. Gesellschaft. Die Rolle der Frau in der ind. Gesellschaft wurde hierbei zu einem Schauplatz der Identitätsfindung zwischen Tradition und Moderne. Vermeintliche Traditionen wurden durch die koloniale Rechtsprechung z. T. erst erfunden und veränderten nachhaltig die Stellung der Frau. Eine neue Rigidität machte sich z. B. in der Regelung zur Wiederverheiratung von Witwen bemerkbar. Verwitwete Frauen verloren danach durch eine erneute Heirat den juristischen Anspruch auf ihr Erbe und ihre Kinder; so wurde die männliche Kontrolle über das weibliche Erbe gesichert. Frauen wurden allg. aus dem öffentlichen Raum verdrängt und in den privaten Bereich der Familie verwiesen. V. a. in der ökonomischen Sphäre und dem sich neu entwickelnden industriellen Arbeitsmarkt (→Industrialisierung) fanden Frauen keinen Platz. Dadurch wurde die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau, aber auch als Bewahrerin der „ind. Tradition“ zementiert. Die kolonialen Reformbestrebungen waren somit eng verknüpft mit der Verfestigung patriarchalischer Struk-
turen in der ind. Gesellschaft. Koloniale Beamte bildeten eine Allianz mit patriarchalen männlichen Eliten Indiens, deren Autorität sie festigten. Die Rhetorik des sozialen Wandels im Rahmen einer Zivilisierungsmission war damit vielmehr Ausdruck politischer Machtinteressen, als des Wunsches nach einer Verbesserung der Situation der Frauen. Trotzdem führten die kolonialen Reformbestrebungen zu einer verbesserten Artikulationsfähigkeit der ind. Frauen, die sich zu organisieren begannen. In der ind. Unabhängigkeitsbewegung (→Ind. Nationalismus) wurde die G.-Thematik, insb. von →Gandhi, als Mittel zur politischen Mobilisierung von Frauen genutzt. Auch das männliche Selbstverständnis wurde durch koloniale Rassenkonstrukte und eine g.-basierte Rhetorik beeinflußt. Der Topos des ‚weiblichen Orientalen‘ führte zu einem Gegenmodell einer neuen nationalen ind. Männlichkeit, die sich an den Kshatriya-Idealen eines heroischen Kriegertums orientierte. Gita Dharampal-Frick, Audiatur et altera pars, in: Karin Preisendanz / Dietmar Rothermund (Hg.), Südasien in der „Neuzeit“, Wien 2003, 129–152. Kumkum Sangari / Sudesh Vaid, Recasting Women, Delhi 2006. MA N JU LU D WIG
Genfer Konferenz. Die G.K. (auch Indochinakonferenz genannt) fand vom 8.5.–20.7.1954 in Genf statt. Sie markierte zum einen das Ende der frz. Kolonialmacht in Indochina und die Entlassung ihrer Kolonien (→Kambodscha, →Laos und →Vietnam) in die Unabhängigkeit und zum anderen die Entsendung von UN-Truppen nach Korea. Indochina betr. wurden die sog. Genfer Abkommen (engl. Geneva Accords) erstellt, die einen Waffenstillstand zwischen Frankreich und den →Vietminh erzielten und die zeitlich begrenzte Teilung Vietnams in zwei Zonen zur Folge hatten. Zuvor, von März bis Mai 1954 hatten Vietminh-Verbände unter unvorstellbaren Strapazen das nahe Laos gelegene schwer zugängliche Tal von Dien Bien Phu belagert. Am 7. Mai ergaben sich die frz. Spezialeinheiten, tags darauf später begannen die Gespräche in Genf. Die teilnehmenden Delegationen kamen aus den →USA, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR, der Volksrep. China (VRC) und den Mitgliedsstaaten der Frz. Union: die Demokratische Rep. Vietnam (DRV, auch Nordvietnam, vietnamesisch: Việt Nam Dân Chủ Cộng Hòa), die Rep. Vietnam (RV, auch Südvietnam, vietnamesisch: Quốc gia Việt Nam), Kambodscha und Laos. Die VRC absolvierte ihren ersten internationalen Auftritt seit der Machtübernahme der Kommunisten unter →Mao Zedong 1949, die USA sollten primär als Beobachter fungieren. Die DRV-Delegation wurde von Vietminh-Mitgliedern gestellt und hatte wenig Einfluß auf den Ausgang der G.K.: Vietnam wurde zum Spielball im geopolitischen Kräftemessen der UdSSR, USA und VRC. Die Chinesen hatten ein Interesse daran, ausländische (d. h. US-) Truppen aus Vietnam herauszuhalten, da sie selbst noch dabei waren, ihre Macht zu konsolidieren und einen von den USA unterstützten Einmarsch Jiang →Kaisheks aus Taiwan fürchteten. Die Amerikaner andererseits versuchten, die DRV weitestgehend zu isolieren und zu schwächen und so mußten die Vietminh die provisorische Teilung Vietnams akzeptieren, was den 289
g e nf e r k o n v e n t i o n e n
Rückzug ihrer Truppen nördlich der Demarkationslinie am 17. →Breitengrad bedeutete und den Abzug der frz. Truppen aus dem Norden in den von Bảo Đại regierten Süden. Eine Internationale Kontrollkommission sollte den Waffenstillstand und die anstehenden Wahlen beobachten. Die Abschlußerklärung, in der alle Delegationen per Unterschrift bezeugen sollten, daß der 17. Breitengrad keine völkerrechtlich anerkannte Grenze werde, wurde weder von der RV, noch von den USA unterzeichnet. Die DRV wurde zum Mißfallen der USA als offizielle Reg. Nordvietnams anerkannt. Bereits während der G.K. hatte Bảo Đại den von den USA als nützlich angesehenen Ngô Đình Diệm zum Premierminister der RV ernannt und somit die schrittweise Einmischung der USA in Vietnam in Gang gesetzt. Die G.K. hat die Kluft zwischen Ost und West und die Teilung der Welt in ein kommunistisches und ein nichtkommunistisches Lager deutlich gemacht. Die betroffenen Länder (Indochina und Korea) haben eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Die G.K. ebnete faktisch den Weg zum Ausbruch des am. Vietnamkrieges, in dessen Verlauf weite Teile von Kambodscha und Laos ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden. Sowohl der Korea- als auch der Vietnamkrieg wurden durch die G.K. nicht beendet, sondern entwickelten sich zu Stellvertreterkriegen im Kalten Krieg. Noam Chomsky, At War With Asia, Oakland 2005. Marc Frey, Geschichte des Vietnamkrieges, München 72004. John Pilger, Heroes, London 1989. AL E XANDRA AML I NG
Genfer Konventionen. Die vier G. von 1949 definieren als Bestandteil des Völkerrechts die Stellung von Verwundeten, Gefangenen und Zivilpersonen im Krieg und stellen eine Reaktion auf die im fortgeschrittenen 19. Jh. anwachsende technische Perfektionierung und nationalistische Deutung des Kriegshandwerks dar, mit folgenden Meilensteinen der Entwicklung: 1864: (1.) G., betr. die Verbesserung der Lage der Verwundeten; 1899: die Haager Landkriegsordnung (und die Seekriegsordnung) verrechtlichten grundsätzlich den Kriegszustand, führten erhebliche Beschränkungen bei den zulässigen Kriegsmitteln ein und verlangten den bestmöglichen Schutz von Zivilpersonen und ziviler Einrichtungen in Kriegszeiten; 1925: Verbot des Einsatzes von chemischen und bakteriologischen Waffen durch das sog. Genfer Protokoll; 1929: 2. G. über die Behandlung von Kriegsgefangenen, zugleich: Streichung der Allbeteiligungsklausel; 1949: die nunmehr 4 G. fassen und verbessern die Regelungen nochmals; 1978: durch Aufnahme der Martens’schen Klausel werden Nichtunterzeichner an „Brauch, Menschlichkeit und Gewissen“ gebunden und daneben der nicht-kodifizierte Bereich auf diese Weise aufgefüllt. Schließlich sind die Biowaffenkonvention (1977) und die Chemiewaffenkonvention (1993) zu nennen sowie die Installation des Internationalen Gerichtshofs 2002. Hans-Peter Gasser, Humanitäres Völkerrecht, BadenBaden 2007. CHRI S T I AN HANNI G Genitalverstümmelung →Beschneidung 290
Genozid →Völkermord Genua. Der neue Aufstieg der ligurischen Stadt begann ähnlich dem →Pisas mit erfolgreichen maritimen Unternehmungen gegen sarazenische Bedrohungen und Angriffe. Er setzte sich in der zweiten Hälfte des 11. Jh.s fort mit offensiven Flotteneinsätzen, ausgeführt wiederholt an der Seite der einstweilen stärkeren Nachbarin, gegen Stützpunkte und Territorien der →Araber im westlichen Mittelmeer, seit dem Ersten Kreuzzug (→Kreuzzüge) gegen Palästina und Syrien, dies alles zum Vorteil des aufblühenden Handels. Vorwärtstreibend waren von Anfang an adelige Sippen und größere Gesellschaften finanzmächtiger Genuesen (genannt maona: ein dem Arabischen entlehnter Begriff). Sie formierten die Kriegs- wie die Handelsflotten, kontrollierten die Stapelhäuser, erworbene überseeische Gebiete und privilegierte Positionen in verkehrswichtigen Hafenstädten. Im 15. Jh. verwandelten sie G. im Verbund des Banco di San Giorgio definitiv zur „Stadt als Privatunternehmen“ (Giuliano Procacci). Der Banco war 1407 zur Stützung der nach anderthalb Jh.en äußerer kriegerischer und zahlreicher innerer, teils bürgerkriegsähnlicher Konflikte völlig maroden kommunalen Finanzen und v. a. zur Sicherstellung der Gläubiger durch Verpachtung, Übernahme, ggf. Veräußerung städtischer Besitzungen gegründet worden. Vielfach wirkten sich diese Umstände beim Ausbau und bei der Behauptung der überseeischen gesamtgenuesischen Interessen nachteilig aus. Viel weniger als →Venedig haben die Genuesen gegen den Verlust der überseeischen Besitzungen an die Türken gekämpft. Indessen erzeugten diese Sonderumstände sowie der ihnen zugrundeliegende militante und zugleich innovative unternehmerische Individualismus auch einen singulären Aktivismus. Dieser ließ G. die Konkurrentin Pisa in der zweiten Hälfte des 13. Jh.s weit überflügeln, sodann Venedig einholen und mit neuen Herausforderern wie den Aragonesen lange recht gut fertig werden. Schon vorzügliche Positionen in Finanzgeschäften auf der iberischen Halbinsel wurden im vereinten Spanien des 16. Jh.s dann so weitläufig entwickelt, daß ein Großteil des am. Silbers in genuesische Hände gelangte. Den großen Durchbruch hat den Genuesen der Vertrag von Ninfeo nach der von ihnen massiv unterstützten Wiederaufrichtung des byzantinischen anstelle des lateinischen Ksr.s 1261 gebracht. Er räumte zum Nachteil Venedigs in Konstantinopel das autonome Viertel Pera ein, gewährte Zollfreiheit u. a. handelsmonopolistische Privilegien im Reich, öffnete das Schwarze Meer mit der wichtigen Stadt Kaffa auf der →Krim an der Schnittstelle mediterraner und russ. sowie asiatischer Handelswege, ermöglichte Gewinn oder Sicherung wichtiger Inseln in der Ägäis (u. a. seit 1301 und wieder seit 1364 das als Handelsplatz und als Mastixinsel besonders wichtige Chios; Lesbos, etliche Kykladen, späterhin Tenedos, Positionen auf Zypern). Besonders der Zugriff auf große Alaunvorkommen war von enormer Bedeutung für den genuesischen Handel und genauso für die heimische Tuchfertigung. Die frühe Einführung von Goldmünzen, die Vervierfachung des genuesischen Handelsvolumens bis zur Jh.wende, die Aufnahme der Brüggefahrten 1277 signalisierten das Ausmaß der hierher
geo g rA Ph i e
fließenden Reichtümer. Bedeutende Seesiege über die Pisaner (1284) und die Venetianer (1298) etablierten die Hegemonie im westlichen Mittelmeer und brachten den Gewinn von ganz Korsika und Elba, so daß im nächsten Jh. bis zum Höhepunkt des Chioggia-Krieges von 1378 bis 1381, meist im Bündnis mit dem Kgr. Ungarn, die Grundlagen venezianischer Macht in der Adria angegriffen werden konnten. Im Verlauf des 15. Jh.s wurden alle wichtigen Posten und Besitzungen im Schwarzen Meer und in der Ägäis preisgegeben – großenteils den Türken, das zyprische Famagusta den Venetianern. Korsika blieb ein schwieriger, wiederholt nur mit Hilfe fremder Potentaten zu behauptender Besitz und war gegen innere Freiheitsbewegungen tatsächlich schon verloren gegangen, als Frankreich es G. 1766 abkaufte. Steven A. Epstein, Genoa and the Genoese, 928–1528, Chapel Hill / London 1996. Roberto S. Lopez, Storia delle colonie Genovesi nel Mediterraneo, Genua 1996. WOL F GANG ALT GE L D
Geodätische Expedition (1735–1743). Bezeichnet eine am 16.5.1735 vom Hafen La Rochelle aus gestartete wissenschaftliche →Expedition in die Audienz von →Quito. Ziel war die Längenmessung eines →Breitengrades in der Nähe des Äquators, um die Größe und Form der Erde zu bestimmen. Damit sollte der wissenschaftliche Streit zwischen den Anhängern von Giovanni Domenico Cassini und Isaac Newton beigelegt und die Frage geklärt werden, ob die Erdrotation eine Abplattung an den Polen oder am Äquator verursache. Die frz. Forschungsreise verlief zeitgleich mit der ebenfalls von der Pariser Académie des Sciences geförderten LapplandExpedition von Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Die Ergebnisse beider geodätischer Unternehmungen bestätigten Newtons ellipsenförmiges Modell der Erde. In der Literatur ist sie allg. als „La Condamines wissenschaftliche Expedition“ bekannt. Zwar gehörte der frz. Mathematiker und Geograph Charles-Marie de La Condamine zur Forschergruppe, geleitet wurde diese allerdings vom Mathematiker und Astronomen Louis Godin. Weitere Teilnehmer waren der Astronom Pierre Bouguer, der Techniker Jean Godin des Odonais, der Zeichner Morainville, der Botaniker Joseph de Jussieu, der Chirurg Jean Senierges und der Uhrenhersteller Hugot. Im Auftrag des span. Kg.shauses schlossen sich in →Cartagena de Indias die Marinenoffiziere →Jorge Juan y Santacilia und Antonio de →Ulloa der Expedition an. Im Nov. 1735 in →Guayaquil angekommen, stieß der aus Quito stammende Mathematiker und Kartograph Pedro Vicente Maldonado zu der Gruppe. Die Forschergruppe hielt sich bis 1743 in der Audienz von Quito auf. Die Durchführung der wissenschaftlichen Expeditionsaufgaben wurde durch die klimatischen Gegebenheiten und die soziokulturellen Verhältnisse in der kolonialen Gesellschaft erschwert. Persönliche Streitigkeiten führten ebenfalls zu Konflikten innerhalb der Gruppe, v. a. zwischen La Condamine und Bouguer. Das Erreichen der Expeditionsziele wurde zuletzt durch mehrere Schicksalsschläge verzögert. Unmittelbar nach der Ankunft in der Audienz verstarben zwei Mitglieder der Forschergruppe; in der Stadt Cuenca wurde Jean Senierges von
einer aufgebrachten Menschenmenge getötet; der Botaniker Jussieu verlor den Verstand, währenddessen seine Pflanzensammlung auf dem Weg nach Europa verloren ging und Morainville erlitt einen tödlichen Unfall in der Nähe von Riobamba. 1741 nahm Louis Godin nach Beendigung seiner Aufgaben und auf Grund finanzieller Engpässe die Stelle als Astronom in der Universität San Marcos in →Lima an und hatte später einen Lehrstuhl für Mathematik inne. Sein Cousin, Jean Godin des Odonais, der die Tochter eines frz.-stämmigen →Kreolen geheiratet hatte, kehrte nach Europa zurück, mußte aber in Cayenne auf die Erlaubnis zur Einreise nach Portugal warten. 1769 unternahm Isabella Godin des Odonais die Reise von Quito nach Guayana, wo sie nach zahlreichen Umwegen erst 1773 eintraf. Die Begebenheiten auf ihrer Reise entlang des →Amazonas wurden bald in den europäischen Periodika veröffentlicht. In den 1740er Jahren machten sich auch die restlichen Expeditionsteilnehmer auf den Weg nach Europa auf. 1743 fuhr Pierre Bouguer den Magdalena-Strom hinab; 1744 durchquerten La Condamine und Maldonado den Amazonas-Fluß bis zur Atlantikküste →Brasiliens. Die G. gilt als Vorreiterin künftiger Landexpeditionen in die außereuropäischen Gebiete. In Europa erregten die Forschungsreisenden in der wissenschaftlichen Welt und der allg. Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit, was sich wiederum in zahlreichen zeitgenössischen Publikationen niederschlug. Im Zusammenhang mit der G. sind wichtige Studien zur Botanik, →Geographie und Gesellschaft über die Andenregion entstanden. Pierre Bouguer verfaßte sein Werk „La Figure de la Terre“ (Paris 1749). In Amsterdam veröffentlichte La Condamine den „Extracto del Diario de Observaciones de la Provincia de Quito al Para por el río Amazonas Y del Para a [...] Amsterdam“ (1744); diesem folgte die „Relation abrégée d’un voyage fait dans l’intérieur de l’Amérique méridionale depuis la côte de la mer du Sud jusqu’aux côtes du Brésil et de la Guyane, en descendant la rivière des Amazones“ (Paris 1745) sowie diverse Abhandlungen zum Chinarindebaum (chinchona), curare-Gift und Kautschuk. Hierfür stützte er sich auf das heilkundliche →Wissen der indigenen Bevölkerung und der →Jesuiten. Pedro Vicente Maldonado zeichnete die „Carta de la Provincia de Quito y sus adyacentes“, die er 1746 in Paris an La Condamine übergab und die posthum gedruckt wurde. Die span. Beamten Jorge Juan y Santacilia und Antonio de Ulloa verfaßten u. a. die „Relación histórica del viaje hecho de orden de su Majestad a la América Meridional“ (Madrid 1748) und die „Noticias Secretas de América, sobre el estado naval, militar y político del Perú y provincia de Quito“ (1748, in Madrid 1803 erschienen). Der Aufenthalt der G. in der Audienz von Quito wurde als Anlaß für die Namensgebung der Rep. →Ecuador nach ihrer Loslösung von →Großkolumbien 1830 genommen. Antonio Lafuente und Antonio Mazuecos, Los Caballeros del Punto Fijo, Barcelona 1987. G A LA X IS B O R JA G O N ZÁ LEZ
Geographie. Wissenschaft von der Erdoberfläche und der mit ihr in Beziehung stehenden Prozesse. Kartographische Repräsentationen (→Kartographie) und Länder291
g e ogr A P h i s c h e u n d k o l o n i A l e g e s ells c h A f ten
beschreibungen gab es in zahlreichen Kulturen, so auch in der islamischen oder der chin. Mit der frühneuzeitlichen Expansion erlebte diese Tradition in Europa als Nebenprodukt des →Kolonialismus einen großen Aufschwung. Dieser ging einher mit ersten Systematisierungsversuchen der physischen Erdkunde wie der „Geographia universalis“ des Bernhard Varenius (1650). Ab dem 18. Jh. erhielten erdkundliche Motive einen eigenständigen Rang bei europäischen Erkundungsreisen. Paradigmatisch sind die Reisen von Alexander von →Humboldt. Im 19. Jh. erfolgte eine Professionalisierung der G. in Universitäten und staatlichen Landesaufnahmen. Die wissenschaftliche Erfassung der gesamten Erde diente den Kolonialmächten als Legitimation im Sinne der europäischen Zivilisierungsmission. Hanno Beck, Geographie, Freiburg i. Br. u. a. 1973. RAL F E MI NG
Geographische und koloniale Gesellschaften. Vorwiegend im 19. Jh. gegründete Vereinigungen bürgerlicher Prägung, die sich der Förderung geographischer oder kolonialer Zwecke verschrieben haben. Wegen der symbiotischen Beziehung zwischen Forschung und kolonialer Expansion waren die Übergänge zwischen wissenschaftlichen und prokolonialen Gesellschaften fließend. An der Spitze waren Wissenschaftler, Offiziere, Beamte, Diplomaten und Angehörige des Wirtschaftsbürgertums tonangebend. Mehrfachmitgliedschaften kamen häufig vor. Zu den Funktionen der Gesellschaften zählten Bildungsmaßnahmen, Forschung, Finanzierung und Veröffentlichung von Forschungsvorhaben, Politikberatung und Interessenvertretung. Ihr Einfluß hing von der sozialen Stellung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder ab. Beispiele sind die →Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, die →Dt. Gesellschaft zur Erforschung Äquatorialafrikas, der →Dt. Kolonialverein oder die brit. →Royal Geographical Society. Anne Godlewska / Neil Smith (Hg.), Geography and Empire, Oxford u. a. 1994. RAL F E MI NG Geologie. Wissenschaft von der Entwicklung und vom Aufbau der Erde. Die Anfänge der Beschäftigung mit der G. liegen in der Darstellung von Gesteinsschichten an der Erdoberfläche und der Kunde von Mineralien und Metallen, letztere v. a. befördert durch den →Bergbau. In der Frühen Neuzeit noch durch biblische Ideen von der Erdgeschichte überlagert, entwickelte sich im 18. Jh. in Europa durch die systematische Untersuchung von Formationen und Fossilien die G. als Wissenschaft. Entspr. dem globalen Wissenschaftsverständnis der Europäer und ihrem Bedarf an →Rohstoffen wurde geologische Forschung zum integralen Bestandteil der kolonialen Expansion. Im 19. Jh. entstand ein weltweites Netzwerk aus geologischen Sammlungen und Institutionen zur Landesaufnahme. David R. Oldroyd, Die Biographie der Erde, Frankfurt/M. 2007. RAL F E MI NG Georg I., * 28. März 1660 Hannover, † 11. Oktober 1727 Osnabrück, □ Kapelle des Schlosses Herrenhausen / Osnabrück, anglik. 292
54-jährig bestieg Georg Ludwig auf Grund der im Act of Settlement (1701) festgelegten protestantischen Erbfolge 1714 den brit. Thron. Seine Interessen am brit. Überseereich waren stark durch seine Sozialisation als Kurfürst von Hannover gefärbt. Seine Außenpolitik als Monarch begünstigte zunächst die Vergrößerung des hannoverschen Territoriums durch den Erwerb der Herzogtümer Bremen und Verden (1719) im Großen Nordischen Krieg (1700–1721). Der Einsatz der brit. Flotte zur Erreichung dieses Ziels brachte ihm von seiten der brit. Opposition und Öffentlichkeit den Vorwurf ein, brit. Ressourcen für hannoversche Interessen zu mißbrauchen. Dieses Stereotyp zog sich durch seine gesamte Reg.szeit hin. Die Gegenüberstellung von kgl., bzw. „dt.“ und damit kontinentalen Interessen auf der einen, sowie „brit.“ / imperialen Überseeinteressen auf der anderen Seite erhielt so eine Ausprägung, die der Politik G.s nicht gerecht wird. Zwar fallen keine größeren kolonialen Erwerbungen in seine Reg.szeit, doch lassen sich besonders ökonomische Interessen nachweisen. In einigen Situationen griff der Monarch in die koloniale Politik und Rechtspraxis ein Jeremy Black, Continental Commitment, Abingdon 2005. Ragnhild Hatton, George I. Elector and King, London 1978. Brendan Simms, Three Victories and a Defeat, London 2007. TO RSTEN RIO TTE Georg II., * 10. November 1683 Hannover, † 25. Oktober 1760 London, □ Westminster Abbey / London, anglik. Die Reg.szeit G.s (1727–1760) wurde durch Ereignisse in Übersee stark beeinflußt. Dabei spielte neben dem zunehmenden Antagonismus zwischen den europäischen Großmächten und den daraus folgenden Konflikten auf überseeischen Schauplätzen nunmehr auch die deutliche Vergrößerung der abhängigen Territorien eine wichtige Rolle. G. selbst partizipierte in erster Linie durch seine außenpolitischen Entscheidungen. Während im War of Jenkins Ear (1739/40) die span.-brit. Rivalität noch hauptsächlich dazu genutzt wurde, die militärische Vormacht der brit. Flotte im →Atlantik zu untermauern, führten die Auseinandersetzungen seit dem Beginn des Österr. Erbfolgekrieges (1740–1748) zu einer direkten Konkurrenz mit Frankreich. Bereits im sog. „King George War“ (1744–1748) zeichnete sich das Grenzgebiet zwischen dem frz. Nova Scotia und Neuengland als Konfliktherd ab. Diese Entwicklung erreichte im →Siebenjährigen Krieg ihren Höhepunkt. In Großbritannien kam es in diesem Kontext zunehmend zu einer Konkurrenz von kontinentalen und Übersee-Interessen, die in der politischen Rhetorik zu heftigen Debatten um eine sog. „blue water policy“ als militärische und politische Strategie führten. Ähnlich wie seinem Vater wurden G. in diesem Kontext ausschließlich kontinentale Interessen und dabei v. a. die Sorge um „German business“ unterstellt. Auf Grund der schlechten Quellenlage ist die Haltung des Monarchen zum brit. Überseereich nicht eindeutig zu beschreiben. Eine Präferenz für kontinentale Interessen kann jedoch v. a. für den Siebenjährigen Krieg nachgewiesen werden.
g es ch lech ts k rA n k h ei ten
Jeremy Black, Continental Commitment, Abingdon 2005. Bob Harris, Politics and the Nation, Oxford 2002. Brendan Simms, Three Victories and a Defeat, London 2007. TORS T E N RI OT T E
Georg III., * 4. Juni 1738 London, † 29. Januar 1820 Windsor Castle, □ St. George’s Chapel / Windsor, anglik. Zwei globale Konflikte bilden die Eckpunkte der Reg.s zeit G.s (1760–1811/20). Mit dem Frieden von Paris (1763) vergrößerte sich das brit. Einflußgebiet in Nordamerika, →Indien und Zentralafrika. Auf dem Wiener Kongreß (1815) konsolidierte sich das Empire in einer Form, die die brit. Vorherrschaft auf den Weltmeeren in ungeahntem Ausmaß garantierte. Die herausragende Zäsur der Reg.szeit G.s stellte der Konflikt mit den am. Kolonien (1776–1783) dar. Für den Kg., der 1760 mit dem Vorsatz weitreichender politischer Reformen seine Reg. szeit begonnen hatte, wurde der Verlust der Kolonien zur entscheidenden politischen Niederlage. Die republikanische Rhetorik in den sich formierenden →Vereinigten Staaten trug in diesem Kontext genauso zu einem negativen Bild G.s bei wie die Angriffe der Opposition in Großbritannien selbst. Die neuere Forschung hat das v. a. von am. Revolutionären und Historikern gezeichnete Bild von G. als absolutistischem Tyrannen revidiert. So werden seine Ansichten gegenüber der „Rebellion“ der Kolonien als Furcht vor dem Verlust des Herrschaftsbereiches und weniger als Unterdrückung liberalen Fortschritts verstanden. Der Konflikt mit den am. Kolonien zeigt, daß sich die brit. Überseegebiete im 18. Jh. zunehmend als komplexe staatliche Gebilde formierten. Die kanadische Politik im Krieg von 1812 verdeutlicht in diesem Zusammenhang, daß die Absage an die Monarchie und der Konflikt mit dem Mutterland nur eine mögliche Strategie in der jeweiligen Staatswerdung darstellte. Auch die zunehmenden Eingriffe der brit. Reg. in die Verhältnisse in Indien (East India Act 1784) sind Hinweise darauf, daß die imperiale Politik die politische Situation in den Überseeterritorien in ihre Strategien einbinden mußte. G., der keines seiner Überseegebiete je besuchte, hat nur begrenzt zu einer Lösung dieser Probleme beigetragen. Vielmehr führte sein krankheitsbedingter zunehmender Rückzug aus der Politik nach 1788/89 dazu, daß andere politische Instanzen diese Verantwortung übernahmen. Jeremy Black, George III., New Haven 2006. Linda Colley, Britons, New Haven / London 1992. P.D.G. Thomas, George III and the American Revolution, in: History 70 (1985), 16–32. TORS T E N RI OT T E Geronimo →Apachen Geschichtsfälschung kann in einer vorsätzlichen Fälschung von Quellen bestehen, die mit der Absicht der Aneignung von Besitz oder Privilegien erfolgt. Beispiele sind zahlreiche während des Mittelalters gefälschte Urkunden, z. B. die umstrittene Konstantinische Schenkung Im Kontext des europäischen →Kolonialismus wurden in den 1870er Jahren Fotos in Umlauf gebracht, die Kannibalismus (→Anthropophagie) im Kongo belegen
sollten, jedoch in einem Fotostudio (→Fotografie) in →Kairo inszeniert worden waren. In neuester Zeit bestehen G.en meist in vorsätzlich falschen Darstellungen bzw. Deutungen historischer Fakten und Zusammenhänge, die in der Regel politisch motiviert sind und durch Nichtbeachtung bzw. Leugnung der Authentizität von Quellen zustande kommen, die der Auffassung des Geschichtsfälschers widersprechen. Der Vorwurf der G. wurde 1903 gegen Guy Burrows erhoben, der unglaubwürdige Fotografien verstümmelter Kongolesen in der Absicht veröffentlicht hatte, die brutale Ausbeutung der Kongolesen durch die Europäer anzuprangern. Der Vorwurf erwies sich als gegenstandslos, als in den folgenden Jahren glaubwürdigere Fotos der →Kongo-Greuel von Missionaren publiziert wurden. Im Zusammenhang mit der Niederschlagung des →Herero-Nama-Aufstands in →Dt.-Südwestafrika 1904 wird der Vorwurf der G. wechselseitig zwischen Anhängern und Gegnern der These, das Vorgehen der dt. Truppen habe den Charakter eines Genozids gehabt, erhoben. Susanne Gehrmann, Kongo-Greuel, Hildesheim 2003. Stichwort „Geschichtsklitterung“, in: Erich Bayer / Frank Wende, Wörterbuch zur Geschichte, Stuttgart 5 2003, 193. C H R ISTO PH K U H L Geschlechtskrankheiten. Die Liste der sexuell übertragbaren Krankheiten (STD) ist lang. Als Erreger können auftreten: Viren (HIV, Hepatitis B oder C, Herpes, Zytomegalie u. a.), Bakterien (Treponemen, Gonokokken, Chlamydien, Mycoplasmen u. a.), Pilze (Candida albicans), Prototozoen (Trichomonaden) sowie Arthopoden (Läuse, Milben). Die G. im engeren Sinne (venerische Erkrankungen) waren definiert durch Gesetze zur Verhütung und Bekämpfung der G. Diese Definition der G. ist zwar pragmatisch aber willkürlich. Geht man davon aus, daß G. ausschließlich sexuell übertragen werden und der primäre Ort der Krankheitsmanifestion die Genitalien sind, ist diese Definition zu eng. Erkrankungen durch Trichomonaden oder Clamydien würden diese Kriterien ebenfalls erfüllen. Von Europa aus hatten sich die G. im Zusammenhang mit der Kolonisation in der Welt verbreitet. Die Infertilität infolge von G. war besonders für indigene Gesellschaften mit libertinären Geschlechtsgewohnheiten eine Ursache für deren Bevölkerungsrückgang (→Sibirien, Südsee, Neuseeland). Die Ausbreitung der G. ist ein Teilaspekt des „Ökologischen Imperialismus“. G. im engeren Sinne sind: 1. Syphilis (→Treponematainfektionen). 2. Gonorrhöe (synonym: Tripper): Weltweit vorkommend sind besonders Risikogruppen betroffen, wie Personen mit häufig wechselnden Geschlechtsverkehr, Prostituierte, Homosexuelle. Die Inzidenz wird weltweit auf 60 Mio. Erkrankte pro Jahr geschätzt. Krankheitserreger sind Gonokokken (Bacterium gonorrhoeae Neisseria). Die Übertragung erfolgt sexuell, die Erkrankung tritt ausschließlich beim Menschen auf. Klinische Symptome sind Harnröhrenentzündung mit Ausfluß, Schmerzen beim Wasserlassen. Unbehandelt kann die Erkrankung ca. 8 Wochen andauern. Mögliche Komplikationen: Entzündungen der Nebenhoden und der Prostata beim Mann sowie Entzündungen der Gebärmutter und der Eileiter bei der Frau. Unfrucht293
g e s e l l s c hA f t f ü r er d k u n d e z u b er li n
barkeit kann folgen. Therapie: Antibiotika. Gonorrhöe war schon im Altertum bekannt, allerdings wurde nicht zwischen Erkrankungen unterschiedlicher Ätiologie unterschieden. Syphilis und Gonorrrhöe wurden meist unter dem Begriff Morbus venereus zusammengefaßt. Erst mit dem Nachweis von Gonokokken durch Albert Neisser 1879 war eine sichere Abgrenzung möglich. 3. Ulcus molle (Synonym Weicher Schanker): Es handelt sich um eine Infektion mit dem Bakterium Haemophilus ducreyi. Es treten zunächst Geschwüre im Bereich der Genitalien auf, später Lymphknotenschwellungen in den Leisten, die eitrig aufbrechen können. Meist selbstlimitierende Erkrankung. Therapie mit Antibiotika. 4. Lyphogranuloma venerum: Häufiger in den Tropen als in Europa, sexuell übertragbare Erkrankung durch Clamydia trachomatis Serotypen L1–L3. Symptome: Genitalgeschwüre und regionale Lymphknotenschwellungen sowie genitales Lymphödem. Therapie: Antibiotika. Enno Christophers / Markward Ständer, Haut- und Geschlechtskrankheiten, München 2003. DE T L E F S E YBOL D
Gesellschaft für deutsche Kolonisation →Deutsche Kolonialgesellschaft Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Älteste noch bestehende geographische Gesellschaft Deutschlands. Gegründet am 18.4.1828 auf Initiative des Kartographen Heinrich Berghaus zur Beförderung der Erdkunde im weitesten Sinne. Erster Präs. war der Geograph Carl Ritter. Unter dem Präs. Heinrich →Barth und Ferdinand Frhr. von →Richthofen beteiligte sich die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s aktiv an Forschungsreisen, besonders in Afrika und den Polargebieten. Ab der Wende zum 20. Jh. erfolgte eine Konzentration auf die geographische Detailforschung. Mit einem hohen Anteil an Gelehrten, Beamten und Offizieren versammelte die Gesellschaft die geistige und soziale Elite der Reichshauptstadt Berlin. Die Erde. Sonderheft 1/2003. RAL F E MI NG Getreidegesetze. Die G. waren ein auf den brit. Einfuhrhandel angewandtes Regel- und Gesetzeswerk zur Protektion einheimischer Getreideproduzenten. Obgleich ein geistiges Kind des Merkantilismus und Agrarkapitalismus des späten 17. und 18. Jh.s wurden sie zur Zeit des engl. Durchbruchs zur Industriellen Revolution nach der Aufhebung der Kontinentalsperre entspr. modifiziert (1815). Sie stellten eine Mischung aus tarifären (Importzöllen) und nicht-tarifären (Importverbote) Handelshemmnissen dar, verbunden mit Exportsubventionen für brit. Getreide. Getreideimporte waren nur in Versorgungskrisen erlaubt, wenn der brit. Getreidepreis einen gesetzlich fixierten Schwellenwert überschritt. Während dieser Wert im 18. Jh. bei 44 Schilling pro Scheffel gelegen hatte, betrug er ab 1815 66–80s. Getreideimporte wurden dann mit einem (seit 1828 gleitenden) Zoll belegt, welcher sich invers zum brit. Getreidepreis bewegte. Unter diesem System konnten bereits Preissenkungen um 4 % den Zoll um 1300 % erhöhen. Die G. hatten ihre Wurzeln im Merkantilismus und seiner prak294
tischen Implementierung (Zollsystem von 1660). Dieser wirtschaftstheoretisch und konzeptionell unausgereifte Mix aus Schutz- und Finanzzöllen führte zu einer hohen Abgabenlast auf brit. Importe, mit Ausnahme von →Rohstoffen zur industriellen und Gewerbeproduktion. V. a. aber ließ er neben einer Dosis merkantilpolitischer Stringenz breiten Raum für die Protegierung von Partikularinteressen. Bis 1846 dominierten Interessenvertreter der kommerziellen Landwirtschaft faktisch die brit. Außenwirtschaftspolitik. Asymmetrien im System zeigten sich in schlechten Erntejahren, als die G. temporär aufgehoben wurden, um die Versorgung der brit. Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen. Mit einem wachsenden Anteil des Industriesektors an Beschäftigung, Sozialprodukt und Exporten erschienen die G. seit ca. 1800 auch den Zeitgenossen zunehmend fragwürdig. In einer Zeit, in der die Betriebskosten der Baumwollspinnerei (→Baumwolle) auf ein Sechstel ihres Wertes von 1790 gefallen waren, wurde die Spezialisierung der engl. Wirtschaft gemäß ihrer komparativen Kostenvorteile, und damit der freie Verkehr in Nahrungsmitteln, zu einer adäquaten Versorgung einer wachsenden Industriebevölkerung als zunehmend notwendig erachtet. Aber erst 1846 erfolgte die endgültige Aufhebung der G. als Teil einer generellen Liberalisierung im Handel, deren krönender Abschluß der Widerruf der Navigationsakte (1849) darstellte. Susan Fairlie, The Corn Laws and British Wheat Production, 1829–76, in: The Economic History Review 22/1 (1969), 88–116. Cheryl Schonhardt-Bailey, From the Corn Laws to Free Trade, Cambridge 2006. Wray Vamplew, The Protection of English Cereal Producers, in: The Economic History Review 33/3 (1980), 382–395. PH ILIPP RÖ SSN ER
Gettysburg Address. Gilt als die beste Rede des USPräs. Abraham →Lincoln und wurde am 19.11.1863 bei der Eröffnung des Soldatenfriedhofs in Gettysburg, Pennsylvania gehalten, auf dem die Gefallenen der Schlacht von Gettysburg (1.–3.7.1863) begraben worden waren. Die Schlacht von Gettysburg gilt als Wendepunkt des Bürgerkriegs, in dem der Norden bis 1863 nur sehr mäßige Erfolge errungen hatte. Die rhetorisch und argumentativ komplizierte und zwei Stunden dauernde Hauptrede wurde allerdings nicht von Lincoln, sondern von dem angesehenen Politiker Edward Everett (* 11. April 1794 in Boston, † 15. Januar 1865 Boston/Mass., □ Mount Auburn Cemetery, Cambridge/Mass.) gehalten. Lincoln hatte ursprünglich nicht zu den geladenen Gästen dieses Ereignisses gehört, hatte es aber kurzfristig einrichten können, um in Gettysburg dabei sein zu können. Gegenüber Everetts Ansprache hob sich Lincolns Rede durch Kürze, Eleganz und inhaltliche Präzision deutlich ab. Seine Rede bestand aus zehn ganzen Sätzen, aus denen im Laufe der Zeit ein „geheiligter Text“ geworden ist, den man als festen Bestandteil der Zivilreligion in den →USA ansehen muß. Die Rede erregte damals wenig Aufsehen, außer bei Everett, der Lincoln gegenüber bemerkte: „Ich wäre froh, wenn ich mir selbst damit schmeicheln könnte, in zwei Stunden der zentralen
g hAn A
Idee dieser Gelegenheit so nah gekommen zu sein, wie Sie in zwei Minuten.“ Jennifer Armstrong / Albert Lorenz, A Three-Minute Speech, New York 2003. Carin T. Ford, The Battle of Gettysburg and Lincoln’s Gettysburg Address, Berkeley Heights/NJ 2004. Maureen Harrison / Steve Gilbert (Hg.), The Speeches of Abraham Lincoln, Carlsbad/CA 2005. NORBE RT F I NZ S CH Gewürze. Unter G. wurden traditionell importierte, meist getrocknete Pflanzenprodukte („Specereien“ im Sinne von „spezielle Waren“) in Abgrenzung zu frischen, einheimischen Kräutern verstanden. In der Gegenwart ist der Übergang fließend, da alle diese Produkte vorrangig als würzende Lebensmittel wahrgenommen werden. Am Vorabend der europäischen Expansion beschränkte sich das Angebot in Mittel- und Westeuropa im wesentlichen auf Kümmel, Senf und Wacholder. Daneben waren jedoch seit der Antike zahlreiche G. des östlichen Mittelmeerraumes in den europäischen Alltag integriert, insb. Anis, Koriander, verschiedene Kümmelsorten und Safran, aber auch Bockshornklee oder seltener Sumach. Weitere Produkte asiatischer Herkunft wurden über den Landweg (Seidenstraße, →Seide) oder in Kombination damit über innerasiatische Seewege („maritime Seidenstraße“) importiert. Aus Südasien stammten →Pfeffer, hochwertiger ceylonesischer Zimt, Kardamom oder Sesam, aus →Südostasien →Nelken, Muskatnuß (→Muskat), Macis, Pfeffer, Kurkuma sowie weitere Zimtsorten, während Sternanis und Sezchuanpfeffer traditionell nur in Ostasien produziert wurden. Diese Vielfalt war Grundlage eines traditionellen Gewürzhandels innerhalb Asiens, der China als seinen größten Markt bediente, so daß eine exportorientierte Produktion in den Anbauzentren (insb. auf den →Molukken) nicht erst durch die europäische Nachfrage seit dem 16. Jh. induziert wurde. Zur →Geographie der G. zählen zudem Süd- und Mittelamerika mit Paprika, Chili (in gemahlener Form Cayennepfeffer), Piment und Vanille als wichtigste Produkte. Die G. Nordamerikas wie Sassafras oder Afrikas wie Sesam spielten dauerhaft nur eine marginale Rolle. Zu Beginn der Neuzeit blieben wegen ihres hohen Beschaffungsaufwandes die meisten G. als Luxusgüter der Oberschicht vorbehalten und wurden aus dem gleichen Grund zum Antriebsmotor der europäischen Expansion. Da die Transaktionskosten des Imports über den Landweg durch Abgaben an eine Vielzahl von Anrainerstaaten, umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen und das Marktmonopol →Venedigs im östlichen Mittelmeer ständig stiegen, suchten Portugal im 16. Jh. (→Estado da India) und die westeuropäischen Seefahrtsnationen, allen voran England und die Niederlande seit dem 17. Jh. einen direkten Zugriff auf die Erzeugermärkte in Asien. Als erstes Ziel wurde die Anbindung an die Produktionsstätten oder zumindest an die asiatischen Gewürzhandelszentren, v. a. in →Indien und dem Malaiischen Archipel, angestrebt, als zweites Ziel die Monopolisierung dieses Handels. Während das erste Ziel durch den Aufbau zunehmend verdichteter Stützpunktnetzwerke erreicht wurde, konnte das zweite nur in wenigen Ausnahmefällen realisiert werden. Der europäische Gewürzhandel erhöhte die Nach-
frage beträchtlich und induzierte eine verstärkte Marktorientierung in den meisten Anbaugebieten; dennoch blieb der innerasiatische Handel ein bedeutender Faktor. Von den →Ostindienkompanien häufig als „Schmuggel“ bekämpft, suchte er sich nicht selten neue Anbaugebiete und Verteilungswege. Anders als in Asien waren die G. →Amerikas zwar Bestandteil der Alltagskultur, aber kein wesentliches Handelsgut. Dies ermöglichte den Europäern den uneingeschränkten Zugriff und die weitgehende Kontrolle in diesem Bereich. Im Gesamtvolumen des interkontinentalen Handels ging die Bedeutung der G. im Laufe der Frühen Neuzeit auf Grund kulturell bedingten Nachfragewandels in Europa zurück. Übermäßig starke Würzung v. a. von Fleischspeisen kam aus der Mode, gleichzeitig wurden andere Produkte zu Luxusgütern. Im Laufe des 18. Jh.s setzten sich Güter wie →Kaffee, →Tee oder →Zucker durch – zunächst ebenfalls in der Oberschicht, dann zunehmend als Massenkonsumprodukt – und dominierten bald die Handelswege, die ursprünglich dem Gewürzhandel gedient hatten. Unter den asiatischen G. konnte nur der Pfeffer seine Position weitgehend behaupten. Zudem wurden G. im Industriezeitalter nicht mehr, wie zuvor, zu Konservierungszwecken benötigt. Absolut gesehen sind G. bis heute ein wichtiges Produkt auf den Lebensmittelmärkten. Ihre Geographie hat sich allerdings im Zuge der Transferprozeße der europäischen Expansion grundlegend geändert. Dauerhaft nach Europa gelangten neben zahlreichen Nutzpflanzen auch einige G., unter denen Paprika das bekannteste Beispiel darstellt. Für viele andere G. war dieser Weg aus klimatischen Gründen nicht möglich. Dieser Umstand führte zu Transfers auf der Süd-Süd-Schiene, die der eigenen wirtschaftlichen Inwertsetzung im Rahmen einer europäischen →Weltwirtschaft dienten. So wurde die aus dem südlichen →Mexiko stammende Vanille in den frz. Kolonien des →Ind. Ozeans zur Kulturpflanze weiterentwickelt oder die Nelken Ende der 1760er Jahre von den ndl. kontrollierten Molukken gestohlen und auf →Mauritius heimisch gemacht. Nach dem Ende der Ostindienkompanien erfuhren v. a. asiatische G. eine weltweite Verbreitung. Insb. auf →Sansibar wurden neben Muskatnuß, Zimt und Pfeffer v. a. Nelken angepflanzt, deren größter Exporteur die Insel im 19. Jh. wurde. Insb. tropische asiatische G. wurden in vergleichbare Klimazonen (→Klima) Afrikas und Amerikas transferiert. Die entspr. Vermittlerrolle Europas weist dabei unterschiedliche Abstufungen auf. Der am. Chili wurde durch die Spanier ohne eine eigene Inwertsetzung nach Asien transferiert, wo es bald nicht mehr aus den indigenen Küchen wegzudenken war. Andere G., wie Koriander, verbreiteten sich auch ohne Einwirken europäischer Protagonisten weltweit. Markus A. Denzel (Hg.), Gewürze, St. Katharinen 1999. John Keay, The Spice Route, Berkeley 2006. Manuela Mahn, Gewürze, Stuttgart 2001. JÜ RG EN G . N A G EL Ghana (Republic of G.) ist eine ehem. brit. Kolonie. G. (238 533 km², 23,8 Mio. Ew.) wird von einem Wechsel der Klimazonen, von tropisch-feuchtheiß an der Küste bis zur Trockensavanne im Norden bestimmt. Hauptstadt ist →Accra (ca. 1,9 Mio Ew.), große Bedeutung besit295
giegler, cArl
zen die Hafenstadt Tema sowie die regionalen Zentren Kumasi, Cape Coast, Takoradi und Tamale. Amtssprache ist Englisch, bedeutende Sprachen sind zudem Twi, Fante, →Ewe, Ga sowie →Hausa. Ein großer Teil der Bevölkerung gehört zahlreichen evangelischen Kirchen an (ca. 20 %), zudem der rk. Kirche (10 %), dem →Islam (30 %, sowie lokalen Religionen (40 %). G. (Nationalfeiertag 6.3.1957) ist eine Präsidialdemokratie mit einem direkt gewählten Präs. Das Parlament hat 230 Sitze. G ist verwaltungstechnisch in 10 Regions mit Regionalministern, 110 Distrikte mit „District Chief Executives“ und „District Assemblies“ unterteilt. In allen Regionen gibt es ein House of Chiefs, das jeweils fünf Vertreter in das National House of Chiefs delegiert. Die Wirtschaft des Landes wird von der Landwirtschaft, dem Export von landwirtschaftlichen Produkten, v. a. →Kakao und →Kaffee, Holz sowie von Gold geprägt. Eine große Bedeutung besitzt zudem der →Tourismus. Der Norden des Landes ist weitaus geringer entwickelt als der Süden. Vor der Kolonialzeit dominierte im Süden des Landes das Kgr. der →Ashanti, das 1874 von den Briten unterworfen wurde, die die Kolonie Goldküste sowie die →Kronkolonie im Süden des Landes errichteten. G. wurde zusammen mit dem brit. Mandatsgebiet Transvolta-Togoland (heute Volta-Region) 1957 unabhängig, erster Staatspräs. wurde K. →Nkrumah. Er wurde 1966 durch einen Putsch abgesetzt, in der Folge lösten sich militärische und zivile Reg.en ab, die seit 1981 von Jerry Rawlings, einem Fliegerhauptmann, übernommen wurde. Rawlings ebnete den Weg zur Demokratisierung und wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes und wurde 1992 sowie 1996 zum Präs. gewählt. 2001 übernahm nach den siegreichen Wahlen John Kufuor, Kandidat der New Patriotic Party (NPP) dieses Amt. Derzeitiger Staatspräs. und Reg.schef ist nach dem Tod von John Atta Mills (National Democratic Congress, NDC, Präs. 2009-2012) dessen Vizepräs. John Dramani Mahama. Ernest Arytey, The Economy of Ghana, Woodbridge 2008. Steve Tonah (Hg.), Ethnicity, Conflicts and Consensus in Ghana, Accra 2007. Janine Marisca Ubink, In the Land of the Chiefs, Leiden 2008. T I L O GRÄT Z Giegler, Carl, * 4. Januar 1844 Schweinfurt, † 31. August 1921 Schweinfurt, □ Hauptfriedhof Schweinfurt, ev.-luth. G.s Zuständigkeitsbereich war seit 1873 der Ausbau des Post- und Telegrafenwesens im ägyptischen →Sudan. 1879 wurde er zum stellv. Gen.-gouv. (Charles →Gordon) befördert. Auf Grund fehlender militärischer Erfahrung traf G. 1882 hauptverantwortlich erfolglose Vorkehrungen zur Bekämpfung der →Mahdiyya. G., inzwischen nurmehr Generalinspekteur zur Unterbindung des →Sklavenhandels, wechselte 1883 nach →Ägypten. Seine Memoiren, die lediglich in engl. Übersetzung ediert sind, gestatten wertvolle Einblicke in die Vorgänge in →Khartum vor Ausbruch und zu Beginn der Mahdiyya. Richard Hill (Hg.), The Sudan Memoirs of Carl Christian Giegler Pasha, London 1984. CHRI S T I AN KI RCHE N
296
Gilbert and Ellice Islands. Bezeichnung für eine aus brit. Kolonialzeit stammende Zusammenfassung mehrerer Inselgruppen im östlichen →Mikronesien bzw. nordwestlichen →Polynesien, die heute die unabhängigen Staaten Kiribati (sprich: Kiribaß) und Tuvalu bilden. Korrekt als G.a.E.I. Protectorate bzw. G.a.E.I. Colony bezeichnet. G.a.E.I. Protectorate: Bezeichnung für ein brit. →Protektorat welches 1892 etabliert wurde. Die Gilbert Islands wurden zwischen dem 27.5. und 17.6.1892 von Kapitän E. H. M. Davis, der Royal Navy (Royalist) und die Ellice Islands von Kapitän Gibson (Curacao) zwischen 9. und 16.10.1892 zum brit. Protektorat erklärt, um die Region unter brit. Oberhoheit zu bringen. Die Inseln der Gilbert Gruppe sowie die südlich davon liegenden Ellice Inseln, wurden schrittweise ab 1537 bis 1826 von Europäern und Amerikanern entdeckt und auf wirtschaftliche Nutzbarkeit erforscht. Seit 1867 bestanden dort Faktoreien der Firma →Godeffroy u. der deutsche Einfluß in Handel u. Wirtschaft war groß. →Banaba wurde 1900 Teil des Protektorats. Das G.a.E.I. Protectorate wurde am 12.1.1916 zur G.a.E.I. Colony. Die Kolonie, die durch Umwandlung des Protektorates sowie durch zusätzliche Eingliederungen entstanden war, bestand bis 1.1.1976, als sie aufgelöst und die Inseln in den darauf folgenden Jahren in die Selbstständigkeit entlassen wurden (Kiribati, Tuvalu). Zur Kolonie zählten die G.I., die E. I., ab 1900 Banaba, auf dem sich die überwiegende Zeit der Sitz der Kolonialverwaltung befunden hatte, sowie ab 1916 Tabuaeran (Fanning) und Teraina (Washington). In die Kolonie wurden auch eine zeitlang die drei Inseln der Tokelau-Gruppe (Union Group, →Tokelau) inkludiert, die ab 1889 ein brit. Protektorat bildeten. 1919 wurde Kiritimati (Christmas Island) der Kolonie zugerechnet, was aber von den →USA anfangs nicht akzeptiert wurde. Tokelau wurde 1925 der neuseeländischen Verwaltung unterstellt. 1937 wurden die Phoenix Islands Teil der G.a.E.I. Colony. Kanton und Enderbury wurden jedoch 1939 einer gemeinsamen Verwaltung mit den USA unterstellt (→Kondominium), die ein Interesse an den Inseln bezüglich einer Nutzung für die transpazifische Luftfahrt hatten. 1972 waren die Line Islands in die Kolonie aufgenommen worden, die bis 1976 bestand. Musikalische Aufzeichnungen von Gerd Koch (1964) im Ethnol. Museum Berlin (VII LP 5670). Gerd Koch, Die materielle Kultur der Ellice-Inseln, Berlin 1961. Ders., Materielle Kultur der Gilbert-Inseln, Berlin 1965. Hermann Mückler, Der Fall „Kannengießer“. Ein Mord u. seine Abwicklung als Spiegel kolonialer Verwaltg. u. Einflußnahme auf den Gilbert Islands, in: JbEÜG 9 (2009), 105–126. H ER MA N N MÜ CK LER Gladstone, William Ewart, * 29. Dezember 1809 Liverpool, † 18. Oktober 1898 Hawarden, □ Westminster Abbey / London, anglik. Brit. liberaler Staatsmann und Politiker; der Sohn eines Großkaufmanns aus Liverpool war ursprünglich Tory und war mehr als 60 Jahre Abgeordneter des Unterhauses (1832–1895, mit kurzer Pause 1846). Als Anhänger und Protegé von Robert Peel war G. im zweiten Kabinett Peel Handelsminister (1843–1845) und Minister für die Kolonien (1845). Sein Eintreten für den →Freihandel
glo bA li s i eru n g
führte zum Bruch mit den Konservativen und zum Übergang zu den Liberalen. Er leitete die Gruppe der sog. Peeliten bis 1865. In der Reg. Aberdeen (1851–1855) war G. Finanzminister (Chancellor of the Exchequer), trat aber im Jan. 1855 wegen Meinungsverschiedenheiten über die Steuerpolitik der Reg. während des →Krimkriegs zurück. Wieder Finanzminister in den Kabinetten →Palmerston und Russell (1859–1866), seit 1867 Vorsitzender der Liberal Party, erbitterter Gegner der imperialen Außenpolitik seines Hauptrivalen →Disraeli. 1868–1874 war G. erstmals Premierminister und setzte verschiedene Reformgesetze durch (betr. Armee, Schulwesens, Verwaltung, erstes Bodengesetz für Irland usw.). In seiner zweiten Amtszeit (1880–1885) wurden weitere Reformgesetze verabschiedet (zweites Bodengesetz für Irland, drittes Wahlgesetz 1884). Die brit. Niederlage im ersten →Burenkrieg (1881) und die brit. →Okkupation →Ägyptens (1882) fielen in G.s zweite Amtszeit. Sein drittes Kabinett (Febr.-Juli 1886) scheiterte an der Ablehnung des Gesetzes über die „Home Rule“ für Irland. Die irische Frage führte 1886 zur Zersplitterung der Liberal Party. Die Anhänger der Union Großbritanniens mit Irland, geführt von Joseph Chamberlain, spalteten sich ab. Auch das vierte und letzte Kabinett G. (1892–1894) scheiterte an der Frage der „Home Rule“ für Irland. Eric Brand, William Gladstone, London 1986. Roy Jenkins, Gladstone, London 1995. AL E Š S KŘI VAN JR. Gleim, Otto, * 22. April 1866 Kassel, † 17. August 1929 München, □ unbek., ev.-luth. G. trat 1895 in die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes ein, war in →Togo und →Kamerun tätig und wurde 1908 zum Geheimen Oberreg.srat im →Reichskolonialamt ernannt. Im Aug. 1910 wurde er →Gouv. von Kamerun, trat aber schon ein Jahr später wegen des von ihm abgelehnten Marokko-Abkommens zurück. Wichtige Akzente konnte er während seiner kurzen Tätigkeit in Kamerun nicht setzen. Sie stand nach der „Pazifizierung“ des Binnenlandes, die unter seiner Verwaltung mit der Unterwerfung von Bafia fortgesetzt wurde, v. a. im Zeichen der Ausnutzung des wirtschaftlichen Potentials der Kolonie. Im Mai 1912 wurde er als Direktor der Abteilung für allg. Verwaltung in das Reichskolonialamt zurückberufen und 1916 zum Unterstaatssekretär befördert. Dt. Biographisches Jb. 11 (1929), 113–117. Wilhelm Schulz, Otto Gleim. Ein Lebensbild, in: Dt. Corpszeitung 2/1961, 45. F L ORI AN HOF F MANN Globalgeschichte gibt es seit den 1990er Jahren. Die Gründung des Journal of Global History bei Cambridge University Press 2006 hat sie etabliert. G. ist keine Methode, sondern eine Fragestellung oder ein Konzept. Konzepte wechseln rascher als Methoden, denn ihr Austausch ist weniger aufwendig. G. gehört zu einem ganzen Feld verwandter Konzepte wie transnationale Geschichte und histoire croisée / Verflechtungsgeschichte, die sich von ihr durch enger geführte und genauere Fragestellung unterscheiden. Vor allem aber konkurriert sie mit der alten Universalgeschichte und der uralten Weltgeschichte. Grob vereinfacht ist G. nämlich die Welt- und Universalgeschichte der jüngsten Zeit, in der die Welt
durch →Globalisierung so weit zusammengewachsen ist, daß man ihre Geschichte einheitlichen Fragestellungen unterwerfen kann. Insofern unterscheidet sie sich kaum von der alten Weltgeschichte, die an der zentrierten „Welt“ der eigenen Kultur ausgerichtet war wie im europäischen Mittelalter oder im vormodernen China. Seit der →Aufklärung hat Weltgeschichte die verschiedenen Kulturen des Erdballs gleichberechtigt behandeln und vergleichen wollen. Dahinter steckte aber eine neue Geschichtsphilosophie, der Glaube an einen gemeinsamen Fortschritt der Menschheit, an eine Universalgeschichte. Extremste Variante war der Marxismus. Diese Versuche sind freilich gescheitert, weil die nötigen Verallgemeinerungen sich entweder als empirisch nicht tragfähig erwiesen oder als einseitig eurozentrisch. Denn für diese Art Historiographie waren lange nur von Europa als solche definierte „Hochkulturen“ geschichtsfähig. Daher die Rückkehr von der Universal- zu einer Weltgeschichte, die auf positivistische Addition eines maximum of diversity hinausläuft. Demgegenüber ersetzt die aktuelle G. den geschichtsphilosophischen Focus durch den empirischen der wachsenden Welteinheit, sieht sich dabei aber aus politischen Gründen gezwungen, von historischer Gleichrangigkeit der Menschheit auszugehen und die geschichtliche Rolle Europas herunterzuspielen. Das tut der Empirie nicht immer gut, was sich bereits bei der zeitlichen Eingrenzung zeigt, etwa ob sich die ganze Weltgeschichte als gleichgewichtige Interaktionsgeschichte und damit als Proto-G. behandeln läßt. Sie mit der europäischen Expansion 1415 beginnen zu lassen, hätte einiges für sich, wäre aber eurozentrisch. Außerdem verlief die Integration der Welt in Wellen. Vor 1914 war sie stärker als danach, aber nur in der Wirtschaft und noch kein Massenphänomen wie die lokal differenzierte, aber global orientierte Weltkultur des 20./21. Jh.s. Allerdings wurde die Frage, wie sich weltweite Datenmassen wissenschaftlich sauber methodisch bewältigen lassen, noch nicht einmal gestellt, obwohl es verheißungsvolle Anläufe gibt. Ein Ausweg dürfte in der Beschränkung auf wichtige Universalthemen bestehen: wirtschaftliche und politische Integration, europäische Expansion, kulturelle Interaktion und heute vor allem weltweite Migration. L: Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt 2007. Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013. Wolfgang Reinhard, Globalgeschichte oder Weltgeschichte? In: HZ 294 (2012) 427–438. Ders., Weltgeschichte, Weltsysteme, Globalisierung. Geschichtskonzept und Konzeptgeschichte, in: Saeculum 63 (2013), 53–69. Dominic Sachsenmaier, Global Perspectives on Global History, Cambridge 2011. Wolfgang E. J. Weber, Universalgeschichte, in: Michael Maurer (Hg.), Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 2001, 14–98. WO LFG A N G R EIN H A RD
Globalisierung. Der Sache nach war in Europa seit Gomara 1552 von G. die Rede. Als Begriff tauchte sie nach dem →Zweiten Weltkrieg auf, bis sie in den 1980er Jahren zum Bestandteil des amerikanischen Manage297
g l ob u s
mentdiskurses wurde. In den 1990er Jahren, als nach dem Zusammenbruch des Ostblocks der internationale Finanzkapitalismus ohne Furcht vor sozialistischen Alternativen weltweit die Macht übernehmen konnte, wurde G. zum politischen Allgemeinplatz zur Bezeichnung dieser Entwicklung und ihrer Folgen. Denn G. als space-time compression ist ein Prozeßbegriff, so daß man zwischen politischen Gegnern dieses Prozesses und wissenschaftlichen Kritikern seiner Bezeichung unterscheiden muß. Allerdings kann das Infragestellen von G. wegen der Uneindeutigkeit dieser Vorstellung ebenso zur Verschleierung der globalen Wirklichkeit dienen wie die Behauptung eines Ablaufs von unausweichlicher Gesetzmäßigkeit zu ihrer Legitimation. Denn das Zusammenwachsen der Welt unter Führung der Wirtschaft hat heute unzweifelhaft einen Gipfelpunkt erreicht, aber nicht rein gesetzmäßig, sondern kontingent in einem ungerichteten historischen Prozess, in dem aber gezieltes Vorgehen wie Deregulierung (Londoner big bang 1986) durchaus eine Rolle spielte. Gerade die Unschärfe des Begriffs machte ihn daher geeignet zur Reduzierung komplexer Ereigniszusammenhänge. Eine Indexierung mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Indikatoren hat ergeben, daß 2008 Belgien, →Singapur, die Schweiz und Frankreich am stärksten globalisiert waren, während Länder →Afrikas, des Nahen Ostens und des Pazifik Schlußlichter blieben. Der Nationalstaat ist nämlich der G. keineswegs zum Opfer gefallen, wie man früher erwartete. Er steht zwar einerseits mehr denn je im Dienste der Wirtschaft und ist andererseits in früher unmöglicher Weise international eingebunden. Erstmals ist sogar das Völkerrecht mit strafrechtlichen Sanktionen ausgestattet. Dennoch haben sich staatliche Ordnungs-, Repressions- und Versorgungsfunktionen bislang als unentbehrlich erwiesen. Außerdem gehört der Nationalismus nach wie vor zu den stärksten Kraftquellen „lokaler“ Identität. Auch wenn wir dank komplementärer G. zum Beispiel einerseits überall Burger essen und Cola (→Kola) trinken, andererseits in allen größeren Städten chinesische, indische, mexikanische und andere Restaurants besuchen können, so gilt doch auch für die G. das philosophische Prinzip jeder Geschichte, daß das Allgemeine nur in variabler Gestalt von Besonderem vorkommt, was auf den Kunstbegriff „glokal“ gebracht wurde. Hier irren die PISA-Studien. Damit läßt sich auch der Vorwurf des Euro- oder Amerikazentrismus entschärfen, denn die Impulse zur G. gingen offensichtlich vom Westen aus. Der Versuch, eine Geschichte der G. als Teil einer →Globalgeschichte zu entwerfen, endet nämlich unweigerlich mit einer Periodisierung, die derjenigen der europäischen Geschichte und Expansion entspricht: (1) 1415–1750 haben die Europäer weltweite Kommunikation geschaffen und ausgebaut und dabei den Atlantik (→Atlantischer Ozean) zum globalen Binnenmeer ihrer alten und neuen kulturellen Welten gemacht. Seit dem 17. Jh. arteten ihre Konflikte immer wieder zu weltweiten Kriegen aus. (2) 1750–1870 emanzipierten sich die amerikanischen „neuen Europa“, während Europa selbst seinen entscheidenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsschub erlebte. Jetzt erst war es mit seinen modernen Machtstaaten und seiner Industrie298
wirtschaft auch den Imperien →Asiens überlegen. Die britische Seeherrschaft gestattete die Ausbildung eines weltweiten Freihandelsnetzwerks, das nur in →Indien auf Kolonialherrschaft beruhte und sonst mit geringer, wohl dosierter Gewaltanwendung auskam. (3) 1870– 1914 verdichteten sich Welthandel (→Weltwirtschaft) und Finanzwirtschaft zu einer ersten ökonomischen G., allerdings unter den Bedingungen neuer Mächtekonkurrenz. Die europäischen Machtstaaten umgaben sich daher zusätzlich und geradezu „auf Vorrat“ mit kolonialen Imperien. (4) 1914–1945 führte europäische Mächterivalität zweimal zu Konflikten, die Weltkriege wurden, nicht zuletzt, weil sie nur durch Eingreifen der USA und anderer außereuropäischer Mächte beendet werden konnten. Vor allem spielte sich die Hälfte des Zweiten Weltkriegs in Asien hauptsächlich zwischen Japan und den USA ab. (5) 1945–1989 führten →Dekolonisation, internationale Organisationen und Wirtschaftswachstum zwar einen G.sschub herbei, aber eine durch den latenten Konflikt der Weltmächte USA und Russland gebremste „halbierte G.“ (Osterhammel). (6) Nach 1989 entfiel dieses Hindernis, aber neue Mächtekonflike zeichnen sich bereits ab. L: Helmut K. Anheier / Mark Juergensmeier (Hg.), Encyclopedia of Global Studies, 4 Bde., Santa Barbara, CA 2012. Olaf Bach, Die Erfindung der Globalisierung. Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs, Frankfurt 2013. Helmut Bley / Hans-Joachim König, Globale Interaktion, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, 945–957. Akira Iriye (Hg.), Geschichte der Welt 1945 bis heute. Die globalisierte Welt (Geschichte der Welt 6), München 2013. Theodore Levitt, Globalization of Markets, in: Harvard Business Review 61, 3 (1983) 92–102. Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, München 2003. Roland Robertson, Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone / Scott Lash / Roland Robertson (Hg.), Global Modernities: Theory, Culture, and Society, London 1995, 25–40. WO LFG A N G R EIN H A RD
Globus (von lat.: Kugel, Ball). Das Wort wurde a) auf die Erdkugel (d. h. die als Kugel vorgestellte Erde) und b) auf eine kugelförmige Nachbildung der Erde übertragen; letzteres diente der Visualisierung geographischer Verhältnisse. Solche Nachbildungen sind seit der Antike bezeugt, wurden aber erst im Zeitalter der Entdeckungen populär. Ein prominentes Beispiel ist der „Erdapfel oder mappa mundi“ von Martin →Behaim, Nürnberg 1492, der noch ohne Kenntnis von →Amerika hergestellt wurde. Seit Anfang des 16. Jh.s wurden G.-Segmente teilweise als Supplement zu →Weltkarten (→Waldseemüller 1507) gedruckt und feilgeboten, die man ausschneiden und auf eine Holzkugel aufkleben konnte. Die G. von Rainer Gemma, Philipp Apian und Gerhard →Mercator waren Objekte des fürstlichen Repräsentationswillens. Ein begehbarer Riesen-G., der innen den Sternenhimmel und außen die Erdoberfläche aufweist, sowie mit einer Mechanik versehen war, um die Bewegung der Erde zu simulieren, entstand 1651–1657 in Gottorf unter Mitwirkung des Entdeckungsreisenden Adam
g m eli n , jo hA n n g eo rg
→Olearius und des Astronomen und Instrumentenbauers Andreas Bösch. Elly Dekker, Globes at Greenwich, Oxford 1999. Uta Lindgren, Warum wurde die Erde für eine Kugel gehalten? in: GWU 41 (1990), 562–573. Wolfgang Pülhorn u. a. (Hg.), Focus Behaim Globus, 2 Bde., Nürnberg 1992. UTA L I NDGRE N Glorreiche Revolution. Zeitgenössischer euphemistischer Ausdruck für die politische Entwicklung in England 1688–89, die angeblich ohne Blutvergießen den aus dem Hause Stuart stammenden Kg. →Jakob II. (1685–88/89) vom engl. Thron verdrängte und an dessen Stelle das Ehepaar Wilhelm von Oranien, Neffe und Schwiegersohn Jakobs II., und Maria Stuart II. als Kg. und Kg.in von England setzte. Tatsächlich vollzog sich der Thronwechsel nicht in der harmonischen Weise, wie von der Whig-Historiographie propagiert. In Irland, England und Schottland erhob sich Widerstand gegen die Aktion, die von Teilen des Parlaments gemeinsam mit dem oranischen Fürsten in Kooperation mit den ndl. Provinzen Holland und Seeland über Monate unter Aufbringung beachtlicher Finanzen und logistischer Mittel vorbereitet worden war. Langfristig führte die G. R. zu dem transatlantisch geführten King Williams’ War bzw. den Krieg der Augsburger Liga (1689–1697), der 1697 mit dem Frieden von Rijskwijk, doch endgültig erst 1713 mit dem Utrechter Frieden zum Abschluß gebracht wurde. Zum Schutz gegen eine erneute Allianz zwischen dem frz. Kg. Ludwig XIV. und Jakob II. und aus →Angst vor einer gesicherten rk. Stuartmonarchie nach der Geburt des Sohns von Jakob II. und seiner rk. Frau Maria Beatrix von Modena im Sommer 1688 kam es zum Schulterschluß zwischen den engl. und ndl. Gegnern Jakobs II. In einem propagandistischen Meisterstück riefen seine Gegner aus den Kreisen von engl. Adel, Klerus und Parlament offiziell den calvinistischen Generalstatthalter der Niederlande Wilhelm von Oranien nach England zur Hilfe. Von den maritimen Provinzen der Niederlande mit einer kostspieligen Flotte und einer starken Armee ausgestattet, kam Wilhelm von Oranien im Nov. 1688 nach England. Sein Schwiegervater verlor die Nerven und unterstützt von seinen Gegnern gelang ihm im zweiten Anlauf im Dez. 1688 die Flucht nach Frankreich an den Hof Ludwigs XIV. Sein Verschwinden half bei dem kommenden Procedere, bei dem darauf geachtet wurde, bei allen illegalen Aktionen den Schein der Legalität zu wahren. Auf eigene Faust trat das Parlament im Jan. 1689 als Convention Parliament zusammen und Oberhaus und Unterhaus schwangen sich gemeinsam zum Kg.smacher auf. Jakobs Flucht wurde als Abdankung und als Vakanz des Throns interpretiert. Mit der Anerkennung des Paars Wilhelm von Oranien und Maria Stuart als künftige Herrscher über England befriedigte man gleichermaßen Whigs wie Tories, da beide Kandidaten auf Grund ihrer Abstammung, ihrer religiösen wie politischen Überzeugungen sowohl für die Anhänger des Wahl-Kg.tums (Whigs) wie des Geblütsrecht (Tories) akzeptabel waren. Der Anerkennung Wilhelms und Marias als Kg. und Kg.in von England ging deren Einverständnis mit den Auflagen voraus, die ihnen das Parlament in
der Declaration of Rights (Jan. 1689) gesetzt hatte und in eben diesem Ablauf liegt der revolutionäre Kern der G. R. im ursprünglichen Sinn des Wortes ‚Revolutio‘ (d. h. Wende, Umkehr). Das Parlament verstand sich als Sachwalter seiner sog. ‚ancient rights‘, die Jakob II. verletzt habe, und zu denen man zurückkehren wolle; ein wesentlicher Teil der ‚ancient rights‘ bestände darin, daß das Parlament der eigentliche Kg.smacher sei und exakt auf der Basis dieses legalen Konstrukts agierte das Parlament, indem es Wilhelm und Maria zur Anerkennung des Act of Succession verpflichtete, wonach künftig nicht wie in Kontinentaleuropa die Herrscher über die religiöse Ausrichtung der Untertanen, sondern die Untertanen repräsentiert im Parlament über die religiöse Ausrichtung der Thronkandidaten und damit über die Auswahl der künftigen Monarchen entschieden. Die G. R. markiert den Beginn hin zu der Schaffung einer konstitutionellen Monarchie in England und den Aufstieg des Parlaments als politischer Machtfaktor, der auf die Formel des „kingin-parliament“ gebracht wurde. Symbolische Umsetzung fand dieser Machtzuwachs der engl. Ständeversammlung im Krönungsritual, dem sich das Paar Wilhelm und Maria unterwarf. Die Doppelkrönung der beiden durch den Bischof von London und nicht wie ansonsten üblich durch den Erzbischof von Canterbury am 11.4.1689 fand in der Westminster Abbey in London statt, vollzog sich zu den Füßen der Parlamentarier, die von der Galerie aus das Ritual betrachteten, und erstmals verpflichteten sich beide Monarchen per Eid, das engl. Volk entspr. parlamentarischer Gesetze zu regieren. Jonathan Israel (Hg.), The Anglo-Dutch Moment, Cambridge 2003. Lois Schwoerer (Hg.), The Revolution of 1688–1689, Cambridge 1992. CLA U D IA SC H N U R MA N N
Gmelin, Johann Georg, *10./12. August 1709 Tübingen, † 20. Mai 1755 Tübingen, □ unbek., ev.-luth. Der Sohn eines Apothekers und Chemikers immatrikulierte sich im Alter von 13 Jahren an der Universität seiner Heimatstadt, wo er Medizin und Naturwissenschaft studierte, 1727 das Lizentiat der Medizin erwarb und 1728 promoviert wurde. Bereits 1727 hatte er eine Reise nach St. Petersburg unternommen, wo er 1728 ein Stipendium der ksl. Akademie und drei Jahre später eine ordentliche Professur für Chemie und Naturgeschichte erhielt. Im Sommer 1733 brach er mit dem Historiker Gerhard Friedrich Müller und dem Astronomen und Geographen Louis de l’Isle de la Croyère im Auftrag der Zarin zu einer Forschungsreise nach →Sibirien auf. Diese führte über Kasan, Jekaterinburg, Kusnezk und Krasnojarsk nach Irkutsk und erreichte im Herbst 1736 Jakutsk. Ein Brand, der den größten Teil seiner Sammlungen vernichtete, und Konflikte mit den lokalen Behörden bewogen G., seinen ursprünglichen Plan aufzugeben, nach Kamtschatka weiterzureisen und sich dort der →Expedition von Vitus →Bering anzuschließen. Bis 1742 folgten Erkundungsreisen durch weite Teile Sibiriens, auf denen G. umfangreiche botanische und zoologische Sammlungen anlegte sowie geographische, meteorologische, mineralogische und ethnographische Studien betrieb. Auf ihrer insg. zehnjährigen Reise legte die Expedition ca. 33 500 299
g n A s s ingb e , e yA d em A
km zurück. Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg (1743) wertete G. seine Sammlungen aus; 1744 nahm er eine Korrespondenz mit dem schwedischen Botaniker Carl von Linné auf. 1747 ließ er sich für eine Reise nach Tübingen beurlauben, 1749 übernahm er dort die Professur für Botanik und Chemie. Im selben Jahr heiratete er die Tochter des Tübinger Theologen Frommann. G. gilt als Begründer der wissenschaftlichen Erforschung Sibiriens. Neben einem populären Reisewerk (4 Bde., Göttingen 1751/52) verfaßte er eine Flora Sibirica (4 Bde., St. Petersburg 1747–69) und zahlreiche naturwissenschaftliche Abhandlungen. Dittmar Dahlmann (Hg.), Johann Georg Gmelin, Expedition ins unbekannte Sibirien, Sigmaringen 1999. MARK HÄBE RL E I N
Gnassingbe, Eyadema, * 26. Dezember 1937 Pya, † 5. Februar 2005 im Flugzeug über Tunesien, □ Familiengruft in Pya, ev. G. wurde gegen 1937 (andere Quellen geben 1935 als Geburtsdatum an) als Sohn einer Bauerfamilie in Pya, einem kleinen Dorf bei Kara, der zweitwichtigsten Stadt in Nordtogo, geboren. Nach offiziellen Angaben (Biographien im staatlichen Fernsehen) wurde er am 26.12.1937 geboren. Seine Eltern waren Kabye, eine der mehreren →Ethnien, die den nördlichen Teil des Landes bevölkern. Über seine Schulbildung weiß man wenig. Nach einigen Quellen hat er nur die fünfte Klasse der Grundschule in Pya besucht und sich dann in der frz. Kolonialarmee engagiert, wo er 1953–1961 diente. Er habe am Krieg in →Frz.-Indochina (1953–1955) und →Algerien (1956–1961) teilgenommen und sei mit dem Grad des Adjutanten nach →Togo zurückgekehrt. Er wurde bald Mitglied einer Gruppe von Veteranen, die ihre Integration in die reguläre Armee forderten und übernahm dann die Führung einer Miliz und beteiligte sich 1963 an der Ermordung des ersten demokratisch gewählten Präs. Sylvanus Olympio. 1965 wurde er von Nicolas Grunitzky zum Chef der Armee ernannt. Zwei Jahre später erklärte er sich zum Generalstabschef, und übernahm nach politischen Unruhen am 13.1.1967 die Führung des Landes. 1969 gründete er seine Partei, die RPT (Rassemblement du Peuple Togolais). Er regierte das Land mit eiserner Hand 38 Jahre lang. Alle oppositionelle Reaktion wurde im Keim erstickt. Gegner seines Regimes wurden schlicht ermordet oder ins Gefängnis geworfen. Seine Macht baute er auf drei Säulen auf: Einschüchterung bzw. Gewalt, Lob und Sex. Nach eigenen Angaben besaß G. viele Frauen und über 100 Kinder. Seine Frauen wählte er während der von ihm organisierten offiziellen Diners, Empfänge oder Tanzveranstaltungen („Animation“ genannt, die seinem Lobpreis dienten), aus. Mit 38 Jahren Reg.szeit war er der dienstälteste afr. Staatschef. Er starb nach einem Herzanfall. Seitdem regiert einer seiner Söhne, Faure G., das Land. Faure G. war damals Abgeordneter in der Nationalversammlung und dann Minister für öffentliche Einrichtungen, Bergbau, Post und Telekommunikation. Nach dem Tod seines Vaters wurde er von der Armee zum Staatchef gewählt, obwohl laut Verfassung der Parlamentspräs. interimistisch zum Präs. ernannt werden sollte. Unter massiven Bürgerpro300
testen und internationalem Druck mußte er zurücktreten, gewann jedoch die im Apr. 2005 organisierten Wahlen (Wiederwahl 4.3.2010). Die Opposition warf ihm Wahlbetrug vor. Robert Cornevin, Le Togo des origines à nos jours, Paris 1988. Joseph-Achille Mbembe, De la Postcolonie, Paris 2000. YA O ESEB IO A B A LO Goa. →Indiens flächenmäßig kleinster Bundesstaat, gelegen an der Westküste 400 km südlich von →Bombay. War Bestandteil der port. ind. Kolonie, die in 3 Gebiete unterteilt wurde: G., Diu und Daman. Letzteres verfügte zusätzlich über 2 Enklaven, Dadra und Nagar Haveli. Das Kernland G.s wurde 1510 von den Portugiesen erobert. Der durch port. Waffengewalt kontrollierte Handel im →Ind. Ozean und der zunehmend gezielte Aufbau eines Zollsystems ließen G. rasch zum Zentrum des →Port. Kolonialreiches aufsteigen (→Estado da India), dessen Stützpunkte und Handelsplätze von →Mosambik bis →Macao reichten. Die Bevölkerungszahl G.s wuchs auf Grund der port. Forcierung von →Mischehen mit der ind. Bevölkerung bereits 1565 auf 200 000 Ew. an. G. war stets ein umkämpftes Territorium gewesen, um das zunächst, noch vor der port. Präsenz, das →Bahmani-Sultanat mit dem südind. →Vijayanagara-Reich (→Ind. Reiche) rang. Später wurde es den Portugiesen von →Marathen, Franzosen und Engländern streitig gemacht. Bis ins 20. Jh. hinein konnte sich die port. Präsenz in G. jedoch trotz aller Widerstände unbeschadet halten. Die Mobilisierungserfolge der ind. Unabhängigkeitsbewegung (→Ind. Nationalismus) beobachtete die port. Kolonialmacht mit Mißtrauen und versuchte, diesen mit repressiven Maßnahmen entgegen zu wirken. Infolge dessen entzündete sich immer heftigerer Widerstand seitens der Bevölkerung, der 1954 in der Vertreibung der kolonialen Administration von Dadra und Nagar Haveli gipfelte. Nachdem Gespräche zwischen der Rep. Indien und Portugal über eine friedliche Übergabe G.s gescheitert waren, drangen ind. Streitkräfte in der Nacht des 17.12.1961 im Rahmen der Operation Vijay nach G. vor und 36 Stunden nach der ind. Invasion kapitulierten die Portugiesen. Offiziell wurde die Kolonialherrschaft in Südasien so durch den Beitritt von G., Daman und Diu zur Ind. Union 1962 beendet. Charles J. Borges u. a., Goa and Portugal, Delhi 2000. Maria de Jesus dos Mártires Lopes, Tradition and Modernity in Eighteenth-Century Goa, Delhi 2006. SIEG FR IED O . WO LF
Godeffroy, Johan César (VI.), * 7. Juli 1813 Kiel, † 9. Februar 1885 Dockenhuden bei Hamburg, □ Familiengrab auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, Calvinist G. war der älteste Sohn einer hugenottischen Familie aus La Rochelle, die sich von Berlin kommend um 1740 in Hamburg niederließ. Nach der Ausbildung zum Kaufmann in Hamburg und London trat er 1835 in die vom Großvater 1766 gegründete, auf den Überseehandel mit Süd- und Mittelamerika spezialisierte Firma J. C. Godeffroy & Sohn ein. Nach dem Tod des Vaters Johann César G. (V.) übernahm er 1845 die Leitung des Familienunternehmens. Zu den von ihm stark ausgebauten
g ö tzen , gu s tAv A d o lf grA f v o n
Handelsaktivitäten kamen im folgenden Jahrzehnt eine Reederei sowie Beteiligungen in Schiffbau und Montanindustrie hinzu. Von →Chile aus dehnten sich ab 1854 die Geschäftsinteressen auf Ozeanien aus, teilweise in Zusammenarbeit mit der hanseatischen Firma Kost & Brander, aus der später die Société commerciale de 1’Océanie hervorging. Diese Region entwickelte sich ab Mitte der 1860er Jahre zur Hauptumsatzträgerin, was G. im Volksmund den mehrdeutigen Titel „Kg. der Südsee“ einbrachte. In den Gründerjahren zunächst erfolgreich gewesene Spekulationen mit dt. Wertpapieren führten 1878 zur Zahlungseinstellung des in seinen Grundstrukturen ertragreichen Unternehmens. Durch →Bismarck mit der →Samoa-Vorlage versuchte Finanzhilfe scheiterte im Reichstag. 1880 erreichte G. einen Vergleich mit seinen Gläubigern, der sie durch Abwicklung des Unternehmens bis 1913 voll befriedigte. G. war gemäß der Familientradition auch politisch engagiert: 1845 Präses der Hamburger Handelskammer, 1859–1864 nationalliberales Mitglied der Bürgerschaft. Auf seine Initiative ging das Museum G. in Hamburg zurück, das sich große Verdienste um die Erforschung der Südsee und ihrer Kulturen erwarb (Jan →Kubary, Amalie Dietrich). Seine völkerkundlichen Exponate kaufte 1885 das Leipziger Grassimuseum. G. war außerdem Initiator und Mitbegründer der Norddt. Bank und der Norddt. Versicherungsgesellschaft. Claus Gossler, Zwischen Hamburg und Tahiti, Hamburg 2006. Richard Hertz, Das Hamburger Seehandelshaus J. C. Godeffroy und Sohn, Hamburg 1922. Kurt Schmack, J. C. Godeffroy & Sohn, Hamburg 1938. GE RHARD HUT Z L E R
Goering, Ernst Heinrich, * 31. Oktober 1839 Emmerich am Rhein, † 7. Dezember 1913 München, □ Waldfriedhof München, ev.-luth. G. studierte 1857–61 Jura in Heidelberg und Bonn; 1861 Promotion, Einjährig-Freiwilliger, 1862 Askultator (preußischer Justizdienst), 1864 Referendarexamen, 1869 Gerichtsassessor. Er wurde 1866 als Unterleutnant der Landwehr aktiviert und nahm am Dt. Krieg teil; 1870/71 Teilnahme am Dt.-Frz. Krieg, 1873 Oberleutnant, 1882 Hauptmann. 1871 trat G. in den reichsländischen Justizdienst ein; zunächst Kreisrichter, 1873 Landgerichtsrat. 1885 wurde der juristisch und militärisch geschulte G. in das AA einberufen und zum vorläufigen Reichskommissar für das →Schutzgebiet →Dt.-Südwestafrika ernannt. Nach einem Studienaufenthalt in London, übernahm er 1885 die Geschäfte in Angra Pequena, unterstützt durch Referendar Louis Nels, Feldwebel Hugo von Goldammer und Missionar Carl Gotthilf Büttner. G. residierte nur kurz in Rehoboth, dann in Otjimbingwe. Er verantwortete den Abschluß verschiedener „Schutzverträge“; persönlich am 21.10.1885 mit →Maharero und am 3.11.1885 mit Manasse Tyiseseta. Seine unwahren Berichte über Goldfunde am Swakop weckten im Reich das bergbauliche Interesse. 1888 wurde G. zum Kommissar ernannt. Eine von ihm in Deutschland und →Kapstadt zusammengestellte Soldateska der DKGSWA erwies sich als untauglich. Am 30.10.1888 traf er sich in Okahandja mit Maharero, der den „Schutzvertrag“ mangels
konkreter Hilfeleistung gegen die Nama aufkündigte. G. flüchtete nach Walvis Bay. 1889 wurde er zum ksl. Konsul in Port-au-Prince (Haiti) ernannt; vorerst blieb ihm die Wahrnehmung der südwestafr. Geschäfte übertragen. 1890 hielt er sich in Walvis Bay auf und schloß Verträge mit den Bondelswarts und den Veldschoendragern. Erfolglos verliefen bis zuletzt seine Verhandlungen mit den Witbooi. Im Gegenteil verschärften seine Verordnung zur Reglementierung des Waffenhandels von 1890 und der Versuch ihrer Durchsetzung am „Baiweg“ durch Kurt von →François’ Söldnertruppe (→Söldner) den politischen Gegensatz. 1891 wurde Letzterer sein Nachfolger. Noch 1891 trat G. seinen Dienst in Port-au-Prince an; dort 1892 Ministerresident, zugleich für die Dominikanische Rep. 1895 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt. JA N H EN N IN G BÖ TTG ER Götzen, Gustav Adolf Graf von, * 12. Mai 1866 Schloß Scharfeneck bei Glatz (Klodzko), † 5. Dezember 1910 Berlin, □ Grabmonument Hamburg-Ohlsdorf, Lage AA 12/96–99, ev.-luth. 1884 Abitur in Frankfurt/M. Zwei Jahre Jurastudium in Paris, Berlin, Kiel, Wechsel zur militärischen Laufbahn, Sept. 1887 Second Lieutenant der Garde-Ulanen Berlin. 1891 im Militärattaché-Stab der Botschaft Rom, von dort Mai-Sept. privater Jagdausflug in das KilimandscharoGebiet (→Kilimandscharo). 1892 an der Kriegsakademie in Berlin, unterbrochen von kartographisch orientierter Kleinasien-Reise. Vorbereitung von ihm privat finanzierter Forschungsreise, zusammen mit zwei Deutschen (Arzt und Jurist) in das unerschlossene →Ruanda. Ankunft in Tanga Nov. 1893. Ankunft in Ruanda 2.5.1894 mit Karawane von 362 Mann. 30. Mai Empfang durch den ruandischen Kg. Kigeri IV. Luabugiri, für den G. und seine beiden Begleiter die ersten Europäer waren. Anschließend Besteigung einzelner Virunga-Vulkane und Erforschung des Kiwu-Sees. 29. Nov. 1894 Ankunft am westafr. Hafen Matadi an der Mündung des →Kongo. Reiseerkenntnisse veröffentlicht 1895 in „Durch Afrika von Ost nach West“ (Berlin 21899). Darin u. a. Bewunderung für Erscheinungsbild des Tutsi-Kg.s sowie ruandische Landschaften. 1896 Vollendung der Generalstabsausbildung. 1897 wunschgemäß, jedoch unter wenig attraktiven Umständen, an die Botschaft Washington versetzt. 4.1.1898 Heirat mit am. Witwe, Geburt einer Tochter. Bei Ausbruch des →Span.-Am. Kriegs Juni 1898 erfuhr G. eine Aufwertung seiner Position, auch in finanzieller Hinsicht, denn nun war er der dt. militärische Sachverständige vor Ort, dessen Berichterstattung auch bei Ks. Wilhelm II. höchste Aufmerksamkeit erhielt. 1899/1900 im Großen Generalstab in Berlin. 1901 zum Major und →Gouv. von →Dt.-Ostafrika ernannt. Er empfahl u. a., einheimische Herrschaftsstrukturen möglichst zu erhalten, daher sollten Ruanda, Urundi und Bukoba in Form von →Residenturen („→Indirect Rule“) gelenkt werden. Auf Grund seines als erfolgreich geltenden Wirkens wurde er Kandidat für die Leitung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts. Im Juli 1905 brach jedoch unerwartet im Süden der Kolonie der →MajiMaji-Aufstand aus. G. blieb bis zur Niederwerfung auf Posten. Keine Vorwürfe gegen ihn, dennoch verblaßte 301
g o i n g n At ive
sein Ruf. Apr. 1906 Rückkehr nach Deutschland. Ab März 1909 preußischer Gesandter bei den Hansestädten Hamburg, Bremen, Lübeck sowie Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Veröffentlichung seines teils selbstkritischen Werkes „Dt.-Ostafrika im Aufstand 1905/06“, Berlin 1909. G.s Ruf basiert vornehmlich auf seiner erfolgreichen und gut beschriebenen Forschungsreise von 1894. Reinhart Bindseil, Ruanda im Lebensbild des Offiziers, Afrikaforschers und ksl. Gouv.s Gustav Adolf Graf von Götzen (1866–1910), Berlin 1992. RE I NHART BI NDS E I L
Going native. Bezeichnung für die Integration von Europäern in Kulturen außereuropäischer →Ethnien. Neben den →Beachcombers und den coureurs du bois, die im 17./18. Jh. als Waldläufer und Pelzhändler (→Pelze) im heutigen →Kanada teilweise mit den Indianerstämmen zusammenlebten, mit denen sie Handel trieben, sind hier v. a. die sog. „white indians“ zu nennen. Im 17./18. Jh. kam es in Nordamerika immer wieder vor, daß Indianer brit. Siedler, meist Minderjährige, entführten und als vollwertige Mitglieder in ihre Stammesgemeinschaften aufnahmen. Die Gesamtzahl dieser Fälle wurde von Zeitgenossen auf mehrere Tausend geschätzt. Viele dieser „white indians“ gingen eheliche Verbindungen mit Indianern ein, manche erreichten sogar führende Positionen in ihrem jeweiligen Stamm. Die Attraktivität der indianischen Lebensweise, die im Vergleich mit der christl. Sittenstrenge der meisten brit. Siedler in Nordamerika freier und zwangloser war, erwies sich als so groß, daß viele „white indians“, die von brit. Militär „befreit“ wurden, nicht bereit waren, wieder unter Europäern zu leben und zu den Indianern zurückkehrten. Während die nordam. Siedler des 17./18. Jh.s die Möglichkeit des „G.n.“ aus kulturellen und religiösen Gründen perhorreszierten, war sie für die Kolonialmächte des späten 19. und frühen 20. Jh.s auf Grund der herrschenden →Rassenlehre unerwünscht. Das →„Verkaffern“ und →„Verkanakern“ von Europäern suchte man durch →Mischehenverbote zu verhindern. James Axtell, Natives and Newcomers, New York / Oxford 2001, insb. 189–213. Jan C. Campbell, „Gone Native“ in Polynesia, Westport 1998. Franz-Josef SchulteAlthoff, Rassenmischung im kolonialen System, in: HJb 105 (1985), 52–94. CHRI S TOP H KUHL Gold →Edelmetalle Gold, God, Glory. Leitspruch, mit dem der britische Imperialismus häufig verbunden u. auch gleichgesetzt wird, obwohl sein Erscheinungsbild damit nur unzureichend beschrieben ist. Es handelt sich um die Umdrehung von God, Glory, Gold, mit dem die Beweggründe der spanischen Expansion (→Spanisches Imperium) in der Neuen Welt vereinfacht zusammengefaßt wurden. Hintergrund der Vorstellung ist das behauptete Fehlen einer Kulturmission und damit einer kulturellen Vorherrschaft im britischen Kolonialismus, insbes. in →Indien u. →Afrika, im Vergleich zum spanischen u. auch zum französischen Kolonialismus. Ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein, 302
zu zivilisieren oder zu missionieren, war bei den britischen Überseeaktivitäten demnach nicht vorhanden. Zwar gab es einzelne Persönlichkeiten wie David Livingstone, aber sie handelten nicht in offiziellem Auftrag. Man hat daraus geschlossen, die Briten wären in ihrem Imperialismus primär an Handel, Profit und Gelderwerb interessiert gewesen, mit Hilfe von Handelsgesellschaften wie der British East India Company (1603–1858, →Ostindienkompanien). Deren Schutz sollte durch eine britische Kontrolle der Weltmeere gewährleistet werden. Die britische Seeherrschaft baute auf einer Kette von Marinestützpunkten, die von Gibraltar bis →Singapur und darüber hinaus reichte. Es waren demnach handelsstrategische Gründe, die Großbritannien weiter nach Übersee ausgreifen ließen. Die Kolonien garantierten Großbritannien eine globale Präsenz und sicherten ihm weltweiten Einfluß. Um die britische Kolonialexpansion so kostengünstig wie möglich zu machen, wurde →indirect rule, die Umsetzung britischer Kolonialherrschaft mittels indigener Eliten, zum Kennzeichen britischer Kolonialherrschaft. Die indigenen Herrscher (→British Raj) unterstanden einem leitenden britischen Kolonialbeamten (resident), ein System, das später auch die deutsche Kolonialverwaltung kopierte (→Residentur), übten aber selbst auf der mittleren Verwaltungsebene im Steuer-, Polizei und Verwaltung die eigentliche Kolonialherrschaft aus. Indirect rule funktionierte am besten dort, wo bereits vorkolonial eine lokale Hierarchie vorhanden war (z. B. in den muslimischen Emiraten Nordnigerias oder in →Fidschi), am wenigsten in Regionen, wo die Gesellschaften fragmentiert (wie im Süden →Nigerias) oder nicht stratifiziert (→Neuguinea) war. Langfristig trug dieses System dazu bei, daß konservative lokale Eliten in ihrer Stellung gestärkt wurden. Traditionelle Hierarchien, die jedem sozialen und politischen Wandel entgegenstanden, wurden dadurch perpetuiert. Da die wichtigste britische Kolonie, Indien, zu zwei Dritteln direkt durch indigen besetzte koloniale Lokalbeamte verwaltet wurde, wäre es falsch zu behaupten, die indirekte Herrschaft wäre das Standardmodell britischer Kolonialherrschaft gewesen. Immerhin konnten in Indien auf diese Weise etwa 353 Millionen Menschen mit nur etwa 1.250 britischen Kolonialbeamten regiert werden. Nach dem →indischen Aufstand von 1857 war Großbritannien gezwungen, das eigene Kolonialpersonal, insbesondere im Bereich des Militärs, zahlenmäßig zu erhöhen. Als Charakteristikum des britischen Kolonialbeamten, insbesondere des District Officer, wurde ein besonders ausgeprägtes Pflichtbewußtsein und Engagement für die Sache ausgemacht. Diese „imperial mandarins“, wie John Cell sie genannt hat, rekrutierten sich vor allem aus der oberen Mittelklasse und besaßen ein in ihrer Klassenstruktur bereits vorhandenes und gepflegtes Dienstbewußtsein: „A military or public school upbringing accustomed men to wielding authority in a male-centered, hierarchical system where class confidence and the rituals of rule were accepted“ (Prosser Gifford). John W. Cell, „Colonial Rule,“ in: Judith M. Brown / William Roger Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 4, Oxford u. a. 1999, 232–233. Prosser Gifford, „Indirect Rule: Touchstone or Tombstone
g o rd o n , c h Arles g eo rg e
for Colonial Policy,“ in: Prosser Gifford / Wm. Roger Louis (Hg.), Britain and Germany in Africa: Imperial Rivalry and Colonial Rule, New Haven 1967, 358. Robin W. Winks (Hg.), British Imperialism. Gold, God, Glory, New York 1963. ART HUR KNOL L Goldene Horde →Tataren Goldie, Sir (1887) George, * 20. Mai 1846 Douglas, † 20. August 1925 London, □ Brompton Cemetery / London, anglik. G. war ein brit. Kaufmann und ist v. a. als Vertreter der National African Company bekannt. G. spielte für die Gründung →Nigerias seine ähnliche Rolle wie Cecil Rhodes im südlichen Afrika. G. wurde auf der Isle of Man als Sohn eines Leutnants geboren. Er absolvierte die Royal Military Academy in Woolwich und arbeitete anschließend für die Royal Engineers, in deren Auftrag er 1877 erstmals Afrika bereiste. Bald setzte er sich für den Erwerb von Gebieten im schiffbaren mittleren und unteren Lauf des →Nigers durch das Brit. Empire ein. Er arbeitete schließlich für die 1879 gegründete United African Company, die Niederlassungen entlang des Niger-Flusses errichtete. G. ersuchte die brit. Reg. um →Schutzbriefe (→Charter) zur Absicherung ihrer Aktivitäten gegen rivalisierende frz. und dt. Interessen. G. besuchte die Berliner Konferenz 1885 als Experte und erreichte, daß der Unterlauf des Niger unter brit. Dominanz kam. In der Folgezeit wurden zahlreiche Verträge mit Chiefs der Region geschlossen. Die National African Company wurde zur Royal Niger Company, mit G. als Vice-Governor. Ihr wurde 1886 von der brit. Reg. ein Charter mit weitreichenden Rechten zugestanden. 1895 übernahm G. den Vorsitz der Company. In weiteren Auseinandersetzungen mit Deutschland und Frankreich konnte er die Gebietsansprüche der Company weiter ausbauen, inkl. von Posten in den musl. Emiraten im Norden. Zum 1.1.1900 überließ die Royal Niger Company ihre Gebiete gegen Kompensationszahlungen der brit. Reg., die die zwei →Protektorate von Northern and Southern Nigeria errichtete. Später wirkte G. in Rhodesien und bei den Operationen des →Burenkrieges in Südafrika (1899–1902). Toyin Falola u. a., A History of Nigeria, Cambridge 2008. John E. Flint, Sir George Goldie and the Making of Nigeria, London 1960. Dorothy Wellesley, Sir George Goldie, London 1934. T I L O GRÄT Z Goldküste →Ghana Goldrausch. Plötzlich einsetzender, irrationaler kollektiver Drang nach Goldbesitz (Goldfieber) verbunden mit Abenteuerlust, Karrieredenken und Risikobereitschaft, der Menschen zur massenhaften Zuwanderung in Gebiete veranlaßt, in denen Gold entdeckt wurde. Beispiele für Ziele des G.s bieten →Brasilien ab 1693, Kalifornien 1848–50, Oregon 1850, →Australien 1851, Neuseeland (→Aotearoa) 1861, die Black Hills in South Dakota 1874; der Yukon River in →Kanada und Südafrika 1886 oder der Klondike/Alaska 1896. In Kalifornien führte der G. nach dem Goldfund bei Sutter’s Mill am
Sacramento River (24. 1.1848) in wenigen Monaten zur Einwanderung von ca. 80 000 Menschen aus den →USA und Europa, die über strapaziöse Landwege oder per Schiff den erhofften Goldfunden entgegenstrebten; der schnelle Bevölkerungszuwachs ermöglichte Kalifornien, seit 1848 Territorium der USA, bereits am 3.9.1850 die Aufnahme als 31. Bundesstaat in die USA. Eine ähnliche Entwicklung verzeichnete die engl. Kolonie Australien: als dort im Febr. 1851 ein Nugget mit einem Goldgehalt von 40 kg entdeckt wurde, versuchte die Reg. diese Nachricht erfolglos zu unterdrücken; nur ein Jahr später war die Zahl der Europäer in Australien von ca. 13 000 auf 95 000 angestiegen und verursachte in der ursprünglich von Großbritannien als Strafgefangenenkolonie konzipierten Siedlung unerwartete Probleme, da freie Bürger von der Verwaltung nicht eingeplant worden waren. Oftmals schlug ein G. schnell in kollektive Ernüchterung um; während einige wenige erhebliche Gewinne im Nahrungsmittelhandel, bei der Wasserversorgung und dem Ausbau der Infrastruktur einstrichen und die Basis für große Wirtschaftsunternehmungen legten, konnte sich der G. nicht nur für die Mehrheit der Goldsucher selbst als langfristig nachteilig herausstellen, die an Entkräftung starben, ihre Funde im Glückspiel verloren, ausgeraubt wurden oder keine Bonanza fanden. Auch nicht unmittelbar vom G. erfaßte Gruppen wie die indigene Bevölkerung und das Land selbst konnten massiv in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Goldsucher intensivierten die Verdrängung der indigenen Bevölkerung; die Abbautechniken belasteten und veränderten nachhaltig die Umwelt (Entwaldung, Erosion, hohe Quecksilberbelastung, Bodenumschichtung und Schädigung der Gewässer/des Grundwassers). Charlie Chaplin, Goldrausch 1925 (Film). Malcolm Rohrbough, Days of Gold, Berkeley/CA 1997. CLA U D IA SC H N U R MA N N
Golkonda. Stadt und Festung, ca. 8 km westlich von →Haiderabad, →Indien. 1518–1589 Hauptstadt des Qutub Shahi-Sultanats. Der Name bedeutet „Hirtenhügel“; Teile der Mauern stammen eindeutig aus der Zeit vor der →Eroberung durch die Muslime (1363). Die Burg hielt bis 1687 allen Belagerungen stand, dann eroberten sie die Truppen des Mogul-Ks.s Aurangzeb (→Moguln) nach 8 Monaten Belagerung durch Bestechung der Torwächter. Neben seiner architektonischen und zeitweilig administrativen Bedeutung war G. insb. als Förder- und Verarbeitungsstätte für Diamanten weltbekannt. Bis zur Entdeckung von Vorkommen in →Brasilien 1730 war es der einzige Produktionsort für Diamanten weltweit und erlangte vor diesem Hintergrund in Europa einen legendären Ruf für seinen sagenhaften Reichtum. Diamanten aus G. galten als unübertroffene Statussymbole für die Herrschaftsinszenierung der Machthaber in der Region, insb. der Moguln und im 19. Jh. auch der brit. Krone. Muhammad A. Nayeem, The Heritage of the Qutb Shahis of Golconda and Hyderabad, Haiderabad 2006. STEPH A N PO PP / H A N S H O MMEN S
Gordon, Charles George, * 28. Januar 1833 Woolwich, † 26. Januar 1885 Khartum, □ Leichnam verschollen, Monument in der St. Paul’s Cathedral / London, anglik. 303
gorée
Der aus einer altschottischen Adelsfamilie stammende Offizier (1882 General) diente seit 1852 im Pionierkorps. Er kämpfte im →Krimkrieg (1853–1856) und nahm an der Unterdrückung der Taiping Rebellion in China (1859–1860, 1864/65) teil, was ihm den Beinamen „Chinese G.“ einbrachte. Im Dienste des →Khediven verwaltete er 1874–1876 und 1877–1880 den →Sudan. Nach Teilnahme am →Burenkrieg in Südafrika kehrte er 1884 nach →Ägypten zurück und bekämpfte die →Mahdiyya. Er sollte die ägyptischen Kräfte aus dem Sudan evakuieren und wurde 1885 von den Mahdisten ermordet. Alice Moore-Harell, Gordon and the Sudan, London 2001. Fergus Nicoll, The Sword of the Prophet, Stroud 2005. John Charles Pollock, Gordon, Oxford 1993. AL E Š S KŘI VAN JR.
Gorée. Die kleine Insel (0,182 km²) im →Atlantik liegt ca. 3 km vor der Küste des senegalesischen →Dakar und bildet einen der 19 Stadtbezirke von Dakar mit ca. 1 100 Ew. (2007). Heute ist G. ein Ort der Erinnerung an den Sklavenhandel und vielbesuchtes touristisches Ausflugsziel. 1444 landeten Portugiesen auf der damals unbewohnten Insel. 1627 kam sie in ndl. Besitz und wurde als Goede Reede (guter Ankerplatz) bekannt. Nachdem Portugiesen, Engländer und Franzosen die Insel mehrfach besetzt hatten, ging sie 1677 in den Besitz der Franzosen über, die ihren Namen in Goeree, später G. verballhornten. Die Insel wurde auf Grund ihrer Lage und guten Schiffbarkeit zu einer wichtigen Versorgungsstation für den atlantischen Handel u. a. mit Sklaven, Amber, Bienenwachs und Fellen. Bis 1817 besetzten mehrfach Engländer die Insel. Unter den Ew. G.s entwickelte sich eine eigene Kultur der Mischlinge (métis), die mit Hilfe ihrer Sprach- und Kulturkenntnisse als Mittler zwischen Europäern und Afrikanern fungierten. Bekannt sind v. a. die Signares, Mischlingsfrauen (métisses), die sich mit Europäern für die Zeit ihres Aufenthaltes (à la mode du pays) vermählten und ihnen Zugang zu den Händlern des Festlandes vermittelten. Mit Abschaffung der →Sklaverei (1848) und der zunehmenden Europäisierung des Handels schwand ihr Einfluß sowie die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Insel. Ab 1857 zogen ihre Bewohner zunehmend auf die naheliegende Halbinsel Kap Vert. 1887 wurde das auf Kap Vert entstehende Dakar administrativ von G. getrennt, 1929 wurde G. ein Teil Dakars. 1978 erklärte die UNESCO G. zum Weltkulturerbe. Sehenswürdigkeiten sind bspw. das Maison des Esclaves und die ehem. Ecole William-Ponty. Abdoulaye Camara / Joseph Roger de Benois, Histoire de Gorée, Paris 2003. GE ORG MAT E RNA Gotō, Shimpei, * 4. Juni 1857 Iwate, † 13. April 1929 Kyōto, □ Aoyama-Friedhof / Tokio G. wurde in der Präfektur Iwate in Nordjapan geboren. Er war der erste Sohn von Sanetaka Gotō, einem verarmten Samurai des Mizusawa-Clan und Rie Gotō, einer Arzttochter. Er besucht die Fukushima-Yōgakkō (Schule für Auslandstudien) und lernte dort Englisch, Mathematik und klassisches Chinesisch. Nach seinem Medizinabschluß an der Sugakawa Medizinschule in der Präf. Fukushima wurde er 1881 Direktor im Aichi304
Präfektur-Krankenhaus in Nagoya und Leiter der AichiMedizinschule. 1883 trat G. in das Amt für Hygiene im Innenministerium ein. Im selben Jahr heiratete er Yasukazu Yasuba. Im Alter von 33 Jahren begann er ab 1890 auf eigene Kosten ein Auslandsstudium in Deutschland, wo er unter Robert →Koch in Berlin Bakteriologie studierte. Nach weiteren Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München unter Max von Pettenkofer erhielt er 1891 den Titel Doktor der Medizin. Nach seinem Studium in Deutschland wurde er 1892 zum Direktor im Amt für Hygiene befördert. Nachdem er sich im Jap.Chin. Krieg 1894/95 im Quarantänedienst verdient gemacht hatte, wurde er 1898 vom Gentarō Kodama, dem Gen.-gouv. von Taiwan, zum Büroleiter der Zivil-Reg. und später zum Zivil-Gouv. von Taiwan ernannt. G. erzielte bei der Verwaltung in Taiwan große Leistungen, bspw. die Trennung zwischen Zivil- und Militärverwaltung. Nach dem Russ.-Jap. Krieg 1904/05 wurde er erster Präs. der südmandschurischen Eisenbahngesellschaft. Unter dem zweiten und dritten Katsura-Kabinett wurde er Minister des Ministeriums für Verkehr und Postwesen und Generaldirektor im Eisenbahn-Ministerium. Unter dem Terauchi-Kabinett diente G. 1916 als Innen- und Außenminister. Er befürwortete aktiv die Intervention nach →Sibirien. Nach der Auflösung des Terauchi-Kabinetts 1918 reiste G. zunächst privat in die →USA. 1920 wurde er zum Bürgermeister von Tokio gewählt. G. bemühte sich um einen Ausgleich der diplomatischen Beziehung zwischen Rußland und Japan. Er wurde unter dem zweiten Kabinett Yamamoto Innenminister und Präs. des Ministeriums für Wiederaufbau. Er bemühte sich nach dem Großen Erdbeben vom 1.9.1923 um einen umfassenden Wiederaufbauplan für Tokio und um die Durchführung allg. Wahlen. In seinen späten Lebensjahren engagierte er sich als Präs. des Radiosenders von Tokio und auch als Präs. des Bunds der jap. Pfadfinder. Sein bedeutendstes Werk als Autor ist „Nihon shokumin seisaku ippan“ (Japans Kolonialpolitik), in dem er argumentierte, daß Kolonialpolitik nicht lediglich auf militärischen Zielen und territorialer Expansion basieren sollte, sondern einen Plan für ökonomische Entwicklung und kulturelle Assimilation der Kolonien zum Mutterland enthalten müsse. G. starb 1929 im Kyoto-Präfektur-Krankhaus an Gehirnblutungen. Yukiko Hayase, The Career of Gotō Shinpei, Michigan 1974. Ryōichi Hoshi, Gotō Shimpei den, Tokio 2005. Tetsuo Ouga (Hg.), Genre Japonica, Bd. 5, Tokio 1973. Y U K O MA EZAWA
Gouverneure in den deutschen Kolonien. Der G. leitete kraft entspr. Befugnis, die ihm vom Ks. bzw. vom Reichskanzler übertragen war, die zivile Verwaltung einer Kolonie. Er war befugt, Verwaltungs- und polizeiliche Verordnungen zu erlassen und bei deren Nichtbefolgung Geld- oder Gefängnisstrafen (bis zu drei Monaten) zu verhängen. Ein aus in der Kolonie lebenden Deutschen bestehender Gouvernementsrat unterstützte den G. Das Gremium hatte nur beratende Funktion. Lediglich in →Dt.-Südwestafrika, wo es die Bezeichnung Landesrat führte, bedurften die Verordnungen des G.s, sofern sie bestimmte Rechtsgebiete betrafen (z. B. Ar-
g o v ern m en t o f in d iA A ct
beitsverhältnisse der einheimischen Bevölkerung, Jagdrecht, →Jagd), seiner Zustimmung. Der G. war Disziplinarvorgesetzter aller in seiner Kolonie tätigen dt. Beamten und Oberbefehlshaber der →Schutztruppen. Ihm oblag außerdem die Aufsicht über die Gerichte, die auf der Grundlage des Allg. Preußischen Landrechts bzw. des BGB (ab 1901) und des Strafgesetzbuchs für das Dt. Reich →Recht sprachen. Zum Tode Verurteilten konnte der G. Vollstreckungsaufschub bis zu sechs Monaten gewähren. Zudem bestimmte er die Vollstreckungsart (Erschießen, Erhängen oder Enthaupten). Dienstrechtlich unterstanden alle G. dem →Reichskolonialamt, nur der G. von →Kiautschou unterstand dem Reichsmarineamt. Daher wurde dieser Dienstposten grds. mit Marineoffizieren besetzt. Die G. von →Dt.-Ostafrika, Dt.-Südwestafrika, →Kamerun und Kiautschou wurden ab Ernennung zum G. in Deutschland als Räte I. Klasse geführt und durften in ihrer Kolonie für die Dauer ihrer Amtszeit den ranghöheren Titel eines Wirklichen Geheimen Rates führen. Die G. der übrigen Kolonien waren ab ihrer Ernennung Räte II. Klasse und durften in ihrer Kolonie keinen höheren Titel führen. Die G. von Dt.Ostafrika, Dt.-Südwestafrika und Kamerun bezogen je 50 000 Mark Jahresgehalt, der G. von Kiautschou 40 000 Mark, die G. der übrigen Kolonien je 30 000 Mark. Die Gehälter beinhalteten umfangreiche Kolonial- und Repräsentationszulagen. Alle G. waren in ihrer Kolonie mit „Exzellenz“ anzusprechen. Dienstsitz des G.s war →Daressalam (Dt.-Ostafrika), Windhuk (Dt.-Südwestafrika), →Lomé (→Togo), →Buea (Kamerun), Rabaul (Dt.-Neuguinea), Apia (→Samoa) und Tsingtau (Kiautschou). In Dt.-Südwestafrika und Togo führte der G. bis 1898, in Dt.-Neuguinea bis 1899 die Amtsbezeichnung Landeshauptmann. B. v. König, Diensteinkommen, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 458–462. Ders., Gouv., in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 746f. Ders., Zivilverwaltung, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 3, Leipzig 1920, 755f. CHRI S TOP H KUHL Gouverneure, nordamerikanische. Von den frz., engl. oder schwedischen, im Falle der ndl. Kolonie von der East India Company (→Ostindienkompanien) ernannte Repräsentanten, die Kolonien für ihre Herrscher und Obrigkeiten verwalteten. Frz. G., zumeist Adelige, waren eng an die Instruktionen des Kg.s oder seines Marineministers, dem die Kolonien bis zur Frz. Revolution unterstanden, gebunden; überdies waren sie auf die Kooperation der Repräsentanten der rk. Kirche und im 18. Jh. auf die Conseils Souveraines angewiesen; im militärischen Fragen genossen sie großen Handlungsspielraum. Dies gilt auch für die G. von Nieuw Nederland, weniger für die G. der engl. Kolonien. Formal waren die G. an die Rahmenbedingungen ihrer Ernennungsurkunden und an die Instruktionen der Krone bzw. der →Eigentümer der Kolonien gebunden. In den →Charterkolonien bedurften die G. für militärische Aktionen der Zustimmung der Abgeordnetenhäuser. In der Gesetzgebung hatten G. wie die Krone in England die Zustimmungskompetenz; zusätzlich behielt sich die Krone ein Vetorecht vor. Im
politischen Alltag entschieden oft die realen Machtverhältnisse, wie weit der G. seine Kompetenzen ausschöpfen konnte. Q: Gertrude S. Kimball (Hg.), Correspondence of William Pitt When Secretary of State With Colonial Governors and Military and Naval Commissioners in America, 2 Bde., New York 1906. L: Evarts B. Greene, The Provincial Governor in the English Colonies of North America, New York 1898. Jaap Jacobs, New Netherland, Leiden 2005. Gustave Lanctot, L’administration de la NouvelleFrance. L’administration générale, Paris 1929. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Government of India Act von 1858, 1919 und 1935. Parlamentsgesetze zur Festlegung der brit. Kolonialpolitik und deren Rahmenbedingungen in →Indien. Legten die Grundsteine einer ind. Selbstverwaltung in verschiedenen Stufen. In dieser Hinsicht u. a. Bestandteil einer Rhetorik der Zivilisierungsmission des →British Raj in Indien. Der G.o.I.A. von 1858 wurde verabschiedet im Gefolge des →Ind. Aufstands von 1857 und beendete die Herrschaft der East India Company (→Ostindienkompanien), um Indien direkt der Reg.sautorität der brit. Krone zu unterstellen. Daneben wurde eine Neutralitätspolitik der Kolonialverwaltung gegenüber den „kulturellen Eigenheiten“ der ind. Gesellschaft festgeschrieben, deren vormalige Mißachtung man für einen wichtigen Grund für den Aufstand hielt. Der G.o.I.A. von 1919, allg. als Montagu-Chelmsford-Reformen bezeichnet, ergänzte die Morley-Minto-Reformen von 1909. Diese hatten gesetzgebende Versammlungen eingeführt mit gewählten Repräsentanten und auf der Basis von eingeschränktem Wahlrecht und getrennten Wählerschaften für Hindus und Muslime. 1919 nun wurde ein Staatsrat (Council of State) und eine landesweite gesetzgebende Versammlung (Imperial Legislative Assembly) eingesetzt und das Wahlrecht erweitert. Ein wesentliches Element des Gesetzes war die Einführung einer doppelten Herrschaftsführung, in der die Reg.sbefugnisse zwischen ernannten brit. Kolonialbeamten und gewählten ind. Repräsentanten aufgeteilt wurden. Außerdem wurde eine bestimmte Zahl von Parlamentssitzen für Muslime und Nicht-Brahmanen reserviert. Der G.o.I.A. von 1935 war die letzte konstitutionelle Reform unter brit. Herrschaft vor der Unabhängigkeit und wurde zu einer der zentralen Säulen der 1950 verabschiedeten Verfassung des unabhängigen ind. Staates. Es beendete u. a. die doppelte Reg.sführung zugunsten einer größeren Autonomie der Provinzen und führte direkte Wahlen auf der Basis von erweiterten Wählerschaften ein. (Das Wahlrecht für Frauen wurde auch hier nicht gewährt.) Einige Wissenschaftler argumentieren, daß die G.o.I.A.s von 1919 und 1935 zentral waren für eine Erfahrung parlamentarischer Praxis ind. Politiker vor der Unabhängigkeit des Landes. Andere hingegen haben den restriktiven und bruchstückhaften Charakter der Verfassungsreformen hervorgehoben sowie deren Anliegen, die brit. Herrschaft in Indien zu verlängern. Anup C. Kapur, Constitutional History of India, Delhi 1976. D. A. Low, Britain and Indian Nationalism, Cam305
g o v e r n o g e r Al
bridge 1997. Dietmar Rothermund, Die politische Willensbildung in Indien, Wiesbaden 1965. CL E ME NS S P I E S S
Governo Geral. Oberste Territorialbehörde der port. Kolonialverwaltung in →Brasilien. Da die port. Herrschaft in Brasilien weder durch Faktoreien noch durch die Errichtung von Kapitanien als donatárias der Krone ausreichend gesichert werden konnte, wurde auf Beschluß von João III. 1549 ein GG. (dt. =Generalgouvernement) errichtet. Sitz und Hauptstadt des GG. wurde die dafür gegründete Hauptstadt Salvador da →Bahia. Dem Gen.gouv., der durchschnittlich ca. vier Jahre im Amt blieb, unterstand der gesamte Verwaltungsapparat in Brasilien. Außerdem hatte er die militärische Befehlsgewalt in der Kolonie inne. Dieser Zentralreg. für Brasilien waren Ämter beigeordnet, denen wichtige Aufgaben staatlicher Herrschaft zufielen: die Rechtsprechung unterstand einem Oberrichter (ouvidor-geral oder ouvidor-mor), das Steuer- und Finanzwesen einem sog. provedor-mor, militärische Aufgaben, v. a. die Sicherung der weitläufigen Küste, oblagen dem capitão-mor (capitão da costa). Ziel der Krone war es auch, die mit dem Besitz einer donatária verbundenen Rechte abzulösen. Tatsächlich wurden diese Rechte durch das Generalgouvernement ebenso überlagert wie aufgehoben. Der staatlichen Administration folgte bald die kirchliche: 1551 wurde das erste Bistum Brasiliens gegründet, auch hier war der Sitz Salvador. Noch zu Zeiten der Union beider iberischer Kronen (1580–1640) nannte sich unter Felipe IV. der Gen.-gouv. auch Vize-Kg. Endgültig setzte sich dieser Titel aber erst seit Beginn des 18. Jh.s durch. Zwischen 1621 und 1652 bzw. 1654 und 1774 wurde aus dem Estado do Brasil der Estado do →Maranhão mit Sitz in São Luís do Maranhão, später in Belém, ausgegliedert, um die Gebiete des Nordens und des →Amazonas besser fördern und kontrollieren zu können. 1763 wurde die Hauptstadt des Estado do Brasil von São Salvador da Bahia nach →Rio de Janeiro verlegt. Die Amtszeit des letzten Vize-Kg.s und mit ihm das GG. endeten 1808 mit der Verlegung des port. Hofes von Lissabon nach Rio de Janeiro. Dauril Alden, Royal Government in Colonial Brazil, Berkeley 1968. Laura de Mello e Souza, O sol e a sombra, São Paulo 2006. CHRI S T I AN HAUS S E R Graziani, Rodolfo, * 11. August 1887 Filettino, † 11. Januar 1955 Rom, □ unbek., rk. 1905 Kadett der it. Armee, 1908 Kolonialdienst in →Eritrea. 1912 Teilnahme am It.-Türk. Krieg in Nordafrika, 1916 an der Isonzofront, 1918 jüngster Oberst der Armee. Ab 1921 Leitung des Kampfes gegen aufständische →Senussi in →Libyen, in dem zahlreiche Kriegsverbrechen begangen wurden. Nach erfolgreichem Abschluß 1929 Ernennung zum Brigadegeneral. 1930 Vize-Gouv. der Cyrenaika. 1932 Kommandeur eines Armeekorps in Udine. 1934 kurzfristig Kolonialminister. 1935 Gouv. von It.-Somaliland. Im Krieg gegen →Äthiopien Befehlshaber der Südfront, an der mit seiner Billigung Giftgas eingesetzt wurde. Als Vize-Kg. von It.-Ostafrika Aug. 1936 bis Nov. 1937 ließ er Widerstand der einheimischen Bevölkerung brutal brechen. 1937 unter No306
bilitierung (Markgraf von Neghelli) Beförderung zum Marschall. Nov. 1939 Generalstabschef des Heeres. Ab Juni 1940 Gouv. von Libyen und Militärbefehlshaber in Nordafrika. Nach den ersten schweren Niederlagen abberufen. Im Sept. 1943 Entscheidung für Repubblica Sociale Italiana. Bis Aug. 1944 deren Kriegsminister. Wegen Erfolglosigkeit bei Aufstellung mussolinitreuer Truppen auf dt. Druck hin auf den Posten des Befehlshabers in Ligurien abgeschoben. Ende Apr. 1945 von Partisanen gefangengenommen, unterzeichnete er Kapitulation der faschistischen Streitkräfte. 1948 wegen Hochverrats angeklagt, zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch kurze Zeit später amnestiert. G ERH A R D H U TZLER Great White Fleet war die Bezeichnung für die Schlachtflotte, die der amerikan. Präsident Theodore →Roosevelt Ende 1907 auf eine Reise um die Welt sandte, um amerikan. Macht und Größe global zu demonstrieren. Diese Demonstration amerik. Stärke war Ausfluß der neuen imperialistischen Politik der USA und folgte der Entscheidung Roosevelts, während der 1. →Marokkokrise acht Schlachtschiffe der US-Marine in das Mittelmeer zu beordern. Die G.W.F. bestand aus 16 Schlacht- u. 5 Begleitschiffen mit einer Besatzung von insg. etwa 14.000 Mann, die am 16. Dezember 1907 Virginia verließen und am 22. Februar 1909 dort wieder eintrafen. Sie standen zunächst unter dem Kommando von Konteradmiral Robley Evans, dem Kommandeur der Nordatlantikflotte (1846–1912), im Pazifik unter Konteradmiral Charles Sperry (1847–1911). Der Name „white“ soll auf die Farbe der Schiffe – weiß – zurückgehen. Faktisch besaß die Verbindung „groß, weiß“ aber rassistische (→Rassismus) Konnotationen, da der Besuch der amerik. Flotte v. a. im angelsächsisch dominierten Pazifik als Zeichen „weißer“ Stärke u. Vorherrschaft gedeutet wurde. Insbesondere in →Australien (G.W.F. v. 20.8.– 18.9.1908) u. Neuseeland (→Aotearoa 9.–15.8.1908,) fürchtete die angelsächsische Einwandererbevölkerung nach der Niederlage Rußlands im Russ.-Japan. Krieg 1905 und dem brit.-japan. Abkommen (1902, 1905) ein aggressives Ausgreifen Japans. Befürchtungen vor einer „yellow peril“ (→Gelbe Gefahr) waren weit verbreitet; die spezifische Form des australischen Rassismus (→White Australia Policy) wandte sich insb. gegen Asiaten. Robert A. Hart, The Great White Fleet, Boston 1965. Russell Parkin / David Lee, Great White Fleet to Coral Sea. Naval Strategy and the Development of AustralianUnited States Relations, Manuka, ACT 2008. Kenneth Wimmel, Theodore Roosevelt and the Great White Fleet, Washington 1998. H ERMA N N H IERY Grenada →Antillen, →US-Interventionismus Grenze →Frontier Grenzfestsetzung, Grenzexpeditionen. Die Aufteilung überseeischer Gebiete unter den europäischen Kolonialmächten stieß v. a. in Afrika auf die Schwierigkeit, daß den Europäern Ende des 19. Jh.s über weite Teile des Kontinents geographisch praktisch nichts bekannt war. Daher war es üblich, die Interessensphären zunächst pro-
g ren zk o n f li k te i n lAtei n A m eri k A
visorisch entlang der Längen- und →Breitengrade abzugrenzen, um zu einem späteren Zeitpunkt eine Grenzexpedition, d. h. eine mit Fachleuten der beiden jeweils betroffenen europäischen Mächte besetzte technische Kommission zu entsenden, die einen Gebietsstreifen von 5 bis 10 km Breite links und rechts des provisorischen Grenzverlaufs topographisch exakt erfaßte. Die dabei entstandenen Karten dienten anschließend diplomatischen Kommissionen der betroffenen Mächte zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Abänderung des Grenzverlaufs unter Berücksichtigung der eruierten geographischen, hydrographischen und ethnographischen Gegebenheiten. Sofern die Reg.en diese Vorschläge durch Notenaustausch ratifizierten, wurde schließlich eine sog. Vermarkungskommission entsandt, die den neuen Grenzverlauf durch Errichtung von Hoheitszeichen kenntlich machte. Die Arbeit der zahlreichen zwischen 1890 und 1913 tätigen Grenzexpeditionen trug erheblich zur Vervollständigung der geographischen Kenntnisse der Europäer über Afrika bei. A. v. Danckelmann, Grenzfestsetzungen, Grenzregulierungen und Grenzexpeditionen, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 1, Leipzig 1920, 752–756 (mit Einzelnachweisen sämtlicher Grenzexpeditionen unter dt. Beteiligung). CHRI S TOP H KUHL Grenzkonflikte in Afrika. Vor der kolonialen Landnahme Ende des 19. Jh.s gab es in →Afrika keine Flächenstaaten, nur Machtzentren mit nach außen nachlassender Geltung. Diesem Muster folgten auch die europäischen Handelsniederlassungen an der Küste seit Ende des 15. Jh.s. Die auf der →Kongo-Konferenz 1884/85 gezogenen Grenzen zwischen den Interessensphären der imperialistischen Mächte waren in jeder Hinsicht ein Novum und trotzdem überdauerten sie in wesentlichen Zügen den Ersten Weltkrieg, d. h. die Ausschaltung der dt. Konkurrenz (mit Grenzkorrekturen in →Togo, →Kamerun und Ostafrika), die vielerorts gewaltsamen Unabhängigkeitsbestrebungen nach dem →Zweiten Weltkrieg und die zahllosen internen wie externen Kriege der unabhängig gewordenen Staaten sowohl vor als auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Es gehörte zum Konsens der 1963 gegründeten →OAU (Organisation afr. Einheit) und der 2001 ihr folgenden AU (Afr. Union), daß koloniale Grenzen unantastbar seien. Infolgedessen traten G. hinter den Sukzessions- und Sezessionskonflikten, den zahlreichen Kämpfen um Macht und Ressourcen zurück. Dennoch spielten die nationalen Grenzen in fast allen notorischen Krisengebieten des Kontinents wie dem Horn von Afrika, dem Nil- und Nigersudan oder dem südlichen Afrika eine bedeutsame Rolle, ganz besonders betrifft das die (teils nur vorübergehend) „zerfallenden Staaten“ wie →Liberia, →Sierra Leone, →Somalia oder die Demokratische Rep. →Kongo / →Zaire, wo „Kriegsherren“ (warlords) wieder zum alten Muster der Machtzentren ohne definierte Außengrenzen zurückkehrten. Schließlich stellten die vielen Sezessionskriege die Kolonialgrenzen doch massiv in Frage (Kongo / Katanga 1960–1963, →Nigeria / →Biafra 1967–1970, →Sudan/ Südsudan 1955–1972, 1983–2005). Letzterer Dauerkonflikt mündete, nach der erfolgreichen Abstimmung über
die Sezession 2011, erneut in einen Grenzkrieg um die ölreiche Umgebung von Abyei und fachte seit 2003 in Darfur vergleichbare Autonomiebestrebungen an. Selbst die bislang einzig erfolgreiche Sezession, die →Eritrea 1962 bis 1991 gegen →Äthiopien erkämpfte, verhinderte nicht bewaffnete G., so 1998–2000 mit →Addis Abeba und 2008 mit dem benachbarten →Dschibuti um Ras Doumeira. International bekannt wurde der G., den die marokkanische Besetzung der →Westsahara 1975 auslöste, oder die zwei Kriege, die Äthiopien und Somaliland um die Provinz Ogaden 1963/64 und 1977/78 führten. Dagegen erreichten kleinere G., wie der zwischen →Mali und →Burkina Faso 1985 um einen 160 km langen und 30 km breiten Wüstenstreifen mit ganzen vier Dörfern kaum öffentliche Aufmerksamkeit. Diese aber ist immer dann gegeben, wenn die Grenzen der frz. Einflußzone und Frankophonie bedroht sind, wie z. B. in →Ruanda oder im →Tschad, dessen Bürgerkriege 1966–1998 von Frankreich wie von →Libyen unterstützt wurden. Andere externe Interventionen in afr. Kriegen erlaubten sich die UdSSR (z. B. in Äthiopien), →Kuba (z. B. in →Angola), Israel (z. B. im Sudan) oder in jüngster Zeit (2011) →USA und NATO in Libyen. Doch auch afr. Staaten scheuten sich nicht, Konflikte in Nachbarländern für militärische Eingriffe zu nutzen; im Kongo standen in der 2. Hälfte der 1990er Jahre Truppen aus Ruanda, →Uganda, →Simbabwe, Angola, →Namibia und Tschad. Im Falle eines Totalzerfalls der Staatsautorität können in Afrika ältere Grenzen wieder sichtbar werden wie am Horn die zwischen dem ehem. brit. und it. Somaliland, und historische Namen können neue Bedeutung bekommen wie einst zur Unabhängigkeit Mali, →Ghana oder →Benin und 40 Jahre später wiederum am Osthorn das sagenhafte Punt. Die Entwicklung der G. läßt statt einer allmählichen Beilegung eher eine Zunahme befürchten, da unter dem „Neopatrimonialismus“ der bisherigen Militär- und Bürokratenherrschaft viel zu wenig für eine innere Konsolidierung getan wird, vielmehr die Abhängigkeit der Reg.en von Exporterlösen und westlichen Gläubigern sowie von Militär- und Entwicklungshilfe (→Entwicklung) zuzunehmen und die Sicherheit vielerorts nach südafr. Vorbild in private Hände überzugehen scheint. Rainer Tetzlaff / Cord Jacobeit, Das nachkoloniale Afrika, Wiesbaden 2005. BER N H A R D STREC K Grenzkonflikte in Lateinamerika. Konflikte wegen des strittigen Verlaufs von Grenzen haben L. seit der Unabhängigkeit geprägt. In diesen Konfrontationen versuchte jeweils zumindest einer der involvierten Akteure, den territorialen Status quo zulasten des Nachbarstaates zu verändern. Dieses Ziel konnte durch unilaterale Maßnahmen (v. a. mittels militärischer Intervention), bilaterale Verhandlungen oder das Hinzuziehen einer Drittpartei erreicht werden. Zur Rechtfertigung ihres Handelns rekurrierten die Konfliktparteien dabei üblicherweise auf die umstrittene territoriale Verwaltungsordnung während der Kolonialzeit (uti possidetis). Die lateinam. Auslegung nahm damit eine Umdeutung des aus dem römischen →Recht stammenden Grundsatzes vor. Ursprünglich bedeutete uti possidetis („so wie ihr besitzt“) die rechtliche Anerkennung des faktischen Be307
g r e n z konf l ikt e i n d e r PAzi f i s c h e n i n s elwelt
sitzstandes zum Zeitpunkt der Streitbeendung. Neben dem Streit über die Auslegung des Grundsatzes des uti possidetis standen hinter den militärischen Eskalationen strategische Ziele (Zugang zum Meer, zu Flüssen etc.), ökonomische Interessen (Kampf um Ressourcen), bevölkerungspolitische Bestrebungen (Besiedlung mit „nationaler“ Bevölkerung) oder soziale Gründe (Ablenkung von inneren Spannungen durch die Betonung des äußeren Bedrohungspotentials). G.e waren der weitaus häufigste Konflikttyp in L., in dem es zu zwischenstaatlichen Kriegen kam. Die bekanntesten Kriege zwischen lateinam. Nachbarn um territoriale Grenzen fanden zwischen →Peru und →Bolivien auf der einen und →Chile auf der anderen Seite (→Salpeter- oder Pazifikkrieg 1879–1884), →Paraguay und Bolivien (→Chacokrieg 1932–1935), Peru und →Kolumbien (→Leticiakrieg 1932/33) sowie Peru und →Ecuador (1941, 1981, 1995) statt. Zu gewaltsam ausgetragenen Gebietsstreitigkeiten kam es aber auch im →Mexikanisch-Am. Krieg (1846–1848) sowie im Malvinas/Falkland-Krieg (→Falklandinseln) zwischen →Argentinien und Großbritannien (1982). Die Frage der politischen Grenzen und der Grenzverläufe war konstitutiv für die lateinam. Nationen, und ihre Aushandlung und Neubestimmung enthielt ein beträchtliches Mobilisierungspotential. Die große Anzahl von Konflikten dieser Art machte daher ebenso wie beim →US-Interventionismus regionsspezifische Sicherheitskonzeptionen erforderlich. Hierzu gelangten folgende Ansätze zur Anwendung: unilaterale Mechanismen auf Grund der regionalen Vorherrschaft von Mittelmächten, die das Machtgleichgewicht garantierten; bilaterale Konzeptionen, d. h. zwischenstaatlich vereinbarte Regeln zur Konfliktprävention, -austragung und -beilegung; Formen, in denen „Dritte“ eingriffen, wobei in diesem Fall v. a. die aufstrebende Hegemonialmacht →USA sowie kontinentale oder subkontinentale und globale Sicherheitsmechanismen in Frage kamen. Die Reg.en der USA versuchten, andere Sicherheitsinstrumente dadurch abzuschwächen, daß sie beanspruchten, als letzte Instanz der Konfliktprävention, -vermittlung und -beilegung aufzutreten. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es nur noch wenige G.e, in die sich die USA nicht einmischten. Das wiederum führte auf lateinam. Seite zu verstärkten Anstrengungen auf der Suche nach objektivierbaren Regeln für die Prävention, Eindämmung und Beendigung von Gebietsstreitigkeiten. Bei der Beendigung des Chacokrieges und des Leticiakrieges spielte der →Völkerbund eine wichtige Rolle, bei der Beendigung des Krieges zwischen Ecuador und Peru die Organisation am. Staaten, die sich auch um die Beilegung der eskalierenden Streitigkeiten mit Kriegsdrohungen zwischen dem von Hugo Chávez regierten →Venezuela und dem von Álvaro Uribe regierten Kolumbien bemüht. Paul R. Hensel, Contentious Issues and World Politics, in: ISQ 45 (2001), Heft 1, 81–109. David R. Mares, Violent Peace, New York 2001. T HOMAS F I S CHE R Grenzkonflikte in der pazifischen Inselwelt sind selten, da die meisten Inselstaaten des Pazifik durch klare Grenzen voneinander geschieden sind, die natürlichen und nicht kolonialen Ursprunges sind. Eine willkürlich 308
koloniale Grenzziehung findet sich in →Australien, Marianen, →Neuguinea, →Samoa u. den →Salomonen. Während die künstlich-reißbrettartigen Grenzen der austral. Kolonien mit der Gründung des Commonwealth of Australia nur noch die Sphäre der einzelnen austral. Bundesstaaten betreffen und kein größeres Problem mehr darzustellen scheinen, findet sich in den übrigen Fällen durchaus Potential für G. Melanesien. Die willkürliche Teilung Neuguineas auf Grund von →Längen- und Breitengraden durch die Kolonialmächte Ende des 19. Jh.s ist durch die Gründung →Papua-Neuguineas im Osten aufgehoben worden. Allerdings bleibt die Insel weiterhin in der Hälfte geteilt, wobei nur der südliche Teil der Grenze zwischen →Indonesien u. PapuaNeuguinea eine natürliche Grenzziehung entlang des Flusses Fly berücksichtigt. Aber selbst diese wird von der indigenen Bevölkerung nicht beachtet; Angehörige derselben indigenen Ethnien leben traditionell sowohl diesseits, wie jenseits der Grenze. Papua-Neuguinea erhebt offiziell keine Ansprüche auf den gegenwärtig von Indonesien verwalteten westl. Teil der Insel. Indonesien wird aber nicht nur von der melanesischen Urbevölkerung im Westen, die sich seit Jahrzehnten gegen die indones. Fremdbestimmung zur Wehr setzt, als Besatzungsmacht empfunden, sondern auch von der sich als brata na sista (Brüder u. Schwestern) verstehenden Bev. im Osten. Ob ein evtl. Abzug Indonesiens aus Westneuguinea zu der Gründung eines neuen Staates führen würde oder zur Bildung eines einzigen, die ganze Insel Neuguinea umfassenden Gesamtstaates, bleibt völlig offen. Dagegen strebt ein erheblicher Teil der melanesischen Bev. der durch koloniale Vereinbarungen zwischen Großbritannien u. Deutschland bei Papua-Neuguinea verbliebenen Nordsalomonen (Bougainville, Buka) die politische Unabhängigkeit, z. T. auch die Vereinigung mit den bereits politisch unabhängigen Zentralsalomonen an. Allerdings könnten dann neue G. auftreten, denn die Bev. der polynesische →Exklaven in den Nordsalomonen (z. B. Nukumanu) hat schon angekündigt, eine Separation von Papua-Neuguinea nicht hinnehmen zu wollen. Erschwert wird die Lage in den Salomonen dadurch, daß auch in den Zentralsalomonen, v. a. auf der Insel Choiseul, regionale Abspaltungsbewegungen existieren. Ein drittes Grenzproblem Papua-Neuguineas liegt ganz im Süden. Dort sicherte sich →Australien unmittelbar nach der staatlichen Unabhängigkeit PapuaNeuguineas die Inseln in der sog. Torres Strait durch einen Staatsvertrag zwischen Australien u. PapuaNeuguinea vom 18. Dezember 1978. Die ca. 300 u. zumeist unbewohnten Inseln (die größten davon: Saibai, Boigu, Dauan, Kawa) liegen nur wenige Kilometer von der Grenze südl. der Provinzhauptstadt Daru. PapuaNeuguinea erhebt gegenwärtig keinen Anspruch auf diese Inseln, doch wird der Vertrag von 1978 heute als ein quasi spätkololoniales Relikt gesehen. Für den Rechtsstatus der austral. →Aborigines spielten die abgelegenen Inseln eine bedeutende politische Rolle, denn es war ein Torres Strait-Insulaner, der 1992 vor dem obersten austral. Gerichtshof das Ende des →„terra nullius“-Grundsatzes durchsetze. In Polynesien hat das unabhängige Samoa die lange erstrebte Wiedervereinigung mit Amerikanisch-
grö n l An d
Samoa noch vor der Jh.wende formell aufgegeben. Um dies auch nach außen deutlich zu machen, wurde der ursprüngliche Staatsname „Samoa i Sisifo“ (Westsamoa) 1997 offiziell abgeschafft. Seitdem nennt sich das westl. Samoa „Unabhängiger Staat Samoa“. Mikronesien. Wiedervereinigungsbestrebungen gibt es dagegen in den Marianen, wo ein Teil der indigenen Bev. →Guams die vorkoloniale Zusammengehörigkeit zu den Nordmarianen (→Northern Marianas) auch politisch wiederherstellen möchte. Innerhalb der →Föderierten Staaten von Mikronesien gibt es Abspaltungsbewegungen von Jap/Yap nach →Palau u. von Kosrae (Kusaie) zu den →Marshallinseln. Unabhängigkeitsbewegungen gibt es in →Hawai’i und →Neukaledonien. L: Hermann Mückler, Entkolonialisierung u. Konflikte der Gegenwart in Ozeanien, Wien 2013. Über die aktuellen politischen Entwicklungen informiert in deutscher Sprache am besten Pazifik aktuell, eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift, die von der Pazifik-Informationsstelle in Neuendettelsau herausgegeben wird (www. pazifik-infostelle.org). HE RMANN HI E RY Griqualand. Der Begriff „Griqua“ vereint Menschen verschiedenen Ursprungs, die sich als eine eigenständige Gesellschaft entwickelten und wesentliche biologische und kulturelle Einflüsse von den indigenen Khoikhoi (vulgariter →Hottentotten) aufgenommen haben. Unter ihrem ersten Häuptling Adam Kok I. (ca. 1710–1795) schlossen sich die Griqua zu einer Einheit zusammen. Sie verweigerten sich der kolonialen Herrschaft und zogen aus dem Inneren der →Kapkolonie nordwärts nach Kamiesberg, südlich der Stadt Springbok. Dort nahmen sie die →Afrikaans-Sprache an und siedelten um 1810 nach Campbell (West-G.) um. Adam Kok II. ließ sich im Gebiet zwischen den Flüssen Vaal und Riet nieder, das als G.-Ost bekannt wurde. Der Londonder Missionar Dr. John Philip überredete Adam Kok II., zur neuen Missionsstation Philippolis zu ziehen. Adam Kok III. (1811–1875) wurde 1837 Chef der Philippolis-Häuptlingsschaft und handelte 1842 die Unabhängigkeit der Griqua aus. Nachdem die Bloemfontein-Konferenz von 1854 den Weg für die Errichtung einer vom →OranjeFreistaat unabhängigen Rep. bereitet hatte, wurde um 1861 das gesamte G. an den Oranje-Freistaat verkauft. Die Mehrheit der Griqua schloß sich zusammen und zog jenseits der Drakensberge nach Nomansland in die Nähe von Kokstad (Ost-G.). 1874 wurde das G. durch die KapReg. annektiert und aufgeteilt. Die Griqua wurden Teil der ethnischen Gruppe, die allg. als „Coloureds“ („Farbige“) bezeichnet wird. Im Mai 1999 schenkte man den Griqua die Farm Luiperdskop als ein symbolischer Akt der Wiedergutmachung jenes Landraubs. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Alain Mountain, The First People of the Cape, Claremont 2003. ANNE KI E JOUBE RT
Groeben, Otto Friedrich von der, * 16. April 1657 Napratten, † 30. Juni 1728 Marienwerder, □ Dom Marienwerder, ev.-luth.
Der Sohn eines brandenburgischen Generals schloß sich nach dem Besuch einer Jesuitenschule (→Jesuiten) schon mit 17 Jahren einem polnischen Adligen an und bereiste mit ihm mehrere Mittelmeerländer. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr 1680 übertrug der Große Kurfürst von Brandenburg G. im Range eines Kammerjunkers und Majors die Leitung einer Expedition an die westafr. Küste zur Errichtung eines kolonialen Zwecken dienenden Handelsstützpunktes. Anfang 1683 wurde unter seiner Leitung mit dem Bau der Festung →Großfriedrichsburg im heutigen →Ghana begonnen. Hier erkrankte G. schwer und gesundete erst auf der port. Insel São Tomé (→São Tomé und Príncipe). Von dort aus kehrte er nach einer kurzen Reise entlang der westafr. Küste bis nach →Kamerun in die Heimat zurück. Der Große Kurfürst belohnte G. mit der Anwartschaft auf die Nachfolge der Amtshauptmannschaft von Marienwerder und Riesenburg. 1686 nahm er in venezianischen Diensten an einem Feldzug gegen die Türken teil. Im gleichen Jahr heiratete er zum ersten von drei Mal und wurde 1688 zum Oberst in der kurfürstlichen brandenburgischen Armee befördert und 1704 zum kgl.-preußischen Kammerherren ernannt. 1719 trat er in polnische Dienste und wurde Generalmajor. Als er nach einigen ruhigen Jahren auf seinen Gütern verstarb, stand er im Range eines Generalleutnants. Otto Friedrich von der Groeben, Orientalische ReiseBeschreibung des Brandenburgischen Edelichen Pilgers Otto Friedrich von der Gröben nebst der Brandenburgischen Schiffahrt nach Guinea, und der Verrichtungen zu Morea, Marienwerder 1684. Ulrich van der Heyden, Otto Friedrich von der Groeben. Gründer von Großfriedrichsburg, in: Die Mark Brandenburg, Nr. 67, Berlin 2007, 2–9. Ders., Rote Adler an Afrikas Küste, Berlin 2 2001. U LRICH VA N D ER H EY D EN Grönland. Es waren →Eskimos der sog. (Prä-)DorsetKultur, die sich ab 2 500 v. Chr. als erste Menschen auf der größten Insel der Welt niederließen. Sehr vage um das Jahr 900 sichtete der Norweger Gunnbjörn Ulfsson (Lebensdaten unbekannt) Land westlich von Island, entweder in der Nähe von Kap Farvel an der Südspitze G.s oder an der Ostküste bei Ammassalik. Die (europäische) Entdeckung G.s, die manche für die Entdeckung Nordamerikas überhaupt halten, wird regelmäßig Erik dem Roten (ca. 950–1003) zugeschrieben. Der Isländer erkundete (als wegen Mordes Verbannter) den Südteil der Insel von 982 bis 985, errichtete weit im Südwesten im Eriksfjord seinen Hof „Brattahlíð“ und gab der Insel den wohlklingenden Namen „Grünland“, um deren Besiedlung in Gang zu bringen. Tatsächlich gelang es ihm, 985 mindestens 700 Isländer zu finden, die bereit waren, die skandinavische Landnahme G.s einzuleiten. Von 25 Schiffen erreichten dann 14 die Insel. Deren Besatzungen ließen sich an zwei Orten nieder: in der Ostsiedlung im Eriksfjord (Brattahlið) und in der Westsiedlung (Vestribygð) unweit des heutigen Nuuk. Nach weiteren (drei?) Auswanderungsfahrten in den nächsten Jahren vergrößerte sich die Bevölkerung schnell auf ca. 4 000 verstreut lebende Menschen im Eriksfjord und im Nuukfjord sowie eine kleine „mittlere“ Siedlung. Ebenso zügig breitete sich das Christentum aus, nachdem Eriks Sohn Leiff 309
g r o s s f r i e dr i c h s b u r g
→Eriksson es um das Jahr 1000 in G. eingeführt hatte. Ab 1124 verfügte die grönländische Kirche über einen eigenen Bischof in Gardar (heute Igaliku), der 1126 auf der Insel eintraf. Die ökonomische Macht der Kirche war außerordentlich groß: um 1350 besaß sie ca. ⅔ des besten Weidelandes. Der letzte Bischof G.s starb 1378. Zwecks Beendigung der internen weltlichen Streitigkeiten unterstellte sich die grönländische Kolonie 1261 der norwegischen Krone. Schließlich ging das gesamte Aufbauwerk relativ schnell zu Bruch: die letzte qualifizierte Nachricht über skandinavische Grönländer stammt von 1408, der letzte „Grænlendingar“ starb jedenfalls vor 1500. Nach einer Ansicht war die Abkühlung des →Klimas im 14. Jh. dafür verantwortlich. Gegen diese Theorie spricht, daß sich die Grönländer offenbar eines bescheidenen materiellen Wohlstandes erfreuten. Wahrscheinlicher ist die Ausrottung der Grönländer durch die Eskimos. Die bekannte Klimaerwärmung in den Jh.en um 1000 („mittelalterliches Wärmeoptimum“) hatte (auch!) die Einwanderung von Eskimos der Thule-Kultur nach G. im Rahmen der sog. 2. Expansion begünstigt. Hinsichtlich der Westsiedlung kann mit einiger Sicherheit die Tötung der Bewohner unterstellt werden (Untergang vor 1350). Etliche Funde von Beutestücken in Inuitgräbern weisen in dieselbe Richtung. Sogar Spuren von Axt- und Schwerthieben an Grönländer-Leichen konnten entdeckt werden. Die Wiederentdeckung G.s 1585 erfolgte durch John Davis (1550–1605). Harald Steinert, Tausend Jahre Neue Welt, Stuttgart 1982. CHRI S T I AN HANNI G Großfriedrichsburg. Brandenburgischer, und nachdem der brandenburgische Kurfürst 1701 auch Kg. in Preußen geworden war, preußischer Kolonialbesitz an der Westküste Afrikas. Er befand sich an der sog. Goldküste auf dem Territorium des heutigen →Ghana und erhielt seinen Namen nach der dort seit 1683 unter der Leitung von Otto Friedrich von der →Groeben errichteten Festungsanlage, wovon noch heute mehr als die Hälfte gut erhalten und zur Touristenattraktion insb. für dt. Besucher geworden ist. Zur Festungsanlage G. am Rande der Ortschaft Princess Town gehörten noch weitere, heute bestenfalls als Ruinen vorhandene befestigte Handelsstützpunkte an der Küste. Vom Großen Kurfürsten →Friedrich Wilhelm I. initiiert und wesentlich finanziert, übernahm die →Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie schon bald die Handelskolonie und die Festung G. Von hier aus beteiligten sich die Brandenburger bzw. Preußen am transatlantischen →Sklavenhandel. 1717 verkaufte der preußische Kg. Friedrich Wilhelm I. die Kolonie an die Ndl.-Westind. Kompanie, die an der Festungsanlage einige bauliche Veränderungen vornahm. Mit der Übernahme der Goldküste durch die Engländer gelangte auch G. unter die Herrschaft der brit. Krone. Die dt. Festungs- und Handelsbauten erregten bei den Engländern kein Interesse mehr; die Afrikaner nutzten die Baumaterialien für den Häuserbau. Heute gehört G., wie andere Sklavenfestungen an der Atlantikküste, zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste, Berlin 22001. Adam Jones, Brandenburg Sources for West 310
African History 1680–1700, Stuttgart 1985. Hans Georg Steltzer: „Mit herrlichen Häfen versehen“, Frankfurt/M. 1981. U LR ICH VA N D ER H EY D EN Großkolumbien ist die von Historikern (zur Unterscheidung vom heutigen →Kolumbien) erfundene Bezeichnung für das staatliche Gebilde, das nach den Befreiungskriegen in Südamerika die Nachfolge des →VizeKgr.s Neu-Granada (Virreinato de la Nueva Granada, →Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) antrat. Noch während der Kriegshandlungen gegen die Royalisten riefen die Patrioten auf dem Kongreß von Angostura (heute Ciudad Bolívar) auf Bitten Simón →Bolívars die Rep. G. (eigentlich: República de Colombia) aus. Am 17.12.1819 vereinigten sich Kolumbien (das Gebiet des Virreinato de la Nueva Granada) und →Venezuela (Capitanía General de Venezuela), am 28.11.1821 schloß sich →Panama (Gobernación de Panamá), am 24.5.1822, nach der Schlacht am Pinchincha, →Ecuador (Real →Audiencia de →Quito und Provincia Libre de →Guayaquil) an. In der durch den Kongreß von Cúcuta ausgearbeiteten Verfassung von 1821 wurde G. als unitarischer Staat definiert. Das Wahlrecht war an Bildung und Besitz gebunden. Die indigenen Völker und die unfreien und freien Schwarzen wurden lediglich partiell integriert. Daß G. ein kreolisches Konstrukt war, sah man auch daran, daß der private Großgrundbesitz nicht angetastet wurde. Der Kongreß von Angostura ernannte Bolívar zum Präs. mit weitreichenden Befugnissen und Francisco de Paula Santander zum Vize-Präs. De facto regierte Santander von Bogotá, der ehem. Hauptstadt des Vize-Kgr.s aus, denn Bolívar befand sich zunächst im Süden, in Pasto und Ecuador, dann in →Peru und →Bolivien, auf Befreiungsmission. Außenpolitisch versuchte das Land durch den Abschluß von Freundschafts-, Schiffahrts- (→Schiffahrt) und Handelsverträgen mit den →USA (1824) und Großbritannien (1825) den Anschluß an die „modernen“ Industrienationen der atlantischen Welt herzustellen. Von diesen Mächten erwarteten die Patrioten im nördlichen Südamerika, daß sie die Souveränitätsbemühungen der neuen Rep. unterstützten. Im Gegenzug gewährte ihnen G. die Meistbegünstigung bei der Einfuhr von Waren. Brit., frz. und dt. Kaufleute ließen sich in den →Atlantik- und Pazifikhäfen nieder, und europäische Schiffahrtsgesellschaften richteten den Linienverkehr ein. Für G. wurde die Kapitalaufnahme bei brit. merchant bankers erleichtert. G. vermochte sich nicht zu konsolidieren, was an der großen Belastung durch die Kriege (Befreiung anderer Länder anstatt Konzentration auf Entwicklung G.s, massive Außenverschuldung, veränderte Handelsstrukturen, Verwüstungen, Aufgabe von Produktionsbetrieben infolge Kapital- und Arbeitskräftemangels) lag, die die Erholung der Wirtschaft und des Staatshaushaltes verzögerte. Auch die ungelöste Inklusion und Repräsentation von Schwarzen, indígenas und llaneros sowie Divergenzen zwischen den →Kreolen hinsichtlich der Ausgestaltung des neuen Staates sowie der Vergabe von Verwaltungs- und Offiziersstellen trugen zur Destabilisierung bei. Außerdem prallten unterschiedliche regionale Wirtschaftsinteressen aufeinander, deren Ausgleich schwierig war. Der erst im Nov. 1825 nach Bogotá zurückgekehrte Staatspräs. Bolí-
g ro ti u s , hu g o
var, das Symbol des großkolumbianischen Verbandes schlechthin, sah sich selbst dem Vorwurf ausgesetzt, er habe mit der Befreiung Perus zu lange andere Prioritäten als die wirtschaftliche Erholung und die territoriale Konsolidierung verfolgt. Nach vergeblichen Versuchen, die Spannungspotential durch Verfassungsreformen in den Griff zu bekommen, sowie kriegerischen Auseinandersetzungen zerfiel G. 1830/31, kurz nach Bolívars Tod, in die souveränen Staaten Venezuela (República de Venezuela), Kolumbien (República de Nueva Granada) und Ecuador (República de Ecuador). Panama verblieb – nach einer sechswöchigen Unabhängigkeit – bis 1903 bei Kolumbien. Der großkolumbianische Gedanke überlebte im Bolívarkult in Venezuela und Kolumbien sowie im →Bolivarianismo. David Bushnell, The Santander Regime in Gran Colombia, Westport 1970. Hans-Joachim König, Auf dem Wege zur Nation, Stuttgart 1988. Frank R. Safford, / Marco Palacios, Colombia, New York 2002. T HOMAS F I S CHE R
Großostasiatische Wohlstandssphäre →Zweiter Weltkrieg Grotius, Hugo, * 10. April 1583 Delft, † 28. August 1645 Rostock, □ Nieuwe Kerk / Delft, ev.-ref. Huig de Groot, heute besser bekannt unter seinem latinisierten Namen G., war Sohn einer Patrizierfamilie. Der frz. Kg. Heinrich IV. nannte ihn das „Wunder von Holland“, denn G. galt seinen Zeitgenossen wegen seiner humanistischen Bildung und seiner Kenntnis griechischer u. lateinischer Klassiker als Wunderkind – so wie Mozart zwei Jh.e später in der Musik. Erst 11 Jahre alt, beendete er schon sein Studium an der Universität Leiden. 1598 erhielt G. einen Ehrendoktor in beiderlei Rechten von der Universität Orléans. Danach begann er unter der Patronage des Landsadvokaten Johan van Oldenbarnevelt eine steile politische Karriere. 1604 erhielt er von der VOC (Admiral Jacob van Heemskerck) den Auftrag, eine juristische Rechtfertigung für die Kaperung des von Heemskerck vor Singapur erbeuteten portugiesischen Handelsschiffes Sta. Catarina zu verfassen. Diese Arbeit war G.’ erste Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht, wurde aber zu seinen Lebzeiten nur in einem Teil veröffentlicht. Dieser Teil, Kapitel 12 der ursprünglichen Schrift, ist 1609 unter dem Titel Mare Liberum (das freie Meer) im Druck erschienen. Es übte großen Einfluß auf die Herausbildung des bis heute gültigen →Seerechts aus. Nach 1607 arbeitete G. als Rechtsberater für die VOC u. war einer der Hauptunterhändler bei den anglo-niederländischen Kolonial- u. Fischereikonferenzen in London (1613) u. Den Haag (1615). Auch danach unterhielt er enge Verbindungen mit einer Reihe von Direktoren der VOC, darunter v. a. Cornelis →Matelieff de Jonge, der G. als Vertrauensmann benutzte, um Zutritt zu Oldenbarnevelt zu erhalten. Zusammen mit Oldenbarnevelt u. anderen leitenden Persönlichkeiten wurde G. im August 1618 verhaftet. Der Statthalter Prinz Maurits von Nassau hatte einen Staatsstreich unternommen, der in der Hinrichtung Oldenbarnevelts und einer lebenslangen
Freiheitsstrafe für G. gipfelte. G. benutzte seine Zeit in der Haft zur Niederschrift von Arbeiten, die später zu seinen wichtigsten Werken gehören sollten. Darunter befanden sich De Veritate Religionis Christianae (Über die Wahrheit des Christentums) u. Inleidinghe tot de Hollandsche Rechtsgeleerdheid (Einführung in das Holländische Rechtswesen). Nach einer spektakulären Flucht aus dem Gefängnis im März 1621, trat er in die Dienste Ludwigs XIII. von Frankreich. In dieser Zeit veröffentlichte er sein bekanntestes Werk De Jure Belli ac Pacis (Über das Recht von Krieg u. Frieden, 1625). Dieses Werk, vielfach verlegt, nachgedruckt u. in fast alle europäischen Sprachen übertragen (erste dt. Ausgabe 1707) machte G. zum Vater des modernen Völkerrechts. Nach seiner Rückkehr in die Republik der Niederlande 1632, wurde G. zu seiner Enttäuschung nicht rehabilitiert. Er wurde kurz darauf schwedischer Staatangehöriger (angeblich trug Gustav Adolph v. Schweden den De Jure Belli ac Pacis immer griffbereit in seiner Satteltasche mit sich). Als schwedischer Botschafter (1635 ernannt von Reichskanzler Axel Oxenstierna) kehrte er nach Paris zurück zu einer Zeit, als Schweden mit Frankreich im Dreißigjährigen Krieg verbündet war. Er mußte erfahren, daß Kardinal Richelieu versuchte, ihn zu umgehen. Aus finanziellen Gründen wurde G. abberufen und nach Stockholm bestellt. Auf dem Weg dorthin wurde er in den Hansestädten begeistert empfangen. Wieder auf dem Rückweg von Stockholm nach Deutschland, wo er hoffte, am Friedensschluß beratend mitwirken zu können, erlitt er in Kaschuben, an der pommerschen Küste, Schiffbruch. Von Stolp u. Anklam reiste er an den schwedischen Besitzungen Greifswald u. Stralsund vorbei nach Rostock. Hier verstarb er wenig später im Haus zur Sonne in der Großen Wasserstraße (Erinnerungstafel ist noch vorhanden). Sein einbalsamierter Leichnam wurde in den Niederlanden begraben, aber sein Herz wurde ursprünglich in der Rostocker Marienkirche beigesetzt. Die Stelle wurde mit einer unscheinbaren Steinplatte markiert, auf der nur die Initialen H.G. vermerkt waren. Herz wie Steinplatte wurden später (die Steinplatte offensichtlich erst nach dem →Ersten Weltkrieg) entfernt, ohne daß wir wissen, wann u. von wem. G. war mit Maria van Reigersberch verheiratet. Seine besondere Bedeutung liegt darin, daß das von ihm konzipierte Völkerrecht prinzipiell keinen Unterschied unter souveränen Staaten u. Völkern macht, seien sie christlich oder „heidnisch“ („pagani“). Dies würde bedeuten, daß bei der europ. Expansion u. dem Kontakt von Europäern mit Nichteuropäern auch diese nach G. gleichberechtigt gewesen wären. In der Tat gab es in der Frühen Neuzeit an einigen europ. Höfen außereurop. Diplomaten und Botschafter. G. wurde als Rechtfertigung für Kriegserklärungen noch im 20. Jh. herangezogen, insb. auch im 1. Weltkrieg bei der dt. Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges. Q: Hugo Grotius, Commentary on the Law of Prize and Booty, hg. v. Martine van Ittersum, Indianapolis 2006. Ders., De jure belli ac pacis libri tres, hg. v. Bernardina J. De Kanter van Hettinga Tromp u. Robert Feenstra, Aalen 1993. L: Peter Borschberg, Hugo Grotius, the Portuguese and Free Trade in the East Indies, Singapur 311
g u A d A l uP e �me � i k o �
2011. Hank Nellen, Hugo de Groot. Een leven in strijd om de vrede, Amsterdam 2007. Benedikt van Spyk, Vertragstheorie u. Völkerrecht im Werk des Hugo Grotius, Hamburg 2005. Richard Tuck, The Rights of War and Peace, Oxford 1999. P E T E R BORS CHBE RG Grzimek, Bernhard u. Michael →Serengeti Guadalupe (Mexiko). In Villa de G., einem nördlichen Stadtteil von Mexiko-Stadt, steht neben der alten (erbaut 1695–1709) die neue „Insigne y Nacional Basílica de Santa María de G.“ (erbaut 1974–1976), das wichtigste Heiligtum →Mexikos und Zentrum des größten Marienwallfahrtsortes der Erde. Nach →Eroberung der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán (→Aztekenreich) durch →Cortés 1521 setzte laut Überlieferung des B. de Sahagún OFM die Verehrung „Unserer Lieben Frau von G.“ durch die indigene Bevölkerung an dem im Norden der Stadt gelegenen Wallfahrtsort Tepeyac ein, wo zuvor ein heiliger Tempel der Göttin Tonantzin Cihuacóatl (Unsere verehrte Mutter Frau Schlange) gestanden hatte. Vielschichtige span. und autochthone, vornehmlich otomí-toltekisch-aztekische Volksreligiosität sowie die offizielle Mariologie der christl. Kirche bildeten den großen Rahmen, innerhalb dessen sich in der Folgezeit die unterschiedlichsten Verehrungsformen der Jungfrau Maria von G. herausbildeten: span., indigene und mestizisch-mexikanische mit ihren spezifisch nationalen, historischen, topographischen, ethnischen und mythischen Hintergründen und Traditionen. Bedeutsam für die kulturelle, religiöse, soziale und politische Entwicklung des kolonialen Neu-Spaniens sollte jedoch das als Acontecimiento Guadalupano bekannt gewordene G.-Ereignis von 1531 werden, das bis heute nachhaltig fortwirkt. Laut Tradition umfaßt es das viermalige Erscheinen der „Gottesmutter“ Maria G. zwischen dem 9. und 12.12.1531 auf dem nördlich des ehem. aztekischen Machtzentrums gelegenen Hügel Tepeyac in Villa de G.; des weiteren die „Zeichen“ des Blumenwunders auf dem Tepeyac und die an den Visionär, den getauften Nahua Juan Diego ergangene und von diesem an den Bischof Juan de →Zumárraga OFM übermittelte Botschaft und Bitte, am Ort der Erscheinung ein Maria G. geweihtes Heiligtum zu errichten; die Erscheinung bei Juan Bernardino, dem kranken Onkel des Visionärs und dessen Heilung; schließlich das „Wunder“ im Palast des Bischofs, die wundersame Einprägung des Gnadenbildes Unserer Lieben Frau von G. in den Umhang des Juan Diego, das bis heute in der gleichnamigen Basilika sowie in unzähligen Nachbildungen in den Kirchen Mexikos und vielen anderen Ländern verehrt wird. Die mündliche und schriftliche Überlieferung dieses Ereignisses basiert auf span. und auf Náhuatl-Quellen, deren historische Zuverlässigkeit z. T. sehr umstritten ist, was v. a. seit dem 19. Jh. zu nachhaltigen Kontroversen sog. Befürworter und Gegner der Erscheinungen geführt hat. Ab Mitte des 17. Jh.s setzte mit der Vorlage mehrerer Versionen der Erscheinungserzählung (der sog. „4 Evangelisten“) und der ihnen impliziten kreolischen (→Kreole) Theologie eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte des „Guadalupanismo“ ein: Maria wurde zu einem Symbol, das Familie, 312
Politik und Religion, koloniale Vergangenheit und Unabhängigkeit, Indigenes, Spanisches und Mexikanisches, Europa und →Amerika miteinander verbindet. Als wichtigste Quelle gilt die in Náhuatl abgefaßte Erscheinungsschilderung Nican Mopohua (Hier wird erzählt), die nach neuesten Forschungen mit großer Wahrscheinlichkeit im 16. Jh. von indigenen „Weisen“ (Tlamatinime) verfaßt worden ist, die sowohl mit den span.-christl. als auch mit den indigenen religiösen Traditionen bestens vertraut waren. Sie wurde erstmals 1649 von Lasso de la Vega ohne Quellenangabe als sein eigenes Werk veröffentlicht. In dieser span.-christl. und toltekisch-aztekische Motive aufgreifenden „ZweiWelten-Erzählung“ mit Ähnlichkeiten zur Náhuatl-Literatur des 16./17. Jh.s sowie zu span. Erscheinungslegenden des Mittelalters (→G. (Spanien)), erscheint Maria einem Macehualtzintli, einem marginalisierten „Indio“ der untersten sozialen Schicht der kolonialen Gesellschaft (Juan Diego), um sich seiner anzunehmen. In diesem Ereignis ist – und genau dies entfaltet sich in der Wirkungsgeschichte des Nican Mopohua – ein solidarischer Dialog der Völker und Kulturen angelegt, die Vision einer in eine neue kosmische Ordnung eingebundenen Solidarität und Geschwisterlichkeit. Es ist eine Menschwerdungsgeschichte, eben die Geschichte der sozialen Geburt der Indigenas in Neuspanien, die durch das „Eingreifen“ der Jungfrau von G. in respektierte sozio-kulturelle Beziehungen und gleichzeitig in den Horizont der Geschichte des Christentums eintreten. Mit der „Botschaft“ des Nican Mopohua eröffnet sich gleichsam ein neuer Sinnhorizont mit neuen Perspektiven in der sich wandelnden historischen Situation Mexikos. G. hat deshalb seit der Kolonialzeit über die Erreichung der politischen Unabhängigkeit (1821) bis in die Gegenwart eine enorme Bedeutung für Kirche, Gesellschaft und Politik. Als National- und Kultursymbol und zugleich als ein Symbol der Hilfe und Befreiung für die Armen und Unterdrückten auf dem am. Kontinent ruft es vielfältige und konträre Wirkungen hervor, z. B. für neue Evangelisationsmethoden christl. Kirchen, für „befreiende“ und „frauenorientierte“ Theologien, für neue soziale und politische Bewegungen wie etwa unter den „Hispanics“ und Chicanos im Kontext der zunehmenden Remexikanisierung weiter Teile der →USA. Weitere „Quellen“ sind u. a. die sog. Informaciones, die vom Erzbistum Mexico 1666 für einen historischen „Prozeß“ gesammelt wurden, bei dem 20 hochbetagte Geistliche und Indígenas als „Zeugen“ über die Glaubwürdigkeit des G.-Ereignisses vernommen wurden, sowie die ergänzenden Informaciones von 1723. Alle diese „historischen“ Unterlagen führten schrittweise zur Anerkennung der Glaubwürdigkeit der Erscheinungen durch die kirchlichen Stellen in Mexiko und Rom sowie zur Krönung Unserer Lieben Frau von G. zur Patronin Mexikos, →Lateinamerikas und der →Philippinen und zur „Ks.in“ ganz Amerikas. In jüngster Zeit fanden die G.-Kontroversen eine Neubelebung durch die Selig- (6.5.1990) und Heiligsprechung (31.7.2002) des Visionärs Juan Diego, nunmehr auch Cuauhtlatoatzin („Der wie ein Adler spricht“) genannt, durch Papst Johannes Paul II. in der Basilika von G. in Mexiko-Stadt. Dieser Akt im Herzen der heute wohl meistbesuchten Pilgerstätte der Christenheit – die
gu A nA j uAto
erste Kanonisation eines am. „Indio“ – wurde als eine Geste der historischen Anerkennung, der Wertschätzung und Würde der indigenen Völker Amerikas und der ganzen Erde gedeutet. David A. Brading, La Virgen de Guadalupe, MexikoStadt 2002. Richard Nebel, Santa Maria Tonantzin Virgen de Guadalupe, Immensee 1992, Mexiko-Stadt 22005. L. Celina Vázquez P. u. a. (Hg.), El santo Juan Diego: historia y contexto de una canonización polémica, Guadalajara 2006. RI CHARD NE BE L Guadalupe (Spanien). In der Extremadura liegen am Rande der Sierra de G. der Ort G. („Verborgener Wasserlauf“ oder „Wolfsbach“) und das prachtvolle Kloster Real Monasterio mit dem Heiligtum Nuestra Señora de G. Nach Erzählungen (14./15. Jh.) des HieronymitenOrdens, der 1389–1835 das Heiligtum leitete, führt es seine Entstehung auf ein Gnadenbild der Jungfrau Maria zurück, das laut Legende von Papst Gregor dem Großen dem heiligen Leander von Sevilla geschenkt, im 8. Jh. vor den einfallenden Mauren vergraben und während der Reg.szeit von Alfons X. (1252–1284) oder Alfons XI. (1311–1350) von einem Kuhhirten nahe am Flüßchen G. auf wundersame Weise aufgefunden worden sein soll. In der Zeit der Reconquista wurde die Abtei von Alfons XI. gegen 1340 nach seinem Sieg über die Muslime am Rio Salado gestiftet. In der Folgezeit (14.–16. Jh.) entwickelte sich G. zu einem mit der Geschichte der kastilischen Monarchie eng verbundenen religiös-politischen Zentrum sowie zu einem der reichsten Kunst- und Kulturzentren des Landes, das auch in sozialer, medizinischer und bildungspolitischer Hinsicht große Bedeutung erlangte. Wie Santiago de Compostela wurde G. zu einem Mittelpunkt hispanischer Spiritualität und zu einem „Heiligtum“ des span. Katholizismus und der Hispanität, dessen Einfluß auch während der span. Expansion in Übersee im 16./17. Jh. zum Tragen kam, war die Extremadura doch die Heimat der meisten bekannten Conquistadoren (→Cortés, →Pizarro, Núñez de Balboa, de Soto, de Alvarado, de Valdivia u. a.) und vieler namhafter Missionare, Kolonisten und Seefahrer. Die Marienverehrung, v. a. die Santa María de G., wurde zur „Virgen de la Hispanidad“, zur treibenden Kraft für die Entstehung zahlloser Orte und Sanktuarien, Feste und Bruderschaften in vielen Ländern der Erde (Lima, Potosí, →Quito, Trujillo, →Goa, →Manila u. a.) unter denen v. a. Maria G. in →Mexiko (→Guadalupe (Mexiko)) und ihre einzigartige Wirkungsgeschichte herausragen. Seit dem 17. Jh. ging der Einfluß des span. Sanktuariums von G. stark zurück, seit Mitte des 20. Jh.s gewinnt es in Politik, Kirche und Kultur wieder zunehmend an Bedeutung. Arturo Alvarez, Guadalupe: Arte, historia y devoción mariana, Madrid 1964. Richard Nebel, Santa María Tonantzin Virgen de Guadalupe, Immensee 1992, 27–60, 165–175; in Span.: Mexiko-Stadt 2005, 37–81; 221–233. Sebastian García Rodriguez (Bearb.), Guadalupe: Siete siglos de fe y de cultura, Madrid 1993. RI CHARD NE BE L
Guam ist die Hauptinsel der Marianen. Sie lag auf dem Schiffahrtsweg zwischen →Acapulco u. den
→Philippinen. Manila wurde nach 1521 zu einem zunehmend wichtigeren Stützpunkt innerhalb des →Spanischen Imperiums u. in die st. 1571 etablierte Dauerverbindung zwischen Mexiko u. den Philippinen war G. damit eingebunden. Miguel López de Legazpi annektierte die Insel im Januar 1565 für Spanien. Mit der Ankunft der →Jesuiten am 15. Juni 1668 begann eine Kette von erbitterten Kolonialkriegen gegen die indigenen →Chamorro, die von den Spaniern äußerst brutal geführt wurden. 1695 soll die letzte militärische Auseinandersetzung stattgefunden haben. 1698 galten die Marianen als pazifiziert. Durch Zwangsumsiedlung nach G. und bewußte physische Vernichtung wurden die Chamorro von den nördlichen Inseln vertrieben u. fast alle indigenen Männer umgebracht. Nach einer Epidemie im Jahre 1700 war die Zahl der Chamorro so weit herabgesunken, daß der span. Gouv. sie alle nach den Philippinen deportieren wollte. Der Widerstand der Missionare ließ den Plan scheitern. Am 21. Juni 1898 besetzten US-am. Soldaten G. infolge des →Span.-Am. Krieges. Der Status der Insel blieb aber zunächst unklar, weil die Truppen abgezogen u. in Manila eingesetzt wurden. Erst am 1. Februar 1899 wurde die Flagge der →Vereinigten Staaten gehißt u. diese übernahmen die Kontrolle über G. Die Verwaltung wurde vom Navy Department ausgeübt. Die Entwicklung war sehr langsam; eine erste High School wurde erst 1936 eröffnet. Vom 8. Dezember 1941 bis 21. Juli 1944 war G. von Japan besetzt. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurde zum 1. August 1950 der sog. G. Organic Act erlassen. Danach ist G. ein „organized unincorporated territory“ der Vereinigten Staaten. Die Chamorro wurden US-Staatsbürger, haben aber nur eingeschränkte Selbstverwaltungsrechte. Der Gouv. wurde bis 1970 direkt vom am. Präsidenten ernannt. Obwohl am. Staatsbürger, haben die Bewohner G. kein Recht, den US-Präsidenten oder die Abgeordneten zum Kongreß mitzuwählen. Ein Plebiszit, das sich 1982 dafür aussprach, G. die gleichen Rechte zu gewähren wie den →Northern Marianas, wurde von der US-Reg. abgelehnt. Infolgedessen wächst in den letzten Jahren der Widerstand der Chamorro gegen die US-Fremdbestimmung. Marjorie Driver, The Spanish Governors of the Mariana Islands, Guam 2005. Wakako Higuchi, The Japanese Administration of Guam, 1941–1944, Jefferson, NC 2013. Robert Rogers, Destiny’s Landfall. A History of Guam, Honolulu 1995. H ER MA N N H IERY Guanajuato, dessen Name sich vom Purhépecha („hügeliger Platz der Frösche“) ableitet, liegt im nordwestlichen →Mexiko am Abhang der Sierra Madre Occidental. Ein großer Teil der Region gehört zur Hochebene des Bajío. Vor der Ankunft der Spanier war die Region v. a. von Otomíes und im geringeren Maße von den Purhépecha besiedelt, die hier allerdings nur wenige Siedlungen anlegten. Die ersten Spanier gelangten 1526 in die Region, die Besiedlung vollzog sich trotz erster Silberfunde in den 1550er Jahren allerdings sehr langsam, 1557 erhielt Santa Fé de G. den Titel einer Villa. Erst in den letzten Jahrzehnten des 17. Jh.s gewann die Region an Bedeutung, insb. durch den Abbau von Silber (1658 Real 313
g u A ngz h o u wA n
de Minas gegründet). Im 18. Jh. entwickelten sich die Minen entlang der Ader Veta Madre, insb. die berühmte Valenciana, zu den ertragreichsten →Amerikas. Ende des 18. Jh.s war G. drittgrößte Stadt Neu-Spaniens und der größte Silberproduzent der Welt. Auf Grund dieser Expansion erlebte die Region ein sehr starkes Bevölkerungswachstum sowie eine in Neu-Spanien einmalige →Urbanisierung, Proto-Industrialisierung und Mestizisierung. 1810 ging von Dolores, im Zentrum der 1786 gegründeten Intendanz G. gelegen, mit dem Grito de Dolores die Aufstandsbewegung unter Miguel Hidalgo aus. G. war die erste von den Aufständischen eingenommene größere Stadt. S E BAS T I AN DORS CH Guangzhou →Kanton Guangzhouwan (frz.: Quang-Tchéou-Wan / KouangTchéou-Wan; dt.: Kwangtschouwan; engl.: Kwangchow-wan). Das frz. Pachtgebiet an der Ostküste der Leitschou-Halbinsel in der chin. Provinz Kwangtung entstand durch ein vorläufiges Abkommen vom 10.4.1898, dessen Kerninhalte durch die Konvention vom 16.11.1898 konkretisiert und bestätigt wurden. Frankreich pachtete von China auf 99 Jahre die Bucht von G. inkl. dreier Inseln (842 km2), um darauf eine Marinestation mit einem Kohlendepot anzulegen. Anlaß für die Erwerbung war die russ. Besetzung von Port Arthur und die dt. Besetzung von →Kiautschou; Frankreichs erstrebte Besetzung der größeren und geopolitisch-wirtschaftlich bedeutenderen Insel Hainan wurde durch brit. Intervention bei der chin. Reg. verhindert. Mit der Ersetzung der militärischen durch eine zivile Verwaltung, geleitet von einem Chefadministrator und drei Bezirksbeamten (27.1.1900), erfolgte die Unterstellung von G. unter den Gouv. von →Frz.-Indochina. Die chin. Selbstverwaltung blieb weitgehend intakt, wobei vom Chefadministrator ernannte Distriktvorsteher (Kong-Koc) als wichtigste Vermittler fungierten; ab 1922 kam ein gewählter zehnköpfiger chin. Konsultativrat hinzu. Die Bevölkerung (1931: 206 300 Chinesen, 600 Vietnamesen, 100 Franzosen) betrieb vorwiegend Landwirtschaft (→Reis, Süßkartoffeln, Erdnüsse, Zuckerrohr, →Zukker), bedeutende Industrien gab es nicht. Da Frankreich keine nennenswerten Investitionen tätigte, der geplante Eisenbahnanschluß nicht verwirklicht wurde und die Exporte von Frz.-Indochina und Südchina weiterhin über →Hongkong liefen, blieb G. im wesentlichen ein ökonomischer Satellit der brit. →Kronkolonie. 1943 von Japan besetzt, wurde G. 1945 an Frankreich zurückgegeben; 1946 erfolgte die Übertragung an China und Umbenennung in Zhanjiang. Alfred Bonningue, La France à Kouang-Tchéou-Wan, Nancy 1931. Pierre Brocheux / Daniel Hémery, Indochina. An Ambiguous Colonization, 1858–1954, Berkeley 2009 (frz. Ausg. Paris 1995). Dieter Brötel, Frankreich im Fernen Osten, Stuttgart 1996. BE RT BE CKE R Guatemala. Das Generalkapitanat, auch als Reich (Reino) bezeichnet, war Teil des →Vize-Kgr.s Neu-Spanien. Es umfaßte Zentralamerika – die heutigen Staaten G., Belice, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa 314
Rica – und Chiapas in Südmexiko. Die Region ist gekennzeichnet von Gebirgen vulkanischen Ursprungs, die Kommunikation und →Transport zwischen den einzelnen Landesteilen erschweren. Die span. →Eroberung erfolgte durch mehrere Expeditionen. Die wichtigste dieser Unternehmungen waren die 1523 von Hernán →Cortés aus →Mexiko entsandten Truppen unter Leitung von Pedro de Alvarado, mit der ein paralleler Eroberungsversuch von Gil González Dávila in Honduras vereitelt werden sollte. Nach dem Ende der Eroberungsphase 1524 ließ Pedro de Alvarado Siedlungen errichten und gründete nahe des vorkolonialen Cakchiquel-Zentrums Iximché mit Santiago de G. die erste Stadt. Sie wurde mehrmals verlegt, ab 1542 befand sie sich im heutigen Antigua G. Der Prozeß der politischen Institutionalisierung konsolidierte sich mit der Verkündung der →Leyes Nuevas 1542, mit denen 1543 die Audiencia de los Confines (auch Audiencia de G.) errichtet wurde. Der Zuständigkeitsbereich der →Audiencia gliederte sich in die fünf Gouvernements Comayagua (Honduras), Nicaragua, Costa Rica, Soconusco und G. Ihren Sitz hatte die Audiencia zunächst in Gracias a Dios in Honduras, 1548 wurde sie nach Santiago de G. verlagert. Die Audiencia bestand, mit einer Unterbrechung von 1563 bis 1567, bis zur Unabhängigkeit. Trotz regelmäßiger Auseinandersetzungen mit der unteren Verwaltungsebene und innerer Konflikte entwickelte sich die Audiencia zum Machtzentrum der Region. Seit 1560 war der Präs. der Audiencia gleichzeitig Gen.-gouv. der Provinz G. Ab 1609 erteilte der Indienrat auf Grund der wachsenden Bedrohung durch andere Seemächte in der →Karibik den Präs. der Audiencia auch den militärischen Oberbefehl und ernannte sie, neben den anderen Ämtern, zu Generalkapitänen. Die Region genoß große Selbständigkeit und korrespondierte direkt mit den span. Zentralbehörden, auch wenn sie formal dem Vize-Kg. von Neu-Spanien unterstand. G. war seit den 1530er Jahren in die vier Bistümer Nicaragua (Sitz: León), Honduras (Trujillo, ab 1570 Comayagua), G. (Santiago) und Chiapas (Ciudad Real) unterteilt. 1544 wird Bartolomé de →Las Casas Bischof von Chiapas. In den davor liegenden Jahren hatte er in Tuzutlán im Norden G.s versucht, die indigene Bevölkerung mit friedlichen Mitteln zum Christentum zu bekehren und über dieses sog. Experiment von La Vera Paz in seinem Werk „De Unico Vocationis Modo“ berichtet. Die kirchliche Verwaltungsstruktur blieb bis 1743 erhalten, als das Bistum G. zum Erzbistum erhoben wurde. Für die Wirtschaft der Region spielten →Edelmetalle mit Ausnahme von Silbervorkommen in Honduras kaum eine Rolle. Die wichtigsten landwirtschaftlichen Exportprodukte waren →Kakao und Indigo. Kakao war bereits in vorkolonialer Zeit ein wichtiger Bestandteil der zentralam. Wirtschaft. Der Export von Indigo erlebte dank der Nachfrage nach →Farbstoffen in Europa, insb. in England, einen starken Aufschwung. Der Indigo-Handel und damit die gesamte Wirtschaft gerieten in den 1620er Jahren in eine Krise durch zunehmende Piraterie (→Freibeuterei) und Attacken der europäischen Seemächte gegen die span. Schiffahrtsrouten (→Schiffahrt). Seit Ende des 16. Jh.s hatten sich engl. Siedler in Belice und an der nicaraguanischen Atlantikküste niedergelassen, wo sie
gu eri llA i n lAtei nA m eri kA
Mahagoni und Campeche-Holz (→Campeche) schlugen und ausführten. Gegen Ende des 17. Jh.s erholte sich die wirtschaftliche Lage, als erneut Indigo und zudem Viehzucht, der Verkauf von Häuten und Talg einen Aufschwung nahmen. Zu Beginn des 18. Jh.s waren die Handelsrouten zweigeteilt: der Norden betrieb seinen Außenhandel via Veracruz, während der Süden über →Panama Güter ein- und ausführte. Erst mit der Liberalisierung der span. Handelsrouten ab 1778 konnte der Handel direkt über zentralam. Häfen erfolgen. Im 18. Jh. kam es zu vermehrten Konflikten zwischen der Audiencia und den im Stadtrat von Santiago de G. vertretenen Kaufleuten und Großgrundbesitzern, da die Krone mit verschiedenen Maßnahmen versuchte, den Einfluß der städtischen Elite zurückzudrängen. Insb. die Einführung des Intendantensystems 1785 traf den Stadtrat, der bis dahin Steuerpächter für das gesamte Audienciagebiet war, da nun die Verwaltung dezentralisiert wurde und den neu geschaffenen Intendencias die Funktion zukam, Steuern einzutreiben und zu verwalten. Als Intendencias wurden Chiapas inkl. Soconusco, Comayagua, Nicaragua und als neue Verwaltungseinheit El Salvador eingerichtet. Dem Gouvernement G. stand weiterhin der Generalkapitän vor, Costa Rica blieb Gouvernement. Letztlich war die Macht der Kaufleute der Hauptstadt trotz der Intendantenreform ungebrochen. Sie kontrollierten gegen Ende des 18. Jh.s weiterhin Außenhandel und Kreditwesen. Auf Grund ihrer ökonomischen Vorherrschaft gestaltete sich der Unabhängigkeitsprozeß in Zentralamerika zunächst als Konflikt zwischen den hauptstädtischen Eliten und denen der übrigen Provinzen. So halfen Kaufleute aus G.-Stadt in 1811 mit, eine Revolte in El Salvador niederzuschlagen. Erst als Mexiko 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte, trieben auch Händler der Hauptstadt den Prozeß voran und erklärten gemeinsam mit dem Generalkapitän am 15.9.1821 die Unabhängigkeit. Am 5.1. 1822 bildete Zentralamerika eine Union mit Mexiko, die allerdings nur bis 1823 Bestand hatte. Murdo J. Mc.Leod, Spanish Central America, Berkeley 1973. Jorge Luján Muñoz (Hg.), Historia General de Guatemala, Bd. 2 und 3, Guatemala 1994. Edelberto Torres Rivas (Hg.), Historia General de Centroamérica, Bd. II und Bd. III, Madrid 1993. MÓNI CA AL BI Z ÚRE Z GI L Guayana →Essequibo, →Schomburgk, Robert Guayaquil. Hauptstadt des gleichnamigen corregimiento in der Audienz von →Quito (im heutigen →Ecuador). Mehrmals zwischen 1534 und 1542 gegründet; unter dem Namen Santiago de G. endgültig am 25.7.1547 am Westufer des Flusses Guayas errichtet. 1692 Verlegung der Stadt wegen wiederholter Brände, →Seuchen und Piratenangriffe; seitdem Unterscheidung zwischen Ciudad Vieja und der nach span. Schachbrettmuster angelegten Ciudad Nueva. Als Bezirk der Audienz von Quito gehörte das Corregimiento von G. zum →Vize-Kgr. von →Peru. 1717 wurde es in das neu gegründete Vize-Kgr. von Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) eingebunden. Zwischen 1723 und 1739 stand G. erneut unter der Gerichtsbarkeit von →Lima; danach kehrte G. unter die Hoheit von Bogota zurück. Im Kon-
text der bourbonischen Reformen wurde das Corregimiento 1761 zur Gobernación von G. umstrukturiert. Ab 1803 fiel die Verwaltung von →Justiz, Militär und Finanzen unter die Gerichtsbarkeit des Vize-Kg.s in →Lima und nicht mehr unter die des Präs. der kgl. Audienz von Quito. Anders jedoch verhielt es sich mit der Kontrolle über den Handel, der weiterhin Neu-Granada unterstellt blieb. Diese juristisch nicht unproblematische Trennung der Gerichtsbarkeiten führte zu Konflikten zwischen den Handelskonsulaten in →Cartagena und Lima. Die undurchsichtige Situation hielt bis 1820 an, wobei de facto G.s Handel sich mehr an Peru und weniger an Neu-Granada anschloß. Seit dem 17. Jh. entwickelte sich G. zu einer der bedeutendsten Hafenstädte und Werftstandorte an der Pazifikküste Südamerikas. Über den Hafen von G. wurde Holz, →Tabak, Chinarinde und seit den 1770er Jahren v. a. →Kakao nach Lima, →Panama und →Acapulco exportiert. Seit Beginn des 17. Jh.s bestand außerdem ein direkter Handel mit den Häfen Mittelamerikas; ab 1774 wurde der →Freihandel mit Neu-Spanien, NeuGranada, Peru und →Guatemala von der span. Krone zugelassen und seit 1813 auch mit den →Vereinigten Staaten und Großbritannien erlaubt. Die Plantagenwirtschaft an der Küste G.s führte zu verstärkter Migration indigener Bevölkerung aus dem Hochland. Waren es Anfang des 19. Jh.s noch 50 000 Ew. in der Gobernación von G., so stieg diese Zahl binnen 40 Jahren auf 86 000. Auch die Stadt G. wies eine steigende demographische Entwicklung auf. Während der ersten Hälfte des 18. Jh.s lebten dort ca. 5 000 Menschen. Zu Beginn des 19. Jh.s hatte die Stadt über 13 000 Ew., und 1840 betrug die Ew.zahl 18 000 – 20 000 Menschen. Am 9.10.1820 erklärte G. die Unabhängigkeit von Spanien und gab sich den Status der Provincia Libre de G. unter der Reg. von José Joaquín de Olmedo. 1822 kamen die Unabhängigkeitskämpfer Simón →Bolívar und José de →San Martín in der Stadt zusammen und bestimmten – ohne die Bürger G.s in ihre Entscheidung einzubeziehen – die Eingliederung der Provinz G. in den Distrito Sur der Rep. von →Großkolumbien. Nach der Auflösung von Großkolumbien schloß sich G. am 19.5.1830 der neu gegründeten Rep. von Ecuador an. Michael T. Hamerly, A Social and Economic History of the City and the District of Guayaquil During the Late Colonial and Independence Periods, Ann Arbor 1970. Jorge Núñez, Guayaquil, una ciudad colonial del trópico, Guayaquil 1997. G A LA X IS B O R JA G O N ZÁ LEZ Guerilla in Lateinamerika. G. ist die Verkleinerungsform vom span. Wort guerra und kann mit Kleinkrieg übersetzt werden. Unter G. versteht man im Deutschen zumeist eine Gruppe oder Organisation, die den Kleinkrieg als Methode zur Durchsetzung ihrer Ziele zur Anwendung bringt. Wer heute im weltgeschichtlichen Kontext über G. spricht, bezieht sich üblicherweise auf antikoloniale Kriege und Aufstandsgewalt in außereuropäischen Regionen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Zeit des Kalten Krieges. Dies trifft auch auf L. zu, doch reicht in dieser Weltregion das Phänomen G. bis in die Unabhängigkeitskriege zwischen 1810 und 1825 zurück. Fast in jeder Phase der geschichtlichen Entwicklung des 315
g u e r i l lA i n l At ei n Am er i k A
postkolonialen L. griffen einzelne Gruppen der Gesellschaft zum Mittel des Kleinkrieges: Guerilleros waren wichtige Akteure in den meisten Bürgerkriegen des 19. Jh.s, in der Mexikanischen Revolution, im Aufstand General César Augusto Sandinos gegen den →US-Interventionismus in Nicaragua und in der →Violencia in →Kolumbien. Das Phänomen G. ist konstitutiv für die politische Kultur vieler Länder in L. Dabei besteht ein kausaler Zusammenhang mit der unvollkommenen Herausbildung politischer Institutionen und unerfüllten Partizipationserwartungen bei Teilen der Bevölkerung. In der Zeit des Kalten Krieges gab es beinahe in allen lateinam. Ländern G.-Bewegungen. In Kolumbien, →Peru und →Mexiko überlebten sie das Ende des Kalten Krieges. Ungeachtet der oftmals normativen Aufladung des Begriffs G. in der öffentlichen Debatte ist er bereits seit dem 19. Jh. als analytische Kategorie verwendet worden. Carl von Clausewitz hob am Beispiel des span. Aufstandes gegen die napoleonischen Truppen 1808–1814 die Funktionalität des Kleinkrieges als militärische Methode für Gruppen hervor, die ihrem Gegner in der direkten Konfrontation unterlegen waren. Er betonte folgende Merkmale: Kleinkriege werden im Inneren eines Landes zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen geführt. Diejenigen, die zu dieser Methode greifen, machen „Politik auf andere Art und Weise“. Die Guerilleros sind in der Zivilbevölkerung verankert. Im G.-krieg entscheiden nicht einzelne Schlachten über Sieg und Niederlage der verfeindeten Parteien, denn es stehen sich keine großen Heere gegenüber. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen, die sich auf weite geographische Flächen verteilen. Die Kampfzonen, in denen kleine Verbände aufeinandertreffen, sind häufig unübersichtlich, unwegsam, abseits der großen Agglomerationen gelegen. Die von →Mao Zedong auf Grund seiner Erfahrungen auf dem Wege der Machteroberung in China entworfene Theorie des verlängerten Volkskrieges hebt zudem die Bedeutung „befreiter Gebiete“ hervor, die den Kämpfern als Rückzugs-, Schutz- und Aufmarschräume sowie als Ort zur Ausbildung dienen. Diesen Zonen kommt eine Vorbildwirkung zu, denn sie zeigen modellhaft den Vorgriff auf die vorgestellte (sozialistische) Gesellschaft. In L. bezog sich insb. der Sendero Luminoso, der Peru Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in Atem hielt, auf diesen Ansatz. Wichtiger für lateinam. G.-Bewegungen waren allerdings die Überlegungen des argentinischen Arztes Ernesto Guevara, der in →Kuba Fidel Castro bei seinem G.-kampf assistierte. Die von ihm auf Grund dieser Erfahrung entworfene sog. foco-Theorie betont das Gewicht kleiner bewaffneter Gruppen von 15 bis 20 Partisanen, die als Kern der Befreiungsbewegungen auf dem Lande einen revolutionären Herd bilden und den Kampf initiieren. Von dort trägt diese Avantgarde, nach Maßgabe der revolutionären Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, die Rebellion in die Bevölkerung, um schließlich mit der Unterstützung des Volkes – gemeint sind v. a. Campesinos und Landarbeiter – die Hauptstadt zu erobern, den Staat zu übernehmen und die revolutionäre Umgestaltung anzuschieben. Die foco-Theorie fand Nachahmer in →Venezuela, Kolumbien, →Guatemala, Peru, →Bolivien, Nicaragua und 316
El Salvador. Die Anhänger der foco-Theorie und des verlängerten Volkskrieges der 1960er und 1970er Jahre sind aber, gemessen am Ziel der Machteroberung, der sozialen Revolution und der Konsolidierung des Sozialismus, kläglich gescheitert. Zwei Gründe sind dafür v. a. verantwortlich: Erstens war die Gesellschaftskonzeption dieser Bewegungen realitätsfern, denn die im Zuge der →Urbanisierung wachsende städtische Bevölkerung konnte mit dem Ideal des bäuerlichen und industriellen Sozialismus wenig anfangen. Sie fühlte sich in den von den Guerilleros vorgestellten Nationen zu wenig repräsentiert. Zweitens unterschätzten die Comandantes die Lernfähigkeit der staatlichen Sicherheitskräfte in der Aufstandsbekämpfung. Sie ließen die Erfahrungstatsache außer Betracht, daß staatlicher Terror einschüchternd und frustations- und apathiefördernd wirken kann. So wurde die Erwartung, daß die G.-Aktivitäten das wahre (Repressions)-Gesicht des Staates aufdecken und dadurch diesen delegitimieren würde, enttäuscht. Der Funke sprang zumeist nicht über, der angestrebte Flächenbrand blieb aus. In vielen Ländern etablierten sich nach Militärputschen →autoritäre Regime, und die G.Organisationen erlitten schwere Rückschläge oder lösten sich sogar ganz auf. Die verbliebenen oder neu gegründeten Aufstandsorganisationen in L. paßten sich diesen neuen Gegebenheiten an: Ein Teil der G.-Organisationen, die sich auf Texte des Brasilianers Carlos Marighella stützten, verzichtete auf den Primat der territorialen Expansion in ländlichen Gebieten und konzentrierte den Kampf von Anfang an auf die strategisch bedeutsamen Städte. Sie nahmen Mittel- und Unterschichten in den Städten als revolutionäre Subjekte in den Blick und rekrutierten ihre Mitglieder teilweise auch aus dem studentischen Milieu. Um Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu gewinnen, wendeten sie Robin Hood-Methoden an, sektiererische ideologische Auseinandersetzungen wurden wenn möglich vermieden. Die Tupamaros in Uruguay, die Montoneros in →Argentinien und die M–19 in Kolumbien können teilweise als Stadt-G. bezeichnet werden. Die Tupamaros und die Montoneros waren aber auf Grund fehlender Rückzugsmöglichkeiten bereits in den 1980er Jahren vernichtend geschlagen, der M–19 reintegrierte sich – als linksdemokratische Partei – nach erfolgreichen Friedensverhandlungen zu Beginn der 1990er Jahre in das demokratische System Kolumbiens. Einen anderen Weg ging der Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) unter dem charismatischen Comandante Marcos, der ab 1994 im mexikanischen Armenhaus Chiapas in Erscheinung trat. Die vorwiegend aus Indigenen bestehende Gruppierung war zwar militärisch schlecht ausgerüstet. Ihr gelang es jedoch dank einer raffinierten Kommunikationsstrategie über die Massenmedien, eine breite soziale Bewegung in ganz Mexiko sowie eine internationale Solidaritätswelle zu initiieren, die sie gegen die Vernichtung durch die mexikanischen Sicherheitskräfte quasi immun machte. Im Unterschied zur Stadt-G. in Südamerika und dem ethnischen EZLN in Mexiko versuchten die G.-Organisationen in den Andenländern nicht, die Unterstützung der Lokalbevölkerung mit guten Werken und einem überzeugenden gesellschaftlichen Projekt zu gewinnen. Sie sicherten ihre Po-
gu i n eA- k ü s te
sition vielmehr durch die Einschüchterung der Lokalbevölkerung und →Massaker an Abtrünnigen. Sie zeigten ihre Zerstörungsmacht sodann in selektiven Sabotageakten, etwa bei der Sprengung von Strommasten, Erdölpipelines und Brücken. Der Verfolgung versuchten sie sich durch die massenhafte Verlegung von Personenminen zu entziehen. Ihre Mitglieder, zu denen in zunehmendem Maße zwangsrekrutierte Kindersoldaten und Frauen gehörten, waren nur rudimentär politisch geschult. Sie wurden in eine hierarchische Befehlsstruktur mit harten Strafen für diejenigen, die es wagten, den Gehorsam zu verweigern, integriert. Beispiele dafür sind der Sendero Luminoso in Peru sowie der Ejército de Liberación Nacional (ELN) und die Fuerzas Armadas Revolucionarias (FARC) in Kolumbien. Diese Gruppierungen verbesserten ihr finanzielles Fundament, indem sie Tausende Hacendados u. a. Begüterte entführten, um Lösegeld („Kriegssteuern“) oder andere Dienste zu erpressen. Darüber hinaus finanzierten sie sich teilweise durch Einnahmen aus dem Handel mit →Drogen. Dabei gerieten sie in brutale Gebietskämpfe mit den Drogenhändlern und den Paramilitärs. Diese Form der G. war insofern erfolgreich, als daß sie das Ende des Kalten Krieges und der ideologischen Systemgegensätze überlebte. Aber sie sah sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, daß ihre Ziele die Mittel nicht rechtfertigten und die zu kriminellen, terroristischen Organisationen verkommen waren, denen es an breiter Unterstützung aus der Bevölkerung fehlte. Thomas Fischer, 40 Jahre FARC in Kolumbien, in: Sozial. Geschichte, N.F. 20 (2005), 77–97. Steve J. Stern (Hg.), Shining and Other Paths, Durham 1998, 22005. Timothy Wickham-Crowley, Guerrillas and Revolution in Latin America, Princeton 1992. T HOMAS F I S CHE R Guinea. Frz.-G. war 1890–1958 der offizielle Landesname. Seitdem lautet die Staatsbezeichnung GuinéeConakry – zwecks Abgrenzung vom lusophonen Nachbarstaat →Guinea-Bissau. Die Bezeichnung G. (aus „Ginahoa“/„Gheneoa“) wurde im 15. Jh. von den Portugiesen geprägt und bezeichnete →Ghana oder Ghina, das mittelalterliche westafr. Reich. (Das auf dem Gebiet liegende Kgr. Futa Djalon wurde erst 1725 gegründet.) Der Begriff G. wurde dann auf das ganze westatlantischen Küstengebiets vom →Senegal bis zur →Elfenbeinküste und im weiteren Sinn für die gesamte afr. Küste bis zum →Kap der guten Hoffnung verwendet. Die Kolonie Frz.G. wurde erst am Ende des 19. Jh.s gegründet. Sie umfaßte ein Gebiet großer ethnischer und geographischer Vielfalt mit vielen Bodenschätzen (Bauxit, Tonerde, Gold, Diamanten). Die Raumgliederung sowie die dominanten →Ethnien (→Fulbe 40 %, Malinké 26 %, Susu 11 %) bilden noch heute die Grundlage für die Teilung G.s in vier Großregionen: Niederguinea (oder Maritimes G.), Oberguinea, Mittelguinea, Regenwaldgebiet. Die planmäßige Entwicklung der Kolonie G. begann 1890 mit Eugène Ballay, dem ersten Gouv. Nach der Gründung →Conakrys, der zukünftigen Hauptstadt G.s, bekam Frankreich von England 1904 die Los-Inselgruppe, bevor beide Kolonialmächte 1911 die Grenze zu →Liberia festlegten. Von Conakry aus erreichte 1914 die Eisen-
bahn Kankan im Osten. Kautschuk und →Bananen wurden zu Hauptexportprodukten. Letztere waren vor dem →Zweiten Weltkrieg vom Gouv. Poiret in Mittelguinea (Futa-Djalon-Region) eingeführt worden und traten an die Stelle des Kautschuks nach dessen Erschöpfung 1910. Nach der Unabhängigkeit war Sékou →Touré von 1958 bis 1984 erster Staatspräs. Sein Nachfolger, General Lansana Conté, setzte die präsidiale Autokratie trotz einiger Reformen fort und regierte bis 2008. Richard F. Burton, Wanderings in West Africa, New York, 1991. Odile Georg, Pouvoir colonial, municipalités et espaces urbains, Bd. 1, Paris 1997. Thomas O’Toole / Janice E. Baker, Historical Dictionary of Guinea, Lanhma 2005. Y O U SSO U F D IA LLO Guinea-Bissau. Staat in Westafrika, der aus der ehem. Kolonie Port.-Guinea hervorgegangen ist. Der Ostteil des heutigen G.-B. war seit dem 13. Jh. Teil des bis 1867 bestehenden Mandingo-Kgr.s von Gabu. Ab Mitte des 15. Jh.s errichteten port. Seefahrer eine Reihe von Handelsstützpunkten an der oberen →Guinea-Küste, die sich zu bedeutenden Umschlagplätzen des bis Mitte des 19. Jh.s dauernden →Sklavenhandels entwickelten. Das 1588 gegründete Cacheu wurde zum Hauptort des von den Kapverdischen Inseln aus verwalteten Distriktes Guinea. 1879 wurde Port.-Guinea eine eigenständige Provinz mit der auf der gleichnamigen Insel gelegenen Hauptstadt Bolama. Die territoriale Kontrolle erreichten die Portugiesen erst zwischen 1879 und 1936 in diversen Feldzügen gegen die verschiedenen lokalen Bevölkerungsgruppen. 1941 wurde die Hauptstadt nach →Bissau verlagert. Auf Grund der schwachen kolonialen und staatlichen Durchdringung konnten einige →Ethnien ihre Eigenständigkeit bis heute bewahren. In den 1950er Jahren formierte sich unter der Regie der PAIGC (Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde) und ihrem Führer Amilcar Cabral zunehmend Widerstand gegen die port. Herrschaft. Ab 1963 kam es zum bewaffneten Kampf, der 1973/74 mit der Unabhängigkeit von G.-B. endete. Nach der Unabhängigkeit orientierte sich G.-B. zunächst an den kommunistischen Ländern, bevor es ab Mitte der 1980er Jahre marktwirtschaftliche Reformen einleitete. Nach einem Putsch 1980 wurde das Projekt des Zusammenschlusses mit →Kap Verde aufgegeben. Intern kam es in der Folge zu einer Reihe von Umsturzversuchen. Das Land blieb politisch instabil. Nach einer Armeerevolte brach 1998/1999 ein Bürgerkrieg aus, in den Truppen aus dem →Senegal und der Rep. →Guinea eingriffen. Joshua Forrest / Richard Lobben, Historical Dictionary of the Republic of Guinea-Bissau, London 1996. Joshua B. Forrest, Guinea-Bissau, London 1992. MA N FR ED STO PPO K
Guinea-Küste. Der Begriff →Guinea ist vermutlich von dem berberischen (→Berber) Wort aginaw, d. h. Schwarze bzw. Dunkelhäutige abgeleitet. Seit Beginn der systematischen Erkundung der südlichen Seewege durch die Portugiesen im 15. Jh. wurde der gesamte Küstenverlauf des westlichen Afrika zwischen dem →Senegal und dem Kunene im Süden →Angolas von den Europäern als 317
g u j A rAt
G.-K. benannt. Die von Westen und Süden tief in den afr. Kontinent eindringende Bucht des →Atlantischen Ozeans erhielt dementspr. die Bezeichnung Golf von Guinea. Eingeteilt wird die Küste in Oberguinea vom Kap Verde bis zum →Kamerunberg und in Niederguinea südlich davon bis zur Kunene-Mündung. Die Küstenabschnitte Oberguineas wurden nach den bis ins 19. Jh. dominierenden Handelsgütern in Pfefferküste, →Elfenbeinküste, Goldküste und →Sklavenküste differenziert. An der gesamten G. mit Ausnahme Angolas, wo der nach Norden streichende kalte Benguela-Meeresstrom das Abregnen mindert, herrscht ein feuchtheißes äquatoriales →Klima mit hohen Niederschlägen (am Kamerunberg 11 000 mm pro Jahr) vor. Endemische Tropenkrankheiten stellen eine schwerwiegende Gefährdung der Lebensgrundlagen für die einheimischen Bevölkerungen dar, und die gesamte Region war bis ins 20. Jh. hinein als „Grab des weißen Mannes“ berüchtigt. Die Küstentiefländer sind zum Großteil von Mangrovenwäldern, Lagunen und verästelten Flußmündungen bedeckt, die nur wenige günstige Hafenplätze bieten. Außerdem herrscht eine starke Brandung (Kalema), die den Fischfang und das Be- und Entladen der auf Reede liegenden Schiffe erschwert. Diese Tatbestände wirkten sich zweifellos als ein Hemmnis für die Ausbildung einer einheimischen Seefahrerkultur an der G. aus. Heute ist die G., an der 19 Festland- und Inselstaaten Anteil haben, auf Grund von Städten mit modernen Häfen und industriellen Fertigungszentren sowie Plantagen und Erdölfundstätten ein wirtschaftlicher Aktivraum für das Hinterland. UL RI CH BRAUKÄMP E R
Gujarat. Bundesstaat im westlichen →Indien (gegründet 1960, Hauptstadt: Gandhinagar). G. beheimatet verschiedene religiöse Gruppen wie Hindus (→Hinduismus), Muslime, Jainas (→Jainismus) und →Parsen. Die umfangreiche Geschichte der Region reicht bis in die Zeit der Harappa-Zivilisation zurück. 1298 besetzte Alauddin Khilji, das Gebiet für das →Delhi-Sultanat. Infolge der Plünderung →Delhis durch die Mongolen unter Timur (1398) wurde G. politisch unabhängig, fiel jedoch 1576 durch →Akbar wieder unter imperiale Oberhoheit (→Moguln). Nach dem Zerfall dieser Vorherrschaft im 18. Jh. wurden weite Teile G.s. von den →Marathen besetzt. Nach dem Ende der Marathenkriege im frühen 19. Jh. wurden weite Teile der Region durch die brit. kolon. Herrschaft einverleibt (→British Raj) und der →Bombay Presidency hinzugefügt. Daneben blieben Enklaven aus halbautonomen Fürstentümern, wie z. B. die Herrschaft der Gaekwads von Vadodara, bestehen. Die Küste G.s konnte sich traditionell bedeutender Hafenstädte wie Bharuch oder Surat rühmen und das Hinterland war für Handels- und Industriezentren wie Ahmedabad, wegen seiner blühenden Textilindustrie auch das „Manchester des Ostens“ genannt, bekannt. Die Region war eines der Zentren des →Ind. Nationalismus, u. a. stammte →Gandhi aus der Küstenstadt Porbandar. Asghar A. Engineer, The Muslim Communities of Gujarat, Delhi 1989. Kumar S. Singh u. a. (Hg.), Gujarat, Mumbai 2003. S OUME N MUKHE RJE E 318
Gulag. Akronym für die „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“ (russ. Glavnoe Upravlenie Ispravitel’no-trudovych lagerej), die das Repressionssystem in der Sowjetunion unter Stalin organisierte. Die Lager konzentrierten sich v. a. auf →Sibirien und Mittelasien (→Kasachstan). Schon im Zarenreich waren politische Gegner und Kriminelle nach Sibirien verbannt worden. Auch Stalin selbst hatte zwischen 1913 und 1917 die Verbannung in Krasnojarsk verbracht. Ausmaß und Struktur des G. lassen sich jedoch nicht mit dem zaristischen Verbannungssystem vergleichen. Der G. war ein spezifisches Terrorinstrument des Stalinismus. Erste Internierungslager für sog. Klassenfeinde, politische Oppositionelle sowie Kriminelle waren bereits unter Lenin eingerichtet worden. Sie unterstanden der Geheimpolizei Tscheka. Bekannt war das Lager auf den Solowki-Inseln, einer Inselgruppe im Weißen Meer in der Nähe von Archangelsk. Hier entstand der Prototyp des späteren G. Eine Ausweitung des Lagersystems fand ab 1927/1928 vor dem Hintergrund der Zwangskollektivierung und der forcierten →Industrialisierung statt. Der Abbau von →Rohstoffen (Kohle, Erze), überhaupt die industrielle Erschließung des hohen Nordens, des →Urals, Sibiriens und Mittelasiens beruhte auf →Zwangsarbeit. Der G. war daher nicht nur ein Repressionssystem, sondern auch eine Wirtschaftsorganisation. Insg. belief sich die Anzahl der G. – Häftlinge von Ende der 1920er Jahre bis zur Auflösung des G. Mitte der 1950er Jahre auf schätzungsweise 18–20 Mio. Menschen. Nach den Historikern Getty und Rittersporn sind zwischen 1934 und 1953 1 053 929 Menschen in den Lagern umgekommen. Nach Auflösung des G. gab es bis zum Ende der Sowjetunion jedoch weiterhin sog. „Besserungsarbeitskolonien“. Zur ersten kritischen Aufarbeitung kam es in der Tauwetter-Literatur wie z. B. Alexander Solschenitsyns Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch, schließlich in seinem Werk Der Archipel G. (erschienen in Paris zwischen 1973 und 1975). Simon Ertz, Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem, Berlin 2006. Paul Gregory / Valery Lazarev (Hg.), The Economics of Forced Labor: The Soviet Gulag, Stanford 2003. Oleg V. Khlevniuk, The History of the Gulag: From Collectivization to the Great Terror, New Haven 2004. EVA -MA RIA STO LB ER G Guyana →Essequibo, →Schomburgk, Robert Haast, Julius von, * 1. Mai 1822 Bonn, † 16. August 1887 Christchurch, □ Avonside Anglican Parish Cemetery / Christchurch, rk., anglik. H. studierte an der Universität Bonn →Geologie und Mineralogie. Während einer Neuseelandreise unternahm er mit Ferdinand von →Hochstetter verschiedene →Expeditionen auf der Nordinsel. Im Zuge der regionalen Erkundung Canterburys auf der Südinsel stieß H. auf diverse Kohle- und Goldvorkommen. Heinrich Ferdinand von Haast, The Life and Times of Sir Julius von Haast, Wellington 1948. Julius von Haast, Geology of the Provinces of Canterbury and Westland, New Zealand, Christchurch 1879. SU SA N N E FISCH ER
h A ci en d A
Haber, Eduard, * 1. Oktober 1866 Risa, † 14. Januar 1947 Tübingen, □ aufgelassen, rk. Studium mit Schwerpunkt Montanwesen. 1893 Bergassessor. 1894–1896 Lehrauftrag der Bergakademie Berlin. 1896–1899 Explorationstätigkeit für Dt. Bank in →Kanada (Ölsände), →USA (Molybdänerz), Westaustralien und Neuseeland. 1900 Eintritt in Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes. 1901 Referent für Bergwesen in →Dt.-Ostafrika. Dort maßgebend an Erschließung der Goldmine Kironda beteiligt. 17.6.1903 Ernennung zum 1. Referenten des Gouvernements. 1905 und 1906 zeitweilig Vertreter des →Gouv.s. 20.5.1907 Berufung ins neue →Reichskolonialamt als Geheimer Regierungsrat u. vortragender Rat. 1910 Geheimer Oberreg.srat. Ende 1913 Versetzung nach →Dt.-Neuguinea, zunächst als Vertreter des Gouv.s. Nach dessen Rückreise in die Heimat geschäftsführender Gouv. Bei Kriegsausbruch im Morobegebiet, wo er das Vorkommen von Gold bestätigte. Führte die Kapitulationsverhandlungen mit dem australischen Oberst William Holmes im Sept. 1914 u. erreichte u. a. die unbehinderte Heimkehr aller Kolonialbeamten. 1915 Rückkehr nach Deutschland u. Tätigkeit für d. Deutsche Rote Kreuz in Rumänien, danach im Reichsdienst als Montanfachmann in Konstantinopel. Am 14.12.1917 offizielle Ernennung zum letzten Gouv. Dt.-Neuguineas. 25.4.1919 ersetzt Heinrich →Schnee als einziger Vertreter der Kolonialverwaltung bei der dt. Friedensdelegation in Versailles. Ende 1919 Übernahme der Leitung der Kohlenwirtschaftsstelle beider mecklenburgischer Volksstaaten. Im März 1920 Beauftragung mit Aufbau des Reichsausgleichsamtes. Am 22.5.1920 Ernennung zum Präs. dieser Behörde. 11.6.1923 Pensionierung. 27.9.1924 Ernennung zum Honorarprofessor an d. Bergakademie Clausthal-Zellerfeld. Im Herbst 1928 Mitgründer d. Gesellschaft Ruhrbergbau in Essen. 1929 Umsiedlung nach Tübingen. Ab 1930 Lehrbeauftragter für Kolonial- u. Wirtschaftsfragen an d. Univ. Tübingen. Dort 1935 Ernennung zum Prof. ohne Habilitation und 1936 Verleihung der Ehrensenatorwürde. Im Sommer 1945 „altersbedingte Entpflichtung“. H. galt seinen Zeitgenossen als äußerst geschickter Verhandlungsführer. Dies bewies er 1911/1912 bei den Marokko-Verhandlungen in Paris und 1914 bei der Kapitulation →Dt.-Neuguineas. Im Nov. 1932 Unterzeichnung des „Aufrufes dt. Hochschullehrer für Hitler“. 1933 Beitritt zum NSKK, 1937 zur NSDAP. Da offenbar ohne Entwicklung größerer Aktivitäten, 1946 Einstufung als Mitläufer. H. war zweimal verheiratet. Die erste Ehefrau starb 1906 in →Daressalam an einer Tropenkrankheit. Tübingen ehrte H. mit Benennung einer Straße. Wissenschaftlicher Nachlaß im Universitätsarchiv Tübingen. Fragmente des persönl. Nachlasses in priv. Hand. Eduard Haber, Deutsch-Neuguinea im Weltkriege, in: Festschrift für Carl Uhlig, Öhringen 1932, 131–140. H E R M A N N HI E RY / GE RHARD HUT Z L E R
Hacienda. Die H. war in der span. Kolonialherrschaft eine der wichtigsten Institutionen zur Ausbeutung und Kontrolle indigener Bevölkerung. Ihr Ursprung liegt in den Landschenkungen (mercedes) der span. Krone an die Conquistadores, an den illegalen Okkupationen von
mehr Land (ocupación) und v. a. im kolonialen System der →Encomienda. Dem span. encomendero wurde von der span. Krone ein begrenztes Territorium samt dessen Bewohnern anvertraut (encomendado), dazu gehörten meist auch die Landbesitze (volles Eigentum erst ab 1819) der haciendas. Die Bewohner sollten christl. erzogen werden, zugleich und v. a. sollte der encomendero aber auch die Möglichkeit erhalten, Tribute für die Krone einzufordern sowie die Arbeitskraft der indigenen Bevölkerung auszubeuten. Die indígenas wurden nicht als Leibeigene den Grundherren der Kolonien zugeordnet, sondern blieben als tributpflichtige Untertanen der kgl. Verfügungsgewalt unterstellt. Um ein kleines, schlecht bestellbares Landstück bewirtschaften zu dürfen und Zugang zu Feuerholz und Wasser zu erlangen, mußten die indigenen Familien in der Woche unbezahlte Arbeit auf der H. leisten. Die conciertos durften – solange sie ihre Schulden nicht abbezahlt hatten – die H. nicht verlassen. Wurde die H. verkauft, wechselten auch die conciertos (als sog. adscritos) in die Hände des neuen Besitzers. Dieses Ausbeutungssystem zwischen weißem Großgrundbesitz und indigenem Minifundismus wurde in →Ecuador huasigungaje, in →Peru yanaconaje, in →Bolivien pungaje genannt. Als H. wurden auch →Ingenios (→Fazenda) in Sklavereigesellschaften bezeichnet (→Kakao, →Karibik, →Kuba, →Kulihandel, →Zucker). Da die encomienda in der Alltagspraxis rasch erblich wurde, wurde sie so zur Grundlage der Macht der Großgrundbesitzer, die sich aus wenigen privilegierten Familien zusammensetzten und die bis weit ins 20. Jh. hinein ein zentraler Machtfaktor in den lateinam. Gesellschaften war. Um die Einflüsse der H. auf die Strukturierung der lateinam. Gesellschaften erfassen zu können, liefert der peruanische Sozialist José Carlos Mariátegui bereits zu Beginn des 20. Jh.s mit dem Konzept des „gamonalismo“ eine weitreichende Definition des H.-Komplexes welche ökonomische, politisch-kulturelle und ideologische Aspekte umfaßt. Dabei können im 19. und 20. Jh. drei politisch-kulturelle Grenzverschiebungen des H.-Dispositives unterschieden werden, die – trotz signifikanter regionaler und lokaler Abweichungen und Besonderheiten – einer pan-lateinam. Konjunktur unterliegen. Der Historiker Mark Thurner argumentiert, daß mit der Unabhängigkeitsbewegung zu Beginn des 19. Jh.s eine Transformation des Systems der „zwei Rep. en“ – einer weiß-mestizischen und einer indigenen – zu einem politischen System einer, aber einer geteilten Rep. zu beobachten ist. Der zweigeteilte Staat manifestiert sich entlang des Dualismus von Bürgern und Indigenen, der räumlichen Teilung von urban und ländlich sowie von Zentralstaat und lokalen Machthabern. Auf Grund der begrenzten Staatsbildungsprozesse und der geringen Durchsetzungskraft staatlicher Institutionen sowie der fehlenden Staatseinnahmen konnte das politische Problem des Regierens der indigenen Bevölkerung nicht durch den Zentralstaat gelöst werden. Besonders in den ländlichen Gebieten übernahmen die H.s – zusammen mit den tenientes políticos und der Kirche – diese Aufgabe. Damit wurde die Zweiteilung des politischen Raums aufrechterhalten und im Inneren der H. in Form des Latifundium-Minifundium Gegensatzes perpetuiert. 319
h Ä m o r r h A gis c h es fi eb er
Die Unabhängigkeit brachte dabei zunächst keine Veränderung im H.-Regime mit sich. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s ist ein Boom der H. festzustellen. Im Zuge einer Phase weltweiten Wirtschaftswachstums und dem Übergang zum Modell des →Desarrollo hacia afuera nahmen die lateinam. Exporte von Primärgütern rapide zu. Damit erhöhte sich der Druck auf landwirtschaftlichen Böden, und eine starke Konzentration von Land in den Händen weniger Familien der kreolischen (→Kreole) Elite war zu beobachten. Diese reagierten nicht nur auf die gesteigerte Nachfrage nach Agrargütern auf dem Weltmarkt, sondern versuchten auch der Fragmentierung des Landbesitzes – ein Ergebnis der Erbteilung – entgegen zu wirken. Dabei eigneten sich die Großgrundbesitzer in ganz →Lateinamerika Land von kleineren Landbesitzern und v. a. von indigenen Gemeinschaften an. Außerdem profitierten sie von der Veräußerung von Kirchenbesitz – oftmals durch liberale Gesetzesänderungen – und von der Erschließung von terrenos baldios, bspw. für die weltmarktorientierte →Kaffee- und Sisal-Produktion in Yucatán, →Mexiko oder für die Kaffee-Produktion in →Kolumbien. Hand in Hand mit dem Prozeß der steigenden Landkonzentration ist zudem eine weitere Konzentration von politischer Macht in den Händen der Großgrundbesitzer zu beobachten, die in dieser Phase ihre Blütezeit erlebte. In Ecuador war der Nexus zwischen H. und Staat so eng, daß von einem „H.-Staat“ gesprochen werden kann. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch der Status der indigenen Kleinbauern in den H.s. Der Soziologe Andrés Guerrero (2000) argumentiert am Beispiel Ecuadors, daß die formale Gleichheit und Universalisierung von Citizenship auf der Ebene des Zentralstaats in der Abschaffung des Indianer-Tributs (in Ecuador 1857, in Peru 1854) – eine Kopf-Steuer, die die Indigenen an den Staat zahlten – und dem Verschwinden ethnischer Kategorien in der Verwaltung (z. B. im Zensus) seinen Ausdruck findet. Die Schattenseite besteht darin, daß die Verwaltung der indigenen Bevölkerung de facto privatisiert wurde, indem sie den H.s übertragen wurde. Damit gab es für die indigenen Gemeinschaften keine Form der politischen Interessenvermittlung in den postkolonialen Staat mehr, statt dessen unterlagen sie der Willkür der Großgrundbesitzer. Ein tiefgreifender Bruch mit der Vorstellung eines „H.-Staates“ ist in dem radikal-liberalen sowie dem sozialistischen und kommunistischen Diskurs an der Jh.wende festzustellen. In dem vorherrschenden gesellschaftlichen Imaginarium der Modernisierung wurde die H. auf Grund ihrer traditionellen, „feudalen“ Produktionsweise und ihrer „unzivilisierten“ Ausbeutungsformen zunehmend als Entwicklungshemmnis betrachtet. In Ecuador wurden im Zuge der liberalen Revolution (1895) unter General Eloy Alfaro und dessen antiklerikaler Politik die H.s der Kirche und der Orden konfisziert und in Staatsbesitz überführt – ohne allerdings an den internen Ausbeutungsstrukturen in diesen H.s etwas zu verändern. In Mexiko führte die ungleiche Landverteilung unter dem Motto „Land und Freiheit“ zur ersten großen Revolution des 20. Jh.s. Neben diesen gewaltsamen Konfrontationen, versuchten die indigenen Bauern der H.s über Petitionen, rechtliche Klagen und Delegationen auf die zentralstaatliche Ebene 320
einzuwirken, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den H.s zu verbessern. Letztlich wurde die politischkulturelle Macht der H. erst mit den Agrarreformen der 1960er und 1970er Jahre gebrochen, die Schuldknechtschaft aufhoben und – begrenzt – Land an die Kleinbauern verteilt. Heute ist im Rückblick festzuhalten, daß mit den Agrarreformen die Bipolarität zwischen Großgrundbesitz und Kleinstbesitz nicht aufgehoben wurde. Zwar wurde die H. mit ihrem kolonialen System der Bindung von Arbeitskraft in einer Form der Schuldknechtschaft in ganz Lateinamerika aufgelöst, doch machte diese einem modernisierten agro-industriellen Sektor Platz, der kaum mehr Kontakte mit den Kleinstbauern unterhält. Für die indigenen Kleinbauern – deren Parzellen, verstärkt durch Erbteilung und das Erreichen der Agrargrenze – kaum das Überleben sichern können, begann damit ein Prozeß der Semi-Proletarisierung (→Klassen in Lateinamerika). Olaf Kaltmeier, Hacienda, Staat und indigene Gemeinschaften, in: Hans-Jürgen Burchhardt / Ingrid Wehr (Hg.), Der verweigerte Sozialvertrag, Baden Baden 2010. Brooke Larson, Trials of Nation Making, Cambridge 2004. José Carlos Mariátegui, Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, Berlin 1986. O LA F K A LTMEIER
Hämorrhagisches Fieber. Wird hervorgerufen durch verschiedene Virusarten. Meist handelt es sich um Zoonosen. Die entspr. Viren sind hochgradig infektiös und virulent. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch Kreislaufschock, Blutungsneigung und Multiorganversagen. Entspr. hoch ist die Letalität. H. wird vornehmlich in →Afrika, →Südostasien und Südamerika beobachtet. Folgende Krankheiten gehören zu dieser Gruppe: Lassafieber, südam. H., Krim-Kongo-Fieber, Hanta-Fieber, Ebola-Krankheit, Dengue-Fieber, West-Nil-Fieber u. a. sowie →Gelbfieber. James H. Gear (Hg.), CRC Handbook of Viral and Rickettsial Haemorrhagic Fever, Boca Raton 1988. D ETLEF SEY BO LD
Haenke, Thaddäus, * 6. Dezember 1761 Kreibitz (Chřibská), † 14. November 1816 Cochabamba, □ Convento de San Francisco de Cochabamba, rk. Der aus einer böhmischen Glasmacherfamilie stammende H. wurde wegen seines Rufes als Botaniker als einer der wenigen ausländischen Teilnehmer für die von Alejandro →Malaspina geleitete →Expedition in den Pazifik (1789–1794) ausgewählt. Er verpaßte die Abfahrt der Schiffe knapp und erreichte die Expedition erst 1790 nach einer Anden-Überquerung in Santiago de Chile. Er beschränkte sich nicht auf seine Arbeit als Botaniker, sondern studierte ebenfalls geologische, zoologische und kulturelle Phänomene, die ihm zunächst während der Malaspina-Expedition und danach auf seinen wissenschaftlichen Reisen durch Südamerika bis 1810 begegneten. Nachdem er sich in Cochabamba niedergelassen hatte, machte er v. a. durch seine chemischen und medizinischen Kenntnisse von sich reden. Nur ein Teil seiner Sammlungen erreichte Spanien unversehrt und ist heute zum großen Teil verstreut.
h Ah l, A lbert
Mercedes Palau, Emilio Soler, u. a. (Hg.), El paraíso ilustrado, Madrid 2006. AL E XANDRA GI T T E RMANN Hagen, Curt von, * 12. September 1859 auf Gut Schippenbeil / Ostpreußen, † 13. August 1897 nahe Yomba / Dt.-Neuguinea, □ Grabstein u. Grab Bogadjim, PapuaNeuguinea. Grab ca. 2003 v. Anhängern eines CargoKultes geöffnet u. Leiche entwendet, ev.-luth. Als Sohn des persönl. Adjutanten des Prinzen Albrecht v. Preußen (1871 geadelt) zur Offizierslaufbahn bestimmt. Nach Reitunfall 1886 dienstuntauglich. Versuch, neue Existenz mit finanzieller Hilfe des Schwiegervaters (Fabrikant) als Tabakpflanzer (→Tabak) auf →Sumatra (1888–1891) aufzubauen, scheiterte. Daraufhin Eintritt als Angestellter in Dienste der Astrolabe Cie., einer Tochtergesellschaft der →Neu-Guinea-Compagnie (NGC). Ab Juni 1893 Hauptverwalter der Pflanzung Stephansort (Bogadjim). Gründete die Station Erimahafen u. errichtete die erste Kleinbahn in Dt.-Neuguinea. Im September 1896 Übernahme der Geschäfte d. kommissarischen Landeshauptmanns u. st. 1.11.1896 Generaldirektor der NGC in der Kolonie. Aus einer langen Reihe unfähiger Administratoren der NGC ragt v. H. als tatkräftige Persönlichkeit heraus, der vor Ort unbürokratisch u. entschlossen agierte, sich aber allen Sandkastenplanungen →Hansemanns in Berlin widersetzte u. als standfest erwies. Deshalb Kündigung durch die NGC zum 30.9.1897. Am 13.8.1897 Übernahme der Leitung einer Expedition, durch die die Mörder des Weltreisenden Otto →Ehlers und seiner Begleiter festgenommen werden sollten. Dabei wurde er von dem mutmaßlichen Mörder Ehlers’, Ranga, einem ehemaligen Buka-Polizisten erschossen. Dieser wurde wenige Tage später von Einheimischen, die den ausgesetzten Kopfpreis kassieren wollten, getötet. Nach H. ist die größte Stadt im Hochland von →Papua-Neuguinea, Mt. H., benannt. Hermann Hiery (Hg.), Die dt. Südsee, Paderborn 22002, 291-292. David Monai, Curt von Hagen Monument Rehabilitation Project, in: Contemporary PNG Studies 16 (2012), 93–102. HE RMANN HI E RY Hahl, Albert, * 10. September 1868 Gern (Niederbayern), † 25. Dezember 1945 Gern, □ Familiengrab Gemeindefriedhof Gern, ev.-luth. Kleinbürgerliche Herkunft. Der Vater war Bauer u. Braumeister in Schwaben, die Mutter Tochter eines Buchbinders. Studium d. Rechtswissenschaften in Würzburg. 1893 Promotion über Geschichte des Wirtschaftsdenkens im mittelalterlichen England. 1894 Regierungsassessor bei der Reg. v. Oberfranken in Bayreuth. Juli 1895 Eintritt i. d. Kol.abtlg. des Ausw. Amtes. H. wollte eigentlich nach →Dt. Ostafrika, wurde aber wegen der Affäre um Maximilian Krieger schon im Herbst 1895 zum Kaiserl. Richter in →Dt. Neuguinea mit Sitz in →Herbertshöhe ernannt. Ankunft in der Kolonie am 1.1.1896. Der Neuem und Fremdem sehr aufgeschlossene u. sprachbegabte (er sprach Dt., Engl., Frz., →Kuanua, →Tok Pisin, Ponapesisch, etwas Malaiisch u. →Swahili) H. entwickelte schnell ein gutes Verhältnis zur einheim. Bevölkerung, insb. zur bestimmenden Ethnie seines Arbeitsgebietes, den →Tolai. Als Richter arbeitete er unkonventionell
u. übernahm indigene Rechtsvorstellungen (Verbindg. zwischen Strafrecht u. Zivilrecht durch Übernahme des einheimischen Kompensationsprinzips in Strafurteile; Vorberatung u. Information durch einh. Älteste über indigene Rechtsvorstellungen u. Rechtsgewohnheiten). Seine undogmatische Flexibilität in der Übernahme indigener Rechtsanschauungen, verbunden mit einer bislang indigen so nicht bekannten Stetigkeit u. Hartnäckigkeit in der Ausführung seiner Urteile, brachten ihm Akzeptanz u. Prestige unter der einh. Bev. u. machten ihn zu einem erfolgreichen Schlichter indigener Stammesfehden. Gänzlich ohne militär. Mittel, stellte er persönlich aus Arbeitern der →Neu-Guinea-Cie. eine erste einheimische →Polizeitruppe auf. Bis 1898 legte er den Grundstein für eine bessere Infrastruktur (Wegebau) und für eine geordnete Kolonialverwaltung. Zu dieser zog er einheimische Älteste (sog. luluai, →Indirect Rule) heran. Sein Hauptratgeber war Tokinkin von Raluana, der etwas Deutsch verstand und um dessen Tochter H. vergeblich freite. H.s enge Verbindung zur einh. Bev. wurde durch eine eheähnliche Verbindung mit einer einh. Frau aus Käwieng (ein Sohn) auch allen Europäern deutlich. Im August 1897 Teilnehmer der Expedition von →Hagen gegen die Mörder von →Ehlers. Nach dem Tod von Hagens kurzzeitig geschäftsführender Landeshauptmann der NGC. Nach Ablauf seines 3-Jahres-Vertrages u. Ablösung durch Heinrich →Schnee Rückkehr nach Deutschland im Dezember 1898. Im Anschluß an den Erwerb der →Karolinen Ernennung zum Vizegouverneur des deutschen →Mikronesien mit Sitz in →Ponape (11.10.1898 – Mai 1901). Auch hier gelang ihm in kürzester Zeit die Herstellung ungewöhnlich guter Beziehungen zur einheim. Bevölkerung. Nach Herbertshöhe zurückberufen, war er seit 28.9.1901 offiziell Bezirksamtsmann, faktisch der Vertreter des →Gouverneurs von →Bennigsen. Wegen Schwarzwasserfiebers (→Malaria) frühzeitige Rückkehr nach Deutschland. Dort am 10.11.1902, anläßlich eines Empfangs beim Kaiser, von Wilhelm II. als Nachfolger Bennigsens zum Gouverneur von Dt.-Neuguinea ernannt. H., zu Amtsantritt erst 34 Jahre alt, gelang es in den folgenden 12 Jahren über den Ausbau von Infrastruktur u. Verwaltung (u. a. planmäßiger Aufbau von Regierungsstationen in der ganzen Kolonie, Hauptstadt war seit Anfang 1910 →Rabaul) das dt. Neuguinea zu einer prosperierenden Kolonie zu entwickeln. Dabei waren die Herstellung eines allgemeinen Landfriedens u. die Pazifizierung der traditionell durch kriegerische Konflikte u. →Blutrache von einander stark abgeschlossenen indigenen Bevölkerungsgruppen wohl sein größter Erfolg. Im März 1914 Rückkehr nach Deutschland. Zu Beginn des Weltkrieges freiwillige Meldung u. Infanterist in Würzburg u. Bamberg; ausgemustert. 4.5.1915 Vortragender Rat u. Wirkl. Geheimer Oberreg.rat im →Reichskol.amt. Mitte Juli 1916–1918 Beauftragter für Landwirtschaft und Landesentwicklung des →Osmanischen Reiches im Rang eines Vizeministers. Seine dabei entwickelten Pläne zur Wiederaufforstung von Teilen Anatoliens wurden durch die →Atatürk-Administration ab 1924 großenteils realisiert. Auf eigenen Wunsch am 21.9.1918 Ausscheiden aus dem Kol.amt u. Direktor der NGC (1.10.1918–30.6.1938). Vors. des Reichsverbandes 321
h A i d e r A bA d
der Kolonialdeutschen (1919). Auch auf Grund persönlicher Meinungsverschiedenheiten mit Ritter v. Epp und Heinrich Schnee stand H. der NS-Kolonialpropaganda reserviert gegenüber. Hahl war, zusammen mit dem deutlich älteren →Solf, wohl der fähigste Kolonialbeamte, den Deutschland besaß. Er heiratete am 1.2.1903 (in Genua, vor der Rückkehr nach Neuguinea als Gouverneur) Luise Bertha Marie Freiin von Seckendorff-Aberdar (* 6.8.1875 Wonfurt, † 11.10.1935 Berlin). Der Ehe entstammten zwei Töchter (geb. in Herbertshöhe u. RabaulNamanula) u. ein Sohn. Der fotografische Nachlaß H.s ist in Privathand. Der Verbleib des schriftl. Nachlasses (insb. seiner Tagebücher) ist ungeklärt. Q: Albert Hahl, Gouv.sjahre in Neuguinea, Berlin 1937, neu hg. v. Wilfried Wagner, Hamburg 1997. L: Peter Biskup, Dr Albert Hahl-Sketch of a German Colonial Official, in: The Australian Journal of Politics and History 14 (1968), 342–357. HE RMANN HI E RY Haiderabad. Bis 1947 Fürstenstaat (→Ind. Reiche) im Dekkanhochland mit gleichnamiger Hauptstadt. Die Stadt H. wurde 1589 von Sultan Muhammad Quli Qutub Shah neben seiner alten Hauptstadt →Golkonda gegründet, da diese an Wasserknappheit litt. 1687 eroberten die →Moguln das Qutub Shahi-Reich. 1724 konnte sich in den Thronwirren am Mogulhof der Nizam ul-Mulk (Reichsverwalter) Qamaruddin Qılıch Khan als Statthalter des Dekkan durchsetzten, erklärte sich autonom und bekam vom geschwächten Großmogul den erblichen Titel Asaf Jah verliehen. Fortan herrschten er und seine Nachfolger als Nizam (Verwalter) von H. de facto unabhängig. Sein Nachfolger, der schwache Salabat Jang Asaf Jah II. (1752–1762) ließ sich in die Rivalität zwischen Frankreich und Großbritannien hineinziehen, in deren Verlauf Frankreich durch den Frieden von Paris seinen Einfluß in →Indien verlor. 1762 putschte General Nizam Ali Khan und gelangte mit Unterstützung der Briten als Nizam Asaf Jah III. (1762–1802) an die Herrschaft. Im Gegenzug mußte er den Briten alle Küstendistrikte abtreten. In den Kriegen gegen den von Frankreich unterstützten →Tipu Sultan von →Mysore (1782–1799) war H. ein Verbündeter Großbritanniens und half damit, dessen größten Feind auszuschalten. Auch im →Ind. Aufstand von 1857 stand H. auf Seiten Großbritanniens. Als flächenmäßig größter Fürstenstaat genoß H. den ersten Rang unter den nominell autonomen Gebieten Indiens. Da von einer islamischen Elite regiert, bot es Karrierechancen für traditionell gebildete Muslime, die für einen Dienst bei der brit. Verwaltung nicht angenommen wurden. Die Bevölkerung war jedoch zu über 80 % hinduistisch (→Hinduismus). Am Ende der brit. Herrschaft versuchte der Nizam, Mir Osman Ali, sich die staatliche Unabhängigkeit zu sichern, wurde jedoch 1948 durch eine militärische Aktion zum Anschluß an Indien gezwungen. Das Staatsgebiet von H. selbst wurde 1956 durch die Neugestaltung der Verwaltungsgrenzen in Südindien aufgelöst. Kerrin von Schwerin, Indirekte Herrschaft und Reformpolitik im ind. Fürstenstaat Hyderabad, Wiesbaden 1980. Margrit Pernau, Verfassung und politische Kultur im Wandel, Stuttgart 1992. S T E P HAN P OP P 322
Haile Selassie, * 23. Juli 1892 in Edjersso (Prov. Harar), † 27. August 1975 Addis Abeba, □ unbek., Oberhaupt der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche Geburtsname Tāfari Mākonnen. Sohn des ProvinzGouv.s Ras Mākonnen und Großneffe des Negus Negesti Menelik II. Nach dessen Tod 1916 durch die christl.orthodoxe Aristokratie zum Regenten an der Seite der Ks.tochter Zauditu bestellt. 1923 erreichte er die Aufnahme →Äthiopiens in den →Völkerbund. 1924 untersagte er den →Sklavenhandel. 1928 verschaffte er sich eigenmächtig den Titel Negus (in der Bedeutung „VizeKg.“). Nach dem Tod Zauditus 1930 Krönung zum Negus Negesti („Kg. der Kg.e“). Annahme des Kronnamens H. (d. h. Macht der Dreifaltigkeit). 1931 gab der Ks. dem Land die erste, stark autokratisch geprägte Verfassung. Nach der Niederlage im 2. It.-Äthiopischen Krieg Exil in Großbritannien. 1941 Rückkehr nach der Besetzung des →It. Kolonialreiches in Ostafrika durch die Middle East Forces. In den folgenden Jahren Einleitung einer vorsichtigen ökonomischen Modernisierung. 1945 beteiligte sich das Land an der Gründung der UNO. 1955 verkündete der Ks. eine neue, die →Menschenrechte stärker berücksichtigende Verfassung. 1957 stimmte er der Einrichtung eines parlamentarischen Zweikammersystems nach brit. Vorbild zu. Reg. und Verwaltung blieben aber weiter in Händen der amharischen Aristokratie. In der Periode der Dekolonisierung Afrikas war H. einer der Sprecher der Unabhängigkeits-Bewegung. Er initiierte die →OAU. Als Repräsentant der „Blockfreien“ vermittelte er mehrfach erfolgreich bei Streitigkeiten zwischen afr. Staaten. Während einer Auslandsreise im Dez. 1960 unternahm sein ältester Sohn, Kronprinz Asfa Wossen, mit Hilfe von ihm ergebenen Armeeeinheiten einen Putschversuch, der blutig niedergeschlagen wurde. Ab 1970 lösten Versorgungsschwierigkeiten als Folge einer längeren Dürreperiode Unruhen im Land aus. Inflation und die verbreitete Korruption steigerten die allg. Unzufriedenheit mit der Reg. 1974 führten marxistisch orientierte Offiziere einen Militärputsch durch. Deren Anführer Mengistu erzwang am 12.9.1974 Abdankung und Verhaftung des Ks.s. Die offiziellen Angaben zu Todesart und -tag sind umstritten. G ERH A R D H U TZLER
Hailey, William Malcolm, * 15. Februar 1872 Newport Pucknell / Großbritannien, † 1. Juni 1969 London, □ Familiengruft Simla (Shimla), anglik. H., der 1936 geadelt und seitdem unter dem Autorennamen Lord H. geführt wurde, gilt als einer der namhaftesten Gestalter, Analytiker und Apologeten des brit. Imperialismus. Von 1894 bis 1934 war er in verschiedenen hohen Positionen im Kolonialdienst in →Indien tätig, wo er mit den von Mahatma →Gandhi und dem →Indian National Congress ausgelösten Unabhängigkeitsbestrebungen konfrontiert wurde. Danach begann er eine zweite Karriere in Afrika und regte dort als Berater des brit. Colonial Office u. a. Neuausgaben des „An African Survey – A Study of Problems Arising in Africa South of the Sahara“ (1938 und 1956) an. In diesem Werk wurde auf Betreiben H.s ein besonderer Fokus auf die Notwendigkeit politischen Wandels, wirtschaftlicher Reformen und moderner Entwicklungsimpulse gelegt. Ein weiteres
h Am bu rg er sü d s ee- e� Ped i ti o n
zentrales Augenmerk lag auf der Gestaltung und Reformierung des Systems der indirekten Herrschaft (→Indirect Rule), das ein Grundelement der brit. Kolonialadministration darstellte. Zu diesem Zweck führte Lord H. ausgedehnte Reisen in Afrika durch und war Mitglied im Aufsichtsgremium des →Völkerbundes, das nach dem Ersten Weltkrieg für die Verwaltung der Mandatsgebiete (der ehem. dt. Kolonien) eingesetzt worden war. Nach dem →Zweiten Weltkrieg behauptete H.s „An African Survey“ eine wichtige Rolle als Quellenwerk über Strategien, Erfolge und Mißgriffe des brit. →Kolonialismus in Afrika, das in der nunmehr einsetzenden Phase der Entkolonialisierung seit den 1950er Jahren der politischen Exekutive nutzbringende Orientierungshilfen bereitstellte. John W. Cell, Hailey. A Study in British Imperialism, 1872–1969, Cambridge 2002. UL RI CH BRAUKÄMP E R
Hambruch, Paul, * 22. Januar 1882 Hamburg, † 25. Juni 1933 Hamburg, □ Ohlsdorfer Friedhof Hamburg, ev.-luth. H. studierte Chemie, Mathematik, Anthropologie, Ethnologie und →Geographie in Göttingen und Berlin, u. a. bei Felix v. →Luschan und promovierte 1907 in Berlin über ein ethnologisches Museumsthema. 1907 und 1909 untersuchte und bekämpfte er im Auftrag der →Jaluit-Gesellschaft auf Nauru den Schädlingsbefall von Kokospalmen. 1909/10 nahm H. an der von Georg →Thilenius initiierten →Hamburger Südsee-Expedition teil. Dabei untersuchte er die Ruinen von →Nan Madol auf Ponape. 1911 wurde er ans Hamburger Museum für →Völkerkunde berufen. Ab 1914 wirkte er als Kustos in dessen indo-ozeanischer Abteilung, deren enzyklopädische Präsentation ihm zu verdanken ist. Nach Weltkriegsende hielt H. am →Hamburgischen Kolonialinstitut Vorlesungen zu überseeischen Kulturen mit Schwerpunkt Ozeanien. 1920 habilitierte er sich in Ethnologie und war von 1922 bis zu seinem Tod außerordentlicher Prof. für Völkerkunde an der neugegründeten Universität Hamburg. H. galt seinen Zeitgenossen als unkonventioneller kämpferischer Geist. Er setzte sich engagiert und kritisch mit der „Kulturkreislehre“ von Leo →Frobenius u. a. von ihm als „modisch“ empfundenen philosophischen Denkmodellen auseinander. Als Ergebnis der Südsee-Expedition veröffentlichte er wissenschaftliche Werke über Nauru (2 Bde., Hamburg 1914) und Ponape (3 Bde., Hamburg 1931–1936), außerdem Südseemärchen (Jena 1922) und Malaiische Märchen (Jena 1926). Herbert Tischner, Hambruch, Paul, in: NDB 7 (1966), 580f. GE RHARD HUT Z L E R Hamburger Bank. 1619 gegründete und seit 1816 als „Hamburger Giro-Bank“ firmierende Privatbank. Sie pflegte das Aktivgeschäft mit Warendarlehen und -vorschüssen sowie zu deren Refinanzierung die Hereinnahme kurz- und mittelfristiger Depositen. Ihre Bücher führte sie in der Rechenwährung Mark Banko, die mit 8,60 g Feinsilber definiert war. Sie nahm Einlagen in allen gängigen →Währungen entgegen und rechnete sie
zum Mittelkurs der Hamburger Börse am Tag der Hereingabe in Silber um. Ausleihungen tätigte die Bank nur gegen Verpfändung eingelagerter Ware (unter Übergabe von Orderlagerscheinen und Versicherungsdokumenten) und schwimmender Ware (unter KonnossementÜbergabe und Versicherung). In der Zeit des Dt. Bundes wurde ein Großteil der über die Hansestädte eingeführten →Rohstoffe und Lebensmittel über die H.B. finanziert, so →Baumwolle aus dem →Süden der USA, Schafwolle aus Australien, →Tee aus Ostindien, Kokosöl / Kopra aus der Südsee. Nach der Reichsgründung verlor die Bank durch die Einführung der Goldwährung und den seit 1873 eingetretenen Preisverfall für Silber schnell an Bedeutung. Ende 1875 stellte sie ihre Geschäftstätigkeit ein. Auf Mark Banko lautende Münzen oder Banknoten wurden nie in Umlauf gebracht. Zu der in Hamburg als Münze ausgeprägten Mark Kurant stand sie in mäßig schwankenden Relationen (nach 1815 100 Mark Banko ≈ 120 Mark Kurant). Markus A. Denzel, Handbook of World Exchange Rates, 1590 to 1914, Farnham-Burlington 2010, 191–193. Karl Helfferich, Die Reform des dt. Geldwesens, Bd. 1, Leipzig 1898, 178–180. Heinrich Sieveking, Die Hamburger Bank, in: J. G. van Dillen (Hg.), History of the Principal Public Banks Accompanied by Extensive Bibliographies of the History of Banking and Credit in Eleven European Countries, The Hague 1934, Ndr. London / New York 1964, 125–160. G ERH A R D H U TZLER Hamburger Südsee-Expedition. 1908–1910 erforschten Wissenschaftler der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung die Gebiete Melanesiens und →Mikronesiens. Auf Anregung des Leiters des Hamburger Völkerkundemuseums, Georg →Thilenius (1868–1937), sollten die Teilnehmer der →Expedition eine umfangreiche ethnographische Sammlung für das Völkerkundemuseum erwerben und in Verbindung mit den kolonialen Behörden Melanesiens den Rückgang der Bevölkerung im Bismarck-Archipel erforschen. Unter Leitung von Prof. Friedrich →Fülleborn (1866–1933) untersuchten der Ethnograph Otto Reche (1879–1966), der Ethnologe Wilhelm →Müller (Wismar) (1881–1916), der Zoologe Duncker, der Händler Franz Hellwig und der Maler Hans Vogel zwischen Juli 1908 und 1909 den melanesischen Raum. Sie erforschten die Inseln St. Matthias und Tench. Im Frühjahr 1909 gelang es den Forschern, erstmals Neupommern zu durchqueren. Zum Abschluß des ersten Jahres der Reise befuhren die Forscher auf ihrem Schiff, der Peiho, den Sepik (Ks.in-Augusta-Fluß) auf einer Länge von 480 km. Im zweiten Jahr übernahm Prof. Augustin →Krämer die Leitung der Expedition und führte die Forscher in den mikronesischen Raum. Besonders die →Palau-Inseln, die →Karolinen und die →Marshallinseln sollten nun untersucht werden. Als Malerin begleitete Elisabeth →Krämer-Bannow die Reise. Als weiteres Mitglied der Expedition trat der Ethnologe Paul →Hambruch hinzu. Ziel sollte es sein, die mikronesischen Kulturen u. Ethnien zu erforschen und die dt. koloniale Verwaltung in diesen Gebieten mit wissenschaftlich fundierten Ergebnissen zu stützen. Im Sommer 1910 kehrten die Forscher nach Deutschland zurück. Die 323
h A m b ur g i s c h e s k o l o n i A l i n s ti t u t
Ergebnisse der H. wurden in der Reihe „Ergebnisse der Südsee-Expedition“ bis 1954 publiziert. Neben volkskundlichen Ergebnissen konnten auch Erkenntnisse im Bereich der Zoologie und →Geologie gewonnen werden. Noch heute befinden sich im Hamburger Völkerkundemuseum zahlreiche Objekte u. Notizen (u. a. Tagebücher) der Forschungsreise in die Südsee, die ihrer Aufarbeitung harren. Hans Fischer: Die Hamburger Südsee Expedition, Frankfurt/M. 1981. ANDRE AS L E I P OL D Hamburgisches Kolonialinstitut. Das H.K. wurde 1908 auf Initiative von Hamburger Wissenschaftlern und Politikern, der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und des →Reichskolonialamts gegründet und ging 1919 gemeinsam mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in der Hamburger Universität auf. Die wichtigsten Initiatoren waren Werner von Melle als Hamburger Senator und Leiter der Oberschulbehörde und Bernhard →Dernburg als Direktor des Reichskolonialamts. Hauptaufgabe des H.K.s war zum einen die wissenschaftliche Forschung mit kolonialen Schwerpunkten und zum anderen eine hieran angelehnte Ausbildung von Kolonialbeamten. Angegliedert war eine „Zentralstelle für die dt. Kolonien“ zur Sammlung von Informationen für politische oder wirtschaftliche koloniale Zwecke. Am H.K. entstanden innerhalb weniger Jahre Abteilungen für Nationalökonomie, Geschichte, Öffentliches →Recht, außereuropäische und europäische Sprachen, →Geographie und →Völkerkunde. Bedeutend war ferner die Zusammenarbeit mit dem seit 1900 in Hamburg bestehenden „Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten“. Organisation und Finanzierung des H.K. oblagen vollständig der Stadt Hamburg. Das Reichskolonialamt stand durch einen Kommissar in Verbindung mit ihm, ohne nennenswerten Einfluß zu nehmen. Leitungsgremium war ein aus den zwölf Direktoren der Hamburger „Wissenschaftlichen Anstalten“ gebildeter „Professorenrat“, dem Werner von Melle als Senatskommissar mit umfassenden Befugnissen vorstand. Außerdem existierte ein dreiköpfiger „Kaufmännischer Beirat“, um Hamburgs Bedeutung als Handelsmetropole zu unterstreichen. 1911 bezog das H.K. ein von Edmund Siemers gestiftetes Vorlesungsgebäude, das heute als Hauptgebäude der Universität Hamburg dient. Das H.K. konkurrierte mit dem „Seminar für Orientalische Sprachen“ in Berlin um spezialisierte Wissenschaftler und um die Anerkennung als führende Institution für Kolonialwissenschaften und Kolonialausbildung in Deutschland. Neben den an das Institut beorderten Kolonialbeamten waren zudem zahlreiche Privatleute immatrikuliert; für den Zeitraum von Okt. 1908 bis Mai 1919 weisen die Matrikel insg. 606 Einträge auf. Die Wirkung der Ausbildungstätigkeit auf Verwaltungs- und Herrschaftspraxis in den dt. Kolonien läßt sich nur schwer ermitteln. Schließlich war das hamburgische Interesse an der Schaffung einer Grundlage für eine eigene Universität für die Entstehung und den Betrieb des H.K.s neben den kolonialpolitischen Motiven ebenso entscheidend. Werner von Melle, Dreißig Jahre Hamburger Wissenschaft 1891–1921, Hamburg 1923/24. Jens Ruppenthal, 324
Kolonialismus als „Wissenschaft und Technik“, Stuttgart 2007. JEN S RU PPEN TH A L Hamilton-Gordon, Sir Arthur, 1st Baron Stanmore (1893), * 26. November 1829 London, † 30. Januar 1912 London, □ All Souls Churchyard, South Ascot / England, anglik. G. war der jüngste Sohn des vierten Earls of Aberdeen und Premierministers Großbritanniens (1852–1855), George Hamilton-Gordon. 1851 schloß er sein Studium am Trinity College (Cambridge) ab. 1852 wurde er Privatsekretär seines Vaters. Zwischen 1854 und 1857 war G. Mitglied des brit. Parlaments (Unterhaus). 1858 arbeitete er als Privatsekretär →Gladstones auf den ionischen Inseln. Anschließend diente er als Vize-Gouv. in New Brunswick (1861–1866), Gouv. von Trinidad (1866–1870), →Mauritius (1870–1874), →Fidschi (1875–1880), Neuseeland (1880–1882) und Ceylon (1883–1890), sowie als High Commissioner des westlichen Pazifiks (1877–1882). Gerade in den →Kronkolonien bestimmte er die Kolonialpolitik wesentlich. In Trinidad reformierte er das Landrecht und das Bildungssystem und setzte sich – wie in Mauritius – für die Rechte der ind.-stämmigen Arbeitsimmigranten ein. In Fidschi prägte sein Protektionismus hinsichtlich der indigenen Bevölkerung (Landrechte, Verwaltungsstrukturen, Arbeitspolitik und Steuersystem) die Kolonialpolitik maßgeblich. Noch vor →Lugard in →Nigeria band G. traditionelle Autoritäten in die koloniale Administration ein (→Indirect Rule). Nach seiner Pensionierung 1893 beeinflußte G. weiterhin als Mitglied des brit. Oberhauses koloniale Angelegenheiten. Im selben Jahr erfolgte die Adelung zum Baron von Stanmore (Middlesex). James K. Chapman, The Career of Arthur Hamilton Gordon, Toronto 1964. John D. Legge, Britain in Fiji 1858–1880, London 1958. D O MIN IK E. SC H IED ER Handelskompanien, portugiesische. Staatlich privilegierte Handelskompanien waren ein v. a. von den nordeuropäischen Kolonialmächten erfolgreich eingesetztes Modell der Handels- und Herrschaftsexpansion. Sie arbeiteten auf der Basis von Aktienemissionen und übernahmen politisch-militärische Funktionen, die traditionell zu den Aufgaben des Staates gehörten, konnten dabei aber auf das Kapital privater Investoren zurückgreifen. In Portugal gab es bereits vor der Entstehung der klassischen Handelskompanien Explorationskontrakte (asientos) für eine Reihe von Handelswaren, wie →Pfeffer, →Tabak und Sklaven, die an private Investoren verpachtet wurden. Als die 1600 gegründete engl. und die 1602 gegründete ndl. Ostindienkompanie (→Ostindienkompanien) dem port. Handel in Asien ernsthafte Konkurrenz machten, wurde auch in Portugal die Einführung entspr. Kompanien angeregt. 1619 gründete die Krone eine Kompanie für den Ostindienhandel, die jedoch erst 1625/26 über ausreichend Kapital verfügte. Da von diesem weniger als 0,2 % von Privatanlegern stammte, war das Projekt im Grunde bereits gescheitert. Dennoch erhielt sie 1628 Statuten und das Monopol für den Handel mit Pfeffer, Korallen, Ebenholz und Kaurimuscheln, bevor sie 1633 wieder aufgelöst wurde. 1649 wurde eine
h An o i
Kompanie für den Brasilienhandel gegründet, welche die port. Handelsschiffe vor Überfällen schützen und die Rückeroberung Nordostbrasiliens von den Holländern unterstützen sollte. Im Gegensatz zur ersten Kompanie war diesmal das Kapital, das im Ausland ansässige Aktionäre investierten, vor der Konfiszierung durch die Inquisition gesichert. Ob dies für die Entwicklung der Kompanie von Bedeutung war, ist umstritten. Die von der Inquisition besonders gefährdeten Neuchristen steuerten nur einen Kapitalanteil von ca. 20 % bei. Die Kompanie verfügte über 36 Kriegsschiffe, welche die Handelsschiffe zweimal jährlich über den →Atlantik eskortierten. Bis 1658 besaß die Kompanie das Monopol für die Versorgung →Brasiliens mit Wein, Mehl, Kabeljau und Öl. Außerdem hatte sie das Monopol für den Brasilholzhandel (→Brasilholzgewinnung). 1662 wurde die Kompanie verstaatlicht und ihr Kapital 1664 von der Krone eingezogen. Bis zur endgültigen Auflösung 1720 bestand sie als Verwaltungsinstitution zur Durchführung der Konvoifahrten weiter. In der zweiten Hälfte des 17. Jh.s wurden außerdem mehrere erfolglose H. für den →Sklavenhandel gegründet. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s erreichten die port. H. unter José I. und seinem Reg.schef, dem Marquis von Pombal, ihre größte Bedeutung. Ihr Ziel war, die wirtschaftliche Abhängigkeit Portugals vom Ausland zu verringern und den Schmuggel zu bekämpfen. Im Sinne der Interessen des Mutterlandes sollten die H. die wirtschaftliche Entwicklung in der Zielregion fördern. Es wurden sechs H. gegründet, davon zwei für den Handel mit dem →Ind. Ozean (Orient und →Mosambik), zwei für den Handel in Portugal (Wein im Alto Douro und Fisch in der Algarve) und zwei atlantische (Grão-Pará und →Maranhão sowie →Pernambuco und Paraíba). Die Kompanien für den Grão-Pará und Maranhão, im Norden Brasiliens, und für Pernambuco und Paraíba, im Nordosten Brasiliens, wurden 1755 bzw. 1759 mit jeweils 20-jähriger Bestandsdauer eingerichtet. Sie besaßen das Handelsmonopol für die jeweilige Region inkl. der Versorgung mit Sklaven, wobei der Kompanie für den Grão-Pará und Maranhão die →Guinea-Küste und der Bereich der Kap Verden (→Kap Verde) zugeordnet war und der Kompanie für Pernambuco und Paraíba die Mina-Küste und →Angola. Der erstgenannten Kompanie wurde in einer geheimen Zusatzklausel 1757 das Recht verliehen, militärische und politische Macht in dem ihr zugeordneten Bereich Afrikas auszuüben. Mit Hilfe der Sklaven konnten die Kompanien in Brasilien bedeutende Erfolge im Anbau und Handel von →Baumwolle, →Reis und →Kakao erzielen. Bei der Bekämpfung des Schmuggels waren sie jedoch weitgehend wirkungslos. António Carreira, As Companhias Pombalinas: de GrãoPará e Maranhão e Pernambuco e Paraíba, Lissabon 2 1983. George D. Winius, Two Lusitanian Variations on a Dutch Theme: Portuguese Companies in Times of Crisis, 1628–1662, in: Leonard Blussé / Femme Gaastra (Hg.), Companies and Trade, Leiden 1981, 119–134. JORUN P OE T T E RI NG
Handelsmünzen. Mit diesem Begriff werden von der dafür autorisierten Stelle gefertigte oder in Auftrag ge-
gebene Münzen bezeichnet, für die vom Münzherrn der Münzfuß garantiert ist, die aber kein gesetzliches oder verordnetes Zahlungsmittel mit Annahmezwang darstellen. Vornehmlich für den Export bestimmt, sollten sie dazu dienen, Waren billiger zu beschaffen als sie im Ausgabeland der Münzen hergestellt werden konnten. Ihr Wert ergab sich primär aus dem Metallwert, war aber auch durch Angebot und Nachfrage beeinflußt. Im Mittelmeerraum wurden H. bereits in der Antike verwendet. Systematisch erfolgte ihre Prägung in den (Vereinigten) Niederlanden vom 16. Jh. bis in die Zeit der Frz. Revolution (fast) nur für den Außenhandel mit dem Ostseeraum und mit überseeischen Gebieten, insb. den Inseln in der →Karibik, Südafrika und dem heutigen →Indonesien. Die bekannteste von ihnen war der Dukat, der seit dem späten 16. Jh. mit einem nahezu gleichbleibenden Gewicht von 3,5 Gramm bei einem Feingehalt von 98,6 % in Utrecht hergestellt wurde. Seit 1780, als H. jedoch erst 1857 dekretiert, nutzte Österreich den silbernen →Maria-Theresia-Taler zur Bezahlung von Einkäufen im Nahen Orient. Von dort gelangte er in großer Zahl nach Nordwest- und Zentralafrika, →Äthiopien sowie nach Arabien und in andere Anliegerländer des →Ind. Ozeans, wo er teilweise bis zur Mitte des 20. Jh.s umlief. Großbritannien, die →USA, →Mexiko und Japan nutzten die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s stark rückläufigen Silberpreise, um mit speziellen, meist Trade Dollars genannten, schweren silbernen H. Einkäufe in China günstig zu tätigen, da dieses Land mit der Anpassung seiner →Währung(en) an den Silberpreisverfall zögernd war. Frankreich brachte als Piaster bezeichnete H. nur in seinen indochinesischen Besitzungen und in einigen Handelsstützpunkten an der chin. Küste in Umlauf. Friedrich von Schrötter, Stichwort „Handelsmünzen“, in: Ders. (Hg.), Wörterbuch der Münzkunde, Berlin 2 1970, 252–253. G ERH A R D H U TZLER Hanno →Periplus, →Phöniker Hanoi (Vietnamesisch „Stadt inmitten des Flusses“) ist eine der ältesten Hauptstädte →Südostasiens. Im Oktober des Jahres 2010 feierte die Stadt ihr 1000-jähriges Bestehen. Der Gründungslegende zufolge wählte König Ly Thai To im 11. Jh. das Gebiet am Ufer des Roten Flusses unweit der chinesischen Dai La-Zitadelle als politisches und sakrales Zentrum, weil er dort einen Drachen in den Himmel aufsteigen sah. Aus diesem Grund gab er der Stadt den Namen Thang Long (aufsteigender Drache). Die Hauptstadt des ersten zentralisierten vietnamesischen Staates war von einer dualen Struktur geprägt, bestehend aus Kaiser- und Volksstadt. Die Kaiserstadt wurde von einer rechteckigen Mauer umgeben und umfaßte neben dem Königspalast, administrative Gebäude sowie die Verbotene Stadt, welche die Residenz der königlichen Familie beherbergte. Außerhalb der Mauern der Kaiserstadt entlang der östlichen Straße zum Roten Fluß lag die Volksstadt Ke Cho. Dieses Gebiet zeichnete sich durch seine funktionale Differenzierung und Bevölkerungsdichte aus. Handwerker aus den umliegenden Dörfern der Hauptstadt ließen sich in diesem Gebiet nieder. Jede Zunft hatte ihre eigene Straße, in der ihre 325
h A n s e m Ann, Ad o l Ph v o n
Mitglieder lebten und ihre Produkte hergestellt wurden. Dieses Areal ist heute als Altstadt oder „36-Gassen-Gebiet“ bekannt. Viele der Straßennamen weisen noch auf ihre ursprüngliche Funktion hin, so war z. B. Hang Bac die Straße der Silberschmiede. Eine dritte Komponente innerhalb des Stadtgebiets von Thang Long bildeten die Dörfer, die die Versorgung der Kaiserstadt mit Agrarprodukten sicherten. Obwohl Thang Long unter den verschiedenen vietnamesischen Dynastien unterschiedliche Namen erhielt, konnte es seine Rolle als Hauptstadt des vietnamesischen Königsreichs bis 1802 bewahren. Anfang des 19. Jhs. unter der neu gegründeten NguyenDynastie wurde die Hauptstadt vom Norden nach Hue in Zentralvietnam verlagert. H. erlangte seine Funktion als Regierungssitz erst wieder mit der Einnahme der Stadt durch die Franzosen. Mit Abschluß des Harmond Vertrags 1883 wurde das nördliche →Vietnam, Tonkin genannt, zum französischen Protektorat. H. wurde zur Hauptstadt →Französisch-Indochinas ernannt. Die städtebauliche Struktur sollte die französische mission civilisatrice in Form von weiten Boulevards, großzügigen Parkanalagen und öffentlichen Gebäuden im neoklassizistischen Stil wie der Oper widerspiegeln. Im Jahr 1945 wurde H. Schauplatz der August-Revolution. Am 2.9.1945 rief →Ho Chi Minh auf dem Ba Dinh-Platz die Unabhängigkeit aus. Durch die darauf folgenden beiden Indochinakriege stagnierte das städtische Wachstum. Während des Krieges gegen die USA verringerte sich die Bevölkerungszahl auf Grund von Bombardements und der Verlagerung der Industrie auf das Land. Nach der Gründung der Sozialistischen Republik Vietnam im Jahr 1976 wurde H. mit Unterstützung von sowjetischen Stadtplanern und Architekten zur sozialistischen Hauptstadt ausgebaut. Symbolische Bauten aus dieser Zeit sind das am Ba Dinh-Platz gelegene Ho Chi Minh-Mausoleum sowie der Sowjetisch-Vietnamesische Freundschaftspalast. Die wirtschaftliche Öffnung →Vietnams 1986 – bekannt unter dem Namen Doi Moi – hatte einen erheblichen Anstieg der Land-Stadt-Migration zur Folge. Viele Landbewohner zogen temporär oder dauerhaft in die Stadt in der Hoffnung auf bessere Erwerbschancen. Darüber hinaus hatte die Integration des Landes in die Weltwirtschaft Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Koloniale Villen werden zunehmend restauriert und an internationale Unternehmen und Organisationen als Büroräume vermietet. Hochhäuser und Wohnanlagen für die neuen Mittelklassen komplettieren das Bild einer modernen Hauptstadt. Die Exportförderzonen am Stadtrand von H. sind zudem Anziehungspunkte für ausländische Direktinvestitionen. Im Jahr 2008 wurde die administrative Neugliederung Hs. beschlossen. Damit wurde die Fläche des Stadtgebiets verdreifacht und die Einwohnerzahl von ursprünglich 3,4 auf 6,2 Millionen Einwohner erhöht. Die Stadterweiterung soll die Wettbewerbsfähigkeit Hs. im nationalen und regionalen Kontext erhöhen. Georges Boudarel / Nguyen Van Ky, Hanoi. City of the Rising Dragon, Lanham u. a. 2002. Sandra Kurfürst / Michael Waibel, „Expansion durch Annexion? Hintergründe und Herausforderungen der administrativen Neugliederung der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi“, 326
Südostasien, 24 no. 3 (2008), 17–20. William S. Logan, Hanoi. Biography of a City, Seattle 2000. SA N D RA K U RFÜ R ST
Hansemann, Adolph von (1872), * 27. Juli 1826 Aachen, † 9. Dezember 1903 Berlin, □ Mausoleum auf Altem St.-Matthäus-Kirchhof / Berlin, ev.-luth. Kaufmännische Ausbildung in Hamburg, Berlin und Leipzig. 1843 Teilhaber einer familieneigenen Tuchfabrik in Eupen. 1857 Eintritt in die vom Vater David H. gegründete Direktion der Disconto Gesellschaft. Nach dessen Tod 1864 Übernahme der Geschäftsleitung. Unter seiner autokratischen Leitung Entwicklung der DDG zur führenden Berliner Großbank, deren Grundkapital von 10 Mio. Taler (= 30 Mio. Mark) bis 1900 auf 150 Mio. Mark anstieg. 1865 auf seine Initiative hin Bildung des „Preußen-Consortiums“ zur Unterbringung staatlicher Kredite u. a. für die Kriegsfinanzierungen 1866 und 1870/71. Dafür preußische erbliche Nobilitierung. 1870 Errichtung der schon vom Vater geplanten Hypothekenbank Centralboden-Credit AG. Nach langem Zögern 1871 Beginn von Filialgründungen der DDG im Dt. Reich. Ab 1875 in Zusammenarbeit mit der RothschildGruppe, mit deren Inhabern H. lebenslange Freundschaft verband, Anleihebeschaffungen für Bayern (u. a. für die Schlösserbauten Ludwigs II.), Baden, Österreich-Ungarn, Italien, Rumänien, Rußland und Schweden. Führende Rolle bei der Finanzierung der Montanreviere an der Ruhr, Lind in Oberschlesien sowie bei Eisenbahnbauten in der Schweiz (Gotthard), in Österreich-Ungarn, auf dem Balkan, in Südamerika und China. Dt. Kolonisationspläne in der Südsee wurden von ihm als Leiter und Hauptkapitalgeber der →Neu-Guinea-Compagnie verwirklicht. Initiierung der →Dt.-Asiatischen Bank 1888/89, der Shantung-Bergwerke im Nordosten Chinas 1898 und der Otavi-Minen-Gesellschaft in →Dt.-Südwestafrika 1900. Obwohl Fehlschläge nicht ausblieben, kennzeichneten H. zähes Festhalten an seinen Zielen. 1891 bis zum Tod 1903 Mitglied des →Kolonialrats, 1892–1900 k. u. k. österr.-ungarischer Generalkonsul für das Dt. Reich. Sympathisant der Freikonservativen, zeitweilig Finanzier des Linksliberalen Eugen Richter und seiner Parteigründungen. Der Nachlaß ist seit 1945 bis auf geringe Reste verschollen. Walther Däbritz, David Hansemann und Adolph von Hansemann, Düsseldorf 1954. Hermann Münch, Adolph von Hansemann, München u. a. 1932. G ERH A R D H U TZLER
HAPAG, die Hamburg-Am.-Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, seit 1893 auch Hamburg-Amerika-Linie genannt; am 27.5.1847 in Hamburg gegründete Reederei, deren Gründungskapital ca. 300 000 →Mark Banco betrug. Zu den Gründern zählten solch wichtige Hamburger wie Carl →Woermann, Ferdinand Laeisz und Adolph Godeffroy, der für die nächsten Dekaden die Aktiengesellschaft leitete. Zunächst konzentrierte sich die HAPAG auf den →Transport von Passagieren im Liniendienst HamburgNordamerika (ab 1848); später kamen auch der Frachthandel und die Einrichtung neuer Fahrrouten nach Südamerika und in den Pazifik hinzu; Dampfschiffe, wie die
h A rtf o rd , v ertrA g v o n �1 6 5 0 �
Schwesternschiffe Hammonia und Borussia, ersetzten 1855 Segelschiffe; unter dem innovativen Albert Ballin, der ab 1888 dem Direktorium angehörte und zum Generaldirektor aufstieg, wurden Neuheiten wie Kühlschiffe und Kreuzfahrtschiffe für den Edeltourismus (1891, 1903) in Dienst gestellt. Um Hamburg als Auswanderungshafen (→Auswanderung) interessanter zu machen, organisierte die HAPAG seit 1901 in Absprache mit der Freien und Hansestadt Hamburg die Auswandererhallen auf der Veddel; in 15 Gebäuden konnten 1200 bis 3500 Menschen untergebracht werden, ehe sie auf Schiffen der HAPAG Europa verließen. Heftigen Konkurrenzkämpfen mit anderen Reedereien entging man durch geschickte Kooperationen, Fusionen und Marktaufteilungen; auch die diversen militärischen Konflikte ab 1861 überstand die HAPAG relativ unbeschadet – allerdings brachten die Weltkriege des 20. Jh.s und Einflußnahmen nationalsozialistischer Wirtschaftskonzepte schwere Rückschläge, von denen sich die HAPAG erholen mußte. Seit den 1960er Jahren ergänzten Containerschiffe die Schiffspalette der Reederei, die 1970 mit dem Bremer Norddt. Lloyd zur HAPAG-Lloyd AG fusionierte. Olaf Matthes u. a. (Hg.), Hamburg und die HAPAG, Hamburg 2000. Susanne Wiborg, Unser Feld ist die Welt, Hamburg 1997. CL AUDI A S CHNURMANN Harare wurde am 12.9.1890 von Cecil John Rhodes als Stützpunkt der →British South Africa Company gegründet. Ursprünglich hieß die Stadt (Fort) Salisbury nach dem brit. Premierminister Lord →Salisbury. Salisbury wurde 1895 Sitz der Verwaltung des →Protektorats von →Südrhodesien, 1923 der Kolonialverwaltung von Gesamt-Rhodesien. 1953–1963 war es die Hauptstadt der Föderation Rhodesien und Nyassaland (→Malawi). Unter der Reg. von Ian Smith wurde Rhodesien am 11.11.1965 von Großbritannien unabhängig und 1970 zur Rep. Rhodesien ausgerufen. Das Land erhielt am 18.4.1980 seine Unabhängigkeit und wurde international als Rep. →Simbabwe anerkannt. Am 18.4.1982 wurde die Stadt nach dem Shona-Häuptling Neharawa in H. umbenannt. H. hat heute über 2 Mio. Ew. Die während der letzten Präsidentschaftswahlen und der Rivalität zwischen dem seit 1980 regierenden Robert Mugabe und seinem Herausforderer Morgan Tsvangirai ausgebrochene politische und wirtschaftliche Krise hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Stadt. Wichtige Infrastruktur geriet in Zerfall, und in H. spricht man von einer „sunshine city-turned-sewage farm“ („von der Sonnenstadt zum Rieselfeld“). Seit 1996 unterhält München mit H. eine Städtepartnerschaft. G E R H A R D HUT Z L E R / ANNE KI E JOUBE RT
Harrer, Heinrich, * 6. Juli 1912 Obergossen / Hüttenberg, † 7. Januar 2006 Friesach, □ Friedhof Hüttenberg / Österreich, Rel. unbek. H., ein begabter vielseitiger Sportler, wurde erstmals berühmt als einer der vier Bergsteiger, die am 21.7.1938 als Erste die Eigernordwand bezwangen. Im Frühsommer 1939 nahm er an einer dt. →Expedition zum Nanga Parbat, einem der höchsten Gipfeln im Himalaya, teil, wurde aber durch den Ausbruch des →Zweiten Welt-
kriegs überrascht und mußte die nächsten vier Jahre in einem brit. Internierungslager in →Indien verbringen. Im Apr. 1944 entkam H. zusammen mit seinem Expeditionsleiter Peter Aufschnaiter, und nach einem anstrengenden einundzwanzigmonatigen Treck durch den Himalaya erreichten die beiden Männer Anfang 1946 die tibetische Hauptstadt Lhasa. Dort wurde H. zum Berater, Privatlehrer und schließlich Freund des Dalai Lama, bis sie 1951 nach dem chin. Einmarsch in Tibet nach Indien fliehen mußten. H. kehrte 1952 nach Europa zurück, und sein Bericht über seine Erlebnisse, Sieben Jahre in Tibet: Mein Leben am Hofe des Dalai Lama (1952), wurde zu einem internationalen Bestseller. In seinen späteren Jahren unternahm H. zahlreiche Expeditionen in abgelegene Weltteile, die oft seine Liebe zum Bergsteigen mit seinem Interesse an fremden Völkern und Kulturen verbanden; aus diesen Reiseerlebnissen ging eine lange Reihe von populären Büchern und Dokumentarfilmen hervor. H.s Renommee als humanitärer Weltbürger erhielt 1997 jedoch einen schweren Schlag, als enthüllt wurde, daß er 1933 in die SA (damals eine verbotene Organisation in Österreich) und 1938 sowohl in die NSDAP als auch in die SS eingetreten war. Wolfgang Kaufmann, Das Dritte Reich u. Tibet, Ludwigsfelde 32012. Gerald Lehner, Zwischen Hitler und Himalaya, Wien 2006. JA MES B R A U N D Hartford, Vertrag von (1650). Im wesentlichen ein Gebietsabkommen zwischen dem Gouverneur von Nieuw Nederland, Petrus (engl. Peter) Stuyvesant (1612–1672) und den englischen Kolonien Massachusetts, Plymouth, Connecticut und New Haven, der Confederation of the United Colonies of New England. Auf Grund besitzrechtlicher und handelspolitischer Divergenzen zwischen den neuenglischen, v. a. Connecticut und New Haven, und den niederländischen Kolonien, besonders im Bereich von Long Island sowie entlang des Connecticut River und des Delaware River war es in den 30er und 40er Jahren des 17. Jh. zu Streitigkeiten gekommen, wobei es, von militärischen Aktionen der Niederländer und auch Schweden gegen Exklaven der Kolonie New Haven entlang des Delaware River abgesehen, bei der Androhung von Gewalt blieb. V. a. die Niederländer um ihren Gouverneur Petrus Stuyvesant strebten auf Grund ihrer zahlenmäßigen, und damit verbunden, militärischen Unterlegenheit eine friedliche und diplomatische Lösung des schwelenden Konflikts an, was sich in der stetig geäußerten Gesprächsbereitschaft Stuyvesants manifestierte. Am 29. September 1650 wurde in Hartford, Connecticut ein Vertrag zwischen Nieuw Nederland und der seit 1643 bestehenden Confederation of the United Colonies of New England geschlossen. Zum einen wurde Long Island bei Oster Bay in Nord-Süd Richtung in zwei Hälften geteilt, wobei der westliche Teil neuniederländisch, der östliche Teil neuenglisch sein sollte. Auf dem Festland einigte man sich auf eine Grenzlinie zehn Meilen östlich des Hudson River. Eine nördliche Grenze wurde nicht benannt. In den v. a. handelspolitisch gewichtigen Fragen die Flüsse Connecticut und Delaware betreffend einigte man sich nicht eindeutig, überließ vor allen Dingen die Lage am Delaware dem Status quo. In Bezug 327
h A rvA r d u nive r s i t y
auf Flüchtlinge, Deserteure, etc. und deren Behandlung verwies man in einem dritten Punkt auf einen zukünftigen ‚Freundschaftsvertrag‘ zwischen Niederländern und Engländern, der diese Punkte klären sollte. Die Kommission, die den Vertrag ausarbeitete bestand aus je zwei Delegierten Nieuw Nederlands und der Confederation, wobei die beiden niederländische Unterhändler, Georg Baxter und Thomas Willet, gebürtige Engländer waren, Willet zudem in Plymouth gelebt hatte. Die Unterhändler der Confederation, Simon Bradstreet und Thomas Pence, kamen aus den nördlichen Kolonien Massachusetts und Plymouth. Grundsätzlich waren die beiden Parteien nicht in zwei Blöcke zu teilen, da es innerhalb der englischen Fraktion verschiedene Interessen gab. Die nördlichen Kolonien Massachusetts und Plymouth waren nicht gewillt, in die Streitigkeiten zwischen Connecticut/New Haven und den niederländischen Gebieten verwickelt zu werden, zudem mag eine religiöse und handelspolitische Verbundenheit Massachusetts und Plymouths zu den Niederländern ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Herkunft der Unterhändler, so daß im wesentlichen Übereinstimmung zwischen letzteren herrschte und Connecticut/New Haven in Opposition standen. Der Vertragsabschluß macht zum einen die Bereitschaft der Kolonien deutlich, Lösungen auf friedlicher Basis und damit eine Grundlage zur Koexistenz zu finden. Zum anderen vermittelt er den Eindruck politischer Eigenständigkeit der Kolonien. Eine leicht abgeänderte Version des Vertrages wurde von den Generalstaaten 1656, nach Beendigung des Ersten Englisch-Niederländischen Krieges, bestätigt. In England wurde er nie ratifiziert. Frances G. Davenport (Hg.), European Treaties Bearing on the History of the United States and Its Dependencies, Bd. 2, Washington DC 1929. Claudia Schnurmann, Atlantische Welten, Köln u. a. 1998. F L ORI AN VAT E S Harvard University. Universität in Cambridge / Massachusetts, älteste Hochschule der →USA, gegründet 1636 durch den General Court of Massachusetts Bay, der 400 £ für ein College zur Verfügung stellte. 1638 hinterließ der Theologe John Harvard dem College die Hälfte seines Vermögens und seine Bibliothek, weshalb es 1639 seinen Namen erhielt. Der Lehrbetrieb begann 1638. In der Verfassung von Massachusetts 1780 erstmals als „University“ bezeichnet, entsprach H. der am. Definition von Universität 1782 auch de facto durch die Einrichtung seiner ersten Graduate School, der Medical School. Die H.-Absolventen Edward Everett, Joseph Green Cogswell und George Bancroft sowie George Ticknor (Dartmouth College) studierten ab 1815 als erste Amerikaner in Deutschland und versuchten dann als Dozenten in H., das Curriculum nach dt. Vorbild zu reformieren. Dies setzte sich jedoch erst unter der Präsidentschaft von Charles W. Eliot (1869–1909) durch, der freie Kurswahl ermöglichte, neue Graduate Schools einrichtete und damit als Gründer der modernen H. U. und bedeutender Reformer des am. Bildungswesens gilt. Ab 1943 durften Frauen als Studentinnen des Radcliffe College (gegründet 1879 als H. Annex, seit 1894 Radcliffe College) offiziell an H.-Kursen teilnehmen, 1999 wurde Radcliffe Teil von H. Heute hat H. ca. 20 000 Studierende, berühmte Ab328
solventen sind u. a. John →Adams, Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy. 1995 gründete der Historiker Bernard Bailyn das „H. Atlantic History Seminar“, das der →atlantischen Geschichte wichtige Impulse verleiht. Bernard Bailyn u. a. (Hg.), Glimpses of the Harvard Past, Cambridge 41995. Andrew Schlesinger, Veritas, Chicago 2005. Richard N. Smith, The Harvard Century, Cambridge 41998. CH R ISTIN A U RB A N EK Hassan, Muhammad Abdullah, * 7. April 1856 Sa’Madeeq-Tal oder Kirrit/Nordsomalia, † 21. Dezember 1920 Imi, Ogaden/Ostäthiopien □ unbek., musl. H. war ein religiöser und politischer Führer, Widerstandskämpfer und Poet in →Somalia. Bereits im Alter von zwölf Jahren widmete er sein Leben dem →Islam. Er arbeitete zunächst als Koranlehrer. 1877–1887 reiste er in zahlreiche islamische Zentren, um seine Studien zu intensivieren. Auf Grund seiner Gelehrsamkeit und seiner Fähigkeiten als Lehrer erwarb er den Ehrentitel eines Sayyid. 1894 begab er sich auf Wallfahrt nach Mekka, wo er den islamischen Mystiker Muhammad Salih, den Gründer der Salihiyya-Bruderschaft, traf und von ihm unterrichtet wurde. Nach seiner Rückkehr verfolgte H. die Ziele, die christl. Fremdherrschaft in Somalia zu beenden und einen von der Salihiyya-Lehre geprägten islamischen Staat zu gründen, in dem alle Somali vereint werden sollten. Die Klangrenzen und die damit verbundene Spaltung der somalischen Gesellschaft sollten aufgehoben werden. H. gilt als Vater des somalischen Nationalismus und Staates. 1899–1920 führte er einen Guerillakrieg gegen die Besatzer im brit. →Protektorat Nordsomalia und der it. Kolonie Südsomalia sowie die äthiopischen Invasoren in Westsomalia an. Erst nach 20 Jahren gelang es den Briten, H. mit einer Großoffensive zu schlagen. Er floh in die äthiopische Region Ogaden, wo er seinen Widerstand neu formierte. Ein brit. Friedensangebot lehnte er ab. Ende 1920 starb er an einer Grippe. Seine Erfolge, tausende Somali als Anhänger, Derwische genannt, für sein Vorhaben zu gewinnen, verdankte er seinen Fähigkeiten als Vermittler bei Konflikten und seinem besonderen Charisma als Dichter. Ein Reiterstandbild in →Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, erinnert an ihn. Abdi Sheik-Abdi, Divine Madness, London 1993. Douglas Jardine, The Mad Mullah of Somaliland, London 1923. Raymond Wendell Beachey, The Warrior Mullah, London 1990. A LK E D O H RMA N N Hatta, Mohammed, * 12. August 1902 Buktit Tinggi / Westsumatra, † 14. März 1980 Jakarta, □ Tanah Kusir Public Cemetery, musl. H. war der Vordenker der indonesischen nationalistischen Bewegung und erster Vize-Präs. der Rep. →Indonesien, der am 17.8.1945 gemeinsam mit →Sukarno die Unabhängigkeit Indonesiens verkündete. Er stammte aus der „Welt des →Minangkabau“, jenem Gebiet aus dem westlichen →Sumatra, das wegen seiner mutterrechtlichen Traditionen in der Inselwelt eine eigene Sozialstruktur entwickelte, die in historischer Zeit das Aufkommen feudaler Herrscher wie im benachbarten →Java verhindert hatte und als ein demokratisches Sozialwesen
h AwA i ’ i
sui generis galt. Die Jugendzeit des späteren Wirtschaftsexperten und Politikers war beeinflußt vom Handelsgeist und islamischem Reformdenken, die beide in seiner Familie eine wichtige Rolle spielten. Er besuchte keine surau oder Religionsschule alten Stils, sondern von der ndl. Kolonialmacht eingerichtete Schulen, war aber auch Vorstandsmitglied eines in Westsumatra wirkenden Jung-Sumatranen-Bundes, der islamisch geprägt war und gegen die Kolonialpolitik der Holländer aufzubegehren begann. Seit 1921 besuchte er die Wirtschaftsakademie in Rotterdam. Als Vorsitzender einer indonesischen Studentenvereinigung entwickelte er hier Prinzipien und Strategien für den Unabhängigkeitskampf in Indonesien, die auf Java v. a. von Sukarno befolgt wurden. Nach Ausbruch des →Zweiten Weltkrieges arbeiteten H. und Sukarno zur Zeit der jap. Besatzung in Indonesien eng zusammen und bildeten auch in der folgenden Revolutionszeit eine erfolgreiche Dwitunggal (Zwei-Einheit). Das Vertrauensverhältnis zwischen dem nüchternen Analytiker H. und dem Volkstribun Sukarno brach allerdings nach der von H. erreichten Anerkennung der Unabhängigkeit durch die Niederlande (Dez. 1949) auseinander. H. konnte als Ökonom die von Sukarno angestrebte Großmachtpolitik nicht unterstützen. In Sukarnos 1957 eingeführter „gelenkter Demokratie“ verzichtete er auf alle Ämter, weil er wußte, daß sie keine Chance bot, Indonesiens wirkliche Probleme zu lösen. Dies erwartete er eher von Kooperativen, für deren Gründung und Verbreitung er sich jetzt einsetzte. Auch von der „neuen Ordnung“ unter Sukarnos Nachfolger Suharto hielt sich H. fern und wandte sich gegen Ende seines Lebens wieder vermehrt islamischen Reformbestrebungen zu. Q: Portrait of a Patriot. Selected Writings by Mohammed Hatta, Den Haag 1972. L: Deliar Noer, Mohammed Hatta, Jakarta 1990. Mavis Rose, Indonesia Free. A Political Biography of M. Hatta, Ithaca 1987. BE RNHARD DAHM
Hausa. 1) Sprachgruppe: H. ist eine tschadische Sprache, die in Westafrika auch als Lingua franca gesprochen wird. Es gibt 24,162 Mio. Muttersprachler und ca. 15 Mio. Sprecher mit H. als Zweitsprache (Stand 2005). 2) ethnische Gruppe: Die H. (auch: Haussa, Haoussa, Hausa Fulani, Hausawa) sind eine ethnische Gruppe, die v. a. in →Nigeria (ca. 21 Mio., Provinzen: Kano, Katsina, Sokoto und Zaria) und →Niger (ca. 5,5 Mio.) leben. Größere Gruppen siedeln zudem im →Sudan, →Kamerun, →Ghana, →Tschad, der →Elfenbeinküste, →Benin, der →Zentralafr. Rep., →Togo und →Äquatorialguinea, sowie in weiteren Ländern Nordafrikas, aber auch Europa und den →USA. Der Gründungsmythos der H. rückt den Heros Bayajidda ist Zentrum, der (in einer Version) die Bewohner der Stadt Daura von der Herrschaft einer Schlange befreite, die jene am Wasserschöpfen hinderte. Aus Dankbarkeit konnte er die Kg.in der Stadt, Daurama, heiraten, die ihm einen Sohn gebar, der wiederum sechs Söhne zeugte, die die ersten sieben H.-Staaten (H. Bakwai, die „echten H.“), Biram, Daura, Kano, Katsina, Gobir, Rano und Zaria (auch: Zazzau) gründeten, die allmählich an Bedeutung gewannen, untereinander aber auch konkurrierten. Die Mehrzahl der H. bekennt sich
zum →Islam (Sunniten), eine große Bedeutung besitzen islamische Bruderschaften. Eine Minderheit wie die Maguzawa gehören traditionellen Religionen und dem Christentum an. Der Islam wurde von den H. bereits im frühen 11. Jh. angenommen und durch Handelskontakte zu den nördlichen Sahelstaaten verstärkt. In einer Serie von →Heiligen Kriegen wurden die H. im frühen 18. Jh. von Reiterheeren der →Fulbe unter Führung von Usman dan Fodio unterworfen und einer Islamisierung unterzogen. Die Fulbe gründeten das Sokoto-Kalifat, das in Emirate unterteilt wurde. Jedes Emirat wurde von einer Dynastie der Fulbe regiert. In den eroberten Staaten übernahm die herrschende Schicht der Fulbe die Sprache und Kultur der H., bedingt auch durch →Mischehen, weshalb man heute auch von H.-Fulani spricht. Sokoto und Kano sind die wichtigsten kulturellen und wirtschaftlichen Zentren der H. und seit dem 12. Jh. Handelszentren im Savanneraum Westafrikas. 1903 eroberten die Briten das Sokoto-Reich. Durch brit.-frz. Grenzverträge kamen die größten Teile des H.-Gebietes zu Nigeria, die nördlichen Regionen zu Niger (→Frz. Westafrika). Mahdi Adamu, The Hausa Factor in West African History, Zaria 1978. J. Ronayne Cowan / Russel G. Schuh, Spoken Hausa, New York 1976. H. A. S. Johnston, Hausaland and the Hausas, London 1967. TILO G R Ä TZ Hawai’i heißt die flächenmäßig größte Insel der nach ihr benannten Inselgruppe im östl. Pazifik. Die polynes. Bev. hatte, wie indigene Chroniken belegen, bereits vor →Cook, der i. allg. als „Entdecker“ H.s angesehen wird, Kontakt mit Europäern. Mit europ. Unterstützung u. europ. Technologie unterwarf Kamehameha I. alle indigenen Rivalen u. kontrollierte st. 1795 alle Inseln des Archipels. Geboren als Pai‘ea, ist seine Geburt von Legenden umrankt. Danach war ihm vorherbestimmt, ein großer Herrscher zu werden. Deswegen soll er unmittelbar nach seiner Geburt versteckt worden sein, um ihn vor eifersüchtigen Rivalen zu schützen. Die ältesten indigenen Historiker geben als Datum seiner Geburt November 1736 an, doch ist die Erscheinung des Halleyschen Kometen, der 1758 auf H. sichtbar war, nachträglich umgedeutet worden, um seine Geburt auf November 1758 zu datieren. Mit Sicherheit nahm er 1779 in der Bucht von Kealakekua an der Auseinandersetzung mit Europäern teil, bei der Cook getötet wurde. In einem Bürgerkrieg unterwarf Kamehameha (d. h. der „Einsame“) auf der Hauptinsel H. alle einh. Konkurrenten bis 1790 – noch mit traditionellen Waffen, v. a. Keulen. Beim Erwerb europ. Waffen halfen ihm europ. Ratgeber. Dazu gehörte Georg →Schaeffer, der ihm an der Mündung des Waimea ein Fort baute. Eine Gruppe europ. Schreiner war angestellt, um Schiffe zu bauen. Kamehamea finanzierte dies durch den Handel mit →Sandelholz. 1795 landete er mit seinen Truppen an der Bucht von Waikiki. Die kleine, aber wichtige Insel O‘ahu (heute Sitz der Hauptstadt Honolulu) wurde nach einer blutigen Schlacht bei Nu‘uanu erobert. Der letzte Gegenspieler, Ka‘umu‘ali‘i von der Insel Kaua‘i (im Nordwesten der Inselgruppe) unterwarf sich freiwillig 1810, durfte dafür Unterkönig von Kaua‘i bleiben, mußte aber dulden, daß einer seiner Söhne als Geisel in Honolulu festgehalten wurde. Die 329
h e din, s ve n And er s
pol. Einigung H.s unter Kamehamea wurde schon von den Zeitgenossen damit gewürdigt, daß er – als einer der ganz wenigen indigenen Herrscher – den Beinamen „der Große“ erhielt († 8. Mai 1819). Die von Kamehamea begründete Dynastie indigener Könige u. das Königreich H. wurden in den 40er Jahren des 19. Jh.s von den großen europ. Mächten – Frankreich (17.3./28.11.1843), Großbritannien (28.11.1843), →Vereinigte Staaten (6.7.1846) – anerkannt. Bis zum zweiten Drittel des 19. Jh.s war H. das bekannteste u. anerkannteste polynesische Kgr. weltweit, das zahlreichen Botschaften unterhielt (Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu ÖsterreichUngarn 1875, zum Dt. Reich 1879). Der Zuzug europ., v. a. US-am. Siedler, Händler u. Missionare, die Anlage von großen Zuckerrohrplantagen u. die Einfuhr von asiatischen Arbeitskräften (→Kuli, Vertragsarbeit) bei gleichzeitiger Abnahme der indigenen Bev. – eingeführte Krankheiten führten zu mehreren Epidemien mit katastrophalen Folgen – veränderten jedoch die Grundstrukturen so stark, daß in der Reg. von Kg. Lunalio (reg. 1873–1874) mit einer Ausnahme nur noch US-am. Geschäftsleute u. Missionare saßen. Die siebte Nachfolgerin von Kamehameha I., Kg.in →Lili‘uokalani (reg. 1891–1893) versuchte, das Verschwinden h.anischer Prärogativen im öffentlichen Leben u. den Verlust an Macht und Einfluß des Monarchen durch eine Verfassungsreform aufzuhalten, doch rebellierte ihr gesamtes Kabinett. Lili‘uokalani besaß durchaus persönliches Durchsetzungsvermögen, aber sie stand gegen eine Mauer europ.-am. Widerstandes, die sich über eine „Königin“, zumal eine indigene, mokierte u. in der am. Presse bei diesem Vorhaben breite Unterstützung fand. Am 17. Januar 1893 putschte eine Clique am. u. europ. Geschäftsleute unter Führung des Oberrichters Sanford Dole (1844–1926) mit Hilfe von Landungstruppen der USS Boston, die der am. Botschafter gerufen hatte. Das war das faktische Ende des polynesischen Kgr. H. Zum Jahrestag der US-am. Unabhängigkeit, am 4. Juli 1894, wurde eine Rep. H. erklärt, Dole ihr „Präsident“. Vier Jahre später, am 7. Juli 1898, annektierte Präsident →McKinley mit Zustimmung des US-Kongresses H. – ein völkerrechtlich mehr als fragwürdiges Unternehmen. Zum 22. Februar 1900 wurde H. ein Territorium der Vereinigten Staaten (1. Gouv. Sanford Dole), am 21. August 1959 offizieller Bundestaat. Die Fahne des Bundesstaates H. ist immer noch identisch mit derjenigen, die das Kgr. H. am 29. Dezember 1845 zur Nationalfahne erklärte. Sie zeigt in der oberen linken Ecke den Union Jack. Q: Samuel Kamaka‘u, Ruling Chiefs of Hawai’i, Honolulu 1961, 21991. L: Noenoe Silva, Aloha Betrayed, Durham NC / London 2004. HE RMANN HI E RY Hedin, Sven Anders, * 19. Februar 1865 Stockholm, † 26. November 1952 Stockholm, □ Familiengruft auf dem Adolf-Fredriks-Friedhof in Stockholm, ev.-luth. Der Sohn eines Architekten zeigte schon als Jugendlicher lebhaftes Interesse an fremden Kulturkreisen und zeichnete Landkarten. Unmittelbar nach dem Abitur 1885 kurzfristig als Hauslehrer der Kinder eines schwedischen Ingenieurs am Kaspischen Meer beschäftigt, 330
unternahm er 1885/86 eine Reise durch den →Kaukasus, Mesopotamien und Persien. Anschließend studierte er →Geologie, Mineralogie und Latein in Stockholm, Uppsala und Berlin. 1893–1897 begab er sich auf eine →Expedition ins Pamir-Gebirge und durchquerte dabei auch die Wüste Taklamakan. Seit seiner Rückkehr galt er als Nationalheld. 1899–1902 folgte die nächste Expedition nach Zentralasien, diesmal nach Tibet, wo er die Ruinenstadt Loulan entdeckte. Bei seiner Rückkehr wurde H. in den Adelsstand erhoben. Nachdem er 1904 den brit. Feldzug in Tibet scharf kritisiert hatte, verweigerte Großbritannien ihm die Einreisegenehmigung für eine weitere Tibet-Expedition. Unbemerkt, streckenweise als Einheimischer verkleidet, führte H. die Expedition 1906–1909 dennoch durch und überquerte mehrmals den Himalaja. In Schweden ergriff er ab 1910 Partei für die Konservativen, warnte vor russ. Expansionismus und warb für verstärkte Rüstung. Im Ersten Weltkrieg kritisierte er scharf die schwedische Neutralität und Großbritanniens Kampf gegen Deutschland, den er als „Verrat der gemeinsamen Rasse“ bezeichnete. Er unternahm ausgedehnte Truppenbesuche beim dt. Heer und betätigte sich als Propagandist Deutschlands. Nach dem Ersten Weltkrieg widmete er sich v. a. der literarischen Verarbeitung seiner Expeditionen, die er nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für ein breites Publikum auswertete. In seinen vielgelesenen Reiseberichten stilisierte H. sich zum romantischen Helden, der sich, gepackt von der Sehnsucht nach dem Unbekannten, ständig in gefahrvolle Situationen begibt, die er immer meistert. 1926 brach er, erstmals gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern, zu einer Reise durch China und die Mongolei auf, die mit Unterbrechungen bis 1934 dauerte. Den Nationalsozialismus begrüßte er ausdrücklich und ließ sich, obwohl selbst jüdischer Abstammung (einer seiner Urgroßväter war Jude gewesen), bereitwillig für die NS-Propaganda einspannen. Er bedauerte dies nach 1945 nicht und war in seinen letzten Lebensjahren weitgehend isoliert. Detlef Brennecke, Sven Hedin, Reinbek 1986. CH R ISTO PH K U H L
Hedschas. Im Westen der arab. Halbinsel gelegene historische, großenteils wüstenartige Landschaft mit Mekka als wirtschaftlichem und geistigem Zentrum. Seit dem 13. Jh. herrschten dort haschemitische Emire, die eine Abstammung vom Religionsstifter Mohammed beanspruchten. 1845 wurde die Region durch die Hohe Pforte tributpflichtig gemacht und in den folgenden Jahrzehnten immer stärker in das →Osmanische Reich einbezogen. Durch die 1900 bis 1908 von Damaskus nach Medina gebaute →„H.-Bahn“ erfuhr das H. eine auch strategisch bedeutsame Anbindung an den Mittelmeerraum. In der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges rief Emir Hussein I. ibn Ali (1853–1931), finanziell und materiell unterstützt durch Großbritannien, zum Freiheitskampf der →Araber gegen die Osmanen auf und erzielte, beraten von Lawrence of Arabia, auch militärische Erfolge. Am 2.11.1916 nahm er daraufhin den Titel „Kg. von Arabien“ an. Den Anspruch konnte er jedoch nur in Teilbereichen realisieren, zumal Großbritannien nach dem Ende des Weltkrieges gegebene Zusagen nicht hielt. Als
h ei n ri ch v i i.
1924 Hussein den durch die Absetzung des osmanischen Sultans vakant gewordenen Kalifen-Titel beanspruchte, kam es zur kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Herrscher des angrenzenden Nedschd, dem Wahabiten Ibn Sa’ud, in der Hussein unterlag. 1925 ließ sich Ibn Sa’ud zum Kg. des H. proklamieren. 1932 wurden H. und Nedschd zu Saudi-Arabien vereinigt. GE RHARD HUT Z L E R
Hedschas-Bahn. 1898 verfügte Sultan Abdul Hamid II. in seiner Eigenschaft als Kalif aller musl. Gläubigen den Bau einer ca. 1 300 km langen Eisenbahnlinie von Damaskus zur heiligen Stadt Medina in Arabien. Erklärtes Ziel des Vorhabens war die Verkürzung der Reisedauer für die den Gläubigen vorgeschriebene Wallfahrt nach Mekka und Medina. Daneben hatte die Bahnlinie für das Osmanische Reich aber auch strategische Bedeutung. Die H. war zunächst als staatliche Einrichtung geplant, 1914 erhielt sie jedoch den Status einer unauflöslichen religiösen Stiftung (Waqf). Der Bau der Strecke begann 1900. 1908 war sie trotz klimatischer Schwierigkeiten und des Widerstandes der in der Region lebenden →Araber, die Verlust ihrer Einnahmen aus Schutzgeldzahlungen der Pilger und den gebotenen Transportleistungen fürchteten, fertiggestellt. Die Bauleitung hatte der sächsische Ingenieur Heinrich →Meissner, dem der Sultan 1904 den Titel Pascha verlieh. Die Bahn, die bis 1914 zur Wallfahrtszeit fünfmal täglich verkehrte und jeweils 600 Reisende befördern konnte, benötigte für die Strecke nur drei Tage, während Kamelkarawanen bis zu zwei Monaten brauchten. Zur Finanzierung des Vorhabens, das ca. 80 Mio. Goldmark erforderte, dienten eine Kopfsteuer im Osmanischen Reich, die unabhängig von der Konfession zu leisten war, sowie neue und erhöhte Verbrauchssteuern. Auch Spenden von Herrschern der Länder mit musl. Bevölkerung trugen dazu bei. Bei Kriegsausbruch trat die strategische Bedeutung der Strecke in den Vordergrund. Deshalb versuchten Araber und Briten, sie zu zerstören. Es gelangen ihnen zwar zeitweise Unterbrechungen, kriegsentscheidende Bedeutung für die Fronten am Sinai und in Arabien hatte die Sabotage, entgegen der glorifizierenden Darstellung des Lawrence of Arabia, jedoch nicht. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Bedeutung für die musl. Wallfahrt laufend zurück. Heute sind nur noch kleine Teilstrecken in Syrien und Jordanien gelegentlich genutzt, insb. für touristische Zwecke. Jürgen Franzke (Hg.), Bagdadbahn und Hedjazbahn, Nürnberg 2002. GE RHARD HUT Z L E R Heiliger Krieg. In der Regel faßt eine Konfliktpartei einen gewalttätig ausgetragenen Konflikt dann als H. K. auf, wenn sie zur Begründung ihrer Beteiligung am Konflikt religiöse Überzeugungen anführt. Während im Christentum die Denkfigur des H. K. insb. in den →Kreuzzügen des Mittelalters wirksam wurde, verbindet sie sich in der weltweiten Wahrnehmung seit dem 19. Jh. v. a. mit dem →Islam. Laut Koran ist beim Bemühen (Djihad, d. h. Anstrengung) um die weltweite Verbreitung des Islam Gewaltanwendung erlaubt, sofern die zu Bekehrenden den Übertritt zum Islam nicht freiwillig vollziehen. Als H. K. kann in diesem Sinne die arab.
Expansion des 7. und 8. Jh.s gelten. Im 19. Jh. wurde in zahlreichen Ländern der islamischen Welt die Denkfigur des H. K. zur Motivation von Aufständen gegen die europäischen Kolonialmächte herangezogen. Diese Aufstände scheiterten ausnahmslos. Im 20. Jh. setzte sich in den Eliten der islamischen Welt die Erkenntnis durch, daß Unabhängigkeit von den Kolonialmächten nur durch Adaption westlicher politisch-diplomatischer Methoden zu erreichen sei. Damit wurde das Konzept des H. K. in der politischen Auseinandersetzung zwischen den kolonisierten islamischen Ländern und den Kolonialmächten obsolet. Politische Gruppierungen, die weiterhin den H. K. befürworteten und die Unabhängigkeit mit der Errichtung streng islamischer Staatswesen verbinden wollten (z. B. die Moslem-Bruderschaft in →Ägypten), gewannen keinen Einfluß auf den Prozeß der Dekolonisierung. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit bekämpfen sie aber zunehmend die säkular ausgerichteten Staaten der islamischen Welt. Rudolph Peters, Islam and Colonialism. The Doctrine of Jihad in Modern History, Den Haag 1979. Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad, München 1999. C H R ISTO PH K U H L
Heinrich VII. von England, * 28. Januar 1457 Pembroke Castle, † 21. April 1509 Richmond Palace (London), □ Westminster Abbey / London, rk. H. wuchs 1471–1483 in der Bretagne im Exil auf, kehrte 1483 nach England zurück und besiegte Richard III. in der Schlacht bei Bosworth 1485. Seine Heirat mit Elisabeth von York († 1503) 1486 vereinigte die wichtigsten adeligen Fraktionen Englands und schuf die Voraussetzung für die Konsolidierung der Herrschaft der Tudor für das kommende Jh. Durch ein kompliziertes System von Schuldverschreibungen band er die wichtigsten Adeligen in ein auf den Kg. allein ausgerichtetes Netzwerk ein und sicherte sich dadurch deren Loyalität. 1496 legte H. mit seiner finanziellen Unterstützung und Privilegierung der Erkundungsexpedition von John Cabot (Giovanni →Caboto) die Grundlage für Englands atlantisches Kolonialreich. Als Gegenleistung für Entdeckungen sollte Cabot alle entdeckten Inseln zum Eigentum erhalten; sich selbst sprach der Kg. ein Fünftel der Gewinne der Expedition zu. Ergebnis der Expedition waren die ersten Nachrichten über die fischreichen Gewässer vor Neufundland. Cabots zweite Expedition 1498, in der der Kg. sein finanzielles Engagement erhöhte, scheiterte. In den Privilegien für die Entdeckungsfahrten eines Konsortiums, dem Sebastian Cabot, John Cabots Sohn angehörte, zwischen 1502 und 1506 wurde zum ersten Mal die „doctrine of effective possession“ – nur solches Land durfte in Besitz genommen werden, welches noch nicht im Besitz eines anderen christl. Prinzen war – ausformuliert. Sein Sohn Arthur (* 1486) starb 1502 kurz nach seiner Verheiratung mit Katharina von Aragon, seine Tochter Margaret (* 1489), heiratete 1503 Jakob IV. von Schottland; seine Tochter Mary (* 1496) heiratete 1514 Ludwig XII. von Frankreich; sein einziger überlebender Sohn Heinrich (* 1491) wurde sein Nachfolger.
331
h e inr i c h viii .
Sean Cunningham, Henry VII, London 2007. James A. Williamson, The Cabot Voyages and Bristol Discovery Under Henry VII, Cambridge 1962. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Hein →Heyn Heinrich VIII. von England, * 28. Juni 1491 Greenwich (London), † 28. Januar 1547 London, □ St. George’s Chaple / Windsor Castle, rk., anglik. (1534) Der junge Kg. heiratete am 11.6.1509 Katharina von Aragon, die Nichte →Karls V., und Witwe seines Bruders Arthur († 1502); alle Kinder aus dieser Ehe mit Ausnahme von Mary (* 1516), später Mary I., starben unmittelbar nach der Geburt. Überzeugt, daß nur ein männlicher Thronfolger die Tudor-Herrschaft sichern könne, und möglicherweise auch Zweifel an der Legitimität seiner Ehe veranlaßten H., zuerst die Annullierung seiner Ehe beim Papst und, als dieser sich verweigerte, durch ein Urteil des obersten engl. Kirchengerichts (23.5.1533) und durch parlamentarisches Gesetz (25 Henry VIII, c. 22, März 1534) zu erzwingen. Folge dieser Scheidung war die Lossagung H.s von der rk. und die Konstituierung der engl. als separate anglik. Kirche, zu deren Oberhaupt („supreme head“) er sich 1534 durch parlamentarisches Gesetz erklären ließ. Aus der unmittelbar nach dem Scheidungsverfahrenen geschlossenen zweiten Ehe mit Anne Bolyn entstammte die Tochter Elisabeth (* 1533), später →Elisabeth I.; aus der Ehe mit Jane Seymour (geschlossen 30.5.1536) entsproß der einzige Sohn Edward (* 12. Oktober 1537), später Edward VI. Nicht zuletzt mit Rücksicht auf Karl V. und seine Scheidungsabsichten hielt sich H. mit Expeditionen in den atlantischen Raum zurück. Sein Kanzler und Kardinal Thomas Wolsey versuchte jedoch 1521 sicherlich nicht ohne Billigung H.s, Londoner Kaufleute zu Expeditionen zu veranlassen. Für eine Expedition 1527, die John Rut als ein adeliges Touristikvergnügen organisierte, stellte der Kg. ein Schiff zur Verfügung. Umstritten bleibt die These, daß H. durch die Lösung Englands aus der universalen rk. Kirche die Grundlage für das „British Empire“ geschaffen habe. David Quinn, England and the Discovery of America 1481–1620, London 1974. John Scarisbrick, Henry VIII, London 1968. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Heinrich der Seefahrer (Infante Dom Henrique), * 4. März 1394 Porto † 13. November 1460 Sagres, □ Kloster Batalha, rk. H., Sohn von König João I. und Philippa von Lancaster, war ein portugiesischer Prinz, der als Initiator und Förderer der portugiesischen Expansion in den Atlantik bekannt wurde. Obwohl er nie selbst an einer längeren Seefahrt teilnahm, erhielt er im 19. Jh. den Beinamen „der Seefahrer“. Zeitgleich wurde er zum Vorreiter einer von Europa ausgehenden „Modernität“ stilisiert, insbesondere in seiner Rolle als Impulsgeber für wissenschaftliche Neuerungen in der Navigation. Während des Salazar-Regimes diente er als nationale Symbolfigur für das portugiesische Weltreich und wurde mit aufwendigen Feierlichkeiten bedacht. H. war 1415 an der Eroberung Ceutas beteiligt, dem ersten europäischen Stützpunkt auf 332
dem afrikanischen Kontinent. Wenig später wurde er zum Herzog von Viseu und Grundherrn von Covilhã ernannt, 1416 zum Gouverneur von Ceuta und 1420 vom Papst zum Administrator des →Christusordens. Während seine Kolonisationsversuche auf den Kanaren scheiterten, war die von ihm geförderte Besiedlung Madeiras und der Azoren erfolgreich. 1434 umfuhr Gil Eanes in seinem Auftrag erstmals das Kap Bojador und überwand damit eine psychologische Schwelle in der Seefahrt. 1437 erlitt H. eine schwere Niederlage beim Angriff auf Tanger, bei der er seinen Bruder Fernando in Gefangenschaft zurückließ. Seit 1443 hatte H. das Handelsmonopol für die Region südlich des Kap Bojador inne. 1444 erreichten die Portugiesen unter seiner Leitung die Mündung des Senegal, in den 1450ern die Kapverdischen Inseln und zum Zeitpunkt seines Todes erfolgte die Erkundung der Küste von Sierra Leone. Die Umrundung Afrikas und die Fahrt nach Indien beabsichtigte er jedoch noch nicht. H. ist eine der kontroversesten Personen in der portugiesischen Geschichtsschreibung. Während einige Historiker in ihm einen ritterlichen Idealen verbundenen Kreuzfahrer sehen, der mit den Vorstößen entlang der afrikanischen Küste die Hoffnung verfolgte, auf den (christlichen) Priesterkönig Johannes (→Priester Johannes) zu stoßen, um gemeinsam mit ihm gegen die muslimischen Heere zu kämpfen, halten ihn andere für einen politisch geschickten Strategen, der auf die Ausweitung seines Herrschaftsbereichs bedacht war und für den die wirtschaftlichen Gewinne ein mindestens ebenso wichtiges Motiv für sein Engagement in der Expansion waren wie die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Wieder andere relativieren seine Bedeutung, indem sie auf die Rolle der portugiesischen Krone, weiterer Mitglieder der königlichen Familie sowie privater Kaufleute für die Organisation der frühen Überseefahrten hinweisen. Peter E. Russell, Prince Henry ‚The Navigator‘. A Life, New Haven (CT) 2000. JO R U N PO ETTERIN G Helbig, Karl, * 18. März 1903 Hildesheim, † 9. Oktober 1991 Hildesheim, □ Hildesheim, Rel. unbek. Kurz nach dem Abitur 1921 wurde H. Vollwaise und mußte sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Im Herbst 1922 begann er an der Universität Göttingen das Studium der Landwirtschaft, mußte es jedoch bald aus finanziellen Gründen unterbrechen. Im Sommer 1923 ging H. nach Bremen und heuerte auf einem Dampfer als Kohlentrimmer an. Seine zweite Reise als Heizer führte ihn nach →Indonesien. Im Herbst 1927 nahm er sein Studium an der Universität Hamburg wieder auf. Er belegte Geographie, Geologie und Indonesische (Malaiische) Sprachen. 1929 ging H. wegen seiner Doktorarbeit nach →Batavia (das heutige Jakarta). Er promovierte 1930 in Hamburg mit der Arbeit „Batavia: eine tropische Stadtlandschaftskunde im Rahmen der Insel Java“. H. beschloß, freier Forschungsreisender und Reiseschriftsteller zu werden, da er nicht in der Lehre tätig sein wollte. Seine Reisen finanzierte er weiterhin durch die Arbeit als Heizer auf Dampfern. H. forschte auf diese Weise auf →Java, Madura, →Bali, →Sumatra, Nias und →Borneo. 1940 habilitierte sich H. an der Universität Marburg mit einer Arbeit über die Zinninsel Bangka. Ne-
h elf f eri ch , k Arl
ben wissenschaftlichen Artikeln verfaßte H. auch Kinder- und Jugendbücher. Nach dem →Zweiten Weltkrieg konnte H. erst wieder ab 1953 auf Forschungsreisen gehen. Als neue Forschungsregionen wählt H. →Mexiko, →Guatemala und San Salvador. Es folgten Reisen nach Guatemala, Britisch Honduras, →Nicaragua, →Costa Rica und →Panama. Seine letzte Forschungsreise führte ihn 1975/76 erneut nach Mexiko. 1983 vermacht H. seinen literarischen Nachlaß dem Hildesheimer Roemer-Pelizäus Museum. Am 18.07.1988 erhielt H. das Bundesverdienstkreuz am Bande. 1990 stiftete H. einen Großteil seiner Ethnographica dem Hildesheimer Museum. H. starb im Alter von 88 Jahren überraschend an einem Herzschlag. Aus Anlaß seines 100. Geburtstages ehrte ihn die Stadt Hildesheim mit einem Kolloquium, das vom 20.-22.03.2003 im Rathaus zu Hildesheim stattfand. Wichtigste Schriften von Karl Helbig: Am Rande des Pazifik: Studien zur Landes- und Kulturkunde Südostasiens, Stuttgart 1949. Antiguales (Altertümer) der Paya-Region und Paya-Indianer: Beiträge zur mittelamerikanischen Völkerkunde, Hamburg 1956. Das Stromgebiet des oberen Rio Grijalva – Eine Landschaftsstudie aus Chiapas, Süd-Mexiko. Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg, 54, 1961, 9–295. Die Landschaften von Nordost-Honduras. Petermanns Geographische Mitteilungen, Ergänzungsheft Nr. 268, 1957. Urwaldwildnis Borneo: 3000 Kilometer Zick-Zack-Marsch durch Asiens größte Insel, Braunschweig 1940. Zu Mahamerus Füßen: Wanderungen auf Java, Leipzig 1954. L: Werner Rutz / Achim Sibeth (Hg.): Karl Helbig: Wissenschaftler und Schiffsheizer. Hildesheim 2004. ACHI M S I BE T H Helfferich, Emil, * 17. Januar 1878 Neustadt a. d. Weinstraße, † 22. Mai 1972 Neustadt a. d. Weinstraße, □ Familiengrab Hauptfriedhof Neustadt, ev.-luth. Der jüngere Bruder von Karl →H. schiffte sich Ende des 19. Jh.s nach →Ndl.-Indien ein und arbeitete zunächst als Pflanzer auf einer Tabakplantage (→Tabak) in Nordsumatra. 1903 gründete er die Kolonialwarenfirma (→Kolonialwaren) „H. & Rademacher“ und siedelte nach →Batavia über. Bereits 1906 konnte eine Filiale in →Surabaya eröffnet werden, doch spekulative Geschäfte mit Pfefferexporten (→Pfeffer) führten 1908 zum Bankrott. 1908 reiste H. nach Deutschland zurück und mobilisierte Kapital für das von ihm angeregte „Straits und Sunda Syndikat“, das vom Kautschukboom auf der malaiischen Halbinsel und →Sumatra profitierte. Ende 1909 kehrte H. als Leiter des Syndikats nach Batavia zurück. Ende 1913 beschäftigte er allein in Ndl.-Indien 57 Europäer und ca. 6 800 asiatische Arbeitskräfte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte auch für die Deutschen im neutralen Ndl.-Indien tiefe Einschnitte. H. regte deshalb die Gründung des „Dt. Bundes in Ndl.-Indien“ an, der sich am 27.1.1915 konstituierte. Für die nächsten zwölf Jahre wurde H. Präs. des Bundes und Hg. seines Organs, der Zeitschrift „Dt. Wacht“. Der Dt. Bund vertrat v. a. die ökonomischen Interessen der dt. Gemeinde in Ndl.Indien. Politisch stand diese Vereinigung in den 1920er Jahren mit ihrer Zeitschrift „Dt. Wacht“ eher auf der Seite der Deutschnationalen, bevor sie sich 1933 auf die Seite der NSDAP schlug. 1924 sprach man dem Dt. Bund
die offizielle Anerkennung als dt. Auslandshandelskammer aus, die erst nach dem Einmarsch dt. Truppen in die Niederlande 1940 widerrufen wurde. 1928 verließ H. →Indonesien und kehrte nach Deutschland zurück. Hier wirkte er an einer Vielzahl von Aufsichtsräten mit, u. a. der Hamburg-Amerika-Linie (→HAPAG), der Dt.Am. Petroleumgesellschaft (eine Tochtergesellschaft der ESSO New York) oder dem Norddt. Lloyd. Ab 1932 befaßte sich H. in der NSDAP mit wirtschaftspolitischen Fragen und vermochte dem Ostasiatischen Verein in Hamburg, dem er seit 1909 angehörte, und dessen wirtschaftlichen Interessen in Berlin Gehör zu verschaffen. H. war von 1934–1942 und von 1960/61 Vorsitzender des Ostasiatischen Vereins und wurde von 1942–1965 als Ehrenmitglied geführt. 1951 reiste H. noch einmal in das jetzt unabhängige Indonesien und traf dort Präs. →Sukarno, um bei ihm nach dem Zusammenbruch der Handelsbeziehungen wieder um Vertrauen für Deutschland zu werben. H.s Nachlaß wurde dem Heimatmuseum in Neustadt a. d. Weinstraße übergeben und befindet sich heute im Ostasieninstitut der Fachhochschule Ludwigshafen. Bernd Eberstein, Der Ostasiatische Verein 1900–2000, Hamburg 2000. Emil Helfferich, Ein Leben, 5 Bde., Hamburg / Jever 1948/1965. Rüdiger Siebert, Dt. Spuren in Indonesien, Unkel 2002. H O LG ER WA R N K Helfferich, Karl, * 22. Juli 1872 Neustadt / Weinstraße, † 23. April 1924 nahe Bellinzona (Zugunglück), □ Familiengrab Hauptfriedhof Neustadt, ev.-luth. Das erste von sieben Kindern eines mittelständischen Trikotagenfabrikanten studierte Nationalökonomie bei Lujo Brentano, Gustav Schmoller und Georg Knapp. H.s Dissertation über „Die Folgen des dt.-österr. Münzvereins 1857“ erregte Aufsehen. Anschließend beschäftigte er sich mit Fragen der Währungstheorie (→Währung), publizierte in der freisinnigen Zeitschrift „Die Nation“ und engagierte sich gegen den Antisemitismus Treitschkes und Stoeckers. 1899 habilitierte er sich in Berlin mit Befürwortung Schmollers und Mommsens. In seiner Lehrtätigkeit vertrat H. linksliberale Ideen im Geiste Ludwig Bambergers (Theodor Heuss, NDB: „wichtigster Schüler und geistiger Erbe“), die ksl. Mißfallen erregten. Die Ergebnisse seiner Forschung und Lehre verarbeitete er zu seinem wissenschaftlichen Hauptwerk „Das Geld“. Parallel zur Lehrtätigkeit arbeitete er ab 1901 in der Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes mit, wo er erfolgreich die Währungsverhältnisse der Kolonien ordnete. 1906 wurde er administrateur délégué der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft. In schwierigen Verhandlungen gelang ihm der Weiterbau der →Bagdad-Bahn über das Taurusgebirge hinaus. 1908 empfahl er in Denkschrift für Reichsreg., die Baupläne mit Großbritannien abzustimmen. Diese Empfehlung wurde erst 1914 und damit zu spät realisiert. „Lohn“ für seine Tätigkeit war 1908 der Eintritt in den Vorstand der Dt. Bank. 1915 wurde H. zum Staatssekretär des Reichs-Schatzamtes ernannt. Zunächst versuchte er, die Kriegskosten traditionell durch Anleihen zu finanzieren. Erst im Frühjahr 1916 ging er zu Steuererhöhungen („außerordentliche Reichsabgaben“) nach brit. Vorbild über. 333
h e l g o l A n d - s An s i b A r - v e rtr A g
Im Mai 1916 wurde er Innen-Staatssekretär und Stellvertreter des Reichskanzlers. In dieser Position setzte er zaghaft Reformen im Reich und in Preußen durch. Vor „leichtfertiger“ Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boots-Krieges warnte er nachdrücklich. Den Sturz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg überstand H. zunächst, mußte aber im Okt. 1917 nach Rücktritt von Reichskanzler Michaelis seine Ämter abgeben. 1918 war er kurzfristig Geschäftsträger in Moskau. Meinungsverschiedenheiten mit Außenstaatssekretär von Hintze führten zur Ablösung. Unter dem Eindruck der Niederlage wandte er sich vom Liberalismus ab und trat in die DNVP ein, deren Parteivorstand er ab 1919 angehörte. Polemische Angriffe gegen Reichsfinanzminister →Erzberger, dem er Ausnutzung politischen Insider-Wissens für private Finanzgeschäfte vorwarf, veranlaßten diesen zu Strafantrag gegen H. Im Prozeß wurde H. zu geringfügiger Geldstrafe verurteilt, doch mußte Erzberger wegen des nicht widerlegten Korruptions-Vorwurfes als Minister zurücktreten. 1920 heiratete H. die Tochter Annette des Gründers der Dt. Bank, Georg von Siemens. 1920– 1924 war H. MdR für die DNVP. Dort wirkte er als leidenschaftlicher Wortführer der Rechtsopposition gegen „Erfüllungspolitiker“ und „Novemberverbrecher“. An ihn wandte sich Reichskanzler Wirth, als er im Reichstag anklagend feststellte: „[Dieser] Feind steht rechts!“ 1923 war H. an Währungsstabilisierung mit Vorschlägen zur Schaffung einer Währung auf Sachwertbasis, der „Roggenmark“, entscheidend beteiligt. Seine von den Gremien der Reichsbank einstimmig vorgeschlagene Ernennung zum Reichsbank-Präs. scheiterte an Stresemanns Einspruch. Den am 30.8.1924 vom Reichstag angenommenen →Dawes-Plan bekämpfte er engagiert, weil er die darin liegenden und ab 1929 verhängnisvoll zu Tage getretenen Risiken klar erkannte. Karl Helfferich, Das Geld, Leipzig 1903. John G. Williamson, Karl Helfferich 1872–1924. Economist, Financier, Politician, Princeton 1977. GE RHARD HUT Z L E R Helgoland-Sansibar-Vertrag. Der konservative Premierminister Lord →Salisbury regte am 13.5.1890 dem dt. Botschafter Graf Hatzfeldt gegenüber die Abtretung der seit dem Wiener Kongreß der Krone Großbritanniens gehörenden Insel Helgoland gegen die Anerkennung des brit. →Protektorats über →Sansibar und Pemba und die Bereinigung anderer Differenzen an. Im Einvernehmen mit Ks. Wilhelm II. griff Reichskanzler Graf →Caprivi dieses Angebot auf. Das Ergebnis war der am 1.7.1890 in Berlin unterzeichnete Vertrag. Er stellte den ersten außenpolitischen Erfolg des neuen Reichskanzlers dar. Die Bezeichnung des Vertrages als H.S.V. ist irreführend, denn von seinen 12 Artikeln betrafen nur die beiden letzten die Inseln, die ihm den Namen gaben. Wichtiger waren die Artikel I-IV. In ihnen wurden die dt. „Interessensphäre“ in Ostafrika auf das Gebiet der späteren Kolonie beschränkt und die brit. Ansprüche auf Sansibar, →Kenia und →Uganda bestätigt, die Übertragung des Protektorates über Witu auf das Vereinigte Kgr. vereinbart, die strittigen Grenzen zwischen →Kamerun und →Nigeria sowie Gold Coast und →Togo festgelegt und →Dt.-Südwestafrika ein Zugang zum Sambesi ermög334
licht. Am 1.8.1890 erfolgte die Übergabe Helgolands an das Dt. Reich. Auf Wunsch Großbritanniens konnten die Inselbewohner für die bisherige →Staatsangehörigkeit optieren, ohne daß ihnen daraus Nachteile entstehen sollten. Davon machten 18,5 % der Bevölkerung Gebrauch. Die allg. Wehrpflicht des Dt. Reiches galt, ebenfalls auf Wunsch der Briten, für die vor 1890 geborenen Ew. Helgolands nicht. Daran hielt sich das Reich bis nach dem Ersten Weltkrieg. Der Verzicht auf Wituland wog für Deutschland nicht schwer, da diese Region wenig wirtschaftlichen Wert besaß. Auf Sansibar hatte das Reich keine Ansprüche, so daß die Anerkennung der brit. Schutzherrschaft letztlich nur einen bestehenden Rechtszustand betraf. Ein Verlust des „Kgr.s“ Uganda war irreal. Völkerrechtlich begründbare dt. Ansprüche für dieses afr. Binnenland gab es 1890 nicht. Ob Helgoland je die strategische Bedeutung als „Schutzschild für den Ks.-Wilhelm-Kanal“ und Flottenstützpunkt hatte, die Graf Caprivi als Chef der Admiralität 1886 in einer Denkschrift annahm und die der spätere Chef des Reichsmarineamtes, v. →Tirpitz, 1892 bekräftigte, wird von Historikern unterschiedlich gesehen. Der Vertagsabschluß bildete den äußeren Anlaß für die Gründung des rechtsradikalen „Allg. Dt. Verbandes“. Dessen Direktoriumsmitglied Alfred Hugenberg (1865–1951) versuchte mit den Schlagworten vom Eintausch eines „Hosenknopfes“ gegen „Kgr.e“ Stimmung zu machen. Die reg. samtliche Meinung Großbritanniens zum Abschluß des Vertrag formulierte die „Times“: „Das letzte unserer unbedeutenden Probleme mit Deutschland wurde aus der Welt geschafft.“ In Frankreich lösten die im Vertrag getroffenen Vereinbarungen und insb. die Abtretung Helgolands starke Verstimmungen gegen Großbritannien aus. G ERH A R D H U TZLER
Herero-Nama-Aufstand. Bei dem im dt. Sprachgebrauch sog. H. handelt es sich um den →Kolonialkrieg, der 1904–1908 die Kolonie →Dt.-Südwestafrika (heute →Namibia) erschütterte. Der Befreiungskampf der Herero nahm seinen Anfang, als diese sich im Jan. 1904 unter ihrem Paramount-Chief Samuel →Maharero gegen die dt. Kolonialherrschaft erhoben und dt. Farmen, Militärstationen und die Eisenbahnlinie WindhoekSwakopmund angriffen. Als Kriegsursachen gelten die Verschärfung der sozialen Spannungen mit den in immer größerer Zahl einwandernden weißen Siedlern, die Vergewaltigungen von Herero-Frauen, eine nach Hautfarbe entscheidende Kolonialgerichtsbarkeit, das Händler- und Kreditunwesen, Landverluste und die Einrichtung erster Reservate, in die die Afrikaner abgeschoben werden sollten. Da nach Auffassung der Reg. in Berlin der amtierende →Gouv. Theodor →Leutwein nicht energisch genug gegen die Aufständischen durchgriff, beorderte Ks. Wilhelm II. Generalleutnant Lothar von Trotha in die Kolonie. Der neue Oberbefehlshaber der →Schutztruppe führte einen gnadenlosen Vernichtungsfeldzug gegen die Herero. Nach der entscheidenden Schlacht auf Ohamakari am Waterberg am 11./12.8. 1904 flohen die dort eingeschlossenen Herero-Krieger mit ihren Frauen, Kindern und Viehherden ostwärts in Richtung der wasserlosen Omaheke-Halbwüste. General von Trotha legte
h ern á n d ez, f rA n ci s co
daraufhin einen ca. 250 km langen Absperrungsgürtel im Westen und Südwesten der Omaheke an. Er ließ die Herero-Verbände verfolgen und hinderte sie daran, in ihre angestammten Gebiete zurückzukehren. Zehntausende von Herero verdursteten in der Omaheke. Erst ab Mitte Dez. wurde auf Anordnung von Ks. Wilhelm II. die Kriegführung geändert und die überlebenden Herero in Konzentrationslagern gesammelt. Ab Okt. 1904 erhoben sich im Süden des Landes auch die Nama unter Hendrik →Witbooi und nach seinem Tod unter Jacob Marengo u. anderen Anführern. Die Nama führten einen jahrelangen Guerillakrieg, auf den die dt. Seite mit einer Politik der „verbrannten Erde“ reagierte. Letztlich erlag auch dieser Widerstand der Übermacht des dt. Kolonialmilitärs. Auch die überlebenden Nama wurden wie die Herero in Konzentrationslagern interniert. Der Kolonialkrieg kostete auf dt. Seite 1750 Menschen das Leben. Die Mortalitätsrate auf afr. Seite kann nur geschätzt werden. So wird davon ausgegangen, daß zwischen 35–80 % der ca. 40 000–100 000 Herero und bis zu 50 % der ca. 22 000 Nama umgekommen sind. Wie viele der ebenfalls betroffenen Damara ihr Leben verloren, muß wegen der schwierigen Quellenlage wohl ungeklärt bleiben. Nach dem Krieg folgte die Enteignung des Land- und Viehbesitzes der Herero und Nama; die „Eingeborenen“ wurden fortan dem Arbeitszwang und einem rigiden Kontrollsystem unterworfen. Die Kriegführung unter dem hauptverantwortlichen General von Trotha wird von Teilen der heutigen Forschung als →Völkermord bewertet. Kontrovers diskutiert wird v. a. auch die Frage, ob und inwieweit Kontinuitäten oder Analogien zwischen diesem kolonialen Völkermord und dem Holocaust festzustellen sind. Obwohl dieser Krieg die indigenen Gesellschaften in der Kolonie in eine tiefe Krise stürzte, wäre es falsch, sie einseitig als Opfer der dt. Kolonialherrschaft zu betrachten. Denn die Herero und Nama vermochten es in der Folgezeit durch einen hartnäckigen Kampf, zu dem auch eine bewußte Erinnerungspolitik gehörte, ihre Eigenständigkeit zu bewahren und eine neue Identität aufzubauen. Seit 2001 ist eine Reparationsklage der „Herero People’s Reparation Corporation“ bei US-Gerichten anhängig, mit der sie Wiedergutmachungszahlungen von dt. Firmen und der Bundesreg. in Berlin durchsetzen will. Nach Auffassung von Juristen hat allerdings die bisher schon zweimal abgewiesene Klage kaum Aussicht auf Erfolg. Anläßlich des 100. Jahrestages der „Schlacht am Waterberg“ Mitte Aug. 2004 bat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul die Nachkommen der Opfer um Entschuldigung für die dt. Kolonialverbrechen. Birthe Kundrus, Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Werkstatt Geschichte 43 (2006), 45–62. Susanne Kuß, Dt. Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, Berlin 2010. Jürgen Zimmerer / Joachim Zeller (Hg.), Völkermord in Dt.-Südwestafrika, Berlin 2003, Augsburg 22011. JOACHI M Z E L L E R
Hermandades ist die span. Bezeichnung für Barmherzige Vereinigungen. Neben →Cofradías (Bruderschaften) und dem Dritten Orden, stellen h. im Kirchenrecht jene Laienvereinigungen dar, deren Aufgabe in der Ver-
tiefung und Verbreitung des religiösen Lebens einer Gemeinde besteht. H. widmeten sich, hierauf weist ihre dt. Bezeichnung hin, darüber hinaus v. a. der Linderung von Not sowie der Pflege von Kranken. Afroam. H. machten sich zudem oftmals den Freikauf versklavter Brüder zur Aufgabe. Freilich wurde im Alltag der überseeischen Gemeinden häufig nicht zwischen „hermandad“ und „cofradía“ unterschieden. So finden sich Cofradías ohne kirchenrechtliche ebenso wie h., die über eine solche Legitimation verfügten. Diese überseeischen, religiösen h. sind nicht mit der Santa Hermandad zu verwechseln, die im 15. Jh. als zentrale Polizeibehörde von den Katholischen Kg.en gegründet wurde. Dagmar Bechtloff, Kirchliche Laienvereinigungen als Instrument zur Vermittlung christl.-abendländischer Werte – Absicht der Missionare und Interpretation durch die Neophyten im kolonialen Neu-Spanien, in: Wilfried Wagner (Hg.), Kolonien und Missionen, Münster / Hamburg 1994. Michael Carroll, The Penitente Brotherhood, Baltimore 2002. D A G MA R BEC H TLO FF Hernández, Francisco, * um 1515 Puebla de Montalbán, † 28. Januar 1587 Madrid, □ unbek., rk. Arzt, Humanist und Naturforscher, führte von 1570–1576 im Auftrag →Philipp II. die erste große wissenschaftliche →Expedition nach Neuspanien / →Mexiko durch. H. studierte Medizin in Alcalá de Henares, der von Kardinal →Jiménez de Cisneros im Geist des Humanismus gegründeten Universität, erwarb 1536 den Grad eines Baccalaureus und ca. drei Jahre später den eines Dr., in einer Zeit, als in Alcalá die Medizin durch die Rezeption von Galen und Hippocrates erneuert und darin die Botanik einen hohen Stellenwert erlangte. Bereits der Mailänder Humanist in span. Diensten, Pedro Mártir de Anglería, hatte als erster Chronist der span. Expansion großes Interesse an den Alltagsdingen der indigen Bevölkerung, u. a. den Nutz- und Heilpflanzen, bekundet, und in den 1530er Jahren hatten Franziskaner aus Mexiko den Libellus de Medicinalis Indorum (Kodex Cruz Badiano) an →Karl V. gesandt. H. war in einschlägig interessierten Kreisen in Sevilla, Toledo und dann Madrid tätig, war mit dem Humanisten Benito Arias Montano befreundet und kannte u. a. Monardes, Francisco Bravo, Juan Fragoso, die Mitte des 16. Jh.s medizinisch-botanische Werke mit Bezügen zu Asien und →Amerika publizierten. 1569 wurde H. als Protomédico de las Indias von Philipp II. mit dem Auftrag zur Erkundung der Naturgeschichte nach Amerika entsandt und bereiste zwischen 1570 und 1574 mit einem Stab von Helfern, u. a. indigenen Experten der Heil- und Pflanzenkunde, indigener Schriftkundiger, Dolmetschern usw., das damals bekannte Mexiko. Neben der Pflanzenund Tierwelt erfaßte er auch vor-span. Kulturdenkmäler und Naturphänomene, beschrieb Krankheiten und Epidemien, wie den mehrfach in Mexiko unter den Indios hohe Opferzahlen fordernden cocolixtli. Sein Ziel war die Ergänzung der Naturgeschichte des Plinius durch die Phänomene der Neuen Welt. Ende 1576 sandte er seine Materialien, Sammlungen und 16 Text-Bde., an die Krone und kehrte selbst Anfang 1577 nach Spanien zurück. Die von der Krone geplante Veröffentlichung der Ergebnisse scheiterte an H.s Erkrankung, von der er 335
h e r n s he i m , e duA r d
sich nie mehr erholte und so seine Auswertungen nicht abschließen konnte. Legate an die indigenen Helfer in seinem Testament bekunden H.s hohe Wertschätzung von deren Beiträgen. 1580 erhielt Nardo Antonio Recchi den Auftrag, Extrakte der Sammlung zur Botanik für eine Publikation in Italien zu erstellen. Die Auszüge gelangten auf Umwegen an die Academia dei Lincei in Rom, publiziert wurde aber zuerst 1615 in Mexiko ein dorthin gelangter anderer Extrakt derselben, bevor in Rom 1651 eine auf Recchi basierende Edition erfolgte. Diese Beschreibungen von ca. 3 000 Pflanzen, teils mit span., teils mit ihren Nahuatl-Namen, zirkulierten ebenso wie andere spätere Extrakte aus H.s Werk weithin in Europa und beeinflußten die von Linnaeus erarbeitete botanische Systematik. 1671 wurden H.s Originalmanuskripte bei einem Brand in der Bibliothek des Escorial vernichtet. Antonello Gerbi, La naturaleza de las Indias nuevas. Mexiko-Stadt 1978. Francisco Hernández, Obras completas, 7 Bde., Mexiko-Stadt 1959–1984. José María López Piñero, José Pardo Tomás, La influencia de Francisco Hernández (1515- 1587) en la constitución de la botánica y la materia médica modernas, Valencia 1996. HORS T P I E T S CHMANN
Hernsheim, Eduard, * 22. Mai 1847 Mainz, † 13. April 1917 Hamburg, □ Israelit. Familiengrab in Wedel bei Hamburg, jüd. Ab 1865 Seemannsausbildung in Hamburg, 1867 Steuermanns-, 1869 Kapitänspatent. Ab 1873 mit eigenem Dreimaster in der Südsee. Zunächst Handel mit Kopra, Schildpatt und Gutapercha. Ab 1877 Faktorei in Matupi / Neu Britannien. 1880–1886 dt. Honorar-Konsul für Melanesien. 1887 wieder in Hamburg. 1900 Gründung einer Reederei als Aktiengesellschaft für den Verkehr nach Australien und Ozeanien. Heinrich →Schnee nannte ihn „einen Pionier des dt. Südseehandels“. Q: Eduard Hernsheim, Tagebuch, Hamburg 1886. Ders., Lebenserinnerungen, Hamburg 1910. L: Jakob Anderhandt, Eduard Hernsheim, d. Südsee u. viel Geld, 2 Bde., Münster 2012. Erika Suchan-Galow, Die dt. Wirtschaftstätigkeit in der Südsee vor der ersten Besitzergreifung 1884, Berlin / Hamburg 1940 (stark vom damaligen Zeitgeist geprägt, mit Hinweis auf „nichtarische Abstammung“ Hernsheims). GE RHARD HUT Z L E R Hernsheim, Franz, * 22. Oktober 1845 Mainz, † 8. Januar 1909 Heidelberg, □ Familiengrab in Wedel, jüd. Älterer Bruder von Eduard →H. Kaufmännische Tätigkeit 1868–1875 in Manchester, Le Havre und Santa Cruz / →Mexiko. Ab Febr. 1878 in Jaluit / →Marshallinseln als Repräsentant von Robertson & Hernsheim, Hamburg. 1887 Rückkehr nach Hamburg. Dort Leitung der →Jaluit-Gesellschaft, von deren Eigenkapital seine Familie 25 % besaß. H. war ab 1876 ksl. Honorar-Konsul für →Mikronesien, ab 1878 daneben Konsularagent des Kgr.s →Hawai’i. Q: Beitrag zur Sprache der Marshallinseln, Leipzig 1880. Südsee-Erinnerungen, Berlin 1883. L: →H., Eduard. GE RHARD HUT Z L E R
336
Herodot, * um 485 v. Chr. Halikarnassos, † um 424 v. Chr. Thurioi, □ unbek. Über das Leben H.s ist wenig überliefert. Bekannt ist, daß sein Onkel Panyassis ein berühmter epischer Dichter war. H. verließ das kleinasiatische Halikarnassos um 460 v. Chr. infolge bürgerkriegsartiger Unruhen, zu denen die Herrschaft des Tyrannen Lygdamis geführt hatte, und ging nach Samos. Mitte der 450er Jahre nach Halikarnassos zurückgekehrt, brach er von dort zu ausgedehnten Forschungsreisen nach Mesopotamien, Phönizien, →Ägypten und zu den Skythen in der heutigen Ukraine auf und ist damit der erste Forschungsreisende, von dem die Geschichtsschreibung weiß. Vermutlich zu Beginn der 440er Jahre kam er nach Athen, von wo er ca. 443 in die athenische Kolonie Thurioi am Golf von Tarent übersiedelte. Seinen Ruf als „Vater der Geschichtsschreibung“, wie Cicero ihn nannte, begründete H. durch seine „Historien“, die vermutlich zwischen 430 und 426 v. Chr. entstanden. In ihnen sind Entstehung und innere Entwicklung des persischen Reiches und der Konflikt zwischen Persern und Griechen bis 479 v. Chr. („Perserkriege“) geschildert, letzterer auf Basis umfangreicher Zeitzeugenbefragungen. H. beruft sich, anders als vor ihm Homer, bei seinen Darlegungen nicht auf göttliche Eingebung, sondern auf die Erkenntniskraft menschlichen Denkens. Er schließt mit der Überzeugung, daß sich für alles menschliche Handeln Gründe angeben lassen, an die ionischen Naturphilosophen an, geht aber auch von der Möglichkeit des Eingreifens der Götter ins historische Geschehen aus. Seine Beschreibung der Sitten und Gebräuche der im persischen Reich lebenden →Ethnien macht H. zum ersten bekannten Ethnographen, wenn auch wegen verschiedener Ungereimtheiten und logischer Brüche in seinen Ausführungen immer wieder bestritten wurde, daß er die Siedlungsräume dieser Ethnien tatsächlich bereist habe. Reinhold Bichler, Die ethnographische Utopie, in: Reinhold Bichler (Hg.), Von der Insel der Seligen zu Platons Staat, Wien u. a. 1995, 110–134. Albert Schlögl, Herodot, Reinbek 1998. CH R ISTO PH K U H L Herrenloses Land →Terra nullius Herrnhuter Brüder-Unität. Auch als Unitas Fratrum, Evangelische Brüder-Kirche, Erneuerte Brüder-Unität, Brüdergemeine oder Moravian Church („Mährische Kirche“) bezeichnet, bildet die H. eine Sondergruppierung innerhalb des dt. Protestantismus, die ihre Wurzeln in der böhmischen Reformation, im Calvinismus sowie im Pietismus hat. In ihrer Lehre nicht von anderen evangelischen Kirchen abweichend, sind die Merkmale ihrer Eigenkirchlichkeit (ecclesiola in ecclesia – „Kirchlein in der Kirche“) gelebte Frömmigkeit auf Grundlage der Bibel als einzige Richtschnur des Glaubens, vielfältige liturgische Formen, reichhaltiger Gesang, ein ausgeprägtes Gemeinschaftsleben sowie eine jh.ealte Missionstradition als integrativer Bestandteil ihrer Identität. Nachdem Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) böhmischen Exulanten, die auf Grund ihres Glaubens aus ihrer Heimat hatten fliehen müssen, 1722 auf seinem Gut Berthelsdorf in der sächsischen Oberlausitz Aufnahme
h erz-jes u - mi s s i o nAre
gewährt hatte, gründeten diese „böhmischen Brüder“ zusammen mit ihm 1727 eine Siedlung als christl. Lebensund Glaubensgemeinschaft, die sie „unter des Herrn Hut“ stellten und entspr. tauften. Unter dem Eindruck der Dän.-Halleschen Mission, die 1706 im südostind. →Tranquebar eine expandierende Missionsarbeit begonnen hatte, sandte die H. bereits 1732 zwei Missionare auf die Karibikinsel St. Thomas aus und leitete damit die erste systematische dt.-protestantische Missionstätigkeit der Neuzeit ein. Bereits ein knappes Viertel-Jh. später hatten Herrnhuter Missionare die Grundlage für ein weltweites Engagement gelegt, mit neuen Missionsunternehmen u. a. in →Grönland (1733), Suriname, Nordamerika (1735), Südafrika (1737), dem Golf von →Bengalen (1739), Labrador (1752) sowie auf →Jamaika (1754), wobei sie stets ein Missionskonzept verfolgten, bei dem über die Addition von aus ihrem Umfeld herausgelösten Individuen eine Gemeinschaft wahrhaft Bekehrter gebildet werden sollte. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s lag die protestantische Missionstätigkeit damit praktisch allein bei der H. Zudem übte sie in dieser Zeit einen nachhaltigen Einfluß auf die Gründung protestantischer Missionsgesellschaften in England sowie später – in den ersten Dekaden des 19. Jh.s – im dt.-sprachigen Raum aus. Im 19. Jh. kamen als neue Missionsgebiete Guyana (1835), Nicaragua (1849), →Australien (1850), das westliche Himalayagebiet (1853), Palästina (1867) und Alaska (1885) hinzu; 1891 trat dann auch die H. in die Kolonialmission in →Dt.-Ostafrika ein, wo sie – in Absprache mit der →Berliner Missionsgesellschaft – Missionare sowohl in das Nyassa-Gebiet (1891) als auch nach Unyamwezi (1897) entsandte. Synodal organisiert und in sog. Missionsprovinzen unterteilt, wurde das gesamte Missionswerk bis 1913 von Berthelsdorf bei Herrnhut aus durch eine internationale „Missions-Direktion“ geleitet. Infolge des Ersten Weltkrieges, der die Tätigkeit der H. stark einschränkte, kam es dann zur verwaltungsmäßigen Teilung, so daß neben dem bisherigen Zentrum in Herrnhut ein am. und ein engl. Zweig mit Sitz in Bethlehem/ Pennsylvania und London entstanden. 1934 bekannte sich der dt. Zweig der H. zur Barmer Theologischen Erklärung und sah sich daher massivem politischen Druck durch das nationalsozialistische Regime ausgesetzt; nach 1945 wurde die Arbeit der H. in Ostdeutschland durch die kommunistischen Machthaber behindert. Das Überleben des dt. Zweiges der H. konnte aber stets durch die Einbindung in das weltweite Netzwerk der Kirche sichergestellt werden. Heute besteht die H., aus der auch eigenständige Kirchen, wie die Broedergemeente in Suriname (seit 1963), hervorgegangen sind, weltweit aus 19 selbständigen, sich aber gegenseitig eng unterstützenden Kirchenprovinzen mit gegenwärtig (2008) ca. 825 000 Mitgliedern. In Deutschland nimmt die Herrnhuter Missionshilfe e. V. (HMH) im württembergischen Bad Boll die Koordination von missionarisch-kirchlichen und diakonischen Aufgaben im Sinne von Ökumene und Partnerschaft wahr. Adam Jones (Hg.), Afrikabestände im Unitätsarchiv der Herrnhuter Brüdergemeine, 4 Bde., Leipzig 2000. Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder-
gemeine, Göttingen 2000. Missionsblatt der Brüdergemeine, Herrnhut 1837–1939. TH O R STEN A LTEN A Herz-Jesu-Missionare nennt man auf Dt. (frz.: Missionnaires du Sacré-Cœur, lat.: missionarii sacratissimi cordis, abgekürzt MSC; engl.: Missionaries of the Sacred Heart) einen katholischen Missionsorden, der 1854 von Pater Jules Chevalier (1824–1907) im kleinen zentralfranzösischen Ort Issoudun gegründet wurde. Der Orden war v. a. in der Südsee missionarisch aktiv. Am 24.6.1881 beauftragte die päpstliche Propaganda Fide die H.J.M. mit der Christianisierung in den sog. apostol. Vikariaten Melanesien u. Mikronesien. Als Anfang ihrer erfolgreichen Christianisierungsmission im →Bismarckarchipel u. Beginn der katholischen Kirche in →Papua-Neuguinea gilt die Landung der drei H.J.M. Navarre, Cramaille u. Fromm am Vorabend des Michaelitages (28. September; deswegen ist der Hl. Michael Schutzpatron PapuaNeuguineas) 1882 in Matupit in der Blanche Bay unweit der späteren Stadt →Rabaul. In Matupit war eine kleine Europäerkolonie, der Sitz des deutschen Konsuls u. die Haupthandelsstation der dten. Südseefirma →Hernsheim. Faktisch hatte aber der von dem einheimischen →Bikman To Litur in seinen Missionsbestrebungen unterstützte P. René Marie Lannuzel bereits über ein Jahr zuvor, zwischen dem 12. u. 13. Juli 1881, 76 kleine Kinder getauft – die ersten indigenen Katholiken PapuaNeuguineas (Original der Taufurkunde im Bistumsarchiv Rabaul). Die frühesten Missionsstationen waren Beridni (heute Nodup, 5.6.1881), Kininigunan (später →Herbertshöhe, heute Kokopo, April 1883), Malagunan (Juli 1883) u. Volavolo (dt. auch Wlawolo, September 1883). Mit Errichtung der Kolonie →Deutsch-Neuguinea schien die Zukunft der französ. geprägten Mission gefährdet, aber nach dem allmählichen Ersatz frz. durch dte. H.J.M. (Ankunft der ersten dten. H.J.M. 24.7.1890, der ersten dten. H.J.Schwestern 21.12.1891) blühte sie weiter auf u. wurde zu eine der aktivsten kathol. Missionsgebiete im Pazifik überhaupt. Schwerpunkt der Missionsarbeit war die kathol. Kindererziehung, insbes. auch der Mädchen, u. der Aufbau religiöser u. säkularer Infrastruktur. Zentrum der Mission wurde 1891 Vunapope (→Kuanua für „Dorf des Papstes“) bei Herbertshöhe/Kokopo, ursprgl. ein bei den Tolai besonders gefürchteter Geisterplatz. Erster Bischof von Rabaul (1889–1923, bis 1922 u. d. Titel „Apostol. Vikar von Neupommern“) war der frz. H.J.M. Louis Couppé (1850–1926). Während die französ. H.J.M. den Südosten Neuguineas (die austral. Kolonie Papua; Missionszentrum Yule Island) christianisierten, prägten die deutschen H.J.M. auch nach dem Ersten u. Zweiten Weltkrieg die kathol. Kirche auf der Insel New Britain. Noch 1992 stellten deutsche H.J.M. den größten Teil des Klerus der Erzdiözese Rabaul (19 v. 37). Unter dem letzten dten. Erzbischof (1990–2011) Karl Hesse, MSC, wurde der Klerus fast vollständig indigenisiert. 2014 gab es noch 6 dte. H.J.M. (4 Priester, 1 Bruder, 1 Schwester) im Erzbistum Rabaul. Der weibl. Zweig der H.J.M. besteht aus zwei getrennten Kongregationen. Die eigentlichen H.J.-Schwestern (MSC) und die FDNSC (Filiae Dominae Nostrae Sacri Cordis, engl. Daughters of Our Lady of the Sacred Heart, OLSH)337
h e r z og, kA r l
Schwestern (1892 Ankunft in New Britain). Dazu kommen die am 21.10.1912 von Bischof Couppé als erster indigener Nonnenorden im Südpazifik gegründeten FMI (Filiae Mariae Immaculatae)-Schwestern (erste einheimische Nonne Sr. Maria Veronica, eine →Bainingfrau, 19.7.1913), die aber formal ein von den H.J.M. getrennter Diözesanorden sind. Zum Missionsgebiet der deutschen H.J.M. gehörten auch die →Marshallinseln u. →Nauru, nach dem Zweiten Weltkrieg auch →Peru, in den 60 er Jahren des 20. Jhs. auch der →Kongo, zu dem der französ. die →Gilbertinseln. Heute agieren die H.J.M. weltweit. Besonders stark sind sie in →Indonesien, die H.J.Schwestern in Papua-Neuguinea u. in Namibia. Die deutschen H.J.M. sind in zwei Ordensprovinzen organisiert: die norddte. Provinz (Sitz Münster-Hiltrup) u. die süddt.-österr. Provinz (Sitz Salzburg-Liefering). Q: Archive in Hiltrup, Salzburg u. Vunapope. Monatshefte zu Ehren Unserer Lieben Frau vom Heiligsten Herzen Jesu („Hiltruper Monatshefte“, seit 1884; viele wichtige Artikel über Missionsarbeit u. indigene Aktionen u. Reaktionen im Christianisierungsprozeß). Fernand Hartzer, Cinq ans parmi les sauvages de la Nouvelle Bretagne et de la Nouvelle Guinée, Issoudun 1888. L: Georges Delbos, MSC, The Mustard Seed. From a French Mission to a Papuan Church 1885–1985, Port Moresby 1985. Hermann Hiery, Yumi Sios. Rabaul, eine Bistumsgeschichte, Wiesbaden 2015. James Waldersee, ‚Neither Eagles nor Saints‘. MSC Missions in Oceania 1881–1975, Sydney 1995. HE RMANN HI E RY Herzog, Karl, * 20. April 1827 Brieg (Brzeg), † 23. März 1902 Berlin, □ aufgelassen, rk. Promovierter Volljurist. 1852 Eintritt in preußischen Verwaltungsdienst. 1856 Justitiar des Oberpräsidiums Breslau. 1859 im preußischen Handelsministerium. 1867 Vertreter des Norddt. Bundes bei der durch Napoleon III. einberufenen internationalen Münzkonferenz. 1871 Direktor der für Elsaß-Lothringen zuständigen Abteilung des Reichskanzleramts. 1876 Unterstaatssekretär für Elsaß-Lothringen. 1879–1880 Leiter des ersten elsaßlothringischen Ministeriums. Rücktritt nach Differenzen mit Statthalter v. Manteuffel wegen dessen Einstellung zum rk. Klerus. 1882 im Verwaltungsrat der Direktion der Disconto Gesellschaft und in Geschäftsleitung der →Neu-Guinea-Compagnie. 1887 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Disconto Gesellschaft. GE RHARD HUT Z L E R
Hexen, Hexenverfolgung. Der Glaube an Menschen, die über heil- und unheilbringende Zauberkräfte verfügen, ist in allen Kulturen tief verwurzelt und zeitlich unbegrenzt. Das Phänomen der Hexe findet sich überwiegend in europäischen und afr. Kulturen. Im Zuge der Christianisierung erfuhr die Bezeichnung „Hexe“ eine negative Konnotation. Hexen – zumeist Frauen – existierten außerhalb der von Gott gegebenen Ordnung und standen mit dem Teufel im Bunde. Für unerklärliche Wetterphänomene, Mißernten oder das plötzliche Auftreten von Krankheiten wurde die Verantwortlichkeit den Hexen und ihren unheilbringenden Fähigkeiten zugeschrieben. Die Forschung sieht die möglichen Ursachen 338
für die zumeist wellenartig verlaufenden Verfolgungen in Phasen konfessioneller Konflikte sowie in Zeiten gesellschaftlich-ökonomischer Krisen. Im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erreichte die Hexenverfolgung einen signifikanten Höhepunkt. Auch in den europäischen Kolonien der Atlantischen Welt kam es zu Hexenverfolgungen (z. B. im 17. Jh. in Neuengland). Neuere Forschungen gehen von ca. 30 000 Opfern der europäischen Hexenverfolgungen aus. In Regionen Afrikas (z. B. →Nigeria, →Togo, →Kamerun), in →Papua-Neuguinea, sowie seltener in Gegenden →Lateinamerikas und →Südostasiens kommt es gegenwärtig wiederholt zu Verfolgungen. Bernard Rosenthal, Records of the Salem Witch Hunt, Cambridge 2009. Walter Rummel, Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2008. Burghart Schmidt, Hexenglauben im modernen Afrika, Hamburg 2007. SA BIN E H EERWA RT Heyerdahl, Thor, * 6. Oktober 1914 Larvik, † 18. April 2002 Colla Micheri, □ Familienanwesen in Colla Micheri, Atheist Norwegischer Archäologe, Ethnograph und Abenteurer. H. studierte Zoologie und →Geographie an der Universität Oslo, jedoch ohne Abschluß (gleichzeitig Privatstudien zur Geschichte und Kulturen →Polynesiens). H. gilt als einer der Gründerväter der experimentellen Archäologie und war ein Vertreter des kulturellen Diffusionismus. Seine umstrittenen Migrations- und Besiedlungstheorien erprobte er im Rahmen spektakulärer und medienwirksamer Boots- und Floßreisen. 1947 segelte H. mit einem Holzfloß (Kon Tiki) von →Peru aus in den Pazifik, um eine mögliche Besiedlung Ozeaniens von Südamerika aus zu beweisen. Nach 101 Tagen auf See erreichte H. und seine Mannschaft die Tuamotuinseln. H. Buch zur →Expedition wurde in über 60 Sprachen übersetzt. Der Dokumentarfilm zur Forschungsreise wurde mehrfach ausgezeichnet. 1969 und 1970 segelte H., inspiriert durch alte ägyptische Quellen, mit zwei Papyrusbooten (Ra I und Ra II) von →Marokko aus über den →Atlantik, um eine mögliche Migration von Afrika nach Südamerika zu belegen. Die erste Expedition scheiterte. Die Ra II erreichte jedoch →Barbados und zeigte, daß Papyrusboote hochseetauglich sind. 1978 reiste H. mit einem Schilfboot (Tigris) vom Irak nach →Pakistan, um Handel und Migration zwischen dem alten →Ägypten, Mesopotamien und dem Industal zu beweisen. Weitere Forschungsreisen führten H. u. a. nach →Rapa Nui, Brit.- Kolumbien, zu den Galapagosinseln und den Kanarischen Inseln. H. war als Kriegsgegner und Umweltschützer aktiv. Er erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Auszeichnungen. Seine Hauptwerke sind: Kon Tiki, New York 1950. Early Man and the Ocean, London 1978. D O MIN IK E. SC H IED ER
Heyn/Hein, Pieter Pieterszoon, * 25. November 1577 Delfshaven, † 18. Juni 1629 vor der flämischen Küste; □ Oude Kerk / Delft, ev.-ref. Ursprünglich wohl in der Heringsfischerei (→Fischerei) beschäftigt, geriet H. 1598 auf dem von seinem Vater Pieter Corneliszoon Heyn geführten Rotterdamer
h i n d o rf, ri chArd
Kauffahrer „Roode Leeuw“ in span. Galeerendienst und wurde am 29.5.1602 durch einen Gefangenenaustausch befreit. In der →Karibik erneut in span. Hände gefallen, saß er vier weitere Jahre im Castillo del Morro in Havanna. 1607 heuerte er bei der →Vereinigten Ostind. Kompanie an, stieg zum Kapitän des Ostindienfahrers „Hollandia“ auf und heiratete nach seiner Rückkehr im Juli 1611 die wohlhabende Witwe Anneke Claesdochter de Reus aus Rotterdam, wo er ein Haus erwarb. In den folgenden Jahren als Schiffer im europäischen Kaufhandel tätig, wurde er im Herbst 1617 in den Dienst der Rep. →Venedig gezwungen und kehrte erst 1620 über Land in die Niederlande zurück. 1622 zum Beigeordneten (Schöffen) in den Magistrat von Rotterdam gewählt, ernannten ihn die Direktoren der WIC am 2.11.1623 zum Vizeadmiral der Flotte unter Jakob Willekens. In dieser Stellung eroberte H. an der Spitze seiner Besatzung am 9.5.1624 beim Angriff auf São Salvador de →Bahia das Wasserfort. Drei Monate später scheiterte er in →Angola mit sieben Schiffen vor São Paulo de Loanda, da er weder die befestigte Stadt, noch einen der vor Anker liegenden Segler erobern konnte. Auch der zweimalige Angriff auf das brasilianische Espiritu Santo (= Vila Velha, 20.° südlicher Breite) im März 1625 schlug fehl. Da São Salvador inzwischen von den Portugiesen zurückerobert worden war, traf H. Ende Juli 1625 mit einer stark dezimierten Mannschaft wieder in den Niederlanden ein. Im Frühjahr 1628 stach er mit 31 Schiffen, 689 Geschützen, ca. 3 800 Mann und dem Auftrag in See, für die WIC eine der span. Silberflotten abzufangen und erreichte Anfang Aug. die Westspitze →Kubas. Es gelang den Niederländern, alle Warnungen des Gouv.s von Havanna abzufangen, so daß die Neu-Spanienflotte unter Admiral Juan de Benavides am 8. Sept. ahnungslos in die Florida-Straße einfuhr. Neun ihrer Kauffahrer wurden auf See genommen; die restlichen Schiffe, die auf der Flucht in der Bai von Matanzas auf Grund liefen, ergaben sich kampflos. H. benötigte acht Tage, um die Beute auf seinen Schiffen zu bergen, die im Jan. 1629 in die Niederlande zurückkehrten. Die Ladung aus 177 000 Amsterdamer Pfund Silber, 66 Amsterdamer Pfund Gold, →Perlen, Indigo, Cochenille, →Seide, Häuten u. a. Produkten erbrachte einen Erlös von ca. 11,5 und einen Gewinn von ca. 7 Mio. Gulden. Nach den Regeln des Oktrois der WIC erhielten davon der Statthalter und die Mannschaften je 10 %, letztere außerdem 17 Monate Zusatzheuer, die Direktoren der Kompanie 1 % und die Aktionäre 50 % als Dividendenausschüttung, so daß der Kompaniekasse 1,5 Mio. Gulden blieben. Auf Grund seines öffentlich gefeierten Erfolges stellte H. der Kompanieleitung u. a. die Forderung nach Gehaltserhöhung. Da die WIC darauf nicht reagierte, übernahm er auf Wunsch des Statthalters als Luitenant-Admiraal den Oberbefehl über die ndl. Marine und segelte am 29.5.1629 nach Dünkirchen, um den Befehl über die dortige Blockadeflotte zu übernehmen. Er fiel im Gefecht mit Ostendischen Freibeutern (→Freibeuterei) und wurde in einem Staatsbegräbnis in Delft beigesetzt. Henk Den Heijer, Piet Heyn en Cornelis Jol. Twee zeehelden vergeleken, in: Leo Akveld u. a. (Hg.), In het kielzog. Maritiem-historische studies aangeboden aan Jaap R.
Bruijn, Amsterdam 2003, 371–382. Ronald Prud’homme van Reine, Admiraal Zilvervloot, Amsterdam, Antwerpen 2003. J.C.M. Warnsinck, Drie 17e eeuwse admiraals, Rotterdam 1977. A N N ELI PA RTEN H EIMER-BEIN Hiltruper Missionare →Herz-Jesu-Missionare Hindi. Seit dem 14.9.1949 verfassungsmäßige Nationalsprache der Ind. Union. Anteil der H.-Muttersprachler, laut dem Zensus von 2001, ca. 41 % der ind. Bevölkerung. Das linguistische Kerngebiet, mit H. als offizieller Amtssprache, umfaßt folgende Bundesstaaten und Unionsterritorien: Uttar Pradesh, Madhya Pradesh, Rajasthan, Bihar (→Bihar und Orissa), Haryana, Jharkhand, Chhattisgarh, Uttarakhand, Himachal Pradesh, →Delhi und Chandigarh, die zusammengefaßt oft als H.-Gürtel bezeichnet werden. Außerhalb →Indiens ist H. v. a. in →Mauritius, →Fidschi, Trinidad und Surinam verbreitet, was auf den hohen Anteil ind.-stämmiger Bewohner zurückzuführen ist, deren Vorfahren von ca. 1840 bis 1920 v. a. aus den heutigen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar als Kontraktarbeiter (→Kuli, →Vertragsarbeit) in diese Länder kamen. Linguistisch gehört H. zu den neuindoarischen Sprachen, die wiederum Teil der indogermanischen Sprachfamilie sind. Die frühesten Sprachstufen des H. entwickelten sich im 11. Jh. mit Beginn der islamischen Hegemonie in Nordindien. Die musl. Herrscher, deren Hof- und Verwaltungssprache Persisch war, nannten ursprünglich alle nordind. Sprachen H. (= „Indisch“). Der Begriff H. bezog sich erst ab dem frühen 19. Jh. ausschließlich auf Khari Boli, d. h. den Dialekt von Delhi, das seit dem 13. Jh. das Machtzentrum Nordindiens bildete. Vom 15. bis zu Beginn des 19. Jh.s war jedoch nicht Khari Boli, sondern Braj Bhasha, ein im Raum Agra-Mathura (→Agra) beheimateter H.-Dialekt, das vorherrschende literarische Idiom unter den H.-Mundarten. Die frühesten bedeutenden Werke im hochsprachlichen H. entstanden erst in der 2. Hälfte des 19. Jh.s. Dabei ist es v. a. Bharatendu Harishchandra (1850–1885) zu verdanken, daß sich Khari Boli durchsetzte, denn er benutzte es als erster für gehobene Literatur, in Form von Gedichten, Dramen und journalistischen Texten. Neben H. gründet auch →Urdu auf Khari Boli, welches mit dem H. eine nahezu identische Grammatik und das gleiche Alltagsvokabular teilt, sich aber in der Verwendung der Schrift (H. = Devanagiri, Urdu = Nastaliq) und im literarischen Wortschatz unterscheidet. Vasudha Dalmia, The Nationalization of Hindu Traditions, Oxford u. a. 1997. Christopher R. King, One Language, Two Scripts, Oxford u. a. 1999. Alok Rai, Hindi Nationalism, London u. a. 2001. G A U TA M LIU Hindorf, Richard, *17. November 1863 Ruhrort bei Duisburg; †13. Mai 1954 Berlin-Dahlem; □ unbek., ev. Der Sohn eines Professors am Realgymnasium in Ruhrort studierte Landwirtschaft und Statistik in Halle und Berlin und wurde 1886 in Halle mit einer Arbeit über die Keimung wichtiger Kulturpflanzen promoviert. Durch einen Vortrag von Carl →Peters 1886 in Halle erwuchs sein Interesse an den deutschen Kolonien. H. ließ sich von der deutschen →Neu-Guinea-Compagnie anwerben 339
h i n duis m u s
und reiste 1887 ins damalige →Kaiser-Wilhelmsland aus. 1888 verbrachte er mehrere Monate auf →Java und →Sumatra, wo er die malaiische Sprache erlernte und ein Lehrbuch für Plantagenpflanzer in Pidgin-Malaiisch erstellte, das 1890 in Berlin erschien, bis 1927 insgesamt fünf Auflagen sah und auch in →Niederländisch-Indien weite Verbreitung besaß. Gedacht war es allerdings für die malaiisch-sprechenden Plantagenarbeiter aus Java und Sumatra, die für die Plantagen im deutschen Neuguinea angeheuert wurden. 1891 war H. in →DeutschOstafrika beschäftigt, wo er mit großem Erfolg ab 1892 Sisal als Anbaupflanze für die Plantagenwirtschaft einführte und dessen Verbreitung förderte. Während seines Aufenthaltes in →Deutsch-Südwestafrika 1893–1894 regte er ebenfalls den Anbau von Sisalagaven an, die im ariden Klima Ost- und Südwestafrikas gut gediehen. Nach seiner Rückkehr nach Ostafrika wurde H. als Plantagendirektor angestellt und erwarb sich eine hohe Reputation als Experte für tropische Agrikultur. Hierzu verfaßte und bearbeitete er verschiedene Schriften und Handbücher für Plantagenpflanzer und das →Kolonialwirtschaftliche Komitee. So edierte H. das bekannte Werk „Die tropische Agrikultur: ein Handbuch für Pflanzer und Kaufleute“ von Heinrich Semler (1902). Nach 1900 nahm H. diverse Direktorenposten bei verschiedenen Plantagengesellschaften in den deutschen Kolonien wahr. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte H. in Ostafrika, wo er zunächst als Pflanzer für den Lebensmittelnachschub der Schutztruppe von Paul von →Lettow-Vorbeck sorgte. 1916 wurde er als Offizier in Lettow-Vorbecks Armee eingesetzt und geriet in englische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg trat H. vehement für die Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien ein. In diesem Kontext ist auch seine Schrift „Der Sisalbau in Deutsch-Ostafrika“ (1925) zu sehen, die in der Hoffnung auf baldige praktische Anwendung in zukünftigen deutschen Kolonien verfaßt wurde. H. war Gründungsmitglied des Kolonialwirtschaftlichen Komitees in Berlin sowie der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen. Q: Der Sisalbau in Deutsch-Ostafrika, Berlin 1925. L: P. C. Ettighofer, Sisal – das blonde Gold Afrikas: die Tat des Dr. Hindorf, Gütersloh 1943. Holger Warnk, From Romanticism to Colonial Pragmatics: Malay Language and Literature Studies in Germany 1800–1945, in: Journal of the Malaysian Branch of the Royal Asiatic Society 84. 2(2011), 67–94. HOL GE R WARNK Hinduismus. Der H. ist die zahlenmäßig größte Religion im heutigen →Indien und hat gegenwärtig knapp 1 Mrd. Anhänger weltweit. Die Bezeichnung „Hindu“ wurde zunächst von den Persern für die am Indus lebende Bevölkerung verwendet. Mit der Etablierung des →Islam im Sindh (711/712) wurde das Wort zum Überbegriff für alle Nicht-Muslime in der Region. Der Term H. ist seit ca. 1780 als ein Sammelbegriff für eine Vielzahl z. T. sehr unterschiedlicher religiöser Lehren und Praktiken in Indien gebräuchlich. Die konzeptionelle Herausbildung des H. ist nur im Zusammenhang missionarischer u. a. kolonialer Fremdrepräsentationen ab dem späten 18. Jh. adäquat zu verstehen. Noch im 16. und zu Beginn des 340
17. Jh.s ging man in Europa explizit von mehreren ind. Religionen aus. Demgegenüber begann Mitte des 17. Jh.s eine Synthese der Gemeinsamkeiten der ind. Religionen, die in der indigenen Literatur aufgefundenen wurden. Da in der Rezeption, Übersetzung und Interpretation einheimischer Texte brahmanische Eliten eine wesentliche Rolle spielten, muß ihnen eine nicht zu unterschätzende Handlungsmacht in diesem Prozeß der Identitätsbildung zugestanden werden (Royal →Asiatic Society). Es kam zur „Brahmanisierung“ einiger Traditionen, für die im Rahmen einer verstärkten öffentlichen Repräsentation der Anspruch erhoben wurde, ein gesamthinduistisches Phänomen zu sein. Bei diesem Prozeß wurden regionale Traditionen in den Hintergrund gedrängt (→Orale Traditionen), die von der brahmanischen Elite und von den brit. Kolonialherren als Verfall einer ursprünglicheren Lehre gesehen wurden. In diesem Rahmen verbreitete sich schrittweise ein homogenisiertes und elitenzentriertes Bild des H. als „Religion der Inder“. Bei der hier gewählten historischen Periodisierung soll somit das Problem einer essentialisierenden Repräsentation umgangen werden. Vedische Zeit (1750–500 v. Chr.) Als erste zunächst nur mündlich überlieferte Texte entstanden Rig Veda 1–9, später folgen der 10. Teil sowie der Yajurveda und die älteren Brahmana-Texte. Bezeichnend ist eine magische Weltanschauung, in der das Opfer als welterhaltende Instanz den Fokus der rituellen Praxis darstellt. Die Hauptgötter des vedischen Pantheons sind u. a. Indra, Varuna und Mitra. Reformismus (500–200 v. Chr.) Zunehmende Kritik am vorherrschenden Verständnis des Opfers als alleinigem Heilsweg und an der Vormachtstellung der Priester wurde in der Literatur greifbar. Neue Wege religiöser Erlösung boten die Schriften der Upanishaden, sowie die Lehren des Mahavira (→Jainismus) und des Buddha (→Buddhismus). Klassischer H. (220 v.Chr.–1100 n. Chr.) Entstehung der klassischen Epen (Ramayana und Mahabharata) sowie der Purana-Literatur. Durch den Einfluß von Buddhismus und Jainismus kam es zu einer Rückbesinnung auf einen vedisch-brahmanischen H., wobei das Sanskrit als intellektuelle lingua franca wiederbelebt und zum Hauptmedium der Verbreitung religiöser Ideen wurde. Einige Hauptgötter des vedischen Pantheons traten in dieser Zeit in den Hintergrund, während zuvor noch unbedeutende Götter wie Shiva oder Vishnu in den Texten stärker faßbar wurden. Entstehung der ersten Tempel sowie Herausbildung neuer Ideen wie z. B. des Verbots der Rinderschlachtung. Sekten-H. (1100–1850) Zu sanskritisch-brahmanischen Diskursen kamen vermehrt musl. und christl. Ideen hinzu, die zur Bildung hybrider Gruppen wie des →Sikhismus und des Kabirpanth führen. Die charismatischen Führerfiguren der neuen Bewegungen begannen, Texte in den Regionalsprachen zu verfassen (z. B.: Tulsidas 1532–1623 oder Caitanya 1486–1533) und bilden so einen bedeutenden Gegenpol zu brahmanischen Ideen. Demgegenüber begann ab dem Anfang des 18. Jh.s – und zunehmend unter brit. kolon. Einfluß – die Forcierung eines regional übergreifenden,
h i s to ri o g rA Ph i e, m o d ern e, i n s ü dA s i en
reinheitsbasierten →Kastensystems, durch das neue Formen sozialer Hierarchiebildung religiös fundiert wurden. Moderner Reform-H. (ab 1820) Der moderne H. bildete sich wesentlich in Auseinandersetzung mit den Überlegenheitsansprüchen und Konversionsstrategien protestantischer christl. Missionare sowie der kolonialen Rhetorik einer brit. Zivilisierungsmission in Indien heraus. Zahlreiche →soziale und religiöse Reformbewegungen traten in diesem Rahmen gegen die Marginalisierung ihres kulturellen Erbes auf und propagierten eine gesellschaftliche und religiöse Regeneration Indiens. Die konkreten Reformprogramme orientierten sich dabei oft eng an westlichen Wertmaßstäben und versuchten so, den Europäern das behauptete Monopol auf Fortschrittlichkeit und Modernität streitig zu machen. So entstand ein Bild einer vergeistigten, im wesentlichen innerlichen monistischen Individualreligion mit einem starken Schwerpunkt auf ethische Belange, das sich auf einen imaginierten Ur-H. bezog. Dieses Bild rückte durch die Reden Swami Vivekanandas (1863–1902) im Rahmen des Weltparlamentes der Religionen 1893 in →Chicago schlagartig auch ins Bewußtsein einer breiten westlichen Öffentlichkeit und formte eine bis heute verbreitete Vorstellung des H. Richard King, Orientalism and Religion, New York 1999. Axel Michaels, Der Hinduismus, München 2006. Brian K. Pennington, Was Hinduism Invented?, Oxford 2005. H A N S H O M ME NS / JÜRGE N S CHAF L E CHNE R
Hinterindien →Südostasien Hispanismo / hispanidad in Lateinamerika. Mit dem Begriff wird in →Lateinamerika der Rückgriff auf das span. Erbe – oft mit apologetischen Zügen – bezeichnet. H. ist das Fundament eines traditionalistischen, hierarchischen und konfessionellen Projekts für die soziale, politische und kulturelle Ebene der Gesellschaft. Mit h. meint man die einzelnen Bestandteile des span. Erbes, v. a. die Religion, die Sprache, die Rasse und die vertikale soziale Struktur. Die Bedeutung dieses Erbes ist einem ständigen Wandel unterzogen. Der lange und komplexe Prozeß zum Aufbau der lateinam. Nationalstaaten nach den Unabhängigkeitsrevolutionen ging einher mit der Auseinandersetzung um die Einstellung gegenüber dem kolonial-span. Erbe. Wenngleich der Sieg gegen die Kolonialmacht die fast einhellige Abschaffung der bisher existierenden politischen und juristischen Institutionen mit sich brachte, blieb die Frage des span. Erbes im sozialen, religiösen und kulturellen Bereich stets umstritten. Während die liberalen Eliten sich vorzugsweise für die „Einfuhr“ von philosophischen Strömungen sowie von Bildungskonzepten und politischen Modellen aus Frankreich, England und – später – aus den →Vereinigten Staaten und Deutschland einsetzten und damit die Schwächung der rk. Kirche bezweckten, verteidigte das konservative Lager die Erhaltung hierarchischer sozialer Strukturen und der span. kulturellen Tradition sowie des Primats der rk. Kirche in Staat und Gesellschaft. Durch die liberalen Reformen Mitte des 19. Jh.s insb. in →Kolumbien und →Mexiko fühlten sich die radikalen Konservativen provoziert. Sie mobilisierten mit einem der
kolonialen kulturellen und sozialen Ordnung nachempfundenen Modell gegen die staatlichen Maßnahmen zur Enteignung des Besitzes der rk. Kirche (desamortización) und zur staatlichen Übernahme der Kontrolle auf das gesamte Bildungswesen. Im Übergang vom 19. zum 20. Jh., im Rahmen der Feierlichkeiten zum Gedenken des cuarto centenario del descubrimiento de América, aber auch in Zusammenhang mit dem Verlust der letzten Kolonien Spaniens im →Span.-Am. Krieg und dem wachsenden Einfluß der USA in Lateinamerika, gewann eine selbstbewußte hispanistische Bewegung an Bedeutung. Die kulturellen (Congreso Literario Hispano-Americano, 1892) und kommerziellen (Congreso Social y Económico Hispano-Americano, 1900) Initiativen Spaniens zur Förderung einer gemeinsamen, auf dem alten und neu zu erreichenden Glanz des span. Reiches beruhenden Identität wurden von willigen Partnern auf am. Boden enthusiastisch angenommen. Letztere fanden darin neue Argumente gegen die expansionistischen Ansprüche der USA, und nach innen nährten sie damit ihre ablehnende Stellung gegenüber den Reformversuchen ihrer Gegner. Dieser neue hispanoamericanismo sollte auf der Basis der Spanien und den ehem. Kolonien gemeinsamen Elementes erlangt werden: der span. Sprache, deren Einheit und Uniformität seit den 1870er Jahren mit der Gründung der ersten Akademien in Lateinamerika unter Aufsicht der span. Real Academia gepflegt wurde. In der ersten Hälfte des 20. Jh.s wurde der gezielte Verweis auf die h. als eines der wesentlichen Merkmale der nationalen Kultur und Identität auch strategisch gegen den Aufstieg der Arbeiterklasse, gegen die sich ausbreitenden sozialistischen Parteien und gegen die zunehmende Säkularisierung der lateinam. Gesellschaften verwendet. Ähnlich wie unter den Diktaturen Primo de Riveras und Francisco Francos stützten sich die Rechtsnationalisten →Argentiniens sowie die radikalsten Sektoren der Konservativen Kolumbiens, →Perus u. a. lateinam. Staaten auf einen sowohl in Spanien als auch in Lateinamerika formulierten Diskurs, der die Überlegenheit der hispanischen Kultur und Werte zur Bekämpfung fremder, die soziale Stabilität drohender Einflüsse uneingeschränkt behaupteten. Eng damit verbunden erfolgte die Errichtung von unterschiedlichen, teils politischen. teils kulturellen und akademischen Institutionen und die Gründung von ähnlichen Zeitungen und Zeitschriften, die – oft staatlich unterstützt – den transatlantischen hispanisch-am. Austausch förderten und der Verbreitung von Sprache, Literatur und Kunst dienten. Mabel Moraña, Ideologies of Hispanism, Nashville 2005. Fredrick B. Pike, Hispanismo 1898–1936, Indiana / London 1971. Carlos M. Rama, Historia de las relaciones culturales entre España y la América Latina, Siglo XIX, Mexiko-Stadt 1982. Isidro Sepúlveda, El sueño de la Madre Patria. Hispanoamericanismo y nacionalismo, Madrid 2005. A N D R ÉS JIMÉN EZ Á N G EL Historiographie, moderne, in Südasien als Praxis und institutionalisierte Disziplin hat ihren Ursprung in der westlichen Ideengeschichte. Als solcher liegt ihr ein modernes und in vielerlei Hinsicht sehr (christlich-)europäisches Geschichtsverständnis zu Grunde, welches 341
h o ch i minh
u. a. auf Konzepten von linearer historischer (lange Zeit positivistisch-evolutionär interpretierten) Entwicklung, thematischen Fokusierungen auf Politik, Recht, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft, und v. a. auf den Fluchtpunkt geschichtlicher Entwicklung, nämlich den modernen europäischen Nationalstaat, beruht. H. in diesem Sinne kommt in Südasien erst nach Beginn des britischen Kolonialprojekts (→British Raj) vor. Daß die heterogene Region Südasien zweifellos vormoderne Formen des Geschichtsbewußtseins und der historischen Dokumentation (regional und religiös durchaus unterschiedlich konnotiert) kannte – etwa in Herrscherchroniken, dynastischen Genealogien, Epen, Heldenelogen sowie muslimischen Chroniken – steht außer Frage (→Chroniken und Geschichtsschreibung, →Orale Traditionen). Die ersten indischen (→Indien) Allgemeingeschichten sind Schriften britischer Autoren, die dem orientalistisch-kolonialen Diskurs zuzuordnen sind. Neben den klassischen Dichotomisierungen zwischen Okzident und Orient (wobei Europa freilich die moderne, rationale, männliche, dynamische etc. Rolle zufiel, wohingegen der Orient als traditionell, spirituell, weiblich, stagnierend etc. gedeutet wurde), spaltete die orientalistische H. die südasiatische Geschichte in eine hinduistische und eine muslimische Epoche. Erstere, von wohlwollenden Autoren i.d.R. als glorreiche Zeit kultureller Blüte unter der →Gupta-Dynastie dargestellt, wurde mit der Zeit seit der muslimischen Invasion in Nordindien kontrastiert, welche spätestens den Niedergang der indischen Kultur markierte. Zu den einflußreichsten Werken dieser Haltung gehörten James Mills History of British India (1817), John C. Marshmans Outline of the History of Bengal (1838) oder Mountstuart Elphinstones The History of India: The Hindu and the Mahometan Periods (1839). Andere Autoren beschrieben die Inder darüber hinaus sogar als vollkommen ahistorisches Volk, welches niemals zu geschichtlicher Entwicklung fähig war und ist. Dies diente oftmals als Legitimierung des eigenen kolonialen Projekts, welches den Subkontinent durch die Anstrengungen der Europäer zumindest als Objekt von evolutionärer geschichtlicher Entwicklung verstehen konnte. Die Beschreibung indischer Geschichte blieb hierbei meist eine „Übergangsgeschichte“ (Chakrabarty 2001), im Sinne einer defizitären Form idealer europäischer Entwicklung. Folgenreich zeigte sich v. a. die Essentialisierung Indiens, als ontologische geschichtliche Einheit. Die Idee des Nationalstaates als Zielpunkt historischen Fortschritts ernst nehmend, übernahm der →Indische Nationalismus die groben Paradigmen der orientalistischen Deutungen indischer Geschichte, etwa die Einheit Indiens oder die Periodisierung in hinduistische und muslimische Epochen, kehrte aber in seiner H. das Subjekt-Objekt-Verhältnis um. So wurden Indien und das indische Volk bzw. Nation hier zum universalhistorischen Subjekt, welches vom kolonialen Joch befreit und den Weg in den souveränen Nationalstaat antreten müsse. Im Zuge der religiösen Ausdifferenzierung des Indischen Nationalismus wurden sowohl Hindu- bzw. Muslim-Nation zu den entscheidenden Referenzgrößen unterschiedlicher H.n, welche sich letztlich in National342
geschichten Indiens und →Pakistans (→Pakistan-Bewegung, →Teilung Britisch Indiens) niederschlugen. Die Leistungen dieser H.n durch den Bruch der exklusiven westlichen historischen Wissensproduktion, das Schreiben regionaler Geschichten sowie das Erschließen neuer Quellenbereiche (z. B. indigene Sichtweisen) legten die Grundsteine für die Entwicklungen der postkolonialen H. in Südasien. Gerade im unabhängigen Indien entstand seit den 1980er Jahren eine neue Strömung der H., die – marxistisch inspiriert – der Ansatz der „Geschichte von Unten“ propagierte und durch die Begründung der Subaltern Studies Gruppe stilbildend für H.en in den Ländern des Südens wurde: die Zuwendung zu subalternen Klassen, auch und v. a. im kolonialen Kontext. Allerdings wurde, gerade in marxistischen Deutungen der indischen Geschichte, die Idee des „Übergangs“ – wenn auch unter den Vorzeichen marxistischer Gesellschaftsentwicklung – übernommen. Eine thematische und inhaltliche Verknüpfung mit den Impulsen der Postcolonial Studies und den Implikationen der →Globalgeschichte hat einige Vertreter der Subaltern Studies zu weltweit einflußreichen Intellektuellen gemacht (z. B. Ranajit Guha, Gayatri Spivak, Partha Chatterjee, Dipesh Chakrabarty). Der Fokus solcher neueren H.en liegt v. a. auf der Relativierung der normativen Kategorien westlicher Geschichtsschreibung, der Betonung der Wechselwirkungen im Prozeß einer globalen Moderne, sowie das Aufbrechen der europäischen Meistererzählungen von Nation, Staat und westlichem Geschichtsparadigma. Im heutigen Südasien finden virulente geschichtspolitische Debatten statt, die, oftmals religiös motiviert, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf rezente H. haben. So gelingt es in den letzten Jahren insbesondere Hindunationalisten immer wieder Einfluß auf den Lehrplan staatlicher Universitäten zu nehmen und Schulbücher zu ihren Gunsten zu manipulieren. In diesen Auseinandersetzungen um historische Deutungshoheit spiegelt sich die Bedeutung der Geschichte v. a. als politisches Argument und Werkzeug wider, welche wohl weiterhin eine der dringendsten Anfragen an H. in Südasien stellen wird. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe, New Delhi 2001. Michael Gottlob, Historie und Politik im postkolonialen Indien, Göttingen 2008. Gyan Prakash: Writing Post-Orientalist Histories of the Third World, Comparative Studies in Society and History, Bd. 32, No. 2 (Apr. 1990), 383–408. RA FA EL K LÖ BER Ho Chi Minh, urspr. Cung, Nguyễn Sinh, * 19. Mai 1890 Hoàng Trù, † 2. September 1969 Hà Nội, □ Mausoleum Hà Nội, Atheist Der Sohn eines konfuzianischen Gelehrten führte seit 1942 den Decknamen Hồ Chí Minh und wurde u. a. auch Nguyễn Tất Thành oder Nguyễn Ái Quốc genannt. H.C.M. besuchte eine französische Schule in Hue, die er nach der Teilnahme an einer Demonstration der Bauern gegen die frz. Obrigkeit verlassen mußte. Sein Vater, dessen konfuzianisch geprägtes Weltbild aktiven Widerstand gegen die Obrigkeit prinzipiell ausschloß, demonstrierte seinen Widerstand, indem er eine erfolgreiche Laufbahn als konfuzianischer Beamter ablehnte. Dagegen trat H.C.M. für eine aktive Form des Wider-
h o - ch i -m i n h -s tAd t
standes ein. Tief geprägt von der Ungleichheit, die durch die Kolonialmacht Frankreich hervorgerufen wurde, verließ er 1911 →Vietnam, um die Okkupationsmacht (→Okkupation) besser kennenzulernen. Außer Frankreich gab es auch Zwischenaufenthalte u. a. in London und New York (1912/13). 1917 kehrte er nach Frankreich zurück, wo er seit 1919 von der frz. Geheimpolizei beobachtet wurde. Das von Woodrow Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Geist der am. Unabhängigkeitserklärung animierten H.C.M. zur Gründung der erfolglosen Association des Patriotes Annamites, in der in Frankreich lebende Vietnamesen für die Unabhängigkeit Vietnams arbeiten sollten. 1920, durch seine Freundschaft mit dem radikalen Sozialisten Marcel Cachin mitgerissen, zählte er nach der Spaltung der frz. Sozialisten zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Zu diesem Zeitpunkt setzte H.C.M. die frz. Kolonialmacht mit Kapitalismus gleich und wußte wenig bzw. nichts über Kommunismus. Von den frz. Kommunisten im Kampf für die Unabhängigkeit Vietnams wenig beachtet, ging H.C.M. 1923 auf Einladung der 1919 gegründeten →Komintern nach Moskau. Bereits seit 1920 sympathisierte er mit den Ideen Lenins, wonach die antikolonialen Bewegungen in den Kolonien in Verbindung mit den kommunistischen Parteien die Macht der kapitalistischen kolonialen Ausbeutungsmaschinerie brechen müßten. Von Moskau ausgebildet und tief geprägt, entwickelte H.C.M. seine eigenen Ideen für den Unabhängigkeitskampf. 1930 gründete er in →Hongkong die Kommunistische Partei Vietnams (KPV, vietnamesisch: Đảng Cộng Sảng Việt Nam), die wenig später auf Drängen der Komintern in Kommunistische Partei Indochinas (KPI) umbenannt wurde. 1941, kurz nach seiner Rückkehr nach Vietnam, wurde die KPI aufgelöst, als Voraussetzung zur Gründung einer breiteren Massenbewegung, →Vietminh genannt, die vom US-Geheimdienst OSS als ebenbürtige alliierte Macht unterstützt wurde. H.C.M. sah keinen Widerspruch in dieser Unterstützung, da die →USA für ihn in jener Zeit den Geist einer freien und unabhängigen Nation repräsentierten, der dem Geist des vietnamesischen Unabhängigkeitskampfes entsprach. Am 2.9.1945 proklamierte H.C.M. die Demokratische Rep. Vietnam (DRV, vietnamesisch: Việt Nam Dân Chủ Cộng Hòa) und trat als Präs. an deren Spitze. In der sog. Augustrevolution hatte die Vietminh geschickt das durch die Schwächung Japans und Frankreichs im →Zweiten Weltkrieg entstandene Machtvakuum gefüllt. Die DRV wurde von Frankreich nur im Zusammenspiel mit dem Verbleib in der Frz. Union anerkannt. Die schrittweise Wiederbesetzung des Landes durch Frankreich 1946 führte zum ersten – frz. – Indochinakrieg, der 1954 mit dem Sieg der Vietminh in Điện Biên Phủ und der anschließenden →Genfer Konferenz endete. Vietnam wurde am 17. →Breitengrad in zwei Zonen geteilt und sollte durch Wahlen 1956 wiedervereinigt werden. Ein absehbarer positiver Ausgang der Wahlen zugunsten H.C.M.s im Süden wurde durch den von den USA unterstützten Ngô Đình Diệm verhindert, was den Weg zum zweiten – am. – Indochinakrieg ebnete, dessen Ende H.C.M. nicht mehr erlebte. Seine Bescheidenheit und sein unbändiger Wille, Vietnam von
ausländischen Invasoren zu befreien, haben H.C.M. zu einem der bedeutendsten Guerillakämpfer des 20. Jh.s gemacht. Samuel Abt u. a. (Hg.), The Pentagon Papers, Chicago 1988. William J. Duiker, Ho Chi Minh, New York 2000. Peter Scholl-Latour, Der Tod im Reisfeld, Frankfurt/M. 1982. A LEX A N D RA A MLIN G Ho-Chi-Minh-Stadt. Die am nordöstlichen Rand des Mekongdeltas gelegene Metropole H., ehem. Saigon, ist mit knapp acht Mio. Ew. die größte, wirtschaftlich bedeutendste und am stärksten globalisierte Metropole →Vietnams. Das Stadtwachstum hat mittlerweile die administrativen Grenzen überschritten, so daß H. als erste Megastadt Vietnams bezeichnet werden kann. Hier sind landesweit die höchsten Einkommen zu verzeichnen, aber der Metropolraum hat auch mit typischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die mit schnellem Stadt- und Wirtschaftswachstum verbunden sind, etwa mit massiven Verkehrsproblemen. H. selbst ist eine sehr junge Stadt, die erst im Zuge der Gründung der Kolonie →Cochinchina durch die frz. Kolonialherren 1862 einen massiven Ausbau erfuhr. Vorher befand sich auf dem Stadtgebiet nur eine Zitadelle und die davon isoliert liegende Chinesenstadt Cholon. Die Franzosen waren überzeugt von der vermeintlichen Überlegenheit ihrer Kultur („mission civilisatrice“) und errichteten in dem von ihnen schachbrettmusterartig angelegtem Stadtgebiet Repräsentations- und Sakralbauten wie die Kathedrale Notre Dame, den Gouv.spalast, das Rathaus, die Post oder die Oper. Gleichzeitig entwickelten sie den Hafen als wichtigsten Umschlagsplatz für ihre kolonialen Exportprodukte, v. a. →Kautschuk. Nach dem Abzug der Franzosen 1954 erfolgte die Teilung des Landes. Saigon wurde Hauptstadt des autoritär regierten antikommunistischen Südvietnams unter der Herrschaft von Ngo Dinh Diem. Im Zuge des Vietnamkrieges entwickelte sich Saigon zum Zentrum einer gigantischen Transferökonomie, welche weitgehend von den USA finanziert wurde. Die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen aus den umkämpften Landesteilen. Die Illusion von Saigon als sicherem Rückzugsort zerschlug sich spätestens während der TetOffensive 1968, als kurzfristig sogar die US-Botschaft von Vietcong-Kämpfern gestürmt wurde. Im Apr. 1975 spielten sich kurz vor dem Fall Saigons dramatische Szenen in der Stadt ab, als zehntausende Vietnamesen versuchten, mit den letzten abziehenden US-Truppen das Land zu verlassen. Am 30.4.1975 wurde Saigon schließlich von den Nordvietnamesen eingenommen, die es sogleich nach ihrem Führer →Ho Chi Minh umbenannten. Mit der Wiedervereinigung Vietnams im Juli 1976 wurde die Metropole offiziell Teil der Sozialistischen Rep. Vietnam. Viele Verwaltungsbeamte und Funktionäre aus dem Norden wurden nach Saigon geschickt, um dort das sozialistische Wirtschaftsmodell voranzubringen. Mißwirtschaft und Korruption führten allerdings dazu, daß sich die Stadtökonomie dauerhaft am Boden befand. Diese Situation wurde Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre noch verschlimmert, als die Metropole einen erheblichen Aderlaß durch die Flucht zahlreicher Stadtbewohner, darunter viele ethnische Chinesen aus Cholon, 343
h o c hs t e t t e r , f e r d i nA n d v o n
erfuhr. Diese verließen oft aus Furcht vor Enteignung als boat people (→Bootsflüchtlinge) das Land. Von den ab Mitte der 1980er Jahre eingeleiteten markwirtschaftlichen Reformen (Doi Moi Politik) profitierte H. am meisten. Neben ausländischen Direktinvestitionen spielte hier v. a. der Zustrom von Rücküberweisungen von Exilvietnamesen (Viet Kieu) eine überragende Rolle. Im Zuge des Transformationsprozesses nahm H. in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein. So entstand hier 1991 die erste Exportförderzone des Landes, hier wurde das erste vollständig mit ausländischem Kapitel finanzierte Stromkraftwerk gebaut und seit Mitte der 1990er Jahre entsteht das größte Stadterweiterungsgebiet Vietnams, Saigon South, in dem zukünftig bis zu eine Mio. Ew. leben sollen. Zudem soll auf der Flußhalbinsel Thu Thiem, dem Beispiel Pudong in Shanghai folgend, ein neues internationales Geschäftszentrum errichtet werden. Eine große Gefahr für die künftige Entwicklung der Metropole stellt allerdings der Klimawandel dar. Weite Teile der Stadtfläche liegen nur wenig über dem Meeresspiegel, so daß ohne entspr. Anpassungsmaßnahmen die Häufigkeit von Überflutungen massiv zunehmen wird. Quang Lê Ninh / Stéphane Dovert (Hg.), Saigon: trois siècles de développement urbain, Hồ Chí Minh City 2004. Michael Waibel, Ho Chi Minh City – a MegaUrban Region in the Making, in: Geographische Rundschau, International Edition 5(2009), Heft 1, 30–38. Ders., Herausforderungen für Stadtumbau in der megaurbanen Region Ho Chi Minh City, in: Uwe Altrock u. a. (Hg.), Megacities und Stadterneuerung, Berlin 2009, 115–128. MI CHAE L WAI BE L Hochstetter, Ferdinand von, * 30. April 1829 Esslingen, † 18. Juli 1884 Oberdöbling (bei Wien), □ Zentralfriedhof Wien, ev.-luth. H., Sohn eines schwäbischen Pfarrers und Naturforschers, studierte Theologie und Naturwissenschaften in Tübingen, wo er 1852 bei dem renommierten Prof. für →Geologie Friedrich Quenstedt promoviert wurde. 1853 durch Wilhelm Haidinger für Österreichs Geologische Reichsanstalt gewonnen, führte er 1855 in Böhmen Feldarbeit durch und wurde im Dez. 1856 zum Geologen an der bevorstehenden →Expedition der k. k. Fregatte S. M. S. Novara (→Novara-Expedition) ausgewählt. H. stach Ende Apr. 1857 an Bord der Novara in See und besuchte im Laufe der nächsten 20 Monate Hafenstädte u. andere Orte in →Brasilien, im Kapland, im →Ind. Ozean, im Orient und in →Australien, bevor er sich im Jan. 1859 in Auckland (Neuseeland) von der Expedition trennte. Er verbrachte ca. neun Monate in diesem Land. Während dieser Zeit untersuchte er zuerst die Vulkankegel in der Gegend um Auckland, leitete dann eine mehrwöchige Expedition zu Fuß durch das Innere der Nordinsel und führte zuletzt eine rasche, aber gründliche geologische Untersuchung der Provinz Nelson (im Norden der Südinsel) durch. Er verließ Neuseeland Anfang Okt. 1859 und kehrte über Australien nach Europa, das er im Frühjahr 1860 wieder erreichte, zurück. Ferdinand von H.s akademische Laufbahn nach seiner Rückkehr nach Österreich dauerte knapp zwei Jahrzehnte, bevor sie schließlich durch Krankheit beendet wurde, trotzdem 344
aber war sie durch eine beeindruckende Reihe von wissenschaftlichen und zivilen Ehren (inkl. seiner Erhebung in den erblichen österr. Ritterstand 1884) ausgezeichnet – ganz zu schweigen von seiner Mitgliedschaft in zahlreichen in- und ausländischen gelehrten Gesellschaften. Sein eigentliches Erbe aber liegt zweifelsohne in der wissenschaftlichen Erforschung Neuseelands. H., der zeitlebens mehr als 20 Publikationen dieser pazifischen Inselgruppe widmete, war der wichtigste kontinentaleuropäische Neuseelandkenner des 19. Jh.s und gilt bis zum heutigen Tag unter neuseeländischen Fachleuten wegen seiner bahnbrechenden Beschreibung und Kartierung der geologischen Merkmale dieses Landes als der Vater der Geologie Neuseelands. Ferdinand von Hochstetter, Neu-Seeland, Stuttgart 1863. Franz Heger, ‚Ferdinand von Hochstetter‘, in: Mitteilungen der Ksl.-Kgl. Geographischen Gesellschaft 27 (1884), 345–392. Sascha Nolden, The Letters of Ferdinand von Hochstetter to Julius von Haast: An Annotated Scholarly Edition’, PhD Diss., Univ. of Auckland 2007. JA MES BR A U N D
Hockey →Sport Holub, Emil, * 7. Oktober 1847 Holitz / Böhmen, † 21. Februar 1902 Wien, □ ebd., rk. H. studierte in Prag und Wien Medizin, war jedoch, angeregt von David Livingstone, an wissenschaftlichen Reisen auf dem afr. Kontinent interessiert. 1872 ließ er sich als Arzt im Kimberley-Distrikt von Südafrika nieder und begann 1873 seine Reisepläne umzusetzen. Seine erste →Expedition führte ihn 1873 durch →Transvaal bis zu den Ruinen von Monomotapa (Great Zimbabwe) im heutigen →Simbabwe. Noch im selben Jahr bereiste er weitere bislang kaum bekannte Teile Transvaals und angrenzender Regionen. Auf einer dritten Expedition von März 1875 bis Apr. 1876 überquerte er den Limpopo nach Nordwesten und gelangte bis an die Victoria-Fälle am Sambesi. Ende 1879 kehrte er mit reichen naturkundlichen und ethnographischen Sammlungen nach Prag zurück. In seinem Heimatland Österreich-Ungarn gewann er danach durch Ausstellungen und Vorträge große Popularität. Den Versuch einer Durchquerung Afrikas auf der Süd-Nordachse von →Kapstadt nach →Kairo mußte er 1886 am Sambesi aufgeben, da kriegerische Auseinandersetzungen in den Shona-Gebieten Simbabwes die Weiterreise verhinderten. H. verfaßte Beschreibungen seiner Reiseerlebnisse und Forschungsresultate in zahlreichen Büchern und Artikeln. Hervorzuheben ist das 1890 in Wien erschienene Werk „Von der Capstadt ins Land der Maschukulumbe. Reisen im südlichen Afrika in den Jahren 1883–1887“ (2 Bde.). In seinem heute tschechischen Heimatort Holice wurde 1964 eine Gedenkstätte für H. mit Museum für seine Sammlungen eingerichtet. Gabriele Riz, Leben und Werk des Afrikaforschers Emil Holub 1847–1902, Wien 1985. U LR ICH BR A U K Ä MPER
Hongkong. Die brit. →Kronkolonie (bis 1.7.1997) und heutige Sonderverwaltungsregion der Volksrep. China
ho P i
im östlichen Perlflußdelta an der Südostküste Chinas entstand in drei Schritten: Erstens durch die „auf ewige“ Abtretung der Insel H. (69 km2) von China an Großbritannien im Vertrag von →Nanking (1842), zweitens durch die Abtretung der gegenüberliegenden Halbinsel Kowloon (10 km2) im ersten Vertrag von Peking (1860) und drittens durch die Pachtung auf 99 Jahre der nördlich von Kowloon gelegenen sog. „New Territories“ (960 km2 inkl. ca. 235 Inseln) im zweiten Vertrag von Peking (1898). Da H. keine nennenswerten →Rohstoffe und bis nach dem →Zweiten Weltkrieg keine bedeutenden Industrien besaß, aber über einen der besten Tiefseehäfen der Welt verfügt, lag seine erstrangige Bedeutung von Anfang an in Handel, Dienstleistungen und →Schiffahrt. Bereits 1841 zum Freihafen erklärt, entwickelte sich H. zu einem wichtigen Verbindungsglied zwischen Übersee- und Küstenschiffahrt in der Region und zum erstrangigen Zwischenlager (Entrepôt) für Ein- und Ausfuhren; um 1900 wurden ca. 40 % des chin. Exports über H. abgewickelt. Die vorwiegend chin. Bevölkerung (1862: 123 511, davon 97,5 % Chinesen; 1919: 598 100, davon 97,7 % Chinesen; 2000: 6,797 Mio., davon 95 % Chinesen) immigrierte nach H. besonders in unruhigen politischen Zeiten Chinas: So lösten der Taiping-Aufstand (1851–1864), die Revolution gegen die ksl. Reg. (1911), die inneren Wirren der 1920er Jahre, der Ausbruch des Jap.-Chin. Krieges (1937) und die Gründung der Volksrep. (1949) große Flüchtlingswellen nach H. aus. An der Spitze der brit. Kolonialverwaltung stand bis 1997 ein von London ernannter Gouv., dem ein beratender Exekutivrat beigegeben war; in den 1850 geschaffenen Legislativrat wurde 1880 erstmals ein Chinese berufen. In den 1920er Jahren kam es zu Streiks und Unruhen unter den chin. Arbeitern. Nach der Besetzung durch Japan (1941– 1945) wurde H. an Großbritannien zurückgegeben, doch regelte das am 30.6.1985 in Kraft getretene chin.-brit. Abkommen die endgültige Rückgabe an China. In seiner 150-jährigen Kolonialgeschichte war H. zweifellos die wichtigste Stadt Chinas, gerade weil sie politisch nicht zu China gehörte, sondern unter dem Schutz brit. Herrschaft eine in vielerlei Hinsicht bedeutende Mittlerposition zwischen China und dem Ausland einnehmen konnte. John M. Carroll, A Concise History of Hong Kong, Hongkong 2007. David R. Meyer, Hong Kong as a Global Metropolis, Cambridge 2000. Steve Tsang, A Modern History of Hong Kong, Hongkong 2004. BE RT BE CKE R
Hopewell Kultur. Wichtige Stufe in der Entwicklung der Kulturen in Nordamerika, bezeichnet nach dem Fundort von Artefakten 1891/92 auf der Farm von Mordecai Cloud Hopewell, nördlich von →Chillicothe; die H.K. erstreckt sich von ca. 200 v. Chr. bis 500 n. Chr. Nach Herausbildung der charakteristischen Formen – extensiver Totenkult, monumentale Grabskulpturen – um 100 v. Chr. breitete sie sich rasch im mittleren Westen aus. Die dörflichen Siedlungen waren durch intensiven Handel u. a. mit Obsidian miteinander verbunden. Innerhalb der H.K. entstanden Regionalkulturen wie die
Effigy Mound-Kultur am oberen →Mississippi oder die Owasco-Kultur im Bereich des späteren New York. W. Lindig, Die Kulturen der Eskimo und Indianer Nordamerikas, Wiesbaden 1972. Mark F. Seeman, The Hopewell Interaction Sphere, Indianapolis 1979. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Hopi. (Eigenbezeichnung: hópi, Pl. hóhpi; Third Mesa: Pl. hopísinom). Die H. sind ein kulturell zu den westlichen Pueblo-Völkern gehörendes ca. 12 000 Personen umfassendes Indianervolk, dessen Hauptsiedlungsgebiet ein Reservat im nordöstlichen US-Bundesstaat Arizona ist, das vollständig vom Territorium der →Navajo Nation umschlossen wird. Nur ca. 7000 H. leben jedoch innerhalb der Reservatsgrenzen. Mais, Bohne und Kürbis waren seit altersher die Hauptanbaufrüchte. Linguistisch zählt die H.-Sprache zur uto-aztekischen Sprachfamilie. Die Sprache der Gemeinde Hano (First Mesa) zählt zu den Tewa-Sprachen der östlichen Pueblo (New Mexico). Die Vorfahren der Hano-Bewohner stammen aus dem Rio Grande-Gebiet und hatten sich vor ca. 250–300 Jahren auf der Flucht vor den Spaniern bei den H. niedergelassen. Die Topographie der semiariden Hartgrassteppe des H.-Gebietes wird weitgehend durch Hochplateaus (Mesas), Canyons und Trockentäler bestimmt. Die täglichen und saisonalen Temperaturunterschiede sind groß; früher Nachtfrost ist nicht selten. Die mittlere jährliche Niederschlagsmenge beträgt 27–30 cm; der regenreichste Monat ist der Juli. In den heißen Sommermonaten drohen Trockenheit und Staubstürme. Der Bodenbau der H. (Sturzwasser-Feldbau, SanddünenFeldbau) ist diesen Umweltbedingungen auf optimale Weise angepaßt und stellt das Überleben der H. sicher. Das Siedlungsgebiet von elf der heutigen H.-Kommunen ist über drei langgestreckte südwestliche Ausläufer (First Mesa, Second Mesa, Third Mesa) der Black Mesa verteilt, einem Teil des bis zu 2000 m hoch gelegenen Colorado-Plateaus. Die Ew. der östlich des Reservats bei Tuba City gelegenen Gemeinde Moenkopi sind ebenfalls H. Das politische Leben der H. war stets von Fraktionsbildungen und Lagerkämpfen gekennzeichnet. Die H. bilden keinen ‚Stamm‘, sondern jede Kommune ist eine unabhängige Gemeinschaft. Für alle Siedlungen gibt es jedoch seit 1936 einen von der US-Indianerbehörde eingerichteten übergreifenden Stammesrat. Sitz der Reg. ist Kykotsmovi. Die H.-Gesellschaft wird durch genealogisch definierte matrilineare Körperschaften bzw. Clans (Abstammungsrechnung von der Mutterseite) bestimmt, in denen ältere Frauen eine sozial bedeutsame Rolle spielen (z. B. Verwahrung wichtiger Zeremonialobjekte, Zuweisung der Anbauflächen). Die politische Leitung einer Kommune liegt dagegen in der Regel in der Hand eines Mannes, der das Amt des Kikmongwi (‚Vorsteher‘) bekleidet, der in seinen Entscheidungen jedoch auf die Zustimmung der Kommunemitglieder, insb. der Clanoberhäupter angewiesen ist. Nach der Pueblo-Revolte von 1680 gelang es der span. Kolonialverwaltung und der rk. Mission nicht mehr, dauerhaften Einfluß auf die H. auszuüben, daher konnte das traditionale mythischkultische System in seinen Grundzügen bis in der Gegenwart überdauern. Die pflanzerische Produktion und 345
h o r ne m A n n , f r i ed r i c h k o n r A d
das liturgische Geschehen bilden einen integrierten, den Jahreslauf gestaltenden Komplex von Handlungen. Mit der wichtigen Soyal-Zeremonie zur Zeit der Wintersonnenwende im Dez., bei der nach der Anschauung der H. die übermenschlichen Kachina (H.: Katsina) zurückkehren und Regen und Fruchtbarkeit gewähren, setzt das Halbjahr der Kachina-Zeremonien ein. Es endet mit der Verabschiedung der Kachinas bei dem Niman-Fest Ende Juni / Anfang Juli. Männliche Tänzer verkörpen die Kachinas bei den Kulttänzen. Der Kikmongwi ist der Leiter der Soyal-Zeremonie. Die zweite Jahreshälfte wird liturgisch durch die Nicht-Kachinazeremonien geregelt. Die kulturelle Beständigkeit trotz des unvermeidlichen Akkulturationsdrucks seitens der US-Gesellschaft und das intensive kultische Leben haben zur romantischen Verklärung der H. durch die verschiedenen westlichen Alternativbewegungen geführt. Bruce A. Cox, What is Hopi Gossip About?, in: Man 5 (1970), 88–98. Albert Kunze (Hg.), Hopi und Kachina, München 1988. Alfonso Ortiz (Hg.), Handbook of North American Indians 9, Washington D.C. 1979. T HOMAS BARGAT Z KY
Hornemann, Friedrich Konrad, ~ 20. September 1772 Hildesheim, † Februar 1801 Bakhani b. Bussa am Niger, □ unbek., ev. H. wurde als Sohn eines Pastors geboren, erhielt seine schulische Ausbildung in Hildesheim und Lüneburg. 1791 schrieb er sich in Göttingen für Theologie ein, unterrichtete ab 1794 als Lehrer in Hannover. Über eine Empfehlung Johann Friedrich Blumenbachs nahm er 1796 Kontakt mit der African Association in London auf und diente sich für eine →Expedition an. Nach Vorbereitungen bei Blumenbach reiste er 1797 nach London, traf notwendige Vereinbarungen und schiffte sich nach Alexandria ein. In →Ägypten machte er sich mit den Landessitten vertraut und übte sich in der Identität eines mameluckischen Händlers. Unterstützt durch die napoleonischen Besatzungstruppen konnte er mit einer Karawane 1798 nach Westen aufbrechen und reiste über Siwa nach Murzuk mit dem endgültigen Ziel, über Borno und Hausaland den →Atlantik zu erreichen. Von Murzuk reiste er noch einmal nach →Tripolis, hinterließ dort seine bisherigen Aufzeichnungen. Er kehrte ins Innere zurück, erreichte das Reich Nupe, wo er an der Ruhr verstarb. Erst fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod herrschte in Europa Sicherheit über das Schicksal des Verschollenen. Bedeutsam aus archäologischer Hinsicht ist seine Beschreibung der Oase Siwa, aus historischer Sicht die frühen Notizen zu Borno und Hausaland, welche er allerdings nach Fremdinformationen noch in Murzuk verfaßte. Seine eigenen direkten Beobachtungen im heutigen →Nigeria bleiben verloren. Q: Friedrich Hornemann, Tagebuch seiner Reise von Cairo nach Murzuck, Weimar 1802. L: Adolf Pahde, Der erste dt. Afrikaforscher, Hamburg 1895. Rolf Schulte, Browne und Hornemann in der Oase Siwa, in: Gerhard Meier-Hilbert / Jos Schnurer (Hg.), Friedrich Konrad Hornemann in Siwa, Hildesheim 2002, 149–161. DE T L E F GRONE NBORN
346
Hottentotten →Khoikhoi. Hottentottenwahlen nannten die Zeitgenossen u. die damalige veröffentlichte Meinung in Deutschland die Reichstagswahlen von 1907, weil nach der Kritik →Erzbergers an der dt. Kolonialverwaltung, insb. in →Dt.-Südwestafr., der Antrag der Reichsleitung, zusätzliche Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, die u. a. zur Niederschlagung des Aufstands der sog. →Hottentotten unter Hendrik →Witboi eingesetzt werden sollten, abgelehnt wurde, der Reichstag daraufhin vorzeitig aufgelöst u. Neuwahlen angesetzt wurden. Die Zustände in den dt. Kolonien, allen voran in Dt.-Südwestafrika, spielten eine zentrale Rolle in der Wahlkampfauseinandersetzung. Nach den Wahlen, die mit einem Sieg der sog. Blockparteien um Reichskanzler →Bülow u. einer eklatanten Niederlage der Sozialdemokratie endeten, kam es zu einer Reform in der dt. Kolonialverwaltung, die zur Errichtung des →Reichskolonialamts unter Bernhard →Dernburg führten. Unter den Sozialdemokraten kam es unter dem Einfluß von Gustav Noske (1868–1946) zu einer Neuorientierung in der kolonialen Frage. Unter Beibehaltung einer kolonialkritischen Rhetorik wurde in der Sache die Existenz dt. Kolonien nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt, sondern zunehmend sogar gegen koloniale Fundamentalkritik verteidigt. Wolfgang Reinhard, „Sozialimperialismus“ oder „Entkolonialisierung der Historie“? Kolonialkrise und „Hottentottenwahlen“ 1904–1907, in: Historisches Jahrbuch 97/98 (1978), 384–417. Hans-Christoph Schröder, Gustav Noske u. d. Kolonialpolitik d. Dt. Kaiserreiches, Berlin / Bonn 1979. Frank-Oliver Sobich, Schlagt die Hottentotten-Freunde zu Boden! Deutsche Feindbilder, der Aufstand der Herero und die Hottentottenwahlen von 1907, in: Eva Schöck-Quinteros (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft. Idee u. Wirklichkeit, Berlin 2004, 423–450. H ERMA N N H IERY
House of Representatives →Abgeordnetenhaus Huancavelica. Stadt in Südperu, bekannt für kolonialzeitlichen Quecksilbererzbergbau (→Bergbau). Die Stadt H. liegt ca. 270 km südöstlich von →Lima auf ca. 3 680 m Höhe in den Anden. Schon in vorinkaischer Zeit nutzte man das in dieser Region gefundene rötliche Quecksilbererz Zinnober als →Farbstoff für Keramik und Kosmetik. Nach dem Hinweis eines →Kuraka „entdeckte“ der Spanier Amador de Cabrera hier 1563 eine Mine, zehn Jahre später gab es bereits 43 Minen. Am 4.8.1571 gründeten Minenbesitzer die Stadt Villa Rica de Oropesa, die nach dem Geburtsort des Vize-Kg.s Francisco de →Toledo benannt war, aber weiterhin auch H. hieß. 1572 enteignete derselbe Vize-Kg. gegen eine Entschädigung die Minenbetreiber, mit deren Bergbaugilde („Gremio“) die Vize-Kg.e Verträge schlossen. In diesen „asientos“ waren u. a. der Nießbrauch und der Quecksilberverkauf an die Krone zu einem Festpreis sowie die Zusicherung indigener Arbeitskräfte geregelt. Bis zum frühen 17. Jh. gab es jährlich maximal 3 000, im halbjährigen Turnus zur →Zwangsarbeit (→mita) abgestellte indigene Berg-
h u es te
leute. Im 17. und 18. Jh. ging deren Zahl auf 300–400 zurück, während die indigene Lohnarbeit zunahm. Bis 1597 der erste Stollen gebaut wurde, herrschte Tagebau vor. Viele Grubenarbeiter flohen wegen der miserablen Arbeitsbedingungen oder starben an Vergiftungen; erst 1642 wurde eine Entlüftungsanlage eingebaut. Aus dem abgebauten Mineral löste man in Öfen das bei Raumtemperatur flüssige Schwermetall Quecksilber, mit dem sich durch Amalgamation →Edelmetalle aus niedrig angereichertem Erz gewinnen ließen. Im Cerro Rico von Potosí, dem 1545 entdeckten, bedeutendsten Silbererzvorkommen Südamerikas, gelang 1571 die Anwendung des Amalgamationsverfahrens, das unersetzlich für die koloniale Silberproduktion wurde. H. deckte bis in die 1770er Jahre fast den gesamten im →Vize-Kgr. →Peru benötigten Quecksilberbedarf. Allerdings gingen im 18. Jh. Fördermengen und Feingehalt des Cinnabarits zurück, so daß die Krone Spezialisten wie Antonio de →Ulloa dorthin zur Bekämpfung von Korruption und technischen Mängeln entsandte (1758–1764). 1782 wurde die Mine unter staatliche Verwaltung gestellt und 1784 H. zur Hauptstadt einer Intendantur, intendencia, mit ca. 30 000 Ew. erhoben. Nachdem 1786 ein Stolleneinsturz 200 Todesopfer forderte, bestimmte die Krone 1788 den schwedischen Frhr. Thaddäus von →Nordenflycht zum Leiter einer aus sächsischen Metallurgen bestehenden Bergbaumission in Peru, deren Reformvorschläge (1792) in H. aber nicht umgesetzt wurden. Weil auch die regelmäßige Belieferung Südamerikas aus der weltweit größten Quecksilbermine im span. Almadén nicht gelang, wurde es privaten, auch indigenen, Unternehmern 1795 gestattet, außerhalb der Hauptmine H. („Santa Bárbara“) minderwertiges Zinnober zu fördern. Nach der Unabhängigkeit Perus (1824) produzierte man hier weiterhin Quecksilber, aber auf niedrigem Niveau. Die Stadt H., in der Ende des 18. Jh.s noch ca. 650 Spanier, 3 800 Indigene und 730 Mestizen (→Casta) lebten, verlor im 19. Jh. endgültig an wirtschaftlicher Bedeutung. Renée Gicklhorn, Die Bergexpedition des Frhr. von Nordenflycht und die dt. Bergleute in Peru, Leipzig 1963. Guillermo Lohmann Villena, Las minas de Huancavelica en los siglos XVI y XVII, Sevilla 1949. Arthur Preston Whitaker, The Huancavelica Mercury Mine, Cambridge 1941. OT TO DANWE RT H Hudson Bay Company →Pelze Hudson River. Der H. entspringt in den Adirondack Mountains im Norden des US-Bundesstaats New York und mündet nach 493 km bei Manhattan in den →Atlantik. Sein Unterlauf bildet die Grenze zu New Jersey. Wegen seines bis weit nach Norden reichenden Tidenhubs nannten ihn die Mahican „Muh-he-hun-ne-tuk“, der Fluß, der in zwei Richtungen fließt; die Niederländer, die an seinen Ufern 1624 mit Nieuw Amsterdam den Kern von New York City schufen, nannten ihn Noord Rivier. der Name H. setzte sich durch, als Nieuw Nederland 1664 zu New York mutierte, zu Ehren des Engländers Henry Hudson, der im Sept. 1609 im Auftrag der ndl. Ostindiencompagnie (→Ostindienkompanien) den Fluß befahren hatte. Der Eriekanal (Bauzeit 1817–1825) ver-
band über den H. die Metropole New York City mit den Großen Seen und der Getreideproduktion im Mittleren Westen. Obwohl der H. wie andere Flüsse im 19. Jh. intensiv in die →Industrialisierung eingebunden wurde, entwickelte sich gleichzeitig eine nostalgische Verklärung der Flußlandschaft durch die Maler der H. River School (Thomas Cole, Asher Brown Durand, Frederic Edwin Church), die den H. als am. Rhein feierten. Thomas S. Wermuth / James Michael Johnson (Hg.), America’s First River, Poughkeepsie 2009. CLA U D IA SC H N U R MA N N
Hügel, Anatol Andreas Aloys von, * 29. September 1854 Florenz, † 15. August 1928 Cambridge / Großbritannien, □ unbek., rk. Der Sohn Karls von →H. erhielt seine schulische Ausbildung zunächst in Wien, dann im rk. Kolleg in Lancashire. 1874–1878 unternahm er eine Forschungsreise nach Australien und in die Inselwelt des Pazifik. U. a. besuchte er →Samoa und insb. die →Fidschi-Inseln. In ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen beschrieb er Fidschis Flora und Fauna und hielt die Sitten der Eingeborenen fest, denen er mit großer Sympathie begegnete. Zudem sammelte er zahlreiche ethnographischer Objekte, die in die Bestände des 1884 gegründeten Cambridge University Museum of Archaeology and Anthropology Eingang fanden, dessen erster Direktor H. bis 1921 war. Hermann Mückler, Baron Anatol von Hügel in Fiji, in: Hermann Mückler (Hg.), Österreicher im Pazifik, Wien 1998, 21–40. Jane Roth / Steven Hooper (Hg.), The Fiji Journals of Baron Anatol von Hügel 1875–1877, Cambridge 1990. C H R ISTO PH K U H L Hügel, Karl Alexander Anselm von, * 25. April 1795 Regensburg, † 2. Juni 1870 Brüssel, □ unbek., rk. 1824 schied der Baron aus dem österr. Militärdienst, in dem er seit 1811 gestanden hatte und begann ein Leben als Forschungsreisender. Auf jahrelangen ausgedehnten Reisen, die ihn nach →Ägypten, →Indien, →Indonesien, auf die →Philippinen und nach Ozeanien führten, sammelte er ca. 32 000 Objekte (neben 12 000 Pflanzen v. a. Ethnographica und Manuskripte), die er nach seiner Rückkehr verschiedenen Wiener Museen und der Hofbibliothek schenkte. Viele Pflanzen hatte er als Samen mitgebracht und ließ sie in den Gewächshäusern seiner Gärten in Wien-Hietzing aufziehen, die ein beliebtes Ausflugsziel waren und für die Gartenkultur in Österreich und darüber hinaus stilbildend wurden. Zahlreiche der von ihm mitgebrachten außereuropäischen Zierpflanzen bereicherten die europäische Gartenkultur. 1837 gründete H. die österr. Gartenbaugesellschaft, als deren Präs. er bis 1848 amtierte. 1850–1859 wirkte er als österr. Gesandter im Großherzogtum Toskana, 1860–1867 in Belgien. Helmut Dolezal, Hügel, Karl Alexander, in: NDB 9 (1971), 731f. C H R ISTO PH K U H L Hueste. Span. Bezeichnung für Kriegerhaufen in der Reconquista und der Conquista. In den endemischen Grenzkämpfen der iberischen Reconquista mobilisierten adelige Kriegsunternehmer (→Caudillismo) Gefolgs347
h u g e not t e n
leute für Beutezüge auf maurische Gebiete. Die infolge der latenten Kriegshandlungen in den weiten Grenzregionen (→Frontier) ohnedies im Kriegshandwerk erfahrenen Dorf- und Stadtbewohner unterstellten sich für die Dauer des Unternehmens gegen einen nach dem Wert der eingebrachten Bewaffnung berechneten Beuteanteil dem Befehl solcher Anführer und kehrten nach Beendigung des Zuges (entrada) in ihr gewohntes ziviles Umfeld zurück. Dieses Mobilisierungsschema wurde mit dem Unterschied in die überseeische Expansion übernommen, daß nunmehr die Anführer einer kgl. Lizenz bedurften, die eine grobe Skizzierung des Zielgebietes, der im Erfolgsfall zu erfüllenden Aufgaben und der in Aussicht gestellten Belohnungen für die Anführer enthielt. Die Teilnehmer brachten weiterhin ihre Bewaffnung auf eigene Kosten ein, während die Anführer die Infrastruktur des Unternehmens finanzieren mußten. HORS T P I E T S CHMANN
Hugenotten. Als H. werden seit den 1560er Jahren französische Protestanten bezeichnet, die im katholischen Frankreich für ihren durch Jean Calvin geprägten Glauben verfolgt wurden. Die Herkunft des Begriffs ist umstritten. Vermutet wird, daß er sich entweder von den Schweizer „Eidgenossen“ oder den „Huis Genooten“, d. h. flämischen Protestanten, herleitet. In Frankreich entstanden hugenottische, d. h. französisch-reformierte Kirchen, in den 1550er Jahren. Aus Sicht der französischen Krone und der Katholischen, d. h. in Frankreich der Gallikanischen Kirche stellten diese neuen protestantischen Kirchen in Frankreich eine Gefahr für Staat und Kirche dar. Der Kalvinismus in Frankreich wurde spätestens seit 1560 nicht nur mit theologischen, sondern auch mit politischen und sozialen Reformen und mit Monarchomachismus, d. h. der Rechtfertigung eines Tyrannenmordes, identifiziert. Dynastische Konkurrenzkämpfe zwischen den französischen Adelshäusern der Valois, der Guise, der Bourbonen und der Montmorencys sowie ein Machtvakuum, das nach dem frühen Tod der Könige Heinrich II. (1559) und Franz II. (1560) die Dynastie der Valois infrage zu stellen drohte, führten zusammen mit wachsenden Problemen zwischen Kalvinisten und Katholiken zum Ausbruch der sogenannten Religions- oder H.kriege in Frankreich, die bis 1598 währten. Bereits 1550 hatte die erste größere Auswanderungswelle von H. eingesetzt. Diese wird als das Premier Refuge bezeichnet, als erste Diaspora oder erstes Exil französischer Protestanten. Ansiedlungsländer waren zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich die kalvinistischen Kantone der Schweiz – vor allem Genf –, die Niederlande und England. Während der H.kriege (1562–1598) ist die kontinuierliche Emigration von französischen Protestanten nachweisbar, die sich nach der Bartholomäusnacht (1572) intensivierte. Zwischen 1520 und 1660 verließen allerdings nicht mehr als 20 000 französische Protestanten Frankreich. König Heinrich IV. von Frankreich, der erste Bourbone auf dem französischen Thron, versuchte das Land zu pazifizieren. Sein Edikt von Nantes (1598) war allerdings kein Toleranzedikt. Staatsreligion war und blieb der Katholizismus. Doch wurden den H. bestimmte Rechte bzw. Privilegien zuerkannt, die in etlichen Städten bzw. Provinzen 348
in Frankreich eine friedliche Koexistenz von Protestanten und Katholiken möglich machen sollten. Zwischen 1621 und 1629 kam es unter Kardinal Richelieu erneut zu einem Krieg gegen die H., in denen deren militärische und politische Macht in Frankreich endgültig beseitigt wurde. Der Frieden von Alès von 1629 garantierte den Kalvinisten jedoch ihre gesellschaftliche und religiöse Sonderstellung. Ab den 1660er Jahren höhlte die französische Krone nach und nach die Privilegien, die das Edikt von Nantes den Protestanten gewährt hatte, aus. Hintergrund der zunehmenden Diskriminierung von H. in Frankreich war, daß diese von katholischen Polemiken als Verbündete der „protestantischen Hydra“ angesehen wurden, als Agenten der Niederlande, Englands, der Pfalz und Genfs, und damit als Staatsfeinde. Die vielfachen Verflechtungen zwischen H.kirchen in Frankreich, Genf, den Niederlanden, England und den protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches, schienen dies zu bestätigen. 1681 setzten die so genannten Dragonnaden ein, das heißt mittels Einquartierungen von Soldaten sollten H. zur Konversion zum Katholizismus gezwungen werden. Die Zwangskonversion war mit Trinkgelagen, der Zerstörung von Mobiliar und Geschirr, der Schikanierung der Hausbewohner bis zu Folter, Vergewaltigungen und Massakrierungen verbunden. Sobald sich die Bewohner bereit erklärten, zum Katholizismus zu konvertieren, wurden die Soldaten abgezogen. Am 22. Oktober 1685 (gregorianischer Kalender) widerrief König Ludwig XIV. von Frankreich, der so genannte Sonnenkönig, das Edikt von Nantes. Mit dem Edikt von Fontainebleau wurden alle protestantischen Andachten in ganz Frankreich verboten, protestantische Kirchen zerstört. Pastoren wurden ausgewiesen, wenn sie nicht bereit waren, zum Katholizismus zu konvertieren. Allen anderen Protestanten wurde untersagt, das Land zu verlassen. Mit den Dragonaden der 1680er Jahre und der Revokation des Edikts von Nantes 1685 ließen sich ungefähr 150 000 bis 200 000 weitere französische Protestanten in der Schweiz (ca. 22 000 nach 1685), in England (ca. 40–50 000 nach 1685) und den Niederlanden (ca. 50–60 000 nach 1685) nieder, ebenso auch in Brandenburg-Preußen (ca. 15 000–20 000), Dänemark und Nordosteuropa (ca. 2 000), Irland (ca. 3 500–5 000), den englischen Kolonien in Nordamerika und der Karibik (ca. 3 500), den niederländischen Kolonien in Surinam, der Karibik, Afrika und Indonesien, davon einige Hundert in Südafrika (Kapkolonie). Auch wenn der Großteil der hugenottischen Flüchtlinge aus einfachen Bauern, Tabakpflanzern, Wollkämmern, Handwerkern und Tagelöhnern bestand, so waren H. im nationalen und internationalen Handel, im Bankwesen und im Manufakturwesen erfolgreich und wurden als solche von protestantischen Staaten in Europa bzw. den Kolonialmächten zumindest in den 1680er Jahren angeworben und zum Ausbau ihrer Imperien eingesetzt. Dies war v. a. in South Carolina, in der Provinz New York, in der Karibik, in Südafrika und Irland der Fall. H. sollten dort als Seidenproduzenten, Winzer, Reis- und Olivenbauern tätig werden. Andere Pläne, französische Protestanten auf La Réunion oder auf St. Helena anzusiedeln, scheiterten. Auch spielten hugenottische Soldaten und Offiziere in den großen
h u g h es , wi lli Am mo rri s
Kriegen zwischen 1688 und 1763, d. h. dem Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) (oder King-William’s-War 1689–1697), dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701– 1714) (oder Queen-Anne’s-War 1702–1713) und dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) (oder French-andIndian-War 1754–1763) für die protestantischen Mächte nicht nur in Europa selbst, sondern auch in Nordamerika, der Karibik und Indien eine wichtige Rolle. H.kolonien an der frontier sollten als Bollwerk gegen die imperialen Bestrebungen der katholischen Mächte Frankreich, Spanien und Portugal eingesetzt werden. Ebenso waren H. durch ihre globalen Banken- und Handelsnetzwerke (ähnlich den →Sepharden) am Import und Export von Waren wie Zucker, Sklaven, Holz, Getreide, Kaffee, Tee, Porzellan nicht nur im atlantischen Dreieck, Europa, Afrika und Amerika, sondern auch im Indischen Ozean und Pazifik beteiligt. Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 2010. Bertrand van Ruymbeke, From New Babylon to Eden. The Huguenots and their Migration to Colonial South Carolina, Columbia / SC 2006. Owen Stanwood, Between Eden and Empire. Huguenot Refugees and the Promise of New Worlds, in: American Historical Review 118 (2013), 1319–1344. S US ANNE L ACHE NI CHT
Hughes, William Morris, * 25. September 1864 London, † 28. Oktober 1952 Sydney, □ Macquarie Park Cemetery Sydney, anglik. (Vater baptist., Mutter anglik.) Pol. Karriere. H.’s Karriere begann nach einer Zeit als Gelegenheitsarbeiter – Steinbrecher, Schiffskoch, Brunnengräber, Reparateur von Regenschirmen – als Gewerkschaftssekretär. 1894 wurde er ins Parlament von New South Wales gewählt. Nach der Gründung des Bundesstaates →Australien wurde er sofort ins Bundesparlament gewählt u. blieb von dessen konstituierender Sitzung am 29. März 1901 bis zu seinem Lebensende Mitglied – die längste parl. Karriere aller austral. Politiker. Als Abgeordneter der Labour Party wurde er 1908 zum erstenmal „Attorney General“ von Australien, ein Amt, das er ebenfalls häufiger ausfüllte als jeder andere austral. Politiker (13.11.1908– 2.6.1909, 29.4.1910– 24.6.1913, 17.9.1914–21.12.1921, 20.3.1939–7.10. 1941). In dieser Funktion, die man in etwa dem mit eines Generalbundesanwaltes mit Gewalten eines Justizministers vergleichen kann, war er hauptverantwortlich für die juristische Um- u. Durchsetzung der Einführung der militärischen Ausbildungs- u. Wehrpflicht aller austral. Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die am 1. Januar 1911 auf Empfehlung von →Kitchener in Kraft trat. Die „White Australia Policy“ verteidigte H. wiederholt u. öffentlich als „one of the pillars of Australian national life“; ohne sie käme es zu einer unkontrollierten Einwanderung v. a. von Asiaten u. die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt würde zwangsläufig zu einem Absinken der hohen austral. Löhne u. Sozialstandards führen. H. bekleidete mehrere Ministerämter (Gesundheitsminister 1936– 1937, Außenminister 1937–1939, Marineminister August bis Oktober 1941), v. a. aber war er austral. Premierminister von 27. Oktober 1915 bis 9. Februar 1923. In
diese Funktion zunächst als Vorsitzender der austral. Labour Partei (seit 26.10.1915) gewählt, geriet er durch seinen Imperialismus, insb. aber durch seinen Militarismus, immer stärker in Gegensatz zur Basis der Partei, bis er in der Auseinandersetzung um die Ausweitung der allgem. Wehrpflicht auf Militäreinsätze auch außerhalb Australiens sich so sehr von den Grundlinien der Labour Pary entfernte, daß diese ihn – obwohl Premierminister – aus Partei (15.9.1916) u. Fraktion (14.11.1916) ausschloß. Er gründete umgehend die „National Labour Party“ u. blieb im Amt. Die Zugehörigkeit zu einer pol. Partei scheint H. sekundär, wenn nicht gleichgültig gewesen zu sein. Nach der „National Labour Party“ gründete er 1917 die „Nationalist Party of Australia“, aus der er 1929 ausgeschlossen wurde. Danach war er Gründer u. erster Vorsitzender der „Australian Party“ (1930– 1931), der „United Australian Party“ (1931–1944; Parteiausschluß März 1944), wurde schließlich „Unabhängiger“ (bis September 1945), um am Ende seines pol. Lebens der „Liberal Party“ (1945–1952) anzugehören. Langfristiger Einfluß auf Weltpolitik u. →Globalgeschichte. H.s Bedeutung liegt in seiner Rolle während des →Ersten Weltkrieges. Als Mitglied d. brit. Imperial War Cabinet (1916–1921) erreichte er die Akzeptanz Großbritanniens für Australiens Sonderweg; Großbritannien war auf die Unterstützung Australiens während des Krieges angewiesen, nicht einmal so sehr die militärische Hilfe als die austral. Belieferung mit Lebensmitteln war für die Durchhaltefähigkeit Großbritanniens elementar. In den alliierten Gesprächen über die Friedensbedingungen in Paris nach dem Kriege setzte H. auch Australiens subimperiale Bestrebungen durch. Er bekämpfte hartnäkkig Wilsons Idee vom →Völkerbund, weil er die dt. Kolonie →Neuguinea mitsamt →Nauru durch Australien direkt annektieren wollte. Als Kompromiß entstand die Idee von den verschiedenen →Mandaten. H. gab seinen Widerstand auf, als ihm versichert wurde, der Unterschied zwischen einer klassischen Kolonie u. den CMandaten für Neuguinea u. Nauru wäre wie jene zwischen Grundbesitz und einer Pacht auf 999 Jahre. Der außerhalb Australiens kaum bekannte Politiker war aber darüberhinaus ursächlich für zwei zentrale Entscheidungen, die die Weltpolitik auf Jahrzehnte beeinflussen sollten. Zum einen war es sein energischer Widerstand, der die im Namen Japans von Außenminister Baron Makino (1861–1949) am 13. Februar 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz beantragte sog. Gleichberechtigungsklausel für alle Rassen („racial equality clause“: „equal and just treatment in every respect, making no distinction either in law or in fact on account of ... race or nationality“; sollte in Art. 21 der Völkerbundssatzung aufgenommen werden) mit Unterstützung des gesamten brit. Empire scheitern ließ. H. erbitterte Opposition – 95 % aller Australier wären gegen „the very idea of equality“, reklamierte er – u. die Rückendeckung, die er dabei von der brit. Reg. erhielt, führten dazu, daß Wilson als Vorsitzender sogar eine formale Mehrheit für den jap. Antrag (dafür waren u. a. →Brasilien, China, Frankreich u. Italien) als nicht ausreichend erklärte u. diesen wegen der „Fundamentalopposition“ dagegen ablehnte. Rassistisch begründete Politik, Eurozentrismus ohnehin, konnten auf 349
h u m b ol d t, A l e � A n d e r v o n
dieser Grundlage auch in der sog. westlichen Welt weiter prosperieren. Für Japan war diese Erfahrung ein wesentliches Motiv für die Abwendung von Großbritannien (u. den USA). Schließlich war H. ebenso ursächlich für die Aufnahme des berüchtigten Artikels 231 („Kriegsschuldparagraph“) in den →Versailler Vertrag. In seiner Angst, Australien könnte zu kurz kommen, verlangte er schon unmittelbar nach Kriegsende im brit. Kriegskabinett, man müsse die Reparationsforderung an Deutschland so hoch wie möglich ansetzen. Im November 1918 machte ihn Lloyd George daraufhin zum Vorsitzenden d. Reparationskomitees des brit. Kriegskabinetts. Als solcher verlangte er die unglaubliche Summe von 24 Mrd. brit. Pfund, annähernd 500 Mrd. Goldmark – wohl wissend, daß das brit. Schatzamt durch John Maynard Keynes (1883–1946) die Kriegskosten des Empire auf nur 2–3 Mrd. Pfund veranschlagt hatte. Bei H.s Rede zur Annahme des Versailler Vertrages im austral. Bundesparlament am 10. September 1919, behauptete dieser sogar, er habe urspr. sogar über 30 Mrd. Pfund (613 Mrd. Goldmark) gefordert, denn „the calculations regarding the power of Germany to pay – as made by various parties, some English, some of other nationalities – were grossly below what I thought was fair and possible. One must await the verdict of the years that are to come. But I think time will show that Germany could have paid very much more than the Allies are asking her to pay.“ Den Widerstand von Keynes überwunden, sah H. sich in Paris mit seinen exorbitanten Forderungen einer ablehnenden Front von Amerikanern u. Franzosen gegenüber. Die Amerikaner argumentierten, völkerrechtlich wären in diesem Falle die 14 Punkte Wilson bindend, da sie die Grundlage des Waffenstillstandes darstellten u. diese ließen keine weitergehenden Reparationszahlungen – über die Wiedergutmachtung angerichteter Schäden in Belgien u. Nordfrankreich – zu. Den Franzosen ging es urspr. nur um die Wiedergutmachung der von den Dt. beschädigten Landesteile u. den Ersatz für die von ihnen zerstörten Fabriken u. Agrarflächen. Eigentlich isoliert, setzte sich H. erneut zunächst im brit. Kriegskabinett durch. Auf brit. Druck hin schlug dann John Foster Dulles am 21. Februar 1919 in der Reparationskommission einen „Kompromiß“ vor. Durch die Aufnahme eines eigenen Artikels sollte Deutschland die theoretische Verantwortung für die Zahlung von Reparationen anerkennen, ohne daß zuvor eine genaue Summe spezifiziert werden mußte. Was von Dulles als „Erleichterung“ für Deutschland gedacht war, um H.’s maßlose Reparationsforderungen abzuwenden, entwickelte sich zu der größten Hypothek des ganzen Vertrages. Einerseits wurde die mentale Dimension des neuen Artikels (Wilson war bei seiner endgültigen Annahme im April 1919 wegen Erkrankung nicht dabei) offenbar zunächst nicht erkannt. Andererseits ließ gerade die Offenheit der Bestimmung eine Entwicklung zu, in der bis zur Konferenz von Lausanne die exakte Summe der von Deutschland zu erbringenden Reparationsleistungen immer wieder zu erbitterten politischen Kontroversen führte (→Dawes-Plan). Bewertung. Ob H. für Australien Großes geleistet hat, ist auch in Australien selbst umstritten. Nationalisten u. Liberalen galt u. gilt er als „little digger“, der hartnäckige, 350
durch Nichts unterzukriegende Nahkämpfer u. Patriot, der der Welt gezeigt hat, daß sich Australien auch gegen größte Widerstände durchsetzen kann. Ein Stadtteil von Canberra ist nach ihm benannt. Dabei reflektierte seine Art, Politik zu machen, ziemlich genau das, was man in Australien larrikinism nennt: aus der Rolle fallend, laut herumschreiend, keine Ordnung, schon gar keine Unterordnung anerkennend, am Ende aber doch einer, der Sympathie erweckt. Das verschaffte ihm außerhalb der Labour Party bis heute eine gewisse Popularität. Für Anhänger von Labour galt er dagegen als „jerk“ (Fiesling), Verräter u. Renegat. Mit nur 168 cm Körpergröße, einem großen Kopf und scheinbar noch größeren abstehenden Ohren, einer „gnome-like appearance“ (Fitzhardinge), war H. ein willkommenes Objekt für die Karikaturisten der Zeit, besaß aber das Problem, das man ihm auf den ersten Blick keine Beachtung schenkte. In Paris spielte er dennoch oder vielleicht gerade deswegen eine zentrale Rolle beim Zustandekommen des Versailler Vertrages, gerne u. bewußt aus der Rolle fallend, weil er wußte, daß ihn sonst niemand ernstgenommen hätte. Wenn auch das nichts mehr half, orchestrierte er über seinen Vertrauten Keith Murdoch (1885–1952) die Medien. H. war das Enfant terrible der Friedenskonferenz, ein Politiker-Hooligan, der herumfuchtelte u. herumschrie, den aber Lloyd George u. Clemenceau gerne ins Feuer schickten, wenn es darum ging, Wilson auszutricksen oder an die Wand zu spielen. Der am. Präsident, der H. verabscheute, soll ihn als „pestiferous varmint“ (auf Dt. vielleicht am besten frei mit „Giftzwerg“ oder „Rumpelstilzchen“ übersetzt) bezeichnet haben. Der am. Historiker Tillman charakterisierte ihn nicht viel freundlicher als herumkreischenden Demagogen, dessen zynisches Insistieren „I speak for 60 000 dead Australians“ im Grunde nichts anderes darstellte als die Toten für eigene pol. Zwecke zu vereinnahmen. Faktisch war H. einer der größten Scharfmacher in Versailles, der zwar nicht zu den wirklichen Unholden der Weltgeschichte gehört, der aber dennoch eine jener Gestalten verkörpert, von denen man sich wünschte, es wäre besser gewesen, er wäre Schiffskoch geblieben. Q: Nachlaß in der Australian National Library, Canberra. L: F. Fitzhardinge, William Morris Hughes, 2 Bde., Sydney 1964 u. 1979. W. J. Hudson, Billy Hughes in Paris. The Birth of Australian Diplomacy, Melbourne 1978. Naoko Shimazu, Japan, Race and Equality. The Racial Equality Proposal of 1919, London / New York 1998. Peter Spartalis, The Diplomatic Battles of Billy Hughes, Sydney 1983. Seth Tillman, Anglo-American Relations at the Paris Peace Conference, Princeton, NJ 1961. H ER MA N N H IERY
Humboldt, Alexander von, * 14. September 1769 Berlin, † 6. Mai 1859 Berlin, □ Schloßpark Berlin Tegel, ev.-luth. und Freimaurer Der 2. Sohn des aus Pommern stammenden preußischen Offiziers u. Kammerherrn der Kronprinzessin Alexander Georg v. H. und seiner Ehefrau Marie Elizabeth v. Holwede, geb. Colomb, erhielt auch nach dem frühen Tod der Vaters (1779) eine sorgfältige Erziehung, bekundete früh empirische wissenschaftliche Neigungen in Bezug
h u m bo ld t, A le � An d er v o n
auf Gegenstände der Natur und bewies zeichnerische Begabung. Nach Studien in Frankfurt/Oder und Göttingen suchte er den Kontakt zu Georg →Forster, der an James →Cooks zweiter Reise teilgenommen hatte. 1790 unternahmen beide eine Reise von Mainz dem Rhein folgend nach England und von dort in das revolutionäre Paris. 1791 beantragte H., der inzwischen eine mineralogische Schrift publiziert hatte, erfolgreich die Aufnahme beim Oberbergamt in den preußischen Staatsdienst, die ihn zunächst zur weiteren Ausbildung an die Bergakademie Freiberg führte. 1792, gerade zum Bergassessor ernannt, wurde H. mit der Untersuchung des fränkischen →Bergbaus betraut und nach rascher Beförderung zum Bergmeister mit Leitungsaufgaben im Bergbau des Fichtelgebirges und des Frankenwaldes beauftragt. Nach erfolgreicher Tätigkeit mit raschen Beförderungen schied H. 1796 nach dem Tod der Mutter als nunmehr wohlhabender Erbe aus dem Staatsdienst aus, vervollständigte seine Ausbildung durch Lektüre, Kontakte und Reisen mit praktischen Untersuchungen, dem Gebrauch von Meßinstrumenten und begann mit systematischen Vorbereitungen für seine Forschungsreise. Die Vorbereitungsreisen H.s in die Schweiz und nach Italien lassen die Vermutung zu, daß die große Debatte unter den Naturforschern jener Zeit, ob die Welt „neptunisch“ (vom Wasser) oder vulkanisch geprägt sei, ihn umtrieb, gab er nach Rückkehr von der Amerika-Reise doch mit den Ausschlag dafür, daß sich die vulkanische Deutung der Erdentwicklung durchsetzte. Mit seinem Reisegefährten Aimé Bonpland, diplomatischer Empfehlung der sächsischen Gesandtschaft und Vermittlung des H. bekannten span. Ministers Urquijo wurde er 1799 in Aranjuez von →Karl IV. empfangen. U. a. auf Grund überzeugender Spanischkenntnisse und höfischer Gewandtheit erhielt er die Erlaubnis, eine Forschungsreise in die am. Besitzungen Spaniens durchzuführen. Ausgestattet mit Empfehlungsschreiben von Kaufleuten, der Unterstützung der Bankhäuser Simon d’Arragori und der Berliner Bank Friedländer für die Geldtransfers und kgl. Anweisungen an die span. Regierenden in Übersee, konnten H. und Bonpland 1799 die Reise unter besten Vorzeichen antreten. Sie brachten nicht nur die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, Meßinstrumente und Informationen, sondern auch die feste Entschlossenheit mit, keine körperlichen Strapazen bei ihren Untersuchungen zu scheuen. Am 5.6.1799, an Bord der Fregatte Pizarro trat H. von La Coruña aus mit Ziel Havanna die Reise über die Kanarischen Inseln an, wo er den höchsten Berg der Inselgruppe, den Teide, bestieg und am 25.6. die Überfahrt nach →Amerika begann. Infolge einer an Bord ausbrechenden Epidemie gingen H. und Bonpland bereits am 16.7.1799 in Cumaná (→Venezuela) an Land. Von dort führte die Reiseroute über Caracas an den →Orinoko, wo H. die Auffindung der Flußverbindung mit dem →Amazonas, den Rio Casiquiare, gelang. Zurück an der Küste reisten H. u. Bonpland nach Havanna, um von Trinidad / →Kuba aus die Reise über →Cartagena, dem Lauf des Magdalena nach Bogotá folgend, durch das Hochland von →Ecuador entlang der Vulkankette der Anden mit der Besteigung des Chimborazo über Quito nach →Lima fortzusetzen. Nach zwei Monaten Aufenthalt in Lima ging es dann
zur See, dem kalten Meeresstrom folgend, der jetzt H.s Namen trägt, über →Guayaquil nach →Acapulco, wo H. im März 1803 ankam. Im Apr. empfing ihn in MexikoStadt der Vize-Kg. Iturrigaray und gewährte ihm Zugang zu den Archiven. In der Folge wechselten sich Labortätigkeit in der Bergbauschule, Archivstudien mit Besuchen in vor-span. Pyramidenstätten, der Vulkane des mexikanischen Hochlandes, der Minen von →Guanajuato und des noch jungen Vulkans „Jorullo“ in Michoacán ab. Im Febr. 1804 traten die Reisegefährten über Puebla und Jalapa die Reise nach Veracruz an, von wo sie sich am 7. März zunächst nach Havanna einschifften, bevor sie nach Europa zurückkehrten. Seit Beginn der Überfahrt während der gesamten, bis 1804 dauernden Reise führte H. Tagebuch und notierte parallel dazu sämtliche Beobachtungen, Messungen, Untersuchungen usw. unter schwierigsten Bedingungen, selbst im Pferdesattel (→Pferde), oftmals mehrsprachig und in einer schwer zu lesenden Handschrift, fertigte mit Bonpland Skizzen von Landschaften, Pflanzen, Bauten usw. an, zeichnete H. Kartenskizzen, geologische Schnitte, archäologische Skulpturen, Ruinenstätten usw. und sammelte Pflanzen, Mineralien usw., Materialien, die er für sein Reisewerk auswerten wollte. Obwohl dringend in Preußen erwartet und zum Akademiemitglied ernannt, beschloß H., sich mit seinen Sammlungen in Paris niederzulassen, wo ihm nicht nur das erforderliche wissenschaftliche Umfeld für seine Zwecke am geeignetsten schien, sondern er sich heimischer als im engen Preußen fühlte, mit Ehren überhäuft wurde und enge Kontakte zu bedeutenden Wissenschaftlern seiner Zeit unterhalten konnte. Tatsächlich erforderte die Anfertigung und Drucklegung seines großen Reisewerkes umfangreiche Vorarbeiten. Erst 1825 erschien der letzte Bd. von H.s Reisewerk in Frankreich, 1826 folgte der ergänzende „Essai politique sur l’Isle de Cuba“. Angesichts dessen forderte Friedrich Wilhelm III. H. unmißverständlich zur Rückkehr nach Berlin auf, wo er nach einem Umweg über London am 12.5.1827 eintraf, um mit Unterbrechungen sein Wirken in der Stadt fortzusetzen, die 1809 durch entschiedenes Mitwirken seines Bruders Wilhelm mit einer Universität dotiert worden war, die 1945 den Namen der Brüder erhielt. H. wurde in Berlin hoch geehrt, hatte Zugang zum Hofe, führte die Veröffentlichung seiner Werke fort, die teils mit, teils ohne seine Mitwirkung auch auf Deutsch erschienen und hatte großen Einfluß auf die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Universität. Auf Einladung Zar Nikolaus I. unternahm H. 1829 in 6 Monaten eine ca. 15 000 km lange Reise nach →Sibirien, mit allen Ehren und Komfort, die ihn auf Grund ihrer Begleitumstände nicht annähernd so begeisterte, wie die Reise in die Äquinoktialgegenden Amerikas, aber preußisch-russ. Interessen genügte. In Berlin empfing er in den Folgejahren zahlreiche dt. und ausländische Gelehrte, führte eine umfangreiche Korrespondenz und veranlaßte dt. Maler zu Reisen nach →Lateinamerika, um v. a. Mensch und Natur zu malen (Bellermann, Rugendas). Sein Vorbild veranlaßte andere Deutsche zu Forschungsreisen nach Lateinamerika (Martius, Spix, Langsdorff). Obwohl die nunmehr unabhängigen Länder, die er besucht hatte, hohe Ehrungen – u. a. Ehrenbürger →Mexikos, →Bolí351
h u m b ol d t, wi l h e lm fr h r . v o n
var berief sich auf eine flüchtige Begegnung mit ihm in Paris usw. – verliehen, Naturphänomene usw. nach ihm benannten und sich seiner zu politischer Propaganda bedienten, geriet H. in Preußen im Gefolge der zunehmenden Bedeutung der idealistischen Philosophie Fichtes und Hegels und der dt. Nationalidee mehr und mehr aus dem Blickfeld des Geschehens. Aber alle Welt sandte ihm Unmengen von Briefen, Schriften, Veröffentlichungen usw., so daß H. sich kurz vor seinem Tod veranlaßt sah, eine Zeitungsannonce zu veröffentlichen, in der er darum bat, davon Abstand zu nehmen. Nach der Reichsgründung 1871 blieb H. in Deutschland zwar eine wissenschaftliche Ikone, auf die man sich ggf. berief, aber sein Werk blieb, nicht zuletzt auf Grund seiner komplizierten Editionsgeschichte, lange in Vergessenheit. Erst nach dem →Zweiten Weltkrieg begann in beiden dt. Staaten eine Rückbesinnung auf H. Zunächst in der DDR, deren Akademie der Wissenschaften nicht nur einen großen Teil seines Nachlasses bewahrte, sondern auch mit einer eigenen Forschungsstelle mit dessen wissenschaftlicher Bearbeitung begann und v. a. die Transkription der erhaltenen, schwer zu entziffernden Reisenotizen in Angriff nahm, während es in der Bundesrep. der in Bonn arbeitende Hanno Beck war, der H.s Lebenswerk erforschte und der Vergessenheit entriß. Ungeachtet einer Fülle von Publikationen über H. im ersten Jahrzehnt des 21. Jh.s ist H.s Werk noch weit von einer wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgabe entfernt, zu deren Bearbeitung es eines Teams von Wissenschaftlern aus allen von H. besuchten Ländern bedürfte. Alexander von Humboldt, Studienausgabe, hg. v. Hanno Beck, 7 Bde., Darmstadt 2008. Alexander von Humboldt, Mein vielbewegtes Leben, hg. v. Frank Holl, Frankfurt/M. 3 2010. Alexander von Humboldt. Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution, hg. v. Margot Faak, Berlin (Ost) 1982. HORS T P I E T S CHMANN Humboldt, Wilhelm Frhr. von, * 22. Juni 1767 Potsdam, † 8. April 1835 Tegel bei Berlin, □ Park von Schloß Tegel, ev.-luth. H. wurde zunächst von Hauslehrern wie Joachim Heinrich Campe und Johann Christian Kunth erzogen, studierte 1787/88 Jura in Frankfurt/Oder und Göttingen und arbeitete nach Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich (1789) im preußischen Justizdepartement. 1791 schied er aus dem Staatsdienst aus und widmete sich seinen altphilologischen, philosophischen und kulturhistorischen Interessen. 1794–1797 lebte er in Jena (Freundschaft mit Schiller), 1797–1801 in Paris; während dieser Zeit unternahm er zwei Spanienreisen. 1802– 1808 war er preußischer Ministerresident beim Vatikan. 1809 wurde er zum Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium ernannt; in dieser Funktion konzipierte er die Berliner Universität und das neuhumanistische Gymnasium. 1810 ging er als Gesandter nach Wien und vertrat 1814/15 neben Hardenberg Preußen auf dem Wiener Kongreß. 1817 wurde er Botschafter in London, 1819 übte er kurzzeitig das Amt eines Ministers für ständische Angelegenheiten aus. Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst arbeitete er auf dem Familiensitz in Tegel an seinen gelehrten 352
Studien. Unter seinen vielfältigen, verschiedenste Wissensbereiche umfassenden wissenschaftlichen Tätigkeiten sind für die Überseegeschichte v. a. seine Arbeiten zu außereuropäischen Sprachen bedeutsam. H., der mit seiner Schrift „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“ (1820) Aufgaben, Begriffe und Methoden der Linguistik maßgeblich prägte, befaßte sich u. a. mit Sanskrit, Chinesisch, Japanisch, Birmanisch, Alt-Javanisch, Koptisch sowie mit Indianer- und Südseesprachen. In der Einleitung zu seinem umfangreichen Werk „Über die Kawisprache auf der Insel →Java“ (3 Bde., 1836–40) postulierte er die Totalität des Phänomens Sprache, das nach H.s Auffassung spezifische Weltsichten begründet und den Fortschritt der Menschheitsentwicklung ermöglicht. Tilman Borsche, Wilhelm von Humboldt, München 1990. Manfred Geier, Die Brüder Humboldt, Reinbek 2009. MA RK H Ä BER LEIN
Hun, the Hun. Abschätzige Bezeichnung für die Deutschen, die im →Ersten Weltkrieg im angelsächsischen Sprachraum in Verwendung kam. Geprägt durch einen Leitartikel in der offiziösen „Times“, die der brit. Reg. nahestand, vom 29. August 2014 („The March of the Huns“) sollte der Begriff v. a. die Kriegsbereitschaft der britischen Unterschichten fördern. Ein Zusammenhang mit der →Hunnenrede Kaiser Wilhelms II. wurde erst später hergestellt. Der Ausdruck verbreitete sich rasch in der englischsprachigen Presse, neben Großbritannien v. a. in den brit. →Dominions u. in den →Vereinigten Staaten. Ableitungen – H.land, H. Chancellor u. a. – und Steigerungsformen (Savage Huns, Germ-Huns) wurden in nahezu allen brit. Medien gebraucht. Veröffentlichte Tagebücher belegen den Gebrauch unter brit. Soldaten u. ihren Verbündeten (v. a. Australier u. Neuseeländer) und unter englischsprachigen Teilnehmern der Pariser Vorortfriedenskonferenzen. Stewart Ross, Propaganda for War, Jefferson NC 1996. Martin Schramm, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007 (v. a. 418–423). Der Deutsche als Hunne. Hollywoods Feindbild im Ersten Weltkrieg. Dokumentation (86 min.) v. Hans Beller, Süddt. Rundfunk Stuttgart 1994. H ERMA N N H IERY Hunnenbriefe. Um die inhumane Kriegführung der dt. Truppen in China (→Hunnenrede) zu veranschaulichen und zu beweisen, zitierten sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstagsdebatten wiederholt aus den sog. H.n. Es handelte sich um 47 Briefe, in denen dt. Soldaten ihren Angehörigen den Einsatz in China schilderten. Diese Dokumente waren von der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts zwischen Aug. 1900 und Jan. 1901 veröffentlicht und in Anspielung auf die ksl. Rede als H. bezeichnet worden. Sie enthielten Absätze, in denen besonders brutale Taten der dt. Truppen gegen Gefangene und Zivilisten in China mit deutlichen Worten geschildert wurden. Die Reg. von →Bülow wies die im Reichstag auf der Grundlage dieser Soldatenbriefe erhobenen Anklagen gegen das dt. Militär zurück und sprach von Lügen und Fälschungen. Eines der vielen im Reichstag
h u n n en red e
und in den Zeitungen kursierenden Gerüchte war, daß die Schreiben nicht in China, sondern in Zürich verfaßt worden seien, wo sich eine „Fabrik für H.“ befände. Im Febr. 1901 führte der Kriegsminister von Gossler vor dem Reichstag aus, daß nur ganz wenige grobe Vergehen dt. Soldaten in China vorgekommen und unnachsichtig verurteilt worden seien. Nach dem Kriegsminister war damit die These der Einzeltäterschaft erwiesen. Strafakten legte er freilich nicht vor. Von der Forschung bisher kaum wahrgenommen, strengte der Kriegsminister im Sommer desselben Jahres gemeinsam mit dem Oberkommando des Ostasiatischen Expeditionskorps Strafprozesse gegen Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen in Stuttgart, Frankfurt (Main), Halle und Berlin an, in denen H. publiziert worden waren. Die Klagen wurden zunächst vor Landgerichten verhandelt, eine auch vor dem Reichsgericht. Alle Prozesse liefen nach zwei möglichen Mustern ab. Entweder wurde der Wahrheitsbeweis durch Aussage der als Kläger oder Nebenkläger auftretenden betroffenen Offiziere geführt; dabei konnten die Offiziere die Gerichte jeweils von der Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen überzeugen. Die in Frage stehenden Taten erklärten sie durch Provokationen von seiten der Gegner, durch taktische Notwendigkeit, durch unübersichtliche Situationen, durch Aufrechterhaltung der Ordnung und durch Garantie der Sicherheit der friedlichen Bewohner oder der Truppe. Die Offiziere behaupteten, daß den Entscheidungen stets ein sorgsames Abwägen der Handlungsmöglichkeiten vorausgegangen sei. Nachfragen von seiten der Richter wurden nicht gestellt. Alle Anklagepunkte der Verteidigung lösten sich in Nichts auf. Oder aber die Gerichte ließen Beweismittel der Verteidigung erst gar nicht zu und verurteilten ohne Prüfung des Sachverhalts wegen formaler Beleidigung. Ob der jeweilige H. tatsächlich von einem Soldaten des Ostasiatischen Expeditionskorps geschrieben worden war und ob die Redaktion ihn im besten Glauben abgedruckt hatte, spielte keine Rolle. Hinter der Frage, ob gegen die Offiziere und die Armee eine Beleidigung ausgesprochen worden war, stand jedoch die viel weitergehende Frage, ob die in den Briefen erhobenen Anschuldigungen einer barbarischen Kriegführung wahr seien. Doch die Gerichte betrachteten es nicht als ihre Aufgabe, diesen Punkt zu klären. Der Grund liegt auf der Hand: Wären die Briefe als echt anerkannt worden, wäre dies belastend für die dt. Kriegführung gewesen. Da jedoch von keinem Gericht der Nachweis geführt wurde, daß die H. gefälscht waren, bestanden die im Reichstag von seiten der Sozialdemokratie erhobenen Anklagen gegen das sog. Hunnentum im Boxerkrieg unvermindert fort. Die bürgerliche Presse dagegen feierte die Entscheidungen der Gerichte und begrüßte es, daß die unwürdigen Schmähungen dt. Soldaten exemplarisch gesühnt worden seien. Bei den Gerichtsverfahren handelte es sich nicht um Anklagen wegen Verbrechens gegen die Humanität, da die „Angeklagten“ selbst als Ankläger auftraten, um so aggressiv Zweifel an ihrem Vorgehen auszuräumen. Dessen ungeachtet waren dies, historisch gesehen, die ersten Prozesse, in denen die inhumane Kriegführung des Militärs verhandelt wurde und nicht die häufig beschriebenen nach dem Ersten Weltkrieg. Doch nur der Boxer-
krieg hatte ein gerichtliches Nachspiel. Prozesse wegen der Kriegführung in den Kolonien in →Dt.-Südwestafrika (1904–1907) und →Dt.-Ostafrika (1905–1908) gab es nicht. Verschiedene Gründe sind dafür auszumachen: Zum einen war die Presse vorsichtiger geworden und druckte in den Zeitungen nur noch Briefe ab, die ihr auch im Original vorlagen. Zum anderen hatte der Oberkommandierende in Dt.-Südwestafrika, Generalleutnant von Trotha, seiner Truppe eingeschärft, es sei ein Grundsatz der preußischen Armee, daß ein aktiver Soldat ohne Erlaubnis seines Vorgesetzten nichts veröffentlichen dürfe. Auch forderte er die Soldaten auf, sich in ihren Briefen an ihre Angehörigen der größten Wahrhaftigkeit zu befleißigen und nichts zu schreiben, „worüber sie und ich bei der Veröffentlichung zu erörtern hätten“. Eine Wiederholung der für die dt. Armee „so beschämenden H.“ sollte unter allen Umständen vermieden werden. Miachael Kaschner / Ute Wielandt, Die Reichstagsdebatten über den dt. Kriegseinsatz in China: August Bebel und die „Hunnenbriefe“, in: Suanne Kuß / Bernd Martin (Hg.), Das Dt. Reich und der Boxeraufstand, München 2002, 183–201. Susanne Kuß, Dt. Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen, Berlin 2010. SU SA N N E K U SS Hunnenrede. Bereits zeitgenössisch wurde die Rede, die Ks. Wilhelm II. am 27.7. 1900 in Bremerhaven an das nach China abrückende Ostasiatische Expeditionskorps richtete, als H. bekannt. Der Name bezieht sich auf die Schlußpassage der Rede, in der der Ks. seinen Soldaten die spätantiken Hunnen als Vorbilder bei der Unterdrückung des →Boxeraufstandes empfahl. Wilhelm forderte die Expeditionsteilnehmer ausdrücklich auf, den Tod des dt. Gesandten Ketteler u. anderer Europäer zu „rächen“, dem Gegner kein Pardon zu gewähren und keine Gefangenen zu machen. Dieser unverhüllte Bruch des Völkerrechts war keine einmalige rhetorische Entgleisung des Ks.s, da Wilhelm seine Parole „Pardon wird nicht gegeben“ den Soldaten auch bei anderen Gelegenheiten übermittelte. Vielmehr gehört sie in den Zusammenhang der Rhetorik von der „→Gelben Gefahr“, die der Monarch (zumindest in Europa) wesentlich mit angefacht hatte. Bei den Soldaten blieb gerade diese Aufforderung hängen und wurde begeistert aufgegriffen. Sie fehlte auch in nicht in der von Reichskanzler →Bülow für die Presse autorisierten Version, die allerdings die Anspielung auf die Hunnen unterdrückte. Vertreter der lokalen Presse hatten die Rede allerdings mitstenografiert und sorgten dafür, daß der originale Wortlaut bekannt wurde. Auf Grund dessen wurde die Rede im In- und Ausland kontrovers debattiert. Wilhelms innenpolitische Gegner verwandelten die Hunnenmetapher rasch in eine politische Kampfvokabel (→Hunnenbriefe). Wolfgang J. Mommsen, War der Ks. an allem schuld?, München 2002. Bernd Sösemann, Die sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur Ansprache des Ks.s vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: HZ 222 (1976), 342–358. Ders., „Pardon wird nicht gegeben!“ Staatliche Zensur und Pressöffentlichkeit zur „Hunnenrede“, in: Mechthild Leutner /
353
h u r one n
Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China, Berlin 2007, 118–122. T HORAL F KL E I N Huronen. Ein Zusammenschluß von fünf indigenen Nationen der irokesischen Sprachfamilie. Sie lebten in der ersten Hälfte des 17. Jh.s an der Georgian Bay am östlichen Ufer des Lake Huron. Bereits zu Beginn des 17. Jh.s schlossen die H. ein Bündnis mit den Franzosen, das nach der Rückkehr der Franzosen nach Québec (1632) erneuert wurde. In der Folge kontrollierten die H. als Zwischenhändler den →Pelzhandel zwischen den frz. Siedlungen am St. Lorenz Strom und den Großen Seen, was sie zum wichtigsten autochthonen Verbündeten der Franzosen machte. Europäische Krankheiten führten insb. in den 1630er Jahren zu großen Bevölkerungsverlusten. Von vielleicht 20 000 H. dürften zu Beginn der 1640er Jahre noch ca. 10 000 gelebt haben. Nach ersten Versuchen in den 1620er Jahren unterhielten die →Jesuiten in den 1630er und 1640er Jahren eine personalintensive Mission mit mehreren Standorten im H.-Land, die der Stabilisierung des huronisch-frz. Bündnisses diente. Auf Drängen der Missionare wurde anderen Franzosen der Aufenthalt bei den H. untersagt. Die Mission konnte beträchtliche Bekehrungserfolge vorweisen, führte aber auch zur Spaltung der H. in Traditionalisten und frankophile Neuchristen. Der Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen prägte zunehmend das Leben im H.-Land. Zu den demographischen Verlusten und der inneren Spaltung traten seit den 1640er Jahren intensivierte Kriege mit den Irokesen (→Irokesen-Föderation), den traditionellen Feinden der H., die mit den H. um die Position als Zwischenhändler im Pelzhandel konkurrierten. Nach vergeblichen Bemühungen, insb. traditionalistischer Gruppen, ein Einvernehmen mit den Irokesen zu erzielen, der Zerstörung mehrerer huronischer Siedlungen 1648/49 durch die Irokesen und der Erschlagung mehrerer Missionare lösten sich die H. als eigenständige indigene Nationen weitgehend auf. Viele der Überlebenden schlossen sich den Irokesen an, unter denen sie in den 1650er und 1660er Jahren eine einflußreiche Fraktion bildeten, die einem indigenen Christentum anhing. Andere lebten seit den 1650er Jahren in Missionssiedlungen am St. Lorenz Strom, wo sie eine eigene Identität ausbildeten. Eine dritte, zahlenmäßig kleine Gruppe, lebte im Bereich der westlichen Großen Seen. Franz-Joseph Post, Schamanen und Missionare, Münster 1997. Bruce G. Trigger, The Children of Aataentsic, Kingston 1987. F RANZ - JOS E P H P OS T Hussein ibn Ali →Hedschas Hyderabad →Haiderabad Ibn Battuta, Muhammad, * 1304 Tanger / Marokko, † 1368 / 1377? in Fez / Marokko, □ unbek., musl. Abu Abdullah Muhammad I. B. war ein berbischer Weltreisender des späten Mittelalters. Mit 21 Jahren trat er die Hajj, die Pilgerfahrt nach Mekka an. Während der Jahre 1325–1349 bereiste I. B. Nord- und Ostafrika, →Indien, die →Malediven, China, Turan und Südrußland. 1352/53 folgte eine weitere Reise nach →Timbuktu. Über seine 354
Reisen und Erlebnisse fertigte er Berichte an, in denen er geographische, gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse der besuchten Gebiete beschrieb. Diese Berichte sind in seinem Hauptwerk „Rihla“, dt. „Reisen ans Ende der Welt 1325–1353“ zusammengefaßt und gelten als wichtiges sozialhistorisches Dokument, das u. a. bedeutende Erkenntnisse über die Entwicklung des →Islam in Ostafrika und den Handel zwischen der islamischen Welt und Ostasien beinhaltet. Da I. B. selbst die einzige Quelle für seine Reisen und Erlebnisse ist, ist oft nicht eindeutig zu unterscheiden, was authentisch und was erfunden ist. I.s Schriften blieben über Jh.e unbekannt und wurden erst im 19. Jh. entdeckt und in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. Ross E. Dunn, The Adventures of Ibn Battuta, London 1986. Muhammad Ibn Battuta, Reisen ans Ende der Welt, Stuttgart 1977. FLO RIA N VATES Identität, indigene in Mexiko u. Peru vor 1808. Die zahlreichen indigenen →Ethnien in den lateinam. Staaten pflegen ihre Identitäten bis heute – und dies auf verschiedene Art und Weise. Durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem vielschichtigen Thema entwickelten sich ausführliche Theoriedebatten um Identitätskonstruktionen. Für die hispanoam. Kolonialzeit ist diese Frage bisher allenfalls für →Mesoamerika und den von den Inka beherrschten andinen Raum breiter untersucht worden. Der Begriff „Identität“ bezeichnet im Folgenden das individuelle oder kollektive Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Einheit unter ethnischen, religiösen, politischen u. anderen Gesichtspunkten. Eine solche Selbstrepräsentation, der ein Gemeinschaftsgefühl nach innen und eine Abgrenzung nach außen (Alterität) zugrunde liegen, unterscheidet sich von Konzepten wie dem kolonialen →CastasSystem mit seiner Zuordnung des Einzelnen zu einer Gruppe als Fremdzuweisung. Für die äußere Einordnung als „indio“ in Hispanoamerika sind viele Zeugnisse der kolonialen Bürokratie erhalten. Da vergleichbare Quellen aus autochthoner Sicht für die Erforschung der „indigenen Identität“ bisher nur vereinzelt erschlossen wurden, müssen zur Bestimmung neben seltenen Selbstzeugnissen soziokulturelle Ausdrucksformen wie Sprache, Gemeinschaftsorganisation, materielle Kultur (z. B. Kleidung, Speisen und Getränke), Religiosität, Traditionen und Feste herangezogen werden. Derzeit werden zunehmend Kunstwerke u. a. Bildquellen der Kolonialzeit zu dieser Problematik inventarisiert und analysiert. Im Verlauf der Kolonialzeit Hispanoamerikas begegnet „indigene Identität“ in verschiedenen Zeiten und Regionen auf unterschiedlichen Ebenen. Früh setzte sich in Ermangelung übergreifender Eigenbezeichnungen der indigenen Bevölkerung die von →Kolumbus für Westindien geprägte Bezeichnung „indios“ allg. durch. Ungeachtet der Existenz großräumiger politischer Einheiten vor der span. Landnahme waren diese multiethnisch zusammengesetzt, wie im 15. Jh. die zwei schnell expandierenden Reiche der Inka in den Anden und der Azteken in Mesoamerika. Beide brachen während der Conquista auseinander und offenbarten ausgeprägte regionale Differenzen statt einer Identifizierung mit dem übergeordne-
i mP eri Al b ri ti s h eA s t A f ri cA co mPA n y
ten Ganzen. Zentral für die Menschen war der engere lebensweltliche Bezugsrahmen, demzufolge sie sich nicht als „indios“, sondern als Bewohner eines altepetl oder Mitglieder eines ayllu definierten. Die Spanier übernahmen diese Einheiten und formten sie zu den comunidades oder pueblos bzw. repúblicas de indios um. Dabei kam es im 16. Jh. zu Zwangsumsiedlungen und Zusammenlegungen (congregaciones oder reducciones) in kleineren sozialen Einheiten unter Wahrung der Rechte des indigenen Adels, die zu Neuformierungen oder Umdefinitionen lokaler Identitäten führen konnten. Innerhalb der pueblos und ihrer Untergliederungen bestand ein enger Zusammenhalt der Bevölkerung, der durch christl. Elemente und das Residenzverbot für Spanier gefestigt wurde. Die Zugehörigkeit zu Bruderschaften (→Cofradías) und die Verehrung des jeweiligen Schutzheiligen auf Patronatsfesten, also europäische Traditionen, oft dem vor-span. indigenen Festkalender angepaßt, dienten so zur Stärkung und partiellen Umformung der eigenen Identität. Dies manifestiert auch das Verhalten des indigenen Adels während der Kolonialzeit, nachdem die span. Krone die in Altamerika bestehende soziale Ungleichheit zwischen Adel und einfacher Bevölkerung (macehual oder hatun runa) bestätigt hatte. Die etablierte indigene Oberschicht ging zu kleinen Teilen im span. Adel auf oder suchte ihre Stellung als regionale indigene Elite (→Caciques, →Kurakas) durch Bewahrung alter oder den Erwerb neuer Privilegien zu erhalten. Ihr oblag weithin die Koordination von Arbeitspflichten, Tributen, Nutzung kommunalen Besitzes, teilweise sogar die Stellung von Hilfstruppen für weitere Expansionsunternehmungen, gleichzeitig aber auch die Bewahrung lokaler Identität und der Schutz von deren Grundlagen (z. B. Ritualkalender, Gemeindebesitz). Zur Selbstbehauptung nutzte der indigene Adel sowohl Elemente der europäischen Kultur als auch der autochthonen Geschichte. Wie in vor-span. Zeit grenzten sich die Adligen durch besondere Kleidung ab, nunmehr auch durch die selektive Übernahme europäischer Lebensgewohnheiten und den Gebrauch von →Pferd und Waffen, die den Gemeinen untersagt waren. Gleichzeitig pflegten die Nachfahren der Inkaherrscher und der aztekischen Eliten in Ämtern und Umzügen die Erinnerung an das vor-span. Reich des Tahuantinsuyo bzw. des Imperio Mexicano, die beide anläßlich von Festen, wie etwa dem Einzug eines neuen Vize-Kg.s, der Kolonialmacht gegenüber sichtbar in Form von Triumphbögen dokumentiert wurde. Je nach der Entfernung von den kolonialen Machtzentren wirkte der europäische Einfluß verschieden stark auf indigene Gemeinschaften. Besonders deutlich erkennbar war er in den großen Städten und ihrem Umland. Indigene Zuwanderer, die aus pueblos in die Städte übersiedelten, änderten oft Lebensweise und Status. Dort als „indio“ eingestuft, wurden teils finanzielle Belastungen (Tributpflicht), teils Entlastungen (Alcabala) wirksam, während die Vorteile (Nutzung von Gemeindebesitz u. a. Gemeinschaftseinrichtungen) meist auf indigene Dörfer beschränkt blieben. Die Migration in eine multi-ethnische Stadt span. →Rechts (indigene Städte gab es nur in →Mexiko) führte daher oft zu einem Status- und Identitätswandel, der bis zur mestizaje und zu anderen Formen der Ethnogenese rei-
chen konnte. Dagegen pflegten Bewohner der pueblos de indios soziale und wirtschaftliche Kontakte zu anderen Statusgruppen, ohne ihre – durch lokale Selbstverwaltung gestärkte – Identität drastisch zu verändern. Seit dem 17. Jh. bezeichneten sie sich auch selbstbewußt als Angehörige einer „nación índica“ und rebellierten als „Untertanen des Kg.s“ allenfalls gegen konkrete Obrigkeiten. Bis Ende der Kolonialzeit hielt die indigene Bevölkerung überwiegend an ihren eigenen Sprachen fest, die sich unter dem Einfluß des Spanischen wandelten. In europäisch geprägten Regionen nahm die Zahl bilingualer Sprecher zu. In Mexiko hatten Missionare schon früh die wichtigsten Idiome (Nahuatl, Otomí, Maya, Zapoteco u. a.) verschriftlicht, so daß die indigene Bevölkerung sowohl Schriften zu ihrer Geschichte als auch ihre Gemeindeakten im jeweiligen Idiom anfertigen konnten. Daneben hatten auch Bilderhandschriften und Karten meist aus frühkolonialer Zeit eine identitätsstiftende Funktion. In den Anden wurde die Inkasprache Quechua ebenfalls verschriftlicht, im Gegensatz zu Nahuatl u. anderen mesoam. Sprachen aber kaum von Schreibern benutzt. Die Bezugnahme der indigenen Bevölkerung auf vor-span. Verhältnisse beschränkten sich in Hispanoamerika durchweg auf mehr oder weniger lokale Aspekte oder die Geschichte einzelner Adelsfamilien. Seit dem späteren 17. Jh. reklamierten die kreolischen Eliten verstärkt die vor-span. Hochkulturen für sich, wie etwa die nun sog. Azteken in Mexiko oder die von →Cuzco und dem Umland ausgehende Inka-Renaissance. So zog Tupac Amaru II. mit inkaischer Symbolik in die andine Rebellion (1780/81), obwohl er selbst Mestize (→Casta) war und kreolische Mitstreiter hatte. Mit der Aneignung der vor-span. Imperien suchten →Kreolen und Mestizen gegen Ende der Kolonialzeit eine „nationale“ Identität zu begründen, im Sinne der Definition von „Nation“ als imaginierter Gemeinschaft mit erfundenen Traditionen. Parallel dazu bewahrten oder modifizierten indigene Akteure weiterhin eigene Identitäten in regionalem oder lokalem Bezug und konnten auf diese Weise auch Privilegien und Ressourcen gegenüber kolonialen Obrigkeiten verteidigen. Kenneth J. Andrien, Andean Worlds, Albuquerque 2001. Horst Pietschmann, ‚Kulturtransfer‘ im kolonialen Mexiko, in: Michael North, (Hg.), Kultureller Austausch, Köln u. a. 2009, 367–388. Stuart B. Schwartz, / Frank Salomon, New Peoples and New Kinds of People, in: Dies. (Hg.), The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Bd. III, Teil 2, Cambridge 1999, 443–501. WIEBK E V O N D EY LEN / O TTO D A N WERTH
Ifni →Afrika, Spanisches Iko →Lagos Imperial British East Africa Company. 1886 einigten sich Großbritannien und das Dt. Reich auf Kosten des Sultanats →Sansibar vertraglich über die Abgrenzung ihrer Gebietsansprüche im Osten Afrikas. Deutschland erhielt das Gebiet des heutigen →Tansania (→Dt.-Ostafrika), Großbritannien das nördlich davon liegende, später →Kenia genannte Gebiet. Daraufhin wurde die IBEAC 355
i m P e r iA l m A r i ti m e c u s to m s serv i c e
gegründet, die vom Sultan von Sansibar am 24.5.1887 pro forma die Konzession zur Erschließung dieses Gebiets erhielt. Die IBEAC profitierte in der Folge hauptsächlich von der Tatkraft Frederic →Lugards, der für sie nicht nur eine Reihe befestigter Handelsposten im Konzessionsgebiet errichtete, sondern außerdem 1890–1892 das östlich angrenzende →Uganda unter ihre Kontrolle brachte. Die ausschließlich privat finanzierte IBEAC war 1892 in einer ungünstigen finanziellen Lage und konnte es sich nicht leisten, die Verwaltung Ugandas dauerhaft selbst zu übernehmen. Ein Grund für die Finanzschwäche der IBEAC lag darin, daß sie, anders als vergleichbare Unternehmungen (z. B. die Royal Niger Company), die gute Gewinne aus dem Verkauf von Spirituosen an Afrikaner zogen, den →Schnapshandel ablehnte, was auf die philanthropischen Motive ihrer Teilhaber verweist. 1893 ging die IBEAC zum Preis von 250 000 £ (wovon der Sultan von Sansibar 200 000 £ aufbringen mußte) ins Eigentum Großbritanniens über, das als Rechtsnachfolger der IBEAC die Herrschaft in deren Gebieten antrat. →Gladstone, grundsätzlich dem Erwerb neuer Kolonien eher abgeneigt, hatte am Kauf kein Interesse gezeigt, doch hatte Lugard eine geschickte PR-Kampagne initiiert, die die öffentliche Meinung für die dauerhafte brit. Kontrolle über Kenia und Uganda eingenommen hatte. Edward Reginald Vere-Hodge, Imperial British East Africa Company, London 1960. CHRI S TOP H KUHL Imperial Maritime Customs Service. Nach 1912 Chinese Maritime Customs Service. 1854 gegründete Behörde des chin. Ksr.s zur Erhebung von Zöllen. Das Amt war mit internationalem Personal besetzt und sollte ursprünglich die Erhebung der Seezölle während des Taiping-Aufstands sichern. Schon früh erfolgte die Übernahme weiterer Aufgaben, so des Post- und des Wetterdienstes sowie der Betrieb von Leuchttürmen. Bedeutendster Leiter war Inspector-General Robert Hart (1835–1911). Die Seezollbehörde sicherte dem Staat einen bedeutenden Teil seiner Einnahmen und trat als Mittler zwischen China und dem Ausland, fungierte aber auch als Instrument des informal empire für die Kolonialmächte. 1950 verließ der letzte ausländische Leiter seinen Posten, die VR China und Taiwan erhielten eigene Zollbehörden. Donna Brunero, Britain’s Imperial Cornerstone in China, London 2006. RAL F E MI NG Imperialismus. Als unscharfer und polemischer Begriff galt „I.“ zuletzt als wissenschaftlich unbrauchbar. Dank der Wende von der Geschichtstheorie zur Theoriegeschichte und dem neuen Interesse an „Imperien“ verdient er aber erneut historische Aufmerksamkeit. Denn neben der „unendlichen Geschichte“ theoretischer Erklärungsversuche geht es auch um die Einordnung der Theorien in ihren realhistorischen Entstehungszusammenhang. Mit I. wurde zunächst das Herrschaftssystem Napoleons III., dann die britische Kolonialexpansion denunziert, was eine positive Umwertung des Begriffs evozierte. Schon im 19. Jh. hatten Theoretiker Kolonialexpansion als Mittel gegen Überproduktion, Unterkonsumtion und Übervölkerung sowie als Dienst an der Menschheit 356
empfohlen. Bei John A. Hobson 1902 erfolgte der Umschlag zu den „klassischen“ kritischen I.theorien, die das „Zeitalter des I.“ 1870–1914 mit seiner explosiven und konfliktreichen Kolonialexpansion dadurch erklärten, daß der Fehlentwicklung des Kapitalismus zu Überproduktion und Unterkonsumtion politisch durch Sicherung von Exportmärkten abgeholfen werden sollte. Hobson berücksichtigte zwar alle möglichen Aspekte, legte den Schwerpunkt aber auf das Interesse von Investorengruppen am Kapitalexport. Marxisten wie Rudolf Hilferding 1910 und Rosa Luxemburg 1913 sahen demgemäß im I. den Ausweg, auf dem sich der Kapitalismus vorläufig vor dem Zusammenbruch gerettet hatte. Für W. I. Lenin 1917 war I. des letzte Stadium eines faulenden Kapitalismus mit monopolistischer Verschmelzung von Industrie und Banken zu Finanzkapital sowie heftigen Konflikten – seine Theorie des Ersten Weltkriegs. Joseph Schumpeter hingegen hielt 1919 den Kapitalismus für friedlich und die imperialistischen Konflikte für Spielwiesen atavistischer Kriegerkasten. Viele Historiker pflegten Konflikte ohnehin rein politisch zu erklären. Hans-Ulrich Wehler benutzte 1969 für Bismarck die alte „sozialimperialistische“ Technik der Ableitung innerer Konflikte nach außen. Peter J. Cain und Anthony G. Hopkins griffen 1986/87 erneut auf Hobsons Erklärung durch Gruppeninteressen zurück. Auch nach ihnen hatten nicht Industrielle den britischen I. betrieben, sondern der Landadel in Verbindung mit dem Geldadel der City. Nach der →Dekolonisation hatte unterdessen ein zweiter Perspektivenwechsel stattgefunden, nämlich von den „Metropolen“ zur „Peripherie“. John A. Gallagher und Ronald E. Robinson haben 1953 gezeigt, daß der so genannte „Freihandelsi.“ bei geeigneten Partnern in Übersee ohne Gewalt und Eroberung auskommen konnte. Robinson hat das 1972 zu seiner heute noch grundlegenden Theorie der „Kollaboration“ erweitert. Ebenfalls bis heute maßgebend ist die von David Fieldhouse 1973 betonte Initiative der →men on the spot in der Peripherie, deren Aktivitäten soviel Konfliktstoff akkummulierten, daß die Zentralen schließlich eingreifen mußten. Doch statt weiter bloß nach Erklärung für das imperialistische Handeln der Metropolen zu suchen, wechselten damals Nord- und Lateinamerikaner, später auch Afrikaner zur überfälligen Frage nach den Folgen für die Peripherie. Als Reaktion auf das Scheitern der damaligen Modernisierungs- und Entwicklungspolitik entwickelten sie ihre →Dependenztheorien, so André Gunder Frank 1967. Danach hat formelle und informelle Kontrolle der Metropolen die rohstoffliefernde Peripherie nicht etwa unentwickelt gelassen, sondern sie im eigenen Interesse gezielt „unterentwickelt“ gemacht, ein Zustand, der sich durch Abhängigkeit automatisch reproduziert, sofern er nicht revolutionär aufgebrochen wird. Kwame →Nkrumah denunzierte das 1965 wirkungsvoll als Neo-Kolonialismus, während Immanuel Wallerstein seit 1974 diesem „Weltsystem“ (→Weltsystemtheorie) die räumliche und zeitliche Tiefendimension hinzufügte. Doch schon 1991 wurde „das Scheitern der großen Theorie“ ausgerufen, denn Realgeschichte wie Theoriegeschichte hatten sie falsifiziert. Die Länder der „Peripherie“ hatten zum Teil höchst erfolgreich unterschiedliche Entwicklungspfade
i n d er i n sü d o s tA s i en
eingeschlagen, die nicht mehr mit einer einzigen Theorie zu erfassen waren, zumal die Postmoderne ohnehin die Unmöglichkeit von Großtheorien proklamierte. Allerdings löste die zunächst unbestrittene informelle Hegemonie der USA nach 1989 ein neues politischhistorisches Interesse an empirischer Erforschung von „Imperien“ aus. Michael Hardt und Antonio Negri haben es 2000 mit der theoretischen These bedient, daß das „Empire“ als „Biomacht“ kein Zentrum mehr habe, sondern immateriell weltweit vernetzt als allgegenwärtige „Kontrollgesellschaft“ unser ganzes Leben durchdringe, obwohl seine Macht letztlich von der Kreativität der Massen abhängig sei – eine Imperialismustheorie für das Internetzeitalter? David Fieldhouse, Economics and Empire, 1830–1914, London 1973. André Gunder Frank, Capitalism and Underdevelopment in Latin America, London 1967, dt. Frankfurt/M. 1969. John Andrew Gallagher / Ronald Edward Robinson, The Imperialism of Free Trade, in: Economic History Review II 6 (1953) 1–15. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Globalization as a New Roman Order, Cambridge, MA 2000, dt. Frankfurt/M. 2002. John Atkinson Hobson, Imperialism, London 1902, dt. Köln 1968. Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: ders., Werke Bd. 22, Berlin 1960, 191/199–309. Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt/M. 1992. Ronald Edward Robinson, NonEuropean Foundations of European Imperialism. Sketch of a Theory of Collaboration, in: R. Owen / B. Sutcliffe (Hg.) Studies in the Theory of Imperialism, London 1972, 117–140. WOL F GANG RE I NHARD Imperium, spanisches →Spanisches Imperium INA →Indian National Army Indenture-System →Kuli, →Vertragsarbeit Inder im Inselpazifik →Fidschi Inder in Südostasien. Handelsbeziehungen zwischen dem ind. Subkontinent und →Südostasien reichen bis in vorchristl. Zeit zurück. Intensiver wirtschaftlicher und geistiger Austausch zwischen den Regionen führte im Laufe des ersten nachchristl. Jahrtausends zur Entstehung einer in weiten Teilen Süd- und Südostasiens geteilten politischen und religiösen Kultur. Auch nach der Jahrtausendwende bestanden weiterhin enge wirtschaftliche und z. T. auch politische Kontakte zwischen den beiden Regionen. Besonders an den Küsten des Golfs von →Bengalen von Arakan im Nordwesten bis →Sumatra im Südosten und entlang der Straße von →Malakka machte sich die Präsenz von I.n bemerkbar, v. a. von Händlern, aber auch von Seeleuten, →Söldnern, und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel). Ein grundlegender Wandel in den Mustern ind. Präsenz in Südostasien setzte erst mit der Konsolidierung europäischer Kolonialreiche in Südostasien im Laufe des 19. Jh.s ein. Von besonderer Bedeutung waren dabei die brit. Besitzungen British Malaya (→Malaysia) im Süden und
→Birma im Norden. In Malaya konzentrierten sich Inder zunächst in den Städten →Penang, Malakka und →Singapur. Die ind. Bevölkerung bestand vornehmlich aus tamilischen Muslimen (→Chulia) und Hindus, welche als Händler, Geldverleiher (→Chettiar), Schauerleute und Tagelöhner tätig waren. Weitere ind. Bevölkerungsteile waren dagegen eng mit der brit. Kolonialmacht verbunden: zum einen Soldaten aus Bengalen und der Madras Presidency (→Madras), zum anderen Schreiber und Verwaltungsangestellte, meist Jaffna-Tamilen und Malayalis. Ab dem späten 19. Jh. wurde die Mehrheit der ind. Soldaten wie auch der →Polizei im →Panjab rekrutiert. Außerdem wurden zwischen 1825 und 1873 Sträflinge aus →Indien zur →Zwangsarbeit nach Malaya deportiert. Der Ausbau der Plantagenwirtschaft in Malaya, zunächst im Anbau von Zuckerrohr (→Zucker), dann von Kautschuk, veränderte die Situation ab Mitte des 19. Jh.s vollständig. Zur Arbeit in den Plantagen wurden bevorzugt südind. Landarbeiter, meist Tamilen und Telugus aus den unteren Kasten, eingesetzt. Dies führte zu einer vollständigen Verschiebung des Schwerpunktes ind. Präsenz in Malaya von den Küstenstädten ins Landesinnere. Die Rekrutierung der Arbeiter geschah anfangs v. a. durch das System der Indentured Labour (→Vertragsarbeit). Ein Vertrag band Arbeiter für fünf, ab 1876 für drei Jahre an eine bestimmte Plantage, wo sie einen meist sehr geringen Lohn erhielten. Tatsächlich gerieten viele der Arbeiter in Schuldknechtschaft zum Plantagenbesitzer. Agitation gegen dieses System führte dazu, daß es zunehmend durch das sog. kangani-System (nach dem tamilischen Wort für „Aufseher“) ersetzt und 1910 gänzlich abgeschafft wurde. Die Rekrutierung wurde im kangani-System von südind. Vorarbeitern übernommen, die im Auftrag der Plantagenbesitzer in ihren Heimatdörfern Arbeiter anheuerten. Dieser Wandel änderte aber nichts an den oft erbärmlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den Plantagen. Die Situation der Plantagenarbeiter wurde zu einem zentralen Thema der ind. Mittelschicht in British Malaya. Die politische Agitation bezüglich der Plantagenarbeiter und die ghettoartige Isolierung großer Teile der ind. Bevölkerung Malayas auf den Plantagen trugen stark zur Ausbildung eines ind. Diasporabewußtseins in Malaya bei. In Birma, welches erst 1885 vollständig unter brit. Herrschaft kam, war die Situation etwas anders. Zum einen bedeutete die Nähe zum nordöstlichen Indien, daß hier neben Telugus und Tamilen aus Südindien Bengalen und Hindustanis aus der unteren und mittleren Gangesebene (→Ganges) einen größeren Anteil an der ind. Bevölkerung stellten. Zum anderen war die ind. Bevölkerung in Birma sozial gemischter als die von Plantagenarbeitern dominierte Bevölkerung Malayas. Eine besondere Rolle in den Kontakten zwischen der ind. und birmesischen Bevölkerung spielten Chettiar-Geldverleiher sowie musl. Ladenbesitzer, v. a Chulias aus Südindien. Diese beiden Gruppen waren von großer Bedeutung für die wirtschaftliche Integration des ländlichen Birma in die →Weltwirtschaft, indem sie birmesischen Bauern Zugang zu Krediten und Waren verschafften. Die dadurch erzeugten Abhängigkeiten machten diese Gruppen aber auch zu bevorzugten Angriffszielen in Krisensituationen. Insb. in den 357
i n d i A n n At i o n Al A r m y
1930ern kam es daher im Zuge der Weltwirtschaftskrise wiederholt zu Ausschreitungen und Pogromen gegen I. In anderen Gegenden Südostasiens spielten I. eine geringere Rolle in der kolonialen Gesellschaft. Chettiars und Chulias aus den frz. Besitzungen in Indien waren in Indochina als Händler und in der Kolonialverwaltung aktiv. Kleinere tamilische Gemeinschaften gab es auch in Siam und →Ndl.-Indien, allerdings dominierten hier wie auch auf den →Philippinen Händler aus dem westlichen Indien und dem Panjab (Sindhis, Gujaratis und Sikhs) die ind. Diaspora. Im Zuge des →Zweiten Weltkrieges flohen viele I. aus Südostasien, andere schlossen sich der mit den Japanern verbündeten →Indian National Army unter S. C. →Bose an. Die Unabhängigkeit südostasiatischer Staaten stellte viele I. vor die Wahl, entweder nach Indien zurückzukehren oder sich permanent in Südostasien niederzulassen. Den höchsten Anteil an der Bevölkerung stellen I. im heutigen Südostasien in →Singapur und Malaysia. Sunil S. Amrith, Tamil Diasporas Across the Bay of Bengal, in: American Historical Review 114 (2009), 547– 572. Ders., Indians Overseas?, in: Past and Present 208 (2010), 231–261. David Chanderbali, Indian Indenture in the Straits Settlements, Leeds 2008. Brij V. Lal u. a. (Hg.), The Encyclopedia of the Indian Diaspora, Singapur 2006. Kernial Singh Sandhu / A. Mani (Hg.), Indian Communities in Southeast Asia, Singapur 1993. TORS T E N T S CHACHE R
Indian National Army (INA). Nach dem Sieg der Japaner im Mai 1942 fanden sich unter den Gefangenen (→Internationales Militärtribunal Tokio) ca. 60 000 Inder, getrennt von anderen Gefangenen im Singapurer Lager Farrer Park untergebracht, wo ihre Bewacher und ind. Nationalisten für die Bildung einer INA warben. Die INA sollte →Indien mit jap. Hilfe von der brit. Kolonialherrschaft befreien; ca. 20 000 Inder ließen sich darauf ein. Die Division zählte schließlich 16 000 Mann. Weder für die Überläufer noch für die Loyalisten gab es ein originäres Konzept der Japaner. Im Sept. 1941 hatte der jap. Generalstab Signale für potentielle Seitenwechsler aufgegriffen. Major Fujiwara, ein militärischer Geheimdienstspezialist, sollte Unzufriedenheit unter den ind. Truppen in den brit. Garnisonen von Malaya und →Singapur fördern. Nachdem Fujiwara und Pritam Singh von der Indian Independence League einander am 18. Sept. in →Bangkok persönlich getroffen hatten, wurden Flugblätter abgeworfen und der jap. Rundfunk startete eine panasiatische Offensive. Als im Dez. 1941 die Japaner Malaya angriffen und Erhebungen und Kapitulationen der ind. Truppen folgten, rief Fujiwaras Organisation mit Hilfe gefangener ind. Offiziere die INA aus. Fujiwara teilte am 17.2.1942 in einer Ansprache im Farrer Park mit, der Ks. habe angeordnet, daß die ind. Truppen als Brüder behandelt werden sollten; Captain Mohan Singh der sich mit seinem 14th Punjab Regiment ergeben hatte, beklagte das Elend, welches der brit. Imperialismus über Indien gebracht habe und flocht die Stichworte „Unabhängigkeit“ und „Nationalarmee“ in seinen Redebeitrag ein. Als nach einem Jahr alle Euphorie verflogen und Singh inhaftiert war – woraufhin 4 000 Mann desertierten 358
–, tauchte im Mai 1943 der charismatische S. C. →Bose, aus Berlin kommend, im Osten auf. Bose rief eine zweite INA aus, ersetzte die Verluste der Regimenter mit Neuzugängen und kommandierte sie 1944 nach →Birma. Mit den Rufen „→Delhi chalo“ (= Auf nach Delhi) “ und „Jai Hind“ (= Sieg für Indien) nahmen sie an der jap. Schlacht von Imphal im ind. Grenzgebiet teil. Diese „war eines der größten Desaster in den militärischen Annalen der Welt und ist immer noch eine der kontroversesten jap. Kampagnen im ganzen Pazifischen Krieg“ (Lebra 2008, 149). Dennoch hat sich der angekündigte Befreiungskampf als Denkmodell verselbstständigt. Bose sicherte sich in den entkolonialisierten Ländern Asiens einen Platz als umstrittener Held. Nach dem Vorbild der Rani von Jhansi, der Heldin, die im →Ind. Aufstand von 1857 Truppen gegen die Briten befehligte, bildete sich sogar ein Frauenregiment. Schließlich rief Bose am 21.10.1943 im Cathay Kino in Singapur eine Freie Ind. Vorläufige Reg./Free India Provisional Government (FIPG) aus. Japan erkannte als erster Staat die Reg. an, gefolgt von Deutschland, Italien, Kroatien, Mandschukuo, Nanking, den →Philippinen, Thailand und Birma. Der irische Ministerpräs. de Valera entbot Grüße. Die FIPG erklärte den →USA und Großbritannien den Krieg. Die Great East Asia Conference in Tokio im Nov. 1943 versprach einem befreiten Indien die Unabhängigkeit, so wie sie zuvor Birma und die Philippinen erhalten hatten. Am 29.12.1943 wurde im Beisein Boses auf den von Japan eroberten →Andamanen u. Nikobareninseln die Trikolore der INA gehißt u. die Verwaltung der Inseln an diese unter General Loganathan (1888–1949) übergeben. Zu den ersten Maßnahmen gehörte die Umbenennung der Inseln in Shahid (Märtyrer) u. Swaraj (Selbstreg.) Während nach d. Kapitulation Japans allerlei Mythen über Boses Verbleib kursierten, empfing die Bevölkerung Indiens jubelnd die heimkehrenden Soldaten der INA. Gleichwohl wurden einige durch die brit.-ind. →Justiz wegen Hochverrats am 5.11.1945 im „Red Fort“-Prozeß nahe Delhi angeklagt. Die ind. Presse und Öffentlichkeit begleiteten den Prozeß mit größter Sympathie für d. Angeklagten. Die Hauptverurteilten wurden im Hinblick auf die baldige Unabhängigkeit Indiens begnadigt. Im kollektiven Gedächtnis asiatischer Völker hatte die INA daran ihren Anteil. S.a. →Bose, Subhash Q: Mohammad Zaman Kiani (war Generalmajor d. INA) India’s Freedom Struggle and the Great INA. Memoirs, Delhi 1994. Tilak Raj Sareen, Select Documents on Indian National Army, Delhi 1988. L: Kevin Blackburn / Karl Hack (Hg.), Forgotten Captives in Japanese Occupied Asia, New York 2009. Joyce Lebra Chapman, The Indian National Army and Japan, Singapur 22008. Dies., Women Against the Raj, Singapur 2008. WILFR IED WA G N ER
Indian National Congress (INC, Ind. Nationalkongreß). Treibende Kraft hinter der Unabhängigkeitsbewegung, auch nach der Unabhängigkeit dominierend in der ind. Politik. Der INC wurde 1885 mit dem Ziel gegründet, einen besseren Zugang zu Verwaltungsstellen und ein größeres Mitspracherecht westlich gebildeter Schichten an der Reg. →Indiens einzufordern. Die Mitglieder des INC
in d iA n erk ri eg e i n no rd Am eri kA
gehörten der anglisierten ind. Elite an, zu Beginn dominierten die Moderaten. Die radikaleren Kräfte innerhalb des INC, die für einen aktiven Widerstand gegenüber der Kolonialreg. plädierten, konnten nicht lange in Schach gehalten werden, so daß es 1907 zur Spaltung in einen „gemäßigten“ und einen „radikalen“ Flügel kam. Zu einer wirklichen Massenbewegung entwickelte sich der Nationalkongreß erst unter →Gandhi, dem es infolge des →Amritsar- Massakers gelang, das Ziel der nationalen Selbstbestimmung als Allgemeingut innerhalb der Partei zu etablieren sowie mit seinem Ansatz des gewaltfreien Widerstandes und zivilen Ungehorsams breite Bevölkerungsschichten in diesen Kampf mit einzubeziehen. Neben Gandhis dominantem Einfluß, der der Partei eine solide ideologische Verwurzelung in der Bevölkerung sicherte, nahm →Nehru, der 1929 den Vorsitz des INC innehatte, eine immer bedeutendere Rolle ein. Obwohl er in vielen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen andere Ansichten vertrat als Gandhi und eher die modernistischen Eliten innerhalb des INC repräsentierte, gewann Nehru in den Parteigremien immer mehr Gewicht und war in den 1940er Jahren eine der bestimmenden Figuren im INC. Das Ziel der vollständigen Unabhängigkeit Indiens (purna swaraj) vertrat die Partei schon seit 1929. Der damit verbundene Alleinvertretungsanspruch des INC für den →Ind. Nationalismus, der auf der breiten Massenbasis der Bewegung ruhte und unterschiedlichste Interessen in sich zu vereinigen versuchte, konnte nicht verhindern, daß einige gesellschaftliche Gruppen sich im INC unterrepräsentiert fühlten. Dies betraf v. a. die Muslime, die sich seit den 1930er Jahren verstärkt der →Muslim League anschlossen, welche ab 1940 für einen eigenen musl. Staat plädierte (→Pakistan-Bewegung, →Pakistan). Auch in Südindien, insb. in Tamil Nadu, entwickelte sich ein eigener, ethnisch fundierter Nationalismus (→Periyar), der den Repräsentationsanspruch des nordind. und brahmanisch dominierten INC zurückwies (Non-Brahmin Dravida Movement). Von den Briten wurde der INC (ab den 1940er Jahren neben der Muslim League) als maßgeblicher Verhandlungspartner auf ind. Seite anerkannt. Auch nach Erlangung der Unabhängigkeit stellte die Partei mit Nehru den ersten Premierminister und bewahrte über Jahrzehnte hinweg mit einigen kleinen Unterbrechungen ihre Dominanz auf der nationalen politischen Bühne des Landes. Paul Brass u. a. (Hg.), The Indian National Congress and Indian Society 1885–1985, Delhi 1987. Stanley A. Kochanek, The Congress Party of India, Princeton 1968. Gyanendra Pandey, The Ascendancy of the Congress in Uttar Pradesh, London 2002. K AT I A ROS T E T T E R / HANS HOMME NS
Indianer →Apachen, →Arawak, →Cherokee, →Huronen, →Hopi, →Irokesen-Föderation, →Natchez, →Navajo, →Pocahontas, →Sioux, →Sitting Bull, →Tecumseh Indianerkriege in Nordamerika. Der Begriff I. läßt sich sowohl auf kriegerische Konflikte zwischen Indianern als auch auf Kriege zwischen Indianern und den europäisch-am. Siedlergesellschaften in Nordamerika
anwenden. In beiderlei Form waren I. ein durchgehendes Phänomen der nordam. Geschichte, das erst mit dem Ende des kontinentalen Expansions- und Besiedlungsprozesses der →USA im letzten Viertel des 19. Jh.s verschwand. Zudem ist unklar, wie „Krieg“ hier zu definieren ist, denn es handelt sich bei I. weder um formalisierte bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten noch um das Aufeinandertreffen militärischer Großverbände, die unter einheitlichen Kommando, unter Anwendung aller verfügbaren Kampfmittel und mit großer Gewaltintensität gegeneinander vorgehen, um Territorium zu erobern. Charakteristischerweise entfalteten sich I. in Nordamerika als Serie von Überfällen, Scharmützeln und Angriffsexpeditionen gegen Siedlungen der gegnerischen Partei. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Indianern waren häufig, doch waren sie meist nur von kurzer Dauer und von vergleichsweise geringer Gewaltintensität. Die innerindianischen Kriege wurden meist geführt, um verletzte Ehre wiederherzustellen, das Ansehen eines Stammes zu erhöhen oder regionale Vorherrschaft zu erringen bzw. zu verteidigen. Der Beginn der europäischen Besiedlung Nordamerikas transformierte die innerindianischen Kriege nachhaltig. Die europäischen Feuerwaffen erhöhten deren Destruktivität, ökonomische Konkurrenz um den Zugang zum europäischen Handel wurde zunehmend zum Kriegsgrund und das Ringen der europäischen Kolonialmächte um die Vorherrschaft in Nordamerika wies den Indianern eine wichtige Rolle als potentielle Verbündete zu. Zwar ließen sich die Indianer immer wieder auf Bündnisse mit den europäischen Mächten ein, waren dabei aber nur selten bloße Erfüllungsgehilfen europäischer Machtpolitik. Vielmehr nutzten die indianischen Gesellschaften die europäische Mächtekonkurrenz immer auch für die Verfolgung eigener politischer und ökonomischer Interessen aus. Die kriegerischen Konflikte zwischen Indianern und den europäisch-am. Siedlergesellschaften begannen mit der Ankunft der Europäer in Nordamerika. Sie waren strukturell gekoppelt an das rasante Wachstum zunächst der Kolonien und dann der USA, das mit dem ungeregelten Ausgreifen landhungriger europäisch-am. Siedler nach Westen einherging. In den daraus resultierenden kriegerischen Konflikten kämpften die Weißen um den Zugang zu Siedlungsland, während es den Indianern um den Erhalt ihrer Lebensform ging. Diese Kämpfe wurden von beiden Seiten mit großer Brutalität geführt. Charakteristischerweise jedoch reagierten die europäisch-am. Siedlergesellschaften auf die Aggressionen der Indianer mit regelrechten Vernichtungsfeldzügen regulärer militärischer Verbände gegen die am. Ureinwohner. Die Front der I. war weitgehend identisch mit der jeweiligen →Frontier. Das →Massaker, das Soldaten der 7. USKavallerie am 29.12.1890 an ca. 300 Lakota-Indianern am →Wounded Knee Creek in South Dakota verübten, markiert das Ende der I., das zeitlich mit dem vom USZensusbüro 1890 verkündeten Ende der Frontier zusammenfällt. Gregory Michno, Encyclopedia of Indian Wars, Missoula 2003. Robert M. Utley, The Indian Frontier 1846–1890,
359
i n d ie n
Albuquerque 2003. Robert M. Utley / Wilcomb E. Washburn, Indian Wars, Boston 1985. VOL KE R DE P KAT Indien. Die Bezeichnung I. mit seiner heutigen politischen und geographischen Bedeutung entwickelte sich im Zusammenhang von →Kolonialismus und nationalistischer Bewußtseinsbildung und Selbstbehauptung im 19. und 20. Jh. (→Ind. Nationalismus). Was heute unter I. verstanden wird, setzt sich aus einer Vielzahl sozialer, kultureller und politischer Gebilde zusammen, die sich, geschichtlich gesehen, in einem dynamischen Kontext von Austausch und Auseinandersetzung sowie gegenseitigen Überlappungen jeweils wechselseitig definierten. Diese verschiedenen Interaktionen führten allerdings weder zur Herausbildung einer einheitlichen „Mischkultur“ noch zu separaten „indigenen Kulturen“, sondern zu einer Vielfalt, die sich aus verschiedenen Prozessen kulturellen Austauschs und kultureller Kontinuität entwickelte. Frühe Sanskritquellen bezeichnen die Region dieser Entwicklungsprozesse als Bharata oder Jambudvipa. Die frühen →Araber und Perser nannten das Land jenseits des Sindhu (Indus) Al-Hind oder auch Hindustan und die dort lebenden Menschen Hindus. Geographisch kann der ind. Subkontinent in 2 Bereiche geteilt werden: den Norden, der durch das Indus- und das Gangestal (→Ganges) geprägt wird und den Süden mit der Hochebene von dem Dekkan. Die ergiebigen und fruchtbaren Alluvialböden der Flußtäler boten ideale Voraussetzungen für das Auftreten bedeutender Urbanisierungsphasen (→Urbanisierung). Schon im 3. Jahrtausend v. Chr. entwickelte sich im Industal (im Gebiet zwischen →Delhi im Norden und →Gujarat im Süden) die erste bedeutende städtische Siedlungskultur der Region. Ab dem 7. Jh. v. Chr. kam es erneut zu einer Urbanisierungswelle in I., diesmal vom heutigen Afghanistan nach →Bengalen. In diesem Zeitraum entstanden nicht nur zahlreiche Kgr.e und Rep.en in der Indus-Ganges-Ebene sowie im südlichen I., sondern es bildete sich auch eine Vielzahl einflußreicher philosophischer Traditionen heraus, unter ihnen der →Buddhismus und der →Jainismus. Beide Ansätze gelten als Protestbewegungen gegen die zunehmend eng an priesterlich-brahmanische Autorität gebundene vedische Religion, die einen Vorläufer des heutigen →Hinduismus darstellte. Gegen Ende des 12. Jh.s gelang es turkstämmigen und afghanischen musl. Heeren, erstmals ein dauerhaftes Großreich auf dem ind. Subkontinent zu errichten, das →Delhi-Sultanat, was einem umfassenden intellektuellen und kulturellen Austausch mit der musl. Welt den Weg ebnete. Nachdem das Delhi-Sultanat nach der Plünderung seiner Hauptstadt Delhi 1398 durch die Mongolen zunehmend an Bedeutung verloren hatte, drangen im frühen 16. Jh. die Truppen einer timurischen Dynastie von Afghanistan aus über den KhaiberPaß nach Nord-I. vor und begründeten die Mogul-Dynastie (→Moguln), die die Region von 1526 an für gut 200 Jahre beherrschte und ihren Einfluß im Laufe der Zeit auch auf die Dekkan Region ausdehnte; nach 1707 begann allerdings der langsame Niedergang der Moguln. Das Mogulreich agierte in einem wechselnden Kontext aus Kollaboration und Konfrontation mit anderen regionalen und lokalen politischen Strukturen (→Ind. Rei360
che). Neben kulturellen und künstlerischen (→Kunst) Errungenschaften kam es in dieser Epoche auch zu einer Einigung I.s in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Allerdings wurde die Vielfalt der soziokulturellen Strukturen und Bräuche auf dem Subkontinent durch die politische Vorherrschaft der Moguln weder zerstört, noch kam es zu tief greifenden Homogenisierungsprozessen. Die Anwesenheit der Europäer in I. läßt sich auf die Handelsaktivitäten der Portugiesen (→Estado da India) ab Ende des 15. Jh.s sowie die der →Ost-I.-Kompanien der Holländer, Briten und Franzosen ab dem frühen 16. Jh. zurückführen. Die Sicherung und Ausweitung des lukrativen und profitablen Handels mit ind. Waren, →Gewürzen und Textilien im →Ind. Ozean veranlaßte die Ost-I.-Kompanien, auch die politische Kontrolle über ihre Operationsgebiete anzustreben. Mit den KarnatikKriegen gelang es der engl. Ost-I.-Kompanie, ihren frz. Kontrahenten aus I. heraus zu drängen und so die führende europäische Handelsgesellschaft zu werden. In den darauf folgenden Machtkämpfen mit lokalen Staaten und sozialen Gruppierungen (v. a. den →Marathen, dem Nizam von →Haiderabad, dem Fürstentum von →Mysore und dem Kgr. Ranjit Singhs im →Panjab, vgl. →Sikhismus) und dank dem Verfall der Mogulautorität gelang es der engl. Ost-I.-Kompanie zur Hegemonialmacht zu werden. In der entscheidenden Schlacht von Plassey 1757 errang sie die Kontrolle über Bengalen. Dies leitete den Kolonialismus in I. ein. Die Reg. der East India Company („Company Raj“), wie auch die seit 1858 etablierten Herrschaft der brit. Krone (→British Raj), brachte wesentliche Teile I.s unter ihre politische und wirtschaftliche Kontrolle. Das konkrete Ergebnis der Kolonisierung I.s und der Ausbeutung seiner Ressourcen sowie der Bemächtigung seiner Bevölkerung war der Zusammenschluß des Subkontinents zu einem modernen Staatswesen mit entspr. Institutionen. Die Übersetzung der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Integration in einen Nationalgedanken erfolgte ab Ende des 19. Jh.s durch politische Interessenverbände und eine städtische, teilweise anglisierte, Intellektuellenschicht. Ausgehend von einer eher konstitutionellen Haltung, die eine effiziente und repräsentative Reg.sführung forderte, gewann die Nationalbewegung im Laufe der Zeit ein selbstbewußteres Nationalverständnis und forderte die Freiheit von fremder Unterdrückung. Gleichzeitig wurde der Nationalgedanke oft anhand von Religion, Kaste (→Kastensystem, →Dalit-Bewegung), ethnischkultureller Gemeinschaft und Sprache (→Dravidische Sprachen, →Urdu, →Hindi) entworfen und es entwickelten sich in dieser Zeit eine ganze Reihe politischer und kultureller Identitätsbildungsprozesse anhand dieser Merkmale. Damit wurde die Grundlage für die Politisierung soziokultureller Identität und die damit einhergehenden Auseinandersetzungen im postkolonialen I. gelegt. Der →Indian National Congress errang gegenüber anderen nationalistischen Projekten eine dominierende Stellung im nationalistischen Ringen für eine repräsentative, säkulare Nation; diese konnte letztlich allein von der →Muslim League effektiv in Frage gestellt werden (→Pakistan-Bewegung). 1947 endete die brit. Kolonialherrschaft in I. mit der politischen Unabhängigkeit, so-
i n d i g en i s m u s i n lAtei n A m eri k A
wie der Schaffung zweier souveräner Staaten auf dessen Territorium, der heutigen Rep. I. (Verfassungsgebung 1950) und der Islamischen Rep. →Pakistan (Verfassung von 1956). Sugata Bose / Ayesha Jalal, Modern South Asia, London ²2004. Hermann Kulke / Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens, Stuttgart ²2006. Jürgen Lütt, Das moderne Indien 1498–2004, München 2012. N I T I N VA RMA / GI TA DHARAMPAL - F RI CK
Indigenisierung. Die westliche Missionsbewegung der Neuzeit führte zur Begegnung mit einer Vielzahl außereuropäischer Gesellschaften und unterschiedlichen Modellen des Kulturkontaktes. Diese reichten von den verschiedenen Varianten einer „tabula-rasa“-Theorie – die den außerchristl. Kulturen jeden religiösen Eigenwert absprach – bis hin zur Einsicht in die Notwendigkeit einer kulturell authentischen Interpretation des Christentums. Dabei weisen Konzepte wie das der Akkommodation (→Jesuiten), der Inkulturation, der I. und der →Kontextualisierung viele Gemeinsamkeiten auf, beziehen sich jedoch im einzelnen auf deutlich unterscheidbare Problemkonstellationen. Das Programm der I. wurde zunächst v. a. in den protestantischen Missionskirchen Asiens und Afrikas um die Wende vom 19. zum 20 Jh. formuliert. Diese sahen sich vielerorts dem revival traditioneller Religionen und dem kulturellen Nationalismus asiatischer und afr. Gesellschaften gegenüber, der die Zugehörigkeit zur christl. Kirche als „denationalisierend“ kritisierte. Demgegenüber suchte man eine „nationale Gestalt“ und „indigene Formen“ des Christentums zu entwickeln. Der Rückgriff auf lokale Traditionen in Liturgie, Kirchenmusik und Architektur oder der Gebrauch „einheimischer“ Namen und Kleidung zählte dazu ebenso wie die Anfänge christl. Ashrams in →Indien oder aber auch der Protest gegen den Konfessionalismus der westlichen Missionare, der zur Entstehung lokaler Ökumenebewegungen in Asien und auch in Afrika führte. Über die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 übten sie beachtlichen Einfluß auch auf die Ökumenische Bewegung im Westen aus. In den Debatten der 1970er Jahre wurde das Konzept der I. zunehmend von dem der Kontextualisierung abgelöst, das stärker auch sozioökonomische Faktoren berücksichtigt. Kaj Baago, Pioneers of Indigenous Christianity, Bangalore 1969. Giancarlo Collet (Hg.), Theologien der Dritten Welt, Immensee 1990. John C. England u. a. (Hg.), Asian Christian Theologies, Bd. 1–3, New York 2002– 2004. KL AUS KOS CHORKE Indigenismus in Lateinamerika. Als Reaktion auf die anhaltend schlechten Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung und verstärkt durch intensive Identitätsdebatten der lateinam. Eliten entwickelte sich um die Wende vom 19. zum 20. Jh. die intellektuelle und politische Strömung des I. Betroffen hiervon waren insb. diejenigen Länder, die wie →Peru, →Bolivien, →Guatemala oder auch einige Regionen →Mexikos über eine umfangreiche indigene Bevölkerung verfügten. Wegweisend war hierfür nicht zuletzt die Mexikanische Revolution von 1910. Hier wie auch in Peru wurden bald eigene Indianermi-
nisterien eingerichtet, die es sich zur Aufgabe machten, der indigenen Bevölkerung den Weg in eine westlichen Werten verpflichtete Moderne zu weisen. Insb. das erste internationale indigenistische Treffen im mexikanischen Pátzcuaro, zu dem Staatspräs. Lázaro Cárdenas 1938 einlud, hatte einen großen Einfluß auf die ideologische und institutionelle Verbreitung des I. in →LA, und erreichte mit der Gründung des Interam. Indigenistischen Instituts 1940 eine kontinentale Dimension. Der I. war jedoch mehr als eine staatliche Entwicklungsideologie. Die mit ihm einhergehende Aufwertung der indigenen Kulturen drückte sich in der Verbreitung anthropologischer Einrichtungen und Studien aus. Die Wiederentdeckung des Indigenen konzentrierte sich hierbei allerdings vielfach auf die vor-span. Hochkulturen der Azteken, Maya und Inka, während die gegenwärtige Lage der indigenen Bevölkerung in den düstersten Farben gemalt wurde. Insb. in den zeitgenössischen literarischen Zeugnissen fehlt es nicht an einer beißenden Sozialkritik, so etwa in Clorinda Matto de Turners frühem Roman Aves sin nido (Peru, 1889), in Jorge Icazas Huasipungo (→Ecuador, 1934) oder in den Werken von Alcides Arguedas (Bolivien) und Miguel Angel Asturias (Guatemala). Auch die bedeutendsten indigenistischen Intellektuellen und Politiker propagierten angesichts der unwiederbringlich verloren gegangenen Größe der einstigen Hochkulturen die „Integration“, „Akkulturation“ oder „Inkorporation“ der indigenen Bevölkerung in eine moderne, als kulturell homogen gedachte Mestizennation (→Casta), die zum Inbegriff lateinam. Identität wurde. Bedeutsam in diesem Zusammenhang war besonders José Vasconcelos, erster mexikanischer Erziehungsminister nach der Revolution, der dem Mythos von der kulturellen Verschmelzung der ethnischen Gruppen Lateinamerikas in seinem 1925 veröffentlichten Essay La raza cósmica ein als Gegenentwurf zum US-am. Melting Pot gedachtes literarisch-philosophisches Denkmal setzte. Der auf Assimilation der indigenen Bevölkerung ausgerichtete staatliche I. galt bis in die 1960er und frühen 1970er Jahre hinein relativ unangefochten als die beste Lösung des Problems und Ausdruck ernsthafter Bemühungen um das Wohl der indigenen Bevölkerung. Die Tendenz, die indigene Bevölkerung durch Erziehung und wirtschaftliche Modernisierung in die mestizische Nation einzugliedern, wurde dabei unterstützt durch marxistische oder sozialistische Strömungen, die – nicht nur im nachrevolutionären Mexiko – v. a. unter Intellektuellen verbreitet waren und die Klassenlage als die entscheidende Frage ansahen. Eine originelle Verbindung zwischen indigener Kultur und Klassenfrage schuf der peruanische Autor und Politiker Carlos Mariategui, der in den 1950er Jahren die Lösung der Probleme seines Landes in einer Verbindung von indigenen kollektiven Traditionen und europäischem Marxismus sah. In dieser u. anderen marxistisch inspirierten Deutungen wurde die indigene Frage somit hauptsächlich als ein Klassen- und Landproblem angesehen, die indigene Kultur als eine Variante einer allg. Unterschichtskultur betrachtet. So bereitete der I. auch die in vielen lateinam. Ländern während der 1960er und 70er Jahre angegangenen Landreformen vor, in deren Kontext die indigene Bevölkerung in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend von „Indios“ zu „Bauern“ wurde. 361
i n d ir e c t r u l e
Alexander S. Dawson, From Models for the Nation to Model Citizens: Indigenismo and the ‚Revindication‘ of the Mexican Indian, 1920–1940, in: Journal of Latin American Studies 30 (1998), 279–308. Eleonore v. Oertzen (Hg.), José Carlos Mariategui, Frankfurt/M. 1986. CHRI S T I AN BÜS CHGE S
Indigo →Farbstoffe Indirect Rule. Spezifische Form der Kolonialverwaltung, angewendet in vielen brit., aber auch dt., belg. und ndl. Überseegebieten. Ausgenommene Kolonien im brit. Imperium waren bspw. die meisten →Kronkolonien, aber auch Birma und die Karibikkolonien. Eine systematische Ausarbeitung des Verwaltungsprinzips erfolgte durch den brit. Offizier und Kolonialverwalter Frederik →Lugard (1922), nachdem das Prinzip jedoch bereits über Jahre hinweg aktiv Anwendung gefunden hatte. Mit I. wird die Einbindung lokaler, einheimischer Würdenträger in die koloniale Administration, d. h. ein Rückgriff auf traditionelle sozio-politische Strukturen und Herrschaftsmodelle in der Mittlerposition zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren, bezeichnet. Ziel war die Administrierbarkeit der Kolonien zu verbessern. Daneben spielten finanzielle Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle. Trotz des bewußten Rückgriffs auf traditionelle Strukturen, kam es im Zuge der I. vielfach zu Überlagerungen traditioneller Modelle durch europäische Herrschafts- und Verwaltungskonzepte. Kritisch sind einerseits die Bevorzugung, bzw. andererseits die Übervorteilung bestimmter Eliten, sowie die Zementierung vormals flexibler Herrschaftsund Abhängigkeitsmodelle zu sehen. S. a. →British Raj, →Gold, God, Glory. Michael Crowder, Indirect Rule, Oxford 1964, reprinted from Africa, Bd. 34, 197–205. Frederick Lugard, The Dual Mandate in British Tropical Africa, London 1965. DOMI NI K E . S CHI E DE R
Indische Reiche seit 1200. Das mächtigste Reich im Norden →Indiens war das →Delhi-Sultanat (1206– 1526), das zeitweise ganz Nordindien umfaßte. Die regionalen Reiche, die Süd- und Zentralindien prägten (die Yadavas im Nordwesten, Hoysalas im Südwesten, Pandyas im Süden und Kakatiyas im Nordosten) wurden ab 1300 in Eroberungszügen dem Delhi-Sultanat unterworfen. Das Delhi-Sultanat konnte sich langfristig nicht in Südindien halten. Das Machtvakuum füllten das 1336 entstandene Vijayanagara-Reich im Süden und das 1347 entstandene →Bahmani-Sultanat in Zentralindien. Nach der Plünderung durch Timur 1398 zerfiel das Delhi-Sultanat, so daß die Sayyid-Dynastie (1414–51) nur noch das Kerngebiet um →Delhi beherrschte. →Gujarat und Malwa wurden unabhängige Sultanate. An der Ostküste dehnte sich das hinduistische Kgr. von Orissa (→Bihar und Orissa) im 15. Jh. unter der →GajapatiDynastie nach →Bengalen und im Süden bis ins heutige Tamil Nadu aus und konkurrierte mit den Bahmaniden und →Vijayanagara. Das Bahmani-Sultanat zerfiel 1518, auf Grund innerer Rivalitäten, in fünf Nachfolgereiche. Nach einer Periode ständiger Rivalität, gelang es einer Koalition dieser Dekkan-Sultanate 1565 Vijayanagara 362
vernichtend zu schlagen, so daß das Reich sich bis 1646 auflöste. U. a. wurde →Mysore unabhängig. Nordindien war inzwischen von der →Lodi-Dynastie wieder geeint, aber 1526 von Babur erobert worden, der das Mogulreich (→Moguln) begründete. Seinem Enkel →Akbar gelang es, ab 1556, das Reich zu vergrößern und zu festigen – ein Jh. der Stabilität folgte. Dazu trug auch die zunehmende Integration der →Rajputen ins Mogulreich ab 1527 bei. Unter Aurangzeb (1658–1707) wurden die Dekkan-Sultanate annektiert und ganz Indien, bis auf die Südspitze, von den Mogulen beherrscht. Schon vor Aurangzebs Tod hatten die →Marathen, lokale Adlige des westlichen Dekkan, den Mogulen die Macht in Südindien streitig gemacht. Diese gründeten ab 1707 neue Reiche. Gleichzeitig zerfiel das Mogulreich auch auf Grund interner Machtkämpfe. So ernannte sich Qamaruddin Qılıch Khan (Asaf Jah) 1724 zum „Nizam“ (Verwalter) von →Haiderabad und erklärte seine Unabhängigkeit. Das Mogulreich umfaßte zuletzt nur noch das Gebiet um Delhi, während im zentralen Nordindien das schiitische Fürstentum →Awadh (1722–1856), im Norden das afghanische Fürstentum der Rohillas und im Punjab das der Sikhs (→Sikhismus) unter Ranjit Singh (1780–1839) entstanden. Auch die Hindu-Kgr.e der Rajputen im Westen, die zuvor eine Hauptstütze des Mogulreichs gewesen waren, wurden unabhängig, während in Gwalior und Indore Marathen-Fürstentümer entstanden. Das Fürstentum →Kaschmir im westlichen Himalaya existierte schon seit dem Altertum. Es wurde 1339 ein Sultanat, in den 1580ern wurde es von Akbar eingenommen und fiel 1819 den Sikhs zu. Nach der Niederlage der Sikhs verkauften die Briten Kaschmir 1846 dem Maharaja von Jammu als Gegenleistung für seine Unterstützung im Krieg gegen die Sikhs. Ein kleines Sikh-Fürstentum, das sich gegen Ranjit Singh mit den Briten verbündete und daher weiter bestand, war Patiala. Das Sultanat Gujarat (1398–1573) fiel an die Mogulen, dann an die Marathen und bestand bis zur Unabhängigkeit zum großen Teil aus zahlreichen Zwergstaaten und den Gaekwads von Baroda. Im äußersten Osten des Subkontinents bestand von 1228–1826 das Kgr. Ahom (Assam). Es wurde zuerst von den Birmesen (→Birma) und dann von den Briten erobert. An der westlichen Südspitze Indiens entstand ab 1729 das Kgr. Travancore, das für seine Bildungspolitik (→Bildung) bekannt wurde. Es ging 1956 im Bundesstaat Kerala auf. Zur Zeit der brit. Kolonialherrschaft (→British Raj), wurde ca. ⅓ des Landes „indirekt“ regiert, das heißt von Fürsten, die nominell unabhängig waren, deren Außenpolitik aber von der Kolonialreg. diktiert wurde. Die Briten behielten sich vor, Fürstentümer, deren Nachfolge (nach brit. Maßstäben) nicht geregelt war oder die ihre Schulden nicht bezahlen konnten, Brit.-Indien einzuverleiben (so geschah es z. B. mit Awadh 1856). Da die Fürsten für die Entwicklung ihrer Gebiete selbst zuständig waren, aber die meisten Steuern an die Briten abgeben mußten, blieben sie häufig in ihrer Entwicklung hinter den direkt verwalteten Gebieten zurück. Nach der Unabhängigkeit 1947 gingen die meisten Fürstenstaaten in den ind. Bundesstaaten auf, einige, wie das erweiterte Mysore, wurden selbst zu Bundesstaaten. Die Staaten der Rajputen wurden zu Rajasthan vereint.
i n d i s ch er n Ati o nA li s m u s
Die Privilegien der früheren Fürsten wurden 1971 von Indira Gandhi abgeschafft. Hermann Kulke / Dietmar Rothermund, Geschichte Indiens, Stuttgart ²2006. S T E P HAN P OP P Indischer Aufstand. 1857–1859 erhob sich eine große Anzahl ind. Soldaten der brit.-ind. Armee, welchen sich ind. Fürsten, städtische Händler und eine Vielzahl von Bauern in weiten Teilen Nordindiens anschlossen. Hintergrund der Erhebung war die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes, insb. im Rahmen der brit. Steuerpolitik und die Annexion des Fürstentums →Awadh, die einen letzten Höhepunkt der brit. Zersetzung der vorkolonialen Herrschaftsstrukturen bedeutete. Außerdem hatte die Kolonialverwaltung kurz vor dem Aufstand eine massive Kürzung der Sold- und Rentenansprüche eines Großteils der ind. Soldaten in ihren Diensten beschlossen, so daß sich diese von einem deutlichen sozialen Abstieg bedroht sahen. Obendrein nahte der 100. Jahrestag der „Schlacht von Plassey“, die nach brit. Geschichtsschreibung den Anfang der brit. Herrschaft in Südasien markiert. Gerüchten zufolge sollte das Jubiläum Anlaß zu einer allg. Erhebung werden. Da der Aufstand unter den Soldaten ausbrach, galt er den Zeitgenossen wie auch in der wirkmächtigen brit. Historiographie fortan als „Mutiny“, als Meuterei befehlsverweigernder Soldaten, die den Gebrauch der neuen mit tierischem Fett eingeriebenen Gewehrpatronen ablehnten. Diese Deutung entstammte hauptsächlich einem kolonialen brit. Interesse zur Delegitimation der Bewegung als einseitig, von religiösem Aberglaube bestimmt und auf eine einzelne Gruppe beschränkt. Dagegen betitelte eine nationalistisch-ind. Geschichtsschreibung nach 1900 die Erhebung als „First War of Independence“. Diese Benennung setzte sich jedoch nicht allg. durch. Auf Grund der gesellschaftlich übergreifenden Beteiligung wird die Erhebung meist als „Großer Aufstand“ oder „Great Rebellion“ bezeichnet. Inzwischen bietet sich auch der Terminus „Befreiungskrieg“ an, da es in Lakhnau und →Delhi zu patriotischer Solidarität der höfischen Gesellschaft mit den Rebellen kam, die über Monate hin den Krieg zur Befreiung vom Kolonialregime trug. Der Befreiungskrieg drohte in den ersten Monaten nach seinem Ausbruch im Mai 1857 der brit. Kolonialherrschaft in Südasien ein Ende zu setzten. Das verhinderte im wesentlichen die Loyalität der SikhTruppen (→Sikhismus) im →Panjab, die von den Briten nach der Annexion des Sikh-Reichs 1849 in das brit.-ind. Militär integriert worden waren und strategisch im Rücken der „Rebellen“ standen. Auch das rasche Eintreffen von brit. Truppen in →Kalkutta sorgte für einen wirkungsvollen Gegenschlag. Auf der Seite der Befreiungstruppen wurde der Krieg zunehmend unkoordiniert, was nebst Materialmangel und einer fehlenden politischen Vision schließlich dazu führte, daß die Briten im Laufe des Jahres 1858 die Oberhand gewannen. Nur mit äußerster Brutalität, die teilweise die restlose Hinrichtung der männlichen Bevölkerung ganzer Dörfer einschloß, wenn auch nur der Verdacht bestand, daß dort „Rebellen“ Unterschlupf gewährt worden war, konnte die Rebellion niedergeschlagen werden. Einzelne Scharmützel fanden indes noch 1859 statt. Nach der Einnahme der
Mogul-Residenz (→Moguln) Delhi 1858 verhafteten die Briten den greisen Mogul Bahadur Shah II. (reg. 1836– 58), machten ihm den Prozeß als Hochverräter und verbannten ihn und seine Familie nach Rangun (→Birma). Zuvor hatte ein brit. Offizier die gefangenen Söhne des Moguln kaltblütig erschossen. Damit beendeten die Briten die seit 1526 in weiten Teilen Südasiens herrschende Timuriden-Dynastie. Politisch betrachtet wurde der Befreiungskrieg als eine restaurative Bewegung gedeutet, das Mogulreich, das de jure zwar noch existierte, aber gerade in den vorausgegangenen beiden Jahrzehnten de facto immer handlungsunfähiger geworden war, in einem idealisierten, geradezu mythischen Glanz wieder erstehen zu lassen. Den vorhandenen Quellen sind in diesem Rahmen kaum Ambitionen für gesellschaftliche Reformen zu entnehmen, und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten versprachen sich nicht alle ind. Landbesitzer und Geschäftleute einen Vorteil von einem Ende des brit. Kolonialregimes, schließlich zählte man unter ihnen die meisten seiner Profiteure. Geschichtlich gesehen markiert der Befreiungskrieg eine Zäsur, die den offenen Übergang vom Mogulreich zum →British Raj bedeutete (→Government of India Act 1858). Puran C. Joshi, Rebellion 1857, Delhi 1957. Rudrangshu Mukherjee, Awadh in Revolt, London ²2002. Biswamoy Pati (Hg.), Historians and Historiography, in: Economic and Political Weekly, Nr. 19 (2007), 1686–1787. MICH A EL MA N N / H A N S H O MMEN S
Indischer Nationalismus. Die Idee einer Nation, ein Nationalbewußtsein und die darauf gründende organisierte politische Bewegung in →Indien entstanden im 19. Jh. im historischen Kontext des →Kolonialismus und des Kampfes gegen die brit. Herrschaft (→British Raj). Die Kolonialobrigkeit und -herrschaft löste soziale und politische Bewegungen in den meisten Gesellschaftsschichten auf dem ganzen Subkontinent aus. Der →Ind. Aufstand 1857–1859, das berühmteste Beispiel eines Volksaufstandes in Südasien (→Volksaufstände), wurde auch als „Wegbereiter“ des Nationalismus oder sogar als „Erster Unabhängigkeitskrieg“ interpretiert. Diese weit verbreiteten Protest- und Widerstandsbewegungen zeigten zwar Ansätze von →Antikolonialismus, hatten aber noch keine allg. akzeptierte und moderne Vorstellung einer Nation zur Grundlage. Diese Ideen wurden von Vereinigungen städtischer, bürgerlicher Intellektueller entwickelt und formuliert. Der 1885 von Vertretern dieser Schichten gegründete →Indian National Congress (INC) verschrieb sich zunächst hauptsächlich der Aufgabe einer Kontrolle der brit. Herrschaft durch konstitutionelle Mittel, setzte sich aber im Laufe der Zeit immer stärker das Ziel, das ind. Volk für das Projekt einer eigenständigen Nationalstaatlichkeit zu gewinnen. W. C. Bannerjee leitete die erste Versammlung des INC in →Bombay. Die Delegierten, darunter Dadabhai Naoroji, Madan Mohan Malaviya oder Pheroze Shah Mehta, kamen aus allen Teilen des Subkontinents. Ab den 1890er Jahren wurde die gemäßigte politische Einstellung dieser Führer durch das Aufkommen radikalerer politischer Ansätze in Frage gestellt. Dieser Radikalismus äußerte sich in drei Regionen: im →Panjab unter der Führung 363
i n d is c he r o z eA n
Lala Lajpat Rais, in Maharashtra unter Bal Gangadhar Tilaks und in →Bengalen durch Bipin Chandra Pal. Die administrative Teilung der Provinz Bengalen nach dem Kriterium der Religionszugehörigkeit 1905 gab den sog. „Extremisten“ starken Auftrieb; ihre Boykottagitationen und Programme nationaler Erziehung (→Bildung) dominierten bald die öffentliche Diskussion. Ihr unmittelbares Ziel bestand in der Rücknahme der Teilung, alsbald entstand daraus jedoch unter dem Schlagwort „swadeshi“ (wörtl. „für das eigene Land“, Bewegung wirtschaftl. u. kultur. Selbständigkeit) die Forderung nach einer umfassenderen Selbstbestimmung, die auch an weitergehende politische und soziale Fragen rührte. Die Strategien dieser Bewegung beinhalteten den Boykott brit. Importerzeugnisse, die Wiederbelebung der Produktion und des Vertriebes heimischer Waren, die Gründung nationalistisch inspirierter Schulen wie auch Bestrebungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Verwaltungsstrukturen in ländlichen Regionen. Die Boykottaktionen breiteten sich über den gesamten Subkontinent aus und gaben der einheimischen ind. Industrie, dem nationalistischen Protest und der Vorstellung einer gemeinsamen Nation neue Impulse. Die Verbrennung von importierten brit. Baumwollstoffen (→Baumwolle) und der Boykott offizieller Gerichte und Bildungsinstitutionen legten wichtige Grundlagen für einige der Methoden der nationalistischen Massenagitation, die später unter der Führung →Gandhis in einem größeren Maßstab eingesetzt werden sollten. Nach Ende des →Ersten Weltkrieges erhielt die Forderung der nationalistischen Bewegung nach staatlicher Eigenständigkeit besonderen Nachdruck. Das →Amritsar-Massaker führte einer wachsenden ind. Öffentlichkeit die Brutalität und Illegitimität der brit. Kolonialherrschaft vor Augen. Aus dieser Situation heraus entwickelte sich Gandhi zu einem der bedeutendsten Führer und zu einer Symbolfigur für die ind. Nationalbestrebungen. Er bemühte sich um eine Vergrößerung der sozialen Basis der Nationalbewegung und versuchte, die verschiedenen sozialen, religiösen und ethnischen Gruppen des Subkontinents für das politische Projekt des INC zu mobilisieren. (→Khilafat-Bewegung) Gandhis Nationalismuskonzept (swaraj) sah zum einen vor, die Fremdherrschaft durch →satyagraha, d. h. gewaltlosen Widerstand, zu brechen, zum anderen sollte die Nation von innen her etabliert werden durch ökonomische Unabhängigkeit, ländliche Infrastrukturprogramme („constructive programmes“) und die Förderung einer friedlichen Koexistenz der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Demgegenüber spielten jedoch auch andere Konzeptionalisierungen von Nation, v. a. entlang religiöser Zugehörigkeiten, eine nicht unbedeutende Rolle, wie diese u. a. von Parteien und Bewegungen wie der Hindu Mahasabha, des Rashtriya Svayamsevak Sangh (RSS) und der →Muslim League propagiert wurden. Die Muslim League wandte sich, auf Grund einer unterstellten Dominanz der Hindus in der Kongressbewegung, gegen die universalistische Rhetorik des Nationalismus des INC. In diesem Zusammenhang propagierte sie die Zwei-Nationen-Theorie, auf deren Basis sie mit wachsender Bestimmtheit für eine weitreichende lokale Autonomie der Regionen mit musl. Bevölkerungsmehrheit 364
warb und schlußendlich sogar für einen separaten musl. Staat eintrat (→Pakistan-Bewegung, →Pakistan). Die Hindu-Nationalisten vertraten dagegen eine Vorstellung der ind. Nation, die der Hindu-Kultur offen eine Vorrangstellung und Überlegenheit in Indien zuschrieb, die mit Gandhis universalistischen Vorstellungen unvereinbar waren. Diese Differenzen gipfelten im Jan. 1948 in der Ermordung Gandhis durch eine Gruppe von Hindu-Nationalisten. Kastenbasierte soziale Bewegungen (→DalitBewegungen, →Ambedkar, →Kastensystem) mobilisierten v. a. in Südindien die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber tief verwurzelten Kastendiskriminierungen innerhalb der ind. Gesellschaft und entwickelten politische Identifikationen, die bewußt über den kulturellen Kontext Nordindiens hinaus gingen und sich so ebenfalls der vereinenden Politik Gandhis und des INC widersetzten. Dieser ausgeprägt südind. Nationalismus stützte sich auf eine gemeinsame dravidische Kultur (→Dravidische Sprachen), die dem tamil. Selbstverständnis nach älter war, als die im INC dominierenden nordind. Vorstellungen von national-ind. „Identität“ und die als dieser überlegen angesehen wurde. Während diese Bewegungen zeitweise offen eine separatistische Loslösung vom gesamtind. nationalistischen Projekt des INC vertraten (→Periyar), erweiterten sie gleichzeitig auch dessen Vorstellungen über einen weitgehend anti-kolonialen Ansatz hinaus, indem sie wichtige soziale Fragen der Gegenwart sowie für die politische Zukunft der Nation aufwarfen. Verschiedene dieser Tendenzen fanden auch Eingang in die politischen Kampagnen des INC (z. B. dem NonCooperation Movement der (1920er), dem Civil Disobedience Movement der (1930er) und dem Quit India Movement (1942)). Diese Kampagnen waren ihrerseits mitverantwortlich für den Autoritäts- und Machtverlust der brit. Herrschaft in Indien und halfen gleichzeitig bei der Verknüpfung der Hoffnungen und Anstrengungen der breiten Masse der ind. Bevölkerung mit dem eher elitären Projekt der Nationalbewegung. Im Aug. 1947 errang Indien, zusammen mit →Pakistan, die Unabhängigkeit (→Teilung Brit.-Indiens) und wurde im Jan. 1950 eine Rep. William Gould, Hindu Nationalism and the Language of Politics in Late Colonial India, Cambridge 2004. Eugene F. Irschick, Politics and Social Conflict in South India, Berkeley 1969. Jim Masselos, Indian Nationalism, Delhi 2005. N ITIN VA RMA / H A N S H O MMEN S Indischer Ozean. Bildet seit dem Altertum eine Brücke zwischen Kulturen und Wirtschaftsräumen. Er verbindet den arab.-persischen Raum (arab. Halbinsel, Rotes Meer, Persischer Golf), Ostafrika, den ind. Subkontinent und →Südostasien, seit dem späten 18. Jh. auch →Australien. Über die Wasserstraßen des Malaiischen Archipels (Straße von →Malakka, Sunda-Straße) wird zudem das Südchin. Meer und damit der chin. Kulturraum erreicht, sowie über die Landwege Mesopotamiens und des Sinai das östliche Mittelmeer. Seit der Neuzeit stellt der Seeweg um das →Kap der guten Hoffnung die Verbindung zur Atlantikküste her. Alle Seewege waren bis zur Etablierung der Dampfschiffahrt (→Schiffahrt) vom Rhythmus der Monsunwinde abhängig, die im Winter
in d o n es i en
nördlich des Äquators aus Nordost sowie südlich aus Nordwest, ansonsten konstant von Süden nach Westen wehen und auf allen gesegelten Langstreckenrouten mehrmonatige Liegezeiten bedingten. Insofern eröffnete der I. O. wesentliche Verkehrswege des Fernhandels zwischen Asien, Afrika und Europa. Über die „maritime Seidenstraße“ wurde der →Transport von Luxusgütern, Textilien und, über geringere Entfernungen, auch von Nahrungsmitteln abgewickelt. Den Seehandel des größten vorkolonialen Wirtschaftsraums der Welt dominierten zunächst chin. und ind. Kaufleute. Einen ersten Intensivierungsschub bedingte der Aufstieg des →Islam und die damit einhergehende Expansion musl. Kaufleute aus Arabien und →Indien. Die zweite Intensivierungsphase wurde durch die europäische Expansion eingeläutet, als die Portugiesen →Calicut erreichten (1498) und während des folgenden Jh.s mit dem Zentrum →Goa ein weitgreifendes Stützpunktnetz aufbauten. Seit Beginn des 17. Jh.s wurden sie durch die westeuropäische →Ostindienkompanien abgelöst, die teilweise auf port. Grundlage (→Estado da India) dichtere Netze aufbauten. Alle europäischen Netzwerke paßten sich zunächst in die bestehenden asiatischen ein und entwickelten erst im Lauf der Zeit eine dominante Eigendynamik. Die institutionalisierte Verflechtung des I. O.s erreichte durch die europäische Präsenz ihren Höhepunkt und wurde auch nach dem Ende der Kompanien im 19. und frühen 20. Jh. ausgebaut, als die Kolonialmächte England (Indien, →Sri Lanka, →Birma, Malaya), Frankreich (→Frz.-Indochina) und Niederlande (→Indonesien) die Rahmenbedingungen diktierten und neue Strukturen (regelmäßige Schiffslinien, Telegrafie) etablierten. →Mauritius und →Réunion wurden im 18. Jh. frz. Plantagenkolonien (Zuckerrohr, →Zucker); prosperierende Hafenstädte wie →Singapur, →Kalkutta oder →Bombay entwickelten sich aus kolonialen Gründungen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen des I. O.s begünstigten zahlreiche, den traditionellen Handelswegen folgende Prozesse des Kulturtransfers. Weite Teile Südostasiens wurden in mehreren Schüben vor dem 7. Jh. durch die Verbreitung des →Buddhismus und des →Hinduismus indisiert. Die Dominanz ind. geprägter Staaten wurde erst durch die Islamisierung gebrochen, die seit dem 8. Jh. von der arab. Halbinsel ausgehend schrittweise Richtung Osten bis zum Malaiischen Archipel vordrang, wo einzelne Staaten zwischen dem 13. (Aceh) und 16. Jh. (→Molukken, →Sulawesi) islamisch wurden. Diese Expansion hatte wiederum regelmäßige Pilgerströme in entgegengesetzter Richtung zur Folge. Auch christl. Missionare, v. a. port. →Jesuiten im 16. Jh., folgten den etablierten Handelsrouten. Entlang dieser breiteten sich Kaufmanndiasporen arab., armenisch., ind. und insb. chin. Ursprungs aus. Bereits mit der javanischen Zuckerindustrie des 17. und 18. Jh.s und verstärkt seit dem 19. Jh. durch die koloniale Plantagen- und Minenwirtschaft folgten chin. Kontraktarbeiter (→Vertragsarbeit) den Kaufleuten. Auch Inder, Malaien, Javaner und Filipinos wurden als Arbeiter für →Malaysia, →Sumatra, Ost- und Südafrika sowie Mauritius und Réunion, im 20. Jh. auch für die Golfstaaten angeworben. So war der I. O. seit dem Altertum durch kulturellen Austausch, multikul-
turelles Zusammenleben, hybride Gesellschaftsbildung sowie ökonomische Integration gekennzeichnet, die unter europäischem Einfluß zusätzlich dynamisiert wurden. Stephan Conermann (Hg.), Der Indische Ozean in historischer Perspektive, Hamburg 1998. Michael Pearson, The Indian Ocean, London 2003. Dietmar Rothermund / Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.), Der Ind. Ozean, Wien 2004. JÜ RG EN G . N A G EL Indonesien ist eine relativ neue Wortschöpfung. Nach „Indunesians“ und „Malayunesians“ setzte sich mit dem fünfbändigen Werk „Indonesien: Oder, die Inseln des Malayischen Archipel“(1888–1894) von Adolf →Bastian die Bezeichnung I. durch und wurde mit der Unabhängigkeit zur offiziellen Bezeichnung der vormaligen ndl. Ost-Indien Kolonie. I. ist heutzutage der weltgrößte Inselstaat, aber als die Europäer um 1500 erstmals in →Südostasien ankamen, war die Region keine politische Einheit, sondern unter vielen Potentaten aufgeteilt. Die damalige südostasiatische Inselwelt wurde von Uneinigkeit und Rivalität bestimmt und die europäischen Neuankömmlinge wurden rasch zu bedeutenden Akteuren sowohl auf dem wirtschaftlichen als auch dem politischen Spielfeld. Die Periode von 1500–1800 gilt als Periode des Handelskolonialismus. Die europäische Handelstätigkeit wurde vom Streben nach Monopolen gekennzeichnet, deren brutale Durchsetzung eng mit halbstaatlichen Aktivitäten (militärisch, politisch, administrativ) verbunden war. Spanier und Portugiesen stritten schon lange um die Vorherrschaft im außereuropäischen Handel, teilten sich aber die Welt 1494 mit dem Vertrag von Tordesillas (→Bullen) in zwei Einflußbereiche auf. Portugal fiel dabei Afrika und Asien zu, aber die Spanier blieben immer noch in Südostasien aktiv, wobei sie ihre Geschäfte auf die →Philippinen konzentrierten. Der Asienhandel war äußerst lukrativ und rief auch andere europäische Konkurrenten auf den Plan. 1600 gründeten die Engländer die East India Company (EIC, →Ostindienkompanien), 1602 die Niederländer die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC). Das ndl. Handelsnetz dehnte sich rasch vom Roten Meer und dem Persischen Golf bis nach Japan aus. Die VOC konnte wie ein souveräner Staat auftreten und überall in Asien griff sie die iberischen Stellungen an: 1641 kam →Malakka unter ndl. Herrschaft. In wenigen Dekaden bauten die Niederländer eine Reihe von kleineren und größeren Posten im malaiischen Archipel auf. Jan Pieterszoon →Coen gründete 1619 →Batavia (heute Jakarta) als Zentrum für den Handel im Osten. Das Gewürzmonopol (→Gewürze), das den Handel mit Muskatnuß (→Muskat) von den →Banda-Inseln und →Nelken aus →Ambon umfaßte, wurde mit großer Härte erreicht. Die rigorose Politik umfaßte die Ausrottung der ursprünglichen Bevölkerung, Zwangsanbau und Sklavenarbeit (→Sklaverei und Sklavenhandel). Um das Monopol weiterhin zu verteidigen, etablierte die VOC auch Festungen in der direkten Nähe ihres Kerngebiets in Ost-I., z. B. in →Manado (1658), →Ternate und →Tidore (bis 1663 unter span. Kontrolle) oder →Makassar (1667). Es ist ein populärer Mythos, daß die ndl. Kolonialherrschaft über I. 350 Jahre gedauert habe, während tapfere Indonesier 350 Jahre für ihre 365
i n d one s ie n
Unabhängigkeit gekämpft hätten. Im heutigen nationalistischen Diskurs gehört z. B. Sultan Agung von →Mataram offiziell zum Pantheon der „Helden des indonesischen Unabhängigkeitskampfes“. So ist in indonesischen Schulbüchern über ihn zu lesen, dieser „Freiheitskämpfer“ habe sich nie auf Kompromisse mit den Niederländern einlassen wollen. Diese anachronistische Heldenverehrung ist ein Bestandteil von ideologischen Prozessen der modernen Nationsbildung (engl. „nation building“), verkennt jedoch bewußt, daß die Idee von „I.“ und einer eigenen „indonesischen“ Nationalidentität eine Erfindung der Moderne ist. Die VOC mußte nach dem vierten Engl.-Ndl. Krieg (1780–1784) Konkurs anmelden und wurde vom ndl. Staat übernommen. Mit der Zeit um 1800 fing daraufhin die Periode des staatlichen →Kolonialismus an. Die Zeitspanne zwischen 1796 und 1830 stand im Zeichen der Unklarheit über die Frage, wie der Staat mit der Hinterlassenschaft der VOC in Asien umgehen solle. Der Staat schickte Herman Willem Daendels (1762–1818) als starken Mann nach →Java, wo er zwischen 1808 und 1811 den kolonialen Staatsapparat modernisierte: Seitdem wurde die Kolonialverwaltung von indirekter Herrschaft (→Indirect Rule) gekennzeichnet, wobei die Machtausübung vermittelt über lokale, traditionelle einheimische Herrschaftsstrukturen geschah. Javanische Regenten wurden Beamte im Dienst der Kolonialreg. In der javanischen Erinnerung lebt „der donnernde Marschall“ als derjenige weiter, der den sog. großen Postweg entlang der javanischen Nordküste von Zwangsarbeitern hat anlegen lassen. Das engl. Interregnum (1811–1816) unter Thomas Stamford →Raffles (1781–1826) war zu kurz, um wirklich große Änderungen durchzusetzen. Allerdings schufen Daendels und Raffles die Grundlagen einer neuen Kolonialverwaltung. Raffles führte eine neue Steuer, die sog. „Landrente“, ein. Die →Eroberung und Plünderung des Fürstenhofes von Yogyakarta 1812 war eine tiefe Erniedrigung für die Elite Javas. Nach dem Rückzug der Engländer aus Java gründete Raffles eine brit. Siedlung in →Singapur. 1824 wurden im (ersten) Vertrag von London die Interessensphären der Briten und Niederländer in Südostasien geregelt. Der charismatische Prinz Diponegoro aus Yogyakarta entfesselte 1825 einen Aufstand, der in den sog. Java-Krieg (1825–1830) mündete. Dieser Krieg markierte einen Wendepunkt: Die javanische Aristokratie würde sich künftig immer der ndl. Administration fügen. Die ndl. Kolonialmacht war nach 1830 auf Java fest etabliert, brauchte jedoch dringend Finanzmittel, da sich die Kolonie als Verlustgeschäft erwiesen und dem Mutterland Schulden in Millionenhöhe beschert hatte. Die Kolonialpolitik zwischen 1830 und 1870 wird batig-slotpolitiek („Überschußpolitik“) genannt und war von einem System der Zwangsproduktion bestimmt. Dieses System, das sog. cultuurstelsel („Kultivierungssystem“), machte Java endlich zu einer gewinnbringenden Kolonie. Um gleichzeitig finanzielle Verluste einzudämmen, wurde ein umfassendes Expansionsverbot erlassen, die sog. onthoudingspolitiek („Enthaltungspolitik“). Auf der Landkarte gab es noch viele weiße Flecken: Weitaus die meisten Gebiete der südostasiatischen Inselwelt waren noch nicht von Europäern betreten bzw. unter europäi366
sche Herrschaft gebracht worden. Das koloniale Paradox der Zeit von 1830–1870 war, daß die ndl. Reg. in Den Haag am liebsten keine Expansionsbestrebungen sah, Batavia sich aber immer wieder auf militärische Expeditionen einließ. Aus verschiedenen Gründen breitete sich das Machtgebiet dauernd aus: Kriege mit einheimischen Herrschern, Bekämpfung von sog. Piraten, ehrgeizige Aktionen einiger Offiziere, die durch Eroberungen Karriere machen wollten, Konkurrenz mit anderen Europäern, wobei die Eroberung →Sarawaks 1841 durch den brit. Abenteurer James →Brooke (1803–1868) ein warnendes Beispiel für die Niederländer war, daß Interessensphären und Ansprüche nicht mit tatsächlicher Machtausübung identisch waren. Nach 1870 lieferten sich die Europäer einen Wettlauf um die letzten noch nicht unterworfenen Gebiete dieser Erde (engl. „scramble for colonies“). Wirtschaftsideologisch war die Kolonialpolitik zwischen 1870 und 1900 vom Laissez-faire-Kapitalismus geprägt. Die Blütezeit des Imperialismus in den Jahren zwischen 1880 und 1910 wurde durch technische Erfindungen wie das Dampfschiff, den Telegrafen und das Maschinengewehr ermöglicht. Die Kolonialarmee →KNIL konnte die Inselwelt „von Sabang bis Merauke“ gewaltsam unter ndl. Herrschaft vereinen. Mit dem zweiten Vertrag von London 1871 ermöglichte die Weltmacht England, daß die Niederlande das Sultanat →Aceh angreifen konnten. Der Aceh-Krieg begann 1873, wurde aber erst 1913 von ndl. Seite für beendet erachtet. Der acehische Widerstandskampf ging jedoch bis 1942 weiter. →Bali konnte 1908 als letzter Teil der Kolonie →Ndl.-Indien einverleibt werden. Der europäische Kleinstaat Holland hatte im südostasiatischen Raum immer eine erfolgreiche „Teile-und-herrsche“-Politik (divide et impera) berieben. Im 20. Jh. bildete der indonesische Archipel jedoch zum ersten Mal eine administrative und politische Einheit, und alsbald entwickelte sich unter der modern ausgebildeten einheimischen Elite die Idee von I. Die Angehörigen dieser modernen nationalistischen Elite fühlten sich als „Indonesier“ miteinander verbunden, woher auch immer aus der ndl. Kolonie sie stammten, und merkten, daß sie immer nur als zweitklassige Menschen gelten würden und als „Eingeborene“ (inlanders) im eigenen Lande von einer Fremdmacht beherrscht wurden. Die Gründung der Vereinigung Budi Utomo („Edles Streben“) am 20.5.1908 gilt als Geburtsstunde der nationalistischen Bewegung und wird im heutigen I. jedes Jahr als „Tag des nationalen Erwachens“ gefeiert. Allerdings war sie sehr javanisch orientiert und nie sehr einflußreich. Der Kolonialstaat gab vor, technokratisch und apolitisch vorgehen zu wollen und hatte rust en orde („Ruhe und Ordnung“) als Leitprinzipien. Einheimische Parteien aller Couleur bekamen sehr wenig Spielraum und waren außerdem nur erlaubt, wenn sie mit den Niederländern kooperieren wollten. Ndl.-Indien war ein Polizeistaat. „Extremisten“ wurden verhaftet und inhaftiert; ein KZ, bekannt als Boven Digul, wurde ab 1927 im Inneren von →Neuguinea errichtet. Die nationalistische Bewegung wurde effektiv unterdrückt und von den Kolonialherren als irrelevant abgetan, weil man annahm, sie werde nicht breit vom Volk getragen, sondern nur von einer schmalen oberen Schicht der „Entwurzelten“.
i n d u s triA li s i eru n g
Mehrheitlich meinten die Niederländer, daß ihre Nation die Aufgabe habe, die „primitive“ einheimische Bevölkerung I.s „emporzuheben“ (opheffen) und ihr die Segnungen der modernen westlichen Zivilisation zu bringen. Unabhängigkeit der Kolonie sei zwar Endziel, aber die Zeit dafür wurde noch lange nicht als reif erachtet. Zum Erstaunen vieler Niederländer und Indonesier konnte die koloniale Großmacht Ndl.-Indien im →Zweiten Weltkrieg fast mühelos in kürzester Zeit von der jap. Armee besiegt werden. Am 8.3.1942 erfolgte die Kapitulation der ndl. Truppen und somit hatte Ndl.-Indien de facto aufgehört zu existieren. Die ndl. Reg. betrachtete die jap. Besatzungszeit (1942–1945) als Interregnum und wollte die Unabhängigkeitserklärung von seiten der indonesischen Führungselite unter →Sukarno und →Hatta, verlesen am 17.8.1945 in Jakarta, nicht akzeptieren. Es kam zum Krieg, der von der ndl. Seite bezeichnenderweise als „Polizeiaktionen“ (politionele acties) charakterisiert wurde. Verhandlungen mit den indonesischen Nationalisten wurden immer wieder abgebrochen, um „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Abgesehen davon, daß fremde Truppen einen Guerillakrieg nicht gewinnen können, setzten die →USA die Niederlande zunehmend unter Druck, die Feindseligkeiten zu beenden und mit den Indonesiern zu verhandeln. Am 27.12.1949 unterzeichnete Kg.in Juliana (1909–2004) die offizielle Übertragung der Souveränitätsrechte an die Rep. I. Auch danach kostete es die Niederlande noch immer Mühe, sich mit dem Verlust der Kolonie abzufinden. Die sog. Neuguinea-Affäre belastete die Verhältnisse zwischen den Niederlanden und I. lange. Erst am 1.10.1962 verzichteten die Niederlande auf die Verwaltung Neuguineas. Die Einverleibung Neuguineas, umbenannt in Irian Jaya („Siegreiches Irian“), war fundamental für die Legitimität und Einheit I.s. Damit gehörte schließlich das gesamte Territorium der ehem. Kolonie Ndl.-Indien zur unabhängigen Rep. I. →Osttimor war eine Kolonie Portugals und wurde nach der sog. Nelkenrevolution von 1974 am 28.11.1975 in die Unabhängigkeit entlassen. Im Dez. 1975 rückten jedoch indonesische Truppen ein und 1976 wurde Osttimor als 27. Provinz annektiert. Seit 2002 ist es als die demokratische Rep. Timor-Leste wieder unabhängig. Die alte koloniale Dichotomie zwischen der „Hauptinsel“ Java und den sog. Außenregionen ist noch immer präsent. In den turbulenten Jahren nach der Unabhängigkeit wurde I. zwar dauernd von Separatismus bedroht und hat unter vielen ethnischen und religiösen Konflikten gelitten, allerdings hat die Idee von I. sich im weltgrößten Inselstaat mit der viertgrößten Bevölkerung der Welt erfolgreich durchsetzen und fest etablieren können. Robert E. Elson, The Idea of Indonesia, Cambridge 2008. Merle C. Ricklefs, A History of Modern Indonesia Since c. 1200, Stanford 2008. Jean Gelman Taylor, Indonesia: Peoples and Histories, New Haven / London 2003. E DWI N WI E RI NGA
Industrialisierung. Als I. wird ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Transformationsprozeß bezeichnet, der seinen Anfang in England im späteren 18. Jh. nahm und sich dann über weite Teile der Welt ausbreitete.
Langfristig führte die I. in den betroffenen Volkswirtschaften zu einer neuartigen wirtschaftlichen Entwicklung, die ein vormals ungekanntes Wachstum von Einkommen, Wohlstand und Lebensstandard ermöglichte. I. ist gleichbedeutend mit Strukturwandel, d. h. einer Umschichtung von Beschäftigungsanteilen an der Gesamtbeschäftigung vom primären Sektor der Wirtschaft (Landwirtschaft, Forsten, →Fischerei) hin zum sekundären Sektor der Wirtschaft (→Bergbau, Handwerk, Industrie). Weiterhin kommt es neben einem generellen Wachstum des industriellen Sektors zur Ausbildung von „Führungssektoren“ innerhalb des produzierenden Gewerbes (Führungssektorhypothese). Diese Sektoren verzeichnen ein überdurchschnittliches Wachstum und üben über diverse Koppelungseffekte positive Stimuli auf die übrigen Wirtschaftsbereiche der betr. Länder aus. Diese Funktionen übernahmen im England des späten 18. Jh.s die Baumwolltuch- (→Baumwolle) und Eisenherstellung, im Deutschland des 19. Jh.s die Eisenbahnen usw. Als Führungssektoren übten sie eine „Rückkoppelung“ an andere Bereiche der Wirtschaft über die Nachfrage nach Steinkohle, Eisen und Holz aus. Des weiteren kam und kommt es in allen feststellbaren I.prozessen seit dem späteren 18. Jh. in aller Regel zu folgenden Substitutionsprozessen: (1) einer Substitution natürlicher (Wasser), menschlicher und tierischer Antriebskraft durch mechanische Antriebskraft, d. h. einer breiten Einführung von Maschinen; (2) einer Substitution von Holzdurch Steinkohle als Brennstoff in zahlreichen Fertigungsprozessen (Dampfmaschine, Eisenverhüttung); (3) die Substitution von Holz und Stein durch Eisen und Stahl in der Konstruktion – kennzeichnend sind hier die neuen Fabrikgebäude, Brücken, Eisenbahnen und Eisenbahnschienen etc.; (4) kommt es zu klassischen Substitutionsprozessen bei Importen, die charakteristisch für veränderte Konstellationen im Weltmarktgefüge sind. So entwickelte sich Deutschland um 1850 in relativ kurzer Zeit von einem Importeur von Lokomotiven und Schienen zu einem führenden Exporteur von Lokomotiven und Eisenbahntechnologie. England hatte bereits früher (im 18. Jh.) mit einem klassischen Substitutionsprozeß den Anfang gemacht und den Grundstock für eine industrielle Entwicklung gelegt, indem mehrschrittig zunächst Fertigimporte von Baumwolltuchen aus Asien (→Indien) unterbunden wurden. Daraufhin ging man dazu über, unverarbeitete Baumwolltuche aus Indien in England den aktuellen modischen Bedürfnissen gemäß zu färben und weiter zu verarbeiten. In einer weiteren Zwischenstufe wurden dann nur noch die Baumwollgarne aus Asien importiert, bis es schließlich – bis auf den Anbau von Rohbaumwolle – zur Konzentration des gesamten Produktionsprozesses kam. Diese Substitutionsprozesse sind mit Wachstum in allen Bereichen der Wirtschaft verbunden. Normalerweise ergibt sich als wichtiges Moment der I. ein Produktivitätswachstum, das von der Landwirtschaft über das produzierende Gewerbe bis hin zu Dienstleistungen (Handel, Banken, Finanz) alle Sektoren und somit ein weites Spektrum der gesamtwirtschaftlichen Aktivität erfaßt. Dieses Wachstum wird u. a. durch den vermehrten Einsatz von Kapital im Produktionsprozeß erzeugt. Im Gegensatz zur vorindustriellen 367
i n d us t r i A l is i e r u n g
Zeit steigt hier der Anteil des Anlagevermögens (Fixkapital), während in der Zeit vor 1700 noch das Umlaufkapital – vornehmlich im Außenhandel und Verlagswesen angelegt – ausschlaggebend für ein bescheidenes wirtschaftliches Wachstum gewesen waren (Handelskapitalismus, Merkantilismus, „Proto-I.“). Im Endergebnis stiegen – zumindest in Nordwesteuropa – sowohl die Bevölkerung, als auch das Gesamtergebnis der Wirtschaft und das Pro-Kopf-Einkommen signifikant an. Zwischen 1820 und heute wuchs die Weltbevölkerung um das Fünffache. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Welt aber verachtfachte sich. Allerdings gab es erhebliche regionale Disparitäten innerhalb dieses Prozesses. Die höchsten Zuwachsraten waren v. a. in Nordwesteuropa, Nordamerika und →Australien zu verzeichnen; der Zugewinn an Wohlstand beschränkte sich also v. a. auf das „alte“ Europa und seine ehem. Kolonien. Diese Gebiete erwirtschafteten bereits um 1820 ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wie der Rest der Welt, also vornehmlich Afrika, Südamerika und Asien. 1998 war der Unterschied noch gravierender. Die „westliche“ Welt verfügte über ein Pro-Kopf-Einkommen, das ca. siebenmal so hoch wie das der restlichen Welt war. Die reichste Volkswirtschaft der Welt (→USA) hatte ein Pro-Kopf-Einkommen, das zwanzigmal so hoch wie der afr. Durchschnitt lag. Diese Zugewinne der letzten zwei Jh.e sind das Endergebnis des Prozesses der I. Er erstreckte sich in den meisten Fällen über einen sehr langen Zeitraum, der mehrere Jahrzehnte, nach Meinung einiger Forscher sogar Jh.e, umfaßte. Dies gilt insb. für England, wo wichtige Vorbedingungen der ersten „industriellen Revolution“ seit dem Ausgang des Mittelalters zu finden und spätestens im späteren 17. Jh., während der Hochblüte des Merkantilismus, voll ausgebildet waren. Dies betrifft insb. ein signifikantes Städtewachstum (v. a. Londons), und damit die Entstehung eines integrierten und wachstumsorientierten Binnenmarktes, ein Wachstum des Außenhandels, eine kommerzielle Revolution, eine finanzielle Revolution (Wachstum der börsenmäßig gehandelten Staatsschuld, Gegenfinanzierung durch ein expansives Wachstum des Steueraufkommens) sowie neuerdings eine „Fleißrevolution“ (de Vries). Bereits um 1700 wurde der gesamte Arbeitseinsatz der Bevölkerung soweit ausgedehnt, daß es zu einer Massennachfrage nach Konsumgütern kam, zunächst außereuropäischer Herkunft (z. B. →Tee, →Kaffee), aber auch von Haushaltsgeräten, Möbeln, Geschirr etc., die weit über die Grundbedarfsdeckung der Menschen hinausgingen. Ein Wachstum der Bevölkerung gekoppelt mit einer Steigerung des Arbeitseinsatzes führte zu einer Erweiterung und Verdichtung marktmäßiger Aktivität (Produktion, Einkommen und Verbrauch), auf welche die spätere industrielle Erzeugung von Tuchen und Eisenwaren aufbauen konnte. In der Landwirtschaft ermöglichten größere Anbauflächen oder Unternehmenseinheiten höhere Skalenerträge. Seit dem späteren 17. Jh. war England damit in der Lage, einen wachsenden Anteil nichtlandwirtschaftlich tätiger Menschen und Marktproduzenten zu ernähren und einen steigenden Anteil an nichtlandwirtschaftlichen Gütern (Manufakturwaren) zu exportieren. Da der Mehrwert und die Preiselastizität der Nach368
frage nach Manufakturwaren höher ist als bei Halbzeugen, →Rohstoffen und Nahrungsmitteln, sicherte sich England dadurch langfristig günstigere terms of trade auf den Weltmärkten. Neuere Forschungen haben die Wachstumsraten der Wirtschaft, insb. in England, während der klassischen Durchbruchsphase der I. (ca.1760–1800) nach unten revidiert. Nur wenige ausgewählte Produktionsbereiche verzeichneten während der klassischen I. um 1800 signifikant hohe Wachstumsraten, und die fabrikmäßige Produktion breitete sich nur in wenigen Schlüsselsektoren (Eisen, Stahl, Textil) aus, während weite Bereiche der Wirtschaft auch noch lange nach 1800 handwerklich, kleingewerblich und teilweise in Heimarbeit organisiert blieben. Auch der Bau der ersten Eisenbahnen führte nicht zu einer Zurückdrängung, sondern im Gegenteil zu einer Erhöhung des „traditionellen“ Frachtverkehrs auf den Landstraßen und Kanälen, da nun mehr Güter von den Eisenbahnen zu den Endkunden im Hinterland transportiert werden mußten. Alle diese Aspekte unterstreichen den prozessualen Charakter der I. als langer Kette von Ereignissen und Kausalitäten. Der Prozeß der I. griff zwischen 1800 und 1914, insb. im Zeitalter von →Freihandel und →„Globalisierung“, um 1850 auf weite Teile Europas, Nordamerikas und Australiens über. Ein sich intensivierender Welthandel, der speziell um die Mitte des 19. Jh.s besonders hohe jährliche Wachstumsraten verzeichnete, führte zur Ausnutzung komparativer Vorteile, zu einer weltwirtschaftlichen Spezialisierung und einer Verbreiterung der industriellen Basis der Industrienationen durch die Existenz eines Weltmarktes für ihre Konsum- und Investitionsgüter. Eine gestiegene Bevölkerungszahl und ein wachsender Wohlstand der Menschen führten nicht nur zu einer gestiegenen Nachfrage nach Industriegütern, sondern damit auch zu einer Steigerung der Nachfrage nach industriellen Rohstoffen. Darüber hinaus führten ein intensivierter Technologietransfer und wachsende Auslandsdirektinvestitionen dazu, daß brit., später dt. und am. Technologien in der Textil- und Eisenproduktion, später auch im Maschinenbau, der Elektrotechnik und in der Chemie in weiten Teilen der Welt erhältlich wurden und angewandt werden konnten. Russ. Hochöfen wurden aus Belgien geliefert, dt. Lokomotiven kamen (vor 1850) aus England. Freilich führte die allg. Existenz industriellen und technischen Know-hows nicht zu einer automatischen Verbreiterung der industriellen Basis auf der Welt bzw. einer Nivellierung des Wohlstandsniveaus. Rohstofflieferanten, etwa →Argentinien (Fleisch), →Brasilien (Kaffee, Kautschuk), →Malaysia (Kautschuk), Südamerika (Salpeter, Erdöl) spezialisierten sich nach 1850 zunehmend auf die Versorgung der industriellen Zentren Europas mit Industrierohstoffen, wodurch bereits vor 1800 bestehende Zentrums-Peripherie-Beziehungen und ökonomische Asymmetrien, d. h. Wohlstands- und Entwicklungsdifferenziale nach 1800 weiter zementiert wurden. Felix Butschek, Industrialisierung. Ursachen, Verlauf, Konsequenzen, Wien 2006. Angus Maddison, The World Economy: A Millennial Perspective, Paris 2001. Toni
i n d u s triAli s i eru n g i n lAtei n A m eri k A
Pierenkemper, Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jh., Frankfurt/M. 1996. P HI L I P P RÖS S NE R
Industrialisierung in Lateinamerika. Im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern sowie den →USA begann die I. in →Lateinamerika spät. Sie setzte in den meisten Staaten der Region zu Beginn des 20. Jh.s ein, als erste Fabriken zur Herstellung von Textilien und Nahrungsmitteln errichtet wurden. In →Brasilien z. B. konnte auf dem Gebiet der Konsumgüter bereits Ende der 1930er Jahre eine beinahe vollständige Selbstversorgung gewährleistet werden. In den 1950er Jahren wurde die I. jedoch zum offiziellen Programm. Ausschlaggebend für das Umdenken der Eliten, die zuvor auf das Modell der „Entwicklung nach außen“ gesetzt hatten, war die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre sowie der →Zweite Weltkrieg. Die lateinam. Entscheidungsträger mußten während mehr als eines Jahrzehnts ohnmächtig zusehen, wie in Europa Absatzmärkte für ihre →Rohstoffe und Agrarprodukte durch die Verteuerung des →Transports oder Protektionismus wegbrachen. Die einseitige Ausrichtung der Ausfuhr auf die USA war ebenfalls mit hohen Risiken behaftet. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Raúl Prebisch und die CEPAL mit wissenschaftlichem Anspruch verkündeten, daß der Welthandel die Entwicklungsländer (→Entwicklung) systematisch benachteilige, förderte dies die Aufgabe der bis dahin gültigen wirtschaftspolitischen Prämissen durch die Eliten. Sie gaben das exportgeleitete Wachstumsmodell auf und sprachen sich für eine Import substituierende Industrialisierung (ISI) aus. Der wichtigste Akteur dabei war der Staat. Er sollte die Ausfuhr von Rohstoffen und Agrarprodukten überwachen und diese Sektoren ggf. besteuern oder quantitativ begrenzen. Den Import von Fertigprodukten sollte er durch hohe Zolltarife verkleinern. Eine ähnliche Funktion sollte der Aufwertung der einheimischen →Währung zukommen. Durch die massive Verteuerung ausländischer Produkte auf dem Binnenmarkt wurde ein starker Anreiz für das einheimische Unternehmertum geschaffen, mit vermehrten Anstrengungen den Binnenmarkt zu bedienen. Dies wurde oftmals mit günstigen Krediten gefördert. Der Staat selbst betätigte sich mitunter als (Monopol-)Unternehmer in der Schwerindustrie, der Energieversorgung, der Transport- und Kommunikationsbranche und der Kapitalgüterproduktion. Das Vorhandensein dieser Branchen galt als Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt. Schließlich wurden ausländische Investoren in technologieintensiven Bereichen (Chemie, Kfz.), die man nicht selbst aufbauen konnte, selektiv gefördert. Auch diesen Firmen wurden mittels Devisenkontrolle, staatlichen Beteiligungen und Arbeiterschutzauflagen strenge Auflagen gemacht. In der Praxis hielt kein Land in Lateinamerika über längere Zeit erfolgreich am vollen Programm der ISI fest. Auch die CEPAL modifizierte ihre Empfehlungen: Starke Exportsektoren sollten weiterhin als Devisenbringer gefördert werden. Um die wirtschaftliche Dynamik nicht abzuwürgen, sollte sich der staatliche Interventionismus auf die wichtigsten Schlüsselsektoren beschränken. Schließlich propagierten die
CEPAL-Technokraten subregionale Zusammenschlüsse (Mercado Común Centroamericano 1960, Pacto Andino 1969), um nach dem Vorbild der Europäischen Gemeinschaft in abgeschirmten Großräumen mit einer gelenkten Industrialisierung von economies of scale zu profitieren. Später folgte das Bekenntnis zur Bildungsförderung auf allen Ebenen sowie zur Verbesserung der Effizienz der Institutionen. In den meisten lateinam. Ländern sorgte die I., begünstigt durch staatliche Lenkungsmaßnahmen, ab den 1930er Jahren bis in die 1960er Jahre für teilweise spektakuläres Wachstum und dynamische Entwicklungen. Der industrielle Sektor erhöhte seine volkswirtschaftliche Bedeutung, während die Landwirtschaft diese Stellung einbüßte. Aber die Umstellung auf eine langfristig selbst tragende, binnenzentrierte Entwicklung scheiterte meist ebenso wie die Errichtung eines stabilen Systems der politischen Lenkung und des sozialen Ausgleichs. Einzig im großen Flächenstaat Brasilien gelang der Aufbau einer Industrie, die heute von Computersoftware bis zu Bekleidungsprodukten alles produziert und teilweise mit Erfolg exportiert. In den meisten anderen Ländern aber begünstigte das Modell der ISI Fehlentwicklungen, die schließlich zu seinem Scheitern führten: Zwar entstand ein lateinam. Unternehmertum; dieses neigte jedoch zu einem behaglichen rent-seeking. Insb. staatliche Monopolunternehmen arbeiteten ineffizient. Ihre Einrichtung war viel teurer als geplant, ihr Betrieb verschlang hohe Subventionen, die den Staatshaushalt belasteten. In einigen Staaten wie →Argentinien und →Chile mißbrauchten Militärs, die für die Machterhaltung der ökonomischen Eliten unentbehrlich waren, ihre einflußreiche Stellung im politischen System, um massive Gelder in den Aufbau von Kriegsmaterialproduktion zu lenken. Dies schuf zwar Arbeitsplätze, zugleich wurden aber Ressourcen gebunden, die in anderen Branchen eine produktivere Entwicklung hätten bewirken können. Staatlicher Hyperaktivismus war auch auf dem Gebiet der Regelung der Arbeitsbeziehungen und der Sozialgesetzgebung festzustellen. Insb. in den staatlichen Unternehmen, aber auch in anderen Großunternehmen schufen sich der Staat und die Eliten eine Klientel, die dank einer korporatistischen Einbindung relativ bevorzugt war. Aber den Großteil der durch Bevölkerungswachstum und Reformen im Agrarsektor ständig wachsenden „Reservearmee“ von Arbeitssuchenden, die den Prozeß der →Urbanisierung vorantrieb, vermochten diese Maßnahmen nicht zu absorbieren. Das Bevölkerungswachstum in Lateinamerika und der →Karibik von 167 (1950) auf 522 Mio. (2000) sorgte für ein soziales Problem, das mit dem ISI-Modell nicht gelöst werden konnte. Ein Großteil der Bevölkerung sah sich gezwungen, im Dienstleistungssektor sowie im informellen Sektor ihr Auskommen zu suchen. Die bedeutende Rolle des Staates begünstigte auch die Aufblähung der Verwaltung. Durch hohe Besteuerung der Ausfuhr (und der damit verbundenen sozialen Gruppen) raubten die Führungsgruppen dynamischen Branchen die Chance, die Exportwirtschaft mit nichttraditionellen Produkten zu differenzieren. So war der Staat zwar der entscheidende Entwicklungsagent, der eine wichtige Phase der nationalstaatlichen Verfestigung begleitete. Aber letztlich war es derselbe Staat, der schei369
i n d us t r i A l is i e r u n g i n s ü dA s i en
terte und ab den 1980er Jahren mit drastischen neoliberalen Maßnahmen saniert werden mußte. Externe Faktoren trugen entscheidend zur Umstellung auf das ISI-Modell bei. Interne Gründe waren für dessen Erfolge, aber auch Mißerfolge verantwortlich. Rosemary Thorp, Progress, Poverty and Exclusion, Washington 1998. T HOMAS F I S CHE R Industrialisierung in Südasien. Die I. in Südasien bzw. der wachsende Anteil der Erträge der verarbeitenden Industrien am Bruttoinlandsprodukt machte sich erstmals in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s und besonders nach dem Ersten Weltkrieg bemerkbar. Dem gegenüber steht eine Blüte der südasiatischen Handwerksproduktion bis in das 18. Jh. hinein, als die Region zu den weltweit führenden Produzenten gehörte. Der zentralisierte Staat des Mogulreichs (→Moguln) und dessen Wirtschaftsstruktur hatte, zusammen mit einer wirtschaftlichen Erholung in verschiedenen regionalen Kontexten, eine Verbreitung städtischer Siedlungsformen und Händlernetzwerke, sowie die Entwicklung eines Kreditwesens und eines umfangreichen Binnen- und Außenhandels ermöglicht; die Handwerkerschaft war praktisch in den Strukturen einer Art „Proto-I.“ tätig. Im 17. und 18. Jh. bedrohte die Dominanz der ind. →Seiden- und Baumwollindustrie (→Baumwolle) sogar den Bestand der aufstrebenden europäischen Spinnerei-, Weberei- und Textilbetriebe. Diese Situation änderte sich grundlegend durch die negativen Auswirkungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der brit. Kolonialherrschaft. Die sog. „De-I.“ war eine direkte Folge davon, daß →Indien der Hauptabsatzmarkt für brit. Industrieerzeugnisse, insb. auch für Textilien, wurde und so einheimischen Handwerkern die Existenzgrundlage entzogen und einheimische Handwerkszweige zu Grunde gerichtet wurden. Es wurde somit ein lang andauernder Prozeß, der durch die Kolonisierung Südasiens und die Integration der Region in das Weltwirtschaftssystem – als Rohstoffexporteur und Absatzmarkt für brit. Industrieprodukte – initiiert. Als Folge der bestehenden kolonialen Rahmenbedingungen wurde eine „zweite I.“ Südasiens besonders durch fehlende Schutzzölle gegenüber ausländischen Konkurrenzimporten und den Ausschluß vom brit. Finanzmarkt behindert. Die ersten Industriezweige, die sich im 19. Jh. entwickelten, waren zuallererst auf den Export ausgerichtet, wie z. B. die Textilindustrie in →Bombay und die Juteindustrie in →Kalkutta. 1854 wurde die erste Baumwollspinnerei und im folgenden Jahr die erste Juteweberei in Betrieb genommen. Diese Betriebe befanden sich allerdings überwiegend in brit. bzw. europäischem Besitz, was nur wenig Raum für einheimische Kapitalinvestitionen und Anteileignerschaft ließ. Zwar verfolgte der Kolonialstaat theoretisch eine liberalistische Laissez-faire-Politik, scheute sich aber nicht zu intervenieren, um die Sicherheit und Rentabilität der privaten europäischen Investitionen zu sichern. Die sich entwickelnden Industriestädte zogen Arbeitskräfte aus den ländlichen Regionen an und sorgten für einen stetigen Zustrom an Saisonarbeitern, die in den Ruhezeiten des agrarischen Zyklus in den Städten Beschäftigung suchten. Die Beschränktheit der I. Indiens in der Kolonialzeit läßt sich anhand der beinahe 370
statischen Verteilung der Beschäftigung zwischen 1881 und 1951 erkennen: in dieser Zeit arbeiteten 70 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft, 10 % in der verarbeitenden Industrie und 10–15 % im Dienstleistungssektor. Ungeachtet der Tatsache, daß J.R.D. Tata, einer der Pioniere der Entwicklung einer industriellen Infrastruktur in Indien, 1909 in Jamshedpur ein Stahlwerk gründete, betrug die durchschnittliche, industrielle Wachstumsrate zwischen den beiden Weltkriegen 3,5 % im Jahr. Technologische und infrastrukturelle Neuerungen und Investitionen blieben in dieser Zeit auf einem minimalen Niveau. Trotzdem war Indien am Ende des →Zweiten Weltkriegs den absoluten Zahlen nach der zehntgrößte Produzent für Industriegüter. Dietmar Rothermund, An Economic History of India, London ²1993. Colin Simmons, ‚De-industrialisation‘, Industrialisation and the Indian Economy, in: Modern Asian Studies 19, 3 (1985), 593–622. N ITIN VA R MA Influenza →Span. Grippe Informelles Empire. Bezeichnung für Gebiete, in denen eine Großmacht erheblichen politischen und/oder wirtschaftlichen Einfluß ausübte, ohne in den betr. Gebieten Strukturen direkter Herrschaft zu errichten. Diese Lösung ersparte der Großmacht die Kosten direkter Herrschaft und die mit ihr verbundene unmittelbare politische Verantwortung. Zum umfangreichen I. E. Großbritanniens gehörten viele südam. Staaten (v. a. →Argentinien, →Uruguay und →Brasilien). Großbritannien ließ sich in den Verträgen, mit denen es deren staatliche Unabhängigkeit von Spanien/Portugal anerkannte, umfassende Vorrechte im bilateralen Handel zusichern, was Südamerika für brit. Firmen hochinteressant machte. 1913 war z. B. in Argentinien (358 Mio. £) ähnlich viel brit. Kapital investiert wie in der →Südafrikanischen Union (370 Mio. £). Im Gegensatz zu direkter Kolonialherrschaft, die exklusiv von einer Großmacht ausgeübt wurde, konnten bei informeller Herrschaftsausübung bei entspr. Absprachen mehrere Großmächte ihre wirtschaftlichen Interessen im selben Gebiet verfolgen. Das galt für →Siam, das Osmanische Reich und – nach dem Opiumkrieg (→Opium) – für China. In Südamerika minimierte die Einflußnahme im Rahmen des I. E. das Risiko einer Auseinandersetzung mit den →USA. Deren I. E. bildete seit 1898 →Kuba, dessen Wirtschaft von US-Firmen dominiert wurde. Auch in anderen Staaten Mittelamerikas (z. B. Dominikanische Rep., →Panama) machten die USA ihren beherrschenden Einfluß geltend. Japan baute seit dem ausgehenden 19. Jh. schrittweise ein I. E. über weite Teile Chinas auf. Matthew Brown (Hg.), Informal Empire in Latin America, Oxford 2008. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus, München 52006. Robin W. Winks, On Decolonization and Informal Empire, in: The American Historical Review 81 (1976), 540–556. CH R ISTO PH K U H L Infrastruktur →Dt. Posteinrichtungen i. Übersee, →Eisenbahnwesen i. d. dt. Kolonien, →Telekommunikation, →Transport
i n kA , A d el d er
Ingenio, der (Span.: el ingenio; Port.: o engenho). Grundform der neuzeitlichen Plantage. Als →hacienda (span.), plantation (engl.), habitation (frz.), plantage (ndl.) Betriebsgrundform der Exportwirtschaften in am. Territorien der →Sklaverei. I. („Ingenium“), mit dem gleichen Wortstamm wie „Ingenieur“, verweist auf die Anwendung komplizierter, über die normale bäuerliche Ausstattung mit Technik hinausgehender Maschinen (Mühle, Presse) und Anlagen (Siedereien). Deren Grundform ist die durch Menschenhand oder Vieh angetriebene Mühle (Ölmühle, Getreidemühle, Zuckermühle), zunächst mit einem großen Rad, dann mit horizontalen Holzwalzen (zwei-drei), horizontalen Walzen aus Metall sowie schließlich vertikalen Walzen aus Metall (bis ca. 1880) und verschiedene großindustrielle Weiterentwicklungen. Die sog. „Westwanderung des →Zuckers“ (Edmund O. von Lippmann) wurde in der älteren Geschichtsschreibung mit Latifundium, Massensklaverei und schon im Mittelmeer ausgeprägter Mühlentechnik verbunden. Neuere Forschungen v. a. der span. und port. Zuckergeschichtsschreibung erbrachten, daß sowohl Latifundien als auch Masseneinsatz von Sklaven in einer von Europäern dominierten Exportlandwirtschaft und neue Mühlentechniken erst in der atlantischen Expansion Europas aufkamen. Zusammengefaßt wurden sie unter einer Grundstruktur der entstehenden atlantischen Wirtschaft, eben dem →Engenho oder I. „Erfunden“ wurde der I. auf der Insel São Tomé (→São Tomé und Príncipe) im Golf von →Biafra zwischen 1490 und 1520. Elemente und Vorleistungen waren auf Madeira (Zuckersiedereien, Mühlen, Zuckermeister) und den Kanaren (Latifundien) entstanden. Während Zuckerproduktion in der „Westwanderung des Zuckers“ übers Mittelmeer (10.–15. Jh.) immer an bäuerliche Produktion mit entspr. eher kleinen Landgrößen, wenigen Sklaven und Subsistenzproduktion gebunden war, kamen auf São Tomé erstmals alle Elemente für die Entstehung der ersten I., die auf der Insel wahrscheinlich roças hießen, zusammen: massiver Import von Kriegsgefangenen (cativos) aus dem Kongoreich, die von den Portugiesen zunächst in afr. Handelsnetzen gegen Gold an die Goldküste (El Mina) oder nach →Benin geliefert wurden, und die natürlichen Bedingungen, die eine Zuckerrohrlandschaft ausmachen (eine gut beregnete und fruchtbare Ebene in der Nähe der Küste). Nach den Erfahrungen mit der enormen Nachfrage nach Zucker von Madeira u. a. atlantischen Insel kamen v. a. iberische und italische Investoren, die zugleich kgl. Privilegien hielten (Sklavenlizenzen und Bodenschenkungen), auf die naheliegende Idee, afr. Kriegsgefangene auf der Insel zu halten und als Zuckersklaven einzusetzen. Damit setzte eine massive →Transkulturation (Arbeit, Diät, Krankheiten, Sprachen, Religion) ein. São Tomé wurde der Ausgangspunkt für ähnlich I.-Komplexe auf Hispaniola und, verbunden mit massivem Direkthandel von Sklaven aus Afrika in die →Karibik sowie den Südatlantik (→Buenos Aires ab ca. 1570), im Hinterland von Städten an der Küste des heutigen →Brasilien (1570–1660; →Bahia, Recife, →Pernambuco). Von dort breiteten sich I.s nach der Vertreibung der Niederländer aus Brasilien in die Karibik aus, zunächst v. a. nach →Barbados, der engl. Experimentalinsel, in der gang-
work engl. Sträflinge in der Zuckerproduktion mit afr. Sklaven angewandt wurde. Auch bessere Logistik sowie technische Verbesserungen in der Mühlen- und Siedetechnik kamen auf. Damit entstand die Plantage i. e. S. Von Barbados verbreitete sich der I. / die Plantage über die engl. Karibik (West Indies), die Carolinas, Georgia (→Reis-Zuliefererplantagen; Holz, Vieh), die ndl. (→Essequibo, Suriname, Demerara) und frz. Karibik (→Martinique, Guadaloupe, Saint-Domingue), wo die Betriebsform habitation Grundlage für die effizienteste Export- und Sklaverei-Agrikultur der atlantischen Welt des 18. Jh.s wurde. Nach der Revolution der Sklaven und freien Farbigen auf Saint-Domingue (1791–1803), die bis 1820 zum endgültigen Ruin der großen Exportwirtschaft führte, kam es in der „2. Sklaverei“ in Westkuba (Cuba grande) und, mit Abstrichen, in Puerto Rico (1790/1815–1860/1886) zu einem spektakulären Boom der I.s, die →Kuba an die Spitze der technologisch, technisch und organisatorisch modernsten Agrarkomplexes der Welt brachten. Das Kapital wurde im wesentlichen im Sklavenhandel und ab 1820 (Verbot des atlantischen Sklavenhandels) im Menschenschmuggel aus Afrika sowie im →Kulihandel aus China generiert. Insg. hatten in den Amerikas in der Zeit der Sklaverei von 1520 bis 1888 ca. 12–15 Plantagen- und Sklaverei-Gesellschaften existiert. Um 1870 kam es unter Druck der europäischen Rübenzuckerkonkurrenz, der indonesischen ZuckerrohrKonkurrenz, der antikolonialen Bewegung auf Kuba und dem Widerstand der Sklavinnen und Sklaven zu einer neuen Stufe der Modernisierung. Es entstanden riesige Agrarfabriken auf den Zuckerrohrfeldern (centrales), die z. T. Latifundien blieben, z. T. an freie Pächter (colonos) vergeben wurden. Diese Agrargroßwirtschaft überstand die Abolition 1886, verschiedene Kriege und Krisen. Erst um 1920 wurde der Gesamtkomplex von US-am. Firmen und Investoren übernommen. Im Grunde überstand der Zuckerkomplex aber alle Revolutionen, Agrarreformen und Krisen bis um 2000, als auf Kuba und in der weiteren Karibik (Dominikanische Rep.) die Agrarfabriken wegen mangelnder Rentabilität und Konkurrenzfähigkeit gegenüber US-am. Mais-Zucker und Zucker aus Brasilien (die Betriebe beruhen auf ähnlichen Grundlagen wie die karibischen Zuckerwirtschaften) geschlossen wurden. Adela Fábregas García, Del cultivo de la caña al establecimiento de las plantaciones [Von der Kultivierung des Zuckerrohrs bis zur Anlage der Plantagen], in: Região Autónoma da Madeira (Hg.), História e tecnologia do açúcar, Funchal 2000, 59–85. Manuel Moreno Fraginals, El Ingenio, 3 Bde., Havanna 1978 (ND Barcelona 2001). Michael Zeuske, Die Geschichte der Amistad. Sklavenhandel u. Menschenschmuggel, Stuttgart 2012. MICH A EL ZEU SK E
Inka, Adel der. An der Spitze der geschichteten Gesellschaft des präkolumbischen Inkastaates stand der Inka-Herrscher, gefolgt vom inkaischen Geburtsa., dem Verdiensta. und einer nicht-inkaischen A.schicht, deren Angehörige aus den unterworfenen Regionen des →Inkareichs stammten. In der politischen und religiösen Ämterhierarchie des Inkastaates bekleideten die nächsten männlichen Verwandten des amtierenden Inka-Herr371
i n kA r e ic h
schers die höchsten Positionen. Der A. residierte in der Hauptstadt →Cuzco und auf Landgütern in der näheren Umgebung. Jeder Inka-Herrscher begründete eine neue Dynastie, weshalb zur Zeit der span. Conquista zwölf solcher Kg.s-Lineages in Cuzco ansässig waren. Die Familienverbände ehem. Herrscher bewohnten jeweils eigene Palastbauten, verwalteten das Erbe ihres Ahnherren und übernahmen die Betreuung der jeweiligen Inka-Mumien. Einzelne Mitglieder dieser A.familien fungierten darüber hinaus als Medien, die Orakelsprüche des verstorbenen Ahnherren wiedergaben. Zu jeder kgl. Abstammungsgruppe gehörten bestimmte Kultstätten, die in Cuzco und Umgebung entlang imaginärer Linien, den sog. Ceques lagen. Als Folge dieser religiösen und wirtschaftlichen Autonomie der einzelnen A.familien, verfügten die Dynastien auch über jeweils eigene historische Traditionen, die das Wirken ihres Ahnherren in günstiges Licht rückte. Es existieren somit mehrere, miteinander konkurrierende Versionen der Inka-Geschichte. Nach der span. →Eroberung 1532, konnte der A. seine Vormachtstellung gegenüber anderen Gruppen der indigenen Nobilität behaupten. Als Abkömmlinge früherer Inka-Herrscher genossen die Angehörigen der A.familien in der Kolonialgesellschaft weit größere Privilegien als die Nachfahren nicht-inkaischer A. Mehrere Conquistadoren, darunter auch ihr Anführer Francisco →Pizarro, gingen Verbindungen mit sog. „Inka-Prinzessinnen“ ein, d. h. mit Angehörigen der inkaischen Kg.sfamilien. Diese Beziehungen brachten einige Persönlichkeiten hervor, die in der Geschichte des →Vize-Kgr.s →Peru eine bedeutende Rolle spielten. Berühmtheit erlangte der Autor →Garcilaso de la Vega (1539–1615) mit seinen Geschichtswerken über das Inkareich und das koloniale Peru. Bis 1572 bestand in einem Rückzugsgebiet am Ostabhang der Anden noch eine Inka-Schattenherrschaft. Nach der Eroberung dieser Enklave wurde der letzte Inka Tupac Amaru in Cuzco hingerichtet. Ein wohlhabender Nachfahre aus dieser Linie, José Gabriel Condorcanqui, konnte 1780 als Tupac Amaru II. in der großen Rebellion gegen die span. Kolonialherrschaft die indigenen Volksmassen mobilisieren. Udo Oberem, Das Inkareich unter politischem, sozialem und wirtschaftlichem Aspekt, in: Ulrich Köhler (Hg.), Altamerikanistik, Berlin 1990, 467–491. Ders., Die Conquista und Indianer unter span. Herrschaft, in: ebd., 493–517. I RI S GARE I S Inkareich. Ausgehend von der Hauptstadt →Cuzco errichteten die Inka in nur ca. 100 Jahren das größte präkolumbische Reich. Es erstreckte sich vom heutigen →Kolumbien bis nach Mittelchile fast über die gesamte Westflanke Südamerikas. In der Staatsprache Quechua hieß es Tawantinsuyu, Reich der „vier zusammengehörenden Teile“. Im Zentrum der vier Reichsteile lag die Reichshauptstadt Cuzco. An der Spitze stand der als Sapan Inka (alleiniger Inka) bezeichnete Inka-Herrscher. Er galt als Sohn des Sonnengottes und genoß göttliche Verehrung. Ihm zur Seite standen die Verwalter der vier Reichsteile und ein oberster Priester, meist ein naher Verwandter des Inka-Herrschers, der die Priesterhierarchie anführte. Nach der Unterwerfung eines Gebietes ergrif372
fen die Inka Maßnahmen zur Konsolidierung und zur Eingliederung ihrer Erwerbungen in das Staatsgefüge. Neben der Staatssprache (Quechua) und dem Staatskult (Sonnenkult), führten sie ihre Version der Mit’a, der turnusmäßigen Arbeitsleistung in den eroberten Gebieten ein. Sie bauten das Wegenetz aus, auf dem sie Läuferstaffeln einsetzten, um eine schnelle Kommunikation in dem riesigen Reich zu gewährleisten. Ein Teil der nichtinkaischen Bevölkerung wurde aus ihren ethnischen Verbänden herausgelöst und direkt dem I. unterstellt. Die sog. Yanakuna (Pl. von Yana) verrichteten Feldarbeit und erbrachten Dienstleistungen verschiedener Art. Sie versorgten die Mitglieder der in Cuzco ansässigen InkaDynastien. Eine zweite Gruppe, die Accllakuna (Pl. von Acclla) oder „Auserwählten“, waren junge Frauen, die im gesamten Reich ausgehoben wurden. Sie lebten kaserniert unter Betreuung der Mamakuna, älterer Frauen, die ebenfalls das Gebot der Keuschheit beachten mußten. Auch die Acclla gehörten nicht mehr zu ihrer ethnischen Gruppe, sondern waren als „Sonnenjungfrauen“ direkt dem Inka unterstellt. Kontakt mit Männern war streng untersagt. Die Frauen lebten in eigens für sie errichteten Häusern und stellten ununterbrochen Maisbier u. andere Opfermaterialien her, v. a. feingewebte Textilien, die im I. hohen Prestigewert besaßen. Sie dienten als Opfergaben für die zahlreichen Gottheiten und wurden vom Inkaherrscher an die →Kuraka, die Anführer der lokalen ethnischen Gruppen, als Gnadenerweis vergeben. Sowohl Accla, als auch Yana arbeiteten also direkt dem I. zu und versorgten den Inka mit den nötigen Mitteln, um sich weitere Gefolgsleute zu sichern. Insg. verstanden es die Inka meisterhaft, sich bereits vorhandener Organisationsstrukturen zu bedienen, um ihre Herrschaft über das Andengebiet zu konsolidieren. Udo Oberem, Das Inkareich unter politischem, sozialem und wirtschaftlichem Aspekt, in: Ulrich Köhler (Hg.), Altamerikanistik, Berlin 1990, 467–491. IRIS G A R EIS Institut Colonial International. Das privat und durch Subventionen der wichtigsten europäischen Kolonialstaaten finanzierte Brüsseler Institut war eine frühe, wissenschaftlichen Zwecken dienende nichtstaatliche internationale Organisation. Es nahm die Rolle eines Forums internationaler Kommunikation in kolonialen Fragen ein, wobei die Satzung vorsorglich jede Diskussion oder Abstimmung über Fragen des politischen Tagesgeschehens untersagte. Zu seinen praxisorientierten Aufgaben gehörte die wissenschaftlich fundierte, durchaus interdisziplinär angelegte Untersuchung und Kommentierung des gesamten Spektrums kolonialpolitisch relevanter Themen und Vorhaben (Finanzen, →Recht, Verwaltung, Wirtschaft). Darüber hinaus bezweckte die Vereinigung eine Förderung des internationalen Austausches zwischen Vertretern der verschiedenen Kolonialnationen. Der Vorschlag zur Schaffung eines internationalen →Kolonialinstituts stammte von dem frz. Kolonialpolitiker und Publizisten Joseph ChailleyBert. Am 6.10.1893 fand ein Vortreffen in Paris statt. Die Gründung erfolgte am 8.1.1894 in Brüssel. Den belg., brit., frz. und ndl. Mitgliedern schlossen sich im Laufe der Jahre Vertreter u. a. Deutschlands, Italiens, Japans,
in tern Ati o nA les m i li tÄ rtri bu nA l to k i o
Portugals, Rußlands, Spaniens und der →USA an. Unterschieden wurden (bis 1927) ordentliche, das heißt stimmberechtigte, assoziierte und korrespondierende Mitglieder. Der elitäre Kreis der ordentlichen Mitglieder wählte die neuen ordentlichen und assoziierten Mitglieder. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder war zunächst auf 60, später 70 beschränkt. Zur Gewährleistung der Internationalität wurde die Verteilung zwischen den verschiedenen Nationalitäten durch einen Schlüssel festgelegt. Organisatorisch wurde das I. durch ein Büro repräsentiert, das sich aus dem am Ende jeder Session neugewählten Präsidium (bestehend aus einem Präs. und mehreren Vize-Präs.) und dem auf fünf Jahre gewählten Generalsekretär zusammensetzte. Als Generalsekretäre amtierten 1894–1926 der ehem. Gen.-gouv. des Kongo-Freistaats Camille Janssen und 1926–1950 der belg. Kolonialbeamte Octave Louwers. Laut Satzung veranstaltete das I. jährlich eine Zusammenkunft in einem der beteiligten Länder, in der Praxis variierte die zeitliche Abfolge der insg. 24 Haupttagungen zwischen 1894 und 1939. 1948 wurde das I. in Institut International des Sciences Politiques et Sociales Appliquées aux Pays de Civilisations Différentes, 1951 in Institut International des Civilisations Différentes umbenannt (1982 aufgelöst). JAN HE NNI NG BÖT T GE R
Inter cetera. Die päpstliche →Bulle „Inter cetera divinae“ schloß an den Vertrag von Alcáçovas (1479) und an die Bulle Aeterni regis (1481) an. In diesen Dokumenten hatte sich Portugal die Oberhoheit über alle Gewässer und Ländereien südlich von Kap Bojador (→Westsahara) inkl. der Kapverdischen Inseln zusichern lassen. Spanien hatte lediglich die Kanarischen Inseln erhalten. Nach der Entdeckung des (für →Indien gehaltenen) →Amerika durch Christoph →Kolumbus (1492) wollte Spanien, daß der Papst diese westlichen Länder seiner Einflußzone zuschlage. Tatsächlich legte die neue Bulle Papst Alexanders VI. am 4.5.1493 die Trennungslinie zwischen dem span. und dem port. Machtbereich auf ca. 480 km (100 Leguas) westlich der Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung fest. Portugal erhielt dadurch die Kontrolle über den zukünftigen Seeweg nach Indien entlang der afr. Küste sowie die Rechte am einträglichen Gewürzhandel (→Gewürze) im pazifischen Raum (und prinzipiell ganz Asien). Bereits 1494 einigten sich die Portugiesen, denen die Lage →Brasiliens einigermaßen bekannt war, mit Spanien im Vertrag von Tordesillas auf eine westlichere Grenzlinie auf 46°37’ westlicher Länge, die heutzutage zwischen →Rio de Janeiro und Brasilia verlaufen würde. Mithin fiel später Brasilien an Portugal. Da eine Benachteiligung der (noch) relativ kleinen Seemächte England, Frankreich und Holland durchaus beabsichtigt war, lehnten diese die Interessenabgrenzungen gänzlich ab. 1750 wurde die inzwischen realitätsfern gewordene Demarkationslinie im Vertrag von Madrid aufgehoben. H. Van der Linden, Alexander VI. and the Demarcation of the Maritime and Colonial Domains of Spain and Portugal 1493–1494, in: American Historical Review 22 (1916), 1–20. CHRI S T I AN HANNI G
Internationales Militärtribunal Tokio (IMT). Von Dez. 1941 bis Mai 1942 eroberte jap. Militär zahlreiche am. und europäische imperiale Besitzungen in Ostasien und im Pazifik. Japan, das schon 270 Mio. Menschen in Korea, Taiwan, Manchuko und China unterworfen hatte, fügte diesen weitere 146 Mio. ehem. kolonialer Untertanen hinzu. Ein Nebenergebnis dieses Blitzkriegs waren mehr als 132 134 europäische und asiatische Gefangene, auf deren Unterbringung und Versorgung die Sieger nicht vorbereitet waren. Hinzu kamen zivil internierte Männer, Frauen und Kinder. Die jap. Eroberer hofften, daß die propagierte Ideologie von Japan als Befreier und Führer Asiens die unterworfenen asiatischen Völker zu Verbündeten machen würde. Sie ließen asiatische Gefangene in ihre Heimat zurückkehren. Für Überseechinesen dagegen, besonders wenn sie gegen Japan gekämpft hatten, gab es wenig Überlebenschancen. Im März 1942 wurden in →Singapur 30 000 chin.-stämmige Einheimische erschossen. Filipinos teilten anfangs das Schicksal der Amerikaner. Auf dem Bataan-Todesmarsch starben zwischen 5 000 und 10 000 der 62 100 Filipinos. Von den 9 921 Amerikanern starben 650. Nach Ende des Pazifikkrieges zogen die Alliierten die verantwortlichen Japaner hierfür zur Rechenschaft. Parallel zu den Planungen für das internationale Kriegsverbrechertribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in →Nürnberg bereiteten die am Pazifikkrieg beteiligten Alliierten ein ähnliches Verfahren in Tokio vor. Hier sollte das Prozeßrecht der →USA gelten, wie überhaupt – anders als in Nürnberg – die USA dominierten. Die Verhandlungssprache war Englisch, alle Dokumente wurden ins Englische übersetzt und vervielfältigt. Für die Geschichtsschreibung des Pazifischen Krieges und namentlich die →Eroberungs- und Besatzungspolitik Japans und seiner Sympathisanten, Kollaborateure und Nutznießer, sowie die Behandlung der Kriegsgefangenen stellen die geschilderten Quellen in ihrer engl. Übersetzung – trotz ihrer Zeitgebundenheit hinsichtlich der Anklagepunkte – einen unverzichtbaren Beitrag dar. Der zweieinhalbjährige Prozeß in Tokio unterlag von Anfang an den politischen Kalkulationen von General Douglas MacArthur, der Ks. Hirohito für „exempt“ von allen Verfolgungen stellen wollte. Wenn heute vermutet wird, daß es ihm nur um die Kriegsgreuel in den besetzten Gebieten und nicht um Rache und Vergeltung (maga), sowie die Entlarvung der militaristischen Vergangenheit ging, so greift das zu kurz, denn die Zerschlagung des Militarismus und der Aufbau eines demokratischen Japans waren ein primäres Kriegsziel der USA. Erst im heraufziehenden Kalten Krieg trat dies zugunsten eines „reverse course“ in den Hintergrund, der dem Antikommunismus diente. So wurden die als Kriegsverbrecher hingerichteten Militärs auf dem Heldenfriedhof der Gefallenen beigesetzt und jährlich geehrt. Damit erklärt sich das gebrochene Bild der am. Einflüsse. In dem Prozeß zeigte sich deutlich, wie sehr sich Japan von seinen Regularien für die Behandlung von Kriegsgefangenen vom Febr. 1904 entfernt hatte. Die damals gefangenen 80 000 russ. Soldaten wurden exemplarisch gut behandelt. Tokio trat der Haager Konvention von 1907 sowie der →Genfer Konvention von 1929 bei. Doch spätestens im chin.-jap. „Konflikt“ zeigten sich ab 373
i q bA l , mu h A m mA d
1931 völlig veränderte Haltungen und Praktiken. Nicht zuletzt mit der Begründung, es sei kein Krieg, rechtfertigten Militär und Polizei schwere Bestrafungen (genjushobun) und Bestrafung auf der Stelle (genchi-shobun), womit →Massaker gerechtfertigt wurden. Ab 1941 schulten die Ausbilder das Militär in brutalen Praktiken mit dem Hinweis, daß im Krieg alle Opfer bis zum Tod für den Ks. erbracht werden müßten. Als Schlüsselfiguren der Brutalisierung stellte der Prozeßverlauf den jap. Premierminister Hidedki Tojo, zugleich Kriegsminister, sowie Generalleutnant Mikio Uemara, Kopf des Informationsbüros für Kriegsgefangene, heraus. Worin die Veränderung bestand, hatte letzterer auf den Punkt gebracht: „In the war with Russia we gave them excellent treatment in order to gain recognition as a civilized country. Today no such need applies“ (Blackburn / Hack, 14). Hinzu kam noch eine weitere Entwicklung. Schon im Russ.-Jap. Krieg war die Samuraitradition übernommen worden, wonach für einen jap. Soldaten der Tod der Kapitulation vorzuziehen sei. Entspr. waren auch keine einheitlichen Anweisungen für die Gefangenenbehandlung erlassen worden. Tokio ordnete z. B. →Zwangsarbeit an der Thailand-Birma Eisenbahnstrecke bei geringen Rationen und unzureichender medizinischer Versorgung an. Das Tribunal stellte sehr große Unterschiede auch in der Behandlung gefangener Zivilisten fest (→Indian National Army). Die ehemals besetzten Länder betrachten die Verbrechen der jap. Okkupanten durch die vom IMT verhängten Urteile nicht als gesühnt. Daher wirken diese Verbrechen bis heute als zu klärende bilaterale Belastungen fort. Kevin Blackburn / Karl Hack, Forgotten Captives in Japanese Occupied Asia, London 2008. R. John Pritchard (Hg.), The Tokyo War Crimes Trial, 27 Bde., New York 1981. WI L F RI E D WAGNE R Inuit →Eskimo Iqbal, Muhammad, * 9. November 1877 Sialkot, † 21. April 1938 Lahore, □ Grabmal zwischen der BadshahiMoschee und dem Lahore Fort, musl. Dichter und Philosoph. Ältester Sohn einer sehr frommen Familie. Studierte in Lahore, lernte die engl. Romantiker kennen und schrieb bald selbst romantische und nationalromantische Gedichte. Ging 1905 nach Cambridge, um Philosophie und Jura zu studieren, dann nach Heidelberg und München, wo er 1907 promovierte. Der direkte Kontakt I.s mit der Geistes- und Lebenswelt Europas führte ihn zu einer Auseinandersetzung mit und Rückbesinnung auf die eigene Kultur „des Orients“. Vor diesem Hintergrund entwickelte er ein Sendungsbewußtsein gegenüber den zeitgenössischen islamischen Gesellschaften, diese Rückbesinnung im Sinne einer umfassenden sozialen Regeneration aufzufassen. I. verlor dabei jedoch nie seine Bewunderung für einige Größen der europäischen Geistesgeschichte, wie z. B. Goethe und Nietzsche. Seine Philosophie ist geprägt vom mystischen →Islam (→Sufismus), einer panislamischen Romantik und vom faustischen Ideal der Selbstverwirklichung. Diese Ideen verbreitete er fortan in seiner Poesie, sowohl auf Persisch, als auch auf →Urdu, und auch in seinem politischen 374
Denken. Seit 1927 war I. in →Indien politisch aktiv. In seiner Eröffnungsrede der Jahreshauptversammlung der →Muslim League Ende 1930 plädierte er für eine Zusammenlegung der mehrheitlich musl. Provinzen Nordwestindiens. Dies gilt in →Pakistan als Geburtsstunde der pakistanischen Idee (→Pakistan-Bewegung); I. bestritt dies jedoch 1933. Er war 1931/32 Teilnehmer an den Round-Table-Konferenzen in London zur Zukunft Brit.-Indiens (→British Raj) und 1933 Mitbegründer der Universität Kabul. I.s großer Einfluß besonders in Pakistan besteht jedoch in seiner Philosophie der Selbstverwirklichung, nach der gerade der Islam den Menschen zur Eigenständigkeit und immer weiter wachsenden Persönlichkeitsbildung anleite. Damit schuf er die Idee eines musl. Bürgertums. In Rechtsangelegenheiten war I. eher liberal und für eine Neuinterpretation des religiösen →Rechts, gesellschaftlich jedoch konservativ. Er gilt heute als Nationaldichter Pakistans. Muhammad Iqbal, Botschaft des Ostens, hg. v. Annemarie Schimmel, Tübingen / Basel 1977. Annemarie Schimmel, Muhammad Iqbal, München 1989. Iqbal Singh, The Ardent Pilgrim, Delhi 1997. STEPH A N PO PP Iroj (dt. auch Irodsch) →Marshallinseln Irokesen-Föderation. Ein Zusammenschluß von zunächst fünf, später sechs autochthonen Nationen in Nordamerika. Sie waren in matrilinearen Lineages organisiert und lebten in Dörfern südlich des Ontariosees. Durch europäische Krankheiten erlitten die Irokesen im 17. Jh. große Bevölkerungsverluste, die sie anders als andere indigene Nationen durch die Adoption von Gefangenen z. T. ausgleichen konnten. Mitte des 17. Jh.s sprechen zeitgenössische Beobachter davon, daß die Zahl der Adoptierten kaum geringer als die Zahl der gebürtigen Irokesen sei. Neben der Adoption von Gefangenen diente die intensivierte Kriegsführung gegen benachbarte autochthone Nationen (u. a. →Huronen, Erie) der Ausschaltung indigener Konkurrenten im →Pelzhandel. Wenn auch die Bemühungen der Irokesen letztlich scheiterten, den Zwischenhandel im Pelzhandel mit den Europäern zu monopolisieren, so waren sie doch bis zur Mitte des 18. Jh.s der wichtigste indigene Machtfaktor in der frz.-engl. Konkurrenz um den Nordosten Nordamerikas. Während die Mohawks, die östlichste Nation der I.-F., traditionell enge Verbündete der Europäer in New York waren, bemühten sich die weiter westlich siedelnden Nationen auch um ein gutes Einvernehmen zu den Franzosen, insb. nachdem in den 1660er Jahren reguläre frz. Truppen in das Irokesenland vorgedrungen waren, ohne daß dies jedoch die Handlungsfähigkeit der I.-F. wesentlich einschränkte. Der große Friedensschluß zwischen Franzosen und Irokesen zu Beginn des 18. Jh.s sah die I.-F. auf dem Höhepunkt ihrer Machtposition im nordöstlichen Waldland, zumal sie im selben Jahr auch ihr Bündnis mit den Engländern in New York festigten. Mit Hilfe der →Jesuiten gelang es den Franzosen in den letzten Jahrzehnten des 17. Jh.s, einzelne Gruppen von Irokesen zu einer Ansiedlung nahe der frz. Siedlungen am St. Lorenz Strom zu bewegen, wo sie die Südflanke der Nouvelle France schützten. Die Ew. dieser Missions-
is Abel m o ctezu m A
siedlungen entwickelten in der Folge eine eigenständige Ethnizität (→Ethnie) und waren im 18. Jh. die wichtigsten indigenen Verbündeten der Franzosen in den Auseinandersetzungen mit den Engländern. Daniel K. Richter, The Ordeal of the Longhouse, Chapel Hill 1992. F RANZ - JOS E P H P OS T Isabel Moctezuma, * wohl 1509 Tenochtitlán, † wohl 1551 Mexiko-Stadt (ehem. Tenochtitlán), □ San Agustín in Mexiko-Stadt, autochthon, ab 1521 rk. Die spätere I. M. dürfte zu den herausragenden Frauenfiguren der mexikanischen Geschichte zählen. Sie wurde 1509 oder 1510 als erstes Kind des Herrschers der Mexica, →Moctezuma II. (Moctezuma Xocoyotzin) und seiner legitimen Ehefrau Teotlachco geboren und führte den Namen Tecuichpochtzin („kgl. Baumwollblüte“). Für ihren weiteren Lebensweg war von Bedeutung, daß sie in eine Gesellschaft hineingeboren wurde, die – wie die span. Gesellschaft dieser Zeit – zwischen Adeligen, den pilpitin, und Nicht-Adeligen unterschied und ihr einen herausragenden sozialen Status zuwies. Dieser sollte auch ihr Leben nach der →Eroberung →Mexikos durch die Spanier bestimmen. I. M. wurde früh und im Sinne der aztekischen Thronfolge verheiratet, in der Brüder und Onkel dem Herrscher als Kg.e nachfolgten. Es ist unklar, ob sie bei der Ankunft der Spanier – wie in Texten vielfach behauptet – tatsächlich mit Atlixactzin verheiratet war, der Sohn ihres Großonkels und der designierte Nachfolger ihres Vaters war. Mutmaßlich kehrte sie nach dessen Tod in den väterlichen Haushalt zurück. Dort lebte sie schon bald mit Moctezuma II. als Gefangene der Spanier. Nach dem Tode ihres Vaters heiratete sie im Juni 1520 den neuen Herrscher der Mexica, ihren Onkel Cuitláhuac. Als dieser wenig später als eines der prominentesten Opfer der Pockenepidemie (→Pocken) in Mexiko-Tenochtitlán starb, wurde I. M. mit ihrem Cousin Cuauhtémoc verheiratet, der die Nachfolge von Cuitláhuac angetreten hatte. Mit Cuauhtémoc kam sie am 15.8.1521 in span. Gefangenschaft. Span. Chroniken zufolge übergab er seine Ehefrau und ihre Hofdamen an Hernán →Cortés mit der Bitte, sie mögen ihrem Stande gemäß behandelt werden. Während ihr Ehemann verhört, gefoltert, von Cortés auf den Feldzug nach Honduras (1524–1526) verschleppt und ermordet wurde, blieb I. M. in Mexiko-Tenochtitlán. 1521 wurde sie getauft und hieß von nun an Isabel, möglicherweise zu Ehren der span. Kg.in Isabel. Als Nachname diente der Name ihres Vaters, mit dem sie sich als Tochter eines tlatoani (Kg.) und als Mitglied des indigenen Hochadels auswies. Mit der Anerkennung von Moctezuma II. als „rey natural“ durch die span. Krone waren für die Nachkommen besondere Privilegien verbunden, von denen v. a. I. M. profitierte. Sie galt als das einzig noch lebende legitime Kind von Moctezuma II. und wurde zu seiner Haupterbin. So konnte ihr Cortés im Juni 1526 das Dorf Tacuba als erbliche →Encomienda zusprechen. Dieser Landbesitz und seine Bewohner stellten nur einen Bruchteil der Ländereien und der Tributpflichtigen ihres Vaters dar, dennoch machten sie aus I. M. eine äußerst vermögende Frau: Mitte des 16. Jh.s war dies die größte Encomienda im →Vize-Kgr. Neuspanien, die I. M. ein beträchtliches
Jahreseinkommen und attraktive Mitgift sicherte. So ausgestattet heiratete sie im Juni 1526 den Hauptmann Alonso de Grado. Für Grado dürfte diese von Cortés arrangierte Eheschließung eine Auszeichnung gewesen sein, während I. M. endgültig Teil der span. Gesellschaft Mexikos wurde. Die Ehe blieb kinderlos, Alonso de Grado starb 1528. I. M. zog nun in den Haushalt von Cortés, in dem bereits zwei ihrer Schwestern als seine Konkubinen lebten: Die Töchter Moctezumas II. waren zu Beweisen der neu erworbenen Macht des Conquistadors geworden. 1529 wurde I. M. von Cortés mit seinem Gefolgsmann Pedro Gallego de Andrade verheiratet. Sie war zu diesem Zeitpunkt von Cortés schwanger, der die gemeinsame Tochter Leonor Cortés Moctezuma nicht bei der Mutter, sondern bei einem männlichen Verwandten aufwachsen ließ. Aus der Ehe mit Gallego de Andrade ging 1530 ein Sohn hervor, Juan Gallego de Andrade Moctezuma, der auch nach dem Tode des Vaters bei I. M. blieb und später als ihr Haupterbe auftrat. 1532 heiratete I. M. schließlich den Spanier Juan Cano de Saavedra, der zeitlebens in ihrem Namen und später in dem seiner Kinder vor span. Gerichten um das Erbe von Mocetzuma II. streiten sollte. Mit Juan Cano hatte I. M. fünf Kinder, die den Nachnamen Cano de Moctezuma führten: Gonzalo, Pedro, Juan, Isabel und Catalina. I. M. starb 1551 und wurde in der Kirche des Klosters San Agustín in Mexiko-Stadt beigesetzt, das sie zu Lebzeiten großzügig bedacht hatte. Ihr Bild in der Öffentlichkeit wurde zu diesem Zeitpunkt durch die fast 20-jährige Ehe mit Juan Cano bestimmt. Sie galt als mustergültige, treue Gattin, war als herausragendes Mitglied der Gesellschaft des kolonialen Mexiko anerkannt und stand im Ruf, eine fromme Katholikin zu sein. So soll ihr Vorbild auch ursächlich für den Eintritt ihrer beiden Töchter Isabel und Catalina in ein Kloster gewesen sein. Schließlich war sie auch als Mäzenin hervorgetreten, die kirchliche Bauprojekte und Klostergründungen unterstützte. U. a. hatte sie für die Kapelle San José de los Naturales gespendet, welche die Franziskaner für die indigene Bevölkerung in Mexiko-Stadt errichten ließen. Zur Quellenlage: Es liegen vergleichsweise viele Dokumente zu I. M. vor. Zu diesem Material zählen auch die sog. residencias, in denen die Amtsführung von Cortés gerichtlich untersucht und zahlreiche Zeugen – auch zur Beziehung von Cortés zu I. M. – befragt wurden. Ferner sind zahlreiche Dokumente erhalten, die I. M. und ihre engere Familie betreffen: sowohl ihr Testament als auch ein Stammbaum und eine detaillierte Auflistung ihres Landbesitzes können im Indienarchiv in Sevilla konsultiert werden. Das Testament, in dem auch die Tochter Leonor Corté Moctezuma bedacht wurde, zeugt vom Selbstbewußtsein dieser vermögenden Frau, von ihrem Bemühen, die Ansprüche aller ihrer sieben Kinder zu wahren und von der Hoffnung, daß diese weitere Liegenschaften aus dem Besitz des Großvaters erhalten würden. Dennoch können wir nicht einmal darüber mutmaßen, wie sich I. M. selbst sah, wie sie über die Conquista dachte oder wie sie das „neue“, das nun span. Mexiko beurteilte: die bislang bekannten Dokumente betreffen mehrheitlich Vermögensfragen und lassen keine Rückschlüsse auf I. M. als Individuum zu. So muß schließlich offen bleiben, ob sich die aztekische 375
islAm
Prinzessin tatsächlich bewußt – wie Historiker in der Vergangenheit festgehalten haben – zu einem Leben unter Spaniern entschloß, oder ob ihr die Entscheidung von den Eroberern abgenommen wurde. Donald E. Chipman, Moctezuma’s Children. Aztec Royalty Under Spanish Rule, 1520–1700, Austin 2005. Delia González de Reufels, Adelige indigene Frauen zur Zeit der Eroberung und ersten Besiedlung Mexikos: Isabel Moctezuma und ihre Schwestern, in: Dies. (Hg.), Von fernen Frauen, Stuttgart 2009, 75–97. Amanda López de Meneses, Tecuichpochtzin, Hija de Moctezuma (¿1510– 1550?), in: Revista de Indias 10 (1948), Nr. 31–32, 471– 495. Emma Pérez Rocha, Privilegios en lucha. La Información de doña Isabel Mocetzuma, Mexiko-Stadt 1998. DE L I A GONZ ÁL E Z DE RE UF E L S
Islam. „Hingabe (an Gott)“ – Weltreligion mit der nach dem Christentum zweitgrößten Anzahl an Gläubigen (ca. 20 % der Weltbevölkerung); im europäischen Sprachgebrauch auch Überbegriff für Muslime, islamische Gebiete und Staaten und deren politische, kulturelle wie religiöse Ebenen. Nach der aus politischen Gründen erfolgten Emigration (Hidschra) des Religionsstifters Muhammad aus Mekka 622 n. Chr. (Beginn der islamischen →Zeitrechnung) breitete sich der I. zunächst in Arabien aus. Hierfür waren vielfältige Gründe verantwortlich. Zum einen füllte die neue Religion eine spirituelle und territoriale Lücke, zum anderen führte das Charisma Muhammads zu einer wachsenden Zahl von Anhängern. Siegreiche Feldzüge unter Muhammad und seinen Nachfolgern sorgten für eine rasche Ausbreitung des I., die durch eine graduelle Konversion der Besiegten als Folge der Übernahme der Verwaltungshoheit durch Muslime und die Entwicklung einer eigenen islamischen Kultur verstärkt wurde. Einen erheblichen Anteil an Verbreitung und Adaption des I. besaß – zumindest in der Frühzeit – auch die arab. Sprache. Die erste Periode der Expansion reichte vom Tode Muhammads (632) bis zum Ende des Ummayaden-Kalifats in Damaskus (750). Der I. breitete sich anfangs wellenartig aus. In vielen Regionen konnte sich die musl. Herrschaft erst nach mehreren Angriffen dauerhaft etablieren, z. B. in Damaskus (636) oder →Tunesien (670). Innerhalb weniger Jahre wurden Syrien und Palästina (640), →Ägypten (642), der →Maghreb (705), Spanien (705), im Osten Irak (641), Armenien (642), Iran (642) und →Turkestan musl., bis der Vormarsch am Indus (713) zum Stillstand kam. Unter den Abbasiden (ab 750) breitete sich der I. auch auf Mittelmeerinseln wie Sizilien und den Balearen aus, während in Spanien früh die christl. Reconquista einsetzte. Zwischen 1000–1027 lancierte Mahmud von Ghazni militärische Angriffe auf Nordindien (→Indien); jedoch erst im 13. Jh., konnten sich musl. Herrscher im →Delhi-Sultanat etablieren, das im 16. Jh. von den →Moguln abgelöst wurde. Anders verhielt sich die Expansion in Zentralasien oder →Indonesien, wo sich der I. im 13. Jh. über →Sumatra ausbreitete. →Java wurde im 14. Jh. von Muslimen regiert. In Persien war 1055 das seldschukische Reich entstanden, welches die Expansion nach Anatolien ebnete. Dort bildete sich das rumseldschukische Reich, das im Zuge des Mongolensturms 1258 zerfiel. Das →Osmanische Reich 376
trat an seine Stelle. Als christl. Reaktion auf das Vordringen des I. brachen zwischen dem Ende des 11. und dem 14. Jh. mehrere erfolglose →Kreuzzüge von Europa in den Vorderen Orient auf. Der Fall Konstantinopels (1453) führte zum kurzfristigen Vordringen osmanischer Streitkräfte bis vor die Tore Wiens (1529/1683). Im subsaharanischen Afrika etablierte sich der I. kurz nach dem Jahr 1000, zunächst am Nigerbogen (→Niger) in Gao (ab 1009), später in Kanem (1097). Weitere musl. Kgr.e entstanden (z. B. in →Mali), doch war der I. zunächst meist nur auf die höfische Elite beschränkt und kam kaum in Kontakt mit der Bevölkerung. Erst im 18./19. Jh. fand eine Islamisierung der Bevölkerung durch kriegerische Auseinandersetzungen und Missionierungstätigkeiten seitens der Bruderschaften statt. In →Äthiopien konnte der I. sich langfristig nur in den flacheren Regionen wie z. B. in Harar durchsetzen, in Nubien erst im 16. Jh. Der nilotische →Sudan wurde von kleineren Fürstentümern, die sich zwischen →Nil und →Tschadsee etabliert hatten, islamisiert. Ende des 18. Jh.s dominierte der I. mit wenigen Ausnahmen (Äthiopien) vom →Atlantik bis zum Roten Meer. An der Ostküste Afrikas breitete sich der I. über den Oman nach →Sansibar und entlang der Küste (in den heutigen Staaten →Somalia, →Kenia, →Tansania, →Komoren) über Handelspunkte aus. Diese wurden erst im 19./20. Jh. nach Aufhebung des →Sklavenhandels und der infrastrukturellen Erschließung des Hinterlandes Zentren der Islamisierung. Als Gegenpol zu Fremdherrschaft und Imperialismus entstanden im 19. Jh. als Folge tieferer musl. Selbstbesinnung vereinzelt Widerstandsbewegungen (z. B. →Mahdiyya im ägyptischen Sudan oder →Araberaufstand in →Dt.-Ostafrika). Die meisten Muslime leben heute in Indonesien (209 Mio.), gefolgt von →Pakistan (174 Mio.), Indien (161 Mio.) und Bangladesch (145 Mio.), den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung machen Muslime in Afghanistan, →Algerien, →Dschibuti, Iran, Jemen, Komoren, →Malediven, →Marokko (und →Westsahara), Somalia und der Türkei aus (jeweils 99 %). Die große Mehrzahl der Muslime lebt in Afrika und Asien, nennenswerte Ausnahmen sind die Türkei, der Balkan, sowie Immigranten in Westeuropa, Nord- und Südamerika. Gerhard Endreß, Der Islam, München ³1997. Louis Gardet / Jacques Jomier, Islam, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. 4 (1978), 171–177. Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam, Stuttgart 2001. C H R ISTIA N K IR C H EN
Islam in Niederländisch-Indien. Als die Europäer nach →Südostasien kamen, war der →Islam dort schon lange präsent. Allerdings korrespondierte die ethnische und politische Diversität der Region mit zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen des I. Im westlichen Teil existierten stabile musl. Kgr.e, darunter das mächtige →Malakka. In vielen anderen Regionen war I.isierung dagegen erst eine rezente Erscheinung. Das Auftauchen der Portugiesen und Spanier versetzte den I. in einen neuen politischen und gesellschaftlichen Kontext. Sowohl Portugiesen als auch Spanier sahen ihre Eroberungspolitik im Osten als Fortsetzung der Reconquista, also des Kampfes gegen den I. Missionierung war ein
is l Am i n n i ed erlÄ n d i s ch -i n d i en
wichtiger Aspekt ihrer Expansion. Die Vernichtung der musl. Kgr.e auf den nördlichen →Philippinen und ähnlich motivierte Missionierungsversuche der Portugiesen auf den →Molukken setzten den kognitiven Rahmen für antikolonialen Widerstand. Er wurde zu einer Auseinandersetzung zwischen I. und Christentum. I. stand für Widerstand und Christentum für →Eroberung von außen. Aber auch im Westen des Archipels wurde I. als Mittel der Auseinandersetzung politisiert. Das mächtige →Aceh begründete seine Kriege gegen die Portugiesen in Malakka explizit mit einem Djihad (→Heiliger Krieg). Damit wurden die Kolonialpolitik der Iberer zu einem Katalysator der I.isierung des Archipels wie auch der Archipel selbst z. T. der weltweiten Auseinandersetzung zwischen I. und Christentum. In dieses Bild paßt, daß Aceh z. B. hervorragende Beziehungen zum →Osmanischen Reich pflegte und von dort militärische Unterstützung erhielt. Als die Holländer mehr als 100 Jahre nach Ankunft der Iberer den Portugiesen ihr archipelagisches Imperium abnahmen, erbten sie diesen Konflikt, der auf der kognitiven Ebene zwischen Gläubigen und Ungläubigen ausgetragen wurde. Dabei hatten die Holländer im Gegensatz zu den Iberern kein Interesse an Missionierung. Es ging ihnen nur um den Profit, wie es sich für eine Handelsgesellschaft wie die →Vereinigte Ostind. Kompanie ziemte. Im Gegenteil, Missionierung wurde als störend, weil konfliktfördernd, angesehen und daher verboten. Aber auch bei ihrer Expansion wurde die Auseinandersetzung mit den einheimischen Konkurrenten auf der religiösen Ebene ausgetragen. →Makassar etwa definierte seinen Krieg mit den Holländern (den es endgültig 1669 verlor) als Krieg gegen die Ungläubigen. Nach der Ausschaltung aller relevanten Konkurrenten und der Monopolisierung der Seewege verlor die Religion aber ihren mobilisierenden Charakter. Auf →Java trugen die Holländer durch ihre Politik sogar zu einer Resynkretisierung bei. Als sie 1746 →Mataram zwangen, die Nordküste Javas aufzugeben, wurde es, wie auch andere islamische Regionen, von der weiteren islamischen Welt abgeschnitten, und die Impulse aus den islamischen Kernländern blieben aus. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Niedergang der wichtigen islamischen Dynastien im Westen, d. h. die →Moguln in →Indien und das Osmanische Reich. Diese Situation änderte sich erst, als im Westen Erneuerungsbewegungen entstanden, die bis in den Archipel ausstrahlten. Namentlich sind hier die →Padris zu erwähnen. Die sog. →Padrikriege begannen als Auseinandersetzung zwischen den von den Wahabiten beeinflußten Fundamentalisten, den Padris, und den Traditionalisten. Erst nach der Intervention der Holländer 1821 wandelte sich der Konflikt in einen Heiligen Krieg gegen die „Ungläubigen“. Auch der Javakrieg 1825–1830 wurde unter dem Etikett des Djihad geführt. Es gab aber keinen unmittelbar religiösen Anlaß. Vielmehr hatte die Kolonialmacht damit begonnen, die einheimischen Herrscher zu bloßen Figuren ihrer Kolonialverwaltung zu degradieren. Da aber Sultansherrschaft und Religion untrennbar verbunden waren, fiel es leicht, diesen Krieg der javanischen Aristokratie von Yogyakarta als Heiligen Krieg zu stilisieren. Hinzu kamen endzeitliche Erwartungen an ei-
nen Heilsbringer in Gestalt des Prinzen Diponegoro. Der lange Krieg in Aceh, der 1873 begann, wandelte sich in kurzer Zeit in einen fast reinen Religionskrieg. Die Führung ging innerhalb dieses Krieges von den traditionellen Autoritäten auf die Ulama (Religionsgelehrte) über. In allen Fällen waren diese antikolonialen Kriege des 19. Jh.s aber regional bzw. ethnisch eingeschränkt. Den Holländern wurde zu dieser Zeit der I. als antikoloniale Kraft suspekt. Im größeren Umfang wurden neben den schon bestehenden rk. Ordensmissionen nun auch protestantische Missionen zugelassen, allerdings die der Heiden und nicht der Muslime selbst. Die Missionierung von Muslimen blieb für die gesamte verbleibende Kolonialzeit ein Reizthema, das sehr kontrovers diskutiert wurde. Mit der Herausbildung des modernen kolonialen Staates änderten sich einmal mehr die Rahmenbedingungen für den I. in N.-I. Es wurde nun möglich, ethnische Grenzen zu überbrücken und Strukturen auf der gesamtkolonialen Ebene herauszubilden. Großen Einfluß übte hier der sich im Nahen Osten entwickelnde islamische Modernismus aus. In der modernen Zeit, v. a. nach der Jh.wende, hatte sich die Kommunikation zwischen den Kernländern des I. und N.-I. wieder wesentlich verbessert, wozu u. a. auch die sich quantitativ stark entwickelnde Pilgerfahrt nach Mekka und die Eröffnung des →Suezkanals beitrugen. Vorherrschend war aber nicht primär das Streben nach politischer Unabhängigkeit, sondern nach Erneuerung und Identitätsfindung. Bedeutendes Ereignis war die Gründung der Muhammadiyah als modernistische Organisation 1912, die mit den Traditionen brechen wollte. Als Reaktion formierten sich auch die Traditionalisten überregional und bildeten 1926 die Nahdlatul Ulama. Auch wenn diese Organisationen nicht explizit antikolonial waren, so bildeten sie doch einen ideologischen Gegenpol zu den herrschenden Holländern, die in der Folge mit einem zunehmenden Selbstbewußtsein der Einheimischen zu tun hatten. Als politische Variante des modernen I. bildete sich ebenfalls 1912 die →Sarekat Islam. Sie zeichnete sich in ihrer Anfangszeit aber nicht so sehr durch religiöse Positionierung aus, sondern bildete eher ein Sammelbecken für diverse antikolonial eingestellte politische Kräfte, inkl. der Kommunisten, die sonst keine legalen Organisationsmöglichkeiten hatten. In den 1920er Jahren spaltete sich die antikoloniale Bewegung in die drei großen Strömungen: I., Nationalismus, Kommunismus/Sozialismus. Der Sarekat Islam und später auch weiteren neu gegründeten islamischen Parteien gelang es nicht, die Führung in der Bewegung zu erringen. Ähnlich wie im Nahen Osten waren es die Nationalisten, die zur dominierenden antikolonialen Kraft wurden. Diese Tendenz verstärkte sich massiv nach der jap. Invasion 1942. Während die Japaner den islamischen Organisationen mißtrauten, arbeiteten sie eng mit den Nationalisten unter →Sukarno zusammen. Letztere konnten sich nach der Kapitulation der Japaner auch auf die von den Japanern aufgestellten Selbstverteidigungsverbände (PETA) stützen. Zwar bildeten sich auch islamische Guerillaeinheiten während des Unabhängigkeitskrieges gegen die zurückkehrenden Holländer. Diese wurden aber den Nationalisten nie ebenbürtig. Damit waren die Weichen am Ende klar in Richtung auf einen 377
i s m Ail �18 5 5 PA s c h A �
säkularen Staat gestellt. Zwar gab es nach der Gründung des unabhängigen indonesischen Staates 1949 einzelne Aufstände mit dem Ziel, den islamischen Staat zu errichten. Am bekanntesten ist die Darulislam-Bewegung in den 1950er Jahren. Diese Versuche konnten den jungen Staat bislang aber nie ernsthaft gefährden. Sartono Kartodirdjo, Religious Movements of Java in the 19th and 20th Centuries, in: Sartono Kartodirdjo (Hg.), Profiles of Malay Culture, Yogyakarta 1976, 85–104. Karel Steenbrink, Dutch Colonialism and Indonesian Islam, Amsterdam 1993. F RI T Z S CHUL Z E Ismaeliten →Ismaili Ismail (1855 Pascha), * 31. Dezember 1830 Kairo, † 2. März 1895 Konstantinopel, □ Mausoleum neben Emirgan-Palast in Istanbul, musl.sunn. Zweiter Sohn des →Khediven Ibrahim (reg. 1848/49). 1858 in den Staatsrat berufen. In den folgenden Jahren erfolgreich mit diplomatischen und militärischen Aufgaben betraut. Durch einen von ihm geführten Feldzug erlangte →Ägypten seine größte Ausdehnung bis in den Süden des →Sudan. Nach dem Tod seines Onkels Mohammed Saïd 1863 Proklamation zu dessen Nachfolger durch die ägyptischen Notablen. 1867 Anerkennung durch Sultan Abd-ül-Aziz als Khedive mit weitreichenden Rechten. 1873 wurden durch „Bakschisch-Politik“ gegenüber der Hohen Pforte Unabhängigkeit der ägyptischen Innenpolitik und →Justiz, das Münzrecht und Befugnis zur Aufnahme von Staatsschulden im Ausland erreicht. Versuche, mit Hilfe europäischer Fachleute ein modernes Heer und eine Kriegsflotte aufzubauen, gelangen nicht in erstrebtem Maße. Das Heer mußte auf 30 000 Mann beschränkt werden; die in Großbritannien gebauten Panzerschiffe waren 1870 an die Sultans-Reg. zu übergeben. I. bemühte sich wie seine dynastischen Vorgänger intensiv um eine Modernisierung des Landes. Er förderte energisch Baumwollanbau und -verarbeitung (→Baumwolle) , führte die Zuckerrohrkulturen (→Zucker) ein, entwickelte große Initiative für den Bau des →Suezkanals, gründete das weltbekannte Ägyptische Museum in Kairo und begann mit der Eisenbahnanlage im Niltal (→Nil) als Teil der Kap-Kairo-Route. Durch die großenteils fremdfinanzierten Investitionen, I.s verschwenderischen Lebensstil und eine verfehlte Finanzpolitik stieg die Staatsverschuldung von 1863 bis 1875 auf das Dreißigfache an und erreichten damit das Fünffache des jährlichen Bruttosozialproduktes. 1875 mußte das Land seine Beteilung an der Suezkanalgesellschaft für ca. 4 Mio. £ an Großbritannien verkaufen. 1876 konnte Ägypten die Zinsen für die Staatsanleihen nicht mehr voll aufbringen. Daraufhin erfolgte ab 1878 eine von Großbritannien und Frankreich dominierte Finanzkontrolle. Auf Betreiben der europäischen Großmächte wurde I. vom Sultan 1879 zur Abdankung gezwungen. Den Thron erhielt sein ältester Sohn Tawfiq. Die 1868– 1875 am Suezkanal erbaute Stadt Ismailia wurde nach dem Khediven benannt. GE RHARD HUT Z L E R Ismaili. Eine schiitische Religionsgemeinschaft, die ihren Namen von Abu Muhammad Ismail ibn Jafar († 138 378
A.H. / 755 n. Chr.) ableiten, von dem sie glauben, er sei der wahre Nachfolger Jafar al-Sadiqs († 148 A.H. / 765 n. Chr.) als Imam. Demgegenüber sind die Ithna Ashariyas (Imamiten oder Zwölfer-Schiiten) der Ansicht, Musa al-Kazim († 183 A.H. / 801 n. Chr.), der Bruder Ismail bin Jafars, sei der rechtmäßige Nachfolger. Die I., die Gründer des Fatimidenreichs, teilten sich im Streit über die Nachfolge al-Mustansirs (475 A.H. / 1094 n. Chr.) in 2 Hauptrichtungen: die Nizaris, die Abu Mansur Nizar unterstützen, und die Anhänger Ahmad al-Mustali, die Mustalis. Die Nizaris (in →Indien Khojas genannt), deren geistiges Oberhaupt der Aga Khan ist, sind global vertreten, u. a. in Ostafrika, Zentralasien, Europa und →Amerika. Die Mustalis sind in Indien und →Pakistan als Bohras bekannt und unterteilen sich noch in Dawudi Bohras, Sulaymani Bohras, Jafari Bohras, Aleviten und Hebtiah Bohras. Die Bohras und die Khojas ließen sich v. a. in den westlichen Regionen des ind. Subkontinents nieder und wurden mit den Memons als „Händlerkasten“ (→Kastensystem) beschrieben, die eine wichtige Rolle in diversen Handels- und Gewerbesparten spielten. Farhad Daftary, A Short History of the Ismailis, Edinburgh u. a. 1998. Azim Nanji, The Nizari Ismaili Tradition in the Indo-Pakistan Subcontinent, Delmar 1978. SO U MEN MU K H ER JEE
Istiqlal-Partei. Die Ende 1943 unter Führung von Ahmed Balafrej (arab. Ahmad Balafrîdj) und Allal El Fassi (arab. CAllâl al-Fâsî) gegründete konservativ-nationalistische I. ist die älteste politische Partei →Marokkos. Sie ist aus dem 1932 entstandenen „Marokkanischen Aktionskomitee“ (CAM, Comité d’Action Marocaine) hervorgegangen, einer heterogenen Sammlungsbewegung, die den bis dahin isolierten und kaum wahrgenommenen nationalistischen Zellen (junge Intellektuelle aus den städtischen Oberschichten) eine landesweite Plattform bot. Unmittelbarer Auslöser war der berüchtigte Dahir berbère („Berberdekret“) vom Mai 1930, der darauf abzielte, die →Berber der religiösen und rechtlichen Hoheit des Sultans zu entziehen und letztlich frz. Jurisdiktion zu unterstellen. Zurecht als Angriff auf die Einheit des Landes empfunden, rief er in der Bevölkerung weithin Unmut hervor und bescherte der Opposition gegen die Fremdherrschaft großen Zulauf. Während das CAM eine Reformierung des →Protektorats anstrebte, forderte die I. erstmals dessen völlige Abschaffung und brachte dies auch im Namen zum Ausdruck (arab. Hizb al-Istiqlâl, „Partei der Unabhängigkeit“). Ihr Manifest vom 11.1.1944 (jetzt offizieller Feiertag) gilt als „Gründungsurkunde“ des (modernen) Kgr.s Marokko. In den eskalierenden Auseinandersetzungen des nächsten Jahrzehnts stieg sie zur führenden Kraft der Nationalbewegung auf. Als Fanal für einen allg. Aufruhr wirkte im Aug. 1953 die Absetzung und Verbannung (→Madagaskar) des beliebten Sultans Mohammed V. (1927–1961), der sich 1947 öffentlich mit den Zielen der I. solidarisiert und damit an die Spitze des Unabhängigkeitskampfs gestellt hatte („Revolution von Kg. und Volk“). Da die Situation außer Kontrolle zu geraten drohte (Tumulte und bewaffnete Aktionen), lenkte Frankreich schließlich ein. Am 16.11.1955 („Tag der Unabhängigkeit“) kehrte der als
i tA li en i s ch es k o lo n iAlrei ch
Nationalheld gefeierte Sultan zurück, im März 1956 wurde das Protektorat aufgehoben. Die I. gehört bis heute zu den wichtigsten politischen Akteuren des Landes, sei es in Reg. oder Opposition. Ihr irredentistisches Konzept eines „Groß-Marokko“ inspirierte lange die offizielle Politik und wirkt immer noch nach. Bis auf die völkerrechtlich umstrittene Angliederung der →Westsahara (1975–91) endeten jedoch sämtliche Anläufe zu seiner Umsetzung mit militärischen Fehlschlägen („Ifni-Krieg“ gegen Spanien 1957/58; „Sandkrieg“ gegen →Algerien 1963; „Petersilienkrieg“ um die unbewohnte span. Isla del Perejil 2002). Das von Beginn an unverrückbare Bekenntnis zur Monarchie führte 1959 zur Abspaltung der links-republikanischen UNFP (Union Nationale des Forces Populaires, „Nationalunion der Volkskräfte“) um den 1965 in Paris ermordeten Mehdi Ben Barka. 2007 ernannte Kg. Mohammed VI. den jetzigen Führer der I. (und Sohn ihres Gründers) Abbas El Fassi (CAbbâs alFâsî) zum Minister-Präs. Michel Abitbol, Histoire du Maroc, Paris 2009. Richard Pennell, Morocco Since 1830, London 2000. L OT HAR BOHRMANN
Italienisches Kolonialreich. Im Augenblick des Kriegseintritts, am 10.6.1940, umfaßte das Kolonialreich Italiens recht große Gebiete in Ost- und Nordafrika: die Kolonien →Eritrea und (It.-) Somaliland, das erst vier Jahre zuvor eroberte Abessinien, alle am 1.6.1936 unter der Bezeichnung It.-Ostafrika vereinigt; →Libyen, 1934 durch Zusammenschluß der seit 1912 besessenen Kolonien →Tripolitanien und Kyrenaika sowie des mittlerweile besetzten →Fezzan entstanden; die Inseln des Dodekanes (bezeichnet als It. Besitzungen in der Ägäis; besetzt seit 1912, im Friedensvertrag von Lausanne 1923 zugesprochen); das im Apr. 1939 okkupierte Albanien, schon seit 1927 faktisch it. →Protektorat. Entstanden war dieses Kolonialreich in drei Zügen: um 1890, 1912 mit dem it.-osmanischen Friedensschluß von Ouchy bei Lausanne und schließlich infolge der Expansionspolitik des faschistischen Italiens seit 1935. Insg. gesehen war der Rückhalt der it. Kolonialpolitik in der Gesellschaft eher schwach, wiewohl wechselnde Interessenten von Reedern und Bankiers bis hin zu missionarisch ambitionierten Geistlichen teils lautstarken Lobbyismus betrieben haben. Als blamabel für den Nationalstaat und seine internationale Machtgeltung empfundene koloniale Fehlschläge oder Benachteiligungen durch andere Kolonialmächte haben allerdings den Grad der Unterstützung kräftig erhöht, so nach einer ersten Niederlage it. gegen abessinische Truppen 1887 bei Dogali, im Nachhall der Katastrophe in der Schlacht bei →Adua 1896, wegen der Nichtbeteiligung an der Vergabe der ehedem dt. Kolonien in den Pariser Friedensverhandlungen 1919 und wegen der Sanktionen des →Völkerbunds im Zeichen der →Eroberung des Ksr.s Abessinien. Das Kosten-NutzenVerhältnis in volkswirtschaftlicher und erst recht in staatsfinanzieller Hinsicht war lediglich im Falle Eritreas, 1890 aus den Besitzungen um die Bucht von Assab bei der südlichen Enge des Roten Meeres (seit 1879/1882) und um die Hafenstadt Massaua (seit 1885) gebildet, phasenweise einigermaßen erträglich, ansonsten aber ne-
gativ. Eine nennenswerte Umleitung der seit den 1870er Jahren stark anschwellenden und dann lange gewaltigen it. Auswanderungsströme (→Auswanderung), wie das zuerst v. a. Politiker und Publizisten aus dem mezzogiorno und ab 1910 die Radikalen der Associazione Nazionalista Italiana propagiert hatten, gelang nicht einmal in der Zeit des faschistischen Regimes, obwohl es reichlich beschlagnahmtes besseres Land im nahegelegenen Libyen zur Verfügung stellen konnte: Nur etwas mehr als 100 000 Italiener sollen dorthin bis 1940 ausgewandert sein. Die Zahlen der anderen Kolonien sind in dieser Hinsicht vernachlässigbar. Werden die Eroberungs- und Besatzungskosten mit in den Blick genommen, dann ist eine geradezu desaströse Bilanz zu ziehen. Die im Ersten Weltkrieg weitgehend entglittenen Kolonien Tripolitanien und Kyrenaika, dazu das bisher unbehelligte Fezzan waren in einem vieljährigen Guerillakrieg bis 1931 unter Einsatz zehntausender Soldaten, damals modernster Kriegstechnik und massiver kriegsterroristischer Methoden zurückzuerobern bzw. neu zu besetzen. 1935/36 kamen ca. 360 000 it. und farbige koloniale Soldaten gegen Abessinien zum Einsatz, ca. 300 000 standen zwecks Unterdrückung des dort fortwährenden Widerstands beim Kriegseintritt Italiens 1940 immer noch in It.-Ostafrika: Das hat jährlich ca. ein Fünftel des it. Staatshaushalts verschlungen. Entscheidend für den Eintritt in die Kolonialpolitik im neuartigen imperialistischen Wettlauf des späten 19. Jh.s sind außenpolitische Motive im Hinblick auf die Position des jungen Nationalstaates im europäischen, insb. mediterranen Mächtesystem gewesen. Sie blieben es weiterhin, wenn schon in Variationen, bis zum Ende des I. K.s mit der Kriegsniederlage 1943, völkerrechtlich definiert mit den entspr. Bestimmungen des Pariser Vertrages vom 11.2.1947 – und gewissermaßen noch über ihn hinaus. Auslösend war Frankreichs →Okkupation →Tunesiens 1881. Auf Tunesien glaubte ein größerer Teil der öffentlichen Meinung, der politischen Klasse und der Reg. Italiens wegen der vielen it. Ew. jedenfalls einen besseren Anspruch zu haben. V. a. sahen sie im rücksichtslosen Alleingang des Nachbarn eine Verletzung von Italiens sicherheitspolitischen Interessen und seines machtpolitischen Prestiges. Neuen Rückhalt suchte die römische Reg. im Dreibund (1882) mit dem Dt. Reich und mit Österreich-Ungarn, die Erwiderung aber im Zugriff auf Assab ganz nahe beim schon frz. →Dschibuti und bald nachher auf das weiter nördlich gelegene Massaua. Der verantwortliche Minister verteidigte die Landnahme gegen scharfe Kritik im Parlament ausdrücklich als Moment it. Mittelmeerpolitik. Sie brachte auch eine wichtige Annäherung an England, welches in diesen Jahren gegenüber dem frz. Konkurrenten um ostafr. Einflußzonen durchaus am it. Vordringen nördlich wie südlich des Golfs von Aden interessiert war und so seit 1889 die Italiener auch im restlichen →Somalia um →Mogadischu unterstützt hat. Zur selben Zeit bekundeten römische Politiker schon ihre Entschlossenheit, die Kyrenaika und Tripolitanien zwecks Wahrung der Mächteverhältnisse im Mittelmeerraum zu nehmen, sollte Frankreich sich in den Besitz →Marokkos bringen, was unter allerdings wesentlich veränderten internationalen und inner-it. Bedingungen im Krieg von 1911/12 379
j A e s c hke , PAul
gegen das →Osmanische Reich und den einheimischen Widerstand besonders der →Senussi umgesetzt worden ist. Eine Generation später scheint in einem Bündel je nach Opportunität anzuführender Gründe wieder der Zweck, Italiens Großmachtanspruch im Mittelmeerraum und darüber in Europa klarzustellen, das hauptsächliche Motiv Mussolinis für die nicht nur kostspielige, sondern auch bündnis- und rüstungspolitisch folgenschwere Eroberung Abessiniens gewesen zu sein: Italiens Kg. nahm den Ks.titel des vertriebenen Negus an und Mussolini proklamierte das Impero – eine Demonstration gerade in Richtung Großbritanniens. Es verweist auf die Überspannung der Kräfte der immer weiter kleinsten europäischen Großmacht, wie schnell das Kolonialreich im Krieg 1940–1943 verlorengegangen ist: It.-Ostafrika bis auf restliche, dann im Herbst erledigte Posten schon bis zum Frühjahr 1941; ohne dt. Hilfe wäre es in Libyen, Albanien, mit den Inseln in der Ägäis noch im selben Jahr nicht anders gegangen. Wie intensiv sich aber inzwischen die Verschränkung von Macht- und Kolonialanspruch eingeprägt hatte, das verdeutlichten 1948 das Scheitern der parlamentarischen Ratifikation des Pariser Friedensvertrages im ersten Anlauf gerade auch wegen des auferlegten Verlusts der Kolonien sowie die nachherigen diplomatischen Revisionsversuche, schließlich die Erleichterung darüber, als Treuhänder der UNO wenigstens It.-Somaliland bis 1960 noch verwalten zu dürfen. Die Kolonialmacht Italien hatte durchaus auch Positives in der Entwicklung der länger beherrschten Gebiete geleistet, so im Rahmen freilich vergleichsweise geringen Potentials in der Grundlegung moderner Infrastruktur, wovon u. a. in den einschlägigen Artikeln des faschistischen Vorzeigewerks: der Enciclopedia Italiana, ungemein ausführlich und reichlich mit Bildern, Karten, Tabellen unterfüttert berichtet worden ist. Zu Zeiten des liberalen Italiens war eine weitläufig assimilationsorientierte Generallinie gegenüber den kolonialen Untertanen verfolgt worden – unter Achtung angetroffener Rechtsverhältnisse und regionaler Selbstverwaltung, unter Einbeziehung in die koloniale Verwaltung und mit Zuerkennungen partieller it. Staatsbürgerlichkeit oder Angeboten zu deren Erwerb. Das Vorgehen zur neuen Unterwerfung der dann als Libyen zusammengeschlossenen nordafr. Gebiete mit standrechtlichen Erschießungen, systematischen Zerstörungen von Siedlungen, vieltausendfach tödlichen Massendeportationen in Konzentrationslager, Beschlagnahmungen großer Ländereien zur Übergabe an einwandernde Italiener verdüsterten das Bild. Schwarz war und blieb es in Abessinien, unterworfen in einen modernen technisiert und brutal geführten Feldzug bis hin zum Einsatz von Giftgas, oberflächlich befriedet durch wiederholt exzessive Gewaltanwendungen gegen Zivilbevölkerungen. Zudem ging das faschistische Regime in Ostafrika nunmehr entschieden auf die →Apartheid von Italienern und farbigen Untertanen aus, und es reduzierte konsequenterweise die lokalen Selbstverwaltungs- wie die bürgerlichen Assimilationsmöglichkeiten in Libyen, hier wie dort unter Berufung auf im Faschismus vordem randständige rassebiologische Konzeptionen. Ca. 150 000 Italiener flüchteten aus den afr. Kolonien in den 380
ersten Nachkriegsjahren, restlich Verbliebene erlebten spätere Vertreibung, so aus Libyen 1969/70. Nicola Labanca, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana, Bologna 2007. Giorgio Rochat, Il colonialismo italiano, Turin 1973. Gabriele Schneider, Mussolini in Afrika, Köln 2000. WO LFG A N G A LTG ELD Jaeschke, Paul, * 4. August 1851 Breslau, † 27. Januar 1901 Tsingtau, □ europäischer Friedhof Tsingtau, ev. J. wurde als Sohn des Bankiers Otto J. und der Marie J., geborene Schneider, in Breslau geboren. Er verließ das Gymnasium nach der 10. Klasse und trat im Jahr 1868 in die Norddeutsche Marine als Seekadett ein. Während seiner Offiziersausbildung diente er bis zum Sommer 1869 auf dem Schulschiff Niobe vor der Küste Afrikas. 1872 wurde er zum Unterleutnant zur See befördert. Als Kapitänleutnant wechselte J. als Referent in das neu geschaffene Torpedoressort, welches er von 1888–1892 in Kiel leiten sollte. In den Jahren 1886 bis 1888 diente er auf der ostasiatischen Station als Kommandant des Kanonenbootes Wolf. Von 1892–1895 diente er als Leiter des Zentralbüros der Admiralität in Berlin. Nach einem kurzen Dienst als Kommandeur des Großen Kreuzers Kaiser in Ostasien kehrte er Ende 1896 nach Berlin zurück und übernahm das Außenamt in der Admiralität. Im Oktober 1898 wurde er zum stellvertretenden Gouverneur von Tsingtau ernannt und verließ Deutschland über Genua in Richtung Ostasien. Am 29. Januar 1879 heiratete er in erster Ehe die Nichte des deutschen Konsuls in St. Thomas, Wantzelius, Helenita von Lindemann (* 12. Nov. 1859 Lima, † 16. Juli 1893 Hamburg. Zwei Kinder: Hans u. Editha). In zweiter Ehe heiratete J. am 24. März 1900 in Hongkong Helene Wollny. Die Ehe blieb kinderlos. 1899 übernahm J. das Amt des Gouverneurs von →Tsingtau. Ihm oblag die Beruhigung der Chinesen während des →Boxeraufstandes. Er entsandte mehrere Militärabordnungen in die Provinz Schantung. J. starb an →Typhus. Nach J. benannt wurden die Südeinfahrt i. d. Kiautschoubucht (Kap J.) u. d. Reichspostdampfer P. J. A N D R EA S LEIPO LD
Jagd in den dt. Kolonien. In allen dt. Kolonien galten die privatrechtlichen Bestimmungen des preußischen Jagdrechts. Art und Ausmaß der öffentlichrechtlichen Beschränkungen der J. waren unterschiedlich. In →Dt.Ostafrika, →Dt.-Südwestafrika →Kamerun und →Kiautschou bestanden je eigene umfassende Kodifizierungen des J.-wesens, in den anderen dt. Kolonien verstreute die J. betr. Verordnungen. Die Regelungen in den Kolonien erstreckten sich dabei auf dieselbe Materie wie die in Deutschland geltenden Bestimmungen, etwa auf Erteilung und Entziehung der Jagderlaubnis, zulässige Arten der J., Festlegung von Schonzeiten u. ä. Einziger Unterschied zum Mutterland war die Tatsache, daß für Europäer und Indigene unterschiedliche Regelungen galten, die für die Indigenen i. d. R. restriktiver waren als für europäische Jäger, die das afr. Großwild wegen seiner im Vergleich zum europäischem Wild spektakuläreren Trophäen besonders schätzten. Q: Jagd und Wildschutz in den dt. Kolonien, hg. v. Reichskolonialamt, Jena 1913 (enthält alle in den dt.
j Ak o b i i. u n d v i i .
Kolonien geltenden jagdrechtlichen Bestimmungen im Wortlaut). L: W. Busse, Jagd und Jagdrecht, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 2, Leipzig 1920, 118–121. Ulrike Kirchberger, Wie entsteht eine koloniale Infrastruktur? Zum Aufbau der Naturschutzbürokratie in Dt.-Ostafr., in: HZ 291 (2010), 41-69. Dies., Imagined Spaces? Maßnahmen zum Wildschutz i. Dt.-Ostafrika, 1890-1914, in: Wilfried Speitkamp / Stephanie Zehnle (Hg.), Afr. Tierräume, Köln 2014, 129-145. CHRI S TOP H KUHL
Jahangir, Salim Muhammad Nuruddin, * 20. September 1569 Fatehpur Sikri, † 8. November 1627 Lahore, □ Shahdara Bagh, musl. Ab 1605 vierter Mogul-Ks. (→Moguln). Der Sohn →Akbars herrschte in einer relativen Friedenszeit. Als Wunschkind seines Vaters am Hof erzogen, rebellierte er 1600–1603 gegen ihn und machte sich im Osten des Reiches unabhängig. Da es keinen anderen Thronerben gab, verzieh ihm sein Vater, und J. wurde 1605 nach dessen Tod gekrönt. 1607 mußte J. die Rebellion seines Sohnes Khusrau niederschlagen, den u. a. der 5. Guru der Sikhs (→Sikhismus), Arjun, unterstützte. J. ließ Arjun dafür hinrichten. 1611 heiratete J. Mehr-un-Nisa (genannt Nur Jahan) und machte sie zur Mitregentin. Auch ihr Vater und ihr Bruder bekamen hohe Ämter. J.s Hof zog im Reich umher und vergnügte sich auf →Jagd und →Festen. Die tolerante aber autoritäre Religionspolitik Akbars führte J. fort. Dazu gehörten Diskussionen mit hinduistischen Gelehrten, öffentliche Wallfahrten und Realpolitik statt eine orthodox religiöse Orientierung. Daher kritisierten ihn strenge Geistliche, wie der charismatische Ahmad Sirhindi, den er 1619 verhaften ließ. J. förderte die Künste, insbes. persische, aber interessierte sich auch für europäische Kunstobjekte. Leider war er zeitlebens alkohol- und opiumabhängig (→Opium). 1622–1626 rebellierte sein Sohn Khurram gegen ihn, wobei 1626 J. und seine Frau gefangen genommen wurden. Sie konnten fliehen, jedoch starb J. 1627, und Khurram setzte sich als neuer Ks. unter dem fortan angenommenen Namen Shah Jahan durch. Wheeler M. Thackston (Hg.), The Jahangirnama, New York 1999. S T E P HAN P OP P Jainismus. Von Sanskrit ji: besiegen, überwinden. Eine der historisch ältesten Religionen →Indiens. Ebenso wie →Buddhismus und →Sikhismus wird der J. von der ind. Verfassung als Teil des →Hinduismus betrachtet. Laut Zensus von 2001 beläuft sich die Anhängerschaft in Indien auf 4,2 Mio. (ca. 100 000 außerhalb Indiens, v. a. in Nordamerika und Großbritannien). Die Jainas berufen sich auf eine Entstehungszeit ihrer Religion zwischen dem 7. und 5. Jh. v. Chr. im Gebiet des Gangesbeckens (→Ganges). Zentral für ihr Verständnis sind die Lehren und Praktiken der sog. 24 Tirthankaras (wörtlich: Furtbereiter), von welchen die letzten beiden als historisch faßbare Personen gelten (Parshvanatha/Parshva und Vardhamana / Mahavira). Die Tirthankaras zeigten durch asketisches Leben und eine radikale Interpretation des ahimsa Konzepts (Gewaltlosigkeit gegenüber allen Lebewesen) einen Weg zu religiöser Reinheit, Erleuch-
tung und zum Austritt aus dem Kreislauf des irdischen Lebens und Leidens (samsara) auf. Die Gemeinde der Jainas besteht aus einer kleinen Gruppe monastisch lebender Anhänger, zum größeren Teil jedoch aus Laien (von denen gegenwärtig viele wohlhabende Geschäftsleute sind). Aus einem frühen Schisma resultierend läßt sich die Anhängerschaft grob in 2 Strömungen unterteilen: die Shvetambaras („weiß gewandet“, hauptsächlich in Nordindien) und die Digambaras („Luft gewandet“, also nackt, im Süden). Beide Gruppen haben bis heute etliche Ausdifferenzierungsprozesse und Erneuerungsbewegungen erlebt. Der Einfluß der Jainas in Kultur, Politik und Ökonomie erlebte in Nordindien einen bedeutenden Einschnitt durch die musl. →Eroberung ab dem frühen 13. Jh. (→Ind. Reiche), die neben Verfolgung und Zerstörung wichtiger Tempelbauten, einen Wechsel der politischen Führung nach sich zog und so eine neue Identitätsbestimmung der etablierten Jainas erforderte. Im Süden litt die Bedeutung der Jaina-Gemeinde insb. unter dem Aufkommen populärer bhakti-Bewegungen und spätestens seit dem 14. Jh. mit der Etablierung des →Vijayanagar-Reiches verloren die Jainas ihre fürstlichen Privilegien. V. a. ab dem 19. Jh. sind innerhalb der Jaina-Traditionen etliche reformatorische Bewegungen festzustellen, die zur Herausbildung mehrerer neuer Untergruppierungen geführt haben. Seit dem 20. Jh. haben sich erste Gemeinden außerhalb Indiens formiert, die durch übergreifende Arbeit die Ideale der Jainas (z. B. Gewaltlosigkeit, Vegetarismus u. a.) global zu verbreiten suchen. Auch wenn der J. viele kulturelle und sprachliche Gemeinsamkeiten mit Buddhismus und Hinduismus aufweist und einige religiöse Konzepte zumindest verwandt erscheinen, sind die Jaina-Traditionen als eigenständige Phänomene zu betrachten. Paul Dundas, The Jains, London ²2002. Peter Flügel (Hg.), Studies in Jaina History and Culture, London 2006. Padmanabh S. Jaini, The Jaina Path of Purification, Berkeley 1979. RA FA EL K LÖ BER Jakob II. und VII. von England, Irland und Schottland, * 14. Oktober 1633 London, † 5. September 1701 SaintGermain-en-Laye, □ während Frz. Revolution zerstört, anglik., seit 1676 rk. Zweiter Sohn Karls I., erhielt den Titel Herzog von York. Die Niederlage seines Vaters im Engl. Bürgerkrieg zwang ihn England 1648 zu verlassen. Nach der Restauration von 1660 übernahm er als Lord High Admiral das Kommando über die engl. Flotte. Da sein Bruder, Kg. Karl II. keine legitimen Kinder hatte, war er Thronerbe, ein Umstand, der seinen Übertritt zum rk. Glauben Anfang der 1670er Jahre besonders brisant erscheinen lassen mußte. Seinen Anspruch auf die Krone wollten die Whigs in der sog. Exclusion Crisis 1678–1681 durch ein Parlamentsgesetz aufheben. Während dieser Krisenjahre war J. genötigt, England erneut zu verlassen und hielt sich erst in den Niederlanden und dann in Schottland auf, das er als Statthalter des Kg.s selbstherrlich regierte. Autokratisch waren auch seine Reg.smethoden in Nordamerika; die ursprünglich ndl. Kolonie Neuniederland war nach der Unterwerfung ihrer Ew. angesichts einer engl. Flotte 1664 und einer kurzfristigen Rückeroberung durch 381
j A k o b vi. und i.
die Niederlande 1673 erst 1674 endgültig als New York sein Eigentum geworden. Mitspracherechte der Siedler bei der Erhebung von Steuern und in anderen Fragen wurden zurückgedrängt. Ähnlich verfuhr J., nachdem er 1685 nach Karls II. Tod Kg. geworden war, 1686 in Neu-England, wo er aus Massachusetts, Connecticut, New Hampshire und Rhode Island eine neue →Kronkolonie unter dem Namen Dominion of New England schuf, die ebenfalls weitgehend durch kgl. Verordnungen unter Ausschaltung der lokalen Selbstverwaltung regiert wurde. 1688 wurden auch New York und New Jersey diesem Verbund inkorporiert. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Herrschaft J.s offen in Frage gestellt. Seine Begünstigung der Katholiken und seine gegen die Church of England gerichtete Toleranzpolitik, die allerdings auch den protestantischen Dissenters zu Gute kommen sollte, kosteten ihn die Unterstützung der anglik. Tories und führten zur →Glorreichen Revolution von 1688/89. J., dem nach mehrfachen Anläufen die Flucht aus England gelang, versuchte mit frz. Hilfe gegen seinen Neffen und Schwiegersohn Wilhelm III. zu kämpfen (1690 Niederlage am Boyne/Irland) und starb im frz. Exil. John Callow, The Making of King James II, Stroud 2002. John Miller, James II, London 1991. William Speck, James II, London 2002. RONAL D G. AS CH Jakob VI. und I., von Schottland, Irland und England, * 19. Juni 1566 Edinburgh, † 27. März 1625 Theobalds Park, □ Westminster Abbey, rk., seit 1566 ev.-ref. Nach Flucht und Absetzung seiner Mutter wurde er 1567 zum schottischen Kg. gekrönt, begann in den 1580er Jahren selbständig zu regieren. Anders als seinen Vorgängern gelang es ihm das Kgr. schrittweise zu befrieden und die Autorität der Krone zu stärken. 1603 trat er das Erbe →Elisabeths I. von England an, und residierte als J. von nun an fast ausschließlich in England. Finanzielle Probleme und eine wenig glückliche Hand im Umgang mit dem Parlament ließen Spannungen v. a. im Verhältnis zum Unterhaus entstehen, das zwischen 1610 und 1621 nur einmal (1614) kurz einberufen wurde. Der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges machte die Friedenspolitik, die der Kg. seit 1603 verfolgt hatte, zunichte und zwang ihn, sich unter dem Druck seines Sohnes Karls I. und der Öffentlichkeit auf einen Krieg mit Spanien einzulassen. Bis dahin hatte das Bemühen um einen Ausgleich mit Spanien, mit dem man 1604 Frieden geschlossen hatte, auch zur Zurückhaltung in kolonialen Unternehmungen geführt, jedenfalls in Süd- und Mittelamerika, während in Virginia die Grundlagen für den späteren Aufstieg der Kolonie gelegt wurden. Für J. besaß nach 1608 die Besiedlung Irlands (Ulster Plantations) durch protestantische Schotten und Engländer gegenüber allen kolonialen Unternehmungen in der Neuen Welt eine deutliche Priorität. Ronald G. Asch, Jakob I., Stuttgart 2005. Maurice Lee, Great Britain’s Solomon, Urbana 1990. Alan Stewart, The Cradle King, London 2003. RONAL D G. AS CH Jakobstab, Quadrant. Wegen ihrer unkomplizierten Handhabung und einfachen Herstellung die gebräuchlichsten Beobachtungsinstrumente auf See und an den 382
überseeischen Küsten im Zeitalter der Entdeckungen; wurden in der Regel aus Holz hergestellt, sind seit der Antike fortentwickelt worden und dienten der astronomischen und terrestrischen Winkelbestimmung. Beim J. ist die Winkelskala auf einem, in Richtung auf das Beobachtungsobjekt gehaltenen, Längsstab aufgetragen, zu dem ein verschiebbarer Querstab gehört, der im Blickfeld des Betrachters so lange verschoben wird, bis die beiden Enden die Objekte (Sterne oder terrestrische Punkte), deren Winkel interessiert, genau berühren. Aus dem Winkel kann (mit zusätzlichen Größen) bei der terrestrischen Messung die Entfernung berechnet werden; in der Astronomie interessieren nur die Winkel. Der Q. ist ein Viertelkreis mit Gradeinteilung in 90 Grad, einem Lot und einer Visierhilfe (Zeiger mit Alhidade). Auf der freien Fläche können auch Hilfslinien für andere astronomische Funktionen aufgetragen sein. Seine primitivste, aber für überseeische Reisen wesentlichste Funktion besteht – wie beim J. – in der astronomischen und terrestrischen Winkelbestimmung. Da bei gleicher Größe die Skala des Q. größer ist als auf dem Seeastrolab (Vollkreis, →Astrolabium), gelingen mit dem Q. genauere Beobachtungswerte. Uta Lindgren, Astronomische Instrumente im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit und ihre Bedeutung für Kartographie und Nautik, in: 450 Jahre Copernicus „De revolutionibus“, Schweinfurt 1993. Mara Miniati (Hg.), Museo di storia della scienza. Catalogo, Florenz 1991. A. J. Turner, Mathematical Instruments in Antiquitiy and the Middle Ages, London 1994. U TA LIN D G R EN Jakuten, Jakutien. Die J. (Eigenbezeichnung: Sacha) sind ein Turkvolk, das heute in der Autonomen Rep. Sacha (Jakutien) im nordöstlichen →Sibirien lebt. Daneben siedeln J. innerhalb Sibiriens in Magadan, am →Amur und auf Sachalin. Ursprünglich stammten die J. aus Südsibirien, sind aber dann infolge des Mongolensturmes im 12. Jh. nach Norden in ihre heutige Heimat geflohen. Traditionell lebten sie von der →Jagd, von Fischfang und Pferdezucht (→Pferde). Letzteres weist auf ihre Lebensweise, die sie mit vielen Turkvölker Zentralasiens teilen. Im 17. Jh. setzte die russ. Kolonisation nach J. ein. →Kosaken gründeten 1632 das Fort Jakutsk, die heutige Hauptstadt Sachas. Wie auch andere Völker Sibiriens zahlten die J. Tribute in →Pelzen an die russ. Kolonialherren. Zwar sickerte das russ.-orth. Christentum schon im 17. Jh. ein, doch eine systematischen Missionierung, die vor Zwang nicht zurückscheute, fand erst ab dem 19. Jh. statt. Die Christianisierung verlief jedoch oberflächlich, so daß sich schamanistische Praktiken bis ins frühe 20. Jh. erhalten konnten und heute eine Renaissance erfahren. Heinz Bliss, Das Eigentum in der Kultur der Jakuten, Berlin 1967. Otfrid von Hanstein, Tausend Meilen im Renntierschlitten oder sechs Monate unter Jakuten und Kamtschadalen, Leipzig 1926. Jeong Won Kang, Der Kulturwandel bei den Jakuten, München 1998. EVA -MA RIA STO LB ER G
Jaluit-Gesellschaft. Die Dt. Handels- und PlantagenGesellschaft der Südseeinseln zu Hamburg (DHPG)
j Am es to wn
und die Firma Robertson & →Hernsheim legten am 21.12.1887 ihre wirtschaftlichen Interessen in den Marshall- und Gilbert-Inseln (→Marshallinseln, →Gilbert and Ellice Islands) sowie den →Marianen in einer Kapitalgesellschaft Hansischen Rechtes (= Aktiengesellschaft) mit Sitz in Hamburg und voll eingezahltem Grundkapital von zunächst 125 000 Mark zusammen, das bis 1914 auf 1,2 Mio. Mark aufgestockt wurde. Für den Firmennamen wählte man den Bezug auf das Atoll Jaluit (sprich Dschalut) der Marshallinseln. Dort hatte im Frühjahr 1876 Jan S. →Kubary für die Rechtsvorgängerin der DHPG, die Hamburger Außenhandelsfirma Johan César →Godeffroy & Sohn, die Hauptagentur für →Mikronesien eingerichtet. Die J. erhielt im Gegensatz zur →NeuGuinea-Compagnie keinen ksl. →Schutzbrief. Statt dessen vereinbarte das Dt. Reich vertraglich am 21.1.1888 mit der Gesellschaft, daß für die Marshallinseln Hoheitsrechte und Leitung der Verwaltung beim Reich verblieben, die dafür vor Ort anfallenden Kosten aber von der Gesellschaft zu tragen waren. Im Gegenzug erhielt diese Privilegien, u. a. das Recht auf Ausbeutung von Bodenschätzen. 1892 erwarb die Gesellschaft die Geschäfte der Wettbewerber A. Crawford & Co. (→USA) und Pacific Island Co. (UK); damit war sie auf den Marshallinseln faktisch ohne Konkurrenz. Nach Entdeckung der Phosphatvorkommen auf →Nauru um 1900 erfolgte mit Billigung des Reiches eine Übertragung der Abbaukonzession auf die brit. Pacific Phosphate Co. gegen Erhalt einer Schachtelbeteiligung und laufende Förderabgaben. Zum 31.3.1906 kündigte das Reich den 1888 mit der J. geschlossenen Vertrag. Fortan war die J. eine reine Erwerbsgesellschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg enteigneten Japan und das Vereinigte Kgr. als Mandatare des →Völkerbundes den Gesellschaftsbesitz in der Südsee entschädigungslos. Die Gesellschaft arbeitete stets ertragbringend. Mit von 1900–1913 zwischen 12 und 25 % schwankenden Dividendenausschüttungen zählte sie zu den erfolgreichsten dt. Kolonialunternehmungen. Wolfgang Treue, Die Jaluit-Gesellschaft auf den Marshall-Inseln 1887–1914, Berlin 1976. Ders., Die JaluitGesellschaft, in: Tradition 7 (1962), 108–123. GE RHARD HUT Z L E R
Jamaika. Insel der Großen →Antillen im Karibischen Meer, 10 962 km2 groß, im 16. Jh. von Spanien und Portugal entdeckt; in der ersten Kontaktzeit wurde die einheimische Bevölkerung durch Krankheit und Versklavung stark dezimiert. 1655 wurde J. von einem engl. Marinekontingent unter Admiral William Penn erobert. Zu dieser Zeit wohnten ca. 4 500 weiße Siedler und 1 500 afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) auf J. Seit 1655 gehörte J. zuerst als →Kronkolonie dem brit. Reich, dann seit 1962 als unabhängiger Staat dem →British Commonwealth of Nations an. Mit der Einführung des Anbaus von →Zucker auf Großplantagen ab 1650 begann der rasante wirtschaftliche Aufstieg dieser Insel zur, gemeinsam mit →Barbados, wertvollsten Kolonie des →Brit. Kolonialreiches. Zwischen 1696 und 1775 orientierten sich kgl. Instruktionen an die kolonialen →Gouv.e zumeist an den Verhältnissen in diesen beiden wertvollen Zuckerkolonien. Wichtigste Arbeitskraft
war der afr. Sklave. Um 1750 lebten 145 100 Sklaven auf der Insel, aber nur 8 300 weiße Siedler. 1834, im Jahr der →Emanzipation, setzte sich die Bevölkerung von 371 070 wie folgt zusammen: 15 000 Weiße, 5 000 freie afr. Bewohner, 40 000 Mischlinge und 311 070 afr. Sklaven. Die Produktivität der Zuckerplantagen war außerordentlich hoch. 1804 betrug die Jahresproduktion 101 195 t Zucker. Nach starken Schwankungen oszilliert der Zuckerexport aus J. heute zwischen 200 000 (1999) und 370 000 (1970) t pro Jahr. Politisch ist J. sowohl konstitutionelle Monarche als auch parlamentarische Demokratie. Richard S. Dunn, Sugar and Slaves, Chapel Hill 1972. F. S. J. Ledgister, Class Alliances and the Liberal-Authoritarian State, Trenton 1998. Richard B. Sheridan, Doctors and Slaves, Cambridge 1985. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Jameson Raid (Ndebele). Um 1898 war Südafrika mit einem Anteil von 25 % an der weltweiten Goldproduktion ein wichtiger Markt für Großbritannien. Die Reg. →Krüger erkannte, daß die Steuereinnahmen aus den Minen ein Erstarken der Südafr. Rep. bewirkten. Aus →Angst, von den ‚Uitlanders‘ (europäische Zuzügler in →Transvaal nach der Entdeckung von Gold) politisch überwältigt zu werden, verweigerten ihnen die ZARBehörden den Zugang zu bürgerlichen und politischen Rechten. Die verärgerten ‚Uitlanders‘ und brit. Verwalter begannen eine Kampagne gegen die Diskriminierung der ‚Uitlanders’. Cecil Rhodes, Premierminister der →Kapkolonie, plante einen geheimen, bewaffneten Überfall, um die Reg. Krüger zu stürzen und durch eine neue Reg. zu ersetzen, auf die die brit. Handelsherren in Johannesburg besseren Einfluß hätten. Um einen offenen Aufstand der ‚Uitlanders‘ auszulösen, drangen am 29.12.1895 brit. Kolonialtruppen unter der Führung von Sir Leander Starr Jameson, unterstützt durch Matabele-Einheiten, in das Gebiet der →Afrikaners ein. Mit dem erwünschten ‚Uitlander’-Aufstand wollte Rhodes einen Grund zur Intervention bekommen, um den Aufstand niederzuschlagen und die brit. Souveränität über Transvaal herzustellen. Jamesons Überfall erwies sich jedoch als Fehlschlag, da die ‚Uitlander‘ in ihren Zielen gespalten waren und kein geschlossener Aufstand zustandekam. Außerdem kamen Jameson die Afrikaner-Kommandos zuvor und töten 65 ‚Uitlander’-Rebellen. Die restlichen Angreifer wurden verhaftet, Jameson wurde den Briten übergeben und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt; Rhodes mußte als Premierminister zurücktreten. Der J. ließ Matabeleland in Unruhe zurück, und die Unzufriedenheit mit der →British South Africa Company führte im März 1896 zum Aufstand der →Ndebele („First →Chimurenga – Erster Unabhängigkeitskrieg“). Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. A N N EK IE JO U B ERT Jamestown. 1607 im Gebiet des späteren Virginia gegründete erste engl. Niederlassung; gegründet am 13.5.1607 mit der Ankunft der ersten Expedition der London Company of Virginia. Ihre Rechtsgrundlage bildete die am 10.4.1606 von →Jakob I. gewährte →Char383
j APA nis c he r i m Per i A l i s m u s
ter. Zur Gesellschaft gehörten sowohl hohe Kronbeamte als auch wohlhabende Londoner Kaufleute. In der Charter war der Gruppe das Gebiet zwischen dem 34. und 45. →Breitengrad bis 100 km ins Landesinnere zu Eigentum, wirtschaftlicher Nutzung und Besiedlung zugewiesen worden. Sie erhielten das Handelsmonopol und das Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen und Bodenschätze abzubauen, von denen der Krone ein Fünftel als Anteil zu übergeben war. Die ca. 100 Siedler kamen in ein sumpfiges Gebiet, das zum Herrschaftsbereich der Powhatan gehörte. Lange Dürre hatte die Powhatan geschwächt. Die Erwartung der Siedler, von den Powhatan ernährt zu werden, stellten diese vor beinahe unlösbare Probleme. Die Engländer selbst – mehr als die Hälfte waren entweder Adelige oder deren Bedienstete – waren nicht darauf eingerichtet, sich selbst zu versorgen. Erst die Einführung einer drakonisch strengen Reglementierung des Wirtschaftslebens sicherte den Siedlern in den ersten Jahren das Überleben. Herausragende Persönlichkeiten waren John →Smith und Sir Thomas Dale. Um 1612 war das Überleben der Kolonie gesichert. Karen Kupperman, The Jamestown Project, Cambridge 2007. Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jh.s, Münster 22004. Janitscharen →Araber
HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Jap →Föderierte Staaten von Mikronesien, →Karolinen Japanischer Imperialismus. Zu den vorrangigen politischen Zielen des 1868 gegründeten modernen jap. Staates gehörten die Wiederherstellung seiner durch die Verträge mit den westlichen Mächten eingeschränkten Souveränität (Aufhebung der →„Ungleichen Verträge“), seine internationale Gleichberechtigung und die Errichtung einer regionalen Hegemonialstellung in Ostasien. Japan wurde zu einer modernen, zentralstaatlichen Monarchie umgebaut, wobei dem Ks. u. a. der Oberbefehl über das gegenüber der zivilen, parlamentarisch kontrollierten Reg. teilautonome Militär eingeräumt wurde. Ideologisch begründet wurde die starke Stellung von Ks. und Militär mit einer aus dem →Schintoismus herrührenden Führungsmission. Hinzu trat die ideologisch überhöhte Kriegerethik der vormodernen Samurai sowie die zum Okzidentalismus entwickelte Furcht vor Abhängigkeit vom aggressiven „Westen“. Gegenüber seinen asiatischen Nachbarn (auch im jap. Weltbild als rückständiger „Orient“ verstanden), die in unterschiedlichem Maße zum Objekt imperialistischer Weltpolitik wurden, trat Japan daher im Bewußtsein der kulturellen und militärischen Überlegenheit auf und scheute sich nicht, militärischen Druck zur Durchsetzung seiner außenpolitischen Interessen einzusetzen. In einer ersten Stufe des J. I. zerschlug das jap. Ksr. die traditionelle Peripherie des chin. Reiches: Taiwan-Strafexpedition von 1874, Inkorporation der Ryukyu-Inseln 1879, Inbesitznahme Taiwans und Ausschaltung des chin. Einflusses in Korea nach dem 1. Chin.-Jap. Krieg 1894/95, Teilnahme an der Niederschlagung des →Boxeraufstands 384
1900/01. Durch ein 1902 abgeschlossenes Bündnis mit Großbritannien gedeckt, drängte Japan anschließend europäische Konkurrenten zurück: Rußland im Gefolge des Russ.-Jap. Kriegs 1904/05 aus der Mandschurei und Korea, Deutschland im Ersten Weltkrieg 1914/15 aus China und der Südsee. Während der Sibirischen Intervention beteiligte sich Japan 1918–1922 im Kampf gegen die Bolschewisten an der Besetzung von Teilen →Sibiriens (Nord-Sachalin wurde erst 1925 geräumt). Japans wichtigstes Interventionsobjekt wurde in der dritten Phase das in postrevolutionäre Wirren verstrickte China. Die jap. Armee führte 1931 die Abspaltung der Mandschurei herbei, die in der Folge als eigener, multiethnischer, von Japan abhängiger Staat (international kaum anerkannt) agierte und zu einem Experimentierfeld neuartiger Herrschaftstechniken wurde, und errang die Kontrolle über Teile des chin. Nordens. 1937 entwickelten sich die Konflikte in China zum 2. Chin.-Jap. Krieg, dessen Ziel aus jap. Sicht die Bildung eines jap. dominierten Herrschaftsraumes („Neue Ordnung in Ostasien“) sein sollte. Seit 1938 galt in Japan und seinen Territorien die uneingeschränkte Generalmobilmachung aller materiellen und menschlichen Ressourcen, um diese Kriegsziele zu erreichen. Dem Widerstand gegen seine China-Politik insb. aus den →USA und Großbritannien begegnete Japan seit 1936 (Antikomintern-Pakt, →Komintern) mit der Annäherung an Deutschland und Italien. Seit 1940 waren diese Länder formell verbündet. In der vierten Phase überfiel Japan 1941 die europäisch-am. Kolonien und Stützpunkte in Ost- und →Südostasien und proklamierte eine „Großostasiatische Wohlstandssphäre“ unter Einschluß der bisherigen Kolonien. Der Krieg wurde jetzt als „Großostasiatischer Krieg“ zur Befreiung der Völker Asiens bezeichnet, obgleich sein Hauptziel die Sicherung der südostasiatischen Rohstoffquellen war. Japan scheiterte nach beachtlichen Anfangserfolgen an der materiellen Überlegenheit der Kriegsgegner, am Widerstand der lokalen, zunehmend anti-jap. Unabhängigkeitsbewegungen und an den Widersprüchen zwischen Anspruch und Praxis der jap. Herrschaft, die sich in zahlreichen Vergehen an der Bevölkerung der unterworfenen Gebiete manifestierten. 1946 sagte sich Japan in seiner neuen Verfassung von der Anwendung kriegerischer Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen los. William G. Beasley, Japanese Imperialism, 1894–1945, Oxford 1987, 21991. Mark Driscoll, Absolute Erotic, Absolute Grotesque: The Living, Dead, and Undead in Japan’s Imperialism, Durham NC 2010. Fumio Moriya, The Character of Japanese Imperialism, Tokio 1961. REIN H A RD ZÖ LLN ER
Japanisches Kaisertum →Kaisertum, Japanisches Japanisches Kolonialreich. Nach der Auflösung der sinozentrischen Weltordnung in Ostasien begann Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s mit der Expansion seines Territoriums. 1869 wurde die Insel Ezo in Hokkaido umbenannt und unter Beseitigung der letzten Reste der Ainu-Autonomie sowie der 1868 gegründeten Rep. Ezo in den neuen jap. Staat integriert. 1876 wurden die auch von Briten und Amerikanern beanspruch-
j Au n d e
ten Ogasawara-Inseln (Bonin-Inseln) annektiert, 1879 das formal unabhängige (faktisch jedoch seit 1609 von Japan abhängige) Kgr. der Ryukyu-Inseln gegen chin. Widerspruch inkorporiert. 1895 trat China die Insel Taiwan (seit 1894 Rep. Taiwan) an Japan ab. 1905 verlor Rußland die Südhälfte der Insel Sachalin an Japan. Zugleich wurde das Ksr. Groß-Han (Korea) jap. →Protektorat und 1910 unter dem Namen Chosen vollständig okkupiert (→Okkupation). 1921 erhielt Japan vom →Völkerbund das Treuhandmandat über die ehem. dt. Südseebesitzungen. Während die vor 1895 gewonnenen Territorien als reguläre Teile des jap. Mutterlandes (naichi) betrachtet und als Präfekturen bzw. Präfekturteile verwaltet wurden, blieben Taiwan, Korea, Süd-Sachalin (bis 1942) und die Südseegebiete als „äußere Territorien“ (gaichi) vom Geltungsbereich der jap. Verfassung ausgenommen. International wurden daher nur diese Erwerbungen als Kolonien wahrgenommen. In Taipei (jp. Taihoku) und Seoul residierten jap. Gen.-gouv.e, die mit hohem bürokratischem Aufwand die militärische und zivile Administration dieser Kolonien leiteten. Auf Taiwan leisteten insb. indigene Bevölkerungsgruppen lange Zeit bewaffneten Widerstand, in Korea bildeten sich Unabhängigkeitsbewegungen, die teils friedlichen, teils gewaltsamen Widerstand leisteten. Japan reagierte darauf mit polizeilichen und militärischen Repressalien, die u. a. zu einer Emigration koreanischer Bevölkerungsteile nach →Sibirien bzw. in die Mandschurei führten. Japan baute in seinen Kolonien moderne Infrastrukturnetze auf, führte das jap. Schul- und Hochschulwesen ein (das z. T. allerdings jap. Siedlern vorbehalten blieb), förderte die →Industrialisierung (exportorientierte Landwirtschaft und Leichtindustrie, Abbau von Bodenschätzen) und begann seit den 1920er Jahren mit einer Assimilierungspolitik, die während des →Zweiten Weltkriegs forciert wurde (Einschränkung des Gebrauchs der lokalen Sprachen, Einführung von jap. Personennamen, Wehrpflicht, Wahlrecht). In Korea und Taiwan entstanden hybride Lebensstile und Alltagskulturen, umgekehrt wuchs in Japan das Interesse an der kulturellen Produktion seiner Kolonien. Die jap. Einwanderung in die Kolonien war – außerhalb der →Marianen u. →Palaus, wo sie die →Demographie zu verändern drohte – verhältnismäßig gering. Umgekehrt migrierten insb. Koreaner in erheblicher Zahl für Ausbildung oder Arbeit nach Japan. Politische Unterstützung fand der jap. K. bei bürgerlichen Nationalliberalen (die für eine friedliche Expansion durch Emigration, Auslandsinvestitionen und Japans mission civilisatrice gegenüber seinen als unterentwickelt betrachteten Nachbarn eintraten), Konservativen (die dem Konzept geopolitischer Interessenlinien des jap. Reiches anhingen oder neuen Lebensraum für verarmte jap. Bauern erwarteten) und extremistischen Ideologen (die Japan z. B. eine Führungsrolle bei der weltweiten Verbreitung des →Buddhismus oder beim Kampf gegen den westlichen Imperialismus zuschrieben). Mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg verlor Japan alle seit 1895 erworbenen Territorien. Die Dekolonialisierung war mit der Enteignung und Vertreibung der jap. Siedler und einer (teils bis heute andauernden) Problematisierung der Kol-
laboration und des Zusammenhangs von Modernisierung und Kolonisierung verbunden. Q: Michele M. Mason / Helen J. S. Lee, Reading Colonial Japan. Text, Context and Critique, Stanford, CA 2012. L: I-te Chen, Japanese Colonialism in Korea and Formosa, Ann Arbor 1983. Chih-ming Ka, Japanese Colonialism in Taiwan, Boulder CO 1995. Yuko Maezawa, Mikronesien im Ersten Weltkrieg. Kulturkontakte u. Kulturkonfrontationen zwischen Japanern, Deutschen u. Mikronesiern, Wiesbaden 2015. Jun Uchida, Brokers of Empire, Cambridge, Mass. 2011. REIN H A RD ZÖ LLN ER
Jaunde (frz. Yaoundé, Ongola-Ewondo). Sitz der Reg. und mit über 2 Mio. Ew. die zweitgrößte Stadt →Kameruns. Gleichzeitig ist J. Sitz der Region Centre. Sie liegt auf dem südkamerunischen Randgebirge, 731 m über dem Meeresspiegel. Um J. herum ist Kamerun am dichtesten besiedelt mit ca. 2 000 Ew. pro km². Der Jahresniederschlag beträgt 1 617 mm, es gibt zwei ausgeprägte Regenzeiten im Sept./Okt. und Apr./Mai. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 23,3° C und schwankt im Jahresverlauf nur unwesentlich, ein Grund für die europ. Kolonialherren, sich eher dort anzusiedeln als im heißeren →Duala. Der Name „J.“ bezieht sich auf die Ethnie Ewondo, die in dem Gebiet ansässig war und die von den anderen Ethnien „Jewondo“ genannt wurde. Der Anthropologe Laburthe-Tolra weist darauf hin, daß „J.“ eine durch Georg Zenker von seinen Vorgängern übernommene Fehlaussprache und falsche Transkribierung des Wortes „Ewondo“ sei. Aus „Jewondo“, veraltete Pluralform von „Ewondo“, entstand „J.“ als falsche dt. Transkribierung. Die Bezeichnung „Ongola“ hingegen wurde von Ortsansässigen entworfen. Essono Ela, dem Herrscher, der die erste dt. Expedition empfangen hatte, hätte der Widerstandsführer Omgba Bissogo empfohlen, einen Zaun um seine Gegend, „Ngola“, aufzubauen, um den dt. Eindringlingen den Weg zu sperren. Durch einen Zaun seien dt. Aktionen in der Gegend zum Scheitern verurteilt. Der Zaun wurde aber nur von Omgba Bissogo selber in seinem auf einer Höhe und nördlich von J.-Zentrum gelagerten Gebiet gebaut. Essono Ela hatte eher eine Zusammenarbeit mit den dt. Kolonialherren bevorzugt. J. wurde am 30.11.1889 im Auftrag der dt. Kolonialverwaltung von dem dt. Offizier und Forschungsreisenden Richard Kund und seinem Mitreisenden Georg Zenker als wissenschaftliche Forschungsstation und Basislager für den Elfenbeinhandel (→Elfenbein) gegründet. Die städtebauliche Entwicklung von J. begann unter der Herrschaft des dt. Forschers Georg Zenker. Umwandlung in eine Militärstation 1895; 1903 Überführung in Zivilverwaltung, 1905 Erhebung zum Bezirksamt. Die Station blieb aber bis zum Ende der dt. Kolonialzeit 1916 militärisch besetzt. J. hatte eine wichtige Funktion bei der Besetzung des kamerunischen Hinterlandes durch die dt. →Schutztruppe, denn die Station diente „zum Schutze der dt. Händler und als Bollwerk gegen aus Norden und Osten andrängende Stämme der Wute“, einer feindseligen →Ethnie (Schnee 1920: 128). 1911 wurde die Station Karl →Atangana unterstellt und Sitz eines einheimischen Obergerichts als neue indigene Verwaltungs385
j AvA
instanz. Im Ersten Weltkrieg wurde die Stadt von belg. Truppen in Besitz genommen und 1922 als Yaoundé zur Hauptstadt von Frz.-Kamerun erhoben. Karl Atangana soll bei diesem Prozeß eine zentrale Rolle gespielt haben. Die ehem. Hauptstadt Kameruns →Buea wurde als Hauptstadt von Engl.-Kamerun beibehalten. Nach der Unabhängigkeit wurde J. auch Hauptstadt Kameruns bzw. 1964 des vereinten Kameruns. J. ist Verkehrsknotenpunkt und industrielles Zentrum für die Tabakindustrie (→Tabak), Milcherzeugung, Ton-, Glas- und Holzindustrie. Darüber hinaus ist es regionales Zentrum für →Kaffee, →Kakao, Kopra, Zuckerrohr (→Zucker) und Gummi. J. ist durch den Flughafen, Bahnverbindungen nach Edéa und Duala sowie nach Ngaoundéré u. ein dichtes Straßennetz ein Verkehrsknotenpunkt. Die Stadt ist Sitz der Banque des États de l’Afrique Centrale. Die Universität J. wurde 1962 gegründet und 1993 in zwei eigenständige Universitäten geteilt. Des weiteren bestehen zwei private Universitäten, die Université Y.-sud und die Université Catholique d’Afrique Centrale, sowie das Goethe-Institut. Sehenswürdigkeiten sind das Musée d’Art Camerounais im Benediktinerkloster Mont Fébé, der ehem. Präsidentenpalast, die Kathedrale Notre Dame sowie das Monument de la Réunification. Athanase Bopda, Yaoundé et le défi camerounais de l’intégration, Paris 2003. Kengne Fodouop, Les petits métiers de rue et l’emploi. Le cas de Yaoundé, Yaoundé 1991. André Franqueville. Yaoundé, Paris 1984. Philippe Laburthe-Tolra, Yaoundé d’après Zenker (1895), Yaoundé 1970. Aaron S. Neba, Modern Geography of the Republic of Cameroon, Camden 1987. GE RMAI N NYADA / T I L O GRÄT Z
Java. Zentrum der ndl. Kolonialherren im Ind. Archipel und in ganz Asien. Die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) brauchte zur Sicherung ihrer Stationen auf den →Molukken einen Stützpukt weiter im Westen, der nicht nur den ersten Landepunkt nach der Seereise durch die Sundastraße darstellte. Sie brauchten auch einen Stützpunkt, der so weit im Westen des Archipels lag, daß er erlaubte, andere europäische Kolonialmächte am Eindringen in den Archipel zu hindern. Das betraf sowohl die Portugiesen, die sich in →Malakka festgesetzt hatten, als auch Engländer und Dänen. Diesem Ziel diente die →Eroberung Jakartas 1619, das in →Batavia umbenannt wurde. Dabei war die Position der dortigen ndl. Garnison durchaus prekär. Eingezwängt zwischen den Kgr. en →Banten im Westen und dem aufstrebenden →Mataram im Osten, mußte sie sich v. a. in den 1620er Jahren ständiger Angriffe erwehren. Während Banten 1684 endgültig als Machtfaktor ausgeschaltet wurde und das Monopol der Holländer anerkannte, war die Beziehung zu Mataram durch immer wieder aufflammende Konfrontationen und Kriege geprägt. Ursprünglich wollte die VOC als Handelsgesellschaft keine territoriale Kolonialmacht sein. Dies ließ sich aber v. a. auf J. langfristig nicht realisieren. Um die Stützpunkte zu sichern und zu versorgen, benötigte man Hinterland. 1677 zwang Batavia Mataram, mit dem Priangan-Distrikt das erste größere Stück Land abzutreten. Anders als die vielen kleinen Fürstentümer auf den anderen Inseln des Archipels 386
blieb Mataram immer eine potentielle Bedrohung für Batavia. Um ihre Herrschaft zu stabilisieren, schränkten die Holländer den Einfluß Matarams immer weiter ein. Für die Holländer war diese Entwicklung keineswegs ausschließlich positiv. Die ständige Auseinandersetzung mit Mataram band beträchtliche finanzielle und militärische Mittel, und die Annexion immer neuer Gebiete trieben die Verwaltungskosten in die Höhe. Ferner waren sie mit der Struktur einer Handelsgesellschaft kaum vereinbar. Diese Umstände waren einer der Gründe für den Bankrott der VOC 1799. Zu dieser Zeit übernahm der ndl. Staat selbst die Kolonialgeschäfte. Allerdings waren zu jener Zeit die Niederlande bereits frz. besetzt. Die Franzosen schickten 1808 Herman Willem Daendels nach J., um die Kolonie auf eine erwartete engl. Invasion vorzubereiten. Daendels setzte umfangreiche Reformen in Kraft. Er beendete de facto die Unabhängigkeit der bestehenden einheimischen Reiche. Die javanische Aristokratie wurde nur noch als Teil der europäischen Verwaltung angesehen. Diesem Prinzip blieb auch der Engländer Stamford →Raffles treu, der J. 1812 eroberte. Widerstand war nicht mehr möglich. Die Feindseligkeiten des Sultans von Yogyakarta beantwortete Raffles mit einem Frontalangriff auf die Hauptstadt und der Plünderung des Sultanspalastes. Dieser Konflikt schwelte auch weiter, nachdem J. nach den Napoleonischen Kriegen wieder an die Niederlande zurückgegeben worden waren. Die Holländer waren nicht bereit, die alten Verhältnisse wieder herzustellen, sondern waren bestrebt, eine moderne Kolonie aufzubauen mit effektiver Verwaltung, der Erhebung von Steuern und wirtschaftlicher Ausbeutung. Der letzte große Rebellionsversuch unter dem Yogyakarta-Prinzen Diponegoro mündete im sog. J.-Krieg 1825–1830, der für die Aufständischen im Desaster endete. Danach gab es keinen effektiven Widerstand mehr. Im Gegenteil: 1830 führten die Holländer das Zwangsanbausystem ein, das den Javanern vorschrieb, bestimmte marktgängige Produkte anzubauen, die von den Holländern zu festgelegten Preisen aufgekauft und vermarktet wurden. Behilflich war dabei eine immer umfangreichere javanische Bürokratie. Die sich herausbildenden immer komplexeren kolonialgesellschaftlichen Strukturen führten zu tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft. Einheimische wurden immer mehr in den Modernisierungsprozeß hineingezogen, was sich in zunehmender Urbanisierung und dem Entstehung einer immer größeren Beamtenschicht zeigte. Bestandteil dieser Entwicklung war der Ausbau des Bildungswesens auf allen Ebenen. Entspr. änderte sich auch die Einstellung der Kolonialbehörden gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Sie fand ihren Ausdruck seit Beginn des 20. Jh.s in der sog. Ethnischen Politik, die den Einheimischen Fortschritt und Bildung bringen sollte. Im Kern ging es allerdings nur um die Optimierung kolonialer Wirtschaft und Verwaltung. Dem entsprach die Einführung einer strengen →Apartheid-Politik, die die Bevölkerung der Kolonie in verschiedene →Ethnien mit unterschiedlichem Rechtsstatus einteilte. Einheimische sollten keine Entscheidungsgewalt über die Geschicke der Kolonie erhalten. Eine solche Politik führte zwangsläufig nicht nur zu Friktionen innerhalb der Kolonialgesellschaft, son-
jef f ers o n , t h o mAs
dern auch zum Aufkommen zunächst ethnisch gefärbter nationalistischer Bewegungen, die schließlich in eine gesamtkolonial orientierte nationale Unabhängigkeitsbewegung mündeten. Dabei war entscheidend, daß allen ndl. Widerständen zum Trotz eine Vereinigung über die einzelnen Ethnien und Inseln der Kolonie, v. a. J.s und →Sumatras, stattfand. In den 1920er Jahren hatten sich die drei Hauptströmungen der antikolonialen Bewegung voll herausgebildet: Nationalismus, islamische Strömungen und Kommunismus bzw. Sozialismus. J. stellte neben Westsumatra das Zentrum der nationalen Bewegung dar. Die Kolonialmacht war nicht bereit, auf Forderungen der Einheimischen einzugehen. Sie blockte alle Versuche ab, durch politische Partizipation der Einheimischen den nationalen Aspirationen entgegenzukommen. Eine zunehmende Radikalisierung der Forderungen war die Folge. Auch hier reagierte die Kolonialmacht in erster Linie mit Repression. Anführer der Nationalisten – wie z. B. die späteren Staatsgründer →Sukarno und →Hatta – wurden verhaftet und in die Verbannung geschickt. Die Landung der jap. Streitkräfte am 1.3.1942 in Westjava veränderte den Lauf der Geschichte der Insel unumkehrbar. Die Kapitulation der Holländer und ihrer Verbündeten nach nur einer Woche zeigte den Javanern, daß die als unüberwindbar geltenden Kolonialherren von einer asiatischen Macht hinweggefegt wurden. Unter der jap. Besatzung wurden viele Einheimische in Verwaltungspositionen kooptiert, die ihnen vorher verschlossen waren. Aber zwei weitere Maßnahmen der Japaner waren noch wichtiger für die Zeit nach dem Krieg: Zum einen errichteten sie bewaffnete Einheiten der Einheimischen zum Heimatschutz, die später den Kern der Revolutionsarmee bildeten. Zum anderen boten sie den Nationalisten unter Sukarno Propaganda- und Entfaltungsmöglichkeiten. Damit konnten sich die Nationalisten im Gegensatz zu den islamischen Strömungen und den Kommunisten für die Folgezeit als dominante antikoloniale Macht positionieren. Daher war es Sukarno, der am 17. 8.1945 die indonesische Unabhängigkeit erklärte und den Charakter des indonesischen Staates entscheidend bestimmte. Die Holländer erkannten die Unabhängigkeitserklärung nicht an. Erst nach einem langjährigen →Kolonialkrieg erlangte →Indonesien am 27.12.1949 seine endgültige Unabhängigkeit. Denys Lombard, Le carrefour javanais, 3 Bde., Paris 1990. Desmond J.M. Tate, The Making of Modern SouthEast Asia, 2 Bde., Kuala Lumpur 1971/1979. F RI T Z S CHUL Z E
Jefferson, Thomas, * 13. April 1743 Shadwell / Virginia, † 4. Juli 1826 Monticello / Virginia, □ Monticello, anglik.-Episcopalian Der virginische Großgrundbesitzer und Jurist J. legte als Verfasser der am. Unabhängigkeitserklärung von 1776 sowie als Autor des für alle am. Bundesstaaten vorbildlichen Gesetzes zur Religionsfreiheit in →Virginia (1777/1786) in einzigartiger Weise die geistigen und verfassungsrechtlichen Grundlagen der →USA, deren dritter Präs. er 1801–1809 war. Als hochbegabter Architekt und Förderer der Wissenschaften prägte er zudem durch seine klassizistischen Entwürfe des Kapitols von
Virginia (1786) und des Hauptgebäudes der University of Virginia, (1821/1825), deren frühen Bau- und Bildungstraditionen. J. war der älteste Sohn des virginischen Parlamentsabgeordneten und Plantagenbesitzers Peter J., der ihn schon frühzeitig mit Hilfe eines privaten Tutors auf die Universitätslaufbahn vorbereitete. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters besuchte der erst vierzehnjährige J. zwei Jahre lang eine Lateinschule, bevor er am renommierten →College of William and Mary in Williamsburg ein breitgefächertes Studium aufnahm, in dem er sich hervorragende Kenntnisse des Lateinischen, Griechischen, der Mathematik und des architektonischen Zeichnens aneignete. Nach Abschluß seiner Studien trat J. in Williamsburg in eine Rechtsanwaltskanzlei ein, wo er sich zum Juristen ausbilden ließ. 1767 wurde er als Anwalt zugelassen, betätigte sich aber nebenher auch als Landwirt. Unweit von Shadwell ließ er ab 1768 sein herrschaftliches Landhaus Monticello nach eigenen Zeichnungen bauen. Als arrivierter Pflanzer repräsentierte er ab 1769 sein Heimatcounty Albemarle im Kolonialparlament. Durch die Heirat mit der wohlhabenden Witwe Martha Wayles Skelton, die neun Monate nach der Eheschließung die gemeinsame Tochter Martha zur Welt brachte, vergrößerte er 1772 seinen Landbesitz ganz erheblich. Weil er sich 1774 in seiner Streitschrift „Summary View of the Rights of British America“ gegen die einseitige Besteuerung am. Kolonisten durch die brit. Krone zur Wehr setzte und für die Selbstreg. der Amerikaner eintrat, durfte er Virginia im Zweiten Kontinentalkongreß als Delegierter vertreten. Dort betrieb er nach Beginn des bewaffneten Konfliktes zwischen am. Milizionären und brit. Armee ab 1775 die Loslösung der Kolonien von Großbritannien. Nach Verabschiedung der von ihm im Juni 1776 verfaßten Unabhängigkeitserklärung wurde er 1779 zum →Gouv. von Virginia gewählt. Der ihn tief bekümmernde Tod seiner Frau Martha hielt ihn ab Sept. 1782 für viele Monate von jeglicher politischer Betätigung fern, bis er nach Ende des Unabhängigkeitskrieges eine vom Kongreß ausgesprochene Ernennung zum am. Botschafter in Frankreich annahm. In Paris veröffentlichte er 1785 sein Buch „Notes on the State of Virginia“, mit dem er die Europäer über die politische Wirklichkeit Amerikas aufklärte. Umgekehrt versorgte er James →Madison, den Architekten der am. Bundesverfassung von 1787, mit Informationen über die föderative Verfassungsordnung des Dt. Reiches, das er 1788 bereiste. 1789 berief ihn George →Washington zurück nach Amerika, wo J. der jungen Nation als Außenminister diente. Nach Ablauf von Washingtons zweiter Amtszeit wurde er 1797 unter dem neuen Präs. John →Adams Vize-Präs., bis er 1800 selbst zum dritten Präs. gewählt wurde. 1804 gelang ihm die Wiederwahl. Während seiner Präsidentschaft vergrößerte er das Staatsgebiet der USA durch den Kauf des westlich des →Mississippi gelegenen frz. Territoriums Louisiana (→Louisiana Purchase) um mehr als das Doppelte. J. begrüßte diesen nach geschickten Verhandlungen mit Napoleon erzielten Landgewinn als Auftakt zur Begründung eines ganz Nordamerika umfassenden Imperiums der Freiheit. Gleichwohl blieb sein Verhältnis zu der mit den Prinzipien der Freiheit unvereinbaren Institution der 387
jesuiten
→Sklaverei zwiespältig. Obschon er sich gegen die fortgesetzte Sklaveneinfuhr in die USA aussprach, die 1808 vom Kongreß verboten wurde, entließ er als Gutsbesitzer doch nur fünf seiner 200 Sklaven in die Freiheit. Nach 1809 führte J. ein zurückgezogenes Leben in Monticello, widmete sich aber noch dem Ausbau des öffentlichen Erziehungswesens, da er glaubte, daß nur gut ausgebildete Bürger einer demokratischen Rep. Bestand verleihen konnten. Die University of Virginia, zu deren Gründern er gehörte, nahm 1825 in Charlottesville ihren Lehrbetrieb auf. Willi Paul Adams, Thomas Jefferson, in: Die am. Präsidenten, München 52009, 73–86. Joseph J. Ellis, American Sphinx, New York 1997. Kevin Hayes, The Road to Monticello, Oxford 2008. JÜRGE N OVE RHOF F Jesuiten. Initiator der bedeutendsten Ordensneugründung des 16. Jh.s war der baskische Adlige Iñigo (Ignatius) von Loyola (1491–1556), der nach einer Kriegsverletzung mit bleibender Gehbehinderung (1521), einem längeren Konversionsprozeß, einer Pilgerfahrt nach Jerusalem und Studien in Barcelona, Alcalá, Salamanca und an der Sorbonne sechs Gefährten um sich sammelte und mit ihnen 1534 in der Kapelle auf dem Montmartre in Paris die „Gesellschaft Jesu“ gründete. Da das gewünschte Einsatzgebiet, das Heilige Land, nicht erreicht werden konnte, begab sich die Gruppe nach Rom und stellte sich dem Papst zur Verfügung. Paul III. bestätigte 1540 den neuen Orden. Leitwort der J. sind die Ehre Gottes und das Heil der Seelen („Omnia ad maiorem Dei gloriam et ad iuvandum animas“). Ihre Lebensform steht nicht in der Tradition des Mönchtums („stabilitas loci“), sondern orientiert sich an der Aussendung der Jünger (Apostel) durch Jesus. Mission meint bei ihnen sowohl die persönliche Sendung wie ihre Arbeit vor Ort und den Ort ihrer Sendung, der unter Nicht-Christen, unter Nicht-Katholiken und unter nicht ausreichend evangelisierten Katholiken liegen kann. Die Gesellschaft Jesu entwickelte sich sehr dynamisch. Beim Tod des Ignatius zählte sie schon 1 500 Mitglieder in zwölf Provinzen, darunter drei in Übersee: →Goa (→Indien), →Brasilien und →Äthiopien. 1581 gab es 5 000 J., 1615 sogar 13 000. Mitte des 18. Jh.s hatte der Orden weltweit 22 500 Mitglieder in 39 Provinzen, von denen ⅓ in Übersee lag, fünf in Asien: Goa (errichtet 1549), die →Philippinen (1605), →Malabar (1605), Japan (1611) und China (1623), und acht in →Amerika: →Brasilien (1553), →Peru (1568), →Mexiko (1572), →Paraguay (1604), Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) (1609), →Chile (1683), →Quito (1696) und →Maranhão (1725). Hinzu kamen die nicht zu selbständigen Provinzen aufgewerteten Missionen der frz. Ordensassistenz auf den →Antillen, in Québec, im Vorderen Orient und in Indochina sowie jene der Port. Assistenz in Afrika. Äthiopien mußten die J. 1634 verlassen, die dortige Ordensprovinz wurde aufgelöst. In Übersee waren die J. in der Kolonialgesellschaft fest verankert. Sie unterhielten in allen größeren Städten →Kollegien, Kirchen und Profeßhäuser für ihre vielfältige Bildungs- und Seelsorgetätigkeit. Dies gilt insb. für Amerika, aber auch für port. Kolonialstädte in Asien wie Goa und →Macao. Die städtischen 388
Niederlassungen waren zugleich Rückhalt für die weit im Hinterland tätigen Missionare. In Amerika lagen die J.missionen meist in sehr peripheren Regionen und bildeten eine Art Puffer zwischen den durch koloniale Strukturen geprägten Gebieten und den noch nicht beherrschten Freiräumen der einheimischen Bevölkerung. In Asien schränkte die Präsenz und Stärke der großen eingesessenen Religionen die Möglichkeiten der christl. Mission ein. Die J. suchten hier den Weg des Dialogs, u. a. am Hof des Mogul-Ks.s (→Moguln) →Akbar I. (seit 1575) und am Ks.hof in Peking (seit 1601), und den der Akkomodation an die malabarischen und chin. Riten, was zu jahrzehntelangen innerkirchlichen Streitigkeiten führte und durch päpstliche Entscheidungen von 1704 und 1742 aufgegeben werden mußte. In Amerika grenzten sich die J.missionen weitgehend von der Kolonialgesellschaft ab. Die Ordensleute förderten die einheimischen Sprachen und das Zusammenleben der ethnischen Gemeinschaften in festen Siedlungen. Theater, Musik und Kunst hatten an der →Indigenisierung des Christentums und dem „gelenkten Kulturwandel“ (Wolfgang Reinhard) großen Anteil. So wurde eine Koexistenz von indigenen Kulturen und christl. Glauben möglich. Obwohl die J. 1759 aus den port., 1764 aus den frz. und 1767 aus den span. Besitzungen ausgewiesen wurden und 1773 der Papst sogar die Aufhebung der Gesellschaft Jesu verfügte, sind Nachwirkungen ihrer Arbeit in den Kulturen entlegener Regionen wie in der Chiquitanía (Ostbolivien) und im Archipel von Chiloé (Chile) bis heute wahrzunehmen. Die 1814 wieder errichtete Gesellschaft Jesu nahm unter ihrem Generaloberen Philipp Roothaan (1829–1853) die Missionsarbeit wieder auf, jetzt aber in strikter Unterordnung unter die päpstliche Propaganda-Kongregation. Dies bedeutete, daß sich die J. in das System „geschlossener Missionsgebiete“ einordnen mußten. Die J. wie die anderen Missionsorden erhielten die alleinige Verantwortung für bestimmte Gebiete. Jesuitische Missionsgebiete lagen in Indien – Westbengalen mit →Kalkutta (1834), →Madurai (1836), →Bombay-Puna (1854) –, China – hier besonders in der Kiangnan-Provinz an der YangtseMündung mit Schanghai –, →Indonesien (→Java, →Sulawesi) und Schwarzafrika – im Zentrum →Madagaskars, am Sambesi in →Sambia und →Simbabwe sowie im Südwesten von →Belg.-Kongo (Kwango-Mission). Stärker als in der alten J.mission lag der Akzent auf der Ausbildung eines einheimischen Klerus und der Heranführung der Eliten in Schulen und Universitäten an die europäisch geprägte moderne Welt. Die Begegnung mit den traditionellen Kulturen wurde dagegen hintangestellt. Ansätze dazu gab es aber in der Madurai-Mission in Indien und in den nordam. Indianermissionen, wo P. Pierre-Jean de Smets († 1873) Forderung nach Schaffung eines größeren indianischen Missionsterritoriums ohne Zutritt für weiße Siedler von der US-Reg. abgelehnt wurde. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurde das System geschlossener Missionsgebiete aufgegeben. Überall entstanden einheimische Ortskirchen. Das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) untermauerte diese Entwicklung mit einer neu ausgerichteten Ekklesiologie. Die 34. Generalkongregation des J.ordens (1995) definierte seine Sendung so: Integration von Dienst am Glauben, Einsatz
j e s u i ten i n s PAn i s ch - u n d P o rtu g i es i s ch - A m eri kA
für Gerechtigkeit, von Inkulturation und interreligiösem Dialog. Gegenwärtig hat der Orden ca. 20 000 Mitglieder, die meisten davon (ca. 3 000) in Indien. Johannes Meier (Hg.), Sendung – Eroberung – Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 2005. Ders., Religiöse Begegnungen und christl. Mission, in: Walter Demel (Hg.), Entdeckungen und neue Ordnungen (1200 bis 1800), Darmstadt 2010, 325–383. Klaus Schatz, Jesuitenmission in der neuen Gesellschaft Jesu (19./20. Jh.), in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 90 (2006), 226–247. J O HANNE S ME I E R / KL AUS S CHAT Z
Jesuiten, deutsche in Übersee. Im 17. und 18. Jh. gingen ca. 650 J., die aus den Provinzen „Rheni Inferior“, „Rheni Superior“, Germania Superior“, „Bohemia“ und „Austria“ der Dt. Assistenz der Gesellschaft Jesu stammten, nach Übersee, davon 414 nach Westindien, der Rest in die fünf asiatischen Ordensprovinzen →Goa, →Philippinen, Malabar (→Malabarküste), Japan und China. Schwerpunkte des Einsatzes in Iberoamerika waren die Provinzen →Paraguay (101), →Mexiko (83) und →Chile (74), während auf →Peru (46), →Quito (45), Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4., 34) und →Brasilien (28) kleinere Kontingente entfielen. ⅔ waren Priester (278), ⅓ Ordensbrüder (136). Unter den entsendenden Provinzen (278) stellten die Oberdt. (171) und die Böhmische (103) den größten Anteil, gefolgt von der Österr. (67), der Niederrheinischen (42) und der Oberrheinischen (31). Der typische Ausbildungsweg der Patres verlief über ein heimisches J.kolleg (→Kollegium), anschließender Ordenseintritt (im Alter zwischen 16 und 20 Jahren), zweijähriges Noviziat (die Oberdt. Provinz unterhielt im 18. Jh. ein eigenes Missionsnoviziat in Landsberg am Lech), dreijähriges Philosophiestudium, anschließendes mehrjähriges Lehramt (Magisterium), vierjähriges Theologiestudium; die Priesterweihe wurde oft schon ca. ein Jahr vor Abschluß des Theologiestudiums gespendet. Das anschließende Tertiat absolvierten die angehenden Missionare teils noch in der Heimatprovinz, teilweise auch während der Anreise in die Missionen in Spanien oder Portugal, im 18. Jh. vereinzelt bereits in Übersee. Die Profeß, das vierte Gelübde des besonderen Gehorsams, wurde in aller Regel nach mehreren Jahren des Missionseinsatzes in Übersee abgelegt. Fast die Hälfte (205) der aus den fünf zentraleuropäischen Provinzen stammenden J. war von der Ausweisung aus Brasilien (1759) und Span.-Amerika (1767) betroffen. Im 19. Jh. fügten die J. sich in das von der römischen Propaganda-Kongregation geleitete System ein, in welchem die einzelnen Missionsgebiete jeweils geschlossen einem Orden oder einer Missionsgesellschaft zugewiesen wurden. Dazu war es im J.orden üblich, die eigenen Missionsgebiete jeweils einer Heimatprovinz zuzuweisen. Was die dt. J. betraf, so wurden durch die Vertreibung aus Deutschland (1872–1917) relativ viele missionarische Kapazitäten frei. Um 1900 wirkte ca. die Hälfte der ausgebildeten Patres der Dt. Provinz in Übersee. Zuerst wurde 1856 die →BombayMission in →Indien von den dt. J. übernommen, dann
1869 zwei überseeische Missionen, die in erster Linie der Seelsorge der dt. Auswanderer gewidmet waren: Die Buffalo-Mission in den →USA, zu der ab 1886 auch die Indianer-Mission in Süd-Dakota gehörte, und die Südbrasilien-Mission in Rio Grande do Sul. Diese beiden Missionen wurden 1907 bzw. 1924 verselbständigt. Die Bombay-Mission ging durch den Ersten Weltkrieg und die Ausweisung der dt. Missionare aus Indien verloren. Ein Teil konnte jedoch als Puna-Mission 1929 von der Oberdt. Provinz zurückgewonnen werden. Dafür wurde Japan ein wichtiges Missionsgebiet der dt. J. 1908 wurden die ersten Anfänge der Sophia-Universität in Tokio geschaffen, 1922 die Hiroshima-Mission übernommen. In Rhodesien waren dt. J. seit der ersten Expedition 1879 mitbeteiligt. 1959 wurde die „Sinoia-Mission“ von der Ostdt. Provinz übernommen. Faktisch kam nach dem →Zweiten Weltkrieg →Indonesien hinzu, da Indien sich immer mehr gegen eine Einreise von Missionaren sträubte. Heute (2010) wirken 56 dt. J. in Übersee, davon 14 in Japan, 6 in Indonesien und 22 in →Simbabwe. Uwe Glüsenkamp, Das Schicksal der Jesuiten aus der Oberdt. und den beiden Rheinischen Ordensprovinzen nach ihrer Vertreibung aus den Missionsgebieten des port. und span. Patronats (1755–1809), Münster 2008. Johannes Meier, „Totus mundus nostra fit habitatio.“ Jesuiten aus dem dt. Sprachraum in Port.- und Span.Amerika, Mainz / Stuttgart 2007. Michael Müller, Bayerns Tor nach Übersee, in: Konrad Amann u. a. (Hg.), Bayern und Europa, Frankfurt/M. u. a. 2005, 169–184. Christoph Nebgen, Missionarsberufungen nach Übersee in drei dt. Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jh., Regensburg 2007. JO H A N N ES MEIER / K LA U S SC H ATZ
Jesuiten in Spanisch- und Portugiesisch-Amerika 1. Provinz Brasilien. Am 29.3.1549 fand die erste Aussendung von J.missionaren für den am. Kontinent statt. Sie waren für São Salvador da →Bahia de Todos os Santos in Brasilien bestimmt. Die Etablierung der J.mission in Brasilien folgte dem port. Plan, die seit 1500 in Besitz genommene Handelskolonie mit wenigen Faktoreien an der Küste dauerhaft zu besiedeln und verwaltungspolitisch zu stützen. Die J. waren ein wichtiger Teil dieser neuen Kolonialpolitik Portugals, denn die Gesellschaft Jesu sollte bei dieser Zielsetzung der Krone eine als dringend erachtete Aufgabe erfüllen: die „Zivilisierung“ der indigenen Bevölkerung. Bereits in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft etablierten die J. Waisenhäuser, die sich dank der Stiftung vermögender Kolonisten und der Förderung durch den Gen.-gouv. allmählich zu →Kollegien entwickeln konnten. Darüber hinaus wurde die Finanzierung der teuren brasilianischen Kollegien und des gesamten Missionsunternehmens – nach heftigen moralischen Debatten mit dem Ordensgründer Ignatius von Loyola und den beiden folgenden Ordensgenerälen Diego Laynez und Francisco Borja – durch produktive Landwirtschaft unter Hinzuziehung der Sklavenarbeit (→Sklaverei und Sklavenhandel) von Schwarzafrikanern auf lange Sicht abgesichert. Die Brasilianische Provinz (Provincia Brasilica Societatis Iesu) wurde am 9.7.1553 389
j e s u i t e n in s PA n i s c h - u n d P o rt u g i e s i s c h - Am eri k A
gegründet und war damit die erste offizielle Provinzgründung der Gesellschaft Jesu auf am. Boden. Der erste namhafte Missionar und Missionstheoretiker Brasiliens war Pater Manoel da →Nóbrega (1517–1570), Gründer der Brasilianischen Provinz und erster J.provinzial →Amerikas, ein Absolvent der Universität von Salamanca, wo die neuthomistische Theologie tonangebend war, sowie des in Fragen der Überseemission einflußreichen Kollegs von Coimbra. Bereits nach wenigen Jahren ihrer Präsenz im kolonialen Brasilien hatte die Gesellschaft Jesu die einflußreiche Stellung einer quasi richterlichen Instanz erlangt, zumal die Weltkirche in Brasilien kaum präsent war und das riesige Territorium des Landes über ein einziges Bistum in Salvador da Bahia (ab 1552) verfügte. Sie erfüllte die gesellschaftliche Mittlerrolle zwischen den beiden Welten der port. Kolonisten an der Küste und der noch nicht oder nur oberflächlich europäisch beeinflußten indigenen Bevölkerung im Landesinneren. Zu diesem Zweck wurden verschiedene Missionsdörfer (aldeias) im Laufe der Zeit im Gebiet der Indianervölker gegründet und fortschrittliche Missionsmethoden angewandt, die einerseits eine Inkulturation beabsichtigten und auf die Landessprache der Indios, das Tupi, bewußt zurückgriffen, andererseits bei jeglicher Ablehnung des Missionsinhalts durch die Zielgruppen oder angesichts von Aufständen, Rebellionen und Rückschlägen in den Missionsdörfern von ständiger militärischer Repression durch die Staatsmacht vollkommen abhängig blieben. Der berühmteste Protagonist dieser zentralen Phase der Geschichte der J. in Brasilien war der dritte Brasilienprovinzial und Dramaturg José de →Anchieta (1534–1597) aus Teneriffa, der bedeutende Katechismen und missionarische Theaterstücke in der Hauptsprache der Indios, Tupi, hinterließ. Auf der anderen Seite begrüßte er, daß der Gen.-gouv. Mem de Sá aufsässigen Indiostämmen mit kriegerischer Härte begegnete, was Anchieta als unabdingbare Voraussetzung einer erfolgreichen Christianisierung ansah. Die wichtigsten Ausbildungs- und Aussendungszentren in der Provinz Brasilien, die innerhalb von ca. 15 Jahren während des Provinzialates von P. Manoel da Nóbrega nacheinander gegründet werden konnten, waren - das Kolleg Meninos de Jesus, das 1550 als Waisenhaus begonnen hatte, in São Salvador da Bahia de Todos os Santos - das Colégio de Jesus und die gleichnamige Kirche in São Paulo de Piratininga (1553), Keimzelle der späteren brasilianischen Metropole →São Paulo - das Kolleg und die gleichnamige Kirche von São Sebastião do →Rio de Janeiro (1568) - das Kolleg von →Pernambuco und die Kirche Nossa Senhora da Graça in Olinda (1576). Die Gesamtstatistik der Brasilianischen Provinz weist auf dem historischen Höhepunkt des Missionsunternehmens in der zweiten Häfte des 18. Jh.s (1757) folgende Zahlen auf: 476 J. waren in Brasilien am Werk, davon 243 Priester (sacerdotes), 101 Brüder (coadjutores) und 132 Studenten. 2. Vizeprovinz Maranhão. Aus der Brasilianischen Provinz der J., die zunächst alle Regionen Port.-Amerikas 390
umfaßte, ging 1615 nominell und 1727 offiziell die Vizeprovinz Maranhão (Viceprovincia Maragnonium Societatis Iesu) in Nordbrasilien als siebte und letzte Missionsprovinz der Port. Assistenz des Ordens hervor. Diese Maßnahme folgte der politischen Aufteilung der brasilianischen Kolonie in zwei Teilstaaten im 17. Jh.: Estado do Brasil und Estado do Grão-Pará e Maranhão mit getrennten Reg.en in den entspr. Hauptstädten São Salvador da Bahia de Todos os Santos und Santa Maria de Belém do Grão-Pará. Die systematische Missionierung des brasilianischen Amazonasgebiets (→Amazonas) begann 1653. Die zwei wichtigsten Ausbildungszentren im nördlichen Brasilien waren das Kolleg Nossa Senhora da Luz in São Luis do Maranhão mit der gleichnamigen Kirche, gegründet von P. Luis Figueira in den Anfängen der Maranhão-Mission, samt der später erbauten Residenz und „Haus der Exerzitien“ Nossa Senhora Madre de Deus (1713) und das Kolleg Santo Alexandre mit der Kollegkirche São Francisco Xavier in Santa Maria de Belém. Diese ersten regulären Häuser wurden von P. Antônio →Vieira (1608–1697), dem politisch und literarisch – neben Nóbrega und Anchieta – bedeutendsten Brasilienmissionar der J., im Okt. 1653 gegründet. Für 1752 weist die Statistik der jesuitischen Personalkataloge (Catalogus Personarum) insg. 32 Missionsdörfer (pagi Indorum) in Nordbrasilien auf, davon 12 in Maranhão und 20 in Pará. Ersichtlich wird zwischen 1549 und 1757 eine stärkere Zunahme der Priesterzahlen bei gleichzeitiger Abnahme und höherer Spezialisierung der Brüder. An diesem Tatbestand ist eine zunehmende →Urbanisierung Brasiliens ablesbar; bis auf wenige Ausnahmefälle waren die J. aus den entlegenen Missionsdörfern um 1757 fast gänzlich verschwunden, da sie nur noch in Kollegien oder in der Verwaltung der Landwirtschaft arbeiteten. 1760 fiel die brasilianische J.mission der kirchenfeindlichen Säkularisierungspolitik Lissabons unter dem Minister Marquis von Pombal zum Opfer. 1759 wurden die ersten, ein Jahr später die letzten J.missionare des Landes verwiesen. Einige von ihnen wurden in Lissabon als Staatsfeinde inhaftiert. Fernando Amado Aymoré, Die Jesuiten im kolonialen Brasilien. Katechese als Kulturpolitik und Gesellschaftsphänomen (1549–1760), Frankfurt/M. 2009. Johannes Meier (Hg.), „…usque ad ultimum terrae“. Die Jesuiten und die transkontinentale Ausbreitung des Christentums 1540–1773, Göttingen 2000. Johannes Meier / Fernando Amado Aymoré, Jesuiten aus Zentraleuropa in Port.- und Span.-Amerika. Ein biobibliographisches Handbuch, Bd. 1, Brasilien (1618–1760), Münster 2005. A MA D O AY MO RÉ
3. Provinz Chile. 1593 kamen die ersten sieben J. unter Balthasar de Piñas (darunter auch Luis de Valdivia) nach Chile; Errichtung des ersten Kollegs in Santiago de Chile 1594 (Colegio Máximo de San Miguel). Anfänglich zur Provinz →Peru gehörig, bildete Chile 1604–1625 zusammen mit →Paraguay eine gemeinsame Provinz, dann wurde es als Vizeprovinz Peru unterstellt. Gründung der eigenständigen Provinz 1683 (mit 114 Mitgliedern). 1767/68, bei SJ-Ausweisung aus Chile insg. 386 J., davon 245 Patres, 78 Scholastiker und 63 Lai-
j e s u i ten i n s PAn i s ch - u n d P o rtu g i es i s ch - A m eri kA
enbrüder, in 10 Kollegien, 1 Noviziat, 3 Konvikten, 12 Residenzen, 22 Missionen und 8 Exerzitienhäuser, zahlreichen landwirtschaftlichen Gütern (→Haciendas) mit Viehweiden, Mühlen, Äckern, Weinbergen, aber auch Werkstätten, Glockengießereien, Ziegeleien, Webereien und Gold- und Silberschmieden etc., und 19 Missionen. Unter den 386 Mitgliedern waren 42 Zentraleuropäer, davon 17 Patres und 25 Brüder. Insg. kamen im 17./18. Jh. 74 zentraleuropäische J. nach Chile (35 Patres und 39 Laienbrüder), darunter als die bekanntesten der Münchener Karl Haimhausen als Prokurator und Organisator der dt. Chilemission Mitte des 18. Jh.s, der Kölner Bernhard Havestadt als bedeutender Kenner der indianischen Sprache und Kultur (Hauptwerk „Chilidúgú“, 3 Bde., Münster 1777) sowie der Tiroler Balthasar Hueber, seit 1762 letzter Provinzial Chiles vor der Ausweisung. Die Indianermission war auf dem Archipel von Chiloé ausgesprochen erfolgreich. In der Araukanie dagegen litt sie unter mehreren großen Indianeraufständen, so 1655, 1723 und 1766. J. waren, neben der Mission im Süden, v. a. in den kolonialen Städten wie Santiago und Concepción, hauptsächlich im höheren Bildungswesen, in der Beichtseelsorge (Beichtväter der Bischöfe und Gobernadores!) und als Prediger tätig, weniger jedoch im regulären Pfarrdienst, den überwiegend Weltgeistliche bzw. z. T. auch Franziskaner wahrnahmen. Wichtige Geschichtsschreiber der SJ Chile: Alonso de Ovalle (1646), Diego de Rosales (1674), Miguel de Olivares (1789). Pilar Bascunán (u. a.), A 400 años de la llegada de los Jesuitas a Chile, Santiago de Chile 1993. Rolf G. Foerster, Jesuitas y Mapuches 1593–1767, Santiago de Chile 1996. Michael Müller, Zentraleuropäische Jesuiten in Chile im 17./18. Jh., in: Expansion und Gefährdung, hg. v. Rolf Decot, Mainz 2004, 41–65. MI CHAE L MÜL L E R
4. Provinz Neu-Granada. Bereits seit 1618 wirkten Missionare aus dem dt.-sprachigen Raum auf dem Boden der später selbständigen Provinz Neu-Granada. Insg. handelt es sich um 21 Priester und 13 Brüder, die im Laufe von 150 Jahren in unterschiedlichen Funktionen hier wirkten. Der Großteil der Priester wurde in den Indianermissionen im Orinokogebiet (→Orinoko) eingesetzt. Zum Apostolat der Provinz gehörte aber in der Nachfolge Pedro Clavers auch die Pastoral unter den afr. Sklaven – hier taten sich insb. die Patres Peter Liner (1698–1745) und Michael Schabel (1662 – nach 1716) hervor – und die akademische Lehrtätigkeit an der Universität Javeriana (so z. B. Eberhard Hengstebeck (1725–1772)). Die Brüder wirkten zumeist als Gutsverwalter auf den großen Haciendas, die sich im Besitz des Ordens befanden und zur Finanzierung der Ordensaktivitäten dienten. Daneben konnten sich Brüder aus dt. Provinzen insb. als Apotheker – Innozenz Hochstätter (1691–1747), Leonhard Wilhelm (1722–1767) und Johannes Baptist Lewachez (1727–1755) – und als Maurer und Architekten – Michael Schlesinger (1729–1793) und Jakob Loessing (1590/94–1674) – betätigen. Beeindruckende Zeugnisse ihrer Tätigkeit bilden die nach den Plänen der Landsberger Noviziatskirche gestaltete Fassade der Kollegskirche San Pedro Claver in →Cartagena de Indias (Schlesin-
ger) und die Innenausstattung von San Ignacio in Bogotá durch Bruder Loessing, die im Bereich der Sakralkunst in Neu-Granada stilbildend wirkte. CH R ISTO PH N EB G EN
5. Provinz Neuspanien. Die Provinz Neuspanien der Gesellschaft Jesu wurde 1572 gegründet und war somit die dritte auf am. Boden (nach der brasilianischen und peruanischen). Der Orden widmete sich v. a. dem schulischen Bereich und gründete bis 1767 Kollegien in allen größeren Städten. Der Unterricht war gratis und wurde mittels Spenden aus erworbenen Haciendas finanziert. Diese wurden wirtschaftlich vorbildlich, ansonsten aber wie weltlicher Grundbesitz, d. h. durchaus auch unter Einsatz indianischer →Zwangsarbeit und afr. Sklaven, bewirtschaftet. Unterrichtet wurden v. a. die Söhne der kreolisch-span. (→Kreole) Oberschicht, in kleinerem Umfang auch Indios, im wesentlichen die Söhne von →Caciquen. In der Mission erzielte der Orden ab 1591 dauerhafte Erfolge. Seine ersten Operationszentren waren die damaligen span. Grenzposten im Nordwesten, zuerst die Villa de Sinaloa (heute Villa de Leyva). In den folgenden Jahrzehnten dehnten die J. parallel zur Expansion des →Bergbaus ihr Tätigkeitsgebiet ständig aus und gründeten sukzessive mehrere Missionsrektorate in der Sierra Madre Occidental zwischen den heutigen mexikanischen Bundesstaaten Sinaloa, Sonora, →Durango und →Chihuahua. Am Ende des 17. Jh.s begannen sie mit der Missionierung der Pimería Alta zwischen Sonora und Arizona und der Halbinsel Niederkalifornien. Ein wesentlicher Protagonist dieser Unternehmen war der aus dem Trentino stammende Francisco Eusebio Kino (1645–1711). Danach blieb die Expansion der J. gegenüber den kriegerischen Gruppen der Seris und →Apachen stecken. Nur weiter im Süden gelang 1721 noch die Gründung der Mission von Nayarit. Die berühmten jesuitischen Missionsmethoden sind in der Literatur vielfach verklärt worden. Die J. kombinierten zwar geschickt Mittel wie Predigt, Ritual, Förderung der Agrarstruktur und Schutz vor Übergriffen der Kolonisten, doch auch die Prügelstrafe und die Zusammenarbeit mit den span. Grenztruppen gehörten zum Alltag der Mission. Indigene Aufstände, wie 1595 in Sinaloa, 1616 unter den Tepehuanes, 1591 in der Pimería Alta, 1734 in Niederkalifornien, 1740 unter den Mayos und Yaquis und 1751 wieder in der Pimería Alta wurden allesamt unterdrückt. 1767 wurden die J. aus Neuspanien ausgewiesen. Unter den Exilanten entwickelte sich eine rege Publikationstätigkeit. Zu nennen ist besonders Francisco Javier de Clavijero, dessen in Italien verfaßte Schriften zur Ausformulierung eines kreolischen Selbstbewußteins beitrugen und daher als Wegbereiter der Unabhängigkeit →Mexikos gelten, zugleich aber auch in den 1780er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Francisco Javier Alegre, Historia de la provincia de la Compañía de Jesús de Nueva España, hg. v. Ernest J. Burrus / Félix Zubillaga, 4 Bde., Rom 1956–60. Bernd Hausberger, Für Gott und Kg., Wien / München 2000. BER N D H A U SBER G ER
391
j iA ng kAis h e k
6. Provinz Paraguay. Ende des 16. Jh.s kamen erste J. aus Peru und Brasilien ins spätere Paraguay (1586 nach Córdoba, 1588 nach →Asunción), das viel größer war als die heutige Rep., und →Argentinien, Uruguay sowie Teile Südbrasiliens und Ostboliviens umfaßte. 1604– 1608 Gründung der Provinz „Paraquaria“ mit Hauptsitz in Córdoba, zu der Tucumán, La Plata/→Buenos Aires, der Chaco, die Chiquitanía sowie (bis 1625) Chile gehörten. 1608 erste Provinzialkongregation in Santiago de Chile unter dem Gründungsoberen P. Diego de Torres Bollo mit Beschluß zur Befreiung der Indios vom „Servicio Personal“. 1611 zählte Paraguay 97 J., 1613 119, 1710 269 sowie 1750 303 J. in 9 Kollegien, 1 Universität, 1 Noviziat, 1 Seminar und 2 Residenzen, sowie 4 Missionsgebieten: Guaraní, sog. „J.staat“ am Paraná und Uruguay mit ca. 100 000 Indianern in 30 Reduktionen im heutigen Grenzgebiet von Paraguay, Argentinien und Brasilien. 1610–1768 tauften die J. insg. 702 086 Indianer. Gran Chaco: am rechten Ufer des Paraná zwischen Corrientes und Santa Fé, zählte 1767 in 15 Reduktionen ca. 10 000 Indianer (Abipones und Mocoví). PampasReduktion Nuestra Señora del Pilar. Chiquitanía (Tiefland Ostboliviens), 1767 in 10 Reduktionen über 20 000 christl. Chiquitos. Seit 1628 mehrere Raubzüge der →Bandeirantes aus São Paulo („Paulistas“) gegen die 13 Guairá-Reduktionen, Tausende Indianer getötet oder versklavt. Superior P. Ruiz de Montoya (neben P. Roque González de Santa Cruz eine Zentralgestalt der Mission) erreicht „Cédula Real“ zur Bewaffnung der Guaraní gegen die Bandeirantes (1640). Insg. zählten die Missionen Paraguays 1767 113 716 christl. Indianer. 1750 port.-span. Grenzvertrag von Madrid, die Folge Guaraníkrieg 1754–1756 um die sieben Reduktionen östlich des Uruguay mit 30 000 Indianern. 1767 Ausweisung der J. aus ganz Span.-Amerika. Wichtige Geschichtsschreiber und Autoren Paraguays: PP. Antonio Ruiz de Montoya, Nicolás del Techo, Pedro de Lozano, Pierre François Xavier de Charlevoix. In Paraguay waren insg. ca. 100 Mitteleuropäer tätig, darunter die bedeutendsten die PP. Anton →Sepp, Florian Paucke, Martin →Dobrizhoffer, Bernhard Nussdorfer. Sélim Abou, The Jesuit „Republic“ of the Guaranis (1609–1768) and Its Heritage, New York 1997. Peter Claus Hartmann, Der Jesuitenstaat in Südamerika 1609–1768, Weissenhorn 1994. Michael Müller, Das soziale, wirtschaftliche und politische Profil der Jesuitenmissionen, in: Sendung – Eroberung – Begegnung, hg. v. Johannes Meier, Wiesbaden 2005, 179–222. MI CHAE L MÜL L E R
7. Provinz Peru. Die 1568 errichtete Ordensprovinz Peru umfaßte zunächst alle span. Besitzungen in Südamerika, nach Abtrennung der eigenständigen Ordensprovinzen Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) und →Quito im Norden sowie Paraguay und Chile im Süden in etwa die Fläche der heutigen Staaten Peru und →Bolivien. Geistiges Zentrum der Provinz war →Lima, wo der Orden neben dem Profeßhaus ein Noviziat und Tertiat, das Collegium Maximum, zwei weitere Kollegien (eines mit Universitätsrechten), ein Klerikalseminar, ein „Seminar der Adeligen“ und eine 392
Residenz unterhielt. Darüber hinaus existierten 14 weitere Kollegien. Im Nordosten von Bolivien, z. T. auch im Gebiet des heutigen Staates Mato Grosso im Südwesten von Brasilien, entwickelte sich seit dem Ende des 17. Jh.s die Moxos-Mission. Beginnend mit der Gründung von Nuestra Señora de Loreto am 25.3.1682 entstand in den folgenden Jahrzehnten ein Netz von über 20 Reduktionen, in denen mehr als 40 000 Indios angesiedelt und im christl. Glauben unterwiesen wurden. Für die Entwicklung des Modells der Reduktion und die Mission im Gebiet des Altiplano sowie die Ausbildung der Missionare war Juli am Titicacasee von zentraler Bedeutung. Die Zahl der in der Ordensprovinz Peru tätigen J. wuchs seit Ende des 16. Jh.s stetig und erreichte 1754 mit insg. 543 J. ihren Höchststand. Von herausragender Bedeutung für die Provinzgeschichte ist das Wirken des aus Spanien stammenden J. José de →Acosta (1539/40–1600), der insb. ab 1576 als Provinzial die organisatorische und missionarische Entwicklung stark beeinflußte. Seit 1618 wirkten in der Ordensprovinz Peru auch dt.-sprachige J., bis zur Vertreibung 1767 insg. 31 Priester und 13 Brüder. Von besonderer Bedeutung ist die vielfältige literarische Hinterlassenschaft der Patres, die u. a. ethnographische, geographische, botanische und linguistische Themen umfaßt. Besonders zu erwähnen sind die Descriptio Provinciae Moxitarum von Franz Xaver Eder (1727–1772) sowie die Reise nach Peru von Johann Wolfgang Bayer (1722–1794), der zudem eine für die Linguistik bedeutende Predigt zur Leidensgeschichte Jesu in aymarischer Sprache verfaßte. P. Karl Hirschko (1721–1796) erlangte als Kartograph große Beachtung. In der Wissenschaft zeichnete sich P. Johann Röhr (1691–1756) besonders aus. Der Architekt, Astronom und Mathematiker bekleidete das angesehene Amt des Cosmógrafo mayor del Virreinato. Nach seinen Plänen wurden die Kathedrale von →Lima u. andere Häuser der J. nach dem großen Erdbeben von 1746 wiederaufgebaut. Darüber hinaus war er von 1750–1756 Hg. der Reihe Conocimiento de los tiempos, in der er auch eigene Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichte. Unter den Laienbrüdern verdient Br. Adalbert Wenzel Marterer (1691–1753) besondere Erwähnung. Ihm werden vier hölzerne Altarreliefs zugeschrieben, die 1911 aus der ehem. Reduktion San Pedro/Moxos nach Santa Cruz gebracht wurden und dort im Kathedralmuseum ausgestellt sind. U WE G LÜ SEN K A MP Jiang Kaishek (Jiang Jieshi), * 31. Oktober 1887 Xikou, † 5. April 1975 Taipei, □ Cihu Mausoleum in Daxi, method. Chin. nationalistischer Politiker und Heerführer. Er schlug die Militärlaufbahn als Kadett der Militärakademie in Baoding ein. Seit 1907 studierte er an der Militärakademie in Tokio. In der Zeit der chin. Revolution (1911) kommandierte er ein Regiment, das an der Besetzung von Shanghai teilnahm. Kurz danach kam er zurück nach Tokio, wo er Sun Yatsen und seine Bewegung unterstützte. Er wurde Mitglied der Chin. Nationalpartei (Zhongguo Guomindang) und war seit 1924 Kommandant der Guomindang-Militärakademie in Huangpu. Nach Sun Yatsens Tod (1925) stieß J. mit dem
ji n n A h , m u hAm m Ad A li
von den Kommunisten unterstützten linken Flügel der Guomindang zusammen. 1926/27 unternahm die Armee der Nationalisten den sog. Nordfeldzug (beifa) gegen separatistische Militärführer in Mittel- und Nordchina. J. kommandierte den rechten Flügel der Nationalisten, die am 21.3.1927 Shanghai einnahmen. 1928 wurde unter Leitung J.s in Nanking die Guomindang-Reg. gebildet, die allg. international anerkannt wurde. Die neue Reg. strebte Reformen in Verwaltung, Finanzen, Erziehung, Verkehr usw. an, ihre Bemühungen wurden aber durch weitere bewaffnete Konflikte behindert. 1928–1937 tobte der erste Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten, die ihre Basis in der Xiangsi Provinz verließen und nach dem Langen Marsch (1934/35) ihr Zentrum in die Provinz Shensi verlegten. 1931 okkupierten (→Okkupation) die Japaner die Mandschurei. Die zweite Phase der jap. Aggression begann 1937. Die J.-Reg. brachte sich in der Stadt Chongqing (Provinz Sichuan) in Sicherheit. 1937–1945 versuchte J.s Regime, mit den Kommunisten im Krieg gegen Japan zusammenarbeiten. Während des →Zweiten Weltkriegs bekam J. verhältnismäßig erhebliche finanzielle und materielle Hilfe der →USA. Kurz nach der Kapitulation Japans begann in China der zweite Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten (1946–1949), der den Sieg den Kommunisten und die Deklaration der Volksrep. China am 1.10.1949 brachte. J. floh mit seinen Anhängern und dem Rest seiner Streitkräfte auf die Insel Taiwan, wo die nationalistische Reg. weiter existierte und J. das Amt des Präs. bis zu seinem Tod 1975 innehatte. Jonathan Fenby, Generalissimo, London 2003. Kenji Furuya, Chiang Kaishek, His Life and Times, New York 1981. John S. Gregory, Jiang Jieshi, Santa Lucia 1982. AL E Š S KŘI VAN JR.
Jiménez de Cisneros, Gonzalo,* 1436 Torrelaguna, † 8. November 1517 Roa, □ Iglesia de San Ildefonso de Alcalá de Henares, rk. J., der in Salamanca studiert hatte und seit 1484 dem Orden der Franziskaner angehörte, bekleidete die ersten Jahrzehnte seines Lebens keine bedeutenden politischen oder kirchlichen Ämter. Sein Aufstieg begann erst 1492, als Isabella von Kastilien ihn zu ihrem Beichtvater ernannte. Bereits drei Jahre später war er Erzbischof von Toledo. Dieses Amt und das besondere Vertrauensverhältnis zu den katholischen Kg.en ermöglichten es ihm, weitreichende Reformen durchzuführen. Er befürwortete im Unterschied zu dem Bischof von Granada, Hernando de Talavera, eine rigorose Mission der Mauren zum Christentum, die Zwang einschloß. 1509 engagierte er sich persönlich bei der →Eroberung von Orán. Mindestens ebenso bedeutend wie auf die Missionspolitik war sein Einfluß auf die zum Ende des 15. Jh.s eingeleiteten Bildungsreformen. Insb. an der neu gegründeten Universität von Alcalá de Henares förderte J. das Studium der alten Sprachen und den geistigen Austausch mit den kulturellen Zentren Europas. Seine Kräfte schwanden auch nicht in den unruhigen Zeiten, die in Kastilien nach dem Tode Isabellas 1504 anbrachen. Nach dem Tode Ferdinands 1516 ebnete er dessen Enkel Karl I. (V.) den Weg zur Macht. Es war das maßgeblich von J. religiös diszi-
plinierte und reformierte Kastilien, das die Kraft hatte, eine Herrschaft von Dauer in Übersee zu etablieren. Der Kardinal griff überdies immer wieder selbst in das Geschehen jenseits des →Atlantiks ein. Er befaßte sich u. a. mit dem Problem der →Encomiendas und beauftragte drei Hieronymiten mit der Durchführung einer Reform. José García Oro, Cisneros. El cardenal de España, Barcelona 2002. D A N IEL D A MLER Jinnah, Muhammad Ali, * 25. Dezember 1871 Karachi, † 11. September 1948 Ziarat, □ Mazar-i-Quaid-Mausoleum in Karachi, musl. Sohn einer Familie der →Ismaili Gemeinschaft. Nach seiner Ausbildung in Karachi und →Bombay ging J. 1892 für weitere Studien nach England. Nach seinem Staatsexamen 1896 kehrte er nach →Indien zurück, um zunächst eine juristische Laufbahn anzustreben. 1906 trat J. dem →Indian National Congress (INC) bei und schloß sich 1913, obwohl noch Mitglied des INC, der →Muslim League (ML) an. Durch seine Stellung in beiden Parteien erarbeitete sich J. den Ruf des „Botschafters der Einheit“ zwischen Hindus (→Hinduismus) und Muslimen. 1916 gelang es ihm, den Lucknow-Pakt zwischen INC und ML zu schließen, um religionsübergreifend Forderungen gegenüber der Kolonialmacht zu erheben. Auf Grund verschiedener Auffassungen bezüglich des Ansatzes der non-cooperation →Gandhis, verließ J. den INC 1919, um seinen Fokus auf die Vertretung musl. Interessen zu lenken. 1929 erarbeitete J. eine alternative musl. Agenda, die sog. „14 Punkte“, als Antwort auf den Nehru Report (→Nehru), der Autonomie für Indien forderte. Enttäuschung ließ ihn zunächst nach London zurückkehren, um dann 1934 von den zuvor zerstrittenen Führern der ML zurückgeholt zu werden. In Indien angekommen, fing J. mit einer Reorganisation der ML an und wurde mit großer Mehrheit zum Präs. gewählt. Politisch wandte er sich zunehmend der Idee eines unabhängigen musl. Staates zu, welche zuvor vom musl. Dichter Muhammad →Iqbal ins Leben gerufen worden war. Seit 1937 warf J. dem INC vor, eine Politik zu betreiben, welche ausschließlich den Interessen der Hindus diene. 1940 wurde erstmals der Gedanke eines separaten musl. Staates geäußert und in Form der Lahore Resolution (→Lahore) konkretisiert. Unter der Leitung J.s avancierte die ML zur dritten Partei in den Unabhängigkeitsverhandlungen, welche zuvor ausschließlich von den Briten und dem INC geführt wurden. Am 16.8.1946 initiierte J. den Direct Action Day, um für die Bildung eines unabhängigen →Pakistans (→Pakistan-Bewegung) zu werben. Was eine friedliche politische Veranstaltung werden sollte, mündete in flächendeckender Gewalt mit tausenden Toten und Verletzten. Die letztendliche →Teilung Brit.-Indiens in zwei unabhängige Staaten Indien und Pakistan geschah am 14.8.1947. Als J. am 11.9.1948 starb, verlor die junge musl. Nation ihren Quaid-i-Azam (Großer Anführer) und Gründungsvater. Akbar Ahmad, Jinnah, Pakistan and Islamic Identity, Karachi 1997. Ayesha Jalal, The Sole Spokesman, Cambridge 1985. Stanley Wolpert, Jinnah of Pakistan, New York 1984. SIEG FRIED O . WO LF 393
joão vi.
(Dom) João VI., João Maria José Francisco Xavier de Paula Luís António Domingos Rafael de Bragança, * 13. Mai 1767 Lissabon, † 10. März 1826 Lissabon, □ Kirche São Vicente de Fora in Lissabon, rk. Nachdem seine drei älteren Brüder sehr früh verstorben waren und die Mutter, Kg.in Maria I., in geistige Verwirrung fiel, übernahm 1792 deren vierter männlicher Nachkomme J. die port. Reg.sgeschäfte. Zunächst setzte J. die traditionelle Anbindung an England fort und schloß sich den anti-frz. Koalitionen an. Das Vordringen Napoleons auf der iberischen Halbinsel und die port. Weigerung, sich an der Kontinentalsperre zu beteiligen, führte 1807 zur Invasion Portugals durch ein frz.-span. Heer. J. reagierte darauf mit der Verlegung des Hofes von Lissabon nach →Rio de Janeiro. In der neuen Hauptstadt etablierte sich der port. Herrschaftsapparat mit allen wichtigen, nun ganz auf Rio de Janeiro ausgerichteten Reg.sbehörden. Koloniale Verwaltungsinstanzen wurden aufgelöst und neue oberste Gerichtsbehörden geschaffen. Zu den wichtigsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen gehörten die Öffnung brasilianischer Häfen für ausländische, d. h. hauptsächlich brit. Schiffe, die Schaffung einer Zentralbank, die Einführung der Gewerbefreiheit, die Gründung einer Münze sowie die Errichtung von Manufakturen. Die infrastrukturellen Bedingungen für Wissenschaft und Künste wurden geschaffen durch die Gründung von Akademien für Militär, naturwissenschaftliche Forschung und Medizin, einer Kunstakademie, des Botanischen Gartens, der kgl. Bibliothek, Museen und eines Theaters. Die kgl. Druckerei erlaubte es zum ersten Mal, in →Brasilien Schriften legal zu vervielfältigen. Außerdem kamen nach 1808 viele Gelehrte, port. wie ausländische, ins Land, deren Arbeiten wichtige Impulse gaben und darüber hinaus Brasilien zum ersten Mal einem größeren europäischen Publikum bekannt machten. Politisch wertete J. Brasilien durch die Erhebung in den Rang eines Kgr.s 1815 auf. Seit 1785 war er mit Carlota Joaquina, einer Tochter des span. Kg.s →Karls IV., verheiratet. J. setzte die port. Expansionspolitik im brasilianischen Süden fort. Die Aufnahme der Provincia Cisplatina, des späteren Uruguay, in das Reich, blieb allerdings Episode. Seit 1799 trug J. den Titel eines Prinzregenten, nach dem Tode Marias 1816 wurde er Kg. des Vereinigten Kgr.s von Portugal, Brasilien und Algarve. Im Gefolge der liberalen Revolution in Portugal sah sich J. gezwungen, 1821 als Oberhaupt einer konstitutionellen Monarchie nach Lissabon zurückzukehren. Er ließ seinen Sohn als Thronfolger in Rio de Janeiro zurück. In die port. Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Anhängern einer absoluten Monarchie unter Führung seines Sohnes Miguel konnte J. nicht mehr entscheidend eingreifen. 1825 bekam J. noch den Ehrentitel eines brasilianischen Ks.s verliehen, bevor er wenig später, möglicherweise vergiftet, starb. Vera Lúcia Bottrel Tostes / Lia Sílvia Peres Fernandes (Hg.), Um novo mundo, um novo império, Rio de Janeiro 2008. Rogéria Moreira de Ipanema (Hg.), Dom João e a cidade do Rio de Janeiro 1808–2008, Rio de Janeiro 2008. Jorge Pedreira / Fernando Dores Costa, Dom João VI, São Paulo 2008. CHRI S T I AN HAUS S E R 394
Jorge Juan y Santacilia, * 5. Januar 1713 Novelda/Alicante, † 21. Juni 1773 Madrid, □ Panteón de Marinos Ilustres, San Fernando, rk. J. wurde als Absolvent der Marineakademie von Cadiz, einem der zentralen wissenschaftlichen Organe im Spanien des 18. Jh.s, zusammen mit A. de →Ulloa ausgewählt, eine frz. →Expedition nach Südamerika zum Zweck der Vermessung des Äquators und der Bestimmung der Form der Erde (1736–1745) zu begleiten. 1748 erschien ihre Relación histórica del viaje a la América meridional, deren erster Bd. über die Form und Größe der Erde von J. stammt. 1749 erschien die Disertación histórica y geográfica sobre el Meridiano de Demarcación. Diese und J.s spätere Schriften spielten eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Gedankenguts Newtons in Spanien. Das bekannteste Resultat der Reise, die Noticias secretas de América befaßte sich nicht mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen, sondern mit der Darstellung politischer und ökonomischer Gegebenheiten in den am. Besitzungen und blieb aus politischen Gründen unveröffentlicht. 1748 erhielt J. den Auftrag, nach England zu reisen, um Schiffbauingenieure anzuwerben und die engl. Häfen, den Schiffbau und engl. Flottenbewegungen auszukundschaften. Seine technischen Beobachtungen in England schlugen sich in Spanien in einer Reform der Studien der Marineakademie, der Gründung eines dort angesiedelten Observatoriums (1753), sowie in den Schriften Nuevo Método Español de Construcción Naval (1754) und Examen marítimo (1771) nieder. 1751 wurde er zum Direktor der Marineakademie ernannt, 1767 zum außerordentlichen Botschafter in →Marokko, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. 1770 wurde er Direktor des im Zuge der großen Bildungsreform umgestalteten Real Seminario de Nobles. Luis J Ramos Gómez, Época, génesis y texto de las „Noticias secretas de América“ de Jorge Juan y Antonio de Ulloa, 2 Bde., Madrid 1985. Antonio Lafuente / Antonio Mazuecos, Los caballeros del punto fijo. Ciencia, política y aventura en la expedición geodésica hispanofrancesa al virreinato del Perú en el siglo XVIII, Barcelona 1987. Emilio Soler Pascual, Viajes de Jorge Juan y Santacilia. Ciencia y política en la España del siglo XVIII, Barcelona 2002. A LEX A N D R A G ITTER MA N N Juárez, Benito →Mexiko Juiz de fora, (dt.: Externer Richter). Für die lokale Verwaltung zuständiger Beamter der port. Krone. Bis gegen Ende des 17. Jh.s bildete im →Port. Kolonialreich der senado da →câmara die einzige Verwaltungsbehörde auf lokaler Ebene. Seit Ende des 17. Jh.s wurden in den größeren Städten des Reiches J. als kgl. Kommissare, darin den hispanoam. →corregidores oder →alcaldes mayores ähnlich, eingesetzt. Der erste J. für →Goa wurde 1688 ernannt, in →Brasilien für Salvador da →Bahia 1696 und für →Rio de Janeiro 1703. Absicht war es, den sich ausweitenden Einfluß der Câmaras zu beschränken und Kroneinnahmen zu sichern. Als Vorsitzender der Câmara ernannte der J. deren Mitglieder auf Vorschlag. Die J. entstammten im Gegensatz zu anderen Beamten der untersten Ebene der Territorialverwaltung nicht der lokalen
j u s ti z
Bevölkerung und waren akademisch ausgebildete Juristen, die direkt vom Kg. ernannt wurden. Auf Grund der schlechten Forschungslage ist über die J. und ihre Amtsführung wenig bekannt. Anthony J. R. Russell-Wood, Local Government in Portuguese America: A Study in Cultural Divergence, Comparative Studies in Society and History 16 (1974), 187–231. CHRI S T I AN HAUS S E R Junghuhn, Franz Wilhelm, * 26. Oktober 1809 Mansfeld, † 24. April 1864 Lembang (Java), □ unbek., ev.luth. Nach Schule, Abitur und abgebrochenem Medizinstudium, langjähriger Haftstrafe wegen eines Duells und Flucht nach Frankreich schloß sich J. 1834 für kurze Zeit der →Fremdenlegion in →Algerien an. Zurück in Deutschland erfuhr er von seiner Begnadigung, beendete sein Medizinstudium und trat 1835 als Militärarzt III. Klasse auf Java in die ndl. Kolonialarmee ein. Von zahlreichen Exkursionen brachte J. genaue Untersuchungen, Vermessungen und Zeichnungen mit und begann – obwohl Autodidakt ohne ausreichende finanzielle Unterstützung und nur mit mangelhafter instrumenteller Ausstattung – in wissenschaftlichen Zeitschriften zu veröffentlichen. Nach dem medizinischen Examen zum Militärarzt II. Klasse und seiner Versetzung zum Sanitätsdienst wurde er 1840 nach →Sumatra geschickt und erhielt den Auftrag, die Länder der Batak zu erforschen, insb. im Hinblick auf nutzbare Böden und Naturschätze. Ebenso sollte er die politische Einstellung, Sprache und Schrift, Sitten und Gebräuche (v. a. den angeblichen Kannibalismus, →Anthropophagie) der Batak beschreiben. Zurück auf Java arbeitete J. die Ergebnisse in dem ersten nennenswerten Bd. über die Batak aus: Die Battaländer auf Sumatra (dt. 1847). Gleichzeitig setzte er seine botanischen und geologischen Forschungen mit ausgedehnten Reisen in Ost-, Mittel- und Westjava fort, deren Ergebnisse er in seinem Buch Topographische und naturwissenschaftliche Reisen veröffentlichte. 1848 ließ er sich in Holland nieder und heiratete 1850. 1852–1854 erschien sein Hauptwerk Java, seine Gestalt, Pflanzendecke und innere Bauart, sowie anschließend die alle bis dahin erschienenen Karten Javas übertreffende Kaart van het einland Java. 1855 schiffte sich J. mit Frau erneut nach →Batavia ein, wurde „Inspektor für naturkundliche Untersuchungen auf Java“, mußte sich aber hauptsächlich um die Chinchonakulturen kümmern. Daneben unternahm er zur Ergänzung und Vertiefung seiner früheren Forschungen ausgedehnte Reisen, für die er später auch eine schwere und damals noch unhandliche Fotoausrüstung anschaffte. So ist neben seinen zahlreichen Skizzen, Meßpapieren, Aufzeichnungen, und teils auf Niederländisch, teils auf Deutsch erschienenen Publikationen auch eine bemerkenswerte Fotosammlung erhalten. J. hinterließ Schriften, Bilder und Karten von „nicht zu übertreffender Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielseitigkeit und Vollständigkeit“, was ihm schon früh den Beinamen „der Humboldt von Java“ (→Humboldt, Alexander) eintrug. Wie eine Reihe von Deutschen in ndl.-ind. Diensten, ist J. in Deutschland nahezu unbekannt geblieben. 1909 er-
schien ein Gedenkband; dankbare Niederländer brachten an seinem Elternhaus eine Gedenktafel an. Goethe-Institut Jakarta (Hg.), Forschen – vermessen – streiten: Franz Wilhelm Junghuhn (1809–1864), Berlin 2010. Max C. P. Schmidt, Franz Junghuhn, Leipzig 1909. SIG RU N WA G N ER
Justiz. Der von dem lat. iustitia (Gerechtigkeit) abgeleitete Begriff J. steht im staatsrechtlichen Sinne für die Judikative, wird im dt.-sprachigen Raum aber allg. eher als Synonym für Rechtspflege verstanden. Mit Rechtspflege ist die Sorge für den geordneten Ablauf der Rechtsbeziehungen zwischen Menschen gemeint, also die Tätigkeit der Einrichtungen der Rechtsprechung, die dem Schutz und der Durchsetzung des →Rechts dient. Sie umfaßt daher nicht nur die Anwendung des Rechts auf den Einzelfall durch den Staat bzw. durch seine Organe (Rechtspflege im materiellen Sinn), sondern stellt sich auch als Sammelbegriff für sämtliche von der Rechtsprechung und von weiteren Einrichtungen (Staatsanwaltschaften, J.verwaltung, Strafvollzugsbehörden, Notariate) wahrgenommenen Tätigkeiten dar (Rechtspflege im formellen Sinn). Die wesentlichen Kennzeichen der J. sind die planvolle Organisation des Gerichtswesens, also das geordnete Ineinander- und Übereinandergreifen von Gerichten verschiedener Art in größerer oder geringerer Zahl, und das geordnete Gerichtsverfahren, für die jeweils spezielle Regelungen bestehen. Die Gerichtsbarkeit selbst kann freilich nur ausüben, wer die Macht und die Fähigkeit besitzt, dem Gericht Autorität zu verleihen und seine Anordnungen und Entscheidungen notfalls mit Zwang durchzusetzen. J. ist folglich stets ein Element der jeweiligen Herrschaftsbefugnisse. Daher ist die Ausübung der Gerichtsbarkeit Sache eines Herrschaftsträgers, der diese Befugnis anderen Gerichtspersonen, z. B. Richtern, überlassen kann. Sie erfolgt gemeinhin an einem speziellen Ort, der Gerichtsstätte. Seit dem 19. Jh. ist eine zunehmende Verschriftlichung der Produkte der (staatlichen) rechtsprechenden Organe zu beobachten, welche zuweilen auch in Entscheidungssammlungen und juristischen Zeitschriften publiziert zu werden pflegen. Für die Überseegeschichte sind im Kontext der Rechtspflege die J.reformen Frankreichs seit 1790 von Bedeutung. Diese Reformen auf den Gebieten der Gerichtsverfassung, der Prozeßordnungen, der Gesetzeskodifikationen und der Gewaltenteilung waren neben der Abschaffung privater Gerichtsbarkeit sowie des privilegierten Gerichtsstandes, der Einführung eines festen Instanzenzuges, der Schaffung der Staatsanwaltschaften als Vertretung der Rechte des Staates in einem Verfahren, der Einführung des Prinzips der Öffentlichkeit sowie des Grundsatzes der Mündlichkeit des Verfahrens und der Regelung des Status des Richterpersonals vorbildlich für Rechtspflege in den meisten Staaten Kontinentaleuropas. Durch die freiwillige oder auf Grund der durch die Kolonialmächte vorgenommenen unfreiwilligen Rezeption europäischen Rechts waren die Auswirkungen der J.reformen Frankreichs auch für viele Überseegebiete von Bedeutung, wenngleich der rechtsstaatliche Standard der Rechtspflege in den Kolonialgebieten (→Kolonialjustiz) zumeist geringer war als im kolonialen Mutterland. Zu395
j u z g A d o g e n e r A l d e n Atu r A l es
dem strahlten die Grundsätze europäischen Rechts und europäischer J. über die →Konsulargerichtsbarkeit nach Übersee aus. Gleich dem Rechtspluralismus kam es in den außereuropäischen Kolonialgebieten häufig auch zu einem Pluralismus der Gerichtsbarkeit. Hier trat neben dem Gerichtssystem des Kolonialstaats eine traditionell ausgeübte J. In der Gesellschaft anerkannte lokale Autoritäten nahmen die Rechtsprechung auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage vor. Die Streitschlichtungsorgane religiöser Gemeinschaften wandten zur Beilegung von Konflikten zwischen ihren Mitgliedern religiöses Recht an. Die Stellung und Zuständigkeit traditioneller und religiöser Streitschlichtungsorgane waren unterschiedlich ausgestaltet. Teils waren sie vom kolonialstaatlichen Recht anerkannt und mit bestimmten Zuständigkeitsbereichen betraut, vielfach bestanden sie aber auch außerhalb des kolonialstaatlichen Systems. Die Mehrzahl dieser Konflikte kam allerdings aus verschiedenen Gründen (z. B. weite Entfernung des Gerichts, hohe Verfahrenskosten, Unkenntnis der Gerichtssprache und des vom Gericht angewandten Rechts) gar nicht erst vor die kolonialstaatlichen oder kolonialstaatlich anerkannten Gerichte. Daneben bildete sich v. a. in urbanen Regionen vieler Kolonialgebiete, v. a. in Subsahara-Afrika, eine informelle Gerichtsbarkeit heraus, die insb. auf zivilrechtlichen, teils sogar auf strafrechtlichem Gebiet ein Recht entwickelte und anwandte, das einerseits an die Gewohnheitsrechte vorkolonialer politischer Systeme erinnerte und andererseits den jeweiligen zeitgenössischen Lebensverhältnissen angepaßt war. Eine Durchsetzung der Entscheidungen dieser Gerichte erfolgte im sozialen Umfeld. Nach der →Dekolonisation behielten die unabhängigen Staaten das von den Kolonialmächten hinterlassene J.system, inkl. seines etwa bestehenden pluralistischen Charakters, gemeinhin bei. Herbert M. Kritzer (Hg.), Legal Systems of the World. A Political, Social and Cultural Encyclopedia, Santa Barbara 2002. Konrad Zweigert / Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen 31996. HARAL D S I P P E L Juzgado General de Naturales ist die Bezeichnung für eine im 16. Jh. im kolonialen Hispanoamerika geschaffene und teilweise bis in die Unabhängigkeitszeit hineinreichende Sondergerichtsbarkeit für die indigene Bevölkerung. In ihr kann eine Fortsetzung und Transformation der mittelalterlichen kastilischen Kg.sgerichtsbarkeit unter den besonderen Bedingungen der Neuen Welt gesehen werden. Man versuchte, das aus christl. Tradition stammende und im römisch-kanonischen mittelalterlichen →Recht überlieferte Gebot des Schutzes der Schwachen als personae miserabiles v. a. durch Verfahrensprivilegien nun in einer Institution umzusetzen. Im Fall des in Neu-Spanien eingerichteten J. wurde aus Tributleistungen ein Stab von Rechtskundigen unterhalten, die kostenfreien Rechtsrat gaben und die Indianer vor Gericht vertraten. Der Vize-Kg. urteilte mit Hilfe von Beisitzern nach besonderen Regeln und im summarischen Verfahren. Man hat den J. positiv als eine frühe Form der Rechtsschutzversicherung angesehen (W. Borah). Die Verfahrensvereinfachungen konnten freilich 396
auch eine Einschränkung des Schutzniveaus bedeuten. Auch im →Vize-Kgr. →Peru lassen sich, wenngleich auf niedrigerem Niveau, ähnliche Institutionalisierungen beobachten. Rechtsschutz sollte hier allerdings überwiegend direkt über die Protectores oder ausnahmsweise auch über die →Corregidores gewährleistet werden, von denen die Verfahrensprivilegien zu beachten waren. Woodrow Borah, Justice by Insurance, Berkeley 1983. Thomas Duve, Sonderrecht in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 2008, insb. 126ff. TH O MA S D U V E Kabila, Laurent Désiré, * 27. November 1939 Jadotville (heute: Likasi), † 16. Januar 2001 Kinshasa, □ Palais de la Nation, Kinshasa, rk. K., 1997–2001 Präs. der Demokratischen Rep. →Kongo, wurde als Sohn eines Beamten in der südöstlichen Provinz Katanga geboren. Als junger Mann engagierte er sich in der „Balubakat“, einer Patrice →Lumumba nahestehenden Regionalpartei. 1960 nahm K. am Aufstand gegen die sezessionistischen Bestrebungen von Katangas Provinz-Gouv. Moïse Tshombé teil. 1964 schloß er sich der lumumbistischen Rebellion des „Conseil National de Libération“ (CNL) an. Er traf Ernesto Guevara und nahm an Konferenzen der Organisation der Afr. Einheit (→OAU) und der Blockfreien-Bewegung teil. Nach dem Zusammenbruch des CNL gründete er 1967 die maoistische Rebellengruppe „Parti de la Révolution Populaire“ (PRP), mit der er sich in der Region Fizi am TanganyikaSee verschanzte. 1975 erpreßte die PRP Lösegeld für vier entführte westliche Studenten. Als die Armee von →Zaïre in der Folge den Druck verstärkte, flüchtete K. ins ostafr. Ausland. 1996 bildeten mehrere Nachbarstaaten ein Bündnis gegen Zaïres Präs. Joseph →Mobutu und rekrutierten K. zunächst als Sprecher der kongolesischen Rebellenarmee „Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération“ (AFDL). Nach der →Eroberung des Landes wurde K. am 17.5.1997 Präs. der Demokratischen Rep. Kongo. 1998 brach er mit seinen ruandischen und ugandischen Verbündeten, die daraufhin neue Rebellengruppen bildeten und den Osten und Nordosten des Landes besetzten. Bis zu seiner Ermordung 2001, mutmaßlich durch Putschisten aus den eigenen Reihen, regierte K. de facto nur ca. die Hälfte des Staatsgebiets. Sein Sohn Joseph K. folgte ihm im Amt des Staatspräs. Erik Kennes, Essai Biographique sur Laurent Désiré Kabila, Tervuren 2003. A LEX V EIT Kabua →Marshallinseln Kaempfer, Engelbert, * 16. September 1651 Lemgo, † 2. November 1716 Lieme b. Lemgo, □ unbek., ev.luth. Der Sohn eines lutherischen Pastors besuchte Lateinschulen in Lemgo, Hameln, Lüneburg und Lübeck und setzte seine Ausbildung am Athenaeum in Danzig, in Thorn und Krakau (1674) fort. Er studierte in Königsberg Medizin und Naturgeschichte und wechselte 1681 an die Akademie in Uppsala. Auf Grund seiner Beziehungen zu Hof- und Gelehrtenkreisen in Schweden wurde K. zum Sekretär einer schwedischen Gesandtschaft zum russ. und persischen Hof ernannt, die im März 1683 in
k Af f ee
Stockholm aufbrach, über Moskau und Astrachan führte und ein Jahr später Isfahan erreichte. Als erster Europäer beschrieb K. die Erdölquellen beim heutigen Baku. Im Dez. 1684 erhielt er den Posten eines Oberchirurgen bei der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie, konnte jedoch erst Ende 1685 aus Isfahan abreisen und mußte überdies bis Juni 1688 in Bandar Abbas ausharren. Nach einem Aufenthalt an der ind. Küste erreichte er im Herbst 1689 →Batavia. Nachdem seine Bemühungen um eine Anstellung im dortigen Hospital erfolglos geblieben waren, nahm er das Angebot an, als Arzt in der ndl. Faktorei auf der Insel Deshima vor Nagasaki zu arbeiten. Die Reise nach Japan führte über →Siam, wo K. Gelegenheit zu geographischen Beobachtungen hatte. Während seines zweijährigen Japanaufenthalts (1690–1692) gelang es K. trotz der Restriktionen, denen Ausländer in dem weitgehend von der Außenwelt abgeschotteten Land unterworfen waren, durch einheimische Informanten sowie auf zwei Reisen zum Ks.hof zahlreiche Informationen über →Geographie, Geschichte, politische und religiöse Verhältnisse sowie medizinische Kenntnisse der Japaner zusammenzutragen. Über →Java und das →Kap der guten Hoffnung reiste K. 1693 nach Holland zurück, wo er im folgenden Jahr in Leiden promovierte. Nach seiner Rückkehr nach Lemgo ließ er sich im nahegelegenen Dorf Lieme nieder, wo er sich neben seiner medizinischen Praxis, u. a. als Leibarzt des Grafen zur Lippe, der Auswertung der Reiseaufzeichnungen widmete. Zu Lebzeiten konnte er allerdings nur ein Werk, die Amoenitates exoticae (1712), die sich vorwiegend mit Persien befassen, publizieren. K.s Nachlaß wurde 1725 von dem engl. Arzt und Naturforscher Sir Hans Sloane erworben und gelangte später ins British Museum. Sein Hauptwerk, die Geschichte und Beschreibung von Japan, wurde 1727 zunächst in engl. Übersetzung veröffentlicht und erschien 1729 in ndl. und frz. Ausgaben sowie 1747–1749 in einer Rückübersetzung ins Deutsche. 1777–1779 wurde der Text nach der Originalhandschrift von C.W. Dohm neu hg. (2 Bde.). K.s Grundlagenwerk prägte das Japanbild in der europäischen Gelehrtenwelt des 18. Jh.s nachhaltig. Detlef Haberland (Hg.), Engelbert Kaempfer – Werk und Wirkung, Stuttgart 1993. Ders. (Hg.), Engelbert Kaempfer (1651–1716). Ein Gelehrtenleben zwischen Tradition und Innovation, Wiesbaden 2005. Dietmar Henze, Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Bd. 3, Graz 1993, 3–7. MARK HÄBE RL E I N Kaffee. Roh-K. stellt heute nach Erdöl das zweitwichtigste Welthandelsgut dar. Das daraus gewonnene Heißgetränk zählt zu den Genußmitteln. Typisch für den K. ist seine geistig anregende sowie diuretische und purgative Wirkung durch das Koffein. Hergestellt wird K. aus den gebrannten und gemahlenen Samen (K.-Bohnen), die die Früchte (K.-Kirschen) verschiedener Arten der tropischen K.-Pflanze enthalten. Das gewonnene K.-Pulver wird in Wasser aufgebrüht. Damit folgen Zubereitung und Konsumform der klassischen Tasse K. bis heute dem Vorbild der arab. Ursprungskultur. Die ursprünglich aus →Äthiopien stammende K.-Pflanze wurde erstmals auf der arab. Halbinsel kultiviert, wo auch das Heißgetränk entwickelt wurde. Der Jemen trat dabei als einziger
K.-Produzent auf, der Verbraucherzonen in Arabien, im →Osmanischen Reich und in Persien mit Roh-K. belieferte. Die Konsumpraxis war privat und öffentlich: In Haushalten wurde K. als Morgen- und Tagesgetränk genossen, zugleich aber auch in K.-Häusern, die sich besonders zahlreich in den urbanen Zentren ausbreiteten. Auch der Konsumzweck galt einem Doppelmotiv: K. wurde als soziales Genußmittel und als die Verdauung förderndes, Blut und Organe reinigendes und vor Blasensteinen schützendes Heilmittel getrunken. Diese Elemente der orientalischen K.-Kultur spielten für den europäischen Adaptionsprozeß eine zentrale Rolle. Europa (geographisch: Westeuropa) wurde erst im 16. Jh. auf den K. aufmerksam. Die entscheidende Vermittlerfunktion übernahmen dabei europäische Orientreisende, die über den K., seine Herstellungstechnologie, Konsumorte und Genußmotive berichteten. Im 17. Jh. begann die Verbreitung des Heißgetränks in der europäischen Gesellschaft, wobei die Diffusion in einem top-to-bottonProzeß verlief. Dabei lassen sich zwei wichtige Stoßrichtungen fassen: Höfe und Aristokratie und das K.-Haus, das sich als neue öffentliche Institution ab der Mitte des 17. Jh.s in europäischen Städten etablierte und mit seinem gehobenen Kulturangebot (gepflegte Konversation, Zeitungsservice, Schach, Konzert) v. a. bürgerliche Schichten ansprach. Über diese Begegnungsstätte drang K. in die privathäusliche Sphäre vor. Mehrere Schlüsselmotive sicherten ihm den nachhaltigen Erfolg: K. wurde als Statussymbol, leistungssteigernder Wachmacher, Sozialgetränk und Heilmittel gegen Organbeschwerden und Krankheiten geschätzt. Auch wenn er in der Frühen Neuzeit noch nicht in die breite Bevölkerung vorstoßen konnte und sein Durchbruch zum Massenkonsumartikel erst ins 20. Jh. fiel, bewirkte die Einführung des K. noch in dieser Epoche markante, bis heute lebendige Innovationen in der europäischen Alltagskultur: die K.-hauskultur, den Frühstücks-K., das K.-kränzchen und die Erfindung von K.-surrogaten. Parallel zur wachsenden Nachfrage in Europa setzte der Globalisierungsprozeß der K.-Pflanze ein, der von verschiedenen europäischen Expansionsmächten getragen wurde. Waren die Engländer, Franzosen und Niederländer noch im 17. Jh. auf Importe von K. aus dem Jemen angewiesen, hatten die Niederländer das jemenitische Anbaumonopol 1712 mit dem ersten, auf →Java erzeugten Kolonial-K. gebrochen. Er beruhte auf aus dem Jemen geschmuggelten Setzlingen. Allerdings dominierte →Ndl.-Indien nur in der ersten Hälfte des 18. Jh.s den europäischen K.-Markt. Zwischenzeitlich auch nach Ndl.-Guyana verschickte K.-Pflanzen zeitigten bald Anbauerfolge, führten zu einer Ausweitung der Anbaugebiete in Frz.-Westindien, Span.- und Port.Amerika und zur Massenproduktion mittels schwarzer Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel). Während sich die →Karibik, insb. Frz.-Westindien, in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zum weltweit größten Anbieter von Roh-K. emporschwang, wurde sie im Laufe des 19. Jh.s von →Brasilien als neuem Spitzenproduzenten abgelöst, gefolgt von mittelam. Staaten. Gemeinsam dominieren sie bis heute die globale Produktion, auch wenn K. in allen Tropengebieten der Erde erzeugt wird. 397
kAiro
Brian Cowan, The Social Life of Coffee, New Haven / London 2005. Annerose Menninger, Genuß im kulturellen Wandel, Stuttgart 22008. Pim Reinders / Thera Wijsenbeek, Koffie in Nederland, Zuphten 1994. ANNE ROS E ME NNI NGE R
Kaffer →Neger Kairo. Die 969 vom Fatimiden-Feldherrn Djauhar († 992) gegründete Stadt ist mit 16–25 Mio. Ew. (inkl. Umland) größte Stadt Afrikas und der gesamten islamischen Welt. Der Name K. leitet sich von arab. Al-Qâhira (die Starke) ab, ein Attribut des Planeten Mars. K. liegt am Übergang von der engen Flußoase des →Nils zum breiten Delta. Die weltberühmten Pyramiden von Gizeh im Westen der Stadt, die aus Steinen des auf der östlichen Nilseite sich erhebenden Mukattam-Felsen erbaut wurden, und die Reste der antiken Hauptstadt Memphis im Süden bezeugen, daß der Ort schon früher metropolische Bedeutung hatte. Die oströmische Festung mit ihren 42 Kirchen hatte nach der arab. →Eroberung 641 zunächst keine größere Bedeutung, erst die schiitischen Fatimiden erhoben den Ort zum Zentrum ihrer von →Marokko bis in den →Hedschas reichenden Herrschaft. 970 wurde die Al-Azhar-Moschee gegründet, und K. blieb auch unter den wieder von Bagdad aus regierenden Ayyubiden religiöses Zentrum der islamischen Welt. Saladin (1137–1193) beseitigte die letzten Reste des schiitischen →Islams und begann mit dem Bau der Zitadelle. Unter den Mamluken (Militärkaste der „Kg.ssklaven“, einstige Leibgarde der Ayyubiden) wurde K. wieder unabhängig und blieb es bis zur osmanischen Eroberung 1517. Nach dem frz. Intermezzo 1798–1801 wurde →Ägypten zum Vize-Kgr. erhoben, und unter den →Khediven Mehmet Ali und →Ismail setzte die Modernisierung auch der Hauptstadt ein, die faktisch ab 1881, formal von 1914– 1922 ein brit. →Protektorat regierte. Im →Zweiten Weltkrieg warteten viele Kairiner Nationalisten vergeblich auf Rommels Einzug; am 22.3. 1945 wurde die Arab. Liga gegründet; nach der Revolution 1952 stieg die Ew.zahl durch Geburtenrate und unkontrollierte Landflucht sprunghaft an. Trotz der immer unlösbarer erscheinenden Aufgaben der Stadtverwaltung, für alle Kairiner menschenwürdige Bedingungen (von der Hygiene bis zur Bildung) und ausreichend Sicherheit zu garantieren, ist K. heute immer noch kultureller Brennpunkt Nordafrikas und des Nahen Ostens. Dazu trug ganz besonders seine blühende Filmindustrie bei, die den ägyptischen Dialekt weit über die Landesgrenzen hinaus verbreitete. Mit der Al-Azhar-Mosche (an der gleichnamigen Universität waren 2004 375 000 Studierende eingeschrieben) übt die Kairiner Sunna Autorität in der gesamten islamischen Welt aus; die über 10 % zählenden Kopten besitzen in der Markus-Kathedrale die zweitgrößte Kirche in Afrika. Von den nach dem Zweiten Weltkrieg noch 55 000 Juden sind aber nach den Kriegen mit Israel nur noch wenige hundert in K. geblieben. K. ist als Zentrum von Handwerk und Kunst am Schnittpunkt dreier Kontinente mit seinen bedeutenden Sammlungen aus der 5000-jährigen Geschichte Ägyptens, die im Ägyptischen Museum, aber auch im Museum arab. und islamischer Kunst sowie im 398
Koptischen Museum zu besichtigen sind, auch Hauptattraktion des internationalen →Tourismus und Ausgangspunkt für Besuche der Pyramiden (Cheops, Chephren, Mykerinos und Sphinx – seit 1979 Weltkulturerbe der UNESCO) und Tempel Unter- wie Oberägyptens. Günter Meyer, Kairo. Entwicklungsprobleme einer Metropole der Dritten Welt, Köln 1989. Oleg V. Volkoff, 1000 Jahre Kairo, Mainz 1984. BER N H A R D STREC K Kaisertum, Chinesisches. China bezeichnet sich selbst als Reich der Mitte. Als solches sah es sich im Zentrum dessen, was „unter dem Himmel“ (tianxia) liegt und als Inbegriff jeglicher Zivilisation. Am Rande seiner Machtsphäre, in der „äußeren“ Welt lebten nur Barbaren. Der chin. Ks. galt als der moralische und politische Angelpunkt der Weltordnung. Er besaß das Mandat des Himmels und damit universale Macht über Frieden, Wohlstand und Sitte. Er war oberster Gesetzgeber, oberster Richter, oberster Administrator, oberster Herr der Beamtenschaft, oberster Zeremonienmeister für alle Staatsopfer und militärischer Oberbefehlshaber. Die im 15. Jh. in Peking errichtete Verbotene Stadt, in der der chin. Ks. fortan residierte, galt als irdisches Spiegelbild dieser im Kosmos waltenden Ordnung. Alle Gebäude richten sich an einer Nord-Süd-Achse aus. Auf der Zentralachse stehen, durch eine mehrstufige Plattform über die irdische Welt gestellt, die wichtigsten Bauten. Der Ks. benutzte sie bei offiziellen Anlässen: die Halle der höchsten Harmonie als Thron- und Zeremonienhalle und die Halle zur Bewahrung der Harmonie, um die Examina für die höheren Beamten abzunehmen. Das Ksr. China war 221 v. Chr. von Qin Shihuang gegründet worden. Es löste verschiedene Feudalstaaten ab und war gekennzeichnet durch eine Zentralisierung der politischen Gewalt, eine effektive Verwaltung sowie die Standardisierung von Maßen, Gewichten und Schrift. In der Han-Dynastie (206 v.–220 n. Chr.) blieb die Verwaltungsstruktur erhalten, doch wurde die Beamtenhierarchie ausgebaut und gleichzeitig der Konfuzianismus zur Staatsdoktrin erhoben. Dieser bildete fortan die ethische Grundlage der chin. Gesellschaft und da er auf einem rigiden System von Über- und Unterordnung – so etwa Herrscher und Untertan, jung und alt – basierte, konnte er ein reibungsloses Funktionieren der Verwaltung gewährleisten. Nachfolgende Dynastien modifizierten und perfektionierten dieses Prinzip: So die Tang-Dynastie (618–907) und die Song-Dynastie (960–1279), die jeweils das Prüfungswesen für Beamte veränderten. Die Effektivität und Dominanz der Herrschaftsstrukturen in China zeigte sich besonders dann, als mit der Yuan-Dynastie (1279–1368) keine Chinesen, sondern Mongolen an die Macht kamen und so auch den Ks. stellten. Zwar spielten in der Verwaltung fortan Nichtchinesen wie Mongolen, aber auch Syrer und Perser eine größere Rolle, doch das auf einen kleinen, elitären Beamtenapparat gestützte K. wurde nicht in Frage gestellt. Ähnliches läßt sich auch bei der von den Mandschuren begründeten Qing-Dynastie (1644–1911) feststellen, die ebenfalls eine nicht-chin. Herrschaft ausübten. Chinesen wurde unter Androhung der Todesstrafe befohlen, mandschurische Kleidung und einen Zopf zu tragen. Auch waren Heiraten zwischen
k Ai s ertu m , j A PAn i s ch es
Chinesen und Mandschuren untersagt. Gleichzeitig festigten die Qing-Ks. die absolute Herrschaft des Monarchen durch scharfe Kontrollen der Beamtenschaft. Doch die Qing-Dynastie hatten sich nicht nur mit den üblichen Problemen chin. Machthaber auseinanderzusetzen – Herausforderung und Bedrohung des chin. Kerngebietes von den Randbezirken aus, Gegendynastien im Norden oder Süden, fortschreitende Verarmung der Bauern –, sondern auch mit den von Übersee kommenden Europäern. Konnten diese und ihre Handelsunternehmen zunächst noch in die südliche Stadt →Kanton abgedrängt werden, änderte sich die Situation mit den beiden Opiumkriegen (1840–1842, 1858–1860, →Opium) grundlegend, da in den abgeschlossenen →ungleichen Verträgen weite Zugeständnisse gemacht werden mußten. Auch den großen Taiping-Aufstand, der 1850 in der Provinz Guangxi entstanden war, konnte die Qing-Reg. nur mühsam unterdrücken. In dieser kritischen Zeit erwiesen sich Ks. und Hof, anders als manche Provinz-Gouv.e, als wenig flexibel und reformfreudig. Sie leiteten zunächst eine Restaurationsphase ein und entschlossen sich erst 1905 zur Durchführung durchgreifender Reformen, wie etwa die Abschaffung des alten Prüfungssystems, durch das seit Jahrtausenden die Beamten rekrutiert worden waren. Forderungen, sich auf die Nation zu besinnen und dem Volk Souveränität zu geben sowie die Entstehung einer politischen Gegenkultur durch revolutionäre Vereinigungen v. a. in Südchina stellten die Legitimität der QingDynastie immer stärker in Frage und führten schließlich zu deren Mandatsverlust und Sturz. Das chin. K. bestand 2133 Jahre bis zur Ausrufung der chin. Rep. durch Sun Yatsen am 1.1.1912 und die daraufhin erfolgte Abdankung des letzten Ks.s Pu Yi. Yuan Shikai, der erste Präs. der Rep. China, machte sich zwar 1915 selbst zum Ks., doch dieses sehr kurzlebige, 1916 wieder abgeschaffte Ksr. war, wie auch spätere Restaurationsversuche, von geringer Bedeutung. Q: Pu Yi, Ich war Ks. von China, hg. v. Richard Schirach, München 1988. L: Jacques Gernet, Die chin. Welt, Frankfurt 1997. Rainer Hoffmann / Qiahua Hu, China, Freiburg 2007. S US ANNE KUS S Kaisertum, Japanisches. Für den jap. Ks. kam neben verschiedenen anderen Bezeichnungen im 6. oder 7. Jh. das heute übliche „Tennô“ (Himmlischer Herrscher) auf. Für die mythologisch untermauerte Reichsgründung durch Jimmu, den ersten Landesherrscher in Menschengestalt, wurde von offizieller Seite ein Zeitpunkt festgelegt, der dem Jahr 660 v. Chr. entspricht und damit fast 1000 Jahre zu früh angesetzt sein dürfte. Ursprünglich war der Tennô offenbar auch ein militärischer Führer, der seiner Sonnen-Sippe nach dem Sieg über einzelne kleinere Herrschaften im 4. oder 5. Jh. zur Hegemonie über das ganze Land verhalf. Kernzelle des Reiches war Yamato, das Gebiet südlich der späteren Stadt Nara. Der legendäre erste Tennô soll ein direkter Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu Ômikami gewesen sein, der Schöpferin der jap. Nation. Der Thron wird in männlicher Linie vererbt, doch gab es in ältester Zeit auch Frauen in der Ausübung der Herrschaft. Die Dynastie wurde angeblich in einer ununterbrochenen Linie ver-
erbt, so daß alle Tennô auf Grund ihrer Abstammung göttlichen Status besitzen. Der Monarch, dem schamanisch-magische Fähigkeiten zugeschrieben wurden, ist gleichzeitig oberster Priester der einheimischen ShintôReligion (→Shintoismus), die von Natur-, Ahnen- und Heldenverehrung geprägt ist. Er ist auch Hüter der Reichsinsignien – Spiegel, Schwert und die sog. Krummjuwelen –, die von Amaterasu selbst verliehen worden sein sollen. Oberstes Heiligtum ist der Schrein von Ise. Im 6. Jh. setzte in Japan eine starke Beeinflußung durch China ein, die sich auf die Kultur einschließlich des Schriftsystems, die Einführung von Konfuzianismus und Buddhismus, das Rechtssystem und den Aufbau eines zentralisierten Beamtenstaates sowie die symmetrische Bauanlage der Hauptstädte, nacheinander Nara und Kyôto, erstreckte. Auch der aristokratische Lebensstil wurde nach chin. Vorbild verfeinert. Ebenso orientierte man sich an der Ks.institution Chinas (→Kaisertum, chinesisches) – die Bezeichnung Tennô selbst ist chin. Herkunft –, wandelte sie jedoch ab. Beide waren zwar absolute Herrscher, doch war der jap. Monarch, zumindest in der Theorie, im Gegensatz zu China nicht absetzbar, wenn ihn das Herrscherglück verließ, hatte er doch nicht nur das „Mandat des Himmels“ erhalten, sondern war selbst göttlicher Natur. Im 8. Jh. waren in Japan Anstrengungen erkennbar, sich ideologisch und politisch von China abzukoppeln. Die Einmaligkeit des angeblichen Götterlandes mit seiner einzigartigen theokratischen Staatsstruktur (kokutai) wurde in den Chroniken Kojiki und Nihon Shoki festgeschrieben, auf die sich die Lenker der Nation bis in das 20. Jh. hinein beriefen. Der Tennô fühlte sich schließlich dem chin. Ks. nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen. Japan, das als einziges Land Ostasiens von China unabhängig und frei von Tributverpflichtungen geblieben war, stellte im 9. Jh. auch die Entsendung diplomatischer Missionen ins Reich der Mitte ein. Dem nun erhobenen Anspruch zufolge hatte nicht etwa der chin. Ks. das Mandat des Himmels erhalten, über die ganze Welt zu herrschen, sondern Japan als Götterland war unter dem Tennô zur Führung der Menschheit berufen. Die späte Nara-Zeit (710–84) sah den Höhepunkt der ksl. Macht. Dann aber war der Tennô für über eintausend Jahre nur noch in der Theorie absoluter Herrscher. Zunächst erstarkten Familien des Hofadels, besonders die Fujiwara, die oft weibliche Mitglieder mit dem Ks. verheirateten und über lange Perioden Regenten stellten. Schließlich übten sie im 10. und 11. Jh. eine Art Vormundschaft über den Tennô aus, und zwar nicht nur über minderjährige Herrscher. Im 12. Jh. aber erstarkten Krieger-Clans – die Taira, Minamoto, Hôjô, Ashikaga und schließlich Tokugawa –, die über Landbesitz und Truppen verfügten und de facto die Macht im Lande mit dem Amt des militärischen Führers Shôgun übernahmen, und zwar bis 1868. Das politische Zentrum wurde oft in andere Gegenden des Reiches verlegt, etwa nach Kamakura oder Edo (heute: Tôkyô). Titularoberhaupt der Nation war trotzdem stets der Ks., der in Kyôto residierte. Die Shôgune suchten auch immer die Legitimierung durch den Tennô, um mit der faktischen Ausübung der Macht beauftragt zu werden, damit sie nicht als gesetzlose Usurpatoren dastünden. Der von der 399
k A i s e r - w i l he l m s l A n d
Außenwelt isolierte Ks. war auf höfisches Zeremoniell, religiöse Riten und schöngeistigen Zeitvertreib beschränkt. Außerdem legte er die Jahresdevisen fest, die ab 1868 mit seiner Regierungszeit übereinstimmen sollten. Die Tokugawa stärkten während ihrer langen Herrschaft (1600–1868), auch Edo-Zeit genannt, den Buddhismus auf Kosten des mit dem Ks.haus verbundenen Shintoismus und schwächten den Thron damit zusätzlich. Im Volke war der Tennô wegen seiner politischen Bedeutungslosigkeit inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten, nicht aber bei den Gelehrten. Mit Schwerpunkt im 18. und 19. Jh. entstanden unter ihnen als Gegenbewegungen die „Nationale Schule“ (kokugaku) und die „Schule von Mito“, benannt nach dem gleichnamigen Feudalterritorium. Auf der Basis von Studien klassischer Schriften propagierten diese Intellektuellen konfuzianische Werte und betonten die göttliche Herkunft von jap. Nation und Tennô sowie deren Verankerung im Shintoismus. Unter Heranziehung der alten Schöpfungsmythen propagierten sie den Ks. und sein Reich als Zentrum der Welt und gottgewollte Führer der gesamten Menschheit. Dabei wandten sie sich gegen die chinesische Kulturüberlagerung und Dominanz des Buddhismus, aber auch gegen eine mögliche Verwestlichung, die Japan seines göttlichen Charakters berauben würde. Der Tennô galt als pater familias des jap. Staates, in dem alle miteinander verwandtschaftlich verbunden waren durch die Gemeinschaft göttlicher Ahnen. Diese ideologische Entwicklung ging einher mit einem seit Mitte des 19. Jh.s zu beobachtenden Autoritätsverfall des Shogunats, das sich mit der von den USA erzwungenen Landesöffnung 1854 als schwach erwies und offenbar abgewirtschaftet hatte. Anfang 1868 wurde daher durch rebellische Samurai der junge Ks. Meiji wieder in die angeblich angestammten Rechte des Tennô eingesetzt (Meiji-Restauration), übersiedelte bald darauf nach Edo (bald: Tôkyô = Hauptstadt im Osten), also in das politische Zentrum des Reiches, und übte der Fiktion nach die Herrschaft direkt aus. Die propagandistisch überhöhte Ks.institution und der Shintoismus wurden zur Basis des neuen Staates, in dem Religion und Politik eine Einheit bilden sollten und die Bevölkerung systematisch entsprechend indoktriniert wurde. Der Shintoismus wurde praktisch zur Staatsreligion, deren oberster Priester weiterhin der auch politische Führer Tennô war. Dadurch, daß der Monarch fast nur noch in Uniform auftrat, täuschte er vor, immer auch militärischer Führer gewesen zu sein. In dem neu errichteten Yasukuni-Schrein wurden die Gefallenen des Kampfes für die Meiji-Restauration verehrt und vergöttlicht, zu denen die Toten aller späteren Kriege hinzugesellt wurden, so daß dieses vom Militär geleitete Heiligtum schließlich zur Propagierung von Opferbereitschaft, Kadavergehorsam und dem Anspruch auf eine groß angelegte Expansionspolitik Japans ebenso missbraucht wurde wie die Ks.institution selbst. Im Jahre 1889 wurde eine Verfassung als „Geschenk“ des Ks.s erlassen, dessen Legitimierung in der Herkunft von Jimmu und der seither ununterbrochenen Linie von Herrschern verankert wurde. Er, heilig und unverletzlich, verfügte über mehr als das abendländische Gottesgnadentum und besaß absolute Herrscherrechte. Diese aber übte 400
er auf den „Rat“ seiner Minister aus, deren Gegenzeichnung für Gesetze erforderlich war. Ob er den Rat akzeptieren mußte oder nicht, blieb dabei offen, aber in der Praxis tat er es. In sitzungsfreien Perioden des Reichstags konnte der Tennô eigenmächtig Edikte erlassen. Da das Militär ihm direkt unterstand, und nicht etwa der Regierung, war er nicht nur politischer und religiöser, sondern gleichzeitig auch militärischer Führer der Nation. Da jedoch auch für den Monarchen die Verfassung verbindlich war, wurde es in den liberalen 1920er Jahren unter Intellektuellen üblich, den Ks. als verfassungsmäßiges Organ des Staates anzusehen, aber in den nationalistischen 1930ern wurde diese Theorie als Blasphemie mit aller Härte bekämpft. Unabhängig von der Verfassung, aber gleichzeitig mit ihr wurde das ksl. Haushaltsgesetz erlassen (kôshitsu tempan). Es regelte Thronfolge, Regentschaft und Zugehörigkeit zur ksl. Familie sowie Titel und Beratungsorgane des Throns. Nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurde im Jahre 1947 eine neue Verfassung erlassen. Sie war weitgehend von der amerikanischen Besatzungsmacht oktroyiert, wurde aber von dem demokratisch gewählten japanischen Parlament bestätigt. Religion und Politik waren nun vollständig getrennt, und der Ks. war nur noch Symbol des Staates und der Einheit des Volkes, also de jure nicht einmal Staatsoberhaupt. Gegenüber der Regierung hat er keinerlei Befugnisse mehr, und seine Handlungen sind auf formelle Akte beschränkt, so die Einberufung des Parlaments, die Ernennung und Entlassung von Ministern oder die Akkreditierung von Botschaftern. Bereits am 1. Januar 1946 hatte er in einer Neujahrsansprache seinen göttlichen Status widerrufen. Ks. Hirohito (Shôwa-Tennô, reg. 1925–89) wurde von den Siegermächten zwar nicht als Kriegsverbrecher angeklagt, aber seine etwaige Kriegsschuld ist bis heute in Politik und Geschichtsschreibung heftig umstritten. Klaus Antoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat, München 1991. Ernst Lokowandt, Der Tennō. Grundlagen des modernen japanischen Kaisertums, München 2012. Nelly Naumann, Die einheimische Religion Japans. 2 Bde., Leiden 1988, 1994. G ERH A R D K REB S Kaiser-Wilhelmsland. Der erste Ks. der Hohenzollerndynastie gestattete am 17.5.1885, das vom Dt. Reich beanspruchte nordöstliche Neuguinea K.-W. zu nennen. Begrenzt wurde dieses 181 650 km2 große Gebiet nach vertraglichen Vereinbarungen mit Großbritannien und den Niederlanden im Süden durch die angenommene Wasserscheide zu Korallensee und Torresstraße, im Westen durch den 141.° östlicher Länge. Das schwer zugängliche Landesinnere ist geprägt durch bis zu 4 300 m emporragende, von Ost nach West verlaufende Gebirgsketten teilweise vulkanischen Ursprungs, die kleinräumige Landschaften bilden. Bis zur bei 3 500 m liegenden Baumgrenze ist das Gebiet dicht bewaldet. Der Nordosten Neuguineas wurde wahrscheinlich vor 50 000 Jahren von →Südostasien aus durch die den australischen →Aborigines genetisch nahestehenden „Protopapuas“ besiedelt. Sie lebten zunächst als Wildbeuter. Vor ca. 10 000 Jahren begann die Kultivierung von Pflanzen, vor 5–6 000 Jahren die Domestizierung von Nutztieren.
k Alk u ttA
Um 3000 v. Chr. setzten sich wahrscheinlich aus Südchina stammende melanesische Gruppen in Küstennähe fest und verdrängten von dort die Ureinwohner in das Landesinnere. Dabei entwickelten sich über 1 000 →Ethnien, die ca. 850 verschiedene Sprachen benutzten. Die Verwendung von Metall blieb bis zu ersten Kontakten mit Europäern unbekannt. Der port. Seemann António de Abreu unternahm 1512 von →Malakka aus eine Erkundungsreise nach Osten, die ihn an der Nordostküste Neuguineas vorbeiführte. Der erste Europäer, der die Insel betrat, war 1526 der in span. Diensten stehende Portugiese Jorgé (de) Meneses. Den Namen Nueva Guinea gab ihm 1545 Yñigo Ortiz de Retez, den die Küstenregion an Westafrika erinnerte. Der Nordosten Neuguineas blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jh.s außerhalb des Interesses europäischer Mächte. Um 1880 gründeten an der Küste die hanseatischen Firmen Dt. Handels- und Plantagen-Gesellschaft der Südsee-Inseln und Robertson & →Hernsheim Stützpunkte, die vornehmlich zum Erwerb von Kopra gedacht waren. 1884 ließ die Rechtsvorgängerin der →Neu-Guinea-Compagnie, das Neu-GuineaSyndicat, dem die beiden hanseatischen Unternehmen kapitalmäßig verbunden waren, durch den Ethnologen Otto →Finsch die Küstenregion erkunden und dort mit →Bikmen Verträge abschließen, die den Landerwerb zum Gegenstand hatten. Nach →Flaggenhissung durch dt. Kriegsschiffe im Nov. 1884 erhielt am 17.5.1885 die Neu-Guinea-Compagnie auf Antrag einen ksl. →Schutzbrief für die von ihr „erworbenen“ Gebiete. Zunächst von der Neu-Guinea-Compagnie, später von der Kolonialverwaltung und der ksl. Marine durchgeführte Forschungsexpeditionen (→Expeditionen) ins Landesinnere brachten bis zum Ende der Kolonialperiode erste Erkenntnisse. Die einheimische Bevölkerung wurde 1913 auf 250 000 geschätzt, die „weiße“ Bevölkerung betrug 283 Personen. S. a. →Deutsch-Neuguinea. GE RHARD HUT Z L E R Kakao (biologisch: Theobroma Cacao). Aus den tropischen Urwäldern Äquatorial- oder Mittelamerikas stammend, wo jeweils Wildformen der Pflanze gefunden worden sind, wurde in Mittelamerika K. bereits um 1100 v. Chr. als Nahrungsmittel verwendet. Ab ca. 1000 v. Chr. bildete K.genuß einen festen Bestandteil der Olmekenkultur, ab ca. 300 v. Chr. dienten die in den pazifischen und atlantischen Tiefländern ihres Gebietes angebauten K.bohnen den Mayas nicht nur zur Herstellung von Getränken und Medikamenten, sondern auch als Zahlungsmittel (→Naturalgeld, →Zahlungsverkehr), das weite Teile Zentralamerikas zu einem Kulturraum verband. Mit der →Eroberung Soconuscos Ende des 15. Jh.s erhielten die Azteken direkten Zugriff auf K. produzierende Provinzen und trieben die Bohnen als Steuern zur Verwendung am kgl. Hof und zur Verpflegung der im Feld stehenden Soldaten ein. Nachdem K.bohnen während der Kolonialzeit zunächst dem wirtschaftlichen Austausch innerhalb der am. Kolonien dienten und die K.anbauflächen über die tropische Zone →Amerikas ausgeweitet wurden, verbreitete sich seit Mitte des 18. Jh.s der Verzehr k.haltiger Getränke über Spanien als Modegetränk der Aristokratie auf Grund der angeblich aphrodisierenden Wirkung und als Nahrungsersatz wäh-
rend der Fastenzeiten in Europa. Während des span. Handelsmonopols wurde K. unter Zusatz von →Zucker und →Gewürzen bereits zu Schokoladenmasse verarbeitet importiert. Trotz der mit der →Industrialisierung einsetzenden maschinellen Herstellung von K. und Schokolade und mehreren Erfindungen zur Qualitätsverbesserung (Hydraulische Presse zur Trennung von K.masse und -butter 1828, Eß- und Milchschokolade 1840/76, Conche 1879, Mehrfachwalzenstuhl 1880) brachten erst der Ausbau der Anbauflächen, verminderte Transportkosten sowie der Anstieg der Masseneinkommen eine relative Senkung der Rohstoffpreise und bedingten den Durchbruch von K. und Schokolade zu Massenkonsumartikeln. Seit dem 19. Jh. stieg die jährliche Produktion von RohK. stetig (1810 ca. 15 000 t, 1900 100 000 t, 1922 400 000 t, 2004/05 3,5 Mio. t). Bis ins 20. Jh. blieb →Lateinamerika die wichtigste Erzeugerregion für den Weltmarkt, wobei →Mexiko und Mittelamerika die ursprüngliche Stellung zugunsten der nördliche Staaten Lateinamerikas, →Brasiliens und der Dominikanischen Rep. einbüßten. Nach der Unabhängigkeit Brasiliens 1822, verlagerten die Portugiesen die K.produktion in ihre afr. Kolonie →São Tomé und Príncipe, von wo aus sich der K.anbau durch die Bemühungen der Kolonialmächte und ihrer Schokoladeindustrien in Westafrika und Asien ausbreitete. Zu Beginn des 21. Jh.s werden 70 % des Roh-K.s in Afrika, angeführt von der →Elfenbeinküste produziert, ca. 18 % in Asien und Ozeanien und 12 % in Amerika. Zur Abmilderung der Folgen der immer wieder stark schwankenden Preise für Roh-K. wurden im Lauf des 20. Jh.s mit insg. mäßigen Erfolgen Kartelle gebildet und internationale K.abkommen geschlossen. Während bis ins beginnende 20. Jh. Spanien den höchsten ProKopf-Verbrauch an K.produkten aufwies, bildeten sich in der Folge die wichtigsten Schokoladenkonzerne und Verbrauchernationen in den Kernländern der Industrialisierung und in der Schweiz. Seit Ende des 20. Jh.s konzentriert sich die K.verarbeitung in den Händen weniger internationaler Mischkonzerne, so daß ca. die Hälfte der jährlichen K.produktion von fünf Konzernen verarbeitet wird (2005). Gleichzeitig führen die Entwicklung neuer Geschmacksvarianten und die Vermarktung hochpreisiger Edelschokoladen teilweise zur Diversifizierung von K.anbau und -verarbeitung. Über weite Strecken ihrer Geschichte war die K.plantagenwirtschaft mit verschiedenen Formen der →Zwangsarbeit (→Encomienda, →Sklaverei, →Vertragsarbeit) verbunden. Z. T. haben sich diese Arbeitsformen und die Produktion mittels Kinderarbeit bis heute erhalten. Sophie und Michael Coe, The True History of Chocolate, London 2003. Nikita Harwich, Histoire du Chocolat, Paris 1992. Carol Off, Bitter Chocolate, Toronto 2006. A N D REA WEIN D L
Kalkutta, bengalisch Kolkata. Laut dokumentierter Geschichtsschreibung wurde K. von einem Angestellten der engl. Ostindiengesellschaft (→Ostindienkompanien), mit dem Namen Job Charnock, 1690 gegründet. Jüngere Forschungen weisen jedoch auf eine vorkoloniale Existenz der Stadt hin. In der Kolonialzeit war die Stadt Herrschafts-, Militär-, Handels- und Bildungszentrum. Auf 401
k A m b ods c h A
Grund ihrer günstigen Lage am Fluß Hughli, galt K. als Handelszentrum für Güter wie z. B. Textilien, Salpeter, →Opium (unerläßlich für den Handel mit China) und im Laufe des 19. Jh.s auch für Jute und →Tee. 1772–1912 war K. die Hauptstadt des →British Raj in →Indien. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh.s hatte K. den Ruf eines kulturellen und intellektuellen Zentrums. Die Stadt stand auch im Mittelpunkt der sog. Bengalischen Renaissance. Aus der Berührung mit dem →Kolonialismus entstand im Laufe des 19. Jh.s in K. eine einflußreiche, größtenteils anglisierte Bildungselite (Bhadralok), die das kulturelle Leben, die →religiösen und sozialen Reformbewegungen bzw. die Politik sowohl in →Bengalen als auch in Indien unmittelbar prägte. In den späteren Jahrzehnten des 19. Jh.s wurde K. immer mehr zu einem Hauptzentrum des →Ind. Nationalismus. Im Zuge der 1905 durchgeführten Teilung Bengalens stand die Stadt im Mittelpunkt von Massenprotesten. 1912 verlor K. ihren Status als Hauptstadt Indiens. Während des →Zweiten Weltkriegs sowie während der Hungersnot 1942 in B., erlebte die Stadt eine wirtschaftliche und humane Katastrophe. Die →Teilung Brit.-Indiens 1947 löste eine →Migration von ca. 2,4 Mio. ostbengalischen Hindu-Flüchtlingen nach K. aus, die die Ressourcen der Stadt völlig überlasteten (Zensus 2011: 14 112 536 Ew.). Ravi Ahuja/Christiane Brosius (Hg.), Mumbai Delhi Kolkata, Heidelberg 2006. Sukanta Chaudhuri, Calcutta, Bde. 1 und 2, Kalkutta 1990. Soumyendra N. Mukherjee, Calcutta, Kalkutta 1993. I NDRA S E NGUP TA Kambodscha. Kgr. (Khmer: Preăh Réachéanachâkr Kâmpŭchéa) in →Südostasien, begrenzt im Westen und Nordwesten von Thailand, im Norden von →Laos, im Osten von →Vietnam und im Süden vom Golf von Thailand, Hauptstadt ist →Phnom Penh. Seit 1993 ist K. eine konstitutionelle Monarchie. Kg. Norodom Sihamoni ist Staatsoberhaupt, Premierminister ist seit 1985 Hun Sen. Khmer ist Amtssprache, der →Buddhismus (Theravada) ist Staatsreligion. K. hat ca. 14,5 Mio. Ew., die sich auf mehr als 20 →Ethnien verteilen. Khmer (90 %), Vietnamesen (5 %), Chinesen (1 %), Khmer Loeu – indigene kleine Bevölkerungsgruppen (4 %). Ca. 96,4 % der Bevölkerung sind Buddhisten, 2,1 % Muslime (v. a. Cham; Sunniten), 1 % Christen (Vietnamesen) und 0,2 % andere (→Animismus). Im 1. Jh. n. Chr. beherrschten die beiden Reiche Funan und Chenla weite Teile Südostasiens. Der Name Funan entstammt chin. Chroniken (→Chroniken u. Geschichtsschreibung in China). Aus Funan erwuchs im 9. Jh. n. Chr. (889 n. Chr.) das Khmer-Reich von →Angkor (Khmer: Stadt), das sich in einer NordSüdachse von Laos bis →Malakka und in einer WestOstachse von Thailand bis Vietnam erstreckte. Der Tempelkomplex von Angkor Wat entstand im 12. Jh., was mit der Blütezeit des Reiches zusammenfiel. Der erste Kg. von Angkor war Jayawarman II., der den →Hinduismus durch den Buddhismus ersetzte. Im 14. Jh. wurde Angkor vom thailändischen Ayutthaya-Reich erobert. Nach dem Rückzug kam es in der Folge zu Auseinandersetzungen mit Cham und Vietnamesen, die Angkor weiter schwächten. Im 15. Jh. wurde die Hauptstadt nach Phom Penh velegt. Im 17. und 18. Jh. wurde K. unter Vietnamesen 402
und Thai faktisch aufgeteilt. Mit Einzug der Franzosen in Vietnam im 19. Jh. wurde K. 1863 unter Kg. Norodom I. frz. →Protektorat, das bis 1953 bestand, ab 1887 in der Indochinesischen Union (Name der frz. Kolonie in Südostasien). K. entging damit einer kompletten Annexion durch Thailand und Vietnam. Die Monarchie blieb bestehen, doch K. wurde de facto eine frz. Kolonie. In jener Zeit stießen frz. Archäologen auf die Ruinen von Angkor, welche sie als Ausdruck einer ehemals hochentwickelten Kultur stilisierten, die mit den kolonisierten Khmer nicht viel gemeinsam hätte. Zusätzlich wurden Vietnamesen nach K. geholt, weil man sie für fähiger und intelligenter hielt. Diese Herabwürdigung der Khmer-Bevölkerung, fehlende Investitionen in Infrastruktur und Bildung und die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes führten zu Aufständen, die von den Khmer Issarak (Freie Khmer) geführt wurden. 1904 wurde Norodoms Halbbruder Sisowath Kg., der stärker mit den Franzosen kollaborierte als sein Vorgänger. In seine Reg.szeit fiel die Ermordung des frz. Beamten Felix Louis Bardez durch kambodschanische Bauern. 1936 wurde die erste in Khmer verfaßte Zeitschrift (Nagara Vatta) hg. Damit sollte die Dominanz Vietnams und Chinas in verschiedenen Bereichen K.s gedämpft werden. Lesen und Schreiben war bis zur Eröffnung der ersten Mittelschule (Lycée Sisowath) 1936 größtenteils Mönchen und einigen wenigen Khmer vorbehalten. Zusammen mit dem Institut Bouddhique waren diese drei Institutionen der Ausgangspunkt für die Förderung von Khmer und damit einhergehend für die Herausbildung einer neuen kambodschanischen Elite. Die sog. Khmeritude half bei der Entstehung eines kambodschanischen Nationalismus, der K. mithilfe der Sprache von den Nachbarländern stärker abgrenzen sollte. Diese neue Elite blieb dennoch klein. Grundschulunterricht wurde weiterhin in Khmer abgehalten, Unterricht in höheren Klassen nur in Französisch. Zusätzlich blieb der Zugang zur höheren Ausbildung in Frankreich streng limitiert. Die Idee, K. zu modernisieren, indem man das auf Sanskrit und Pali beruhende Khmer-Alphabet durch das lateinische Alphabet ersetzte, schlug zwar fehl, wurde als vehementer Eingriff in die Khmer-Kultur interpretiert und lieferte weiteren Zündstoff für die neue anti-frz. Elite. Ab den 1940er Jahren politisierte sich diese neue Elite zunehmend. Proteste in Phnom Penh 1942 gegen die Verhaftung eines Mönchs endeten mit der Verhaftung führender kambodschanischer Persönlichkeiten. Während des →Zweiten Weltkriegs wurden diese Unabhängigkeitsbemühungen von Japan unterstützt. Nach dem Tod von Kg. Monivong 1941 wurde Sisowaths Enkel, Norodom Sihanouk Kg., da er von den Franzosen als leichter manipulierbar angesehen wurde als Monivongs Sohn. Trotzdem benannte Sihanouk 1941 K. in Kampuchea um, zur Demonstration seiner formellen Unabhängigkeit von Frankreich. Son Ngoc Thanh, Anführer der Nationalisten in den 1930er Jahren, kehrte aus dem jap. Exil nach K. zurück und wurde Außenminister. Die Rückeroberung durch frz. Truppen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch Zwistigkeiten innerhalb der nationalistischen Bewegung begünstigt, die sich nicht gemeinsam auf eine Allianz mit Vietnam gegen Frankreich durchringen konnten. 1946 willigte Siha-
k A m eru n
nouk in Gespräche mit Frankreich ein. Zur gleichen Zeit brach der erste – frz. – Indochinakrieg in Vietnam aus. Im selben Jahr wurde die Demokratische Partei gegründet, nachdem sich K. mit frz. Billigung eine neue Verfassung gegeben hatte. Saloth Sar, der sich später →Pol Pot nannte, gehörte zu den vielen jungen Studenten, die die Demokratische Partei unterstützten. 1952 löste Sihanouk die von der Demokratischen Partei dominierte Nationalversammlung auf, sehr zum Ärger der in Frankreich lebenden kambodschanischen Studenten, die bereits durch die Dominanz der Kommunistischen Partei Frankreichs stark politisiert waren und sich durch Sihanouks Schritt noch weiter radikalisierten. David Chandler, A History of Cambodia, Boulder 42008. Ders., The Tragedy of Cambodia, New Haven 1991. Steve Heder, Cambodia, in: Andrew Simpson (Hg.), Language and National Identity in Asia, Oxford 2007, 288–311. AL E XANDRA AML I NG
Kamehamea →Hawai’i Kamerun (475 440 km², 18,8 Mio. Ew.) liegt in Zentralafrika. Das →Klima ist im Süden tropisch, im Norden des Landes, beim →Tschadsee trocken. Zu den natürlichen Ressourcen des Landes gehören u. a. Erdöl, →Kaffee, →Bananen, Kautschuk, Aluminium, Bauxit, Eisenerz, Holz. Wichtigste ethnische Gruppen sind u. a. Beti, →Duala, →Luanda, Bamiléké, Bamoun, Chamba, Kirdi, →Fulbe, Kanuri, Amtssprachen sind Französisch (ca. 80 % der Bevölkerung) und Englisch (ca. 20 % der Bevölkerung). Ca. 50 % der Bevölkerung sind Christen, davon 25 % Katholiken und 25 % Protestanten, ca. 20 % Muslime und der Rest sind Anhänger traditioneller Religionen. Beziehungen zwischen den Gesellschaften des heutigen K. und überseeischen Staatswesen lassen sich erstmals 1472 mit der Landung des Portugiesen Fernando do Poo am Rio dos Camerões (Krabbenfluß) nachweisen. Seit dem frühen 16. Jh. bestand an der dortigen Küste ein reger Warenaustausch mit Elfenbein, Palmöl und Zuckerrohr (→Zucker), später auch mit Sklaven. 1820 wurde der Sklavenhandel aufgehoben, 1840 unterzeichneten die Duala-Kg.e mit Großbritannien die völkerrechtlichen Verträge für das weltweite Verbot des Menschenhandels bzw. der →Sklaverei. Die Tschadseeregion (→Tschadsee) dagegen wurde erst Mitte des 19. Jh.s durch europäische Forschungsreisende (u. a. →Barth, →Flegel, →Nachtigal) berührt. Seit den 1860er Jahren nahmen hanseatische Handelshäuser zwischen →Liberia und →Gabun eine führende Stellung ein. 1868 wurde durch die Errichtung von Handelsniederlassungen an der Mündung des Wouri des Hamburger Handelshauses →Woermann der dt. Einfluß auf K. immer stärker. Zunehmende Aktivitäten von frz. (Savorgnan de Brazza) und brit. Seite führten im Juli 1884 zum Abschluß von Schutzverträgen zwischen dem Dt. Reich, vertreten durch den Generalkonsul Gustav →Nachtigal, den Kg.en der Duala u. anderen regionalen Herrschern. Nachtigal proklamierte die dt. „Schutzherrschaft“ über K. als dt. Kolonie. Auf der →Berliner Westafrika-Konferenz wurden 1885 die vorläufigen Grenzen des →Schutzgebiets festgelegt und später in bilateralen Abkommen mit
Frankreich und Großbritannien präzisiert. 1911 wurde K. mit dem Marokko-Kongo-Abkommen auf Kosten der frz. Kolonien in Zentralafrika noch einmal erheblich vergrößert (Neu-K.). Die dt. Einflußnahme beschränkte sich anfangs weitgehend auf die Küstenregion. Erst nach dem Aufbau einer Polizeitruppe (1891, →Polizei) begann die Beseitigung der Handelsmonopole der küstennahen Gesellschaften und mit der Umwandlung der Polizei- in eine militärische →Schutztruppe unter zentralem Kommando (1894) die sukzessive →Okkupation des Hinterlandes, teilweise auf dem Konsensweg (→Bali, Bamum), vielfach mit militärischer Gewalt. Ihren Höhepunkt erreichte die Inbesitznahme 1901/03 mit der Integration der islamischen Staaten der Tschadseeregion (Adamaua, →Bornu, Kotoko). Das koloniale Wirtschaftssystem basierte auf dem Export von Palmöl, Palmkernen, Tropenhölzern und in zunehmendem Maße Kautschuk, das sich zum wichtigsten Handelsgut entwickelte. Unter der Verwaltung Jesko von →Puttkamers (1897–1906), der die Anlage von Pflanzungen am →K.berg begünstigte, setzte eine Verschiebung zugunsten der Plantagenwirtschaft (→Kakao, →Bananen) ein. In Süd- und Westk. wurden zur weiteren Inwertsetzung großflächige Gebiete an private →Konzessionsgesellschaften vergeben. Neben der rigorosen Landpolitik, die die indigenen Gesellschaften in den wirtschaftlich relevanten Regionen auf Reservate zurückdrängte, war die „Arbeiterfrage“ ein zentrales Problem, das sich mit der zunehmenden Erschließung Südk.s und dem Ausbau der Plantagenkulturen verschärfte. Auch Infrastrukturmaßnahmen wie Wege-, Eisenbahn- und Wasserstraßenbau schürten den Arbeitskräftebedarf und führten zur Entvölkerung ganzer Landstriche. Im Ersten Weltkrieg geriet K. schnell unter brit. und frz. Kontrolle und wurde im Febr. 1916 von dt. Truppen geräumt. Durch den →Versailler Vertrag ging die Souveränität auf den →Völkerbund über, der das Land teilte und als B-Mandat zu 4/5 an Frankreich und zu 1/5 an Großbritannien vergab. Neu-K. wurde wieder losgelöst und an das benachbarte Frz.-Äquatorialafrika angeschlossen. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurden beide Völkerbundsmandate durch die UNO in Treuhandmandate umgewandelt. Am 1.1.1960 erhielt das frz. K. nach einer →Volksabstimmung die Unabhängigkeit als Ost-K. Der Norden des brit. →Treuhandgebietes um Dikwa hatte für den Anschluß an →Nigeria gestimmt, der südliche Teil um Buëa entschied sich für einen Anschluß an den Staat K. (1.10.1961). 1972 wurde die Bundesrepublik K. in einen Einheitsstaat umgewandelt. Nach dem Rücktritt des Staatspräs. Ahidjo am 6.11. 1982 wurde sein Premierminister Paul Biya zum Staatsoberhaupt und Vorsitzenden der Einheitspartei UNC. Er gewann 1984 die Wahlen und konnte einen Putschversuch vereiteln. Mit der neugegründeten Einheitspartei RDPC versprach Biya die Demokratisierung des Landes und mehr soziale Gerechtigkeit. Bei den Wahlen 1988 kandidierte Biya jedoch ohne Gegenkandidat und erhielt die Mehrheit. Belastet wurde seine Reg. durch die wirtschaftliche und soziale Krise des Landes während der 1980er Jahre, die ihm und seinem korrupten Kabinett angelastet wurde. Anfang der 1990er Jahre kam es vermehrt zu Unruhen und Generalstreiks mit der Forderung 403
kAmerunberg
nach dem Ende der Monopolstellung der RDPC. Biya ließ Oppositionsparteien zu, so daß 1992 die ersten freien Wahlen stattfanden. Biya wurde 1997, 2004 u. 2011 wiedergewählt. K. ist eine Präsidialrepublik nach frz. Vorbild. Das Parlament mit 180 Mitgliedern wird auf fünf Jahre gewählt. Florian Hoffmann, Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun, 2 Teile, Göttingen 2007. Andreas Mehler, Kamerun in der Ära Biya, Hamburg 1992. Adalbert Owona, La naissance du Cameroun 1884–1914, Paris 1996. T I L O GRÄT Z / F L ORI AN HOF F MANN Kamerunberg (engl. Mount Cameroon, Cameroon Mountain, Fr. Mont Cameroun, Mongo ma Ndemi „Mountain of Greatness“, Fako). Aktiver Vulkan in der Südwest-Region →Kameruns, →Buea. Der K. erhebt sich im innersten Winkel der Bucht von →Biafra, nördlich vom Kamerunästuar und bildet einen völlig isolierten Gebirgsstock. Mit 4 095 m gilt er als der höchste Berg Westafrikas. Der K. besteht aus zwei Gipfeln, wobei der niedrigere ca. 1 715 m hoch ist und Etinde oder der kleinere K. heißt. Von der ersten Stufe geht es auf eine zweite ca. 2 200 m hohe Stufe hinauf und dann in sanfterer Böschung zum Fako, dem höheren Gipfel. Zwischen beiden Hauptgipfeln erheben sich eine große Anzahl parasitärer Krater. Die Ausbruchsstellen des K.s liegen auf einer Linie von Südsüdwest nach Nordnordost, entspr. der Längsachse des Vulkanmassivs. Der untere Teil des K.s erhält wegen regenreicher Seewinde starke Niederschläge. Vom K. strömen nach allen Seiten starke Gebirgsbäche herab. Die Südwesthänge des Massivs zwischen der Küstenstadt Limbe und der Gegend Idenau zählen mit über 11 000 mm jährlichem Niederschlag zu den regenreichsten Orten der Erde. Die Vegetation ist karg, zum Gipfel hin wachsen Gräser. Es folgen kleine Felsspitzen mit Aschenfeldern und zerbröckelter graugrüner Lava. Am Gipfel bilden Flechten die einzige Vegetation; gelegentlich liegt in dieser Höhe eine Schneedecke. Historisch gesehen lassen sich ca. 16 Ausbrüche des Fako verzeichnen, wobei eine besonders große Eruption im Apr. 1999 stattfand. Seine Lavaströme zerstörten viele der Plantagen, die sich um den Südfuß des K.s ziehen. Der karthagische Seefahrer Hanno wurde um 470 v.Chr. Zeuge eines seiner Ausbrüche. Hanno nannte ihn damals „Götterwagen“. Auf dem Plateau in ca. 1 000 m Höhe liegt die Regionshauptstadt. Der heutige Sitz der kamerunischen Südwest-Region wurde 1901 von der dt. Kolonialmacht zur Hauptstadt der Kolonie erhoben. Wegen eines Ausbruchs des Vulkans im Apr.-Juni 1909 wurde die dt. Kolonialverwaltung in der damaligen Hauptstadt des →Schutzgebiets zeitweilig ausgesetzt. Der Ausbruch, der am 26.4.1909 begann, war mit Lavaergüssen und einem Erdbeben verbunden. Aaron S. Neba, Modern Geography of the Republic of Cameroon, Camden 1987. Victor Julius Ngoh, History of Cameroon Since 1800, Limbe 1996. GE RMAI N NYADA Kampala. Die nördlich des →Victoriasees in einer Höhe von 1219 m auf mehreren Hügeln erbaute Hauptstadt der Rep. →Uganda bekam ihren Namen von kasozi k’empala (in der Ganda-Sprache „Hügel der Antilopen“), weil der 404
Buganda-Kg. dort Impala (Aepyceros melampus) gehalten haben soll. →Lugard baute 1890 an die Stelle ein Fort für die British East Africa Company, das der Gewaltherrscher Idi Amin in den 1970er Jahren durch eine Moschee ersetzen wollte. Die royalistische Tradition der Stadt wird seit 1993 wieder von einem Kg. (Kabaka) gepflegt, der auch für die Gräber seiner Ahnen im nahegelegenen Kasubi verantwortlich ist. Diese sind heute UNESCO-Weltkulturerbe und wurden trotzdem 2010 von Feinden der Baganda-Monarchie niedergebrannt. Die moderne Entwicklung der Stadt setzte mit der Fertigstellung der Uganda-Bahn ein, die das Zwischenseengebiet mit der Ostküste verband. Heute zählt die Stadt über 1,35 Mio. Ew. Der chaotisch erscheinende Massenverkehr wird durch städtische Buslinien wie durch private Kleinbusse, Taxis und Dreiräder (boda boda) bewältigt. K. ist Sitz eines rk. und eines anglik. Erzbischofs, deren Kathedralen auf dem Lubaga- bzw. Namirembe-Hügel stehen. Auf dem Kibuli-Hügel befindet sich die in weiß strahlende Hauptmoschee. Daneben gibt es viele Tempel der Sikhs und Hindus und einen der Bahâi-Sekte. 1922 wurde in Makerere eine für ganz Ostafrika bedeutsame Universität gegründet, 1954 die technische Hochschule. K. ist Sitz der East African Development Bank (auf dem Nakasero-Hügel) und gehört mit Kg.spalast (Lubiri), Parlamentsgebäude (Lukiiko) auf dem Nakasero-Hügel, dem medizinischen Komplex auf dem Mulago-Hügel, dem ethnographischen Museum am Kitante-Park und bedeutsamen Industrieansiedlungen (Sägewerke, Metall-, Textil-, Schuh- und Nahrungsmittelfabriken), seinem Seehafen (Port Bell) und Flughafen (Entebbe) zu den wirtschaftlichen und geistigen Zentren Ostafrikas. BER N H A R D STREC K
Kampfer wird aus dem Holz des K.baumes (Cinnamomum camphora) und einigen verwandten Arten aus der Familie der Lorbeergewächse gewonnen, deren Vorkommen im tropischen Asien liegen. Insbesondere das K.öl war als Handelsprodukt im maritimen asiatischen Seehandel zwischen Arabien und Japan von großer Bedeutung. Bereits im 9. Jh. war in der arabischen Welt das maritime Südostasien als Herkunftsort von hochwertigstem K. bekannt. Verwendung findet K. in der Chemie (z. B. für Feuerwerkskörper), Medizin und Kosmetik sowie als Räucherwerk bei religiösen Anlässen als auch (seltener) als Rauschmittel und Aphrodisiakum. In der islamischen Welt wurde bspw. mit K. parfümiertes Wasser zur rituellen Waschung der Verstorbenen benutzt. Im China der T’ang-Dynastie wurde K. bei der Herstellung von Eiscreme eingesetzt. Bis ins Mittelalter fand K. auch in der mediterranen Küche Verwendung. Seit der Entwicklung von synthetischem K. im 19. Jh. ist die Bedeutung von K. stark zurückgegangen. In größeren Mengen wird K. heute noch in Sri Lanka, Brasilien und Ostafrika angebaut. R.A. Donkin, Dragon’s Brain Perfume: An Historical Geography of Camphor, Leiden 1999. Sidmund Rehm / Gustav Espig, Die Kulturpflanzen der Tropen und Subtropen, Stuttgart 1984. H O LG ER WA R N K
k A nAd A
Kamtschatkaexpeditionen. Die 1. (1725–1730) und die wesentlich bedeutsamere 2. K. (1733–1743), beide von Vitus J. →Bering (1681–1741) geleitet, nutzten die Halbinsel Kamtschatka als Sprungbrett, um die Frage nach der Existenz einer Landverbindung zwischen Asien und →Amerika zu beantworten. Im Rahmen der 1. K. gelang dem Dänen Bering die Erschließung des Landesinnern der Halbinsel Kamtschatka. Hingegen konnte er den letzten Nachweis bezüglich der Trennung Amerikas von Asien infolge Nebels in der Beringstraße nicht erbringen. Im Übrigen hatte →Deschnjow bereits 1648 die Ostspitze Asiens umschifft, ohne daß sein Reisebericht in Europa bekannt geworden wäre. Für die 2. K., die eine der erfolgreichsten, kostspieligsten und personalintensivsten Entdeckungsreisen in der russ. Geschichte war, ist in Anbetracht des Umfangs des Unternehmens die Bezeichnung „Große Nordische Expedition“ gebräuchlicher und treffender. Sie erbrachte durch Entdeckung des heutigen Alaska den Beweis, daß Amerika naturräumlich nicht mit Asien verbunden ist. Generell stellte sich die 2. K. im Hinblick auf die zu Tage geförderten ethnographischen, historischen sowie botanischen u. a. naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zugleich als ein äußerst ertragreiches Forschungsprojekt dar. Der Historiker und Geograph Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) erwarb sich mit der „Sammlung rußischer Geschichte“ den Ruf als Vater der sibirischen Geschichtsschreibung. Der Naturforscher Johann Georg →Gmelin (1709–1755) veröffentlichte die umfangreiche „Flora Sibirica sive historia plantarum Sibiriae“. Stepan P. Krascheninnikow (1711–1755) steuerte die „Beschreibung des Landes Kamtschatka“ bei, Georg Wilhelm →Steller (1709–1746) analysierte die indigene Bevölkerung Kamtschatkas wissenschaftlich in seiner „Beschreibung von dem Lande Kamtschatka“. Bering und Alexei I. Tschirikow (1703–1748) entdeckten Alaska (am 15. bzw. 16.7.1741), die Aleuten und die Kommandeurinseln. Martin Spangberg erkundete den Seeweg zwischen →Sibirien und Japan. Zur seit dem 16. Jh. bestehenden Problematik der sog. →Nordostpassage fand die Nordgruppe der →Expedition heraus, daß eine Seeverbindung nach China theoretisch existierte, aber die praktische Nutzung derselben ganz unmöglich war. Den nördlichsten Punkt Eurasiens erreichte auf dem Landweg Semjon I. Tscheljuskin (vmtl. 1700–1764; heute Kap Tscheljuskin). Zusammen mit Wassili Prontschischtschev (1702–1736) und den beiden Laptevs (Chariton † 1763; Dmitri 1701–1771) schaffte er die lückenlose kartographische Erfassung der sibirischen Nordküste bis zur Mündung der Kolyma. W. Bruce Lincoln, Die Eroberung Sibiriens, München 1996. CHRI S T I AN HANNI G Kanada. Wahrscheinlich von kanata (Irokesisch für Dorfgemeinschaft), ab dem 16. Jh. die Bezeichnung für die frz. Kolonie Nouvelle France in Nordamerika, ab 1763 für die brit. Kolonie Quebec, seit 1931 für den Staat K. Hauptstadt: Ottawa; Größe: mit 9 976 200 km2 heute der zweitgrößte Staat der Erde; Ew.-zahl: 33 476 688 (Zensus 2011); Amtssprachen: Englisch und Französisch. Die Besiedlung des heutigen K.s erfolgte wahrscheinlich in der späteren Eiszeit, d. h. vor 30 000 bis 100 000
Jahren. Die ersten Kontakte der sog. First Nations K.s mit Europäern ergaben sich um das Jahr 1000 A.D., als Norweger die kanadische Ostküste für den Fischfang zu nutzen begannen. Ihnen folgten im 13. und 14. Jh. baskische, bretonische und normannische Fischer. 1534 erkundete Jacques →Cartier im Auftrag des frz. Kg.s Franz I. den Sankt-Lorenz-Strom und gründete im irokesischen Stadacona eine erste, nur kurze Zeit bestehende Siedlung. Anfang der 1540er Jahre errichtete Franz I. unter Leitung von Jean-François de la Rocque de Roberval und Jacques Cartier die Kolonie der Nouvelle France, die Akadien und die Gebiete am Sankt-Lorenz-Strom (Canada genannt) umfaßte. Zu den wichtigsten First Nations in der Nouvelle France gehörten im 16. und 17. Jh. die Landwirtschaft und Handel treibenden Irokesischen Stämme (Five Nations Confederation) südlich des SanktLorenz-Stroms und der östlichen Großen Seen. Dazu kamen nördlich des Sankt-Lorenz-Stroms die Algonkins und Montagnais, Micmac in Akadien und der Gaspé sowie die zwischen Irokesen (→Irokesen-Föderation) und Algonkins siedelnden →Huronen. 1603 ernannte Kg. Heinrich IV. von Frankreich Pierre de Gua, Sieur de Mons zum Statthalter der Nouvelle France. Zusammen mit Samuel de →Champlain erkundete de Mons den Oberlauf des Sankt-Lorenz-Stroms. 1608 wurde Quebec gegründet, 1611 Port Royal, das spätere Montreal. Die Erschließung der Nouvelle France wurde bis 1627 v. a. von Missionsorden wie den →Jesuiten und den Récollets unterstützt. 1627 gründete Kardinal Richelieu in Frankreich die Compagnie des Cent-Associés (auch Compagnie de la Nouvelle France), die die Besiedlung K.s und die wirtschaftliche Erschließung des Landes zum Ziel hatte. 1629 wurde Port Royal (Montreal) von England erobert, jedoch 1632 im Frieden von Saint-Germain-enLaye an Frankreich zurückgegeben. Mit dem Reg.santritt Ludwigs XIV. 1661 wuchs erneut das Interesse der frz. Krone an ihren Kolonien in Nordamerika. Im Sinne der merkantilistischen Wirtschaftsreformen Colberts bekamen die Kolonien als Rohstofflieferanten einen neuen Stellenwert. 1663 gab die Compagnie de la Nouvelle France ihre Patente an die frz. Krone zurück. Nun wurde in der Nouvelle France eine Verwaltung nach frz. Vorbild aufgebaut, die bis 1760 Bestand hatte. Das kgl. Regiment in der Kolonie wurde durch einen Rat geführt, der aus →Gouv., Bischof und fünf Ratsmitgliedern bestand. Dazu kam ein Intendant als Kontrollinstanz der Krone. Der oberste Rat war Gesetzgeber, Exekutive und oberster Gerichtshof zugleich. Die frz. Kolonien in Nordamerika, die bis 1673 die Gebiete am St. Lorenz, Akadien, Neubraunschweig, die Inseln Cape-Breton und Prinz-Edward umfaßten, wurden 1673 durch die Erkundungsfahrten Louis Jolliets und Jacques Marquettes erweitert. 1699 reichten sie nominell bis zur Mündung des →Mississippi hinab. Dort wurde um 1699 die frz. Kolonie Louisiana gegründet. Die Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich um die Kolonien in Nordamerika fanden ihren ersten Höhepunkt 1713 in der Abtretung Arkadiens an England im Frieden von Utrecht. Entscheidend für das Schicksal der Nouvelle France wurde der →Siebenjährige Krieg (1756–1763), der auf dem nordam. Kontinent French and Indian War (1754–1763) genannt wird: 1758 405
kAndt
wurde das Ohiogebiet erobert, das K. mit den frz. Gebieten am Mississippi verband, im gleichen Jahr wurde Louisbourg auf den Cape-Breton-Inseln im →Atlantik und 1759 Quebec von den engl. Truppen eingenommen, 1760 unterzeichnete der Gouv. von Quebec, Pierre de Rigaud de Vaudreuil de Cagagnial, Marquis de Vaudreuil (* 22. November 1698, † 4. August 1778), die Kapitulation der Stadt bzw. von K. insg. Drei Jahre später, im Frieden von Paris, trat Frankreich alle Besitzungen auf dem nordam. Festland an Großbritannien bzw. Spanien (Louisiana) ab. Trotz der Eingliederung K.s in die brit. Kolonien in Nordamerika blieb in der Nouvelle France das frz. Seigneurialsystem erhalten. Die ehem. Nouvelle France hatte weiterhin einen rk. Bischof, der rk. Klerus durfte Kirchensteuern einziehen. 1774 gewährte Großbritannien der ehem. Nouvelle France die Quebec-Privilegien: Die Reg. bildeten ein Gouv. und 20 aus dem engl. Mutterland stammende Räte. Eine Repräsentativkammer wie in den meisten anderen brit. Kolonien in Nordamerika entstand nicht. In K. koexistierten engl. →Strafrecht und frz. Zivilrecht. Für die Geschichte Nordamerikas besonders folgenreich war die Etablierung der Grenzen Quebecs 1774/75, das nun das Tal des Sankt-Lorenz-Stroms, die Gebiete um die Großen Seen bis zum Mississippi und das Tal des Ohio umfaßte. Der Quebec-Act wurde zu einem der Auslöser der →Am. Revolution, da sich die Dreizehn Kolonien durch diese Politik in ihrer räumlichen und wirtschaftlichen Expansion beschnitten sahen. Im Am. Unabhängigkeitskrieg (1776–1783) konnten die neuen brit. Kolonien Quebec und Neuschottland nicht für die Sache der Dreizehn Kolonien gewonnen werden. Zahlreiche loyalistische engl. Untertanen aus den 13 Kolonien siedelten sich ab 1781 in Quebec an. 1791 wurde Quebec, dem seit 1760 weitere Gebiete im Westen (Great Plains) einverleibt worden waren, in die Provinzen Oberund Unter-K. geteilt. Eine Legislative wurde für beide Provinzen errichtet und der Weg zu deren Autonomie in die Wege geleitet. Im Krieg 1812–1814 scheiterten Versuche der →USA, die brit. Kolonie K. zu erobern, am Widerstand der engl. und frz. Kanadier. Unabhängigkeitsbestrebungen, v. a. der Frankokanadier, begegnete Großbritannien 1840 dadurch, daß Ober- und Unter-K. zur Provinz K. vereinigt wurde. Englisch wurde alleinige Amtssprache. 1858 entstand auf der Basis weiterer Landnahme an der Hudson Bay die →Kronkolonie British Columbia. 1867 wurde das brit. Dominium K. errichtet, das aus den Provinzen Quebec, Ontario, Nova Scotia und New Brunswick bestand. 1912 kamen die Provinzen Alberta und Saskatchewan hinzu. 1931 erlangte K. seine Unabhängigkeit von Großbritannien. Die frz.-sprachige Provinz Quebec strebte in der sog. Quiet Revolution ab den 1960er Jahren größere Autonomie bzw. ihre Unabhängigkeit vom engl.-sprachig dominierten K. an, die 1980 jedoch per Referendum abgelehnt wurde. Ein zweites Referendum scheiterte 1995. 1999 entstand mit Nunavut das erste kanadische Territorium, das mehrheitlich aus Angehörigen der First Nations besteht. Neben den noch 612 existenten First Nations K.s wanderten im Laufe des 18.–20. Jh.s neben frz. und engl. Siedlern v. a. Iren und Deutsche, im späteren 20. Jh. auch Immigranten aus China, →Hongkong und Korea ein. 406
Philip A. Buckner (Hg.), Canada and the British Empire, Oxford 2008. Gerald Hallowell, The Oxford Companion to Canadian History, Oxford 2004. Udo Sautter, Geschichte Kanadas, München ²2007. SU SA N N E LA C H EN ICH T
Kandt (bis 24. März 1894 Kantorowicz), Richard, * 17. Dezember 1867 Posen (Poznan), † 29. April 1918 Nürnberg, □ Johannisfriedhof Nürnberg, Grab 478, jüd., ev.-luth. (ab 1893) Entstammte der wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie Kantorowicz, deren Name er bis 1894 trug. Nach frühem Tod des Vaters in Kolberg in der Familie des späteren Sexualforschers Magnus Hirschfeld aufgewachsen. 1887 Abitur in Kolberg, gefolgt von Studien in Kunstgeschichte und Sprachen in Leipzig, ab Herbst 1888 Medizin in Würzburg, Heidelberg und München, Examen 8.3.1893, anschließend Militärdienst, Assistenzarzt der Reserve. Vorübergehend Tätigkeit als Hilfsarzt der Kreisirrenanstalt Bayreuth. 1895 Privatsekretär des damals bekannten Schriftstellers Richard Voss (1851–1918). Mit ihm Romreise, Besuch Vatikanischer Sammlungen mit Skulptur „Altvater →Nil“. Weltschmerzgefühle, Zeitgeist sowie Interesse an Fragen der Psyche ließen Plan zur Erforschung afr. Völker und der Nilquelle, vermutet in →Ruanda, entstehen. Nach völkerkundlichen Studien bei Felix v. →Luschan in Berlin, seit Juli 1897 ab afr. Küste alleiniger Leiter eigenfinanzierter Forschungsexpedition (→Expeditionen) mit 150 Mann nach Ruanda. Juni 1898 Empfang am ruandischen Kg.shof, Aug. 1898 Entdeckung der Quelle des Kagera-Nils (Weißer Nil). Nach Aufenthalt in Usumbura März 1899 Gründung der Station „Bergfrieden“ bei Ischangi am Kiwu-See als Wohnsitz, nahe dt. Militärposten. Ab Sept. 1897 in finanziellen Schwierigkeiten, in Anerkennung seiner Forschungsleistungen seit 1898 Unterstützung durch Auswärtiges Amt und Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg, Präs. der →Dt. Kolonialgesellschaft. Juli 1902 Rückkehr nach Deutschland, Planung einer dreiteiligen Ruanda-Monographie. Teil I, literarisch abgefaßt, erschien in Berlin 1904: „Caput Nili – eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils“. Leicht überarbeitet erlebte das Werk bis 1921 sechs Auflagen (Ndr. Koblenz 1991), wurde Klassiker der dt. Afrikaliteratur und begründete K.s Ruhm als einfühlsamer Afrikaforscher. Ab Apr. 1905 erneut in Ruanda, Niederlassung in Gakira nahe Gitarama. G. A. Graf von →Götzen (1866–1910), 1894 Forscher in Ruanda und 1901–1906 →Gouv. von →Dt.-Ostafrika, plädierte dafür, einheimische Herrschaftsstrukturen möglichst zu erhalten und in Form von →Residenturen zu steuern. In Ruanda sollte ein Resident den Kg. beraten und beeinflussen. K. als anerkannter Sachverständiger wurde 1908 planstellenmäßig „ksl. Resident von Ruanda“, durch ihn Gründung von →Kigali als zentraler Verwaltungssitz der Residentur (1914 ca. 2 000 Ew.), zwei Tagesreisen entfernt vom Kg.shof in Nyanza. Beginn friedlich verlaufender kolonialer Entwicklungsanstrengungen unter bescheidenen Verhältnissen, keine dt. Siedler. K., 1914 bei Kriegsausbruch im Deutschlandurlaub, wurde bayerischer Armeearzt, erlitt an der Front in Galizien eine Gasvergiftung und starb
k An to n is lAn d
daran im Lazarett zu Nürnberg. Im Nachlaß waren keine Ruanda-Materialen auffindbar, vermutlich von ihm bei einem depressiven Stimmungsanfall vernichtet. K.s Bedeutung beruht auf seinem instruktiv und verständnisvoll abgefaßten Werk „Caput Nili“ (S. 182: „Solange wir nicht über all die Völker, die wir beherrschen, in gründlicher Weise orientiert sind, ist all unsere koloniale Arbeit ein Tappen im Dunkeln“) sowie seiner beispielhaft verlaufenen Residententätigkeit in Ruanda. Werk: Caput Nili – eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, Berlin 1904. L: Reinhart Bindseil, Ruanda und Deutschland seit den Tagen Richard Kandts, Berlin 1988. Ders., Ruanda im Lebensbild des Afrikaforschers, Literaten und Ksl. Residenten Richard Kandt (1867– 1918), Trier 2008. RE I NHART BI NDS E I L Kannibalismus →Anthropophagie Kanonier →Bombardier Kanton. Bis 1918 Name der in Südchina am Delta des Perlflusses gelegenen Stadt Guangzhou. Der im dritten Jh. v. Chr. gegründeten Stadt, die heute ca. 10 Mio. Ew. hat, kam zentrale Bedeutung für die überseeischen Handelsbeziehungen Chinas zu. Seit 1711 war die brit. East India Company (→Ostindienkompanien) mit einer Handelsniederlassung in K. vertreten, Niederlassungen der übrigen europäischen Mächte und der →USA folgten. 1759 verfügte Ks. Ch’ien Lung, daß die Einfuhr ausländischer Waren nach China auf dem Seeweg nur noch über den Hafen von K. erfolgen durfte, was die Ansiedlung zahlreicher Europäer und Nordamerikaner in der Stadt nach sich zog. Nach dem Ersten Opiumkrieg (→Opium) wurde 1842 die Öffnung weiterer chin. Häfen für die ausländische Wareneinfuhr durchgesetzt, was die wirtschaftliche Bedeutung des Hafens von K. erheblich verminderte. Jacques Donns, The Golden Ghetto, Bethlehem 1997. Michael Tsin, Nation, Governance and Modernity in China: Canton 1900–1927, Stanford 1999. CHRI S TOP H KUHL
Kanton Island, früher: Canton Island, Abariringa, Mary Ballcout Island bzw. Swallow Island; nördlichste, größte (9 km2) und einzige bewohnte Atoll-Insel der Phoenix Islands Group des Staates Kiribati (→Gilbert and Ellice Is.). Bereits 1595 von Alvaro de Medaña bei dessen zweiter Expedition in den Pazifik entdeckt, wurde die Insel 1854 nach dem aus dem US-amerikanischen New Bedford stammenden Walfänger Canton benannt, der vor der Insel Schiffbruch erlitt und dessen Besatzung sich durch eine spektakuläre 49-tägige Fahrt mit einem Beiboot ohne Verluste nach Tinian, →Marianeninseln, retten konnte. Großbritannien hatte bereits in den 1850er-Jahren erstmals Anspruch auf die Inseln erhoben. Am 6. August 1936 wurde dieser Anspruch erneuert und durch mehrere Besuche auf der Insel untermauert. Eine am 8. Juni 1937 stattgefundene Sonnenfinsternis ließ sich von der nahe dem Äquator liegenden Insel besonders gut betrachten und führte dazu, dass US-amerikanische und neuseeländische Wissenschaftler die Atollinsel besuch-
ten. Während dieses Aufenthaltes zur wissenschaftlichen Beobachtung des Naturschauspiels nahmen die amerikanischen Teilnehmer die Insel für die USA in Besitz, indem sie ein kleines Monument errichteten, in welches sie zwei amerikanische Flaggen hineinsteckten. Das britische Kriegsschiff, die HMS Wellington mit dem die neuseeländischen Wissenschaftler gekommen waren, sah den günstigsten Ankerplatz von einem amerikanischen Kriegsschiff, der USS Avocet okkupiert, und reagierte darauf, indem es einen Warnschuss vor den Bug des US-Schiffes setzte. Dieses antwortete in gleicher Weise. Kurz vor einer weiteren Eskalation schloß man einen Waffenstillstand, um die jeweiligen Regierungen zu konsultieren. Sowohl Washington als auch London verboten weitere Aktionen und so konnte die Sonnenfinsternis von beiden Parteien gemeinsam auf der Insel betrachtet werden, wenn auch in angespannter Atmosphäre. Großbritannien entsandte umgehend danach zwei Radiooperateure am 31. August 1937 auf die Insel. Am 7. März 1938 landeten sieben US-Amerikaner, welche wieder die amerikanischen Ansprüche untermauerten. Trotz Protests des britischen Botschafters in Washington blieben die USA hart, denn Präsident Franklin D. Roosevelt hatte bereits im März 1938 die Insel unter die Verwaltung des US Interior Department gestellt. Erst am 6. April 1939 konnten sich beide Länder einigen, die Atollinseln gemeinsam als →Kondominium zu verwalten. Die damalige Bedeutung der Insel resultierte aus der günstigen Lage in der Mitte des Pazifiks, zwischen Ostasien und dem amerikanischen Doppelkontinent. 1938–1939 baute Pan American Airways die Insel als Zwischenstopp für seine transpazifische Flugverbindung, die sogenannten Pan American Airways Clipper, aus. Eine Rollbahn wurde errichtet und die Lagune für Wasserflugzeuge nutzbar gemacht. Während des Zweiten Weltkriegs erlangte K. Bedeutung als militärischer Stützpunkt für die Operation Galvanic, die alliierte Rückeroberung der von den Japanern besetzten Gilbert-Inseln. Nach dem Krieg nutzten die Fluglinien Pan American und Qantas die Einrichtungen bis 1958. Die Insel hatte zur Zeit des Kalten Krieges und kürzerer Reichweiten von Flugzeugen besondere strategische und verkehrstechnische Bedeutung und war bis Ende der 1960er Jahre von einer größeren Zahl technischen Militärpersonals besiedelt. Kanton wurde damals auch „Aerial Crossroads of the South Pacific“ genannt. Während des US-amerikanischen Mercury-Weltraumprogramms diente Kanton als Beobachtungsstation. Von der U.S. Air Force und der U.S. Space and Missile Systems Organization wurde das Atoll bis 1976 für die Verfolgung von Flugbahnen von Langstreckenraketen eingesetzt. Mit der Unabhängigkeit Kiribatis wurde das anglo-amerikanische Kondominium beendet und die Insel dem neugegründeten mikronesischen Staat übergeben. Die Vorkommnisse auf K. im Jahr 1937 gelten als Beispiel dafür, daß die engen Verbündeten des Zweiten Weltkriegs noch am Vorabend des Krieges ihre kolonialen Interessen in Ozeanien kompetitiv und konfrontativ gegeneinander vertraten. Charles Oates, Canton Island. Aerial Crossroads of the South Pacific. McLean/Virginia 2002. H ERMA N N MÜ CK LER
407
k A P de r g u t e n h o f f n u n g
Kap der guten Hoffnung. Das K. ist eine felsige Landspitze an der Atlantikküste Südafrikas und liegt am südwestlichen Ende der Kap-Halbinsel. Es wird oft fälschlicherweise als der südlichste Punkt Afrikas bezeichnet, welcher in Wirklichkeit das 150 km südöstlich gelegene Kap Agulhas ist. Der erste Europäer, der das K. erreichte, war der port. Seefahrer Bartolomeu Dias 1488. Er nannte es das „Kap der Stürme“ (Cabo das Tormentas). Im Laufe vieler Jahre wurde es für Seefahrer zu einem bedeutenden Seeweg nach →Indien sowie nach Osten, und Johann II. von Portugal benannte es in K. (Cabo da Boa Esperança) um. Der Begriff „gute Hoffnung“ bezieht sich auch auf das erste Fort, das auf der Anlage des heutigen Exerzierplatzes von den ndl. Siedlern, die 1652 im Dienst der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie ankamen, gebaut wurde. Der Begriff wurde dann auch im weiteren Sinne verwendet, um die →Kapkolonie in der Umgebung der Kap-Halbinsel mit einzuschließen. Die winzige Siedlung, ‚De Kaap‘ genannt, begann sich im Laufe der letzten 350 Jahre langsam auszuweiten und entwickelte sich zu dem, was heute als →Kapstadt bekannt ist. Die Briten besetzten das Kap vorübergehend zwischen 1795 und 1806. Der Status des Kaps als brit. →Kronkolonie wurde 1814 mit dem Anglo-Ndl. Vertrag offiziell gemacht. Es blieb brit. Kolonie bis zur Bildung der →Südafrikanischen Union 1910, als die Kapkolonie mit den beiden besiegten Afrikaner-Rep.en („Boer republics“) und →Natal vereint wurde. Heute gehört das Kap politisch zur südafr. Provinz Westkap. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. ANNE KI E JOUBE RT Kapkolonie. Die Geschichte der K. begann mit der Ankunft ndl. Siedler in der Tafelbucht am 6.4.1652. Sie kamen unter dem Kommando Jan →van Riebeecks, um eine Versorgungsstation für die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie zu errichten, und sie begannen Waren mit den dortigen Khoikhoi (→Hottentotten) zu tauschen. Mit der Ankunft immer weiterer Siedler vergrößerte sich die Versorgungsstation, und in den 1670er Jahren entschied die Kompanie, die Siedlung über die Halbinsel hinaus zu erweitern. Zu jener Zeit konnte das bewohnte Gebiet in drei Zonen aufgeteilt werden: De Kaap (später →Kapstadt genannt), die Wein- und Weizen-Bauernschaft des ländlichen Westkaps und die Viehzüchter an der Grenze jenseits der ersten Gebirgszüge. Die K. wurde zu einer Sklavenhaltergesellschaft, in die zwischen 1652 und 1808 63 000 Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) importiert wurden. Die Eingliederung von häuslichen Sklaven in die Siedlerfamilien schuf die Grundlage für die Art von Gesellschaft, wie sie sich in der K. entwickelte. Die Komplexität der Bevölkerung der K. nahm 1688 mit der Ankunft einer großen Anzahl frz. →Hugenotten zu. Nach ihnen kamen im 18. Jh. Deutsche, die fast alle ledige Seefahrer oder Soldaten waren; dies führte zu Verbindungen zwischen Europäern, Sklaven, Khoikhoi u. a. schwarzen Gruppen. 1795 besetzten die Briten die K. als strategische Basis gegen die Franzosen, die den Seeweg nach Osten bedrohten. Die K. wurde in das rasant sich industrialisierende Handelsimperium 408
Großbritanniens einbezogen und trat 1910 in die →Südafrikanische Union ein. Delien Burger (Hg.), South Africa Yearbook 2005/6, Pretoria 2005. Hermann Giliomee, The Afrikaners, Kapstadt 2003. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. A N N EK IE JO U BERT
Kapstadt befindet sich am Ufer der Tafelbucht und wurde 1652 von der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie als Versorgungsstation für vorbeifahrende Schiffe auf ihren Handelswegen nach Osten gegründet. Jan →van Riebeeck setzte die ndl. Flagge, und ein Prozeß der Kolonisierung begann. Die kleine Versorgungsstation, ‚De Kaap‘ genannt, entwickelte sich zu einer multiethnischen und vielsprachigen Stadt, und wurde zum wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt der →Kapkolonie. Während der zweiten Hälfte des 18. Jh.s begannen Kolonisten mit der schnellen Ausbreitung ins Kap-Hinterland. Die Briten besetzten das Kap vorübergehend zwischen 1795 und 1806. Der Status des Kaps als brit. →Kronkolonie wurde 1814 mit dem Anglo-Ndl. Vertrag offiziell gemacht. Es blieb brit. Kolonie bis zur Bildung der →Südafrikanischen Union 1910, als die Kapkolonie mit den beiden besiegten Afrikaner-Rep.en („Boer republics“) und →Natal vereint wurde. K. wurde zum Sitz des Parlaments der Südafrikanischen Union (später: Rep. Südafrika). 1948 gewann die Nationale Partei mit ihrer Politik der →Apartheid (Segregation der ethnischen Bevölkerungsgruppen) die Wahlen. Dies führte zum ‚Group Areas Act‘ (1950), einem Gesetz zur räumlichen Trennung, unter welchem multiethnische Außenbezirke wie District Six in K. zerstört wurden. Mehr als 60 000 nichtweiße Ew. wurden gewaltsam entfernt und in die Cape Flats (Sandebene östlich von K.) umgesiedelt. Heute ist K. der Sitz der Legislative in Südafrika sowie die Provinzhauptstadt von Westkap. K. ist ein beliebtes Touristenziel und berühmt für seine landschaftliche Schönheit mit den Wahrzeichen Kapstadt und Cape Point. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Alan Mountain, The First People of the Cape, Claremont 2003. A N N EK IE JO U BERT
Kap Verde. Inselgruppe und Staat (4 033 km2) vor der westafr. Küste; die unbewohnten Inseln wurden seit 1456 von den Portugiesen in Besitz genommen. Den Namen erhielten sie vom unweit gelegenen, seit 1444 ebenfalls port. „Grünen Kap“, dem westlichsten Punkt des afr. Festlands im heutigen →Senegal. Port. Siedler etablierten auf K.V. unter Einsatz zahlreicher afr. Sklaven eine rentable Zuckerrohr- und Baumwollwirtschaft (→Zucker, →Baumwolle). Die heutige Bevölkerung (2005 ca. 470 000) stammt überwiegend von den afr. Sklaven ab (71 % →Kreolen). K.V. nahm eine wichtige Stellung im transatlantischen →Sklavenhandel ein, da seine Häfen jh.elang der zentrale Sammelpunkt für Indigene aus ganz Afrika waren, die als Sklaven in die Amerikas verschifft wurden. Erst Mitte des 19. Jh.s gab Portugal den Sklavenhandel auf, in dem zuletzt der →Süden der USA sein Hauptgeschäftspartner gewesen war. Da die klimatischen
k Ari bi k
Bedingungen (→Klima) auf K.V. denen in der Sahelzone entsprechen, kam es immer wieder zu langen Dürreperioden mit Hungerkatastrophen (z. B. 1830–1834 ca. 30 000 Hungertote). Die Unfähigkeit der Portugiesen, in solchen Situationen Hilfe zu leisten, trug wesentlich zur Unbeliebtheit der Kolonialmacht bei, die des öfteren zu Revolten führte. 1956 wurde die Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde (PAIGC) gegründet. Nach Abschaffung der Diktatur in Portugal erhielt K.V. Ende 1974 Autonomie. Die PAIGC erreichte bei den Wahlen am 30.6.1975 92 % der Stimmen und proklamierte am 5.7.1975 die Unabhängigkeit. Walter Schicho, Handbuch Afrika, Bd. 2, Frankfurt/M. 2001, 359–373. CHRI S TOP H KUHL Karachi. Hauptstadt der Provinz Sindh in →Pakistan; bis 1958 auch Hauptstadt Pakistans. Durch seine Küstenlage am westlichen Ufer des Mündungsdeltas des Indus ins Arab. Meer ist das →Klima K.s relativ mild. Zur Geschichte der Stadt im Altertum ist wenig bekannt. Ursprünglicher Name Kolanchi oder Kolachi, nach einem Stamm aus Makran/Baluchistan. Bis 1794 gehörte K. zu Baluchistan. Später wurde es von den Talpur Mirs eingenommen, die den Sindh von 1795–1843 regierten. Unter der Herrschaft der Talpurs entwickelte sich K. zu einem kleinen Handelszentrum. Nach der Annexion durch die Briten, unter General Charles Napier 1843, wurde K. zur Hauptstadt des Sindh erhoben. Napier und seine Nachfolger bauten den Hafen K.s aus und modernisierten die Infrastruktur der Stadt. Der Sindh, inkl. K.s, wurde 1847 der →Bombay Presidency angegliedert. 1935 erhielt der Sindh mit K. als Hauptstadt den Status einer Provinz zurück. Von jeher durch seine kulturell und religiös heterogene Bevölkerung geprägt, lag die Ew.-zahl K.s 1838 bei 14 000, die Hälfte davon Hindus (→Hinduismus). Die Volkszählung von 1872 registrierte 56 753 Ew., 23 404 davon Hindus. In Folge der →Teilung Brit.-Indiens 1947 floh die Mehrheit der in K. lebenden Hindus nach →Indien. Dennoch wuchs die Bevölkerungszahl der Stadt durch den Zuzug von aus Indien geflohenen Muslimen in den Jahren nach 1947 stark an. K. ist Geburtsort von M. A. →Jinnah, dem Gründervater Pakistans, sowie Ort seiner letzten Ruhestätte. Yasmeen Lari, The Dual City, Karachi ²2001. I NAYAT UL L AH BAL OCH
Karibik, die (Span.: el Caribe; Engl.: The Caribbean; Frz.: La Caraïbe). Raumkonzept für ein Randmeer des →Atlantiks und Inselgruppen zwischen der Südküste Nordamerikas, Florida, den →Antillen, Mittelamerika, Yucatán und der Nordküste Südamerikas (v. a. Guayanas, →Venezuela, →Kolumbien und →Panama). Seit dem Einsetzen des Tourismusbooms (→Tourismus) Ende der 1970er Jahre, beeinflußt durch Theorien des Postkolonialismus, wird unter K. auch mehr und mehr die Großregion aller Inseln, Küstenlandschaften und Plantagenregionen, Flußästuare, Hafenstädte und Meere (die engere K. und der Golf von →Mexiko) zwischen →Charleston und Savannah im Norden sowie →Rio de Janeiro im Süden verstanden („große K.“ – gran Caribe). Alexander von →Humboldt nannte die Region zwischen Nord-, Süd-
und Mittelamerika „am. Mittelmeer“; für ihn standen →Kuba und Havanna im Zentrum der K. Vom 17. bis ins 19. Jh. war der historische Raum der großen K. von →Sklaverei und Sklavenhandel, Widerstand und →Transkulturation, der Konkurrenz europäischer Kolonialimperien (Spanien, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Dänemark, zeitweilig auch Kurland / Brandenburg und Schweden; nach 1783 auch →USA), Kriegen, Monopolen (→asientos, →carrera de Indias) sowie Korsarentum / Piraterie (→Freibeuterei) und Schmuggelnetzen geprägt. Die K. i. e. S. besteht aus Inseln und Inselgruppen (Großen und Kleinen Antillen, dem BahamaArchipel (Lucayas), den Turks and Caicos-Inseln, den Inseln entlang der südam. Nordküste mit den ABC-Inseln; den Inseln vor der panamaischen und mittelam. Küste, wie San Andrés, Providencia, Cozumel, Guanaja, Islas de la Bahia) sowie Enklavenwirtschaften, die mit der Wirtschaft und Kultur des Sklaverei-Atlantiks verbunden waren. Der Begriff „Antillen“, der für Inselgruppen im karibischen Raum verwandt wird, resultiert aus dem mittelalterlich-europäischen Antilia-Mythos. Das Wort „Caribe“ entwickelte sich aus einem Begriff für feindliche Krieger (caniba oder caribes) oder für eine göttliche Gewalt (cemí), das →Kolumbus 1492 oder 1493 von Tainos (→Arawak), Angehörigen der dominierenden Kultur der Großen Antillen hörte, und bewußt fehlinterpretierte, um einerseits eine Gruppe friedlicher, unterwürfiger „Indios“ (da er annahm, in →Indien zu sein (span.: Indias Occidentales – Westindien) und andererseits eine Gruppe blutrünstiger und anthropophager Krieger (caribes – „Kariben“; „Kannibalen“) zu konstruieren. Aus diesem Konstrukt entwickelte sich ein europäischer Topos in Philosophie und Literatur (Kannibalendiskurs), der auf geographisch-kulturelle Termini, Konzepte und Darstellungen zurückwirkte. Aus dem Teilmeer des Mar del Norte (Atlantik) der Spanier wurde v. a. auf westeuropäischen Karten die K. und im anglophonen Bereich die West-Indies (mit starker Ausstrahlung auf mitteleuropäische →Kartographie und Erdkunde). Heutige Interpretationen gehen davon aus, daß beide Großgruppen der „K. ohne den Namen K.“ – Tainos (Arawak) und Kariben (Insel- und Festland-Kariben) eine recht homogene Kultur bildeten; die Ethnien setzten sich aus vielen Untergruppen, Stämmen und Kazikenherrschaften zusammen. Die Tainos, deren Zentrum auf Santo Domingo und in Ostkuba lag, wurden durch die europäische Expansion mit nachfolgender demographischer Katastrophe bis auf wenige Menschen und Überreste (die allerdings die Lebensweise der →Bukaniere beeinflußten und die bäuerlichen Kulturen der Inseln bis heute prägen) ausgerottet. Insel-Kariben (kalipona), die sich mit geflohenen schwarzen Sklaven (→Cimarrón) zusammentaten, bildeten auf Saint Vincent das Volk der sog. „schwarzen Kariben“, die Ende des 18. Jh.s von den Briten auf Islas de la Bahia vor Honduras und Brit.-Honduras (Belize) deportiert wurden (garifuna). Die Festlands-Kariben (kalihna/galibi/kariña) kontrollierten zwischen dem 16. und 19. Jh. ein quasi-autonomes Großterritorium zwischen Paria-Halbinsel und Amazonasmündung („Caribana“), das erst nach und nach als eines der Guayanas Nationalstaaten als Teil (Provinz, Föderalstaat) oder als Kolonie 409
k A r ib i k
angeschlossen wurde (venezolanischer Teilstaat Guayana (heute Bolívar, Karibengruppen leben auch in den venezolanischen Staaten Sucre, Anzoátegui und Monagas), Suriname (Ndl.-Guayana), →Essequibo (Brit.-Guyana), Cayenne (Frz.-Guayana) sowie Amapá (oder Amabá: Brasilianisch-Guayana). Seit 1624/25 gelang es westeuropäischen Schiffverbänden, in einem längeren Expansionsprozeß bis Ende des 17. Jh.s, z. T. parallel zu gescheiterten Angriffen auf die iberischen Kolonien in den Amerikas (Florida, →Brasilien), auf Inseln der Kleinen Antillen, den ABC-Inseln (Curaçao 1634) und an der „wilden Küste“ in den Guayanas zwischen span. und port. Einflußbereich (Essequibo und Demerara seit 1616; Suriname 1651 engl., seit 1667 ndl., Cayenne seit 1604, seit 1801 Guyane française) karibische Kolonialterritorien sowie Plantagenkomplexe zu etablieren. Im Bogen der Kleinen Antillen und auf den ABC-Inseln wurden v. a. →Barbados (seit 1650 Experimentalinsel brit. Zuckerproduktion auf Plantagen mit überwiegend afr. Sklaven), →Martinique und Guadeloupe (Frankreich), Sankt Thomas (Dänemark) sowie Curaçao (Niederlande) wichtig, oft als unsinkbare Plattformen für Sklavenhandel und Schmuggel in den und aus dem Großraum der span. Kolonien. Ausgehend von Barbados setzte sich Enklavenwirtschaften des Plantagenkomplexes mit →Tabak, →Zucker, →Kaffee, →Indigo (→Ingenio) und afr. Sklaven durch. Die Imperial-Macht Spanien hatte mit der Organisation der Carrera de Indias, mit aufwendigen Festungsbauten, die die frühe K. zur bestbefestigsten Region der Welt machten, und Verwüstungen sowie Entvölkerungen (devastaciones) am Beginn des 17. Jh.s (v. a. Westen und Norden von Hispaniola und Ostkuba) reagiert. Die devastaciones ganzer karibischer Städte und Wirtschaftsregionen sollten den Kontakt zu den v. a. protestantischen Schmugglern, Korsaren, Bukanieren und Flibustiern unterbrechen, sorgten aber wirklich für das von der Insel Tortuga im Norden Haitis ausgehende Einsickern v. a. von frz. hugenottischen Bukanieren und Piraten in den Westteil Hispaniolas (Santo Domingo). 1697 ging der Westteil der Insel Santo Domingo (la partie française de l’isle Saint-Domingue) im Frieden von Rijswijk an Frankreich. Seit 1655 gehörte →Jamaika als Teil des eigentlich anders geplanten „Western Design“ zum engl. Kolonialreich. Auf den großen Inseln, wie Jamaika, dem Inselteil Saint-Domingue, Martinique und Guadeloupe, aber auch auf kleineren Inseln entstanden Zentren der Piraterie, des Korsarentums und Schmuggels sowie, nach dem Vorbild von Barbados, Enklaven landwirtschaftlicher Exportproduktion mit afr. Sklaven, zunächst v. a. von Tabak und Zucker, später auch von →Kaffee, Indigo, →Kakao und →Baumwolle (Plantagenwirtschaft, →Ingenio), außerdem Komplemetärproduktion von Vieh, Nahrungsmitteln, Holz und →Rum. Im 18. Jh. gelang es den Metropolen, Kolonialverwaltungen auf den Inseln der K. bzw. West-Indiens (frz. auch: les Amériques) durchzusetzen, für die Anlage in Piraterie sowie Sklavenschmuggel entstandenen Kapitals in Plantagen zu sorgen und die Exportproduktion durch Monopolgesetzgebungen auf die jeweiligen Mutterländer auszurichten. Besonders Saint-Domingue und Jamaika wurden zu allseits bewunderten landwirtschaftlichen Boom-Kolonien, die 410
weltweit ihresgleichen suchten. West-, Süd- und Mitteleuropa sowie Dänemark und Skandinavien bis hin nach Rußland wurden (in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s meist über Bordeaux) aus den Plantagenkolonien der K. und der Guayanas mit →Kolonialwaren versorgt. Ausgehend von England und den nördlichen Niederlanden fielen immer mehr die europäischen Luxus-Verbote, so daß auch Bürgertum, Mittel- und Unterschichten begannen, Zucker, Zigarren, Rum und Kaffee sowie andere Kolonialprodukte zu konsumieren. Allerdings existierte auch eine K. ohne Plantagen, v. a. geprägt durch Rinderjagd und -haltung (auch →Pferde und →Maultiere), Holzeinschlag, Fisch- und Schildkrötenfang, Perlenfischerei (→Perlen), Schmuggelwirtschaften, u. a. mit Vieh, Schnaps, Tabak, Holz, Sklaven, Gold und Edelsteinen (K.küste des heutigen Kolumbien, Panama, Mittelamerika und Texas). In Louisiana und Florida scheiterten vor 1830 mehrere Versuche, Plantagenkomplexe zu etablieren. V. a. in Grenzzonen und an den K.küsten Mittelamerikas erhielten sich bis ins 19. Jh., z. T. sogar bis ins 20. Jh., Autonomien indianisch-karibischer Völker mit hohen Anteilen geflohener Sklaven, wie die bereits erwähnten Garifuna, aber auch Guajiros (wajúu) auf der Halbinsel Goajira zwischen Kolumbien und Venezuela, Seminolen in Florida oder Kuna-Indios zwischen Kolumbien und Panama sowie die Miskito-Indios u. a. Stämme an den mittelam. K.küsten. Die span. K. der Großen Antillen blieb hinter der rasanten Entwicklung der sog. „Zucker-Revolution“ (B. W. Higman) in der brit., der frz. und der ndl. K. bzw. dem →Freihandel der dän. K. zunächst zurück. 1791 kam es zum Aufstand der schwarzen Sklaven und freien Farbigen auf Saint-Domingue (1791– 1803). Unter dem ehem. Sklaven Toussaint →Louverture (1743–1803) wandelte sich die anfängliche Rebellion der Plantagensklaven der Nordebene von Saint-Domingue in die erste erfolgreiche Revolution der Weltgeschichte gegen Sklaverei, Latifundien und →Kolonialismus. Haitianische Truppen besetzten bis 1844 auch den Ostteil der Insel Santo Domingo und beseitigten die Sklaverei. Infolge des Zusammenbruchs der Muster-Export-Kolonie Saint-Domingue und des Niedergangs der brit. Plantagenkolonien (v. a. Jamaika und Barbados) entwickelten sich im 19. Jh. in Westkuba („Cuba grande“) und Puerto Rico Plantagensklaverei und Sklavenschmuggel besonders intensiv. Eine rasante Modernisierung im Interesse der Kolonialmetropole, lokaler kubanischspan. Sklavenhalter-Eliten sowie meist span. Sklavenhändler setzte ein. Im Wirtschaftskomplex des Ingenio wurden v. a. Kaffee (bis 1830) und raffinierter Weißzucker sowie Rum (ab ca. 1870) und Havanna-Tabak (Zigarren) produziert. Kuba wurde zur weltweit technisch und technologisch bestentwickelten Plantagen-Kolonie (Sklaverei bis 1886; Kolonie bis 1898/1902). Die K. war 1520–1814 und Ende des 19. Jh.s (→Span.-Am. Krieg 1898) Schauplätz schwerster imperialer Konflikte. Alle großen und kleinen europäischen Kriege seit dem 16. Jh. wurden von Seekriegen und -schlachten, Korsaren- und Piratenüberfällen, Invasionen und Landungsunternehmungen, Angriffen auf zentrale Städte (wie z. B. →Cartagena de Indias 1740 und Havanna 1761) und Routen sowie Verwüstungen der jeweils gegnerischen Kolonial-
k Ari bi k
besitzungen geprägt. Auf Inseln und an Küsten der K. fanden auch langwierige innere Kriege und antikoloniale Revolutionen statt. Zwischen 1810 und 1830 war v. a. das nördliche Südamerika (Tierra firme, heute Kolumbien und Venezuela) Hauptschauplatz der Independenciakriege (Simón →Bolívar), die stark von karibischen Einflüssen geprägt waren (Waffenschmuggel; Hilfe des haitianischen Präs. Alexandre Pétion für die Patrioten Venezuelas) und stark auf die K. ausstrahlten. Die Kämpfe an der K.küste Südamerikas führten zunächst zur Bildung des bolivarianischen Staates →Großkolumbien (1819– 1830), dann zur Formierung neuer republikanischer Staaten (Venezuela 1830; Neu-Granada / Kolumbien 1831). Inseleliten der K. (v. a. Kuba, Dominicana und Puerto Rico) versuchten sich in nationalistischen Rebellionen und Bewegungen seit den Zeiten des kontinentalen Großkolumbiens unter Simón Bolívar oder Mexiko anzuschließen oder propagierten Nations-Konzepte, in deren Zentrum „weiße“ Nationen nur aus den im jeweiligen Territorium geborenen weißen Männern stehen sollten, Sklaverei und großer Landbesitz sollten beibehalten werden. Um 1850 begannen Eliten der neuen Staaten mit K.küsten, die nach den Unabhängigkeitsbewegungen entstanden waren (Venezuela, mittelam. Staaten und Mexiko inkl. der USA, die ihrem Staatsgebiet New Orleans / Louisiana sowie Florida, später auch Teile Mexikos hinzugefügt hatten) Arrondierungs- und Nationalisierungspolitik zentralistischer Tendenz zu betreiben. Die bäuerlichen Kulturen der freien Farbigen und ehem. Sklaven sowie einige Eliten (z. B. New Orleans, Veracruz oder Cartagena) der K. wurden marginalisiert. Die Einheit der K., bis dahin v. a. von Zuckerwirtschaft, Schmuggel und Cimarrón-Lebensweise, →Kreolisierungen (→Kreole) sowie kultureller Transkulturation (Religionen, Musik, Feste, Essen, Medizin) geprägt, wurde zerstört. Allerdings blieben im Regime der „2. Sklaverei“ im →Süden der USA (Baumwolle) und v. a. auf Kuba (Zucker, Tabak) von 1830 bis zum →Am. Bürgerkrieg die Verbindungen und der Austausch zwischen Westkuba und Louisiana, New Orleans und Florida durch Schmuggel, Handel, Elitenzirkulation und Politik noch längere Zeit intakt. Das führte nicht zuletzt zu politischen Plänen und Versuchen, den Süden der USA und Kuba durch Annexion der größten Insel der K. zu vereinen. Nach Kuba und Puerto Rico setzte parallel zu engeren Abolitionsphase der Sklaverei (1868–1886) eine massive, von der Metropole geförderte Migration ärmster bäuerlicher Gruppen aus Spanien (meist Galicier, junge Männer) ein, die oft in der Zuckerwirtschaft arbeiteten. Die großen Plantagenstrukturen blieben nach der Abolition erhalten; sie wurden sogar ausgeweitet sowie modernisiert und prägten noch das gesamte 20. Jh., oft in der Organisationsform der Centrales (modernste Zuckerfabriken mit riesigen Latifundien; z. T. auch mit Rumproduktion). Die Organisationsform der großen Latifundien mit industrieller Verarbeitung wurde auch in anderen landwirtschaftlichen Branchen und in der sich seit dem Ersten Weltkrieg ausbreitenden Öl-Enklavenwirtschaft übernommen, die Exportgüter für den Norden produzierten, auch →Bananen, andere Südfrüchte, Ananas). Ehem. Sklaven wurden Saisonarbeiter, Fischer und Subsistenzbauern.
Eine starke innerkaribische Migration v. a. farbiger und schwarzer Menschen aus Subsistenzzonen (z. B. Jamaika, Dominicana, Haiti) in Zonen mit Plantagenproduktion und Ölwirtschaft (Kuba, USA, auch von Haiti in die Zuckerzonen der Dominikanischen Rep.) setzte ein. Zugleich verbreitete sich im Rahmen nationalistischer Diskurse ein immer stärkerer →Rassismus, der sich oft in diskriminierenden Arbeitsgesetzgebungen sowie kriminologischen, biometrischen und medizinischen Theorien niederschlug. Die offenen Exportwirtschaften, v. a. die auf die Monokultur des Zuckers orientierten Plantagenregionen mit ihren Massen von meist farbigen Saisonarbeitern, unterlagen den Krisenzyklen der atlantischen Wirtschaft besonders intensiv. Insofern können die beiden Revolutionen auf Kuba 1933 und 1959, die die Geschichte der K. und die Weltgeschichte stark beeinflußten, als Folge von Plantagenstrukturen (und Expansion US-am. Firmen), Monoproduktion und Krisenzyklen interpretiert werden. Die Formierung von Rep.en, Staatsbürgern und Nationen sowie die Abolition der Sklaverei im 19. und 20. Jh., fand fast überall mittels großer Kriege (z. B. Föderationskrieg in Venezuela 1859–1864, →Am. Bürgerkrieg), andauernde CaudilloKonflikte, Interventionen und bäuerlichen Rebellionen statt. Erst in den 1880er Jahren stellte sich eine gewisse Stabilität ein, die allerdings Ende des 19. Jh.s v. a. in Venezuela, Kolumbien, Kuba und Puerto Rico schon wieder gestört war, auch durch Großmächtekonflikte um die modernste karibische Agro-Industrie auf Kuba. Auf Kuba, Santo Domingo und Puerto Rico begannen antikoloniale Bewegungen und Kämpfe gegen die Kolonialmacht Spanien, besonders deutlich auf Kuba mit dem sog. Zehnjährigen Krieg (1868–1878), dem kleinen Krieg (guerra chiquita) und dem Krieg 1895–1898. Mit dem Sieg der USA im Span.-Am. Krieg 1898, der Annexion Puerto Ricos und der Abspaltung Panamas von Kolumbien 1902 wurde die neue Hegemonie der USA über die Insel-K. und Mittelamerika manifest. In vielen K. anrainer- und K.staaten, mit Ausnahme Kolumbiens, das allerdings vom extrem verlustreichen „Krieg der tausend Tage“ (1899–1902/03) erschüttert wurde, setzten sich diktatorische Regime des 20. Jh.s (Mexiko, Venezuela, Dominikanische Rep.) durch. Das 20. Jh. war durch die Mexikanische Revolution (1910–1920), häufige Diktaturen (Venezuela, Kuba, Haiti – Dominikanische Rep.), massive Interventionspolitik der USA mit z. T. langanhaltenden Besetzungen (Kuba, Haiti – mehrfach über Jahre, Dominikanische Rep., viele kleine Inseln und Panama), schwerste Konflikte und die kubanische Revolution von 1959 geprägt. Während der Prohibition in den USA und massiv seit den 1920er Jahren kam es zu einer ersten Welle des Tourismus in der K., zunächst v. a. aus USA und Großbritannien. Die zweite Tourismus-Welle der 1950er Jahre erfaßte v. a. Kuba, das zum Spiel- und Prostitutionsparadies der US-am. Mittelklasse wurde. Seit den 1970er Jahren entwickelten sich europäischer und nordam. Massentourismus in der Dominikanischen Rep. und auf den Kleinen Antillen sowie innerer Tourismus auf Isla Margarita (Venezuela) und elitärer Sporttourismus in der brit. K., seit den 1990er Jahren flankiert vom Ausbau des kubanischen Massentourismus und dem 411
k A r l iii .
Kreuzfahrttourismus. In einem ersten postkolonialen Moment kam es besonders in der ersten Hälfte des 20. Jh.s zur Modernisierung der Geschichtswissenschaft durch Historiker, die Dynamiken der Geschichte der K. als Teil der →atlantischen Geschichte, oft auch vor dem Hintergrund der Geschichte Afrikas, zu verarbeiten versuchten. Besonders sind die Werke bzw. Großkonzepte zu erwähnen, in denen Elemente der karibischen Geschichte verarbeitet wurden und die auf Kulturwissenschaften, Philosophie, Anthropologie und Literatur durchschlugen: das Transkulturationskonzept (transculturación, 1940) des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz (1881–1969); die Geschichtsschreibung zu den Themen „Kapitalismus und Sklaverei“ (Capitalism & Slavery; 1944) sowie „Die schwarzen Jakobiner“ (1938) westind.-brit. radikaler Denker (Eric E. Williams 1911–1981, und C.L.R. James 1901–1898); ferner das Konzept der négritude/ des negrismo (v. a. Aimé Césaire 1913–2008 und Léopold Sédar →Senghor 1906–2001) um 1930. In gewissem Sinne könnte auch die Zuckergeschichtsschreibung Kubas (v. a. Manuel Moreno Fraginals (1920–2001)) sowie die Testimonialliteratur der kubanischen Revolution (v. a. Miguel Barnet, * 1940) zu den geistigen und kulturellen Erneuerungen gerechnet werden, die in der K. und über sie hinaus wirksam wurden. Weltweite Ausstrahlung haben auch karibische Musikstile und Tänze, deren Grundelemente und Rhythmen oft auf afrokaribische Religionen (Obeah, Santería, Palo Monte, Abakúa, Voudou, Spiritismus, Maria-LionzaReligion) zurückgehen. Manuel Moreno Fraginals (Hg.), General History of the Caribbean, 7 Bde., New York / London 1997–2004. Gerhard Pfeisinger / Bernd Hausberger, Die Karibik – Geschichte und Gesellschaft 1492–2000, Wien 2005. Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004. MI CHAE L Z E US KE
Karl III., Kg. von Spanien, * 20. Januar 1716 Madrid, † 14. Dezember 1788 Madrid, □ Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, rk. Die Überseebesitzungen spielten in der Reformpolitik des vierten Bourbonen auf dem span. Thron eine zentrale Rolle. Der zeitweilige Verlust →Kubas an England während des →Siebenjährigen Krieges und die Erkenntnis der Gefährdung von Spaniens Stellung in Übersee lösten intensive Reformtätigkeit aus. Konstante der neuen Politik wurde die Ausweitung des Territorialstaatskonzepts nach →Amerika und die Besetzung ziviler Verwaltungsposten mit modern ausgebildeten, auf den Kg. vereidigten Militärs. Parallel dazu wurden nach span. Vorbild Provinzialmilizen unter eigener Militärgerichtsbarkeit organisiert, und der Ausbau der Befestigungen angeordnet, so daß man auch von einer Militarisierung der Kolonialgesellschaft spricht. Aus der Reform des Karibikhandels um Kuba folgte eine lange Reihe von Maßnahmen zur Reform des Amerikahandels, die im Reglamento y Aranceles Reales para el Comercio Libre de España a Indias von 1778 gipfelten, das unter der mißverständlichen Abkürzung Comercio libre bekannt wurde. Diese Reform stand in engem Zusammenhang mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen in Spanien zur Libera412
lisierung des Binnenhandels und der Homogenisierung der Außenzölle. Diesen Bemühungen zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes entsprach auf politischer Ebene das Bestreben, einen sólo cuerpo de nación, so die Politiker →Campomanes und Moñino in einem Gutachten von 1768, mit den hispanoam. Untertanen zu bilden, der u. a. durch einen Austausch von Beamten begünstigt werden sollte. In wirtschaftlicher Hinsicht war man jedoch nicht bereit, von der Unterordnung der seit den 1720er Jahren zunehmend als „Kolonien“ bezeichneten Gebiete unter das Mutterland abzurücken. Während das span. Gewerbe zur Steigerung der Exporte nach Hispanoamerika umfassend gefördert wurde, sollte der Aufbau eines am. Gewerbes weiter verboten bleiben, obgleich die span. Exporte zur Befriedigung der Nachfrage nicht ausreichten und der Schmuggelhandel blühte. Die unter K. in Spanien allerorten gegründeten Sociedades Ecómicas de Amigos del País erfuhren in Übersee wenig Unterstützung, nachdem 1776 der Unabhängigkeitskrieg der →USA ausgebrochen war. Q: Hans Juretschke (Hg.), Berichte der diplomatischen Vertreter des Wiener Hofes aus Spanien in der Reg.szeit Karls III. (1759–1788), Madrid 1970–1988. L: Karl Kohut, Sonia V. Rose (Hg.), La formación de la cultura virreinal (Bd. III: El siglo XVIII), Madrid / Frankfurt/M. 2006. Horst Pietschmann, Mexiko zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 2000. ALEXANDRA GITTERMANN Karl IV., * 11. November 1748 Portici / Neapel, † 19. Januar 1819 Neapel, □ Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, rk. Der erstgeborene Sohn →Karls III. folgte diesem am 13.12.1788 auf den span. Thron. Er herrschte in einer Zeit, die für Spanien Krisen in vielerlei Hinsicht mit sich brachte. Gegen den von seinen bourbonischen Vorgängern propagierten Zentralismus und Ministerialismus regten sich in Spanien sowohl konstitutionelle wie frühliberale, aber auch konservative Widerstände. Die Gesellschaftsordnung war durch das Bevölkerungswachstum und den von der Krone unterstützten Aufstieg des Verdienstadels in Bewegung geraten. Nicht zuletzt wurden die Anzeichen für die Eigenständigkeit der überseeischen Besitzungen unübersehbar. K., den sein Vater wegen seiner engen Kontakte zu den oppositionellen adligen und kirchlichen Kreisen zuletzt von den Reg.sgeschäften ferngehalten hatte, schwankte zunächst zwischen den Parteien Floridablancas und →Arandas, übergab dann jedoch 1792 die Reg. an den vieldiskutierten Manuel Godoy. Die Abschaffung der Junta de Estado, wichtigstes Organ des Ministerialismus seines Vaters und Floridablancas, sowie die Beschneidung der Befugnisse der Intendanten zeigen ebenso die Abkehr von der zentralistischen Politik seines Vaters wie die Diskussion des Planes von Aranda, das Kgr. in ein Ksr. zu verwandeln, dem K. als Ks. vorstehen sollte, während seine Nachkommen als Kg.e die hispanoam. Teilreiche regieren sollten. Große finanzielle Nöte, die aus der von Napoleon erzwungenen finanziellen Unterstützung seiner Kriege resultierten, führten 1798 zu einer – 1804 auch auf Hispanoamerika ausgeweiteten – Desamortisation von Kirchengut, die die Staatsverschuldung etwas minderte, der
k A ro li n en
Krone jedoch auch die Feindschaft des Klerus eintrug. 1805 veröffentlichte man die Novísima recopilación de las leyes de España, die weder den span. konstitutionellen Debatten noch dem Code Napoléon Rechnung trug und damit verdeutlichte, wie sehr die span. Reg. in den politischen Normen des Ancien Régime verhaftet war. Die innere Opposition zwang K. im März 1808 zur Abdankung zugunsten seines Sohnes Ferdinands VII., die napoleonische Invasion im Mai zur erneuten Abdankung zugunsten Joseph Bonapartes. Elena de Lorenzo Álvarez (Hg.), La época de Carlos IV, Gijón 2009. Barbara H. Stein / Stanley J. Stein, Edge of Crisis, Baltimore 2009. AL E XANDRA GI T T E RMANN Karl V., * 24. Februar 1500 Gent, † 21. September 1558 San Gerónimo de Yuste, □ Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, rk. Der Sohn Philipps des Schönen und Johannas „der Wahnsinnigen“ wurde nach dem Tod seines Vaters 1506 Herzog von Burgund. Der Regentschaftsrat, der zunächst die Regierungsgeschäfte führte, erklärte ihn 1515 für mündig. 1516 folgte K. seinem Großvater Ferdinand von Aragon auf dem span. Kg.sthron, drei Jahre später setzte er sich bei der Ks.wahl gegen Franz I. von Frankreich durch. K.s universaler Herrschaftsanspruch gewann durch die überseeische Expansion Spaniens zunehmend eine globale Dimension, stieß gleichzeitig jedoch in den Auseinandersetzungen mit Frankreich um Italien und Burgund, mit den Osmanen auf dem Balkan und im Mittelmeer sowie mit den protestantischen dt. Fürsten immer wieder an seine Grenzen. Diese Konflikte hatten auch eine überseeische Dimension, da frz. Korsaren span. Schiffe auf dem →Atlantik angriffen und K. 1535 und 1541 Feldzüge gegen die Vasallen des →Osmanischen Reiches in Tunis und →Algier durchführte. Zermürbt von den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen und physisch erschöpft, dankte K. 1556 ab; in Spanien und den Niederlanden folgte ihm sein Sohn →Philipp II., im Reich sein Bruder Ferdinand. Das zu Beginn seiner Herrschaft weitgehend auf die Großen Antilleninseln (→Antillen) beschränkte span. Imperium in der Neuen Welt erfuhr seit 1519 durch die →Eroberung großer Teile Mittel- und Südamerikas eine gewaltige Ausdehnung. Das von den Conquistadoren erbeutete Gold, von dem der Krone ein Fünftel zustand, bildete zunächst die wichtigste am. Einkommensquelle. Mit der Erschließung reicher Silbervorkommen in →Mexiko und →Peru wurde Silber seit der Jh.mitte das Hauptexportgut der Neuen Welt. Nach Abschluß der Eroberungen wurden die Conquistadoren aus ihrer Machtposition verdrängt und durch kgl. Beamte ersetzt. Neuspanien (Mexiko) und Peru wurden 1535 bzw. 1543 zu →Vize-Kgr.en erhoben. Für Rechtsprechung und Kontrolle der Verwaltung wurden Gerichtshöfe (→audiencias) eingeführt. Oberste Instanz in Kolonialangelegenheiten war der 1524 gegründete Indienrat. Die von dem Dominikanermönch Bartolomé de →Las Casas vehement angeprangerten katastrophalen Folgen der Eroberung für die Urbevölkerung, die durch Ausbeutung, v. a. aber durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert wurde, bewogen K. 1542 zu einer Indianerschutzpolitik (neue Gesetze, u. a. Verbot der Verskla-
vung von Indios). Darüber hinaus machte K. Ansprüche auf die Gewürzinseln (→Gewürze) im Malaiischen Archipel (→Molukken) geltend. 1519 wurde eine Flotte unter Fernão de Magalhaes (Ferdinand Magellan) zur Erkundung einer westlichen Route zu den Gewürzinseln entsandt. Während vier der fünf Schiffe verlorengingen, kehrte die Victoria 1522 mit einer reichen Gewürzladung nach Spanien zurück. Dieser ersten Weltumseglung folgten weitere span. Molukkenfahrten, die erfolglos blieben. Der diplomatische Streit um die Inseln wurde 1529 im Vertrag von Saragossa beigelegt: Spanien trat seine Ansprüche für 350 000 Dukaten an Portugal ab. Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. München 1999. Ders. u. a. (Hg.), Karl V. 1500–1558, Wien 2002. Ernst Schulin, Ks. Karl V., Stuttgart 1999. MA RK H Ä BER LEIN Karolinen. Die K. sind mit über 1 000 km² Landfläche die größte pazifische Inselgruppe in →Mikronesien. Ihr gehören 963 – überwiegend unbewohnte – Koralleninseln an, die sich zwischen den →Philippinen im Westen und den →Marshallinseln im Osten verteilen. Man unterscheidet die West-K. mit den →Palau-Inseln und die Ost-K. mit den Chuuk- (ehem. Truk-) und den J(Y)apInseln. Die Bewohner der K. sind Mikronesier mit melanesischen, polynesischen und indonesischen Einflüssen. Einige Zeugnisse vorkolonialer Kulturen sind Ruinen auf Ponape (→Nan Madol) oder Steingeld auf Palau. In der westlichen Geschichtsschreibung werden die damals als „Nuevas Filipinas“ bekannten Inseln erstmalig während der port. Entdeckungsfahrten erwähnt. 1686 nahm Spanien Jap/Yap offiziell in kolonialen Besitz und benannte sie nach Kg. Karl II. „Carolina“. Später galt diese Bezeichnung für die gesamte Inselgruppe. Anfang des 19. Jh.s, mit wachsendem Aufkommen der Schiffshandelswege im Pazifik und der Intensivierung der wirtschaftlichen Kontakte, wuchs der europäische Einfluß. Gleichzeitig wuchs das Interesse der Wissenschaft an den K., so daß die Inseln Ziel einiger →Expeditionen wurden. Ab Mitte des 19. Jh.s wurde die christl. Mission, insb. die am.-protestantische „Boston Mission“ und span. rk. Priester, aktiv. Heute ist ein Großteil der Inselbewohner Christen. Die dt. Handelsaktivitäten begannen 1866 durch ein Handelskontor des Hamburger Handelshauses →Godeffroy mit Kopra als Hauptexportartikel. In den 1880er Jahren wurden ca. 80 % des fremden Handels auf den K. von dt. Kaufleuten kontrolliert. Zum Schutz ihrer Handelsinteressen drängten sie →Bismarck, diesen Teil Mikronesiens zu annektieren. Ein diesbezüglicher Versuch von 1885 scheiterte und endete nach einer diplomatischen Krise mit Spanien in der Anerkennung der span. Rechte mit Sonderrechten für den dt. Handel. In Folge des →Span.-Am. Krieges wurden die Inseln 1899 jedoch – zusammen mit den →Marianen – als →Schutzgebiete an Deutschland verkauft. Während des Ersten Weltkrieges besetzte Japan die Inseln und bekam diese gemäß dem →Versailler Vertrag als Mandatsgebiet des →Völkerbundes zugesprochen. Im →Zweiten Weltkrieg waren die Pazifikinseln zwischen →USA und Japan hart und verlustreich umkämpft. 1947 übergab die UNO die Inseln als „Treuhandterritorium der Pazifischen Inseln“ (→Treuhandschaft) zur Verwaltung an die USA. Nach 413
k A rt i n i , r A de n A d j en g
Kartini, Raden Adjeng, * 21. April 1879 Japara, † 17. September 1904 Bulu bei Rembang, □ unbek., musl. K. wurde als Tochter einer Nebenfrau des Regenten von Japara geboren. Bis sie zwölf Jahre als war, ließ ihr Vater, ein für damalige Verhältnisse fortschrittlicher Mann, sie und ihre Schwestern eine ndl. Schule für Europäer in Semarang besuchen, wo sie fließend Niederländisch lernte. Nach ihrem 12. Lebensjahr durfte sie als Mädchen das Haus nicht mehr verlassen. Daß ihr Vater sie trotzdem zu einigen formalen Anlässen mitnahm, verursachte damals bereits einen kleinen Skandal. 1903 gründete sie mit ihren Schwestern eine der ersten Schulen für Mädchen, die einzige Möglichkeit für sie, eine Schulbildung zu erhalten. In Briefen an ihre ndl. Brieffreundin Stella Zeehandelaar, die sie durch eine Anzeige in einer feministischen ndl. Zeitung kennenlernte, beschrieb sie ihr Leben und die sie einengenden Etikette und formulierte ihren Protest gegen die Unfreiheit ihres Frauenschicksals. Immer wieder beklagte sie sich über die Sitte, schon junge Mädchen gegen ihren Willen zu verheiraten und protestierte energisch gegen die Vielehe. Dennoch entschloß sie sich, dem Wunsch ihres Vaters nachzugeben und den Heiratsantrag des Regenten von Rembang anzunehmen. Statt das von der ndl. Reg. gewährte, lang ersehnte Stipendium in →Batavia zu akzeptieren, heiratete sie am 8.11.1903 Raden Adipati Djajo Adingrat, einen nicht mehr jungen Witwer mit Kindern. Daß sie nur die zweite Hauptfrau ihres Mannes wurde, der neben ihr noch drei Nebenfrauen hatte, erfuhr sie wahrscheinlich erst nach der Hochzeit. Auch an ihrem neuen Wohnort in Rembang eröffnete sie eine Mädchenschule, konnte ihre Arbeit aber nicht lange fortsetzen. Nur ein Jahr nach ihrer Hochzeit starb sie mit 25 Jahren, vier Tage nach der Geburt ihres Sohnes. K. ist nicht die erste indonesische Vorkämpferin und auch nicht die radikalste. Daß gerade sie von der indonesischen Reg. zur Frauenvorkämpferin stilisiert wurde, mag auch daran liegen, daß sie nie wirklich mit den traditionellen Rollenbildern gebrochen hat. Doch auch ihr schriftstellerisches Talent begründete ihren Ruhm. 1911 wurden ihre Briefe in dem Buch „Door Duisternis tot licht“ erstmals verlegt und machten sie über die Grenzen →Indonesiens hinaus bekannt. Noch heute wird in Indonesien ihr Geburtstag als Nationalfeiertag begangen. Q: Raden Adjeng Kartini, Letters of a Javanese Princess, Jakarta 1976. L: J. Berninghausen / B. Kerstan, Die Töchter Kartinis, Berlin 1984. Dies. u. a., Schleier, Sarong, Minirock, Bremen 2009.
Kartoffel. Die K. (Solanum tuberosum) stammt aus dem peruanisch-bolivianischen Andenraum, wo sie angeblich schon vor 10 000 Jahren kultiviert wurde. Die Indigenas stellten daraus auch eine gefriergetrocknete Konserve her (Chuño). Es gibt daneben hunderte von wilden Arten (Biodiversität!) und inzwischen tausende von gezüchteten Varietäten. Denn sie ist mit Mais, Maniok und der Süßkartoffel einer der vier wichtigsten Beiträge AltAmerikas zur Welternährung, die historische Bevölkerungsexplosionen ermöglicht haben, und nach Weizen, →Reis und Mais die viertwichtigste Nutzpflanze, außerdem die gesündeste. Im 16. Jh. wurde sie nach Spanien und England gebracht. Die Beteiligung Francis →Drakes ist allerdings legendär. Weil Knollenfrüchte in Europa unbekannt waren, wurde sie aber nur langsam angenommen. Neben dem beschreibenden Namen „Erdapfel / pomme de terre“ stehen daher Bezeichnungen auf Grund von Mißverständnissen: „K.“, weil man sie für Trüffel hielt; Potato, weil man sie mit der Süßk. (batata) verwechselte. Lange glaubte man, K.n verursachten nicht nur Blähungen, sondern auch →Lepra. Mancherorts wurde sie abgelehnt, weil sie nicht in der Bibel vorkam. Das hatte aber den Vorteil, daß darauf kein Kirchenzehnten fällig wurde. Außerdem war der Hektarertrag höher als derjenige von Getreide, sie waren weniger wetteranfällig und marodierenden Soldaten weniger ausgesetzt – Getreide ließ sich abbrennen, K.n mußte man ausgraben. Infolgedessen wurde sie zunächst in naturräumlich benachteiligten Gebieten angenommen, dann aber auch anderswo als Reaktion auf Getreidemißernten und Hungersnöte, oft mit planmäßiger Propaganda (z. B. Matthias Claudius‘ Lob der K. 1783) und Druck der Obrigkeit (z. B. Friedrich II. von Preußen). Im 17. Jh. verbreitete sie sich in Piemont / Savoyen, in den Niederlanden und in Irland. Die Abhängigkeit der Iren von K.n führte bei einer K.krankheit 1845–48 bei Untätigkeit der Regierung zur Hungersnot mit einer Million Toten und Massenauswanderung nach →Amerika. In Mitteleuropa waren die Getreidekrisen des 18. und frühen 19. Jh.s Schrittmacher, in Rußland verzögerte sich breite Akzeptanz bis ins 19. Jh. In Frankreich brauchte es die Kampagne Antoine Parmentiers mit Beteiligung Marie Antoinettes und Ludwigs XVI. Briten brachten sie wieder nach Amerika, wo sie im Norden im 18. Jh. rasch heimisch wurde. Im 19./20. Jh. verbreitete sie sich dann im Gefolge der Kolonialmächte über die ganze Erde. Drei neue Formen des Massenkonsums entstanden in der Mitte des 19. Jh.s, die bis heute kulturell maßgebend sind: in Frankreich wurden die pommes frites erfunden, in England fish and chips und in den USA die dünnen potato chips. Dazu kommt der indirekte Beitrag zur menschlichen Ernährung als Viehfutter. L: Ellen Messer, Potatoes (White), in: Kenneth F. Kiple / Kriemhild Coneè Ornelas (Hg.), The Cambridge World History of Food, 2 Bde., Cambridge 2000, Bde. 1, 187–201, Bd. 2, 1878–1880. Redcliffe N. Salaman, The History and Social Influence of the Potato, Cambridge 1949, 21985. Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung, Paderborn 2007.
JUT TA BE RNI NGHAUS E N
WO LFG A N G R EIN H A RD
einer starken Unabhängigkeitsbewegung gelang es den Ost-K., sich 1979 als →„Föderierte Staaten von Mikronesien“ unabhängig zu machen. Die West-K. konstituierten sich 1981 als „Rep. Palau“ (Belau). Helmut Christmann u. a., Die Karolinen-Inseln in dt. Zeit, Münster 1991. Francis X. Hezel, Strangers in Their Own Land, Honolulu 1995. Michael Köhler, Akkulturation in der Südsee, Frankfurt/M. 1982. VE RE NA S CHRADE R
414
k A s Ach s tAn
Kartographie. Etymologie: Kunstwort mit lateinischgriechischen Wurzeln, taucht seit der Mitte des 19. Jhs. z. B. in der geographischen Zeitschrift Petermanns Mitteilungen vereinzelt auf, um sich bis Ende des Jh.s als Oberbegriff für die Kunde von Land- und Seekarten, aber auch Himmelskarten, ihre Herstellung und Methodik, zu etablieren. Das selbständige kartographische Wirken in überseeischen Kulturen unterscheidet sich grundsätzlich von der europäischen kartographischen Tradition. Seit dem Spätmittelalter sind Einflüsse, die von Europa ausstrahlen, nicht mehr auszuschließen, zunächst indirekt, ausgehend von arabisch-indischen Kontaktzonen, seit den großen Entdeckungen und Eroberungen direkt durch europäische Kartographen und die Verbreitung von deren Karten. Hier wie dort ist K. die entscheidende Klammer, die verschiedenartige geowissenschaftliche Informationen verbindet und ihren Bezug zur Erdoberfläche aufdeckt. Seit dem Hellenismus (Eratosthenes, Hipparch, →Ptolemaios) hat sich K. als selbständige Wissenschaft mit eigenen Methoden und eigenen wissenschaftlichen Instrumenten entwickelt. Grundlage ist ein verkleinertes Abbild der Erde, das in der europäischen K. bestimmten Regeln folgt. Die in der Antike aufgestellten Regeln betreffen: die strikte Draufsicht (Vogelflugperspektive), die keine Vermengung mit Panoramaansichten erlaubt, ein einheitlicher Maßstab für jede Karte, mathematische Projektion, astronomisch bestimmte Koordinaten, einheitliche Signaturen für topographische Gegebenheiten (Orte, Berge, Flüsse etc.) sowie deren Beschriftung. In der Neuzeit wurde die astronomische Methode der Koordinatenbestimmung verbunden mit geometrischen Methoden (Triangulation) der terrestrischen Landvermessung (Rainer Gemma, Peter und Philipp Apian). Ziel der griechischen Erfinder dieser K. auf kosmologischer Grundlage waren Karten, die unabhängig von Personen und Situationen nutzbar sein sollten. Dies ist bis heute ein wesentliches Ziel der europäischen K. Auf der Grundlage solcher Karten entstand die thematische K., die z. B. historische Sachverhalte visualisiert. Seit dem 19. Jh. ist sie verbreitet. Neben dieser K. im eigentlichen Sinn hat es seit der Antike in Europa auch Skizzen, freihändige Zeichnungen, Schemata, Diagramme und sogar Gemälde mit geowissenschaftlichen Inhalten gegeben. In der Systematik von Bibliotheken und Archiven werden diese erdbezogenen Zeichnungen der K. zugeordnet. Hierher gehören die von vereidigten Malern erstellten Augenschein-Karten, die die geographische Situation eines Streitfalls aufnehmen, um dem Gericht eine Reise zur Ortsbesichtigung zu ersparen. In diesem Genre der nicht-kosmographischen, erdbezogenen Darstellungen berühren sich die verschiedenen überseeischen und die europäischen Überlieferungen, die jeweils von Stil, Ästhetik und anderen kulturellen Merkmalen der Hersteller geprägt sind. In diesen Bereich fallen auch die, literarischen Werken beigefügten arabischen Zeichnungen und die Diagramme und Schemata, die zum Auffinden der Gebetsrichtung der Muslime dienen. An der Kosmographie von Klaudius Ptolemaeus, dem Ausgangspunkt der europäischen K., waren die Araber nicht oder jedenfalls nicht in demselben Maß interessiert, wie an der Astronomie von Ptolemaeus und an der Mathematik von Euklid.
Die überseeischen Kulturen haben keine auf Kosmographie basierende K. entwickelt. Das vielleicht erstaunlichste mnemotechnische Informationssystem wurde in Polynesien für jeweils genau definierte Bereiche und Situationen aus einem flachen (d. h. zweidimensionalen) Gerüst von Bambusstangen hergestellt. Dies erlaubte zu einem gegebenen Zeitpunkt die Kenntnis von Aufund Untergängen prägnanter Sterne, das Eintreffen und Verhalten des Schwells sowie Segelanweisungen zum Erreichen bestimmter Ziele. Ein solches System sollte praktische Informationen über veränderliche Faktoren der Seefahrt anbieten. Eine statische Positionierung stand nicht im Vordergrund der Bambusgerüsthersteller. Hier ist ein Aspekt angesprochen, der die Grenzen der europäischen K. markiert. Die veränderlichen geographischen Faktoren, die insbesondere für die Navigation von Bedeutung sind, kann man in der europäischen K. nur schwer unterbringen. Aktuelle Seekarten in Küstenbereichen werden daher von schriftlichen Segelanweisungen begleitet, mutatis mutandis gilt das bei Landreisen (z. B. für Gefahren durch Vulkanismus) und für die meteorologischen Tücken der Flugnavigation. Chinesen haben vor der Ankunft der Jesuiten Karten des gesamten Riesenreichs geschaffen, die jedoch nicht auf kosmographischen Grundlagen basierten. Ein darauf vorhandenes Gitternetz ist nicht durch Koordinaten entstanden, sondern markiert Entfernungen in dem Längenmaß Li. Dies konnte der erste europäische Kartograph Chinas, Martino Martini, S. J., nicht als Vorlage benutzen. Die intensive geographische Erkundung des Landes, die u. a. der Wasserwirtschaft und der (allgegenwärtigen) Astrologie diente, ging in China z. T. mit Landesvermessung einher, um über Dimensionen zu informieren. Vermessungen haben auch die Maya vorgenommen, die kosmographische Einordnung fehlt dort ebenfalls. Im 18. und 19. Jh. wurden in vielen überseeischen Gebieten große kartographische Anstrengungen unternommen, häufig ausgehend von der Kolonialverwaltung. Diese kamen in der Regel nicht ohne Unterstützung von Einheimischen (Informationen, Führer) aus, bedienten sich dieser auch personell in unterschiedlichem Umfang. Die verwendeten Methoden standen in der europäischen, kosmographischen Tradition. O.A.W. Dilke, The Culmination of Greek Cartography in Ptolemy, in: David Woodward u. a. (Hg.), The History of Cartography, Bd. 1, Chicago / London 1987. David Woodward u. a. (Hg.), The History of Cartography, Vol. 2 in 3 Teilen: Cartography in the Traditional Islamic and South Asian Societies sowie East and Southeast Asian Societies, Chicago / London 1992/1994. U TA LIN D G REN
Kasachstan (kasachisch: Qasaqstan) ist eine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entstandene zentralasiatische Rep. Das Land besteht größtenteils aus Steppe und Wüste. Charakteristisch ist das ausgeprägte eurasische Kontinentalklima (→Klima) mit Temperaturen von bis zu –40° C im Winter und bis zu +40° C im Sommer. Die Bevölkerung ist multiethnisch zusammengesetzt, wobei heutzutage die Kasachen mit 54 % überwiegen. Daneben leben noch →Tataren, Usbeken, Uigu415
k A s A c hs tA n
ren, Kirgisen sowie Russen und Deutsche in der Rep. Letztere sind jedoch seit 1991 größtenteils ausgewandert. Nach der russ. bzw. sowjetischen Kolonialherrschaft des 19. und 20. Jh.s ist heutzutage eine Re-Turkisierung, d. h. eine Bevorzugung des Kasachischen gegenüber dem Russischen, auszumachen. 47 % der Bevölkerung bekennen sich zum sunnitischen →Islam. Der Islam kam zwar mit dem Vordringen der →Araber schon im 8. Jh. nach K., konnte sich unter den weitgehend schamanistischen kasachischen Nomaden jedoch erst im Laufe des 18. und 19. Jh.s durchsetzen. Die Ethnogenese der Kasachen liegt im Dunklen, über die Entstehung des Khanats berichteten erst russ. Gesandte, die die kasachischen Steppen im 18. Jh. bereisten. Bekannt ist, daß die kasachischen Nomaden im 13. Jh. von →Činggis Khan unterworfen wurden, im 14. Jh. folgten die →Eroberungen Timur Lenks. Der Gebrauch des Ethnonyms „Kasache“ kam erst gegen Mitte des 16. Jh.s auf und läßt sich vom türk. Wort „qaz“ (wandern) ableiten. Die Unterwerfung durch Činggis Khan bewirkte eine Einigung der kasachischen Stämme, die die mongolische Gesetzgebung (yasa) übernahmen. Um 1395 geriet das Territorium des heutigen K.s unter die Kontrolle des usbekischen Khanats. Nach einer Reihe von Aufständen gegen die usbekische Obrigkeit gelang es den Kasachen um 1500 ein eigenes Khanat zu gründen. Die kasachische Wirtschaft beruhte auf Viehzucht, bei den Wanderungen zwischen Sommer- und Winterweiden legten die Nomaden oft bis zu 300 km zurück. Russ. Reisende des 18. Jh.s beobachteten die starke Verbreitung schamanistischer Glaubensvorstellungen und -praktiken, die eine Symbiose mit dem Islam eingingen, so daß man von einem „Steppenislam“ sprechen kann, der sich von dem in den Städten südlich der kasachischen Steppe praktizierten dogmatischen Islam unterschied. Es entsprach der flexiblen Steppengesellschaft, daß die Grenzen des kasachischen Khanats nicht genau festgelegt waren, was später die russ. Eroberung erleichtern sollte. Um 1523 erstreckte sich das kasachische Khanat vom Fluß →Ural bis zum Irtysch. Mitte des 16. Jh.s zeigten sich jedoch erste Auflösungserscheinungen, als sich einige kasachische Sultane dem Emir vom Buchara, Abdul II., unterstellten. Im 17. Jh. folgten militärische Auseinandersetzungen mit den aus Osten vordringenden Kalmücken. Um 1716 nahmen die Russen diese Situation zum Anlaß, im südlichen →Sibirien die sog. Orenburger Befestigungslinie anzulegen. Im Prinzip war damit der Grundstein für die spätere Annexion der zentralasiatischen Steppengebiete angelegt. Die kalmückisch-kasachischen Auseinandersetzungen im Laufe des 18. Jh.s führten zur Massenflucht kasachischer Nomaden in das Emirat von Buchara. In diesen Wirren ging schließlich das kasachische Khanat unter. Die folgende russ. Eroberung erfolgte in zwei Phasen: die untereinander zerstrittenen Khane wurden in ein zunächst flexibles Tributsystem eingebunden, das den Nomaden noch Autonomie eingestand. Die Kasachen nahmen die Funktion von Zwischenhändlern im russ. Orienthandel ein, bildeten ein „trading link“ zwischen dem europäischen Rußland, den zentralasiatischen Handelszentren wie Buchara, Persien, →Indien und China. Für diese Phase ist ein schrittweises ökono416
misches Vordringen Rußlands kennzeichnend, das der merkantilistischen Politik Peters des Großen und →Katharina der Großen entsprach. Zwar beteiligten sich kasachische Nomaden 1773/74 an der Revolte →Pugatschows, doch handelte es sich hier nicht um einen antikolonialen Widerstand. Die Autonomie der Kasachen zeigte sich auch darin, daß Khan Ablai gute Beziehungen zu China unterhielt. Die zweite Phase des russ. Vordringens setzt Mitte des 19. Jh.s nach dem →Krimkrieg ein. Mehrere Faktoren führten zu einer rigiden, militärisch motivierten russ. Kolonialpolitik gegenüber den Kasachen: 1.) die weiterhin bestehenden innerkasachischen Stammesrivalitäten, 2.) das Aufkommen des Nationalismus und Imperialismus im Zarenreich nach der Niederlage im Krimkrieg, für die man Kompensation in Zentralasien suchte, 3.) der Bau von Eisenbahnen im Gouvernement Orenburg, um den Asienhandel zu intensivieren, 4.) die geopolitische Rivalität mit Großbritannien in Innerasien („Great Game“). Nach der Eroberung →Turkestans wurde die kasachische Steppe zu einem integralen Bestandteil des Zarenreiches erklärt und folglich die russ. Verwaltung eingeführt. Dies löste eine Reihe von Aufständen aus, so v. a. 1869/70. Die Lage spitzte sich zu, als nach der Bauernbefreiung im europäischen Rußland fast 3 Mio. russ. und ukrainische Siedler sich in der kasachischen Steppe niederließen. Erklärtes Ziel der russ. Reg. war es, die kasachischen Nomaden in die russ. Gesellschaft zu integrieren, d. h. sie seßhaft zu machen. Die Nomaden wurden von ihren Weidegründen verdrängt, die Grundlage der pastoralen Wirtschaft damit zerstört. 1916 waren bereits 80 % der kasachischen Nomaden seßhaft geworden und betrieben Landwirtschaft. Ende des 19. Jh.s entstand auch eine kasachische Intelligenzia. Parteien wurden gegründet, die ab 1905 auch in der Duma vertreten waren. Gleichzeitig war eine Renaissance des Islam zu beobachten. Musl. Schulen entstanden und kasachische Intellektuelle zeigten sich empfänglich für den Pan-Turkismus. Die „Ittifak al Muslimin“ (Musl. Union), die die Rückgabe enteigneten Landes und freie Praktizierung des Islam forderte, wurde ins Leben gerufen. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die von der russ. Reg. initiierte westliche Säkularisierung (→Säkularismus), die v. a. das Bildungssystem betraf. Obwohl dies den Aufstieg einer kasachischen Elite begünstigte, besann sich diese zunehmend auf orientalisch-islamische Traditionen. Diese indigene Revitalisierungsbewegung führte zum großen Kasachenaufstand von 1916. Der Aufstand wurde von der russ. Kolonialmacht niedergeschlagen, 300 000 Kasachen und Kirgisen wurden umgesiedelt. Die Wirren der Oktoberrevolution und des folgenden Bürgerkrieges nutzten die Kasachen, eine autonome Reg., die sog. Alasch Orda, zu gründen, die jedoch nur drei Jahre Bestand hatte. Sie wurde nach dem Ende des Bürgerkrieges von den Bolschewiki im Jan. 1920 aufgelöst. Zwar wurde 1924 die Kasachische Autonome Sozialistische Rep. ins Leben gerufen, doch in Lenins Modernisierungsprogramm hatten politischer Zentralismus, →Industrialisierung und der Aufbau einer modernen Landwirtschaft Vorrang vor den Selbstbestimmungsrechten der indigenen Bevölkerung. Die Organisation der Kommunistischen Partei K.s wurde von Russen domi-
k A s ten s y s tem
niert, lediglich ⅓ der Parteimitglieder waren Kasachen. Faktoren für die Unterrepräsentanz waren das weit verbreitete Analphabetentum und die nomadische Clanstruktur, die v. a. auf dem Land ausgeprägt war. Um diese aus sowjetisch-marxistischer Sicht bestehende „orientalische“ Rückständigkeit zu beseitigen, wurden Alphabetisierungskampagnen durchgeführt, die von politischer Indoktrination begleitet waren. In Folge der von Stalin lancierten Zwangskollektivierung wurde K. eine der wichtigsten Getreide produzierenden Gebiete in der Sowjetunion. Ein weiteres Ziel der Zwangskollektivierung war die endgültige Seßhaftwerdung der Nomaden, von denen Anfang der 1930er Jahre noch 500 000 in den Steppen umherzogen. Die Kasachen weigerten sich, den Kolchosen beizutreten und schlachteten ihr Vieh. Gleichzeitig setzten in den Jahren des „Großen Terrors“ Repressionen gegen die islamische Geistlichkeit ein. Im →Zweiten Weltkrieg wurden 450 000 Kasachen zur sowjetischen Westfront einberufen. Gleichzeitig fand ein Bevölkerungstransfer statt, Menschen und Industrieanlagen aus dem europäischen Rußland wurden nach K. evakuiert. Dies schuf die Grundlage für den Aufbau einer Schwer- und Rüstungsindustrie. Die forcierte Integration K.s in die sowjetische Planwirtschaft setzte sich ebenso wie die Russifizierung unter Stalins Nachfolgern fort. Dies änderte sich erst mit dem Machtantritts D. A. Kunajew als Parteisekretär. Zwar förderte Kunajew in seinem Parteiapparat auch Russen, begünstigte jedoch zunehmend kasachische Mitglieder. So machte 1981 der Anteil kasachischer Mitglieder im Zentralkomitee der Kasachischen Kommunistischen Partei 51,9 % aus. In ähnlicher Weise fand auch ein Wandel in der staatlichen Verwaltung statt. Während 1964 nur 33 % der Mitglieder des Ministerrates der Rep. Kasachen waren, lag ihr Anteil 1981 bereits bei 60 %. Über Kunajews Patronagesystem fand eine schleichende Returkisierung des Partei- und Staatsapparates K.s statt. Die Absetzung des eigenmächtig handelnden Parteisekretärs Kunajew durch Gorbatschow im Dez. 1986 löste in der Hauptstadt Alma-Aty einen anti-russ. Aufstand der kasachischen Jugend aus, die Gorbatschows Politik als Bevormundung verurteilte. Dies war zugleich der Auftakt für die Entstehung einer kasachischen Bürgerrechtsbewegung unter Führung des kasachischen Schriftstellers Olzhas Suleimanow. Eine Eskalation konnte durch die Wahl Nursultan Nasarbajew zum kasachischen Parteisekretär 1988 verhindert werden. Nasarbajew verstand es, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Sein geschicktes Taktieren führte dazu, daß er am 24.4.1990 zum Präs. der Kasachischen Sowjet-Rep. gewählt wurde. Nach der Auflösung der Sowjetunion im Dez. 1991 übte er weiterhin sein Amt aus. Durch Erweiterung seiner Machtbefugnisse gegenüber dem kasachischen Parlament konnte er seine Präsidentschaft immer wieder (zuletzt 2011) verlängern. Außenpolitisch setzt Nasarbajew sich für gute Beziehungen mit Rußland und dem Westen (v. a. →USA) ein, innenpolitisch stehen seine außerordentlichen Machtbefugnisse (st. 15.6.2010 offiziell „Führer der Nation“, kasach. Ult Lideri) einer Demokratisierung im Wege. Dave Bhavne, Post-Soviet Kazakhstan: Ethnicity, Language and Power, New York 2007. Isabelle Ohayon, La
sedentarisation des Kazakhs dans l’URSS de Staline, Paris 2006. Martha Brill Olcott, The Kazakhs, Stanford 1995. EVA -MA R IA STO LB ER G Kaschmir. Die Bezeichnung K. bezieht sich allg. auf den nördlichen, ind. Bundesstaat Jammu und K. (bestehend aus Jammu, dem K.-Tal und Ladakh), die als Federally Administered Northern Areas (FANA) bezeichneten Gebiete unter pakistanischer Verwaltung (→Pakistian), dem Asad K. und dem von China und →Indien beanspruchten Aksai Chin. Die Geschichte der Provinz, die sich bis in die Zeit des Maurya-Herrschers Ashoka zurückverfolgen läßt, wurde in Kalhanas Rajatarangini (→Chroniken und Geschichtsschreibung) im 12. Jh. aufgezeichnet. Die Entwicklung der Sprache Kashmiri kann durch mystischreligiöse Gedichte Lal Deds (oder Lalleshvari) bis ins 14. Jh. nachgewiesen werden. K., das bis zum Ende des ersten Jahrstausends n. Chr. ein bedeutendes Zentrum des →Buddhismus und Saivismus (→Hinduismus) war, fiel 1349 durch Shah Mirza unter musl. Herrschaft. Besonders Sultan Ghiyas-ud-Din Zain-ul-Abidin (R. 1423–74) war für seine religiöse Toleranz bekannt, wie auch der Mogulherrscher →Akbar, der K. 1588 in Besitz nahm. Die →Moguln beherrschten die Provinz, bis sie 1751 an die afghanische Durrani-Dynastie fiel. Später wurde sie von Ranjit Singh in sein Kgr. einverleibt (1820, →Sikhismus) und nach dessen Niederlage gegen die Briten dem Dogra-Fürsten Gulab Singh verkauft (1846). Gulab Singh war der Großneffe Ranjit Deos, des Rajas von Jammu, einer Provinz, die bis 1846 von den Sikhs abhängig blieb. Durch seine Schlüsselposition war K. immer ein wichtiger Knotenpunkt für Handel und Gewerbe zwischen Zentralasien und dem ind. Subkontinent. Das Fürstentum von Jammu und K. umfaßte eine Vielzahl an ethnischen und religiösen Gruppen; so waren die Bewohner Ladakhs Buddhisten und kulturell eher Tibet zuzuordnen, die Bevölkerung Jammus bestand aus Hindus, Muslimen und Sikhs, im zentralen K.-Tal dominierten musl. Sunniten, neben einer Minderheit brahmanischer Hindus, und im dünn besiedelten Baltistan lebten schiitische Muslime. Unter brit. Anleitung regierten die DograFürsten die Provinz bis 1947, bis der damalige Herrscher Hari Singh eine Beitrittserklärung zur Ind. Union unterzeichnete (→Teilung Brit.-Indiens). Pakistan akzeptierte die Entscheidungskompetenz Hari Singhs, dessen Herrschaft zu diesem Zeitpunkt durch einen →Volksaufstand bereits massiv bedroht war, in dieser Frage nicht; seitdem erheben Indien und Pakistan Ansprüche auf die Region, was zu wiederholten Militäreinsätzen und Kriegen zwischen beiden Parteien und z. T. unberechenbaren Gewaltausbrüchen geführt hat. Muhammad S. Khan, The History of Medieval Kashmir, Srinagar 2006. Mridu Rai, Hindu Rulers, Muslim Subjects, London 2004. Dietmar Rothermund, Krisenherd Kaschmir, München 2002. SO U MEN MU K H ERJEE Kastensystem. Kaste, „casta“ (von lat. castus), ist ein von port. Indienreisenden verwendeter Begriff zur Bezeichnung von einheimischen Bevölkerungsgruppen; eigentlich eine Ordnungskategorie der Botanik, der Viehzucht und des Adels. Im südasiatischen Kontext bürgerte 417
k At hAr i n A d i e g r o s s e
sich K. als (Fremd-)Beschreibung der sozial, religiös und ethnisch vielfältigen Bevölkerung ein. Indigene Begriffe für derartige Bevölkerungsgruppen wären varna und jati, die beide jedoch kein adäquates Äquivalent zu K. darstellen. Mit dem Begriff varna (Kategorie, Stand, Farbe nur im rituell-symbolischen Kontext) wird eine idealtypische Sozialordnung umschrieben, in der die 4 varnas die wichtigen Funktionen eines gesellschaftlichen Systems erfüllen. Brahmanen (Gelehrte und Priester), Kshatriyas (Kg.e und Krieger), Vaishyas (Händler, landbesitzende Bauern) und Shudras (Handwerker, Diener, Tagelöhner). Außerhalb dieser Ordnung gibt es die Gruppen der Kastenlosen oder „Unberührbaren“ (heute: Dalits, →DalitBewegungen). Obwohl das varna-System vermutlich nie ein gesamtind. Phänomen oder Abbild sozialer Realität gewesen ist, kann von einem gewissen Einfluß der in den brahmanischen Texten für die varnas formulierten Normen auf das Selbstverständnis und Verhalten einiger sozialer Gruppen ausgegangen werden. Das Konzept der jati (von Sanskrit jan: gebären, hervorbringen) verweist auf die Herkunft eines Menschen. Mit dem Begriff wird der Platz des Einzelnen in einem konkreten regionalen sozialen System markiert, den er in der Regel durch Geburt einnimmt. Dieses kann ein weit gefächertes hierarchisches Verwandtschaftsgebilde oder ein nach Berufen gegliedertes System sein. Mit ihm verbinden sich oft strikte Vorschriften hinsichtlich Heirat und Speisegemeinschaft, mit denen die Exklusivität und Reinheit der Gruppe sowie der Zugang zu Ressourcen des Lebensunterhaltes gesichert werden sollen. Regional variieren diese Systeme erheblich hinsichtlich der hierarchischen Rangfolge einzelner Gruppen und Berufe, Striktheit der Normen und sozialer Mobilität. Stabilisiert werden sie teilweise durch das religiöse Konzept von Reinheit und Unreinheit, mit der die Distanz rituell ausgedrückt wird. Die Jatis lassen sich somit als ein soziales Gliederungssystem beschreiben, in dem Gemeinschaften nach ökonomischen, politischen und rituellen Gesichtspunkten hierarchisiert werden, wobei die verschiedenen Ebenen nicht zusammengehen müssen. So verstehen sich z. B. die Brahmanen als an der Spitze der rituellen Hierarchie stehend, ohne daß sie deswegen zu den Wohlhabenden oder politisch Mächtigen gehören müssen, während ein rituell niedriger Status nicht notwendig auch wirtschaftliche Armut bedeuten muß. Aus dieser Diskrepanz erklärt sich u. a. eine, wenn auch eingeschränkte soziale Dynamik des Systems. Es kann davon ausgegangen werden, daß erst etwa ab dem 18. Jh. die verschiedenen regionalen Systeme sich zu dem entwickelten, was heute als K. bekannt ist. Hierfür sind v. a. 2 historische Prozesse maßgeblich. Zum einen das Bestreben von zahlreichen regionalen oder lokalen Herrschern (little kings), ihren neu erworbenen Herrschaftsbereich durch eine Kshatriya-Genealogie zu legitimieren und sich dafür der schriftkundigen Brahmanen zu bedienen, was u. a. zur Verbreitung brahmanischer K.-Ideologie beitrug. Aber auch andere Gruppen, denen die politisch ungeregelten Verhältnisse des 18. Jh.s Chancen zu sozialen Aufstieg boten (z. B. Händler, Verwaltungs- und Steuerfachleute), nutzten das Potential zur Festigung ihrer Position und Identität. Zum anderen übernahm die brit. Kolonialadmi418
nistration den Begriff der K., anfangs noch unspezifisch, und interpretierte ihn als synonym für Rasse und Stamm. Mit der stärkeren Etablierung des Kolonialstaates und den damit verbundenen Aufgaben der Verwaltung einer für die Briten unübersichtlichen Bevölkerung wurde das K. von kolonialer Seite offiziell als allg. Ordnungssystem etabliert. Dieser Prozeß reflektierte oftmals die Sichtweise auf das Phänomen K. von indigenen, meist brahmanischen Eliten. In den ab 1871 regelmäßig durchgeführten Volkszählungen wurde von jedem Einzelnen die Zugehörigkeit erfragt und festgelegt. Die K. wurde dadurch zu einer staatlich legitimierten kollektiven und rigid-hierarchisch eingestuften Identität, mit deren Hilfe auch Ansprüche auf Teilhabe an sozialem Einfluß und Wohlstand artikuliert und durchgesetzt werden konnten. Gerade seit dem späten 19. und 20. Jh. hat sich eine Kritik an dieser Repräsentation und faktischen Machtkonstellation innerhalb der ind. Gesellschaft entwickelt, die eng mit den Namen der Aktivisten Jyotirao Phule (1827–1890) und B. R. →Ambedkar verbunden ist. Die Verfassung des unabhängigen →Indien kennt bestimmte Quotenregelungen für Stellen und Ausbildungsplätze im öffentlichen Dienst, die auf K.-Zugehörigkeit basieren, i. allg. ist K.-Diskriminierung nach der heutigen ind. Verfassung jedoch verboten und steht unter Strafe. Das heutige Verständnis von K. / K.system ist maßgeblich durch die Werke von M.N. Srinivas (Caste in Modern India, 1962) und Louis Dupont (Homo Hierarchicus, 1966) sowie deren kritischer Hinterfragung beeinflußt. Susan Bayly, Caste, Society and Politics in India, Cambridge u. a. 1999. Nicholas B. Dirks, Castes of Mind, Princeton 2001. MELITTA WA LIG O R A / RA FA EL K LÖ BER / G ITA D H A R A MPA L-FR ICK
Katharina die Große, Sophie Friederike Auguste, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, * 2. Mai 1729 Stettin, † 17. November 1796 St. Petersburg, □ Kathedrale der PeterPaul-Festung in St. Petersburg, ev.-luth., seit 1744 russ.orth. K. II., Tochter des Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst, entstammte dem Geschlecht der Askanier. 1739 lernte sie ihren zukünftigen Ehemann, Peter von Holstein-Gottorp, später Zar Peter III. von Rußland, in Eutin kennen. Im Febr. 1744 traf Prinzessin Sophie in St. Petersburg ein, wo sie sich schnell am Zarenhof assimilierte, indem sie Russisch lernte und zum russ.-orth. Glauben konvertierte. Sie nahm nun den Namen K. (russ. Ekaterina) an. Von Anfang an zeigten sich Spannungen in der Ehe. Nach der von K. initiierten Absetzung Peters (ihre Rolle bei der Ermordung ihres Gemahls ist umstritten) wurde sie am 28.6.1762 Zarin von Rußland. Die Umstände ihrer Thronbesteigung werden in der historischen Forschung als „Palastrevolution“ bezeichnet. Gegenüber den am Hof konkurrierenden Fraktionen (sog. OrlowFraktion, sog. Panin-Fraktion) gelang ihr ein geschicktes Taktieren. K. II. erwies sich als fähige Herrscherin, so umgab sie sich mit Schriftstellern, Künstlern und Freimaurern. Insb. unterhielt sie eine rege Korrespondenz mit Voltaire. Beeinflußt von westlichen Vorstellungen bemühte sie sich, Rußland zu modernisieren, d. h. zu einer
k Au f m An n s n etzwerk e, i beri s ch e
europäischen Macht zu gestalten. Innenpolitisch schlug sich dies in der „Großen Instruktion“ und der „Großen Kommission“ nieder. Hier machte sich der Einfluß von Montesquieus Werk „Vom Geist der Gesetze“ bemerkbar, das sie sehr pragmatisch auslegte, d. h. zur Festigung ihres Herrschaftsanspruches. So war in der „Großen Instruktion“ die Rede davon, daß „der Beherrscher Rußlands ein Souverän ist; denn keine andere als nur eine in dessen Person vereinte Macht kann auf eine der Weiträumigkeit eines so großen Reiches gemäßen Weise wirken.“ (Artikel 9). Das autokratische System wurde mit dem Hinweis auf die Größe des Reiches nicht angetastet. Die Übernahme westlicher, aufklärerischer Ideen diente v. a. dazu, die Verwaltung effizienter zu gestalten. Auch die →Leibeigenschaft wurde nicht angetastet, die Zarin mußte hier den sozialen und ökonomischen Verhältnissen auf dem Land Rechnung tragen, was soziale Unruhe (Aufstand →Pugatschows 1773–1775) auslöste. So blieb die leibeigene Bevölkerung von der Verwaltungs- und Ständeorganisation ausgeschlossen. Ein weiteres Kennzeichen der katharinischen Innenpolitik war der Aufbau eines →Russ. Kolonialreiches nach westeuropäischen Maßstäben. K. II. war bemüht, die Rechtsprechung des Vielvölkerreiches zu vereinheitlichen. Wichtig war auch das Toleranzedikt vom 17.6.1773, das sich neben anderen religiösen Bekenntnissen gerade auch auf den →Islam bezog. Durch die Ansiedlung ausländischer, v. a. dt. Siedler, wurden die Steppenzone (→Kasachstan) sowie „Neurußland“ (→Krim) erschlossen. Die Außenpolitik war auf Expansion sowohl in Europa (Polen) als auch in Asien angelegt. In den →Russ.-Türk. Kriegen von 1768– 1774 sowie 1787–1792 sicherte sich das Zarenreich einen Zugang zum Schwarzen Meer. K.s „Griechisches Projekt“, d. h. die →Eroberung Konstantinopels und die Neugründung eines byzantinischen Reichs mit Rußland als Schutzmacht erwies sich als illusionär und scheiterte zudem an der militärischen Mächtekonstellation in Europa. Im letzten Russ.-Türk. Krieg trat Österreich aus und es drohte ein Angriff Schwedens. Die Russ.-Türk. Kriege mündeten jedoch in die erfolgreiche Annexion der Krim. In Übersee setzte sich K. II. im Unabhängigkeitskrieg der →USA für eine „bewaffnete Neutralität“ ein, die den Schutz des Handels garantieren sollte, dabei jedoch gegen Großbritannien gerichtet war. Erich Donnert, Katharina II., die Große, Darmstadt 1998. Isabel de Madariaga, Katharina die Große, Kreuzlingen 2006. E VA- MARI A S TOL BE RG Kaufman, Konstantin Petrowitsch von, * 3. Mai 1818 Majdany / Polen, † 16. Mai 1882 Taschkent, □ unbek., russ.-orth. K. stammte aus einer Familie österr. Ursprungs, die im 18. Jh. nach Rußland ausgewandert war. Er trat 1838 in die zaristische Armee ein und beteiligte sich an den Feldzügen im →Kaukasus, so an der Belagerung von Kars 1855. Auf Grund seiner militärischen Verdienste stieg K. schnell auf. 1861 wurde er ins Kriegsministerium berufen, wo er Minister General Dmitri A. Miljutin bei der Reorganisierung der Streitkräfte unterstützte. Dies brachte ihm 1864 den Rang eines Generalleutnants und des Gouv.s von Wilna ein. Seine Politik in dem Gouver-
nement war nach dem polnischen Aufstand von 1863 repressiv ausgerichtet. Nur vier Jahre später, 1867, wurde er mit der Reg. des Generalgouvernements →Turkestan betraut – ein Amt, das er bis zu seinem Tod inne hatte. K. war ein Befürworter der russ. Expansionspolitik in Zentralasien, die zu einer Rivalität mit Großbritannien führte („Great Game“). 1868 erfolgten die →Eroberung des Emirats von Buchara und die Einnahme Samarkands. Es schlossen sich in den Jahren 1872 bis 1875 Feldzüge gegen die Khanate von Chiwa und Kokand an. Entscheidend war hier der russ. Erwerb des fruchtbaren Ferghana-Tales. K. betrieb in seinem Generalgouvernement eine Russifizierungspolitik. 1,2 Mio. Bauern und 300 000 →Kosaken aus dem europäischen Rußland wurden angesiedelt. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht war Turkestan eine typische Kolonie, die durch den Aufbau einer Monokultur (→Baumwolle) charakterisiert war. Francis Henry Bennett, The Heart of Asia, Abingdon 2004. Daniel R. Brower, Turkestan and the Fate of the Russian Empire, London 2003. Eileen Marie Crean, The Governor-Generalship of Turkestan Under K.P. von Kaufmann: 1867–1882, Ann Arbor 1970. EVA -MA R IA STO LB ER G
Kaufmannsnetzwerke, iberische. Im Fernhandel der Frühen Neuzeit besaßen Netzwerke eine grundlegende Bedeutung. Auf den transatlantischen (wie transpazifischen) Fernhandel der Spanier wie auch auf den Warenverkehr im Inneren →Amerikas traf das in ganz besonderem Ausmaß zu. In Folge der großen Distanzen, der langsamen und unsicheren Kommunikation und der, trotz eines umfangreichen gesetzlichen Regelwerks und der Gründung mehrerer Kaufmannsgilden (consulados) schwachen Institutionalisierung, waren die Händler zur Abwicklung ihre Geschäfte auf persönliche, auf Vertrauen bauende Beziehungen angewiesen. Hergestellt wurden diese Beziehungen im Rahmen der Familie, landsmannschaftlicher regionaler oder ethnisch-nationaler Gruppen. So spielten besonders während der Zeit der Verbindung der span. und port. Krone (1580–1640) port. Händler (oft jüdischer Herkunft) eine große Rolle, die danach v. a. von Basken und Kantabriern (montañeses) übernommen wurde. In den wichtigsten span. Häfen Sevilla und Cadiz wurden die Geschäfte in großem Umfang von (z. T. naturalisierten) Ausländern, besonders Franzosen, Italienern und Flamen, bestimmt, deren oft familiäre Netzwerke in ihren Herkunftsländern verankert waren. Die weit gespannten, aber lockeren landsmannschaftlichen oder ethnischen Beziehungen wurden vielfach durch Heirat oder Patenschaften (→Compadrazgo) in familiäre umgewandelt und dadurch verstärkt; durch koordiniertes Engagement in den consulados ließen sie sich mindestens vorübergehend auch institutionalisieren. Immer wieder gelang es bestimmten Gruppen, die Gilden zu kontrollieren und für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Nikolaus Böttcher, Aufstieg und Fall eines Atlantischen Wirtschaftsimperiums, Frankfurt/M. 1995. Regina Grafe, Entre el mundo ibérico y el atlántico, Bilbao 2005. Antonio Ibarra / Guillermina del Valle Pavón (Hg.), Redes 419
kAukAsus
sociales e instituciones comerciales en el imperio español, siglos XVII a XIX, Mexiko-Stadt 2007. BE RND HAUS BE RGE R
Kaukasus. Der K. ist ein ca. 1 100 km langes Gebirge zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer und gehört zum Territorium der Russ. Föderation, Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans sowie der Türkei. Die höchste Erhebung ist der Elbrus (5 642 m). Als kulturelle Trennlinie, aber auch Völkerbrücke zwischen Europa und Asien war der K. Ort ethnischer und imperialer Konflikte, die ineinander griffen. Im K. leben an die fünfzig →Ethnien, die kaukasischen, indogermanischen und altaischen Sprachengruppen angehören. Die Siedlungsgebiete der Ethnien überlappten sich, ebenso die Hegemonialansprüche ausländischer Mächte (Byzantinisches Reich, Persien, arab., osmanische, russ. Expansion). Die →Araber haben durch ihre →Eroberungen im 7. Jh. den →Islam in die Region gebracht (Aserbaidschan), während Armenier und Georgier Christen sind. Seit der Antike (→Herodot) verbindet sich der Topos „Wildheit“ mit der Natur und den Bewohnern des K. Ähnliche Bilder finden sich auch in der späteren orientalischen (persischarab.), russ. und westeuropäischen Geschichtsschreibung sowie Literatur (z. B. al-Masudi, →Ibn Battuta, Rashid al-Din, Alexander Puschkin, Alexandre Dumas). Im 19. Jh. – vor dem Hintergrund der russ. Eroberung – tritt neben das Bild der Wildheit, die Metapher der Freiheit. Der K. wurde zu einem Ort des westeuropäischen wie auch russ. Orientalismus. Vor der russ. Eroberung war der K. im 16. Jh. Schauplatz politischer und militärischer Rivalitäten des →Osmanischen Reiches und der Safaviden-dynastie Persiens. 1555 gelang jedoch mit dem Friedensvertrag von Amasya eine Aufteilung der Einflußsphären. Westlich des Surami-Berglandes übernahmen die Osmanen die Herrschaft, östlich davon die Perser. So unterstand das christl. Georgien den Safaviden. Es wurde allerdings eine „→Indirect Rule“ ausgeübt, die den Stammesführern erhebliche Autonomie einräumte, was diese dazu nutzten, Osmanen und Perser gegeneinander auszuspielen. Das wiederum brachte im 18. Jh. Rußland auf den Plan. Die russ. Expansion wurde durch den Niedergang der Safavidendynastie begünstigt und vom Zarenreich mit dem Schutz orthodoxer Christen legitimiert. Einen schwierigen Gegner für Rußland stellte dagegen das Osmanische Reich dar. 1768 brach zwischen beiden Ländern ein Krieg aus. Nach dem Vertrag von Küçük Kaynarca (1774) erhielt Rußland die →Krim und einen Zugang zum Schwarzen Meer. Im nördlichen K. errichteten die Russen eine Reihe von Forts und siedelten →Kosaken an. Südlich der Berge stärkte man die Beziehungen zum christl. Kgr. Georgien, das sich mit dem Vertrag von Georgijewsk (1783) unter russ. Protektion begab. 1787 brach der zweite →Russ.Türk. Krieg aus, der mit dem Ergebnis endete, daß Rußland das gesamte Nordufer des Schwarzen Meeres bis zum Kuban kontrollierte. In den 1790er Jahren erhob das unter der Qajarendynastie wiedererstarkte Persien Anspruch auf das östliche Georgien. 1795 wurde Tiflis von den Persern zerstört. 1801 annektierte Zar Alexander I. Georgien, drei Jahre später drang die russ. Armee nach 420
Aserbaidschan vor. Dies führte zu militärischen Auseinandersetzungen mit Persien und dem Osmanischen Reich in den Jahren 1804 bis 1813. Im Friedensvertrag von Bukarest, der 1812 mit den Osmanen geschlossen wurde, mußte Rußland seine Gebietserwerbungen abtreten, dagegen konnte es sich im russ.-persischen Vertrag von Gulistan 1813 die Herrschaft über Georgien sichern. Schwieriger als die militärische Eroberung sollte sich die Verwaltung des K. für die Russen erweisen. Der koloniale „Belagerungszustand“ zeigte sich auch daran, daß es Mitte des 19. Jh.s bis zu 35 Forts und militärische Festungen gab. Wichtige Stütze der russ. Kolonisation waren die Kosaken, die nach den beiden Flüssen Kubanund Terek-Kosaken genannt wurden. Der renommierte K.-Experte Charles King spricht von einer „→Frontier“, hier im Sinne einer „Demarkationslinie“ zwischen Christen und Muslimen. Allerding erwies sich diese „Frontier“ in ökonomischer Hinsicht als porös, denn Kosaken und Bergvölker betrieben einen gegenseitigen, sehr regen Handel. Auch gab es interethnische Heiraten. Andererseits machte sich auch ein russ. →Rassismus bemerkbar, der mit den typischen biologischen Determinismen des 19. Jh.s arbeitete. In der russ. Presse des 19. Jh.s wurde das Bild des fanatischen Muslims gezeichnet. Nicht allein die kriegerischen Auseinandersetzungen trugen dazu bei, sondern auch Praktiken der kaukasischen Bergvölker, z. B. ihre Frauen als Sklavinnen an den Osmanischen Hof zu verkaufen. Der militärische Widerstand der musl. Völker war auf zwei Faktoren zurückzuführen: 1.) die islamische Religion (insb. der →Sufismus), 2.) die hohe soziale Achtung von Rebellen und Kriegern (abreks bzw. jigits) auf der Grundlage archaischer Stammestraditionen. Die Bedeutung des Islam ist jedoch nicht allein im antikolonialen Widerstand auszumachen, sondern es ging den einzelnen Rebellenführern um die Schaffung einer eigenen Identität. Seit Ende des 18. Jh.s bis in das 19. Jh. traten eine Reihe von spirituellen und militärischen Anführern auf wie z. B. Ghazi Muhammad alDaghestani, Hamzat Bek und schließlich der legendäre Schamil auf. 1864 konnte das Zarenreich die militärische Unterwerfung jedoch durchsetzen. Es folgte jetzt die eigentliche Einbindung des K. in das Imperium durch den Aufbau einer Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen und Erschließung der Wasserwege). Koloniale Einverleibung zeigte sich auch an der russ. Literatur, in der verstärkt von „unserem“ K. die Rede war. Ebenso etablierte sich eine rege Reisepublizistik, die die Natur und die orientalische Exotik des K. pries, der nun zunehmend touristisch erschlossen wurde. Auch die Wissenschaft, v. a. die →Geographie, entdeckte den K. Zahlreiche russ. wie auch ausländische (dt., brit.) Wissenschaftler beteiligten sich an der Erforschung. Der Aufbau einer russ. Verwaltung im K. führte dazu, daß sich seit den 1890er Jahren eine Parteienlandschaft im K. entwickelte, die der im europäischen Rußland ähnelte. 1901 etablierte sich z. B. die Georgische Sozialdemokratische Partei. Georgische Marxisten wie Grigol Zereteli und Stalin sollten an der Entstehung des „russ.“ Marxismus mitwirken. Die boomenden Ölfelder Bakus, aber auch das Eisenbahnwesen u. a. Industriezweige ließen eine multiethnische Arbeiterschaft entstehen. Im Apr. 1918 entstand für eine kurze
k en i A
Zeit die unabhängige „Transkaukasische Rep.“, die sich aus zwei Gründen nicht halten konnte: 1. die politischen und ethnisch-kulturellen Unterschiede zwischen Armenien, Georgien und Aserbaidschan waren zu groß, 2. die Hegemonieansprüche der Bolschewiki, die von Norden heranrückten, und die der Osmanen von Süden, ließen keinen Raum für eine Unabhängigkeit. Im Russ. Bürgerkrieg setzten sich die Bolschewiki letztlich durch. 1921 konnten das neu gegründete Sowjetrußland und die Türkei die Grenzstreitigkeiten im südlichen K. in den Verträgen von Moskau und Kars belegen. Die dreißiger Jahren sahen den Aufstieg mächtiger Georgier innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: Stalin und Berija. Während Stalin maßgeblich die sowjetische Politik bestimmte, stieg Berija zum Ersten Sekretär der Georgischen Kommunistischen Partei auf. In anderen Regionen des K. sah die politische Lage jedoch anders aus: im musl. Aserbaidschan fielen in den Dreißiger Jahren viele Partei- und Verwaltungskader den „Säuberungen“ zum Opfer. Muslime wurden als Agenten des Panturkismus diffamiert und verfolgt. In der sowjetischen Propaganda versinnbildlichte der Islam den gegenüber der Sowjetmacht illoyalen, renitenten „Orient“. Die Ressentiments gegenüber dem Islam und den Bergvölkern blieben bis zum Ende der Sowjetunion 1991 erhalten. Das ethnisch nivellierende Konzept des einigen „Sowjetvolkes“ konnte sich letztlich weder gegen den Islam noch gegen die traditionellen Clanstrukturen durchsetzen. Jörg Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. Nicholas B. Breyfogle, Heretics and Colonizers: Forging Russia’s Empire of in the South Caucasus, New York 2005. Charles King, The Ghost of Freedom. A History of the Caucasus, Oxford 2008. E VA- MARI A S TOL BE RG Kava →Polynesier Kayser, Paul, * 9. August 1845 Oels (Oleśnica), † 13. Februar 1898 Leipzig, □ in Berlin nicht erhalten, jüd., ev.-luth. (ab 18. Dezember 1882) K. studierte 1865–1868 Jura in Breslau und Berlin; 1868 Promotion in lateinischer Sprache mit Thema Lübisches →Recht im Spätmittelalter und Askultator, EinjährigFreiwilliger, Leutnant d. R., 1872 Assessorexamen und Übernahme in den preußischen Staatsdienst. 1873 wechselte er an das reichsländische Landgericht Straßburg; dort auch Betätigung als privater Repetitor für Otto von →Bismarcks Söhne. 1875 kehrte K. nach Berlin zurück (Stadt-, dann Landrichter); 1879 Reichsjustizamt, dort 1880 Reg.srat und ständiger Hilfsarbeiter, 1884 Sommervertretung in der Reichskanzlei, anschließend ständiges Mitglied und Geheimer Reg.srat im Reichsversicherungsamt. 1885 wurde er in das AA, Abt. III (→Recht) einberufen; dort noch 1885 Wirklicher Legationsrat und Vortragender Rat, als Nachfolger des bei Bismarck in Ungnade gefallenen Heinrich v. →Kusserow. Seit 1887 Mitglied der ksl. Disziplinarkommission in Potsdam. 1886 vermittelte K. zwischen Lilienthal-Syndikat und DKGSWA. Gemeinsam mit Richard →Krauel entwarf er das Schutzgebietsgesetz und begleitete es bis zur parlamentarischen Beschlußfassung. 1888 wurde K. zum
Geheimen Legationsrat ernannt; 1888–1894 Kommissar Elsaß-Lothringens beim Bundesrat, 1889 kommissarischer Leiter der Reichskanzlei, 1890 Stellvertreter des Staatssekretärs des AA im Staatsrat. K. galt als Vertrauensmann Bismarcks im AA. Seit 1888 knüpfte er Verbindungen zu Wilhelm II., für den er auf Betreiben Holsteins und Eulenburgs im Jan. 1890 eine sozialpolitische Denkschrift verfaßte. Bismarck diffamierte K. später als einen „in eine hohe Stellung hinaufpoussierten Juden“, der „mit allen Vieren in den Neuen Kurs hineingesprungen“ sei. 29.6.1890 Bestellung zum Leiter der neugeschaffenen Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes im Range eines Dirigenten, dabei gegenüber seinen Vorgängern gestärkt, indem er direkt dem Reichskanzler unterstellt wurde. In seine Amtszeit fielen die Errichtung der →Schutztruppe, die Einrichtung des →Kolonialrats und die Vergabe umfangreicher Landkonzessionen in →Dt.Südwestafrika. Im selben Jahr stellvertretender preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat. 1894 Ernennung zum Direktor. Im Auftrag Marschalls redigierte K. Anfang Jan. 1896 die →Krüger-Depesche. 1896 erreichte er noch die Übertragung der Kommandogewalt über die Schutztruppe, scheiterte aber dann an den Folgen des Skandals um Carl →Peters. Laut Georg →Schweinfurth frei von Mitverantwortung für „koloniales Rowdythum“, geriet K. in scharfen Gegensatz zu Peters’ alldt. Anhängerschaft. Nach seinem Rücktritt war er bis zu seinem frühen Tod Senats-Präs. beim Reichsgericht in Leipzig. Wegen seiner jüdischen Abstammung war K. wiederholt antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Seine Rolle beim Sturz Bismarcks ist umstritten. Nachlässe im Bundesarchiv Koblenz 2.139 und Kleine Erwerbungen 10. Walter Frank, Der Geheime Rat Paul Kayser: Neues Material aus seinem Nachlaß, HZ 168 (1943), 563–579 (nationalsoz.-antisemit. Sicht). JA N H EN N IN G B Ö TTG ER / G ERH A R D H U TZLER
Kazike →Caciques Kemál →Atatürk Kenia. Staatsbezeichnung: Jamhuri ya Kenya (→KiSuaheli), Republic of Kenya; Wahlspruch: Harambee (Ki-Suaheli, „Laß uns zusammenarbeiten!“); Präsidialrep. in Ostafrika. Mit einer Fläche von ca. 580 000 km² und einer Ew.-zahl von ca. 39 Mio. (2009) weist K. eine Bevölkerungsdichte von 67 Ew./km² auf. Zentral-K. wird vom Rift Valley durchzogen, einem Teil des Ostafr. Grabenbruchs, der besonders durch die sensationellen paläoanthropologischen Funde der Forscherfamilie Leakey berühmt wurde. Höchste Erhebung des Landes ist mit 5 199 m der im Mount K.-Massiv gelegene Batian. Zu den längsten Flüsse K.s zählen der Tana und der Athi. An letzterem liegt →Nairobi, die Hauptstadt und mit ca. 3 Mio. Ew. auch größte Stadt K.s. Weitere Großstädte sind →Mombasa (ca. 800 000 Ew.), Kisumu (ca. 400 000 Ew.) und Nakuru (ca. 300 000 Ew.). K. gliedert sich administrativ in sieben Provinzen und einen Hauptstadt-Distrikt. Hinsichtlich Fläche und Ew.-zahl ist Rift Valley mit der Hauptstadt Nakuru die größte Provinz. Obwohl im äquatorialen Bereich und damit in 421
k e nyAt tA, j om o
der tropischen Klimazone gelegen, weist K. in seinen in über 1 800 m Höhe liegenden Hochländern ein mildes →Klima auf. Viel wärmer und auch regenreicher sind das Küstengebiet und die Region am →Victoriasee. Die Mehrheit der insg. 52 →Ethnien in K. spricht →Bantu. Dazu zählen die →Kikuyu, mit ca. 22 % Bevölkerungsanteil größte ethnische Gruppe, die Luhya (14 %) sowie die Kamba (11 %), Kisii und Mijikenda. Daneben leben in K. Angehörige der Niloten, wie die Luo, mit 13 % die drittgrößte Gruppe, sowie die Kalenjin (12 %) mit den Pokot, Tugen und Nandi, schließlich die Maa sprechenden Masai und Samburu sowie die Turkana. Im Osten des Landes leben Kuschitisch sprechende Ethnien wie Somal, Oromo und kleinere Gruppen (z. B. Rendile, El Molo). Zu den „eigentlichen kenianischen Somal“ kommen allerdings mittlerweile eine halbe bis eine Mio. Flüchtlinge aus →Somalia hinzu. Nicht-Afrikaner (Europäer, Asiaten, vorrangig →Araber und Inder) machen nur 1 % der Bevölkerung aus. Amtssprachen sind Englisch und Ki-Suaheli, letztere ist auch Verkehrssprache in ganz Ostafrika. Ca. 70 % der Bevölkerung bekennen sich zum christl. Glauben, davon zählt sich annähernd je ein Viertel zu den Anglikanern und den Katholiken und fast der gesamte Rest zu den zahlreichen afr. Kirchen. Die musl. Bevölkerung (ca. 20 %) lebt überwiegend in den Küstenregionen und besteht ca. zur Hälfte aus Angehörigen der Volksgruppe der Somal. Schließlich betrachten sich mindestens 10 % der Kenianer als Anhänger „traditioneller afr. Naturreligionen“. K. ist Teil der Region von Afrika, die als „Wiege der Menschheit“ gilt, in der schon vor mehr als 4 Mio. Jahren Vormenschen-Formen der Gattung Australopithecus nachweisbar sind und in der sich auch die Gattung Homo zu entwickeln begann. Bekannteste Fundstätte ist Koobi Fora am Turkana-See, berühmtester Fund der „Turkana Boy“. Ca. 2000 v. Chr. wanderten Kuschitisch sprechende Völker aus Nordafrika ins heutige K. ein. Im Verlauf des 1. Jahrtausends n. Chr. kamen Nilotisch und Bantu sprechende Völker in die Region. Gleichzeitig bereisten arab. Händler regelmäßig die Küste K.s. Am Ende des 1. Jahrtausends entstand hier eine Kette von kleineren und größeren Handelsstädten. Sie waren eng mit der arab. Welt verbunden und trugen zur Einführung des →Islam bei. Mit der sog. Swahili-Kultur (→Swahili) entstand an der Küste eine afr.-arab. Mischkultur. Ihre volle Blüte erlebten die Ostküsten-Städte um 1300. An vielen Orten wurden Moscheen erbaut, und auch die lokalen Potentaten ließen sich prächtige Häuser und Paläste errichten. In einigen Städten prägte man sogar eigene Münzen. Überreste dieser vergangenen Größe können besichtigt werden in den Ruinen bzw. Museen von Pate, Manda, v. a. aber in Gedi bei Malindi und in Lamu. Auch die bedeutendste Metropole an der kenianischen Küste, Mombasa, wurde im 12. Jh. von Arabern gegründet. Alle diese städtischen Zentren lebten vorrangig vom Handel mit Gold, →Gewürzen, →Elfenbein und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und ihre Beziehungen reichten schon im Mittelalter über Arabien und Persien bis nach →Indien und China. Durch die Ankunft der Portugiesen zu Beginn des 16. Jh.s wurde der Niedergang der Küstenmetropolen forciert und die arab. Vorherrschaft an der 422
Küste eingeschränkt. Portugal baute Mombasa zu seinem nördlichsten Sitz an der Ostküste aus. Ab 1698 eroberte das arab. Sultanat Oman das Gebiet. Seit 1856 gehörte die Küste zum Sultanat →Sansibar. Infolge steigender Weltmarktpreise für Elfenbein begannen zu dieser Zeit die Küstenhändler, selbst ins Innere bis zu den großen Seen und darüber hinaus in den Kongo zu ziehen, anstatt den Binnenhandel ausschließlich über Zwischenhändler des Küstenhinterlandes abzuwickeln. Dabei stießen sie auf die gefürchteten Krieger der hirtennomadischen →Massai, die weite Gebiete Ostafrikas kontrollierten und sogar die Küstenstädte bedrohten. Nach privaten dt. und v. a. brit. Kolonisationsversuchen wurde K. 1895 zum brit. East Africa Protectorate und 1920 offiziell zur →Kronkolonie erklärt. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die koloniale Unterwerfung wurde zwischen 1890 und 1914 gebrochen. Infolge des Mau Mau-Aufstands (→Mau Mau) verhängten die Briten 1952–1960 den Ausnahmezustand über das Land, 1963 mußten sie es aber „in die Unabhängigkeit entlassen“. Erster Präs. der Rep. K. wurde Jomo →Kenyatta, 1978, gefolgt von Daniel arap Moi, den 2002 Mwai Kibaki ablöste. Uhuru Kenyatta, ein Sohn von Jomo →Kenyatta, ist seit 2013 der vierte Präs. K.s. Die Reg. aller vier, aber auch das Einparteiensystem und selbst die Verfassung, waren und sind stark umstritten. Obwohl nur ca. 20 % des Landes dafür nutzbar sind, leben heute weit mehr als die Hälfte seiner Ew. von der Landwirtschaft. Als cash crops werden v. a. →Kaffee, →Tee und Sisal angebaut, daneben hauptsächlich für den Eigenbedarf Mais u. a. Getreide, Zuckerrohr (→Zucker), →Bananen und →Baumwolle. Auch umfangreiche Herden von Rindern, Schafen, Ziegen und sogar Kamelen werden auf meist kargen Böden gehalten. Die Vorkommen K.s an Bodenschätzen sind nur geringfügig, in nennenswerter Menge werden nur Natriumkarbonat und →Salz gewonnen. K. lebt vorrangig vom Export landwirtschaftlicher Produkte, v. a. von Kaffee und Tee, von der Industrie und vom →Tourismus. Den weltmarktbedingten Rückgang des Kaffeeexports konnte K. durch den von Blumen ausgleichen – inzwischen ist K. größter Blumenexporteur der Welt. Die Naturschönheiten K.s sind im wesentlichen für den Tourismus erschlossen, sowohl für den Massen- als auch für den Individualtourismus. Ein wichtiges Standbein dafür stellen die zahlreichen Nationalparks dar. Der größte ist der Tsavo-Nationalpark, der bekannteste wohl die MasaiMara (der nördliche Ausläufer der →Serengeti). G ISELH ER BLESSE
Kenyatta, Jomo, * 20. Oktober 1893 Ichaweri, † 22. August 1978 Mombasa, □ Jomo Kenyatta Mausoleum / Nairobi, Presbyt. K. wurde als Kamau wa Ngengi und Angehöriger der größten →Ethnie →Kenias, der →Kikuyu, geboren. Als solcher erhielt er von dieser großen Rückhalt, blieb ihr aber auch Zeit seines Lebens verbunden. Politische Aktivitäten entwickelte K. seit 1924. Zwischen 1934 und 1938 studierte er in London; seine Magisterarbeit wurde unter dem Titel Facing Mount Kenya publiziert. 1945 organisierte K. den Weltgewerkschaftskongreß in London und den bedeutendsten →Pan-Afrikanischen Kongreß
k ettler, j Ak o b
seit 1919 in Manchester unter den Wahlsprüchen „Freiheit jetzt“ und „Afrika den Afrikanern“. 1946 kehrte er nach Kenia zurück, wurde ein Jahr später Präs. der Kenya Africa Union und arbeitete fortan für die Unabhängigkeit des Landes. Nach Beginn des später blutig niedergeschlagenen Mau Mau-Aufstandes (→Mau Mau) wurde K. 1953 zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis und der Aufhebung des Ausnahmezustandes in Kenia wurde er 1960 Präs. der Kenya African National Union und 1962 Minister in einer Koalitionsreg. K. wurde mit der Unabhängigkeit Kenias 1963 im Alter von 71 Jahren erster Ministerpräs. des Landes und 1964 nach dessen Proklamation zur Rep. deren erster Staatspräs. Seine Biographie erschien 1968 unter dem Titel Suffering Without Bitterness. K. wird zwar allg. als „Vater der Nation“ bezeichnet, ist aber in mancher Beziehung umstritten, auch was seine Rolle im Mau Mau-Aufstand betrifft. Er einte zumindest die Nation, und es gelang ihm, durch eine „maßvolle Landreform“ einen Teil der weißen Siedler im Land zu halten. K. kann wohl mit Recht für sich in Anspruch nehmen, einer der großen Führer Afrikas in der Unabhängigkeitsphase gewesen zu sein. GI S E L HE R BL E S S E Kersting, Hermann, * 11. Februar 1863 Riga, † unbek., □ unbek., ev.-luth. (?). Der Sohn eines westfälischen Fabrikanten u. einer baltendeutschen Adeligen studierte an den Universitäten Dorpat u. Freiburg i. Br. Medizin, Volkswirtschaft u. Agrarwissenschaften. Promotion zum Dr. med. in Königsberg u. Dorpat. Nach Wehrdienst in Marburg und ärztlicher Assistenzzeit in Straßburg Teilnehmer der →Expedition des Graf von Goetzen von →Dt.-Ostfrika quer durch den Kontinent bis zur Kongomündung (1893–1895) u. der Expedition des Auswärtigen Amtes unter dem Botaniker Lauterbach u. dem Offizier Tappenbeck im Nordosten →Dt.-Neuguineas (1896–1897). Im Auftrag des AA wirkte er 1897 im Grenzgebiet von →Dahomey u. →Togo, wo er Kolonialverträge mit einheimischen Herrschern schloß u. die dt. Flagge hißte. In der Kolonie Togo war er Bezirksleiter u. Bezirksamtmann v. Sokodé u. Bássari (1899–1909) im musl. dominierten Norden. Hier zeichnete er sich durch große Schlagfertigkeit u. Adaption einh. Verhaltensweisen aus, insb. wenn diese ihm in seiner Position zum Vorteil gereichten. Weil das seit 1910 umgesetzte Anspruchsprofil der leitenden deutschen Kolonialbeamten in der Südsee genau auf ihn zutraf (Arzt u. Verwaltungsbeamter in einer Person), 1910 als „Chef des Inselgebiets“ nach Mikronesien versetzt. 1910 in Jap/ Yap u. st. 1911 auf Ponape, wo es ihm trotz der Auswirkungen u. Nachwehen des Aufstands der Dschokadsch (→Ponape-Aufstand) überraschend schnell gelang, das Vertrauen der einh. Bevölkerung zu gewinnen. Der neuseeländische Akademiker u. Philantrop John Macmillan Brown (1845–1935), ein versierter Pazifikkenner u. Augenzeuge, hielt K. für einen der besten Kolonialbeamten, die er je kennengelernt hatte. Aus den wenigen deutschen Kolonialbeamten, die aus Afrika in die Südsee versetzt wurden, ragt K. jedenfalls als einziger positiv heraus. Nach dem Ablauf seiner ersten Dienstperiode in der Südsee trat K. noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrie-
ges, wie andere leitende dt. Kolonialbeamte dieser Zeit, eine Informationsreise nach China u. Japan an. Vor der Rückkehr nach Deutschland kurze Internierung in England. 1915 bei d. deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, 1916–1917 beim Kriegsministerium des →Osmanischen Reiches. 1917–1920 Referent für Land- u. Forstwirtschaft im RKolA. Q: Gustav Adolf Graf von Goetzen, Durch Afrika von Ost nach West, Berlin 1895, 21899. J.(ohn) Macmillan Brown, Peoples & Problems of the Pacific, Bd. 1, London 1927, 123–124. Arthur Knoll / Hermann J. Hiery (Hg.), The German Colonial Experience, Lanham u. a. 2010, 130. L: G.(ottlieb) Olpp, Hervorragende Tropenärzte in Wort u. Bild, München 1932, 192–193 u. Tafel XXXIII (Fotografie). H ER MA N N H IERY Kettler, Jakob, Herzog von Kurland, * 28. Oktober 1610 Goldingen (Kuldiga / Lettland), † 1. Januar 1682 Mitau, □ Schloß von Jelgava (Mitau), ev. Der Enkel des letzten livländischen Deutschordensmeisters und Lehnsmann des polnischen Kg.s, seit Aug. 1642 Herzog und 1654 in den Reichsfürstenstand erhoben, strebte, geprägt durch Studienjahre in den Niederlanden, nach aktiver Teilnahme am Überseehandel durch die Errichtung eigener Kolonien. Von zahlreichen, z. T. abenteuerlichen Plänen gelang im Okt. 1651 die Festsetzung auf der St. Andreas-Insel in der Mündung des Gambia und im Mai 1654 die Gründung einer kleinen, von einem Fort geschützten Siedlung an der Nordwestküste Tobagos, an dessen Südwestküste 1655 auch die Vlissinger Kaufmannsfamilie Lampsins mit Konzession der ndl. WIC (→West-Ind. Cie) eine florierende Niederlassung gründete, wohingegen Neu-Kurland die erwarteten Gewinne nicht liefern konnte. Als im Sept. 1658 während des Ersten Nordischen Krieges Kurland von den Schweden besetzt und J. interniert wurde, rissen die prekären Verbindungen zu den außereuropäischen Besitzungen ab, die in die Hände der WIC fielen. 1661 eroberte die engl. Royal African Company die Gambiamündung und negierte alle Ansprüche des im Frieden von Oliva 1660 wieder in seine Herrschaft eingesetzten Herzogs, dessen Restitutionsbemühungen sich daraufhin auf Tobago konzentrierten. Weil die Insel zum Spielball der kriegerischen Auseinandersetzungen der Kolonialmächte England, Frankreich und der Niederlande wurde, gelang trotz eines 1664 mit Karl II. von England geschlossenen Vertrages, dem zufolge J. Tobago als engl. Lehen genießen sollte, erst 1680/81 eine Neugründung der Kolonie, die von J.s Nachfolgern nicht lange gehalten werden konnte. Ungeachtet des merkantilistischen Geschäftssinns seines Fürsten war das kleine Herzogtum, in dem eine dt.-sprachige Minderheit die slawische Bevölkerung beherrschte, auf Grund seiner geographischen Abgeschiedenheit und mangelhafter finanzieller, wirtschaftlicher und personeller Ressourcen mit einer überseeischen Expansion überfordert, die Privatunternehmen des Herzogs blieb und ein Verlustgeschäft darstellte. Die kurze Existenz der beiden afr. und karibischen Stützpunkte gilt dennoch als frühes Beispiel für die Realisierung dt. Kolonisationsprojekte außerhalb Europas. 423
k e ys s e r , ch r is ti A n
Otto Heinz Mattiesen, Die Kolonial- und Überseepolitik der kurländischen Herzöge im 17. und 18. Jh., Stuttgart 1940. Heinrich Volberg, Dt. Kolonialbestrebungen in Südamerika nach dem Dreißigjährigen Kriege, Köln / Wien 1977. ANNE L I PART E NHE I ME R- BE I N Keysser, Christian, * 7. März 1877 in Geroldsgrün / Frankenwald, † 14. Dezember 1961 in Neuendettelsau / Mittelfranken, □ Evangelischer Friedhof Neuendettelsau, ev.-luth. 1894 Eintritt in das von Wilhelm Löhe gegründete Missionsseminar in Neuendettelsau. 1899 bis 1920 PionierMissionar der Neuendettelsauer Mission in Sattelberg bei Finschhafen. Im Ersten Weltkrieg unterstützte er Hauptmann →Detzner im Landesinneren von →Ks.Wilhelmsland. Deshalb 1920 Ausweisung aus Neuguinea durch die australische Mandatsmacht. 1922 bis 1939 Leitender Missionsinspektor und Lehrer am Missionsseminar in Neuendettelsau. 1928 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch Universität Erlangen für linguistische Forschung, insb. „Wörterbuch und Grammatik der Kate-Sprache“. Neben zahlreichen anderen Schriften zu ethnologischen Themen Publikation von „Anutu im Papualande“, Nürnberg 1926. Darin kenntnisreiche Beschreibung des im Hinterland von Finschhafen und am Huon-Golf vorgefundenen „Primitivgeldes“. Außerdem exakte und mit Beispielen illustrierte Schilderung, wie sich dt. Münzgeld bis 1910 allmählich in den Küstenregionen Neu-Pommerns sowie im Süden und Westen von Neu-Mecklenburg bei den Eingeborenen durchzusetzen begann. K. galt den Zeitgenossen als einer der besten Kenner des →Schutzgebietes →Dt.-Neuguinea. Q: Umfangreicher Nachlaß im Archiv Eine Welt, Neuendettelsau. L: Friedrich Eppelein u. a. (Hg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Dr. Christian Keysser, Rothenburg 1947. Wilhelm Fugmann u. a. (Hg.), Bürger zweier Welten, Neuhausen-Stuttgart 1985. Herwig Wagner, Bautz III (1992), 1447–1453. GE RHARD HUT Z L E R Khan, Abdul Ghaffar, * um 1890 Utmanzai, † 20. Januar 1988 Peshawar, □ Jalalabad, musl. Paschtunischer Freiheitskämpfer. Auch bekannt als „Frontier Gandhi“. Setzte sich sowohl für die Belange der Paschtunen ein, als auch für ein vereintes unabhängiges →Indien und später für eine autonome Provinz Paschtunistan. Nach verschiedenen sozialreformerischen Aktivitäten in jungen Jahren, begann K., beeinflußt u. a. von →Gandhi, während des Ersten Weltkriegs seine politischen Aktivitäten. Er nahm an der →Khilafat-Bewegung teil und gründete 1929 die Afghan Jirga, eine Freiwilligenorganisation, die sich Gandhis politische Strategie des gewaltlosen Widerstandes in Form von zivilem Ungehorsam zu Eigen machte. Ziel der Organisation waren v. a. die Vertretung der Belange der Paschtunen und deren kulturelle Selbstbestimmung, sowie die Unabhängigkeit des ind. Subkontinents. Die Afghan Jirga wurde zu der dominierenden Massenorganisation der Paschtunen. K. verband nicht nur eine tiefe Freundschaft mit Gandhi, seine Organisation arbeitete auch eng mit dem →Indian National Congress zusammen, in dessen zentralem Leitungsgremium, dem Working Committee, K. viele Jahre 424
vertreten war. Er glaubte fest an die Möglichkeit eines gewaltlosen politisch-islamischen Aktivismus und war überzeugter Gegner der →Teilung Brit.-Indiens. Im unabhängigen →Pakistan setzte er sich mit seiner Organisation für eine autonome Provinz Paschtunistan ein; dies führte zum Verbot seiner Organisation, sowie zu seiner Inhaftierung und späterem Exil in Afghanistan. K. erhielt als erster nicht-ind. Staatsbürger die höchste zivile Auszeichnung Indiens, den Bharat Ratna. Abdul G. Khan, My Life and Struggle, Delhi 1969. Stephen Rittenberg, Ethnicity, Nationalism and Pakhtuns, Durham 1988. IN AYATU LLA H BA LO C H Khan, Saiyid Ahmad, * 17. Okober. 1817 Delhi, † 27. März 1898 Aligarh, □ neben der Moschee auf dem Hauptcampus der Aligarh Muslim University, musl. Jurist, Begründer der bedeutendsten Aufklärungsbewegung der ind. Muslime im 19. Jh., der Aligarh-Bewegung. Obwohl seine Familie dem Mogulhof (→Moguln) nahe stand und er eine traditionelle Ausbildung in Persisch und Arabisch erhalten hatte, trat K. 1837 in die Dienste der East India Company (→Ostindienkompanien). Unter dem Eindruck der Niederlage des →Ind. Aufstands von 1857 und des endgültigen Verlustes der politischen Macht der Muslime bemühte er sich um bessere Verständigung mit der Kolonialmacht (→British Raj) und strebte die Verbreitung moderner →Bildung und die Reformierung des sozialen Lebens an, um den Muslimen in Zukunft weltlichen Einfluß und Wohlstand zu sichern. Die Erfahrungen einer Reise nach England 1869/70 bestärkten ihn in diesen Bestrebungen. K. wandte sich entschieden gegen die politischen Emanzipationsbestrebungen des →Indian National Congress, da er diesen als hinduistischen Interessen folgend ansah und war Zeit seines Lebens ein loyaler Anhänger der brit. Herrschaft in →Indien. Er gilt als einer der ersten Vertreter der ZweiNationen-Theorie (→Pakistan-Bewegung), nach der Hindus und Muslime nicht ohne koloniale Vermittlung in einem Staat zusammenleben könnten, da ihre kulturellen Unterschiede zu groß seien. K. setzte sich für das Studium der modernen Wissenschaften ein und förderte die Übersetzung wissenschaftlicher Werke ins →Urdu. Zu diesem Zweck gründete er zahlreiche Institutionen, Zeitschriften und Bildungseinrichtungen, darunter 1878 in Aligarh das Mohammedan Anglo-Oriental College, das 1920 in den Rang einer Universität erhoben wurde. K. verfaßte religionskritische Schriften, in denen er eine weitgehend rationalistische Interpretation des Korans vornahm und sich kritisch mit westlichen Darstellungen des →Islam und des Propheten Muhammad auseinandersetzte, damit aber auch den Unwillen orthodoxer Islamgelehrter hervorrief. Er avancierte jedoch schon ab Mitte der 1860er Jahre zum Sprachrohr der musl. Mittelklasse in Brit.-Indien und war vor diesem Hintergrund nur noch bedingt angreifbar. K. inspirierte mit seinen Werken einige der größten musl. Romanautoren, Dichter und Historiker Nordindiens. Seine Bildungsbemühungen legten den Grundstein für die moderne musl. Bildungselite Südasiens, die ihn bis heute als ihr großes Vorbild feiert. Gerade diese westliche Orientierung bildet aber auch den Hauptangriffspunkt für Kritiker, die hierin den
khoikhoi
Verlust der Identität und eigener, v. a. religiöser, Werte sahen und sehen. David Lelyveld, Aligarh’s First Generation, Princeton 1978. Hafeez Malik, Sir Sayyid Ahmad Khan and Muslim Modernization in India and Pakistan, New York 1980. Christian W. Troll, Sayyid Ahmad Khan, Delhi 1978. C H R I S T I N A OE S T E RHE L D / S T E P HAN P OP P
Khartum. Die Hauptstadt der heutigen Rep. →Sudan liegt am Zusammenfluß von Blauem und Weißem →Nil. Ihre Geschichte begann 1821 als Militärposten der türk.-ägyptischen Invasionsarmee, der 1824 mit einer Zitadelle befestigt und zehn Jahre später zur offiziellen Hauptstadt der vier Provinzen Khartum, Berber, Dongola und Kordofan erhoben wurde. Der bedeutendste Herrscher jener ersten Kolonialphase des osmanischen Sudan (turkiya) war der Kurde ’Ali Khurshid Pasha (1786–1845), der in seiner Regentschaft 1826–1838 auch die erste Moschee (1830) errichten ließ und den staatlich kontrollierten Handel mit →Elfenbein, Gummi Arabikum, Straußenfedern und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) tatkräftig förderte. Nach dem Sieg der mahdistischen Erhebung 1885 wurde die auch von den vielen Europäern geprägte Stadt zerstört, während das am westlichen Nilufer liegende Omdurman zum neuen Zentrum des nun entschieden religiös ausgerichteten Landes ausgebaut wurde. Erst die sog. Reconquista unter →Kitchener (1898) brachte K. die alte Bedeutung zurück, diesmal mit einem modern angelegten Straßennetz, einem Bahnhof, einer Nilbrücke und beachtlichen öffentlichen Gebäuden inkl. imposanter Kirchen für die anglik., die rk., die griechische und die koptische Gemeinde. Nach der 1956 erlangten Unabhängigkeit expandierte die Stadt in einem beängstigenden Tempo, dem die Verwaltung mit ausgedehnten neuen Vierteln, auch im eher „arab.“ bebauten Omdurman und im mehr durch Industrie und Bahn geprägten Nordkhartum Schritt zu halten versuchte. Durch den jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Süden (1955–1972, 1983–2004), aber auch infolge von Armut und Unruhen in anderen Landesteilen (ganz besonders in Darfur ab 2003) sprengte die Zuwanderung jedes administrativ zu bewältigende Maß, so daß die „Dreistadt“ heute trotz hektischer Bautätigkeit und hohem Planungsaufwand zu den afr. Mega-Städten zu zählen ist, deren Probleme als unlösbar bezeichnet werden müssen. El-Sayed El-Bushra, An Atlas of Khartoum Conurbation, Khartum 1976. Jörg Gertel, Krisenherd Khartoum, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1993. BE RNHARD S T RE CK Khedive. Im 18. Jh. aus dem Persischen in die osmanische Amtssprache übernommenes Lehnwort (khídiw, d. h. Herr). Mit ihm wurde das dritthöchste Staatsamt im →Osmanischen Reich bezeichnet. Ab 1823 nannte sich der albanische Wāli von →Ägypten und dem →Sudan, →Muhammad Ali, eigenmächtig K., um seine Sonderstellung unter den Provinz-Gouv.en der Hohen Pforte zu betonen. Die Nachfolger im Amt aus seiner Familie führten den Titel bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. 1867 erkannte ihn Sultan Abd-ül-Aziz als erbliche Würde für die von Muhammad Ali gegründete Dynastie
an. Im europäischen Sprachgebrauch der Zeit wurde er meist mit „Vize-Kg.“ übersetzt. G ERH A R D H U TZLER Khilafat-Bewegung. 1919–1924, islamische Protestbewegung in →Indien. Ausgangspunkt der K.B. waren Pläne Großbritanniens zu einer Zerschlagung des →Osmanischen Reichs im Rahmen einer geopolitischen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Das Osmanische Reich hatte im Rahmen der pan-islamischen Bewegung eine besondere Bedeutung inne. Formell nahm es die Stellung des Kalifats ein, des legitimen Vertreters musl. politischer Macht in der Nachfolge des idealen Kalifatsstaats aus der Gründungsära des →Islam. Die K.B. in Indien setzte sich in diesem Zusammenhang für ein Ende der brit. Teilungspläne für das Osmanische Reich sowie für dessen militärische Unterstützung im Kampf gegen die republikanischen Kräfte Mustafa Kemals (→Atatürk) ein. Die Bewegung gewann wesentlich an Wirkung durch ein Bündnis mit dem non-cooperation movement →Gandhis, dessen Strategie des gewaltlosen Widerstandes zunächst übernommen wurde. Gandhi versuchte, durch die Verknüpfung der Ziele der nationalen Selbstbestimmung (Swaraj) mit der musl. Identitätspolitik der K.B. eine religionsübergreifende Grundlage für den →Ind. Nationalismus zu schaffen. Das Bündnis scheiterte jedoch, als Gandhi das non-cooperation movement infolge von gewaltsamen Übergriffen auf Polizeibeamte (→Polizei) in Südindien 1922 abbrach. Auch die K.B. selbst kam im Rahmen von zwischen Gandhi und den Führern der Bewegung geteilter Loyalitäten der ind. Muslime ins Stocken. Nach dem Sieg der türk.-republikanischen Nationalisten unter Mustafa Kemal und der formellen Abschaffung des Kalifats in der neu gegründeten Türkei 1924 kam die K.B. völlig zum Erliegen. Einige ihrer Führer schlossen sich in der Folge Gandhi und dem →Indian National Congress an, andere wurden später in der →Pakistan-Bewegung aktiv. Gail Minault, The Khilafat Movement, New York u. a. 1999. STEPH A N PO PP / H A N S H O MMEN S Khoikhoi. Der Name in der Standard-Orthographie der Nama (auch Khoekhoe geschrieben) kann mit „Menschen-Menschen“ übersetzt werden und bezieht sich auf eine der ersten Bewohner im südwestlichen Afrika. Die K. haben ihren Ursprung in der mittleren Region des Zambezi-Flußtals, von wo sie aus südwärts wanderten und sich im Westkap vor ca. 2000 Jahren niederließen. Zu den Untergruppen zählen die Koranna aus der Mitte Südafrikas, die Namaqua im Westen und die südlichen K. Sie koexistierten mit den Jägern und Sammlern der San, die früher als →Buschmänner bezeichnet wurden. Die K. waren Viehhalter und Töpfer. Der Name Hottentotten, der auf Niederländisch „Stotterer“ bedeutet, wurde den K. von den ersten weißen Siedlern gegeben wegen der fremdartigen Klicklaute in deren Sprache. Mit dem Beginn des europäischen Vordringens ins Hinterland des Kap ab dem 17. Jh. wurden sowohl die San als auch die K. als ethnische Einheiten bedroht. Die San erlitten →Völkermord, Krankheiten und Vertreibungen, während die K. durch Enteignungen, Krankheiten und Akkulturation dezimiert wurden. Den Begriff „Khoisan“, 425
k iA u t s c hou/ t s i n g tA u
eine Kombination der Wörter „Khoi“ (Menschen) und „San“ (Wildbeuter), prägte 1928 der dt. Anthropologe Leonhard Schultze. Er ist eine Sammelbezeichnung für die Beschreibung von indigenen Völkern, sowohl Jäger und Sammler als auch Viehhalter, in der Kap-Region. Heute gibt es nur noch vereinzelte kleine Gebiete von „ethnisch reinen“ Indigenen: einige San, die hauptsächlich in →Namibia und Botswana leben, und einige K., die hauptsächlich in Namaqualand leben. Der „National Khoi-San Council“ wurde 2001 von der südafr. Reg. gegründet. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Alain Mountain, The First People of the Cape, Claremont 2003. ANNE KI E JOUBE RT
Khubilai Khan →Mongolische Expansion, →Polo, Marco Kiautschou/Tsingtau (Jiaozhou/Qingdao) Unter den sog. dt. „→Schutzgebieten“ ragt K. durch eine Reihe von Besonderheiten hervor: Es war die flächenmäßig zweitkleinste, aber weitaus am dichtesten besiedelte und die einzige urbane Kolonie. Zudem unterstand es anders als die anderen Kolonien nicht dem Reichskolonial-, sondern dem Reichsmarineamt. Nirgends sonst begegneten die dt. Kolonialherren einer als Angehörige einer alten Hochkultur respektierten, wenn auch als degeneriert wahrgenommenen Untertanenbevölkerung. Und schließlich beruhte die koloniale Wirtschaftspolitik nicht nur auf der Erzeugung von →Rohstoffen durch Ausbeutung billiger einheimischer Arbeitskräfte, sondern mehr noch auf dem Absatz von Industrieprodukten auf dem scheinbar grenzenlosen chin. Markt. Die Jiaozhou-Bucht wurde am 14.11.1897 von einem dt. Marinegeschwader besetzt. Als Vorwand diente die Ermordung zweier dt. Missionare in der Provinz Shandong, zu der die Bucht gehörte. In einem Abkommen vom 6.3.1898 überließ China die Bucht dem Dt. Reich und gewährte zusätzliche Eisenbahn- und Bergbaurechte in der Provinz Shandong, die damit faktisch zur dt. Einflußsphäre wurde. Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen den Bahnbau und die Anlage von Bergwerken wurde in den Folgejahren von dt. Truppen mehrfach brutal gebrochen. Gleichzeitig führte die dt. Kolonialverwaltung im Inneren der Kolonie eine rücksichtslose Bodenenteignung durch, um Land für ihre Bauvorhaben in den Griff zu bekommen. Um möglicher Bodenspekulation vorzubeugen, schrieb die Landordnung die Versteigerung von Grundstücken durch das Gouvernement sowie ggf. die Zahlung einer Wertzuwachssteuer bei privaten Verkäufen vor. Das Pachtgebiet zerfiel in drei Zonen: den Kern der aus dem Boden gestampften Stadt T. (Qingdao), den chin. Stadtteil Dabaodao sowie die für Arbeiter angelegten Trabantensiedlungen Taixizhen und Taidongzhen sowie das Landgebiet, in dem die vorkolonialen Verhältnisse weitgehend bestehen blieben. Dieser Raumordnung entsprach eine rassische Segregation, die sich auf praktisch alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens inkl. der Rechtspflege erstreckte. Die „Chinesenordnung“ unterwarf die chin. Ew. einer strengen Kontrolle. Von den 426
Segregationsmaßnahmen wurde lediglich der Ausschluß von Chinesen aus dem „Europäerviertel“ im zentralen Stadtgebiet 1914 gelockert. Die mit der Besetzung K.s zunächst verbundenen dt. Ziele wurden nur teilweise erreicht: Zwar wurde der Hafen zu einem bedeutenden Flottenstützpunkt ausgebaut, doch die Hoffnungen auf ein „dt. →Hongkong“ an der Jiaozhou-Bucht erwiesen sich als bloße Träume. Angesichts der ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolge monierten Kritiker wie der Zentrumspolitiker Matthias →Erzberger, daß die Kolonie ein Zuschußgeschäft bleibe. Seit ca. 1905 änderte sich die Prioritätensetzung des Reichsmarineamtes: Statt als zukünftige Wirtschaftsmetropole wurde K. nun als „Schaufenster dt. Kultur“ propagiert. Damit wollten sich die Deutschen die seit 1901 in Peking eingeleitete Reformpolitik zunutze machen, diese kulturell beeinflußen und so schließlich doch noch einen Impuls für die wirtschaftlichen Interessen des Dt. Reiches erzielen. Bei der dt. Kulturarbeit spielte der Ausbau des (separaten) Schulwesens für Chinesen eine zentrale Rolle. Das Gouvernement förderte die bereits bestehenden Einrichtungen dt. und am. Missionsgesellschaften, engagierte sich aber nun auch selbst mit eigenen Primarschulen. 1909 wurde die dt.-chin. Hochschule ins Leben gerufen. Sie umfaßte vier Abteilungen für Staats- und Rechtswissenschaften, Medizin, Ingenieurwissenschaften sowie Forst- und Landwirtschaft und hatte 1914 ca. 400 Studenten. Die republikanische Revolution von 1911 in China schien der Kolonie einen neuen Aufschwung zu bescheren. Zahlreiche Beamte der untergegangenen Monarchie suchten in der dt. Kolonie Zuflucht und investierten in Grundbesitz. Von ihren kulturellen Kompetenzen profitierten Kulturvermittler wie der Missionar Richard →Wilhelm, der mit ihrer Hilfe klassische chin. Texte ins Deutsche übersetzte. Diese Blütezeit fand aber mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein abruptes Ende: Im Nov. 1914 wurde K. von jap. Streitkräften erobert, auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 Japan zugesprochen und 1922 an China zurückgegeben. Annette S. Biener, Das deutsche Pachtgebiet Tsingtau in der Provinz Schantung 1897–1914. Bonn 2002. TH O RA LF K LEIN
Kigali ist Hauptstadt und Reg.ssitz des zentralafr. Landes →Ruanda. Mit heute ca. 1 Mio. Ew. ist es zugleich die größte Stadt Ruandas. Sie befindet sich im hügeligen Zentrum des Landes, einige Stadtteile liegen jedoch in den sumpfigen Tälern des Flusses Nyabarongo. In vorkolonialer Zeit gehörte K. zum Territorium des zentralruandischen Kgr.s. Während der dt. Kolonialzeit (1897– 1916) nahm der erste europäische Resident, Richard →Kandt, hier seinen Verwaltungssitz (1907); später kamen noch Handelshäuser und ein Militärposten hinzu. Doch die belg. Kolonialverwaltung (1916–1959) errichtete einen zusätzlichen Posten in Nyanza, der damaligen Residenz des ruandischen Kg.s. Außerdem wurde das →Protektorat Ruanda-Urundi hauptsächlich von Usumbura (→Bujumbura) in →Burundi aus verwaltet, so daß K.s Bedeutung relativ gering blieb. Nach der Unabhängigkeit Ruandas 1962 wurde K. wieder zur Hauptstadt; sämtliche Ministerien wurden dorthin verlegt, woraufhin
ki P li n g , r u d yArd
Fläche und Ew.-zahl rasch anwuchsen. Im Genozid des Jahres 1994 erlebte K. einen massiven Bevölkerungsverlust; doch seit 1999 weist die Stadt wieder ein konstantes Wachstum von 6 % auf. Seit der Verwaltungsreform vom 1.1.2006 gliedert sich K. in drei Distrikte, 35 Sektoren und 1061 ‚imidigudu‘ (Dörfer/unterste Verwaltungseinheit). 70 % der Fläche sind urban bebaut, sonst finden sich v. a. an den Stadträndern eher ländliche Strukturen. Über 60 % der Ew. sind jünger als 16 Jahre. Trotz fortschreitender Dezentralisierung bleibt K. das wichtigste Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum Ruandas. Neben Bildungseinrichtungen, Ministerien, Industrie und Finanzinstitutionen sind auch die in Ruanda aktiven internationalen und bilateralen Organisationen in K. ansässig. Zudem findet man im Stadtteil Gisozi Ruandas zentrale Genozidgedenkstätte, in der 250 000 Opfer des Genozids begraben sind. Republic of Rwanda, General Population and Housing Census, Kigali 2003. CHRI S T I ANE ADAMCZ YK Kikuyu sind eine →Bantu sprechende →Ethnie in →Kenia, die mit ca. 8 Mio. Angehörigen fast ¼ der Bevölkerung des Landes ausmacht und zu den größten ethnischen Gruppen Ostafrikas zählt. In vorkolonialer Zeit hatten die K. kein zentrales politisches Oberhaupt – die Autorität lag in den Händen der Ältestenräte – erst die Kolonialmacht schuf ein solches. Ein alle K. über die Verwandtschaftsgruppen (Klans) hinaus miteinander verbindendes Prinzip waren die Altersklassen. Im Mittelpunkt der religiösen Vorstellungen der K. stand die Verehrung der Ahnen; heute sind die meisten K. Christen. Die Südausdehnung ihres Stammlandes um das spätere Nyeri am Mount Kenia wurde durch die brit. Kolonialverwaltung rückgängig gemacht, die 1902 die „White Highlands“ als Siedlungsgebiet europäischer Großfarmer beschlagnahmte. Die den K. verbliebene Nutzfläche war überbevölkert und durch Brandrodungsbodenbau wie extensive Viehzucht überbeansprucht. Ein Teil der landlosen K. wurde zu Pächtern, andere verdingten sich als Lohnarbeiter. Viele wanderten infolge Landknappheit und Verelendung in die Städte ab und bildeten ein Proletariat, das dann, zusammen mit Landarbeitern und Bauern, zum Träger politischer Bewegungen wurde. Sie gipfelten 1952–1956 im Mau Mau-Aufstand (→Mau Mau), der blutig niedergeschlagen wurde. Mit Jomo →Kenyatta, dessen Rolle im Aufstand umstritten ist, stellten die K. den ersten Präs. des unabhängigen Kenia, und auch der dritte Präs. (Mwai Kibaki, 2002-2013) u. sein Nachfolger, Uhuru Kenyatta, der älteste Sohn Jomo Kenyattas, sind K. Heute sind die K. in allen Führungspositionen vertreten und dominieren in Wirtschaft und Politik Kenias. Jomo Kenyatta, Facing Mount Kenya, London 1938. GI S E L HE R BL E S S E
Kilimandscharo. Der im Nordosten →Tansanias am Ostafr. Graben gelegene K. (→Ki-Suaheli: „Berg des bösen Geistes“) ist das höchste Bergmassiv Afrikas. Mit dem Kibo (Uhuru Peak) und seinen offiziell 5 895 m über dem Meeresspiegel beinhaltet das Massiv, das vulkanischen Ursprungs ist, den höchsten Berg des Kontinents.
Der Kibo soll zuletzt um 1700 ausgebrochen sein, erloschen ist er aber keineswegs. Obwohl in der tropisch-heißen Zone gelegen trägt der K. eine vergletscherte Hochgebirgskappe. Vorrangig infolge eines regional trockeneren →Klimas seit Ende des 19. Jh.s verlor diese Eiskappe am Kibo-Gipfel und an den Hängen mittlerweile mehr als ¾ ihrer ursprünglichen Fläche. Das Gebirge weist neben Gletschern, Schneefeldern und wüsten Abschnitten aber auch zahlreiche Gebirgsbäche und eine üppige Vegetation bis hin zu urwaldartigem Regenwald in den tieferen Regionen auf. Durch den dt. Missionar Rebmann wurde der K. 1849 in das Blickfeld der Europäer gerückt. 1889 wurde er durch den Leipziger Hans →Meyer und den österr. Alpinisten Purtscheller erstmals bestiegen. Um das Massiv herum siedeln die Chagga, die vorwiegend vom Anbau von →Kaffee u. anderen Marktfrüchten sowie vom →Tourismus leben. Bedeutende Städte am Massiv oder in der Nähe sind Arusha und Moshi. Zu dem 1973 gegründeten und 1977 eröffneten K.-Nationalpark gehören neben den Bergen Kibo (Ki-Suaheli: Der Helle), Mawenzi (Ki-Suaheli: Der Dunkle) und Shira auch die Regenwälder des Massivs. 1987 erklärte die UNESCO den K. zum Weltnaturerbe. Der ca. 756 km² große Nationalpark soll in erster Linie Landschaftsbild, Flora und Fauna am K. schützen, er spielt aber mittlerweile auch eine wichtige Rolle für den Tourismus in Tansania. Christof Hamann / Alexander Honold, Kilimandscharo. Die dt. Geschichte eines afr. Berges, Berlin 2011. G ISELH ER BLESSE
Kipling, Rudyard, * 30. Dezember 1865 Bombay, † 18. Januar 1936 London, □ „Poets’ Corner“, Westminster Abbey / London, anglik. K. wurde 1865 in Bombay geboren und kam erst als Fünfjähriger nach England. Als er 1882 nach →Indien zurückkehrte, arbeitete er als Journalist für verschiedene Zeitungen und veröffentlichte darin Kurzgeschichten. Seine literarische Reputation, die er den exotischen, kolonialen Schauplätzen in seiner Prosa zu verdanken hatte, nahm rasch zu. Nach seiner Heirat mit Carrie Balester 1892 lebte er in Vermont, →USA, und veröffentlichte u. a. die beiden „Dschungelbücher“ (1894/95). In der Folgezeit wurden seine Texte immer politischer. Gedichte, wie „The White Man’s Burden“ (1899), lösten heftige Kontroversen aus, da sie vielen als imperialistisch und rassistisch galten. K. vertrat in der Folge die brit. Position im →Burenkrieg und sprach sich gegen die irische Home-Rule-Bewegung aus. Zu Beginn des 20. Jh.s befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität und erhielt 1907 als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur. Er schrieb noch bis in die dreißiger Jahre hinein und starb 1936 an einer Gehirnblutung. Viele Kritiker erachten K. als einen der größten engl.-sprachigen Kurzgeschichtenautoren. Bekanntheit erlangte er insb. durch seine Kinderbücher, wobei die „Dschungelbücher“ auch heute noch zu den Klassikern dieses Genres zählen. Daneben wird er oft als radikaler Vertreter des brit. Imperialismus angesehen, was jedoch nicht der Komplexität seiner Einstellung zu diesem Thema entspricht. In diesen Zusammenhang läßt sich auch sein Gedicht „The White Man’s Burden“ einordnen, das Vor- und Nachteile des 427
k i r c h e r , At hA n A s i u s
Imperialismus aufzeigt und auf die am. Militärpräsenz auf den →Philippinen anspielt. Imperialisten machten den Titel zum Schlagwort für eine humanitäre, gerechtfertigte Kolonialpolitik. David Gilmour, The Long Recessional, New York 2002. Andrew Lycett, Rudyard Kipling, London 1999. ROL AND WI CKL E S
Kircher, Athanasius, SJ, * 2. Mai 1602 Geisa (Rhön), † 27. November 1680 Rom, □ (Herz) Kirche in Mentorella bei Tivoli, rk. K. trat nach dem Besuch des Jesuitenkollegs (→Jesuiten, →Kollegium) in Fulda 1618 in Paderborn in den Orden ein und studierte dort Philosophie und Theologie. 1622 flüchtete er vor herannahenden protestantischen Truppen nach Köln und war in den folgenden Jahren als Lehrer am Jesuitenkolleg in Koblenz sowie in Heiligenstadt tätig. 1628 wurde er in Mainz zum Priester geweiht und nach einem Probejahr in Speyer als Prof. für Mathematik, Ethik und orientalische Sprachen nach Würzburg berufen. Wegen des Dreißigjährigen Kriegs in Deutschland ging er 1633 zunächst nach Lyon, dann nach Avignon und folgte 1638 einem Ruf an das Collegium Romanum in Rom, wo er Mathematik, Physik und orientalische Sprachen unterrichtete. In den 1640er Jahren wurde er von der Lehrtätigkeit befreit und konnte sich fortan ganz seinen Forschungen widmen. Als barocker Universalgelehrter, der in der Vielfalt der natürlichen und kulturellen Phänomene die Einheit der göttlichen Schöpfungsordnung zu ergründen suchte, publizierte K. zu unterschiedlichsten Themen im Bereich der Mathematik, Naturwissenschaften (Physik, Chemie, →Geologie, Astronomie, Biologie), Medizin, Musik, Philologie und Geschichte. Seine Werke sind sowohl das Ergebnis einer immensen Belesenheit als auch einer umfangreichen Korrespondenz mit mehr als 700 Gelehrten und Ordensbrüdern. K.s Interesse an außereuropäischen Sprachen und Kulturen zeigt sich v. a. in seinen ägyptologischen und sinologischen Arbeiten. Er beschäftigte sich seit 1628 mit altägyptischen Hieroglyphen, die er als verschlüsselte Bilderschrift zu entziffern versuchte, und publizierte 1636 die erste Grammatik der koptischen Sprache (Prodromus coptus sive Aegyptiacus). In seinem Werk Lingua Aegyptica restituta (1643) identifizierte er Koptisch als letzte Entwicklungsstufe der altägyptischen Sprache. In Oedipus Aegyptiacus (1652) versuchte er sein Wissen über das alte →Ägypten mit der christl. Heilslehre zu verbinden. Mit China monumentis … illustrata legte er 1667 eine Enzyklopädie des chin. Ksr.s vor, die u. a. auf den Berichten seiner in China tätigen Ordensbrüder basierte und umfangreiches landeskundliches, geographisches und historisches Wissen mit mystischen und christl. Elementen verknüpfte. K.s großes Interesse an Sprachen und Sprachvergleichen mündete auch in die Entwicklung einer künstlichen Universalsprache. Paula Findlen (Hg.), Athanasius Kircher, New York 2004. Thomas Leinkauf, Mundus combinatus, Berlin 1993. MARK HÄBE RL E I N
Kiribati →Gilbert and Ellice Islands 428
Ki-Suaheli. Swá-h(i)l(i) bedeutet im klassischen Arabisch „Küste“. Eine multiethnische Gruppe, die sich in der Frühen Neuzeit an den Küsten Ostafrikas und auf den ihm vorgelagerten Inseln aus indigenen →Bantu, →Arabern, Indern, Sklaven aus dem Inneren Afrikas (→Sklaverei und Sklavenhandel) sowie in geringem Umfang hamitischen Äthiopiern und Sudanesen gebildet hatte, wird seit Mitte des 19. Jh.s als Suaheli oder Swahili bezeichnet. K., die Sprache der Suaheli, war in der Kolonialzeit die Verkehrs- und Handelssprache in Dt.- und Brit.-Ostafrika; es wurde auch im Norden →Mosambiks, an der Somaliküste bis nach →Mogadischu (neben Arabisch) und bis tief ins Kongobecken (→Kongo) hinein gebraucht, zumindest aber verstanden. K. ist eine echte vokalreiche Bantusprache. Da die Suaheli bis zur Mitte des 19. Jh.s begonnenen christl. Missionierung größtenteils Muslims waren, enthält die Sprache viele arab. Lehnwörter, v. a. aus dem kulturellen Bereich. Außerdem übernahm sie Begriffe aus dem Türkischen (Militär- und Waffenbezeichnungen, z. B. →Askari und Tschausch), dem →Hindi (Seefahrt, z. B. Dhau, und handwerkliche Begriffe) und dem Farsi (Persischen) sowie im Laufe der Kolonialisierung aus dem Englischen und in geringerem Umfang aus dem Deutschen (kindagaden, shule, pauze). Als feinste Ausdrucksformen galten das im Sultanat Lamu an der Küste →Kenias (für die Deutschland zwischen 1886 u. 1890 eine Schutzherrschaft anstrebte) gesprochene Ki-(L)Amu und der Dialekt von →Sansibar. Beide fanden seit Mitte des 19. Jh.s auch in der Literatur, insb. für Bibelübersetzungen, Verwendung. In →Dt.-Ostafrika wurde das Ki-Mrima gesprochen, das dem Dialekt von Sansibar ähnelt. Die Suaheli benutzten zunächst die arab. Schrift, die sich jedoch wegen der geringen Möglichkeiten zur Vokaldarstellung für die Sprache als nicht optimal geeignet erwies. Deshalb führte das Gouvernement →Dt.-Ostafrikas zwischen 1900 und 1905 für K. die lateinische Schrift ein. Diese setzte sich schnell durch. Bei ihr wurden von wenigen Ausnahmen abgesehen (Bedeutung von v, w und wh) für das Ki-Mrima die Lautwerte der dt. Sprache verwendet. Die Forderung aus dt. Pflanzerkreisen, die dt. Rundschrift auch für K. vorzuschreiben, lehnte die Kolonialverwaltung ab. Auch Brit.-Ostafrika entschied sich noch vor dem Ersten Weltkrieg für die lateinische Schrift. Q: Friedrich v. Nettelbladt, Suaheli-Dragoman. Gespräche, Wörterbuch u. prakt. Anleitungen zum Verkehr mit d. Eingeborenen in Dt.-Ostafrika, Leipzig 1891. Militärischer Suaheli-Sprachführer für Deutsch-Ostafrika, Daressalam 1913. Carl Velten, Suaheli-Wörterbuch, Berlin 1910. L: Lourenco Noronha, Geschichte d. Swahili-Sprache, Wien 2009 (http://www.swahili-literatur.at; 9.5.2013). G ERH A R D H U TZLER Kitchener, Horatio Herbert, 1st Earl Kitchener of Khartoum (1898), * 24. Juni 1850 Ballylongford, † 5. Juni 1916 westlich der Orkney Inseln, □ im Meer westl. d. Orkney Inseln, Gedenkstein Marwick Head, Orkney, anglik., Freimaurer s. 1883 (Kairo) Brit. Offizier (1910 Feldmarschall) und Politiker; diente 1883–1899 im →Sudan und seit 1890 als Sirdar (Oberbefehlshaber) der ägyptischen Streitkräfte. 1896–1899
klAs s en i n lAtei n A m eri k A
kommandierte er die Expedition, die zur Niederlage der →Mahdiyya und Wiedereroberung des Sudan führte. Im →Burenkrieg war K. Generalstabschef (1899–1900) und Oberbefehlshaber (1900–1902) der brit. Armee. Er brach brutal den Widerstand der →Buren. 1902–1909 Oberbefehlshaber in →Indien, seit 1911 brit. Generalkonsul in →Ägypten, 1914–1916 brit. Kriegsminister. Er kam während einer Reise nach Rußland 1916 ums Leben, als sein Kreuzer westlich der Orkney-Inseln auf eine von U 75 (Kdt. Kapitänltnt. Kurt Beitzen) verlegte Seemine lief und sank. George Cassar, Kitchener, London 1977. Philip Magnus, Kitchener: Portrait of an Imperialist, London 1958. John Pollock, Kitchener: Architect of Victory, Artisan of Peace, New York 2001. AL E Š S KŘI VAN S R. Klassen in Lateinamerika. Das sozialhistorische Konzept der K. hat eine ökonomische Prägung, da es – v. a. in den für L. zentralen marxistisch orientierten Analysen – die Stellung im Produktionsprozeß anzeigt. Dabei ist in der kapitalistischen Produktionsweise die Erzielung von Revenuen durch Kapital, Boden und Lohnarbeit von Bedeutung. Hervorzuheben ist der relationale Charakter von K., die nur in ihrem oft konfliktiven Verhältnis zueinander begriffen werden können, was in Begriffen wie Klassenkampf und Hegemonie zum Ausdruck kommt. In Bezug auf L. war die Klassenanalyse besonders in den 1960er und 1970er Jahren von herausgehobener akademischer und politischer Bedeutung, während sie in Folge der Militärdiktaturen der 1980er Jahre sowie des Kollaps des Sowjetblocks zu Beginn der 1990er Jahre an Bedeutung verlor. Im akademischen Feld regte sich zudem Kritik an der strukturalistischen Herangehensweise. Zunehmend wurden kulturalistische Perspektiven auf K. angewandt, die die Lebens- und Vorstellungswelten v. a. der Arbeiterklasse erkundeten. Angesichts der rezenten Krisen um die Jahrtausendwende sowie der aktuellen Linkswende in L. zeigt sich allerdings ein neues Interesse an der Analyse von Klassenverhältnissen. Eine Besonderheit der Klassenverhältnisse in L. stellt deren koloniale Prägung dar. Der peruanische Soziologie Aníbal Quijano analysiert wie sich in Folge der Conquista mit dem emergenten kapitalistischen Weltsystem ein ethnisches Klassifikationssystem herausbildete, das die Grundlage für Klassenbildungen in L. darstellte, und an deren unterster Stelle die Ausbeutung der Arbeitskraft der Indigenen und Schwarzen stand. Der Prozeß der Unabhängigkeit kann als eliteninterner Konflikt verstanden werden, der an der grundlegenden Sozialstruktur wenig veränderte. Eine neue Dynamik in den Klassenverhältnissen setzte im letzten Drittel des 19. Jh.s ein, als die kreolischen (→Kreole) Eliten ein auf den Weltmark gerichtetes „Export-Import-Modell“ implementierten, das auf dem Export von Primärgütern basierte – v. a. Cash Crops wie →Kaffee (→Brasilien, Nikaragua, →Venezuela), →Zucker (→Karibik), →Kakao (→Ecuador, Venezuela), →Bananen (Costa Rica, →Kolumbien) aber auch Wolle (→Peru), Weizen (→Chile), Fleisch, Vieh (→Argentinien, Venezuela). Auf dem Land setzte ein Prozeß des Land Grabbing ein bei dem v. a. indigene Gemeinschaften von ihrem Land vertrieben wurden, sei es durch Li-
beralisierung des Bodenmarktes (wie 1864 durch Melgarejo in →Bolivien) oder durch eine direkte Eroberungspolitik wie bei der „Befriedung der Araucania“ 1866– 1881 in Chile und Argentinien. Dabei wurden indigene Comuneros und Subsistenzbauern zunehmend einem Proletarisierungsprozeß unterworfen. Zudem ist in dieser Periode ein Aufschwung des →Bergbaus (Zinn in Bolivien, Kupfer und Salpeter in Chile) und eine beginnende Erdölförderung (→Venezuela und Mexiko) zu beobachten, die ebenfalls auf den Weltmarkt ausgerichtet waren. Mit diesen gingen Verschiebungen in der herrschenden K. einher, wobei neue exportorientierte Eliten, die oftmals dem Liberalismus zugewandt waren, hegemonial wurden. Auf Grund seiner Weltmarktausrichtung wurde dieses Wachstumsmodell stark von der Depression der 1930er Jahre getroffen. Als Reaktion auf die Krise wurden in ganz L. nationale Entwicklungsmodelle (→Entwicklung) implementiert, die eine importsubstituierende →Industrialisierung (ISI) anstoßen sollten. Zu nennen sind hier die Projekte von Juan Domingo Perón in Argentinien, Víctor Raúl Haya de la Torre in Peru, Getúlio Vargas in →Brasilien sowie von Lázaro Cardenas in Mexiko. Dieses gesellschaftliche Entwicklungsmodell hatte bis zu Beginn der frühen 1980er Jahre mit regionalen Abweichungen in ganz L. Bestand. Mit der Industrialisierungspolitik ist das Anwachsen einer urbanen Arbeiterklasse festzustellen. Bereits in den 1960er Jahren war der Großteil der ökonomisch aktiven Bevölkerung in L. nicht mehr in der Landwirtschaft tätig, womit zwischen 1960 und 1980 das Industrieproletariat demographisch und politisch in seinem Zenit stand. Politisch drückte sich dies in einem zunehmenden Organisationsgrad v. a. in Gewerkschaften aus. Dennoch blieb das Industrieproletariat – gerade im Vergleich zu den industriellen Entwicklungsprozessen in den →USA – relativ klein. Statt dessen ist die Zusammensetzung der Arbeiterklasse durch einen hohen Anteil am informellen urbanen Proletariat gekennzeichnet, das v. a. von nicht formellen Arbeitsbeziehungen lebt. Sozialräumlich spiegelte sich dies in den seit den 1950er Jahren anwachsenden Slumgürteln der Großstädte L.s wider. Politisches Bewußtsein wurde hier weniger über die Stellung im Produktionsprozeß gebildet, sondern eher über räumlich erfahrbare Probleme in der Lebenswelt, wie der Zugang zu Wasser, Strom, etc. Dies führte – so Manuel Castells – dann im Rahmen von Pobladores-Bewegungen eher zu Konflikten mit der bürokratisch-technischen K., aber nicht zur Intensivierung des „Klassenkampfes“ mit der herrschenden K. In der ISI-Phase gab es die generelle Tendenz, Klassenkonflikte durch Inklusion in den zunehmend korporatistisch organisierten Staat zu integrieren. Eine Tendenz, die sich im „co-gobierno“ von Gewerkschaften und Reg. in postrevolutionären Bolivien ebenso widerspiegelte wie im System der „perfekten Diktatur“ der PRI in Mexiko oder dem →Peronismus in Argentinien. Der →Populismus fungierte als klassenübergreifender Integrationsmechanismus, der über Antiimperialismus und Nationalismus artikuliert wurde. Eine ähnliche klassenübergreifende Bündnispolitik verfolgten auch die kommunistischen Parteien, die gemäß dem Diktat des III. Weltkongresses der →Komintern unter der Losung der antifaschistischen 429
k l A s s e n i n l At e i n A m er i k A
Einheitsfront klassenkämpferische Positionen gegenüber der „Verteidigung des Sozialismus in einem Lande“, der Sowjetunion, hinten anstellten. Mit dem ISI-Modell kam es zu Verschiebungen in der herrschenden K., wobei v. a. die traditionelle Agrar- und Handelsoligarchie an Bedeutung verlor. Im Rahmen des ISI-Modells hatten die herrschenden Eliten allerdings eine ambivalente Stellung inne. Einerseits betrieben sie eine Stärkung des Staatsapparats, von dem sie Revenuen erzielten. Dies gilt v. a. für die Mittelklasse, die im Rahmen des ISI-Modells massiv in den Staatsapparat drängte, wobei sie sich als eine urbane, technokratisch-bürokratische K. ausbildete. Andererseits besetzten Sektoren der herrschenden K. Führungspositionen in den Niederlassungen transnationaler Konzerne, die v. a. nach dem →Zweiten Weltkrieg in L. an Bedeutung gewannen. Kritische Stimmen, wie die von Andre Gunder Frank, konstatieren, daß die Bourgeoisie – als „Lumpenbourgeoisie“ – damit ihrer historischen Mission der Gewährleistung von eigenständiger kapitalistischer Entwicklung nicht gerecht wurde. In den ländlichen Regionen wurden die quasi-feudalen Abhängigkeitsverhältnisse, die durch →Hacienda u. andere Formen des Großgrundbesitzes bestimmt waren, im Zuge der Agrarreformen der 1960er und 1970er Jahre aufgelöst. Allerdings führten diese in den meisten Fällen zu einer Modernisierung der Besitz- und Ausbeutungsstrukturen auf dem Lande, was in einer zunehmenden Semi-Proletarisierung der Bauern, die mit Land-Stadt(Pendel-)Migration einhergeht, ihren klassenspezifischen Ausdruck fand. Paradoxerweise drückte sich dies nicht in den politischen Kämpfen und Organisationsformen aus. Nach den Agrarreformen ist ein Niedergang kommunistisch bzw. sozialistisch orientierter Bauernbewegungen festzustellen. Statt dessen nahmen ethnische Organisationsformen an Bedeutung zu, die in den 1990er Jahren in weithin gesellschaftlich sichtbare Indígena-Bewegungen mündeten. Im Kontext der Schuldenkrise der 1980er Jahre und in Folge der Zuspitzung der sozialen Kämpfe in den 1970er Jahren etablierten sich in L. Diktaturen und →autoritäre Regime, die zunehmend nicht auf die Restauration alter Eliten hinwirkten, sondern die Gesellschaften nach neoliberalen Richtlinien umgestalteten, wie dies idealtypisch am Beispiel Chile erfolgte. In den 1990er Jahren hatten alle lateinam. Länder – mit Ausnahme →Kubas – ihre Wirtschaften und Gesellschaften nach neoliberalen Prinzipien strukturiert, was eine grundlegende Veränderung der Klassenverhältnisse mit sich brachte. Allg. ist eine Pulverisierung und Fragmentierung der Sozialstruktur festzustellen. Mit der neoliberalen Politik des →Freihandels war ein Preisverfall auf den nationalen Agrarmärkten verbunden, der viele Kleinbauern in den Ruin trieb. Parallel dazu führte die selektive Weltmarktintegration auf der Grundlage von Primärgütern wie Obst, Holz, Mais, Soja und jüngst Palmöl zu einem forcierten Prozeß des Landgrabbing, der eine weitere Konzentration von Land in den Händen von transnationalen Konzernen mit sich brachte. Vertrieben oder zurückgedrängt auf kleine unfruchtbare Parzellen, verstärkten sich Prozesse der Migration und der Semi-Proletarisierung von Bauern, die in ganzen Regionen zu einer schleichenden „Ent-Bäuerlichung“ führten. 430
Politische Reaktionen hierauf sind die Landlosenbewegung – v. a. in Brasilien, aber auch in →Paraguay und Bolivien – sowie gerade auch indigene Bewegungen, die das Recht auf Land betonen. Infolge der Privatisierung von Staatsbetrieben, wirtschaftlicher Deregulierung, Deindustrialisierungsprozessen, neuen Management- und Betriebsführungsmodellen (Outsourcing) ist eine Pulverisierung der Arbeiterklasse festzustellen, zumal auch das spezifische Milieu, das für das Entstehen von Klassenbewußtsein notwendig ist, nicht mehr vorhanden ist. Zudem haben die Militärdiktaturen und autoritären Regime die Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften oft gewaltsam zerschlagen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion rief zudem ein ideologisches Vakuum hervor. Mit den prekären Beschäftigungsverhältnissen verschwimmen die Grenzen zwischen formellem und informellem Sektor, zu nennen sind dabei u. a. Formen der Heimarbeit, Out-Sourcing und die Etablierung von „Ein-MannUnternehmen“, Mehrfachbeschäftigung, Senkung der Reallöhne. In Bezug auf die Beziehungen zwischen K. und Gender ist eine Feminisierung von Arbeit festzustellen. V. a. im formellen Proletariat (v. a. Industriearbeiter) und Kleinbürgertum erhöhte sich der Anteil von weiblicher Beschäftigung, während der Anteil von Männern im informellen Sektor anstieg. In diesem Sinne ist auf die Bedeutung von Frauenarbeit in der Maquila ebenso hinzuweisen, wie auf deren Bedeutung in der Agrarexportwirtschaft (Schnittblumen, Gemüse, Obst). Entspr. wurde diese Annäherung nicht durch eine Verbesserung der Stellung der Frauen verursacht, sondern eher dadurch, daß Männer die Klassenleiter herunterfielen. Eine der größten sozialstrukturellen Veränderungen neoliberaler Reformen ist das Auseinanderklaffen der sozialen Schere und die damit einhergehende Krise der Mittelklassen, die sich in Verarmungstendenzen und einer „neuen Armut“ ausdrückt. Strukturell ist diese verbunden mit der Schuldenkrise der 1980er Jahre, den nachfolgenden Strukturanpassungsprogrammen, der Reduktion des öffentlichen Sektors und den Arbeitsmarktreformen der 1990er Jahre. Die Fraktionen der Mittelklasse, die mit dem Export-Import-Modell, dem Finanzdienstleistungs- und Versicherungswesen sowie dem Immobiliensektor verbunden sind, konnten zumeist aufsteigen, während das Gros von ehem. Staatsbediensteten, Kleinund Mittelständischen Unternehmen einen Statusverlust hinnehmen mußte oder in die Unterschicht abstieg. Die „neuen Armen“ stellen insofern eine „hybride Schicht“ dar, da sie kulturell und sozial eine Nähe zu den mittleren und oberen Sektoren aufweisen, sich aber im Hinblick auf Einkommen, Beschäftigungsverhältnisse und soziale Sicherung von diesen unterscheiden und den „strukturell Armen“ annähern. Radikal zu Ende gedacht, würden die neoliberalen Transformationsprozesse auf eine bipolare Sozialstruktur hinauslaufen, wobei sich eine kosmopolitische Elite und eine informelle, intern fragmentierte Unterklasse enormen Ausmaßes gegenüberständen. Doch weisen die alten K. trotz ihrer objektiven Auflösungstendenzen großes identitätspolitisches Beharrungsvermögen auf. Dies spricht für eine kulturpolitische Erweiterung der Klassenanalyse.
kli m A
Dieter Boris u. a. (Hg.), Sozialstrukturen in Lateinamerika. Ein Überblick, Wiesbaden 2008. Alejandro Portes, Latin American Class Structures, in: Latin American Research Review 20,2 (1985), 7–39. OL AF KALT ME I E R Klientelismus. Asymmetrisches, informelles Abhängigkeitsverhältnis zweier ungleicher Parteien in Form personaler Beziehungen. Der Klient erhält wirtschaftliche Güter, Vorteile oder Dienstleistungen und leistet seinem höher gestellten und einflußreichen Patron dafür politisch und/oder militärische Gefolgschaft. Etymologisch leitet sich der Begriff K. von clientela (lat. Schutzverwandtschaft, Gefolgschaft) ab. Betrachtet man den K. von der Seite des Patrons aus, so wird er als Patronage bezeichnet. Im Mittelalter entwickelte sich diese aus der Antike stammende Beziehungsform zu einem Abgabedienstverhältnis. Der Klient leistete Militär- und/oder Frondienste und bezahlte Steuern oder einen Naturalienwert an seinen Herrn, auf dessen Land er lebte und arbeitete und der ihn vor äußeren Feinden beschützte. Durch die Conquista und die span. Herrschaft in →Amerika hielt der K. Einzug in die Neue Welt. Das stark ausgeprägte hierarchische Machtgefälle trug dazu bei, daß diese feudalistische Tradition in →Lateinamerika sehr lange überleben konnte. Auch die Unabhängigkeit konnte diese Strukturen nicht aufbrechen, mehr noch, durch den Wegfall der monarchischen Autorität war der Weg frei für einen neuen spezifisch lateinam. Herrschertypus, den Caudillo (→Caudillismo). Die gigantische Fläche des Doppelkontinentes war Anfang des 19. Jh.s dünn besiedelt. Die neu entstandenen Staaten wurden zentralistisch aus den jeweiligen Hauptstädten regiert. Dadurch war eine Herrschaftsausübung bis in die Randgebiete der jeweiligen Staaten nur begrenzt möglich. Die politischen Institutionen galten als schwach und boten der Landbevölkerung keinen oder nur wenig Schutz. Aus diesem Grund vertrauten die landlosen Bauern sich den einflußreichen hacenderos, den Eigentümern großer Farmen, an. Diese Gutsbesitzer galten auf Grund ihrer Position und Macht als Respektspersonen, denen die lokale Bevölkerung auch wegen ihrer Führungsqualitäten Loyalität zollte. Mit der Entwicklung des Parlamentarismus und dem damit verbundenen Wahlsystem veränderte sich im Laufe des 19. Jh.s der K. weiter und wurde zu einem seiner zentralen informellen Bestandteile. Parteien entwickelten sich, die selbst auf einer bestimmten Klientel gründeten, deren spezifisches Interesse aber darin bestand, sich die Wählerstimmen weiterer Klientel zu sichern. Der Patron als derjenige, der einerseits Macht und Einfluß auf die Reg. (welche die Ressourcen und Ämter verteilte) und andererseits auf die Massen (die mit ihrer Stimme das Wahlergebnis beeinflußen) ausübt, übernimmt damit die Rolle eines Mittlers (broker). Dabei scheint Gewalt nicht der ausschlaggebende Faktor zu sein. Vielmehr bestimmen Religion und Tradition sowie kulturelle Werte, Normen und familiäre Bindungen (→Compadrazgo) dieses Abhängigkeitsverhältnis. Dies kann auch als Grund dafür angesehen werden, daß der K. in Lateinamerika bis in die heutige Zeit Bestand haben konnte. Landflucht und →Industrialisierung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. ließen in den
Randbezirken der Großstädte wachsende Arbeiterquartiere entstehen. Die neu hinzugekommenen Bevölkerungsgruppen (Arbeiter, Lumpenproletariat) waren noch nicht in ein Patronatsverhältnis eingebunden. Um ihre Unterstützung und damit ihre Wählerstimmen zu gewinnen, versprach man ihnen soziale Reformen. Caciagli bezeichnete diese Form als neuen K.: „Der neue K. ist die Art, in der die Vertreter der Apparate (die Berufspolitiker) öffentliche Ressourcen und Vergünstigungen im Tausch gegen Wahlunterstützung verteilen“ (Caciagli, 1997). Dies führt zu einer Entpersönlichung der Beziehungen. Ansehen und Ehre des Patrons erscheinen als zweitrangig, materielle Vergünstigungen rücken in den Vordergrund. Dadurch hielt die Korruption Einzug in den K. und schwächte die staatliche Ordnung. Andererseits beinhaltet der K. auch positive Seiten für den Staat, da er durch seinen sozial-solidarischen Charakter Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (Armenfürsorge, Sozialleistungen) übernimmt. Schließlich wird man ihm eine begrenzte Integrationsfunktion nicht absprechen können, da durch ihn gesellschaftliche Randgruppen in den politischen Prozeß eingebunden werden. Mario Caciagli, Klientelismus, in: Dieter Nohlen u. a. (Hg.), Die östlichen und südlichen Länder, München 1997. Andres Jouannet Valderrama, Politische Parteien in Lateinamerika, Heidelberg 2003. Peer Schmidt, Wahlen und Parlamente in Lateinamerika im 19. Jh., in: Periplus 9 (1999), 39–59. STEPH A N K R O EN ER Klima. Bezeichnung für die Gesamtheit der für ein bestimmtes Gebiet langfristig charakteristischen Witterungserscheinungen; die Elemente des K. (z. B. Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Niederschläge) werden u. a. beeinflußt von der Höhenlage und der geographischen Breite, in der sich das jeweilige Gebiet befindet. Nach diesen Faktoren wird die Erde vom Äquator ausgehend in folgende K.zonen eingeteilt: Tropen, Subtropen, gemäßigte Zonen, kalte Zonen. Im Zusammenhang mit dem europäischen →Kolonialismus hatte das K. entscheidenden Einfluß auf die Anzahl der – an das K. gemäßigter Zonen gewöhnten – Europäer, die sich in der jeweiligen Kolonie dauerhaft niederließen. Während in den angelsächsischen Siedlerkolonien →Kanada, →Australien und Neuseeland, (→Aotearoa), die ganz oder teilweise in gemäßigten K.zonen lagen, der europäische Bevölkerungsanteil 1913 über 90 % erreichte, betrug er in Kolonien, die in den Tropen oder Subtropen lagen, meist deutlich unter 2 % (z. B. in Brit.-Indien und →Belg.-Kongo je 0,1 %). In subtropisch gelegenen Kolonien war der Anteil der europäischen Bevölkerung nur dann signifikant größer, wenn diese Kolonien europäischen Siedlern wirtschaftlich besonders interessant erschienen. Das traf lediglich auf die →Südafrikanische Union (21,4 %), →Algerien (14,3 %) und →Dt.-Südwestafrika (12 %) zu. Für die i. allg. in Tropen und Subtropen sehr geringe Zahl der Europäer waren das für diese schwer erträgliche K. sowie Tropenkrankheiten (→Tropenerkrankungen) verantwortlich. Bereits bei der Aneignung der dort gelegenen Kolonien waren erheblich mehr europäische Soldaten durch Krankheiten als durch Kampfhandlungen umgekommen, weshalb man die zur Sicherung des Kolonialbesitzes 431
k n A P P e , w il h e l m
aufgestellten Truppen überwiegend aus Einheimischen rekrutierte. Philip D. Curtin, Death by Migration. Europe’s Encounter with the Tropical World in the Ninteenth Century, Cambridge 1989. Bouda Etemad, Pour une approche démographique de l’expansion colonial de l’europe, in: Annales de Démographie Historique, Nr. 1/2007, 13–32. CHRI S TOP H KUHL
Knappe, Wilhelm, * 10. Oktober 1855 Erfurt, † 5. Februar 1910 Berlin-Grunewald, □ Waldfriedhof Grunewald / Berlin, rk. Der Volljurist K. trat am 22.1.1883 ins Auswärtige Amt ein. Er war geschäftsführender Vize-Konsul in Apia (21.4.1885–1.2.1886) und etatmäßiger ksl. Kommissar für die Marshall-Inseln im Range eines Konsuls (Juli 1886–5.10.1887). Dort traf er jedoch erst am 24.12.1886 nach einer Forschungsreise durch Dt.-Neuguinea ein, über die er auftragsgemäß →Bismarck berichtete. Vom 17.6.1888 bis Juni 1889 fungierte er erneut als etatmäßiger Konsul in Apia. K. war Mitauslöser der „SamoaKrise“, die zu Spannungen mit Großbritannien und den →USA führte, weshalb ihn Bismarck – „furor consularis“ – vom Dienst suspendierte. Von Paul →Krüger am 14.1.1891 zum Direktor der Nationalbank der BurenRep. (→Buren) →Transvaal berufen, reorganisierte K. diese erfolgreich. Durch Marschall v. Bieberstein ins Auswärtige Amt zurückgeholt, wurde er Konsul in →Kanton (10.1.1895–3l.3.1898) und Generalkonsul in Shanghai (9.5.1899–4.11.1905). Am 1.1.1906 wurde er infolge einer Tropenkrankheit mit dem Charakter eines Geheimen Legationsrates in den Ruhestand versetzt und wirkte fortan als Aufsichtsratsvorsitzender der →Dt.Asiatischen Bank (1906–1910). Die Ethnologie würdigt K. als kenntnisreichen und engagierten Forscher. Seine umfangreiche völkerkundliche Sammlung mit teilweise einzigartigen Exponaten aus der Südsee schenkte K. seiner Vaterstadt. Dort ist sie jetzt im Schaudepot des Museums für Thüringer Volkskunde ausgestellt. Steffen Raßloff, Wilhelm Knappe, Jena 2005. GE RHARD HUT Z L E R
KNIL (Koninklijk Nederlands-Indisch Leger, dt. „Kgl. Ndl.-Ind. Armee“) war eine fast ausschließlich von europäischen Offizieren befehligte, multiethnisch zusammengesetzte Kolonialarmee, die 1830–1950 im Gebiet des heutigen →Indonesien militärisch aktiv war. Sie wurde als Nederlandsch-Oost-Indisch Leger am 4.12.1830 gegründet. Das Prädikat Koninklijk wurde 1836 verliehen. Erst 1933 wurde auf Veranlassung des Ministerpräs. Hendrik Colijn (1869–1944) die Bezeichnung Koninklijk Nederlands-Indisch Leger offiziell verwendet. Kurz vor ihrer Aufhebung folgte 1948 noch die Namensänderung in Koninklijk Nederlands-Indonesisch Leger. Das Museum Bronbeek in der Nähe von Arnheim ist der Geschichte der KNIL gewidmet (http://www.defensie.nl/ cdc/bronbeek). Die KNIL blieb lange eine →Fremdenlegion. In den Anfangsjahren stellten Nicht-Niederländer, v. a. Belgier, Deutsche und Franzosen, sogar die Mehrheit unter den europäischen Truppen. Erst Ende des 19. Jh.s war der Anteil nicht-ndl. Europäer auf ca. ¼ gesun432
ken. An einheimischen Soldaten wurden hauptsächlich Javaner (→Java) und weiterhin die christl. Menadonesen und Ambonesen angeworben. Zwischen 1830 und 1872 wurden 3 000 Afrikaner an der Goldküste aus der →Sklaverei „freigekauft“, um daraufhin in den Einheiten der KNIL dienen zu müssen. Die größte Stärke wurde 1898, also in der Phase des aggressiven Hochimperialismus, erreicht: 1 442 Offiziere und 42 235 Unteroffiziere und Soldaten, ca. 40 % der Truppe war 1898 europäischer Herkunft. Bis 1910 kam es immer wieder zu Expeditionen im indonesischen Archipel, die letztendlich dazu führten, daß die gesamte Inselwelt des heutigen Indonesien unter ndl. Herrschaft zur politischen Einheit wurde. Bekanntester und blutigster Konflikt war der sog. AcehKrieg (1873–1913). Man schätzt, daß in 40 Kriegsjahren 12 000 Soldaten und 25 000 Zwangsarbeiter auf ndl. Seite umgekommen sind, während die Aceher 60 000 bis 70 000 Menschen zu beklagen hatten (→Aceh). 1890 wurde das Korps Marechaussee als Antwort auf die acehische Guerillataktik gegründet. Die Männer dieser Spezialeinheit erwarben einen gefürchteten Ruf als rücksichtslose Dschungelkämpfer. V. a. das brutale und grausame Auftreten dieser Kommandos unter Gotfried van Daalen (1863–1930) 1904 erlangte traurige Berühmtheit, als ganze Dörfer im Norden →Sumatras niedergebrannt und ihre Bewohner komplett niedergemetzelt wurden. Obwohl Van Daalen in der ndl. Öffentlichkeit heftig kritisiert wurde, erhielt er dennoch von der begeisterten Kg.in Wilhelmina (1880–1962) als Dank für die erfolgreiche „Pazifikation“ eine hohe ehrenvolle Auszeichnung. Die Kolonialarmee hat sich immer primär der Unterdrückung innerer Feinde gewidmet und war ihrer sekundären Aufgabe, der Außenverteidigung, nie gewachsen. Sie war eine kleine Macht mit beschränkten Mitteln. 1940 hatte das Berufsheer nur eine Stärke von knapp 39 000 Mann. Nach dem jap. Angriff auf Pearl Harbor am 7.12.1941 erklärten die Niederlande am nächsten Tag Japan den Krieg. In einer Schlacht in der Javasee am 27.2.1942 wurde die alliierte Flotte unter Befehl des ndl. Konteradmirals Karel Doorman (1889–1942) vernichtend geschlagen. In der Nacht vom 28. Febr. auf den 1. März landeten jap. Truppen fast problemlos an der javanischen Nordküste. Die Niederländer bekamen keinerlei Unterstützung seitens der indonesischen Bevölkerung und am 8.3.1942 mußten die ndl. Truppen bereits kapitulieren, womit →Ndl.-Indien faktisch nicht mehr existierte. Nach dem →Zweiten Weltkrieg beteiligte sich die KNIL am ndl.-indonesischen Unabhängigkeitskonflikt (1945–1949), allerdings nur als quantitative Minderheit gegenüber einer Mehrheit von Koninklijke Landmacht („kgl. Heer“) aus den Niederlanden. Eine Sondereinheit der KNIL, Speciale Troepen (vgl. engl. „special forces“) genannt, wurde für die „Terrorbekämpfung“ errichtet. Unter Leitung von Hauptmann Raymond Westerling (1919–1987) übte sie in Süd-Sulawesi und West-Java zwischen 1946 und 1948 einen grausamen Gegenterror aus. Die ndl. Behörden hatten Westerling bewußt freie Hand gelassen und seine Spezialtruppe mit einer Blankovollmacht ausgestattet, nie ist es zu irgendwelchen gerichtlichen →Strafen gekommen. Die Themen „Krieg“ und „Kriegsverbrechen“ der Kolonialvergangenheit
ko l A
bleiben auch bis heute noch im ndl. Diskurs weitgehend tabuisiert. In offiziellen Äußerungen wird bloß euphemistisch von „Exzessen“ oder „Entgleisung der Gewalt“ gesprochen. Auf Grund des kgl. Erlasses (Koninklijk Besluit) vom 26.7.1950 wurde die KNIL definitiv aufgelöst. Ein Großteil der ehem. KNIL-Militärs trat in die indonesische Armee ein, die Übertragung der molukkischen KNIL-Soldaten erwies sich jedoch als äußerst problematisch. Die ndl. Reg. beschloß deshalb, 4 000 von ihnen mit deren Familien mittels Dienstbefehl zunächst in den Niederlanden aufzunehmen. Dort angekommen, erfuhren diese ostindonesischen KNIL-Soldaten jedoch, daß sie sofort entlassen waren. Eine Rückkehr auf die →Molukken war für sie indes politisch völlig illusorisch. Die sog. Süd-Molukker zogen 1951 in die alten Baracken des ehem. NS-Durchgangslagers Westerbork, die bis in die siebziger Jahre bestehen bleiben sollten. In der postkolonialen Zeit blieb die sehr heterogen zusammengesetzte indonesische Armee noch lange von einem Konflikt zwischen den professionellen, „unpolitischen“ Ex-KNIL-Offizieren und den nationalistischen ExPETA-Soldaten (PETA, Pembela Tanah Air „Verteidiger des Vaterlandes“) behaftet. Die vom jap. Faschismus geprägten ehem. PETA-Soldaten betrachteten das Militär als „Seele der Nation“, während die besser ausgebildeten vormaligen KNIL-Offiziere in der unabhängigen indonesischen Armee die wichtigsten strategischen Funktionen innehatten (unter ihnen der Stabschef des Heeres, Abdul Haris Nasution (1918–2000), und der Stabschef der Streitkräfte, Tahi Bonar Simatupang (1920–1990) und für eine Modernisierung der Streitkräfte eintraten. Martin P. Bossenbroek, Van Holland naar Indie, Amsterdam / Dieren 1986. Jacobus A. A. van Doorn / Willem J. Hendrix, Het Nederlands-Indonesisch conflict, Amsterdam / Dieren 21983. Carel A. Heshusius, Soldaten van de kompenie. KNIL 1830–1950, Houten 1986. Andreas Ufen, Die Streitkräfte Indonesiens im Wandel, in: Österr. Militärische Zeitschrift 5 (2004), 543–500. E DWI N WI E RI NGA
Koch, Robert, * 11. Dezember 1843 Clausthal, † 27. Mai 1910 Baden-Baden, □ Mausoleum Robert-Koch-Institut Berlin, ev.-luth. K. studierte in Göttingen Medizin, wo er 1866 promovierte. Nach verschiedenen Anstellungen wandte er sich zunächst der Erforschung des Milzbrandes zu. Dabei konnte er erstmals einen Mikroorganismus als Ursache einer Infektionskrankheit identifizieren. Er bediente sich dabei den Techniken der Mikroskopie und der mikroskopischen Färbetechnik. Ab 1880 arbeitete K. am Ksl. Gesundheitsamt in Berlin, wo er seine Forschungen zur bakteriologischen Methodik ausbauen konnte. 1882 entdeckte er den Erreger der →Tuberkulose, 1883 gelang K. in →Indien erstmals der Nachweis des Choleraerregers (→Cholera). 1885 wurde K. zum Prof. für Hygiene am neugegründeten hygienischen Institut der Universität Berlin berufen. Das von ihm in den folgenden Jahren entwickelte Tuberkulin konnte langfristig gesehen zwar nicht als Heilmittel, aber als Diagnostikum für „Schwindsucht“ eingesetzt werden. Am 1.7.1891 öffnete das „Kgl. Preußische Institut für Infektionskrankheiten“
unter der Leitung K.s seine Pforten. In den kommenden Jahren unternahm er mehrere →Expeditionen zur Erforschung von Tropenkrankheiten, u. a. in die dten. Kolonien →Dt. Ostafrika u. →Dt. Neuguinea (→Südafrika 1896/97 Rinderpest; Indien 1897 Beulenpest; 1897/98 u. 1905 Dt.-Ostafrika, 1900 Dt.-Neuguinea Malaria; 1903 Rhodesien, 1906/07 Uganda). Als Krönung seines Lebenswerkes erhielt er 1905 den Nobelpreis. Thomas Brock, Robert Koch, Washington D.C. 1999. Johannes W. Grüntzig / Heinz Mehlhorn, R. K. Seuchenjäger u. Nobelpreisträger, Heidelberg 2010. SU SA N N E FISC H ER
Kola, K.nuß, K.baum. Gattung Cola Schott et Endl., Familie Sterculiaceae (ca. 60 Arten); wirtschaftlich bedeutungsvoll ist v. a. Cola nitida. Bäume im tropisch-humiden Afrika, vorwiegend in Westafrika mit Zentrum Nigeria (auch in der →Karibik, Südamerika und Ostasien), werden bis zu 25 m groß; Früchte (Sammelbalgfrucht) mit ca. 5 bis 9 etwa kastaniengroße Samen, die K.-Nüsse genannt werden. In Afrika waren K.-Nüsse eine gesuchtes Stimulans, sie galten als Status- und Gastgeschenke, Kommodität und der Verzehr war ein sozialer und sogar religiöser Akt. Zunächst rot, rosa oder weiß, werden die Samen beim Trocknen rotbraun bis rot. Sie enthalten rund 2 % Koffein, Theobromin und Kolanin (Herzstimulans). Gerbstoffe bedingen zunächst beim Kauen einen bitterlichen Geschmack, der im Speichel in süß übergeht. Zerriebene K.-Nüsse wurden Trinkwasser beigesetzt, um es frisch zu erhalten und nach langer Lagerung in Fässern den Geschmack zu verbessern. Eines der Probleme der →Mittelpassage (→Atlantikkreolen, →Sklavenhandel u. Sklaverei) war es, Wasser in den Fässern frisch und geschmackvoll zu halten und das Wachstum von Mikroben sowie Algen aufzuhalten. Dazu wurden Brandy (→Rum, cachaça) sowie Tamarinden-Paste und v. a. K.-Nüsse genutzt. Mit K. versetztes Wasser oder Wasser nach dem Kauen von K. getrunken, wurde als eine Art erfrischender Weißwein mit natürlicher Süße beschrieben, das auch noch den Hunger betäubte („Illusion von Süße“; Erfrischungsgefühl durch höheren Koffeingehalt als Kaffeebohnen). K.-Handel wurde in Karawanen betrieben, die oftmals auch Verschleppte aus dem Innern Afrikas zu westafrikanischen Küsten brachten. Sklavenschiffskapitäne kauften, zusätzlich zu afrikanischen Lebensmitteln, Vieh, Fleisch, Gewürze und Gemüse, große Mengen von K.-Nüssen (oft in Blätter gehüllt und in aus Seilen gefertigten Körben). Wenn mehr als 40 000 Sklavenhandelsfahrten (www.slaveryvoyages.org) angenommen werden, muß der Bedarf an K.-Nüssen des atlantischen Sklavenhandels, neben dem afrikanischen Verbrauch, von ganz erheblicher Bedeutung gewesen sein. Die K.nuß wurde durch den atlantischen Sklavenhandel und die Lebensweise der Atlantikkreolen schnell auch in der kreolischen Kultur des Sklavenhandels-Atlantiks (→Kreolisierung) und in den Zentren der Sklaverei (→Ingenio, →Plantagen) bekannt und wurde unter Namen wie bissy, goora oder obí Teil der „authentisch“-afrikanischen liturgischen Praktiken von Widerstandsreligionen, v. a. Candomblé (Bahia) und Santeria (Westkuba) (→Sklavenreligionen). Die weite 433
k o l c h A k, Al e �A n d er wA s i li j ew i ts c h
Verbreitung von K., die Bekanntheit als Stimulans und Droge führten dazu, daß sie einen wichtigen Bestandteil des vom Apotheker John S. Pemberton in den 1880er Jahren erfundenen dunkelbraunen Zucker-Sirups „CocaCola“ (Koka-Blätter- und K.-Nuß-Auszüge) bildeten, der mit Soda getrunken wurde und gegen Müdigkeit, Kopfschmerzen, Depressionen, Impotenz sowie der Modekrankheit Neurasthenie helfen sollte; mit Alkohol kam es aber auch zu bedenklichen Wirkungen. Judith A. Carney, Richard N. Rosomoff, In the Shadow of Slavery. Africa’s Botanical Legacy in the Atlantic World, Berkeley 2009. Gunther Franke (Hg.), Nutzpflanzen der Tropen und Subtropen, Bd. 3, Stuttgart 1994. Paul E. Lovejoy, Caravans of Kola: The Hausa Kola Trade, 1700–1900, Zaria / Nigeria 1980. MI CHAE L Z E US KE Kolchak, Alexander Wasilijewitsch, * 16. November 1874 St. Petersburg, † 7. Februar 1920 Irkutsk, □ unbek., russ.-orth. Nach seinem Studium an der Marinehochschule in St. Petersburg diente K. von 1895 bis 1899 als Offizier der ksl.russ. Marine in Wladiwostok. 1900 nahm er, zurückgekehrt nach St. Petersburg (Kronstadt) an der Polarexpedition unter Leitung Eduard Tolls teil. Anschließend führte er vor dem Russ.-Jap. Krieg noch drei →Expeditionen in die russ. Arktis durch. Für seine nautischen und wissenschaftlichen (hydrologischen) Verdienste wurde er von der →Russ. Geographischen Gesellschaft ausgezeichnet. Während des Russ.-Jap. Krieges von 1904/05 erhielt K. das Kommando auf dem Kreuzer Askold, später auf dem Zerstörer Serdityj. Er nahm an der Seeschlacht von Port Arthur teil, wo er den jap. Kreuzer Takasago versenken konnte, was ihm den St. Anna-Orden einbrachte. Gegen Ende des Krieges geriet er in jap. Kriegsgefangenschaft, wurde jedoch bald repatriiert. Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg war K. maßgeblich an der Reorganisation der zaristischen Marine beteiligt und wurde 1906 in das Marineoberkommando berufen. Während des Ersten Weltkrieges war er für die Küstenverteidigung der Baltischen Flotte zuständig. Im Aug. 1916 wurde K. zum Vizeadmiral und zum Kommandeur der russ. Schwarzmeerflotte ernannt. Hier war er für Seeoperationen gegen das →Osmanische Reich verantwortlich. Während des russ. Bürgerkrieges, der von 1918 bis 1920 dauerte, war er ein führender Kopf der antibolschewistischen Bewegung. Im westsibirischen Omsk errichtete er die (weiße) Sibirische Regionale Reg. Mißstimmigkeiten innerhalb der Reg. führten zur Verhaftung der Sozialrevolutionäre und zur Errichtung einer Militärdiktatur unter K. Die Sozialrevolutionäre begannen daraufhin Ende 1918 / Anfang 1919 Verhandlungen mit den Bolschewiki – eine Allianz, die schließlich im Jan. 1920 zu seinem Sturz und seiner Hinrichtung führte. Sein Scheitern im Bürgerkrieg ist darauf zurückzuführen, daß er – obwohl ein erfolgreicher militärischer Befehlshaber – politisch unerfahren war. Seine Militärdiktatur besaß keine Unterstützung in der Bevölkerung →Sibiriens. Um seine Truppen während des Bürgerkrieges zu unterstützen, ordnete K. Getreiderequisitionen an, die die Bauern in Distanz zu seinem Regime brachten. Ebenso wenig fand K. eine soziale Basis in der sibirischen Arbeiterschaft. Seine 434
Wirtschaftspolitik war unternehmerfreundlich orientiert, da die Förderung der Unternehmer als Voraussetzung für die Gesundung der sibirischen Wirtschaft angesehen wurde. Sein wirtschaftsliberaler Kurs bewirkte, daß die Rechte der Arbeiter zunehmend beschnitten wurden, da man grundsätzlich davon ausging, daß das „Proletariat“ mit dem Bolschewismus sympathisierte. Nicht nur der Achtstundentag wurde wieder abgeschafft, die Ausweitung des Arbeitstages auf zwölf und mehr Stunden rechtfertigte man mit dem Hinweis auf die durch den Bürgerkrieg bedingte schlechte wirtschaftliche Lage. Zudem hatte K. in der Armee mit Korruption und Disziplinlosigkeit zu kämpfen. V. a. die indigene Bevölkerung Sibiriens hatte unter den marodierenden Kampfeinheiten zu leiden. Ab dem Sommer 1919 zeigte es sich zudem, daß die westlichen Interventionsmächte Großbritannien und die →USA entschlossen waren, ihre Truppen aus Sibirien zurückzuziehen. Damit wurde K. außenpolitisch wie militärisch die Unterstützung entzogen. Das Zusammenwirken dieser Faktoren destabilisierte die Omsker Reg., was sich die Bolschewiki zunutze machten, indem sie gezielte Propaganda unter den unzufriedenen Bauern und Arbeiter betrieben und zudem den indigenen Völkern Sibiriens Autonomie versprachen. Nikolaus Katzer, Die weiße Bewegung in Rußland, Köln u. a. 1999. Jonathan D. Smele, Civil War in Siberia, Cambridge 1996. Eva-Maria Stolberg, Sibirien – Rußlands „Wilder Osten“, Stuttgart 2009. EVA -MA RIA STO LB ER G
Kolkata →Kalkutta Kollegium/Kollegien (pl.). Der Begriff K. bezeichnete ursprünglich eine durch ein Gesetz geschaffene Vereinigung, doch erlangte er bald eine vielfältige Bedeutung. Der Ausdruck wurde insb. für öffentliche, meist höhere Lehranstalten, die teils akademische Lehre übernehmen konnten, gebräuchlich. Der Begriff konnte darüber hinaus auch eine karitative Dimension besitzen, wenn armen Scholaren Unterkunft und Verpflegung gewährt wurde. Ab dem 16. Jh. galten K. als eigene Lehrinstitutionen. Das erste indianische K. der Neuen Welt wurde 1536 in Neuspanien von Franziskanern gegründet. Die Schüler des „El Colegio de Santa Cruz de Tlatelolco“, entstammten dem indigenen Adel, Unterrichtssprache war Latein. Für die Töchter des indigenen Adels wurde ebenfalls eine entspr. Lehranstalt gegründet. Das Colegio de Tlatelolco bestand bis in die 1590er Jahre. Hingegen waren es →Jesuiten, die die ersten K. für kreolische (→Kreole) Knaben einrichteten. Ziel war u. a. die Ausbildung des Priesternachwuchses für die junge am. Kirche, doch standen die K. auch Jungen, die keine kirchliche Karriere anstrebten, offen. Zu den ältesten K. →Amerikas zählen das „Colegio Máximo de San Pablo de →Lima“, gegründet 1568, sowie das 1588 in MexikoStadt gegründete „Antiguo Colegio de San Ildefonso“. Die Töchter der span.-stämmigen Bevölkerung wurden zumeist zu Hause unterrichtet. Zu den ältesten Colegios für Mädchen gehört das „Colegio de Niñas de Nuestra Señora de la Caridad“ (→Mexiko) von 1695.
ko lo n iAlA rch i tek tu r
Dagmar Bechtloff, Begegnungen zwischen Europa und Amerika (1522–1572), in: Thomas Beck u. a. (Hg.), Barrieren u. Zugänge, Wiesbaden 2004, 63–81. Margarita Menegus Bornemann (Hg.), Universidad y sociedad en Hispanoamérica, Mexiko-Stadt 2001. Josefina Muriel, La sociedad y sus colegios de niñas, Mexiko-Stadt 22004. DAGMAR BE CHT L OF F
Kolonialarchitektur. In der Architekturgeschichte nimmt der Kolonialbau eine Sonderstellung ein. Das koloniale Haus ist seiner Herkunftskultur verbunden und stellt in Funktion, Stil und Typologie eine vorerst abendländische Schöpfung dar. Als Vermittler kultureller Identität erfüllte K. neben funktionalen Ansprüchen auch hegemoniale Ambitionen. In Überlagerung lokaler Strukturen und Adaption an →Klima, Kultur, indigene Baustoffe und Konstruktionsmethoden entstand in Übersee ein neuer Architekturkanon. Dieser reichte von zwangloser Experimentalarchitektur über interkulturelle Architektursynthesen bis hin zum getreuen Architekturimport. Letzterer barg gegenüber dem überformten „Original“ in Europa einen hohen Grad an Authentizität. Kolonialstädte waren oktroyierte Zentren, in denen die indigene Ew.-schaft eine räumlich segregierte Entität einnahm. Die Vorläufer heutiger Ballungszentren wurden zu melting pots, deren Eigenschaften Metropolen wie New York exemplifizieren. Phänomenologisch betrachtet, verorten solchermaßen hybride Wahrnehmungsräume die Aushandlung einer neuen, gemeinsamen Kultur. Die ersten Gründungen waren sowohl von innovativem Pioniergeist, als auch vom Mangel an humanem/materiellem Kapital und der Unkenntnis lokaler Materie gekennzeichnet. Entlang westafr. Küsten entstanden im 15. Jh. port. Handelsstützpunkte als erste europäische Niederlassungen (São Jorge da Mina/Elmina). An der ind. Westküste entwickelte sich →Goa, Kapitale Port.-Indiens, im 17. Jh. zum prächtigen Bischofssitz. Grundlage kolonialer Stadtentwicklung bildete oft die Topographie der Vorgängersiedlung. In einer Ortskontinuität politischer Macht ersetzte der Palast neu-span. Vize-Kg.e die Herrschaftspaläste →Moctezumas; aus dem Zentrum des →Aztekenreiches entstand die Residenzstadt MexikoStadt, eine der bevölkerungsreichsten Städte der Neuen Welt. In Fortsetzung europäischer Tradition wurden die hispanoam. ciudades gemäß der Renaissancestadt des 16./17. Jh.s entworfen. Baustile wechselten entspr. der Mode im Mutterland vom ornamentalen Platereskenstil über den kreolisch (→Kreole) interpretierten Barock hin zum opulenten Churriguerismus des 18. Jh.s. Zugleich entwickelte die kapholländische Architektur an Afrikas Südspitze ihre eigene Prägung. Dem rechteckigen Grundriß entspringen repräsentative U-Formationen mit großzügiger Vorhalle (Stellenberg/Cape Town, →Kapstadt). Charakteristisch sind das Reetdach, geschwungene Giebel – abgeleitet vom ndl. Vorbild – und dicke, weißgetünchte Mauern zum Temperaturausgleich. Architektonische Strömungen aus dem Herkunftsland fanden meist verspätet Anwendung in den Kolonien. Mit der allerersten Kolonisationswelle wurden indes neueste Stile/ Techniken ohne zeitliche Verzögerung transferiert. Als lebenswichtig erwies sich für die ersten Siedler Neueng-
lands die Mitnahme der jüngsten Innovation des offenen Kamins. Eine Auslegung des im Mutterland verbreiteten Georgian Style war der Federal Style, eine Ablösungsform auf dem Weg zum eigenständigen Stil (House of Seven Gables/Salem). Eine verminderte Intensität mutterländischen Einflusses manifestierte sich in der →Karibik. Transkulturelle Inhalte vermengten sich zum sinnlichen Amalgam, Spiegel eines farbenfrohen Daseins extra muros. Tropische Bauelemente wie Jalousien, Galerien und Veranden liefern Schatten und Luftzirkulation. Vergleichbar mit der westind. Inselarchitektur verlieren die Bauten im ozeanischen Inselgebiet ihre okzidentalen Züge zugunsten eines internationalisierten Mischstils, Ausdruck erdbebensicherer, vielfach in Holz gebauter Imitate europäischer Steinarchitektur. Die rapide Evolution Brit.-Indiens erfolgte mittels planmäßiger Umsetzung standardisierter Bauvorgabe/Präfabrikation. Unter brit. Hegemonie wurden die Adern der Handelszentren geöffnet und mit imperialer Wirkungskraft ein Netzwerk von Plantagen und urbanen Zentren erschlossen. Gipfel dieser Entwicklung war die monumentale Planstadt NeuDelhi (1911–1931, →Delhi). Für die Kapitale entwarf Edwin Lutyens ein Reg.szentrum, das auf Augenhöhe mit den Weltmetropolen stehen sollte. Der axial angelegte Komplex vereinte brit. Prinzipien mit Elementen der Mogul-Architektur. Neu-Delhi markiert als Höhepunkt des indo-sarazenischen Stils zugleich das Ende kolonialer Präsenz auf dem Subkontinent. Im nördlichen Afrika entstand die Architektur des frz. Imperialismus. Die fruchtbare Begegnung zwischen lokaler Baukultur und ausländischem Baumeistertalent führte zu einer hybriden Mittelmeerarchitektur (→Algier/Casablanca). Bauvorschriften hoben die Vorbildfunktion maurischer Bautradition für den kleinräumlichen Kontext hervor. Im urbanen Maßstab hingegen wurden die maghrebinischen (→Maghreb) Altstädte im 19. Jh. tiefgreifenden Transformationen unterzogen. Zu Diensten militärischer Repräsentation wurden Medinas aufgebrochen, Straßen verbreitert, Plätze geschaffen. Die dabei entstehende Tendenz der arabisance gilt als stilistischer Versuch, die Fronten zu einen: Als Beleg seines multinationalen Gesichts reproduzierte selbst die Metropole neo-arab. Szenerien, vgl. Pariser Kolonialausstellung (1931). Mit der kompetitiven Erschließung Afrikas und der konsekutiven Einführung der Eisenbahn nahm die Diffusion importierter Baumaterialien wie Gußeisen/Wellblech zu. Die Bebauung Südwestafrikas / →Namibias verzeichnet vom historisierenden Eklektizismus bis zu den dynamischen Einflüssen des Dt. Werkbundes sämtliche baulichen Verläufe des Wilhelminismus. Die frühen Militärbauten in einem akklimatisierten Verandastil orientieren sich an Vorbildern konkurrierender Pioniernationen oder übernehmen Bauvorgaben der Missionskolonisten (Dt. Kolonialzeitung, 1. Ausgabe/1887). In Kürze entwickelte sich eine Architektursprache, deren Spektrum von Heimweharchitekturen (Swakopmund), bis zum modern-sachlichen Verwaltungsbau des dt. Gouvernements (Tintenpalast) reicht. Windhoeks Christuskirche mit geschweiftem Jugendstil-Giebel und Sandstein-Rustikamauerwerk (1910) vom dt.-namibischen Architekten Gottlieb Redecker ist eine der drei Schwesternkirchen, die auch in 435
k o l oni Al e me t r o Po l en
→Daressalam und Qingdao (→Kiautschou) Frieden stiften sollten. Chin. Küstenstädte mit ausländischen Handelsniederlassungen verzeichnen den sog. „Compradorstil“, benannt nach chin. Mittelsmännern europäischer Kaufleute. Die Konfrontation mit der alten Bautradition Chinas machte die Hafenstadt Tsingtau/Qingdao zum Schauplatz einer transnationalen Begegnung. Lokale Handwerker spielten eine wichtige Rolle in der Synthese asiatischer Handwerkskunst mit westlichem Architekturstil. In der Wahl des Bauplatzes nach Tradition des FengShui oder dem Fehlen von hohen (Kirch)türmen spiegelt sich das autochthone Primat vor der K. Qingdaos Arbeiterviertel wurden unter Einhaltung westlicher Hygienevorschriften mit traditionell chin. Hofhäusern erstellt. Im ehem. Europäerviertel überlebten die roten Ziegeldächer ihre Vorlage, sie sind in die chines. Bauvorschrift eingegangen. Das koloniale Architekturrepertoire Italiens entwickelte sich, vergleichbar dem Deutschlands, an der Wende zum 20. Jh. Fernab reglementierter Metropolen entstand in →Libyen und →Eritrea eine Architektur der Avantgarde, vgl. Asmara, Zeugnis der it. Moderne. Grundsätzlich ist K. geprägt durch das Phänomen des opus mixtum. Ihre von Europa losgelöste Entwicklung macht K. zu einem Teil des globalen Kulturerbes. Rolf Hasse, Die Entwicklung der Kolonialarchitektur i. ehemaligen Dt.-Ostafr., in: JbEÜG 12 (2012), 105-135. Walter Peters, Baukunst in Südwestafrika, Windhoek 1981. Torsten Warner, Dt. Architektur in China, Berlin 1994. ARI ANE I . KOME DA Kolonialdenkmäler →Denkmäler, koloniale Koloniale Archäologie →Archäologie, koloniale Koloniale Metropolen. Bezeichnung für bedeutende urbane Zentren auf außereuropäischen Erdteilen, die Europäer im Laufe der europäischen Übersee-Expansion seit dem ausgehenden 15. Jh. entweder gründeten oder durch ihren dominierenden Einfluß europäisch prägten; sofern es sich bei den k. M. um Neugründungen handelte, waren für die Standortwahl Faktoren wie die Nähe zu Flüssen, natürlichen Häfen oder ausbeutbaren Ressourcenvorkommen maßgeblich. Älteste k. M. in →Amerika war das 1498 gegründete Santo Domingo in der heutigen Dominikanischen Rep. Im 16. Jh. entstand eine Reihe k. M. auf dem am. Festland. Wo indigene urbane Strukturen vorhanden waren, wurde auf diese aufgebaut, so im Fall von Mexiko-Stadt, dem vormaligen Tenochtitlan (→Aztekenreich). Nach dem politischen bzw. wirtschaftlichen oder militärischen Zweck der jeweiligen Stadt lassen sich Residenzstädte wie Mexico-Stadt, →Lima oder später →Buenos Aires von Bergbaustädten wie Potosí (→Edelmetalle), Hafenstädten wie →Bahia, Havanna (→Kuba) und →Rio de Janeiro oder Festungsstädten wie Montevideo unterscheiden. Bis Ende des 16. Jh.s wurden über 200 Städte in Mittel- und Südamerika gegründet (→Urbanisierung in Lateinamerika). An der Ostküste Nordamerikas fanden die Europäer keine indigene urbane Kultur vor. Die im 17. Jh. hier gegründeten Städte lagen meist an natürlichen Häfen und dienten ursprünglich dem Handel (u. a. →Pelzhandel) 436
mit den Einheimischen. Das galt für das frz. Montreal (1611, →Kanada) ebenso wie für das an der Mündung des →Hudson gelegene ndl. Neu-Amsterdam (1624, als New York seit 1664 brit.) und das brit. →Boston (1630). Wie in Mittel- und Südamerika wurden auch in Asien bestehende indigene Städte, sofern sie handels- oder militärstrategisch günstig lagen, durch europäische Mächte zu k. M. umgeformt, so das ind. →Goa seit 1510 durch Portugal, →Manila seit 1570 durch Spanien und →Batavia seit 1619 durch die ndl. →Vereinigte Ostindische Kompanie (VOC). Eine Neugründung stellte →Macao dar, das die Portugiesen 1557 nach entspr. Genehmigung durch den chin. Ks. errichteten. Im brit. →Indien wurden im 19. Jh. v. a. die Residenzstädte →Kalkutta (das bis vor kurzem für eine brit. Gründung gehalten wurde) und →Delhi sowie die Handels- und Industriezentren →Bombay und →Lahore zu k. M. umgestaltet. Als Zentren des brit. Handels mit Ost- und →Südostasien kamen das neu gegründete →Singapur (1819) sowie (gemäß Vertrag von →Nanking) →Hongkong (1842) als weitere k. M. hinzu. In Afrika kam es bis ins 19. Jh. nur vereinzelt in Küstennähe zur Gründung europäischer Niederlassungen mit urbanem Charakter. An der westafr. Küste gründeten die Portugiesen 1472 →Lagos, weiter südlich 1575 →Luanda. Beide Städte dienten v. a. als Häfen zur Verschiffung von Sklaven nach Amerika (→Sklavenhandel). Die VOC schuf 1652 am Ufer der Tafelbucht →Kapstadt als Zwischenstation für ihre Schiffe auf dem Seeweg nach Südostasien. Die alten arab. Metropolen in Nordafrika wurden erst im 19. Jh. zu k. M., →Algier seit der frz. Übernahme →Algeriens 1830, →Kairo seit der brit. Übernahme →Ägyptens 1881. Europäische Neugründungen von Städten im Inneren Afrikas verhinderte lange das für Europäer ungünstige →Klima. Im 19. Jh. änderte sich dies durch medizinischen Fortschritt und verbesserte Möglichkeiten der Raumerschließung durch die Eisenbahn. Nun entstanden →Pretoria (1855), die von Henry M. →Stanley gegründete Kongo-Metropole Leopoldville (1881, seit 1966 Kinshasa), die Bergbaustadt (→Bergbau) Johannesburg (1886) sowie →Nairobi (1896), das sich aus einem Bahnarbeitercamp entwickelte. In Ozeanien, dessen Bevölkerung vor Ankunft der Europäer kein dem europäischen vergleichbares urbanes Leben gekannt hatte, entstanden die großen Städte im späten 18. und frühen 19. Jh. (Sydney 1788, Perth 1829, Melbourne 1835, Auckland u. Wellington 1840) an Flußmündungen bzw. natürlichen Häfen. Ihre herausgehobene Rolle in Wirtschaft und Handel der jeweiligen Länder blieb den k. M. in der Regel über die →Dekolonisation hinaus erhalten. Zudem konnten die kolonialen Hauptstädte als Zentren der Verwaltung den Hauptstadtstatus meist auch in den unabhängig gewordenen Staaten beibehalten. S. a. →Urbanisierung. Horst Gründer / Peter Johanek (Hg.), Kolonialstädte, Münster 2001. Susan M. Socolow / Lyman L. Johnson, Urbanization in Colonial Latin America, in: Journal of Urban History 8 (1981), 27–59. CH R ISTO PH K U H L Koloniale Rundschau →Dt. Gesellschaft für Eingeborenenkunde
k o lo n iAlj u s ti z
Kolonialinstitute. In einigen Kolonien unterhaltenden europäischen Staaten geschaffene Einrichtungen, die den Zweck verfolgten, in der Bevölkerung eine positive Einstellung gegenüber den Kolonien bzw. der Kolonialpolitik des jeweiligen Staates zu erzeugen bzw. zu verstärken; so setzte sich z. B. das 1910 gegründete ndl. K. in seinen Statuten das Ziel, „Kenntnisse über die überseeischen Besitzungen der Niederlande zu sammeln und zu verbreiten“ und „praktische Kenntnisse in jeglicher für die Kolonialökonomie wichtigen Beziehung“ zu gewinnen (van Hall, 9). Zu diesem Zweck förderte die überwiegend privat finanzierte Einrichtung wissenschaftliche Forschungs- und Publikationsarbeit, unterhielt ein Kolonialmuseum nebst Bibliothek und bot Kolonialreisenden und -beamten ein Forum für Vorträge. Denselben Zielen widmete sich für die brit. Kolonien bereits seit 1868 das Royal Colonial Institute, das seit dem Ende des brit. Empire als Royal Commonwealth Society fortbesteht. Für das Dt. Reich wurde 1908 das →Hamburgische K. ins Leben gerufen, das im Gegensatz zu den gleichnamigen Einrichtungen in den anderen Staaten, die ihren Etat nur teilweise aus öffentlichen Geldern bestritten, eine rein staatliche Einrichtung war, der neben wissenschaftlicher Forschungsarbeit insb. auch die Ausbildung der für den Einsatz in den Kolonien vorgesehenen Beamten oblag. C. J. J. van Hall, Das Kolonialinstitut zu Amsterdam, Amsterdam 1941. Trevor R. Reese, The History of the Royal Commonwealth Society, London 1968. Jens Ruppenthal, Kolonialismus als Wissenschaft und Technik, Stuttgart 2007. CHRI S TOP H KUHL Kolonialismus. Im Zeitraum zwischen der europäischen Entdeckung →Amerikas und der →Dekolonisation kam K. nach Definition Osterhammels in Herrschaftsbeziehungen zwischen Kollektiven zum Ausdruck, in denen die Kolonialherren gemäß ihren wirtschaftlichen und / oder Prestige-Interessen alle für das Leben der Kolonisierten bedeutenden Entscheidungen trafen und durchsetzten. Die Definition geht weiter davon aus, daß beide Seiten einander kulturell fremd waren und die Einebnung der kulturellen Unterschiede seitens der Kolonialherren ausdrücklich nicht erwünscht war. Reinhard betont ebenfalls die kulturelle Fremdheit zwischen beiden Seiten, akzentuiert allerdings stärker die praktisch-technische Dimension des K., indem er ihn als die Kontrolle definiert, die ein Volk über ein anderes, ihm fremdes Volk infolge der zwischen beiden bestehenden Entwicklungsdifferenzen ausüben konnte. Dem K. entsprachen daher die sog. Beherrschungskolonien, in denen ein im Verhältnis zur indigenen Bevölkerungsziffer quantitativ kaum nennenswerter Stab europäischer Bürokraten und Militärs, i. d. R. mit Unterstützung einheimischer Eliten, die Ressourcen der jeweiligen Kolonie systematisch ausbeutete. Idealtypisch war dieses Modell z. B. in Brit.Indien oder dem Kongo-Freistaat verwirklicht. In den meist in gemäßigten Zonen (→Klima) gelegenen sog. Siedlerkolonien (z. B. →Australien, engl. Kolonien in Nordamerika), in denen sich zahlreiche Europäer dauerhaft niederließen um insb. landwirtschaftlich tätig zu werden, entwickelte sich hingegen kein K. Anders als in den Beherrschungskolonien war hier keine Mitwirkung
der einheimischen Bevölkerung im Wirtschaftsleben erforderlich. Vielmehr wurde sie als Störfaktor betrachtet und durch die europäischen Siedler marginalisiert bzw. eliminiert (→Völkermord). Das für den K. charakteristische Herrschaftsverhältnis konnte so nicht entstehen. Dieses Phänomen bezeichnet die Forschung als „Kolonien ohne K.“ Umgekehrt gab es Fälle, in denen die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb eines Staates sich so einseitig zu Gunsten eines und zu Ungunsten anderer Landesteile gestalteten, daß sie faktisch dem Verhältnis einer europäischen Macht zu ihren außereuropäischen Beherrschungskolonien glichen (z. B. Verhältnis Englands zu Irland). In solchen Fällen spricht man von „K. ohne Kolonien“. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus, München 52006. Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 22008. C H R ISTO PH K U H L Kolonialjustiz. Unter K. sind die speziell für ein Kolonialgebiet oder eine Mehrzahl davon durch die Kolonialmacht etablierten Organe der Rechtspflege und deren Tätigkeit zu verstehen. Neben dem →Recht überführten die Kolonialmächte auch die Prinzipien ihrer →Justiz in ihre Überseegebiete. Dabei kam es zumeist zur Errichtung gerichtlicher Strukturen, die es in dieser Form zuvor weder in den jeweiligen Kolonialgebieten noch im kolonialen Mutterland gegeben hatte. In den Kolonialgebieten mit dualen Rechts- und Gerichtssystemen wandten die für die europäische Bevölkerung zuständigen Gerichte auf die diesen Personenkreis betr. Rechtsfragen rezipiertes europäisches Recht an. Hingegen war für die autochthone Bevölkerung gemeinhin ein der Kolonialverwaltung unterstehender und der Rechtsstaatlichkeit in geringerem Maße verpflichteter Gerichtszweig zuständig, der, wie bspw. in den afr. Kolonien, überwiegend Gewohnheitsrecht oder religiöses Recht anwandte. Eine Trennung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung existierte insoweit nicht. Etwaige autochthone Rechtsprechungsorgane wurden i. allg. von Verwaltungsbeamten der Kolonialmacht überwacht. Je nach Kolonialgebiet war die Gerichtsbarkeit unterschiedlich ausgestaltet. Während bspw. in den dt. Kolonien für die europäische Bevölkerung in Straf- und Zivilsachen mit dem Bezirks- und Obergerichten lediglich zwei Instanzen zur Verfügung standen, da das Reichsgericht für koloniale Rechtsangelegenheiten nicht zuständig war und ein Reichskolonialgericht zwar geplant, aber nie errichtet wurde, orientierten sich die brit. und frz. K. am Vorbild des jeweiligen kolonialen Mutterlandes. So bestand z. B. in den brit. Kolonialgebieten wie in England selbst als erste Instanz ein einziger universeller Gerichtshof (High Court oder Supreme Court), dessen Mitglieder als Einzelrichter entschieden und auf Rundreisen (circuits) auch außerhalb des Gerichtssitzes tagten. Neben ihm waren Untergerichte mit beschränkter sachlicher und abgegrenzter örtlicher Zuständigkeit eingerichtet. Die Richter der High Courts waren ausgebildete Juristen. Hingegen besorgten in den Untergerichten örtliche Verwaltungsbeamte die Rechtsprechung. Zulässige Berufungen gingen von den Untergerichten an die High Courts bzw. Supreme Courts und von diesen an die Courts of Appeal. Die 437
k o l oni Al k o n f e r e n z en
Courts of Appeal waren mit drei Berufsrichtern besetzt, die auch für mehrere Kolonialgebiete zuständig sein konnten. In Sachen mit hohem Streitwert oder von besonderer Bedeutung war sogar eine weitere Berufung an das Judicial Committee of the Privy Council in London möglich. Helmut Janssen, Die Übertragung von Rechtsvorstellungen auf fremde Kulturen am Beispiel des engl. Kolonialrechts, Tübingen 2000. HARAL D S I P P E L Kolonialkonferenzen. Meist Konferenzen, die der Verständigung mehrerer europäischer Mächte über umstrittene territoriale Fragen in der europäischen Peripherie oder in außereuropäischen Gebieten dienten; ersteres war beim →Berliner Kongreß (1878) der Fall, auf dem die balkanische Staatenwelt neu geordnet wurde. Während das →Osmanische Reich, auf dessen Kosten die erzielte Einigung ging, immerhin noch mit am Konferenztisch gesessen hatte, wurden zu den Konferenzen, die die Interessengebiete der europäischen Staaten in Afrika abgrenzten, keine indigenen afr. Herrscher zugezogen. Dies galt für die →Berliner Westafrika-Konferenz (1884/85), die die Aufteilung West- und Zentralafrikas regelte, ebenso wie für die Konferenzen von Algeciras (1906) und Berlin (1911), auf denen die →Marokkokrisen beigelegt wurden. Die insg. elf „imperial conferences“, die Großbritannien zwischen 1887 und 1937 mit Vertretern seiner von brit. Siedlern dominierten Kolonien bzw. →Dominions abhielt, waren von London zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls des Empires gedacht, wurden indes von den Kanadiern, Südafrikanern, Australiern und Neuseeländern genutzt, um auf die Verwirklichung ihrer vollständigen Unabhängigkeit hinzuarbeiten. Die Konferenz von →Brazzaville (1944), auf der das durch den →Zweiten Weltkrieg schwer bedrängte Frankreich mit Vertretern all seiner Kolonien konferierte, sollte die Anhänglichkeit der Kolonien an das Freie Frankreich stärken. Den Kolonien wurde in Aussicht gestellt, daß in der Nachkriegszeit ihre Selbstverwaltungsrechte erweitert werden und erheblich mehr Indigene als bislang die frz. Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Maurice Ollivier (Hg.), The Colonial and Imperial Conferences from 1887 to 1937, 3 Bde., Ottawa 1954. Andrew Shennan, Rethinking France, Oxford 1989. CHRI S TOP H KUHL
Kolonialkongresse, deutsche. Die K. gehörten zu den Großereignissen imperialistischer Prestigedemonstration im Ksr. Bereits 1886 organisierte der Kolonialchauvinist Carl →Peters einen Kongreß „zur Förderung überseeischer Interessen“, der in seiner nationalistischen Ausrichtung zum Vorläufer des 1890 gegründeten „Alldt. Verbandes“ wurde. Es folgten die bedeutsameren Kongresse von 1902, 19105, 1910 und – zum Zentenar der dt. Kolonialinaugurierung 1884 und im Zusammenhang mit einer kolonialrevisionistischen (→Kolonialrevisionismus) Initiative der Reichsreg. – noch 1924. Die Kongresse des Ksr.s, unter dem Vorsitz des Präs. der →Dt. Kolonialgesellschaft, Johann Albrecht zu Mecklenburg, und etwa 1905 von über 2 000 Menschen besucht, gliederten sich in die Plenarverhandlungen sowie in sieben 438
Sektionen zu speziellen Bereichen dt. Kolonialpolitik. Ziel der K. war die propagandistische Formulierung von Kolonialinteressen gegenüber Reg., Reichstag und Öffentlichkeit und die offene Aussprache über Kolonialprobleme. Tieferer Grund für ihre Ausrichtung dürfte jedoch die Sorge gewesen sein, infolge von „Kolonialverdrossenheit“ und „Kolonialmüdigkeit“ im eigenen Volk beim kolonialen Verteilungskampf der Nationen zu kurz zu kommen und dadurch „vom großen Strom der Menschheitsgeschichte“ abgeschnitten zu werden. Die voluminösen Verhandlungsberichte stellen eine zentrale Quelle dt. Kolonialpolitik dar. Verhandlungen der Dt. Kolonialkongresse 1902 (1905, 1910, 1924) zu Berlin, Berlin 1903 (1906, 1910, 1924). H O RST G RÜ N D ER
Kolonialkriege zu definieren, scheint auf den ersten Blick einfach zu sein: Es sind Kriege, die in den Kolonien bzw. in Übersee stattfinden. Allerdings wird hierbei die kontinentale Expansion etwa von Rußland oder den →USA ausgeklammert. Nach der Zielsetzung unterscheidet man die K. in Eroberungskriege – wie etwa die span. Conquista im 15. Jh. oder die brit. Eroberungszüge in →Indien 1798–1819, Pazifizierungskriege – wie etwa der →Herero-Nama-Aufstand in →Dt.-Südwestafrika 1904–1907 oder der Maji-Maji-Krieg in →Dt.-Ostafrika 1905–1908, zwischenstaatliche Kriege in den Kolonien – wie der →Span.-Am. Krieg 1898, der Südafr. Krieg 1899–1902 (→Burenkrieg) und der Russ.-Jap. Krieg 1904/05 oder Befreiungskriege im Rahmen des Dekolonisationsprozesses – z. B. der →Algerienkrieg 1954–1962 oder der Vietnamkrieg 1965–1975 (→Vietnam). Eine Sonderrolle nahm der →Boxerkrieg in China 1900/01 ein, da es sich um einen von verschiedenen nationalen Truppenkontingenten geführten Krieg auf nicht erobertem Territorium handelte, während direkte Kolonialherrschaft nur in kleinen, verstreuten →Enklaven an der Küste ausgeübt wurde. Die häufigste Kriegsform war der Pazifizierungskrieg. Denn die Kolonialeroberer strebten neben der permanenten Präsenz die totale Unterwerfung der Bevölkerung und die euphemistisch als „Pazifizierung“ bezeichnete Etablierung eines dauerhaften Friedens an. Hierbei handelte es sich um einen fortdauernden Prozeß, der nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen war. Krieg und Frieden waren nicht deutlich voneinander getrennt. Infolge der geringen Zahl von Verwaltungs- und Militärpersonal war der Kolonialstaat ein schwacher Staat, gekennzeichnet durch ein Gewaltdispositiv, das in Diskursen, Gesetzen, administrativen Entscheidungen, Institutionen, wissenschaftlichen Arbeiten, in der Architektur (→Kolonialarchitektur), aber auch im Alltag zum Ausdruck kam. Kleinere militärische Aktionen wie das Verbrennen von Hütten oder die Beschlagnahme von Vieh galten als gewöhnliche Strafoder Disziplinarmaßnahmen und waren an der Tagesordnung. Kaum eine Woche verging ohne solche Zwischenfälle. Die Zeitgenossen sprachen in diesem Fall nicht von „Krieg“, sondern von „Aktion“, „Aufstand“, „Expedition“, „Operation“, „Polizeioperation“, „Störung“, „Strafexpedition“, „Strafkampagne“ und „Unruhe“. Mit dieser Palette an Begriffen waren stets lokal begrenzte
k o lo n iA lk ri ti k
Militärunternehmungen gegen widerständige →Ethnien gemeint, die ohne allzu großen Aufwand überwältigt werden konnten. Aus diesen permanenten, aber begrenzten „low intensity conflicts“ entwickelte sich immer dann ein K., wenn sich die Auseinandersetzungen räumlich und personell ausdehnten oder über längere Zeit hinzogen. K., seien es Eroberungskriege, Pazifizierungskriege, zwischenstaatliche Kriege oder Befreiungskriege unterschieden sich auch in anderer Hinsicht von der in Europa praktizierten Kriegführung. So waren sie zunächst durch mangelnde Infrastruktur gekennzeichnet. Alle Planungen bezüglich Zeit und Raum erwiesen sich deshalb als problematisch. Truppenoperationen hatten nur Aussicht auf Erfolg, solange Beförderungsmittel – zunächst Wagen, Zugtiere und Menschen, später auch Flugzeuge – vorhanden waren. Die Organisation von Nachschub und →Transport war daher mindestens ebenso wichtig wie die Vorbereitung auf die Kämpfe. Hinzu kam, daß die ungewohnten klimatischen und geographischen Verhältnisse häufig lebensbedrohende Infektionskrankheiten auslösten. Um diesen Anforderungen gewachsen zu sein, waren die von außen kommenden Truppen stets auf sog. middlemen angewiesen, die mit den natürlichen und soziokulturellen Verhältnissen des Kampfgebietes vertraut waren. Nur mit deren Wissen und Fähigkeiten war es ihnen überhaupt möglich, sich in diesem unbekannten Terrain zu bewegen, zu überleben und zu kämpfen. Die weißen Truppen setzten einheimische Soldaten u. a. als Kundschafter oder Spurenleser ein. Mancherorts bestanden die Mannschaften ausschließlich aus schwarzen →Söldnern. Klare kulturelle Abgrenzungen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten verwischten sich damit auch in der Extremsituation des Krieges. Schließlich waren die Kriegsbilder und die Kriegsführung der Europäer und der einheimischen Bevölkerung sehr unterschiedlich. Die Europäer erwarteten vielfach die Einhaltung der europäischen „Spielregeln“ und bewerteten gleichzeitig das Verhalten der anderen Seite als groben Verstoß gegen die Menschlichkeit. Der erfolgreiche Guerillakrieg gegen einen technisch überlegenen Gegner wurde nicht als kluge und erfindungsreiche Form des Widerstandes anerkannt, sondern dem vermeintlich schlechten Charakter des →„Negers“ zugeschrieben. Der Klein- oder Guerillakrieg war per se ein asymmetrischer Krieg. Dies zeigte sich nicht nur in der unterschiedlichen Bewaffnung, sondern auch in den jeweiligen Kriegszielen. So verfolgten die Guerillakämpfer immer ein defensives Kriegsziel, weshalb sie die offene Schlacht vermieden und ihre Angriffe auf Nachschubwege und feindliche Patrouillen konzentrierten. Sie entwickelten keine elaborierte Logistik, sondern versorgten sich, mitunter auch gewaltsam, aus den Beständen der einheimischen Zivilisten. So wurden diese automatisch zu Semikombattanten, auch wenn sie sich am Krieg nicht aktiv beteiligen. Die Militärs der Kolonialmächte verstanden sich zunächst als Verbreiter des Christentums, dann als „forces of civilisation“. „Zivilisation“ meinte keineswegs nur Unterschiede in der technischwissenschaftlichen Entwicklung zwischen Europa bzw. Nordamerika und der restlichen Welt. Im Völkerrecht galt vielmehr als ausschließliches Zivilisationskriterium
die Fähigkeit, nach europäischem Muster eine Reg. zu bilden und die in ihrem Staatsgebiet lebenden Weißen zu schützen. Andernfalls sahen sich die Europäer berechtigt einzugreifen, ohne dabei an das moderne Kriegsrecht gebunden zu sein. In den K. des späten 19. und frühen 20. Jh.s galten die Regelungen der Haager Landkriegsordnung von 1899 nicht, denn die humanitären Grundsätze des ius in bello waren ausschließlich für Kriege zwischen „zivilisierten“ Nationen formuliert worden. Je stärker sich →Rassismus und Sozialdarwinismus durchsetzten, um so mehr galten auch Methoden der Kriegführung als legitim, die in Europa geächtet wurden. Unabhängig von den involvierten Nationen wurden alle K. äußerst brutal geführt. Auch ohne ausdrückliche Intention konnten diese Kriege, zumindest bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in einem →Völkermord enden, ohne daß es in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit einen Aufschrei der Empörung gab. Dies änderte sich in dem Moment, als im Zuge der Gründung des →Völkerbundes die Behandlung der einheimischen Bevölkerungen im Krieg Teil des Zivilisationsdiskurses wurde. Charles Edward Callwell, Small Wars, London 1996 (Ndr. von 31906). Ian Hernon, Britain’s Forgotten Wars, Sutton 22007. Thoralf Klein / Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege, Hamburg 2006. SU SA N N E K U SS Kolonialkritik. Seit Beginn der europäischen Expansion und bis weit ins 19. Jh. wurde Kritik am bestehenden Kolonialsystem v. a. durch Mißstände an der Peripherie hervorgerufen und durch politische Konstellationen in der Metropole beeinflußt. Sie richtete sich i.d.R. nicht gegen die koloniale Expansion oder damit verbundene zivilisatorische Perspektiven an sich, sondern gegen bestimmte Wirkungen und Mängel der kolonialen Praxis. Erst zu Beginn des 20. Jh.s kam ein rigoroser, programmatischer A. auf, der für eine völlige Aufgabe jeglicher Form kolonialer Herrschaft oder Abhängigkeit eintrat. Kritik an Formen und Folgen von →Eroberung, Missionierung und Administration wurde v. a. in jenen europäischen Ländern laut, die Protagonisten eines eigenen Typs kolonialer Herrschaft waren und in denen sich kolonialethische und politisch-theorische Kontroversen über die Ausgestaltung des Verhältnisses von Mutterland und Kolonien entwickelten. Bis in die Mitte des 19. Jh.s waren v. a. drei Diskurse bestimmend: 1. die völkerrechtlich und theologisch motivierte Kritik im Spanien des 16. Jh.s (→Las Casas, de Vitoria u. a.), die sich an der Frage des rechtlichen Status der Indios und der völkerrechtlichen Begründung der Mission entzündete; friedliche Evangelisation und der Aufbau eines christl. Staates in Übersee galten aber als gerechtfertigt. 2. die emanzipatorisch-naturrechtliche Kritik in Frankreich im 18. Jh. setzte mit der →Aufklärung ein, wurde mit der Revolution vorübergehend auch politisch umgesetzt und war mit einer fundamentalen Kritik am System der →Sklaverei verbunden (Montesquieu, Condorcet). 3. die ökonomische und philosophische Kritik in England und Frankreich während des 18. Jh.s wurde von Adam Smith eingeleitet, der koloniale Abhängigkeit als Störung des natürlichen Wirtschaftskreislaufs deutete und zum Wegbereiter freihändlerischer K. wurde. Im Dt. Ksr. wurden 439
k o l oni Al m u s e e n
Vorbehalte gegenüber dem eigenen kolonialen Engagement bis zum Ersten Weltkrieg v. a. im Reichstag und in der parteinahen Presse geäußert. Die k. Positionen der kontinental orientierten Agrarkonservativen, der Sozialdemokratie und der Linksliberalen folgten im wesentlichen den aus England und Frankreich bekannten reformerischen Positionen und verloren nach der Jh.wende zusehends an Schärfe. Im linksliberalen Lager sowie bis 1880 auch außerparlamentarisch im einflußreichen Kongreß dt. Volkswirte standen zunächst freihändlerische Überzeugungen im Vordergrund (Bamberger: „We want trade and not dominion“), im süddt. Liberalismus machten sich zudem antipreußische Ressentiments bemerkbar. Sozialdemokratische Abgeordnete (Liebknecht, Kautsky) interpretierten den kolonialen Besitz als Absatzmarkt für die Produkte des Kapitalismus und lehnten ihn deshalb ab; in den Debatten überwogen allerdings unter dem Eindruck der Kolonialskandale nach 1894 humanitäre Interventionen und Angriffe auf die dt. Kolonialbürokratie (in diesem Punkt mit Unterstützung des Zentrums), die sich auch für eine allg. Kritik am politischen System des Reiches instrumentalisieren ließen. Nach der Reichstagswahl 1907 gewannen bei den Sozialdemokraten die Vertreter eines kulturethischen →Kolonialismus an Einfluß (Bernstein, von Vollmar, Noske). Weitgehend ohne Wirkung blieben einzelne publizistisch aktive Kolonialgegner wie der Afrikaforscher Gottlob Adolf Krause. Unabhängigkeitsbewegungen und -kriege in der Folge des Ersten Weltkriegs und die Gründung der Sowjetunion 1917, zu deren politischen Zielen die Förderung einer proletarischen Weltrevolution gehörte, trugen in der Zwischenkriegszeit zum Entstehen eines dezidierten A. in Europa bei. Zulauf erhielten in dieser Phase insb. pazifistische Organisationen wie die Dt. Liga für →Menschenrechte, die Internationale Frauenliga oder der Bund der Kriegsdienstgegner, die die Fortführung der alten Kolonialpolitik als mögliche Verursacherin eines weiteren Krieges ablehnten und die ursprünglich zur Stabilisierung der europäischen Nachkriegsordnung aufgestellte Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die kolonialen Verhältnisse übertrugen. In Deutschland entzündete sich zudem nach Aufnahme des Reiches in den →Völkerbund 1926 eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider einer erneuten Begründung dt. Kolonialpolitik, die von reformorientierten Kreisen und Wirtschaftsexperten kritisch begleitet wurde (der Nationalökonom Moritz Julius Bonn prägte in diesem Kontext 1932 den Begriff der →„Dekolonisation“). Selbst pazifistische Gruppen wie die Dt. Friedensgesellschaft befürworteten aber die Beibehaltung des →Mandatssystems als entwicklungspolitisch (→Entwicklung) notwendige Herrschaftsform. Auf Initiative des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Willi Münzenberg bildete sich 1926 in Berlin (als Hauptstadt einer ehem. Kolonialmacht) unter starker internationaler Beteiligung die „Liga gegen koloniale Unterdrückung“; dabei handelte es sich um einen europäisch-am. Zusammenschluß unterschiedlicher k. Strömungen, in den auch junge Politiker aus den Kolonialländern einbezogen waren. 1929 traten die nicht-kommunistischen Gruppen aus diesem Bündnis aus, nach 1933 verlor auch die Sowjetunion 440
ihr Interesse an einer weiteren Unterstützung; schließlich erfolgte 1937 die formelle Auflösung der Liga. S. a. →Bose, →Dekker, →Gandhi, →Indischer Aufstand, →Indischer Nationalismus, →Kenyatta, →Mau, →Mau Mau, →Nehru, →Rizal. Thomas Küster, Zwischen Reform und Emanzipation. Engl. und frz. Kolonialkritik im 18. und frühen 19. Jh., in: Horst Gründer (Hg.), Geschichte und Humanität, Münster / Hamburg 1993, 35–47. Maria-Theresia Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“, Frankfurt/M. 1999. Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde, München 2010. TH O MA S K Ü STER Kolonialmuseen. Als eine Sonderform der v. a. im 19. Jh. entstandenen Nationalmuseen bzw. nationalen Geschichtsmuseen sind die K. zu bezeichnen. Sie entstanden zum einen in den Zentren der einstigen Kolonialstaaten (u. a. Berlin, Paris, Brüssel), zum anderen in den Kolonien selbst. Aus letzteren entwickelten sich nach der Unabhängigkeit der Kolonien die neuen Nationalmuseen der selbstständigen Staaten, während die Entwicklung der europäischen K. zum Teil von den Völkerschauen des ausgehenden 19. Jh.s abgeleitet wird, deren materielle Kultur Grundstock der Sammlungen wurde. Ideologisch standen die K. den Nationalmuseen nahe, in denen die Vergangenheit als „Goldenes Zeitalter“ präsentiert wurde, damit Besucher stolz sein sollten, einer bestimmten Nation anzugehören. Die K. spiegelten zugleich auch den darwinistischen Zeitgeist wider. Im Laufe des 20. Jh.s wurden die K. als Typus aufgegeben (Berlin, →Kolonialmuseum), oder die Häuser entwickelten sich zu ethnologischen bzw. naturkundlichen Museen (Tervueren/Brüssel, Tropenmuseum, Amsterdam). In jüngster Zeit geht der Trend zu Einwanderungsmuseen (Paris) oder zur Neupräsentation von Kolonialgeschichte (Tropenmuseum Amsterdam). Forschungs- und Bildungseinrichtungen zur außereuropäischen Welt sind sie längst geworden. Ein anderer Typus von K. betrifft frühere koloniale Epochen, die vom →Sklavenhandel geprägt waren. So sind viele der an die Sklavenzeit erinnernden Museen und Gedenkstätten beiderseits des Atlantiks oft an historischen Schauplätzen untergebracht. Auf dem afrikanischen Kontinent sind dies v. a. die Orte der Sammelplätze für Sklaven in den Hafenstädten vom →Senegal (Goree) bis nach →Kapstadt, wobei die heute in der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO verzeichneten brandenburgischen und niederländischen Fortanlagen an der Goldküste (→Ghana) einen Schwerpunkt bilden. Auf der amerikanischen Seite befinden sich Erinnerungsstellen und Museen von den USA bis nach →Brasilien meist im Zusammenhang mit ehemaligen Sklavenmärkten und ländlichen Siedlungen, deren Wirtschaft von der Sklavenhaltung geprägt war. Als Folge von Förderprogrammen etwa der UNESCO oder Arbeitsgemeinschaften zum Beispiel im Rahmen des International Council of Museums (ICOM) wird vielfach auch Ortsforschung betrieben, um die Schauplätze der Sklavenzeit für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich sowohl um staatliche Maßnahmen, aber auch um Privatinitiativen. Auch in Europa entstehen Museen und Initiativen, die sich des Themas annehmen. V. a. ist hier
ko lo n i A lrAt, d eu ts ch er
auf das Internationale Sklaverei-Museum in Liverpool zu verweisen, aber auch auf Projekte in anderen Ländern. Standort bedingt wurde in den Ausstellungen traditionell eher aus der regionalen Perspektive bzw. aus der des vermeintlichen Gewinners bzw. Verlierers von Geschichte berichtet. Seit einigen Jahren bemühen sich diese Museen jedoch – der akademischen historischen Forschung folgend – globale Sichtweisen und Präsentationen auf die Geschichte zu entwickeln, um so neue Einsichten bei den Museumsbesuchern zu fördern. HANS - MART I N HI NZ
JOACHI M Z E L L E R
ihrer Presse wahrzunehmen. Mit Beginn des →Zweiten Weltkrieges befaßte sie sich zudem mit der Vorbereitung der Verwaltung noch zu erwerbender Kolonialgebiete in Afrika. Das K. war als Grundstock für ein künftiges Reichskolonialministerium vorgesehen. Am 1.7.1936 waren dort 36 Beamte im höheren sowie 44 Beamte im gehobenen und mittleren Dienst nebst 129 Arbeitern und Angestellten sowie 50 nebenamtlich Beschäftigte tätig. 1941 erfolgte eine Aufteilung in das K./Staat mit vier Abteilungen, das für den Aufbau der Administration in den zu erwerbenden Überseegebieten zuständig war, und das K./Partei mit ebenfalls vier Abteilungen, das für die kolonialen Angelegenheiten im Dt. Reich verantwortlich zeichnete. Das K. verschlang immense finanzielle Mittel. Im Haushaltsjahr 1941 erreichten sie mit einem Etat von ca. 30 Mio. Reichsmark ihr Höchstmaß. Zur Besetzung belg., brit. und frz. Kolonialgebiete in Afrika hatte das K. in Zusammenarbeit mit der SS-Reichsführung Einsatzstäbe gebildet, die unter den Tarnnamen „→Banane“ für Westafrika und „Sisal“ für Ostafrika operierten. In kolonialen Schulungen und Sprachkursen wurden in Kooperation mit anderen Dienststellen Angehörige der Schutzpolizei und der Wehrmacht, Fernmeldetechniker sowie Post- und Verwaltungsbeamte auf einen Einsatz im geplanten nationalsozialistischen Kolonialreich vorbereitet. Im Vorgriff auf die Übernahme afr. Gebiete arbeiteten die Mitarbeiter des K. an zahlreichen Entwürfen für die koloniale Gesetzgebung (z. B. Reichskolonialgesetz, Kolonialbeamtengesetz, Kolonialblutschutzgesetz). Anfang 1943 veranlaßte die Verschlechterung der militärischen Lage an sämtlichen Kriegsfronten die politische Führung des Staates dazu, die als „nicht kriegswichtig“ angesehene Tätigkeit des K. umgehend einzustellen. Wie auch andere Planungen des Dritten Reiches erwies sich der mit einem ungeheuren bürokratischen, personellen und finanziellen Aufwand betriebene Versuch der Etablierung eines aus dem K. erwachsenden Reichskolonialministeriums zur Verwaltung eines imaginären Kolonialreiches in Afrika als eine monströse Schimäre. Klaus Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich, München 1969. Alexandre Kum’a N’dumbe III, Was wollte Hitler in Afrika?, Frankfurt/M. 1993. Harald Sippel, Kolonialverwaltung ohne Kolonien, in: Ulrich van der Heyden u. a. (Hg.), Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, 256– 261. H A RA LD SIPPEL
Kolonialpolitisches Amt der NSDAP. Die NSDAP verfügte über eine Vielzahl von Parteidienststellen (sog. Reichsämter), denen die Aufgabe zukam, die Politik der Partei vorzubereiten und als Gegenstück zu den entspr. staatlichen Fachbehörden eine Kontrollfunktion auszuüben. Bereits 1932 wurde mit dem Kolonialpolitischen Referat innerhalb des Wehrpolitischen Amtes der NSDAP der Vorläufer des K. gegründet, um im Mai 1934 zu einem selbständigen Reichsamt erhoben zu werden. Reichsleiter war General Franz Xaver Ritter von Epp, Reichsstatthalter in Bayern und u. a. ehem. Offizier der ksl. →Schutztruppe für →Dt.-Südwestafrika. Die Parteidienststelle hatte zunächst die Aufgabe, die Behandlung sämtlicher kolonialpolitischen und -wirtschaftlichen Fragen innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung und
Kolonialrat, deutscher. Dieses zentrale koloniale Beratungsorgan im Dt. Reich, am 10.10.1890 durch Erlaß Wilhelms II. geschaffen, umfaßte anfangs ca. 20, später 40 ehrenamtlich tätige, vom Reichskanzler auf Vorschlag des Leiters der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes bzw. des →Reichskolonialamtes ernannte „koloniale“ Fachleute, in erster Linie ehem. Kolonialbeamte und Vertreter der großen Kolonialgesellschaften, sowie zunächst je einen, dann zwei Repräsentanten der beiden christl. Konfessionen. Er faßte seine Beschlüsse mit einfacher Mehrheit und ließ sie der Reichsreg. bzw. dem Reichstag als Empfehlung zugehen. Im wesentlichen manifestierte sich im K. der Einfluß der Protagonisten des (kolonialen) Großkapitals (→Hansemann, →Hernsheim, →Woermann, Scharlach, von der Heydt). Themen
Kolonialmuseum, Deutsches. Das K. wurde am 13.10.1899 in Berlin eröffnet. Es war im Gebäude des ehem. Marine-Panoramas am Lehrter Bahnhof untergebracht. Der Grundstock der Exponate stammte von der „1. Dt. Kolonialausstellung“, die 1896 auf der Berliner Gewerbeausstellung in Berlin-Treptow stattfand. Dioramen, Panoramabilder, →Fotografien, ausgestopfte Tiere und Installationen, bestehend aus nachgebauten „Hütten“, lebensgroßen Wachsfiguren von →„Eingeborenen“ und deren „typische“ Gerätschaften, zeigten die einzelnen dt. „→Schutzgebiete“. An der Gründung des K.s hatten sich, abgesehen von einigen Behörden, v. a. die Kolonialverbände, insb. die →Dt. Kolonialgesellschaft (DKG), sowie Persönlichkeiten aus den kolonialen Kreisen beteiligt. Schon 1900 gelangte allerdings das als Aktiengesellschaft geführte Museum ganz in die Hände der DKG. Das K. war einseitig auf kolonialpolitische Propagandazwecke ausgerichtet. Es diente als Agitationsinstrument zur Popularisierung des Kolonialgedankens und der Flottenpropaganda. Neben der „kolonialen Werbearbeit“ kam dem Museum mit seiner Produktensammlungen und dem Export-Musterlager im bescheidenen Maße auch die Funktion eines Handelsmuseums zu. Während des Ersten Weltkrieges, 1915, erfolgte – v. a. aus finanziellen Gründen – die Schließung des K.s. Ein Teil der Museumsbestände gelangte 1917 durch Verkauf an das Stuttgarter Linden-Museum. Nach dem Krieg scheiterte die neuformierte dt. Kolonialbewegung damit, in Berlin wieder ein K. zu eröffnen. Joachim Zeller, „Das Interesse an der Kolonialpolitik fördern und heben“. Das Dt. Kolonialmuseum in Berlin, in: Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, 142–149.
441
k o l oni Al r e c ht
der Beratungen dieses vom Reichstag auch als „Nebenparlament“ angegriffenen beratenden Gremiums der Kolonialreg. waren der Eisenbahnbau, die Seeverbindungen mit den Kolonien, das Missionswesen und die Landpolitik, wobei den Vertretern einer radikal-rassistischen „Plantagen- und Konzessionspolitik“ der schwächere Flügel einer aufgeklärten „Eingeborenen(schutz)politik“ gegenüber stand. Hartmut Pogge von Strandmann, Imperialismus vom Grünen Tisch, Berlin 2009. HORS T GRÜNDE R Kolonialrecht. Vielfach wird unter K. sämtliches →Recht verstanden, das eine Kolonialmacht für ihr jeweiliges Kolonialgebiet bzw. für die Gesamtheit ihrer Kolonien erlassen oder dort eingeführt hat. Indes ist eine solche weit reichende Definition ungenau, da von ihr auch solches Recht umfaßt wird, das auch im kolonialen Mutterland galt und lediglich mit Hilfe von Rezeptionsklauseln in die Überseegebiete übertragen wurde. Präziser ist es daher, K. als die Gesamtheit der von einer Kolonialmacht speziell für ein Kolonialgebiet oder eine Mehrzahl davon erlassenen bzw. von der →Kolonialjustiz entwickelten rechtlichen Regelungen, welche die dort bestehenden Rechtsverhältnisse und die ihrer Bevölkerung regelten, zu umschreiben. K. setzte sich demnach aus einer Vielzahl von Regelungen aus unterschiedlichen Rechtsgebieten zusammen und bezog sich örtlich allein auf ein Überseegebiet oder eine Mehrzahl davon unter Verwaltung einer bestimmten Kolonialmacht. Verbindendes Element des K.s war dabei das charakteristische Recht der jeweiligen Überseegebiete, das seine Prägung durch die dort existierenden spezifischen Verhältnisse erhalten hatte und eigens im Hinblick auf die jeweiligen Territorien und ihrer Bevölkerung erlassen worden war. Aus diesem Grunde ist das zur Anwendung in den Kolonialgebieten rezipierte Recht des jeweiligen kolonialen Mutterlandes wie auch etwaiges von der →Justiz oder der Verwaltung angewandtes Gewohnheitsrecht bzw. religiöses Recht der einheimischen Bevölkerung in Übersee nicht dem K. zuzuordnen. Die kodifizierten Regelungen des K.s wurden i. allg. in kolonialen Amtsblättern veröffentlicht und darüber hinaus nicht selten in speziellen Sammlungen kolonialrechtlicher Regelungen zusammengefaßt. HARAL D S I P P E L Kolonialreich, britisches →Britisches Kolonialreich Kolonialreich, dänisches →Dänisches Kolonialreich Kolonialreich, deutsches →Afrika, deutsches; →Deutsch-Neuguinea, →Deutsch-Ostafrika, →Deutsch-Südwestafrika, →Kamerun, →Karolinen, →Kiautschou / Tsingtau, →Marshallinseln, →Samoa, →Togo Kolonialreich, französisches →Französisches Kolonialreich Kolonialreich, italienisches →Italienisches Kolonialreich 442
Kolonialreich, japanisches →Japanisches Kolonialreich Kolonialreich, portugiesisches →Portugiesisches Kolonialreich Kolonialreich, russisches →Russisches Kolonialreich Kolonialrevisionismus. Nachdem das Dt. Reich bereits während des Weltkrieges seine Kolonien verloren hatte, wurde dieser Verlust mit dem →Versailler Vertrag von 1919 definitiv. Die Übertragung der ehem. dt. Besitzungen als Mandatsgebiete an die alliierten und assoziierten Mächte, welche auch der sofortige Protest der dt. Nationalversammlung nicht hatte verhindern können, enttäuschte die auf das 14-Punkte-Programm Wilsons bezogenen dt. Hoffnungen schwer. Hinzu kam, daß die Fortnahme der Kolonien, die als verhüllte Annexion empfunden wurde, völkerrechtlich mit Vorwürfen verfehlter Eingeborenenpolitik und kolonialer Mißwirtschaft legitimiert wurde. Diese Argumentation unterstrich das engl. Blaubuch über die Eingeborenenbehandlung in →Dt.-Südwestafrika. Es sollte außerdem zeigen, daß die indigene Bevölkerung keine Rückkehr der dt. Kolonialherren wünschte. Diese Vorwürfe wurden zum Angelpunkt des Kampfes gegen die →Kolonialschuldlüge, die neben die Kriegsschuldlüge trat und deren Bekämpfung einen „Eckpfeiler des gesamten Revisionismussyndroms der Weimarer Rep.“ (H. Gründer) darstellte. Kolonialverbände – besonders deren Hauptagitationsverband, die →Dt. Kolonialgesellschaft – und nationalistische Publizisten versuchten den kolonialen Gedanken wach zu halten und die Rückgabe der Kolonialgebiete zu erreichen. Einer der engagiertesten Kämpfer war Heinrich →Schnee, der mit seiner Kolonialen Schuldlüge (1924) ein Standardwerk mit immenser Verbreitung schuf. Kolonien wurden weiterhin für national, kulturell, sozial sowie wirtschaftlich bedeutend angesehen und im Zuge der Weltwirtschaftskrise noch einmal zu einer Krisentherapie aufgewertet. Aber obgleich der v. a. von liberalen und konservativen Kreisen getragene K. im ersten Jahrzehnt auf einem vorher nie dagewesenen Konsens der Parteien, der Reg. sowie der Wirtschaftsverbände und Unternehmen fußte, blieb er in Stresemanns außenpolitischem Programm nachrangig und mußte im Zuge der Verständigungspolitik noch weiter zurücktreten. Auch für die breitere Öffentlichkeit wurde die Kolonialfrage unwichtiger. Als Ende der 1920er Jahre der Konsens zwischen Reg. und Kolonialbewegung deutlich abnahm, erfolgte eine Orientierung hin zur nationalen Rechten. Einige der enthusiastischen konservativen wilhelminischen Imperialisten, die in der Weimarer Zeit auf eine Umsetzung ihrer k. Ambitionen im Zuge einer konservativ-gemäßigten, wirtschaftlich ausgerichteten Großmachtpolitik gebaut hatten, glaubten zumal nach der Machtergreifung, bei allen Verschiedenheiten um des großen Zieles willen auf Hitler setzten zu können. Sie hofften, die Ostexpansion in die Idee einer kontinentalen Zustimmung zu neuer überseeischer Kolonialpolitik ummünzen zu können. Jan Esche, Koloniales Anspruchdenken in Deutschland im Ersten Weltkrieg, während der Versailler Friedens-
k o lo n iAlwi rts ch A f tli ch es k o m i tee
verhandlungen und in der Weimarer Rep. (1914 bis 1933), Hamburg 1989. KAT HARI NA ABE RME T H Kolonialschuld. Schuld von Kolonialmächten gegenüber der Bevölkerung kolonisierter Gebiete. Zu unterscheiden ist dabei zwischen planmäßig-systematisch ausgeübtem Fehlverhalten europäischen Personals in Kolonien in Übereinstimmung mit entspr. Rechtsvorschriften des Mutterlandes und individuellen Exzessen von Europäern, die von der Rechtslage nicht gedeckt waren. Bis zur Abschaffung der Indianersklaverei in Span.-Amerika (1542) kann demnach von systematischem Unrecht gegenüber den Indianern gesprochen werden, danach nur noch von individuellen Exzessen span. Siedler, die trotz veränderter Rechtslage weiterhin →Zwangsarbeit von Indianern verlangten. Ein verzerrtes Bild vom Ausmaß der Schuld der span. Kolonialherren zeichneten Spaniens europäische Konkurrenten, insb. England und die Niederlande. Hier nahm man im 16. Jh. die lückenhaften Kenntnisse über die Verhältnisse in Span.-Amerika zum Anlaß, den Spaniern einen intoleranten, fortschrittsfeindlichen, fanatisch rk., barbarisch blutrünstigen Volkscharakter anzudichten. Dieses bis ins 19. Jh. gepflegte literarische Klischee wird seit dem frühen 20. Jh. in der Forschung als „leyenda negra“ (schwarze Legende) bezeichnet, eine Begriffsschöpfung des span. Historikers Julián Juderías (1877–1918). Vergleichbare Klischees über die europäischen Kolonialmächte, die ihre Kolonialreiche später als Spanien erwarben, entstanden nicht, obwohl auch diese Mächte K. auf sich luden. Das traf auf die Briten, die die rechtswidrigen Exzesse weißer Siedler an den →Aborigines in →Australien duldeten, ebenso zu wie auf die Franzosen, die bei Etablierung und Konsolidierung ihrer Herrschaft in Nordafrika Ströme von Blut vergossen (→Völkermord, →Mokrani-Rebellion), oder den Kg. der Belgier (→Kongo-Greuel). Europäer verschiedener Nationalitäten sowie US-Bürger machten sich durch Beteiligung am transatlantischen →Sklavenhandel schuldig. Ferner wird im afr. wissenschaftlichen Diskurs über die Folgen des →Kolonialismus für den afr. Kontinent die einseitige Ausrichtung der kolonialen Ökonomie auf die Interessen der Kolonialherren als schuldhaftes Verhalten interpretiert, das „nicht entwicklungsfähige und nur schwer abbaubare Strukturen geschaffen“ (Harding, 183) habe, die bis heute ein Hemmschuh für die Entfaltung des Entwicklungspotentials (→Entwicklung) Afrikas seien. Leonhard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jh., München 22006. Julían Juderías, La leyenda negra, Madrid 1914. CHRI S TOP H KUHL Kolonialschuldlüge. Die sog. K. bezog sich auf die Begründung der Alliierten im →Versailler Vertrag, welche die Wegnahme der dt. Kolonien rechtfertigen sollte. Hierin wurde den Deutschen v. a. verfehlte Eingeborenenpolitik und koloniale Mißwirtschaft unterstellt. Heinrich →Schnee, letzter →Gouv. von →Dt.-Ostafrika und rührigster Kolonialrevisionist, prägte den Ausdruck durch seine Schrift Die koloniale Schuldlüge (zuerst 1924), in der er forderte, ihr ebenso „entgegenzutreten wie der Kriegsschuldlüge“. Diese Streitschrift avancierte
zum Standardwerk des Weimarer →Kolonialrevisionismus, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und brachte es mit der 12. Auflage 1940 auf 50 000 Exemplare. Keine andere kolonialrevisionistische Schrift wurde annähernd intensiv rezipiert. Jan Esche, Koloniales Anspruchdenken in Deutschland im Ersten Weltkrieg, während der Versailler Friedensverhandlungen und in der Weimarer Rep. (1914 bis 1933), Hamburg 1989. Horst Gründer, Geschichte der dt. Kolonien, Paderborn 62012. Heinrich Schnee, Die Koloniale Schuldlüge, München 121940. K ATH A R IN A A B ER METH
Kolonialwaren. Seit dem 19. Jh. gebräuchliche Bezeichnung für landwirtschaftliche Produkte, die aus tropischen und subtropischen Ländern, die bis ins 20. Jh. Kolonien europäischer Staaten waren, nach Europa importiert wurden. Der Begriff wird heute nicht mehr verwendet, versteckt sich aber noch im Handelsnamen „Edeka“, die als „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“ (abgekürzt E.d.K., st. 1911 Edeka) am 13.10.1898 vom Kaufmann u. späteren Politiker Fritz Borrmann (1869–1942; MdR 1924–1932) gegründet wurde. Zu den K. zählten Genußmittel wie →Zucker, →Kaffee, →Tee, →Kakao und →Tabak, ferner →Gewürze (→Pfeffer, →Muskat, →Nelken, Zimt), →Bananen, →Baumwolle, Kautschuk, tropische Edelhölzer und Ölfrüchte, deren Öle im Rahmen der europäischen →Industrialisierung sowohl als Maschinenöle als auch bei der Ernährung der mit der Industrialisierung stark wachsenden Bevölkerung Europas als Ersatzfette für Butter eine wichtige Rolle spielten. Im Handel mit K. wurden Handelsstrukturen etabliert, die das Profitinteresse europäischer Unternehmen auf Kosten der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Kolonien bedienten und die sich auch nach der Dekolonisation zum ökonomischen Nachteil vieler Staaten der →Dritten Welt auswirken. Gerhard Pfeisinger / Stefan Schennach (Hg.), Kolonialwaren, Göttingen 1989. CH R ISTO PH K U H L / H ER MA N N H IERY
Kolonialwirtschaftliches Komitee. 1896 gegründete Organisation, die sich das Ziel gesetzt hatte, „die wirtschaftliche Erschließung unserer Kolonien auf wissenschaftlicher Grundlage zu betreiben“; das K. brachte es bis 1914 auf 1231 körperschaftliche Mitglieder (Firmen, Vereine, Handels- und Landwirtschaftskammern), außerdem traten ihm mehrere Bundesfürsten bei. Seit 1897 erschien die Verbandszeitschrift „Der Tropenpflanzer“. Viele Vorstandsmitglieder des K.s waren zugleich führend in der Dt. Togogesellschaft. Daher richteten sich die Bemühungen des K.s v. a. auf den Anbau von →Baumwolle in →Togo. Das langfristige Ziel war, den Baumwollbedarf Deutschlands allein aus den dt. Kolonien zu decken, nicht mittels großräumiger Plantagenwirtschaft, sondern durch zahlreiche Kleinbetriebe indigener Bauern. Dieses Ziel, das das K. in Deutschland mit aufwendiger Öffentlichkeitsarbeit verfocht, – man rief den „Baumwollkulturkampf“ aus – wurde nicht einmal annähernd erreicht. Die Erträge blieben weit hinter den 443
k o l oni Al z e i t un g en , d eu t s c h e
Erwartungen zurück. Daß seine Lobbyarbeit zur Bewilligung des Baus der Bahnlinie von →Lomé nach Palimé beitrug, war der größte Erfolg des K.s. Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne“?, Stuttgart 1991. Georg Albert Schmidt, Das Kolonial-Wirtschaftliche Komitee, Berlin 1934. CHRI S TOP H KUHL Kolonialzeitungen, deutsche. In den dt. →Schutzgebieten entstanden knapp 15 Jahre nach Inbesitznahme der ersten Territorien dt.-sprachige Zeitungen. Zwischen 1898 und 1914 gab es 21 Titel, Amtsblätter ausgenommen. Die erste in den Kolonien herausgegebene Zeitung war der Windhuker Anzeiger (1898). In allen Kolonien, außer in →Dt.-Neuguinea (hier existierte nur das Amtsblatt für das Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea, 1909– 1914) u. in Togo (nur Amtsblatt für das Schutzgebiet Togo, 1906–1914), entstanden dt.-sprachige Zeitungen, die, bis auf die Tsingtauer Neueste Nachrichten und die Keetmanshooper Nachrichten, die täglich erschienen, im Durchschnitt ein bis zwei Mal wöchentlich herausgegeben wurden (Extrablätter zu besonderen Ereignissen ausgenommen). Voraussetzung für das Entstehen einer Zeitungslandschaft in den Kolonien waren neben der Besiedlungsdichte (ausreichende Migrationsbewegungen vom Mutterland in das Schutzgebiet), die Befriedung der Kolonie und der nachhaltige Aufbau ziviler Strukturen sowie die Schaffung einer funktionierenden →Infrastruktur und die damit einhergehende ökonomische Entwicklung des Schutzgebietes. Nicht überraschend ist die Konzentration der Produktionsorte auf die urbanen Zentren der Kolonie; inhaltlich entwickelte sich die überwiegende Zahl der Zeitungen aber von lokalen Publikationsorganen zu überregionalen Blättern mit landesweitem Vertrieb. Hinsichtlich ihrer politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung fehlte in den Schutzgebieten, anders als im Mutterland, der Typus der Parteipresse fast vollständig. Statt dessen sah sich die koloniale Presse als Interessenvertreter bestimmter Berufsstände (Farmer, Minengesellschaften, Wirtschaftsverbände) und nicht als Sprachrohr einer politischen Partei. Für die einh. Bev. wurden in allen Kolonien Zeitungen in ihrer Muttersprache gedruckt, in der Regel von christl. Missionsgesellschaften. Zu den wenigen Zeitungen in indigenen Sprachen, die nicht von Missionaren herausgegeben wurden, gehörten die Monatszeitungen Kiongozi (Der Führer), die der dt.-ostafr. Kommunalverband seit 1905 publizierte, und O le Savali (Der Bote), seit 1905 von Samoanern in der Kolonialverwaltung →Samoas herausgegeben, sowie in →Tsingtau die chines. Bei Hua Pau (Peihuapao, st. 1912). Dt.-Südwestafrika: Windhuker Anzeiger (1898–1901), fortgeführt als Dt.-Südwestafr. Zeitung (1901–1914), Nachrichten des Bezirksvereins Windhuk (1903–1904), Windhuker Nachrichten (1904 aus Nachrichten des Bezirksvereins Windhuk hervorgegangen, 1911 mit Der Südwestbote vereinigt), Der Südwestbote (1911–1915), Lüderitzbuchter Zeitung (1909–1914), Südwest (1910– 1915), Swakopmunder Zeitung (1.10.1912 aufgegangen in der Dt.-Südwestafr. Ztg.), Keetmanshooper Nachrichten (1910/11) Keetmanshooper Zeitung (1911–1914). Dt.-Ostafrika: Dt.-Ostafrikanische Zeitung (1899–1916), Anzeigen für Tanga (1902–1904), Usambara Post (1904 444
aus Anzeigen für Tanga hervorgegangen, 1916 eingestellt), Usaramo Post (Apr. 1907, nach 3 Monaten Erscheinen eingestellt), Dt.-Ostafr. Rundschau (1908– 1912, von DOAZ aufgekauft), Tabora-Post (1914). Kamerun/Togo: Kamerun Post (1912–1916; wurde in beiden Schutzgebieten vertrieben). Samoa: Samoanische Zeitung (1901–1914). Kiautschou: Dt.-Asiatische Warte (1902–1904), Tsingtauer Neueste Nachrichten (1904–1914), KiautschouPost (1908–1912), China-Post (1908–1911). S. a. →Pressewesen i. Kiautschou. Q: Dt. Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften. Universitätsbibliothek Frankfurt/M., Sondersammelgebiet Afrika südlich der Sahara. L: Katja Berker, The History of German Newspapers in Namibia, Grahamstown 1992. Adolf Dresler, Die dt. Kolonien und die Presse, Würzburg 1942. Hilde Lemke, Die Suaheli-Zeitungen u. -Zeitschriften in Dt.-Ostafrika, Leipzig 1929. Dietrich Redeker, Die Geschichte der Tagespresse Dt.-Ostafrikas, Berlin 1937. TO B IA S D Ö PK ER Kolumbien. Das heutige K. entstand nach dem Zerfall →Großkolumbiens 1831 zunächst unter der Bezeichnung República de Nueva Granada. Ab den späten 1830er Jahren bestimmte vermehrt eine neue Generation von →Kreolen und Mestizen (→Casta), die nicht mehr durch die Unabhängigkeitskriege und großkolumbianische Träume geprägt waren, das politische Geschehen. Ende der 1830er Jahre entstanden konservative und liberale Gruppierungen, aus denen später politische Parteien hervorgingen. Die Liberalen unterschieden sich von den Konservativen darin, daß sie ein auf →Freihandel basierendes Entwicklungsmodell (→Desarrollo hacia afuera), die Trennung von Kirche und Staat und einen weitgehenden Föderalismus vertraten. Die Gegensätze zwischen Liberalen und Konservativen führten zu heftigen Auseinandersetzungen um die Hegemonie mit acht größeren Bürgerkriegen in den Jahren 1839–41, 1851, 1854, 1859, 1862, 1876/77, 1884/85, 1895 and 1899–1902, die schwere Proben für den nationalen Zusammenhalt darstellten. Außerdem belasteten sie den stets knappen Staatshaushalt, zumal immer noch die aus den Unabhängigkeitskriegen herrührenden Schulden bedient werden mußten. 1858 erhielt der Staat den Namen Confederación Granadina. In der liberalen Verfassung vom 8.5.1863 gab sich das Land die Bezeichnung Estados Unidos de Colombia, was auf ein föderalistisches, nach dem USam. Vorbild modelliertes Staatengebilde verwies. 1847 setzte sich bei den kolumbianischen Eliten die Überzeugung durch, daß eine Dynamisierung der Wirtschaft das einzige Instrument zur Gesamtmodernisierung darstellte. Sie traten nun entschieden für eine Liberalisierung der Ökonomie, für eine „Entwicklung nach außen“ (→desarollo hacia afuera) ein. Die Handwerker (artesanos) sahen der weitreichenden Umgestaltung, die zur Aufhebung der zuvor geschützten Märkte führte, nicht tatenlos zu. Sie bildeten Selbsthilfeorganisationen und unterstützten schließlich (am 17.4.1854) den Putsch von José María Melo, der das Reformwerk stoppen und den Handwerkern eine bessere Repräsentation gewähren wollte. Die artesanos konnten sich allerdings nur ca. acht Mo-
ko lu m bi en
nate an der Macht halten. Widerstand kam insb. von der rk. Kirche, die sich zu den Konservativen bekannte. Der Klerus spielte später vor allen Dingen in der Mobilisierung gegen die Liberalradikalen im Bürgerkrieg von 1876/77 eine wichtige Rolle. Unter liberalen Prämissen erfolgte eine Phase von wirtschaftlichen Aufschwüngen in verschiedenen Regionen, zumeist auf der Basis des Exports von Bergbauprodukten (→Bergbau) wie Gold, Agrarerzeugnissen (→Tabak, Indigo) und Waldprodukten (Chinarinde). Die exportorientierte Agrar- und Waldwirtschaft endete aber wiederholt in spektakulären Abstürzen, weil sie dem Wettbewerb auf dem Weltmarkt auf Grund ausbleibender Qualitätsverbesserungen, nachhaltiger Bewirtschaftung der Böden sowie Preis senkender Maßnahmen nicht standhielt. Der Staatshaushalt wurde über Exporteinnahmen, Importabgaben sowie Gebühren für Alkoholherstellungs- und -abgabelizenzen u. andere Rechte bestritten. Auf eine hohe Besteuerung des Grundbesitzes und des Einkommens verzichteten die regierenden Eliten während des gesamten 20. Jh.s. Eine unmittelbare Konsequenz daraus bestand darin, daß der Staat nur mit geringen Investitionen die wissenschaftliche Forschung unterstützte. Außerdem konnte er es sich bis in die 1920er Jahren nicht leisten, den Bau und Betrieb von Eisenbahnlinien zu finanzieren; dies wurde lange Zeit ausländischen Konsortien überlassen, was im Land sehr umstritten war. Mitte der 1870er Jahre spaltete sich in K. mit den independientes unter Rafael Núñez ein moderater Flügel von den regierenden radikalen Liberalen ab. Nach harten innenpolitischen Auseinandersetzungen gelang es Núñez (1880–1882, 1884–1886, 1886–1888, 1892–1894) mit Unterstützung der Konservativen, die Regierbarkeit wiederherzustellen. In der Verfassung vom 4.8.1886 wurde K. nach Núñez’ Willen in eine unitarische Rep. (República de Colombia) umgewandelt. Die Zentralreg. wurde gestärkt, die vormaligen Teilstaaten zu departamentos degradiert. Außerdem wurden höhere Zölle zum Schutz des kolumbianischen Gewerbes eingeführt sowie flankierende Maßnahmen zum Aufbau einer eigenen Industrie ergriffen. Die neuen Machthaber stützten sich bei der Umsetzung ihrer Politik auf die rk. Kirche. Außerdem gründeten sie eine Nationalbank mit einer einheitlichen →Währung. Sichtbarer Ausdruck der Zentralisierung war auch, daß allmählich Bogotá zum unbestrittenen politischen und kulturellen Zentrum wurde. Zweimal versuchten die Liberalen in K. vergeblich mit Gewalt, die konservative Hegemonie zu beenden. V. a. der Krieg von 1899–1902 („Krieg der Tausend Tage“) war verheerend. K. hatte in einer Phase wirtschaftlichen Wandels den Ausfall von ca. 100 000 (teilweise weiblichen) Arbeitskräften zu verkraften und die Staatsfinanzen waren einmal mehr ruiniert. Vor diesem Hintergrund fühlte sich ein Teil der Geschäftselite im departamento →Panama darin bestärkt, die Abtrennung von K. voranzutreiben, die mit Hilfe der →USA gelang. Seither mußte K. die USA als unbestrittene Führungsmacht in der Region anerkennen. Als die USA 1921 mit 25 Mio. US-$ K. endlich eine annehmbare Entschädigung für die Aneignung der Rechte des transisthmischen Verkehrs gewährten, setzte die prosperidad a debe, eine Phase des Wohlstands auf Pump, ein, in der konservativ-
nationalistische Reg.en den Ausbau der Infrastruktur forcierten, was wiederum Tausenden von Bauarbeitern Beschäftigung gab. Der Staat wurde damit selbst zum Unternehmer; Bauträger und damit Gewinner der Investitionen, waren aber häufig US-am. Firmen. Diese Boomphase verflachte ab 1927. Mit der Weltwirtschaftskrise kam es zu einer jahrelangen Unterbrechung der wirtschaftlichen Dynamik. Mit der Weltwirtschaftskrise ging in K. zugleich die konservative Hegemonie zu Ende: Die Liberalen stellten 1930–1946 durchgehend die Präs. Sie setzten mit einigem Erfolg neben der selektiven Förderung der Exportwirtschaft auf das in ganz →Lateinamerika zur Anwendung gelangende Modell der →importsubstituierenden Industrialisierung. Außerdem suchten sie nach einer Lösung für die Landfrage. Unter Alfonso López Pumarejo (1934–38) wurde 1936 das Gesetz 200 (Ley 200) erlassen, das vorsah, daß privates Eigentum an Grund und Boden erst durch wirtschaftliche Nutzung legitimiert werde. In die Phase der liberalen Dominanz fiel auch die Verwicklung K.s in den →Leticiakrieg (1932– 1934). In ihrem Selbstverständnis hatten die weißen und mestizischen Eliten K.s eben erst begonnen, die Demokratie, das friedliche Zusammenleben, die Bildung und den Wohlstand, kurzum: die „Zivilisation“, in die das Land angeblich eingetreten war, zu preisen. Da unterbrach ein Ausbruch barbarischer Gewalt die trügerische Ruhe. Der bogotazo, so wurde die Gewalteruption im Anschluß an die Ermordung Jorge Eliezer Gaitáns am 9.4.1948 später genannt, war der Beginn einer Kette von bis weit in die 1950er Jahre hineinreichenden Gewalthandlungen, die der kolumbianischen Bevölkerung als →Violencia in Erinnerung geblieben ist. 1953 putschte der starke Mann der kolumbianischen Armee, Gustavo Rojas Pinilla. U. a. in Sumapaz, Tolima und Tequendama setzten die campesinos mit bewaffneten Selbstverteidigungsverbänden die begonnenen sozialistischen Experimente fort, was die Militär-Reg. ebenso wie ihre zivilen Nachfolgerinnen mit Flächenbombardierungen und Strafexpeditionen beantworteten. Rojas Pinillas Regime dauerte vier Jahre, ehe liberale und konservative Spitzenpolitiker, die angesichts der sichtbaren Distanzierung des Generals vom Establishment und dessen zunehmendem →Populismus um ihren Einfluß bangten, einen Pakt schlossen. Darin begründeten sie zur längerfristigen Eindämmung des politischen Sektierertums das sog. System des Frente Nacional (1958–1974), eine Art Machtkartell, das sich dank einer begrenzten Demokratie an der Macht halten konnte. Unter diesem Elitenbündnis setzten sich das wirtschaftliche Wachstum und die →Urbanisierung fort. In den urbanen Siedlungskernen bildete sich eine relativ wohlhabende und freizügige Mittelklasse heraus. Soziale Verbesserungen erreichten aber nicht alle gesellschaftlichen Gruppen in gleichem Maße. Gewissermaßen als Begleiterscheinung des Frente Nacional entstand die „moderne“ →Guerilla in K. Der Ausschluß „Dritter“, d. h. Parteien, die sich weder zur Konservativen noch zur Liberalen Partei bekannten, von der aktiven Partizipation und der administrative Zentralismus sind wichtige Erklärungsgründe. Hinzu kam die Vorbildfunktion der kubanischen Revolution von 1959, insb. bei Studenten und Bildungsbürgern. Die bedeutendsten Guerilla-Gruppen des 445
k o l um b u s , c h r i s toP h
Landes waren der 1964 gegründete Ejército de Liberación Nacional (ELN), die im selben Jahr entstanden Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) und der nach einem vermuteten Wahlbetrug 1970 gegründete, bürgerlich-nationalistische Movimiento 19 de Abril (M–19). Friedensverhandlungen führten 1989/90 dazu, daß sich der M–19 und einige kleinere Guerillaverbände reintegrierten. In diesem Zusammenhang votierten die kolumbianischen Wähler 1991 für eine neue Verfassung mit weitreichenden sozialen Rechten und einer Dezentralisierung. Der ELN und die FARC widersetzten sich jedoch erfolgreich dem Ende des Kalten Krieges. Seit Mitte der 1980er Jahre erschlossen sie mit erpreßten Schutzgeldern sowie „Steuern“, die sie von Koka- und Opiumbauern (→Opium) sowie den Drogenhändlern (→Drogen) einzogen, neue Finanzquellen, dank derer sie im ganzen Land Präsenz markierten. Der Drogenhandel wurde nicht nur für die Guerilla eine einträgliche Einnahmequelle, auch andere Gruppen profitierten davon: In entlegenen Gebieten in den Llanos Orientales ließen sich seit den 1980er Jahren vermehrt Siedler nieder, die sich dem Kokaanbau widmeten. Kolumbianische Drogenunternehmer, welche die Koka zu exportfähigem Kokain verarbeiten ließen, engagierten sich in diesem lukrativen Geschäft. Sie unterhielten Verbindungen bis in die höchsten Reg.sstellen. Um ihre Ziele wirkungsvoller zu erreichen, unterhielten sie ihre eigenen Schutztruppen, und sie bezahlten Killerbanden (sicarios) aus den Armenvierteln für Spezialaufträge. Das lukrative Geschäft des Drogenhandels beeinflußte den Wertewandel durch die ostentativ zur Schau gestellte Kultur des schnellen Geldes, der narcocultura. Auch die paramilitärischen Organisationen verdankten ihren Einfluß dem Drogenhandel. Sie wurden Mitte der 1980er Jahre unter dem konservativen Präs. Belisario Betancur (1982–1986) als autodefensas gefördert, um der Expansion der Guerilla entgegenzuwirken. Als verlängerter Arm der Viehzüchter, Smaragdunternehmer u. a. Bergbaufirmen, Gewerbetreibenden und Industriellen gerieten sie immer mehr außer Kontrolle, wobei Armeeeinheiten lange Zeit eng mit ihnen kooperierten. Die paramilitärischen Organisationen waren verantwortlich für einen Großteil der Menschenrechtsverletzungen in K. Vor dem Hintergrund eines eskalierenden Konflikts zwischen Reg. und FARC, der unter der Bevölkerung zahlreiche Opfer forderte, eines Zweiparteiensystems, das sich verbraucht hatte und einer Mafia, die tun und lassen konnte, was sie wollte, wurde 2002 Álvaro Uribe Vélez zum Präs. gewählt. Er versprach, mit starker Hand den Rechtsstaat, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Er setzte dabei auf die Professionalisierung der Armee und deren Aufrüstung, um damit die Guerilla militärisch in die Knie zu zwingen. Seit 1999 stand mit dem Plan Colombia ein weitgehend durch die USA finanziertes Programm in Milliardenhöhe zur Drogenbekämpfung bereit, das Uribe für seinen Feldzug gegen die „Terroristen“ nutzen konnte. Ihm gelang es 2005, im Tausch gegen „Wahrheit“ (über ihre Menschenrechtsverbrechen), geringe Strafen und soziale Programme Tausende Paramilitärs u. andere bewaffnete, illegale Kräfte davon zu überzeugen, ihre Waffen niederzulegen und sich zu reintegrieren. In Uribes Amtszeit 446
(bis 2010) verbesserte sich die Sicherheitslage. Tatsache ist aber auch, daß die Guerilla, wenn auch geschwächt, überlebte, der Drogenhandel, der →Klientelismus im Reg.slager und der Paramilitarismus, der auch im Parlament präsent war (parapolítica), weiter florierten und der Bildungs-, Erziehungs- und Sozialbereich stagnierten. Außerdem erreichten die Beziehungen zu den Nachbarländern →Venezuela und →Ecuador einen Tiefpunkt. Werner Altmann u. a. (Hg.), Kolumbien heute, Frankfurt/M. 1997. Hans-Joachim König, Kleine Geschichte Kolumbiens, München 2008. Frank R. Safford / Marco Palacios, Colombia: Fragmented Land, Divided Society, New York 2002. TH O MA S FISCH ER Kolumbus, Christoph, it. Cristoforo Colombo, span. Cristóbal Colón, frz. Cristophe Colomb, engl. Christopher Columbus, * um 1451 in oder bei →Genua, † 20. Mai 1506 Valladolid, □ Grablege umstritten zwischen den Kathedralen von Sevilla und Santo Domingo, infolge ungeklärter Umbettungen, an beiden Orten werden Ruhestätten gezeigt, rk. Der trotz aller Spekulationen um seine Herkunft ziemlich sicher einer einfachen genuesischen Weberfamilie entstammende K. bezeichnete sich selbst als Italiener, konnte sich in erhaltenen Dokumenten aber nur in einem mit it. und port. Begriffen durchsetzten Spanisch äußern. Früh in Diensten unterschiedlicher Herren – als Korsar René d’Anjous im Kampf um Neapel oder der Kaufmannsdynastien der Spinola, Di Negro und Centurione zur See fahrend – , folgte er 1476 seinem Bruder Bartolomé nach Lissabon. Von da aus war er an Reisen zu den Atlantikinseln der Azoren, Madeira, Kanaren und Kapverden, dem afr. Festland und nach Island und England beteiligt, bevor er 1479 Felipa Moniz Perestrelho, die Tochter eines port. Hidalgo aus einer aus Piacenza stammenden, in Portugal naturalisierten Familie, heiratete, der Jahre zuvor Gouv. der zum Madeira-Archipel gehörenden Insel Porto Santo war. Die in einem Lissaboner Damenstift lebende Felipa, gebar K.s einzigen legitimen Erben, den Sohn Diego, bevor sie 1484 starb. Die Ehe sicherte K. gute Kontakte zu dem it.-port. Seefahrer- und Kolonistenmileu, das seit den Zeiten Heinrich des Seefahrers die port. Expansion im →Atlantik vorantrieb und in dem K. seine Idee, Asien durch Überquerung des Atlantik in westlicher Richtung, einem seinen Berechnungen zufolge kürzeren Weg, aufzufinden, fassen und durch autodidaktische Studien und die Konsultation von Fachleuten wie dem Florentiner Toscanelli untermauern konnte. Ab 1484/85, als K. sein Projekt vergeblich Johann II. v. Portugal, zu dessen Haushalt sein verstorbener Schwiegervater gehört hatte, vortrug, bemühten sich die schwer verschuldeten Brüder Christoph und Bartolomé an verschiedenen Kg.s- und Adelshöfen um Unterstützung für ihr Projekt in einer ungünstigen Konjunktur. Der Portugiese Bartolomeu Dias umrundete 1487 das →Kap der guten Hoffnung, so daß Portugal sich seinem Ziel der Auffindung des Seewegs nach Asien nahe glaubte. Die Kg.e Ferdinand und Isabella v. Kastilien und Aragón standen in einem kostenintensiven Eroberungskrieg gegen das letzte Maurenreich auf span. Boden, Granada, der angesichts des Vordringens der Türken im
ko lu m bu s , ch ri s toP h
östlichen Mittelmeerraum und der dadurch bedrohten Interessen Aragóns im westlichen Mittelmeer hohe politische Priorität hatte. Zugleich wurden in den süddt. Handelszentren (→Nürnberg, →Augsburg) mit deren weithin nachgefragter Technik und deren guten Verbindungen nach Italien (→Venedig, Rom, Florenz mit dem aus Nürnberg stammenden Kartographen Martellus, dt. Hammer) und zur Iberischen Halbinsel ähnliche Projekte zur Auffindung eines westlichen Seewegs nach Asien ventiliert. K. wandte sich angesichts der Rivalität zwischen Kastilien und Portugal 1485 nach →Andalusien, wo er in Kontakt trat zu dem Franziskanerkloster in La Rábida (bei Palos am Mündungsdelta der Flüsse Odiel und Río Tinto), das von der Krone mit der Mission an der westafr. Küste, einer zwischen Kastilien und Portugal umstrittenen Region, beauftragt war und ebenfalls Verbindung mit dem Herzog von Medinaceli aufnahm, der selbst Handels- und Fischereiinteressen in den angrenzenden Seegebieten hatte. K. versuchte so sein Vorhaben, Asien auf dem westlichen Seewege aufzufinden in Milieus mit sehr unterschiedlichen Interessen, die teils primär atlantisch ausgerichtet (Hochadel, Missionsorden, Kastilien) waren, teils fernhandelsorientiert am direkten Zugang zu den asiatischen Luxusgütern (Genuesen, Florentiner, Aragón) Interesse hatten. Die an den Höfen mit der Beurteilung von K.’s Vorhaben befaßten, humanistisch gebildeten Gutachtergremien zweifelten denn auch nicht an der längst bekannten Kugelgestalt der Erde, sondern an K.’s auf Ptolemäus fußenden Entfernungsberechnungen, die tatsächlich von einem viel zu geringen Erdumfang ausgingen und daran, daß er als nautischer Praktiker bei der Auslegung seiner Quellen nicht recht ernst genommen wurde, ganz abgesehen davon, daß K. im Erfolgsfalle unangemessen hohe Forderungen stellte. Zwischen 1486 und 1491 wurde K. auf Grund diverser Fürsprachen mehrfach bei Hof empfangen und trug sein Projekt vor, dessen Finanzierung die Krone, zuletzt im Heerlager von Santa Fé vor dem vor der Übergabe stehenden Granada, ablehnte. Hier nun erfolgte die überraschende und die Historiographie so beschäftigende Wende, als der bereits abgereiste K. nach Santa Fé zurückgerufen wurde. Der Dominikaner Fray Diego de Deza, Erzieher des Kronprinzen und spätere Generalinquisitor und Luis de Santángel, der Finanzsekretär Kg. Ferdinands, hatten Kg.in Isabel umgestimmt, Deza mit Glaubens- und Missionsargumenten, Santángel mit einer ökonomischen Kosten- / Nutzenrechnung unter Hinweis auf das Risiko, andere christl. Herrscher könnten mit diesem Projekt Erfolg haben. Am 17.4.1492 wurden die sog. Capitulaciones von Santé Fé (→Capitulación) geschlossen, in denen K. im Erfolgsfalle das erbliche Amt eines Admirals des Ozeanischen Meeres, das des Vize-Kg.s mit dem Recht, für alle Ämter in Übersee der Krone einen Dreiervorschlag unterbreiten zu dürfen und des Gouv.s der von ihm entdeckten Gebiete. Weitere z. T. ambivalente Punkte behandelten die Besitznahme, die Finanzierung, die Verteilung der Handelsgewinne u. andere eher technische Dinge. Diese „Kapitulationen“, nach den Vorstellungen der Zeit eine Art Vertrag mit verschiedenen Punkten, bzw. Kapiteln zwischen Ungleichen, begründeten ein Monopolunternehmen „Kath.
Kg.e & K.“ nach kastilischem →Recht, in das die Krone 2 Mio. Maravedis investierte und K. weitere Summen durch Kredite, u. a. von dem Medici-Faktor in Sevilla, beisteuerte. Über diese Kapitulationen ist viel diskutiert worden, da die wenig präzisen Formulierungen schließlich in einen erst 1536 durch Vergleich beendeten, vor dem kgl. Rat verhandelten Prozeß der Erben des K. mit der Krone mündete. Dem abschließenden Vergleich zufolge verzichteten die K.erben auf die dem Entdecker verliehenen Ämter und Rechte, um im Gegenzug die Adelsprädikate „Herzöge von Veragua und Markgrafen von →Jamaika“ mit den zugehörigen Grundherrschaften zu erhalten. Am 3.8.1492 segelte K. von Palos aus mit den 3 Schiffen, Sta. María, Niña und Pinta und einer ca. 90. Mann umfassenden Besatzung ab. Wieder half das Kloster La Rábida das Mißtrauen gegen den Ausländer zu überwinden. Wichtige Teilnehmer waren die Gebrüder Pinzón und Juan de la Cosa, die in der Folge eine wichtige Rolle bei späteren Entdeckungsreisen spielen sollten. Von den Kanarischen Inseln aus begann K. am 8. Sept. die Überquerung des Ozeans auf der Höhe des 28. →Breitengrades. Nach einer weder durch Stürme noch durch Windstille beeinträchtigten Fahrt sichtete in der Nacht vom 11. auf den 12. Okt. gegen 2 Uhr morgens Rodrigo de Triana, Ausguck der Pinta, erstmals „Land“, die Insel Guanahani der Bahama- oder Lucaya-Gruppe, die K. „San Salvador“ nach dem Erlöser benannte. Wenig später stieß K. auf das „La Española“ benannte Haiti, von wo aus er das nach der Kg.in Isabella getaufte →Kuba zu erkunden begann. Die Kontakte mit den Eingeborenen verliefen zunächst friedlich und K. hielt sie ungeachtet der beobachteten kulturellen Unterschiede für leicht zum Christentum bekehrbar, wie er in dem von B. de →Las Casas überlieferten Bordbuch der 1. Reise ausführte. Aus dem Material des gestrandeten Flaggschiffs Santa María ließ K. auf Haiti ein Fort, la Navidad, bauen, in dem ein Teil der Mannschaft zurückbleiben mußte, um nach Rückkehr der Pinta von einer eigenen Erkundungsfahrt Mitte Jan. die Rückreise anzutreten. Bei dieser bewies K. sein hohes nautisches Geschick, indem er eine viel weiter nördliche Route einschlug als auf der Hinfahrt und so bereits die Routen für Hin- und Rückreise dauerhaft absteckte. Die beiden Schiffe gerieten in verheerende Stürme und wurden getrennt. K. mußte mit der Niña die Azoren ansteuern und konnte nur mit Mühe die Portugiesen überzeugen, nicht aus dem vertraglich Portugal vorbehaltenen Afrika (Vertrag von Alcáçovas) zu kommen. Die Pinta unter Martín Alonso Pinzón stieß auf der Höhe von Bayonne wieder auf Land, während K. selbst am 4. März die Einfahrt in die TajoMündung gelang. Die verheerenden Stürme dieses Frühjahrs ließen bei Lissabon 25 flämische Schiffe verloren gehen. Nach einer Audienz bei Kg. Johann II., bei der dieser die Verletzung der zwischen Kastilien und Portugal bestehende Rechtslage reklamierte, gelangte K. wenige Tage später zurück nach Palos, drei Tage später gefolgt von der aus Galicien kommenden Pinta. Im Triumph reiste K. nach Barcelona an den Hof, wo er Ende Apr. empfangen wurde, nachdem dort schon hektische Aktivität eingesetzt hatte. Kg. Ferdinand wandte sich an den aus Valencia stammenden Papst Alexander VI., um 447
k o l um b u s , c h r i s toP h
sich gegenüber Portugal die kastilischen Rechte zu sichern. Von Anfang Mai bis Sept. 1493 folgte dieser den kastilischen Wünschen in 5 →Bullen, von denen die beiden →Inter Cetera und Dudum Siquidem als die wichtigsten die Besitzverhältnisse zwischen beiden Kronen und die im Vertrag von Tordesillas (1494) definitiv vereinbarte Trennline regelte. Die Papstbullen und der Vertrag bilden eine der meistdiskutierten Völkerrechtssetzungen am Beginn der Neuzeit, die von ihren Gegnern schon damals als „Weltteilung“ bezeichnet wurde. Parallel dazu wurde die Nachricht propagandistisch durch die Veröffentlichung in lateinischer Sprache des Briefes von K. an seinen Gönner L. de Santángel ausgewertet (erste Edition in span. Sprache am 29.4.1493 in Barcelona, lateinische Ausgaben in Rom, Paris, Antwerpen, Basel 1494) und eine weitere große Fahrt mit 17 Schiffen und ca. 1500, teils hochrangigen Teilnehmern vorbereitet. Die überdimensionierte, die Ökonomie der karibischen indigenen Bevölkerung extrem überfordernde 2. Expedition K.s mit gebildeten, von den Reichtümern Asiens träumenden und keineswegs auf ein Kolonisationsunternehmen, trotz Beteiligung entspr. handwerklich geschulter Fachleute, eingestellten Teilnehmern verließ Cadiz schon am 25.9.1493. Am 13.10. begann die Überfahrt von der Kanareninsel Hierro aus, um am 3.11. auf die Kleinen →Antillen zu stoßen. Auf Dominica wurde die erste Messe in →Amerika gelesen, da sich unter den Teilnehmern eine Gruppe von Missionaren unter Leitung des Kg. Ferdinand nahestehenden Paters Boil befand. Über weitere Inseln der Kleinen Antillen, Guadeloupe und Puerto Rico erreichte man Haiti, nachdem erste Begegnungen mit den Kariben Anstöße zu den späteren Mythen von deren kannibalischen Gewohnheiten und nach der Begegnung mit Pfeil und Bogen hantierenden Frauen für den der Amazonen geliefert hatten. Man fand das von K. errichtete Fort zerstört und seine Besatzung getötet, so daß sich Ernüchterung breit machte. Bereits da begann K.s Ruhm zu verblassen, als er weitere Erkundungen unternahm und auf Haiti zugleich Krankheiten ausbrachen, Versuche zur Selbstversorgung scheiterten und die indigene Bevölkerung Widerstand zu leisten begann. Im Febr. 1494 mußte K. 12 Schiffe nach Spanien mit dem Ersuchen um Hilfslieferungen entsenden, die erste Nachweise von Gold mitführten. Im weiteren Verlauf von 1494 verließen u. a. der aragonesische Militär Margarit und Pater Boil das Unternehmen und kehrten nach Spanien zurück, wo Boil dem Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer kurz nach Rückkehr von dem aufgefundenen „Archipel“ berichtete. Seit 1495 verflüchtigte sich die Neuigkeit von der Auffindung Asiens, obwohl K. bis zum Tod daran festhielt. Nachdem K. es mit Hilfe seiner männlichen Familienmitglieder gelungen war, die neue Niederlassung einigermaßen zu sichern, kehrte er nach Spanien zurück. Die Kg.e bestätigten 1497 seine Privilegien, ließen in der Folge aber unabhängige Entdeckungsfahrten von Teilnehmern der vorangegangenen Unternehmungen mit jeweils eigener Kapitulation zur Besitznahme grob bezeichneter Gebiete zu, in deren Gefolge →Vespucci zur unter seinem Namen propagierten Vorstellung von einem Mundus Novus gelangte. Als 1498 Vasco →da Gama nach →Calicut / →Indien gelangt war 448
und 1500 Pedro Alvares de Cabral auf der 2. port. Indienfahrt nicht nur →Brasilien entdeckte und in Besitz nahm, sondern auch den port. Gewürzhandel (→Gewürze) in großem Stil erschloß, verlor das Unternehmen K.s trotz der zwischenzeitlichen Goldfunde an Interesse. Nach Regelung persönlicher Angelegenheiten, u. a. Begründung eines Fideikomisses, in den Besitzungen und Privilegien eingingen, trat K. am 30.5.1498 die 3. Fahrt an, konnte bei den Kanaren einen frz. Korsaren besiegen und so die Zahl seiner Schiffe vermehren, entsandte unter dem Befehl seines Neffen 3 Schiffe direkt zu der zwischenzeitlich von seinem Bruder und Stellvertreter Bartolomé gegründeten Stadt Santo Domingo (→koloniale Metropolen) und wandte sich selbst mit drei anderen Schiffen auf eine südlichere Route, die ihn auf die Mündung des →Orinoko treffen ließ. Dessen Größe beeindruckte den Entdecker und veranlaßte ihn zu Rückschlüssen auf die ungeheuere Ausdehnung des Landes und der Vermutung, daß der Fluß in dem „irdischen Paradies“ entspringen müsse. Bei der Ankunft in Haiti fand K. Teile der Siedler in Rebellion und die indigene Bevölkerung in offenem Widerstand gegen die Siedler vor. Als es K. nicht gelang, die Verhältnisse zu befrieden, entsandte die Krone den Untersuchungsrichter Francisco de Bobadilla, der nach Abschluß der Zeugeneinvernahme K. in Fußfesseln nach Spanien entsandte, mit dem selbst benutzten Schiff aber auf der Rückfahrt unterging. K. weigerte sich auf dem Schiff, sich die Fesseln abnehmen zu lassen, um den Kg.en seine „Erniedrigung“ zu dokumentieren und die vielen Gegner bei Hof zum Schweigen zu bringen. Obwohl gnädig aufgenommen, reorganisierte die Krone die Reg. der Kolonie grundlegend durch Einrichtung der Casa de Contratación in Sevilla und die Entsendung von Nicolás de Ovando, Comendador des Ordens von Alcántara, als neuen Gouv. mit der größten bis dahin je nach Übersee entsandten Flotte und detaillierten Instruktionen bezüglich der durchzuführenden Maßnahmen. K. selbst erhielt eine 4. Expedition bewilligt, die die Durchfahrt durch die Inselwelt der →Karibik nach Asien suchen sollte. Am 9.5.1502 verließ K. mit 4 Schiffen und 150 Mann Besatzung Kastilien und wandte sich entlang der südam. Nordküste nach Westen, geriet bei →Martinique in schwierige Witterungsverhältnisse, mußte die Reise aber fortsetzen, da Ovando ihm die Landung in Haiti untersagte. Entlang der Südküste Kubas und nach Entdeckung Jamaikas gelangte K. an die Küste Zentralamerikas, die einen Monat lang großräumig erkundet wurde. Nach Schiffsverlusten strandete die Expedition mit zwei nahezu unbrauchbaren Schiffen mit zahlreichen Kranken und ohne Lebensmittel in Jamaika. Nach ca. anderthalb Jahren auf der Insel, die die Expedition nur mit Hilfe der Ureinwohner überlebte, um schließlich von Haiti aus gerettet zu werden, kehrte K. am 7.11.1504 gescheitert nach San Lúcar de Barrameda zurück. Wenig später starb Isabella d. Katholische und es begann der Streit um die Regentschaft, für den an schwerer Arthritis leidenden, am Hof als Bittsteller seine Rechte suchenden K. denkbare ungünstige Umstände. Briefe mit Anweisungen und Bitten an den Sohn, Testamente, Denkschriften u. a. Schriftstücke beschäftigen K. bis an sein Ende. Daß K. gleichwohl nicht vergessen war,
k o m PA s s
belegt ein kgl. Sendschreiben vom 2.6.1506 an Ovando, in dem er den Tod des Admirals mitteilte und den Gouv. bat, die Rechte und Abgaben von dessen Sohn und Erben Diego zu respektieren. Viele Legenden, Gerüchte und Spekulationen ranken sich bis heute um den Entdecker. Dies nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, daß die weit verstreuten Quellen zu K. erst nach und nach aufgefunden wurden, wie z. B. Ende der 1990er Jahre die Anklageschrift des Untersuchungsrichters Bobadilla. Obwohl der Humanist Pedro Mártir de Anglería am Hofe der Katholischen Kg.e schon früh die Ergebnisse der Entdeckungsfahrten durch Befragung der Akteure zu dokumentieren begann, wurden erst im Gefolge von →Karls V. imperialer Politik die Leistungen K.s nach und nach anerkannt, als Hernán →Cortés in →Mexiko das erste am. Großreich (1521) erobert und Magellán die erste Erdumrundung abgeschlossen hatte. Nachdem der Chronist López de Gómera zu Beginn der 1550er Jahre die Entdeckung Amerikas als das bedeutendste Ereignis der Menschheitsgeschichte seit der Menschwerdung Christi bezeichnete, begann der Ruhm K.s zu wachsen, bis im 19. Jh. gar der Versuch unternommen wurde, ihn heilig sprechen zu lassen. Nach dem →Zweiten Weltkrieg ging die Historiographie dazu über, K. stärker in die Zeitumstände einzuordnen und von klassischer Heldenverehrung abzurücken. Q: Juan Pérez de Tudela u. a. (Hg.), Colección documental del descubrimiento, 3 Bde., Madrid 1994. L: Klaus Brinkbäumer / Clemens Höges, Die letzte Reise. Der Fall Christoph Columbus, München 2004. Enrique Otte, Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, hg. v. Günter Vollmer u. Horst Pietschmann, Stuttgart 2004. Ders., Sevilla y sus mercaderes a fines de la Edad Media, Sevilla 1996. Renate Pieper, Die Vermittlung einer Neuen Welt, Mainz 2000. Carlos Martínez Shaw / Celia Parcero Torre (Hg.), Cristóbal Colón. Junta de Castilla y León, o. O. 2006. HORS T P I E T S CHMANN
Komintern. Die Kommunistische Internationale (kurz: K.) wurde auf die Initiative Lenins auf dem Gründungskongreß vom 2. bis 6.3.1919 als internationaler Zusammenschluß kommunistischer Parteien in Antwort als Reaktion auf die Zweite Internationale (der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien) gegründet. Seit ihrer Gründung stand die K. unter sowjetischem Einfluß. Programmatisch war sie zunächst auf die proletarische „Weltrevolution“ verpflichtet. Nach Lenin befand sich die Welt in der Phase des Imperialismus und der durch ihn ausgelösten Kriege. Diese würden schließlich weltweit zu nationalen Revolutionen und zur „Diktatur des Proletariats“, damit zum Ende des Kapitalismus führen. Zum Ausdruck brachte dies die Parole „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“. Lenins Konzept basierte auf den Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg, so dem Sturz der Habsburger Monarchie in Österreich, der Oktoberrevolution in Rußland und der Novemberrevolution in Deutschland. Die Revolution würde – so Lenin – von einem Land auf das andere überspringen und von Europa schließlich nach Übersee übergreifen. Mit dem Aufstieg
Stalins in der Sowjetunion Ende der 1920er Jahre wurde das Konzept der „Weltrevolution“ aufgegeben, im Vordergrund standen nun die geopolitischen Interessen der Sowjetunion. Das zeigte sich auch daran, daß die Aktivitäten der K. über das sowjetische Außenministerium und die diplomatischen Vertretungen (v. a. die Handelsmissionen) liefen. Die Infiltrierungsversuche, so in China 1927, →Mexiko 1929 und →Brasilien 1935 blieben erfolglos. Als Faktoren für das Gründe des Scheiterns der K. sind zu nennen: 1.) die Schwäche der einheimischen kommunistischen Parteien, 2.) die unzureichende personelle und finanzielle Ausstattung der sowjetischen K.büros, 3.) die fehlende Kenntnis über regionalspezifische Entwicklungen, 4.) die Gleichschaltung der K. im Sinne einer Stalinisierung. Die Auflösung der K. 1943 ist zum einen als Zugeständnis für das Zustandekommen der „Anti-Hitler-Koalition“ mit den westlichen Alliierten Großbritannien und →USA, zum anderen als realpolitische Einsicht in das eigene Scheitern zu bewerten. Mechthild Leutner (Hg.), KPdSU(B), Komintern und die Sowjetbewegung in China. Dokumente, Münster 2000. Taline Ter Minassian, Colporteurs du Komintern, Paris 1997. Olga Ulianova / Alfredo Riquelme Segovia, Komintern y Chile, Santiago de Chile 2005. EVA -MA R IA STO LB ER G
Komoren. Der im →Ind. Ozean zwischen Afrika und →Madagaskar gelegene Inselstaat, der mit den drei Hauptinseln Njazidja, Nzwani, Mwali und vielen kleinen Inseln insg. 3 724 km2 umfaßt, hat ca. 650 000 Ew. (2005). Hauptstadt ist Moroni, Amtssprachen sind Französisch und Arabisch, während als Umgangssprache das aus Arabisch und Suaheli (→Ki-Suaheli) zusammengesetzte Shikomoro gebräuchlich ist. Als erste Europäer erreichten 1505 die Portugiesen die Inselgruppe, ohne sie formell in Besitz zu nehmen oder dauerhaft zu besiedeln. Bis ins 19. Jh. dienten die K. verschiedenen europäischen Mächten als Zwischenstation auf dem Seeweg nach →Indien. 1886 errichtete Frankreich ein →Protektorat über die K., nachdem es bereits 1841 die zum selben Archipel gehörende Insel →Mayotte in Besitz genommen hatte. 1912 wurde das Protektorat zur Kolonie, die seit 1914 dem Gen.-gouv. von Madagaskar unterstand. 1946 gab Frankreich den K. den Status eines Überseeterritoriums. In einer →Volksabstimmung sprach sich 1958 eine Mehrheit für den Verbleib der K. bei Frankreich aus. Daraufhin riefen komorische Migranten in →Tansania 1963 die MOLINACO (Mouvement de Libération Nationale des Comores) ins Leben, die seitdem auf die Unabhängigkeit der K. hinarbeitete, die am 6.7.1975 erreicht wurde, nachdem bei einer erneuten Volksabstimmung 1974 eine Mehrheit dafür votiert hatte. Walter Schicho, Handbuch Afrika, Bd. 1, Frankfurt/M. 1999, 23–34. C H R ISTO PH K U H L Kompaß. Dosenförmiges Gerät, bei dem sich eine Magnetnadel frei um ihre Achse drehen kann, so daß sich ihre Spitze nach dem magnetischen Nordpol der Erde ausrichtet. Da der Magnetpol derzeit auf der nordkanadischen Insel Boothia gelegen ist, also vom geographischen Nordpol abweicht, und ständig wandert, spricht 449
kondominium
man von Abweichung oder Mißweisung (Deklination) bei der Anzeige der Himmelsrichtung. Im Zeitalter der Entdeckungen wurde die Deklination im Nordatlantik als besonders stark wahrgenommen, weil der K. dort nicht mehr als zuverlässiger Richtungsweiser für die Nordrichtung taugte. – In älteren Dokumenten kann das Wort „K.“ zu Mißverständnissen führen, weil es in den romanischen Sprachen und im Englischen „Zirkel“ bedeutete, während der Magnetnadel-K. als „Bussole“ bezeichnet wurde. (→Magnetismus) Emil Bachmann, Wer hat Himmel und Erde vermessen?, Thun 1965. James A. Bennett, The Divided Circle, Oxford 1987. UTA L I NDGRE N Kondominium. Ein K. stellt die Herrschaftsausübung über ein bestimmtes Territorium (Kondominat – ein mehreren Landsherren gehörendes Gebiet) durch mehrere Staaten dar. Da man das betr. Gebiet alternativ „realteilen“ kann (z. B. Hispaniolia, zwischen Frankreich u. Spanien, Haiti u. Dominik. Rep.; Saint Martin / Sint Maarten, Norden frz., Süden ndl., →Antillen), war das K. in der Kolonialgeschichte selten, kam in der (älteren) europäischen Geschichte aber relativ häufig vor. Mitunter gab es gute Gründe für eine derartige Rechtskonstruktion, z. B. die gemeinsame Herrschaft der einzeln zu schwachen zwölf „Alten Orte“ (Schweizer Kantone) über das heutige Tessin oder das K., das Byzanz und der Kalif 685/8–965 über die abgelegene Insel Zypern ausübten. Die Schwierigkeiten, die mit einer gemeinsamen Verwaltung verbunden sind, machten viele Kondominia kurzlebig (z. B. Lippstadt, 1819–1849 K. von Lippe u. Preußen, oder Schleswig-Holstein, 1864–1866 Österreich / Preußen). Andere waren oder sind erstaunlich langlebig (Bergedorf, 1420–1867 K. von Hamburg u. Lübeck; Andorra, st. 1278 K. frz. u. span. Landesherren). Im Rahmen der Kolonialgeschichte sind folgende K. zu nennen: 1. (Anglo-ägyptischer) →Sudan 1899–1956, K. Großbritanniens und des tatsächlich von ihm seit 1882 militärisch besetzten →Ägypten, in der Praxis also weitgehend brit. Kolonie. 2. Sachalin 1855–1875, K. des Russ. Reichs und Japans, danach russ., sodann jeweils als Ergebnis eines Kriegs: 1905 zwischen beiden Staaten aufgeteilt, seit 1951 erneut russ. 3. →Vanuatu (Neue Hebriden) 1906–1980, K. Großbritanniens und Frankreichs, der klassische Fall eines europ.-kolonialen Ks. 4. Oregon Country 1818–1846, K. der →USA und Großbritanniens. 5. →Samoa 1889–1899, K. Großbritanniens, der →USA und des Dt. Reiches. 6. →Nauru: 1923–1968, K. Großbritanniens, →Australiens und →Neuseelands. 7. Kanton und Enderbury (die größten der Phönixinseln) 1939–1979, K. Großbritanniens und der USA, seit 1979 zu →Kiribati gehörig. 8. „Togoland“ 1914–1916, K. Großbritanniens und Frankreichs, ⅔ des Gebiets bilden heute →Togo, ⅓ ist an →Ghana gefallen. 450
9. Hans-Insel zwischen →Grönland und Ellesmereinsel (→Kanada), seit 2005 K. Dänemarks und Kanadas. 10. Ort „Hadf“ zwischen Oman und den Vereinigten Arab. Emiraten (Emirat Ajman). 11. viele Inseln im Fluß →Kongo im Abschnitt zwischen den beiden Kongo-Staaten. 12. Über den Golf von Fonseca besteht auf Grund einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs seit 1992 ein K. aus Honduras, El Salvador und Nicaragua. 13. →Brasilien und →Paraguay teilen sich ein Stück des Rio Paraná. 14. Im Hinblick auf den Teil des Tumen nahe der russ. Grenze dürfen China und Nordkorea die Herrschaft gemeinsam ausüben. 15. Die beiden neutralen Zonen zwischen Saudi-Arabien und Kuwait (1922–1970) bzw. Irak (1922–1991) ähnelten einem K., zumal die letztere keine weitere Außengrenze hatte. Die →Antarktis bildet gemäß dem Antarktisvertrag ein Niemandsland, sog. →terra nullius. Da der Vertrag die Privilegierung der sog. Konsultativstaaten vorsieht und einige interessierte Staaten ihre vormaligen Ansprüche nur ruhen lassen, verharrt der Kontinent zugleich im Zustand eines K.s. Die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres konnten sich nicht auf eine Aufteilung des Gewässers verständigen, so daß bis auf weiteres ein labiles und unklares de-facto-K. besteht. Alain Coret, Le Condominium, Paris 1960. Hans-Dirk Joosten, Die Stätte des Lasters. Kolonialgeschichte des engl.-frz. Kondominiums der Neuen Hebriden, Münster u. a. 1987. Paul M. Kennedy, The Samoan Tangle. A Study in Anglo-German-American Relations 1878–1900, New York 1974. CH R ISTIA N H A N N IG / H ERMA N N H IERY
Kongo-Brazzaville. Das Land nördlich des KongoUnterlaufs hat mit seinen 342 000 qkm etwa die Größe Deutschlands, zählt aber nur wenig über 4 Mio Einwohner. Davon konzentriert sich weit über die Hälfte in der Hauptstadt Brazzaville (1,1 Mio), dem über eine 500 km lange Bahnlinie verbundenen Überseehafen PointeNoire (630 000) und anderen Großstädten. Die Landbevölkerung in der nach Norden immer dünner besiedelten Kongoebene, die beiderseits des Äquators liegt und zwei Regenzeiten kennt, ernährt sich durch meist subsistenten Anbau von Maniok, Mais, Erdnüsse, Yams und Kochbananen. Während der Export von →Kaffee, →Kakao und Zuckerrohr (→Zucker) nur eine geringe Rolle spielt, muß K. große Mengen von Weizen, →Reis und Mais einführen. 90 % der Exporterlöse stammen vom Erdöl; der Abbau anderer Bodenschätze (z. B. Mangan) und die Forstwirtschaft befinden sich noch im Aufbau. Die Bewohner von K. zählen zu folgenden Bantu-sprachigen Ethnien: BaKongo (40 %), Mboshi (12 %), Kuyu (11 %), BaTeke (6 %) und einigen kleineren Gruppen; ein Prozent stellen die Pygmäen in den Wald- und Sumpfgebieten des Nordostens. Während die Amtssprache Französisch ist, verständigt sich etwa die Hälfte der Bewohner in der auch in der Demokratischen Republik Kongo auf der anderen Seite des Riesenstroms verbreiteten Misch-
k o n g o , dem o k rAti s ch e reP u bli k
und Verkehrssprache Lingala, im Süden des Landes auch in der mit dem Kikongo verwandten „Pidgin“-Variante Kituba. Unter den rund 50 % Christen sind die Katholiken die stärkste Gruppe (37 %); die andere Hälfte der Bevölkerung hält an afrikanischen Religionen fest; in zunehmendem Maße gewinnen diverse Sekten Anhänger. Nach der Entdeckung der Kongo-Mündung durch den Portugiesen Diogo Câo 1482 und der gescheiterten Christianisierung des Königreiches Kongo (nach dem Tod des Königs Alfonso I. Mvemba Mzinga 1543) beschränkten sich die Europäer auf den Handel mit Sklaven (→Sklaverei) und Elfenbein, bis 1766 eine französische Mission sich niederließ und 100 Jahre später das Land von dem gebürtigen Italiener in französischen Diensten Pierre P.F.C. Savorgan de Brazza (1852–1905) systematisch erforscht und annektiert wurde. 1880 verwandelte sich das Reich Teke mit seinem König Makoko in ein französisches Protektorat, 1883 entstand der Hafen Pointe Noir und ab 1891 gab es die französische Kolonie Kongo (ab 1910 Teil von Französisch-Äquatorialafrika mit der Hauptstadt Brazzaville), die 1911 bis 1914 ihren Nordteil an das damals deutsche →Kamerun abtreten mußte. In dem 1880 gegründeten Brazzaville rief Charles de Gaulle im Oktober 1940 das „unbesiegte Frankreich“ aus. Die Unabhängigkeit zur heute so genannten Republik Kongo (frz. République du Congo, Lingala: Republiki ya Kongó) erfolgte in Etappen von 1946 bis 1960, danach begannen sozialistische Umstrukturierungen und 1969 bis 1990 nannte sich das Land unter Marien Ngouabi „Volksrepublik“. Von 1997 bis 2003 tobten mehrere Bürgerkriege, von denen die 2002 ausgerufene „präsidiale Republik“ sich nur langsam erholt. Adolf Bastian, Ein Besuch in San Salvador, der Hauptstadt des Königreichs Congo, Bremen 1859. Anne Hilton, The Kingdom of Kongo, Oxford 1985. Rogério Goma Mpasi, Lingala für Kongo und Republik Kongo, Bielefeld 2 2001. BE RNHARD S T RE CK Kongo, Demokratische Republik. Die DRK ist mit einer Fläche von 2,34 Mio. km2 geographisch das drittgrößte Land Afrikas. Neben der Größe des Territoriums erschwerten die Regenwaldgebiete des K.-Beckens die infrastrukturelle Integration des Landes. Auch die großen Vorkommen an Bodenschätzen u. a. natürlichen Reichtümern erwiesen sich in der Geschichte eher als Nachteil. Während der beiden Perioden, in denen das Land als DRK bezeichnet wurde, bestimmten Kriege und bewaffnete Konflikte das politische Geschehen. Die DRK ging am 30.6.1960 aus der Kolonie →Belg.-K. hervor. Bei der offiziellen Unabhängigkeitsfeier verärgerte Premierminister Patrice →Lumumba die scheidende Kolonialmacht, die er für →Rassismus und Ausbeutung kritisierte. Innerhalb der kongolesischen Elite zeigte sich eine Spaltung zwischen dem Lager der für rapide Entkolonisierung eintretenden Kräfte und den eher pro-westlichen Konservativen. Eine knappe Woche später markierte eine Meuterei von Armeesoldaten, welche die Ablösung der verbliebenen belg. Offiziere forderten, den Beginn der bis 1965 dauernden „K.-Krise“. Der Meuterei folgte die Sezession der rohstoffreichen Provinz Katanga unter Moïse Tshombe. Belg. Truppen und der Bergbaukonzern
Union Minière unterstützten die Abspaltung. Auch Teile der diamantenreichen Provinz Kasaï erklärten wenig später die Unabhängigkeit. Die Vereinten Nationen entsandten die „Operation der Vereinten Nationen im K.“ (ONUC, 1960–1964), um Einheit und Souveränität des Landes wiederherzustellen. ONUC, die bald für Konflikte zwischen dem westlichen Lager und der UdSSR sorgte, blieb die einzige gewaltsame UN-Interventionsmission in einen Bürgerkrieg während des Kalten Kriegs. In der Hauptstadt Léopoldville (ab 1966: Kinshasa, →koloniale Metropolen) entbrannte zugleich ein Kompetenzstreit zwischen Präs. Joseph Kasavubu und Premierminister Lumumba, in dessen Verlauf Lumumba nach Katanga ausgeliefert und dort 1961 ermordet wurde. Die Sezessionen in Katanga und Kasaï brachen 1963 durch innere Aufstände und militärische Angriffe der ONUC-Truppen zusammen. Linksnationalistische „lubumbistische“ Kräfte, auch „Simba“ genannt, kontrollierten jedoch seit 1961 die östlichen Provinzen Orientale und Maniema. Sog. „Mulelisten“, benannt nach ihrem in China ausgebildeten Anführer Pierre Mulele, führten zugleich einen Guerillakrieg in der westlichen Kwilu-Provinz. Erst durch den Einsatz europäischer →Söldner und Soldaten konnten die Aufstände schließlich niedergeschlagen werden. Bis auf wenige unzugängliche Gebiete war die staatliche Einheit 1965/66 damit wieder hergestellt. Als starker Mann ging Armeechef Joseph-Désiré →Mobutu aus der K.-Krise hervor. Bereits zu Beginn der K.-Krise hatte er zum ersten Mal gegen die Reg. Lumumba geputscht, die formale Macht aber an Zivilisten weitergegeben. Ende 1965 putschte er erneut, um sich 1966 selbst zum Präs. zu ernennen. Er hob zunächst alle Neuerungen der vorhergehenden Reg.en auf und führte die administrativen Formen der kolonialen Periode wieder ein. Erst nachdem das Land, gestützt durch das westliche Staatenlager, wieder weitgehend stabilisiert war, begann Mobutu ein umfassendes Modernisierungsprogramm. Die Reformen betrafen auch die offizielle Bezeichnung des Landes, das 1971 in →Zaïre umbenannt wurde. Die zweite Periode der DRK begann am 16.5.1997 mit dem Sturz des Mobutu-Regimes durch die Rebellen der „Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération“ (AFDL) unter Laurent-Désiré →Kabila. Die AFDL hatte, acht Monate zuvor in den östlichen Provinzen beginnend, das Land beinahe kampflos erobert. Politisch und militärisch wurde die AFDL von einem breiten Bündnis der meisten Nachbarstaaten gestützt, insb. von →Angola, →Uganda und →Ruanda. Das Bündnis zerbrach jedoch, als Präs. Kabila 1998 ruandische Offiziere aus der kongolesischen Armee entließ. Ruanda, Uganda und die neu formierte Rebellenbewegung „Rassemblement Congolais pour la Démocratie“ (RCD) besetzten daraufhin die östliche Landeshälfte. Die →Eroberung des westlichen Landesteils und insbesondere von Kinshasa scheiterte jedoch, da Truppen aus Angola, →Simbabwe und →Namibia dem bedrängten Präs. Kabila zu Hilfe kamen. Ebenfalls 1998 eroberte die Rebellenorganisation „Mouvement de Libération du Congo“ (MLC) mit ugandischer Unterstützung den Norden. Bis zu einem Friedensabkommen 2003 blieb die DRK dreigeteilt. Neben Ugandas und Ruandas Sicherheitsinteressen, die sich von auf kongolesischem 451
k o n g o �f l us s �
Gebiet aus operierenden Guerillagruppen bedroht sahen und der Konkurrenz um staatliche Macht, lagen den sog. „K.-Kriegen“ auch ökonomische Probleme zu Grunde. Einerseits profitierten alle inländischen und ausländischen Konfliktakteure vom Export von Bodenschätzen wie Gold, Diamanten und dem in der Elektronikindustrie verwendeten Columbit-Tantalit. Zum anderen wurde der Konflikt zwischen den Hauptakteuren auch von vielen lokalen Auseinandersetzungen v. a. um fruchtbares Land angetrieben. 1999 wurde erneut eine „Mission der Vereinten Nationen in der DRK“ (MONUC) entsandt, um einen Waffenstillstand zu überwachen. Trotz Verhandlungen kam es jedoch zu keinem Friedensschluß. 2001 wurde Laurent-Désiré Kabila von einem Leibwächter ermordet, woraufhin sein Sohn Joseph Kabila das Präsidentenamt übernahm. Nach zweijährigen Verhandlungen bildeten Reg., Rebellen und zivile Opposition eine Übergangs-Reg. unter Führung von Präs. Kabila. Aus Wahlen 2006 ging ein von Kabila geführtes Parteienbündnis als Sieger hervor. Demokratie und Frieden konnten jedoch nicht konsolidiert werden. Der bei den Wahlen Zweitplazierte Jean-Pierre Bemba, dessen politisches Lager aus der Rebellenformation MLC hervorgegangen war, flüchtete nach militärischen Auseinandersetzungen ins Exil. Im Osten des Landes schwelen bis heute lokale Konflikte weiter, insb. in den Kivu-Provinzen. In die dortige bewaffnete Konkurrenz um Ackerland, Bürgerrechte, Handelsinteressen und Bodenschätze sind sowohl lokale bewaffnete Gruppen und die nationale Armee, als auch die ruandische Reg. und ruandische Rebellen involviert. Ein wesentliches Problem ist dabei die ungeklärte Zukunft der nach dem ruandischen Genozid 1994 in den K. geflüchteten Genozid-Tätergruppen. Diese sind als „Forces Démocratiques de Libération du Rwanda“ (FDLR) militärisch organisiert und kontrollieren abgelegene, aber rohstoffreiche Gebiete in den Kivu-Provinzen. Trotz der kriegerischen Geschichte und der fortdauernden ökonomischen und sozialen Misere haben kongolesische Künstler, v. a. in Kinshasa und im Exil, seit der spätkolonialen Zeit eine bedeutende kulturelle Ausstrahlung weit über die Landesgrenzen hinaus gehabt, besonders in der Musik. Dominic Johnson, Kongo, Frankfurt/M. 2008. Alex Veit, Intervention as Indirect Rule, Frankfurt/M. 2010. Crawford Young, Post-Independence Politics in the Congo, Transition 26 (1966), 34–41. AL E X VE I T Kongo (Fluß). Der mit 4 377 km Länge zweitgrößte Strom Afrikas steht mit seinem Einzugsgebiet von 3,7 Mio. km2, seinen 1,7 Mio. km2 Regenwäldern und seinem enormen Wasserreichtum weltweit nur dem →Amazonas nach. Er setzt sich aus den beiden Quellflüssen Lualaba und Luapula zusammen, die im östlichen Teil der das K.-Becken im Süden begrenzenden Lunda-Schwelle entspringen (Mit dem Luvua-Luapula-Tschambesi kommt der K. sogar auf 4 835 km Länge). Bis Kisangani (ehem. Stanleyville) überwindet der K. in Nordrichtung mehrere Gefällstufen, bevor er über eine Länge von 1 500 km als bis zu 15 km breiter, von vielen Inseln durchsetzter Tieflandstrom einen weiten Bogen nach Westen und Südwesten beschreibt und dabei seine größten Neben452
flüsse aufnimmt: den Ubangi von Norden, der die Azandeschwelle (Nil-K.-Wasserscheide) entwässert, und den Kasai, der mit zahlreichen Zuflüssen aus der zentralen Lunda-Schwelle im Süden kommt. Hinter dem ca. 20 km breiten Malebo-(ehem. Stanley-)Pool, der tiefsten Stelle des K.-Beckens mit den beiden Hauptstädten →Brazzaville am Nordufer und Kinshasa (ehem. Leopoldville, →koloniale Metropolen) am Südufer, durchbricht der an manchen Stellen auf fast 200 m eingeengte Strom die westliche Randschwelle (Niederguineaschwelle) über die 32 kaskadenähnlichen Livingstonefälle, die insg. 274 m Höhenunterschied überwinden und die an den IngaStaustufen auch Elektrizität spenden (Ausbaupläne zum größten Kraftwerk Afrikas liegen bereit). Die letzten 360 km führen direkt zum →Atlantik, der über einen 40 km breiten Trichter erreicht wird. Diese meeresarmbreite Mündung entdeckte Diego Cão, ein Marineoffizier des port. Kg.s Dom Jão II, an der Jahreswende 1484/85. Der Expeditionsteilnehmer Martin →Behaim notierte „Rio Poderoso“ (mächtiger Fluß); ab 1578 tauchte auch der Name →Zaire auf, der ab dem 17. Jh. nur noch für den Oberlauf verwendet wurde, während der Unterlauf nach dem berühmten Kgr. „Rio de Congo“ hieß. Über die Verhältnisse im Innern des K.-Beckens herrschte bis ins 19. Jh. Unklarheit; lange nahm man für →Nil und K. eine gemeinsame Quelle an. Viele Europäer fielen hier dem →Klima zum Opfer, bevor ihre Aufzeichnungen festgehalten werden konnten; erst die hartnäckigen Erkundungen Livingstones im Quellgebiet 1866 und die spektakulären Taten Henry →Stanleys im Gesamtverlauf 1876/77 beseitigten den großen weißen Fleck im Herzen Afrikas. Der K. ist auf 3000 km schiffbar und bietet mit seinen Nebenflüssen 13 000 km Wasserstraßen. Tim Butcher, Blood River. Ins dunkle Herz des Kongo, 2008. Thomas Ehrsam u. a. (Hg.), Die Entdeckung des Kongo 1875–1908, Zürich 2006. BER N H A R D STREC K Kongo-Greuel. Bezeichnung für die Verbrechen, die im Kongo-Freistaat im Zusammenhang mit der Gewinnung von Kautschuk systematisch und in großem Maßstab verübt wurden; der Kongo-Freistaat war 1884 von Leopold II. eingerichtet, Leopolds Souveränität über denselben 1885 auf der →Berliner Westafrika-Konferenz bestätigt worden. Die Ausbeutung der reichhaltigen kongolesischen Kautschukvorkommen, die z. T. die Verwaltung des Freistaats, z. T. private Firmen, insb. die AngloBelgian India Rubber and Exploration Company (ABIR) im Auftrag Leopolds II. betrieben, war angesichts der mit Erfindung des Gummireifens stark gestiegenen weltweiten Nachfrage nach Kautschuk seit Mitte der 1890er Jahre ein äußerst profitables Geschäft (geschätzter Gewinn 1899–1902 ca. 150 Mio. Franc). Zum Sammeln des Kautschuks wurden die Einheimischen zwangsweise herangezogen. Ihnen blieb neben der →Zwangsarbeit keine Zeit für landwirtschaftliche Arbeit. Nahrungsknappheit und zahlreiche Hungertote waren die Folge. Der Widerstand, den diese Ausbeutungswirtschaft hervorrief, wurde mit brutaler Gewalt gebrochen. Dörfer, deren Ew. die Zwangsarbeit verweigerten, wurden niedergebrannt, die Ew. massakriert. Dieses Vorgehen, über das seit 1890 Missionare, die im Kongo-Freistaat
k o n te� tuA li s i eru n g
tätig gewesen waren, in Europa immer wieder berichteten, gab insb. in Großbritannien Anlaß zu zunehmender Kritik und entspr. publizistischer Tätigkeit. 1903 veröffentlichte Guy Burrows, ein ehem. Angestellter der Verwaltung des Freistaats, erstmals Fotos von Kongolesen, die gefoltert worden waren bzw. Strafaktionen gegen ihre Dörfer überlebt hatten. Wegen ihrer schlechten Qualität und des plötzlichen Sinneswandels Burrows’, der Leopold II. bis kurz vor Veröffentlichung der Fotos treu gedient hatte, hielt man diese Fotos nicht für glaubwürdig. Anders wurden die seit 1904 insb. vom US-am. Missionarsehepaar Harris publizierten Fotos bewertet, die v. a. verstümmelte Kongolesen zeigten. Die Afrikaner, die im Auftrag der Freistaatsverwaltung bzw. der ABIR die Verbrechen im Kongo ausführten, hatten ihren Auftraggebern i.d.R. abgehackte Hände der Leichen vorzulegen. Diese Praxis diente dem Nachweis des im Sinne der Auftraggeber sinnvollen Einsatzes der ausgegebenen Munition. Nur selten kam es vor, daß versehentlich lebenden Personen die Hand abgeschnitten wurde. Daher existierten nur wenige entspr. Fotos (insg. ca. 20), die jedoch in der europäischen und US-am. Presse nun sehr häufig gezeigt wurden. So entstand der Eindruck, das Abhacken der Hand bei Lebenden sei die allg. übliche →Strafe für Minderleistungen bei der Kautschukernte. Dieser Eindruck war falsch, erfüllte aber den Zweck, Leopolds Regime im Kongo vor der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Als 1906 die US-Reg. der brit. Reg. offiziell mitteilte, sie werde sie bei jedem auf eine Änderung der Verhältnisse im Kongo-Freistaat zielenden Vorhaben unterstützen, willigte Leopold II. ein, seine Privatkolonie dem belg. Staat zu überlassen. Im damit entstandenen →Belg.-Kongo wurde das System der auf Zwangsarbeit basierenden Kautschukwirtschaft abgeschafft. Robert Burroughs, Travel Writing and Atrocities, New York 2011. Martin Ewans, European Atrocity, African Catastrophe, London 2002. Susanne Gehrmann, KongoGreuel, Hildesheim 2003. CHRI S TOP H KUHL Kongo-Konferenz →Berliner Westafrika-Konferenz Koninklijke Paketvaart Maatschappij. Die K.P.M. (Kgl. Paketfahrt-Gesellschaft) war eine gemischte staatliche und private Schiffahrtsgesellschaft und betrieb Küstenschiffahrt (→Schiffahrt) in →Ndl.-Indien. Mit dem 1850 zwischen dem Reeder Cores de Vries und der Kolonialreg. geschlossenen Vertrag begann der Dienst mit vier Schraubendampfern auf zwei Linien von →Batavia. Bis 1865 schlossen weitere private Firmen in der Kolonie ähnliche Verträge und stellten Schiffe für neue Linien zur Verfügung. Von 1866 bis 1890 betrieb die Nederlandsch-Indische Stoomvaart Maatschappij die Linien; von 1891 bis 1957 existierte die Firma unter dem Namen K.P.M. Alle Firmen besaßen Verträge mit der Reg., in denen die Fahrpläne und Fahrtrouten zwischen →Java und den äußeren Inseln festgelegt waren. Am Ende des 19. Jh.s umspannte das Routennetz den gesamten Archipel, zu Beginn des 20. Jh.s wurden Linien in die Nachbarregionen eingerichtet. Wegen ihrer dominanten Stellung im Küstenverkehr konnte die K.P.M. nach der Entstehung der Indonesischen Rep. (1949) weiterbeste-
hen, doch war sie nach dem Ausbruch von antikolonialen Demonstrationen gegen ndl. Firmen in Neuguinea (Irian Jaya) gezwungen den Betrieb einzustellen (1958). In ihrer Geschichte war die K.P.M. ein wichtiges Element des ndl. Imperialismus und diente unmittelbar der kolonialen Zivilisierungspolitik und Wirtschaftsförderung. Joseph N. F. M. à Campo, Engines of Empire, Hilversum 2002. Maarten Kuitenbrower, The Netherlands and the Rise of Modern Imperialism, New York/Oxford 1991. BERT B EC K ER
Konsulargerichtsbarkeit (Konsularjurisdiktion). Bezeichnete die Zuständigkeit der konsularischen Vertretung in einem Gastland für Rechtsangelegenheiten, von denen Staatsbürger des Herkunftslandes im Gastland betroffen waren. In der Praxis bedeutete die K. eine fast vollständige Exemtion von der Gerichtsbarkeit des Gastlandes, in dem der fremde Konsul die volle Zivil- und Strafgerichtsbarkeit sowie Polizeigewalt über die Angehörigen des von ihm repräsentierten Staates ausübte. Voraussetzung für die Ausübung der K. war eine ausdrückliche Ermächtigung des Konsuls durch den Entsendestaat sowie die vertragliche Regelung bzw. Duldung durch den Empfangsstaat. Geschichtlich läßt sich die K. zurückverfolgen bis zu den Kapitulationen der frühen Neuzeit zwischen dem →Osmanischen Reich und den europäischen Staaten. Die in der Mitte des 19. Jh.s in Ostasien eingeführte K. beruhte indes auf völlig anderen rechtlichen Voraussetzungen. Die K. wurde von den westlichen Staaten zwar nicht unbedingt gegen den Widerstand der einheimischen Reg.en eingeführt, man behielt sie jedoch gegen deren Widerstand bei, da nach westlicher Auffassung die außereuropäische Rechtspraxis von anerkannten Standards abwich und keine hinreichende Sicherheit für eine ordentliche Rechtspflege bot. In →Ägypten endete die K. partiell ab 1876, in der Türkei, in →Thailand und in Persien wirkte sie bis in die 1920er Jahre fort. Als unverzichtbarer Pfeiler der →ungleichen Verträge in Ostasien war sie in Japan bis zum Inkrafttreten der revidierten Verträge 1899 in Geltung, in China gar bis in die 1940er Jahre. Johannes Berchtold, Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit, München 2009. Karl Strupp / Hans Jürgen Schlochauer (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Berlin 1961, Bd. 2, 278–281. H A RA LD WIPPICH Kontextualisierung. Das Konzept der K. ist eng mit der Theologiegeschichte der →Dritten Welt verknüpft. In den Debatten der Kirchen Asiens, Afrikas und →Lateinamerikas über die Entwicklung eigenständiger, nichtwestlicher Theologiemodelle hat es seit den 1970er Jahren eine zunehmend wichtige Rolle gespielt. Von früheren Konzepten wie dem der Akkommodation oder der →Indigenisierung unterscheidet es sich durch die sehr viel stärkere Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren. Während es früher v. a. darum ging, Interpretationen des Christentums zu entwickeln, die der kulturellen Pluralität der außereuropäischen Gesellschaften gerecht wurden, erforderten die revolutionären Umbrüche seit dem Ende des →Zweiten Weltkriegs eine neue Orientierung. Wichtig sei nicht nur – so ein Dokument asiatischer 453
k o n z e s s i o n s ge s e lls c h Af ten
Theologen von 1972, wo sich der Begriff „kontextuelle Theologie“ erstmals in seiner technischen Bedeutung findet – eine Verwurzelung des Evangeliums in den traditionellen Kulturen Außereuropas. Noch dringlicher sei es, auch moderne Entwicklungen angemessen zu berücksichtigen – wie den „Prozeß der Säkularisierung, die Technologie und den Kampf für menschliche Gerechtigkeit“. Durch globale Netzwerke wie die ‚Ecumenical Association of Third World Theologians’ (EATWOT) hat sich dies Konzept in der globalen Ökumene rasch verbreitet. Wichtige Repräsentanten sind etwa die lateinam. Befreiungstheologie, die koreanische MinjungTheologie oder die Kairos-Theologie der in Opposition zum →Apartheid-System stehenden ökumenischen Kirchen Südafrikas. Zugleich suchten sie die Christen zum Einsatz für →Menschenrechte und gegen wirtschaftliche Ausbeutung und politische Repression zu mobilisieren. Mit dem Demokratisierungsprozeß in zahlreichen Transformationsgesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in den 1990er Jahren haben sich auch die Herausforderungen für die dortigen Kirchen verändert. Zugleich hat sich das Themenspektrum kontextueller Theologien erheblich erweitert. Giancarlo Collet, Theologien der Dritten Welt, Immensee 1990. John C. England u. a. (Hg.), Asian Christian Theologies, Bd. 1–3, Delhi 2002–2004. Missionswissenschaftliches Institut Missio (Hg.), Theologie im Kontext, Aachen 1979ff. KL AUS KOS CHORKE Konzessionsgesellschaften. Bezeichnung für private Unternehmen, denen die Verwaltung einer Kolonie die Konzession erteilte, innerhalb genau bestimmter Gebiete →Rohstoffe exklusiv zu erschließen und auszubeuten und die dazu erforderliche →Infrastruktur, insb. Eisenbahnlinien zu bauen; in den dt. Kolonien waren die K. zunächst auch Träger von Hoheitsrechten, die dann jedoch auf die Kolonialverwaltungen übergingen, während die wirtschaftlichen Exklusivrechte bestehen blieben. Die wichtigsten dt. K. waren die →Dt.-Ostafr. Gesellschaft, die Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika, die Gesellschaft Südkamerun, die →Neu-Guinea-Compagnie, die →Jaluit-Gesellschaft, die Dt. Südsee-Phosphat AG, die Hanseatische Minengesellschaft und die LindiSchürfgesellschaft m. b. H. Auch ausländische Firmen, z. B. die Compagnie française du Haut-Congo oder die brit. Pacific Phosphate Company auf →Nauru, erhielten Konzessionen in den dt. Kolonien. In Ausnahmefällen wurde die Konzession zuerst von einheimischen Würdenträgern erteilt und anschließend von der Kolonialverwaltung anerkannt bzw. bestätigt, so bei der Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika. Aus Sicht des Dt. Reichs hatten die K. den Zweck, das Wirtschaftsleben in den dt. Kolonien anzukurbeln ohne den Reichshaushalt mit den Kosten für die dazu erforderliche Infrastruktur zu belasten. Diesen Zweck erfüllten die K. nicht. Die meisten schufen mangels Finanzausstattung kaum Infrastruktur in ihren Konzessionsgebieten, so daß das →Reichskolonialamt vielen K., z. B. der Gesellschaft Südkamerun, die gewährte Konzession entzog und ersatzweise Landeigentum in der jeweiligen Kolonie anbot. 454
Ralph Erbar, Ein „Platz an der Sonne“?, Stuttgart 1991. Bruno Kurze, Die Dt.-Ostafr. Gesellschaft, Jena 1913. Zoepfl, Konzessionsgesellschaften, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 2, Leipzig 1920, 360. CH R ISTO PH K U H L
Kopra ist das handelsfertige, verarbeitete Produkt der Kokosnuß. Dabei wird aus den reifen Kokosnüssen das Fruchtfleisch herausgenommen, in Stücke geschnitten u. dann getrocknet, entweder, auf einfachste Art u. Weise, in der Sonne oder, ähnlich wie bei heutigen Maistrocknern, in Maschinen, die künstlich Wärme erzeugen, sog. Kopradarren. Erst daraus wird dann aus dem Pressen der Kopra das eigentliche Kokosöl gewonnen, das zur Seifenherstellung (→Ada) benutzt wird, v. a. aber als Speisefett Verwendung fand u. noch findet. Während man urspr. zur Gewinnung von Kokosöl die Kokosnuß als Ganzes erntete u. nach Europa transportierte, wobei es zu großen Bruchverlusten kam, ermöglichte die Erfindung des K.-verfahrens im zweiten Drittel des 19. Jh.s die Herstellung eines transportsicheren Produktes noch an Ort u. Stelle der Kokosnußernte. Damit fanden tropische Regionen mit größeren Kokospalmenbeständen (z. B. die Philippinen) oder dem Potential, solche dort wachsen zu lassen (wie →Neuguinea oder →Samoa) erst ein bes. ökonomisches Augenmerk, das wiederum ein verstärktes kolonialpol. Interesse hervorrief. Otto Brücke, Die Entwicklung u. weltwirtschaftliche Bedeutung d. Kopra- u. Kokosölproduktion u. Konsumation, Diss. Erlangen 1930. Paul Preuß, Die Kokospalme u. ihre Kultur, Berlin 1911. H ER MA N N H IERY
Kosaken. Der Begriff stammt aus dem Turk-Tatarischen (hier: kazak), bedeutet „freier Krieger“ und spielt auf die Lebensweise der turkischen Steppenvölker an, die von der Wolga bis nach Zentralasien nomadisierten. Zugleich weist er auf eine kulturelle Assimilation zwischen turkischen Nomaden und ostslawischer Kultur hin. Die Ostslawen hatten seit der Kiewer Rus’ in engem Kontakt mit den Turkvölkern der südlichen Steppenzone gestanden und durch zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen von der nomadischen Kriegskunst gelernt. Ihre eigentliche Bedeutung erlangten die K. im 15. Jh., als russ. und ukrainische Bauern vor der →Leibeigenschaft in die südruss. Steppe flohen. Da der russ. Staat sie für die Abwehr der turkischen Nomaden benötigte, wurde ihnen eine Autonomie eingeräumt. Bis ins 18. Jh. genossen die K. eine beträchtliche Unabhängigkeit. Mit der zunehmenden Militarisierung, die um 1800 im Zarenreich einsetzte, wurden sie in die russ. Armee eingegliedert. Damit wurden ihre Rechte beschnitten, andererseits lebte ihre Kriegstradition weiter. Gerade ihre hohe Mobilität machte sie im napoleonischen Befreiungskrieg berüchtigt. Die K. waren nicht nur Soldaten, sondern auch Wehrbauern. Ihre Verbreitungsgebiete lagen an Don und Dnjepr, im →Ural, in →Sibirien und Russ.-Fernost. Auch waren sie Wegbereiter der russ. Kolonisation in Sibirien und Zentralasien. Erfahren in der Auseinandersetzung mit den →Tataren in der südruss. Steppe, gelang es ihnen sehr schnell, die indigene Bevölkerung Sibiriens
k o zló w, P j o tr ku zm í ts ch
und Zentralasiens, ebenfalls nomadisierende Stämme, zu unterwerfen. Als Kampfgruppen kamen die K. auch in den →Russ.-Türk. Kriegen und im →Krimkrieg zum Einsatz. In der russ. Geschichtsschreibung erscheinen sie bis heute als „Verteidiger der russ. Grenzen“ und „Verteidiger russ. Erde“. Slawophile und russ. Nationalisten bedienen sich bis heute des K.-Mythos, um imperiale Ansprüche Rußlands zu rechtfertigen. Im Russ. Bürgerkrieg (1918–1922) kämpften die K. auf Seiten der „weißen“, d. h. antibolschewistischen Bewegung und wurden durch antisemitische Pogrome berüchtigt. Die Ideologie der K. war im wesentlichen zarentreu und durch ein klares Bekenntnis zur Orthodoxie geprägt. Nach der Oktoberrevolution waren sie dementspr. schweren Verfolgungen ausgesetzt. Viele flohen ins westliche Ausland, v. a. nach Frankreich und Deutschland, aber auch in die Mandschurei. Im Exil sympathisierten viele der K.anführer mit den Achsenmächten. Im →Zweiten Weltkrieg stellte die dt. Seite die sog. „Russ. Befreiungsarmee“ (ROA) auf, der auch K.verbände angehörten. Da Hitler an der Zuverlässigkeit der K. zweifelte, wurden die Truppen schließlich im Frühjahr 1944 in Jugoslawien eingesetzt, wo sie sich heftige Gefechte mit der Partisanenbewegung Titos lieferten. Nach Kriegsende wurden sie gemäß des Vertrages von Jalta von den westlichen Allierten an die Sowjetunion ausgeliefert, sofern sie nicht von der Roten Armee oder der Tito-Armee gefangen genommen worden waren. Es kam zum Drama an der Drau, wo K.frauen mit ihren Kindern in den Fluß sprangen. Die Ausgelieferten bzw. Gefangengenommenen wurden in die Arbeitslager des →Gulag abtransportiert. Die Geschichte der K. seit der Oktoberrevolution und die Verfolgungen unter Lenin und Stalin ist bis heute von der russ. Geschichtsforschung nur unzureichend aufgearbeitet worden, obwohl sich die neoimperiale Ideologie im postsowjetischen Rußland des K.-Mythos bedient. Udo Gehrmann, Die Kosaken, Köln 1994. Harald Stadler / Rolf Steininger, Die Kosaken im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Innsbruck 2008. Lev Tolstoj, Die Kosaken, Frankfurt/M. 2003. E VA- MARI A S TOL BE RG Kosrae →Föderierte Staaten von Mikronesien Kotzebue, Otto von, * 30. Dezember 1787 in Reval (Tallinn), † 15. Februar 1846 Reval (Tallinn), □ St.Marien-Dom / Reval (Tallinn), ev.-luth. Aus balten-dt. Familie stammend. Zweiter Sohn des durch den Wunsiedler Studenten Karl Ludwig Sand ermordeten Lustspieldichters August von K. Vom Vater zum Dienst in der russ. Marine bestimmt, durchlief er die Offiziersausbildung in der Marine-Kadettenanstalt in St. Petersburg. 1803–1806 Teilnahme an der durch seinen Onkel Adam Johann von →Krusenstern geleiteten ersten russ. Weltumseglung auf der Fregatte Nadeschda. 1815–1818 Kommando des durch den Grafen Romjanzew ausgerüsteten Forschungsschiffes Rurik, das die →Nordwestpassage erkunden sollte. Dabei wurden über 400 Inseln des Stillen Ozeans kartographiert und durch seine Mitarbeiter Adelbert von →Chamisso und Johann von Eschscholtz bedeutsame naturwissenschaftliche Beobachtungen gemacht. 1823–1826 Weltumseglung mit
der Predprijatije. 1829 Ernennung zum Kapitän zur See der Marine-Kadettenanstalt in St. Petersburg. Kurze Zeit später auf Grund seines angegriffenen Gesundheitszustandes pensioniert, lebte er zurückgezogen auf einem Familiengut in Estland. Otto von Kotzebue, Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Straße zur Erforschung einer nordöstlichen Durchfahrt in den Jahren 1815 bis 1818, 3 Bde., Weimar 1821. Ders., Neue Reise um die Welt in den Jahren 1823–1826, 2 Bde., Weimar 1830. G ERH A R D H U TZLER
Kozhikode →Calicut Kozlów, Pjotr Kuzmítsch, * 3./15. Oktober 1863 Duchowstschina nahe Smolensk, † 26. September 1935 Peterhof Obl. Leningrad, □ Ehrengrab in Nowgorod, russ.-orth. Bedeutender russ. Orientalist und Erforscher Zentralasiens. Bereits im Zarenreich wissenschaftlich tätig, konnte K. seine Karriere nach der Oktoberrevolution fortsetzen. Die frühe sowjetische Orientalistik baute auf den personellen Netzwerken auf, die zur Zarenzeit bestanden. Als Offizierssohn zum Militärdienst bestimmt, entschloß er sich gegen den Willen der Eltern zum Studium der Naturwissenschaften. Als Autodidakt erwarb er daneben Fertigkeiten der Archäologie. Es gelang ihm, Engagement als Assistent von Nikolai Prezewalskij für dessen 4. Forschungsreise 1884/85 nach Zentralasien zu erhalten. Auf Grund seiner Bewährung wählte ihn Pewtsow für die →Expedition 1889/90 nach Ostturkestan und Nordtibet aus. 1893–1895 war er unter →Roborowskij an der Erforschung des Tientschan und des Nanschan beteiligt. Nach schwerer Erkrankung Roborowskijs übernahm er die Expeditionsleitung. 1899–1901 erkundete er die Oberläufe von Hoang-ho, Jangtsekiang und Mekong. Bis 1926 folgten sechs weitere Forschungsreisen in die Mongolei, nach West- und Nordchina sowie in das östliche Tibet. Bei einer Expedition 1907–1909 in die Wüste Gobi entdeckte er Ruinen der durch Marco →Polo beschriebenen Stadt Khara-Khoto. Hier führte er archäologische Ausgrabungen durch, um die Geschichte des tangutischen Staates Xi Xia zu erforschen, das mehr als 250 Jahre auf dem Territorium des heutigen Nordwestchina existiert hatte. Er fand dabei mehr als 2 000 Bücher in tangutischer Sprache, die 1921 die Petrograder Akademie der Wissenschaften erhielt. Die sensationellen Funde in Khara-Khoto machten K. zu einem internationalen anerkannten Wissenschaftler und brachten ihm Auszeichnungen durch die It., Brit., Ungarische Geographische Gesellschaften sowie die →Russ. Geographische Gesellschaft und die Frz. Akademie der Wissenschaften ein. Der Bürgerkrieg in Rußland unterbrach zunächst die russ. Forschungen über Zentralasien, bevor sie in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik ab 1922 wieder aufgenommen wurden. Im Vordergrund stand nun die (geo-)politische Intention. Argwöhnisch beobachtete die sowjetische Reg. die brit. Expeditionen nach Tibet und Zentralasien. V. a. der sowjetische Geheimdienst (GPU) unter der Führung Felix Dzerschinskis zeigte Interesse an K.s neuer Zentralasienexpedition. Stalin, damals 455
k rÄ m e r , Augus t i n
Volkskommissar für Nationalitätenfragen, unterstellte K. Forschungsreise einem Politkommissar und damit der politischen Überwachung. Seine letzte Expedition führte ihn 1923–1926 nach Tibet und in die Mongolei, wo er die Nekropolen der Xiongnu erforschte. Die Intention der Expedition zeigte sich auch daran, daß K. in seinen Tagebüchern auf den politischen Einfluß Chinas in den beiden Gebieten einging. Ebenso reflektieren seine Aufzeichnungen, daß er die „sowjetische Aufklärungsarbeit“ und eine sowjetische Dominanz in der Mongolei und Tibet guthieß. Das zeigten auch seine Kontakte zur →Komintern. Die Publikation der Reisetagebücher sowie wissenschaftlicher und volkstümlicher Schriften in russ. Sprache machte K. bekannt. Deutsch erschien 1925, von →Filchner hgg., Nach der Mongolei. Q: Petr Kuzmič Kozlov, Mongolei, Amdo und die tote Stadt Chara-Choto, Berlin 1925. L: Alexander I. Andreev, Soviet Russia and Tibet, Leiden 2003. Herbert Wotte, Unter Reitern und Ruinen. Die Reisen des Zentralasienforschers Pjotr Koslow, Leipzig 1971. E VA - M A R I A S TOL BE RG / GE RHARD HUT Z L E R
Krämer, Augustin, * 27. August 1865 Los Angeles (Chile), † 11. November 1941 Stuttgart, □ Uff-Kirchhof in Stuttgart-Bad Cannstatt, ev.-luth. Sohn eines Handwerksmeisters, der nach Niederschlagung der Revolution in Baden 1849 nach Südamerika floh. 1867 Rückkehr in die Heimat. Medizinstudium in Tübingen und Berlin. Promotion 1888 in Berlin. 1889 Eintritt in die ksl. Marine. Kommando als Schiffsarzt auf S. M. S. „Bussard“ 1893–1895. Fahrt in die Südsee nutzte er zu anthropologischen und ethnologischen Studien. 1897 Beurlaubung für zwei Jahre zu Forschungszwecken. →Expeditionen in die Andenregion Südamerikas, nach →Hawai’i, →Samoa, den Gilbert-Inseln und Ostmikronesien (Kusaie und →Marshallinseln) brachten reiche Ergebnisse. 1899–1901 Schiffsarzt auf S. M. S. Stosch, Einsatz in Westindien und im Mittelmeer. 1901 erneute Beurlaubung zur Aufarbeitung der Forschungsergebnisse. 1905 Reise nach →Palau im Auftrag des Berliner Völkerkundemuseums. 1906 kurzzeitig MarineOberstabsarzt auf S. M. S. Ks. Wilhelm II. 1907 erneute Reise in die Südsee auf Vermessungsschiff Planet. Anschließend mit Ehefrau Elisabeth →Krämer-Bannow Studienaufenthalt auf Palau. Nach dem Tod Emil Stephans 1908 Berufung zum Leiter der →Hamburger Südsee-Expedition, die Feldforschung auf Neu-Mecklenburg betrieb. Ende 1910 Übernahme der Leitung des LindenMuseums in Stuttgart. 1915–1919 Chefarzt in württembergischen Reservelazaretten. 1918 Verabschiedung als Generalarzt. 1919 Dozentur für →Völkerkunde in Tübingen. Dort ab 1925 erste Professur für Völkerkunde. 1933 Pensionierung. Schenkung der umfangreichen ethnologischen Sammlung an die Universität Tübingen. Der schriftliche Nachlaß liegt, großenteils unerschlossen, im Linden-Museum, Stuttgart. Werke (Auswahl): Die Samoa-Inseln. Entwurf einer Monographie mit besonderer Berücksichtigung Dt.-Samoas, 2 Bde., Stuttgart 1902 u. 1903. Hawaii, Ostmikronesien und Samoa. Meine zweite Südseereise (1897/99) zum Studium der Atolle und ihrer Bewohner, Stuttgart 1906. 456
Hamburger Südsee-Expedition, Palau, 3 Bde., Hamburg 1917, 1919 u. 1926. Hamburger Südsee-Expedition, Truk, Hamburg 1932. Hamburger Südsee-Expedition, Inseln um Truk, 2 Bde., Hamburg 1935. Hamburger Südsee-Expedition, Zentralkarolinen, Hamburg 1937. L: Sven Mönter, Dr. Augustin Krämer, A German Ethnologist in the Pacific, Wiesbaden 2015. G ERH A R D H U TZLER
Krämer-Bannow, Elisabeth, * 29. September 1874 Wismar, † 9. Januar 1945 Stuttgart, □ Uffkirchhof in Stuttgart-Bad Cannstatt, Rel. unbek. K. nahm mit ihrem Ehemann, dem Mediziner und Ethnologen Augustin →Krämer, an mehreren Forschungsreisen in die dt. Südseekolonien teil. Dabei entwickelte sie sich von der Assistentin ihres Manns zur selbstständigen, autodidaktisch geschulten Forscherin und Dokumentaristin. 1906 reiste sie auf die →Karolinen, 1908 nach New Ireland, das damalige →Neumecklenburg. Ihre Erlebnisse beschrieb sie in dem Buch „Bei kunstsinnigen Kannibalen der Südsee“. Trotz einiger interner Widerstände wurde K. 1909 als vollwertiges Mitglied der →Hamburger Südsee-Expedition angestellt. Sie übernahm die visuelle Dokumentation der besuchten Kulturen und untersuchte weibliche Domänen wie bspw. Hand- und Feldarbeiten. Dabei wandte sie schon Methoden der teilnehmenden Beobachtung an. K. war 10 Monate für die Hamburger Expedition tätig, überwiegend auf den Karolinen. Obwohl sie wertvolle ethnographische Arbeit leistete, flossen ihre Ergebnisse häufig ungekennzeichnet in die Veröffentlichungen der Hamburger Südsee-Expedition ein. Heute sind sie und ihr Werk fast vergessen. Q: Elisabeth Krämer-Bannow, Bei kunstsinnigen Kannibalen der Südsee, Berlin 1916. L: Bettina Beer, Frauen in der dt.-sprachigen Ethnologie, Köln u. a. 2007. Anna Pytlik, Träume im Tropenlicht, Reutlingen 1997. LIV IA LO O SEN
Krakatau. Eine Vulkaninsel in der Sunda-Straße zwischen den indonesischen Inseln →Java und →Sumatra, wurde berühmt durch eine katastrophale Eruption am 27.8.1883, die heute als einer der gewaltigsten Ausbrüche in der Menschheitsgeschichte gilt. Die Insel wurde fast gänzlich zerstört, und mehr als 36 000 Menschen kamen ums Leben, die meisten davon infolge riesengroßer Flutwellen, die gegen benachbarte Küsten schlugen. Die Eruption, die in einer Entfernung von bis auf 4 800 km zu hören war, schleuderte mehrere km3 vulkanisches Material in die Luft, und die Mio. Tonnen Staubpartikel, die dadurch in die obere Atmosphäre gestoßen wurden, führten in den darauffolgenden Monaten in Europa und Nordamerika zu spektakulären Sonnenuntergängen. Die Auswirkungen dieser Eruption zeigten sich also global, und nicht nur in einem rein geologischen Sinn: Der Ausbruch des K. war dank der Errichtung eines weltweiten Telegrafenkabelnetzes in den Jahren unmittelbar davor die erste große Naturkatastrophe des modernen Zeitalters, die fast sofort durch die Medien gemeldet werden konnte, und fiel deswegen mit der Schaffung der Voraussetzungen für das globale Dorf zeitlich zusammen.
k reo le, kreo li n
Tom Simkin / Richard S. Fiske, Krakatau, Washington 1983. Ian Thornton, Krakatau, Cambridge 1997. Simon Winchester, Krakatoa, New York 2005. JAMES BRAUND Kraetke, Reinhold, * 11. Oktober 1845 Berlin, † 14. April 1934 Berlin, □ Berlin, Invalidenfriedhof, ev.-luth. 1864 Eintritt in preuß. Postverwaltung. 1874 höherer Beamter der Oberpostdirektion Berlin. 1881 Postrat im Reichs-Postamt, 1882 bereits Oberpostrat, 1884 Vortragender Rat, 1887 Geheimer Oberpostrat. Durch Staatssekretär v. Stephan als Nachfolger des Landeshauptmanns der →Neu-Guinea-Compagnie (NGC), Georg Frhr. v. →Schleinitz, empfohlen. K. übte vom 1.3.1888 bis Aug. 1889 das Amt kommissarisch aus. Er schied aus den Diensten der NGC, als das Dt. Reich die Verwaltung des →Schutzgebiets übernahm. Rückkehr zur Reichspost. 1897 Ministerialdirektor und Vertreter des Staatssekretärs. 1901–1917 Staatssekretär des Reichs-Postamtes. 1912 Mitglied des →Kolonialrats. Als seine bedeutendste Leistung gilt die Einführung des Postscheckverkehrs im Dt. Reich 1908. Bemühung, nach österr.-ungarischem Vorbild einen Postsparkassendienst zu schaffen, scheiterten am Widerstand der Reichstagsmehrheit. 1914 Ehrendoktorwürde der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. An ihn erinnert in Papua-Neuguinea die Gebirgskette Kratke Range. Erwin Müller-Fischer, NDB 12 (1980), 641–642. GE RHARD HUT Z L E R
Krapf, Johann Ludwig, * 11. Januar 1810 Derendingen, † 26. November 1881 Korntal, □ Alter Friedhof in Korntal, ev.-luth. Der aus dem schwäbischen Pietismus kommende Ostafrika-Missionar genoß seine theologische und sprachliche Ausbildung in Basel und Tübingen; danach bereiste er im Dienst der engl. Kirchenmission (CMS) Abessinien (1837–1843) und Ostafrika (18 43–1855). Sein u. a. in verschiedenen Bibelübersetzungen bekundetes Sprachtalent kam auch der engl. Militärexpedition gegen Negus Tewodros 1868 zugute. Nach seiner Vertreibung unter dem Nachfolger Johannes IV. wich K. an die Küste des heutigen →Kenia aus, wo er mit seinem Kollegen Johannes Rebmann (1820–1876) eine Schule für freigekaufte Sklavenkinder gründete und mehrere Reisen ins Landesinnere unternahm. 1859 wurde K. Inspektor der Pilgermission Sankt Chrischona bei Basel und entwickelte das Konzept der „Apostelstraßenmission“ von Jerusalem ins Innere Afrikas. K. beeindruckender Arbeitseifer gründete auf dem Glauben, „es sei ¾ auf 12 Uhr auf dem göttlichen Weltplan.“ Trotz der hierin konsequenten Zielstrebigkeit, die „Galla-Länder“ für das Evangelium zu gewinnen, hat er mit seinen linguistischen und ethnographischen Schriften – insb. über Oromo, Mijikenda und WaKamba – einen beachtlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Erschließung Ostafrikas und seiner Geschichte vor der kolonialen Landnahme geleistet. Q: Johann Ludwig Krapf, Reisen in Ost-Afrika, ausgeführt in den Jahren 1837–55, 2 Bde., Kornthal 1858. L: Wilhelm Claus, Dr. Ludwig Krapf, weiland Missionar in Ostafrika: ein Lebensbild aus unseren Tagen, Basel
1882. Clemens Gütl, Johann Ludwig Krapf. Münster 2001. BER N H A R D STREC K Krauel, Richard, * 12. Januar 1848 Lübeck, † 2. Dezember 1918 Freiburg i. Br., □ nicht erhalten, ev.-luth. Aus hanseatischer Juristenfamilien stammend, Jurastudium in Bonn, Heidelberg und Göttingen. 1871 Promotion. Zunächst Rechtsanwalt in Lübeck. 1873 Eintritt ins Auswärtige Amt. 1875–1879 Konsul in chin. Hafenstädten. 1879–1884 erster dt. Generalkonsul in Australien. 1885 Ablösung des bei →Bismarck in Ungnade gefallenen Heinrich v. →Kusserow als Referatsleiter für kolonialpolitische Angelegenheiten in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes mit Rang eines Vortragenden Rates. Nach Bismarcks Sturz 1890 Übernahme der Gesandtschaft in →Buenos Aires, 1894–1898 Gesandter in →Rio de Janeiro. Anschließend juristischer Referent im Auswärtigen Amt. Zahlreiche in Fachkreisen beachtete Arbeiten zu Fragen des Völker- und Seekriegsrechtes führten 1904 zu Lehrauftrag und Honorarprofessur der juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Karl-Alexander Hampe, Das Auswärtige Amt in der Ära Bismarck, Bonn 21999. G ERH A R D H U TZLER Kreole, Kreolin (Span.: criollo /-a; Port.: crioulo /-a; Frz.: créole, Engl.: creole); Kreolisierung. Seit der Krise des Kolonialstatus und den Unabhängigkeitsbewegungen des frühen 19. Jh.s werden unter K. gemeinhin nach den damaligen Rassennomenklaturen (→Rassismus) die Nachkommen „weißer“ span.-europäischer oder port.europäischer Eltern im port. Kolonialgebiet und in den span. Kolonialgebieten →Amerikas sowie den daraus hervorgegangenen Staaten verstanden. Daneben hielt sich, für nordam. oder europäische Reisende und Berichterstatter weniger klar erkenntlich, immer auch die Bezeichnung criollo oder crioulo für in diesen Gebieten geborene Kinder von schwarzen Sklaven aus Afrika. Ein etwas differentes Verständnis entwickelte sich in den frz. Kolonien in der →Karibik und ehem. frz. Kolonien in Nordamerika, die unter engl. bzw. US-am. Kontrolle kamen (wie Louisiana). Wegen des häufigen Absentismus der großen Pflanzer (grands blancs) bei gleichzeitigem engem, auch und gerade sexuellem Kontakt mit Sklavinnen, bildeten farbige Kreolen bald eine wirtschaftliche starke und kulturell einflußreiche Bevölkerungsgruppe. Das galt speziell für kreolische Frauen, die Töchter mächtiger Plantagenbesitzer waren. Die Kreolen der frz. Gebiete prägten das Bild der gesamten Kolonialbevölkerung so profund, daß Engländer und v. a. US-Amerikaner den Begriff des Kreolen (creole) für alle frz.-sprachigen Siedler Louisianas und New Orleans’ übernahmen. Bis in die 1990er Jahre bestand mehr oder weniger Konsens unter Historikern, Anthropologen und Ethnographen „Kreole, Kreolin und Kreolisierung“ für ein am. Phänomen zu halten, meist sogar beschränkt auf den iberischen und frz. Kolonialraum. In diese Immobilität, die der Dynamik der →Transkulturation der neuzeitlichen Geschichte des gesamten Atlantikraumes überhaupt nicht entspricht, kam Bewegung durch Publikationen und Forschungen zu →Atlantikkreolen und zum Personal des transatlan457
kreuzzüge
tischen →Sklavenhandels (Broker, Übersetzer, Ruderer, Matrosen, Wächter, Schiffsköche, Schiffsjungen), die in einer Welt zwischen Versklavten und Versklavern lebten. Mehr noch als die Versklavten selbst prägten Atlantikkreolen die Transkulturation zwischen Afrika und den Amerikas sowie, wegen der Häufigkeit der Hin- und Herfahrt, auch zwischen den Amerikas und Afrika. Weitere neue Ansätze ergaben sich aus den Forschungen von Sprachund Literaturhistorikern über die frühe Verwendung des Begriffs „Kreol“ als Teil der europäisch-afr. Geschichte Westafrikas, v. a. Kapverden und São Tomé (→São Tomé und Príncipe), sowie durch Forschungen von Afrikahistorikern speziell zur Geschichte des Kongoreiches und →Angolas (Ndongo). Die Ergebnisse der Forschungen v. a. von Afrika- und Karibikhistorikern besagen, daß sowohl der Begriff „Kreol“, wie auch die Kreolisierung an sich bereits sehr früh in Westafrika anzusetzen sind. Es kam zu massiven Debatten mit Historikern und Anthropologen, die den Beginn der Kreolisierung auf die Versklavten und deren rites du passage v. a. in den Bäuchen der Sklavenschiffe beschränkten (Debatte Mintz/ Price – Afrikahistoriker). Für Afrikahistoriker und Historiker, die sich nicht nur auf Versklavte, sondern speziell auch das oben genannte Personal der Versklaver konzentrieren, reicht die Kreolisierung mit den in frühen port. Westafrika-Quellen faßbaren Typen von Atlantikkreolen (Tangomãos, Lançados sowie „schwarze Portugiesen“ und →Sepharden) über die atlantischen Küsten und Inseln in afr. Hinterländer. Andererseits prägten Atlantikkreolen, in Gestalt dieser Typen sowie als Schmuggler und Piraten (oder in Allianzen mit europäischen Korsaren) die Geschichte des frühen Atlantikraubhandels (→Atlantischer Ozean, Rescate) zwischen Afrika und Amerika. Schon seit frühester Zeit nach den Fahrten des →Kolumbus mußten europäische Monarchien, Wucherer und Monopolhändler alles daran setzen, wenigstens den →Atlantik unter notdürftiger Kontrolle zu halten und sich so immense Profite aus dem frühen Sklavenhandel des iberischen Atlantik (1450–1650) zu sichern. Eine dritte Position hebt den Atlantik selbst als „kreolischen Raum“ (A. Bartens), als den eigentlichen Raum der Kreolisierung und Transkulturation hervor, deren Träger sowohl Versklavte waren, die seit den Allianzen zwischen afr. Küsteneliten und Europäern (wobei letztere die Rolle von Juniorpartnern einnahmen) und der Verschiebung innerafr. (Sklaven-) Handelslinien seit 1500 zur Küste massiv auf die von Europäern und ihren Nachkommen besetzten Inseln und später auch nach Amerika strömten. Mehr noch als Versklavte aber, die den Atlantik meist nur in einer Richtung passierten (Afrika-Amerika), waren diejenigen, die als Sklavenhändler (Faktoren, Kapitäne, v. a. aber oben genanntes Personal) direkten Kontakt zu den Versklavten hatten und auf den Negrero-Schiffen zwischen den Kontinenten sowie Kulturen auf dem Atlantik zirkulierten. In diesem Zusammenhang entstand auch das Wort „Kreole“ als eine Mischung zwischen Kikongo und Portugiesisch/ Kastilisch. Es muß in seiner frühen Form wie nkuulolo geklungen haben und einen Fremden oder etwas Fremdes bezeichnet haben (Warner-Lewis, Maureen, „Posited Kikoongo Origins of some Portuguese and Spanish Words from 458
the Slave Era“, in: América Negra 13 (1997), 83–95.). Sozusagen im Schnelldurchlauf erfolgte seit 1480 eine afr.-atlantische Kreolisierung, faßbar in den Mikrounterschieden der Kreolsprachen (→Pidgin- und Kreolsprachen) im Golf von →Guinea (São-Tomense=Lungwa Santome; Angolar=Lunga Ngola; Principense=Lung’ie; Anobonense=Fa d’Ambu) oder auch in der Sprache Krio, mit erheblicher Bedeutung für eine neue Stufe der transatlantischen Vernetzungen im 19. Jh. etwa seit 1808 in →Freetown (→Sierra Leone) unter den Recaptives-Creoles sowie in vielen der afr. Sklavenhäfen. Die enge Bindung des K.-Begriffs an Schwarze, sowohl Versklavte wie auch freie Schwarze, ist andererseits klar faßbar auf der amerik. Seite im 16. und 17. Jh. Kein sich nach den Rassenkategorien der damaligen Zeit als „weißer Spanier“ definierender Mensch wäre zu dieser Zeit auf die Idee gekommen, sich als „K.“ zu bezeichnen. So heißt es bei →Garcilaso de la Vega in einem Kapitel über Genealogien „criollo es cosa de negros“ (K. oder „kreolisch“ ist Sache der →Neger; Comentarios Reales, Lissabon 1609, Buch IX, Kapitel XXXI: „Nombres nuevos para nombrar diversas generaciones“ – Neue Namen, um verschiedene Generationen zu benennen). Richard Price, The Miracle of Creolization, in: Kevin A. Yelvington (Hg.), Afro-Atlantic Dialogues. Anthropology in the Diaspora, Santa Fe / Oxford 2006, 115–147. John K. Thornton / Linda Heywood, Atlantic Creole Culture: Patterns of Transformation and Adaptation, 1607–1660, in: Thornton Heywood, Central Africans, Atlantic Creoles, and the Foundations of the Americas, 1585–1660, Cambridge 2007, 169–235. Michael Zeuske, Atlantik, Sklaven und Sklaverei – Elemente einer neuen Globalgeschichte, in: JbEÜG 6 (2006), 9–44. Michael Zeuske, Out of the Americas: Sklavenhändler und Hidden Atlantic im 19. Jh. Ein Forschungsprojekt am Historischen Seminar der Universität zu Köln, in: AHF Jb. der historischen Forschung in der Bundesrep. Deutschland (2009), 37–57. MIC H A EL ZEU SK E Kreuzzüge. I. e. S. Bezeichnung für eine Reihe kriegerischer Unternehmungen westeuropäischer Ritterheere im 11.–13. Jh., die ein Gebiet betrafen, das von Griechenland bis →Ägypten reichte. Den 1. K. initiierte Papst Urban II. am 27.11.1096 als Hilfsaktion für die vom →Islam bedrängte orthodoxe Kirche von Byzanz. Sein Ziel war die Wiedervereinigung der lateinischen und der 1054 abgespaltenen orthodoxen Kirche unter römischem Primat. Die Eigendynamik der Kreuzzugsbewegung bewirkte aber, daß das Hauptinteresse der Kreuzzugsteilnehmer, denen der Papst als Lohn für den Kampf vollkommenen Ablaß zusicherte, sich sehr schnell auf das sog. „Heilige Land“, d. h. die biblischen Stätten in Palästina richtete. Zur religiösen Motivation kamen für viele Kreuzritter ökonomische Motive. Die Aussicht auf Beute war angesichts der sich in Europa durchsetzenden Primogenitur attraktiv für zweit- und drittgeborene Adelssöhne. Die Kreuzritter eroberten Jerusalem (15.7.1099) und einen breiten Gebietsstreifen von Anatolien bis zur NegevWüste. Hier wurden die sog. Kreuzfahrerstaaten eingerichtet (von Süd nach Nord: Kgr. Jerusalem, Grafschaft Tripolis, Fürstentum Antiochia, Grafschaft Edessa). Die
k ri ck et i n i n d i en
muslimische Rückeroberung Edessas gab 1145 Anlaß zum 2. K., dem militärischer Erfolg versagt blieb. Die Rückeroberung Jerusalems und des größten Teils des Gebiets der Kreuzfahrerstaaten durch den ägyptischen Sultan Saladin 1187 löste den 3. K. aus. Immerhin wurde Akkon zurückerobert (1191), doch konnten die Kreuzfahrerstaaten sich von dem Schlag, der ihnen 1187 versetzt worden war, nicht mehr erholen. Alle weiteren Versuche europäischer Militärexpeditionen, ihre prekäre Lage zu verbessern (4. K. 1198–1204, K. von Damiette 1219–1221, K. Ludwigs IX. 1249/50), scheiterten. 1290 fielen Akkon und Tyrus als letzte Kreuzfahrerstädte ans Sultanat Ägypten. I. w. S. werden auch Feldzüge gegen heidnische oder vom Katholizismus abweichende christl. Religionsgemeinschaften in Europa als K. bezeichnet, z. B. die Feldzüge gegen die Albigenser im 13., die Pruzzen im 14., die Hussiten im 15. Jh. Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 102005. Jonathan Philliips, Holy Warriors, London 2008 (dt. 2011). Steven Runciman, A History of the Crusades, 3 Bde., Cambridge 1951–1954. CHRI S TOP H KUHL
Kricket. Mannschaftssportart engl. Ursprungs, die vorwiegend in Ländern des →British Commonwealth of Nations gespielt wird. K. wird mit einem harten Ball und einem Schläger aus Weidenholz gespielt. Die Schlagleute versuchen, den Ball so weit wie möglich zu schlagen und verdienen Punkte je nach der Entfernung des Ballflugs. Ziel eines K.-Spiels ist es, in zwei getrennten Phasen, durch die Schlagleute einer Mannschaft so viele Punkte wie möglich zu erlangen, während die andere Mannschaft versucht, diese Punkte auf verschiedene Art zu verhindern. Der Gewinner ist die Mannschaft mit der Mehrzahl der Punkte. Da ein K.-Spiel fünf Tage dauern kann, wird auf Ausdauer und geistige Stärke der Schlagleute und Werfer viel Wert gelegt. Führende Nationen im K. sind →Australien, Bangladesch, England, →Indien, →Kenia, →Neuseeland, →Pakistan, →Sri Lanka, Südafrika, die Westindischen Inseln und →Simbabwe. Im Südpazifik hat sich eine Variante des K., Kilikiti, entwickelt, die in →Samoa sehr beliebt ist. JAME S BADE Kricket in Indien. Das erste K.-spiel auf ind. Boden ist für 1721 belegt, als eine Schiffsmannschaft der East India Company (→Ostindienkompanien) bei Cambay nahe dem heutigen Vadodara eine Partie spielte. Der „Calcutta Cricket and Football Club“ wurde 1792 gegründet und ist nach dem 1787 gegründeten engl. „Marylebone Cricket Club“ (MCC) der zweitälteste der Welt. Die drei Haupthandelszentren der East India Company (→Kalkutta, →Bombay und →Madras) wurden die wichtigsten Zentren des K.s in →Indien, was sie noch heute sind. Zunächst blieb K. den Europäern vorbehalten, erst 1848 gründeten →Parsen in Bombay den ersten ind. K.-Club, den „Oriental Club“. Zwei parsische Teams besuchten 1886 und 1888 England. Der MCC kam seit 1889 deren Bitte nach, engl. K.-Teams nach Indien zu schicken, um die Fähigkeiten der ind. Teams zu begutachten. Zwei Inder, Ranjitsinhji und Duleepsinhji, wurden zu gefeierten K.-Spielern in England. 1911 tourte auf Kosten des
Maharadschas von Patiala ein gesamtind. Team durch England. Infolge der guten Leistungen, die dieses Team seitdem zeigte (u. a. bei den Meisterschaften 1926/27), richtete die Reg. Brit.-Indiens 1928 den Board of Control for Cricket in India (BCCI) als offizielle Regulierungsund Kontrollkörperschaft für den ind. K.-Sport ein. Sein erstes Testspiel gegen England bestritt Indien (unter Trainer C. K. Nayudu) 1932, konnte allerdings erst 1952 erstmals einen Sieg über England verbuchen. Die →Teilung Brit.-Indiens hemmte die Entwicklung des ind. K.s, weil vielversprechende musl. K.-Spieler nach →Pakistan abwanderten. Seit 1971 gilt Indien als maßgebliche Größe im Welt-K. 1983 und 2011 gewann das ind. Team die K.-Weltmeisterschaft, 2009 stand es auf Platz 1 der Testspiel-Weltrangliste. Als herausragende Spieler gelten Sunil Gavaskar, Kapil Dev und Sachin Tendulkar. Der BCCI ist zu einem der reichsten Sportverbände der Welt geworden. Ihm wird oft vorgeworfen, den Weltverband ICC (International Cricket Conference) zu bevormunden, was deutlich macht, daß sich das Machtzentrum im organisierten K. infolge des Aufschwungs, den K. im postkolonialen Indien erlebte, in die frühere Peripherie verlagert hat. 1864 fand mit dem Spiel Madras gegen Kalkutta erstmals ein erstklassiges K.-Spiel in Indien statt. Das erste gesamtind. Team wurde 1893 aufgestellt, bestand allerdings überwiegend noch aus Europäern. Im 19. Jh. war die Einrichtung des „Bombay Presidency Match“ 1877 für die Entwicklung des K.s in Indien besonders wichtig. Hier traten europäische gegen parsische Teams an, bis der Wettbewerb zum „Bombay Pentangular“ unter Einschluß von hinduistischen und musl. Teams ausgeweitet wurde. Die Beliebtheit dieses Turniers bei konsumorientierten urbanen Schichten in den 1930er Jahren förderte die Entwicklung des K.s zu einer marktorientierten Industrie. Dennoch wurde der „Bombay Pentangular“ wegen der kommunalen Organisation der Teams 1946 abgeschafft. Sein kommerzieller Erfolg hatte sich als Hemmschuh für das seit 1934/35 vom BCCI veranstaltete, nach Ranjitsinhji benannte „Ranji Trophy Tournament“ erwiesen, das staatenübergreifend organisiert war. Parsen und ind. Fürsten engagierten sich im K., um den brit. Kolonialherren ihre Loyalität zu beweisen und ihre eigene Stellung im kolonialen System zu verbessern. Das Engagement der gebildeten indigenen Eliten und Mittelschichten im K. sorgte dafür, daß der Sport zur Infragestellung des brit. Herrschaftsanspruchs und des europäischen Klischees von der physisch und intellektuell degenerierten Kultur Indiens beitrug. Die Notwendigkeiten kolonialer Politik führten in vielerlei Hinsicht zur Indigenisierung des K.s, wenn diese Entwicklung auch räumlich beschränkt war. Nach Auflösung der Fürstenstaaten übernahmen Unternehmen die finanzielle Förderung des K.s. Das K. im kolonialen Indien spiegelte eher die Struktur der Gesellschaft wider als das K. im heutigen Indien. Dennoch ist K. nach wie vor für die meisten Inder der mit Abstand beliebteste Sport. Mihir Bose, A History of Indian Cricket, London 1990. Ramachandra Guha, A Corner of a Foreign Field: An Indian History of a British Sport, London 2002. Ramachandra Guha, The States of Indian Cricket: Anecdotal Histories, Ranikhet 2005. Boria Majumdar, Twenty-Two 459
k r ie g s m Ar i n e , d eu t s c h e
Yards to Freedom: A Social History of Indian Cricket, Delhi 2004. S OUVI K NAHA Kriegsmarine, deutsche. Erste Ansätze zur Gründung einer einheitlichen „dt.“ Marine lassen sich während der Revolution 1848/49 erkennen. Auf Beschluß der Paulskirchenversammlung vom 14.6.1848 wurde eine dt. Marine vorgeschlagen, welche 1849 als K. ihren Dienst im Krieg gegen Dänemark versah. Das Reich übte das Hoheitsrecht aus. Nach dem Ende der Revolution wurde die Flotte aufgelöst. 1867 entstand die Flotte des Norddt. Bundes, welche später zur K. des Dt. Ksr.s erweitert wurde. Als Flagge wurden die Farben Preußens und der Hansestädte, schwarz-weiß-rot, gewählt. Ihre Aufgabe bestand im Handelsschutz und in der Abschreckung Frankreichs. Im Krieg 1870/71 mußte sich die Flotte auf Kaperfahrten beschränken, da sie den frz. Einheiten nicht gewachsen war. Die ksl. Marine wurde auf Beschluß des Reichsrates und des Reichstages vom 16.4.1871 konstituiert. Die Kommandobehörden des Norddt. Bundes wurden zur Admiralität zusammengefaßt und dem Marineministerium beigeordnet. Als erster Oberbefehlshaber fungierte General der Infanterie Albrecht von Stosch. Die kommandierenden Offiziere rekrutierten sich aus hohen Generälen der Landstreitkräfte, da noch keine ausreichend erfahrenen Seeleute zur Verfügung standen. Die Offiziere der neuen Marine wurden z. T. in Großbritannien ausgebildet. Im Vergleich zum Heer dominierten in der Marine bürgerliche Offiziere, die, wie →Tirpitz, nachträglich geadelt wurden. Die Marine unterschied zwischen einem Seeoffizierskorps und dem aus dem Ingenieurskorps, den Deckoffizieren, den Unteroffizieren mit und ohne Portepee und den Matrosen bestehenden Mannschaftsstand. Zwischen diesen Gruppen kam es bis 1918 zu einer weitgehenden gegenseitigen Isolierung und Verhärtung der Fronten. Diese war ein Grund für die Meutereien 1917 und 1918. Seit 1889 wurde die Marineführung in das Oberkommando der Marine, das Marinekabinett und das Reichsmarineamt unterteilt. Das Oberkommando der Marine (1889–1899, später Admiralstab) wurde in die Stationskommandos Nordsee und Ostsee sowie die auswärtigen Stationen unterteilt. Ihm oblag die strategische Planung, während das Reichsmarineamt die politische Vertretung gegenüber dem Ks. und dem Reichstag darstellte. Das Marinekabinett befaßte sich mit den Personalfragen. Die Marine unterstand Ks. und Reich und wurde als eine Institution des Reiches von der Reichsleitung geführt. Der prominenteste Vertreter des Reichsmarineamtes war Admiral Alfred (von) Tirpitz, welcher von 1897 bis 1916 das Amt des Mariestaatssekretärs innehatte. Der oberste Befehlshaber der Marine blieb bis Okt. 1918 Ks. Wilhelm II. Die Dreiteilung der Befehlsbefugnisse wurde erst 1918 durch die Bildung der Seekriegsleitung unter Reinhard Scheer aufgehoben. Der Chef des Admiralstabs war im Krieg nicht alleine für die Leitung der Operationen verantwortlich. Diese behielt sich Wilhelm II. selbst vor. Mit seinem 1. Flottengesetz von 1898 wurde der Aufbau einer schlagkräftigen Schlachtflotte befohlen. In (neuen) Novellen der Jahre 1902, 1906 und 1912 wurde die Flotte beständig erweitert und in der Diktion Gerhard 460
Ritters als „Risikoflotte“ betrieben. Ihre Ausrichtung als Waffe war eindeutig gegen Großbritannien gerichtet. Neben dem Bau von Schlachtschiffen sollten auch U-Boote und Torpedoboote als neueste Entwicklungen der Marinetechnik gebaut werden. Der Bau von Kreuzern verlor an Bedeutung. Neben der Hochseeflotte, bestehend aus Schlachtschiffen und Kreuzern, wurden auch Auslandskreuzer entsendet. Ihr einziger Stützpunkt sollte ab 1898 →Tsingtau sein, doch befanden sich auch in →Australien, Nordamerika und Ostafrika Auslandskreuzer in Häfen fremder Nationen. Als einziges zusammenhängendes Auslandsgeschwader wurde die Kreuzerdivision, später das Kreuzergeschwader (→Ostasiatisches Kreuzergeschwader), in Tsingtau stationiert, dieser Station aber nicht unterstellt. Aufgabe der Hochseeflotte war der Schutz der dt. Interessen in der Nord- und Ostsee. Ab 1905 wurde die Hochseeflotte primär in der Nordsee eingesetzt. Auslandsmanöver verloren an Bedeutung für die Schlachtschiffe. Die Auslandsschiffe sollten die dt. Interessen im Ausland wahren, den Handel fördern und die eigenen Landsleute schützen. Zusätzlich sollten diese Schiffe den feindlichen Handel schädigen und feindliche Stützpunkte angreifen. Damit konnten Angriffe auf die Küsten des Reiches durch die Bindung feindlicher Kräfte verhindert werden. Während die ältere Forschung die Nutzlosigkeit der K. herausstellte, betont die neue Forschung den Erfolg der K. als „fleet in being“. Alleine ihre Anwesenheit verhinderte eine brit. Landung an den Küsten Frieslands. Gegen eine Fernblockade war die K. machtlos. Ihre Unterlegenheit gegenüber Großbritannien erlaubte kein offensives Vorgehen gegen die in der nördlichen Nordsee aufgebauten Blockaden. Die Jahre 1900 bis 1914 zeigten daher eine vermehrte Ratlosigkeit in den strategischen Planungen der Hochseeflotte gegenüber einer Fernblockade. Auch die Auslandskreuzer gerieten in eine strategische Defensive. Ihre Ziele im Angriff auf die Küsten Nordamerikas und Australiens oder →Indiens wurden durch die verstärkte Präsenz Großbritanniens aber auch durch den Aufschwung der Seestreitkräfte der →USA und Japans zurückgenommen und bestanden 1914 auf der Verteidigung des eigenen Handels oder dem Verstecken vor dem Feind. Das Grundkonzept dieser Schiffe sollte der Kreuzerkrieg sein, nach dem nicht die Schlacht, sondern die Vernichtung des feindlichen Handels im Mittelpunkt stehen sollte. Diese Taktik der jeune école stand einer unterlegenen Marine offen und wurde bereits 1871 praktiziert. 1914 umfaßte die K. 14 Großlinienschiffe, 22 Linienschiffe, 8 Küstenpanzerschiffe, 4 Schlachtkreuzer, 7 Große Kreuzer, 12 Kleine Kreuzer, 89 Torpedoboote und Torpedobootzerstörer sowie 19 UBoote. Während des Ersten Weltkrieges fanden nur drei Schlachten großer Einheiten der K. statt. Im Gefecht von Coronel am 1.11.1914 konnte das Kreuzergeschwader ein brit. Geschwader unter Admiral Cradock vernichten und wurde sechs Wochen später bei den →Falklandinseln am 8. 12.1914 selber durch brit. Einheiten unter Admiral Sturdee vernichtet. Die Seeschlacht vom Skagerrak am 31.5.1916 ging unentschieden aus, brachte aber hohe Verluste auf dt. und brit. Seite. Am Ende des Krieges sollte die Hochseeflotte zu einem letzten Unternehmen auslaufen, doch verhinderte die Meuterei der Matrosen
kri m k ri eg
in Kiel dieses Himmelfahrtsunternehmen. Auf dem Stolz des Ksr.s begann dessen Untergang in der Revolution der Jahre 1918/19. Am 21.6.1919 versenkten sich die Schiffe der ksl. Marine selber, um einer Auslieferung an Großbritannien zuvorzukommen. Nach den Bestimmungen des →Versailler Vertrages durfte die dt. Marine nur noch aus 15 000 Matrosen und kleinen Kampfschiffen bestehen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die K. als Reichsmarine und seit 1935 wieder als K. geführt. Die Bundesmarine steht in der Tradition der Reichsmarine, womit sie zugleich in der Tradition der K. steht. Michael Salewski, Die wilhelminischen Flottengesetze, in: Jürgen Elvert u. a. (Hg.), Die Deutschen und die See, Stuttgart 1998, 119–126. ANDRE AS L E I P OL D Krim. Die Halbinsel K. war seit ältester Zeit Durchzugsund Besiedlungsraum verschiedener Völkerschaften. Sie ist bis heute durch eine komplexe kulturelle, religiöse und ethnische Struktur geprägt. Auf Skythen, Sarmaten, Griechen, Römer, Goten, Hunnen und Chazaren folgten Genueser und Venezianer (ab dem 13. Jh.), welche an der Küste Handelskolonien errichteten, sowie turko-tatarische Gruppen. Aus deren Reihen ging das K.-Khanat hervor. In der ersten Hälfte des 15. Jh.s gegründet und bis 1783 bestehend, sollte es die am längsten bestehende Abspaltung der Goldenen Horde sein. Seit 1478 gehörte das K.-Khanat zu den Vasallen des →Osmanischen Reiches, an dessen Seite es an militärischen Unternehmungen teilnahm, die weit nach Europa hineinführten. Sie hatten u. a. das Ziel, Nachschub für den →Sklavenhandel zu beschaffen. Für die Bewohner der unzulänglich geschützten südlichen Grenzen Polen-Litauens und des Moskauer Staates war der K.staat somit eine Bedrohung. Auf zwischenstaatlicher Ebene kam es jedoch immer wieder zu wechselnden Bündnissen zwischen dem Khanat und diesen christl. Staaten, für die der Menschenverlust und die Tributpflicht aber eine große Belastung bedeuteten. Zu Versuchen einer militärischen Lösung des Problems kam es seitens des Zarentums erst im ausgehenden 17. Jh., als sowohl das Osmanische Reich als auch sein Vasall, das Khanat, die lange Zeit bestehende militär-technologische Überlegenheit eingebüßt hatte. Aus strategischen und ökonomischen Gründen wurde die K. schließlich 1783 von Rußland annektiert. Administrativ fest in den Reichsverband eingegliedert, wurde gegenüber den K.tataren (→Tataren) eine alles in allem koloniale Politik verfolgt, die deren Massenauswanderung (besonders nach dem →Krimkrieg) zur Folge hatte. In der Sowjetunion genossen die K.tataren bis zum Ende der 1920er Jahre relative kulturelle Freiheiten. Als antikes Taurien oder als zeitweiliges Refugium der Goten spielte die K. seit der →Aufklärung im europäischen intellektuellen Diskurs eine Rolle. Die Besetzung der Halbinsel durch dt. Truppen im →Zweiten Weltkrieg war hiervon beeinflußt, träumte Hitler doch von einem sog. Gotengau am Schwarzen Meer. Die Kollaboration einiger K.tataren mit der Wehrmacht hatte nach der Rückeroberung durch die Rote Armee im Frühjahr 1944 zur Folge, daß die Volksgruppe auf Geheiß Stalins nach Zentralasien deportiert wurde. Erstmalig in ihrer Geschichte wurde die K. damit weitgehend ethnisch homogen, d. h. russ.-ukra-
inisch. 1954 ‚verschenkte‘ Chruschtschow die Halbinsel an die damalige Ukrainische Sozialistische Sowjet-Rep. Nach dem Ende der UdSSR fanden sich viele Russen mit dem Verlust der Halbinsel nicht ab. Konflikte zwischen den tatarischen Rückkehrern (bzw. deren Nachfahren) und den auf der K. lebenden Russen sowie zwischen der Ukraine und Rußland über die in Sewastopol stationierte Schwarzmeerflotte machen die K. gegenwärtig zu einem Krisengebiet. Neal Ascherson, Schwarzes Meer, Berlin 1996. Alan Fisher, The Crimean Tatars, Stanford 1978. Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums. Der russ. Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz 2007. K ER STIN S. JO B ST Krimkrieg. (1853/54–1856), auch: 7. →Russ.-Türk. Krieg; militärischer Konflikt zwischen dem Zarenreich einerseits und dem →Osmanischen Reich, Großbritannien und (ab März 1854) Frankreich sowie (ab 1855) Sardinien-Piemont andererseits vor dem Hintergrund der sog. Orientalischen Frage. Der Krieg wurde nicht allein auf der Halbinsel →Krim ausgetragen, sondern auch in den Donaufürstentümern, der Ostsee, Transkaukasien, Fernost (Halbinsel Kamtschatka) sowie im südlichen Schwarzen Meer. Nach der fast ein Jahr dauernden Belagerung der Festung Sewastopol (Krim) endete er mit einer russ. Niederlage. Im Frieden von Paris wurde bestimmt, daß Rußland u. a. Teile Bessarabiens abtreten, die Donaumündungen räumen und auf das Protektorat über die orthodoxen Christen im Osmanischen Reich verzichten mußte; letzteres war ein Auslöser für den Beginn des Krieges gewesen, dessen politische Folgen weitreichend waren: Er markierte etwa das Ende der seit den Napoleonischen Kriegen die europäische Politik bestimmenden habsburgisch-russ. Zusammenarbeit, brachte die internationale Anerkennung des frz. Ksr.s unter Napoleon III. sowie eine internationale Garantie der Integrität des Osmanischen Reichs, auch wenn das Streben nach größtmöglichem Einfluß am Bosporus weiter die Politik der europäischen Großmächte bestimmte. Der K. gilt wegen der in ihm erstmals eingesetzten modernen Waffensysteme und gepanzerten Dampfkriegschiffe, der Nutzung der Telegrafen-Kommunikation und der temporären Einrichtung einer strategischen Eisenbahnlinie (durch die Briten in Balaklava/Krim) als Krieg neuen Typs; er war zugleich der erste Stellungsund Grabenkrieg in der Geschichte. Trotz der technischen Innovation war dieser Krieg zugleich ein schlecht geführter: Bis zum Ersten Weltkrieg war keine andere militärische Auseinandersetzung ähnlich verlustreich, wobei ein Großteil der Opfer nicht im Kampf starb, sondern durch Epidemien und schlechte Wundversorgung. Verbesserungen in der Kriegskrankenpflege wurden in allen kriegführenden Staaten schon während des Waffenganges thematisiert und sind u. a. mit den Namen Florence Nightingale (Großbritannien) oder Nikolai I. Pirogow (Rußland) verbunden. Besonders im Zarenreich wurden nach dem K. Reformen seitens der Staatsmacht, initiiert. Der Rückständigkeit auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, die der in Westeuropa seit langem verbreiteten Russophobie Vorschub geleistet hatte, sollte durch die sog. Großen Reformen (u. a. der Aufhebung der 461
k r one , h e r mA n n
→Leibeigenschaft, einer Militär- und Justizreform) ein Ende bereitet werden. Dies gelang aber nur in Ansätzen. Durch die erstmalig im größeren Maßstab eingesetzten Kriegskorrespondenten und Fotografen wurde der K. auch eine mediale Inszenierung für die Heimatfront, so daß er besonders im russ., aber auch im brit. kollektiven Gedächtnis bis in die Gegenwart eine Identität stiftende Rolle spielt. Winfried Baumgart, The Crimean War 1853–1856, London 1999. John Shelton Curtiss, Russia’s Crimean War, Durham 1979. Ulrich Keller, The Ultimative Spectacle, Amsterdam u. a. 2001. KE RS T I N S . JOBS T Krone, Hermann, * 14. September 1827 Breslau (Wrocław), † 17. September 1916 Laubegast (Dresden), □ nicht erhalten, ev.-luth. Der Fotopionier und Dozent für →Fotografie am Kgl. Polytechnicum Dresden war Leiter der fotografischen Abteilung der dt. →Expedition, die im Okt. 1874 nach Port Ross auf die neuseeländischen →Auckland-Inseln kam, um den Venusdurchgang vom 9.12.1874 von Terror Cove aus zu beobachten. K. schrieb mehrere Berichte über die Expedition; seine detailliertesten Erinnerungen findet man in der Robinsonade auf den Auckland-Inseln, die den zweiten Bd. seiner von 1899 bis 1902 veröffentlichten Dichtungen ausmacht. Die wertvollen Fotos der Expedition werden in der Hermann-K.-Sammlung des Instituts für Angewandte Photophysik der Technischen Universität Dresden aufbewahrt. JAME S BADE Kronkolonie. Bezeichnet solche engl. Kolonien, die entweder ursprünglich durch kgl. →Charters begründet und dann, wie etwa Virginia, nach einiger Zeit wieder von der Krone direkt übernommen wurden, oder die, wie →Jamaika, erobert wurden oder der Krone anheimfielen wie →Barbados und New York – letztere durch den Thronantritt von Jakob Duke of York als →Jakob II., Kg. von England. Verfassungsgrundlage dieser Kolonien war nach Ansicht der Kronjuristen nicht die ursprüngliche Charter, sondern die Ernennungsurkunde der kgl. →Gouv.e. Diese waren an sog. kgl. Instruktionen gebunden, die ihr Verhalten als Gouv.e bestimmen sollten. Beide wurden von dem →Board of Trade and Plantations ausgearbeitet. In einer K. war der Kg. letzte Quelle allen →Rechts, Land wurde in seinem Namen verliehen, Rechts- und Verwaltungsakte in seinem Namen vorgenommen. So gut wie alle Konflikte der kgl. Gouv.e mit den Kolonisten und ihren gewählten Abgeordneten ergaben sich aus diesem umfassenden Herrschaftsanspruch der Krone. Leonard Woods Labaree (Hg.), Royal Instructions to British Colonial Governors 1670–1776, 2 Bde., New York 1935. Ders., Royal Government in America, New Haven 1930. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Krüger, Paul, * 10. Oktober 1825 Bulhoek, † 14. Juli 1904 Clarens, □ Church Street Cemetery / Pretoria, ev.ref. K.s Vorfahren wanderten 1713 aus Deutschland nach Südafrika ein. Er selbst wuchs auf einer Farm im Steynsburg-Distrikt nahe der Stadt Cradock (Südafrika) auf und 462
erhielt nur eine begrenzte Schulbildung. Dafür erwarb er sich früh einen Namen als begabter Militärkommandant und Verhandlungsführer. Familie K. beteiligte sich am „Großen Trek“, der 1836 startete. 1841, im Alter von 16 Jahren, begann K. mit der Farmarbeit am Fuße der Magaliesberge in der Umgebung von Pretoria. Er war tief religiös und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „Reformed Church“ (Gereformeerde Kerk). Seine politische Karriere begann mit der Ernennung zum Generalkommandanten der Südafr. Rep. (ZAR); 1874 wurde er zum Mitglied des Exekutivrats gewählt und dann zum Vize-Präs. von →Transvaal. Nach der Annexion von Transvaal durch die Briten 1877 wurde K. Anführer der Widerstandsbewegung. Er formulierte den Gedanken, daß die →Afrikaners („Boers“) ein auserwähltes Volk mit göttlicher Mission seien, und er versuchte erbittert, die Freiheit der Südafr. Rep. zu wahren. Seine Verhandlungen mit den Briten in den frühen 1880ern spielten eine wesentliche Rolle bei der Wiederherstellung von Transvaals Unabhängigkeit. K. wurde 1882 zum Präs. gewählt und war maßgebend an der Entwicklung von Verwaltungsreformen nach der Entdeckung der reichen Goldfelder am Witwatersrand (1886) beteiligt. Ein Jahr nach dem Ausbruch des „Zweiten →Burenkrieges“ (11.10.1899) verließ K. Südafrika auf einem ndl. Kriegsschiff. Nach kurzer Zeit in den Niederlanden zog er nach Clarens in die Schweiz, wo er am 14.7.1904 verstarb. Hermann Giliomee u. a. (Hg.), New History of South Africa, Kapstadt 2007. A N N EK IE JO U B ERT Krüger-Depesche. Cecil Rhodes, Premierminister der →Kapkolonie, plante Anfang der 1890er Jahre einen bewaffneten Überfall, um die Reg. →Krüger in →Transvaal zu stürzen und durch eine neue Reg. zu ersetzen, auf die die brit. Handelsherren in Johannesburg besseren Einfluß hätten. Am 29.12.1895 fielen Kolonialtruppen unter der Führung von Leander Starr Jameson in Transvaal ein, mit der Absicht, einen Aufstand der Witwatersrand-„Uitlanders“ (europäische Zuzügler in Transvaal und Goldgräber) auszulösen. Nachdem diese Aktion fehlgeschlagen war, erhielt der Präs. von Transvaal, Stephanus Johannes Paulus Krüger, am 3.1.1896 ein Telegramm vom dt. Ks. Wilhelm II., in dem dieser Krüger zu seinem erfolgreichen Widerstand gegen den →Jameson Raid ohne Unterstützung von ‚befreundeten Kräften‘ gratulierte. Das Telegramm des Ks.s wurde in Deutschland viel gelobt, während es auf brit. Seite als Zustimmung des Ks.s zur Unabhängigkeit Transvaals und als Anzeichen einer möglichen, zukünftigen Parteinahme der Deutschen für die ZAR (Südafr. Rep.) interpretiert wurde. Dies heizte Emotionen an und führte zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die K. wird oft als erster Höhepunkt einer dt.brit. Rivalität betrachtet. Hermann Giliomee, The Afrikaners, Kapstadt 2003. A N N EK IE JO U BERT
Krusenstern, Adam Johann von, * 19. November 1770 Haggud, † 24. August 1846 Kiltsi, □ St. Marien-Dom / Reval (Tallinn), ev.-luth.
kubA
Aus balten-dt. Familie stammend, die seit dem frühen 17. Jh. in Estland seßhaft war. 1786 Seekadett in Kronstadt. 1787–1790 Teilnahme am Russ.-Schwedischen Krieg. 1793–1799 zur engl. Flotte delegiert. In dieser Zeit Teilnahme an Fahrten nach →Kanada, Südafrika, →Indien u. →Malakka. Bei seinem Aufenthalt in Malakka erwarb K. eine Kopie der malayischen Chronik →Sejarah Melayu. Sie befindet sich heute in der →Kunstkammer St. Petersburg u. ist die nachweislich älteste Kopie der Sejarah Melayu (1798), deren Original verlorengegangen ist. 1801 Kapitän eines Linienschiffes. 1803–1806 Leitung der ersten russ. Weltumseglung, bei der Kamtschatka, Sachalin, die →Kurilen und Aleuten erkundet und kartographiert wurden. Nach Rückkehr Beförderung zum Admiral und Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Bis 1842 Leiter des zaristischen Seekadetten-Korps. 1841 erster russ. Generaladmiral. Q: Adam Johann von Krusenstern, Atlas zur Reise um die Welt, 3 Bde., St. Petersburg 1812–1814. Ders., Beyträge zur Hydrographie der größeren Oceane, Leipzig 1819. L: E. Revunenkova, Sulalat-Us-Salatin: The Krusenstern Manuscript, in: Manuscripta Orientalia 12,2 (2006), 5864. G E R H A R D H UT Z L E R / P E T E R BORS CHBE RG Kuala Lumpur. (Malaiisch wörtlich: schlammige Flußmündung) wurde Mitte der 1860er Jahre am Zusammenfluß des Gombak- und Kelang-Flusses gegründet und war zunächst eine Siedlung chin. Arbeiter, die in den umliegenden Zinnminen des malaiischen Sultanats Selangor arbeiteten. Als Gründer gilt heute Yap Ah Loy (1837– 1885), der von ca. 1865 bis zu seinem Tode Vorsteher (Mal. Kapitan Cina) der chin. Gemeinde in K. L. war. Im März 1880 machte die brit. Kolonialreg. K. L. zur Hauptstadt von Selangor und verlagerte die Verwaltung dorthin. Dies und die boomende Zinnindustrie trugen zu einem raschen Bevölkerungswachstum bei. 1886 wurde die erste Eisenbahnstation eröffnet. Bereits in den 1890er Jahren hatte K. L. über 20 000 Ew., für die neue Stadtteile entstanden. Neben Chinatown entstanden z. B. Brickfields, wo sich viele Inder niederließen, und 1902 Kampung Baru als Wohnort für Malaien. Für die europäische Ew.-schaft wurden im Zentrum Unterhaltungs- und Erholungsmöglichkeiten eingerichtet, z. B. ein Kricketfeld (→Kricket), eine Rennbahn und ein botanischer Garten. Als Hauptstadt und (Kolonial-)Verwaltungssitz hatte K. L. eine kosmopolitische Bevölkerung, die sich aus Malaien, Chinesen, Indern und europäischen Beamten und Angestellten zusammensetzte. 1896 wurde K. L. Verwaltungssitz der sog. Federated Malay States, zu denen Selangor, Perak, Negeri Sembilan und Pahang gehörten. Dieser Status führte zum Bau zahlreicher prestigeträchtiger Gebäude wie dem Bahnhof und dem Verwaltungsgebäude im Zentrum der Stadt. Für die Kinder der brit. Bevölkerung richtete man 1893 die Eliteschule Victoria Institution ein, die anderen Schulen lagen meist in den Händen der Kirchen und Missionen. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurde K. L. 1957 Hauptstadt der unabhängigen Föderation Malaya, die 1963 in →Malaysia umbenannt wurde. Neben den öffentlichen Medien wie Radio und Fernsehen konzentrierten sich auch Zeitungen und
Verlage in der Hauptstadt. Als politisches und kulturelles Zentrum wuchs K. L. bald zu einer Millionen-Metropole heran, die neben einer Universität, der Nationalgalerie, der Nationalbibliothek und dem Nationalmuseum auch zahlreiche weitere Institutionen und Ministerien aufwies. 1974 wurde K. L. als eigenständiges Bundesterritorium (Mal. Wilayah Persekutuan) aus Selangor ausgegliedert und bekam eine eigenständige Verwaltung. Unter der Reg. von Premierminister Mahathir Mohamad entstanden in K. L. Wolkenkratzer, gigantische Shopping Malls und Megaprojekte wie der zweithöchste Fernsehturm Asiens und 1996 die berühmten Petronas Towers. 1999 wurde die Reg. in den neuen Verwaltungssitz Putrajaya verlegt. J.M. Gullick, Old Kuala Lumpur, Kuala Lumpur 1994. Ders., A History of Selangor (1766–1939), Kuala Lumpur 1998. Ken Yeang, The Architecture of Malaysia, Amsterdam 1992. H O LG ER WA R N K Kuanua. Sprache der →Tolai, der bestimmenden Ethnie der heutigen Provinz East New Britain (→PapuaNeuguinea). Der deutsche Gouverneur Albert →Hahl wollte Kuanua zur Lingua franca der Kolonie DeutschNeuguinea machen, scheiterte aber am Widerstand der Pflanzer und Siedler, die →Tok Pisin befürworteten und sich dabei auf die Ablehnung anderer einheimischer Ethnien gegenüber der Bevorzugung der Tolai beriefen. Als Kirchen- und Schulsprache erreichte K. in der methodistischen (Heinrich →Fellmann) und katholischen (→Herz-Jesu-Mission) Mission dennoch überregionale Bedeutung in ganz Neubritannien. K. war die einzige einheimische Sprache, die nach der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas neben dem Englischen und den Kreolsprachen Tok Pisin und Motu als offizielle Schulsprache (in der Provinz East New Britain) gelehrt wurde und anerkannt war. Das Experiment wurde mit dem Argument abgebrochen, daß die Schüler aus East New Britain über schlechtere Englischkenntnisse verfügten als Schüler aus den übrigen Teilen des Landes. Seit dem 4. Februar 2013 wird in den Grundschulen Papua-Neuguineas der Unterricht nur noch in englischer Sprache erteilt (→Globalisierung). Die ältesten Wortlisten und Wörterbücher (Kuanua-Französisch, Kuanua-Deutsch) sind bislang nicht ediert worden. Sie werden im Archiv des Erzbistums →Rabaul und im Archiv der Herz-Jesu-Mission in Vunapope (Papua-Neuguinea) und Hiltrup aufbewahrt. H ERMA N N H IERY
Kuba. Größte Insel der Großen →Antillen, 1492 von →Kolumbus entdeckt; die span. Besiedlung begann erst 1511, 1514 wurden Havanna und Santiago gegründet. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden die indigenen →Ethnien (Taínos, Ciboney) v. a. durch die von den Spaniern eingeschleppten Krankheiten fast völlig ausgelöscht. Die Bedeutung des kolonialen K. für das span. Imperium erklärt sich v. a. aus seiner geostrategischen Lage. K. avancierte zum Mittelpunkt des span. Verteidigungssystems in der von den europäischen Hegemonialmächten umkämpften →Karibik, und der Hafen von Havanna wurde zum befestigten Eingangstor nach NeuSpanien. Santiago de Cuba war der Ankunftshafen span. 463
kubA
Handelsschiffe und Zentrum der südlichen Karibik. K. blieb bis weit ins 18. Jh. unterentwickelte Peripherie und diente als Dienstleistungskolonie innerhalb des überseeischen Imperiums Spaniens, dessen Interesse den edelmetallproduzierenden Festlandkolonien (→Edelmetalle) galt. So wurden insb. diejenigen Wirtschaftsbereiche gefördert, die auf den Auf- und Ausbau der Handelswege nach den festländischen Kolonien ausgerichtet waren, nämlich Landwirtschaft, Viehhaltung und Schiffbau, v. a. in der Region um den Haupthafen Havanna. Havanna verfügte über den einzigen Hafen, der in direkter Verbindung mit dem Mutterland stand. So prägte dieser Haupthafen die Entwicklung der gesamten Insel. Nach Mexiko-Stadt und →Lima war Havanna die drittgrößte Stadt des span. Kolonialreichs. Nach dem ersten offiziellen Ew.-verzeichnis von 1757 lebten zu diesem Zeitpunkt 150 000 Menschen auf K., davon allein ⅓ in Havanna. Die meisten span. Immigranten der frühen Kolonialzeit stammten von den Kanarischen Inseln und hatten sich von Beginn an dem Anbau von →Tabak gewidmet. Bis 1607 wurde K. als eine einzelne provincia verwaltet, danach erfolgte eine Teilung in zwei Provinzen (Occidente mit der Hauptstadt Havanna und den gobernaciones Pinar del Río, Havanna-Matanzas, Las Villas und Puerto Príncipe sowie Oriente mit der Hauptstadt Santiago de Cuba und den gobernaciones Bayamo, Holguín und Baracoa). Die Insel wurde im 18. Jh. in Verwaltungsbezirke (intendencias) eingeteilt, die einem kgl. Beamten, dem intendente, unterstanden: Havanna, Baracoa, Bayamo, Holguín, Matanzas, Puerto Príncipe, Sancti Spíritus, San Juan de los Remedios, Trinidad und Villa Clara sowie die von Havanna aus zu verwaltenden intendencias La Luisiana, Florida Oriental und Florida Occidental. 1827 kam die Provincia Central mit der Hauptstadt Trinidad dazu; 1878 wurde zur besseren administrativen Kontrolle die Einteilung in die sechs Provinzen Pinar del Río, Havanna, Matanzas, Santa Clara, Puerto Príncipe und Santiago de Cuba vorgenommen. Die zentrale politische Funktion in K. nahm in einer Person der capitán general und gobernador ein, der sowohl den militärischen Oberbefehl als auch Entscheidungsgewalt in allen zivilrechtlichen Fragen durch den Vorsitz im Stadtrat (Cabildo) hatte. Politisch unterstand er direkt dem Vize-Kg. von Neu-Spanien, für alle rechtlichen Belange war die →Audiencia in Santo Domingo (→koloniale Metropolen) zuständig (bis 1804, dann wurde die Audiencia wegen der haitianischen Revolution in die kubanische Stadt Puerto del Príncipe (heute Camagüey) verlegt). Das höchste kirchliche Amt bekleidete der Bischof von Santiago de Cuba. Das Bistum hatten zwar seinen Sitz in Santiago, wo sich auch die einzige Kathedrale K.s, das Domkapitel und der höchste Anteil von Klerikern sowie die üblichen Orden befanden, aber der Bischof lebte die meiste Zeit des Jahres in Havanna. Die Insel verfügte über keine Edelmetalle, und die Exporte von →Baumwolle, →Kaffee und Zuckerrohr waren sehr bescheiden. Nur in vereinzelten Regionen begann im Rahmen der ersten bourbonischen Reformversuche ein Transformationsprozeß, in dessen Verlauf die frühkolonialen →Hacienda-Betriebe, die vollständig auf die Versorgung des Binnenlands ausgerichtet waren, den auf Kommerzialisierung 464
und Export ausgerichteten Plantagen (→Ingenio) weichen sollten. Zwischen 1514 und 1765 liefen pro Jahr maximal drei bis vier navíos de registro, individuell registrierte Handelsschiffe außerhalb des offiziellen Flottenverbandes, an. Seit Mitte des 18. Jh.s wurde die Tabakproduktion im Rahmen der bourbonischen Reformbemühungen langsam reduziert und der Anbau von →Zucker beschleunigt. Durch Einrichtung einer staatlichen Monopolgesellschaft (Real Compañía de La Habana) und Senkung der Exportsteuern wurde der Außenhandel gefördert. Die Sklavenimporte stiegen dramatisch an. Nach der engl. Besetzung Havannas (1762–63) am Ende des →Siebenjährigen Krieges und v. a. nach der Revolution im frz. Saint-Domingue (1791) wurde K. innerhalb weniger Jahrzehnte zum wichtigsten Zuckerproduzenten der Karibik. Zwischen 1790 und 1860 entwickelte sich, von Havanna ausgehend, die modernste, am dichtesten technisierte und technologisierte (Eisenbahnen, Dampfschiffe, Zuckerfabriken) →Sklaverei des atlantischen Westens („2. Sklaverei“), v. a. im Bereich der Kaffeeproduktion (cafetál, bis ca. 1830), seit 1830 überwiegend im Zucker sowie Komplementärwirtschaften (Nahrungsmittel, →Bananen (plátanos), Vieh, Holzproduktion). Um 1840 war Havanna Weltmetropole des Zuckers (Markenprodukt: raffinierter Weißzucker), die Eliten der Insel, v. a. Großhändler und Negreros (Sklavenhändler) die reichsten →Amerikas. Das Territorium der Plantagen und der Massensklaverei in Westkuba zwischen Havanna, Matanzas und Cienfuegos, landschaftlich geprägt durch Vernichtung des Waldes, tischflache Ebenen roten Bodens mit Zuckerrohr und einigen Kg.spalmen (palma real) und Massen von Sklaven wurde im 20. Jh. als „Sklavenkuba“ (Cuba grande – „großes K.“) konzeptualisiert; K. ohne Plantagen, v. a. die Gebirgszonen im Osten (Oriente) galten als Cuba pequeña („kleines K.“). Trotz formalen Verbotes des transatlantischen Sklavenhandels unter brit. Druck wurden zwischen 1820 und 1878 zwischen 800 000 und 1 Mio. Menschen aus Afrika nach K. verschleppt („Atlantisierung“) und hunderttausende in den →Süden der USA geschmuggelt. Auf K. entwickelten sich mindestens fünf große afrokubanische Kulturen, unter freien Farbigen und ehem. Sklaven institutionalisiert als cabildos de nación (ständische Ratsversammlungen) mit eigenständigen religiösen Kulten, Festen und Musik (→Kongo / →Angola: Palo monte; Lucumí (yoruba): Santería; Mina/Arará: Vudú (Voudou); Carabalí (Südostnigeria): Ñáñigos / Abakúas, die einzige von Afrika nach Amerika transferierte Krieger-Geheimgesellschaft; Mandinga / Gangá / Jolof: →Islam); insg. existierten über 130 unterschiedliche naciones. In Fluchtgebieten entstand auch eine Widerstandskultur (palenques). Palenque-Bewohner und Cimarrones (→Cimarrón) lieferten sich mit Sklavenjäger-Trupps (rancheadores) v. a. im Oriente regelrechte GuerillaKriege. Zwischen 1847 und 1880 kamen nochmals ca. 200 000 Chinesen, vorwiegend aus Gebieten um →Kanton, hinzu (chinos, asiáticos). Der neue Wohlstand der Insel (höchste Pro-Kopf-Einkünfte der Amerikas) wurde zum Garant für die Loyalität der Inseleliten gegenüber Spanien bis zum Ende des 19. Jh.s. Wegen der →Angst Spaniens vor dem Verlust auch K.s (Independencia;
kubA
Simón →Bolívar) wurden 1825 facultades omnímodas (unbegrenzte Vollmachten) für den span. Gouv. und Generalkapitän, Chef der Verwaltung und des Militärs, eingeführt. Bis 1878 herrschte auf K. eine koloniale Militärdiktatur mit Massensklaverei auf einer ansonsten dünn von Bauern, kleinen Kaufleuten und Viehhaltern besiedelten Insel mit einer Stadt atlantischen Ranges (Havanna). Atlantischer Sklavenhandel war zwar seit 1820 offiziell verboten, wurde aber informell bis in die 1870er Jahre geduldet. K. war mit seiner Zuckerboomwirtschaft im Westen (Cuba grande), seinen Steuern, Preisen, Abgaben und Zöllen die Melkkuh des span. Restimperiums nach 1830. In Spanien war es nach 1834 zur Entwicklung politischer Repräsentationsformen und Wahlsysteme des Liberalismus gekommen. Eine ähnliche Entwicklung wurde auf K. aus Angst vor Autonomie- und Separationsbestrebungen der lokalen kreolischen (→Kreole) Eliten 1837 unterbunden. K. wurde zur wirklichen Kolonie – bis dahin war die Identität der kubanischen Eliten davon geprägt gewesen, españoles (Spanier) zu sein. Infrastrukturell, technisch und technologisch war der Sklavenwesten der Insel, die Cuba grande, nach den Modernitätsund Fortschrittsvorstellungen der Zeit viel entwickelter als Spanien. Havanna wurde zur Zuckerhauptstadt der atlantischen Welt; das Pro-Kopf-Einkommen der Inselbevölkerung war – trotz ca. einer halben Mio. Sklavinnen und Sklaven sowie ca. 15 % ehem. Sklaven (libertos) und freier Farbiger um 1841 (bei ca. einer Mio. Ew.) – eines der höchsten der Welt. In Bezug auf formale politische Repräsentation und Wahlen gab es im kolonialen K. „Wahlprozesse“, wenn sie überhaupt als solche zu bezeichnen sind, nur für die urbanen Eliten (kreolische Oligarchie) auf lokaler Ebene der Stadträte (cabildos, ayuntamientos). Durch massive Immigration (Sklavenhandel/ Schmuggel und „freie“ Immigration) erlebte K. im 19. Jh. eine Bevölkerungsexplosion (von ca. 200 000 auf ca. 2 Mio.). Parallel wurden die Cabildos neuer Städte immer mehr durch zentral eingesetzte Stadtverwaltungen regiert. Span. Kolonialpolitiker und Militärs, oft ehem. Generalkapitäne, versuchten 1866–1868 Reformen des Kolonialsystems in Gang zu setzen, die auch neue Formen der politischen Repräsentation vorsahen. Die Reformen scheiterten. 1868 brach sowohl in Spanien als auch auf K. eine Revolution aus, die auf K. in langwierige antikoloniale Kriege gegen Spanien (Zehnjähriger Krieg 1868–1878, Guerra chiquita 1878–1880, Guerra grande 1895–1898) mündete. Die kubanischen Separatisten und Independentisten legten in ihrem itineranten Staatswesen, der República en Armas (Rep. in Waffen) v. a. im Oriente, Grundlagen für ein partizipatives politisches System mit militärischen Grundstrukturen. Es war von Anfang stark auf Zentralismus und Vorrang der Exekutive sowie der Militärführer angelegt, wie es in einer Revolution, die zugleich Krieg war, nicht anders sein kann. Eine wirkliche Demokratisierung, die Möglichkeit des Status und Standings für alle auf K. Lebenden als „Kubaner“ (Sklaven waren oft noch in Afrika geboren) ergab sich für die Masse der ehem. Sklaven und der freien Farbigen v. a. in der ersten transrassialen Armee der Welt, dem Ejercito Libertador Cubano (ELC). In dieser Armee gab es einen hohen Anteil an ehem. Sklaven, freien
Schwarzen und Farbigen (zugleich repräsentierten Schwarze und Farbige mehr als 50 % der Gesamtbevölkerung). Sie erreichten oft hohe Offiziersposten. In den 30 Jahren antikolonialer Kriege und Revolutionen 1868– 1898 entstand eine auf Freiheit von Spanien zentrierte v. a. orale (musikale) politische Kultur der Erlösung K.s. Ihre Hauptwerte waren Gleichheit und Einheit. Verkörpert wurden diese Tugenden einerseits in einer Rep. (als deren Modell die →USA galten, allerdings mit einer Reihe von Kritiken) und andererseits das persönliche Beispiel der großen Anführer (Máximo Gómez, Antonio Maceo, José →Martí) sowie v. a. im Mythos des Unabhängigkeitsheeres, das sich für K. opferte und in dem jeder nach Dienst und Verdienst „demokratisch“ aufsteigen und Standing erwerben konnte. Die Spuren des patriotischen Heldenkultes sind heute noch in jeder Siedlung K.s zu besichtigen (sowohl als Lokalhelden, wie auch als Provinz- und Nationalhelden). Dazu kommt, daß K. eine relativ „kleine“ Insel war und ist, aber zugleich sozusagen der „Kontinent“ unter den Inseln der Antillen. Der beschleunigte Nationsbildungsprozeß begann aber eben auf einer Insel, deren Eliten glaubten, mit Havanna und seinem Hafen einen globalhistorischen strategischen Punkt zu kontrollieren. Dieses Inselbewußtsein und die strategische Rolle des atlantischen Schnittpunkts Havanna erklären einige der Besonderheiten der Geschichte K.s und der Auserwähltseins-Mentalität der Kubaner. Auch in Bezug auf die schriftliche Verfassung hatten die Independentisten die Grundlagen gelegt, allerdings waren die meisten verfassungsgebenden Versammlungen (asambleas nacionales) durch zivile Eliten und Intellektuelle aus der kreolischen Oligarchie geprägt, die oft im Gegensatz zu den charismatisch-demokratischen Anführern des Militärs (oft organisiert in Form von Klientelschaften) standen. Der struktur- und mentalitätsprägende Widerspruch zwischen formal-demokratischen und oft auch föderalistischen Oberklassenpolitikern (sowie Intellektuellen), den doctores, die Elitendiskurse verwandten, sowie den militärischen, z. T. extrem charismatischen Anführern (militares), die ihre Legitimität aus ihrem Opfergang für das „kleine K.“ (gegen die großen Imperialmächte) zogen und in der „Sprache des Volkes“ redeten, tat sich auf. V. a. die radikalen Militärs, meist zugleich Feinde der Sklaverei und des Sklavenhandels, konnten die Masse der kubanischen Independentisten mobilisieren. Angesichts des →Antikolonialismus eines großen Teils der kubanischen Kreolen mußte die Kolonialmacht reagieren. Nach der Gloriosa in Spanien, einer in Ansätzen demokratischen Revolution (1868–1876), und als Reaktion auf den Zehnjährigen Krieg in K., versuchte Spanien, ein neues politisches System und eine neue Verwaltungsstruktur zu institutionalisieren, Parteien unter der Voraussetzung, daß sie nicht die Unabhängigkeit anstrebten (u. a. die liberale Autonomistische Partei), zuzulassen, neue Provinzen und Provinzvertretungen zu schaffen, der kommunalen Ebene begrenzte Autonomie zu gewähren sowie nach und nach bis 1886 die Sklaverei aufzuheben (→Abolitionismus). Ehem. Sklaven sowie freie Farbige wurden relativ schnell in ein neu geschaffenes Wahlsystem integriert. Ein für Kolonialverhältnisse erstaunlich offenes, 465
k u b Ary, joh A n n stA n i s lA u s
dynamisches und in gewisser Weise zumindest formal partizipatives politisches System entstand. Die Intransigenz der charismatischen Independentisten einerseits, die der Kolonialmacht und der Kolonialspanier andererseits, die hohen Steuern, der Kampfgeist v. a. der (oft in die Karibik emigrierten) Anführer sowie der Bevölkerung des Oriente, das intellektuelle Genie des DichterRevolutionärs José Martí und die Exportschwierigkeiten der weiterhin weltweit effizientesten und besten Zuckeragrikultur führten allerdings 1895 zum Ausbruch des antikolonialen Krieges, in den 1898 die USA eingriffen (→Span.-Am. Krieg). Die politischen Initiativen der Kolonialmacht hatten auch die Independentisten gezwungen, ihr politisches System weit zu öffnen. In der letzten Verfassung vor der US-am. Intervention (Yaya 1897) gab es in Anbetracht des baldigen Sieges der kubanischen Seite einen wichtigen Passus zum Wahlrecht: „Das Wahlrecht wird durch die Reg. auf Basis des universellen Wahlrechts [aller Männer, ohne festgeschriebene Altersbegrenzung, im Grunde ab 16 Jahren] geregelt“. Zugleich ließen sich, nach Jahren des entbehrungsreichen Subsistenzkrieges, in Anbetracht der bevorstehenden Intervention der USA (Apr. 1898), immer mehr „Weiße“ aus den Oberklassen in die Listen des Ejército Libertador einschreiben, die nie wirklich gekämpft hatten, aber zu den Siegern gehören wollten und politische Posten im sich abzeichnenden unabhängigen K. anstrebten (bzw. in einem „am. K.“, denn die Frage der Annexion durch die USA war 1898 noch nicht entschieden). Diese Verschiebung der Massenbasis der antikolonialen, im Kern immer noch transrassialen Armee, führte in den Asambleas zu Debatten um „Kultur“ als Voraussetzung für politische Ämter; farbigen und schwarzen Militärs sowie Menschen aus den meist farbigen Unterklassen wurde – welthistorisch befinden wir uns in einer Hochzeit des Rassendenkens – die „notwendige Kultur“ für höhere politische Ämter abgesprochen und das Ganze durch oft auf Cesare Lombroso zurückgehende Rassen-Theorien untermauert. In dieser Situation kam es zur ersten →Okkupation K.s durch die USA (1899–1902) nach dem Sieg über Spanien und dem Frieden von Paris (1898). Die USA „stahlen“ den Kubanern faktisch den Sieg nach dreißig Jahren schwerer Kämpfe, stützten sich in einer paktierten Transition auf Autonomisten, Kuba-Spanier (die die „Rache“ der kubanischen Unterschichten fürchteten) sowie auf kooperationswillige Separatisten und sogar einige Independentisten (Platt-Amendment). Obwohl die Amerikaner nicht sofort die Kontrolle über die weltweit effizienteste Zuckeragrikultur übernehmen konnten, da die span.-kubanischen Eliten hier noch zu stark waren, konservierten sie die alten Wirtschaftsstrukturen, schützten die alten Eliten und übernahmen quasi alle Infrastrukturen (inkl. der Hafenwirtschaften und Transportflotten) sowie die Modernisierung des Landes. Und sie brachten ihre Ideologie der strikten Rassentrennung mit nach K., die sich mit dem diskreteren hispanistischen Oberschichtenrassismus (→Rassismus) vermischte. Unter den Independentisten, die ihre Ziele der „absoluten Unabhängigkeit“ verraten sahen, breitete sich die politische Kultur des Opfers und der Erlösung weiter aus, oft in der Sprache José Martís vorgetragen, nun vermischt mit Diskur466
sen über den „gestohlenen Sieg“ von 1898. K. wurde, fixiert in der Platt-Politik und Reziprozitätsverträgen zu einem neokolonialen Quasi-Protektorat (→Protektorat) der USA (Antonio Annino). Als Kern des institutionalisierten politischen Systems etablierten die Besatzer ein neues Wahlsystem mit drei Ausschlußkriterien: sozial (Frauen), kulturell-rassisch (Analphabeten, gemeint waren ehem. Sklaven, Chinesen und farbige Unterschichten) und wirtschaftlich (Besitz im Wert von 250 US-$). Ausnahme bildete die sog. soldier clause – alle in der offiziellen Armeerolle (Roloff 1901) verzeichneten Männer, die im Krieg 1895–1898 gekämpft hatten, waren ohne Voraussetzungen wahlberechtigt. Als die Kubaner 1902 nach dem Ende der formellen Okkupation durch die USA die Herrschaft im eigenen Lande übernahmen, versuchten sie mit dem universellen Wahlrecht aller Männer ab 21 und einer modernen Verfassung (1901) einen demokratischen Neuanfang, der vor dem Hintergrund der Beibehaltung und des Ausbaus der Monowirtschaftsstrukturen auf Zucker und der massiven Amerikanisierung der Oberschichten aber bald in Klientelkämpfe, Rebellionen, schwere Elitenkonflikte zwischen Konservativen und Liberalen (1906, 1912), neue Okkupation durch die USA (1906–1909), Interventionen (1917) und Revolutionen (1933, 1959) abglitt. Max und Michael Zeuske, Cuba 1492–1902, Leipzig 1998. Michael Zeuske, Schwarze Karibik, Zürich 2004. Michael Zeuske, Globalisierungen, Revolution und Nation, in: Ders. (Hg.), Insel der Extreme, Zürich 2004. N IK O LA U S B Ö TTC H ER / MIC H A EL ZEU SK E
Kubary, Johann Stanislaus, * 13. November 1846 Warschau, † um den 9. Oktober 1896 auf Ponape, □ nicht erhalten, rk. Sohn eines Ungarn und einer Berlinerin. Nach Flucht aus Polen und abgebrochenem Medizinstudium kam er in die Südsee, um Kopra für Johan César →Godeffroy & Sohn aufzukaufen und Material für dessen Völkerkundemuseum zu sammeln. Zunächst auf →Samoa (1.4.1868), dann, zusammen mit der Samoanerin Nosi, auf Ebon (→Marshallinseln), Jap / Yap (Nov. 1870), 1871 auf →Palau, 1873 auf Ponape u. Trennung v. Nosi. Durch ein Schiffsunglück gehen die meisten der von ihm gesammelten Ethnographika, darunter auch alle von K. in →Nan Madol ausgegrabenen Gegenstände, verloren. 1874 Rückreise nach Deutschland. Ab Herbst 1875 wieder auf Ponape, dort 1878 Heirat (die Ponapesin Yelirt; eine Tochter, ein Sohn). Besucht die Inseln Nukuor, die Mortlock-Inseln und Truk, und sammelt überall Ethnographika. Auf Ponape Anlage einer Plantage, die Taifune zerstörten. Kurzfristig in einem Museum in Tokio angestellt, dann auf Guam und zwei Jahre auf Palau. 1885 Übernahme der Verwaltung der Hernsheimschen (→Hernsheim) Pflanzungen auf Matupi. 1887 Stationsvorsteher der →Neu-Guinea-Compagnie in Konstantinhafen, 1888 in Hatzfeldthafen. 1891 Entlassung wegen Alkoholismus. 1892–1895 wieder für NGC tätig. Alkoholexzesse bewirkten erneut Auflösung des Anstellungsvertrages. Neue Arbeit konnte K. nicht finden. Tod am Grab seines Sohnes auf Ponape unter ungeklärten Umständen. Zur Erinnerung an ihn wurde 1905 auf Ponape
k u n s t i n i n d i en
ein Denkmal errichtet. K., von Abenteuerlust wie Forschungsinteresse getrieben, bereicherte insb. das Ethnologische Museum in Berlin durch teilweise einzigartige Stücke (z. B. Götterbild Sope von Nukuoro). Q: Die Carolineninsel Yap oder Guap, in: Journal des Museums Godeffroy 2 (1873), 12–53. Die Verbrechen u. d. Strafverfahren auf d. Pelau-Inseln, in: Originalmittlgen. aus d. ethnograph. Abtlg. d. kgl. Museen zu Berlin 1 (1886), 79–91. Ethnographische Beiträge zur Kenntnis d. Carolinen-Archipels, Leiden/Leipzig 1895. L: Dirk Anthony Ballendorf, The Obscure Johann Stanislaus Kubary and His Estimable Discourses on Palauan Money, in: Journal of the Pacific Society 14, no. 2 (1991), 134–140 (19–25). Peter Probst, Beobachtung u. Methode. J.S.K. als Reisender u. Ethnograph im Spiegel seiner Briefe an Adolf Bastian, in: Baessler-Archiv 31 (1983), 23–56. G E R H A RD HUT Z L E R / HE RMANN HI E RY
Kublai Khan →Mongolische Expansion, →Polo, Marco Kuli. Bezeichnet Fronarbeiter aus Süd- und Ostasien. Etymologisch auf das tamilische Wort k., („Entgelt“, „Lohn“) und auf den Namen einer ethnischen Gruppe im westlichen →Indien (Koli), die niedere Dienste verrichtet, zurückzuführen. Die Wörter kol (im Türkischen) und khol (im Tibetischen) bezeichnen Knechtschaft und Sklavenarbeit (→Vertragsarbeit). Während des 19. Jh.s setzte sich der Terminus K. als abwertende Bezeichnung für Arbeitskräfte aus Indien und China durch, die in Schuldknechtschaft auf Plantagen und in kolonialen Betrieben arbeiteten. Anwerbung, →Transport und Neuansiedlung der K.s wurden unter der Protektion der Kolonialreg. mit Hilfe einheimischer Mittelsmänner betrieben. Dies wurde als →K.-Handel (coolie trade) bekannt. Es wird angenommen, daß zwischen 1834 und 1937 mindestens 5 Mio. Inder emigrierten, um in Minen und auf Plantagen in der →Karibik, Ost- und Südafrika, im →Ind. Ozean und im Pazifik sowie in →Australien, Neuseeland und Melanesien (→Fidschi) zu arbeiten. Marina Carter, Coolitude, London 2002. Moon-Ho Jung, Coolies and Cane, Baltimore 2006. NI T I N VARMA Kulihandel. Multinationales Geschäft mit primär ind. und chin. Tagelöhnern, die auf Kontraktbasis für mehrere Jahre in Übersee angeworben wurden. Laut Kontrakt bestand ein prinzipieller Arbeitszwang, verbunden mit erheblichen Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, was aber nicht zu einer rechtlichen Unfreiheit führte. Kontraktarbeit war insofern keine Fortsetzung der →Sklaverei, sondern die Anpassung bereits existierender Arbeitsmodelle an veränderte ökonomische Herausforderungen. Den Höhepunkt erlebte die organisierte Kulimigration Mitte des 19. Jh.s als infolge des Verbots von Sklavenhandel und Sklaverei ab den 1830er Jahren der Bedarf an Arbeitskräften weltweit rapide anstieg. Bereits 1842 begann die Anwerbung ind. →Kulis von →Mauritius aus; es folgten 1845 Brit.-Westindien und Guayana. Insb. aber waren es ungelernte chin. Arbeiter, die nach der „Öffnung“ des Reiches der Mitte durch den Opium-
krieg (→Opium) 1839–1842 zur →Auswanderung aus existentieller Not drängten und den internationalen K. fortan weitgehend prägten. Frankreich machte 1845 den Anfang mit einem →Transport chin. Kontraktarbeiter aus Amoy für die Insel →Réunion. Die Rekrutierung der Arbeiter sowie ihre Beförderung an die überseeischen Bestimmungsziele erfolgten vielfach in inhumaner Weise und machten bereits die Zeitgenossen auf die eklatanten Mißstände bei diesem Menschenhandel aufmerksam. Das Gros der chin. Kontraktarbeiter gelangte im 19. Jh. nach Südamerika (→Kuba, →Peru), wo es besonders auf den Zuckerplantagen (→Zucker) und im Guano-Abbau unter oftmals menschenverachtenden Bedingungen zum Einsatz kam. Zwar war der K. wie jede Emigration in China illegal, doch kollidierte hier der traditionelle chin. Standpunkt mit westlichen ökonomischen Zwängen, die als pull-Faktoren den Emigrationssog verstärkten. Erst 1866 trat eine Lockerung ein, als China die Emigration offiziell gestattete. Als Portugal auf westlichen Druck →Macao als Zentrum des Kuliexports 1874 schließen mußte, kam der K. in der alten Form zum Erliegen. Yen Ching-Hwang, Coolies and Mandarins, Singapur 1985. Arnold J. Meagher, The Coolie Trade, Philadelphia 2008. H A RA LD WIPPICH Kulturüberläufer. Europäer, die sich im Zuge des europäischen Übersee-Expansionismus zeitweise oder auf Dauer in die autochthonen Kulturen integrierten. Die Integration reichte über die Sprache und den Erwerb weiterer Kulturpraktiken bis zur Gründung von Familien und den sozialen Aufstieg innerhalb der autochthonen Gemeinschaften. Weit verbreitet war dieses Phänomen besonders in den überseeischen Regionen, in denen eine Kulturbeziehung und Handelsbeziehungen wie bspw. in der Nouvelle-France konstitutiv für den Erfolg des europäischen Expansionsstrebens waren bzw. eine effektive Herrschaft der europäischen Verwaltung über Menschen und Räume kaum bestand. Hier fungierten K. häufig als Mittler zwischen der europäischen und der autochthonen Kultur. In Siedlungskolonien, insb. in solchen, in denen christl.-providentielle oder rassistische Vorstellungen vorherrschten, waren K. seltener. Neben der Haltung der Europäer spielte die Bereitschaft der autochthonen Kulturen, Europäer zu inkorporieren, eine wesentliche Rolle. Die Motive der K. waren vielschichtig. Neben ökonomischen und rein persönlich-individuellen Motiven dürfte die Chance, sich in den autochthonen Kulturen den sozialdisziplinierenden und rationalisierten Lebensformen Europas sowie der christl.-okzidentalen Moral zu entziehen, eine Rolle gespielt haben. FRA N Z-JO SEPH PO ST Kunst in Indien. Die Vielfalt der ind. K. in den Bereichen der Malerei, Bildhauerei und Architektur resultiert aus den diversen kulturellen, religiösen und philosophischen Strömungen des Subkontinents. Stark geprägt ist sie bspw. von den architektonischen Idealen der hinduistischen Tempelarchitektur. Tempel und kgl. Höfe bildeten wesentliche Zentren künstlerischen Schaffens. Neben elitären und höfischen K.-Formen kannte und kennt →Indien etliche regional-, kultur- und sozialspezifische künstlerische Ausdrucksformen, die sich teilweise 467
k u n s t- u n d wu n d er k A m m er
massiv von dominanten und verbreiteten fürstlichen Repräsentationen unterscheidet. Bis ins Mittelalter war die Lehre und Formgebung der Tempelarchitektur eine Geheimwissenschaft, zu der nur ausgewählte Personen Zugang hatten. Technische Fähigkeiten wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Besonders wichtig waren hierbei architektonische Proportions- und Formlehren, denen das einzuhaltende Idealbild des Mandalas zu Grunde lag. So folgte die Tempelarchitektur und –k. strengen mathematischen Proportionsregeln. Für den Bau wurden meist umgebungsnahe Ressourcen benutzt und neben den Vorgaben der Brahmanen und Mäzene wurden durch die Arbeiter und Architekten auch meist die regionalen Vorlieben der darstellenden Künstler in den Bau eingeflochten. Die Finanzierung und Förderung der darstellenden K., und insb. der großen Tempelanlagen war Ausdruck von Machtansprüchen und Selbstdarstellung der Herrscher und so waren die darstellenden Künste und ihre Ausübung stets auch vom Wohlwollen des jeweiligen Herrschers abhängig. Ind. K. ist in den meisten Fällen als Auftragsarbeit entstanden und aus diesem Grund ist auch der Künstler nur in sehr wenigen Fällen zu identifizieren, da er gegenüber dem Auftraggeber in den Hintergrund trat. Dieser hatte mit seinen Vorgaben oft auch einen wesentlichen Einfluß auf das künstlerische Endprodukt. Als Förderer der ind. K. haben sich unzählige regionale Herrscher sowie verschiedene Mogul-Ks. (→Moguln), verdient gemacht, insb. →Akbar, dessen Herrschaftsepoche (1556–1605) als Blütezeit der ind. K. gilt. In Tamil Nadu im Raum →Tanjavur entstand zur Zeit der Chola-Dynastie im 9. Jh. die klassische südind. Malerei, die vorwiegend die hinduistische Mythologie als Motiv verwendete. Vom 16. Jh. an entstanden in Westindien als Teil von Manuskripten erstmals die noch heute berühmten ind. Miniaturmalereien. Diese wurden im 18. Jh. an den Höfen der →Rajputen Herrscher weiterentwickelt und nun auch zu Wandmalereien in Palästen, Havelis (Residenzen) und Forts ausgeweitet. Vom 16.–19. Jh. erfreute sich die Miniaturmalerei besonderer Förderung durch die Mogulherrscher, die freilich von den hinduistischen Motiven der Rajputen Abstand nahmen. Die Mogulmalerei stellt eine Mischung von ind. und persisch-islamischen Stilen dar. Swarajya P. Gupta / Shashi Asthana, Elements of Indian Art, Delhi 2007. Bhagwant Sahai, Recent Researches in Indian Art and Iconography, Delhi 2008. MANJU L UDWI G
Kunst- und Wunderkammer. Eine Mitte des 16. Jh.s in Europa entstandene Frühform des Museums; dieser Sammlungstypus entwickelte sich im Kontext der europäischen Expansion und der mit ihr einhergehenden vermehrten Einfuhr außereuropäischer Raritäten. In den enzyklopädisch angelegten K. u. W. K.n (auch Raritätenkabinett, Galerie oder Museum genannt) wurden Objekte aus Natur, Kunst und Wissenschaft gemeinsam präsentiert. Ein großer Teil der Exponate stammte aus Übersee, insb. aus →Brasilien, China und Ostindien. Zu den populärsten Objekten gehörten seltene Pflanzen und Tiere wie Krokodil oder Gürteltier sowie ethnographische Objekte wie Waffen und Kleidung. Sie wurden 468
durch Schenkung, Tausch, eigens beauftragte Reisende, v. a. aber über einen spezialisierten internationalen Exotika-Handel mit Zentrum in Amsterdam erworben. Durch Besuche, Korrespondenzen und die Lektüre von Katalogen standen die Sammler in einem regen Austausch, was zur Herausbildung eines standardisierten Sammlungskanons führte. Auf Grund der Herauslösung außereuropäischer Objekte aus ihrem ursprünglichen Kontext und der Schwierigkeiten, sie angemessen zu betreuen und zu konservieren, fungierten K. weniger als Forschungsstätten denn als gesellige Treffpunkte, Attraktionen für auswärtige Besucher und Statussymbole. Auf Grund der Vorliebe des Barockzeitalters für das Bizarre, Kuriose und Wunderbare tendierten sie überdies dazu, die Primitivität und Andersartigkeit außereuropäischer Völker zu betonen. Die Auswahl orientierte sich zumeist an populären Reiseberichten. Aus den Schriften übernahmen die Sammler auch die oft stereotype Darstellung des Fremden. Im Sammlungsraum wurden die ‚Exotika‘ darum häufig als separate Gruppe inszeniert und europäischen Objekten gegenübergestellt. K. u. W. K.n entstanden sowohl an Fürstenhöfen als auch in bürgerlichen, akademischen und kirchlichen Milieus in ganz Europa. Als älteste K. gelten die um die Mitte des 16. Jh.s entstandenen Sammlungen der Herzöge von Bayern in München, der sächsischen Kurfürsten in Dresden und der Großherzöge der Toskana in Florenz. Im 17. Jh. genossen u. a. die Sammlungen des Ks.hofs in Wien, des dän. Kg.shauses in Kopenhagen sowie der Herzöge von Holstein-Gottorf und Sachsen-Gotha internationalen Ruf. Daneben legten auch Privatpersonen (Adelige, Patrizier, Ärzte, Apotheker, Professoren), Städte, Universitäten und wissenschaftliche Gesellschaften eigene K. an. Als Sehenswürdigkeit während der ‚Grand Tour‘ präsentierten sie einer breiten Schicht von Besuchern die materiellen Zeugnisse der außereuropäischen Welt. Erst zu Beginn des 18. Jh.s wurde die enzyklopädische Konzeption der K. u. W. K.n mehr und mehr als anachronistisch angesehen. In der Folge wurden ihre Bestände zunehmend auf neue, spezialisierte Sammlungen wie die →Kolonialmuseen verteilt, wo sie sich teilweise bis heute erhalten haben. Elke Bujok, Neue Welten in europäischen Sammlungen, Berlin 2004. Dominik Collet, Die Welt in der Stube, Göttingen 2007. Sabine Haag / Helmut Trnek (Hg.), Exotica, Wien 2001. D O MIN IK CO LLET / MA R K H Ä BER LEIN Kuraka (-kuna Pl., Quechua). Bezeichnung für politische Autoritäten in Quechua, der Staatsprache des →Inkareiches. Im Inkareich standen die K. den regionalen ethnischen Gruppen vor und nahmen eine zentrale Stellung in der Vermittlung zwischen Staat und Bevölkerung ein. Als Anführer der nicht-inkaischen Bevölkerung rekrutierten sie aus ihren jeweiligen Lokalgruppen die Arbeitskräfte für die turnusmäßigen Einsätze im staatlichen Arbeitsdienst, der mit’a. Im Rahmen des andinen Reziprozitäts-Begriffs erhielten sie vom Inka Prestigegüter zum Geschenk, mußten sich im Gegenzug wiederum ihrer Lokalgruppe gegenüber großzügig zeigen. Ebenso wie im Inkareich sorgten die K. im Kolonialstaat für die Bereitstellung von Arbeitskräften und die Zahlung von Tributleistungen. Im kolonialen →Peru galten sie als Ad-
lA g o s
lige. Die Würde des K. wurde in der Primogenitur erblich, doch konnten auch weibliche Nachkommen dieses Amt ausüben. Wie zuvor die Inka, errichtete auch der Kolonialstaat eigene Schulen für die Söhne der K., in denen sie auf ihre zukünftige Rolle als Mittler zwischen Kolonialmacht und indigener Bevölkerung vorbereitet wurden. Udo Oberem, Die Conquista und Indianer unter span. Herrschaft, in: Ulrich Köhler (Hg.), Altamerikanistik, Berlin 1990, 493–517. I RI S GARE I S Kurilen. Archipel von Inseln, der sich ca. 1 200 km von der russ. Halbinsel Kamtschatka zu der jap. Insel Hokkaidô erstreckt. Die Inseln gehören zu Rußland, stellten in ihrer Geschichte jedoch immer wieder ein Streitpunkt russ.-jap. Beziehungen dar. 1643 wurden die Inseln von dem Holländer Maarten Gerritszoon de Vries entdeckt. Bei seiner Ankunft lebten dort ca. 3 500 Ainu. Nach dem Werk „Asia Polyglotta“ von Julius v. Klaproth (1823) läßt sich der Name „K.“ von dem Ainu-Wort „kür“ oder „guru“ ableiten, was „Mensch“ bedeutet. Im 17. Jh. – im Zuge der Erschließung →Sibiriens – stießen russ. →Kosaken zu den K. vor. Aber der russ. Vorstoß begrenzte sich auf den nördlichen Teil des Archipels. Philipp Johann von Strahlenberg berichtet in seiner Beschreibung „Das Nord- und ostliche Theil von Europa und Asien“ (1730) von einem regen Handel zwischen den Ainu und Japan. Ab dem 18. Jh. sahen sich die Ainu russ. und jap. Souveränitätsansprüchen ausgesetzt. Ohne Rücksicht auf die indigenen Rechte sprach der russ.-jap. Vertrag von Shimoda (1855) die südlichen K. Japan zu. Durch den Vertrag von St. Petersburg (1875) geriet die gesamte Inselkette unter jap. Herrschaft. Dafür wurde die russ. Souveränität auf Sachalin von Japan anerkannt. Gegen Ende des →Zweiten Weltkrieges besetzten sowjetische Truppen die K. – ein Vorgang, der bis heute von Japan nicht anerkannt worden ist. Die Gründe für die bis heute anhaltende Besetzung der K. durch Rußland sind strategischer u. wirtschaftlicher Natur. Die K. liegen in einem bedeutenden Walfanggebiet (→Walfang). Sten Bergmann, Die tausend Inseln im fernen Osten: Reisen und Erlebnisse auf den Kurilen, Stuttgart 1932. David Rees, The Soviet Seizure of the Kuriles, New York 1985. John J. Stephan, The Kuril Islands: Russo-Japanese Frontier in the Pacific, Oxford 1974. E VA- MARI A S TOL BE RG
Kusserow, Heinrich von, * 5. November 1836 Köln, † 15. Oktober 1900 Bassenheim, □ Alte St.-MatthäusKirchhof Berlin, ev.-luth. Sohn des preußischen Generalleutnants und Militärtopographen Ferdinand v. K., der mit dem Kronprinzen Friedrich befreundet war. Die Mutter stammte aus der Kölner Bankiersfamilie v. Oppenheim und galt in der Meinung der damaligen Zeit als „steinreich“. 1860 Eintritt in den preußischen Auswärtigen Dienst. Bis 1873 Gesandtschaft- und Botschaftsposten im Haag, in Turin, Washington und London. 1871–1874 MdR für Liberale Reichspartei. 1874 Wirklicher Legationsrat im AA. Ab 1879 als Geheimer Legationsrat zuständig für überseeische Fragen (Referat „Handelsbeziehungen zu Asien,
Afrika und Australien“ in der Abteilung II des AA, das auch koloniale Fragen behandelte. 1884/85 maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung der Berliner →Kongo-Konferenz beteiligt. Ab 19.2.1885 Leiter des in die Abteilung I A (Politische Abteilung) unter Umbenennung in „Kolonialangelegenheiten und Entsendung von Kriegsschiffen zum Schutz dt. Interessen“ umgegliederten Referats. Als engagierter Kontaktmann zu kolonialpolitisch orientierten Finanzkreisen im Apr. 1885 bei →Bismarck in „Ungnade“ gefallen und durch Dr. Friedrich Richard →Krauel, einen Mann der das Vertrauen des Reichskanzlers genoß, abgelöst. AußenStaatssekretär Graf Hatzfeld dagegen beurteilte K. gemäß der im AA erhalten gebliebenen Personalakte „als ausgewiesenen Kenner der Colonialfragen“. 1885–1890 Kgl. Preuß. Gesandter bei den mecklenburgischen Höfen und den Hansestädten. 1890 Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Karl-Alexander Hampe, Das Auswärtige Amt in der Ära Bismarck, Bonn 21999. Klaus Hildebrand, NDB 13 (1982), 343f. G ERH A R D H U TZLER Labuan →Borneo Längengrad (lat.: longitudo). Im Unterschied zur geographischen Breite hat die Länge keinen Einfluß auf das →Klima, da die L.e (alias Meridiane) von Pol zu Pol verlaufen. Von einem mehr oder weniger willkürlich festgelegten Nullmeridian aus können die Längen nach Osten und/oder Westen gezählt werden (heute von Greenwich aus nach Osten und Westen jeweils 180 Grad). Da sich die Erde in 24 Stunden einmal um sich selbst dreht (360 Grad), entsprechen 1 Stunde 15 Grad oder 1 Grad 4 Minuten. Diese Zeitrelation kann man nutzen, um die Längendifferenz eines unbekannten Ortes von einem Ort mit bekannten Koordinaten zu bestimmen, wenn man eine genaue Uhr mitführt, die die Zeit des bekannten Ausgangsortes anzeigt. Bevor diese Methode anwendbar wurde, hat man Längendifferenzen mit Hilfe des Mondstandes und der Ephemeriden (Tabellen mit Vorausberechnung des Mondstandes für den Nullmeridian) oder auf Grund zeitgleicher Beobachtungen an verschiedenen Orten berechnet. Die Überprüfung frühneuzeitlicher Karten ergab, daß die Längen signifikant besser bestimmt waren als die Breiten. William J. H. Andrewes (Hg.), The Quest for Longitude, Cambridge 1996. Uta Lindgren, Methoden der Positionsbestimmung zur Zeit von Columbus, in: Wolfgang Scharfe (Hg.), 6. Kartographiehistorisches Colloquium Berlin 1992. Vorträge und Berichte, Berlin 1994, 1–10. U TA LIN D G REN
Lagos (auch Eko oder Iko genannt). Größte Stadt →Nigerias und bis 1991 dessen Hauptstadt. L. (ca. 13 Mio. Ew.) ist neben →Kairo und Kinshasa (→koloniale Metropolen) eine der größten Städte Afrikas. Bis 1975 war L. auch Hauptstadt des Bundesstaates L., bis es von Ikeja abgelöst wurde. Die Stadt liegt an der Küste des Golfs von →Guinea und erstreckt sich über das Festland und eine Reihe von Inseln, hat ein feuchtheißes →Klima mit hoher Luftfeuchtigkeit und eine ergiebige Regenzeit. 469
l A hor e
L. wird von verschiedenen ethnischen Gruppen, insb. Yoruba und Igbo bewohnt. Die Inseln L. Island, Ikoyi und Victoria Island werden durch drei Brücken mit dem Festland von L. verbunden. L. ist das ökonomische Zentrum des Landes. Der Hafen von L. ist der größte Umschlagplatz für Importe nach Nigeria. Exportgüter sind v. a. Erdnüsse, →Baumwolle, Nutzholz, →Kakao und Palmöl. Auch chemische Produkte, Maschinen, Kraftfahrzeuge, elektronische Geräte, Bier, Nahrungsmittel und Textilien werden in der Stadt hergestellt. Die Stadt ist von großer Zuwanderung und großen Siedlungs- und Infrastrukturproblemen in Zuge der ökonomischen Krise seit den 1990er Jahren gekennzeichnet. L. Island wurde im 14. Jh. von Bauern und Fischern der Olofin besiedelt. Im 15. Jh. wurde L. Teil des Reiches →Benin. 1472 gründeten port. Seefahrer die Siedlung Lago de Curamo und bauten die Insel zu einer Handelsniederlassung aus, die nach der Hafenstadt Lagos im Süden Portugals benannt wurde Der Ort gewann große Bedeutung im Zuge des transatlantischen →Sklavenhandels. Nach dem Ende des Sklavenhandels wurden Produkte wie Palmöl zu wichtigen Exportprodukten. 1851 eroberten die Briten L. Island, annektierten 1861 das Stadtgebiet und gründeten eine dauernde Niederlassung. Am 1.1.1862 wurde L. zum →Protektorat, das erst von →Freetown, dann von →Accra aus verwaltet wurde, 1886 zur eigenständigen →Kronkolonie L. Der wirtschaftliche Aufschwung zog viele Migranten aus ganz Westafrika an. 1906 wurde L. schließlich Teil des 1894 gegründeten Protektorates Südnigeria, dessen Hauptstadt von Calabar nach L. verlegt wurde. 1914 wurde Süd- mit Nord-Nigeria zusammengeschlossen, L. wurde dadurch die Hauptstadt der gesamten Federation of Nigeria unter brit. Herrschaft und blieb Hauptstadt des unabhängigen Nigeria bis zur Gründung der Hauptstadt →Abuja 1991. Zum Stadtgebiet von Groß-L. zählen heute sechzehn Verwaltungsbezirke (Local Government Areas). L. ist bedeutendster Verkehrsknotenpunkt des Landes mit Straßen, Eisenbahnen und dem internationalem Flughafen Murtala Mohammed International Airport in Ikeja. Ein Fährverkehr besteht zwischen L.-Island und L.-Mainland. Sandra T. Barnes, Patrons and Power, Bloomington 1986. Kristin Mann, Marrying Well, Cambridge 1985. Margaret Peil, Lagos, Boston 1991. T I L O GRÄT Z Lahore. Hauptstadt der pakistanischen Provinz →Panjab und zweitgrößte Stadt →Pakistans. L. entwickelte sich im Mogulreich (→Moguln) zu einem bedeutenden kulturellen, geistigen und politischen Zentrum. Auch nach dem allmählichen Verfall der Mogulherrschaft behielt die Stadt seine hervorgehobene Bedeutung bei. Zunächst wurde L. zur Hauptstadt des neuen Sikhreiches (→Sikhismus), welches seinen Ursprung im Panjab nahm. Die brit. Herrschaft (→British Raj) ab 1849 forcierte weiter die städtische Entwicklung: Bildungseinrichtungen (→Bildung) nach westlichem Vorbild wurden gegründet (z. B. das Government College L., das King Edward Medical College oder das Mayo College of Arts), neue Gebäude und Denkmäler errichtet, die L.s architektonische Vielfalt vergrößerten. Gleichermaßen etablierten lokale Gemeinschaften und religiöse Gruppierungen 470
eigene Bildungseinrichtungen, die die westliche Erziehung durch religiöse und traditionelle Erziehung ergänzen sollten. Im 20. Jh. erlebte L. eine rasche Zunahme nationalistischen Eifers (→Ind. Nationalismus) gegen die brit. Herrschaft: als der →Indian National Congress in L. tagte, wurde zum ersten Mal 1929 die Forderung nach „Poorna Swaraj“ (vollständiger Unabhängigkeit) laut und die →Muslim League verabschiedete hier die sog. Pakistan Resolution (1940), in der die Errichtung eines unabhängigen musl. Staates in Brit.-Indien gefordert wurde (→Pakistan-Bewegung). Darüber hinaus spielten auch regionale und religiöse Gruppierungen wie z. B. Arya Samaj, Khaksar Tehreek, Majlis-i Ahrar und Akali Dal eine große Rolle in der Politik der Provinz. Im unabhängigen Pakistan hat L. durch seine ausgeprägte Urbanität und moderne Wirtschaftsstruktur seine herausragende Bedeutung behaupten können und gilt dank einer ausgeprägten Literaturszene als kulturelle Hauptstadt Pakistans. William J. Glover, Making Lahore Modern, Minneapolis 2008. George C. Smyth, Lahore and Its Rulers, Delhi 1998. A LI U SMA N Q A SMI Lakhnau →Awadh Lakota →Sioux Lancaster House Agreement →Südrhodesien Landa, Diego de, OFM, * 12. November 1524 Cifuentes/Kastilien, † 29. April 1579 Mérida/Yucatán, □ Cifuentes, genauer Ort nicht ermittelbar, rk. L. wurde als Sohn einer Adelsfamilie im kastilischen Dorf Cifuentes geboren. Mit 16 Jahren trat er im Kloster von San Juan de los Reyes in Toledo dem Franziskanerorden bei. Nach der Priesterweihe begab er sich 1549 nach Yucatán, das überwiegend von Franziskanern missioniert wurde. In dortigen Klöstern bekleidete L. leitende Posten, z. B. als „guardián“ von Izamal (1552) und von Mérida (1560). Er lernte die Mayasprache und führte im nördlichen Yucatán Massentaufen durch. Doch viele Maya weigerten sich, ihre traditionelle Religion aufzugeben. L. ließ „Idole“, Hieroglyphen-Rollen und Handschriften verbrennen, die er als Teufelswerk ansah. Nachdem er 1561 zum Ordensprovinzial der neuen franziskanischen Provinz von Yucatán und →Guatemala gewählt worden war, leitete er 1562 eine „Inquisition“ in Maní, um heimliche „Götzenverehrung“ (Idolatrie) zu unterbinden. Es wurden mehr als 4 000 Mayas verhört, eingesperrt und gefoltert; viele starben oder begingen Selbstmord. Am 12.7.1562 fand ein Auto de Fé in Maní statt, bei dem u. a. 40 indigene →Caciques zu Peitschenhieben oder →Zwangsarbeit verurteilt wurden; man verbrannte gefundene Masken und Knochen. L. kehrte im Aug. 1562 nach Mérida zurück, um den soeben dort eingetroffenen ersten Bischof, Francisco Toral zu treffen. Dieser warf seinem Ordensbruder aber bald vor, sich das Amt eines bischöflichen Inquisitors angemaßt und Folter angeordnet zu haben. 1563 brach L. nach Spanien auf, um sich vor dem Indienrat und einer Kommission zu verantworten, die ihn 1569 freisprach, denn auf Grund
lAo s
päpstlicher →Bullen standen einem Ordensprovinzial quasi-bischöfliche Kompetenzen in Gebieten ohne Bischof zu. Während seines Aufenthalts in Spanien (1564–72) lebte L. in kastilischen Franziskanerklöstern (Ocaña, Guadalajara, Toledo). Nach Torals Tod (Apr. 1571) wurde dessen Widersacher L. zum Nachfolger ernannt. Er kehrte 1573 als Bischof nach Yucatán zurück, wo es zu Konflikten mit dem Gobernador und mit Encomenderos kam. L. starb in Mérida. Im frühen 18. Jh. wurden seine Gebeine in seinen kastilischen Geburtsort Cifuentes überführt. Das Grab wurde während des Span. Bürgerkriegs (1936–1939) zerstört. Nachruhm verdankt L. seinem ca. 1566 in Spanien verfaßten Bericht über die Angelegenheiten Yucatáns, dessen Original verschollen ist. Erst 1863 entdeckte der frz. Amerikanist Abbé Brasseur de Bourbourg (1814–1874) in der Real Academia de la Historia (Madrid) eine aus dem frühen 17. Jh. stammende, gekürzte Kopie der Relación und veröffentlichte sie 1864 fehlerhaft in Paris. In den 52 Kapiteln behandelt L. →Geographie und vor-span. Geschichte Yucatáns, Conquista und Mission, Ethnographie, Kultur und Religion der Maya, Kalender, Schriftsystem und Architektur, Flora und Fauna der Halbinsel. Seine thematische Vielfalt macht das nur 66 Folioseiten und einige Zeichnungen umfassende Werk zu einer kleinen Enzyklopädie der Maya-Kultur. Der Autor zitiert zwar span. Chroniken, stützt sich aber überwiegend auf eigene Beobachtungen, span. Augenzeugen und indigene Informanten. Auffallend ist die nur kursorische Behandlung der frühkolonialen Idolatrie, während die Maya-Kultur zu vor-span. Zeit wohlwollend geschildert wird. Die Motivation des Berichts bleibt unklar. Er könnte für den Prozeß in Spanien oder als Missionierungshilfe geschrieben worden sein. Der Text beeinflußte u. a. die Relaciones histórico-geográficas de Yucatán (1579) und Chronisten wie Antonio Herrera y Tordesillas (1601). Mitte des 20. Jh.s gelang es dem russ. Forscher Yuri V. Knorozow, L.s mißverständliche Aufzeichnung der Sprach-Laute („Alphabet“) als Schlüssel für die Entzifferung der hieroglyphischen Mayaschrift zu deuten, die auf einem Wort-Silbensystem beruht. Insg. bleibt L. eine ambivalente Figur: Einerseits war er verantwortlich für exzessive Maya-Verfolgung und Zerstörung von Kulturgut; andererseits stellt seine Relación die bedeutendste frühkoloniale Quelle über Geschichte und Kultur der im nördlichen Teil der Halbinsel Yucatán lebenden Maya dar. Inga Clendinnen, Ambivalent Conquests, Cambridge 1987. Carlos Rincón (Hg.), Diego de Landa: Bericht aus Yucatán, Leipzig 1990. Alfred M. Tozzer (Hg.), Landa’s Relación de las cosas de Yucatán, Cambridge 1941. OT TO DANWE RT H
Laos. Im Gebiet des heutigen L. hatte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s das Reich von Lan Sang Hom Khao, das „Land der Million Elefanten und des weißen Parasol“ – kurz Lan Sang – gebildet. Der Reichsgründer Fa Ngum brachte bis 1353 mit militärischer Unterstützung Kambodschas weite Gebiete längs des Mekong bis zur Grenze nach Yunnan unter seine Kontrolle. Die Bevölkerung des weiträumigen Königreichs bestand nicht nur aus Lao und anderen Tai-Gruppen, die sich seit dem 8. Jh. als Reis-
bauern im mittleren Bereich des Mekongtals niedergelassen hatten. Mehr als die Hälfte der Untertanen des laotischen Herrschers waren Angehörige der austro-asiatischen Ureinwohner, deren Vorfahren einst die neolitische Kultur in der „Ebene der Tonkrüge“ erschaffen hatten. Der fast ein halbes Jh. währenden, innenpolitisch stabilen Regierungszeit von Fa Ngums Nachfolger Sam Saen Thai folgte eine lange Periode dynastischer Kämpfe. Die Autorität der Zentralgewalt schwand. 1477 bedrohte ein starkes vietnamesisches Heer Ostlaos und nahm im folgenden Jahr sogar die Hauptstadt Luang Prabang vorübergehend ein. Mit militärischer Unterstützung aus dem benachbarten Tai-Reich Lan Na wurden die Invasoren zurückgeschlagen, und gegen Ende des Jh.s hatte sich das Land von den schweren Verwüstungen wieder erholt. In der ersten Hälfte des 16. Jh.s erlebte Lan Sang seine erste Blüte. König Phothisarat (r. 1520–1547) setzte die erfolgreiche Aufbauarbeit seines Vorgängers Visun fort und begann den politischen Einfluß der Lao nach Nordwesten auszudehnen. Seine Heirat mit einer Prinzessin aus Chiang Mai (1527) unterstrich das strategische Interesse an engen Beziehungen zu Lan Na. Dieses Interesse war kultureller wie politischer Natur: kulturell, da Lan Na zu jener Zeit als das bedeutendste Zentrum des →Buddhismus in Südostasien galt; politisch, da es ein Gegengewicht zum erstarkenden Einfluß Ayutthayas bildete. Phothisarats Kalkül ging auf, sein Sohn Setthatirat (r. 1547–1571) bestieg im Jahre 1546 den Thron in Chiang Mai und regierte nach dem Tod seines Vaters für einige Jahre beide Reiche, Lan Sang und Lan Na, in Personalunion. Die Erneuerung des Buddhismus in L. ging hauptsächlich auf Impulse aus Lan Na zurück. Nach der birmanischen Eroberung Lan Nas 1558 vermochte Lan Sang die religiös-kulturellen Traditionen seines westlichen Nachbarn fortzusetzen. Mit der Entwendung des berühmten Smaragdbuddha (phra kaeo mòrakot), einer in Lan Na seit 1464 als Reichspalladium verehrten Buddhastatue, aus Chiang Mai nach Luang Prabang – und von dort später nach Vientiane – dokumentierte König Setthathirat, wessen kulturelles Erbe er anzutreten gedachte. Im Jahre 1560 wurde die Hauptstadt Lan Sangs offiziell nach Vientiane verlegt. Luang Prabang blieb zwar der religiöse und kultische Mittelpunkt des Landes, Vientiane bot jedoch unter administrativen, militärischen und demographischen Gesichtspunkten einige Vorteile. Die neue Hauptstadt lag in einem weiträumigen Reisanbaugebiet, das ausreichend Ressourcen für die Unterhaltung einer größer und vielschichtiger gewordenen Staatsverwaltung bereitzustellen in der Lage war. Darüber hinaus war Luang Prabang nach der Eroberung Lan Nas durch →Birma zu dicht am birmanischen Einflußbereich und wäre bei einer Invasion nur schwer zu verteidigen gewesen. Unter König Suriyavongsa (r. 1633–1690) erlebte Lan Sang seine zweite kulturelle Blüte, die Bevölkerung lebte in Frieden und Wohlstand, wie euopäische Reisende (u. a. der Holländer van Wuysthoff und der Italiener de Leria) berichten. Nach Suriyavongsas Tod brachen Diadochenkämpfe aus. Zwischen 1707 und 1713 zerfiel das Reich in drei unabhängige Königreiche, die jeweils den Anspruch auf die Rechtsnachfolge von Lan Sang erhoben: Luang Prabang im Norden, Vientiane im 471
l A s Al l e , re né - r o b e rt c Av eli e r d e
Zentrum und Champasak im Süden. Alle drei Teilreiche fielen 1778/79 unter siamesische Oberherrschaft. Ein halbes Jh. später erhob sich Chao Anu von Vientiane, der Herrscher des größten laotischen Vasallenstaates, gegen die Hegemonie →Bangkoks. Der militärische Vormarsch der laotischen Truppen wurde bei Khorat gestoppt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes 1827/28 wurde Vientiane nahezu vollständig zerstört, die Stadt und ihr Umland vollständig entvölkert. Vientiane und Champassak verloren ihren Status als Vasallenstaaten und wurden ebenso wie weite Teile des Khorat-Plateau der siamesischen Krone direkt unterstellt. In umfangreichen Umsiedlungsaktionen wurde der größere Teil der links (östlich) des Mekong siedelnden Lao auf heute thailändisches Gebiet umgesiedelt. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich der demographische Schwerpunkt des laotischen Volkes aus dem Gebiet links in die Territorien rechts des Mekong verlagert. Im Jahre 1893 mußte Bangkok sich der französischen „Kanonenboot-Diplomatie“ beugen und sämtliche östlich des Mekong gelegene Territorien an Frankreich abtreten. In einem weiteren, 1904 geschlossenen Grenzvertrag, der →Siam weitere territoriale Zugeständnisse abrang, wurde der bis heute gültige Grenzverlauf zwischen L. und seinem westlichen Nachbarn festgelegt. Sechs Jahrzehnte währte die französische Kolonialherrschaft. Während Luang Prabang unter König Sisavangvong (r. 1904–1959) den privilegierten Status eines Protektorats erhielt, wurde der Rest des Landes von Vientiane aus als Kolonie regiert. Eine Vereinheitlichung des Verwaltungswesens in L. und ein Zusammenwachsen der unterschiedlichen Landesteile setzte in den 1930er Jahren ein und war im wesentlichen das Verdienst von Prinz Phetsarat, dem Vizekönig von Luang Prabang. Zwei Monate nach der Kapitulation der Japaner, die während des Zweiten Weltkriegs Indochina besetzt hielten, proklamierte Phetsarat die Unabhängigkeit und Einheit des Landes. Die erzwungene Rückkehr der Franzosen 1946 führte zu einer Spaltung der laotischen Unabhängigkeitsbewegung. Ihr radikaler Flügel unter dem „roten Prinzen“ Souphanouvong verbündete sich mit den Vietminh. Auch nach dem Genfer Friedensabkommen von 1954, das die Neutralität des Königreichs L. international garantierte, blieb der als „Pathet Lao“ (wörtl.: „Land L.“) bezeichnete radikale Teil der laotischen Freiheitsbewegung eng mit den vietnamesischen Kommunisten verbündet. Während des Vietnamkriegs (1964–1973) wurde L. ein wichtiger Nebenkriegsschauplatz, in dem ausländische Mächte – Amerikaner, Thais, Vietnamesen und Chinesen – ihre laotischen Verbündeten für eigene machtpolitische Zwecke instrumentalisierten. Nach dem Waffenstillstand von Paris (Januar 1973) wurde in Vientiane eine Koalitionsregierung aus königstreuen Kräften und Anhängern des Pathet Lao gebildet. Doch mit dem Sieg der Kommunisten im benachbarten Vietnam und Kambodscha zerbrach auch in L. der fragile nationale Konsens. Am 2. Dezember 1975 wurde die Laotische Demokratische Volksrepublik ausgerufen. Sechs Jh.e laotischer Monarchie gingen damit zu Ende. Seit Ende der 1980er Jahre wurden schrittweise wirtschaftliche Reformen umgesetzt, die das Land dem kapitalistischen Weltmarkt öffneten. Das Machtmonopol 472
der marxistisch-leninistischen Laotischen Revolutionären Volkspartei ist bislang nicht in Frage gestellt. Grant Evans, A Short History of Thailand: The Land in Between, Chiang Mai, 2002. Michael Schultze, Die Geschichte von Laos. Von den Anfängen bis zum Beginn der neunziger Jahre, Hamburg: Institut für Asienkunde (Mitteilungen Nr. 236) 1994. Martin Stuart-Fox, The Lao Kingdom of Lan Xang: Rise and Decline, Bangkok 1998. V O LK ER G RA B O WSK Y Lapérouse →Galaup La Salle, René-Robert Cavelier de, * 22. November 1643 Rouen, † 19. März 1687 Texas, □ unbek., rk. L. war ein frz. Entdecker. Nach zehnjährigem Aufenthalt im Jesuitenorden (→Jesuiten) von Rouen (1658–1667) segelte er nach Neufrankreich und betrieb Handel. Gleichzeitig plante er →Expeditionen, um eine Westpassage nach China zu finden. Bei seiner ersten Forschungsreise (1669) gelangte er zum Fluß Ohio und errichtete am Ontariosee 1673 Fort Frontenac. Während seiner Frankreichaufenthalte (1674, 1677) erhielt L. kgl. Unterstützung für seine geplanten Nordamerikaexpeditionen. 1680 erreichte er mit dem it. Forschungsreisenden Henri de Tonti den →Mississippi und fuhr 1682 bis zum Golf von →Mexiko. Man nahm das gesamte Mississippi-Gebiet für Frankreich in Besitz und nannte es (nach Ludwig XIV.) Louisiana. 1683 wurde L. Vize-Kg. Nordamerikas. Er versuchte ab 1684, eine Kolonie an der Mississippimündung zu errichten, fand jedoch die Strommündung nicht und erreichte Texas. Dort ermordeten ihn 1687 seine Begleiter und ließen seinen Leichnam zurück. L. war ein kühner Entdecker, der jedoch nicht immer die Realisierbarkeit seiner Pläne richtig einzuschätzen vermochte, weshalb seine letzte Mission scheiterte. Pierre Margry (Hg.), Découvertes et Établissements des Français, 6 Bde., Paris 1879–88. Francis Parkman, La Salle and the Discovery of the Great West, Boston 1899. John Upton Terrell, La Salle, New York 1968. RO LA N D WIC K LES
Las Casas, Bartolomé de, OP, * 1484 Sevilla, † 18. Juli 1566 Madrid, □ Kloster Unsere Jungfrau von Atocha in Madrid bis zur Zerstörung des Klosters, rk. Zwischen 1502 und 1514 betätigte sich L. C. als Goldsucher, Feldkaplan (1507 Priesterweihe) und Encomendero auf Hispaniola und →Kuba; Pfingsten 1514 bekehrte er sich zu einem messianischen Christentum aus Mitleid und Erbarmen mit den Indios, in denen er „gegeißelte Christusse“ sah; 1516 ernannte ihn Kardinal F. →Jiménez de Cisneros zum protector de los Indios, 1517 scheiterte er mit einem Missionsversuch auf Hispaniola. Von 1517 bis 1520 war L. C. Prokurator der Missionare und Siedler Hispaniolas am Hof →Karls V., 1520/21 scheiterte er bei weiteren Missionsbemühungen in Cumaná. 1522 trat L. C. in Santo Domingo (→koloniale Metropolen) in den Dominikanerorden ein und wirkte von 1522 bis 1540 als Dominikanermönch auf Hispaniola, in Nicaragua, →Guatemala (ab 1537 friedliche Missionierung des Kriegslandes: später Tierra de la Vera Paz gennant) und →Mexiko. Zwischen 1540 und 1543 engagierte er
lAtei n A m eri k A
sich in der Auseinandersetzung um die Neuen Gesetze (→Leyes Nuevas) zur Reform Westindiens am Hof Karls V. Am 30.3.1544 wurde er in Sevilla zum Bischof von Chiapa geweiht; 1545–1547 scheiterte er an der Durchsetzung der Neuen Gesetze in seinem Bistum sowie in Guatemala und Mexiko, blieb jedoch lebenslang am Hof Karls V. und Philipps II. ein Vorkämpfer für Gerechtigkeit im Umgang mit den indianischen Völkern. Sein umfangreiches Werk behandelt die (völker)rechtlichen, (missions)theologischen, historiographischen und philosophischen Fragen, zu denen die Entdeckung der Neuen Welt, die →Bulle →Inter cetera Papst Alexander VI. vom 4.5.1493 und das span. Procedere mit Conquistas (Eroberungskriege als ingressus der Spanier in →Amerika) und →Encomiendas (Tribut- und Dienstleistungszuteilung von zahlenmäßig unterschiedlich großen Indio-Gruppen an die Conquistadores z. T. mit Ausbeutungscharakter als progressus der span. Präsenz) Anlaß gaben. In Denkschriften, Briefen und völkerrechtlichen Traktaten kritisierte er Conquistas und Encomiendas, die er als „Wurzel aller Übel“ betrachtete, als „rechtswidrig, ungerecht, frevelhaft und tyrannisch“ und forderte die vollkommene Restitution von usurpierter Herrschaft und geraubtem Gut, wozu er den Beichtvätern von Conquistadores und Encomenderos die Androhung der Absolutionsverweigerung empfahl. In seinen Spätschriften band er die Legitimität der span. Herrschaft an den friedlichen ingressus und die freiwillige Zustimmung der Indios, was seiner Meinung nach nur im Verapaz-Gebiet geschah. Seit dem Cumaná-Projekt verteidigte er die friedliche Evangelisation; in seinem Traktat De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem wies er nach, daß es nur eine einzige mit dem Christentum als Religion der Freiheit wirklich kompatible Missionsmethode gibt, nämlich die Überzeugung des Verstandes mit Argumenten und die sanfte Anlockung und Ermahnung des Willens mit gutem Lebensbeispiel. Besonders nach der Kontroverse von Valladolid (1550/51) mit dem Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda, der die Indios als aristotelische „Sklaven von Natur“ betrachtete und somit die Ideologie der Conquista und Encomienda legitimierte, kämpfte er um die anthropologische Wahrheit des Anderen; in historischen und ethnographischen Schriften verglich er die indianischen Kulturen mit den antiken Völkern der Alten Welt und zeigte, daß die Indios keine Barbaren oder „Sklaven von Natur“, sondern Menschen gleich den Europäern sind (Einheit des Menschengeschlechts), von Gott mit Verstand und freiem Willen ausgestattet, daher auch zivilisations- und glaubensfähig; seine Apologética historia ist die erste vergleichende Ethnographie des Entdeckungszeitalters und enthält auch eine Apologie fremder Religiosität, die er als irregeleiteten Ausdruck des Verlangens nach dem wahren Gott deutet. L. C.s „Apologie des Anderen“ ist in der Kolonialgeschichte einmalig. Das Ideal einer zwangsfreien Evangelisierung blieb bei vielen Missionaren in der Kolonialzeit lebendig, konnte aber auf Grund der Verquickung von Mission und →Kolonialismus zumeist nicht eingehalten werden (→Conquista espiritual). L. C.s Hauptthese der Zivilisations- und Glaubensfähigkeit aller Menschen setzte sich durch, nicht jedoch seine radikale Betrachtung der Enco-
miendas als Grundübel: selbst seine eigenen Ordensbrüder plädierten ab 1560 für eine differenzierte Sicht dieser Kolonialinstitution, die der kolonialen Wirklichkeit besser Rechnung trug. Gleichwohl gilt: auch wenn es L. C. nicht gelang, die Encomienda abzuschaffen, so führte sein Kampf zu einer stärkeren Kontrolle dieser Institution durch die Krone sowie zur Reform des Indienrates. L. C. ging es um die Verteidigung des radikalen Sollens auf dem Boden des thomasischen Tutiorismus, nicht um die ethische Absegnung des Möglichen im Sinne des Probabilismus, der sich nach dem Konzil von Trient durchsetzte. Man hat ihm Unbarmherzigkeit bzw. Rigorismus gegenüber seinen Landsleuten, leidenschaftliche Verblendung und Unwahrhaftigkeit vorgeworfen; auch wenn diese Vorwürfe in ihrem Kern unhaltbar sind, so muß berücksichtigt werden, daß seine Werke Teil eines „prophetischen“ und advokatorischen Kampfes für das Recht und die Wahrheit der indigenen Völker und gegen die Conquista und Encomienda und daher nicht immer frei von Polemik sind. Die Schreckenssammlung kolonialer Kriegführung Brevísima relación de la destruición de las Indias wurde in viele Sprachen übersetzt und von den Gegnern Spaniens im Konfessionalisierungszeitalter wie im Schatten der Unabhängigkeit →Lateinamerikas als Propagandawaffe mißbraucht. So gilt dieses Werk als Grundnahrung der →„Schwarzen Legende“. Mariano Delgado, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit, Fribourg 2001. Ders., Die Indios als Sklaven von Natur? Zur Aristoteles-Rezeption in der Amerika-Kontroverse im Schatten der span. Expansion, in: G. Frank / A. Speer (Hg.), Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederaneignung?, Wiesbaden 2007, 353–372. G. Gutiérrez, En busca de los pobres de Jesucristo, Salamanca 1993. MA RIA N O D ELG A D O Lateinamerika. (Span.: América Latina) Mitte des 19. Jh.s von kolumbianischen und chilenischen Intellektuellen (v. a. dem kolumbianischen Journalisten und Poeten José María Torres Caicedo (1830–1889), dem chilenischen Frühsozialisten Francisco Bilbao (1823–1865) und dem kolumbianisch / panamaischen Juristen und Soziologen Justo Arosemena (1817–1896) geschaffener Doppelbegriff für die Gesamtheit aller Territorien des ehem. Span.-Amerika; direkter ideengeschichtlicher Ansatz war die in Frankreich entstandene Idee einer race latine (latinité), vertreten v. a. durch Michael Chevalier (1806–1879). Der bereits Ende des 18. Jh.s in Span.Amerika entstandene Begriff América grenzte zunächst die Räume der españoles americanos (Amerikaspanier, seit 1810 auch criollos (→Kreolen) von españoles penínsulares (Europaspanier), seit 1815 den Gesamtraum einer neuen politischen Kultur (Rep.en, Verfassungen, Wahlen, Bürgerstatus) vom „alten“ Europa, v. a. von Spanien und dem Ksr. →Brasilien ab. In Europa wurden bis ca. 1870 fast alle Staaten monarchisch beherrscht und undemokratisch regiert (Brasilien Ksr. bis 1888). Der frühe América-Begriff in dieser Zuspitzung geht v. a. auf Francisco de →Miranda und Simón →Bolívar zurück. Bolívar gab in der Carta de Jamaica (1815) dem América-Begriff einen sozialen Inhalt, indem er als americanos nicht mehr nur Oligarchien und urbane Bevölkerung, sondern 473
l At e i n A m e r ikA
auch farbige Bauern, Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), rurale Nomaden und Indios faßte. Als Spanien noch Metropole der am. Territorien Süd- und Mittelamerikas sowie →Mexikos gewesen war (bis 1825), wurde die Gesamtregion meist als Las Indias oder nach der span. staatstheoretischen Konzeption einer zusammengesetzten Monarchie (monarquía compuesta) um den Kern Kastilien-León-Asturien los reinos ultramarinos (die überseeischen Kgr.e: um 1800 die vier →Vize-Kgr.e Nueva España, Nueva Granada, →Peru und Río de la Plata sowie die „reinos“ (Kgr.e) →Chile und →Guatemala) bezeichnet. Alexander von →Humboldt gebrauchte oft den Begriff Hispano-Amerika. Das „Latein“ in L. richtete sich v. a. gegen das „Sächsische“ Amerika (die angelsächsisch geprägten →USA) und sollte die tiefen kulturellen Bindungen der neuen Rep.en v. a. zu Frankreich und Italien zum Ausdruck bringen. Obwohl selten direkt und schriftlich zum Ausdruck gebracht, richtete sich in der Realität der kulturellen Herrschafts- und Bildungspraxis in den neuen Rep.en der Bezug auf das Lateinische in der europäischen und in der südam. politischen Elitenkultur, aber im Innern gegen die Massen der als Indios, Negros, Zambos, Pardos und Mestizos verunglimpften →Castas (Kasten – indianische Bauern, Sklaven oder ehem. Sklaven, kleine Handwerker, Diener, Tagelöhner, arme Stadtbevölkerung →Rassismus). Freie und autonom lebende Indígena-Völker wurden nicht als Americanos, schon gar nicht Latinoamericanos angesehen. Im positiven Fall wurden sie als Subjekte von Erziehung und staatlichen Ordnungsvorstellungen und -projekten oder Missionstätigkeit, durchaus auch positivistischer Natur, angesehen, in der Realität meist als unzivilisierbare Bauern- und Fischerbevölkerung oder „Stämme“ marginalisiert bzw. v. a. seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s vernichtet. Trotz dieser Konflikte nahmen im 19. Jh. in L. neue politische Kultur, Verfassungsstaat, Demokratie, Bürgersinn, Partizipation, Wahlen und Bildung sowie Literatur einen erstaunlichen Aufschwung und gewannen Breite bis in bäuerliche Gruppen der jeweiligen Gesellschaft. In globalhistorischer Perspektive hat L. mit dieser breiten politischen Kultur die Moderne, die im Norden, v. a. den USA und Europa um 1880 einsetzte, seit 1820 vorweggenommen. Seit 1889 versuchten die USA als neue Kontinentalmacht, basierend auf der →MonroeDoktrin der Idee des Latinoamericanismo Konzept und Organisationen des Interamerikanismus (Panamerikanismus, Wirtschaftsbüro Am. Rep.en bzw. Internationales Büro Am. Rep.en, die Panam. Union; Organisation Am. Staaten [OAS]) entgegenzusetzen, der zwar in militärischer Stärke, Kulturimperialismus (Mission, Englisch, Bildung) sowie in Elementen der materiellen Kultur (Technik, Konsum, Architektur, Lebensweise, Medizin) eine breite Grundlage fand, aber als Idee nie das Konzept der kulturellen Andersartigkeit, zusammengefaßt in der Idee der Eigenständigkeit des span.-sprachigen L., verdrängen konnte (am konzentriertesten ausgedrückt in der Kritik am →Mexikanisch-Am. Krieg und an den unzähligen Interventionen der USA in L., der span.sprachigen →Karibik und Haiti). Nach 1898 setzte, v. a. wegen der verschärften imperialistischen Expansion der USA (→Span.-Am. Krieg), verbunden mit intensiven 474
Migrationen von Spaniern sowie ideologisch-kulturellen Anstrengungen Spaniens in die lateinam. Rep.en eine stärkere Rückorientierung auf den Hispanismus (Hispanoamerikanismus) ein, der sich historisch ebenfalls auf Bolívar (Kongreß von →Panama 1826) berief und beruft. In den Staaten L.s fielen diese Prozesse meist mit Versuchen konservativer Stabilisierungen, Kriegen zwischen Liberalen und Konservativen oder liberalem Cäsarismus (Entmachtung der Caudillos →Caudillismo), aber auch Schwächung breiter liberal-demokratischer Bewegungen, Stabilisierung durch Militarisierung und Diktaturen zusammen. Im 20. Jh. kamen verschiedene kulturelle und räumlich-geographische, z. T. sektorale, Konkurrenzkonzepte auf, wie Iberoamerika (inkl. Brasilien, v. a. im dt.-sprachigen Raum seit den 1920er Jahren) Indoamerika, Karibik („große Karibik“), Afroamerika, →Mesoamerika, The Americas / Las Américas, oder Cono del Sur (Südkegel, v. a. →Argentinien, Brasilien, Chile). Einige von ihnen bilden die Grundlage für politische oder wirtschaftliche Verbünde und Organisationen (z. B. Anden-Gemeinschaft Comunidad Andina de Naciones oder Mercosur), konnten aber dem Wohlklang, der historischen Tradition und der globalen Verbreitung des L.-Konzepts keine Konkurrenz machen. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, etwa seit dem Sieg der kubanischen Revolution und ihrer Proklamation zur sozialistischen Revolution (1961) wurde (und wird z. T. noch) heiß diskutiert, welche Länder und Großregionen unter L. gefaßt werden sollen, z. B., ob die gesamte Karibik, Haiti und die Guayanas dazugehören. Seit etwa 2000 wird das auch für Brasilien debattiert, das sich bis dahin kaum jemals als Teil L.s verstand. An der Schwelle zum 21. Jh. kam es v. a. unter US-Präs. George W. Bush (2001–2009) zum Versuch, alle Amerikas in eine gemeinsame Wirtschaftszone (→NAFTA, geplant als ALCA, Área de Libre Comercio de las Américas) zusammenzufassen. In Kritik daran und verbunden mit dem Linksruck in →Venezuela, →Bolivien und →Ecuador sowie der intensiveren, v. a. militärischen Bindung →Kolumbiens an die USA (Plan Colombia) und der Gründung von ALBA (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika – Handelsvertrag der Völker unseres Amerika, Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América – Tratado de Comercio de los Pueblos, ALBA-TCP; verschiedene karibische Staaten, →Kuba, Venezuela, Nicaragua, Ecuador, Bolivien) kommt es auch zur Kritik und zu Debatten um das L.-Konzept. Verbunden sind diese Debatten mit internen kulturell-politischen Dynamiken, v. a. mit der seit 1992 anhaltenden Kritik am „Lateinischen“ in L. und an der eurozentrischen Geschichtsdarstellung von „Entdeckung“ (descubrimiento) und Conquista durch die neue intensive Partizipation von mestizischen, indianischen und farbigen Bevölkerungsgruppen (v. a. in Bolivien, Ecuador und Venezuela). Auch Debatten und Konkurrenz um die kulturelle Hegemonie zwischen Venezuela und Brasilien spielen eine wichtige Rolle für die abnehmende Bedeutung des L.-Konzepts zugunsten einer Bevorzugung von „Süd“-Konzepten im politischen Diskurs (Sur). Leslie Bethell, Brazil and ‚Latin America‘, in: Journal of Latin American Studies 42 (2010), 457–485. Hans-Jo-
lAti n o s i n d en u sA
achim König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, Stuttgart 2006. Stefan Rinke, Vom ersten Amerika zu Amerika, in: Stefan Rinke / Ursula Lehmkuhl (Hg.), Amerika und Amerikas, Stuttgart 2008, 85–108. MI CHAE L Z E US KE Lateinische Münzunion →Union monétaire Latine Latinos in den USA. Migranten aus lateinam. Ländern und deren Nachfahren werden in den USA unter den Begriffen „Hispanics“ oder „Latinos“ zusammengefaßt und im Zensus als eigene Gruppe aufgeführt. Sie stellen heute mit ca. 13 % der Bevölkerung die größte Minderheit noch vor den Afroamerikanern. Zwar haben sich Einwanderer aus allen lateinam. Ländern in den →Vereinigten Staaten niedergelassen, die wichtigsten Herkunftsländer sind allerdings aktuell und historisch →Mexiko, Puerto Rico und →Kuba. Auch die regionale Verteilung von Latinos innerhalb der USA folgt der historischen Entwicklung. Im Südwesten leben die meisten Latinos. Hier sind 70–80 % mexikanischer Herkunft. Der Anteil der Latinos an der Gesamtbevölkerung der jeweiligen Bundesstaaten lag 2005 mit 43,4 % in New Mexico am höchsten, gefolgt von Kalifornien mit 35,2 % und Texas mit 35,1 %. Die zweitgrößte Gruppe der Puerto Ricaner ließ sich traditionell in New York nieder. Seit den 1960er Jahren kamen die Bundesstaaten Illinois und New Jersey als wichtige Niederlassungsregionen hinzu, wenn New York auch weiterhin die meisten puertoricanischen Ew. zu verzeichnen hat. Schließlich stellt Florida das demographische Zentrum der kubanischen Migranten dar. Im Vergleich zu Mexikanern und Puertoricanern kamen sie erst später in größeren Zahlen, nämlich seit der kubanischen Revolution von 1959. In den 1980er Jahren nahm zudem die Einwanderung aus der Dominikanischen Rep. und aus Zentralamerika stark zu. Dominikaner ließen sich v. a. in New York nieder, während Zentralamerikaner, die Mexiko als Transitland benutzten, meistens im Südwesten der USA siedelten. Die ersten Mexikaner, die US-Staatsbürger wurden, sind allerdings nicht eingewandert. Vielmehr mußte Mexiko 1848 mit der Niederlage im →Mexikanisch-Am. Krieg ca. die Hälfte seines Territoriums an die USA abtreten. Das Gebiet des heutigen Südwestens war mit ca. 100 000 Ew. relativ dünn besiedelt. Das demographische Zentrum lag in New Mexico. In der Gruppe der Latinos nehmen Puertoricaner einen Sonderstatus ein. Sie sind streng genommen keine Immigranten. Seit 1898 herrschen die USA über die Insel, die sich allerdings auf Grund rassistischer Vorbehalte der Bevölkerung und der Kongreßabgeordneten nie dazu durchringen konnten, Puerto Rico als Bundesstaat in die Union aufzunehmen, ebenso wenig wurde die Unabhängigkeit in Betracht gezogen. Seit 1952 hat die Insel den völkerrechtlich einmaligen Status eines freien und assoziierten Staates. Bereits 1917 erhielten Puertoricaner auf individueller Basis die US-Staatsbürgerschaft. Trotzdem werden sie von der restlichen Bevölkerung als Fremde wahrgenommen. Die Einwanderungsgeschichte von Latinos umspannt das gesamte 20. Jh. und geht für einige Gruppen weiter zurück. Umfang, Art und Gründe der Migrationsbewegungen hingen von der jeweiligen Situation in den Herkunftsländern ebenso wie von der Lage
in den USA ab. Alle Immigrationsbewegungen waren erheblichen Schwankungen ausgesetzt, die häufig den Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs bzw. Niedergangs in den USA folgten. In den Herkunftsländern lösten wirtschaftliche Probleme z. B. bei der Versorgung der Landbevölkerung mit Krediten oder sozialen Leistungen oft Wanderungen aus, die über mehrere Etappen schließlich in die USA führten. So gingen viele Mexikaner seit Beginn der Mitte des 20. Jh.s häufig erst vom Land in eine Kleinstadt und von dort in eine Metropole, bevor sie sich auf den Weg nach Norden machten. In den letzten Jahrzehnten hat sich dies teilweise geändert, nun wandern mexikanische Landbewohner häufig direkt in die USA. Dies liegt an den veränderten →Transport- und Kommunikationsbedingungen sowie dem Phänomen der Kettenmigration. Migranten wählen ihr Ziel häufig auf Grund von persönlichen Kontakten mit bereits Gewanderten. Viele Dorfgemeinden im Westen und Süden Mexikos verfügen heute gewissermaßen über „Ableger“ in den USA. Zwischen beiden besteht ein reger Austausch, Migranten kehren regelmäßig in ihr Heimatdorf zurück, um dort an den zentralen Feierlichkeiten oder an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Dorfbewohner wiederum können die Hilfe der bereits Gewanderten in den USA bei der Suche nach Unterkunft und Arbeit in Anspruch nehmen. Diese Form von grenzüberschreitenden Dorfgemeinschaften wird als transnationale Gemeinde bezeichnet. Neben wirtschaftlichen Gründen spielen politische Motive für lateinam. Migranten eine wichtige Rolle. Mexikaner flüchteten während der gewaltsamen Auseinandersetzungen der Mexikanischen Revolution zwischen 1910 und 1920 in die USA. Die meisten zentralam. Migranten in den Jahren von 1970– 1990 waren Bürgerkriegsflüchtlinge. Kubaner und Puertoricaner kamen in geringer Zahl bereits Ende des 19. Jh.s als politische Exilanten in die USA, um von dort den Unabhängigkeitskampf gegen Spanien zuführen. Direkt nach der kubanischen Revolution 1959 verließen v. a. ihre Gegner die Insel in Richtung USA. Häufig läßt sich eine klare Differenzierung nach wirtschaftlichen oder politischen Motiven, die ausschlaggebend für die Auswanderungsentscheidung waren, nicht eindeutig treffen. Hinzu kommen können weitere Gründe, etwa wenn junge Menschen den überkommenen Sozialstrukturen in ihrem Dorf entkommen wollen oder nach Bildungsmöglichkeiten suchen und deshalb wandern. Die Einwanderungspolitik des Aufnahmelandes ebenso wie die wirtschaftliche Lage spielt ebenfalls eine zentrale Rolle für die Wandernden. Die USA verfolgten zwar seit Ende des 19. Jh.s eine immer restriktivere Immigrationspolitik, Lateinamerikaner, und das bedeutete in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s v. a. Mexikaner, wurden von diesen Einwanderungsbeschränkungen allerdings trotz der rassistischen Vorurteile ihnen gegenüber ausgenommen, weil die landwirtschaftliche bzw. agroindustrielle Lobby im Südwesten darauf drängte. Die von ihr vertretenen Unternehmer wollten die billigen mexikanischen Arbeiter nicht verlieren. Ohne deren Beitrag hätte Kalifornien kaum zum größten Obst- und Gemüse-Produzenten der USA aufsteigen können. 1953 ermöglichte ein neues Gesetz die Aufnahme von politischen Flüchtlingen. Diese 475
l e de r
Maßnahme wurde jedoch als Instrument des Kalten Krieges eingesetzt und kam v. a. Kubanern, die vor der Revolution flüchteten, zugute, kaum jedoch den Bürgern befreundeter Diktaturen. So wurden etwa nur wenige Chilenen aufgenommen. 1965 liberalisierten die USA ihre Einwanderungsgesetzgebung mit einem Quotensystem, dies nützte allerdings v. a. europäischen Migranten. Viele Migranten aus →Lateinamerika übertreten die Grenze ohne die notwendigen Papiere. Die Gründe dafür liegen in den Kosten für ein Visum ebenso wie in den seit 1965 geltenden Quoten für jedes Land. Besonders Mexikanern haftet das Stigma illegaler Einwanderung an. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, daß seit den 1990ern jährlich 500 000 Einwanderer ohne Papiere in die USA kommen. Die größten Gruppen davon sind Mexikaner mit 57 % u. a. Zentral- und Südamerikaner mit 24 %. Gleichzeitig erhalten jährlich zwischen 200 000 und 300 000 illegal Eingewanderter einen offiziellen Status. Dies kann entweder über periodisch vorgenommene Amnestien geschehen oder indem Angehörige die finanzielle Verantwortung für die Migranten übernehmen. Trotz der in den letzten Jahren verschärften Militarisierung der Grenze zwischen den USA und Mexiko konnte die illegale Einwanderung nicht unterbunden werden. Die neuen Kontrollen an der Grenze führen allerdings dazu, daß immer mehr Todesopfer unter den Migranten zu beklagen sind, da sie für den Grenzübertritt etwa auf gefährliche Wüstengebiete ausweichen müssen. Die wirtschaftliche Lage im Aufnahmeland beeinflußte die Einwanderung ebenfalls sehr stark. In Zeiten der Krise kamen weniger und es wurden Repatriierungen vorgenommen. Dies galt v. a. für Mexikaner, von denen während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre mehrere hunderttausend Menschen nach Mexiko zurückgingen bzw. deportiert wurden. Nachdem die USA während des →Zweiten Weltkrieges mit dem bracero-Programm gezielt mexikanische „Gastarbeiter“ angeworben hatte, deportierten sie in der Operation Wetback von 1954 ca. 1 Mio. Mexikaner. Das bracero-Programm lief mit Unterbrechungen bis 1964 weiter und brachte jährlich ca. 200 000 Mexikaner als Arbeiter in die USA. Die voneinander abweichenden Einwanderungsgeschichten sowie die unterschiedliche regionale Verteilung der lateinam. Gruppen führten zu verschiedenen kollektiven Erfahrungen. Gemeinsam ist jedoch allen Latinos, daß sie Exklusionsprozessen unterworfen waren, die zur Einschränkung ihrer Bürgerrechte führten. Die Ursachen dafür variierten. Fremdenfeindlichkeit bis hin zu rassistischer Diskriminierung spielte allerdings fast immer eine Rolle. Am Arbeitsmarkt hatten Latinos häufig die schlechtesten Chancen, manchmal war ihre Position allerdings besser als die von Afroamerikanern. Im Südwesten arbeiteten die meisten Mexikaner und ihre Nachfahren als Saison- und Wanderarbeiter in der Landwirtschaft. In New York erhielten Puertoricaner v. a. schlecht bezahlte Jobs in den Sweatshops der Textilindustrie. Heute sind sie zusammen mit Dominikanern in der Gastronomie und im Reinigungsgewerbe stark vertreten. Bei den kubanischen Flüchtlingen in Florida sah dies anfangs anders aus, da viele von ihnen aus der Mittel- und Oberschicht stammten und außerdem Unterstützung der US-Reg. erhielten. Zur Benachteili476
gung am Arbeitsmarkt kamen schlechte Bildungschancen hinzu. Im Südwesten gab es lange Zeit eigene Schulen für die mexikanischstämmigen Kinder, die wesentlich schlechter ausgestattet waren, als die Schulen für weiße Kinder. Aber auch nach der Aufhebung dieser Segregation sind die Schulen für Kinder aus den Minderheiten in der Regel schlechter, da ihre Finanzierung vom Steueraufkommen im jeweiligen Schuldistrikt abhängt und die Wohnviertel bis heute stark nach ethnischen Zugehörigkeiten segregiert sind. Der Bildungserfolg der hispanischen Bevölkerung ist insg. relativ gering. Diese u. andere Folgen der Exklusion führten zu einer Beteiligung der Latino-Bevölkerung an dem Civil Rights Movement der 1960er und 1970er Jahre. Zwar hatte es schon vorher Organisationen gegeben, die sich für die Bürgerrechte von Latinos einsetzten, seit den 1960er Jahren nahm die Bewegung jedoch an Fahrt auf und teilweise änderte sich auch die Ausrichtung der Gruppen. Hatten sie vorher v. a. beweisen wollen, daß sie gute Amerikaner im Sinne der Ideologie der Weißen waren, betonten sie nun stärker den Eigenwert ihrer Gruppe und forderten als solche Anerkennung und die vollen Bürgerrechte. Das zeigt sich bei der mexikanischstämmigen Bevölkerung, von der ein Teil sich nun auf ihren Hintergrund als Arbeiter ebenso wie ihre Abstammung von der indigenen Bevölkerung Mexikos bezog und sich als Chicanos bzw. Chicanas bezeichnete. Eine Ikone der Bewegung wurde César Chávez, der die Landarbeiter in Kalifornien organisierte und für ihr Recht auf Gewerkschaften eintrat. Im Chicano-Movement engagierten sich viele Frauen, die nun die patriarchalen Strukturen hinterfragten, ohne sich deshalb der feministischen Bewegung der weißen Frauen anzuschließen, da sie die ethnische Exklusion und →Rassismus ebenfalls kritisierten. Das Civil Rights Movement konnte einige Erfolge verzeichnen. In vielen Staaten wurde die bilinguale Erziehung eingeführt, affirmative action-Programme ermöglichten mehr Angehörigen von Minderheiten ein Studium, 1964 wurden mit dem Civil Rights Act Beschränkungen des Wahlrechts abgeschafft und darüber hinaus erhielten mehr Mitglieder von Minderheiten politische Ämter. Trotzdem bleiben xenophobische Tendenzen (→Xenophobie) eine wichtige Strömung. Heute wird in den USA über Latinos als der größten Gefahr für den Zusammenhalt der USam. Gesellschaft und den Erhalt ihrer Werte diskutiert. Dieser Diskurs hat zu einer Verschärfung der Grenzpolitik ebenso wie zu sozialen Restriktionen für Migranten geführt. Laird W. Bergad / Herbert S. Klein, Hispanics in the United States, Cambridge 2010. Silke Hensel, Leben auf der Grenze, Frankfurt 2004. Clara E. Rodríguez, Changing Race, New York 2000. SILK E H EN SEL Lausanne, Vertrag von →Sèvres, Vertrag von Leder und Tierhäute sowie Felle gehören, wie Salz, Stockfisch (→Bacalao), Trockenfleisch (→Tasajo, charqui, →Llanos) und Vieh zu den weniger bekannten ökonomischen und kulturellen Elementen der europäischen Expansion in den atlantischen Raum und die Amerikas. Im Laufe der frühen Expansion führten Seeleute und
lee b o o
frühe Siedler europäisches Vieh (v. a. Rinder, Schweine, Pferde und Esel sowie Ziegen und Schafe) mit sich, die sich auf Inseln des Atlantiks, v. a. aber in den großen und kleinen Ebenen Amerikas (→Llanos, Savannen) und den karibischen Inseln (→Karibik) explosiv und exponentiell vermehrten. In einigen Räumen der frühen Conquista, v. a. auf den großen Antillen (La Hispaniola/ Santo Domingo/ Haiti, Kuba →Karibik) führten die massive Ausbreitung europäischen Viehs zur Vernichtung indigener Gartenbaukulturen, in anderen Gebieten, wie Mittelamerika (→Spanisches-Amerika) integrierten indigene Bauern das Vieh relativ schnell in ihre Kulturen und in den vielen großen und kleinen Steppen und Grassavannen (Prärien, →Llanos, Pampas) ermöglichten Rinder, Pferde und Esel sowie Maultiere und -esel das Aufkommen neuer Reiter-und-Rodeo-Kulturen, indem Reste indigener Völker, geflohene Sklaven sowie Deserteure der Kolonisatoren und Siedler Pferde und Waffen der Conquistadoren und Kolonisatoren übernahmen, um sich mit ihrer Hilfe gegen die direkte Kolonisierung zur Wehr zu setzen. Am deutlichsten in diesen Gebieten, aber in vielen Regionen der Siedlung von Europäern ebenfalls, kam es bereits im 16. Jh. zu einer Ökonomie der Jagd auf halbwilde Rinder und Pferde (zum Teil schon mit Brandmarkierung und Selektion, rodeos sowie vaquerías), zur Schlachtung von Großvieh zur Fleisch- und Häuteproduktion oder zu großen Viehtrieben und Schmuggel von lebenden Rindern, Eseln, Maultieren oder Pferden, die sowohl als Zug- und Reittiere diesen sollten, aber auch als Schlachtvieh und Ressource der Häute- und Lederproduktion. Die Bedeutung dieser Wirtschaftsform wird oft in der Bezeichnung „Epoche des →Leders“ in der Geschichte etwa der großen Antillen (→Karibik), v. a. Kubas und Santo Domingos oder von Territorien Venezuelas, Kolumbiens, Chiles, Südbrasiliens und Nordmexikos sowie der Küste des südlichen Südamerikas (litoral), des Hinterlandes von Buenos Aires und Banda Oriental / Montevideo (heutiges Argentinien und Uruguay, hier auch civilización del cuero „Leder-Zivilisation“, nach Sarmiento Jorge Gelman, Campesinos y Estancieros. Una región del Río de la Plata a fines de la época colonial, Buenos Aires: Editorial Los Libros del Riel, 1998, 15), zum Ausdruck gebracht. An den Rändern dieser Territorien entwickelte sich, oft in Konkurrenz und Konflikt zur und mit der Existenz freier Hirten und Jäger (Gauchos, Llaneros) sowie indigener Völker (Araukaner / Mapuches, Charrúas, Apachen, Pawnee), Großraumlandwirtschaften (hatos, estancias) und zum Teil auch riesige Missionsgebiete auf Viehhaltungsbasis (v. a. Paraguay und Guayana / Caronígebiet →Orinoko). Hauptprodukte dieser Vieh-Latifundienwirtschaft v. a. seit 1700 waren lebende Pferde und Maultiere, Schlachtvieh für urbane Gebiete, eingesalzene Häute, Frisch- und Trockenfleisch (→Tasajo), Talg, Roßhaar und Fett sowie Rinderhörner und Produkte aus grobem Leder. Die Häute, v. a. Rinderund Pferdehäute sowie Schweinehäute wurden gesalzen und bildeten die Grundlage lokaler Lederproduktion (Lassos, boleadoras [Steinschleudern], Sättel, Zügel, Geschirr, Gürtel, Schuhwerk, Gürtel, Messer- und Machetenscheiden, aber auch Hüte und Bekleidung und in holzarmen Gebieten auch viele andere Gegenstände des
täglichen Bedarfs: Becher, Behältnisse, Planen, Riemen, Netze). Aber sie waren auch Grundlage von Schmuggelund Widerstandswirtschaften, nicht zuletzt für marginale Kulturen der Bukaniere (spezialisiert auf Jagen, Fleischtrocknen und Häuteherstellung), Korsaren und Flibustiere; Korsaren nahmen oft Menschen aus lokalen Kulturen gefangen, ließen diese über einige Zeit Rinder jagen, Häute abziehen und salzen sowie Fleisch trocknen und nahmen dann die Produkte an Bord, um sie nach Europa zu schmuggeln oder einzutauschen. Cueros de la Habana (Rinderhäute aus Havanna) oder Caracas-Häute waren lange Zeit fast ein Markenprodukt der Karibik; seit dem 18. Jh. kamen auch Massen von Häuten aus Buenos Aires und Montevideo sowie Südbrasilien hinzu. Jede der großen Viehregionen Amerikas entwickelte eigenständige, auf das Pferd und die Reiter fokussierten Kulturen (Musik, Identitäten, politische Kultur). Europa und Nordafrika hatten wegen der vielen Kriege bis weit in das frühe 20. Jh. einen hohen Bedarf an Häute- und Lederimporten. Erst am Ende des 18. Jh.s entstanden im südlichen Südamerika saladeros (Schlacht- und Pökelfleischfabriken, v. a. Buenos Aires und Montevideo) mit Salz aus Bahia Blanca im Süden des heutigen Argentiniens und von der Kapverden-Insel Sal (→Tasajo-Route zwischen Katalonien, Kapverden, Río de la Plata und Karibik). Im Norden Südamerikas, v. a. in den Llanos Venezuelas und Kolumbiens entwickelten sich ebenfalls Saladeros, die Salz von der Paria-Halbinsel und lokalen Meeressalinen nutzten und es bildeten sich riesige Netze von Viehtrails mit periodischen Triften zwischen den Llanos und der Küste heraus; an den Knoten der Trails entstanden spezialisierte Viehmast-Latifundien mit Schlachtung und Lederverarbeitung und am Ende der Viehtrift wurden die Tiere auf Schlachthöfen getötet, abgehäutet und grob zerteilt. Die Häute wurden weiterhin genutzt, auch zur lokalen Lederproduktion und zum Export nach Europa und Nordamerika. V. a. aber konnte durch seit dem Ende des 19./ Anfang des 20. Jh.s aufkommende Kühlhäuser und Kühlschiffe das Fleisch in den Atlantikraum exportiert werden; in Deutschland oft nach Hamburg. Q: Alexandre Olivier Exquemelin, Piraten der Karibik [Ndr. eines Augenzeugenberichts aus dem 17. Jh.], Königswinter 2007. L: Barbara Potthast, „Viehzucht, Gauchos und campesinos“, in: Sandra Carreras / Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, Berlin 2010, 35–40. Michael Zeuske, „Llaneros und Liberale“, in: Ders., Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich 2008, 242–258. MICH A EL ZEU SK E Lee Boo (d.i. Libu), * um 1765 Koror, Palau, † 27. Dezember 1784 London, □ Friedhof St. Mary’s Church, London-Rotherhithe, autochthon L. B. war der zweite Sohn des Ibedul von Koror. Mit dem in →Palau gestrandeten engl. Kapitän Wilson besuchte er auf Wunsch des Vaters London, um dort europ. Wissen zu erwerben u. nach Palau zurückzubringen. Über →Macao u. →Canton traf er am 14. Juli 1784 in Portsmouth ein u. kam von dort nach London, wo er als einer der ersten Pazifikinsulaner in Europa überhaupt für beträchtliches Aufsehen sorgte. Im Spätherbst erlag er den Pocken. Sein Grabmal trägt die Aufschrift 477
l e ib e ige n s c h A f t
„Stop reader, Stop. Let Nature Claim a tear. A prince of Mine, Lee Boo, Lies Buried Here.“ In Palau wird L. B. heute auffälligerweise als Pionier der Moderne gefeiert, der als erster mit dem Westen in Kontakt kam. Am Eingang zum Palau Community College – einer Art pädagogischen Hochschule – wurde am 22. September 1999 ein Denkmal für ihn errichtet. Die lebensgroße Statue porträtiert ihn in der europ. Kleidung der Zeit, mit einem Buch in der linken Hand. Die Tafelinschrift feiert ihn als „Palau’s de facto ambassador of goodwill to England“ u. als Palaus „first true scholar“. Zwar hätte sein Plan, „to spread universal knowledge and scientific discoveries to his people“ wegen seines frühen Todes nicht mehr ausgeführt werden können, aber sein Erbe u. Auftrag bliebe, eine neue Generation von palauanischen Akademikern zu inspirieren: „The spirit of Prince LeeBoo shall continue to live in the hearts of the People of Palau.“ Das Denkmal wurde 2000 vom Präsidenten Palaus öffentlich eingeweiht u. repräsentiert die palauanische Sichtweise u. Bewertung des historischen Kulturkontakts mit Europa recht deutlich. Ein jährliches „Prince Lee Boo“-Stipendium wird ebenfalls st. 2000 ausgelobt, um die besten Studenten Palaus finanziell zu unterstützen. David Kupferman, Disassembling and Decolonizing School in the Pacific. A Genealogy from Micronesia, Dordrecht u. a. 2013. Daniel Peacock, Lee Boo of Palau. A Prince in London, Honolulu 1987. HE RMANN HI E RY Leibeigenschaft. Durch Unfreiheit charakterisiertes Abhängigkeitsverhältnis des Bauern zu seinem Grundherrn, das für das europäische Mittelalter charakteristisch war; je nach Land und Rechtstradition gab es verschiedene Ausprägungen von L. Kennzeichnend war i. allg. die Leistung einer Kopfsteuer und von Frondiensten. Sozialer Aufstieg war durch Freilassung, durch Aufstieg in den niederen Adel, später auch durch Loskauf möglich. In Deutschland lockerte sich die L. während des 12. Jh.s im Zuge der Ostkolonisation in Ostmitteleuropa. Im 15. Jh. war vor dem Hintergrund der Agrarkrise eine Verschärfung zu beobachten, die die Abwanderung der bäuerlichen Bevölkerung in die Städte verhindern sollte. Wie angespannt die Lage war, zeigten bereits die Bauernerhebungen des 14. Jh.s. Mehr noch wurde in den Bauernkriegen (1524–1526) die Forderung nach Aufhebung der L. laut. V. a. mit Rußland verbindet sich die L., welche die soziale Struktur des weitgehend agrarisch geprägten Landes bestimmte. Gesetzlich festgelegt wurde sie 1649, die Entwicklung zur L. hatte sich jedoch über mehrere Jh.e vollzogen. Einschränkungen der bäuerlichen Freiheit, die es schon unter Iwan III. (1497) gegeben hatte, wurden unter Zar Boris Godunow (1592/93) weiter verschärft, bis die L. 1649 rechtsgültig wurde. Die Bauern entzogen sich dieser Entwicklung durch Flucht in die südliche Steppenzone oder nach →Sibirien. Aus den „Läuflingen“ rekrutierten sich die →Kosaken. In Sibirien selbst gab es keine L., weil ein grundbesitzender Adel fehlte. In Kernrußland kam es immer wieder zu Bauernaufständen unter Führung von Kosaken, wie z. B. der berühmte Aufstand →Pugatschows (1773–1775). Unter →Katharina der Großen wurde das Klagerecht 478
der Bauern gegenüber den Grundherren abgeschafft. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die L. gerade in Rußland halten konnte, erklärt sich dadurch, daß die Autokratie ihre Stütze im grundbesitzenden Adel fand. Erst mit der Erschütterung durch den →Krimkrieg wurde 1861 die Aufhebung der L. im Zarenreich verfügt. Die soziale Lage der Bauern verbesserte sich jedoch kaum, was eine politische Radikalisierung begünstigte. Diese äußerte sich in der Entstehung der Terrororganisation „Narodnaja Volja“ sowie in der Gründung der Partei der Sozialrevolutionäre. Diese forderte eine Sozialisierung allen Grund und Bodens. S. a. →Kuli, →Vertragsarbeit. Andreas Grenzer, Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich, Stuttgart 1995. Jan Klußmann, Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit, Köln 2003. Lev N. Tolstoi, Russ. Bauern, Leipzig 1887. EVA -MA RIA STO LB ER G
Leichhardt, Ludwig, * 23. Oktober 1813 Sabrodt, seit 1848 in Australien verschollen, □ unbek., ev.-luth. Friedrich Wilhelm Ludwig L. wurde als Sohn des Torfinspektors Hyronimus L. in Sabrodt (Trebatsch) geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums 1826–29 in Cottbus folgte 1831–1833 das Studium der Philologie, →Geographie, Anthropologie und Sternkunde in Berlin. 1833/34 Studium der Naturwissenschaften in Göttingen, 1834 Fortsetzung in Berlin. 1837 Abbruch des Studiums ohne Abschluß. Es folgten in den nächsten Jahren Exkursionen durch Frankreich, Italien und in die Alpen. Im Herbst 1841 wanderte L. nach →Australien aus. Er lebte vorwiegend in dem bereits locker besiedelten Gebiet zwischen Sydney und Brisbane und sammelte umfangreiche geologische, botanische und zoologische Informationen und Belege. Am 1.10.1844 startete er von Jimbour (bei Brisbane) aus seine erste →Expedition, die ihn in 14 Monaten über 4 800 km nach Port Essington (bei Darwin) erfolgreich an die nördlichste Spitze des Kontinents führte, wo er am 17.12.1845 eintraf. Sein „Tagebuch einer Landreise in Australien von Moreton-Bay nach Port Essington während der Jahre 1844 und 1845“ wurde 1851 in Halle veröffentlicht. Während dieser Expedition entdeckte L. u. a. Australiens größtes Kohlelager und trug damit zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei. L.s zweite Expedition, die Durchquerung des Kontinents von Ost nach West im Dez. 1846, endete nach fünf Monaten mit einem Mißerfolg. Am 5.4.1848 brach er daher erneut auf, um eine Landroute nach Perth zu finden. Seitdem gilt er als verschollen. Während L. in seiner dt. Heimat weitgehend unbekannt ist, wird er in Australien auf vielfache Weise geehrt. So wurden geographische Objekte, Tiere, Pflanzen, sowie ein Stadtteil Sydneys nach ihm benannt. Von den geographischen Objekten sind am bekanntesten: der Mount L., der L.-River (mündet in den Carpentaria Golf, →Queensland.), die Gebirgskette L. Range (Queensland.), der Stadtteil L. in Sydney und vieles andere mehr. In Deutschland existiert in Trebatsch ein L.-Museum und ein L.-Wanderweg. Zudem ist L. literarisches Vorbild der Hauptfigur im Roman Voss des australischen Literaturnobelpreisträgers Patrick White.
l ei s ler, j A co b
Q: Ludwig Leichhardt, Die erste Durchquerung Australiens 1844–1846, hg. v. Franz Braumann, Stuttgart u. a. 1983. L: Hans Wilhem Finger, Leichhardt, Göttingen 1999. Dietmar Felden, Durch den Fünften Kontinent, Gotha 1996. VE RE NA S CHRADE R Leipziger Missionsgesellschaft (LMG). Am 17.8.1836 als „ev.-luth. Missionsgesellschaft zu Dresden“ durch den dortigen Missionsverein gegründet, war die Gesellschaft von Anbeginn an Sachwalterin einer dezidiert lutherischen Missionstätigkeit. Sie grenzte sich damit von den bereits etablierten protestantischen Missionsgesellschaften (→Basler, →Berliner, →Rheinische und →Norddt. Mission) mit ihrem unionistischen Überkonfessionalismus zwischen Lutheranern und Reformierten ab. Finanziell und personell unterstützt wurde sie daher durch Missionskreise innerhalb der lutherischen Landeskirchen in Sachsen, Bayern, Hannover und Mecklenburg sowie von der lutherischen Kirche Rußlands. 1838 begann man ein nur kurzlebiges Missionsunternehmen in und um Adelaide (bis 1849) sowie 1840 – als Nachfolgerin der Dän.-Halleschen Mission – im südind. →Tranquebar, das den Kern für eine ausgedehnte Missionstätigkeit auf dem Subkontinent („Tamulenmission“) legte. Eine Zäsur bildete die Umsiedlung der Gesellschaft nach Leipzig und ihre Umbenennung in „ev.-luth. Missionsgesellschaft zu Leipzig“ (31.8.1847 / Mai 1848) auf Betreiben des langjährigen Missionsdirektors und Dravidologen Karl Graul (1814–1864, Direktor von 1844–1859), der so den Missionaren eine wenigstens partielle theologische Ausbildung an der Leipziger Universität ermöglichen wollte. Neben der ind. Missionsarbeit begann man 1892, vor dem Hintergrund dt. Kolonialerwerbungen, eine ebenfalls rasch wachsende Missionstätigkeit im Gebiet des →Kilimandscharo in →Dt.-Ostafrika sowie bei den Wakamba in Brit.-Ostafrika. →Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit bedeuteten einen Einschnitt, da die Missionsarbeit von einheimischen Christen oder von am. (in →Indien) bzw. schwedischen Missionsgesellschaften (in Ostafrika) übernommen wurde. 1925 konnte die L. in einige ihrer alten Missionsgebiete zurückkehren und betrieb nunmehr eine stärker die partnerschaftlichen Beziehungen zu jungen einheimischen Kirchen betonende Arbeit. Nach 1945 war die L. hart von der dt. Teilung betroffen: Zwar konnte der Kontakt zu den überseeischen Partnerkirchen gehalten und 1953 in →Papua-Neuguinea eine neue Tätigkeit aufgenommen werden, doch entsandte man erst 1989 wieder Personal. 1993 erfolgte schließlich die Überführung der L. als „ev.-luth. Missionswerk Leipzig e.V.“ (LMW) in die Trägerschaft der ev.-luth. Kirchen Sachsens, Mecklenburgs und Thüringens. Q: Ev.-luth. Missionsblatt, Dresden 1846/47, Leipzig 1848–1941. L: Andreas Nehring, Orientalismus und Religion, Wiesbaden 2003. Joachim Schlegel (Hg.), 150 Jahre Leipziger Mission, Erlangen 1986. T HORS T E N ALT E NA
Leishmaniasis. Die Leishmanien sind geiseltragende einzellige Parasiten. Drei verschieden Arten verursachen unterschiedliche Krankheitsbilder. Die Übertragung
erfolgt durch die Sandfliege. Ca. 3–5 % der Infizierten werden krank. Die Inzidenz der L. wird auf 10 Mio. geschätzt. Ca. 400 000 Menschen erkranken jährlich an der bedrohlichsten Form, der Kala Azar. Kala Azar: Synonym ist die Bezeichnung viscerale L., der Erreger ist Leishmania donovani. Die Erkrankung ist verbreitet an der Mittelmeerküste, im mittleren Osten, →Indien, an den Küsten Chinas, im →Sudan und Ostafrika, sowie in Zentral- und Südamerika. Im Mittelmeerraum sind Hunde und Füchse das Reservoir. Es erkranken vornehmlich Kleinkinder. In Indien ist das Reservoir der Mensch selbst, in Afrika die Nager. Adoleszenten sind hier häufiger betroffen. Die Krankheitssymptome sind Fieber, Blutarmut und Milzvergrößerung. Die dunkelbraune Pigmentierung der belichteten Haut gab der Erkrankung ihren Namen. Unbehandelt liegt die Mortalität bei 75 %. Die Todesursache ist meist eine opportunistische Infektion. Behandelt können 85 % gerettet werden. Kutane L.: Synonym dafür ist Orientbeule. Der Erreger ist Leishmaniia tropica. Es tritt dabei ein lokalisiertes Hautgeschwür auf, welches sich meist nach Monaten spontan zurückbildet. Am. L.: Der Erreger ist Leishmania brazilliensis. Auch nach Abheilung eines Hautgeschwürs kann es nach Jahren zu Geschwüren am Gesicht und den Schleimhäuten des Nasen-Rachenraumes kommen mit schweren Verstümmelungen als Folge. David T. Hart, Leishmaniasis, New York 1989. D ETLEF SEY BO LD
Leisler, Jacob, * um 1640 Bockenheim (Frankfurt/M.), † 17. Mai 1691 New York, □ unbek., ev.-ref. L. kam als Soldat („Adelborst“) der ndl. Westind. Compagnie 1660 nach Neuniederland, betätigte sich bald darauf erfolgreich als Kaufmann im Handel mit engl. Nachbarkolonien, England und den Niederlanden; als fanatischer Calvinist und überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit und Rechtgläubigkeit kollidierte der mittlerweile wohlhabende L. häufig sowohl mit Geschäftskollegen, Nachbarn und den Verwandten seiner Frau in Neuniederland/New York als auch mit weltlichen wie geistlichen Obrigkeiten. Als erste Gerüchte über den Thronantritt seines calvinistischen Heroen, des ndl. Statthalters und oranischen Prinzen Wilhelm als Wilhelm III. und dessen Frau Maria Stuart im Winter 1688/Frühjahr 1689 an den →Hudson gelangten, versuchte L. die engl.ndl. Kooperation in New York dadurch zu beschleunigen, indem er sich gegen die noch von Wilhelms III. Vorgänger, Kg. →Jakob II. eingesetzten Funktionäre stellte, diese verhaften ließ und sich selbst zum Interims-Gouv. der Kolonie aufschwang. Jahrelang schwelende Spannungen zwischen L. und seinem engl. Schwiegersohn Jakob Milborne auf der einen Seite und seinen Nachbarn quer durch →Ethnien, Konfessionen und Sprachen auf der anderen Seite verbanden sich mit der Diskussion um die Politik New Yorks; der von L. bewunderte engl.-ndl. Kg. Wilhelm III. setzte in New York die Politik seines Vorgängers fort (Abbau kolonialer Privilegien, Zentralismus, Unterwerfung kolonialer Belange unter mutterländische Interessen) und ermächtigte seinen Vertreter, den neuernannten →Gouv. von New York, Henry Sloughter, radikal gegen eigenständige Aktionen in den Kolonien 479
l e o A f r i c A nus
vorzugehen: Diese Regelung traf auch L., der sich zwar euphorisch für Wilhelm von Oranien in die Bresche geworfen hatte, aber mit seinem eigenwilligen Aktionismus gegen seine Obrigkeit vorgegangen war. L. fasziniert seit seiner Hinrichtung wegen Hochverrats Historiker und Literaten gleichermaßen; Überbleibsel seiner weitgespannten Handelskorrespondenz und seiner rechtlichen, religiösen und politischen Aktivitäten im atlantischen Raum bilden begehrte Objekte. Claudia Schnurmann, Representative Atlantic Entrepreneur: Jacob Leisler, 1640–1691, in: Johannes Postma, u. a. (Hg.), Riches from Atlantic Commerce, Leiden 2003, 259–283. David William Voorhees, The Fervent Zeale of Jacob Leisler, in: The William and Mary Quarterly 51 (1994), 447–472. Hermann Wellenreuther (Hg.), Jacob Leisler’s Atlantic World in the Later Seventeenth Century, Münster 2009. CL AUDI A S CHNURMANN Leo Africanus (eigentlich Al-Hasan ben Muhammad ben Ahmad al-Wazzan al-Zayyati), * ca. 1487 Granada, † ca. 1556 Tunis (?), □ unbek., zunächst musl., ab 1520 rk. Nach der →Eroberung Granadas durch die Spanier floh der spätere L. A. mit seiner Familie nach Fes in →Marokko. Dem dortigen Sultan diente er als Berater und Diplomat und unternahm Reisen im nördlichen Afrika bis →Timbuktu (1504–1506), verbrachte längere Zeit in →Kairo (1513–1518), von wo aus er Konstantinopel und Mekka besuchte. Auf der Rückfahrt von →Ägypten nach Marokko wurde er 1518 von span. Seeräubern gefangengenommen und Papst Leo X. als Geschenk übereignet. Er trat 1520 zum Christentum über, erlangte dadurch den Status eines freien Bürgers, nahm den Namen L. A. an und betätigte sich als Arabischlehrer, Sprachwissenschaftler und Historiograph. Berühmt wurde sein auf Italienisch verfaßtes Werk „Descrittione dell’Affrica“ von 1526, in dem er sowohl deskriptiv als auch kommentierend die Ergebnisse seiner Reisen zusammenfaßte und das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Die „Descrittione“ der in Europa seinerzeit kaum bekannten Gebiete enthält 9 Kapitel: 1. Allgemeines über Afrika, 2. Südwest-Marokko, 3. das Kgr. Fes, 4. das Kgr. Tlemcen, 5. Bougie und Tunis, 6. die südlichen Teile von Marokko, →Algerien, →Tunesien und →Libyen, 7. das Land der Schwarzen, 8. Ägypten, 9. Flüsse, Tiere, Pflanzen und Mineralien von Afrika. In den Wirren der Eroberung Roms durch Ks. →Karl V. gelang L. A. 1527 die Flucht nach Nordafrika, wo er fortan vermutlich in Tunis lebte. Offenbar wegen befürchteter Repressalien auf Grund seines vorherigen Übertritts zum Christentum vermied er die Rückkehr nach Marokko. Einzelheiten über sein weiteres Leben, sein genaues Todesjahr (vermutlich um 1556) und seinen Begräbnisort sind unbekannt. Dietrich Rauchenberger, Johannes Leo der Afrikaner. Seine Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext, Wiesbaden 1999. Natalie Zemon Davis, Leo Africanus, Berlin 2008. UL RI CH BRAUKÄMP E R León Pinelo, Antonio de, *1594 (?), † 22. Juli 1660 Madrid, □ unbek., rk. 480
L. verbrachte seine Jugend in →Buenos Aires und Córdoba (Tucumán), nachdem seine Familie 1604 nach →Amerika ausgewandert war. An der Universidad de San Marcos in →Lima studierte er die Rechte. 1618 schrieb er sich als Anwalt bei der →Audiencia von Lima ein. Auch lehrte er dort zeitweise an der Universität. 1622 kehrte er nach Spanien zurück und war dort zunächst als Anwalt beim Indienrat tätig, der während der nächsten Jahrzehnte der Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit blieb. 1629 wurde er zum „Relator interino“ ernannt, 1636 zum „Relator“, 1644 zum „Relator suplente de la Cámara de Indias“ und schließlich 1655 zum „Oidor super-numerario de la sala de justicia de la casa de contratación“. Bereits 1641 hatte der Indienrat L. für die Stelle des „Cronista de Indias“ vorgeschlagen, doch der Kg. berief nicht ihn, sondern Gil González Dávila. Erst 1658 konnte L. das von ihm lange ersehnte Amt antreten. L. hatte neben →Solórzano Pereira einen maßgeblichen Anteil daran, daß das Projekt einer großen Gesetzessammlung – der „Recopilación de las leyes de Indias“ – realisiert werden konnte. Viele Jahre verbrachte er damit, das Material zu sichten. Er wählte schließlich aus einigen hunderttausend kgl. Verordnungen 10 000 aus, die er in drei Bänden ordnete. Wirtschaftliche Schwierigkeiten verhinderten jedoch die Veröffentlichung. Erst zwei Jahrzehnte nach seinem Ableben trat die „Recopilación“ in Kraft. L. ist außerdem Autor zahlreicher innovativer Schriften, die von seinen profunden Kenntnissen der zentralen Verwaltung und der Verhältnisse in Übersee zeugen. José López Castillo, Antonio de León Pinelo, Madrid 1996. Antonio de León Pinelo, Recopilación de las Indias, 3 Bde., Mexiko-Stadt 1992. D A N IEL D A MLER Lepra. Chronische über viele Jahre bis Jahrzehnte verlaufende Erkrankung durch das Mycobacterium leprae. Dabei besteht geringe Infektiosität. Eine Ansteckung ist in der Regel nur bei langem Kontakt zu Erkrankten durch Tröpfcheninfektion möglich. Klinisch sind verschiedene Krankheitsverläufe möglich. Bei der tuberkuloiden Form stehen im Vordergrund Hautveränderungen und Hautknötchen sowie eine Zerstörung der peripheren Nerven. Die dabei auftretenden Gefühlsstörungen können Verletzungen, Geschwüre und Verstümmelungen zur Folge haben. Die L. lepromatosis entspricht einem Generalisationsstadium mit Destruktion von Knochen, Sehnen, Muskeln und auch innerer Organen. Konfluierende Leproide im Gesicht wurden als Facies leonina bezeichnet. Therapie: Chemotherapeutika. Die L. ist seit dem Altertum bekannt, die Häufung der Erkrankung in Europa im 13. Jh. steht mit den →Kreuzzügen in Verbindung. Hier ist die L. seit dem 16. Jh. verschwunden. Heute ist sie noch ein Problem v. a. in →Indien, Zentralafrika und →Brasilien. Richard Toellner (Hg.), Lepra – gestern und heute, Münster 1992. D ETLEF SEY BO LD Lesotho →Basutoland
l eti ciA k ri eg
Lesseps, Ferdinand Marie Vicomte de, * 29. November 1805 Versailles, † 7. Dezember 1894 La Chesnaye bei Guilly, Frankreich, □ Friedhof Père Lachaise, Paris, rk. Der „Promotor“ und Erbauer des →Suezkanals, frz. Diplomat und Geschäftsmann, entstammte einer angesehenen Diplomatenfamilie und brachte selbst über 20 Jahre im diplomatischen Dienst zu (1825–1849; u. a. Konsul in →Kairo, Alexandria, Rotterdam, Barcelona, Botschafter in Spanien). Während seiner Tätigkeit in →Ägypten (1832–1837) pflegte er enge Kontakte zu →Muhammad Ali (den sein Vater Mathieu de L. als Generalkonsul Napoleons beim Aufstieg zur Macht unterstützt hatte) und freundete sich mit dessen Sohn, dem späterem VizeKg. (1854–1863) Muhammad Said an. In dieser Zeit erwachte auch seine Begeisterung für das damals vieldiskutierte Projekt eines Kanals durch die Landenge von Suez, für das er sich in der Folge sehr energisch einsetzte. Maßgebliche Anregungen kamen von Louis Linant de Bellefonds („Linant Bey“), seit 1831 leitender Ingenieur der ägyptischen Bauverwaltung (1862 Generaldirektor, 1869 Minister), der mehrfach Vermessungen im Isthmus vornahm und Entwürfe für den Durchstich ausarbeitete. Am 30.11.1854 erteilte der neue Vize-Kg. Said „meinem ergebenen Freund Ferdinand de L.“ die Konzession zu Errichtung und Betrieb des Kanals. Im Dez. 1858 gründete L. die Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez („Suezkanal-Gesellschaft“). Die Bauarbeiten begannen im Apr. 1859 auf Grundlage der 1855 eingereichten, von einer internationalen Expertenkommission evaluierten und modifizierten Planungen Linants (Percement de l’Isthme de Suez: Rapport et Projet de la Commission Internationale. Paris 1856). Politische Widerstände (die Briten befürchteten frz. Kontrolle über „ihre“ Route nach →Indien) und finanzielle Engpässe konnte L. mit diplomatischem Geschick und dank weitreichender Kontakte (u. a. zu Ks.in Eugénie, seiner Großcousine) überwinden. Indem er Said zu einer Kapitalbeteiligung in Höhe von 80 Mio. Franc (44 %) an der Compagnie überredete, legte er freilich auch den Grundstein für den finanziellen Ruin Ägyptens (1876 Staatsbankrott). Der erfolgreiche Abschluß des Unternehmens (Nov. 1869) verschaffte L. weltweite Anerkennung (1873 Mitglied der Académie des Sciences und 1885 der Académie française), während Linant Bey – heute oft als eigentlicher „Vater“ des Suezkanals betrachtet – allmählich in Vergessenheit geriet. Weniger glücklich endete L.s Kanal-Projekt in →Panama (1879–1889). Geographische, technische und finanzielle Schwierigkeiten, Mißmanagement und Korruption sowie der massive Widerstand der →USA führten 1889 zum Bankrott der Kanalgesellschaft, was in Frankreich den (durch innenpolitische Querelen angeheizten) „PanamaSkandal“ auslöste (1888–1893). Alter und hohes Ansehen bewahrten L. vor ernsteren strafrechtlichen Konsequenzen. Ghislain de Diersbach, Ferdinand de Lesseps, Paris 1998. Ferdinand von Lesseps, Entstehung des Suezkanals, Berlin 1888. G. Barnett Smith, The Life and Enterprises of Ferdinand de Lesseps, London 1893. L OT HAR BOHRMANN
Lessona, Alessandro, * 9. September 1891 Rom, † 10. November 1991 Florenz, □ unbek., rk. It. Faschist, der sich am Marsch auf Rom 1922 beteiligte und Mitglied der Reg.spartei Partito Nazionale Fascista (PNF) war. In den 1920er Jahren unterstützte er die Reg. Benito Mussolinis bei dessen Albanien-Politik. Von 1929–1936 war er Unterstaatssekretär im Kolonialministerium, von 1936/37 Minister für It.-Afrika. 1936 gründete er das koloniale Polizeikorps (→Polizei) unter Beteiligung von →Askari. Das Polizeikorps wurde später Polizeikorps It.-Afrika bzw. „Corpo di polizia dell’Africa italiana“ (PAI) genannt. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit →Äthiopien und den anschließenden Versuchen einer Befriedung des Landes war er aktiv im Einsatz und wurde wegen seines brutalen Vorgehens bekannt. Er stand in Opposition zu Rodolfo →Graziani, dem Oberbefehlshaber in It.-Ostafrika, und berichtete Mussolini gegenüber negativ über ihn. 1938 wurde L. seines Amtes enthoben. 1948 gehörte L. zu den zehn Personen, die von Äthiopien als Hauptkriegsverbrecher beschuldigt wurden. Er sollte der Beihilfe zum Massenmord (systematischer Einsatz von Giftgas, gezieltes Bombardement von Spitälern, systematischer Terrorismus, →Deportation und Internierung von Zivilisten) angeklagt werden. Da er nicht persönlich an den Verbrechen teilgenommen hatte, blieb er von der Anklage ausgenommen. 1945–1961 lebte der bald rehabilitierte L. als Prokonsul in Albanien. Später wurde er Ordinarius für Kolonialgeschichte an der Universität in Rom. Alessandro Lessona, L’Africa settentrionale nella politica mediterranea, Rom 1942. Ders., Memorie, Florenz 1958. Ders., Un ministro di Mussolini racconta, Mailand 1973. A LK E D O H RMA N N Leticiakrieg. Der sog. L. zwischen →Peru und →Kolumbien 1932/33 ging auf einen typischen →Grenzkonflikt zurück. Seit dem Ende der Kolonialzeit rangen die beiden Nachbarstaaten um den Grenzverlauf im Amazonasbecken (→Amazonas). Am 2.9.1932 besetzten 300 bewaffnete peruanische Staatsbürger, den strategisch wichtigen Amazonashafen Leticia, der seit 1928 formell zu Kolumbien gehörte. Die peruanische Reg. unter dem mestizischen Caudillo (→Caudillismo) Luis Miguel Sánchez Cerro (1930–1933) war offenbar nicht über diese Aktion informiert worden. Sie bekannte sich in der Folge nie zu dem Überfall, rang sich aber auch nicht zu einer deutlichen Verurteilung durch und schickte vielmehr die Armee zur Durchsetzung der peruanischen Interessen in das Urwaldgebiet. Die von den Besetzern verlangte Revision des 1928 in Kraft getretenen Lozano-SalomónVertrages, der den Fluß Putu mayo zur Grenze zwischen beiden Staaten erklärte, wurde in Peru vielerorts gutgeheißen. Der Überfall auf Leticia hätte sich ohne die spezifische soziopolitische Lage, in der sich Peru befand, kaum zu einem zwischenstaatlichen Konflikt ausweiten können. Die Situation der Exportsektoren war kritisch, hauptsächlich, weil der Weltmarktpreis für →Zucker, der seit 1923 gefallen war, auf Grund der internationalen Absatzkrise noch stärker nachgab. Die Unterschichten litten unter sinkenden Löhnen und Arbeitslosigkeit; in den Mittel- und Oberschichten gärte es. Daher verlor Augusto B. 481
l e t tow- vor b e c k , PA u l v o n
Leguía, der langjährige Präs. Perus, im Sept. 1930 sein Amt durch einen von Sánchez Cerro angeführten Militärputsch. Ein Großteil der alten Wirtschaftseliten, das Militär und die Kirche unterstützten die Putschisten. Von Sánchez Cerro erhofften sie, daß er den Aufstieg der linkspopulistischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) aufhalten würde. Unter dem Motto „patria en peligro“ ging der Haudegen nicht nur rigoros gegen die APRA vor, sondern hieß auch die militärische Kampagne peruanischer Truppen am Amazonas gut. Für den liberalen kolumbianischen Präs. Enrique Olaya Herrera stellte sich die Ausgangslage anders dar. Nachdem sie sich jahrelang nicht am Wahlprozeß beteiligt hatten, stellten die Liberalen 1930 erstmals wieder einen Präs. Olaya Herrera verstand es, hinsichtlich des Angriffs auf Leticia einen Schulterschluß aller politisch relevanten Kräfte herzustellen. Anfang 1933 entschied er sich zu einem Vorstoß im →Völkerbund in Genf. Die Genfer Organisation sollte Peru als Aggressor verurteilen und das verletzte Völkerrecht wiederherzustellen. Peru stand mit der Auffassung, die Grenzen seien noch nicht definitiv gezogen, auf verlorenem Posten. Außerdem griff die kolumbianische Armee, die ebenso wie die peruanische hastig aufgerüstet worden war, peruanische Stellungen im umstrittenen Gebiet an. Der überforderte Gegner zog sich, ohne große Menschenverluste, zurück. Aber erst als am 30.4.1933 Sánchez Cerro einem Attentat durch einen jungen APRA-Anhänger erlag, favorisierten nun auch die peruanischen Führungsgruppen Verhandlungen zur raschen Beendigung des Konfliktes. Damit konnte der Angriff der kolumbianischen Armee auf Leticia in letzter Minute abgewendet werden. Am 25. Mai unterzeichneten in Genf beide Seiten den Friedensvorschlag des Völkerbundrates. Kolumbien erreichte dabei die Bestätigung des Lozano-Salomón-Vertrages und erhielt die volle Souveränität über das Leticia-Territorium zurück. Bis zur Aushandlung eines endgültigen Friedensvertrages sollte eine Völkerbundkommission die Administration des umstrittenen Gebietes übernehmen. Im Mai 1934 folgte ein bilateraler Friedensvertrag, der unter brasilianischer Schirmherrschaft ausgehandelt wurde. Seit dem Ende dieses Grenzkrieges sind die kolumbianisch-peruanischen Beziehungen zwar nicht von größter Freundlichkeit, jedoch von einem gewissen Pragmatismus geprägt. Alberto Donadio, La Guerra con el Perú, Bogotá 1995. Fabián Herrera, La política mexicana en la Sociedad de Naciones ante la Guerra del Chaco y el Conflicto de Leticia 1932–1935, Mexiko-Stadt 2009. Juan Camilo Restrepo / Luis Ignacio Betancur, Conflicto Amazónico 1932 / 1934, Bogotá 2001. T HOMAS F I S CHE R Lettow-Vorbeck, Paul von, * 20. März 1870 Saarlouis, † 9. März 1964 Hamburg, □ Vicelinfriedhof in Pronstorf, ev.-luth. L. stammte aus einer traditionellen Offiziersfamilie. Er trat im Febr. 1888 als Fähnrich in die preußische Armee ein und machte schnell Karriere. Im Sommer 1900 meldete sich L. freiwillig nach China, um an der Niederschlagung des →Boxeraufstands mitzuwirken. Vier Jahre später ließ sich der inzwischen zum Hauptmann beförderte Offizier nach →Dt.-Südwestafrika verset482
zen und kämpfte dort bis zu seiner Rückkehr im Sept. 1906 gegen die aufständischen Herero und Nama (→ Herero-Nama-Aufstand). 1913 bewarb er sich erneut um eine Verwendung in Übersee. Zunächst als Kommandeur für die →Schutztruppe von →Kamerun vorgesehen, erhielt er statt dessen im Apr. 1914 das Kommando über die Kolonialtruppe in →Dt.-Ostafrika. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs mobilisierte L. alle Ressourcen des Landes und führte gegen den Willen des →Gouv.s Heinrich →Schnee einen totalen Krieg, um möglichst viele alliierte Soldaten vom Einsatz auf den Schlachtfelder Europas fernzuhalten. Selbst nach der vollständigen →Eroberung Dt.-Ostafrikas im Nov. 1917 verweigerte er eine Kapitulation und trug den Krieg in die benachbarten Kolonien. Erst als er vom Abschluß des Waffenstillstands in Europa erfuhr, stellte L. am 14.11.1918 den Kampf ein. Er kehrte als gefeierter Kriegsheld nach Deutschland zurück. Im Sommer 1919 schlug L. im Auftrag der neuen Reg. revolutionäre Unruhen in Hamburg nieder. Wegen seiner Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde er im Okt. 1920 aus der Reichswehr entlassen. Auf Grund seiner Popularität avancierte L. in der Weimarer Rep. zu einer Symbolfigur des →Kolonialrevisionismus. Er engagierte sich auch parteipolitisch und saß von 1928 bis 1930 für die Deutschnationale Volkspartei im Reichstag. Die Machtergreifung Adolf Hitlers betrachtete L. mit gewissem Wohlwollen, da er sich mit vielen Zielen der Nationalsozialisten identifizieren konnte. Allerdings widerstand er allen Aufforderungen zum Beitritt in die NSDAP. Trotz seiner antidemokratischen Einstellung genoß L. auch in der Bundesrepublik hohes Ansehen. Nach seinem Tod im März 1964 gewährte ihm die Bundeswehr ein Begräbnis mit militärischen Ehren, bei dem Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (* 1913 in Dt.-Ostafrika) die Trauerrede hielt. Bis heute gilt L. vielen als genialer Feldherr, der sich auf Grund seiner geschickten und ritterlichen Kriegführung in Ostafrika sogar als Vorbild für die Bundeswehr eignet. Übersehen wird dabei, daß unter L.s letztendlich sinnlosem Ausharren v. a. die afrikan. Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Schätzungen gehen von 500 000 bis 1 Mio. Toten aus. Viele starben an Entkräftung und Krankheiten, denn die Schutztruppe zwang selbst alte Männer, Frauen und Kinder zu Trägerdiensten. Andere verhungerten, weil L. alle Lebensmittel requirieren ließ, um seine Soldaten verpflegen zu können. Paul von Lettow-Vorbeck, Mein Leben, Biberach an der Riss 1957. Eckard Michels, „Der Held von Dt.-Ostafrika“, Paderborn 2008. Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Ks. und Führer, Berlin 2006. TH O MA S MO RLA N G
Leutwein, Theodor, * 9. Mai 1849 Strümpfelbrunn, † 13. April 1921 Freiburg i. Br., □ Hauptfriedhof Freiburg i. Br., ev.-luth. Nach einer Militärlaufbahn wurde L. (als Major) im Dez. 1893 zur Dienstleistung beim Auswärtigen Amt kommandiert. Auf Vorschlag des mit ihm befreundeten Obersten E. →Liebert erhielt er ein Jahr später von Reichskanzler →Caprivi den Auftrag, den Witbooi-Krieg in Südwestafrika zu beenden und die Landeshauptmann-
ley es d e bu rg o s
schaft zu übernehmen. Am 15. 9.1894 konnte er den Nama-Kapitän Hendrik →Witbooi nach der Erstürmung von dessen Hauptfestung Naukluft zur Anerkennung der dt. Schutzherrschaft bewegen. Durch die Errichtung neuer, mit kleinen Truppenabteilungen besetzter Stationen und nicht zuletzt durch seine konziliante Behandlung der Unterworfenen vermochte er schließlich im gesamten →Schutzgebiet die dt. Oberherrschaft zur Anerkennung zu bringen. Am 27.6.1895 wurde L. definitiv zum Landeshauptmann ernannt, und seit dem 10.11.1897 war er gleichzeitig Kommandeur der →Schutztruppe. 1898 erhielt er den Titel →Gouv., 1899 wurde er Oberstleutnant, 1901 Oberst und 1905 charakterisierter Generalmajor. Persönlich setzte er 1898 im Reichstag den Bau der Bahnlinie vom Hafenort Swakopmund nach Windhuk durch, die 1902 eröffnet wurde. Neben der wirtschaftlichen Förderung der Kolonie bemühte er sich gleichzeitig um eine auf Rechtssicherheit und „Vertrauen“ beruhende Behandlung der Einheimischen, wobei er von der – auf mittelalterlichen Vorbildern beruhenden – Vorstellung von einer dt. Oberhoheit auf der Basis eines allg. Landfriedens ausging („System L.“). Schwere Mißstände wie die Alkoholeinfuhr und das von Händlern praktizierte Kreditwesen (mit anschließender Haftung der Stämme) suchte er zu beheben, mußte sich jedoch meist mit Kompromissen gegenüber den radikalen Siedler- und Händlerinteressen begnügen. Nach Ausbruch des →HereroNama-Aufstandes 1904 mußte der moderate L. Mitte Juni 1904 das Kommando der Truppen an General v. Trotha abgeben, im Nov. 1904 auch die Gouv.sgeschäfte. Er wurde beurlaubt und in den Ruhestand versetzt, den er in Freiburg i. Br. und Überlingen am Bodensee verbrachte. Q: Theodor Leutwein, Elf Jahre Gouv. in Dt.-Südwestafrika, 1906. L: Helmut Bley, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Dt.-Südwestafrika 1894–1914, Hamburg 1968. NDB 14, 1985, 387f. HORS T GRÜNDE R Lewis & Clark Expedition (14.5.1804–23.9.1806). Eine von den US-Veteranen Meriwether Lewis (* 18. August 1774, † 11. Oktober 1809) und William Clark (* 1. August 1770, † 1. September 1838) angeführte Erkundungsreise in den pazifischen Nordwesten der →USA; sie war unabhängig vom →Louisiana Purchase geplant worden, doch erhielt sie durch den Kauf Louisianas 1803 eine neue Bedeutung, weil sie durch einen Teil des in seiner geographischen Erstreckung und Beschaffenheit noch weitgehend unbekannten neuen US-Territoriums führte. Das fast fünfzigköpfige „Corps of Discovery“ brach am 14.5.1804 von St. Louis auf, folgte dem Missouri bis zu dessen Quelle, überquerte im Aug. 1805 die Rocky Mountains am Lehmi Paß und folgte jenseits der kontinentalen Wasserscheide dem Verlauf des Clearwater, des Snake und des Columbia-Flusses bis zum Pazifik, den sie am 18.11.1805 erreichte. Ende März 1806 trat die E. von dort aus den Rückweg an und erreichte St. Louis am 23.9.1806. Die E. vermehrte das geographische, zoologische, botanische und völkerkundliche Wissen über das Landesinnere Nordamerikas nachhaltig, und begründete den US-am. Anspruch auf den pazifischen Nordwesten.
Stephen Ambrose, Undaunted Courage, New York 1996. Landon Y. Jones, William Clark and the Shaping of the West, New York 2004. V O LK ER D EPK AT L’exclusif. Ein Bündel von ins 17. Jh. zurückreichenden Gesetzen und Erlassen der frz. Krone zur Regulierung des frz. Kolonialhandels; danach durften an diesem nur frz. Schiffe beteiligt werden, alle koloniale Waren mußten über Frankreich exportiert und alle nicht-frz. Waren über Frankreich importiert werden. Allerdings wurden von diesen letzten Bestimmungen nach 1717 in einer Reihe von Fällen auf Drängen der Kolonien Ausnahmegenehmigungen erteilt. Erlasse von 1723, 1727, 1730, 1738, 1741 und 1748 erlaubten den direkten Import irischen Schweinefleisches und befreiten eine Reihe anderer, insb. von den frz. →Westind. Inseln dringend benötigter Versorgungsgüter von der domaine d’occident, dem seit 1727 erhobenen Zoll von zunächst 3, später 3,5 % des Warenwertes, dem ansonsten alle Im- und Exporte in die Kolonien unterlagen. Koloniale, aber für den Reexport bestimmte Waren, endlich bis 1717 auch solche Waren, die aus anderen Ländern über Frankreich in die Kolonien exportiert wurden, waren von allen anderen Zöllen befreit, vorausgesetzt, daß diese Waren nicht in Frankreich selbst hergestellt wurden. Das Edikt von 1717 unterwarf jedoch diese Warengruppe gleichfalls der domaine d’occident. Innerhalb weniger Jahre wurden Fleischprodukte (wiederum v. a. irisches Schweinefleisch) von dieser Regel ausgenommen. Wie in England wurden überdies koloniale Produkte, von denen →Pelze aus Nordamerika und →Zucker, →Tabak, →Kaffee und Indigo von den Westind. Inseln die wichtigsten waren, mit einer Reihe anderer Zölle belastet. Die weitreichendste Änderung betraf hier den Zoll auf Zucker, der 1724 stark ermäßigt wurde, um seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem engl. und brasilianischen Zucker zu verbessern. Insg. erwies sich bei gleicher Zielsetzung das frz. Handelsregulierungswerk als deutlich flexibler als das engl. Ihrer Wirkung nach unterschieden sie sich dagegen kaum voneinander. Schmuggel war auch im frz. Kolonialhandel ein großes Problem. F. Bosher, Business and Religion in the Age of New France 1600–1760, Toronto 1994. James S. Pritchard, The Pattern of French Colonial Shipping to Canada before 1760, in: Revue française d’histoire d’óutre-mer 63 (1976), 189–210. Allana G. Reid, Intercolonial Trade During the French Régime, in: Canadian Historical Review 32 (1951), 236–251. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Leyenda negra →Kolonialschuld Leyes de Burgos. Als L.d.B., Gesetze von Burgos, werden die Reales Ordenanzas dadas para el buen regimiento y tratamiento de los indios, erlassen in Burgos am 27.12.1512, sowie deren Ergänzung, die Declaración y moderación de ellas (Valencia, 28.7.1513) bezeichnet. Dem Erlaß der 35 bzw. 12 Vorschriften enthaltenden Gesetze gingen zwei Versammlungen von Geistlichen und Mitgliedern des bis 1524 für die Neue Welt zuständigen Kastilienrates voraus, auf denen – ausgelöst durch die 483
l e ye s nue vA s
Adventspredigten des Dominkaners Antonio de Montesinos in Santo Domingo (→koloniale Metropolen) 1511 – über die Behandlung und die Rechtsstellung der indianischen Bevölkerung beraten worden war. In diesem Zusammenhang entstanden auch die bekannten Schriften von Juan López de Palacions Rubios und Matías de Paz. Inhaltlich werden in den L. Fragen der Kirchenorganisation und Mission, die Ansiedlung und Unterbringung, Versorgung, Erziehung, Verhaltensregeln sowie besondere Rechte von Frauen, Kindern und indianischen Adligen geregelt. Besonders umstritten waren die Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Encomenderos und die Bedingungen der Minen-, Land- und sonstiger →Zwangsarbeit. Insg. gingen die L. kaum über die bereits im Wege der Einzelnormsetzung festgelegten Rechte und Pflichten hinaus, insb. wurden weder die schon seit ihrer Einrichtung umstrittene →encomienda noch das System der →repartimientos, also die Zuteilung von Indianern zu Zwecken der Arbeitsleistung, abgeschafft, obwohl diese in einer unübersehbaren Spannung zu der gleichzeitigen Proklamation des Grundsatzes der Freiheit der Indianer standen. Die Zusätze in der Declaración y moderación von 1513 sind der Versuch, durch kleine Konzessionen auf die dagegen vorgebrachte Kritik einzugehen. Die L. sind v. a. von Bartolomé de →Las Casas, dessen Historia indiana lange Zeit die einzige Quelle für die Historiographie war, heftig kritisiert worden. Von anderer Seite wurde dagegen auf die Bedeutung der Tatsache der Zusammenstellung dieser Normen und ihrer Publikation hingewiesen. Faksimile und Transkription bei Antonio Muro Orejón, Ordenanzas Reales sobre los indios (las Leyes de 1512– 13), in: AEA XIII (1956), 418–449 mit anschließender Analyse, ebd. 450–471. T HOMAS DUVE Leyes Nuevas (span. für Neue Gesetze). Als L.N. werden die 40 bzw. 6 Bestimmungen enthaltenden, am 20.11.1542 und 4.6.1543 erlassenen Gesetze bezeichnet, mit denen die Ergebnisse der persönlichen Visitation des Indienrates durch Karl I. (d. i. Ks. →Karl V.) 1542 und dieser vorhergehende Überlegungen zu einer grundlegenden Neuordnung der Reg. über die Neue Welt umgesetzt wurden. Die Maßnahmen betrafen den Indienrat selbst, die Schaffung des →Vize-Kgr.s →Peru, die Aufhebung der →Audiencia von →Panama, Zuständigkeiten und den Verfahrensgang in den Audiencias; die Ordenanzas der Audiencias von Valladolid und Granada wurden für subsidiar anwendbar erklärt. Besondere Bedeutung erlangten die cap. 20–40, die sich auf die Behandlung und Rechtsstellung der indianischen Bevölkerung bezogen. Hier wurden die Aufsichtspflichten der Audiencias in Bezug auf die Lage der indianischen Bevölkerung verschärft, Indianer sollten auf keinen Fall versklavt oder zu Arbeiten gezwungen werden dürfen, sie sollten angemessen bezahlt und behandelt werden. →Encomiendas von kirchlichen Einrichtungen, Amtsträgern oder solchen, die keinen hinreichende Erwerbstitel vorlegen konnten, sollten unverzüglich an die Krone übertragen, besonders große Encomiendas reduziert, Mißhandlung der Indianer mit dem Entzug der Encomienda bestraft werden. V. a. sollten keine neuen Encomiendas vergeben und die be484
stehenden nicht mehr vererbt werden können – was eine sukzessive Abschaffung dieses Instituts bedeutet hätte (cap. 30). Der Versuch, diese Gesetze umzusetzen, führte v. a. in Peru zu einer offenen Rebellion und einer schweren politischen Krise. Am 20.10.1545 wurde deswegen das entscheidende cap. 30, in der Folgezeit auch weitere die Encomiendas betr. Regelungen derogiert. Guillermo Lohmann Villena, Las ideas jurídico-políticas en la rebelión de Gonzalo Pizarro, Valladolid 1977. José Sánchez-Arcilla Bernal, Las Ordenanzas de las Audiencias de Indias (1511–1821), Madrid 1992. Ernesto Schäfer, El Consejo Real y Supremo de las Indias, Bd. 2, Madrid 22003. TH O MA S D U V E Liautey, Hubert, * 17. November 1854 Nancy, † 27. Juli 1934 Thorey, □ Invalidendom, Paris, rk. Aus Offiziersfamilie stammend, erhielt L. 1871–1873 seine Ausbildung an der École Militaire Speciale de Saint-Cyr. Anschließend diente er als Unterleutnant in →Algerien, wurde 1876 Oberleutnant und 1883 Hauptmann. 1894 wurde er als Major nach →Frz.-Indochina versetzt, wo er 1896/1897 Militärberater des Gen.-gouv.s war. Nachdem er ab 1897 als Regimentskommandeur auf →Madagaskar gedient hatte und 1900 zum Oberst befördert worden war, diente er ab 1903 im Generalsrang in →Marokko. Nach Errichtung des frz. →Protektorats (Konvention von Fez) Apr. 1912 wurde er Generalresident, was er mit kurzzeitigen Unterbrechungen bis Aug. 1925 blieb. Die Modernisierung, die Marokko im ersten Jahrzehnt der Protektoratsperiode erfuhr, schrieb sich L. in hohem Grad selbst zu. Er veranlaßte, daß er in den Schulbüchern Marokkos als „Vater des modernen Marokko“ gefeiert wurde. In seiner Amtszeit kam es zu Aufständen der Landbevölkerung, gegen die er mit großer Härte vorging. Daher rührt seine negative Beurteilung im →Maghreb. Vom 12.12. 1916 bis 14.3.1917 war er frz. Kriegsminister. Von diesem Posten wurde er wegen des ausgebliebenen Erfolgs der Somme-Schlacht abberufen. 1921 ernannte Staatspräs. Millerand ihn zum Marschall von Frankreich und zeichnete ihn mit dem Großkreuz der Ehrenlegion aus. L. verfaßte mehrere Bücher, in denen er seine militärische Tätigkeit in Übersee schilderte. Ihr historischer Wert gilt als gering. G ERH A R D H U TZLER Liberia. Die Entstehung der ersten Kolonie an der westafr. Küste Anfang des 19. Jh.s geschah im Rahmen der Rücksiedlungsprojekte am. philanthropischer Institutionen. Nach ihrer Gründung 1816 stellte die American Colonization Society (ACS) Finanzmittel zur Verfügung für die Rückkehr der befreiten afroam. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) nach Westafrika. 1820 ging die erste Expedition nach →Sierra Leone. Weitere Expeditionen gingen nach Cape Mesurado. Mit der Verstärkung der Zahl der Kolonisten entstand dort die Gruppe der Libero-Amerikaner. 1824 bekam die Kolonie den Namen L., und Cape Mesurado wurde zu Ehren von James →Monroe, dem damaligen US-Präs. und Vorsitzenden der ACS, in →Monrovia umbenannt. Bis zur formalen Erklärung der Unabhängigkeit 1847 wurde die Kolonie im Auftrag der ACS verwaltet. L. sollte als Beispiel für die Modernisierung Afrikas dienen. Die politischen In-
li eber, fr A n z
stitutionen wurden nach dem Modell des am. PräsidialSystems geformt. In Wirklichkeit war das liberianische System eine präsidiale Autokratie. Ab 1884 wurde die Politik von der libero-am. Oligarchie und The True Whig Party dominiert. Im Apr. 1980 endete diese Hegemonie durch einen Militärputsch und die Hinrichtung des Präs. William Tolbert. Samuel Doe regierte bis zum Bürgerkrieg zwischen 1989 und 1996. Nach seiner Ermordung und den Präsidentschaftswahlen von 1997 wurde der Rebellenchef Charles Taylor Staatsoberhaupt. 2003 trat Taylor von dem Amt zurück und ging ins Exil nach →Nigeria, nachdem die Vereinten Nationen gegen ihn einen Haftbefehl ausgestellt hatten. 2005 wurde er im Spezialgefängnis der UNO in Den Haag inhaftiert. Taylor muß sich u. a. für Kriegverbrechen in Sierra Leone und den Einsatz von Kindersoldaten verantworten. D. Elwood Dunn, Amos Jones Beyan, Carl Patrick Burrowes, Historical Dictionary of Liberia, Lanham 2001. Martin Lowenkopf, Politics in Liberia, Stanford 1976. YOUS S OUF DI AL L O
Libreville. Hauptstadt →Gabuns und größte Stadt des Landes und zugleich Hauptstadt der Provinz Estuaire. Die Stadt liegt an der Corisco-Bucht, der Mündung des Mbé in den Golf von →Guinea. L. (578 156 Ew.) befindet sich in der tropischen Klimazone (→Klima) mit hohen Niederschlägen. Die Bevölkerung von L. ist seit der Unabhängigkeit 1960 (30 000 Ew.) bis heute (ca. 570 000 Ew.) stark angewachsen. Das Mündungsgebiet des Mbé wurde 1839 von den Franzosen erworben. 1843 wurde Fort Aumale als Marinestützpunkt angelegt. L. wurde 1849 als Siedlung für freigelassene Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) gegründet, hieß zunächst Gabun und erhielt nach dem Vorbild von →Freetown ihren Namen. Die Stadt wurde 1886 Verwaltungssitz der Provinz Gabun und nach der Unabhängigkeit Gabuns 1960 die Hauptstadt des neuen Staates. L. verfügt über einen internationalen Flughafen, einen bedeutenden Hafen und ist durch Transgabonais-Eisenbahn, die für den →Transport von Mangan- und Eisenerzvorkommen angelegt wurde, mit Franceville im Südosten des Landes verbunden. Die Stadt ist Sitz zahlreicher Bildungseinrichtungen. Dazu gehören u. a. die 1970 gegründete Université Omar Bongo (UOB), die Université des Sciences de la Santé, die Omar Bongo Ondimba Technical School sowie die Nationalbibliothek. Henry Bucher, Liberty and Labor. The Origins of Libreville Reconsidered, in: Robert Harms, J. Miller (Hg.), Paths Toward the Past, Atlanta 1994, 259–272. Guy Lasserre, Libreville, Paris 1958. David Patterson, The Northern Gabon Coast to 1875, Oxford 1975. T I L O GRÄT Z
Libyen. Das aus den alten Kulturlandschaften →Tripolitanien, Cyrenaika und →Fezzan zusammengesetzte Land ist mit 1,7 Mio. km2 flächenmäßig der viertgrößte Staat Afrikas, besteht aber zu 90 % aus Sand-, Stein- und Geröll-Wüste. Der bebaubare schmale Küstenstreifen wurde im Osten von Griechen, im Westen von →Phönikern kolonisiert. Von der Zeit als römische Provinz (Cyrene, Africa Proconsularis) zeugen die Ruinen von
Sabratha und Leptis Magna. Ab 647 begannen Arabisierung und Islamisierung. Seit dem 16. Jh. gehörte L. zum →Osmanischen Reich, bis es 1911/12 it. Kolonie wurde. Italien verwirklichte v. a. nach 1934 groß angelegte Besiedlungs- und Entwicklungspläne. Gegen die alte wie die neue Fremdherrschaft opponierte der 1837 gegründete Orden der →Senussi. Ein Enkel des Gründers wurde 1951 als Idris I. zum Kg. des unabhängigen L. gekrönt. 1969 stürzte ihn das Militär. Bis 2011 regierte Oberst Muammar al-Gaddafi das Land, das er zur Sozialistischen Libysch-Arab. Volksrep. (al-dschamâhîriyya al-’arabiyya al-lîbiyya asch-scha’biyya al-ischtirâkiyya al-udhma) umbaute. Die Bevölkerung von fast 6 Mio. setzt sich aus ortsansässigen →Berbern, vor Jh.en eingewanderten →Arabern (darunter ca. 5 % Vollnomaden), Nachkommen osmanischer Türken (Kulughli) sowie →Tuareg im Südwesten und Tebu im Südosten zusammen. In jüngerer Zeit kamen über eine Mio. Arbeitsmigranten, vornehmlich aus →Tschad, →Sudan und →Ägypten, nach L., da die Erschließung der ergiebigen Öl- und Gasvorkommen viele Arbeitsplätze, gute Löhne und attraktive Sozialleistungen erlaubt. Die Einkünfte aus der verstaatlichten Petroindustrie werden u. a. in gigantische Agrarprojekte mitten in der Wüste investiert, wozu auch das größte Förderprogramm fossiler Süßwasserreserven, das Great-Man-Made-River-Project (GMMR) gehört. Eine exzellente Infrastruktur verbindet die Zentren →Tripolis und Benghasi mit den Wüstenmetropolen Ghat und Kufra. Das Öl (3 % der Weltreserven) wird über die Tankerhäfen Marsa al-Brega, Es-Sider, Ras Lanuf, Zueitina, Marsa Al-Hariga und Zawiyah exportiert. 97 % der Libyer bekennen sich zum sunnitischen →Islam. Daneben gibt es noch wenige Tausend Katholiken, während die Juden nahezu gänzlich ausgewandert sind. Ahmed M. Ashiurakis, About Libya, Tripolis 1973. Heinrich Schiffers, Libyen, Berlin 1975. BER N H A R D STREC K
Lieber, Franz (Francis), * 8. April 1798 Cölln (Berlin), † 2. Oktober 1872 New York, □ Woodlawn Cemetery, Bronx / NY, ev.-luth. Publizist, Historiker, Politologe; gehörte zu den Meisterschülern von Friedrich Ludwig Jahn, dessen Turnveranstaltungen auf der Berliner Hasenheide L. ab 1811 mit seinen älteren Brüdern besuchte. 1815 meldete er sich freiwillig zum Militär und wurde in Flandern im Kampf gegen die Truppen Napoleons verletzt; dieses traumatische Erlebnis beeinflußte seine späteren beruflichen Interessen stark. Der Kriegsheimkehrer fand sich im Frieden zunächst nicht zurecht, scheiterte in der Schule, dem berühmten Grauen Kloster in Berlin, geriet auf Grund unreflektierter politischer Äußerungen während der Demagogenhysterie in Mißkredit bei der preußischen Staatspolizei und wurde 1818 in Spandau und 1824/25 in Köpenick inhaftiert; nach einem Studium der Mathematik in Jena und Halle und obskuren Revolutionsplänen nahm der Freund der Fellau-Brüder kurzfristig an dem Griechenlandkrieg gegen die Türken teil (1822), arbeitete 1822/1823 als Hauslehrer bei dem gefeierten Diplomaten in preußischen Diensten und Althistoriker 485
l i e b e rt, e d u A r d v o n
Barthold Georg Niebuhr in Rom. Versuche als Literat, Poet und Dramenverfasser in Berlin Fuß zu fassen, scheiterten trotz wohlmeinender Freunde und Bekannten wie Adelbert →Chamisso, Eduard Hitzig und Carl Knoblauch; L. nahm kurzzeitig dank eines staatlichen Stipendiums ein Studium in Halle auf (1824), arbeitete als Journalist, Italienischlehrer und Hauslehrer bei dem preußischen Landadel, ehe er sich mit Hilfe Berliner und Hamburger Freunde im Mai 1826 nach London aufmachte, um dort wieder in den früher ausgeübten, wenig von ihm geschätzten Berufssparten tätig zu werden. Dank seiner Turnkenntnisse und Kontakte zu reformfreudigen Kreisen in London bekam er 1827 eine Anstellung als Schwimm- und Turnlehrer in →Boston, die er nur kurzzeitig ausübte und die dabei angeknüpften Kontakte zu der intellektuellen Elite von Boston und Cambridge zielstrebig für die eigene Berufskarriere einsetzte. Der Job eines Auslandskorrespondenten für das Stuttgarter Verlagshaus Cotta reichte ihm nicht; zwischen 1828 und 1833 publizierte er die Encyclopedia Americana (13 Bde.), eine Übersetzung der 7. Auflage des BrockhausLexikons, das L. durch zusätzliche eigene Einträge und Beiträge bekannter Autoren wie Joseph Story, Alexander von →Humboldt oder Edward Everett, Veränderungen und Auslassungen US-am. Vorstellungen von Allgemeinwissen anzupassen suchte. Dank intensiver atlantischer Netzwerkarbeit erhielt L. 1835 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Geschichte und Staatslehre an das South Carolina College in Columbia; eine mögliche Berufung nach Preußen 1844 lehnte er aus finanziellen und politischen Gründen ab; erst 1856 konnte er den verhaßten Süden verlassen, als er den Ruf auf einen Lehrstuhl an der Columbia University in New York City annahm. Offiziell ein Gegner der →Sklaverei hatte er in South Carolina Sklaven als Eigentum beansprucht, gekauft und verkauft und investierte in die Zuckerrohr- (→Zucker) und Tabakplantagen (→Tabak) seiner Schwager auf Puerto Rico, die mit Hilfe von ca. 80 Sklaven bewirtschaftet wurden. Während des →Am. Bürgerkriegs griff er mit Texten in öffentliche Debatten ein und suchte seine dt.-sprachigen Landsleute für Abraham →Lincoln und dessen Ziele zu gewinnen. Der Nord-Südkonflikt betraf ihn und seine aus Hamburg stammende Frau Mathilde unmittelbar: Ihr ältester Sohn Oskar Montgomery kämpfte und starb im Juli 1862 auf der Seite der Konföderierten, während die beiden jüngeren Söhne wie die Eltern sich aktiv an der Sache der Union beteiligten. Neben einem umfangreichen journalistischen, belletristischen, biographischen und wissenschaftlichen Werk und einer weitgespannten atlantischen Korrespondenz mit einflußreichen Zeitgenossen hat L. wichtige Spuren hinterlassen: zum einen den 1862/63 formulierten Code 100, der die Grundlage der →Genfer Konvention bildete, zum anderen seine Arbeiten zur Gefängnisreform, sein Programm zur Bildung des Girard College in Philadelphia und zum internationalen Copyright. Claudia Schnurmann, Brücken aus Papier. Atlantischer Wissenstransfer in dem Briefnetzwerk des dt.-am. Ehepaars Francis u. Mathilde Lieber, 1827–1872, Berlin u. a. 2014. CL AUDI A S CHNURMANN 486
Liebert, Eduard von (seit 1900), * 16. April 1850 Rendsburg, † 14. November 1934 Tscheidt, □ unbek., ev.-luth. Nach dem Besuch der Kriegsakademie und einer Tätigkeit als Taktiklehrer an der Kriegsschule Hannover wurde L. 1881 in den Großen Generalstab kommandiert. Früh kam er mit namhaften Kolonialpionieren und führenden Kolonialpolitikern in Kontakt. 1890 wurde er im Auftrag →Bismarcks nach Ostafrika geschickt, um über die Wissmannsche Expedition zu berichten. Nach seiner Beförderung zum Oberst und zum Kommandeur des Grenadier-Rgt. Nr. 12 in Frankfurt/Oder (1894) erfolgte am 3.12.1896 die von ihm ersehnte Ernennung zum →Gouv. von →Dt.-Ostafrika. Seine Bemühungen waren auf die „völlige Befriedung des Landes“, die Besiedlung der Hochländer durch dt. Einwanderer und die wirtschaftliche Nutzung der Kolonie (1897 Einführung der Hüttensteuer) gerichtet. Inzwischen zum General befördert (1897), wurde L. schon im Sept. 1900 wegen Meinungsverschiedenheiten mit der Kolonialabteilung, insb. wegen des von ihm befürworteten Eisenbahn- und Telegrafenbaus, aber auch auf Grund seiner rigiden Amtsführung, zurückberufen. 1903 reichte er seinen Abschied ein. Fortan widmete er sich ganz seiner politischen Tätigkeit in nationalen Verbänden wie der →Dt. Kolonialgesellschaft, dem Alldt. Verband, dem Flottenverein, dem Wehrverein, zu dessen Mitbegründern er gehörte, sowie als Mitinitiator und 1. Vorsitzender des „Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“. Im Reichstag, dem er als Mitglied der Reichs- und Freikonservativen Partei 1907–14 angehörte, trat er als kolonialpolitischer Gegner der aufgeklärt-liberalen Reformpolitik →Dernburgs für Arbeitszwang, eine dt.nationale Siedlungspolitik sowie für die Erweiterung des dt. Kolonialbesitzes ein. Im Ersten Weltkrieg übernahm er bis zur Erreichung der Altersgrenze 1917 verschiedene Kommandos (1917 Orden Pour le mérite). Danach agitierte er als militanter Alldeutscher und Vertreter dt. Weltpolitik für die Vaterlandspartei. Wie eine Reihe anderer Kolonialoffiziere stand er in den innenpolitischen Auseinandersetzungen nach dem Umsturz auf Seiten der gegenrevolutionären Kräfte, u. a. als kolonialpolitischer Sprecher der Alldeutschen. 1929 trat er in die NSDAP ein. L. war wohl der markanteste Vertreter des Militärstandpunktes in der Kolonialpolitik und -verwaltung des Ksr.s. Dt. Koloniallexikon II, 1920, 454. NDB 14, 1985, 487f. H O RST G RÜ N D ER
Light, Francis, ~ 15. Dezember 1740 Dallinghoo, † 21. Oktober 1794 Penang, □ Protestant Cemetery Penang, anglik. L. trat 1759 in die Royal Navy ein und fuhr dort bis 1763 als Leutnant zur See. 1765 reiste er nach →Indien, um ein Schiff eines europäischen Handelssyndikats zu kommandieren. Er befuhr v. a. →Sumatra und die malaiische Halbinsel und etablierte gute Handelsbeziehungen zum Sultanat Kedah. 1771 bot der Sultan von Kedah den Briten den Hafen Kuala Kedah und die Küstenstreifen bis zur Insel Penang an, als Gegenleistung erwartete er militärische Hilfe gegen die Bugis-Angriffe von Selangor. L.
li n co ln , A brAh A m
diente als Vermittler zur brit. East India Company (EIC, →Ostindienkompanien), jedoch wurden die Verhandlungen erfolglos abgebrochen. L. wirkte weiterhin als freier Händler in der Region, v. a. an den Küsten →Siams um Phukets. Wachsende ndl. Macht und Präsenz auf Sumatra ließen das Interesse der Briten an einem Stützpunkt in der Straße von →Malakka in den 1780er Jahren wieder wachsen. Als 1786 der Sultan von Kedah L. erneut die Insel Penang im Austausch für militärische Hilfe im Kampf gegen Siam anbot, wurde dieses Mal das Angebot unter Vermittlung von L. angenommen. Am 11.8.1786 wurde die Insel Penang unter dem Namen „Prince of Wales Island“ von der EIC formell in Besitz genommen, wodurch die EIC auch auf der malaiischen Halbinsel zu einer territorialen Macht wurde. L. leitete bis zu seinem Tode die Verwaltung der neuen Kolonie, die einen Aufschwung in Bevölkerungszunahme und Handel nahm. H. P. Clodd, Malaya’s First British Pioneer, London 1948. HOL GE R WARNK Lili‘uokalani, * 2. September 1838 Honolulu, † 11. November 1917 Honolulu , □ Mauna Ala Royal Mausoleum / Honolulu, kongregationalistisch L., auch Lydia Kamaka’eha genannt, erfuhr an der Royal School eine moderne Erziehung. Nach dem Tod ihres Bruders Kg. Kalakaua bestieg L. als letzte souveräne Herrscherin den Thron von →Hawai’i. 1893 versuchte L. eine neue Verfassung durchzusetzen, um der Monarchie und den Einheimischen wieder zu mehr Macht zu verhelfen. Sie scheiterte jedoch am Widerstand am. und europäischer Siedler unter der Führung Stanford B. Doles. Er wurde mit Hilfe am. Truppen zum ersten und einzigen Präs. der Rep. Hawai’i. L. wurde 1895 nach einem Waffenfund im Iolani-Palast wegen des Verdachtes auf Restaurationsversuch der Monarchie inhaftiert. Obwohl sie im selben Jahr offiziell abdankte, setzte sie sich in Washington noch lange für die Freiheit Hawai’is ein. Hawai’i wurde dennoch am 4.7.1898 von den Amerikanern annektiert. In den Jahren bis zu ihrem Tod 1917 betätigte sie sich v. a. als Komponistin (Aloha Oe) und Autorin. Liliuokalani, Hawaiis Story by Hawaiis Queen, Rutland u. a. 1964. S US ANNE F I S CHE R Lima, Hauptstadt Perus, Name wohl Ableitung des Namens des Flusses Rimac, an dessen Ufer Francisco Pizarro am 18. Januar 1535 die Stadt in der Nachbarschaft indigener Siedlungen und unweit der Mündung des Flusses in den Pazifik formell als Ciudad de los Reyes gründete. Der Name resultierte aus P’s Entscheidung vom 6. 1., dem Dreikönigstag, eine Delegation auf die Suche nach einem geeigneten Ort für die Niederlassung entlang des Flußlaufes zu entsenden. Da die Stadt in Mündungsnähe des Rimac in den Pazifik lag, entstand an dessen Mündung bald der Hafen El Callao, der heute in der Metropole L. aufgegangen ist. Bis zur Unabhängigkeit Perus waren die Ciudad de los Reyes mit dem ihr vorgelagerten Hafen, nach Francis Drakes Beutezug entlang der pazifischen Küste im späten 16. Jh. befestigt, die Metropole des spanischen Vizekönigreichs Peru. Schon 20 Jahre nach der Gründung waren die Audiencia y Chancillería,
die Erzdiözese, der Vizekönig, die Universität, die Zentralen der Ordensprovinzen in L. konzentriert, zu denen sich im weiteren Verlauf des 16. Jh.s das Inquisitionstribunal und die zentralen Behörden des Fiskus gesellten. Mit der festen Etablierung des Flottensystems zu Beginn der 1560er Jahre wurde L. zum zentralen Ausgangs- und Zielpunkt der Verbindung mit Spanien über die jährliche Flotte zwischen El Callao und Panamá, dem Landtransport über den Isthmus und weiter mit der Flotte von Puerto Bello über La Havana nach Cádiz / Sevilla, eine Route über die der gesamte Personen-, Post-, Waren- und Edelmetalltransport abgewickelt wurde. Mit der Entdeckung der reichen Edelmetallvorkommen in Hochperu (z. B. Cerro Rico de Potosí) erlangte um die Jh.mitte das andine Hinterland erheblich an Bedeutung und verschaffte den Eliten der Stadt Kontrolle über beträchtliche Ressourcen. So entwickelte sich L. schnell zur politisch, ökonomisch und religiös – kulturell bedeutendsten Metropole des pazifisch geprägten spanischen Südamerika mit eindrucksvoller barocker Prachtentfaltung und reichhaltigem kulturellen Leben, an dem über die religiösen Bruderschaften auch große Teile der indigenen und ethnisch gemischten Bevölkerung teilnahmen. Zur Sicherung der Stadt gegen endemische Rebellionen v. a. im andinen Hinterlandland wurde L. Ende des 17. Jhs. mit einem Mauerring umgeben. Sowohl im 17. als auch im 18. Jh. wurde L. von schweren Erdbeben heimgesucht, die beträchtliche Schäden verursachten. Im Rahmen der bourbonischen Reformpolitik des 18. Jh.s war die Krone bemüht, den südamerikanischen Teil des Imperiums atlantischer auszurichten und, mit Einrichtung der beiden Vizekönigreiche Neugranada und Buenos Aires, den Einflußbereich L.s einzuschränken. Obwohl L. im Unabhängigkeitsprozeß keine führende Rolle spielte, blieb die Kontrolle über die Stadt von großer symbolischer Bedeutung für beide Parteiungen. Guillermo Lohmann Villena, Lima, Madrid 1992. Ders., Las defensas militares de Lima y Callao, Madrid 1964. Karine Périssat, Lime fête ses Rois (XVIe–XVIIIe siècles). Hispanité et américanité dans les cérémonies royales, Paris / Budapest / Turin 2002. H O R ST PIETSC H MA N N
Lincoln, Abraham, * 12. Februar 1809 Hodgenville, Kentucky † 15. April 1865 Washington, D.C., □ Oak Ridge Cemetery / Springfield, Illinois, baptist. erzogen; ohne religiöse Bindung Seine Kindheit und Jugend verbrachte er mit seiner Familie in rustikalen Verhältnissen in den sog. „FrontierStaaten“ (→Frontier) Kentucky, Indiana und Illinois; trotz seiner schlechten Schulausbildung arbeitete der junge L. als Kaufmann, Landvermesser und Posthalter; 1832 nahm er als Freiwilliger am Kriegszug gegen die Sauk teil und verfuhr ab 1834 zweigleisig, indem er seine politische Karriere als Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Illinois begann und sich um eine juristische Ausbildung bemühte. 1836 erhielt er die Zulassung als Anwalt und eröffnete 1837 mit einem Kollegen eine Anwaltskanzlei in Springfield/Illinois; nach seiner Heirat 1842 mit der wohlhabenden Mary Todd aus Kentucky gab er sein Mandat in der Versammlung von Illinois ab 487
l i n de q u i s t, fr i e d r i c h v.
und konzentrierte sich kurzfristig auf seinen Beruf, ehe er dann 1846 als Vertreter der Whigs in Illinois in das Repräsentantenhaus des Congress nach Washington, D.C. entsandt wurde. 1854 schloß er sich einer neuen, der Republikanischen Partei an. Bei seinem zweiten Anlauf 1858, ein Mandat seines Heimatstaats Illinois für den Senat in Washington, D.C. zu erlangen, kollidierte er mit dem Demokraten Stephen Douglass und lieferte sich mit ihm geschliffene Rededuelle. Dabei lavierte sich der gewiefte Rhetoriker und geschickte Jurist L. schlau durch die Untiefen der Diskussion um →Sklaverei; er paßte seine Meinung seiner Zuhörerschaft an: Mal akzeptierte er die Existenz und Fortbestand der Sklaverei, mal produzierte er eine bahnbrechende Rede, wie die berühmte „a house divided in itself“ (16.6.1858), die von Sklaveneigentümern im →Süden der USA als Kampfansage verstanden wurde. Zwar verlor L. die Senatswahlen in Illinois, jedoch hatte er soviel bundesweite Aufmerksamkeit erlangt, daß er 1860 von der Republikanischen Partei in das Rennen um die US-Präsidentschaft geschickt wurde und dank der Zerstrittenheit der gegnerischen Parteien, die sich nicht parteiintern auf jeweils einen Kandidaten hatten einigen können, die Wahl im Nov. 1860 gewann. Die Südstaaten, vorneweg South Carolina, das schon lange auf einen geeigneten Anlaß zur Abspaltung gewartet hatte, betrachteten die Wahl L. als Auftakt für eine weitere Stärkung des Bundes und bundesstaatlicher Rechte und trennten sich von der Union (20.12.1860 – 22.2.1861). Das Problem Sklaverei war aus rechtlicher Sicht lediglich ein Symptom elementarer Konzepte um bürgerliches Eigentum und staatliche Eingriffe in Individualrechte: L. ging es nicht um die Aufhebung der Sklaverei oder um ein ethisches Problem wie die Freiheit aller Menschen, die Einzelstaaten stritten mit dem Bund und dessen Personifikation, dem Präs., um das Recht auf Eigentum, als das die Südstaaten versklavte Menschen betrachteten. Im →Am. Bürgerkrieg bzw. – aus der Sicht des Südens – in dem „war of states“ mußte L. als commander in chief blutige Lektionen hinnehmen, die mehr als 250 000 Menschen das Leben kosteten, ehe die Schlacht von Gettysburg (1. – 3.7.1863) die Wende brachte und den Sieg des Nordens und der Union vorbereitete. Die kurze Rede, die L. am 19.11.1863 bei der Einweihung des Soldatenfriedhofs von Gettysburg hielt, gehört zu einer der besten eines US-Präs. und bereitete den Boden für die hohe Anerkennung, die er noch heute genießt (→Gettysburg Address). Trotz schwieriger Umstände wurde L. 1864 wiedergewählt und die komplette Niederlage – „the lost cause“, die die konföderierte Armee im Apr. 1865 eingestehen mußte, machte den oftmals ob seines Aussehens und seiner Herkunft geschmähten L. zu einer neuen Lichtgestalt der →USA. Das Attentat auf ihn durch einen Südstaatler und sein Tod am Karfreitag 1865 steigerten seinen Ruhm so sehr, daß überzeugte Methodisten ihren Zeitgenossen als wahren Märtyrer verehrten, bereits Walt Whitman ihn mit Jesus Christus verglich. Sein Geburtstag wurde gemeinsam mit dem des Gründervaters und ersten Präs. George →Washington zum US-Nationalfeiertag (President’s Day, 3. Montag im Febr., seit 1968) erhoben, 1922 an exponierter Lage an der Mall von Washington, D.C. das Lincoln 488
Memorial errichtet. Viele Politiker von Martin Luther King Jr. bis Barack Obama suchten und suchen in symbolisch aufgeladenen Gesten und verbalen Anspielungen auf L.s Reden sein Charisma. Die Forschung ehrt ihn mit einer nicht abreißenden Flut von Biographien und Spezialstudien, sein Name und Konterfei edeln Städte, Gebäude, Filme, Autos oder Briefmarken. Georg Schild, Abraham Lincoln, Paderborn 2009. CLA U D IA SC H N U R MA N N
Lindequist, Friedrich v., * 15. September 1862 Wostewitz (Insel Rügen), † 25. Juni 1945 Macherslust, □ unbek., ev.-luth. Nach Jurastudium und Referendariat kam L. 1892 als Reg.sassessor in die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes. Als Verwaltungsbeamter mit der Befähigung zum Richteramt ging er im Febr. 1894 nach →Dt.-Südwestafrika und erhielt zwei Jahre später die Ernennung zum ständigen Vertreter des Landeshauptmanns. Nach zwischenzeitlicher Beschäftigung in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes wurde er während des →Burenkrieges mit der Verwaltung des Generalkonsulats in Brit.-Südafrika in →Kapstadt beauftragt. Sein Ziel als →Gouv. von Dt.-Südwestafrika (19.8.1905–20.5.1907) war die bedingungslose Unterwerfung der aufständischen Herero und Nama (→Herero-Nama-Aufstand) – er zeichnete für die restriktiven Eingeborenenverordnungen von 1906/08 verantwortlich – und eine mit Nachdruck betriebene weiße Siedlungsexpansion. Zugleich förderte er die Kleinviehzucht und durch die Einführung der Karakulschafzucht den Export von Persianerfellen. 1907 erfolgte seine Berufung zum Unterstaatssekretär in das neu errichtete →Reichskolonialamt. 1908/09 führte er eine 9-monatige →Expedition durch die Hochländer →Dt.Ostafrikas zur Beurteilung ihrer Eignung als Siedlungsgebiet für Europäer. Am 10.6.1910 erfolgte seine Ernennung zum Nachfolger B. →Dernburgs als Staatssekretär des Reichskolonialamts. Als Anhänger des Siedlungskolonialismus (→Kolonialismus) nach dem südafr. Modell stand er in Opposition zum Gouv. von Dt.-Ostafrika, v. →Rechenberg, der Ostafrika zu einer Handelskolonie nach dem Muster →Togos machen wollte. Am 3.11.1911 trat er wegen des Marokko-Kongo-Abkommens, das er als konservativ-nationalistischer Siedlungspolitiker wie die Alldeutschen ablehnte, demonstrativ von seinem Amt zurück. Noch im Ersten Weltkrieg sollte er als Generaldelegierter Ost das Projekt der Gründung dt. Siedlungskolonien in Transkaukasien leiten. In der Weimarer Rep. war L. einer der namhaftesten Repräsentanten der vaterländischen Rechten und des →Kolonialrevisionismus (Vize-Präs. der →Dt. Kolonialgesellschaft). Im Dritten Reich gehörte er dem „Kolonialrat“ des Reichskolonialbundes sowie als Vorsitzender der Generalreferenten dem von Hitler geschaffenen →Kolonialpolitischen Amt der NSDAP an. – Dr. iur. h. c. (Greifswald 1906). Südwestafrika. Erlebnisse, Unveröff. Memoiren (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen 275). Dt. Koloniallexikon, II, 456f. NDB 14, 1985, 601. H O RST G RÜ N D ER Lodi-Dynastie. Die L.-D. regierte als letzte der Dynastien des →Delhi-Sultanats von 1451–1526. Nachkom-
lo n d o n , vertrAg v o n
men afghanischer Stämme, die sich den musl. Heeren bei der →Eroberung Nordindiens angeschlossen hatten oder als Händler und Viehzüchter in die Region gekommen waren, spielten seit jeher eine besondere Rolle für die Herrschaftssicherung der Sultane von →Delhi. Die L.s waren ein Clan des afghanischen Ghilzay-Stammes. Infolge des Sturzes der etablierten Staatseliten nach der Plünderung Delhis durch die Mongolen 1398 nahm ihre Macht kontinuierlich zu, und 1451 gelang es ihnen schließlich, Delhi einzunehmen; der erste L.-Sultan, Bahlul Shah, bestieg den Thron. In der Folgezeit mußten sich die L.-Herrscher ständig gegen rivalisierende Thronanwärter aus den eigenen Reihen sowie gegen zahlreiche lokale Potentaten durchsetzen. Dennoch gelang es ihnen, eine gut funktionierende Verwaltung aufzubauen. Hinzu kam eine Förderung der Wissenschaften und der Literatur. Hindus (→Hinduismus) wurden in die Administration und in das Kulturleben integriert. Als Babur nach →Indien zog, stellte sich ihm eine L.-Armee entgegen. 1526 kam es zur Entscheidungsschlacht, die die L.s verloren. Während der nächsten 100 Jahre versuchten die verbliebenen afghanischen Gruppen vergeblich, den →Moguln die Herrschaft streitig zu machen. Abdul Halim, History of the Lodi Sultans of Delhi and Agra, Dacca 1961. S T E P HAN CONE RMANN Logan, Robert, * 2. April 1863 Langton / Berwickshire, † 4. Februar 1935 Seaton / Devon, □ Familiengrab in Carnwath / Lanarkshire, anglik. 1881 →Auswanderung mit den Eltern auf die Südinsel Neuseelands (→Aotearoa). Dort kaufte er aus einer Erbschaft 1883 eine Schaffarm in der Region Otago. Ab 1888 Mitglied des Grafschaftsrates in Maniototo. 1904 trat er in die Freiwillige Reitermiliz der Region ein. Dort machte er rasch Karriere. 1906 wurde er Major, 1908 Oberstleutnant. 1912 erfolgte seine Übernahme in die reguläre Armee. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er Kommandeur der aus ca. 1 400 Freiwilligen bestehenden Expeditionstruppe, die zur →Eroberung des dt. →Schutzgebietes →Samoa bestimmt war. Nach der Besetzung am 29.8.1914 wurde er Militär-Administrator der Inselgruppe. Für das Eindringen der sog. Spanischen Grippe (samoan. fa‘ama‘i) in Samoa im Oktober 1918, die zu einer katastrophalen Sterblichkeit führte (mind. 20 % der Bev.), trug er die persönliche Verantwortung. Völlig uneinsichtig für eigene Schuld und persönliches Versagen wurde er nach einer Intervention samoan. Eliten im Jan. 1919 nach Neuseeland abberufen. Nach einer kurzen Zeit in der neuseeländische Militärverwaltung kündigte er den Dienst und zog nach Großbritannien zurück, wo er in Devonshire ein Landgut erwarb. Die letzten Lebensjahre verbrachte er, zunehmend verbittert und an Streukrebs leidend, in Larnakshire. L. heiratete 1890 eine Neuseeländerin, nach deren Tod 1910 eine Schottin. Aus erster Ehe hatte er vier Söhne, von denen einer in Gallipoli fiel, aus der zweiten Ehe zwei Töchter. H E R M A N N HI E RY / GE RHARD HUT Z L E R
Lomé. Hauptstadt von →Togo. L. hat fast eine Mio. Ew. und liegt auf einer Nehrung an der →Guinea-Küste des →Atlantischen Ozeans. Der Ort wurde im 18. Jh. unter
dem Namen Alomé von den →Ewe gegründet. Durch die ökonomischen Aktivitäten von Händlern der Mina u. a. Küstengruppen entwickelte sich der Ort zu einem Handelsplatz, wo die Europäer Sklaven kaufen konnten (→Sklaverei und Sklavenhandel). Auch afro-brasilianische Familien (z. B. die des späteren Präs. Sylvanus Olympio, 1902–1963) kamen im 19. Jh. über →Sierra Leone nach Togo, ihrem Ursprungsland, und trieben Handel in L. Die Grundlagen der administrativen und urbanen Entwicklung L.s wurden in der dt. Kolonialzeit gelegt. Bevor L. 1897 zur Hauptstadt von Togoland wurde, war →Anecho (westlich von L.) seit 1887 der erste Verwaltungssitz. Nach einer kurzen Periode brit. Verwaltung (1914) wurde 1919 L. Teil des frz. Mandatsgebiets und ab Sept. 1920 die Hauptstadt Togos. Die kommerzielle Landwirtschaft und der Handel bestimmten die Geschichte der Stadt. Zwischen 1910 und 1930 entstand die →Infrastruktur: Neben einem guten ausgebauten Straßennetz wurden drei Eisenbahnlinien erbaut, die am 1904 errichteten Hafen-Kai münden und der raschen Verschiffung der Hauptexportgüter (→Baumwolle, →Kaffee, →Kakao) nach Europa dienen. 1905 entstand die „Linie der Kokosbäume“ (L.-Anecho), 1907/11 die „Linie der Baumwolle“ (L.-Atakpamé) und 1907 die „Linie des Kakaos“ (L.-Kpalimé). Neben den europäischen Handelshäusern und den in ganz Westafrika tätigen Libanesen und Syrern haben sich die Frauen von L. als besonders erfolgreiche Stoffhändlerinnen (unter der Bezeichnung Nana-Benz) einen Namen gemacht. Heute laufen beträchtliche Teile des Importgeschäfts der Binnenstaaten →Burkina Faso, →Mali und →Niger über den Hafen von L. Michel Agier, Commerce et sociabilité, Paris 1983. Y O U SSO U F D IA LLO
London, Vertrag von. Der zwischen Großbritannien und den Niederlanden am 17.3.1824 geschlossene Vertrag beinhaltete die Einrichtung von Einflußzonen im insularen →Südostasien, insb. in der Straße von →Malakka. Während die malaiische Halbinsel inkl. →Singapurs brit. Einflußgebiet wurde, erkannten die beiden Staaten →Sumatra als ndl. Einflußzone an. Dieser Vertrag hatte mehrere Konsequenzen: Die Niederländer transferierten ihre seit 1641 bestehende Kolonie Malakka an die Briten. Die Briten übergaben ihre seit dem 17. Jh. bestehende Kolonie Bengkulu an die Niederländer. Das alte malaiische Sultanat von Johor-Riau wurde willkürlich am Reißbrett in zwei Teile geteilt. Niederländer und Briten mischten sich nicht mehr in Angelegenheiten auf der malaiischen Halbinsel bzw. in Sumatra ein. Die Niederländer verweigerten dem Sultanat von Selangor die Unterstützung während des dortigen Bürgerkriegs, und die Briten gaben →Aceh keine Unterstützung im →Kolonialkrieg gegen die Niederländer ab 1873. Die kulturelle Einheit zwischen den malaiischen Staaten an der Ostküste Sumatras und der malaiischen Halbinsel wurde damit unterbrochen. Der Vertrag schuf somit die Basis der modernen Grenzziehung zwischen →Indonesien und →Malaysia. J. Kennedy, A History of Malaya, Kuala Lumpur 1993. W.G. Maxwell / W.S. Gibson (Hg.), Treaties and Enga489
l o u i s i A n A P ur c h A s e
gements Affecting the Malay States and Borneo, London 1924. HOL GE R WARNK London Missionary Society →Angloamerikanische Protestantische Missionsgesellschaften Louisiana Purchase. Mit dem am 30.4.1803 in Paris unterzeichneten Vertrag verkaufte Frankreich Louisiana für 15 Mio. US-$ an die →USA. Das 2 142 427 km² große Gebiet erstreckte sich westlich des →Mississippi bis zu den Rocky Mountains und umfaßte das vom Missouri, Arkansas und Red River erschlossene Territorium. Die Rückübertragung des seit 1763 zu Spanien gehörenden Louisiana an Frankreich im Vertrag von San Ildefonso (1.10.1800) gefährdete die Interessen der USA. Deshalb bemühten sie sich seit Sept. 1801 in Paris um einen Vergleich mit Napoleon. Dessen Pläne zur Wiederherstellung des →Frz. Kolonialreiches in Nordamerika wurden 1802 durch die Niederlage des frz. Expeditionskorps im revolutionären Haiti zunichte gemacht. Gleichzeitig zeichnete sich 1803 ein neuer Krieg mit England ab. Deshalb bot Napoleon den US-Unterhändlern, Robert R. Livingston und James →Monroe, am 12.4.1803 den Verkauf ganz Louisianas an, was letztere sofort annahmen, ohne dazu autorisiert zu sein. Die Folgen des L.P. waren weitreichend. Er verdoppelte das Staatsgebiet der USA und brachte ihnen die Kontrolle über New Orleans und den Mississippi. Frankreich schied als Machtfaktor in Nordamerika endgültig aus, und auch gegenüber Großbritannien wurde der Expansionsanspruch der USA behauptet. Zugleich war der Kauf eine der Ursachen des →Am. Bürgerkriegs, denn die Frage, ob die →Sklaverei in das Gebiet des L.P. ausgeweitet werden solle oder nicht, heizte den sektionalen Konflikt in den USA an. Alexander DeConde, This Affair of Louisiana, New York 1976. Peter J. Kastor, The Nation’s Crucible, New Haven 2004. VOL KE R DE P KAT Lourenço Marques →Maputo Louverture, Toussaint, * 1744? Bréda / St. Domingue, † 7. April 1803 Fort de Joux / Frankreich, □ unbek., rk. L. wurde als Sklave in der frz. Kolonie St. Domingue auf Hispaniola, dem heutigen Haiti, geboren und war als Vorarbeiter auf einer Plantage tätig, bis er sich im Sept. 1791 dem im Aug. ausgebrochenen großen Sklavenaufstand anschloß. Charisma und militärisches Talent verschafften ihm rasch eine führende Stellung. Mit den frz. Royalisten kämpfte seine Truppe mit brit. und span. Unterstützung aus Santo Domingo gegen die Anhänger der frz. Revolution, die für die Beibehaltung der →Sklaverei eintraten. Erst als die Jakobiner im Febr. 1794 die Abschaffung der Sklaverei beschlossen, wechselte L. auf die Seite der Frz. Rep., vertrieb die span. und brit. Truppen und wurde am 1.4.1796 zum stellv. Gouv. von St. Domingue ernannt. Sein Ziel eines nur noch lose mit Frankreich assoziierten St. Domingue unter einer aus Einheimischen bestehenden Reg. erforderte indes, auch die frz. Truppen zu vertreiben, was bis Juli 1800 mit Unterstützung der →USA gelang. Bis Nov. 1800 eroberte er zudem das span. Santo Domingo und errichtete auf dem 490
wiedervereinigten Hispaniola eine Militärdiktatur. Die Verfassung von 1801 konzentrierte die ungeteilte Macht in seiner Person. Seine Herrschaft zeitigte gewisse Erfolge (Ausbau der Infrastruktur, Anstieg des Außenhandelsvolumens auf ca. ⅔ des Volumens vor 1789), doch brachte seine konziliante Politik gegenüber vertriebenen weißen Plantagenbesitzern, denen er die Rückkehr und die Restitution ihres Eigentums ermöglichte, viele ehem. Sklaven gegen ihn auf. Anfang 1802 sandte Frankreich 16 000 Mann nach Hispaniola, um L. zu stürzen. Mit Unterstützung der USA konnte L. jetzt nicht mehr rechnen, da die neue Reg. →Jefferson an einer Verbesserung der Beziehungen zu Frankreich interessiert war. Teile seiner Truppen liefen zu den Franzosen über, die schwarze Bevölkerung erhob sich nicht, wie L. gehofft hatte, zur Verteidigung seiner Herrschaft. Im Apr. 1802 kapitulierte er offiziell, im März wurde er unter dem Vorwurf, einen Aufstand zu planen, nach Frankreich deportiert, wo er in der Haft verstarb. Unter seiner Führung gelang es erstmals einer nicht von europäischen Siedlern getragenen Aufstandsbewegung, die Unabhängigkeit einer Kolonie zu erkämpfen. Nach ihm ist der internationale Flughafen v. Haiti benannt. George F. Tyson, Toussaint L’Ouverture, Englewood Cliffs 1973. CH R ISTO PH K U H L Low, Hugh, * 10. Mai 1824 Upper Clapton, Großbritannien, † 18. April 1905 Alassio / Italien, □ unbek., anglik. Geboren als Sohn eines schottischen Gartenbauers wurde L.s Interesse an Botanik bereits als Kind geweckt. L.s Karriere begann so auch als Botaniker. 1844 schickte ihn sein Vater auf eine →Expedition zum Sammeln botanischer Exponate nach →Südostasien. Als Basis seiner Expeditionen wählte er →Singapur, wo er mit Charles →Brooke (1829–1917) zusammentraf, der ihn nach →Sarawak einlud. L. verbrachte viele Monate in den Regenwäldern Sarawaks und wurde zu einem der führenden Experten der Flora von →Borneo. 1848 erhielt er von James →Brooke, dem „weißen Raja“ von Sarawak und Onkel von Charles Brooke, den Posten eines Colonial Secretary von Sarawak. Im selben Jahr erschien sein wichtiges Buch Sarawak, das zum ersten Mal eine detaillierte Schilderung der Flora und Fauna und eine Ethnographie der einheimischen Bevölkerung lieferte. Von 1850 bis 1877 war er Police Magistrate auf Labuan, einer Insel vor der Küste von →Brunei. Hier sammelte er praktische Erfahrungen in der Kolonialverwaltung und lernte fließend Malaiisch. In dieser Zeit verfolgte er sehr die Verwaltung Sarawaks unter der Herrschaft der Brookes, die in ihre regionalen Distrikte jeweils einen europäischen Verwalter (Resident) einsetzten, der in enger Kooperation mit einheimischen Eliten die Verwaltung und Erschließung ihres Gebietes vornahm. Seine Reputation als Naturwissenschaftler und Experte für malaiische Kultur sprachen sich bis in die malaiische Halbinsel herum. 1877 wurde er nach Brit.-Malaya versetzt und übernahm den Posten des Residenten in dem malaiischen Sultanat Perak, das seit 1874 unter brit. Kontrolle war. Die Ermordung des ersten Residenten Birch am 2.11.1875 durch einen malaiischen Adeligen und der darauf folgende bis ins Frühjahr 1876 andauernde Aufstand ließen es nötig
lü d eri tz, A d o lf
erscheinen, einen erfahrenen Beamten in Perak einzusetzen, um die angespannte Situation zwischen brit. Kolonialverwaltung und einheimischer Elite zu befrieden. L. war hierfür genau der richtige Mann und schaffte es innerhalb kürzester Zeit, ein auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Verhältnis zum Sultan und seiner Familie aufzubauen. Er schuf einen Staatsrat, dessen Mitglieder sich aus den führenden Persönlichkeiten der malaiischen, chin. und brit. Gruppen zusammensetzten. L.s Vorstellungen der Aufgaben eines brit. Residenten und die praktische Ausübung der Kolonialherrschaft in Perak bekamen Modellcharakter und wurden in allen malaiischen Staaten in Brit.-Malaya übernommen. Sie legten den Grundstein für eine bis zum →Zweiten Weltkrieg friedlich gebliebene Kolonie, die von antikolonialen Aufständen bis 1941 nahezu verschont blieb. Während L.s Zeit in Perak wurden die →Sklaverei verboten, der Ausbau der Zinnminen mit Hilfe der Masseneinwanderung chin. u. a. Arbeitskräfte stark vorangetrieben und die erste Eisenbahnlinie in Brit.-Malaya eingeweiht. Auch für seine wissenschaftlichen Aktivitäten fand L. Zeit. Er war einer der Mitbegründer des Journal of the Straits Branch of the Royal →Asiatic Society und verfaßte Aufsätze zur Naturgeschichte, Geschichte und Ethnographie der malaiischen Halbinsel für diese Zeitschrift. 1879 wurde L. geadelt und ging 1889 in den Ruhestand. Robert Heussler, British Rule in Malaya, Oxford 1981. Hugh Low, Sarawak, London 1848. Barbara Watson Andaya / Leonard Andaya, A History of Malaysia, Basingstoke 2001. HOL GE R WARNK Lozi →Barotseland Luanda. Am →Atlantik gelegen, 70 km nördlich der Mündung des Kwanza, umfaßt die Hafenstadt auch zwei vorgelagerte Halbinseln, Ilha do Cabo und Ilha do Mussulo. Mit fünf bis sieben Mio. Ew. (lt. Wählerregistrierung 2008) ist es die größte port.-sprachige Stadt Afrikas. L. ist Hauptstadt und wirtschaftliches Zentrum →Angolas, zugleich Hauptstadt der Provinz L. und weist seit Ende des Bürgerkrieges 2002 eine der am schnellsten wachsenden städtischen Ökonomien weltweit auf (v. a. im Sekundär- und Tertiärsektor wie Ölindustrie, Handel, Administration). L. wurde 1575 von Paulo Dias de Novais als S. Paulo da Assunção de Loanda im Gebiet des damaligen Kongoreiches gegründet. Die beiden Halbinseln gehörten dagegen schon zum südlich angrenzenden Ndongo-Kgr. Indigene Bevölkerungsgruppen waren die Axiluanda auf den Halbinseln und die Kaluanda auf dem Festland. L. wurde 1605 zur Stadt erklärt und war seit 1627 Verwaltungszentrum der port. Kolonie Angola (1640–1648 Herrschaft der Niederlande), die bis ca. 1850 Zentrum des →Sklavenhandels nach →Brasilien war. 1844 wurde der Hafen für den außer-port. Handel geöffnet. In Folge der →Kongo-Konferenz 1884/85 verstärkte sich der Druck auf Portugal, seine koloniale Herrschaft effektiver zu gestalten. Erst jetzt wurde L. offizielle politische und administrative Hauptstadt des Territoriums, was den Ausbau städtischer Infrastruktur (Krankenhäuser, Telefonnetz, Anbindung an Schienennetz) förderte. Während der Kolonialzeit wurde L. in Stadtbezirke auf-
geteilt. In der Oberstadt stehen der Gouv.spalast, Verwaltungsgebäude, und die Fortaleza de São Miguel. Die Unterstadt war Wohnviertel der Europäer. Wohngebiete der afr. Bevölkerung (Musseques) lagen am Stadtrand. Seit Ende des 19. Jh.s kam es zu einer zunehmenden räumlichen Trennung der Stadtbezirke (municípios), von denen es heute neun gibt: Cazenga, Ingombotas, Kilamba Kiaxi, Maianga, Rangel, Samba, Sambizanga, Cacuaco und Viana. Seit Beginn des 20. Jh.s wurde L. modernisiert. 1975 brachen im Stadtgebiet bewaffnete Kämpfe zwischen den →Befreiungsbewegungen FNLA, UNITA und MPLA sowie port. Truppen aus, in denen die städtische Infrastruktur weitgehend zerstört wurde. Während des Bürgerkriegs (1975–2002) verfielen Infrastruktur und Gebäude weiter, aber es gab keine weiteren Kampfhandlungen (außer 1992 im Zuge der ersten demokratischen Wahlen). Neben den staatlich gelenkten Bereichen Erdöl, →Bergbau und Energie, gewinnen heute zunehmend private Unternehmen an Bedeutung. Schon früh waren der Anteil an Mestizen und die Partizipation der MbunduBevölkerung an der Urbanisierung hoch. Mitte des 18. Jh.s war L. die größte und entwickeltste Stadt des →Port. Kolonialreichs, geprägt von kosmopolitischer kreolischer (→Kreole) Gesellschaft, die den Sklavenhandel dominierte. Die starke Einwanderung von Europäern, v. a. Portugiesen, in der ersten Hälfte des 20. Jh.s führte zur Einschränkung der Privilegien der kreolischen Elite. Heute sind über 50 % der Bevölkerung rk. Im 19. Jh. kamen erste Einflüsse von Protestanten, die heute 15 % der Bevölkerung ausmachen. Daneben blieben traditionelle Religionen bedeutsam. Durch die starke Urbanisierung lockern sich heute die traditionellen Familienstrukturen in den Musseques. Seit Ende des Bürgerkriegs entstehen neue Wohngebiete für Oberschicht und aufstrebende Mittelschicht im Süden L.s (Talatona). Das Stadtzentrum ist heute v. a. Geschäftszentrum, aber auch Zentrum des nach dem Bürgerkrieg wieder an Bedeutung gewinnenden kulturellen Sektors. 2006 wurde die erste Triennale von L., eine Kunstausstellung mit internationaler Ausrichtung durchgeführt. Seit 2008 findet jährlich ein internationales Filmfestival (FIC L.) statt. Die Musseques von L. sind Geburtstort der elektronischen Tanzmusik Kuduro. Ruy Duarte de Carvalo, Ana a Manda, Lissabon 1989. Joseph Calder Miller, Way of Death, Madison 1988, insb. 284–313. Marissa Jean Moorman, Intonations, Athens 2008. N A D IN E SIEG ERT Lucknow →Awadh Lüderitz, Adolf, * 16. Juli 1834 Bremen, † 24. Oktober 1886, ertrunken an der Mündung des Oranjeflusses, Leiche wurde nie gefunden, ev.-luth. Nach dem Tod seines Vaters 1878 übernahm L. die Leitung des väterlichen Tabakgeschäfts (→Tabak), erwarb ein Landgut und führte, nachdem ihn die Ehe mit einer reichen Bremerin finanziell unabhängig gemacht hatte, ein Leben „halb als Tabakhändler und halb als Gutsherr“. Schließlich wandte er sich überseeischen Unternehmungen zu und konnte bereits im Frühjahr 1882 den Hauptanteil einer Handelsniederlassung in →Lagos (Goldküste) 491
l ü t ke , t h e odor
erwerben. Im Mai 1883 schloß sein Bevollmächtigter Heinrich Vogelsang mit dem Namakapitän Joseph Fredericks in Bethanien einen Vertrag, durch den die Bucht von Angra Pequena (Lüderitzbucht mit dem heutigen Lüderitz) mit Umgebung an L. abgetreten wurde; im Aug. 1883 folgte ein weiterer Vertrag, durch den er die Küste von der Mündung des Oranjeflusses bis 26° südlicher Breite und 20 Meilen landeinwärts erhielt. Nachdem L. wiederholt vergeblich bei der Reichsreg. um den Schutz seiner Erwerbungen nachgesucht hatte, bedeutete die Erklärung des Reichsschutzes vom 24.4.1884 den definitiven Schritt zu einer dt. Kolonialpolitik. An →Bismarcks ablehnender Haltung sowie am Widerstand Englands scheiterte anschließend L.s weitergehender Plan, seinen südwestafr. Besitz quer durch Südafrika bis zur SantaLucia-Bucht an der Ostküste zu einer großen transkontinentalen Siedlungskolonie auszudehnen. In der Folgezeit schickte L. mehrere Expeditionen aus, die einerseits weitere Kaufverträge mit Häuptlingen abschließen und zum anderen nach nutzbaren Rohstoff-Lagerstätten forschen sollten. Insg. „erwarb“ er ein Gebiet von 580 000 km2 mit ca. 200 000 Ew. Da sich seine Erwartungen rascher Gold- und Diamantenfunde nicht erfüllten, er sich auch finanziell übernommen hatte, mußte er schließlich „seine Kolonie“ für 300 000 Mark in bar und 200 000 Mark in Anteilsscheinen an die neu gegründete „Dt. Kolonialgesellschaft für Südwest-Afrika“ verkaufen. Wahrscheinlich am 24.10.1886 ertrank er mit einem Begleiter auf einer Forschungsfahrt in der Mündung des Oranjeflusses. Q: Die Erschließung von Dt.-Südwest-Afrika durch Adolf Lüderitz, Akten, Briefe und Denkschriften, hg. v. C. A. Lüderitz, 1945. L: NDB 15, 1987, 452f. W. Schüßler, Adolf Lüderitz, Ein Kampf um Südafrika 1883–86, 1936. Geschichte in Gestalten, hg. v. H. Herzfeld, III, 1963. HORS T GRÜNDE R
Lütke, Theodor (Graf 1830) (Litke, Fedor Petrovič), * 17. / 28. September 1797 Reval (Tallinn) (Angabe St. Petersburg fiktiv), † 17. / 28. August 1882 St. Petersburg, □ Ehrengrab am Lazarus-Friedhof in St. Petersburg, ev.luth. Aus balten-dt. bürgerlicher Familie stammend. 1813 Eintritt in die Marine. Ab 1817 Teilnahme als Unterleutnant an der durch Vasiliy Michajlovič Golovnin geleiteten Weltumseglung mit der Fregatte Kamtschatka. Daß Rußland sich dabei das Brit. Empire zum Vorbild nahm, zeigte sich daran, daß sich Golovnin ebenfalls in Großbritannien aufgehalten hatte. 1821–1824 vier eigene →Expeditionen in die arktischen Küstengewässer Rußlands, insb. in der Region um Nowaja Semlja. 1826–1828 Erkundung des nördlichen Pazifik mit der Brigg Senyavin auf der 4. russ. Weltumsegelung. Dabei Kartographierung (→Kartographie) von Teilen Alaskas, der Westküste der Bering-See, der →Marianen und →Karolinen. Für die dabei erbrachten Leistungen 1829 Korrespondierendes Mitglied der Ksl. Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, 1830 Nobilitierung. 1832 Flügeladjutant des Zaren. 1835–1847 Prinzenerzieher am Zarenhof. 1842 Generaladjutant, Mitbegründer der Ksl. Geographischen Gesellschaft. 1845 Vizeadmiral. 1851 Provinz-Gouv. von Estland. 1855 Admiral u. 492
Mitgl. d. ksl. Reichsrates. 1864 auf Lebenszeit Präs. der Ksl. Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Die Gründung der →Russ. Geographischen Gesellschaft ist maßgeblich auf seine Initiative zurückzuführen. Viermalige Reise durch das nördliche Eismeer auf der Brigg Nowaja Semlja in den Jahren 1821 bis 1824, Berlin 1835. Voyage autour de monde sur la corvette Le Séniavine en 1826–1829 sous le commandement de Fedor Litke, 4 Bde., Paris 1835. G ER H A R D H U TZLER / EVA -MA R IA STO LBER G
Lugard, Frederick, 1st Baron Lugard (1928), * 22. Januar 1858 Madras (Chennai), † 11. April 1945 Abinger, □ St. James’ Church / Abinger, anglik. L. wuchs als Sohn eines protestantischen Geistlichen in Worcester auf. Er wählte die militärische Laufbahn in der brit. Kolonialarmee und kämpfte 1879/80 in Afghanistan, 1886/87 gegen die Mahdisten im →Sudan, 1886/87 in →Birma und 1888 gegen arab. Sklavenhändler am Nyassasee. Von 1889–1892 war L. im Auftrag der British East Africa Company maßgeblich an der Errichtung des →Protektorates in →Uganda beteiligt. Nach einem Aufenthalt in Großbritannien wurde er 1897 nach →Nigeria entsandt und agierte von 1900–1907 als Hochkommissar des Protektorates Nord-Nigeria. Als Gouv. von →Hongkong (1907–1912) trug er maßgeblich zur Gründung der Universität in der →Kronkolonie bei. Von 1912 bis 1919 war L. Gen.-gouv. des gesamten Territoriums von Nigeria. 1928 wurde er in den Adelsstand erhoben. L. war ein überzeugter Vorkämpfer für die imperialistischen Ansprüche Großbritanniens, engagierte sich jedoch gleichzeitig in einer distanziert-paternalistischen Weise für die Rechte der Kolonisierten, wie z. B. gegen deren Ausbeutung durch weiße Siedler in →Kenia. Seiner tatkräftigen Unterstützung erfreute sich das International African Institute in London. L.s internationale Reputation ist v. a. mit dem 1922 erschienenen Werk „The Dual Mandate in British Tropical Africa“ verbunden, in dem er die kolonialen Doktrinen, Methoden und Verwaltungspraktiken Großbritanniens programmatisch niederlegte. Als deren Kernstück befürwortete er →Indirect Rule („indirekte Herrschaft“), die den Einheimischen ein vergleichsweise hohes Maß an kultureller Autonomie unter der politischen und zivilisatorischen Hoheit des Empire beließ. Das Werk wurde zu einer Art Leitfaden brit. Kolonialadministratoren. U LR ICH BR A U K Ä MPER Luluai →Dt. Neuguinea Lumumba, Patrice Émery, * 2. Juli 1925 Onalua / Belg.-Kongo, † 18. Januar 1961 Katanga / Kongo, □ Leiche verbrannt, rk. L. wurde am 2.7.1925 im Dorf Onalua in der Provinz Lusambo (die gegenwärtige Provinz Kasaï-Oriental, geplant als Provinz Sankuru) geboren. Er besuchte protestantische und rk. Missionsschulen. 1954 trat er in Stanleyville (heute Kisangani, Provinz Orientale) in den Postdienst ein und engagierte sich als Gewerkschafter. 1957 nahm er eine Stelle als Vertreter einer großen Brauerei in der Hauptstadt Léopoldville (Kinshasa, →koloniale Metropolen) an, wo er 1958 die linksnationalisti-
m Ac Ao
sche Partei „Mouvement National Congolais“ (MNC) mitgründete. 1958 besuchte L. die „All African Peoples’ Conference“ in →Accra, wo er mit →Ghanas Premierminister →Nkrumah radikalen →Panafrikanismus diskutierte. 1959 wurde er wegen Anstiftung zu Unruhen zu einer Haftstrafe verurteilt, jedoch vor deren Ablauf zu Beginn des Jahres 1960 zu Unabhängigkeitsverhandlungen in Brüssel hinzugezogen. Im Mai 1960 stellte die MNC nach den ersten freien Wahlen die mit Abstand größte Parlamentsfraktion. L. wurde Premierminister einer Koalitions-Reg. Eine Rede während der Unabhängigkeitsfeier, in der er der scheidenden Kolonialmacht Belgien in Anwesenheit von Kg. Baudoin I. Ausbeutung und →Rassismus vorwarf, löste einen Eklat aus. Zu Beginn der Kongo-Krise, die durch Armeemeuterei, Provinzsezessionen und ungesetzliche Militärintervention seitens Belgiens gekennzeichnet war, bat L. um eine UN-Eingreiftruppe, von deren oft passivem Verhalten er jedoch bald enttäuscht war. Im Sept. verfügte Präs. Joseph Kasavubu die Absetzung L.s, die das Parlament aber rückgängig machte. Eine putschende Militärfraktion unter →Mobutu stellte L. unter Hausarrest. Nach einem Fluchtversuch wurde er am 17.1.1961 in die abtrünnige Provinz Katanga verschleppt. In der folgenden Nacht richteten ihn Sezessionisten unter Mithilfe westlicher →Söldner sowie belg. und US-am. Reg.sstellen hin. Der Mord löste einen diplomatischen Skandal aus, u. a. weil die Vereinten Nationen dem gewählten Premierminister nicht zu Hilfe gekommen waren. L. gilt seit seiner Ermordung als kongolesischer Nationalheld, dem viele Straßen, Statuen und Kulturproduktionen gewidmet sind. Alle folgenden Reg.en, aber auch eine Vielzahl politischer Parteien, berufen sich auf sein Erbe. International galt er v. a. in der 1960er Jahren als anti-imperialistischer Märtyrer. Die UdSSR benannte eine Moskauer Universität nach ihm. Das belg. Parlament entschuldigte sich 2001 für die Mitschuld der damaligen belg. Reg. an seiner Ermordung. Ludo De Witte, Reg.sauftrag Mord, Leipzig 2001. AL E X VE I T
Luschan, Felix Ritter von, * 11. August 1854 Hollabrunn, † 7. Februar 1924 Berlin, □ Ehrengrab in Millstatt (Kärnten), rk. Studium der Medizin (Wien) und der Anthropologie (Paris). 1878/79 Militärarzttätigkeit in Bosnien nutzte er zu ethnologischen und linguistischen Studien auf dem Balkan. Seit 1880 Ausgrabungen hethitischer Siedlungen in Kleinasien und einer aramäischen Stadt in Nordsyrien. 1882 Privatdozent für Anthropologie in Wien. 1885 Ruf ans Völkerkundemuseum in Berlin. 1888 Habilitation als Anthropologe in Berlin. 1900 außerordentlicher Prof. in Berlin. 1904 Direktor der afr. und ozeanischen Abteilung des Völkerkundemuseums. Ihm ist der Erwerb der einzigartigen Sammlung der Bronzen von →Benin zu verdanken. 1909 ordentlicher Prof. für Anthropologie in Berlin. Forschungsreisen 1905 nach Südafrika, 1907 nach →Nigeria, 1913/14 in die Südsee. Nach Kriegsausbruch im Südwesten der →USA anthropologische Studien bei indigenen Stämmen. Hervorzuheben ist L.s wissenschaftliche Vielseitigkeit, die auch in seinen
drei Promotionen (med., nat. und phil.) zum Ausdruck kommt. Ehrendoktor in Athen und Adelaide. Nachlaß im Dt. Archäologischen Institut und der Berliner Staatsbibliothek. Felix von Luschan, Beiträge zur Völkerkunde der dt. Schutzgebiete, Berlin 1897. Ders., Die Altertümer von Benin, Berlin 1919. Peter Ruggendorfer (Hg.), Felix von Luschan, Wien u. a. 2009. G ERH A R D H U TZLER Lyautey, Louis Hubert Gonzalve, * 17. November 1854 Nancy, † 27. Juli 1934 Thorey-Lyautey, □ Invalidendom / Paris, rk. Der frz. Militär (1903 Brigadegeneral, 1921 Marschall von Frankreich), Verwaltungsfachmann und Diplomat war 1916/17 kurzzeitig Kriegsminister, seit 1912 auch Mitglied der Académie française. L. brachte die meiste Zeit im Kolonialdienst zu und gilt als einer der herausragendsten frz. Kolonialbeamten überhaupt. Auf Einsätze in →Frz.-Indochina (1894–1897) und →Madagaskar (1897–1902) folgte 1903–1910 der Posten des Militärkommandanten im Süd-Oranais, von wo aus er die Angliederung Ost-Marokkos an die Kolonie →Algerien betrieb. Sein Hauptwirkungsfeld fand L. schließlich in Frz.Marokko, zu dessen erstem Generalresidenten er nach Errichtung des →Protektorats ernannt wurde. Während seiner Amtszeit (Apr. 1912 – Aug. 1925) setzte er nicht nur auf die militärische Karte, sondern bemühte sich, die frz. Interessen v. a. durch Einbindung lokaler Eliten und eine gezielte Entwicklungspolitik zur Geltung zu bringen (Verwaltungsreform, Ausbau der Infrastruktur und der Häfen, durchgreifende Modernisierung der Wirtschaft, Schaffung eines modernen Schul- und Gesundheitswesens usw.). Bemerkenswert ist sein Engagement für die traditionelle Kultur des Landes, der er große Bewunderung entgegenbrachte und zu deren Bewahrung er eine Reihe von Maßnahmen ergriff (z. B. das Verbot, bei Errichtung modern-westlicher Stadtviertel die historischen Altstadtbereiche zu demolieren). Seine weitsichtige Politik nahm der anti-frz. Opposition viel Wind aus den Segeln und brachte ihm trotz mancher Vorbehalte auch bei den Marokkanern große Anerkennung ein („Vater des modernen →Marokko“). L. war befreundet mit der seinerzeit wegen ihres Lebenswandels berühmt-berüchtigten Schriftstellerin Isabelle Eberhardt; nach ihrem Tod am 21.10.1904 durch eine Flutwelle in cAin Sefra ließ er nachgelassene Manuskripte sicherstellen und veranlaßte ihre Veröffentlichung. L.s Gebeine wurden 1961 in den Invalidendom überführt. William A. Hoisington, Lyautey and the French Conquest of Morocco, London 1995. Daniel Rivet, Lyautey et l’institution du protectorat français au Maroc, 1912– 1925, 3 Bde., Paris 1988. LO TH A R BO H R MA N N Macao (Macau). Die port. Kolonie (bis 20.12.1999) und heutige Sonderverwaltungsregion der Volksrep. China im westlichen Perlflußdelta an der Südostküste Chinas entstand 1557, als die Ming-Dynastie den Portugiesen das Recht der Niederlassung gegen eine jährliche Grundpacht gewährte. In der ersten Phase seiner Geschichte (1557–1849) entwickelte sich M. zu einem Haupthandelsplatz der port. Einflußsphäre in Asien, der sich durch 493
m A c gr e g o r , s ir � 1 8 8 9� wi lli A m
eine besondere Form der Selbstverwaltung mit quasi-demokratischen Prinzipien und die Ausbildung einer kreolisierten (→Kreole) port.-rk. Gesellschaft (Macanesen) auszeichnete. Durch die Einbettung von M. in das chin. Tributsystem gelang Portugal der exklusive Zugang zum lukrativen Luxusgüterhandel zwischen China, Japan und →Manila. Mit der Zerstörung des chin. Zollamts in M. und der Einstellung der Pachtzahlung änderte sich das Tributverhältnis zu China grundlegend. In der zweiten Phase (1849–1967) konnte die Umwandlung M.s in eine Kolonie durch den Vertrag von 1887 erreicht werden, in dem China die port. Souveränität über M. formell anerkannte. Der graduelle wirtschaftliche Niedergang, der nach dem Erlöschen des Japanhandels im frühen 17. Jh. begonnen hatte, wurde durch die Konkurrenz der benachbarten brit. →Kronkolonie →Hongkong nach 1842 beschleunigt: Opiumhandel (→Opium) und Glücksspiel entwickelten sich zu ökonomischen Hauptpfeilern. Mit der faktischen Machtübernahme durch pro-kommunistische Kapitalisten im Zuge der chin. Kulturrevolution begann die dritte Phase (1967–1999), in der M.s Souveränität gegenüber China verteidigt und der Ausbau des Stadtstaates zu einem exportorientierten Kommunikations- und Finanzzentrum vorangetrieben wurden. In seiner 450jährigen Geschichte als port. Besitzung diente M. als Vorposten der christl. Mission in Asien, als Drehscheibe für die Ausbreitung westlicher Ideen, als Zufluchtsort für chin. Reformer und nicht zuletzt als kultureller Innovationspunkt in China und →Südostasien. Geoffrey C. Gunn, Encountering Macau, Macau 2005. Peter Haberzettl, Roderich Ptak, Macau, Wiesbaden 1995. Christina Miu Bing Cheng, Macau, Hongkong 1999. BE RT BE CKE R MacGregor, Sir (1889) William, * 20. Oktober 1846 Hillockhead, † 3. Juli 1919 Aberdeen, □ Gemeindefriedhof Towie, anglik. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, ermöglichten ihm seine Intelligenz, Zielstrebigkeit und die Unterstützung durch Bekannte 1865 den Besuch des Gymnasiums in Aberdeen und ab 1867 das Medizinstudium in Aberdeen, Edinburgh und am Anderson’s Medical College in Glasgow, das er 1872 mit dem Bachelor und 1874 mit dem Doktortitel abschloß. 1873 wurde er assistant medical officer auf den →Seychellen, 1874 Chirurg des Krankenhauses von Port Louis (→Mauritius) und 1875 chief medical officer der Kolonie →Fidschi. In den folgenden 13 Jahren wurde M. auf Grund seiner Fähigkeiten zusätzlich mit administrativen Aufgaben außerhalb des Gesundheitswesens betraut. So oblagen ihm ab 1877 auch die Pflichten des Kämmeres der Kolonie, 1884 wurde er colonial secretary, 1885 und 1887/88 übernahm er kommissarisch das Amt des Gouv.s. 1888 wurde M. Verweser (Amtsbezeichnung ab 1894: Gouv.) von British New Guinea. Dort begann er trotz begrenzter Mittel mit dem Aufbau eines soliden Verwaltungsapparats. Darüber hinaus war er bestrebt, Konflikte mit der autochthonen Bevölkerung, etwa über Landbesitz, zu vermeiden und versuchte sie mittels einer gezielten Integrationspolitik für die Kolonie zu gewinnen, z. B. indem er sie als Dorfpolizisten einsetzte oder für die Schutztruppe rekrutierte. 494
1899 wurde M. das Amt des Gouv.s von →Lagos übertragen. Während seiner fünfjährigen Dienstzeit legte er besonderen Wert auf den Auf- und Ausbau der Eisenbahn und den Kampf gegen die →Malaria. 1904 wurde er Gouv. von Neufundland und vermittelte erfolgreich in der Frage der Fischereirechte (→Fischerei) vor dessen Küste. Ab 1909 war M. Gouv. von →Queensland. Hier kümmerte er sich v. a. um die Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung, der Landwirtschaft und des Bildungswesens. So war er eine der treibenden Kräfte hinter der Gründung der Universität von Queensland, deren erster Kanzler er 1910 wurde. Im Juli 1914 schied M. aus dem aktiven Dienst aus und zog sich als Geheimer Rat auf sein Anwesen in Chapel-on-Leader zurück. Während des Ersten Weltkriegs stellte er sein Wissen um den Pazifik dem Colonial Office zur Verfügung. Er starb nach einer Operation in Aberdeen und wurde in seiner Heimatstadt Towie bestattet. Roger B. Joyce, Sir William MacGregor, Melbourne 1971. JO H A N N ES BER N ER Machel, Samora Moisés, * 29. September 1933 Xilembene / Mosambik, † 19. Oktober 1986 Komatipoort / Südafrika bei ungeklärtem Flugzeugabsturz, □ Heroes Square / Maputo, rk. M. wurde in Xilembene, Gaza Provinz geboren. Er besuchte eine rk. Missionsschule und KrankenpflegerKurse und ging 1963 nach →Daressalam, um sich der im Exil gegründeten nationalen →Befreiungsbewegung FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique) anzuschließen. Nach einer Ausbildung im Guerilla-Kampf in →Algerien wurde M. 1965 zum Kommandanten der revolutionären Truppen in der Nyassa-Provinz im Norden Mosambiks ernannt. Als der bisherige Verteidigungsminister der FRELIMO 1966 einem Attentat zum Opfer fiel, trat M. seine Nachfolge an, was ihn auch zum Mitglied des Zentralrates der FRELIMO machte. Gemeinsam mit Marcelino dos Santos und Urias Simango bildete er nach dem Mord an dem Führer der FRELIMO, Eduardo Chivambo Mondlane, ab 1969 die Führungsriege der Befreiungsbewegung und ging aus Machtkämpfen im Mai 1970 als Präs. hervor. Nach der Unabhängigkeit 1975 wählte das Zentralkomitee der FRELIMO ihn zum ersten Präs. Mosambiks. Auch nach seiner Wiederwahl 1983 blieb er daneben Oberbefehlshaber der Armee. M., erklärter Marxist, hielt den sozialistischen Weg für geeignet, den Herausforderungen der Modernisierung nach jh.elanger port. Kolonialherrschaft zu begegnen und unterstützte die nationalen Befreiungsbewegungen Rhodesiens (→Simbabwe) und Südafrikas. Unter ökonomischem und politischem Druck, insb. durch die anfangs von Rhodesien und später von Südafrika unterstützte Rebellenorganisation RENAMO (Resistência National Moçambicana), entfernte er sich in den 1980er Jahren von dieser Position. 1986 starb M. bei einem Flugzeugabsturz, dessen Umstände bis heute ungeklärt sind. Iain Christie, Samora Machel, London 1989. CH R ISTIA N E REICH A RT-B U R IK U K IY E
Machete, die (span. el machete). Hau- und Buschmesser tropischer und subtropischer Hack- und Grab-Agrikultu-
m A ch i s m o
ren. Zunächst v. a. als schwere M. mit langem Holzgriff und quadratischem, breitem Oberteil der Klinge (mocha) bei der Zuckerrohrernte (→Zucker) auf →Ingenios, im Laufe der Neuzeit in den Landwirtschaften der Kolonien auch als Universalwerkzeug unter Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und Subsistenzbauern und als Waffe in Aufständen, Rebellionen und antikolonialen Kriegen (→Kuba) benutzt. Als landwirtschaftliches Werkzeug ist die Herkunft der M. umstritten; das Wort und die frühe Bindung an die atlantische Zuckerwirtschaft legen eine afr. Herkunft nahe. Bei der Entstehung der ersten Ingenios nutzten port. und iberische Sklavenhalter und Verwalter auf den westafr. Inseln (v. a. Madeira sowie →São Tomé und Príncipe) landwirtschaftliche Erfahrungen aus hochentwickelten afr. Hack- und Grablandwirtschaften (u. a. intensiver Anbau von →Reis) sowie die handwerklichen Fähigkeiten afr. Schmiede (v. a. aus Senegambien, Kongo, →Angola). Über die →Karibik und →Brasilien breitete sich die M. in den Amerikas, später auch in anderen Zuckerplantagenwirtschaften wie →Madagaskar, →Indien und →Indonesien aus. Es gibt M.n in zahlreichen Größen und Formen, von den erwähnten schweren Haumessern über kleinere einschneidige M.n, die in Lederscheiden am Gürtel getragen wurden, lange zweischneidige Militär- und Prunk-M.n, bis hin zu Kompositwerkzeugen und -waffen, z. B. die lange Holzlanze der Llaneros (garrocha), an deren Spitze bei der →Jagd auf wildes Vieh, dem man in vollem Ritt von hinten die Kniesehne durchtrennte, eine zweischneidige M. (auch: púa) mit hohlem Griff angebracht wurde. Im 19. Jh. wurden große Mengen manufakturell und industriell gefertigter Mn. aus Deutschland (Bergisches Land, v. a. Remscheid) in die Karibik u. a. tropische und subtropische Regionen exportiert. Dorothea Melcher, Cuchillería y machetes para América Latina (unter: biblioteca.universia.net/html_bura/ficha/ params/id/37757329.html (Zugriff 12.7.2014). Carl Sachs, Aus den Llanos, Leipzig 1879. MI CHAE L Z E US KE
Machismo. Abgeleitet vom span. und port. Wort macho für ein männliches Tier, bezeichnet ein übersteigertes Männlichkeitsgefühl, Dominanzgebaren und Aggressivität, sowohl gegenüber Frauen als auch gegenüber Geschlechtsgenossen. Als vermeintlich typisch lateinam. Phänomen hat das Wort in viele andere europäische Sprachen Eingang gefunden. Die Ursprünge des M. werden oft in der span. →Eroberung, aber auch in vorspan. Gesellschaften wie z. B. der aztekischen gesehen. Die dort vorherrschende Kriegermentalität wurde durch die Conquista verstärkt. Sie überlagerte sich mit mediterranen Vorstellungen von männlicher Ehre, die die Spanier mit in die Neue Welt brachten. Ihre Vorstellung von der Überlegenheit der Europäer und die Schutzlosigkeit indigener Frauen, die meist als minderwertig und unterlegen betrachtet wurden, schufen ein von Gewalt, sozialer Hierarchie und männlicher Dominanz geprägtes Geschlechterverhältnis. Es ging den Eroberern mit Blick auf die indigenen Frauen jedoch nicht allein um die physische Verfügungsgewalt, sondern, wie heute noch im Falle von politisch motivierter sexueller Gewalt, auch
darum, die eigene Überlegenheit durch die Erniedrigung der Indigenen zu demonstrieren. Der Zusammenhang von Macht und Sexualität wird selten so deutlich wie im M., denn auch der moderne Macho ist ständig „auf Eroberungen aus“, wobei es ihm oft weniger um sexuelle Befriedigung als um die Demonstration von Männlichkeit – verstanden als aggressive Sexualität – geht. Machos sind in ihrer gesellschaftlichen Position und damit auch ihrer Männlichkeit verunsichert und versuchen, dies durch übersteigerte und aggressive Zurschaustellung „männlichen“ Verhaltens zu überspielen. Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Europäern oder den reichen und mächtigen nordam. Nachbarn werden dafür ebenso verantwortlich gemacht wie eine zu starke Mutterbindung. Andererseits kann man den M. auch auf das kolonialzeitliche Ehrkonzept zurückführen. Dieses erwartete von den Männern die Sorge für aber auch die Kontrolle über die Familie, insb. die Frauen. Von diesen wurde dagegen die physische und moralische Reproduktion der Familie und ihrer Ehre, Gehorsam und Zurückhaltung gefordert. Daher mußten die Männer bestrebt sein, ihre Ehefrauen, Schwestern und Töchter streng zu kontrollieren. Durch die Beschränkung des Aktionsraumes der Frauen auf Haus und Familie sollten diese erst gar nicht der Gefahr ausgesetzt werden, die Ehre der Familie durch vorwiegend sexuell definiertes Fehlverhalten zu gefährden. Sollte es dennoch passieren, waren die männlichen Familienmitglieder verpflichtet, zu harten Sanktionen zu greifen, um ihre und die Ehre der Familie wieder herzustellen. Aus diesen Traditionssträngen entwickelte sich in →Lateinamerika eine spezifische und stark akzentuierte Geschlechterrollenverteilung, die bis heute nachwirkt, und deren Verzerrungen sich im M. aber auch im sog. →Marianismo, einem übersteigerten Mutterkult, widerspiegeln. Das andere, heute wichtigere Gegenbild zum „richtigen“ Mann, ist der Homosexuelle, der maricón, und viele lateinam. Gesellschaften zeichnen sich durch eine starke Homophobie aus. Die Beschimpfung als maricón oder marica wird von Fußballfans (→Fußball in Lateinamerika) zur Herabsetzung der gegnerischen Mannschaft benutzt, aber auch von Jugendlichen und Männern der farbig-mestizischen Unterschicht, die wahre Männlichkeit für sich reklamieren und diese der „verweichlichten“ und damit „verweiblichten“ weiß-mestizischen Oberschicht absprechen. Solchen Überlagerungen von ethnischen und sozialen wie auch geschlechtlichen Identitätskonstruktionen stehen aber auch komplexere Männlichkeitsbilder gegenüber, wie sie sich z. B. in mexikanischen corridos und Filmen der 1940er und 1950er Jahre manifestieren. Dort ist der „wahre“ Mann nicht aggressiv und frauenfeindlich, sondern mutig, ehrbar und respektvoll. Die negative Charakteristik des Macho stellt somit ein Zerrbild des positiven Männlichkeitsbildes dar. Letzteres definiert einen Macho v. a. als einen Mann, der mutig ist und für seine Überzeugungen einsteht und Verantwortung, v. a. für die Familie und die Kinder, sowie Respekt vor seinen Freunden und Vorgesetzten zeigt. Er ist darüber hinaus verläßlich, una persona que cumple. Männlichkeit definiert sich somit einerseits durch Abgrenzung von „anderen“ Männern, seien es Männer einer anderen sozialen Schicht oder mit 495
m A c hu P ic c hu
anderer sexueller Orientierung, sowie von dem anderen Geschlecht, den Frauen. Ebenfalls wichtig für die Männer ist die Vaterschaft. Sie symbolisiert das definitive Erwachsenwerden und ist, zumindest in der Theorie, ein ebenso entscheidender Einschnitt im Leben eines Mannes wie in dem einer Frau. Die Annahme einer aktiven väterlichen Rolle (nicht die physische Vaterschaft) ist der Ausweis der Verantwortungsbereitschaft des Mannes, der Macho hingegen überläßt die Kindererziehung und oft auch die Versorgung der Familie der Frau. Männlichkeit definiert sich somit über verschiedene Aspekte, die je nach Lebenszyklus und sozialer Situation unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. Es gibt die natürliche Dimension, die physische Männlichkeit, die v. a. in der Jugend von Bedeutung ist, es gibt die häusliche Dimension des Ehemannes und Vaters und die öffentliche Dimension in den Bereichen Arbeit und Politik, die in den späteren Lebensabschnitten dominieren. Die Anforderungen an diese Rollen unterlagen in den letzten Jahrzehnten allerdings einem starken Wandel, der v. a. durch die Veränderung des Frauenbildes herbeigeführt wurde. Männlichkeit konnte und kann in Lateinamerika vieles bedeuten, und die unterschiedlichen Vorstellungen können auch in einer Person vereinigt sein und je nach Situation einen anderen Stellenwert erlangen. Ein Mann kann allerdings heute leichter auf die eine oder die andere Vorstellung rekurieren, ohne deswegen seine Männlichkeit und seien soziale Position in Frage zu stellen. Globalisierung und Migration, moderne Kommunikationsmedien und ein erstarktes Selbstbewußtsein der Frauen (und Homosexuellen) haben alte Identitäten ins Wanken gebracht oder modifiziert. Luz Gabriela Arrango / Magdalena León de Leal (Hg.), Género e identidad. Ensayos sobre lo femenino y lo masculino, Bogotá 1995. Matthew C. Gutmann (Hg.), Changing Men and Masculinities in Latin America, Durham / London 2003. BARBARA P OT T HAS T Machu Picchu liegt ca. 100 km nordwestlich von →Cuzco im Süden →Perus. Diese von Ackerbauterrassen umgebene spätinkaische Stadtanlage, die sich auf einem Felsgrat in ca. 2450 m Höhe zwischen den Berggipfeln M. und Huayna Picchu (alter bzw. junger Gipfel) erstreckt, ist zweigeteilt: In der Oberstadt liegen die meisten sakralen Bauten, in der Unterstadt mehrheitlich Wohnhäuser für ca. 800–2 000 Ew. Die heutigen Bezeichnungen der Plätze und der ca. 200 Gebäude sind oft spekulativ. Nach aktuellem Forschungsstand handelt es sich bei diesem Komplex um einen für Inka Pachacuti Yupanqui Mitte des 15. Jh.s erbauten Landsitz, der mit der span. →Eroberung seine Funktion verlor und deswegen nach 1533 absichtlich verlassen wurde. Jüngst gefundene Archivdokumente belegen, daß den Spaniern vom 16. bis 18. Jh. unter dem Namen „Picchu“ bzw. „Picho“ Ländereien, nicht aber die Inkaruinen bekannt waren. Im späten 19. Jh. kursierten Gerüchte über eine inkaische Stadt „Matcho Picchu“. Erst im Juli 1911 „entdeckte“ sie der Historiker Hiram Bingham III (1875–1956) auf seiner ersten Yale-PeruExpedition, als ihn der indigene Bauer Melchor Arteaga an diesen Ort oberhalb der Urubamba-Schlucht führte. 496
1911, 1912 und 1914/15 stand M. P. nicht im Vordergrund von Binghams Interesse, er fotografierte aber die von Pflanzen befreiten Ruinen ausgiebig. Zunächst nahm er richtigerweise an, daß es sich beim ebenfalls untersuchten Ort Espíritu Pampa um Vilcabamba, das Zentrum des inkaischen Rest-Staats in der frühen Kolonialzeit, handelte. In seinen populären Expeditionsberichten (National Geographic Magazine, 1914–1916) und späteren Büchern identifizierte er jedoch Vilcabamba mit M. P., das durch die Veröffentlichungen weltbekannt wurde. Bei Binghams Forschungsreisen kam es zu Konflikten um die Ausfuhr von Kulturgütern. Die 1915 ins Peabody Museum (Yale) gesandten Kisten mit archäologischen Fundstücken wurden 1921 dem Nationalmuseum (Lima) restituiert. Der Streit um die Rückgabe der Tonscherben, Metallobjekte und Knochen aus den früheren →Expeditionen dauerte an, bis Yale im Nov. 2010 der Rückgabe an Peru zustimmte. 1983 erklärte die UNESCO die Inkastadt M. P. und ihre Umgebung zum Kultur- und Naturerbe der Menschheit. Das 32 592 ha große Gebiet mit einer Vielfalt ökologischer Zonen, in denen seltene Pflanzen und Tiere heimisch sind, ist von extremen Höhenunterschieden geprägt: vom 6 271 m hohen Salcantay-Gipfel über subtropische Nebelwälder bis auf 1 725 m zum Urubamba-Fluß. Peru hat ein großes Interesse am Erhalt M. P.s – sowohl aus wirtschaftlichen Motiven als auch aus Gründen der nationalen Identität. Die bekannteste Inkasiedlung ist allerdings durch den staatlich beworbenen massenhaften →Tourismus (mehr als 2 000 Besucher pro Tag) ebenso gefährdet wie durch Naturkatastrophen. Alfred M. Bingham, Portrait of an Explorer, Ames 1989. Richard L. Burger / Lucy C. Salazar (Hg.), Machu Picchu, New Haven u. a. 2004. Berthold Riese, Machu Picchu, München 2004. O TTO D A N WERTH Madagaskar. (Madagasikara) Lage: 40–50° östlicher Länge 12–25° südlicher Breite, Hauptstadt: Atananarivo. Ew.-zahl: ca. 23 Mio. (2013). Die viertgrößte Insel der Erde liegt vor der Ostküste Afrikas im →Ind. Ozean. Die Trennung M.s von den Nachbarkontinenten und die anschließende Abkapslung fand bereits im Mesozoikum (vor 245–65 Mio. Jahren) statt. Erdgeschichtlich ist die Insel mit →Australien verwandt und bildete mit diesem Kontinent Teil Gondwanas. Der Name M. taucht als Madeigascar oder Mogelasio zuerst bei Marco →Polo auf. Er bezog sich aber wohl auf die afr. Ostküste um →Mogadischu. 1492 übernahm Martin →Behaim für eine vermutete Insel im Ind. Ozean den Namen auf seinem Erdapfel. Die →Araber bezeichneten die Insel ‚ElKomr‘, d. h. Mondinsel. Dieser Name wurde später für die →Komoren übernommen. Die Portugiesen nannten die Insel ‚Ilha de San Lourenço‘, da sie am Tag des Hl. Lorenz, am 10.8.1500 von ihnen ‚entdeckt‘ wurde. Die Franzosen nannten sie zeitweilig ‚Ile Dauphin‘, nach dem Kronprinzen, dem späteren Ludwig XIV. Erst seit dem 17. Jh. setzte sich die heutige Bezeichnung allg. durch und wurde als einheitlicher Name für das Land auch von dessen Bevölkerung übernommen. Menschen siedelten erst ab 1000 n. Chr. auf der Insel. Asiatisch-afr. Herkunft, prägen beide ethnischen Gruppen bis heute das
m Ad i s o n , j Am es
kulturelle Bild der Insel und Einflüsse beider Kontinente, d. h. Afrikas und Asiens, auf die Geschichte der Insel und ihrer Bewohner sind nachweisbar. Diese einzigartige Entwicklung hat Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen fasziniert. Insb. Linguisten fanden hier ein reiches Betätigungsfeld. Ihre Untersuchungen haben ergeben, daß es eine gemeinsame Wurzel der Landessprache Malgache mit den malaiischen Sprachen gibt. Obwohl die madagassische Gesellschaft insg. keine völlig schriftlose war, liegen aus der Zeit vor dem 19. Jh. nur europäische Berichte über geschichtliche Ereignisse vor. Die arab. Schrift war in einigen Teilen des Landes bekannt, doch die wenigen erhaltenen schriftlichen Zeugnisse beschäftigen sich mit religiösen und astrologisch-astronomischen Angelegenheiten. Bis zum 13. Jh. waren Handel und Seefahrt musl. Kaufleute im Westen des Ozeans beherrschend gegenüber der fernöstlichen Konkurrenz geworden. Zu den Legenden um Seefahrer aus dem chin. Raum, welche die Insel besucht haben sollen, gehört jene um den Admiral →Zheng He, der zwischen 1405–1433 nachweislich bis Mogadischu kam und vermutlich dort Kenntnis der Insel erhielt, auch wenn es nicht erwiesen ist, daß er M. erreichte. Der erste Europäer, der port. Seefahrer Diogo Días, betrat die Insel 1500. Port. und frz. Versuche sich im 16. und 17. Jh. auf der Insel festzusetzen, schlugen fehl. Piraten waren die einzigen Europäer, die das Vertrauen der einheimischen Küstenbevölkerung errangen. Sie waren so zahlreich, daß die kleine, vor der Ostküste M.s gelegene Insel Ile Sainte Marie bis heute den Namen Ile des Pirates führt. Erst im ausgehenden 18. und im 19. Jh. geriet die Insel wieder in das Blickfeld europäischer Mächte. Großbritannien hatte sich gegenüber Frankreich und den Niederlanden bei der Verteidigung der reichsten überseeischen Besitzung (→Indien) durchgesetzt. Damit verbunden war das brit. Interesse an der Kontrolle des Seeweges nach Indien, der bis zur Eröffnung des →Suezkanals über das →Kap der guten Hoffnung und entlang der Ostküste M.s führte. Dieses Interesse an der Region vertiefte sich, nachdem Frankreich im Gefolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses →Mauritius zugunsten Großbritanniens aufgeben mußte. M. als Nachbarinsel des engl. Mauritius und des frz. →Réunion geriet nun in das Blickfeld zweier europäischer Mächte, da beide Inseln Plantagenkolonien waren, die sowohl hinsichtlich der Versorgung mit Arbeitskräften als auch deren Alimentation auf Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und Nahrungsmittelimporte aus M. angewiesen waren. Der Beginn europäischer Antisklavenhandelspolitik 1815, an der maßgeblich Großbritannien beteiligt war, hielt für M. direkte politische und ökonomische Auswirkungen bereit, da nun eine der drei grundlegenden Exporteinnahmequellen, die bislang von Rindern, →Reis und Sklaven gebildet worden waren, versiegte. →Radama I. versuchte über Entschädigungsverhandlungen, die v. a. brit. Militär- und Entwicklungshilfe, letztere vornehmlich durch die LMS geleistet, umfaßten, sein Reich zu einer Regionalmacht im Raum des Ind. Ozeans auszubauen. Um europäischen Einfluß einzudämmen, verwirklichte seine Nachfolgerin →Ranavalona I. zwischen 1835 und 1861 eine radikale Isolationspolitik, verbunden mit einer unbarmherzigen
Verfolgung aller christl. Untertanen, die als Gegner der kgl. Politik galten. Zugehörigkeit zur protestantischchristl. Religion wurde in den Jahren der Verfolgung gleichbedeutend mit fortschrittlichem, patriotischem Bewußtsein. Dem konnten sich 1869 auch →Ranavalona II. und ihr Premierminister nicht verschließen. Ihre demonstrative Konversion zum Protestantismus war daher auch der Versuch, die Kluft zwischen Kg.shaus und Reg. einerseits und der modernen Elite des Landes andererseits zu überbrücken. Gleichzeitig wuchs die Bedrohung der Souveränität M.s durch Frankreich, verstärkt durch das Nachlassen des brit. Interesses an M. Die Eröffnung des Suezkanals, der den Seeweg nach Indien um ein Vielfaches verkürzte, innereuropäische Entwicklungen sowie der beginnende scramble for Africa, ließen die Bedürfnisse M.s und seiner Herrscher zu unbedeutenden Faktoren europäischer Weltpolitik werden. 1896 wurde die Insel frz. →Protektorat und war zwischen 1898–1960 frz. Kolonie. Widerstand gegen die Kolonialherren war von Anfang deutlich und wurde heftig verfolgt. 1960 wurde Philibert Tsiranana erster Präs. der unabhängigen Rep. M. Nach elfjähriger Herrschaft führten 1971 Unruhen, die im Süden des Landes begannen und sich über die gesamte Insel ausbreiteten zu einem ersten Machtwechsel. Studentenrevolten und ein Militärputsch brachten 1975 Didier Ratsiraka an die Macht, der sich zum Präs. der nunmehr sozialistischen Rep. M. ausrufen ließ. In den folgenden Jahrzehnten wurde M. durch seine stalinistisch-kommunistisch orientierte Militär-Reg. im Stile Nordkoreas wirtschaftlich zu Grunde gerichtet. Außenpolitisch waren die Jahre durch eine fast vollständige Isolation gekennzeichnet. 1991 zwangen Volksaufstände Ratsiraka zum Rücktritt. Eine demokratische Verfassung trat in Kraft und 1993 wurde Albert Zafy zum neuen Präs. gewählt. Bei vorgezogenen Präsidentschaftswahlen 1996 gelang es Didier Ratsiraka, erneut zum Präs. des Landes gewählt zu werden. Die Präsidentschaftswahlen 2001 brachten Marc Ravalomanana einen deutlichen Wahlsieg. Dennoch versuchte sich Didier Ratsiraka weiterhin mit Wahlmanipulationen im Amt zu halten. Erst energische internationale Proteste überzeugten Ratsiraka ins Exil nach Frankreich zu gehen. 2002–2009 war Marc Ravalomanana, der in Deutschland studierte, amtierender Präs. des Landes. Ein Schwerpunkt der aktuellen Politik liegt auf dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland. Dagmar Bechtloff, Madagaskar und die Missionare, Stuttgart 2002. Mervyn Brown, A History of Madagascar, Princeton 2000. Jacques Cantier, The French Colonial Empire Under Vichy, Paris 2004. Stephen Ellis / Solofo Randrianja, Madagascar, London 2009. Marie A. J. Harison, Vier Jahrzehnte Unabhängigkeit Madagaskars, Frankfurt/M. 2006. D A G MA R BEC H TLO FF / MA RK U S V ERN E
Madison, James, * 16. März 1751 Port Conway, † 28. Juni 1836 Montpelier /Virginia, □ Madison Family Cemetery / Montpelier, anglik.-Episcopalian Vierter Präs. der →Vereinigen Staaten von 1809–1817. M. wuchs auf einer Tabakplantage auf (→Tabak), wo er eine Privaterziehung genoß. Sein Vater gehörte zu den 497
m A d rA s
wohlhabendsten Pflanzern Virginias. Nach einem Studium am College of New Jersey (Princeton University), das er 1771 abschloß, beschäftigte sich M. mit politischen und juristischen Problemen. Von 1776 bis 1779 war er Mitglied des →Abgeordnetenhauses von Virginia, danach des Kontinentalkongresses der Vereinigten Staaten, wo er 1785 mit Thomas →Jefferson an der Ausarbeitung der →Northwest Ordinance beteiligt war. Zwei Jahre später gehörte er in der verfassungsgebenden Versammlung zu den energischen Befürwortern einer Bundesverfassung, die der Bundesreg. gegenüber den Einzelstaaten stärkere Kompetenzen verlieh; sein „Virginia Plan“ hatte entscheidenden Einfluß auf die Beratungen und prägte die Bundesverfassung von 1787; davon zeugen seine Notes of Debates in the Federal Convention of 1787, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Die Konzipierung und Verabschiedung der Bill of Rights 1791 durch den Kongreß war wesentlich M.s Bemühungen zu verdanken. In den Jahren nach 1792, v. a. aber unter dem Eindruck der Schwierigkeiten der Beziehungen mit dem napoleonischen Frankreich und den Problemen, 1812/13 gegen England Krieg zu führen, wandelte sich M. in seiner Präsidentschaft 1809–1817 von einem Befürworter von Thomas Jeffersons Betonung der Eigenrechte der Staaten zu einem Befürworter der Kompetenzen der Bundesreg. Als letzte wichtige politische Handlung legte er als Präs. jedoch sein Veto gegen das Gesetz zum Ausbau der staatenübergreifenden Infrastruktur ein. Bis zu seinem Tod engagierte sich M. wie sein Mentor Thomas Jefferson für den Ausbau es Erziehungssystems von Virginia. Er starb 1836 und wurde auf dem Familienfriedhof in Montpelier, Virginia, begraben. Q: Robert A. Rutland (Hg.), The Papers of James Madison, Presidential Series, Bd. 1–6, Charlottesville 1984–2007. L: Jack N. Rakove, James Madison and the Creation of the American Republic, New York 32007. Robert A. Rutland (Hg.), James Madison and the American Nation, New York 1994. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Madras. Hauptstadt des ind. Bundesstaats Tamil Nadu (2011: 4,6 Mio., Groß-M. 8,7 Mio. Ew.). Industrielles (Automobilindustrie, Informationstechnologie) und kulturelles (Medien, Filmindustrie, Universitäten) Zentrum Tamil Nadus. M.s offizieller Name lautet seit 1996 Chennai. Am 22.8. 1639 erhielten Andrew Cogan und Francis Day vom Nayakafürsten Damarla Venkatadri die Erlaubnis zur Gründung einer befestigten Niederlassung, Fort St. George. Das Fort mit dem sog. „White Town“ sowie dem „Black Town“ (heute George Town) bildete den Kern der neuen Metropole, welche von den Europäern als Madraspatnam, von der tamilischen (→Dravidische Sprachen) Mehrheitsbevölkerung aber als Chennapatnam bezeichnet wurde. M. war zu dieser Zeit von mehreren älteren Siedlungskernen umgeben. Mylapore existierte bereits im 2. Jh. Weitere wichtige Siedlungen waren Tiruvottriyur und Tiruvallikeni (Triplicane). Außerdem existierte mit dem port. Saõ Tomé in Mylapore eine europäische Niederlassung. Bis 1749 waren fast alle diese Siedlungen von der East India Company (→Ostindienkompanien) erworben worden. M. entwickelte sich schnell zum kommerziellen und politischen Zentrum der 498
engl. Besitzungen an der Coromandel Küste, dem Kern der späteren M.-Presidency, welche im 19. und 20. Jh. weite Teile Südindiens umfaßte. Im späten 18. Jh. kam es zu einer verstärkten Zentralisierung der Macht durch die Kolonialadministration, symbolisiert durch die de facto Entmachtung des Nawabs von →Arcot 1801. Im Laufe des 19. Jh.s entwickelte sich M. auch zu einem Zentrum für →Bildung (Gründung des College of Fort St. George 1812) und Kultur, sowohl für die tamilische Mehrheitsbevölkerung wie auch für die signifikante Telugu Minderheit, was nach der Unabhängigkeit zu einem Tauziehen um M. als Hauptstadt der neuen Bundesstaaten Tamil Nadu und Andhra Pradesh führte. Ravi Ahuja, Die Erzeugung kolonialer Staatlichkeit und das Problem der Arbeit, Stuttgart 1999. Henry Davison Love, Vestiges of Old Madras 1640–1800, 4 Bde., Delhi 1996 (Original: London 1913). Subbiah Muthiah, Madras Rediscovered, Chennai ²2004. TO R STEN TSCH A C H ER
Madurai. Hauptstadt des gleichnamigen Distriktes im ind. Bundesstaat Tamil Nadu. M. (2011: 1 Mio. Ew.) ist eine der ältesten urbanen Siedlungen in Südindien. In der alttamilischen (→Dravidische Sprachen) Literatur wie in griechischen und römischen Berichten wird M. seit den ersten nachchristl. Jh.en als Hauptstadt der Pandya-Dynastie erwähnt. In den 1320ern wurde M. vom Sultanat von →Delhi (→Delhi-Sultanat) erobert und diente als Hauptstadt des Reiches zwischen 1333/34 und ca. 1371/72, bis die Stadt an →Vijayanagara fiel. Zu politischer Bedeutung kam M. wieder unter den Nayakas im 16. Jh. Besonders Tirumala Nayaka (regierte ca. 1627/28–1659) förderte öffentliche Bauten und den zentralen Tempel der Göttin Minakshi. 1736 fiel M. an die Nawabs von →Arcot. Das 18. Jh. war eine unruhige Periode mit häufigen Rebellionen. 1801 traten die Nawabs M. an die Engländer ab. In der kolonialen und postkolonialen Periode blieb M. der administrative Mittelpunkt der Region und entwickelte sich zu einem Zentrum für →Bildung (Universität gegründet 1966) und →Tourismus. D. Devakunjari, Madurai through the Ages, Madras 1979. K. Gowri, Madurai Under the English East India Company 1801–1857, Madurai 1987. Holly B. Reynolds, Madurai, in: Bardwell Smith / Holly B. Reynolds (Hg.), The City as a Sacred Center, Leiden 1987, 12–44. TO R STEN TSCH A C H ER
Maghreb. Das Toponym (arab. Maghrib, „Westen“, „Okzident“, wörtlich „Ort des Sonnenuntergangs“) kam während der arabo-musl. Expansion im 7. Jh. auf und bezeichnet sowohl den Staat →Marokko (al-Maghrib al-Aqsâ, „der fernste Westen“) als auch einen in seinen Grenzen nicht eindeutig definierten Großraum in Nordafrika, im weitesten Sinne das gesamte Gebiet westlich von →Ägypten (al-Maghrib al-carabî, „der arab. Westen“). Anfänglich nannten die Eroberer die für sie nur schwer zugängliche Region zwischen Syrte, Mittelmeer, →Atlantik und dem Sandmeer der Sahara Djazîrat al-Maghrib („die Insel des Westens“) und sahen sie als Pendant zur „Insel der →Araber“ (Djazîrat al-cArab, arab. Halbinsel)
m A hArero , s Am u el
im Osten. Diese ursprüngliche Abgrenzung identifiziert den M. weitgehend mit dem Hochgebirgssystem des Atlas, das sich in zwei küstenparallel verlaufenden Ketten über 2 400 km von Cap Bon (→Tunesien) im Nordosten bis Agadir bzw. (bei Einschluß des Anti-Atlas) zum Wadi Draa (Marokko) im Südwesten erstreckt (durchschnittliche Nord-Süd-Ausdehnung 300 km). Später (und seit dem 20. Jh. generell) wurden auch die sich südlich anschließenden Teile der Sahara dazugerechnet (im Extremfall bis an den →Niger), weshalb jetzt geographisch und kulturell mitunter zwischen dem „Mediterran-Atlantischen M.“ und dem „Sahara-M.“ unterschieden wird. Im vorherrschenden aktuellen Verständnis umfaßt die M.-Region die Staaten Tunesien, →Algerien und Marokko (ca. 3 Mio. km² und 77 Mio. Ew.). Werden →Libyen und Mauretanien sowie die marokkanisch besetzte →Westsahara einbezogen, spricht man vom „Groß-M.“ (6 Mio. km², 87 Mio. Ew.). Die fünf genannten Staaten haben sich 1989 in der (angesichts bestehender Spannungen aber kaum wirksamen) „Arab. M.-Union“ zusammengeschlossen. Die um 1970 von Vertretern der Berberismusbewegung eingeführte berbersprachige Alternativbezeichnung Tamazgha („Land der Imazighen“, d. h. der →Berber) konnte sich nicht durchsetzen und ist auch nicht deckungsgleich, da sie den gesamten (historischen) Lebensraum der Berber meint. Diese bilden zwar die autochthone Grundbevölkerung, machen aber nach groben Schätzungen gegenwärtig im „Groß-M.“ nur noch 25 % der Ew. aus. Auch das antike „Libya“ und die zwischen 16. und 19. Jh. in Europa gebräuchlichen Namen „Berberey“, „Barbareskenstaaten“, „Berbérie“ (frz.), „Barbary“ (engl.) usw. nehmen auf die Berber Bezug und korrespondieren mit dem Begriff M., können jedoch nicht als Synonyme betrachtet werden. Ali Abdullatif Ahmida, Beyond Colonialism and Nationalism in the Maghrib, Basingstoke 2009. Werner Herzog, Der Maghreb, München 1990. L’année du Maghreb, hg. v. Institut de Recherches et d’Études sur le Monde Arabe et Musulman, Paris 2005ff. (Zeitschrift). L OT HAR BOHRMANN
Magnetismus. Die Kenntnis des Erd-M., der eine Magnetnadel dazu bringt, sich nach dem Magnetpolen der Erde (in Mitteleuropa etwa Nord-Süd) auszurichten, wird zuerst den Chinesen zugeschrieben. Das älteste lateinische Traktat über M. unter Einschluß des Erd-M. stammt von Petrus Peregrinus (12. Jh.). Für die Deklination gibt es keine berechenbaren Regeln, sie kann nur beobachtet und publiziert werden (z. B. für Luft- und Seefahrt). Bei den spätmittelalterlichen Portulanen, die ausschließlich auf den Magnetpol ausgerichtet waren, wurde bei jedem Exemplar die aktuelle Deklination zugrunde gelegt, was zu Unterschieden der Nordrichtung auf den Karten von 7 bis 12 Grad führte. Der Astronom Edmond Halley hat 1700 die erste Karte mit Linien gleicher magnetischer Mißweisung (Isogonen) gezeichnet. Heinz Balmer, Beiträge zur Geschichte der Erkenntnis des Erdmagnetismus, Aarau 1956. Uta Lindgren, De Magnete, in: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 13 (2003), 137–148. UTA L I NDGRE N
Mahan, Alfred Thayer, * 27. September 1840 West Point , † 1. Dezember 1914 New York, □ Annapolis National Cemetery, anglik.-Episcopalian M. wurde als Sohn des Ingenieur-Prof.s David Hart M. geboren. Erzogen in strenger Religiosität und militärischem Drill, begann M. sein Studium 1854 an der Columbia Universität und wechselte zwei Jahr später an die US Navy Akademie in Annapolis. 1859 beendete er seine Studien als zweitbester Absolvent seines Jahrgangs. Während des →Am. Bürgerkrieges diente er als Offizier auf verschiedenen Schiffen der Unionsmarine und verblieb nach dem Krieg in der Marine. Schnelle Beförderungen führten ihn in höchste Ämter der Marineattaches im Ausland und zu Bordkommandos. 1872 heiratete M. Ellen Lyle Evans, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hatte. 1883 verfaßte er die offizielle am. Darstellung zum Bürgerkrieg. Mit diesem Werk begann sein seekriegstheoretisches Schaffen, welches ihm einen Platz im Navy College sicherte. Mit seinem Hauptwerk, „The Influence of Sea Power upon History“ (1890), begründete M. die Theorie der Seeüberlegenheit. Für ihn stand nicht der Kaperkrieg, sondern die Entscheidungsschlacht zwischen den Schlachtflotten im Mittelpunkt der Betrachtung. Seine Theorie befaßte sich mit den Blockaden feindlicher Häfen durch überlegene Streitkräfte und dem Blockadebruch durch unterlegene Marinen. Den Kaperkrieg sah er nur als Mittel der Schwäche einer Marine an. Besonders die Blue Water School in Großbritannien bediente sich seines Werkes, während die „Jeune École“ in Frankreich dem Kreuzerkrieg als Kaperkrieg den Vorzug gab. Die ksl. Marine folgte spätestens ab 1898 ebenfalls M.s Konzept des Schlachtenkrieges zur See. M. übte einen großen Einfluß auf das seestrategische Denken seiner Zeitgenossen, in Deutschland v. a. auf Kaiser Wilhelm II. und Alfred →Tirpitz, aus. M. erhielt für seine Veröffentlichungen die Ehrendoktorwürden der Universitäten Oxford und Cambridge. Als Konteradmiral beendete er seine Laufbahn und zog sich aus dem aktiven Dienst zurück. Sein Nachlaß befindet sich in der Library of Congress. John Hattendorf (Hg.), The Influence of History on Mahan, Newport 1991. Christian Rödel, Krieger, Denker, Amateure. Alfred von Tirpitz u. das Seekriegsbild vor dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2003. A N D R EA S LEIPO LD
Maharero, Samuel (Uereani), * 1854 Okahandja, † 14. März 1923 Serowe, □ Okahandja, seit 1869 ev. Der 1869 von der →Rheinischen Missionsgesellschaft getaufte M. war nach dem Tod seines Vaters Kamaherero (1890) zunächst als Nachfolger umstritten, wurde jedoch am 19.5.1895, nicht zuletzt durch sein Bündnis mit den Deutschen in deren Kolonie →Dt.-Südwestafrika, endgültig als paramount chief anerkannt. Er leistete den Kolonialherren bereitwillig Heeresdienste, bis er am 21.1.1904 auf Grund der allg. kolonialen Unterdrückung an die Spitze des →Herero-Nama-Aufstandes (1904–1907) trat. Da ihm die „Vernichtungspolitik“ des dt. →Gouv.s und Oberbefehlshabers der →Schutztruppe, Lothar von Trotha, keine Chance zur Kapitulation ließ, setzte er sich mit einem Teil seiner Leute nach →Bechu499
m A h d i y yA
analand ab, wo er starb und mit dem Union Jack bedeckt begraben wurde. Den Tag der Überführung seiner Überreste nach Okahandja (23.8.1923) begehen die Herero bis heute als „Maharerotag“. Jan-Bart Gewald, Herero Heroes, Ohio 1998. Gerhard Pool, Samuel Maharero, Windhoek 1991. HORS T GRÜNDE R
Mahdiyya (sog. „Mahdi-Aufstand“; richtiger: Mahdibewegung mit eigenem Staatsgebilde). Sozialpolitische, sunnitisch-fundamentalistische Bewegung, die sich Ende des 19. Jh.s im →Sudan entwickelte. In der Geschichte des →Islam gab es mehrere Vorläufer, doch ist die Erwartung eines Mahdi (Rechtgeleiteter; Restaurator von Glauben und Gerechtigkeit, der vor dem Weltuntergang regiert) eher in der schiitischen Glaubensrichtung verwurzelt. Im Juni 1881 rief sich Muhammad Ahmad, ein Sufi aus Dongola (* 1844), zum Mahdi aus. Er besaß das „Kennzeichen“, ein Mal an der Wange, und legimitierte seine Position mit der Rückführung seines Stammbaumes auf den Propheten Muhammad. Der Mahdi scharte zahlreiche Anhänger, die späteren Ansar, um sich und predigte Widerstand gegen die seit der Reg.szeit →Muhammad Alis andauernde turko-ägyptische Besatzung des Sudan (Turkiyya) und das Osmanische Kalifat. Deshalb sah der Mahdi seine Mission in der Restauration der umma und der →Eroberung der heiligen Stätten in Mekka und Medina sowie Konstantinopel, Bagdad und Kufa. Unterstützung erhielt er u. a. von Sklavenhändlern, die durch das Verbot des →Sklavenhandels ihre Einkommensquelle verloren hatten. Seine Popularität wuchs, als er erste militärische Erfolge seiner zwar schlecht bewaffneten, aber kampfeswilligen Anhänger gegen Reg.struppen verzeichnen konnte. Begünstigt wurden diese Erfolge durch die anfangs völlige Unterschätzung der Gefahr seitens der Reg.sbeamten in →Kairo und →Khartum und den zeitgleich in →Ägypten ausgebrochenen Orabi-Aufstand, der Truppen an Ägypten band. Nachdem nahezu alle Provinzen des Sudan in die Hand des Mahdi gefallen waren, und die Mahdisten den im Febr. 1884 als ägyptischen Gen.-gouv. des Sudan nach Khartum entsandten →Gordon am 27.1.1885 im Kampf um die Stadt getötet hatten, gab auch das Brit. Empire seine halbherzige Haltung zu den Ereignissen im Sudan auf und entsandte Entsatztruppen. Mit Ausnahme von kleineren →Grenzkonflikten mit benachbarten Regionen, bei denen der äthiopische Ks. Johannes IV. 1889 getötet wurde, blieb die Bewegung weitgehend auf den Sudan begrenzt. Der plötzliche Tod Muhammad Ahmads am 22.6.1885 führte nicht zum Ende der M., da sein enger Vertrauter und Oberbefehlshaber des in drei Abteilungen (schwarze/grüne/rote Fahne) unterteilten Heeres, Abdullahi al-Chalifa, zum Nachfolger bestimmt wurde. Der Chalifa (Kalif) baute den theokratischen MahdistenStaat weiter aus („Kalifat von Omdurman“) und führte statt der für Muslime verpflichtenden Hidschra nach Mekka die Pilgerreise zum Mahdi-Grab ein. Von großem Wert sind die Erlebnisberichte europäischer Gefangener des Mahdi, die den Chalifa, in dessen Wirkungszeit eine große Hungersnot (1888–90) fiel, im Gegensatz zum charismatischen Mahdi als ignoranten, grausamen 500
Diktator erscheinen ließen. Anglo-ägyptische Truppen unter →Kitchener und Wingate brachten den Mahdisten am 2.9.1898 in einer der bedeutendsten Schlachten des 19. Jh.s bei Omdurman/Kereri eine vernichtende Niederlage bei. Der Chalifa selbst fiel erst ein Jahr später im Kampf (24.11.1899). Der Sudan kam fortan bis 1956 unter brit.-ägyptische Herrschaft. In der Rückschau genießt der Mahdi bei vielen musl. Nordsudanesen als „Vater der Unabhängigkeit“ große Wertschätzung. Die Mahdi-Familie übt bis heute politisch-religiösen Einfluß im Sudan aus. Peter Holt, Al-Mahdiyya, in: Clifford E. Bosworth u. a. (Hg.), The Encyclopaedia of Islam, Bd. 5, Leiden 1986, 1247–1253. Ders., The Mahdist State in the Sudan, Oxford 1979. Gabriel Warburg, Islam, Sectarism and Politics in Sudan Since the Mahdiyya, Madison 2003. C H R ISTIA N K IR C H EN
Mais →Nahrungsmittel, überseeische Maji-Maji-Aufstand. Der M.-M.-A. in →Dt.-Ostafrika gehört neben dem →Herero-Nama-Aufstand in →Dt.Südwestafrika zu den brutalsten →Kolonialkriegen des Dt. Reiches. Er begann am 20.7.1905 im Hinterland von Kilwa im Süden der Kolonie. Dort zerstörten Angehörige der Matumbi eine unter kommunaler Verwaltung stehende Baumwollplantage (→Baumwolle). Anschließend breitete sich der A. rasch über den Süden der Kolonie aus. Die Angreifer hielten sich für unverwundbar, da sie zuvor ein heiliges Wasser, das sog. „maji“, getrunken hatten. Diese „maji“-Ideologie war vor Ausbruch des Krieges von dem Propheten Kinjikitile verbreitet worden. Die dt. Kolonialmacht versuchte, die Angreifer v. a. mit den kaum zu bekämpfenden Maschinengewehren in Schach zu halten. Als die Maji-Krieger daraufhin eine Art „Guerillatechnik“ entwickelten, reagierten die Kolonialtruppen mit einer Taktik der „verbrannten Erde“. Auf diese Weise gelang es den Deutschen im Laufe des Jahres 1906, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Offiziell beendet wurde der Krieg jedoch erst 1908. Im amtlichen Jahresbericht für die dt. →Schutzgebiete 1906/07 sprach die Reichsreg. von ca. 75 000 toten Afrikanern. Heute geht die Forschung von einer wesentlich höheren Opferzahl aus. Der damalige →Gouv. Gustav Adolf Graf von →Götzen sah zunächst in der Aufwiegelung der Bevölkerung durch indigene Stammesfürsten und →Medizinmänner die Ursache des Krieges. Neueste Forschungen zeigen dagegen, daß Teile der Bevölkerung sich gegen eine Veränderung ihrer Lebensweise zur Wehr setzten. Diese reichte vom Zwang zur Arbeit für die Kolonialherren und brutale Steuereintreibung über die Veränderung der Geschlechterbeziehungen bis zur Einschränkung traditioneller Jagdgewohnheiten (→Jagd). Das 1967–1969 an der Universität →Daressalam durchgeführte „Maji-Maji-Research Project“ und weitere Forschungen erschüttern zudem die Sichtweise eines von afr. Seite zentral gesteuerten und koordinierten Krieges. Die Kämpfe und Motivationen unterschieden sich je nach Region deutlich, so daß der Aufstand in zahlreiche Einzelgefechte zerfiel. Nach der Niederschlagung änderte das Dt. Reich unter dem neuen Gouv. Albrecht
mAkonde
von →Rechenberg seine bisherige Politik und setzte v. a. auf die Förderung der einheimischen Produktion. Für Dt.-Ostafrika waren die demographischen und ökologischen Folgen des M.-M.-A.s noch lange spürbar. Nachdem die Bevölkerung zunächst die Erinnerung an diese Niederlage weitestgehend verdrängt hatte, versuchte der Oppositionsführer und spätere Premierminister und Staatspräs. →Tansanias Julius →Nyerere im Kontext der →Dekolonisation die Erhebung gegen die dt. Kolonialherren als ersten gemeinsamen Akt der tansanischen Nation umzudeuten. Mittlerweile hat die Erinnerung an den M.-M.-A. jedoch teilweise wieder ihre nationale Funktion verloren, so daß man eher auf lokaler Ebene an den Aufstand erinnert. Felicitas Becker / Jigal Beez (Hg.), Der Maji-Maji-Krieg in Dt.-Ostafrika 1905–1907, Berlin 2005. James Giblin/ Jamie Monson (Hg.), Maji Maji. Lifting the Fog of War, Leiden/Boston 2010. Maji Maji Research Project 1968. Collected Papers, Daressalam 1968. Thaddeus Sunseri, Reinterpreting a Colonial Rebellion: Forestry and Social Control in German East Africa, 1874–1915, in: Environmental History 8 (2003), 430–451. HE NNI NG T ÜRK Makassar. Die Ursprünge M.s liegen im Dunkeln. Spätestens seit dem 14. Jh. existierten kleine Fürstentümer, die zu dieser Zeit unter der Oberherrschaft des javanischen Großreichs Majapahit standen. Im 16. Jh. existierten mehrere unabhängige Fürstentümer wie Gowa-M. oder Talloq, die auch eine eigene Schrifttradition und Herrscherchroniken entwickelten. 1607 erfolgte der Übertritt des Herrschers von M. zum →Islam. Das Sultanat M. verdankte seine politische und ökonomische Bedeutung seiner geographischen Lage an der Südküste von →Celebes, dem heutigen Sulawesi, die seinen Aufstieg als Handelsimperium für den Ostindonesien-Handel im späten 16. und 17. Jh. ermöglichte. Nach 1600 wurde M. zum Hauptrivalen von →Ternate im Handel mit →Gewürzen u. a. Produkten der →Molukken. Sein enormer wirtschaftlicher Aufstieg insb. nach der ndl. →Eroberung von →Malakka 1641 spiegelte sich in den Bevölkerungszahlen wieder: Während 1615 M. bereits 25 000 Ew. hatte, waren es in seiner Blüte von 1640–1660 über 100 000. Die herausragende Position als Eingangstor zum lukrativen Molukkenhandel ließ M. auch zu einer unerwünschten Konkurrenz für die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) werden, die nach mehreren Kriegen seit 1666 in einer Allianz mit den rivalisierenden BugisFürstentümer Wajo und Bone schließlich 1669 M. eroberten. Die VOC befestigte M. mit dem Fort Rotterdam und baute es zu einem strategischen Zentrum für den Seeweg nach Ostindonesien aus. Dennoch wurde M.s führende Rolle für den Molukkenhandel nie mehr wieder erreicht. Um 1700 hatte die Stadt lediglich 5 000 Ew. M.ischen Händlern wurde der Handel mit den Molukken (Ternate, →Tidore, →Ambon, →Banda), China und den Kleinen Sundainseln untersagt, woraufhin sie sich neue Handelsgebiete suchten, die sie regelmäßig mit ihren Prauen anliefen. Erst im 19. Jh. wurde M. wieder ökonomisch bedeutend als Verwaltungszentrum der Niederländer in Südsulawesi. Nachdem M. 1847 zum Freihafen erklärt worden war und von vielen europäischen Schiffahrts-
linien (→Schiffahrt) angelaufen wurde, entwickelte es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zum Zentrum des Handels mit Paradiesvogelbälgen aus den Molukken und Neuguinea. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zum aufstrebenden →Singapur wurden stark ausgebaut. Nach der kolonialen Erschließung Sulawesis im 19. Jh. nahm auch die Bevölkerungszahl M.s stark zu und erreichte 1938 wieder 84 000 Ew. Bereits 1918 wurde ein Zweig der politischen Partei →Sarekat Islam in M. gegründet, 1929 ein Zweig von →Sukarnos Partai Nasional Indonesia. Die Japaner machten M. nach der Eroberung im Febr. 1942 zu ihrem Hauptquartier der Militärverwaltung im östlichen →Indonesien, die →Borneo, Sulawesi, die Kleinen Sundainseln und die Molukken umfaßte. Am 21.9.1945 wurde M. an die alliierten Truppen übergeben. In der indonesischen Revolution wurde M. eines der Hauptzentren des Widerstands gegen die Niederländer, was diese 1947 mit →Massakern unter der Zivilbevölkerung unter dem Regiment des berüchtigten Leutnants Raymond Westerling beantworteten. 1947 machten die Niederlande M. zur Hauptstadt von Ostindonesien (Sulawesi, Molukken, →Bali, Kleine Sundainseln). Die indonesische Verwaltung schuf 1948 die Provinz Südsulawesi, ebenfalls mit M. als Hauptstadt. Die Rebellion von Andi Aziz, eines ehem. Offiziers der ndl.-ind. Kolonialarmee →KNIL, für einen unabhängigen Staat Ostindonesien im Apr. 1950 wurde rasch niedergeschlagen. 1957 waren M. und Südsulawesi Zentren der für einen islamischen Staat kämpfenden Darul Islam-Bewegung. 1971 wurde M. in Ujung Pandang umbenannt, seit 2003 heißt die Stadt wieder M. Heute ist M. Hauptstadt der indonesischen Provinz Südsulawesi (Sulawesi Selatan) und mit 1,25 Mio. Ew. die größte Stadt auf Sulawesi und im gesamten östlichen Indonesien. Maria do Carmo Mira Borges, Os Portugueses e o Sultanato de Macaçar no Século XVII, Cascais 2005. Gerrit Knaap / Heather Sutherland, Monsoon Traders, Leiden 2004. John Villiers, Makassar: The Rise and the Fall of an East Indonesian Maritime Trading State, 1512–1669, in: J. Kathirithamby-Wells / John Villiers (Hg.), The Southeast Asian Port and Polity, Singapur 1990, 143– 159. H O LG ER WA R N K Makonde. Die M. sind eine →Bantu sprechende →Ethnie im Südosten →Tansanias und in angrenzenden Regionen →Mosambiks. Ursprünglich südlich des MalawiSees (→Malawi) beheimatet, wanderten sie im 18. Jh. in ihr jetziges Siedlungsgebiet ein. Der bewaffnete Befreiungskampf gegen die port. Kolonialherrschaft in Mosambik nahm 1960 auf dem Plateau der M. seinen Ausgang und wurde von ihnen wesentlich mitgetragen. Die ca. 1,3 Mio. M. lebten traditionell vorwiegend vom Anbau von Körner- und Knollenfrüchten sowie →Baumwolle, ergänzt durch Kleinviehhaltung und →Jagd. Die relativ selbstständigen Dörfer wurden von erblichen Oberhäuptern und einem Ältestenrat geleitet, größere politische Einheiten waren ursprünglich unbekannt. Ahnenkult und Geisterglaube standen im Mittelpunkt der religiösen Anschauungen, damit verbunden auch intensive kollektive Jugendweihen und faszinierende Maskentänze. Die bei den M. herrschende Matrilinearität zog auch eine starke 501
m A lA bA r küs t e
Betonung der Frau in Kult und Kunst nach sich. Die traditionelle Schnitzkunst der M. manifestiert sich besonders in kunstvollen Masken und Statuetten, aber auch in einer bemerkenswerten „Kleinkunst“ und zahlreichen verzierten Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs. Bereits am Ende des 19. Jh.s begannen die M., für verschiedene Auftraggeber zu schnitzen. Seit den 1950er Jahren belieferten sie auch den Touristenmarkt. Zunächst beschränkten sie sich dabei auf gefällige Genre-Darstellungen: menschliche Figuren, einzeln und als Gruppe, Porträtköpfe, Tiere. Erst später schufen sie Arbeiten, die schließlich ihren Weltruf als Schnitzer „moderner“ Kunst begründeten. Diese Skulpturen aus Ebenholz zeigen u. a. in schwungvoller Abstraktion Buschgeister, Menschen oder Tieren ähnliche Dämonen aus der reichen Mythologie der M. sowie bis zu drei m hohe „Familientürme“ oder „Lebensbäume“, deren Ursprung im Gemeinschaftsgedanken des Volkes zu suchen ist. Art makondé – tradition et modernité (ohne Autor), Paris 1989. GI S E L HE R BL E S S E Malabarküste. Küstenstreifen auf einer Länge von ca. 650 km entlang des Arab. Meeres zwischen der Konkanküste im Norden und Kap Komorin im Süden. Die schmale Küstenebene ist durch die Westghats vom Hochland des Dekkan und der Ostküste getrennt. Ebenso ist sie durch eine große Zahl an Flüssen sowie die Backwaters räumlich in sich stark strukturiert. Aus dieser topographischen Situation ergeben sich vergleichsweise kleinräumige politische Strukturen. Seit dem 1. Jh sind umfassende überseeische Handelsaktivitäten an der M. (u. a. mit dem Römischen Reich, Ostafrika, dem arab. Raum und Persien) nachweisbar. In diesem Rahmen etablierten sich verschiedene Händlergruppen in den städtischen Zentren der Region (→Araber, Armenier, Juden u. a.), deren distinkte ethnische Identitäten die Grundlage für weitreichende Geschäftskontakte im gesamten →Ind. Ozean bildeten. Eine weitere Gruppe in dieser auch religiösen Vielfalt bilden die →Thomaschristen. Im Süden etablierte sich seit der 1. Hälfte des 18. Jh.s unter Maharaja Marthanda Varma (reg. 1729–58) das Regionalreich von Travancore. Weiter nördlich schlossen sich die Territorien von Cochin (beide 1949 zu Travancore-Cochin zusammengefaßt) und des Zamorin von →Calicut an. Im ausgehenden 18. Jh. war auch das Fürstentum →Mysore bestrebt, seinen Einfluß in der Region durch militärische →Eroberungen zu erweitern, wurde aber letztlich von den Briten wieder zurückgedrängt. V. a. der Anbau von →Pfeffer (daneben auch von Kardamom, Areka- und Kokosnuß) zog seit dem beginnenden 16. Jh. die Portugiesen (→Estado da India) an die M. Seit der Mitte des 17. Jh.s wurden diese jedoch sukzessive von der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie verdrängt (1663 Eroberung von Cochin). In der Zeit der Napoleonischen Kriege gelang es wiederum den Briten, die Niederländer aus dieser Region zu verdrängen und wachsenden politischen Einfluß auch auf die indigenen Fürsten auszuüben. (→British Raj) Fürstentümer und ehem. Kolonialgebiete wurden 1956 zum Bundesstaat Kerala zusammengefaßt. Ashin Das Gupta, Malabar in Asian Trade, Cambridge 1967. Ashin Das Gupta / M.N. Pearson (Hg.), India and 502
the Indian Ocean, Kalkutta u. a. 1987. Sanjay Subrahmanyam, The Political Economy of Commerce, Cambridge u. a. 1990. MA RTIN K R IEG ER Malaiisch in Niederländisch-Indien. Zur Zeit der Ankunft der Niederländer war Malaiisch bereits interethnisches Kommunikationsmittel in den Küstenregionen Südostasiens. Die Kolonialregierung übernahm diese Sprache in ihren direkten Kontakten mit der lokalen Bevölkerung. Nach dem britischen Interregnum von 1811 bis 1816 begannen die Niederländer die landwirtschaftliche Ausbeutung auf Java. Die Konzentration auf diese Insel zwang die Niederländer sich auch mit der wichtigsten Sprache Javas, Javanisch, zu beschäftigen. Malaiisch blieb jedoch primäres Medium im Umgang mit den lokalen Autoritäten sowohl innerhalb als auch außerhalb Javas. Die intensiven Kontakte zwischen Kolonialherrn und Kolonisierten, die sich aus der Verwaltung des „Kultivierungssystem“ (culturstelsel) ergaben, führten dazu, daß sich die Niederländer mit der Erziehung der Einheimischen, insbesondere mit der Festlegung auf eine Kontaktsprache, auseinandersetzen mußten. Zur Wahl standen Niederländisch und Malaiisch. Man entschied sich für Malaiisch und somit gegen die eigene Sprache. Diese Sprachenpolitik unterschied sich von der englischen in Indien, die die Vermittlung des Englischen an die einheimische Bevölkerung betrieb. Die Niederländer hatten zwar eine ablehnende Haltung gegenüber der Einrichtung des Niederländischen als gemeinsame Sprache, waren jedoch daran interessiert, der einheimischen Elite den Zugang zur niederländischen Sprache möglich zu machen, da man diese als Bindeglied zwischen der Kolonialmacht und der einfachen Bevölkerung betrachtete und einen Beitrag zur Effektivität der Verwaltung und zur Verbesserung des Verständnisses zwischen beiden Parteien leisten konnte. Die Wahl des Malaiischen zum primären Verständigungsmittel im Kolonialreich hatte zur Konsequenz, daß Malaiisch in den meisten Schulen zur Unterrichtssprache wurde und daß in den Niederlanden zukünftige Kolonialbeamte vor ihrer Abreise in die Kolonie Malaiisch (für eine kurze Periode auch Javanisch) lernen mußten. Mit der Ausweitung des Kolonialreichs über Java hinaus stieg die Bedeutung des Malaiischen als Kommunikationsmittel zwischen Niederländern und Einheimischen ebenso wie unter Einheimischen. Das Malaiische war trotz seiner Institutionalisierung als Kolonialsprache keine homogene Sprache, sondern bestand aus zahlreichen lokalen Varianten. So wurde Ende des 19. Jh.s der Ruf nach einer Standardisierung des Malaiischen laut. Diese wurde durch van Ophuysen’s Werke zur Rechtschreibung (1901) und Grammatik (1910) geschaffen, die beide auf dem Klassisch-Malaiischen von Riau und Johor basieren. Dieses Standard-Malaiisch verbreitete sich dank der in West-Sumatra ausgebildeten Sprachlehrer im gesamten Kolonialreich. Einen immens wichtigen Beitrag zur Expansion der Standardform leistete das „Komitee für Volksliteratur“ (Balai Pustaka, gegründet 1908), das Bücher veröffentlichte, die die Standardvariante verwendeten. Erste Unabhängigkeitsbewegungen entstanden um die Zeit des Ersten Weltkriegs und führten letztendlich im Jahr 1928 zur Proklamation des
m A l Ak k A
Standard-Malaiischen als Nationalsprache eines zukünftig unabhängigen Indonesiens durch den Zweiten Nationalen Jugendkongress. Die Sprache nannte man nunmehr Indonesisch (Bahasa Indonesia). Der Slogan lautete: „ein Volk: die Indonesier, ein Land: Indonesien, eine Sprache: Indonesisch“. Wie Indonesisch so sind auch die Nationalsprachen Malaysias und Brunei Darussalams (Bahasa Melayu) aus dem Malaiischen von Riau und Johor hervorgegangen. Unterschiede zum Indonesischen bestehen auf Grund der unterschiedlichen Kolonialgeschichte v. a. im lexikalischen Bereich. Kees Groeneboer, Gateway to the West. The Dutch Language in Colonial Indonesia 1600–1950. A History of Language Policy, Amsterdam 1998. Hein Steinhauer, Colonial History and Language Policy in Insular Southeast Asia and Madagascar, in: Alexander Adelaar / Nikolaus Himmelmann, The Austronesian Languages of Asia and Madagascar, London / New York 2005, 65–86. BE RND NOT HOF E R
Malakka. Der Name der Stadt und des Sultanats sowie der schiffbaren Flußmündung, welche die Stadt teilt, leitet sich von dem endemischen Baum melaka (Emblica officinalis Gaertner) ab. M. und Umgebung werden schon bei →Ptolemaios als Chryse Chersonesos geführt. Am Vorabend der port. →Eroberung 1511 durch →Albuquerque kontrollierte das Sultanat beide Seiten der Straße von M. und sicherte u. a. die notwendige Einfuhr von →Reis aus →Sumatra. Auch die Ostküste der Halbinsel war tributpflichtig, was den Warentransport von und nach China über Land ermöglichte. Die Sicherheit auf See wurde durch Bündnisse mit seeschweifenden Clans erkauft, die sich untereinander bekämpften. Nominelle Botmäßigkeit gegenüber dem Ks. von China seit 1403 dienten beiden Seiten zum Vorteil. M. war außenpolitisch unangreifbar. China bedrohte die südostasiatischen Kg.e am Südrand seines Reiches mit seinem Vasallen in deren Rücken. Das Kgr. (Kerajaan Melayu) hatte sich unter dieser Konstellation zur Drehscheibe des Transithandels u. a. mit →Gewürzen entwickelt. Von Anfang an etikettierten sich die Portugiesen und der Hof des Sultans wechselseitig. Während die Malayen stereotyp als „Moros“ bezeichnet und die Einnahme M.s als erfolgreiche Fortsetzung der Reconquista interpretiert wurde, bezeichnete der Hof unter islamischen Einfluß die Neuankömmlinge als „→Franken“. Das Auftreten der Portugiesen wurde in einen theoretischen Rahmen eingeordnet, der sich auf islamische Überlieferungsräume bezog. Dies umso leichter, als jh.ealte Kontakte mit der arab. Welt die Islamisierung ebneten und der dritte Herrscher M.s, Machmut Shah, sich 1436 zum →Islam bekehrt hatte. Schon 1511 hatte Albuquerque im →Ind. Ozean chin. Kaufleute auffällig korrekt behandelt. Auf der Reede von M. stellte ihm die chin. Kolonie fünf Dschunken zur Verfügung. Für die chin. Politik bildete offenbar die Konnotation „Franken“ weder ein Konzept, noch stellte sie eine Bedrohung dar. Die neuen Herren in M. betrachtete der chin. Hof als potentielle Handelspartner. Zwar versuchten der Sultan und sein Nachfolger aus dem Exil in Johore vergebens, die Portugiesen aus M. zu vertreiben, doch gelang dies aus Sicht der malaii-
schen Geschichtsschreibung erst mit Hilfe der Holländer. Hatte Albuquerque die Moscheen und die Sultansgräber u. a. als Steinbrüche für den Bau der Festung A Famosa und der Kirchen geschändet und die Vermehrung einer großen Mestizengemeinde angeordnet, so vertrieben die Holländer nach der Eroberung M.s 1641 rigoros alle Priester und Orden, respektierten aber die rk. Mestizen und nahmen sie wegen ihrer Zweisprachigkeit wie schon die Portugiesen gerne in Dienste. Die ausgebrannte St. Pauls Kirche blieb als Ruine erhalten. Beim Neubau der Festung fügte die →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) ihr Wappen in die Porta San Diago ein. Sie nahm weiterhin die mehrsprachigen Mestizos in ihre Dienste. So kam es, daß v. a. im Osten des späteren →Indonesien sowie auf Ceylon und am →Kap der guten Hoffnung musl. und rk. Malaien für die VOC als Mittler tätig waren. Auch die port.-rk. Gemeinden respektierte die VOC. Noch lange blieb das Portugiesische wie eine Amtssprache erhalten. In der heutigen historischen Altstadt M.s zeugen das Stadthaus und die Christ Church aus importierten europäischen Quadern davon, daß die Holländer – anders als die Portugiesen – nunmehr den gesamten Fernhandel Asiens beherrschten und das Zentrum nach →Batavia verlegen konnten. Asiatische Kaufleute bauten gezwungenermaßen in der Region neue Handelszentren auf, so etwa Johor. Nach dem Bankrott der VOC und angesichts der frz. Herrschaft in den Niederlanden wurde M. vorübergehend an die Engländer „ausgeliehen“ und 1824 u. a. im Vertrag von →London gegen Westsumatra und →Singapur getauscht. Der Plünderung der Stadt und der drohenden Umsiedlung der Bewohner in das engl. →Penang gebot →Raffles Einhalt, der zum begeisterten Denkmalpfleger M.s wurde. Die Festung ließ er abtragen bis auf die Ruinen von St. Pauls und den CampanileLeuchtturm sowie Porta San Diago. Christ Church wurde anglik. Der Niedergang des etablierten Handelssystems in M. konnte sich nicht besser widerspiegeln. Statt dessen blühten die Sultanate der Halbinsel durch den Handel auf, nachdem Raffles sie zunehmend mit Verträgen an die East India Company (EIC) (→Ostindienkompanien) angeschlossen hatte. Um 1850 unterstanden Penang, M. und Singapur unmittelbar der EIC. Die Ökonomie der einzelnen Sultanate im Innern der Halbinsel geriet immer mehr in den Sog der übergeordneten Handelbeziehungen. Dadurch verschoben sich die Machtverhältnisse zugunsten von Distriktoberhäuptern. Die Einnahmen durch die Zinngewinnung im ausgehenden 19. Jh. trugen zur Entstehung neuer Unternehmen, zum Zuzug neuer Arbeitssiedler aus China und somit weiter zur Destabilisierung bei. Die Vision einer Zentralisierung wurde immer deutlicher. Noch heute führen die Sultansfamilien ihre Abstammung auf den Herrscher von M. zurück. Als aber am 31.8.1957 die Verfassung der Föderation Malaya proklamiert wurde, stand M. als Hauptstadt nicht zur Debatte. Das änderte sich auch nicht, als am 16.9.1963 die Föderation →Malaysia aus Malaya, Singapur sowie den ostmalayischen Provinzen →Sarawak und →Sabah gebildet wurde. Nach der Verfassung repräsentieren die Sultane ihr angestammtes Land und stellen – in festgelegter Reihenfolge – das Oberhaupt des Staates. Sabah, Sarawak, Penang und M. – je unter einem Gouv. – sind 503
m A lA r iA
hiervon ausgeschlossen. Das Sultanat von M. wurde nicht wieder errichtet. Malcolm Dunn, Kampf um Malakka, Wiesbaden 1984. Fritz Schulze, Abstammung und Islamisierung als Motiv der Herrschaftslegitimation in der traditionellen malaischen Geschichtsschreibung, Wiesbaden 2004. Wilfried Wagner, Myths Surrounding Malacca’s Downfall, in: Fritz Schulze / Holger Warnk (Hg.), Insular South East Asia, Wiesbaden 2006. WI L F RI E D WAGNE R Malaria (Wechselfieber, Sumpffieber). Die Erreger der M. sind Plasmodien (Pl), diese sind einzellige Protozonen. Diese durchlaufen einen komplizierten Lebenszyklus, der sich z. T. im Menschen und z. T. in der Anophelesmücke als obligaten Zwischenwirt abspielt. Von den zahlreichen Plasmodien sind vier Formen bedeutsam. a. M. tropica. (Erreger Pl. falciparum): Es handelt sich um die schwerste Form der M., bei der nach einer Inkubationszeit von ein bis zwei Wochen Fieber mit Schüttelfrost auftritt. Das Fieber ist unregelmäßig. Weitere Frühsymptome sind Lethargie, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Erbrechen. Die Zerstörung von roten Blutkörperchen bedingt eine Blutarmut. Der Urin wird schwarz durch Abbauprodukte des roten Blutfarbstoffes (Schwarzwasserfieber). Thrombenbildung in den kleinen Gefäßen zieht viele Organe in Mitleidenschaft. Cerebrales Koma, Krampfanfälle, Nierenversagen, Lungenödem und Blutungen folgen daraus. Die Letalität ist entspr. hoch. b. M. tertiana (Erreger Pl. vivax und ovale): Nach einer ein- bis zweiwöchigen Inkubationszeit treten zunächst Kopf und Gliederschmerzen auf, dann Fieberschübe jeweils für einige Stunden alle drei Tage. Schwere Organkomplikationen fehlen. Die Erkrankung neigt zu Rezidiven, die auch noch nach Jahren auftreten können bedingt durch den Verbleib inaktiver Gewebeformen des Plasmodiums in der Leber. c. M. quartana (Erreger Pl. malariae): Die Symptomatik ist identisch der der Tertiana, das Intervall zwischen den Fieberschüben dauert allerdings vier Tage, die Inkubationszeit ist länger bis zu vierzig Tagen. Bei Kindern kann sich eine Nierenentzündung mit großer Eiweiß-Ausscheidung ausbilden. Bei allen drei M.-Formen kann die kongenitale M. beobachtet werden. M. hinterläßt nur eine partielle Immunität. Reinfektionen sind daher möglich. Resistent gegen M. sind heterozygote Träger der Sichelzellanämie. Deren Häufigkeit in Afrika ist eine Folge von Selektion. Die Therapie erfolgt mit Chemotherapeutika, wobei sich die Auswahl nach der Resistenzlage der Erreger richtet. Selbiges gilt für die mögliche Prophylaxe. Der Schutz vor der Anophelesmücke ist die wichtigste Schutzmaßnahme vor einer M.-Infektion. Das Verbreitungsgebiet ist das der Anophelesmücke, insg. die tropische und subtropische Zone. Die verschiedenen M.-Formen sind regional unterschiedlich häufig. Pl. falciparum kommt im tropischen Afrika am häufigsten vor, Pl. ovale und malariae sind seltener und bevorzugen →Südostasien. Jährlich erkranken ca. 250–300 Mio. Menschen an M., ein bis zwei Mio. versterben daran, davon sind die Hälfte Kinder. Die M. ist schon seit der menschlichen Frühgeschichte bekannt, seit dem Altertum war sie bis in die Neuzeit im Mittelmeerraum (Po-Ebene) und auch in Mitteleuropa 504
(Ostfriesland) endemisch. Hier wurde sie erst im 20. Jh. ausgerottet. Nach →Amerika gelangte sie erst im 16. Jh. im Zusammenhang mit dem →Sklavenhandel. Margot Kathrin Dalitz, Autochthone Malaria i. mitteldten. Raum, Diss. Halle 2005. Nancy Day, Malaria, West Nile and Other Mosquito-borne Diseases, Berkely Heights 2001. Andrew Jamieson / Stephen Toovey, Malaria, Kapstadt 2006. Walther H. Wernsdorfer, Malaria in Mitteleuropa, in: Denisia 6 (2002), 201–212. D ETLEF SEY BO LD
Malaspina, Alessandro, * 5. November 1754 Mulazzo, † 9. April 1810 Pontremoli, □ Panteón de Marinos Ilustres, San Fernando, rk. Der aus dem Feudaladel der Lunigiana stammende M. verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Palermo und Rom. An beiden Orten setzte er sich intensiv mit dem neapolitanischen Gedankengut seiner Zeit auseinander, etwa mit Vico, Ferdinando Galiani, Genovesi und Filangieri, von denen sich in seinen späteren Schriften deutliche Spuren zeigten. Zunächst Ritter des Malteserordens, trat er 1774 seinen Dienst in der span. Armada an. Die span. Marine war seit →Philipp V. einer der Hauptträger der naturwissenschaftlichen Studien in Spanien. Da der Italiener hier einen großen Wissensvorsprung aufweisen konnte, stieg er in der Hierarchie rasch auf. Ab 1785 segelte er auf Schiffen der Compañía de Filipinas und erwarb so wichtige Erkenntnisse über Wirtschaft und Handel, die in seine späteren Reformvorschläge für das Kolonialreich einflossen. 1789–1794 leitete er eine →Expedition zur Erforschung der Randgebiete des span. Reiches, die auf Grund der reichhaltigen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften und der →Kartographie bis heute als eine der bedeutendsten gilt. Im Vorfeld verfaßte er seine „Axiomas políticos sobre la América“, in denen er sich, in Anlehnung an Newtons Principia, bemühte, die politische Herrschaft Spaniens über →Amerika auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. Eine zentrale These M.s war dabei, daß die span. Herrschaft auf militärischer Gewalt beruhe, während etwa England und Holland, die ihrige auf die Mehrung des Wohlstandes durch die Förderung der Wirtschaft stützten. Die Bemühungen der span. Reg. um eine stärkere Union könne bei Fortführung ihrer Politik nur scheitern und müsse durch eine Politik ersetzt werden, die stärker auf den Handel als Bindeglied zwischen Mutterland und Kolonien unter Berücksichtigung am. Wirtschaftsinteressen setze. Dies lief den Interessen des span. Hofes, der unter den Bourbonen auf eine engere administrative Bindung der Kolonien setzte, zuwider. M. fiel 1795 in Ungnade und verbrachte sechs Jahre im Gefängnis. 1802 wurde er freigelassen und aus Spanien verbannt. Andrew David / Felipe Fernández-Armesto u. a. (Hg.), The Malaspina Expedition, 3 Bde., London 2001–2004. Alejandro Malaspina, Axiomas políticos sobre la América, hg. v. Manuel Lucena Giraldo / Juan Pimentel, Aranjuez 1991. Juan Pimentel, La física de la monarquía, Madrid 1998. A LEX A N D R A G ITTER MA N N Malawi. Das 118 484 km2 große Staatsgebiet der Republic of M. (in der zweiten Landessprache Chichewa:
m A lAy s i A
Mfuko la M.) ähnelt auf der Landkarte einer Erweiterung und Verlängerung des langgestreckten M.-Sees (früher Njassa, d. h. See in Chichewa), des zweitgrößten Gewässers im Ostafr. Graben mit 30 800 km2 Wasserfläche und einer beachtlichen Varietät von Buntbarschen. Seine Ufer werden von bis zu 1 400 m aufsteigenden Hochebenen gesäumt; im Süden erreicht der Mt. Mulanje 3003 m. Dort entwässert der Shire als Hauptfluß des Landes den See und mündet nach 402 km in den Sambesi. M.s Vegetation besteht aus Savannen und lichtem Trockenwald, die zwischen Nov. und Apr./Mai – je höher und nördlicher umso ergiebiger – beregnet werden. Unter den 13 verschiedenen →Ethnien, die aber alle zur Bantu-Sprachfamilie (→Bantu) zählen, sind die Chewa (die sich zu den Maravi, d. h. M. zählen) mit 30 % die größte, es folgen die Nyanja (15 %), die Lomwe (12 %), die Yao (11 %) und die Ngoni (9 %). Über 80 % der Gesamtbevölkerung von ca. 14 Mio. ist in der Landwirtschaft tätig. Unter den Markt- und Exportprodukten rangiert der →Tabak an erster Stelle, gefolgt von →Tee und Zuckerrohr (→Zucker). Für den Eigenbedarf wird v. a. Mais angebaut. An Bodenschätzen verfügt M. über Bauxit-, Niob- und Uranvorkommen, die dem Land aber längst keine wirtschaftliche Unabhängigkeit garantieren. Auch im malawischen Abschnitt des Ostafr. Grabens wurden paläanthropologische Funde (z. B. bei Karonga) gemacht, als erste Vertreter von homo sapiens sind wohl Verwandte der südwestafr. San (Buschleute) anzunehmen, die sich auch hier mit Felsgravuren in die Geschichte eingeschrieben haben. Ab 200 n. Chr. scheint es Keramik gegeben zu haben, und die Einwanderung der Chewa-Vorfahren aus dem Luba-Gebiet im Norden wird zwischen 1000 und 1500 n. Chr. datiert. 1859 erreichte David Livingstone als erster Europäer den M.See; das Gebiet wurde aber erst 1891 brit. →Protektorat und wurde ab 1907 Nyassaland genannt. Die anfänglichen Pläne, auf dem fruchtbaren Shire-Schwemmland eine Siedlerkolonie einzurichten, wurden allerdings bald aufgegeben. M. erhielt seine moderne Prägung durch die christl. Missionen. Heute bekennen sich 23 % zum Katholizismus, 19 % zur presbyterianischen Church of Central Africa, 17 % gehören African Independent Churches an und nur 2,5 % sind Anglikaner. Daneben gibt es viele Freikirchen und Abspaltungen, selbst eine neotraditionelle „Kirche der Ahnen“. Auch die 15 % Muslime, die ihre stärkste Verbreitung unter den Yao im Süden haben, sind gespalten in traditionelle Bruderschaften (Qadiriyya und Schadhiliyya) und reformislamische Richtungen. Nach der Unabhängigkeit 1964 regierte der Presbyterianer und Großunternehmer Dr. Hastings Kamuzu Banda das Land von 1966 bis 1993 diktatorisch, danach kamen bislang unterdrückte Oppositionsparteien an die Macht. Doch auch der v. 2004–2012 regierende Katholik Bingu Mutharika zeigte autoritäre Züge, die eher ein Teil als eine Eindämmung der landesweiten Korruption waren – etwa in der Gesundheitspolitik (15 % HIV-Infizierte), den anstehenden Agrarreformen oder beim Ausbau der 1947 gegründeten Hauptstadt Lilongwe, das heute mit über 700 000 Ew. das alte Zentrum Blantyre (benannt nach Livingstones schottischem Geburtsort) und erst
recht die ehem. Hauptstadt Zomba (91 000) überflügelt hat. Harri Englund und Jack Mapanje (Hg.), A Democracy of Chameleons. Politics and Culture in the New Malawi, Uppsala 2003. BER N H A R D STREC K Malaysia als geographisch-kultureller Begriff wurde vermutlich erstmals in den 1830er Jahren in „The Chinese Repository“, einer Missionszeitschrift der am. presbyterianischen Mission benutzt. Er umfaßte das heutige insulare →Südostasien mit den Territorien der heutigen Nationalstaaten →Indonesien, →Philippinen, →Brunei, →Osttimor, →Singapur und M. Weitere Verbreitung erfuhr der Begriff in den 1890ern durch die Mission der American Methodist Episcopal Church, die ihre Missionsgebiete, die ebenfalls die erwähnten Staaten umfaßten, als M. bezeichnete. In die Wissenschaft wurde der Begriff von Rupert Emerson 1937 eingeführt, der ihn auf Indonesien und Malaya anwandte. Mit der Umbenennung der Föderation Malaya in M. wurde der Begriff 1963 politisch relevant. Im Folgenden soll sich die Darstellung auf die malaiische Halbinsel beschränken (für die Territorien M.s in →Borneo: →Sarawak und →Sabah). Die malaiische Halbinsel war schon früh ökonomisch von Bedeutung, da sie an den Seeweg von →Indien nach China bzw. in die →Molukken angrenzte. Die Straße von →Malakka war ein Nadelöhr, durch das Handelsrouten der maritimen Seidenstraße verliefen. Mindestens seit Christi Geburt ist ein reger maritimer Handel nachweisbar. Vom 7.–13. Jh. gehörte die malaiische Halbinsel in den Einflußbereich des im südlichen →Sumatra gelegenen Reiches von Srivijaya. Im 14. Jh. bildete sich eine Reihe kleiner Stadtstaaten, zentriert um Flußmündungen, heraus. Dieses Muster setzt sich bis heute fort. Mit Ausnahme der kolonialen Gründungen →Penang und Sabah sind alle modernen malaysischen Bundesstaaten nach Flüssen und den dort gelegenen Hauptorten benannt. Der erste musl. Herrscher in der malaiischen Halbinsel ist durch einen auf 1303 datierten Grabstein aus Terengganu an der Ostküste bekannt. Bis zur Mitte des 15. Jh.s war die Islamisierung der malaiischen Staaten abgeschlossen. Das Sultanat von Malakka war zu dieser Zeit der dominante Staat und kontrollierte den maritimen Handel in der Straße von Malakka. Die herausragende Position wurde durch die Kontrolle des lukrativen Handels mit →Nelken und →Muskat erreicht, die von den Molukken durch die Malakka-Straße nach Indien, Persien und Arabien und von dort weiter ins Mittelmeer verschifft wurden. Als sich nach 1498 die Portugiesen in Asien festsetzten, war Malakka eines ihrer wichtigsten strategischen Ziele. Nachdem 1509 eine Belagerung gescheitert war, konnte Afonso de →Albuquerque 1511 Malakka für die Portugiesen erobern. Die Stadt wurde der wichtigste port. Stützpunkt in Südostasien, von dem aus sie ihre Unternehmungen nach China und in die Molukken und Kleinen Sundainseln starteten. Der Sultan von Malakka hingegen konnte nach Johor im Süden der malaiischen Halbinsel an der gegenüberliegenden Küste von Singapur fliehen und begründete dort einen neuen Handelshafen, der allerdings nie die Bedeutung von Malakka erreichte. In der Bevölkerung Malak505
m A lAy s iA
kas waren die Portugiesen bald verhaßt, da sie eine intolerante Politik gegenüber Muslimen verfolgten, was sie nicht daran hinderte, militärische Bündnisse mit musl. Staaten einzugehen, sobald es die Lage erforderte. Dennoch geriet Malakka im späten 16. und frühen 17. Jh. immer mehr in Konkurrenz zum erstarkenden Sultanat →Aceh in Nordsumatra und konnte sich nur mit Mühe mehrerer Belagerungen erwehren. Im maritimen Handelssystem kam es sich durch die Präsenz der →Portugiesen in Südostasien zu wenigen Veränderungen, Dies änderte sich mit der Ankunft der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie in Asien zu Beginn des 17. Jh.s. Die Niederländer verdrängten die Portugiesen aus dem lukrativen Gewürzhandel (→Gewürze) und konnten 1641 den wichtigsten port. Stützpunkt Malakka erobern. Die Niederländer legten die Schwerpunkte ihrer territorialen Expansion auf →Java und die Gewürzinseln im 17. und 18. Jh. Über ihre Hauptstadt →Batavia verschifften sie die Handelswaren über das →Kap der guten Hoffnung nach Amsterdam und Hoorn, somit wurde die alte Handelsroute durch die Straße von Malakka überflüssig. Zudem schafften sie es relativ erfolgreich, für mehrere Dekaden ein Monopol auf den Nelken- und Muskathandel zu etablieren und somit dem Zwischenhandel in Malakka ein Ende zu bereiten. Die malaiischen Sultanate verlegten sich daraufhin zunehmend auf, jedoch weniger lukrative Handelprodukte. Neben der noch nicht sehr intensiven Zinnförderung nahm die Pfefferproduktion (→Pfeffer) in der malaiischen Halbinsel im 18. Jh. einen Aufschwung. Politisch war sie in viele kleinere Staaten zersplittert. Die malaiischen Sultanate waren untereinander zutiefst zerstritten und in diverse Thronfolgekonflikte verstrickt. Eine erfolgreiche Koalition gegen die Niederländer kam nie zustande, im Gegenteil, zur Unterstützung ihrer Dynastien holten sich einige Sultanate (Johor-Riau, Selangor) buginesische →Söldner ins Land, die durch Einheiraten in die kgl. Linien rasch zu einem wichtigen Machtfaktor wurden. Die Staaten im Norden sahen sich Konflikten mit →Siam ausgesetzt, dem sie bis ins späte 19. Jh. Tribut zahlten. Ferner fanden im 18. Jh. größere Einwanderungen von →Minangkabau in die Region des heutigen Negeri Sembilan an der Westküste statt, wo sie diverse kleine Staaten und Fürstentümer gründeten. Mit der Überschreibung der Insel Penang 1786 durch den Sultan von Kedah an Francis →Light und die East India Company (EIC, →Ostindienkompanien) beginnt die Präsenz der Briten in der malaiischen Halbinsel. Ursprünglich gedacht als Zwischenstation für den engl. Chinahandel wurde die Insel jedoch als regionales Zentrum maritimen Handels von dem 1819 erworbenen Singapur abgelöst. Der ökonomische Aufschwung Singapurs, der im Kontext mit der industriellen Revolution in Europa und der Öffnung des →Suezkanals gesehen werden muß, war in der Geschichte der malaiischen Halbinsel einzigartig. Durch den Vertrag von →London 1824 regelten die Niederlande und Großbritannien ihre Ansprüche auf Sumatra und die malaiische Halbinsel. Während die Briten ihren Stützpunkt Benkoolen an Sumatras Westküste aufgaben, überließen die Niederländer den Briten Malakka. Singapur; Penang und Malakka wurden von der EIC zur Verwaltungseinheit der →Straits Settlements zusammen506
gefaßt, die 1867 zur →Kronkolonie wurden. Die Briten sahen ihre ökonomischen Interessen in der Halbinsel durch die ständige internen Konflikte und Bürgerkriege in den malaiischen Sultanaten bedroht und setzten 1874 in Selangor und Perak und 1875 in Negeri Sembilan brit. Verwalter ein. Erste schlechte Erfahrungen und Widerstände der malaiischen Eliten ließen sie ein in Sarawak bewährtes Residentensystem übernehmen, das in Perak von Hugh →Low eingeführt und in allen anderen Staaten kopiert wurde. Diese Residenten kooperierten eng mit lokalen Eliten und fungierten offiziell als „Berater“ der malaiischen Herrscher. De facto übernahmen sie alle relevanten Aspekte der Innen- und Außenpolitik, durften sich aber nicht in Angelegenheiten von „malaiischer Sprache, Kultur und Religion“ (→Islam) einmischen. 1888 erhielt auch Pahang an der Ostküste einen solchen Residenten. Selangor, Perak, Negeri Sembilan und Pahang waren die ökonomisch wichtigsten malaiischen Staaten auf Grund ihrer reichhaltigen Zinnvorkommen und wurden 1896 zu den Federated Malay States (FMS) zusammengefaßt. Bis 1914 erhielten auch die Staaten Perlis, Kedah, Kelantan und Terengganu im Norden und Johor ganz im Süden einen brit. Berater an die Seite gestellt. Diese Staaten bildeten den losen Zusammenschluß der Unfederated Malay States (UMS). Unter brit. Herrschaft wurden Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig verändert. Der industrielle Abbau von Zinn sowie der Aufbau kolonialer Plantagenwirtschaft (→Kaffee, →Tee, ab 1900 v. a. →Kautschuk) brachte Tausende von Arbeitskräften von China und Südindien (zumeist Tamilen), aber auch aus Sumatra und Java ins Land. In den 1920er Jahren war Brit.-Malaya der Hauptlieferant von Rohkautschuk. Doch die koloniale Wirtschaftspolitik hatte einschneidende Folgen für die Bevölkerung: Anfang der 1930er Jahre lebten laut kolonialen Statistiken in Brit.-Malaya mehr Einwanderer als Malaien. Da die Malaien von den Briten aber als einheimisch angesehen wurden und dies auch in den kolonialen Schulen intensiv vermittelt bekamen, führte dies zu innerethnischen Spannungen, deren Wirkungen bis heute nachreichen. Die politische Situation in Brit.-Malaya war bis zum →Zweiten Weltkrieg i. allg. friedlich, allerdings wurden Aktivitäten der chin. nationalistischen Partei Kuomintang eingeschränkt. Nationalistische Aktivitäten beschränkten sich größtenteils auf die wenig verbreitete Presse. Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch für Malaya eine Zäsur. Innerhalb kürzester Zeit überrannten die am 7.12.1941 in Kelantan an der Nordwestküste gelandeten jap. Truppen die schlecht ausgerüsteten brit.-ind. Truppen und nahmen am 15.2.1942 Singapur ein, das Zentrum der jap. Militärverwaltung wurde. Die Zinnvorkommen sowie die Kautschukproduktion waren für die Japaner kriegswichtige Industrien. Der anti-jap. Widerstand wurde in Malaya fast ausschließlich von der chin. dominierten Malayan Communist Party (MCP) getragen. Nach der jap. Kapitulation übernahmen die Briten wieder die Verwaltung. Als sie 1946 mit der Malayan Union ein neues Verwaltungsschema einführen wollten, das Chinesen und Indern die gleichen Bürgerrechte wie Malaien zustand, kam es zu unerwartet scharfer Opposition von seiten der Malaien, die dies vehement ablehnten. Als Konsequenz
m AlfA n te, A n to n i o
wurde 1946 die United Malays National Organization (UMNO) als Sprachrohr aller ethnischen Malaien gegründet, die offen für die Unabhängigkeit eintrat. Nach heftigen Protesten ließen die Briten schließlich 1948 von der Malayan Union ab und propagierten einen föderalen Entwurf. Im selben Jahr erließ die Kolonialverwaltung Notstandsgesetze gegen die MCP, deren Mitglieder zwei Jahre zuvor teilweise sogar mit dem Victoria-Kreuz ausgezeichnet wurden. Die MCP zog sich daraufhin in den Untergrund zurück und arbeitete mit gezielten Terroranschlägen, z. B. gegen brit. Plantagenbesitzer. Am 6.10.1951 ermordeten MCP-Guerillas Sir Henry Gurney, den High Commissioner für Brit.-Malaya. Friedensgespräche im Dez. 1955 in Baling in Kedah scheiterten an der unnachgiebigen Haltung von der Delegation von Tunku Abdul →Rahman. Militärisch ab Mitte der 1950er immer mehr marginalisiert, wurde der Notstand erst 1960 aufgehoben und durch den sog. Internal Security Act ersetzt, der eine Verhaftung bis zu zwei Jahren ohne Gerichtsverhandlung ermöglichte und seit den 1970er Jahren in M. in zunehmenden Maße gegen innenpolitische Gegner eingesetzt wurde. Vereinzelte MCP-Gruppen waren im Dschungel an der thailändischen Grenze noch bis in die späten 1970er Jahre als Guerilla-Truppe aktiv. Erst am 2.12.1989 wurde ein Friedensabkommen zwischen der MCP und der malaysischen Reg. geschlossen. Seit 1951 war Tunku Abdul Rahman Vorsitzender von UMNO. Er erkannte, daß eine Unabhängigkeit von den Briten nur bei einem friedlichen Zusammenleben von Malaien, Indern und Chinesen gewährt werden würde, und bildete zusammen der Malayan Chinese Association und Malayan Indian Congress eine große Koalition, die bis heute alle Reg.en in M. stellt. Am 31.8.1957 wurde die Föderation Malaya in die Unabhängigkeit entlassen. Verfassung und Staatsform (konstitutionelle Monarchie mit einem alle 5 Jahre aus den Reihen der malaiischen Sultane gewählten Kg.) der neuen Föderation Malaya lehnten sich stark an der Großbritanniens an. Die Zentralreg. wird von einem Premierminister geführt, auf regionaler Ebene haben die Bundesstaaten, regiert von einem Ministerpräs., gewisse politische Freiheiten. 1963 traten Singapur, Sarawak und Sabah der Föderation bei, die sich fortan M. nannte. Dies führte zu außenpolitischen Spannungen mit Indonesien, dessen Präs. →Sukarno Indonesiens Ansprüche in Borneo bedroht sah und 1963–64 eine militärische Konfrontationspolitik (Indonesisch ‚Konfrontasi‘) in Borneo einschlug. Wirtschaftspolitische Programme der 50er und 60er Jahre legten ihren Schwerpunkt auf die Auslöschung der ländlichen Armut – dies betraf v. a. Malaien – und der ländlichen Entwicklung. In dieser wurden die Ölpalmenplantagen stark ausgebaut, so daß M. in den 80er und 90er Jahren weltgrößter Produzent von Palmöl und Palmkernöl wurde. Seit den 70ern legten die malaysischen Reg. verstärkt Wert auf die →Industrialisierung des Landes, was 1990 in dem Programm Vision 2020 gipfelte, das sich zum Ziel setzte, M. bis zum Jahr 2020 zu einem voll entwickelten Industrieland zu machen. Ökonomische Probleme und innenpolitische Krisen führten bei den Parlamentswahlen im Mai 1969 zum Verlust der 2/3-Mehrheit der Reg.skoalition. Die im Anschluß am 13.5.1969 v. a.
in →Kuala Lumpur aufgetretenen Rassenunruhen mit offiziell über 100 Toten führten zu einer Notstands-Reg., die bis 1971 im Amt blieb. Unter ihr wurden verstärkte Programme zur Förderung der malaiischen Bevölkerungsgruppe in Angriff genommen. Dazu gehörten gesicherte Zulassungszahlen und Absolventen an Hochschulen, spezielle Stipendien, eine verstärkte Islamisierungspolitik (ausgerichtet an Entwicklungen im Mittleren Osten), oder die zunehmende Dominanz von Malaien in Polizei und Armee. In den letzten Jahren sorgte die zunehmende Beschneidung von Bürgerrechten für Unmut in der Zivilgesellschaft M.s, was sich am erneuten Verlust der Zweidrittelmehrheit für die Reg. bei den Parlamentswahlen im März 2008 niederschlug. Virginia Matheson Hooker, A Short History of Malaysia, Chiang Mai 2003. Anthony Milber, The Malays, Malden 2008. Barbara Watson Andaya / Leonard Andaya, A History of Malaysia, Basingstoke 2001. H O LG ER WA R N K Malediven. Eine Inselrep. im →Ind. Ozean, südwestlich der Südspitze →Indiens. Die ersten Siedler der Inselgruppe gehörten einer sonnenanbetenden →Ethnie an, deren Ursprung sich nach →Sri Lanka und Indien zurückverfolgen läßt. Diese Ethnie wurde im 5. Jh. von Buddhisten (→Buddhismus) aus Sri Lanka und Hindus (→Hinduismus) aus Indien akkulturiert. In dieser präislamischen Epoche war die stark zentralisierte Monarchie ein Zufluchtsort für politische Exilanten. Strategisch günstig an den Seerouten zwischen Europa und dem Fernen Osten gelegen, kamen die M. durch arab. Seehändler mit dem →Islam in Kontakt, der 1153 als Staatsreligion eingeführt wurde – ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Konvertierung wurde als pragmatische Maßnahme betrachtet, um die Beziehungen zu einflußreichen musl. Händlern im Ind. Ozean zu verbessern. Ähnlich wie andere dezentrale Staaten Südasiens (→Bhutan, →Nepal), unterstanden die M. nicht der direkten Herrschaft westlicher Kolonialmächte, mit Ausnahme der 15 Jahre andauernden Besetzung durch die Portugiesen, die Malé 1558 eroberten. Die M. waren im 17. Jh. ndl. und ab 1887, bis zur Erlangung der formalen Unabhängigkeit 1965, brit. →Protektorat (→Ostindienkompanien). Clarence Maloney, People of the Maldive Islands, Bombay 1980. Urmila Phadnis/Ela Dutt Luithui, Maldives, Delhi 1985. SIEG FRIED O . WO LF Malfante, Antonio, * 1409/10 Genua (?), † 1450 auf Mallorca, □ unbek., rk. M., ein Kaufmann aus Genua, unternahm 1447 eine Handelsreise in die westliche Sahara, über die er in einem erst 1918 in frz. Übersetzung veröffentlichten Brief berichtete. Von der algerischen Küste aus gelangte er über Tlemcen nach Touat (Tueto) und erreichte bei →Timbuktu den →Niger, den er – wie schon seit der Antike üblich – mit dem →Nil in Zusammenhang brachte. Über den weiteren Verlauf der Reise und die Rückkehr ist nichts bekannt. Wir verdanken M. die frühesten Mitteilungen über die Touat-Oasen und ihre Umgebung (Bewohner, Wirtschaftsverhältnisse, v. a. Handel). Insb. gilt er als einziger europäischer Zeitzeuge für die Existenz einer größeren jüdischen Gemeinde in Tamentit (damali507
mAli
ger Hauptort der Oasen), die bis 1492 bestand. In diesem Jahr wurden die Juden auf Betreiben fanatischer Prediger aus dem Touat vertrieben, da man ihnen eine Mitschuld am Fall Granadas gab. Charles de la Roncière, Découverte d’une relation de voyage datée du Touat et décrivant en 1447 le bassin du Niger, in: Bulletin de la Section de Géographie, Bd. 33 (1918). L OT HAR BOHRMANN Mali. „Frz. Sudan“ (Soudan français) war von 1920 bis 1960 der offizielle Name von M. Das Territorium war Teil des mittelalterlichen gleichnamigen M.-Kgr.s in Westafrika. Zwischen 1880 und 1893 wurde die Region von den Franzosen erobert und ab 1904 als Teil der Region Obersenegal (→Senegal) und →Niger verwaltet. Dann wurde sie in drei Kolonien geteilt: →Obervolta, Niger und Frz.-Sudan, wo Jean Terrasson de Fougères 1920–1930 der erste Gouv. war. M. ist ein ausgedehntes „Hinterland“ mit wenigen Ressourcen. Die koloniale Wirtschaft stütze sich auf die Vermarktung von →Baumwolle und Erdnüssen, die v. a. mit der Eisenbahn zur Hafenstadt →Dakar verfrachtet wurden. 1904 wurde die Eisenbahnlinie →Bamako-Kayes eröffnet und 1923 die Strecke von Kayes nach Dakar vervollständigt. In den 1930er Jahren begann das von Ingenieur Bélime konzipierte Projekt Office du Niger, dessen Hauptaufgabe die Erschließung des Nigergebiets war. Es sollten, um die Baumwollproduktion zu erhöhen, mehrere Tausend ha Land im Nigertal bewässert und neue Arbeitskräfte aus Obervolta angesiedelt werden. Das Projekt hat nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Der Erdnußanbau dagegen brachte der Kolonie eine neue Einnahmequelle. Nach der Unabhängigkeit am 22.9.1960 nahm Frz.-Sudan den historischen Namen M. an und wurde bis 1968 unter der Präsidentschaft des Sozialisten Modibo Keita (1915–1977) ein Einparteienstaat. Nach seiner Machtübernahme gründete der Militärdiktator Moussa Traoré 1974 eine neue Einheitspartei und setzte mit seinen beschränken Mitteln ein ländliches Entwicklungsprogramm in Gang. 1991 endete seine Amtszeit mit einem Putsch. Seine Nachfolger Touré und Konaré leiteten bis zum Militärputsch am 21.3.2012 vorsichtige Demokratisierungsprozeße ein. Die zahlenmäßige stärkste →Ethnie in M. sind die Bambara (32 %), dann kommen die →Fulbe (14 %), die Senufo (12 %), Soninke (9 %), Songhai (7 %), →Tuareg (7 %), Malinke (6 %) und die ethnographisch, mittlerweile auch touristisch interessanten Dogon. Ca. 80 % der Bevölkerung bekennen sich zum →Islam. Joseph-Roger de Benoist, Église et pouvoir colonial au Soudan français, Paris 1987. Hubert Deschamps, Histoire générale de l’Afrique noire, de Madagascar et des archipels, Paris 1970. William Foltz, From French West Africa to the Mali Federation, New Haven / London 1965. YOUS S OUF DI AL L O Malinche, * zwischen 1498 und 1505 bei Coatzacoalcos, † 1527 oder 1528 Mexiko-Stadt, □ unbek., autochthon, seit 1519 rk. Die indigene Dolmetscherin, kulturelle Vermittlerin, Ratgeberin und Begleiterin von Hernán →Cortés dürfte einer der umstrittensten historischen Akteure der →Er508
oberung →Mexikos sein. Ihr Bekanntheitsgrad steht in deutlichem Gegensatz zu dem dürftigen historischen Wissen, das über sie zusammengetragen werden konnte: Über ihr Geburtsjahr und ihren Herkunftsort herrscht Uneinigkeit, auch taucht sie unter gleich mehreren Namen in den indigenen Zeugnissen, den span. Quellen und den Schriften der span. Chronisten, auf. Marina, Doña Marina, Malintzin oder M. bezeichnen die Frau, deren indigener Name Malinali Tenepal gewesen sein soll. Sie wurde entweder im heutigen Bundesstaat Jalisco oder aber – wie gegenwärtig von der Forschung angenommen wird – in der Nähe des heutigen Coatzacoalcos zwischen 1498 und 1505 geboren; bei Ankunft der Spanier war sie demnach 14 bis 19 Jahre alt. Über ihre Kindheit und Jugend liegen widersprüchliche Angaben vor. So behauptet der Zeitzeuge Bernal →Díaz del Castillo, daß M. die Tochter eines Kaziken (→Caciques) war. Nach dem Tode ihres Vaters – so diese romantisierende Darstellung – war sie von der Mutter und deren neuem Ehemann in die →Sklaverei verkauft worden. Anschließend lebte sie unfrei bei einer indigenen Gruppe in der Gegend des heutigen Tabasco. Als historisch gesichert gilt, daß M. im Frühjahr 1519 zusammen mit 19 weiteren indigenen Frauen an Cortés verschenkt wurde, um das neu geschlossene Bündnis zwischen Indigenen und Spaniern zu festigen. Alle Frauen wurden getauft und von Cortés an seine Hauptleute weitergereicht. Aus Malinali wurde Marina bzw. M., die zunächst mit Alonso Hernández de Portocarrero zusammenlebte. Nach dessen Rückkehr nach Spanien im Juni 1519 begann ihre Beziehung zu Hernán Cortés, aus der mindestens ein gemeinsames Kind hervorging: der 1522 oder 1523 geborene Martín Cortés, der später von Cortés anerkannt und im Testament bedacht wurde. Im Juni 1519 wurde M., die Nahuatl, Maya und bald auch Spanisch sprach, zunächst gemeinsam mit dem Spanier Gerónimo de Aguilar die Dolmetscherin von Cortés. Später übernahm sie diese Aufgabe allein für den Conquistador, der sich zunehmend nicht nur auf ihre Sprachkenntnisse, sondern auch auf ihr Wissen über die Azteken bzw. Mexica, ihre Gesellschaft und politischen Verhältnisse verlassen haben soll. Wie zutreffend ihre Übersetzungen tatsächlich waren, läßt sich nicht mehr feststellen. Historisch belegt ist jedoch, daß M. an allen wichtigen Gesprächen von Cortés mit indigenen Abgesandten und Verhandlungspartnern teilnahm. Verschiedene indigene Abbildungen zeigen sie in indianischer Kleidung hinter Cortés bzw. in seiner unmittelbaren Nähe sitzend. Nicht nur zufällig ist sie auf diesen Abbildungen meist die einzige Frau: M. brach in Ausübung ihrer Dolmetschertätigkeit mit den gesellschaftlichen Konventionen der Mexica, deren Frauen sich auf die häusliche Sphäre konzentrierten und nicht öffentlich sprachen. 1524 begleitete M. als Dolmetscherin die erfolglose Expedition von Hernán Cortés nach Honduras. Sie wurde in dieser Zeit mit Juan Jaramillo verheiratet und erhielt die Dörfer Olutla und Jilotepec als →Encomienda. Aus dieser Ehe ging die Tochter Maria Jaramillo hervor, die später einen Neffen des Vize-Kg.s von Neuspanien geheiratet haben soll. Nach dem Ende der Beziehung zu Cortés ist über den weiteren Lebensweg von M. nur wenig bekannt. Offenbar kehrte sie aus
m An A
Honduras nach Mexiko-Stadt zurück, wo sie 1527 oder 1528 starb – möglicherweise an →Pocken. Die Rolle M.s bei der Eroberung Mexikos und ihre Beziehung zu Cortés sind in der Vergangenheit kontrovers diskutiert worden: War sie nun selbst Opfer des Conquistadors oder seine opportunistische Geliebte, die aus Berechnung „ihr Volk“ verriet? Da es keinerlei persönlichen Zeugnisse dieser Frau gibt, kann hierüber nur spekuliert werden. Mit dem Begriff des „malinchismo“, welcher die Abkehr vom Mexikanischen, die Hinwendung zum Fremden und damit den Verrat an der eigenen Kultur bezeichnet, fand M.s Name Eingang in die mexikanische Alltagssprache. Auch für Octavio Paz ist M. schuldig, indessen sind die Mexikaner – wie er in seinem Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit“ (1950) festhielt – Kinder der M. und aus einem Akt der Gewalt hervorgegangen. Auf seinem monumentalen Wandbild im mexikanischen Präsidentenpalast stellte der Maler Diego Rivera M. schließlich als Mutter des ersten blauäugigen Mestizen dar: so steht diese Figur auch für den Beginn der Mestizaje, der biologischen und kulturellen Vermischung von Spaniern und indigener Bevölkerung. Um eine Neubewertung der M. haben sich zuletzt v. a. mexikanische Historikerinnen sowie Chicano-Autorinnen bemüht, denen es darum geht, dieser Frauenfigur einen neuen Platz in der Geschichte der Eroberung Mexikos einzuräumen. Fernanda Núñez Becerra, La Malinche: de la historia al mito, Mexiko-Stadt 22002. Frances Kattunen, Rethinking Malinche, in: Susan Schroeder u. a. (Hg.): Indian Women of Early Mexico, Norman 1997. Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1998. DE L I A GONZ ÁL E Z DE RE UF E L S
Malinowski, Bronislaw Kaspar, * 7. April 1884 Krakau, † 16. Mai 1942 New Haven, □ Evergreen Friedhof / New Haven, rk. M. studierte Philosophie, Physik und Mathematik in Krakau, wo er 1908 promoviert wurde. Anschließend verzichtete er auf eine Laufbahn als Naturwissenschaftler, um sich in Leipzig für (Völker-)Psychologie und Wirtschaftsgeschichte einzuschreiben. Ab 1910 studierte und lehrte er Ethnologie (Sozialanthropologie) an der London School of Economics, wo er 1922 ein zweites Doktorat abschloß. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, befand er sich in Australien. Obwohl er als österr.-ungarischer Staatsangehöriger in Australien als feindlicher Ausländer galt, entging er der Internierung. Zwischen 1914 und 1918 hielt er sich sechs Monate auf der Insel Mailu (Brit.Neuguinea), bzw. nahezu zwei Jahre auf Kiriwana (der Hauptinsel des Trobriandarchipels) auf. M. gilt als Begründer der Methode der Teilnehmenden Beobachtung im Zuge einer stationären Feldforschung. Daneben begründete er den funktionalistischen Ansatz in der Sozialanthropologie und leistete Beiträge zur Wirtschafts- und Religionsethnologie, sowie zur Kulturtheorie. Während des →Zweiten Weltkriegs bereiste er die →USA, wo er später in →Harvard und bis zu seinem Tod in Yale lehrte. M. posthum veröffentlichte Tagebücher relativierten die Methodik der Teilnehmenden Beobachtung, zeigten die Schattenseiten der stationären Feldforschung (Belastung und Isolation) auf und leiteten den Diskurs zum biogra-
phischen Bezug von Monographien ein. M. beeinflußte neben der Ethnologie Nachbarwissenschaften, wie die Soziologie und die Religionswissenschaft. Bronislaw Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, London 1922. Ders., Coral Gardens and Their Magic, 2 Bde., London 1935. Ders., A Diary in the Strict Sense of the Term, London u. a. 1967. D O MIN IK E. SCH IED ER Maluku Selatan →Ambon, →Molukken Malvinen →Falklandinseln Mam(e)luken →Araber Mana. Polynesischer Begriff, Bezeichnung in →Polynesien und, eingeschränkt, Melanesien, für eine Kraft, Wirksamkeit, Energie bzw. Effektivität, die als „das außerordentlich Wirkungsvolle“ Göttern, transzendenten Erscheinungen sowie Lebewesen und Dingen innewohnen kann. Sie wird kontextuell unterschiedlich erklärt und beschrieben, und ist mit schöpferischer Potenz, Vitalität, Wachstum, Fruchtbarkeit, Erfolg und Kompetenz verknüpft und manifestiert göttliche Macht im irdischen Bereich. M. ist eine aus der Schöpfung kommende Kraft oder Macht, die alles für den Menschen wirklich Bedeutende durchdringt und so vom Allgemeinen abhebt. Der Mangel oder der Verlust an M. bedeutet folgerichtig Versagen, Niederlage, Unterlegenheit, Schwäche und Inkompetenz. Personen und Dinge, die mit M. aufgeladen sind, sind für alle nicht mit M. ausgestatteten Personen durch komplexe Tabuvorschriften (→Tapu) nur eingeschränkt oder nicht zugänglich bzw. benutzbar. Traditionelle Führungspersonen werden z. B. in →Fidschi im Rahmen von Inthronisierungszeremonien öffentlich und für alle sichtbar durch Trinken von Kava, welches in einer tanoa zubereitet wurde, die mittels einer symbolischen „Nabelschnur“ (in Fidschi: sau) die Verbindung zu den Ahnen und Göttern herstellt, mit M. aufgeladen. M. ist eng mit den Begriffen tapu und noa verbunden. Während M. das Besondere, Hochbewertete und Männliche beschreibt, bezeichnet noa das Alltägliche, Normale, Undefinierte und im Sinne „positiven noas“ das Weibliche. Tapus regeln und trennen die beiden Bereiche. Für Polynesien u. a. von R. W. Williamson und für Melanesien erstmals von R. H. Codrington ausführlich beschrieben, unterscheiden sich die Bedeutungen von M. in den beiden Großregionen. In Melanesien wird M. überwiegend als nicht greifbare Kraft, die sich der Lebewesen bemächtigt und Gutes sowie Böses bewirken kann, sonst aber frei zirkuliert, dargestellt. Um das M. zu bändigen, kann man in bestimmten Fällen die betr. Personen und Dinge in spezielle Matten einwickeln. Zahlreiche Theoretiker haben das pazifische M.-Konzept mit ähnlichen weltweit vorkommenden Phänomenen verglichen. R. R. Marett nutzte es für seinen Erklärungsansatz des Animatismus, andere als Synonym für einen Kraftglauben (Dynamismus). M. wird heute jedoch als Besonderheit Ozeaniens, als komplexes und lokal unterschiedlich sich artikulierendes Konzept angesehen. Robert M. Keesing, Rethinking Mana, in: Journal of Anthrop. Research 40 (1984), 137–156. Friedrich R. 509
m A n A do
Lehmann, Mana, Leipzig 1922. Bradd Shore, Mana and Tapu, in: Alan Howard / Robert Borofsky (Hg.), Developments in Polynesian Ethnology, Honolulu 1989, 137– 173. HE RMANN MÜCKL E R Manado (früher auch Menado) ist die größte Stadt im Norden der Insel →Sulawesi und bezeichnete zur Kolonialzeit auch die Verwaltungseinheit (residentie), die den gesamten Nordarm der Insel inkl. der Sangir-Talaud Inseln und der Regionen →Minahasa, Bolaang-Mongondow, Gorontalo, Buol und Toli-Toli umfaßte. Spanier und Portugiesen kamen seit Beginn des 16. Jh.s auf ihrem Weg zu den Gewürzinseln (→Gewürze), den →Molukken, in Kontakt mit der Bevölkerung dieser Region, deren politische Organisation aus vielen kleinen Fürstentümern in den Küstengegenden und weitgehend autonomen Klan- und Stammesverbänden im Inland bestand. Sowohl →Ternate als auch →Makassar beanspruchten das Gebiet als Teil ihrer Einflußsphären ohne jedoch nachhaltige Macht dort ausüben zu können. Die Lage auf den Handelsrouten von den →Philippinen bzw. von →Malakka zu den Molukken machte M. zu einem strategischen Zwischenstop, wo Holz zur Ausbesserung der Schiffe, Wasser und v. a. →Reis für die Verpflegung der Stützpunkte in den Molukken erhältlich waren. Die Siedlung in der Bucht von M. war auch zuvor schon ein Umschlagplatz, an dem die Hochlandbewohner ihre Produkte gegen Importwaren wie Metall, Keramik und Stoffe aus anderen Teilen des Archipels, China und →Indien tauschten. Als die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) im 17. Jh. als zunehmend scharfer Konkurrent um Einfluß in dieser Region den Spaniern entgegentrat, wurden beide Seiten auch zu Parteien in Auseinandersetzungen zwischen Hochlandgruppen und dem in Quellen als „Kg. von M.“ bezeichneten Fürsten, der den Handel in den Küstenorten M., Amurang und Bolaang zu kontrollieren suchte. Schließlich setzten sich die Niederländer durch, die 1655 ein Fort in M. errichteten und bald darauf die Spanier ganz von der Halbinsel verdrängten. 1679 schloß die VOC einen Vertrag mit Klanführern des nördlichen Zipfels der Halbinsel, der diesen Schutz vor dem Fürsten als Gegenleistung für regelmäßige Abgaben zusicherte. Damit wurde eine Grenze geschaffen, die den Einflußbereich lokaler Fürsten im Süden vom „Landstrich von M.“ abschnitt. Letzteres Gebiet, das seit Ende des 19. Jh.s als Minahasa bezeichnet wird, wurde direkt verwaltet, während im Rest der Halbinsel noch formell unabhängige Fürstentümer bestehen blieben. Die Bevölkerung versuchte immer wieder, diese Grenzziehung zu unterlaufen. Im 19. Jh. flüchteten Bauern aus der Minahasa über die Grenze nach Süden, um sich Zwangsabgaben und Arbeitsdiensten zu entziehen. 1830 hatte die ndl. Kolonialreg. in der Minahasa wie auch auf →Java das Kultivierungssystem eingeführt, das Bauern zum Anbau von Exportprodukten zwang, die sie gegen einen Festpreis abliefern mußten. Das wichtigste Erzeugnis der Minahasa war →Kaffee, der hier schon einige Jahre vor Etablierung des Kultivierungssystems im Zwangsanbau produziert worden war. Die Strukturen, die für die Umsetzung des Systems erforderlich waren, brachten noch weiterreichende Veränderungen mit sich. Hierzu gehör510
ten Verschiebungen im sozialen Gefüge durch die Einbindung traditioneller Dorf- und Distriktoberhäupter in den Staatsapparat und die wachsende Zahl an Verwaltern u. a. Angestellten ebenso wie Veränderungen der physischen Landschaft. Das Straßennetz wurde ausgebaut und Lagerhäuser in den Dörfern errichtet, womit eine Transformation weitergeführt wurde, die bereits durch Verlegung von Dörfern, Umgestaltung von Siedlungsgrundrissen und dem Übergang von großen Langhäusern zu Einzelhäusern für kleine Familien in Gang gekommen war. Ganz ähnliche Entwicklungen fanden jedoch auch ohne direkten Kolonialeinfluß im benachbarten Bolaang Mongondow statt. Während der Zwangsanbau von Kaffee in der Minahasa verhaßt war und die Bevölkerung eher aus Handel und Geldwirtschaft herausdrängte, hatten Menschen in den Nachbarregionen damit begonnen, auf eigene Rechnung →Kakao und Kaffee anzubauen oder sie führten den Anbau fort, als der Kaffee nach dem Ende des Kultivierungssystems aus der Minahasa praktisch verschwunden war. Im 20. Jh. wurde fast in der gesamten residentie M. der Kaffee von Kokospalmen verdrängt, die teils in kleinbäuerlichen Strukturen, teils in von europäischen Unternehmern geführten Plantagen angebaut wurden. Es waren v. a. Sangiresen, die die Erfahrung im Anbau von Kokospalmen in die anderen Gebiete brachten. Und es waren auch die Bewohner der Sangir-Talaud Inseln sowie Gorontalos, die als →Kulis auf Plantagen arbeiteten. Ein immer größeres Maß an Migration in der Region kam auch dadurch zu Stande, daß staatliche Umsiedlungsprogramme Menschen aus den dicht bevölkerten Sangir-Talaud Inseln und Teilen der Minahasa in Bolaang Mongondow ansiedelten. Umgekehrt zog die Stadt M. als Zentrum von Verwaltung, Handel und Bildungseinrichtungen Migranten aus allen Regionen an. Auch der Anteil an Chinesen und „Indos“ aus gemischt europäisch-einheimischen Familien war in M. überdurchschnittlich hoch. Ab 1919 erhielt die Stadt ein gewisses Maß an Selbstverwaltung durch die Einrichtung eines Gemeinderats, dem auch Einheimische angehörten. Für alle Bevölkerungsgruppen brachte die jap. Besatzungszeit 1942–1945 viel Leid. Die Truppen waren über die Städte hinaus auch in entlegenen Dörfern präsent, konfiszierten allen Reis und mißhandelten vielfach die Bevölkerung. M. nahm schweren Schaden durch Bombardements während des →Zweiten Weltkriegs und noch einmal 1958, als die Zentralreg. gegen die Permesta-Rebellion vorging. Nach der Unabhängigkeit →Indonesiens entstand aus der residentie M. die Provinz Nordsulawesi. Ein besonderer Dialekt des Malaiischen, das M.-Malaiisch, verbreitete sich im 19. und 20. Jh. als Verkehrssprache im Norden Sulawesis und verdrängte entweder die Lokalsprachen als Muttersprache oder wurde zur gängigen Zweitsprache, womit ein Element gemeinsamer Identität entstand, das religiöse und ethnische Unterschiede überbrückt. Im restlichen Indonesien werden Menschen aus Nordsulawesi oft als M.nesen identifiziert. David Henley, Nationalism and Regionalism in a Colonial Context, Leiden 1996. David Henley, Fertility, Food
m A n g A bell, ru d o lf du Al A
and Fever: Population, Economy and Environment in North and Central Sulawesi 1600–1930, Leiden 2005. S VE N KOS OL
Mandatssystem. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde 1919 durch den Art. 22 der Satzung des →Völkerbunds, integrierender Bestandteil der Pariser Friedensverträge, das sog. M. etabliert, mit dessen Hilfe die vormals osmanischen Gebiete Vorderasiens und die ehem. dt. Kolonien im Auftrag des Völkerbundes durch bestimmte Nationen (Mandatare) treuhänderisch verwaltet sowie im Hinblick auf die spätere Unabhängigkeit geleitet werden sollten. Abhängig von Entwicklungsstand und Zielsetzung wurden die Mandatsgebiete in verschiedene Kategorien mit unterschiedlichem völkerrechtlichen Status eingeteilt: AMandate, die sich durch eine fortgeschrittene Entwicklung auszeichneten und bei denen lediglich die Selbstverwaltung beaufsichtigt werden sollte. Hierunter fielen die arab. Gebiete (Irak, Palästina und das davon 1921/23 abgetrennte Transjordanien verwaltet durch Großbritannien sowie Syrien und Libanon durch Frankreich). B-Mandate, die noch einer Verwaltung durch den Mandatar bedurften: →Dt.-Ostafrika (Tanganjika verwaltet durch Großbritannien sowie →Ruanda und →Burundi durch Belgien), →Togo und →Kamerun (anteilig durch Frankreich und Großbritannien). C-Mandate wurden vom Mandatar als Bestandteil seines Hoheitsgebietes, allerdings ohne Annexion verwaltet: →Dt.-Südwestafrika (von der →Südafr. Union) und die ehem. dt. Besitzungen im Pazifik (Westsamoa von Neuseeland, die →Karolinen, Marianen, →Palau- und →Marshallinseln von Japan, Dt.-Neuguinea und die Inseln südlich des Äquators von Australien, Nauru vom Brit. Empire, faktisch von Australien). Die Mandatare waren zu Jahresberichten an die Mandatskommission des Völkerbundes verpflichtet. Das M. endete 1946 mit der Auflösung des Völkerbundes; die noch existierenden Mandate (→Mikronesien) wurden →Treuhandgebiete der Vereinten Nationen. Q: Die Völkerbundsatzung, erläutert von Hans Wehberg, Berlin 1929. L: Hans-Jörg Fischer, Die dt. Kolonien, Berlin 2001. Raoul Jacobs, Mandat und Treuhand im Völkerrecht, Göttingen 2004. KAT HARI NA ABE RME T H Manga Bell, Rudolf Duala, * Duala (Kamerun) 1873/75, † Duala 8. August 1914, □ (mit Obelisk) hinter seinem ehem. Haus, der Pagode, in Duala, ev. M. war Anführer von Duala in Kamerun in der dt. Kolonialzeit. Der älteste Sohn von Manga Ndumbe Bell (1851/52–1908), Kg. der Bell-Dynastie, besuchte die Regs.schule in Duala und ging dann zur Ausbildung nach Deutschland (1891–1896, Gymnasium in Ulm), wo er auch (in Aalen/Württ.) getauft wurde. Anschließend studierte er Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Nach seiner Rückkehr arbeitete er drei Jahre lang als Jurist in der Kolonialverwaltung. In Duala heiratete er Emily Engome Dayas, die Tochter eines engl. Händlers. Gemeinsam hatten sie sechs Kinder. M. trat viele Auslandsreisen, v. a. nach Berlin und Manchester an, wo er zusammen mit seinem Vater im Okt. 1902 vom Bürgermeister empfangen wurde. Am 19.6.1905 verfaßte er gemeinsam mit Kg. Akwa von Bonambela und 26 wei-
teren kamerunischen Volksoberhäuptern einen offenen Brief an den dt. Reichstag, in dem man sich über rechtsbeugende Handlungen durch →Gouv. Jesko von →Puttkamer, Enteignungen, Niederreißen von Häusern ohne Genehmigung, →Zwangsarbeit ohne Lohn, willkürliche Verhaftungen und übermäßige →Strafen, sowie entwürdigende Behandlung von kamerunischen Häuptlingen beschwerte. Nach dem Tod seines Vaters am 2.9.1908 wurde er sein Nachfolger. Seine Amtseinführung fand aber erst am 2.5.1910 statt. In demselben Jahr wurde er in Duala von dt. Kolonialbeamten wegen Überfalls auf eine Bank ohne Beweis verhaftet. Nach seiner Freilassung, die auf viele Wochen Haft folgte, übernahm er die Leitung einer Widerstandsbewegung gegen das Projekt der Kolonialverwaltung, die einheimischen Küstenbewohner zu enteignen, um neue Wohnsiedlungen für die Europäer anzulegen. Die Enteignung betraf alle DualaAbstammungen, abgesehen von Bonaberi am rechten Ufer des Wuri-Flusses, wo der Widerstand gegen die dt. Besatzung radikal war. Am linken Wuri-Ufer sollte ein 1 000 m breiter Landstreifen die neuen Wohnsiedlungen der abstammten Bevölkerung von europäischen Wohnsiedlungen trennen. M. selber wurde von dt. Behörden darauf angewiesen, Gebäude zugunsten europäischer Interessen zu mieten und seine eigene Geschäftsstelle stadteinwärts bei →Bali, einem peripheren Stadtteil Dualas, zu etablieren. Alle Duala-Familien einigten sich darauf, gegen das Projekt zu kämpfen. Zunächst versuchte M., zusammen mit anderen lokalen Behörden, die dt. Kolonialverwaltung durch Briefe und Bittgesuche sowie legale Argumente unter Druck zu setzen. So schickte er am 7.2.1913 im Namen des Duala-Volkes einen Bittbrief an den Reichstag. Am 20.2.1913 ging ein Brief an den dt. →Gouv. Karl →Ebermaier. In seinen Petitionen zeigte M. auf, wie das Enteignungsprojekt wie andere mittlerweile von den Kolonisten getroffene Maßnahmen ein Verstoß gegen den am 12.7.1884 unterzeichneten Schutzvertrag war. Er drohte den Kolonialherren damit, den Schutzvertrag widerrufen zu wollen, falls der Bezirksmann Hermann Röhm auf der Enteignung bestehen sollte. Die Petitionen wurden aber ignoriert bzw. entkräftet. Als erste Folge seiner Aktion wurde er am 4.8.1913 abgesetzt. Im Sept. 1913 kam der Staatssekretär im →Reichskolonialamt Wilhelm Heinrich →Solf zu Besuch nach Duala. Er gab bekannt, daß das Enteignungsprojekt weiterhin bestehe. Im Dez. 1913 nahm der Gouv. Röhms Urbanisierungsplan an. Darauf folgte der Abbruch bzw. das Verbrennen von Wohnhäusern der abgestammten Bevölkerung, ohne ihr eine Entschädigung auf dem betroffenen Gebiet anzubieten. M. erhielt am 30.1.1913 eine offizielle Verordnung über die Enteignung seiner Familie. Infolgedessen wandte er sich anderen europäischen Reg. en zu und schickte parallel dazu Boten zu anderen kamerunischen Herrschern, an die er appellierte, zusammen mit ihm die dt. Kolonialherren zu stürzen. Im Anschluß an seine Petitionen an den Reichstag und an seinen Versuch, bei Herrschern des Hinterlandes Unterstützung zu finden, wurde er ein weiteres Mal festgenommen. Am 6.5.1914 schickte der Bezirksmann Hermann Röhm ein Schreiben an die Kuti-Station nordwestlich von Duala, wo M.s Bote gefangen gehalten wurde. In seinem Schrei511
mAnifest destiny
ben stand, daß die Deutschen kein unmittelbares Risiko wegen der Aktion der Duala eingehen würden. Aus Ndanes Aussagen, M.s Boten an Sultan →Njoya von Fumban in Westkamerun, gehe der Anklagepunkt hervor, der im Verfahren gegen die schuldigen Amtsträger eingesetzt werden müsse. Die Schuldigen wären jene Amtsträger, die sich für die laufende Agitation um die Hinderung der Enteignung und für den bis in die Metropole hin reichenden Widerstand verantwortlich gemacht hätten. Am 1.6.1914 schrieb Röhm an den Gouv. in →Buea, der damaligen Hauptstadt Kameruns. Er erklärte, daß nach seinen Einschätzungen von M.s Jahreseinkommen und angesichts von M.s ererbten Schulden würden die DualaHändler es nicht für sinnvoll halten, das Enteignungsprojekt weiter zu bekämpfen. Im Auftrag von Wilhelm Solf und ungeachtet dieser Schreiben wurde M. mit seinem in Berlin überführten und nach Duala ausgelieferten Sekretär Adolf Ngoso Din festgenommen. Ihr Gerichtsverfahren fand am 7.8.1914 in Duala statt. Der Erste Weltkrieg begann gerade und der Angriff der Alliierten auf Kamerun wurde erwartet. M. wurde vorgeworfen, aus dem Hinterland Geld beschafft zu haben. Sein offener Widerstand habe bei ethnischen Gruppen des Landesinneren (u. a. Bassa, Bakoko, Bene, Eton) einen Aufstand heraufbeschworen. Außerdem wurde behauptet, er hätte das Geständnis abgelegt, andere europäische Länder zu einem Kampf gegen Deutschland aufgerufen zu haben. Allerdings erwiderten seine Rechtsanwälte 1927 bei einer Erinnerung, daß M. nur seine Unschuld beteuert habe. In dem wegen des Kriegsausbruchs beschleunigten Verfahren wurde er wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt. Bischof Heinrich Vieter der rk. Pallottiner Mission, die →Basler Mission und die Baptistenmission baten darum, das Leben der Angeklagten zu verschonen, doch ihre Bitten wurden von Gouv. Karl →Ebermaier zurückgewiesen. M. und die anderen 200 Aufständischen wurden am 8.8.1914 gehenkt und anschließend begraben. 1935 wurde M.s Leichnam exhumiert und hinter seiner Wohnung wieder bestattet, um ihm ein angemessenes Begräbnis zu geben. Am 8.8.1936 wurde ein Obelisk an dieser Grabstätte als Gedenkstein aufgebaut. Auf Grund seines Mutes gilt M. B. heute als einer der ersten Anführer einer nationalen Widerstandsbewegung zur Befreiung vom →Kolonialismus. Seine Lebensgeschichte hat eine legendäre Tragweite und bringt exemplarisch die Greueltaten und Mißhandlungen des →Kolonialismus zum Vorschein. Gleichzeitig zeigt es auch den couragierten aktiven Widerstand der kamerunischen Bevölkerung auf. In den 1920er Jahren war M. in seiner Heimat so bekannt, daß „Tet’Ekombo“, eine Hymne, die noch heute v. a. am Küstengebiet zum jährlich gefeierten NgondoFestival in Duala gesungen wird, komponiert wurde, um ihm zu huldigen. Die Deutschen und nach ihnen die frz. Besatzungsmacht wurden mißtrauisch gegenüber den Duala und verhinderten die Vergabe von Führungspositionen an Personen aus dieser ethnischen Gruppe. Als Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die Kontrolle über Ostkamerun übernahm, kämpfte Richard Ndumbe M., M.s Bruder, weiter, um die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Erst 1951 konnte Alexandre Duala M., M.s Sohn, unter frz. Herrschaft sein Amt antreten. 512
Ralph A. Austen / Jonathan Derrick, Middlemen of the Cameroons Rivers, Cambridge 1999. Jean-Pierre Félix Eyoum / Stefanie Michels / Joachim Zeller, Bonamanga. Eine kosmopolitische Familiengeschichte, Mont Cameroun – afr. Zeitschrift für interkulturelle Studien zum dt.-sprachigen Raum, Nr. 2, 2005. Victor Julius Ngoh, History of Cameroon Since 1800, Limbe 1996. G ER MA IN N YA D A / H O RST G R Ü N D ER
Manifest Destiny. Wörtlich übersetzt „offenkundige Bestimmung“, bezeichnet MD den Glauben, es sei die schicksals- oder gottgegebene Mission der US-Amerikaner, den nordam. Kontinent zu vereinnahmen. Diese Idee fand bereits im 18. Jh. Verbreitung und wurde verknüpft mit der traditionellen Vorstellung einer von Osten nach Westen ziehenden Abfolge von Weltreichen, deren Endpunkt das am. „Empire“ bilden würde. Zu einer Ideologie gerannen diese Ideen jedoch erst seit den 1840er Jahren, als die Annexion von Texas, der →Mexikanisch-Am. Krieg sowie die Übernahme von Oregon auf der Tagesordnung der US-Politik standen. 1845 schuf der nationalistische New Yorker Journalist John O’Sullivan (* 15. November 1813, † 24. März 1895) den Terminus M.D., als er in einem Zeitungsartikel dazu aufrief, →Mexiko und Großbritannien aus Nordamerika zu vertreiben. Die →USA seien auf Grund ihres hohen Zivilisationsgrads und ihrer demokratischen Institutionen die schlechthin überlegene Nation auf dem Kontinent und insofern zur Expansion bis an den Pazifik befugt. F. Merk, Manifest Destiny and Mission in American History, New York 1963. A. Stephanson, Manifest Destiny, New York 1995. MATTH IA S WA ECH TER Manila, die Hauptstadt der →Philippinen, liegt auf der Hauptinsel Luzon an der Bucht von M. Sie ist eine von 16 weiteren Städten und Kommunen, die zusammen Metro M. bilden. In der Stadt M. selbst leben 1,6 Mio. Menschen, in der Region Metro M. 11,655 Mio. (Volkszählung von 2007). Inzwischen gehört Metro M. zu den 10 größten Städten der Welt mit einer geschätzten Bevölkerung von 15 Mio. Diese Riesenstadt hat sich aus ziemlich bescheidenen Anfängen entwickelt. Das ursprüngliche M. war zunächst ein Fischerdorf der Volksgruppe der Tagalog an der Mündung des Flusses Pasig in die M.bucht. Der Name kommt von maynilad, „da wo es Nilad (eine Mangrovenpflanze) gibt“. Im Laufe der Zeit entwickelten sich mehrere Sultanate um die M.bucht herum. 1500 wurden sie vom Sultanat →Brunei erobert. Als die Spanier 1570 in M. ankamen, war es ein musl. Sultanat unter Rajah Sulayman. Die Spanier, die nach der Entdeckung der Philippinen durch Magellan 1521 schon einige span. Siedlungen in Cebu, Panay und Mindoro gegründet hatten, waren von der wirtschaftlich günstigen Lage M.s beeindruckt und wollten sie für sich nutzen. Sie täuschten dem Sultan zuerst ein Bündnis vor, doch dann griffen sie die musl. Siedlungen an, eroberten sie und brannten sie nieder. An Stelle der alten Moslemfestung wurde die befestigte span. Altstadt von M. gebaut: Intramuros M. wurde zur Hauptstadt der neuen span. Kolonie und 1579 zum Sitz des Bistums M. Die Stadt wurde nach demselben Schachbrettmuster wie die span. Kolonial-
m An zA n o , juA n fr An ci s co
städte in Südamerika gebaut, mit einem zentralen Platz in der Mitte, an dessen einem Ende der Gouv.spalast und am anderen die Kathedrale standen. Die Kathedrale von M. wurde im Laufe ihrer Geschichte durch Erdbeben, Brände, Taifune und Bomben sechsmal zerstört. 1611 wurde in M. die Universidad de Santo Tomas als älteste rk. Universität in Asien gegründet. Intramuros wurde immer weiter befestigt, gegen die Angriffe des chin. Piraten Limahong (1574), der Moros (Muslime) aus dem Süden, der Holländer, Portugiesen und Engländer (1762) und der unzufriedenen Eingeborenen. Intramuros wurde nur von Spaniern bewohnt, die von den Einkünften der Kolonie und dem Galleonenhandel zwischen China und →Mexiko lebten. Die Chinesen lebten jenseits des Flusses Pasig in Binondo, die Filipinos in Tondo und den umliegenden Barrios. Nachdem die Philippinen 1898 ihre Unabhängigkeit von Spanien erreicht hatten, wurden sie von den →USA besetzt und waren bis 1946 am. Kolonie. Die Amerikaner entwickelten M. nach am. Muster weiter: das neue Reg.szentrum wurde von dem bekannten am. Architekten Burnham aus →Chicago geplant. Den alten Reg.sgebäuden, wie dem Congress, dem Senat und der City Hall sieht man ihren am. Ursprung noch an. Gegen Ende der jap. Besatzung (1941–1945) wurde M. allerdings durch am. Bomben stark zerstört. 1946 wurden die Philippinen selbstständig und M. und die umliegenden Städte entwickelten sich zum Zentrum für Politik, Bildung, Handel und Industrie. Die Bevölkerung hat sich von 1900 bis 2010 verzehnfacht und liegt jetzt bei geschätzten 15 Mio. Dies führte zur Entstehung von Slums und enormen Umweltproblemen. Die Luftverschmutzung in M. übersteigt die zulässigen Grenzwerte der WHO (Weltgesundheitsorganisation) um das Dreifache, die Versorgung mit sauberem Wasser, die Abwasser- und Müllentsorgung sind ungelöste Probleme. Metro M. ist aber auch Sitz zahlreicher Universitäten, Museen, Theater, Banken, Versicherungen, Industrien und großer luxuriöser Einkaufszentren. Es ist eine Stadt der Extreme, die wie ein Magnet wirkt. Dirk Bronger, Metro Manila: Metropole der extremen Gegensätze, in: Marginalsiedlungen in Megastädten Asiens, Berlin 2007, 297–339. Carmen Guerrero Nakpil, The Untold Story of Maynila, 2008, URL: http://www. manila.gov.ph/cityhistory.htm. Ramon Ma. Zaragoza, Old Manila, Singapore / New York 1990. MARL I E S S AL AZ AR
Manzano, Juan Francisco, * 1797 Havanna, † 6. August 1853 Havanna, □ Cementerio Espada in Havanna, rk. M., Sohn einer Haussklavin aus Afrika und eines freien Dieners in Matanzas auf →Kuba, war selbst kreolischer (→Kreole) Haussklave. Besonders hinderlich ist für die Forschung über den Gesamtbereich der alltäglichen →Sklaverei und Haussklaverei der Mangel an schriftlichen zeitgenössischen Selbstzeugnissen von Sklaven. Im engl. und angloam. Bereich gibt es ca. 6 000 Texte mit Erinnerungen ehem. Sklavinnen und Sklaven, für Kuba jedoch nur einen: den von M. M. hatte im Haus einer seiner Besitzerinnen als Spielgefährten-Sklave einem ihrer Söhne Lesen und Schreiben gelernt. Er war ein poetisch begabter Mensch und schrieb schon als Sklave klassische
Gedichte. Mit besonderer Genehmigung veröffentlichte M. 1821 ein Gedichtbändchen mit dem schönen Titel Poesías líricas. Seine Dichtungen rührten die Romantiker zu Tränen und erregten Aufsehen. M. wurde zum ersten farbigen Dichter Kubas. Für 800 Peso wurde er durch die tertulia (literarischer Salon) um Domingo del Monte y Aponte (* 1804 Maracaibo † 1853 Madrid), dessen Familie Zucker-Ingenios (→Zucker, →Ingenio) und Sklaven besaß, 1836 oder 1837 freigekauft. Del Monte hielt M. an, seine Autobiographie zu schreiben, die 1840 durch Vermittlung des Abolitionisten Richard Maddens (→Abolitionismus) in London und, vermittelt durch Victor Schoelcher, in Paris erschien. So gelang es M. als einzigem Farbigen, in die Gruppe der Literaten aufzusteigen. M. ästhetisierte seine Auffassung vom Leiden und der Passivität des Sklavendaseins. Aber schon die Darlegung des Leides und die Fähigkeit eines Sklaven zu „höherer“ Kunst waren extrem revolutionär. Allerdings war diese Kunst eher eine Mimesis der romantischen Form. M. schrieb bspw. ein Theaterstück, das im mittelalterlichen Warschau spielt (Lodoiska o La Maldición, Lodoiska oder die Verfluchung). In seiner „Autobiographie“, quasi ein Auftragswerk, prägte er hinsichtlich der Sklaverei einen Schlüsselsatz: „Der Sklave ist ein totes Wesen vor seinem Herrn und will von dessen Wertschätzung nicht das verlieren, was er gewonnen hat“. M. und diejenigen, die ihn im gewissen Sinne für eine bestimmte Art der Mimesis benutzten, stellen keinen aktiven Sklaven dar, sondern reflektieren interne Mechanismen, auf denen die Sklaverei beruhte. Die Mimesis M.s konstruierte einen passiven, dankbaren Sklaven. Den Status eines „Kubaners“ für sich zu beanspruchen, hat M. nur ganz verstohlen gewagt. Eher hat er mit seiner tragischen Lebenserfahrung gewirkt (Mis primeros treinta años, Meine ersten dreißig Jahre) und mit Gedichten, die die engere Heimat poetisieren (A la ciudad de Matanzas, An die Stadt Matanzas). Es ist bekannt, daß M. vorhatte, den ersten „kubanischen“ Roman zu schreiben. Als 1844 eine Welle ethnischer Gewalt gegen Sklaven und freie Farbige einsetzte, verstummte er jedoch. Nirgends sind bei M. afr. oder afrokubanische Traditionen oder Kulturelemente zu erkennen. Seine Furcht vor der aktiven Haltung verstärkte sich sogar nach seinem Freikauf noch aus →Angst, wieder in die Sklaverei zu geraten oder dem Terror nach den gescheiterten Sklavenaufständen von 1844 zum Opfer zu fallen. Das wiederum verstärkte die Mimikry. Die Kunstfigur M.s wurde eigentlich gegen die Sklaven benutzt. Die Intellektuellen und Literaten aus den kreolischen Oligarchien wollten eine weitere „Afrikanisierung“ Kubas, d. h. die Zunahme des schwarzen Bevölkerungsanteils, der 1841 schon 58 % betrug, verhindern. M. ist wegen seiner mangelnden Selbstbehauptung von vielen Historikern Kubas nicht in die nationale Traditionslinie der Poesie oder gar der kubanischen Nation aufgenommen worden, weil er zu servil, ängstlich und angepaßt schien. Seine Autobiographie ist darüber hinaus von dem weißen Literaten Anselmo Suárez y Romero kopiert, korrigiert und kontrolliert worden. Juan Francisco Manzano, Autobiografía del esclavo poeta y otros escritos, hg. v. William Luis, Madrid / Frankfurt/M. 2007. Michael Zeuske, Schwarze Erzähler 513
mAori
– weiße Literaten, in: Rubiera Castillo (Hg.), Ich, Reyita, Zürich 2000, 211–262. MI CHAE L Z E US KE Maori. Indigene Ew. von →Aoatearoa (Neuseeland). Sie stammten höchstwahrscheinlich aus Ostpolynesien (→Polynesien) und besiedelten, soweit festgestellt werden kann, erstmals im 13. Jh. n. Chr. Neuseeland. Zur Zeit von James →Cooks erstem Besuch 1769 zählten sie bereits ca. 100 000 Menschen, von denen die große Mehrheit die Nordinsel des Landes bewohnte. Trotz zahlreicher brutaler Kriege zwischen verschiedenen Stämmen in den 1820er und 1830er Jahren blieben M. mindestens bis Mitte des 19. Jh.s europäischen Siedlern zahlenmäßig überlegen. M. nehmen in der Geschichte europäischer Kolonisation im 19. Jh. insofern eine besondere Stellung ein, als Vertreter eines beträchtlichen Anteils dieser indigenen Bevölkerung zur Zeit der formellen Annexion ihres Landes ein gesetzliches und konstitutionelles Abkommen mit der kolonisierenden Macht schlossen. Der sog. Vertrag von →Waitangi, der am 6.2.1840 und in den darauffolgenden Monaten durch Vertreter der brit. Krone und Stammeshäuptlinge in verschiedenen Orten unterzeichnet wurde und dessen genaue konstitutionelle Intention und Bedeutung bis zum heutigen Tag äußerst umstritten bleiben, garantierte den M. – wenigstens in der Theorie – die gleichen Rechte wie brit. Untertanen sowie den Besitz ihres Landes und ihrer traditionellen Ressourcen. Als aber immer mehr europäische Siedler nach Neuseeland strömten, wurden diese Rechte bald ignoriert, und als Folge davon wurde M.-Land häufig unter ganz fragwürdigen Umständen enteignet, sogar durch die Kolonialreg. selbst. Der wachsende Hunger der Europäer nach Land und die wachsende Abneigung der M., dies zu veräußern, führten zwangsläufig zu Spannungen, und es kam zwischen 1843 und 1872 zu mehreren größeren Konflikten zwischen M. und Europäern; in drei Kampagnen (1845/46, 1860/61, 1863/64) setzte die Kolonialreg. sogar brit. Streitkräfte ein. Der bewaffnete Widerstand der M. gegen das Vordringen der Kolonisation wurde schließlich auf Grund der zahlenmäßigen Überlegenheit der europäischen Siedler, die im ausgehenden 19. Jh. in Neuseeland einwanderten, überwältigt. Die Konfiszierung großer Gebiete von M.-Land, die daraus resultierende wirtschaftliche Zerrüttung und nicht zuletzt die Einschleppung neuer Krankheiten, gegen die die Einheimischen keine natürliche Immunität besaßen, hatten zusammengenommen eine verheerende Wirkung auf das traditionelle Leben der M., und ihre Bevölkerung ging gegen Ende des 19. Jh.s für einige Zeit stark zurück. Es wird heute oft behauptet, nicht ohne guten Grund, daß sich M. von den Auswirkungen der Kolonisation im 19. Jh. noch nicht völlig erholt haben. Sie erlebten wegen einer starken Landflucht in den Jahrzehnten nach dem →Zweiten Weltkrieg eine weitere massive soziale Entwurzelung. Die direkten und indirekten Auswirkungen der Kolonisation – um ganz zu schweigen von dem enormen sozialen und technologischen Wandel, der alle Neuseeländer im Laufe der letzten 150 Jahre betroffen hat – bedeuten ja, daß M. heutzutage ganz anders sind als sie zur Zeit des ersten Kontakts mit Europäern waren. Die ca. 15 % aller heutiger Neuseeländer, die sich als M. 514
bezeichnen, sind soziologisch gesehen fast vollständig verwestlicht und urbanisiert, und sie nehmen in allen Bereichen der modernen neuseeländischen Gesellschaft teil – ob im gesellschaftlichen, politischen, kulturellen oder sportlichen Bereich, sowie in öffentlicher Verwaltung und im Militär. Obwohl sich einzelne M. gelegentlich in diesen Bereichen auszeichnen, bleibt der Grad ihrer Mitbestimmung in der Gesellschaft der einer marginalisierten Gruppe. Sie gelten in vieler Hinsicht als eine wirtschaftlich benachteiligte Minderheit in der heutigen neuseeländischen Gesellschaft, und als solche sind sie in der Arbeitslosen-, Kranken- und Kriminalstatistik usw. übermäßig stark vertreten; ein kräftiger M.-Mittelstand ist noch nicht entstanden. Trotz dieser unleugbaren Leistungs- und Sozialdefizite aber ist die Zukunft für M. keineswegs total trostlos. Insb. seit Ende der 1960er Jahre hat Neuseeland einen hohen Grad an politischem Aktivismus und Protest von seiten M. und sympathisierender Pakeha (Neuseeländer europäischer Abstammung) gesehen, die durch Forderungen nach der Wiedergutmachung von historischen Ungerechtigkeiten sowie nach größerer Selbstbestimmung für M. (tino rangatiratanga) auf politischer wie auch persönlicher Ebene gekennzeichnet worden sind. Das hat u. a. zu besonderen Initiativen geführt, die einst unterdrückte M.-Sprache wiederzubeleben sowie M.-Kultur und -Kunst zu fördern, und als Folge davon reden viele Kultur- und Sozialhistoriker nun von einer Renaissance der M.-Kultur in den 1980er Jahre. Umso erstaunlicher aber ist die Bereitwilligkeit verschiedener neuseeländischer Reg.en in den letzten Jahrzehnten, und v. a. seit Mitte der 1980er Jahre, den Beschwerden der M. bezüglich Verstößen gegen den Vertrag von Waitangi nachzugehen und mit einzelnen M.-Stämmen zu verhandeln, um die vielen Ungerechtigkeiten, die im Laufe von Neuseelands kolonialer Vergangenheit begangen wurden, finanziell wiedergutzumachen. Diese und ähnliche politische Zugeständnisse, die anderen ehem. europäischen Kolonien als Vorbild dienen könnten, haben zur Folge gehabt, daß M. heutzutage offiziell als tangata whenua (Ureinwohner des Landes) nicht nur in der Gesetzgebung sondern auch als beratende (und zu beratende) Partner in der Formulierung öffentlicher Politik anerkannt sind. James Belich, The New Zealand Wars and the Victorian Interpretation of Racial Conflict, Auckland 1986. Michael King, The Penguin History of New Zealand, Auckland 2003. Claudia Orange, The Treaty of Waitangi, Wellington 1987. JA MES BR A U N D Mao Zedong, * 26. Dezember 1893 Shaoshan, † 9. September 1976 Peking, □ Mao Zedong Mausoleum, Tian’anmen Platz / Peking, Atheist Chin. kommunistischer Staatsmann und Politiker. Er stammte aus einer Bauernfamilie. Seit 1918 arbeitete er in der Universitätsbibliothek Peking, wo er die marxistische Theorie studierte. 1921 war er Mitgründer der Kommunistischen Partei Chinas. Nach dem erfolglosen kommunistischen Aufstand von 1927 war er im Sowjetgebiet in der Provinz Jiangxi tätig. Militärischer Druck der nationalistischen Streitkräfte zwang die Kommunisten, dieses Gebiet zu verlassen und den sog. langen
m Ar A n h ã o
Marsch in die Provinz Shensi anzutreten (1934/35), wo sie ihr neues Hauptquartier in der Stadt Yan’an einrichteten. Im Jan. 1935 wurde M. Sekretär und 1943 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas. Der erste Chin. Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Kommunisten wurde 1937 wegen der jap. Invasion unterbrochen. Während des Kriegs mit Japan (1937–1945) arbeiteten Nationalisten und Kommunisten zusammen. Kurz nach dem →Zweiten Weltkrieg brach der zweite Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten aus (1946– 1949). Nach der Niederlage der nationalistischen Kuomintang wurde am 1.10.1949 in Peking die Volksrep. China proklamiert, an deren Spitze M. trat. Mit dem sog. großen Sprung nach vorn (Dayuejin, 1958–1962) wollte M. die wirtschaftliche Entwicklung Chinas gewaltsam beschleunigen, was eine katastrophale Hungersnot hervorrief. Nach verschiedenen Schätzungen fielen 20 bis 40 Mio. Menschen diesem abenteuerlichen Versuch zum Opfer. 1959 kam es zum Bruch mit der Sowjetunion, die daraufhin 1960 ihre Wirtschaftshilfe für China einstellte. Seit 1966 versuchte M., seine Position durch die sog. „große proletarische Kulturrevolution“ zu festigen. Das Ziel der Aktionen der fanatisierten Jugend, die in den sog. Roten Garden organisiert war, war die Zerstörung aller traditionellen gesellschaftlichen, kulturellen und sittlichen Werte Chinas. U. a. ließ M. im Zuge dieser Aktionen auch viele tatsächliche oder vermeintliche Opponenten seines Regimes liquidieren. Faktisch dauerte die Kulturrevolution bis zu M.s Tod im Sept. 1976. Der kommunistische Terror in China hat in M.s Reg.szeit nach verschiedenen Schätzungen 60–80 Mio. Menschen das Leben gekostet. Gregor Benton, Mao Zedong and the Chinese Revolution, London 2008. Sabine Dabringhaus, Mao Zedong, München 2008. Jonathan D. Spence, Mao, New York 1999. AL E Š S KŘI VAN JR. Maputo. Hauptstadt der Rep. →Mosambik; vormals Lourenço Marques genannt, wurde sie im Unabhängigkeitsjahr 1975 von der FRELIMO, einer gegen die port. Kolonialherrschaft siegreichen →Befreiungsbewegung, nach dem gleichnamigen Fluß im Süden des Landes benannt. Die FRELIMO hatte diesen Befreiungskampf unter dem Motto „Lang lebe Mosambik vom Rovuma bis M. vereint!“ geführt. Laut Angaben aus dem letzten Zensus von 2007 leben in M. ca. 1,1 Mio. Menschen. Inoffizielle Schätzungen beziffern die Ew.-zahl jedoch auf knapp 3 Mio. M. wurde durch einen kgl. Erlaß am 10.11.1877 unter dem Namen „Lourenço Marques“, des ersten port. Händlers und Reisenden, der 1544 die Delagoa-Buchtregion erkundet hatte, zur Stadt erklärt. 1898 löste sie die Insel Mosambik als Hauptstadt der gleichnamigen port. Überseeprovinz ab. Diese Ablösung entsprach der regionalen Machtverschiebung zugunsten Südafrikas, das gegen Ende des 19. Jh.s stark an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen hatte. Sie beendete eine lange und turbulente Geschichte. Obwohl die Portugiesen die ersten Europäer waren, die an der DelagoaBucht Anker legten, gelang es ihnen erst 1782, dort eine Siedlung zu errichten. Zwischen 1721 und 1730 ließen sich dort Niederländer nieder, die zwischen 1777 und
1781 von Engländern im Dienste Österreichs abgelöst wurden. M. blieb nach der Unabhängigkeit weiterhin Reg.ssitz. Auf Grund der tiefgreifenden regionalen strukturellen Ungleichheiten im Lande, dem vorherrschenden Wohlstandsgefälle zugunsten des Südens und der im Norden weit verbreiteten Meinung, nach der ethnische Gruppen aus dem Süden Mosambik politisch beherrschen, ist die Stellung M.s als Hauptstadt nicht unumstritten. In regelmäßigen Abständen werden Forderungen nach einer Verlegung der Hauptstadt in den Norden gestellt, auf die politisch durch Dezentralisierung reagiert wird. Seit dem Ende des Apartheidregimes (→Apartheid) im Nachbarland und dem Ende des Bürgerkriegs in Mosambik 1992 erlebt M. durch seine praktische Einbeziehung in den Wirtschaftsraum der Provinz Mpumalanga in Südafrika einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Stadt leidet immer noch unter erheblichen stadtplanerischen Schwierigkeiten, die sich v. a. in der unzulänglichen städtischen Infrastruktur und Überbevölkerung niederschlagen. Gewaltverbrechen prägen das Antlitz der Stadt genauso wie ein Bauboom von Luxusliegenschaften, der sowohl auf die Entwicklungshilfe (→Entwicklung) als auch auf den Drogenhandel (→Drogen) zurückzuführen ist. M. ist nicht nur politische Hauptstadt Mosambiks, sondern auch das kosmopolitischste Zentrums Mosambiks mit lebhaftem kulturellem Schaffen. Alexandre Lobato, História do Presídio de Lourenço Marques I-II, Lissabon 1960. ELISIO MA C A MO Maranhão. Das Wort M. ist vermutlich indigener Herkunft als Bezeichnung des →Amazonas. Weniger wahrscheinlich ist ein Ursprung im Portugiesischen oder Spanischen. Im Gegensatz zu anderen Gebieten, die seit der Landnahme in →Brasilien besiedelt und wirtschaftlich genutzt wurden, stand der M. zunächst nicht im Zentrum europäischer Kolonisationsbemühungen. Von indigenen Völkern seit Jahrtausenden bewohnt, haben wahrscheinlich span. Entdeckungsfahrten erstmals das Gebiet der brasilianischen Nordküste ca. 300 km östlich der Mündung des Amazonas erreicht. Wie den meisten anderen donátarias gelang es dann auch der des M. nicht, dauerhaft die Erschließung der am. Gebiete für die port. Krone zu gewährleisten. Nachdem der Schwerpunkt der port. Besiedlung Brasiliens im 16. Jh. in der Gegend um →Bahia sowie zwischen →São Paulo und →Rio de Janeiro lag und Versuche der Franzosen, sich dort festzusetzen, gescheitert waren, wurde 1612 in Nordbrasilien auf einer der Küste vorgelagerten Insel ein Fort errichtet. Kern des Siedlungsvorhabens war eine gegen Ende des 16. Jh.s mit Hilfe des Tupinambá-Stammes errichtete Faktorei. Zu Ehren Ludwigs XIII., der die Erlaubnis zur Koloniegründung gegeben hatte, erhielt der Ort den Namen Saint Louis. Dem privat finanzierten Unternehmen gehörte auch eine Gruppe Kapuziner an. Allerdings endete bald die offizielle Unterstützung für das Unternehmen, als sich die Hochzeit Ludwigs XIII. mit der span. Infantin anbahnte. In der Folge gaben die Franzosen nach nur drei Jahren das Gebiet Portugal, welches seit 1580 der span. Krone angeschlossen war, zurück. Im Gefolge der Besetzung des nördlichen Brasilien stand der M. von 1641 bis 1644 unter ndl. Herrschaft. Ebenso scheiterte eine 515
m A r At h e n
Revolte von Siedlern gegen koloniale Besteuerung und Monopole sowie den jesuitischen Schutz der indigenen Bevölkerung vor Versklavung. Zur besseren Kontrolle Nordbrasiliens, das von Portugal aus besser zu erreichen war als von Bahia oder dem brasilianischen Südosten, wurde der M. mit dem Amazonasgebiet zu einer eigenen administrativen Einheit zusammengefaßt. Der Estado do M. bzw. Estado do Grão-Pará e M. spiegelte so zwischen 1621 und 1774 nahezu ununterbrochen die wirtschaftliche, soziale, politische und geographische Distanz zum Estado do Brasil wider. Der unmittelbaren Unterstellung unter die Krone entsprach die Angliederung des Bistums von M. an das Erzbistum Lissabon. Das vom Markgrafen von Pombal entworfene Reformwerk, zu dem auch die Gründung der Companhia Geral de Comércio do Grão-Pará e M. gehörte, führte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, bei dem zur traditionellen Produktion von →Salz, →Zucker und Rindfleisch auch →Reis und →Baumwolle hinzukamen. Die enge ökonomische und politische Anbindung an Lissabon schlug sich während der Unabhängigkeit Brasiliens nieder, die im M. nur gegen Widerstand und mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden konnte. Andrea Daher, Les singularités de la France Equinoxiale, Paris 2002. Franz Obermeier, Frz. Brasilienreiseberichte im 17. Jh., Bonn 1995. Matthias Röhrig Assunção, Pflanzer, Sklaven und Kleinbauern in der brasilianischen Provinz Maranhão, 1800–1850, Frankfurt/M. 1993. CHRI S T I AN HAUS S E R
Marathen, Maratha. Der Begriff M. hat verschiedene Bedeutungen: In der Marathi-sprachigen Region Westindiens bezieht er sich auf die dominierende M.-Kaste. Außerhalb dieser Region charakterisiert M. i. allg. die Marathi-sprachige Bevölkerung. In historischem Kontext bezeichnet er eine Gruppe verschiedener Klans Zentralindiens (im heutigen Bundesstaat Maharastra), die unter ihrem Führer →Shivaji im 17. Jh. in dieser Region ein mächtiges Kgr. errichteten. Dieses Reich wurde in den 1680er Jahren zeitweise vom Mogulherrscher (→Moguln) Aurangzeb unterworfen. Nach dessen Tod 1707 kam es zu einem Wiedererstarken des M.-Reiches unter Shivajis Enkel Shahu und später unter einer Reihe von regierenden Premierministern (Peshwas). Diese dehnten den Einflußbereich im Norden bis nach →Delhi, →Agra und Rohillkhand und im Süden bis →Mysore und →Tanjavur aus. So etablierten sie sich selbst de facto als →Protektorat des Mogulreiches. Nach der Niederlage in der 3. Schlacht von Panipat 1761 gegen die afghanischen Invasoren unter Ahmad Shah Abdali zerfiel das M.-Reich in die 5 eigenständigen Staaten Sindhia, Bhonsle, Gaekwad, Holkar und Peshwa. Durch interne Konflikte geschwächt, verloren sie ihre Eigenständigkeit nach Auseinandersetzungen mit den brit. Truppen in den 3 M.-Kriegen 1775–1782, 1803–1805 und 1817/18. Einige M.-Geschlechter konnten sich als Fürstenstaaten (Princely States, →Indische Reiche) unter brit. Oberhoheit in Indore (Holkar), Gwalior (Sindhia) und Vadodara/ Baroda (Gaekwad) bis zur ind. Unabhängigkeit 1947 bewahren. 516
Stewart Gordon, The Marathas, 1600–1818, Cambridge 1993. Mahadev G. Ranade, Rise of the Maratha Power, Bombay 1961. N ITIN VA R MA Marianen →Chamorro, →Guam, →Northern Marianas Marianismo und Weiblichkeitsvorstellungen. M., abgeleitet von Maria als der christl. Muttergottes, wird oft als „die andere Seite“ des →Machismo bezeichnet. Verbindet man Machismo mit dem M., der Vorstellung von der moralischen Überlegenheit und Selbstlosigkeit der Frauen, so entstehen stark polarisierte Geschlechterstereotypen, die zudem die Frauen entweder als „Heilige“ überhöhen oder als „Hure“ verdammen. Der M. geht von einer moralischen und spirituellen Überlegenheit der Frauen gegenüber den Männern, hier oft verstanden als Machos, aus, die sich in Aufopferung für die anderen, v. a. die Familie, sowie in Geduld und Zurückhaltung besonders in der Öffentlichkeit manifestiert. Selbsterniedrigung und Unterwürfigkeit unter einen Mann oder eine Sache werden nicht – wie bei Männern – als Zeichen von Schwäche, sondern als moralische Stärke gedeutet. Solche Geschlechterstereotypen waren (und sind) nicht nur in →Lateinamerika verbreitet, haben sich dort jedoch als besonders ausgeprägt und langlebig erwiesen. Dem M. liegen religiöse und mythische Konzepte zugrunde, die sowohl aus dem Christentum als auch aus indigenen und afr. Religionen stammen und sich in der heterogenen und synkretistischen Gesellschaft Lateinamerikas gegenseitig verstärkt haben. Sie alle haben ihre Wurzeln in der weiblichen Gebärfähigkeit, denn als Quelle des Lebens wurden Frauen in vielen Kulturen und Religionen vergöttlicht. Da die Entstehung ethnisch heterogener Gesellschaften, die nach der Unabhängigkeit in vielen lateinam. Staaten zur Entstehung mestizischer Identitätskonzepte führte, eng mit der physischen Mestizisierung in Verbindung steht, avancierten Frauen oder weibliche Heilige wie die mexikanische Jungfrau von →Guadalupe zum Symbol der neuen Nationen. Allerdings wurde gleichzeitig die Sphäre der Frauen seit der Kolonialzeit auf Religion und Familie beschränkt. Die angenommene moralische Überlegenheit der Mütter und ihre Rolle in der Familie verschafften den Frauen Autorität in der Familie, und selbst erwachsene Söhne mußten der Mutter Gehorsam und Respekt zollen. Diese starke Stellung beschränkte sich jedoch auf bestimmte Bereiche, v. a. auf die Familie und das Haus, wo keine Konkurrenz zu den männlichen Machtansprüchen entstand. Andererseits stellt die Mutterschaft und die Reproduktion der Familie ein eminent wichtiges Element der Gesellschaft dar, so daß hieraus auch eine öffentliche Rolle abgeleitet werden kann. Daher begannen einige Frauen nach der Einführung republikanischer Staatsordnungen damit, auf dieser Basis zunächst zivilrechtliche, später auch politische Gleichstellung einzufordern. Die feministischen Bewegungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s forderten unter Berufung auf die Mutterschaft und die „andere Mission“ der Frauen volle staatsbürgerliche Rechte und waren mit dieser Strategie oft erfolgreicher als diejenigen, die auf Differenz setzten.
m Ark g r Af � m Arcg r Af �, geo rg
Aber auch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s beriefen sich die Mütter von der Plaza de Mayo noch vorwiegend auf ihre Mutterschaft und leiteten daraus einen gewissen Schutz vor staatlicher Repression sowie eine Rechtfertigung ihrer Aktivitäten ab. Auch sie reklamierten eine moralische Überlegenheit – nicht nur über die Militärs – auf Grund ihrer Mutterschaft. Klar abgegrenzte Rollenbilder und Geschlechterbereiche ermöglichen Frauen in einer ansonsten männlich dominierten Gesellschaft in gewissen Bereichen wie z. B. dem Erziehungs- und Gesundheitswesen politische und öffentliche Führungspositionen zu übernehmen, schließen sie andererseits aber von den „männlichen“ Bereiche aus. Elsa Chaney hat solche beruflich erfolgreichen Lateinamerikanerinnen in einer Untersuchung aus den 1970er Jahren als „supermadres“ bezeichnet, eine Charakterisierung, die auch der Selbstwahrnehmung vieler Frauen entsprach. Demokratisierung, die neuere feministische Bewegung sowie die starke Beteiligung von Frauen an den sozialen Bewegungen des ausgehenden 20. Jh.s haben, zusammen mit globalen Veränderungen, die starke Typisierung und Akzentuierung der Geschlechterrollen in Lateinamerika inzwischen abgemildert. Die Frauenbilder sind nicht mehr auf die Heilige oder die Hure reduziert, und Haushalt und Familie gelten nicht mehr als exklusives weibliches Terrain. Je nach sozialem Kontext und individuellen Überzeugungen finden sich jedoch noch immer Einflüsse der traditionellen Vorstellungen. Norma Fuller, En torno a la polaridad MarianismoMachismo, in: Luz Gabriela Arrango / Magdalena León de Leal (Hg.), Género e identidad. Ensayos sobre lo femenino y lo masculino, Bogotá 1995. Evelyn P. Stevens, „Marianismo: The Other Face of Machismo,“ in: Ann Pescatello (Hg.), Female and Male in Latin America, Pittsburgh 1973, 90–101. BARBARA P OT T HAS T Maria-Theresia-Taler. Bezeichnung für StandardSilbermünze der Habsburger Monarchie mit Brustbild Maria Theresias (reg. 1740–1780) im Witwenschleier auf der Aversseite und Angabe des (fiktiven) Prägejahres 1780. Für sie war exakt nach dem Reichsmünzfuß ein Rauhgewicht von 28,0664 g und ein Feingewicht von 23,38556 g (= 1/10 der Kölnischen Mark) vorgeschrieben. Bis zum Inkrafttreten der Wiener Münzkonvention lief sie als gesetzliches Zahlungsmittel im Habsburger Reich um. 1857 dekretierte sie Ks. Franz Joseph I. als →Handelsmünze speziell für die Balkanregion und die Levante, wohin sie schon in großen Mengen seit der zweiten Hälfte des 18. Jh.s abgeflossen war. Wegen dieses ihres hauptsächlichen Verbreitungsraumes wurde sie vor dem Ersten Weltkrieg häufig „Levantiner Taler“ genannt. Der M.-T.-T. zählte im 18. und 19. Jh. zu den wichtigsten Handelsmünzen im gesamten weltweiten →Zahlungsverkehr. Der M.-T.-T. war bis in die Zeit der →Dekolonisation gebräuchliches Zahlungsmittel in weiten Teilen Nordafrikas, in →Äthiopien, in Regionen Ostafrikas, auf der arab. Halbinsel und in den moslemisch geprägten Küstengebieten →Indiens. Bis in die Gegenwart werden in Österreich Nachprägungen mit der unveränderten Jahreszahl 1780 gefertigt. Ab 1935 führte die römische Münzstätte mit österr. Billigung Prägungen für
den Bedarf in den durch Italien eroberten äthiopischen Gebieten durch. In der Zeit des →Zweiten Weltkrieges erfolgten Nachprägungen zur Versorgung afr. und vorderasiatischer Gebiete in London, Birmingham, Paris und →Bombay. Die Zahl der bis zum Jahr 2000 hergestellten M.-T.-T. wird auf über 300 Mio. geschätzt. Franz Leypold, Der Maria-Theresia-Taler 1780, Wien 1976. Friedrich Zellfelder, „Maria-Theresien-Taler“, in: Michael North (Hg.), Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, 232f. G ERH A R D H U TZLER
Maristen (Societas Mariae, Gesellschaft Mariens, SM) nennt man einen katholischen Missionsorden, der 1816 in Lyon von Pater Jean-Claude Colin gegründet wurde. Seit 1817 gibt es auch Maristenbrüder (FMS), seit 1818 M.schwestern (SM, die eigentlichen Missionsschwestern heißen SMSM). Sie waren insbes. in der Erziehung u. im Schuldienst tätig. Papst Gregor XVI. beauftragte den Orden 1840 mit der Christianisierung derjenigen pazifischen Inseln, die unter französischem Einfluß standen. Wallis u. Futuna, →Neukaledonien, aber auch →Samoa u. →Fidschi waren erste Missionsgebiete. 1841 starb Pierre / Peter Chanel (* 1803; kanonisiert 1954) auf Futuna den Märtyrertod. In den deutschen Südseebesitzungen waren die M. besonders aktiv in Samoa u. in den →Salomonen, sowohl im dten. wie im brit. Teil. Unter ihnen fanden sich auffällig viele Elsässer, Lothringer u. Luxemburger. Dazu gehört der Elsässer P. Karl Flaus (1865–1920), der, von Samoa kommend, mit den beiden samoan. Katecheten Kario u. Lino am 3. Mai 1899 in Faisi (Shortland Island) die erste kathol. Missionsstation in den Salomonen eröffnete. Flaus begründete auch 1900 die deutsche Ordensprovinz. Die Aktivitäten der M. im Pazifik reichen bis in die Gegenwart. Die Tätigkeit der dt.en M. auf den Salomonen kam durch den Bürgerkrieg in →Bougainville zum Ende. Die dt.e Ordensprovinz hat einen Sitz in Meppen (Norddeutschld.) und in Fürstenzell b. Passau (Süddeutschld.). Q: Archive in Rom, Suva u. Wellington. Charles Girard (Hg.), Lettres des missionaires maristes en Océanie, 1836–1854, Paris 2008. L: Alois Greiler (Hg.), Catholic Beginnings in Oceania. Marist Missionary Perspectives, Hindmarsh 2009. Hugh Laracy, Marists and Melanesians. A History of Catholic Missions in the Solomon Islands, Canberra 1976. H ER MA N N H IERY Mark Banko →Hamburger Bank Markgraf (Marcgraf), Georg, * 20. September 1610 Liebstadt (Sachsen), † Juli / August 1644 São Paulo de Loanda (Angola), □ unbek., ev.-luth. Nach dem Studium der Mathematik, Astronomie, Medizin und Botanik in Rostock, Stettin und Leiden reiste M. 1638 nach Recife (→Pernambuco) in die damals ndl. Kolonie →Brasilien. Dort begab er sich in den Dienst des Generalstatthalters Johann Moritz Graf von →Nassau-Siegen, der während seiner Reg.szeit (1637–1644) Künstler und Naturforscher förderte. M. vermaß die Küste Pernambucos und erkundete deren Hinterland. Dabei stellte er astronomische und meteorologische 517
m A r okko
Beobachtungen an und trug botanische, zoologische und ethnographische Sammlungen zusammen. Auf der Rückreise nach Europa starb er in Angola an einer tropischen Fieberkrankheit. Während der größte Teil seiner Aufzeichnungen verlorenging, fanden einige naturkundliche und ethnographische Schriften Eingang in die von Johannes de Laet hg. Historia Naturalis Brasiliae (Amsterdam und Leiden 1648). Seine Karten wurden bei der Herstellung des Atlas Brasiliensis im Amsterdamer Verlag Blaeu verwendet. Charles R. Boxer, The Dutch in Brazil, 1624–1654, Oxford 1957. Dietmar Henze, Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde, Bd. 3, Graz 1993, 375. MARK HÄBE RL E I N
Marokko. Der international gebräuchliche Name des im äußersten Nordwesten Afrikas an der Straße von Gibraltar gelegenen Kgr.s M. (Royaume du Maroc; engl. Morocco; berberisch: Imruk/Umerruk) geht zurück auf die hispanisierte Namensform der früheren Hauptstadt Marrakesch (arab. Murrâqusch, altkastil. Marruecos) und gelangte während der Reconquista über Spanien nach Europa. Die arab. Eigenbezeichnung lautet al-Maghrib (al-Aqsâ), „der (fernste) Westen“, amtlich al-Mamlaka al-Maghribîya, „Maghrebinisches Kgr.“, „Westliches Kgr.“. Das überwiegend gebirgige Land mit 446 550 km² (ohne →Westsahara) und (2010) ca. 32 Mio. Ew. wird von den Ketten des Atlas beherrscht, die den Hauptlebensraum der →Berber bilden (ca. 40 % der Gesamtbevölkerung) und den mediterran-atlantischen Norden und Westen vom saharisch geprägten, dünn besiedelten Osten und Süden scheiden. Die im Altertum im westlichen →Maghreb ansässigen Berber – in antiken Quellen summarisch „Mauri“ (von griech. amauros, „dunkel“) genannt – erlagen seit dem Jughurtinischen Krieg (111–105 v. Chr.) zunehmend der Übermacht Roms (Klientelreich Mauretania, 40 n. Chr. Provinz). 705 brachten die von Osten her vorrückenden →Araber das Gebiet nach mehreren Anläufen (seit 680) endgültig unter Kontrolle und leiteten die Islamisierung ein. Schon 789 vollzog Idris I., ein Nachkomme Mohammeds, die formelle Trennung vom Kalifat und begründete damit die bis heute fast ununterbrochen gewahrte staatliche (und religiöse) Eigenständigkeit M.s. Nach einer ersten Blüte unter den Idrisiden (788–985) wurde das Land im Mittelalter zum Kernraum der bis nach Spanien ausgreifenden (und in der Geschichte der Reconquista prominenten) Großreiche der Almoraviden (1062–1147) und Almohaden (1147–1269). In der Folge (15.–17. Jh.) profitierte M. wirtschaftlich und kulturell vom Zustrom geflohener oder vertriebener Muslime („Moriscos“) und Juden aus Spanien. Die scherifische Dynastie der Sacdier (1509/54–1659) konnte den Vormarsch der Osmanen stoppen (1550–1580) und bereitete 1578 in der legendären „Dreikg.sschlacht“ von Ksar el-Kebir (Alcazarquivir) auch der port. Expansion ein Ende. Als „Goldenes Zeitalter“ ist die Herrschaft des mit England verbündeten Ahmad al-Mansûr adh-Dhahabî (1578–1603) in die Geschichte eingegangen (1591 Vorstoß an den →Niger, Zerschlagung des Songhai-Reichs und Einrichtung des Paschaliks →Timbuktu). 1659 ergriffen die noch jetzt re518
gierenden cAlawiden (Alaouiten) die Macht. Ismâcîl „der Blutige“ (1672–1727), in Europa gern als Prototyp des brutalen orientalischen Despoten porträtiert, verschaffte M. erneut eine Vormachtstellung. Unter Mohammed III. (1757–1790) erkannte es 1777 als erster Staat die →USA an (1786 Unterzeichnung eines bis heute gültigen Freundschaftsvertrages). Im 19. Jh. verhinderten europäische Rivalitäten die koloniale Inbesitznahme, erst nach der zweiten →M.krise wurde das Land 1912 zum frz.-span. „Schutzgebiet“(→Protektorat) degradiert. Während das „Tétouan-Protektorat“ im Norden bald in heftige Turbulenzen geriet (→Rifkrieg) und stagnierte, begann in Frz.-M. unter dem Generalresidenten →Lyautey eine Phase der Modernisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Der →Zweite Weltkrieg gab der Unabhängigkeitsbewegung starken Auftrieb (1940 Kapitulation Frankreichs, 1941 Atlantik-Charta, 1942 Operation „Torch“). Seit 1947 kooperierte Mohammed V. (1927–1961) offen mit der nationalistischen →IstiqlalPartei. 1953 löste seine Verbannung nach →Madagaskar schwere Unruhen aus, die die angeschlagene Kolonialmacht (1954 Niederlage in →Frz.-Indochina und Beginn des →Algerienkriegs) zum Nachgeben zwangen (1955 Rückkehr des Sultans, März/Apr. 1956 Annullierung der Protektoratsverträge). Nach der oft als „Bleierne Zeit“ bezeichneten Herrschaft Hassans II. (1961–1999) – er betrieb seit 1975 erfolgreich die Angliederung der Westsahara – hat der jetzige Kg. Mohammed VI. innere Reformen in Angriff genommen (Demokratisierung, Frauenrechte, Berberpolitik), die ihm im Westen viel Lob eintrugen. Strittige Fragen (Anspruch M.s auf die span. →Exklaven Ceuta und Melilla, Cannabis-Anbau im Rîf und Haschisch-Export nach Europa) treten dagegen in den Hintergrund, denn M. gilt als zuverlässiger Partner bei der Eindämmung illegaler Einwanderung in die EU und im Kampf gegen den Islamismus. Michel Abitbol, Histoire du Maroc, Paris 2009. Bernard Lugan, Histoire du Maroc des origines à nos jours, Paris 2000. Richard Pennell, Morocco since 1830, London 2000. Henri Terrasse, Histoire du Maroc des origines à l’établissement du Protectorat français, Casablanca 2005 (1. Aufl. 1949). LO TH A R BO H R MA N N Marokko-Krisen. In den sog. M.K. kulminierten Anfang des 20. Jh.s die jahrzehntelang schwelenden Konflikte zwischen den europäischen Mächten um die koloniale Vereinnahmung des Sultanats →M. Gegen die seit 1830 (Besetzung →Algiers) offensichtlichen französischen Ambitionen traten bald Spanien (1859/60 Spanisch-Marokkanischer Krieg), Großbritannien und Deutschland (in erster Linie wirtschaftliches Engagement: Mannesmann, Krupp) als Konkurrenten auf den Plan. Dank der geschickten Politik der Alaouiten (besonders Hassans I., 1873–1894), die vorsichtige Reformen einleiteten, Überschuldung vermieden und die Gegensätze zwischen den einander blockierenden Anwärtern ausspielten, blieb das Land lange vor direktem Zugriff verschont, obwohl es in zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit geriet (Konvention von Madrid 1880: Garantie der Souveränität, aber Öffnung des Marktes und Privilegien für Ausländer). Der Abschluß der britisch-französischen Entente
m Arq u es As i n s eln
Cordiale und eine gleichzeitige Einigung mit Spanien ließen Frankreich schließlich 1904 freie Hand für eine (vorerst) „friedliche Durchdringung“. Das ausmanövrierte Kabinett in Berlin versuchte nun, seinen Anspruch auf angemessene Beteiligung an der Lösung der „M.frage“ durch eine Politik der Stärke und Drohgebärden zur Geltung zu bringen, womit es die beiden M.K. provozierte. Die erste („Tanger-Krise“, März 1905 bis Mai 1906) wurde durch ein spektakuläres Treffen Kaiser Wilhelm II. mit dem Sultan in Tanger (31.03.1905) und seine demonstrative Erklärung zur Souveränität M.s ausgelöst, die zweite („Agadir-Krise“; Juli bis Nov. 1911) durch die insbesondere für die Briten alarmierende Landung des Kanonenboots Panther in Agadir am 01.07.1911 („Panthersprung“). In den zur Beilegung der Krisen einberufenen Konferenzen (Algeciras 1906, Berlin 1911) blieb Deutschland international weitgehend isoliert. Es mußte am Ende (M.-Kongo-Vertrag, 4.11.1911) die französische Vorherrschaft gegen eine magere territoriale Kompensation in Äquatorialafrika („Neukamerun“) und einige weitere Zugeständnisse akzeptieren. Der Versuch, einen Keil zwischen die Entente-Mächte zu treiben, hatte das genaue Gegenteil bewirkt (1907 Beitritt Rußlands) und die Blockbildung im Vorfeld des →Ersten Weltkriegs weiter vorangebracht. Für M. war der Weg zum Protektorat geebnet (Abkommen von Fes, 30.3.1912). Martin Mayer, Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung, Düsseldorf 2002. Thomas Meyer, „Endlich eine Tat, eine befreiende Tat ...“ Alfred von Kiderlen-Wächters „Panthersprung nach Agadir“ unter dem Druck der öffentlichen Meinung, Husum 1996. Emily Oncken, Panthersprung nach Agadir, Düsseldorf 1981. L OT HAR BOHRMANN
Maroniten. Die sich selbst „Einzig rechtgläubige katholisch-chaldäische Maronitenkirche der Melkiten“ nennende Glaubensgemeinschaft entstand im 7. Jh. als Abspaltung von der byzantinischen Reichskirche. Als ihr Gründer gilt der syrische Mönch Māron, der zur Regierungszeit des Kaisers Herakleios († 641) am unteren Orontes lebte. Nach ihrer Lehre hat Christus eine göttliche und eine menschliche Natur, jedoch nur einen göttlichen Willen. Sie steht damit theologisch zwischen der Orthodoxie und dem Monophysitismus. Auf der VI. Synode von Konstantinopel wurde der maronitische Glaube mit dem Monotheleten gleichgesetzt und als Häresie verurteilt. Gegen Justinian II. (reg. 685–695 und 705–711) konnte die Glaubensgemeinschaft ihre Unabhängigkeit behaupten. Durch den Kalifen al Walid II. wurden die M. nach 709 aus den fruchtbaren Regionen an der Ostküste des Mittelmeeres in die Berggebiete des Libanon verdrängt. Dort liegt auch heute noch ihr größtes Siedlungsgebiet. Im 12. Jh. stellten sie sich unter den Schutz der Kreuzritter. Dadurch kam es 1182 zu einer zunächst losen Bindung an den Papst. Seit 1445 gelten sie als mit Rom uniierte Ostkirche mit dem Recht der Beibehaltung eigener Hierarchie und Liturgie. Die Beschlüsse des Zweiten Vaticanums wurden von den M. „im Prinzip“ anerkannt. Die Kirchensprache ist jetzt neben einem altertümlichen Westsyrisch vornehmlich Französisch. 1638 erklärte sich Frankreich zur Schutzmacht der M.
Als es 1860 zu Pogromen kam, die die Hohe Pforte nicht unterband, erzwang Napoleon III. die weitgehende Autonomie des Libanon unter einem christlichen Gouverneur. Im modernen Staat Libanon muß gemäß der Verfassung der Staatspräsident M. sein. Die maronitische Kirche gibt die derzeitige Mitgliederzahl mit sechs Millionen an. Davon leben eine Million im Libanon und 300 000 in Syrien, der Rest in der Diaspora, vornehmlich in Frankreich, Nord- und Südamerika. Pierre Dib, Histoire des Maronites, Beirut 1999. R. J. Mouawad, Les Maronites, Turnhout 2009. Harald Suermann, Die Gründungsgeschichte der Maronitischen Kirche, Wiesbaden 1998. G ERH A R D H U TZLER Marquesasinseln, Îles Marquises, (auch: „Archipel des Marquises“; polynesischer Name: „Te Fenua Enata“ bzw. „Te Henua Kenana“, dt.: „Die Erde der Männer“). Nördlichste Inselgruppe in Frz.-Polynesien, bestehend aus dreizehn größeren Inseln: Motu One, Hatutaa (Hatutu), Eiao, Motu Iti (Hatu Iti), Nuku Hiva, Ua Huka, Ua Pou (Ua Pu), Fatu Huku, Hiva Oa, Tahuata, Mohotani (Motane), Thomasset Rock und Fatu Hiva sowie zahlreichen Kleinstinseln. Die Inseln sind in eine nordwestliche Gruppe mit den Inseln Eiao, Hatutaa und Motu One, eine zentrale Gruppe mit den Inseln Nuku Hiva, Ua Pou und Ua Huka und in eine südöstliche Gruppe mit Hiva Oa, Fatu Huku, Motane, Tahuata und Fatu Hiva gegliedert. Verwaltungssitz ist Taiohae auf der Insel Nuku Hiva. Alternative/historische Namen: Les Marquises, Marquesas de Mondeoza, Marquezas, Marquises de Mendoca, Mendana, Papatea. Die M. sind vulkanischen Ursprungs. Im Gegensatz zu anderen polynesischen Inseln fehlt der umgebende Korallensaum völlig, Strände sind selten. Höchste Erhebung: Mount Tekao auf Nuku Hiva mit 1 224 m. Das Inselinnere ist überwiegend gebirgig, stark zerklüftet mit tief eingeschnittenen Tälern, deren Flüsse sich z. T. mit spektakulären Wasserfällen ins Meer ergießen. Die Süd- und Ostseiten der Inseln sind mit üppiger tropischer Vegetation bedeckt, die sich durch ihren Artenreichtum auszeichnet. Die Inseln sind sehr fruchtbar und ermöglichen den Anbau diverser landwirtschaftlicher Produkte. Die windabgewandte Nordwestseite ist meist arid, mit spärlichem Bewuchs und stellenweise savannenähnlichem Charakter. Das →Klima ist tropisch heiß mit ergiebigen Regenfällen und hoher Luftfeuchtigkeit, die Temperatur beträgt im Jahresmittel 28° C. Die M. wurden etwa bis 300 n. Chr. aus dem Raum →Samoa und →Tonga in mehreren Besiedlungswellen kolonisiert. Umfangreiche archäologische Funde bestätigen die komplexe Gesellschaft, die sich auf den Inseln entwickeln konnte. U. a. wurden Lapita-Scherben gefunden, die auf enge Kontakte zu westlich liegenden Gegenden und die Einbindung in Handelsnetzwerke schließen lassen. Die M. bildeten in der Folge ein Sprungbrett zur Besiedlung →Hawai’is, Neuseelands, der Gesellschaftsinseln und der →Osterinsel (Rapa Nui). Ende des 13. Jh.s sollen mindestens 50 000 Ew. die Inseln bevölkert haben. Die traditionelle polynesische Gesellschaft organisierte sich in den Tälern in Form von Klans (huaka) als jeweils geschlossene Siedlungsgemeinschaften. Die komplexe Gesellschaftsstruktur war durch ein System 519
m A r s h A l l ins e l n
von Abhängigkeiten, Rechten und Meidungsgeboten (→Tapu) gekennzeichnet, die jedem Individuum ein gewisses Mitsprache- und Mitgestaltungsrecht einräumte, wobei nach dem Senioritätsprinzip, Geschlecht und sozialer Stufe unterschieden wurde. Die Gesellschaft gliederte sich in Häuptlinge (hakaiki), Hohepriester (taua), Chief-Warrior (toa), Gemeine (meie) sowie verschiedene Spezialisten (tuhuna). Für Europa entdeckt wurden die M. am 21.7.1595 durch den Spanier Alvaro Mendaña y Neira (San Jeronimo, San Ysabel, Santa Catalina, San Felipe). Er landete auf der Insel Tahuata und benannte die Inselgruppe nach Marques de Mendoza, dem damaligen Vize-Kg. von →Peru, „Las Islas Marquesas Don García Hurtado de Mendoza y Canete“, verkürzt M. Bei dieser ersten Begegnung töteten die Spanier ca. 200 Insulaner im Verlaufe verschiedener Konflikte. Der Engländer James →Cook (Resolution, Adventure) besuchte Tahuata auf seiner zweiten Reise im März und Apr. 1774, der Amerikaner Joseph Ingraham (Hope) gelangte im Apr. 1791 in die nördlichen M., der Franzose Étienne Marchand (Solide) im selben Jahr nach Tahuata und Ua Pou. Händlern und Walfänger folgten, die wiederholt Krankheiten einschleppten und zur drastischen Dezimierung der Bevölkerung beitrugen. Ab 1797 Kontakt mit Missionaren. Zuerst mit William Pascoe Crook der London Missionary Society (LMS, →Protestantische Missionsgesellschaften) auf Tahuata, der jedoch nach Mißerfolgen die Inseln bald verließ. Ab 1838 rk. Missionierung, ab 1825 ein weiterer Missionsversuch der LMS und 1831 Mission der Hawaiian Missionary Society. Die teilweise rigiden Missionierungsbestrebungen trugen zum Niedergang und Verschwinden der traditionellen marquesanischen Kultur bei. 1813 erreichte Kommodore David Porter (Essex) die Insel Nuku Hiva, nahm sie am 19.11.1813 für die →USA in Besitz, die jedoch die →Okkupation nicht ratifizierten. Am 1.5.1842 annektierte Admiral Aristide Aubert Dupetit-Thouars (Venus) die M. für Frankreich, nachdem er bereits ab 2.8.1838 erstmals auf den Inseln war. Der Schriftsteller Herman Melville hielt sich 1842 vier Monate auf der Insel Nuku Hiva auf, was er in dem Roman „Typee“ verarbeitete. 1860–1863 wurden mehrere Inseln der Gruppe wiederholt von peruanischen Sklavenhändlern (→Sklaverei und Sklavenhandel) heimgesucht, die zahlreiche Ew. zur →Zwangsarbeit zu den peruanischen Guanoinseln verschleppten. Die wenigen Rückkehrer verursachten 1863 eine Pockenepidemie (→Pocken), der zahlreiche Bewohner der M. zum Opfer fielen. 1879 besuchte der dt. Ethnologe Karl von den Steinen die M., der u. a. ausführlich die traditionellen Tatauierungen dokumentierte. Durch Krankheiten, Mission und Abwanderung, v. a. nach Tahiti, reduzierte sich die Bevölkerung bis 1930 auf ca. 2 500 Ew.; seither stieg sie kontinuierlich an und hält heute eine konstante Größe. Der auf Hiva Oa begrabene frz. Chansonier Jacques Brel setzte mit seinem letzten komponierten Lied „Les Marquises“ den Inseln ein musikalisches Denkmal. Im Ersten Weltkrieg passierte das dt. Ostasien- bzw. SüdseeGeschwader die Inselgruppe. Von Ende des 19. Jh.s. bis zum Ersten Weltkrieg forcierte die in dt. Händen befindliche Société Commerciale de l’Oceanie die Ausbeutung der landwirtschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten. Haup520
terwerbszweige sind bis heute die Landwirtschaft, die für die Selbstversorgung sowie den Markt in Tahiti produziert sowie der in jüngerer Zeit auf einigen Inseln sich entwickelnde →Tourismus. Gesamtlandfläche: ca. 1 240 km2; Gesamtbevölkerung (2005): ca. 8 200 Ew.; Lage: 7°50’–10°35’ Süd, 138°25’–140°50’ West. Frederick W. Christian, Eastern Pacific Lands, London 1910. Edward S. Craighill Handy, The Native Culture of the Marquesas, Honolulu 1923. Edwin N. Ferdon, Early Observations of Marquesan Culture 1595–1813, London u. a. 1993. H ER MA N N MÜ CK LER Marshallinseln. Die M. bestehen aus 29 Atollen und 5 einzelnen Inseln, die sich zwischen 4 und 14 Grad nördlicher Breite sowie 160 und 173 Grad östlicher Länge befinden. Zusammen genommen verfügen sie über 181,3 km² Landfläche auf ca. 1150 Inseln und teilen sich in zwei Atoll-Ketten auf: die westliche Ralik-Kette („Sonnenuntergangs-Kette“) und die östliche Ratak-Kette („Sonnenaufgangs-Kette“). Die Besiedlung der Inseln verschwindet im Dunkel der Geschichte, archäologische Forschungen legen aber nahe, daß einzelne Atolle seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend bewohnt waren. Der erste schriftliche Quelle stammt aus dem Jahr 1526, als der spanische Kapitän Alonso de Salazar auf dem Weg von Mexiko zu den Molukken das unbewohnte Taongi (Bokak)-Atoll anlief. In den folgenden 40 Jahren besuchten zumindest vier weitere spanische Schiffe die M. Danach gerieten die Inseln aus europäischer Sicht für gut 200 Jahre in Vergessenheit, da sie für die Spanier auf Grund mangelnder Ressourcen und fehlender Möglichkeiten zur Lebensmittelaufnahme auf der Route Acapulco-Manila uninteressant waren. 1788 stieß der englische Kapitän John Marshall auf dem Weg von Sydney nach Canton auf die M., ohne zu wissen, daß vorher spanische Schiffe die Inseln „entdeckt“ hatten. Adam Johann von →Krusenstern benannte daraufhin die Inseln nach ihm. Seit Beginn des 19. Jhdts. vermehrte Aktivitäten von Walfängern, Handelsschiffen und Piraten im Bereich der M. Die Begegnungen mit den Einheimischen verliefen jedoch meist blutig, was zu einem schlechten Ruf der Marshallaner in dieser Zeit führte. 1857 erreichten die ersten Missionare der ABCFM (Bostoner Mission) das Ebon-Atoll und ließen sich dort nieder. Angeführt von Amerikanern, setzten sich die Missionare hauptsächlich aus Hawaiianern zusammen, die seit 1820 von der ABCFM christianisiert wurden. In kurzer Zeit verbreitete sich das Christentum in seiner kongregationalistischen, puritanischen Form auf den M., so daß 1888 bereits ca. 2000 Anhänger zu verzeichnen waren und 500 Schüler unterrichtet wurden – bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von etwas über 10.000. Die traditionelle, straffe Gesellschaftsstruktur der Marshallaner wurde v. a. durch die Missionierung im Laufe der Zeit verändert, die Dreiteilung in Irodsch (Oberhäuptlinge), Buirak (Adlige) und Kadschur (Hörige) lockerte sich auf. Besonders die enorme Verfügungsgewalt der Irodsch und Buirak über die Kadschur war eine Besonderheit der M. im Vergleich zu anderen mikronesischen Kulturen. Bereits 1878, in der protoimperialen Phase des Deutschen Reiches, unterzeichnete der Kapitän der Ariadne, Bartholomäus
m A rti n , hei n ri ch
von Werner, einen Vertrag mit Irodsch (Großhäuptling) Kabua von Jaluit, welcher dem Deutschen Reich den Schutz der deutschen Händler, eine Meistbegünstigungsklausel und das Recht auf eine Kohlenstation auf Jaluit zusicherte. Am 15. 10. 1885 erfolgte deutscherseits eine Flaggenhissung, die die Errichtung des „Schutzgebiet der Marshall-, Brown- und Providence-Inseln“ (sp. „Schutzgebiet der Marshall-Inseln“) begründete. Der Hauptexportartikel war die Kopra, welche die primäre Motivation der europäischen Handelstreibenden auf den M. war. Die deutschen Handelsfirmen auf den M. schlossen sich am 21.12.1887 in der →Jaluit-Gesellschaft zusammen, bestehend aus Hernsheim & Co. sowie Teilen der DH&PG. Die Jaluit-Gesellschaft wurde am 21.01.1888 zur Konzessionsgesellschaft mit besonderen Rechten und Pflichten für die M. Bei allen politischen Entscheidungen hatte sie ein entscheidendes Mitspracherecht bis zur Auflösung des Vertrags 1906, als die M. in das „Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea“ eingegliedert wurden. Seit 1899 waren auch katholische Missionare der deutschen Provinzen der →Herz-Jesu-Missionare (MSC) auf den M. tätig, ohne jedoch denselben Einfluß zu erlangen, den die Bostoner Missionare gewonnen hatten, die M. blieben weitgehend protestantisch geprägt. Im Ersten Weltkrieg wurden die M. von Japan besetzt, am 3.10.1914 wurde die japanische Flagge auf Jaluit gehisst, in den folgenden Wochen auch auf den übrigen Atollen. Jaluit blieb, wie zur deutschen Zeit, das koloniale Verwaltungszentrum der M. Nach dem Krieg erhielt Japan die M. als C-Mandat durch den Völkerbund zugeteilt. Im Zweiten Weltkrieg waren Kwajalein und Eniwetok besonders umkämpfte Atolle, die Anfang 1944 von den USA erobert wurden. Die anderen Atolle, auf denen japanische Truppen stationiert waren, wurden regelmäßig bombardiert, aber erst nach dem Ende der Kampfhandlungen besetzt. Einige weitere, unverteidigte Atolle wurden zwischen 1944 und dem Kriegsende okkupiert. Am 18.07.1947 wurden die M. Teil des Trust Territory of the Pacific Islands, ein von den Vereinten Nationen an die USA vergebenes Mandatsgebiet. Majuro wurde Verwaltungszentrum der M. Zwischen 1946 und 1958 wurden insgesamt 67 Atombombentests auf den Atollen Bikini und Eniwetok durchgeführt, durch welche einige nördliche Atolle auch fast 70 Jahre später noch unbewohnbar sind. Am 21.10.1986 erlangte die Republik M. ihre volle völkerrechtliche Souveränität. Francis X. Hezel, The First Taint of Civilization, Honolulu 1983. Ders., Strangers in Their Own Land, Honolulu 1995. Augustin Krämer und Hans Nevermann, Ralik-Ratak, Hamburg 1938. MARKUS P L AT T NE R Marshallplan. Das von US-Außenminister George C. Marshall am 5.6.1947 angekündigte europäische Wiederaufbauprogramm war die Antwort der →USA auf die krisenhafte Zuspitzung der ökonomischen und politischen Situation in Europa nach dem →Zweiten Weltkrieg. Das im Rahmen des Economic Cooperation Act am 3.4.1948 in Kraft getretene European Recovery Program (ERP) hatte eine Laufzeit von vier Jahren. Unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ wurden 18 westeuropäische Länder und die Türkei (die Sowjetunion hatte eine Beteili-
gung abgelehnt) mit einem Gesamtvolumen von 14 Mrd. US-$ unterstützt. Durch Überwindung von Versorgungsengpässen, Modernisierung der Infrastruktur, Rationalisierung der Produktion und verstärkte innereuropäische Zusammenarbeit wirkte der M. als Initialzündung für die die Wiederbelebung der westeuropäischen Volkswirtschaften. Außerdem entfaltete er vielfältige politische Wirkungen: Stabilisierung der demokratischen Systeme in Westeuropa, Initialzündung für die westeuropäische Integration, Eindämmung kommunistischer Einflüsse, Westorientierung der am ERP beteiligten Länder – allen voran die Bundesrep. Deutschland – sowie Sicherung einer informellen Hegemonialstellung der USA. Im kollektiven Gedächtnis der Westeuropäer ist der M. insb. wegen seiner sichtbaren wirtschaftlichen Erfolge tief verankert. Zeitgenössische Propagandakampagnen und aktive Erinnerungspolitik haben hierzu beigetragen. Aus historischer Perspektive bleibt festzuhalten, daß der M. die transatlantischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s entscheidend geprägt hat. Günter Bischof / Dieter Stiefel (Hg.), Images of the Marshall Plan in Europe, Innsbruck 2009. Organisation for Economic Cooperation and Development (Hg.), Bibliography on the Marshall Plan and the Organisation for European Economic Cooperation 1945–1997, Oxford 1996. H A N S-JÜ R G EN SCH R Ö D ER
Martin, Heinrich, alias Martínez, Henrico, * zwischen 1550 und 1560 Hamburg, † 24. Dezember 1632 Cuauhtitlán (Mexiko), □ unbek., rk. Nach nur bruchstückhaft bekannten Jugendjahren in Hamburg lebte M. in Sevilla, studierte möglicherweise in Paris und gelangte 1589 im Gefolge des Vize-Kg.s Luis de →Velasco II. mit einer kgl. Ernennung zum Kosmographen nach Mexiko-Stadt, wo er an der dortigen Universität unterrichtete und als Dolmetscher der Inquisition für Deutsch und Flämisch in Erscheinung trat. Von einem von der Inquisition des Luthertums beschuldigten und zu Gefängnis verurteilten Holländer erwarb M. ca. 1598 dessen mitgebrachte Druckgerätschaften und eröffnete unter seinem hispanisierten Namen ein Druckgewerbe, das später sein Sohn weiterführte. Er wirkte aber auch als Kartenzeichner bei der kartographischen Fixierung der Schiffahrtsroute (→Schiffahrt) zu den →Philippinen mit, für die Velasco den Seefahrer Sebastián Vizcaino verwandte und schrieb im Anschluß an die naturkundliche Erforschung des Landes im Gefolge der von →Philipp II. entsandten →Expedition des Dr. Francisco →Hernández eine Naturgeschichte von Neuspanien, einen Traktat zur Landwirtschaft und einen weiteren zur Physionomie. Angesichts der häufigen Überschwemmungen der inmitten des Seengebietes im Hochtal von Mexiko-Stadt gelegenen Hauptstadt während der Regenzeiten erhielt M. vom Vize-Kg. den Auftrag, Pläne zur Entwässerung des Hochtales zu entwickeln, auf Grund derer er 1607 beauftragt wurde, am nördlichen Ende des Hochtales von der bei Zumpango gelegenen Lagune Entwässerungsgräben zu ziehen und das Wasser über einen Durchstich des Gebirgszuges zum Fluß Tula abzuleiten. Mit Hilfe von, der Überlieferung nach, 461 000 indigenen Arbeitern konnte dieses bis dahin größte von Europäern in →Amerika 521
mAseru
durchgeführte wassertechnische Ingenieurvorhaben bereits nach ca. einjähriger Bautätigkeit fertig gestellt werden, brachte aber nur vorübergehend eine Verbesserung der Lage. Die Geschichte dieses als „desagüe de Huehuetoca“ bekannt gewordenen Bauwerks zog sich mit Unterbrechungen bis hin zum 19. Jh., wurde von Alexander von →Humboldt untersucht und beschrieben und trug M. das im 19. Jh. errichtete Denkmal rechts vor der Kathedrale am Zócalo und die Aufnahme seines Werkes in die Reihe der 100 wichtigsten Schriften in der Geschichte Mexikos ein. José Enrique Covarrubias, Henrico Martínez y su idea de la ciencia y la historia en el Repertorio de los tiempos e historia natural de esta Nueva España, in: Juan A. Ortega y Medina / Rosa Carmelo (Hg.), Historiografía Mexicana, Bd. II hg. v. Patricia Escandón, La creación de una imágen propia. La tradición española 1: Historiografía civil, Mexiko-Stadt 2010. Henrico Martínez, Repertorio de los tiempos e historia natural de esta Nueva España, escrita e impresa por Henrico Martínez en México, el año de 1606. Ndr. in „Cien de México“, Mexiko-Stadt 1991. Francisco de la Maza, Enrico Martínez, Mexiko-Stadt 1991. HORS T P I E T S CHMANN Martin, José →San Martin, José Maseru. Auf Sesotho bedeutet M. „ein Ort aus rotem Sandstein“. M. liegt ca. 24 km von Thaba Bosio, der tradtionellen Hauptstadt Kg. →Moshoeshoes I., des Gründungsvaters von Lesotho (→Basutoland) als Nation im frühen 19. Jh., entfernt. Die Stadt ist Hauptstadt des Kgr.s Lesotho und des M.-Distrikts. M. liegt am Fuße der Maloti-Berge auf ca. 1600 m. Seehöhe und hat heiße, feuchte und regnerische Sommer (Nov. bis März) und trockene, kalte Winter (Apr. bis Okt.) mit Schnee, der auch Wintersport erlaubt. M. gehört zu den relativ wenigen städtischen Zentren im südlichen Afrika mit langer Geschichte. Es wurde 1869 als Polizei-Camp gegründet (→Polizei), nachdem Lesotho 1865 zum brit. →Protektorat erklärt worden war. M. behielt seinen Status als nationale Hauptstadt, obwohl die Stadt und das Protektorat während eines Jh.s brit. Herrschaft weitgehend vernachlässigt wurden. Die Geschichte der Stadt ist auch bemerkenswert wegen zweier Katastrophen, zu denen es im Zuge des Strebens nach fundamentalem Wandel kam. Während des „Gewehr-Krieges“ von 1881 wurden viele Gebäude angezündet, als die Basotho sich gegen die brit. Herrschaft wehrten und protestierten. Gut 100 Jahre später verursachte der Verdacht auf Wahlbetrug 1998 verbreitete Unruhen, Plünderungen und Zerstörungen in der Stadt. Der Friede wurde erst durch eine gemeinsame militärische Intervention Botswanas (→Bechuanaland) und Südafrikas wiederhergestellt. Die Auswirkungen der Unruhen sind noch immer sichtbar, aber Investitionen von ca. 350 Mio. US-$ in den Wideraufbau verbesserten M.s Zustand erheblich. Es gab also Zeiten schnellen and konstruktiven physischen und politischen Wandels in M. 2006 wurde die Bevölkerung auf 227 880 geschätzt, das sind ca. 10 % der Gesamtbevölkerung Lesothos. V. a. auf Grund der Wanderarbeit nach Südafrika gibt es ein beunruhigendes Ungleichgewicht der 522
Geschlechter (2006: ca. 100 Frauen auf 83 Männer). Die Ew.-zahl ist seit der Unabhängigkeit enorm gewachsen. Der Kingsway, die Hauptstraße zwischen dem King Moshoeshoe International Airport und dem kgl. Palast, teilt M. in zwei Geschäftszentren: Das westliche umfaßt große Bürogebäude, Banken und Kaufhäuser, während das östliche kleinere Läden, offene Märkte and mobile Händler zeigt. M. ist auch das nationale Zentrum der Industrie, mit hauptsächlich Getreidemühlen, Schuh- und Textilherstellung, sowie Zentrum für Kultur und Sport. Elisabeth A. Eldredge, Lesotho, Boulder 1992. Karen Tranberg Hansen / Marika Vaa, Reconsidering the Informality, Stockholm 2004. A CK SO N K A N D U ZA Mason and Dixon Line (Mason-und-Dixon Grenzlinie). Von 1763 bis 1767 zwischen Pennsylvania, Delaware, Maryland und Virginia (später: West Virginia) vermessene Grenzlinie; mit dieser Vermessung wurde eine ins 17. Jh. zurückreichende Kontroverse zwischen den →Eigentümern Marylands und Pennsylvanias um den Verlauf der Grenze zwischen beiden Kolonien beendet. Strittig war der exakte Verlauf des 40. →Breitengrads, der in Marylands und Pennsylvanias →Charter als nördliche bzw. südliche Grenze bestimmt war. Ein vorläufiges Abkommen von 1732 wurde wenig später vom Eigentümer von Maryland widerrufen. Heftige, auch gewalttätige Auseinandersetzungen im umstrittenen Gebiet waren die Folge. Ein engl. Gerichtsverfahren endete 1750 mit einem Urteil, das die engl. Reg. 1760 für verbindlich erklärte und die Vermessung der Grenze anordnete. Die Eigentümer beider Kolonien beauftragen Charles Mason (1730–1787), einen bedeutenden engl. Astronomen, und Jeremiah Dixon (1733–1779), seit 1760 Masons Assistent bei wichtigen Vermessungsunternehmen, mit der Vermessung. Die Grenzlinie wurde im Missouri Compromise als Grenze zwischen den sklavenbesitzenden und den sklavenfreien Staaten festgeschrieben und damit auch als Grenze zwischen den südstaatlichen paternalistischen und den nordstaatlichen, durch Individualrechte geprägten Kulturen fixiert. Möglicherweise gehen die Begriffe Dixieland und das Lied „Dixie“, das während des Bürgerkrieges bei der Armee der Südstaaten populär war, auf die MDL zurück. Edwin Danson, Drawing the Line, New York 2001. A. Hughlett Mason (Hg.), The Journal of Charles Mason and Jeremiah Dixon, Philadelphia 1969. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Massachusetts Bay Company. Die MBC wurde am 4.3.1628/29 durch die kgl. →Charter Karls I. konstituiert. Anlaß waren rechtliche Unsicherheiten über Kompetenzen und Geltungsbereich der Charter vom 3.11.1620 an den „Council Established at Plymouth… for the Planting, Ruling, Ordering and Governing of New England“. Unsicherheiten waren im Zusammenhang mit Verhandlungen mit John Oldham, der sich in dem Gebiet des späteren Massachusetts niederlassen wollte, und Schwierigkeiten mit den Inhabern des Dorchester Patentes entstanden, denen John Endecott bei seiner ersten Erkundungsfahrt bei Naumkeag, dem späteren Salem in Massachusetts, begegnet war. Die Mitglieder der MBC
m A s s AwA
waren mehrheitlich scharfe Kritiker der anglik. Kirche, aber keine Separatisten. Als Company erhielten sie alle Rechte, die Handelsgesellschaften üblicherweise (z. B. 1612 der Virginia Company) von der Krone gewährt wurden: Anteilseigner trafen sich jährlich im General Court mit allen Rechten zur Verabschiedung von Gesetzen und Verordnungen, Wahl eines Gouv.s der Company und eines Court of Assistants, der den Gouv. zu beraten hatte. Da die Charter an die MBC keine Klausel enthielt, die den Verwaltungssitz von „charter und company“ ausdrücklich an London band, beschloß die MBC am 29.8.1629, daß „Reg. wie Patent in New England“ sein sollten. Die Verwirklichung dieses Beschlusses und die Übernahme der Verwaltungsstruktur der Charter als Verfassung für die Kolonie begründete die hohe Selbständigkeit der MBC – zumindest bis 1688. Edmund S. Morgan (Hg.), The Founding of Massachusetts, Indianapolis 1964. Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg, Münster 22004. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Massai. Das korrekterweise mit langem A (Maasai) und scharfem S (Maassai) geschriebene, bekannteste Volk Ostafrikas ist mit seinem ausgedehnten Siedlungsgebiet seit dem dt.-engl. Abkommen von 1886 geteilt. Am Ende der vorkolonialen Zeit hatten Maa sprechende Gruppen als interethnisches System aus Hirten, Bauern, Jägern und Handwerkern die meisten Landstriche beiderseits des Ostafr. Grabens besetzt, wobei die Vieh haltenden Sektionen über die anderen sowie die →Bantu sprechenden Nachbarvölker per Faustrecht dominierten. Unter der pax colonica litten die einst stolzen Hirtenkrieger zunächst unter verschiedenen →Seuchen, dann unter der raschen Anpassungsfähigkeit ihrer einstigen Erbfeinde wie →Kikuyu im Norden oder Dschagga am →Kilimandscharo. Heute gehören die ca. 300 000 zählenden M. sowohl in →Kenia wie in →Tansania wegen ihrer beibehaltenen Formensprache zum folkoristischen Potential der beiden auf den →Tourismus angewiesenen Länder. In der ethnographischen Literatur spielten die M. auch wegen ihrer Mythologie, besonders aber wegen ihrer profilierten Altersklassenordnung mit prächtigen Übergangszeremonien, ihres Priesterklans und ihres spezialisierten Pastoralismus eine wichtige Rolle. Auch die spezifischen Widersprüche zwischen dem langen Zölibat der unter modernen Bedingungen stark eingeschränkten Kriegerklasse (Ilmurran) und den Rinder wie Frauen sammelnden Ältesten (Ilmoruak) sind ein Charakteristikum gerontokratischer Ordnungen, das in der heutigen Arbeitsmigration sowohl Transformation wie auch Fortsetzung gefunden hat. Moritz Merker, Die Massai, Berlin 1904. Paul Spencer, The Samburu, London 1965. BE RNHARD S T RE CK Massaker. Vom altfrz. maçacre (Schlachthaus) abgeleiteter Begriff, der die Ermordung einer großen Zahl wehrloser Menschen bezeichnet. Im Unterschied zum →Völkermord geht die Intention der Täter beim lokal enger begrenzten M. nicht dahin, ausnahmslos alle Angehörigen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe innerhalb eines Staates oder Herrschaftsraums zu ermorden.
M. sind seit der Antike im Zusammenhang mit Kriegen und Bürgerkriegen in allen Kulturkreisen vorgekommen. Bis zur Einhegung der Kriegsführung in Europa durch verbindliche Regeln im Lauf der Neuzeit wurden häufig Kriegsgefangene und die Bevölkerung eroberter Städte massakriert. Als Ursachen für M. kamen auch religiöse Motive (z. B. Bartholomäusnacht 1572, Pogrome gegen Juden) oder der Wunsch nach Rache für mutmaßlich erlittenes Unrecht (z. B. Massenhinrichtung Adliger während der Frz. Revolution 1793/94) in Betracht. Bestrafung von Indigenen, die sich mit der europäischen Fremdherrschaft nicht abfinden wollten, war die Motivation für die in kolonialem Zusammenhang von Truppen vieler europäischer Staaten verübten M., sei es anläßlich der Unterwerfung →Algeriens 1837–1844, des →Ind. Aufstands oder des →Herero-Nama-Aufstands. S. a. →Amboina Massaker, →Amritsar Massaker, →Sétif. Imanuel Geiss, Massaker, in: Jb. Extremismus & Demokratie 2 (1990), 37–57. C H R ISTO PH K U H L Massawa. Eritreische Hafenstadt am Roten Meer, 105 km nordöstlich der Hauptstadt Asmara gelegen. Mit ca. 48 000 Ew. ist sie eine der größten Städte des Landes und lebt in erster Linie vom Fischfang und der Gewinnung von →Salz. Bis zu ihrer Zerstörung im eritreisch-äthiopischen Bürgerkrieg war M. der größte und sicherste Hafen am Roten Meer. Bis zum 8. Jh. Teil des axumitischen Reiches auf dem Gebiet des heutigen →Äthiopien stand es danach unter dem Einfluß islamischer Kräfte aus dem arab. Raum und christl. Truppen des eritreischen Kgr.s Midri-Bahri. Erst als der nahe gelegene Hafen Adulis ab dem 10. Jh. versandete, stieg M. zu einem bedeutenden Hafenort auf. Ab 1557 stand er unter osmanischer Herrschaft, die sie 1866 an ihr Vize-Kgr. →Ägypten abtrat. Damit wurde M. bis 1885 Hauptstadt der neuen ägyptischen Provinz Rotes Meer und Ostsudan. Im 19. Jh. war sie eine bedeutende Stadt im Handel zwischen Äthiopien, dem →Sudan, Europa und →Indien. 1885 wurde M. als erste Stadt in →Eritrea von Italien besetzt. Sie war zunächst Hauptstadt des it. →Protektorats, bis sie 1900 von Asmara abgelöst wurde. Im Verlauf des →Zweiten Weltkrieges wurde sie 1941 von den Briten eingenommen. 1952 beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Föderation zwischen Äthiopien und Eritrea. Nach der Annexion Eritreas durch Äthiopien 1961 kam es bis 1991 zum erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg, in dessen Verlauf M. stark zerstört wurde. Der historische Kern M. liegt auf der Koralleninsel gleichen Namens, die über Dämme mit der Insel Taolud und dem Festland verbunden ist. Die Altstadt wird von der osmanischen Architektur bestimmt, die Korallenstein und Zierelementen aus Holz verwendete. Die wichtigsten Gebäude sind der Sahaba-Schrein, die Sheikh HanafiMoschee (15. Jh.), der osmanische Basar, der Palast des frz. Konsuls Werner →Munzinger (erbaut 1872–1874), die St. Mariam Kathedrale, die Banco d’Italia (1920er Jahre) und die Villa Melotti (1930er Jahre). Das →Klima in M. ist von einer durchschnittlichen Jahrestemperatur um die 30º C bei hoher Luftfeuchtigkeit geprägt. Im Sommer steigt die Temperatur bis zu 40º C; im Winter ist Regenzeit. A LK E D O H RMA N N 523
m A s s e y, wi l l i A m
Massey, William, * 26. März 1856 Limavady, † 10. Mai 1925 Wellington, □ Point Halswell / Wellington, Presbyterianer Nach Beendigung des Schulbesuchs 1870 folgte M. seinen Familienangehörigen, die bereits 1869 Nordirland verlassen hatten, nach Auckland. 1876 erwarb er eine eigene Farm bei Mangere, engagierte sich in örtlichen Verbänden und gewann so Ansehen in seiner Gemeinde. 1891 war er zum Präs. der Auckland Agricultural and Pastoral Association gewählt worden und wurde zum Wortführer der Bauern aus dem Großraum Auckland. In der 1891 gegründeten konservativen National Association wurde er im selben Jahr zum Vize-Präs. für den Bereich Auckland gewählt. Bei den landesweiten Wahlen 1893 verpaßte er den direkten Einzug ins Parlament, der ihm erst in einer Nachwahl 1894 gelang. M. schloß sich der Opposition an, die in den 1890er Jahren einen schweren Stand gegen →Seddons Liberal Party hatte und wurde schnell einer ihrer prominentesten Vertreter und 1903 zum Oppositionsführer gewählt. Unter Seddons Nachfolger J. G. Ward gewann die Opposition wieder an Boden, und so wuchs auch M.s Einfluß. 1909 gründete er zusammen mit weiteren konservativen Abgeordneten die Reform Party, die in den folgenden Jahren auf Kosten der Liberalen immer mehr Einfluß erlangte. Am 10.7.1912 wurde M. durch ein Mißtrauensvotum Neuseelands 19. Premierminister. Die Streiks der Jahre 1912 und 1913 ließ er, getreu seiner antisozialistischen Haltung, mittels Einsatz der Staatsgewalt niederschlagen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs sicherte M. dem Vereinigten Kgr. Neuseelands volle Unterstützung zu. Das Land auf die Anforderungen des Krieges einzustellen, erwies sich als schwierig, zumal es M. bei den Wahlen im Dez. 1914 nur knapp gelang, sein Amt zu verteidigen, wodurch die Zusammenarbeit mit den Liberalen in einem Kriegskabinett notwendig wurde. 1919 vertrat M. Neuseeland auf der Pariser Friedenskonferenz. Im selben Jahr löste er die Koalition mit den Liberalen und ging aus der folgenden Wahl siegreich hervor. Bei den Wahlen 1922 konnte er nur noch auf Grund der Stimmen unabhängiger Abgeordneter im Amt bleiben, da die Konservativen durch den Aufstieg der Labour Party und die Wirtschaftskrise nach dem Krieg erhebliche Stimmverluste hinnehmen mußten. Den wirtschaftlichen Aufschwung der Jahre 1924 und 1925 konnte M. politisch nicht mehr nutzen. Er starb in seinem Anwesen in Wellington. Bruce Farland, Farmer Bill, Wellington 2008. William J. Gardner, William Massey, Wellington 1969. JOHANNE S BE RNE R
Mata’afa Josefo →Ali'i Sili Matabeleland →Südrhodesien Mataram. Als die Niederländer Anfang des 17. Jh.s zum ersten Mal in →Java ankamen, hatten sich die islamisch gewordenen Hafenstädte an der Nordküste bereits seit einigen Dekaden vom hindu-buddh. Reich Majapahit (ca.1290 – ca.1527) im Binnenland unabhängig gemacht. An der Nordküste war eine Reihe von konkurrierenden Stadtstaaten entstanden, aber die Machtverhältnisse ver524
schoben sich alsbald wieder zugunsten Mittel-Javas, da das Inlandreich M. auf dem Vormarsch war. Die stark mythologisch gefärbte javanische Historiographie betrachtet Kyai Gedhé Pamanahan († 1584?) als Gründer von M., seinen Sohn Panembahan Sénapati Ingalaga (reg. ca. 1584–1601) jedoch als den Feldherren, der M. erheblich ausbreitete: Javanischen Chroniken zufolge wurde Demak 1588, Madiun 1590 oder 1591 und Kediri 1591 erobert. Über die Reg. seines Sohnes, Panembahan Séda ing Krapyak (1601–1613) geben Quellen der →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) zum ersten Mal Auskunft. Er hat sich v. a. mit der mächtigen Hafenstadt →Surabaya einen heftigen, aber unentschiedenen Machtkampf geliefert. Der größte Herrscher M.s war Sultan Agung (,großer Sultan‘). Während seiner Reg.szeit (1613–1646) wurde nicht nur Surabaya besiegt (1625), sondern kamen ganz Mittel- und Ost-Java und Madura unter M.s Herrschaft. Das einzige Kgr. in Java, das unabhängig bleiben konnte, war →Banten in West-Java. Allerdings gelang es Sultan Agung nicht, →Batavia (seit 1619 Sitz der Niederländer) zu besiegen, zwei Belagerungen (1628 und 1629) blieben erfolglos. Die Reg. von Sultan Agungs Sohn und Nachfolger Susuhunan Amangkurat I. (reg. 1646–1677) war katastrophal und führte letztendlich zum ,Achtzigjährigen Krieg‘ (1675–1755). Jene Periode von Unruhen, Aufständen und Kriegen endete 1755 mit der definitiven Spaltung des zentraljavanischen Reiches in Yogyakarta und Surakarta mit jeweils zwei Fürstenhöfen. Zur Zeit von Amangkurat I. wurde die VOC stark in die internen Streitigkeiten am javanischen Hof involviert und Susuhunan Amangkurat II. (reg. 1677–1703) galt zunächst als eine ndl. Kreation: 1680 kursierten sogar Gerüchte am Hofe, daß er ein Sohn von Admiral Cornelis Janszoon →Speelman (1628–1684) sei. Das Reich M. existierte ehedem bereits nicht mehr: Javanische →Chroniken notieren, daß im Jahr 1600 der javanischen →Zeitrechnung (d. h. 1677 n. Chr.) das Zeitalter von M. vorüber war. Tatsächlich hatte Amangkurat I. 1677 aus seinem Palast fliehen müssen. Der Kg.shof wurde von maduresischen und javanischen Rebellen geplündert. Die Rebellion, die 1675 unter Führung des maduresischen Prinzen Radèn Trunajaya (1649?–1680) ausgebrochen war, konnte 1679 nur mit militärischer Hilfe der VOC niedergeschlagen werden. Ein neuer Kg.shof wurde im Dorfe Wanakarta unter dem Namen von Kartasura in Sept. 1680 gegründet. Peter Carey, Civilization on Loan, in: Modern Asian Studies 31 (1997), Heft 3, 711–734. Merle C. Ricklefs, War, Culture and Economy in Java 1677–1726, Sydney 1993. Merle C. Ricklefs, A History of Modern Indonesia Since c. 1200, Stanford 2008. ED WIN WIERIN G A Matelieff de Jonge, Cornelis, * ca. 1570 Rotterdam, † 17. Oktober 1632 Rotterdam, □ Rotterdam, St. Laurentius, ref. M. der Jüngere diente bis zu seinem Tod als Direktor der Kammer Rotterdam der →VOC u. war kurzfristig auch im engeren Vorstand der VOC (Heeren XVII). Zudem war er auch Kommandant der zweiten Flotte, die die Kompanie nach Asien aussandte. Im Mai 1605 segelte er mit 11 Schiffen u. ca. 1400 Mann Besatzung nach
m Au ch , cArl
Ostindien u. kehrte am 2. September 1608 zurück. M. wurde bekannt durch seine Belagerung des portugiesischen →Malakka im Sommer 1606, die er zusammen mit den einheimischen Verbündeten der VOC, insb. Johor, unternahm. Er bekämpfte die Armada des port. Vizekönigs in der Malakkastraße nahe Kap Rachado, dem heutigen Tanjung Tuan. Obwohl es ihm nicht gelang, die Portugiesien aus Malakka zu vertreiben, litt die port. Kolonie stark unter seinen militärischen Maßnahmen. Von ursprünglich etwa 12 000 Einwohnern verblieben am Ende nur noch weniger als ein Viertel. Von diesem Schlag sollte sich das port. Malakka nie wieder erholen. Von seinem Einsatz vor Malakka führte seine Reise weiter nach Bantam (heute Banten), Jacatra, dem späteren →Batavia u. nach →Ambon u. →Ternate. Auf Ternate setzte er einen Vertrag mit dem erst 13-jährigen König durch, in dem festgelegt wurde, daß →Nelken fortan nur noch an die Niederländer zu einem festgesetzten Preis verkauft werden durften. Im Gegenzug versprach er militärische Unterstützung gegen Spanien u, Portugal u. indigene Rivalen des Kg.s. M. gründete die erste ndl. Festung in Malayo auf Ternate, die als Fort Orange bekannt wurde. Von Ternate kam er nach Mindanao, die Küste vor Amoy (Fujian) u, zur Insel Lantau, im heutigen →Hongkong. Dabei gelang es ihm nicht, den chines. Markt für die VOC zu öffnen. Er kehrte, an der Küste des heutigen →Vietnam vorbei, im Dezember 1608 nach Bantam zurück. Auf der Rückreise in die Niederlande begleitete ihn eine diplomatische Mission des Kgs. Ekathotsarot v. →Siam. Wieder in den Niederlanden, verfaßte M. eine Reihe von Petitionen an VOC u. Reg. smitglieder, in der er einige fundamentale Änderungen der bisherigen VOC-Politik einforderte. Dazu gehörten der Vorschlag, Ab- u. Rückreisen besser aufeinander abzustimmen, eine dauerhaften ndl. Basis in Asien aufzubauen u. einen ndl. Generalbevollmächtigen für Asien mit Sitz vor Ort zu ernennen. M. empfahl darüberhinaus die Errichtung eines Handelsmonopols auf Muskatnuß, Muskatblüten u. Nelken an den Herkunftsorten. Für die von ihm vorgeschlagene dauerhafte ndl. Basis in Asien gab er sechs Vorschläge ab: →Aceh, Malakka, an der Mündung des Johor-Flusses nahe →Singapur, Palembang an der Ostküste →Sumatras, Bantam u. Jacatra. Dieser letzte, von ihm präferierte Vorschlag wurde auch von der Admiralität unterstützt, schließlich von den Niederländern zur Zeit von Jan Pieterszoon →COEN eingenommen u. der Ort in Batavia (d. h. nach der römischen Provinz auf dem Terrain der späteren Niederlande) umbenannt. Seine Notizen u. sonstigen Schriften waren bei den Vorstandsmitgliedern der VOC u. führenden ndl. Politikern der Zeit im Umlauf. Was davon heute noch vorhanden ist, stammt zumeist aus dem Nachlaß von Hugo →Grotius oder befindet sich im persönlichen Nachlaß von Johan von Oldenbarnevelt (heute im Nationalarchiv in Den Haag u. im Stadtarchiv Rotterdam). Obwohl er nach seiner Rückkehr von den Direktoren der VOC allmählich in den Hintergrund geschoben wurde, gelang es ihm dennoch, eine beeindruckende politische Karriere als Scheepen (dt. Schöffe) voranzubringen. Später diente er als Mitglied der Vroedschap (dt. eine Art von
polit. Beirat der Stadt Rotterdam). Er war auch zeitweise Bürgermeister von Rotterdam. Q: Die erhaltene Korrespondenz findet sich im Briefwechsel von Grotius (Briefwisseling van Hugo Grotius, hg. Philipp Molhuysen u. a., 17 Bde., Den Haag 1928–2001. Seine Petitionen findet man in: Johannes Frederiks, Cornelis Cornelisz Matelieff de Jonge en zijn geslagt, in: Rotterdamsche Historiebladen 1.1. (1871), 204–357. Sein Reisebericht erschien im 3. Bd. der 4bändigen Faksimileausgabe von Isaac Commelin, Begin ende Voortgangh Vande Vereenighde Nederlantsche Geoctroyeerde Oost-Indische Compagnie, Amsterdam 1969 (Orig. 1646). L: Peter Borschberg (Hg.), Journal, Memorials, Letters of Admiral Cornelis Matelieff de Jonge, Singapur 2014 (ausführliche Biographie mit Quellen u. Kommentar in engl. Übersetzung). PETER BO R SC H B ER G
Mau heißt im Samoanischen so viel wie „festhalten“, „an etwas festhalten“, auch „Zeugnis für“, „Antrag“, „Vorschlag“, schließlich „Widerstand“, „Widerstandsbewegung“, „Aufstand“, wobei die verschiedenen Worterklärungen insg. deutlich machen, daß es sich bei einem solchen Widerstand um den Versuch des Festhaltens traditioneller Werte handelt. Historisch versteht man unter M. den Widerstand der Samoaner gegen die neuseeländische (→Aotearoa) Kolonialverwaltung →Samoas, der im Blutbad am „Black Saturday“ (29. Dezember 1929) u. der Ermordung seines Anführers Tupua →Tamasese Lealofi III. kulminierte. Zu den vielen Ursachen gehörte die katastrophale faama’i, die Influenzaepidemie (→Spanische Grippe) im November 1918, die auf Grund der Unfähigkeit des Administrators Oberst →Logan nach Samoa eingeschleppt wurde u. dort die höchste Mortalitätsquote weltweit hervorrief. Eine darauffolgende Petition samoanischer faipule (Ratsabgeordneten), West- mit Ostsamoa unter der Führung der Vereinigten Staaten wieder zu vereinen, scheiterte am Widerstand eines Teiles der samoan. Oligarchie. Obwohl der zunächst gewaltfreie, nach dem „Black Saturday“ auch gewalttätige Widerstand in der Zeit ohne Erfolg blieb, war die Erlangung der pol. Unabhängigkeit Samoas 1962, lange vor der anderer pazifischer Inselstaaten, langfristig eine direkte Folge des M. Ob u. inwieweit der M. Samoas, in Wort u. Tat, für den →Mau Mau Kenias Pate gestanden haben könnte, ist ungeklärt. Michael Field, Mau. Samoa’s Struggle against New Zealand Oppression, Wellington 1984, Auckland 21991. Hermann Joseph Hiery, The Neglected War, Honolulu 1995. H ER MA N N H IERY
Mauch, Carl, * 7. Mai 1837 Stetten, † 4. April 1875 Stuttgart, □ Pragfriedhof / Stuttgart, rk. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war M. zunächst Hauslehrer. 1865 ging er nach London und erarbeitete sich die Überfahrt nach Südafrika. Dort ging er in Durban an Land und machte sich zu Fuß ins Innere auf, begleitete weiter einen →Transport mit Ochsenwagen nach →Transvaal. Dem Limpopo folgend, drang er ins Matabeleland vor. Auf einer Missionsstation hörte er von sagenhaften Ruinen im Norden. Nach mehreren 525
m A u d u d i , s Ay y i d A b u lA’ l A
vergeblichen Versuchen erreichte er schließlich im Sept. 1871 Great Zimbabwe und begann den Platz kartographisch zu erfassen; insg. verbrachte er ein halbes Jahr in der Region. Am Ende seines Aufenthaltes kam M. auf Grund der Verbindung zwischen den Ruinen und umliegenden Goldfeldern zu dem Schluß, daß es sich um das biblische Land Ophir handeln müsse. M. kehrte an die Küste zurück und gelangte mit einem frz. Schiff nach Marseille, erreichte schließlich Württemberg. Vorträge beschäftigten ihn in den nächsten Jahren, auch reiste er 1873/74 nach Mittelamerika, kehrte aber bald darauf zurück und sah sich vor Existenzprobleme gestellt. Er nahm eine Stellung als Betriebsleiter in Blaubeuren an. Während er im Ausland Anerkennung fand, war ihm der wissenschaftliche Erfolg in Deutschland nicht vergönnt. Tragisch war auch sein Ende: Sich von einem versehentlichen Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung nicht mehr erholend, starb er. M.s Deutung zu Great Zimbabwe hält sich in populären Darstellungen, wissenschaftlich wurde sie durch die Grabungen des Briten Randall-MacIver bereits 1905 widerlegt. Carl Mauch, Reisen im Inneren von Süd Afrika, Gotha 1874. Wolfgang Saida (Hg.), 150 Jahre Karl Mauch, Kernen 1987. DE T L E V GRONE NBORN Maududi, Sayyid Abu lA’la, * 25. September 1903 Aurangabad / Haiderabad, † 22. September 1979 Buffalo/ USA, □ Lahore, musl. M. war einer der Begründer des Islamismus, d. h. der Idee einer allumfassenden und alleingültigen Rolle des →Islam als Quelle gesellschaftlicher Werte und politischer Institutionen. Geboren als Anwaltssohn in Aurangabad, wurde er streng konservativ erzogen. Bereits ab 1919 arbeitete er als Journalist für verschiedene islamischen Zeitschriften. 1932 gründete er die Monatszeitschrift „Tarjuman alQur’an“ (Der Korandolmetscher) als Organ seiner eigenen politischen Überzeugungen. Diese hatten sich insb. infolge des Scheiterns der →Khilafat-Bewegung gebildet und sahen eine innerislamische Regeneration entlang der Werte des Islam, jenseits aller anderen (v. a. westlichen und hinduistischen) Einflüsse vor. 1941 schuf er die Jama’ati Islami (Islamische Gesellschaft, JI) als parteipolitische Vertretung seiner Ideen. In der Folge wurde die JI zu einer klar strukturierten Kaderpartei, deren Anhänger ab 1947 immer wieder versuchten, die politische Entwicklung des zunächst säkularen pakistanischen Staates (→Pakistian) in eine islamistische Richtung zu beeinflussen. M. selbst wurde in diesem Rahmen mehrmals inhaftiert und 1953 zum Tode verurteilt, wurde jedoch begnadigt und blieb durch seine Publikationen einflußreich. Die gesellschaftsprägende Rolle des Islam bei M. hat eine schrittweise Durchdringung aller sozialen Institutionen bis hin zu den obersten staatlichen Stellen zum Ziel. Das am Ende dieser (z. T. auch gewalttätig durchgesetzten) Entwicklung stehende „demokratische Kalifat“ sollte von einem Kalifen und einer Ratsversammlung geleitet werden; souveräner Herrscher und Gesetzgeber sei jedoch Gott allein. Die Gesetze des Staates bei M. sind daher identisch mit dem religiösen →Recht (shari’a). Die Reg. sollte von der (musl.) Bevölkerung gewählt und von dieser beraten werden. M.s 526
Ideen eines politischen Islamismus waren und sind sehr einflußreich in verschiedenen Parteien und Bewegungen in der islamischen Welt, auch über die JI und den pakistanischen Kontext hinaus. Seyyed V. R Nasr, Mawdudi and the Making of Islamic revivalism, New York 1996. STEPH A N PO PP Maultier, eigentlich, wenn auch unüblich, Maulpferd. Eine Kreuzung aus Pferdestute und Eselhengst, als Kreuzung zwischen zwei Arten nicht genau klassifiziert. Bei einer Verbindung von Eselstute und Pferdehengst entsteht der Maulesel, der aber seltener vorkommt. Die Bezeichnungen „M.“, „Muli“, „Maulpferd“ und „Maulesel“ leiten sich vom lateinischen „mulus“ ab. Älteste Überlieferungen finden sich in der Ilias (z. B. 24, 702), dem Alten Testament (z. B. 2. Sam. 13, 29 u. 38, 1. Chron. 12, 41) und in sumerischen Texten und Darstellungen. Bei den sumerischen M.en handelt es sich v. a. um Kreuzungen zwischen Haus- und Wildeseln (sog. Onagern). Archäozoologische Funde datieren den Beginn dieser M.zucht in die 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien. Von M.en im Sinne von Kreuzungen zwischen →Pferd und Esel berichten bereits Aristoteles (Met. Z,8) und der ältere Plinius (VIII, 171.). Eine frühe Verbreitung des M.s bis nach China gilt als wahrscheinlich, v. a. aber waren M.e im Mittelmeerraum bekannt. Spätestens im Mittelalter ist es auch zu einer Verbreitung ins restliche Europa gekommen (z. B. Abbildungen auf dem Teppich von Bayeux). Wenn F. Zeuner anführt, daß „der wichtigste Beitrag des Esels für die Tierzucht sein Anteil an der Enstehung des M.s“ sei, so ist diese Aussage v. a. damit zu erklären, daß der Einfluß des Esels dazu führte, daß M.e ein ruhigeres Temperament an den Tag legen als Pferde, dafür aber ausdauernder sind als Esel. Die Entstehung der M.e hängt aber auch mit der Domestizierung des afr. Wildesels zusammen. Eine Verbreitung sowohl von Esel und M. verlief parallel. Besonders bei den →Arabern waren M.e verbreitet. Sie züchteten diese Tiere in ihrem gesamten Einflußbereich, zu dem nach der islamischen Expansion auch Spanien gehörte. Dort waren die M.e auf Grund ihrer besonderen Zucht auch bei den christl. Spaniern beliebt. Ein Beschluß Alfons X. († 1284), den Gebrauch der M.e zu verbieten, konnte diesen nicht unterbinden. So soll auch →Kolumbus u. a. 1505 eine Genehmigung eingeholt haben, um ein M. besitzen zu dürfen. Die Tatsache, daß bis in die 1990er Jahre hinein die größten M.bestände in den Ländern →Lateinamerikas vorhanden waren, spricht für die große Wertschätzung der Tiere in den ehem. span.-port. Kolonien. Ihre Aufgabe lag am Beginn der →Eroberung v. a. im militärischen Nutzen als Lasttiere für die Nachschublieferungen. Mit dem Beginn der Besiedlung war das M. v. a. im Agrarsektor von Nutzen. Auch in Nordamerika wurden die Tiere aus Spanien importiert. Diese teure Einfuhr sorgte dafür, daß einige Siedler, u. a. wohl auch George →Washington, selbst mit der Zucht von M.en begannen. Die bereits frühe Verbreitung in Asien ist bis heute an der dortigen Anzahl der M.e zu sehen. V. a. in der Agrarwirtschaft kamen die Tiere zum Einsatz. Während des Vietnamkriegs (→Vietnam) waren sie aber auch im militärischen Dienst aktiv. Eine Verbrei-
m A � i m i liA n
tung in Afrika ist bis heute v. a. im Norden des Kontinents festzumachen. Im subsaharischen Teil wurde etwa im heutigen →Namibia mit dem Beginn der Pferdezucht im späten 19. Jh. auch begonnen, M.e zu züchten, die dort für die Agrarwirtschaft und die Infrastruktur benutzt wurden. In Ozeanien und Australien sind M.e bis heute kaum vorzufinden, was am relativen Desinteresse der indigenen Bevölkerung liegt und an den technischen Möglichkeiten, die den europäischstämmigen Australiern bei der Besiedlung des Kontinents halfen. Die damit einhergehende Nutzlosigkeit des Tieres wirkte sich negativ auf seine Verbreitung aus. Norbert Benecke, Der Mensch und seine Haustiere, Stuttgart 1994. Bernhard Grzimek, Ohne Rasse, ohne Art. Von Pferdehengst und Eselstute, in: Die Zeit, Nr. 11, 5.3.1976, 56. Frederick Zeuner, Geschichte der Haustiere, München u. a. 1967. HE I KO S CHNI CKMANN Mau Mau. Die Herkunft dieses Synonyms für Unabhängigkeitsbewegung und Aufstand gegen die brit. Kolonialherrschaft im →Kenia der 1950er Jahre ist unklar. Die M., hauptsächlich von Angehörigen des Stammes der →Kikuyu getragen, gipfelte 1952–1956 in einem von beiden Seiten mit großer Härte geführten und von den Briten schließlich blutig niedergeschlagenen bewaffneten Aufstand. Ursprünglich richtete sich die M. gegen die Benachteiligung der afr. Bauern durch weiße Siedler im zentralen Hochland Kenias. Durch „organisierten zivilen Ungehorsam“ sollte diese Ungerechtigkeit beseitigt werden. Zeitgleich bildeten sich in der Hauptstadt →Nairobi Gewerkschaftsbewegungen und politische Parteien heraus, die später die Führung übernahmen. Sie erweiterten auch ihre Ziele, nationale Unabhängigkeit und Abzug der Briten wurden Programm. Wachsender Unmut gegen die europäische Landaneignung führte nach ersten gewalttätigen Ausschreitungen 1952 zu offenem Aufstand. Die Briten entsandten Truppen nach Kenia und riefen den Ausnahmezustand aus. Scharen von Kämpfern gingen daraufhin in die Bergwälder und führten mit Unterstützung der Bevölkerung einen Guerillakrieg gegen die Kolonialmacht. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Bis zur endgültigen Niederschlagung des Aufstandes kamen offiziell ca. 11 500 M.M.-Kämpfer ums Leben. Über 150 000 wurden verurteilt, 1000 von ihnen hingerichtet, 90 000 in Lagern interniert. Auf brit. Seite fanden ca. 500 Afrikaner und 96 Europäer den Tod. Für Kenia nahm mit dem M.M.-Aufstand eine Entwicklung konkrete Form an, deren Anfänge in ersten Aktionen 1948 zu suchen sind und die am 12.12.1963 mit der nationalen Unabhängigkeit des Landes enden sollte. Louis Leakey: Mau-Mau und die Kikuyus, München 1953. GI S E L HE R BL E S S E Mauritius. Inselgruppe und Staat im →Ind. Ozean östlich von →Madagaskar; von 2 040 km2 Landfläche entfallen 1 865 auf die gleichnamige Hauptinsel. Hauptstadt ist Port Louis. Die Bevölkerung (Zensus 2011: 1 237 299) besteht überwiegend aus Nachkommen ind. Einwanderer des 19. Jh.s. Mit 622 Einw./km2 ist M. der am dichtesten besiedelte afr. Staat. Die Hauptinsel war bereits Malaien und →Arabern bekannt, bevor ca. 1510 der Portugiese
Pedro de Mascarenhas sie als erster Europäer erreichte. Wirtschaftlich war die Insel für die Europäer v. a. als Anbaugebiet für Zuckerrohr (→Zucker) und →Tee von Interesse. 1598 brachten die Niederländer M. in ihren Besitz und gaben der Insel den heutigen Namen, wobei Prinz Moritz (ndl. Maurits) von Oranien Pate stand. In die ndl. Kolonialzeit fiel die Ausrottung des Dodo, eines nur auf M. und →Réunion verbreiteten Laufvogels. Das letzte Exemplar wurde um 1690 auf M. erlegt. 1715 folgten die Franzosen den Niederländer als Kolonialherren, 1815 wurde M. brit. Kolonie, was es bis zur Unabhängigkeit 1968 blieb. 1847 war M. die erste Kolonie, für die Großbritannien Briefmarken herausgab. Die dabei irrtümlich entstandenen Fehldrucke (orange und blaue M.) zählen heute zu den seltensten Briefmarken der Welt. Errol Fuller, Dodo – A Brief History, London 2003. Walter Schicho, Handbuch Afrika, Bd. 1, Frankfurt/M. 1999, 35–50. C H R ISTO PH K U H L Maximilian, Erzherzog von Österreich, * 6. Juli 1832 Schönbrunn, † 19. Juni 1867 nahe Querétaro / Mexiko, □ Sarkophag in der Kapuzinergruft, Wien, rk. Bruder des Ks.s Franz Joseph I. Mit 22 Jahren Ernennung zum Kommandanten der k. k. Kriegs-Marine. 1857 Vermählung mit Charlotte, Tochter des ersten belg. Kg.s Leopold I. Im selben Jahr nach altersbedingtem Rücktritt des Feldmarschalls Radetzky Übernahme des Amts des Gen.-gouv.s im Lombardo-Venezianischen Kgr. Liberalem Gedankengut zugänglich, geriet er durch eigenwillige Politikentscheidungen in Gegensatz zum ksl. Bruder. Nach dem Verlust der Lombardei im Krieg gegen Piemont-Sardinien und Frankreich 1859 zog er sich in sein Schloß Miramare bei Triest zurück. 1863 ließ sich M. von Napoleon III. verleiten, die ihm von einer konservativ-klerikalen Gruppe angebotene mexikanische Ks.krone trotz Bedenken seiner Familie anzunehmen. Er glaubte, in →Amerika seine Vorstellungen eines liberalen Staates realisieren zu können. Dort angekommen, mußte er erkennen, daß die Monarchisten den Bevölkerungswillen nicht repräsentierten und er sich nur auf die im Lande stationierten frz. Expeditionsstreitkräfte stützen konnte. Auf Zureden seiner ehrgeizigen Frau entschloß er sich, trotzdem in Mexiko zu bleiben. Als nach Beendigung des →Am. Bürgerkriegs die →USA unter Verweis auf die →Monroe-Doktrin den Rückzug der Franzosen erzwangen, wurde M.s Lage unhaltbar. Seine Hilferufe nach Europa blieben unbeantwortet. Mit den Resten seiner Truppe in Querétaro eingeschlossen, mußte er sich den von Benito Juárez geführten Republikanern ergeben. Zusammen mit seinen Generälen Mejia und Miramón wurde er zum Tode verurteilt und erschossen. Zum Zeitpunkt der Exekution befand sich M.s Gemahlin in Europa, um Hilfe zu erbitten. Sie überlebte ihn um 60 Jahre, davon die längste Zeit in geistiger Umnachtung. Das tragische Schicksal des auf politische Irrwege geführten, persönlich integeren M., fand zu seiner Zeit in der öffentlichen Meinung Europas lebhaften Widerhall. Q: Konrad Ratz, Ein Kaiser unterwegs, Wien 2007. Ders., Kampf um Mexiko, Wien 1999. L: Ferdinand Anders, Von Schönbrunn u. Miramar nach Mexiko, Graz 2009. Werner Kitlitschka, Maximilian von Mexiko. 527
m Ay, k A r l
1832–1867, Wien 1974. Johann Lubienski, Der maximilianeische Staat. Mexico 1861–67, Wien 1988. GE RHARD HUT Z L E R
May, Karl, * 25. Februar 1842 Ernsthal bei Chemnitz, † 30. März 1912 Radebeul, □ Friedhof Radebeul-Ost, ev.-luth. Der Sohn eines Webermeisters besuchte ab 1856 ein Lehrerseminar in Waldenburg. 1861 erwarb er die Befähigung zum Hilfslehrer, wurde aber bereits 1863 aus dem Schuldienst entfernt, nachdem er in einem Indizienprozeß wegen Diebstahls verurteilt worden war. Bis 1874 verbrachte er wegen Betrugs und Widerstands gegen die Staatsgewalt insg. siebeneinhalb Jahre in Haft. Ab 1875 war er schriftstellerisch tätig, zunächst als Autor von Erzählungen für Unterhaltungszeitschriften, dann als Romancier. In den Romanen setzt sich meist ein „guter“ Protagonist gegen eine „böse“ Welt durch, weshalb sie angesichts der deprimierenden Lebenserfahrungen M.s vor 1875 als kompensatorisch gedeutet wurden. M. behauptete seit 1896 fälschlich, die in seinen Romanen geschilderten abenteuerlichen Reisen durch fremde Länder selbst gemacht zu haben, und inszenierte sich so als weltgewandten Helden, wobei er Stadtbeschreibungen, Landschaftsschilderungen u. ä. teilweise wörtlich aus Lexika und Reiseberichten übernahm. Persönlich war M. daher umstritten und hatte auch gerichtliche Auseinandersetzungen zu führen, beim Publikum erfreuten sich seine Werke jedoch großer Beliebtheit. Bis zu seinem Tod erreichten seine Gesammelten Werke eine Gesamtauflage von ca. 1,5 Mio. Exemplaren, wofür hauptsächlich das seinen Romane eigene abenteuerlich-exotische Flair verantwortlich sein dürfte. In einer Gesellschaft, in der es den meisten Menschen nicht möglich war, überseeische Länder zu bereisen, griffen viele zu Romanen, die einen authentischen Eindruck von solchen Reisen zu vermitteln schienen. Annette Deeken, Seine Majestät das Ich, Bonn 1983. Dies., May, Karl, in: NDB 16, 519–522. Harald Eggebrecht (Hg.), Karl May der sächsische Phantast, Frankfurt/M. 1987. Klaus Walther, Karl May. Eine sächsische Biografie, Chemnitz 2012. CHRI S TOP H KUHL Mayflower →Bradford Mayotte. 373 km2 große Insel im Südosten des Archipels der →Komoren; von den ca. 100 000 Ew. M.s (2000) bekennen sich 97 % zum →Islam, 3 % zum römischen Katholizismus. Teile der Insel waren seit dem 9. Jh. von →Arabern und Bantu-Stämmen (→Bantu) aus Ostafrika besiedelt, mit dem M. regen Handel trieb. Im 18. Jh. wanderten die →Ethnien der Sakalava und Betsimisaraka aus →Madagaskar ein. Die dauernden kriegerischen Konflikte zwischen diesen Ethnien und der alteingesessenen Bevölkerung nutzte Frankreich 1841 zur Inbesitznahme M.s, der 1886 die Errichtung des →Protektorats über die gesamten Komoren folgte. Bei der →Volksabstimmung 1974 war M. die einzige Insel im Archipel, die für den Verbleib bei Frankreich stimmte. Daher blieb M. frz. Überseeterritorium, bis es 2001 nach entspr. Volksabstimmung in eine collectivité départementale 528
umgewandelt wurde. Damit war M. rechtlich noch enger an Frankreich gebunden, jedoch nicht Teil Frankreichs. Dies ist erst seit 2011 der Fall, da M. seitdem nach entspr. Volksabstimmung Überseedépartement ist und damit auch zum EU-Gebiet gehört. Der Euro ist deshalb gültige Währung. Paul Humphrey u. a. (Hg.), Peoples of Africa, Bd. 6, New York u. a. 2001, 342f. Jean Martin, Histoire de Mayotte, département français, Paris 2010. CH R ISTO PH K U H L Mbabane. Am gleichnamigen Fluß ca. 1 800 m auf dem Highveld liegt M.-City, seit 1963 das Verwaltungszentrum der Hhohho Region von →Swasiland. Es kann ganzjährig regnen, mit ca. 1 325 mm Niederschlag pro Jahr. Die Temperatur bewegt sich zwischen 11 und 23º C. Im Winter, zwischen Mai und Juli, kann sie unter den Gefrierpunkt absinken. M. ist heute die administrative und juristische Hauptstadt Swasilands. Es ist mit ca. 72 000 Ew. (2010) zweitgrößte Stadt und zweitwichtigstes Handelszentrum in Swasiland, nach Manzini. M. hat eine lange Urbanisierungsgeschichte. Die Stadt wurde im 19. Jh. nach dem lokalen Häuptling Mbabane Kuneme benannt. Dieses Häuptlingstum gewann an Bedeutung während der Herrschaft von Ingwenyama (wörtlich: „Löwe“, anstelle von „Nkosi“, Kg.) Mbandzeni Dlamini (1874–1889), der einen seiner wichtigsten Rinder-Kraals in das Gebiet verlegte, weil es dort üppige Weiden und ganzjährige Entwässerung gab. 1887 wurde hier eine der ersten europäischen Handelsunternehmungen Swasilands gegründet und M. dadurch mit dem Kapitalismus und der europäischen imperialen Expansion verknüpft. 1890 wurde eine Stadtverwaltung („Town Management Board“) eingerichtet. Allister M. Miller, der umstrittenste und berüchtigste Inhaber von Landkonzessionen in der Kolonialgeschichte Swasilands, gab seit 1897 die „Times of Swaziland“ als Sprachrohr der weißen Siedler heraus. Die Zeitung ist bis heute das führende Druckmedium und Kritiker der Öffentlichkeit und Reg.spolitik. Aufbauend auf seiner reichen Geschichte und verschiedener natürlicher Ressourcen machte die brit. Kolonialverwaltung M. 1903, nach dem →Burenkrieg, zum Verwaltungszentrum Swasilands. Dies richtete sich gegen das Erbe und den Einfluß der →Buren, da der Burenstaat →Transvaal sein Hauptquartier in Bremersdorp (seit 1963: Manzini) gehabt hatte. Die Briten und der Transvaal hatten Swasiland entspr. Vereinbarungen von 1881 und 1894 als →Kondominium regiert. Dieses Arrangement endete nach der Niederlage Transvaals im Mai 1902 mit der Einrichtung einer Protektoratsverwaltung (→Protektorat) für Swasiland, →Bechuanaland und Lesotho, die dem brit. Hochkommissar in Südafrika unterstand. Die Einrichtung einer Reg.sschule für europäische Kinder 1904 förderte langfristige und vielfältige weiße Ansiedlung. 1908 gründete der anglik. Bischof die St. Marks School für weiße und farbige Kinder. Diese Schule ist jetzt multirassisch und gehört immer noch zu den führenden Schulen in Swasiland. M. entwickelte sich zu einer modernen, kosmopolitischen Stadt im Hinblick auf soziale Diversität, religiöse und internationale Beziehungen. Die lutherische Kirche eröffnete Schulen und medizinische Einrichtungen in den frühen 1920er Jahren. Auch
m e Ad , m Arg A ret
der →Zweite Weltkrieg berührte M., als ein dt. Agent, der einen Radiosender und eine Maschinengewehrstation in einem lutherischen Kirchturm eingerichtet hatte, 1944 verhaftet wurde. 1945 wurde die M.-Handwerksschule (heute Swaziland College of Technology, SCOT) eröffnet. Einführung und Ausbau der Elektrizität in M. (1920–1947) war eine revolutionäre Entwicklung, die ab 1952 die Versorgung des ganzen Landes mit Elektrizität garantiert. M. bietet eine Mischung von Swasi-Tradition, Einfachheit und höchst modernen mehrstöckigen Wohnund Geschäftsgebäuden. Wohn- und Geschäftshäuser ziehen sich auch an den hügeligen Hängen der Stadt entlang. Eine hochmoderne Schnellstraße verbindet die Stadt mit der 15 km entfernten Grenze Südafrikas. M. ist Eingangstor zu den zahlreichen Attraktionen Swasilands. R. Booth, Historical Dictionary of Swaziland, Lanham 2 2000. ACKS ON KANDUZ A McKinley, William, * 29. Januar 1843 Niles OH, † 14. September 1901 Buffalo NY, □ McKinley National Memorial Canton OH, method., Freimaurer US-amerikanischer Politiker und 25. Präsident der Vereinigten Staaten. Unter M. (1897–1901) führten die USA 1898 Krieg gegen Spanien (→Spanisch-Amerikanischer Krieg), gelangten dadurch in Besitz überseeischer Gebiete in der Karibik sowie im Pazifik und schufen die Grundlage für den, von Sendungsbewußtsein getragenen, US-→Imperialismus. M. kämpfte für die Union im Sezessionskrieg, begann 1865 ein Jurastudium und ließ sich 1867 als Anwalt nieder. Gleichzeitig begann er sich politisch zu engagieren und schloß sich der republikanischen Partei an. Von 1876–1883 und von 1885–1891 für Ohio ins Repräsentantenhaus gewählt, vertrat M. eine rigide Schutzzollpolitik, die im McKinley-Tarif Entsprechung fand. 1891 und 1893 wurde M. Gouverneur von Ohio, 1896 Präsidentschaftskandidat der Republikaner. In einem emotional geführten Wahlkampf setzte er sich gegen den Demokraten W. J. Bryan durch. Als Präsident innenpolitisch wenig innovativ, unterstützte M. außenpolitisch einen auf Expansion und den Gewinn neuer Märkte setzenden, imperialistischen Kurs, der sich auf eine starke Marine stützend, im Prinzip an die Politik der Kolonialmächte Europas angelehnt war. Ausgangspunkt für die Umsetzung dieser Politik war der Krieg gegen Spanien, dessen rigide Kolonialpolitik auf →Kuba heftige amerikanische Proteste hervorrief. Zunächst bezog M., obwohl mit dem kubanischen Freiheitskampf gegen die spanische Kolonialmacht durchaus sympathisierend, eine vermittelnde Rolle. Nach der Explosion des am. Schiffes Maine vor Kuba im Feb. 1898 und einem Untersuchungsbericht, der den Spaniern die Schuld daran zuschrieb, beugte sich M. dem Druck der empörten Öffentlichkeit und erbat vom Kongreß die Zustimmung zu einer militärischen Intervention. Die Gründe für Ms. Meinungsumschwung sind hist. umstritten. Offiziell argumentierte der gläubige Methodist, eine göttliche Eingabe habe ihn dazu bewogen. Tatsächlich aber spiegelt der Sinneswandel eher die für seine Amtsführung typische, opportunistische Grundhaltung wider, sich der Mehrheitsmeinung zu beugen. Den Krieg entschieden die USA bereits im August 1898 für sich. Die ehemals
spanischen Besitzungen Puerto Rico, →Guam und die →Philippinen übernahmen die USA als de facto Kolonien, wofür sich M. öffentlich aussprach und in Bezug auf letztere anführte, man müsse die Bevölkerung zivilisieren und christianisieren, nicht wissend oder aus protestantischem Eifer heraus negierend, daß diese katholisch war. Die während des Krieges erfolgte Annexion →Hawai’is als Flottenstützpunkt fand ebenso seine Zustimmung wie die wirtschaftspolitische Grundlage der open door policy in Bezug auf den chinesischen Markt, für die sein Außenminister J. Hay verantwortlich zeichnete. M. unterstützte, mehr administrierend denn initiierend, aber mit dem verfassungsrechtlich wichtigsten Amt versehen, die dem Zeitgeist entsprechende Idee der imperialistischen Ausrichtung seiner Minister Hay und E. Root, die die US-Außenpolitik nachhaltig prägte. Ansonsten eher schwach, liegt darin seine hist. Bedeutung. 1900 wiedergewählt, wurde M. im September 1901 von dem Anarchisten L. Czolgosz angeschossen und erlag kurz darauf seinen Verletzungen. Kevin Phillips, William McKinley, New York 2003, Harry J. Sievers (Hg.), William McKinley, 1843–1901. Chronology, Document, Bibliographical Aids, New York 1970. FLO R IA N VATES
Mead, Margaret, * 16. Dezember 1901 Philadelphia, † 15. November 1978 New York, □ Trinity Episcopal Church Cemetery in Buckingham / Pennsylvania, anglik.-Episcopalian Die Ethnologin war lange die populärste Vertreterin der am. Ethnologie. Schülerin von Franz →Boas und Ruth Benedict und langjährige Kuratorin am American Museum of Natural History in New York. Sie galt als eine publikationsfreudige (mehr als 1 200 Artikel) und gleichzeitig in Teilbereichen umstrittene Wissenschaftlerin. Verheiratet mit Luther Cressman (Heirat 1923), Reo Fortune (Heirat 1928) und Gregory Bateson (Heirat 1936), die auf ihre Entwicklung und Forschungsausrichtung Einfluß hatten. Mit letzterem hatte sie eine 1939 geborene Tochter, Mary Catherine Bateson. Seit 1925 betrieb sie Feldforschungen auf →Samoa, den Admiralitätsinseln (Manus), →Neuguinea und →Bali. Bekannt wurde sie durch ihre Untersuchungen über den Einfluß der jeweiligen sozialen Umwelt auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und über kulturelle Variationen geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens. Im Mittelpunkt ihrer späteren Arbeiten standen v. a. Probleme der Akkulturation und des sozialen Wandels in sog. „primitiven“ Gesellschaften. Ihre Arbeiten waren von Relativismus und kulturellen Determinismus geprägt. Noch zu ihren Lebzeiten gab es Kritik an der Authentizität ihrer Daten, insb. zu Samoa; eine Kritik, die sich nach ihrem Tod verschärfte und eine Grundsatzdiskussion auslöste. Kritiker stießen sich an ihren Ausführungen insb. zur Sexualität junger Menschen auf Samoa, wo sie Freizügigkeiten, ohne eine tiefere Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse, annahm. John →Freeman hat auf die problematische Art ihrer Datengewinnung verwiesen und sie partiell widerlegt. Trotzdem gelten ihre Aussagen zur Wechselbeziehung zwischen menschlicher Natur und 529
m e c kl e nb u r g, her zo g A d o l f f r i e d r i c h zu
Prinzipien der jeweiligen Kultur als wichtiger theoretischer Beitrag innerhalb der Ethnologie. Q: Margaret Mead, Social Organization of Manu’a. Bernice P. Bishop Bulletin Nr. 76, Honolulu 1930. Dies., Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften; Bd. 1: Kindheit und Jugend in Samoa. Bd. 2: Kindheit und Jugend in Neuguinea. Bd. 3: Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften, München 1974. L: Lenora Foerstel / Angela Giliam (Hg.), Confronting the Margaret Mead Legacy, Philadelphia 1992. Nancy Lutkehaus, Margret Mead. The Making of an American Icon, Princeton NJ 2008. Peter Mandler, Return from the Natives, New Haven 2013. HE RMANN MÜCKL E R Mecklenburg, Herzog Adolf Friedrich zu, * 10. Oktober 1873 Schwerin, † 5. April 1969 Eutin, □ vor der Südseite des Domes zu Ratzeburg, ev-luth. Abitur Dresden 1894, anschließend Reise nach Damaskus und Jerusalem, meist zu →Pferde. Ab 1895 militärische Laufbahn, 1900 Mitbegründer des ksl. Automobilclubs. 1902 Reise nach Ceylon, →Dt.-Ostafrika und →Ägypten; Hinwendung zu kolonialen Fragen. 1904 erneute Ostafrika-Reise; erste Sammlungen für Museen in Deutschland; Beförderung zum Major. 1905/06 Planung einer umfassenden Forschungsexpedition (→Expeditionen). Kontakt zu Hans →Meyer, dem Verleger sowie Vorsitzenden der Landeskundlichen Kommission zur Beratung des Auswärtigen Amts bei der Erforschung dt. →Schutzgebiete. Dieser übernahm weitgehend die wissenschaftliche Expeditions-Planung und erwirkte die Bewilligung von 60 000 Mark Zuschuß aus dem Afrikafonds des AA. Expeditionsbeginn Mai 1907; Leitung durch M., außerdem Teilnahme eines Geologen, Botanikers, Zoologen, Anthropologen, Topographen, Bakteriologen, die die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, vornehmlich in →Ruanda, leisteten. Den unterwegs in finanzielle Bedrängnis Geratenen, beschaffte Hans Meyer durch Sponsoring und Mäzenatentum fehlende 160 000 Mark und sicherte damit den Expeditionserfolg. Außerdem ermöglichte er über Jahre mit amtlichen Mitteln die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse. M. selbst publizierte im Stil einer Reisebeschreibung „Ins innerste Afrika“ (Leipzig 1909, engl. London 1910 „In the Heart of Africa“). Als anerkannter Forschungsleiter konnte er 1909/10, unterstützt auch von Ks. Wilhelm II., eine weitere Forschungsreise, nun nach Äquatorialafrika, realisieren. 1912 erschien unter seiner Mitverfasserschaft „Vom →Kongo zum →Niger und →Nil“. 1912 Ernennung zum Oberstleutnant und →Gouv. von →Togo. Bei Kriegsausbruch mehr zufällig in Deutschland. Als Oberst in der Türkei und auf dem Balkan eingesetzt. Heirat 1917 und nach Verwitwung erneut 1924. Nach dem Krieg aktiv als Repräsentant verschiedener Interessenverbände, Werbereisen für die dt. Wirtschaft, u. a. nach Afrika und Südamerika. 1926 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, 1936 im Organisationsausschuß für die Olympischen Spiele in Berlin, 1928–1934 Präs. des Dt. Automobilclubs. 1945 Enteignung in Mecklenburg und Flüchtling in Eutin. 1949/50 Präs. des dt. Nationalen Olympischen Komitees. 1960 letzte Afrikareise auf Einladung des unabhängig gewordenen Togo. Die 530
Bedeutung M.s liegt in seiner Fähigkeit, Forschungsexpeditionen erfolgreich zu initiieren und zu leiten sowie beteiligten Wissenschaftlern wirkungsvolle Entfaltung zu ermöglichen. Bemerkenswert sind auch seine vielfältigen Verbandsaktivitäten nach 1918. Reinhart Bindseil, Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg (1873–1969), in: Mitteilungsblatt 92, Traditionsverband ehem. Schutz- und Überseetruppen, Emden 2006, 5–27. Rudolf Junack, Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg, Hamburg 1963. REIN H A RT B IN D SEIL Medizin, indigene in Südasien. Der „Ayurveda“ (dt.: Wissen vom Leben), in dem verschiedene therapeutischer Praktiken des ind. Subkontinents zusammengefaßt sind, wird durch einen überlieferten Korpus von Sanskrittexten vermittelt. Er entstand als geschlossenes ideelles System im Rahmen der Herausbildung einer homogenisierten religiösen Selbstwahrnehmung hinduistischer Eliten (→Hinduismus) im kolonialen Kontext des 19. Jh.s. Demgegenüber muß jedoch eingestanden werden, daß einige einheimische Therapieverfahren in z. T. lang zurückreichenden Gelehrtentraditionen verwurzelt waren, die „Ayurveda“ genannt wurden, deren Kerntexte wie das Charakasamhita, das Susruthasamhita und das Ashtangahridayam i. Allg. nur den Brahmanen (→Kastensystem) zugänglich waren. In diesen Texten finden sich einerseits Nachweise für ein hoch entwickeltes medizinisches Wissen (z. B. Beschreibungen bestimmter Operationstechniken), andererseits nimmt das Verständnis körperlicher Beschwerden als Störung des inneren Verhältnisses der Bioenergien (tridoshas), genannt Vata, Pitta und Kapha, einen zentralen Platz in der ayurvedischen Wahrnehmung des menschlichen Körper ein. Diese Vorstellung von der besonderen Rolle der Bioenergien hat starke Anklänge an ähnliche aber distinkte Konzepte in der islamischen und auch der europäischen Medizin des Mittelalters (Humoralpathologie). Der großen Bedeutung, die den Sanskrittexten für das Verständnis des Ayurveda zugewiesen wird, steht eine massive Vielfalt dynamischer soziokultureller Veränderungen gegenüber, die die medizinische Praxis in →Indien kontinuierlich umgestalteten und die von den brahmanischen Eliten in ihren Texten nur unzureichend und oft überhaupt nicht erfaßt wurde. In der stark gegliederten Kastengesellschaft des 19. Jh.s waren die Heilmethoden eher eine Ansammlung lokaler Bräuche, die oft wenig mit der vorherrschenden Überlieferung zu tun hatten. Ab der Mitte des 19. Jh.s kam es zu stärkeren Veränderungen durch die sozioökonomischen Auswirkungen des brit. →Kolonialismus (→British Raj), die wiederum nationalistische Bestrebungen nach sich zogen. So kam es auf verschiedenen Ebenen zu einer Rückbesinnung, Reform und anschließenden Institutionalisierung der „traditionellen“ einheimischen Heilkunst. Erkenntnistheoretische Unterschiede zwischen westlicher Biomedizin und Ayurveda vor dem Hintergrund eurozentrischer Wertmaßstäbe im kolonialen Kontext stellten in zentralen Punkten die wissenschaftlichen Grundlagen des Ayurveda in Frage. Zusätzlich veranlaßte der Glaube an die Überlegenheit der eigenen westlichen Naturwissenschaften (→Wissenschaft und Technologie in Südasien) und
m en d i etA , j eró n i m o d e
Medizin den Kolonialstaat dazu, die Biomedizin der indigenen Medizin vorzuziehen. Dies geschah oft auch aus politisch-ideologischen Motiven heraus, um die eigene zivilisatorische Überlegenheit zu untermauern und den kolonialen Anspruch einer paternalistischen „Verantwortung“ für die rückschrittlichen ind. Untertanen zu veranschaulichen; die einheimischen Heilkünste erlebten in diesem Zusammenhang einen umfassenden Niedergang. Dennoch bemühten sich einige Fürstentümer (→Ind. Reiche) und Teile der einheimischen Eliten, die mit der westlichen Wissenschaft in Berührung gekommen waren, die indigene Heilkunst grundlegend zu reformieren. Diese „medizinischen Reformer“ waren bestrebt, die einst (mutmaßlich) dominanten Sanskrittraditionen wiederzubeleben und als einheimische Art der Wissenschaft zu etablieren. Zur Verteidigung dieser „Tradition“ erklärten die Reformanhänger, daß die im 19. Jh. verbreiteten Methoden der indigenen Medizin den alten Texten nicht mehr entsprächen und nur unbrauchbare Kopien der ursprünglichen Praktiken einer glorreichen Vergangenheit seien und deshalb verworfen werden sollten. Im Zuge dieser Rückbesinnung und Neuorganisation der Medizin wurde oft die Vielfalt der Therapien und des medizinischen Wissens negiert, da diese als irrelevant für die eigentliche ayurvedische Heiltradition sei. Die Umgestaltung der Heilkunde unter kolonialen Rahmenbedingungen führte zu zwei grundlegenden Entwicklungen: zum einen wurde eine weitgehend fremde Sprache übernommen, um die einheimischen Heilpraktiken zu definieren. Zum anderen lieferten die westlichen Naturwissenschaften und Medizin die Bezugspunkte für die Physiologie und die Behandlungsmethoden. Das Kernproblem, dem die ind. Reformer des Ayurveda sich gegenüber sahen, war die Frage, wie man das medizinische Wissen aus den Sanskrittexten, unter Berücksichtigung der übernommenen Wertmaßstäbe aus den westlichen Wissenschaften, auslegen und institutionalisieren konnte. Neben dem Bemühen um eine Wiederherstellung der medizinischen Reputation des Ayurveda, (die dessen Wiederbelebung, Reform und Institutionalisierung, das v. a. unter einheimischen Eliten und auf staatlicher Ebene bedeutete), wurden lokale Heilmethoden, die zwar immer noch praktiziert werden, allmählich durch ein reformiertes Ayurveda verdrängt, dessen Anwendung außerhalb des unmittelbaren kulturellen Kontextes der lokalen indigenen Gesellschaft verortet wurde. So wird Ayurveda im heutigen Indien als eine antike Kulturtechnik dargestellt, die aber Elemente nationaler Bestrebungen und ethnischkultureller Selbstverortung beinhaltet. David Arnold, Colonizing the Body, Berkeley 1993. Waltraud Ernst, Plural Medicine, Tradition and Modernity, New York 2002. Deepak Kumar (Hg.), Disease and Medicine in India, Delhi 2001. B U RTON CL E E T US / GABRI E L E AL E X
Medizinmänner ist eine wenig präzise Umschreibung für die Vielfalt spiritueller Spezialisten in tribalen und wenig segmentierten überseeischen Gesellschaften. Zumindest für die tribalen Gesellschaften der Amerikas und Asiens ließe sich im weiteren Sinne auch von „Schamanen“ sprechen. Zeitgenössische europäische Quellen des
Expansionszeitalters sprechen häufig von „Zauberern“, „Magiern“, „Hexern“ oder ähnlichem. Charakteristisch für M. war, daß sie in der Regel keine Priesterkaste bildeten und auch keinen religiösen Kultus leiteten bzw. vorstanden. Die Funktion der M. in den tribalen Gesellschaften reichte von medizinischen Aufgaben, über Jagd- und Wetterzauber bis hin zur Seelenbegleitung. M. waren häufig die profiliertesten Gegner der europäischen Missionare, die mit ihrem kirchlichen Amtsverständnis und dem christl.-rationalisierten Kultus, die soziale Stellung der charismatisch legitimierten M. untergruben. Der Konflikt zwischen Missionaren und M. gestaltete sich, wo er nicht gewaltsam geführt wurde, als Auseinandersetzung um die Meinungsführerschaft in den autochthonen Gemeinschaften. M. wie Missionare versuchten Antworten auf die Krisenphänomene zu geben, die den europäischen Expansionismus begleiteten (Epidemien, Kriege und Feuerwaffen, Alkohol, neue Handels- und Bündnissysteme etc.), wobei die M. auf traditionelle Formen der Spiritualität zurückgriffen, während die Missionare den christl. Kultus und sein Amtsverständnis als Antwort propagierten. Daß die M. keine Priesterkaste bildeten und keinen reglementierten und reglementierenden Kult verwalteten, war ein struktureller Nachteil in der Auseinandersetzung mit den europäischen Missionaren. Franz-Joseph Post, Schamanen und Missionare, Münster 1997. FRA N Z-JO SEPH PO ST Meiji →Kaisertum, Japanisches Meissner(-Pascha 1904), Heinrich August, * 3. Januar 1862 Leipzig, † 14. Januar 1940 Istanbul, □ protestantischer Friedhof / Istanbul-Feriköy, ev.-luth. Ingenieurstudium an TH Dresden. Nach ausgezeichnetem Abschluß 1887 Bewerbung bei der osmanischen Eisenbahn-Regie. In den folgenden Jahren Planung und Bauleitung von Bahnstrecken in der europäischen Türkei und in Anatolien. 1896 Ernennung zum wissenschaftlichen Leiter des Eisenbahnbaues. 1899 Betrauung mit dem Bau der 1 300 km langen →Hedschas-Bahn von Damaskus nach Medina. Nach deren Fertigstellung 1908 Engagement bei der Anatolischen Bahnbaugesellschaft, die den Bau der →Bagdad-Bahn durchführte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhielt M. den Auftrag für Errichtung einer von der Hedschas-Linie nach Palästina abzweigenden Strecke. Bis 1918 gelang es, 360 km davon fertigzustellen. Der Waffenstillstand von Mudros zwang M. zum Verlassen des →Osmanischen Reiches. 1924 rief ihn die neue türk. Reg. wieder ins Land. Bis 1928 war er als Reg.sberater, anschließend bis 1936 als Prof. für Eisenbahnbau an TH Istanbul tätig. G ERH A R D H U TZLER
Melilla →Afrika, Spanisches Mendieta, Jerónimo de, * 1525 Vitoria, † 10. Mai 1604 Mexiko-Stadt, □ Mexiko-Stadt (genauer Ort unbek.), rk. Der Franziskaner (OFM) und Missionar kam 1554 nach →Mexiko und war in Tlaxcala, Toluca, Calimaya und Tepemaxulco tätig (er gründete die zwei letzten Orte). 531
mennoniten
1570 kam er nach Spanien zurück, ab 1573 war er bis zu seinem Tode in Mexiko (nicht zuletzt als Guardian in verschiedenen Klöstern des Ordens). Er genoß großes Ansehen und konnte mit seinen Briefen und Denkschriften Einfluß auf alle span. Entscheidungsträger nehmen. In seiner „Historia Eclesiástica Indiana“ (1596) hat er die Evangelisation Mexikos aus der Sicht jener Franziskaner historisiert, die in den einfachen Indios eine tabula rasa und weiches Wachs zur Modellierung einer neuen Kirche nach dem Beispiel der Urkirche sahen, in der die Habgier u. andere Laster der dekadenten europäischen Christenheit der Renaissance keinen Eingang finden sollten. Die „unverdorbenen“ Indios werden darin als Neues Israel betrachtet, die missionarischen Erfolge in der Mexikomission als gottgewollte Kompensation für den Verlust von weiten Gebieten Europas an die Reformation gedeutet. Am Ende des 16. Jh.s machte sich hingegen bei den Franziskanern eine Untergangsstimmung breit. Das goldene Zeitalter der indianischen Kirche (die Zeit →Karls V.) ging für M. zu Ende, als die „Bestie der Habgier“, „das Übel aller Übel“, wie es schon bei Paulus heißt (1 Tim 6,10), in den von den Franziskanern gepflegten Weinberg Gottes eindrang: „Diese schlimme Bestie hat die indianische Kirche vernichtet und auf den letzten Platz geworfen.“ Der Visitator, der nach Ansicht M.s die Habgier in den Weinberg einschleuste und damit den Niedergang der indianischen Kirche einleitete, war Jerónimo de Valderrama. Dieser kam 1564 nach Neuspanien, um im Auftrag Philipps II. die Tribute zu erhöhen sowie den Kirchenzehnten bei den Indios einzuführen. Dies hatte auch eine Umstrukturierung der Kirche Neuspaniens nach dem europäischen Pfarreimuster entspr. den Richtlinien des Konzils von Trient zur Folge: Die Verwaltungsstrukturen des Weltklerus wurden auf die Indiosiedlungen ausgeweitet und die Franziskaner an die missionarischen Grenzzonen der jungen Kirche verdrängt. Nach Neuspanien kam nun eine neue Generation von Geistlichen, die – ähnlich wie im damaligen Europa – in der religiösen Betreuung der getauften Herde eine einträgliche Einnahmequelle sah. Nicht nur Angehörige des Weltklerus, sondern auch zahlreiche Franziskaner ließen sich zu einer solchen Haltung verführen. Darin sah M. ein verhängnisvolles Abrücken von dem guten Missionskonzept →Cortés’ und Karls V., die anfangs voll auf die Bettelmönche, besonders auf die Franziskaner, setzten und ihnen die Indios zur Verwirklichung ihrer Sehnsucht nach der armen, einfachen Urkirche weitgehend überließen. Darüber hinaus hat M. in seiner „Historia“ eine Befürwortung der „geistlichen Eroberung“ (→Conquista espiritual) der Indios durch die Missionare unter paternalistischem Zwang sowie eine Kritik mancher Auswüchse derselben hinterlassen: Die Indios sollten in die Hürde Christi hineingeführt werden, aber „nicht mit Gewalt, und ohne sie an den Haaren unter groben Mißhandlungen (wie einige dies tun, was einem Skandal gleichkommt und dazu führen wird, sie völlig zu verlieren) hereinzuzerren, sondern indem man sie mit der Autorität und Macht der Väter führt, die in der Lage sind, bei allem Übel und Schädlichen ihren Kindern gegenüber handgreiflich zu werden und sie zum Guten und Nützlichen zu ermutigen“. 532
Marino Delgado, Abschied vom erobernden Gott, Immensee 1996. J. de Mendieta, Historia Eclesiástica Indiana, Madrid 1973. J. L. Phelan, El reino milenario de los franciscanos en el Nuevo Mundo, Mexiko-Stadt 1972. MA RIA N O D ELG A D O
Mennoniten. Angehörige einer 1525 von Konrad Grebel in Zürich begründeten christl. Konfession; Gröbel trennte sich von Zwingli, da er die Taufe nicht als Sakrament, sondern lediglich als öffentliches Treuegelöbnis zum christl. Glauben ansah und daher die Kindstaufe ablehnte. Die neue Lehre der „Täufer“ verbreitete sich rasch, Jan van Leiden errichtete in ihrem Namen eine Schreckensherrschaft in Münster (1534–1536). Die dortigen Exzesse veranlaßten den friesischen Täufer Menno Simons (1496–1561), nach dem die Anhänger dieser Konfession seitdem benannt sind, in den Gemeinden den Grundsatz der Gewaltlosigkeit einzuführen. Die Verfolgung durch andere christl. Konfessionen zwang die M. bald zu Migration, wobei sie vom jeweiligen Gastland neben Religions- und Sprachfreiheit stets die Erlaubnis zum Unterhalt eigener Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache und die Freistellung vom Wehrdienst verlangten. →Katharina die Große förderte die Ansiedlung von M. in Rußland. Als dort in den 1870er Jahren die gewährten Sonderrechte teilweise aufgehoben wurden, wanderten zahlreiche M. nach →Kanada und in die →USA aus, insb. nach Manitoba und Pennsylvania, wo es schon seit dem 18. Jh. M.-Gemeinden gab. Als Kanada 1922 Englisch als Pflichtfach in den Schulen einführte, wanderten viele konservative M. nach →Mexiko und →Paraguay aus. Die Glaubensüberzeugung, daß die Gemeinde Christi sich von der Welt absondern müsse, führte dazu, daß M.-Gemeinden sich in den Ländern, in die sie auswanderten, häufig an der Zivilisationsgrenze ansiedelten und als geschickte Landwirte für die Gewinnung von Kulturland in bis dahin unwirtlichen Regionen sorgten. Ferner wirkte sich diese Überzeugung in der sog. Ehemeidung aus, d. h. im Gebot, daß M. nur untereinander heiraten sollten. U. a. nach der Stringenz, mit der dieses Gebot befolgt wird, lassen sich konservative und liberale M. unterscheiden. Bekannteste konservative Richtung sind die 1693 vom Schweizer Jakob Amman begründeten →Amischen bzw. Amish. Hanne Baltes / Friedrich Fischer, Die Mennoniten, Blieskastel 2001. Diether Götz Lichdi, Die Mennoniten in Geschichte und Gegenwart, Weisenheim 22004. CH R ISTO PH K U H L
Men on the spot. Eine im Zuge der „peripherieorientierten“ Imperialismustheorie gebräuchlich gewordene Bezeichnung für den „Subimperialismus“ kolonialer Agenten (Militärs, Verwaltungsbeamte, Kaufleute, Missionare, usw.) „vor Ort“, die mitunter sogar gegen „zögernde“ Kolonial-Reg.en expansive Ziele verfolgten. S. a. →British Raj. H O RST G RÜ N D ER Menschenopfer. Tötung von Menschen aus religiösen Gründen unter Beachtung ritueller Formen; zu Grunde liegen konnte – so in Mesopotamien und im frühdynastischen →Ägypten – die Vorstellung, daß die Seelen
m en tAwA i -in s eln
der Getöteten im Jenseits der Seele eines bedeutenden Verstorbenen dienen sollten. M. konnten ferner der Absicht dienen, Gottheiten günstig zu stimmen, von denen man annahm, daß sie die Seele des Geopferten verzehrten. Dieser Vorstellung entsprach der Brauch, daß nach Vollzug des M. die Kultteilnehmer den Leichnam des Geopferten in der Annahme verzehrten, dessen gute Eigenschaften würden auf diese Weise auf sie übergehen. Während das M. in den meisten Kulturen bereits auf einer frühen Stufe ihrer Entwicklung abgeschafft bzw. durch Tieropfer ersetzt worden war, war der religiös fundierte Kannibalismus (→Anthropophagie) in der Hochzeit des europäischen →Kolonialismus in Ozeanien noch weit verbreitet. Simon Haberberger, Kolonialismus und Kannibalismus, Wiesbaden 2007. Georg Thilenius, Menschenopfer, in: Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Koloniallexikon, Bd. 2, Leipzig 1920, 546. CHRI S TOP H KUHL Menschenrechte. Wenn man einen breiteren Ansatz wählt, d. h. wenn man m.tliche Dimensionen wie Freiheit, Gleichheit, Inklusion, Gerechtigkeit in Texten oder Erfahrungen ausfindig machen will, dann kann man einen Blick auf die verschiedenen Religionen werfen, in deren Haupttexte sich Begriffe finden lassen wie Liebe, Solidarität, Pflichten gegenüber dem Anderen, sowie auf griechische und römische Philosophen. In diesem Kontext kann man auch den Disput von Valladolid (1550/51) über die Versklavung (→Sklaverei) der Indios sehen. Wenn man aber eine engere Begriffsbestimmung der M. wählt, d. h. wenn M. einem normativen Universalismus entsprechen, eine emanzipatorische Absicht sowie eine politisch-rechtliche Intention haben (Heiner Bielefeldt) oder drei Eigenschaften aufweisen, nämlich natürlich (dem Menschen innewohnend), gleich (dieselben Rechte für alle) und universell (überall anwendbar), gekoppelt mit einer politischen Wirkung (Lynn Hunt), dann kann man mit der Magna Charta (1215) beginnen, dann über die englischen (Petition of Rights 1628, Habeas Corpus Act 1679, Bill of Rights 1689), amerikanischen (u. a. Virginia Bill of Rights 1776) und französischen Erklärungen (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen 1789, 1793, 1795; Olympe de Gouges’ Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne 1791) zur Allgemeinen Erklärung der M. 1948 mit den zwei UN Pakten 1966, den verschiedenen Konventionen und den regionalen M.tserklärungen kommen. Unter den letzteren ragt die afrikanische →Banjul Charter on Human and Peoples’ Rights 1981/1986, die zwei getrennte Teile über Rechte und Pflichten enthält und erstmals auch individuelle Pflichten definierte, heraus. Es gibt auch frühe außereurop. Texte mit mt.lichen Akzenten, so z. B. die umstrittene westafrikanische Charta von Kurukan Fuga (1236), die König Sundiata nach seinem Sieg über Kirina proklamiert haben soll und deren mündliche Überlieferung 1998 in 44 Artikeln schriftlich fixiert wurde. Aus derselben Gegend und zur selben Zeit stammt die Charta der Jägerbruderschaft von Mandé. Dazu kommen Texte aus der Gegend der Großen Seen in Afrika über die Vermittlung der Ältesten (das traditionelle Rechtssystem Gacaca, um 1350) oder aus dem →Vietnam des 15. Jh.s das Hong
Duc Strafrecht, das eine gewisse Gleichheit zwischen Mann und Frau im Bereich der Zivil- und Besitzrechte garantierte. Nach neueren Studien, die eine lineare, teleologische Geschichtsschreibung ablehnen, ergaben M. erst in dem Jahrzehnt nach 1968 Sinn für die breite Masse (Samuel Moyn). Neue Themen wurden aufgegriffen, etwa die Übersetzung von M.n in andere Sprachen, aber auch auf eine andere Ebene (etwa von universal zu lokal, als Kulturtransfer, Doris Bachmann-Medick), ebenso wie parallele Strategien der Kolonialmächte, die sich in internationalen Organisationen für die M. stark machten, während sie in Kolonien die Ausbreitung der M. verhinderten (Fabian Klose) sowie die Frage nach dem M.tsdiskurs antikolonialer Nationalisten in Afrika als Alibi (Andreas Eckert). M. betreffen die drei Bereiche Recht, Moral und Politik; sie sind immer das Resultat eines unabgeschlossenen Lernprozesses, geben Antwort auf Erfahrungen von Unrecht und Leid; sie dominieren im heutigen internationalen Diskurs, können aber als Begriff genauso gut verschwinden wie sie entstanden sind. Q: CELHTO (= Centre d’Etudes Linguistiques et Historiques par Tradition Orale, Niamey, Niger), La Charte de Kurukan Fuga, Paris 2008 (kritisch zur Charta u. a. Mamadou Diakité, Analyse du discours, tradition orale et histoire. Et si la Charte de Kurukan Fuga n’avait jamais existé avant 1998? in: Revue électronique internationale de sciences du langage, 11, 107–130, www.sudlangues. sn). Micheline R. Ishay (Hg.), The Human Rights Reader, New York 1997. David Levinson (Hg.), The Wilson Chronology of Human Rights, New York/Dublin 2003. L: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Themenheft Geschichte der Menschenrechte, Geschichte und Gesellschaft 38(4) 2012. Jean-Paul Lehners, Pleading for a New History of Human Rights, in: Anja Mihr / Mark Gibney (Hg.), The SAGE Handbook of Human Rights, London u. a. 2014, Bd. 1, 22–38 (mit ausführlicher Bibliographie). Olúfé mi ̣ Táíwò, African Values, Human Rights and Group Rights. A Philosophical Foundation for the Banjul Charter, in: Oche Onazi (Hg.), African Legal Theory and Contemporary Problems, Dordrecht 2013. Eike Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009. JEA N -PA U L LEH N ER S Mentawai-Inseln (Siberut, Sipora, Nord- und Südpageh). Die altmalaiische Bevölkerung lebte aus Furcht vor Seebeben, Tsunamis und Sklavenjägern im stark gekammerten Landesinnern entlang der fruchtbaren Flußbänke. In Langhäusern, nach akephalen Clans strukturiert, ernährten sich die Mentawaier vom Fischfang, der →Jagd, Taro-, Sago- und Kokosnußanbau, sowie von Früchten und halbdomestizierten Schweinen. Seit dem 18. Jh. wurden islamische Händler aus Westsumatra (→Minagkabau) an der Ostküste seßhaft. Im Windschatten kultureller Bewegungen wie →Hinduismus, →Buddhismus und →Islam galten die ökonomisch unattraktiven Inseln lange als unbewohnt. Der Glaube der Mentawaier ging davon aus, daß jeder Mensch, Tiere, Bäume und Pflanzen sowie Gegenstände – auch Handlungsverläufe – eine Seele haben. Ihre →Medizinmänner praktizierten als Herbalisten, Chiropraktiker und Masseure eine reiche Erfahrungsmedizin und vermittelten zwischen gekränk533
m e r cAto r , g e r hA r d
ten Seelen. 1901 verlegte die ndl.-ind. Verwaltung einen Militärposten nach Sikakap an der gleichnamigen Straße zwischen Nord- und Südpageh. In Sichtweite entstand gleichzeitig die erste Missionsstation der →Rheinischen Missionsgesellschaft. Vom Beginn der Mission an arbeiteten evangelische Lehrer (guru sending) aus dem Toba Batakland auf M., nicht zuletzt als Helfer bei der Übersetzung einzelner Bibelteile. Die jap. Besatzer vertrieben sie 1942 und verordneten mit Hilfe des mentawaischen Evangelisten Elieser eine synkretistische Religion, die aus völkischen Elementen, dem Tennokult und Protestantismus bestand, wobei Bilder des jap. Ks.s und Adolf Hitlers auf den Altären standen. Während der Unabhängigkeitskriege ab 1945 kehrten die mentawaiischen Christen unter dem Pfarrrer Philemon Saleleubadya zu einer eigenen Kirche (Paamian Kristen M.) zurück. Gleichzeitig begannen rk. Missionare aus Italien sowie Anhänger der Baha’i ihre Arbeit auf den Inseln. Auch eine islamische Mission (Zending Islam) arbeitet auf M. In den 1970er/80er Jahren wurde der äquatoriale, primäre Regenwald abgeholzt. Gerard Person / Reimar Schefold (Hg.), Pulau Siberut, Jakarta 1985. Reimar Schefold, Lia – Das große Ritual auf den Mentawai-Inseln, Berlin 1988. Wilfried Wagner, Mentawai – Identität im Wandel auf indonesischen Außeninseln, Hamburg 1992. WI L F RI E D WAGNE R Mercator, Gerhard (eigentlich Gerard de Kremer), * 5. März 1512 Rupelmonde b. Antwerpen, † 2. Dezember 1594 Duisburg, □ Salvatorkirche Duisburg, ev-luth. Der Sohn eines Schusters wurde seit 1527 in ’s-Hertogenbosch bei den Brüdern vom Gemeinsamen Leben auf das Studium vorbereitet und studierte 1530–1532 Philosophie an der Universität Löwen. Anschließend bildete er sich selbständig in Theologie, Philosophie und Mathematik weiter. Als Mitarbeiter von Gemma Frisius sammelte er 1534–1537 erste Erfahrungen mit der Herstellung von Erd- und Himmelsgloben. 1538 fertigte er eine erste →Weltkarte, 1541 einen Erdglobus (→Globus) und zehn Jahre später einen komplementären Himmelsglobus an. Als Lutheraner wurde er 1544 mehrere Monate in Rupelmonde inhaftiert. 1552 siedelte er, wahrscheinlich aus konfessionellen Gründen, nach Duisburg im religiös toleranten Herzogtum Kleve über. Nachdem eine dort geplante Universitätsgründung nicht zustande gekommen war, unterrichtete M. 1559–1562 am Duisburger Akademischen Gymnasium. 1563 führte er Vermessungsarbeiten in Lothringen durch. 1554 entstand seine aus 15 Blättern bestehende Europakarte und 1569 eine achtzehnteilige Weltkarte. Für Letztere entwickelte M. die nach ihm benannte M.projektion, eine Zylinderprojektion der Erde auf die zweidimensionale Fläche, auf der die Längen- und →Breitengrade winkelgetreu wiedergegeben werden. 1595 wurde eine Sammlung seiner Karten publiziert, für die der Begriff Atlas geprägt wurde. Daneben veröffentlichte M. eine Reihe von theologischen Werken, eine Weltgeschichte und 1578 eine Ptolemäus-Ausgabe. Thomas Horst, Die Welt als Buch, Gütersloh 2012. Wolfgang Scharfe (Hg.), Gerhard Mercator und seine Zeit, 534
Duisburg 1996. Andrew Taylor, The World of Gerard Mercator, New York 2004. MA RK H Ä BER LEIN Merensky, Alexander, * 8. Juni 1837 Panten (Pątnów Legnicki ), † 22. Mai 1918 Berlin, □ Friedhof der Ks.Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, ev.-luth. Geboren als Sohn eines kgl. Oberförsters und einer adligen Mutter, die beide früh starben (Mutter 1837, Vater 1844), wurde M. zunächst durch Bekannte der Familie erzogen, ehe er seit 1848 Gymnasialunterricht im Schindlerschen Waisenhaus in Berlin erhielt. Der Tod eines Bruders, Vorträge im „Berliner Hauptverein für die evangelische Mission in China“ sowie der Einfluß des pommerschen Erweckungspredigers Gustav Knak (1806–1878) förderten in M. den Wunsch, Missionar zu werden. 1855 trat er in das Seminar der →Berliner Missionsgesellschaft (BMG) ein, die ihn am 23.11.1858 nach Südafrika aussandte, wo er zunächst in →Zuluund →Swasiland tätig war. 1860, mit der Etablierung der Station Gerlachshoop, begründete er die TransvaalMission der BMG unter den Pedi mit. In die ersten Jahre seiner Arbeit dort fallen neben den Stationsgründungen von Khalatlolu (1861) und Ga-Ratau (1864) seine Ordination (Jan. 1861) und seine Hochzeit mit Marie Liers aus Breslau (Sept. 1863). Als der neue Pedi-Chief Sekukuni den Einfluß der Mission und indigener Christen zurückdrängte, zog sich M. mit ihnen in das Burengebiet (→Buren) zurück und erwarb im Distrikt Middelburg im Jan. 1865 eine Farm, die er Botschabelo (Nord-Sotho für „Zufluchtsort“) taufte. Diese Christensiedlung entwickelte sich nachfolgend durch weitere Landkäufe und die Errichtung von Handwerksbetrieben zu einem wirtschaftlichen und religiösen Zentrum der Mission in →Transvaal. Der Erwerb Botschabelos markiert zudem eine neue Landpolitik der BMG, die als Landbesitzerin nun eine größere Unabhängigkeit für ihre Missionsarbeit gegenüber einheimischen Chiefs sowie konkurrierenden weißen Siedlern erreichte. Von 1868, im Zuge der Neuordnung der Gemeinden, bis 1881 war M. MissionsSuperintendent für Süd-Transvaal. In dieser Zeit arbeitete er zudem ethnologisch und kartographisch und erlangte 1878 die Approbation als Arzt. Obwohl er während des ersten →Burenkriegs (1880/81) in Transvaal als Generalarzt der Burenarmee für deren Sanitätswesen verantwortlich war, bezichtigten ihn die Buren der Englandfreundlichkeit, weshalb er 1882 nach Deutschland zurückkehrte. 1883 erwarb er die Berechtigung für die Pfarramtsausübung innerhalb der preußischen Landeskirche und wurde noch im selben Jahr Inspektor der von Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) 1877 begründeten „Berliner Stadtmission“ (bis 1886). In diese Zeit fiel auch sein erstes bedeutendes kolonialmissionarisches Engagement durch Publikationen und Vorträge. 1886 wurde M. Inspektor der BMG und setzte sich 1890 nachdrücklich für eine Kolonialmission im nördlichen Nyassa-Gebiet in →Dt.-Ostafrika (DOA) ein. 1891 ernannte ihn die BMG zum Missions-Superintendenten für die geplante Arbeit in DOA und übertrug ihm die Leitung der Nyassaexpedition zur Etablierung der dortigen Mission bei den Wakonde (bis 1893). 1894 wurde er Missionsinspektor des neuen Arbeitsgebiets. 1909 schied er
m es oA m eri k A
altersbedingt aus dem Dienst der BMG aus. Auf Grund seines breiten missionarischen, aber v. a. auch kolonialpolitischen Engagements, das innerhalb der BMG nicht unumstritten war, erfuhr M. mehrfach Ehrungen und war Mitglied in zahlreichen Institutionen: Ehrenmitglied der Kg.-Leopold-Akademie der Naturforscher in Halle/Saale (seit 1879), Vorstandsmitglied der „→Gesellschaft für dt. Kolonisation“, Mitglied des „Institute Colonial International“ in Brüssel (seit 1887), Dr. theol. h.c. der Universität Berlin (1899), Träger des „Roter-Adler-Orden IV. und III. Klasse“ sowie des preußischen „Kronorden mit der Zahl 50“, Ehrenmitglied der BMG (1917), Ordentliches Mitglied der →Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (1918). M. war ein überzeugter Verfechter der Kolonialmission und zweifelte niemals die Legitimation des dt. →Kolonialismus an; allerdings kritisierte er stets publizistisch Übergriffe auf Afrikaner. Q: Alexander Merensky, Erinnerungen aus dem Missionsleben in Transvaal (Südafrika) 1859 bis 1882, Berlin 1889, 21899, 1996. L: Carsten Bolz, Alexander Merensky, in: Winfried Brose / Ulrich van der Heyden (Hg.), Mit Kreuz und dt. Flagge, Hamburg / Münster 1993, 140–162. Ernst Dammann, Merensky, Alexander, BBKL 5, Sp. 1194f. T HORS T E N ALT E NA Merian, Maria Sybilla, * 2. April 1647 Frankfurt/M., † 13. Januar 1717, □ aufgelassen, ev.-ref. Bereits im Kindesalter wurde die künstlerische Begabung M.s deutlich, als sie sich, gefördert durch ihren Stiefvater Jacob Marrel, der Kupferstecherei zuwandte. Als Vorlage griff sie dabei v. a. auf Blumen, aber auch Insekten zurück. Ihre Darstellungen bestachen v. a. durch wissenschaftliche Genauigkeit und hohen künstlerischen Anspruch. Später ließ sich M. in den Niederlanden nieder, wo sie sich intensiv mit Entomologie beschäftigte. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie der Erforschung der Metamorphose von Raupen zu Schmetterlingen. Die Krönung ihrer naturwissenschaftlichen Forschungen war eine zweijährige Reise in den Surinam 1699. Dort untersuchte sie mit Hilfe ihrer jüngsten Tochter Dorothea Maria die Welt der tropischen Insekten und Pflanzen. Die Ergebnisse publizierte sie in ihrem Hauptwerk „Metamorphosis insectorum Surinamensium“. Q: Maria Sybilla Merian, Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, 3 Bde., Nürnberg 1679–1683. Dies., Metamorphosis insectorum Surinamensium, Amsterdam 1705. L: Kurt Wettengl (Hg.), Maria Sybilla Merian, Ostfildern 1997. S US ANNE F I S CHE R
Mers el-Kébir. Die auch Mars al-Kabîr genannte Hafenstadt (der arab. Name al-Marsâ al-kabîr bedeutet „der große Hafen“) in Westalgerien mit (2010) ca. 18 000 Ew. bildet heute einen Teil der urbanen Agglomeration Oran und wird oft als „Hafen von Oran“ bezeichnet. Wegen der geschützten Lage schon von den Römern als Hafen genutzt (Portus Divinus), diente es seit den Almohaden (12. Jh.) als Arsenal und Hauptbasis der Kriegsflotte in den Auseinandersetzungen mit den christl. Mächten. Als Reaktion auf die ab Mitte des 15. Jh.s zunehmenden Aktivitäten hier stationierter Piraten stürmten 1505 die
Spanier unter Kardinal →Jiménez de Cisneros die Stadt (die sie „Mazalquivir“ nannten) und konnten sich – wie auch in dem 1509 okkupierten (→Okkupation) Oran – bis 1792 halten (von einer kurzen Unterbrechung 1708– 1732 abgesehen). Nach der frz. →Eroberung 1830 zog die Region besonders viele europäische (überwiegend span.-stämmige) Siedler (Colons, →Pieds Noirs) an, was ihr bis heute ein besonderes Flair verleiht. Frankreich räumte das seit Ende des 19. Jh.s zu einer seiner stärksten Marinebasen in Nordafrika ausgebaute M. als letzten Stützpunkt auf algerischem Boden am 31.1.1968. Spektakulärstes Ereignis in der jüngeren Geschichte der Stadt ist die umstrittene „Operation Catapult“ (Juli 1940). Am 4. Juli eröffnete die Royal Navy auf Weisung Churchills das Feuer auf die im Hafen vor Anker liegende Vichytreue frz. Kriegsflotte, um einer befürchteten Übergabe an Deutschland zuvorzukommen. Dabei kamen ca. 1 300 Franzosen ums Leben und die frz. Luftabwehr schoß sechs brit. Flugzeuge ab. Die Flotte konnte teilweise nach Toulon entkommen, wo sie sich beim Einmarsch der Wehrmacht 1942 selbst versenkte. Diese „battle between friends“ sorgte für erhebliche (auch bis heute anhaltende) Irritationen in Frankreich, belastete die Beziehungen zwischen beiden Ländern erheblich und arbeitete letztlich dem Vichy-Regime in die Hände. Neuerdings (seit 2000) geriet M. wieder in die Schlagzeilen, als Medien über Grabschändungen und Vandalismus schwersten Ausmaßes auf dem dortigen Soldatenfriedhof berichteten, auf dem die Opfer des Angriffs bestattet sind. Dominique Lormier, Mers el-Kébir. Juillet 1940, Paris 2007. LO TH A R BO H R MA N N Mesoamerika. Als M. wird seit den 1940er Jahren ein zunächst vor-span. multiethnischer Kulturraum bezeichnet, der sich von Teilen Nordmexikos bis nach Nicaragua erstreckt und Belize, →Guatemala und einige Regionen von Honduras, El Salvador und Costa Rica umfaßt. Der 1943 von dem dt. Ethnologen Paul Kirchhoff (1900– 1972) geprägte Begriff wurde zur Grundlage der später entstandenen interdisziplinären „Mesoamerikanistik“. Kirchhoff entwickelte das Konzept M. in Anlehnung an die US-am. Culture-Area-Theorie. Es sollte anders als die zuvor gebräuchlichen geographischen Bezeichnungen „Mittel- und Zentralamerika“ dazu dienen, speziell die geokulturellen Charakteristika dieser Region im Unterschied zum nordam. und zu Teilen des zentralam. bzw. des südam. Raumes herauszuarbeiten. Zunächst wurde M. in seiner geographischen Ausdehnung als stabil – wenn auch mit durchlässigen Grenzen – konzipiert und bezog sich schwerpunktmäßig auf das Einflußgebiet der vor-span. indigenen Hochkulturen des mittelam. Raums. Seitdem hat die Definition verschiedene Wandlungsprozesse durchlaufen und als Denkmodell für die Untersuchung historischer und kultureller Prozesse wertvolle Dienste geleistet. Das zwischen Pazifischem und Atlantischem Ozean gelegene M. zeichnet sich durch Vulkanketten sowie auf über 2000 m hoch gelegene Hochtäler aus und gliedert sich in drei ökologische Zonen: steppenartige Trockengebiete, kühles tropisches Hochland und warmes tropisches Tiefland. Diese durch extreme Bergregionen fragmentierten aber hinsichtlich 535
messAli hAdj
ihrer (land)wirtschaftlichen Möglichkeiten komplementären Landschaften trugen wesentlich zur Entstehung der Phänomene bei, die als Charakteristika des vor-span. Kulturraums M. gelten: die eigenständige Entwicklung des einzigen Kalender- und Schriftsystems im am. Raum, Bilderhandschriften (Codizes), Stufenpyramidenformen in der Architektur, ähnliche Darstellungen der Regenbzw. Schöpfergottheiten Tlaloc und Quetzalcóatl, Maisverarbeitung mit Kalk bzw. Asche, Anbau von →Kakao sowie eine Form des →Ballspiels. Es ist bis heute ein stark multiethnisch strukturierter Raum, der zu Beginn der span. →Eroberung zu den am dichtesten bevölkerten Regionen des am. Kontinents zählte und einzigartige linguistische Charakteristika aufwies. Darüber hinaus war das vor-span. M. durch Stadtstaaten geprägt, die zumeist parallel zu Jäger- und Sammler-Gesellschaften existierten: Olmeken (La Venta) und Totonaken (El Tajín) in der Golfküstenregion; Maya im Hochland sowie in der nördlichen Tiefebene Yucatáns und der südlichen Tiefebene der Pazifikküste (Chichén Itzá, Tikal, Copán, Chinkultic); Teotihuacán, Tolteken (Tula) und Azteken (Tenochtitlán) im zentralen Hochland →Mexikos; Zapoteken und Mixteken (Monte Albán) in →Oaxaca. Weitere geokulturelle Zonen in M. waren das nördliche Zentralmexiko der Tarasken (Tzintzuntzán), NordwestMexiko (Chalchihuites) und Westmexiko (La Campana). Für Kirchhoff hatten 1943 die hochentwickelten Stadtstaaten im Zentrum der Überlegungen gestanden. In jüngeren Erklärungsmodellen werden diese urbanen Zentren zwar weiterhin als „Motoren“ kultureller Entwicklung betrachtet, zunehmend aber auch ökologische und migratorische Einflüsse berücksichtigt. Ferner wird heute die weitreichende Vernetzung mesoam. Regionen untereinander sowie mit anderen Kulturräumen im Norden und Süden mit einbezogen. Die aktuell verwendete Chronologie strukturiert die Geschichte M.s folgendermaßen: Paläoindianische und archaische Phase (vor 2000 v. Chr.), präklassische Periode (2000 v. Chr.–250 n. Chr.), klassische Zeit (250–900 n. Chr.), postklassische Periode (900–1521 n. Chr.), Kolonialzeit (1521–1821), postkoloniale Zeit (1821 – heute). Auch wenn M. bis heute überwiegend als Bezeichnung für den vor-span. indigenen Kulturraum verwendet wird, hat der Begriff seit seiner Einführung eine deutliche Bedeutungserweiterung erfahren. Im wissenschaftlichen Diskurs sind heute – entspr. der dynamischen Verbreitung seiner kulturellen Merkmale – die sich wandelnde geographische Ausdehnung von M. sowie der zeitliche Fokus über die Eroberung Mexikos und Zentralamerikas hinaus bis in die Gegenwart akzeptiert. Nun steht nicht mehr nur das indigene M. im Vordergrund, sondern ebenso die interkulturellen Prozesse zwischen der indigenen, europäischen und afr. Bevölkerung seit Beginn der span. Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit. Themen wie die Bezugnahme auf vor-span. mesoam. kulturelle Phänomene in aktuellen – teilweise durch Migration ausgelösten – transnationalen Identifikationsprozessen oder die urbanen Gesellschaften der Megacities sind ebenfalls Gegenstand der Mesoamerikanistik. Richard E. W. Adams / Murdo J. MacLeod, (Hg.), The Cambridge History of the Native Peoples of the Ameri536
cas, Bd. 2 in 2 Teilbänden: Mesoamerica, Cambridge 2000. Robert M. Carmack (Hg.), The Legacy of Mesoamerica, Prentice Hall 2007. Hanns J. Prem, Geschichte Altamerikas, München 2008. A N N E SLEN CZK A Messali Hadj, * 16. März 1898 Tlemcen / Algerien, † 3. Juni 1974 Paris, □ Tlemcen / Algerien, musl. M., eigentlich Ahmed Ben Messali Hadj (Ahmad ibn Masâlî al-Hâdjdj), gilt als Begründer der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, deren frühe Phase er wesentlich geprägt hat. Aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen hervorgegangen, kam er in Frankreich (Armee-Dienst 1918–1921, Aufenthalt in Paris 1924–1936) in Kontakt mit der marxistischen Arbeiterbewegung (verheiratet mit einer frz. Kommunistin) und begann sich politisch zu engagieren. 1926 gehörte er zu den Mitbegründern der ersten nationalistischen Organisation, des „Nordafr. Stern“ (Etoile Nord-Africaine, ENA). Im Gegensatz zur Mehrheit der westlich gebildeten Mittelschicht, die eine gleichberechtigte Stellung im Rahmen der frz. Rep. anstrebte, forderte M. 1927 erstmals öffentlich die Errichtung eines unabhängigen algerischen Staates. Nach dem endgültigen Verbot des „Stern“ (1936) gründete er umgehend als Nachfolgeorganisation die „Algerische Volkspartei“ (Parti du Peuple Algérien, PPA), die ebenfalls sofort in den Untergrund gehen mußte. Während er die nächsten Jahre (1937–1946) im Gefängnis bzw. unter Hausarrest in Frankreich zubrachte, wuchs sein Anhang in der Heimat ständig, v. a. unter den Mittelschichten. Eine Demonstration für seine Freilassung im Mai 1945 löste das „→Massaker von →Sétif“ aus. Infolge der damit eingeleiteten Radikalisierung drängten nun die militanten, allein auf bewaffnete Aktionen orientierten Kräfte in den Vordergrund (1954 Bildung der FLN unter Führung Ben Bellas). M., trotz seiner Nähe zum Marxismus immer Gegner eines Guerillakriegs, geriet in den 1950er Jahren zunehmend ins Abseits. Seine bei Ausbruch des →Algerienkriegs 1954 als gemäßigte „Konkurrenz“ gegründete „Algerische Nationale Bewegung“ (Mouvement National Algérien, MNA) wurde in Algerien bald ausgeschaltet, während in Europa ein erbitterter, von Gewaltausbrüchen begleiteter Kampf zwischen „Messalisten“ und FLN um die Auslands-Algerier einsetzte, in dem M. schließlich unterlag. Er starb relativ unbeachtet im Exil bei Paris, wurde aber in seiner Geburtsstadt beigesetzt. Die Machthaber im unabhängigen Algerien haben seine Bedeutung für die Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung stets herunterzuspielen gewußt. Les Mémoires de Messali Hadj, Paris 1982. (Die Authentizität dieser Schrift, zu der sein früherer Hauptgegner Ben Bella das Vorwort geschrieben hat, wird mitunter angezweifelt.) Benjamin Stora, Messali Hadj, Paris 2004. LO TH A R BO H R MA N N Messerschmidt, Daniel Gottlieb; * 16. September 1685 Danzig, † 25. März (?) 1735 St. Petersburg, □ unbek., ev.-luth. M. war ein dt. Sibirienforscher, der als Mitglied der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz Kontakt mit der Russ. Akademie der Wissenschaften in
m e� i k o
St. Petersburg aufnahm. Er hatte zunächst in Jena und Halle Medizin studiert und dann als Arzt in Danzig praktiziert. In →Sibirien forschte er von 1720 bis 1727. M. hat Tagebuchaufzeichnungen, Beschreibungen über die Ornithologie und Pflanzenkunde Sibiriens sowie Studien über die Kultur der sibirischen Völker hinterlassen. Seine Tagebücher werden heute im Archiv der Russ. Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg aufbewahrt. Ferner hat er ein Wörterverzeichnis der Wotjakischen Sprache verfaßt. Die Studien M.s wurde Grundlage der 2. →Kamtschatkaexpedition. Der 1989 entdeckte Asterioid 16450 wurde nach ihm benannt. Burchard Brentjes, Daniel Gottlieb Messerschmidt, in: Hermann Goltz (Hg.), Tausend Jahre Taufe Rußlands, Rußland in Europa, Leipzig 1993, 611–634. Doris Posselt, Daniel Gottlieb Messerschmidt (1685–1735): Wegbereiter für die Erforschung Sibiriens, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, Bd. 25/2 (1976), 213–229. Eduard Winter (Hg.), Forschungsreise durch Sibirien 1720–1727. Tagebuchaufzeichnungen / Daniel Gottlieb Messerschmidt, Berlin 1962. E VA- MARI A S TOL BE RG
Mestize →Casta Mexikanisch-Amerikanischer Krieg. Krieg, der um die von den →Vereinigten Staaten von Amerika beanspruchten Gebiete von der Großen Ebene bis zum Rio Grande geführt wurde. Der Anlaß dieses Krieges war die stete Expansion am. Siedler in den Westen des Landes. Nach der Aufnahme des Gebietes des heutigen Bundesstaates „Neu-Mexiko“ in die Vereinigten Staaten am 1.3.1845 kam es zwischen den mexikanische Truppen und dem US-Militär zu bewaffneten Konflikten um Palo Alto und Resaca (8. und 9.5.1846), welche aber erst am 13.5.1846 zur Kriegserklärung der USA an →Mexiko führten. Der US-General Zachary Taylor rückte daraufhin von Palo Alto auf Mexiko-Stadt vor, konnte dieses aber wegen seiner überdehnten Flanken und Versorgungslinien nicht einnehmen. Sein Gegner General Mariano Arista zog sich in das Innere Mexikos zurück. Taylor eroberte auf dem Weg nach Süden Sacramento und Monterey 1847. In einer zweiten Operation, geführt von General Scott, landeten 1847 US-Truppen bei Santa Cruz und rückten auf Mexiko-Stadt vor. Ihnen gelang es, die mexikanische Armee unter General Santa Anna zu schlagen und am 14.9.1847 Mexiko-Stadt einzunehmen. In einer amphibischen Operation an der Westküste Mexikos, unterstützt durch die US-Marine, welche Kap Hoorn umsegelt hatte, gelang es den US-Truppen Matzatlan am 11.11.1847 zu besetzen. Parallel zu den Ereignissen in Mexiko erhoben sich die span. Siedler Kaliforniens gegen die mexikanische Reg. Diese Erfolge führten zum Frieden von Guadelupe Hidalgo im März 1848. Der nördliche Teil Kaliforniens und das Gebiet nördlich des Rio Grande sollten fortan bei den USA verbleiben. Das bedeutete, daß Neu Mexiko, Utha, Colorado, Wyoming und Teile von Arizona zu den Vereinigten Staaten gelangten und als eigenständige Bundesstaaten in den folgenden Jahren in den Staatenbund integriert wurden. Als Ausgleich
erhielt Mexiko 15 Mio. US-$ Entschädigung. Die USGeschichtsschreibung zeigte den Kampf der Vereinigten Staaten als „frühe unabhängige Macht“ gegen eine späte „Conquistatorische Macht“ und stellte damit die Überlegenheit des US-am. Wirtschaftssystem und der Demokratie heraus. Das span. geprägte Mexiko hingegen wurde als schwaches von inneren Konflikten zwischen den span. Abkömmlingen, den Mischvölkern und den Ureinwohnern zerrissene Gesellschaft als unterlegen betrachtet. Dennoch gelang es Mexiko, in diesem gegen eine Industriemacht geführten Krieg, weitestgehend seinen Bestand zu erhalten. Douglas V. Meed, The Mexican War 1846–1848, New York 2003. A N D R EA S LEIPO LD Mexiko. Der Unabhängigkeitskampf gegen Spanien begann 1810 mit einem von Pater Miguel Hidalgo y Costilla geführten Aufstand und führte M. 1821 in die Unabhängigkeit. 1824 wurde eine für die damalige Epoche fortschrittliche, republikanische Verfassung in Kraft gesetzt, die auf den Prinzipien von Rechtsgleichheit und freier Meinungsäußerung beruhte, das Wahlrecht aber weiterhin an den Nachweis von Besitz koppelte und den Katholizismus zur Staatsreligion erhob. Nach dem Vorbild der US-Verfassung wurde ein Zweikammernsystem mit einer starken Exekutive errichtet und die Einheit des Landes auf föderalistischer Grundlage etabliert. Der Unabhängigkeit folgte jedoch eine jahrzehntelange Phase politischer und militärischer Instabilität, gekennzeichnet durch permanente Reg.s- und Systemwechsel. Hinzu kamen zahlreiche Putsche, Aufstände, Rückeroberungsund Interventionskriege, die bis zur Wiederherstellung der Rep. (1867) das politisch-gesellschaftliche Panorama dominierten. Angesichts dieser Instabilität konzentrierte sich die reale Macht auf die rk. Kirche und das Militär. Die Kirche hatte ihren Reichtum über die Kolonialzeit hinaus bewahren können, insb. der Landbesitz sicherte ihre Einkünfte, die überall investiert wurden und sie zum wichtigsten Kreditgeber machten. Das Militär dominierte die Politik. Von annähernd 50 Reg.en zwischen 1821 und 1860 wurden 35 von Militärs geführt. Der schillerndste dieser caudillos (→Caudillismo) war General Lopez de Santa Ana, der neunmal Präs. war und zahlreiche Reg.en im Hintergrund dominierte. Der für M. folgenreichste Krieg fand im 19. Jh. gegen die →USA statt, Streitobjekt war das von US-Siedlern und Mexikanern besiedelte Texas (→Mexikanisch-Am. Krieg). Nachdem die Texaner 1835 ihre Unabhängigkeit von M. erklärt hatten, versuchte General Santa Ana erfolglos das Terrain zurückzuerobern. Die Annexion Texas’ durch die USA 1845 und sich daran anschließende Grenzstreitigkeiten führen zum Kriegsausbruch. Durch die Besetzung von Mexiko-Stadt durch US-Truppen wurde M. 1848 der Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo aufgezwungen, wobei es über die Hälfte seines Staatsterritoriums an die USA abtreten mußte. Eine weitere internationale Auseinandersetzung folgte ab 1861, weil M. seine Auslandsschulden nicht zurückzahlen konnte. Der Konflikt mit Großbritannien, Frankreich und Spanien mündete in die →frz. Besetzung M.s., 1863 proklamierte eine willfährige Versammlung konservativer Notabeln die Errich537
me�iko
tung einer Monarchie und ernannte Erzherzog →Maximilian von Österreich, Bruder des Ks.s Franz Josef II. von Habsburg zum Ks. von M. Problematisch war, daß die politische Übereinstimmung des liberal gesinnten Maximilian mit den Konservativen minimal war. Als Napoleon III. 1866 auf Druck der USA seine Truppen aus M. abzog, konnten die liberalen Truppen die ksl. Armee besiegen. Maximilian wurde hingerichtet, 1867 die Rep. mit Benito Juárez als Präs. wieder hergestellt. Juárez leitete zunächst als Justizminister und dann als Präs. (ab 1858) die sog. Reformära ein, in der die Trennung zwischen Staat und Kirche in der Verfassung verankert wurde. Darüber hinaus wurde die Sondergerichtsbarkeit für Militärs und Kleriker (fueros) aufgehoben und die Handhabung unveräußerlichen Grundbesitzes neu geregelt. Dies traf den riesigen Grundbesitz der Kirche, die allerdings nicht entschädigungslos enteignet wurde. Betroffen war v. a. das Kommunalland der indigenen Gemeinden (ejidos), dessen Auflösung und Überführung in Privatbesitz tiefgreifende soziale und ökonomische Auswirkungen hatte und anhaltenden Widerstand hervorrief. Die liberalen Reformen legten insg. zwar die Fundamente für eine Modernisierung und einen stärkeren, zentralisierten Staat, konnten aber die ernsthaften, wirtschaftlichen Probleme nicht lösen. Im Norden gab es weiterhin Grenzprobleme mit den USA und zahlreiche regionale Revolten mußten bekämpft werden. Hinzu kam der konsequente Antiklerikalismus der Liberalen, der die Opposition einigte, die sich um seinen konservativen Gegner General Porfirio Díaz sammelte. Díaz rebellierte gegen die Wiederwahl des Nachfolgers von Juárez, Lerdo de Tejada, als Präs. und erreichte dessen Rücktritt. Porfirio Díaz entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jh.s zum unangefochtenen Machthaber. Unter seiner autoritären Herrschaft (1876–1911) kam es zu einem Wirtschaftswachstum durch ausländische Investitionen sowie durch Agrarexporte von Großgrundbesitzern. Die Infrastruktur, besonders die Eisenbahn, wurde ausgebaut. M. entwickelte sich zu einem bedeutenden Exporteur von Sisalhanf und Bergbauprodukten (→Bergbau) (Silber, Kupfer). Die Maßnahmen wurden als ein Projekt „konservativer Modernisierung“ bezeichnet, weil sie auf Kosten der armen Bevölkerungsmehrheit erfolgten. Von den Eliten kontrollierte Präsidentschafts- und Kongreßwahlen fanden zwar periodisch statt, dienten aber insb. der Bestätigung der bestehenden Machtverhältnisse. Eigenständige Parteien im modernen Sinne existierten nicht, Parlament und Judikative waren weitgehend von der Reg. abhängig. Díaz’ Politik vermochte es aber, den Nationalstaat zu stärken und periphere Regionen zu integrieren. Nach der Jh.wende entwickelte sich eine Opposition gegen das Díaz-Regime, insb. innerhalb der Mittelschichten und der nordmexikanischen Oberschichten, die an der Förderung der nationalen Wirtschaft interessiert waren. Die Konflikte entstanden v. a. mit der von Díaz unterstützten technokratischen Elite, den sog. científicos, die ausländische Wirtschaftsinteressen vertraten. Diese Opposition kam jedoch erst 1910/11 zum Zuge, als sich Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Elite an den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1910 entzündeten. Die Forderungen nach einem Verbot 538
der Wiederwahl Díaz’ löste die erste Aufstandswelle aus. Die anschließende Revolution setzte der oligarchischen Herrschaft ein Ende. Obwohl die Revolution einen starken kleinbäuerlichen Flügel (z. B. um Emiliano Zapata) hatte und auch wirtschaftlich-soziale Reformziele verfolgte, konnten diese zunächst kaum durchgesetzt werden. Zwar wurde in der Verfassung von Querétaro 1917 eine Landreform verankert, doch die alten Eliten konnten wirtschaftlich nicht entmachtet werden. Tiefgreifender waren hingegen die politischen Einschnitte. In den staatlichen Schlüsselpositionen wurden die alten Eliten dauerhaft durch neue ersetzt, die sich hauptsächlich aus den politisch-militärischen Führungsgruppen der nordmexikanischen Revolutionsbewegungen zusammensetzten. Während das Jahrzehnt zwischen 1910 und 1920 durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen der Revolution geprägt war, standen in den 1920er Jahren der Wiederaufbau der zerstörten Ökonomie und Infrastruktur und die politische und gesellschaftliche Stabilisierung im Vordergrund. Die Hauptexponenten dieser Stabilisierungspolitik waren die Präs. Alvaro Obregón (1920– 1924) und Plutarco Elías Calles (1924–1928), die der „Dynastie“ von Revolutionsgeneralen aus dem nördlichen Bundesstaat Sonora angehörten. Die reale Macht des Staates, den die Sonorenser anführten, war jedoch prekär und die Periode des Übergangs war durch politische Gewalt, Widerstand und wiederholte Militärrebellionen (1923, 1927, 1929) gekennzeichnet. Der neue Staat konnte sich erst in einem komplizierten Prozeß durchsetzen, in dem die potentiell konfliktiven sozialen Interessensgruppen durch die Schaffung reg.sloyaler Gewerkschaften und Bauernorganisationen eingebunden werden mußten. Die neuen Organisationen dienten auch der Kanalisierung des populären Aufbegehrens und ihrer Integration in das korporative Staatsmodell. Populistische Rhetorik unterstützte die Mobilisierung der Bevölkerung, und durch einen offiziell geförderten →Indigenismus versuchte man die marginalisierte indianische Bevölkerung in den neuen Staat zu integrieren. Auch unter der Revolutions-Reg. blieb M. ein →Rohstoffe exportierendes Land, die neuen Machthaber stellten einen kapitalistischen Entwicklungsweg nie in Frage. Die Abhängigkeit M.s von ausländischen Investitionen nahm im Laufe der 1920er Jahre zu, das Überleben des neuen Staates hing u. a. vom politischen Willen der USA ab. Nur in zwei Bereichen gab es bewußte, konsequente Veränderungen: Die radikale Bekämpfung der rk. Kirche und der Aufbau eines landesweiten, staatlichen Erziehungswesens. Nachdem die schweren innen- und außenpolitischen Krisen überwunden waren, stand ab Ende der 1920er Jahre die Konsolidierung des Regimes im Vordergrund. Wesentliche Bedeutung kam dabei der 1929 gegründeten Nationalen Revolutionspartei (PNR), der nationalen Dachpartei für alle regimeloyalen Organisationen zu. Sie war ein Instrument zur Kontrolle der heterogenen, lokal und regional verankerten Führungsgruppen, die sich um das nationale Führungszentrum gruppierten. Eine Politik der Integration der Bevölkerungsmassen entwickelten erst die Nachfolgeparteien PRM und PRI. Anders als seine Vorgänger vermochte sich der dem linken Flügel der PNR angehörende, 1934 gewählte Präs.
m e� i k o
Lázaro Cárdenas del Río vom ehem. Präs. Calles zu emanzipieren, der die Partei dominiert hatte. Cárdenas verfolgte eine eigenständige sozioökonomische Reformpolitik, die drei Kernpunkte beinhaltete: Die Erneuerung des Bündnisses zwischen Reg. und Gewerkschaften, was auch den Arbeitern zugute kam sowie die Etablierung der breiten Integrationsfunktion der Partei (1938 in PRM umbenannt); eine durchgreifende Agrarreform zugunsten der Kleinbauern und des indigenen Gemeinschaftsbesitzes, die konsequent durchgesetzt wurde; die spektakuläre Nationalisierung der ausländischen Erdölgesellschaften 1938 bei der Cárdenas die internationale Situation vor Ausbruch des →Zweiten Weltkriegs nutzte, um die reichen mexikanischen Ölvorkommen wieder unter nationale Kontrolle zu bekommen. In der postrevolutionären Periode (1940–1980) dominierte eine Politik der Stabilität und der Kontinuität. Zwar änderten sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse M.s rasch und tiefgreifend, aber die unangefochtene Herrschaft der 1946 als Nachfolgerin der PRM installierten PRI (Partido Revolucionario Institucional) stabilisierte das System im Zeichen der „institutionalisierten Revolution“. Die Jahrzehnte nach 1940 waren durch ein starkes wirtschaftliches Wachstum im Agrarsektor und in der Industrie geprägt, was in Kombination mit der gesellschaftspolitischen Stabilität auch als „mexikanisches (Wirtschafts-)Wunder“ bezeichnet wurde. Der Nationalismus, seit der Revolution Bestandteil der offiziellen Reg.spolitik, trat in den Kriegsjahren zwar zugunsten einer engeren Kooperation mit den USA zurück, bekam aber in der Nachkriegszeit neue Bedeutung. Dies manifestierte sich durch das Bestreben M.s, außenpolitische Unabhängigkeit gegenüber den USA zu wahren, insb. im Hinblick auf →Lateinamerika. Das postrevolutionäre, von der PRI dominierte System trug erkennbar autoritäre Züge, unterschied sich allerdings deutlich von den repressiven Militärregimes, die von den 1960er bis in die 1980er Jahre in vielen Ländern Lateinamerikas herrschten. Das mexikanische Reg.ssystem blieb unter ziviler Kontrolle und war auf Integration und nicht auf Exklusion breiter Bevölkerungsschichten ausgerichtet, weshalb es nicht auf den Einsatz von Repression angewiesen war. Das postrevolutionäre System war insofern offen, als daß durch die periodische Neuwahl des Präs. eine beträchtliche Ämterrotation stattfand, die soziale Mobilität ermöglichte und zu einer deutlichen Verbreiterung der Mittelschicht führte, ein maßgeblicher Faktor der Systemstabilität. Das mexikanische „Entwicklungsmodell“ zeigte allerdings kaum Auswirkungen hinsichtlich einer Statusverbesserung der Unterschichten. Deshalb barg diese Entwicklung bereits Tendenzen, die die gesellschaftspolitische Stabilität und die ökonomischen Erfolge untergruben. Es handelte sich um verschiedene, miteinander verwobene Krisen, prägend für die Zeit von 1970 bis 2000. Eine politische Legitimationskrise zeichnete sich 1968 ab, als die Reg. unter Präs. Díaz Ordaz eine Studentenversammlung gewaltsam auflösen ließ wobei ca. 200 Menschen getötet wurden. Die Brutalität der Repression entfremdete Reg. und Gesellschaft. Die dann eingeleiteten politischen Reformen der 1970er Jahre zielten weniger auf eine demokratische Öffnung,
denn auf die Integration der Opposition in das System. Versuche, die soziale Krise zu lösen, die sich in einem wachsenden Gefälle zwischen Stadt- und Landbevölkerung manifestierte, blieben erfolglos. Ab Mitte der 1970er Jahre zeichnete sich auf Grund wachsender externer Verschuldung ein zunehmendes Zahlungsbilanzdefizit ab, das Anfang der 1980er Jahre zur Zahlungsunfähigkeit des Staats führte. Diese Schuldenkrise, die ganz Lateinamerika erfaßte, löste Kapitalflucht, Abwertung der →Währung und sinkende Ölpreise aus. Diese tiefste Wirtschaftskrise M.s seit den Revolution zog eine Abkehr von der postrevolutionären Wirtschaftspolitik nach sich, weg von der staatlich geschützten Binnenentwicklung und der zentralen Rolle des öffentlichen Sektors hin zur Privatisierung, Deregulierung und Öffnung der mexikanischen Märkte, was sich im Beitritt M.s zum GATT 1986 manifestierte. Exponent dieser neuen Wirtschaftspolitik war der 1988 zum Präs. gewählte Carlos Salinas de Gortari, der auch den Beitritt zum Nordam. Freihandelsabkommen (→NAFTA) (→Freihandel) 1994 durchsetzte. Am 1.1.1994, dem Tag des Beitritts, begann im südlichen Bundesstaat Chiapas ein bewaffneter Aufstand der bäuerlich-indigenen Bewegung EZLN. Die Rebellion wurde zwar explizit in Verbindung mit dem NAFTABeitritt gebracht, aber ihre Ursachen lagen in der jahrzehntelangen Vernachlässigung des kleinbäuerlich-indigenen M. und dessen zunehmender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Maginalisierung. Die Forderungen der EZLN nach sozialer Gerechtigkeit und partizipativer Demokratie beeinflußten das politische Klima des Wahljahres 1994, wobei das von der PRI dominierte politische System deutliche Auflösungstendenzen zeigte. Der Präsidentschaftskandidat der PRI, Ernesto Zedillo Ponce de León, konnte sich nur knapp gegen seinen Herausforderer Cuauhtémoc Cárdenas von der PRD, die aus der Abspaltung des linken Flügels der PRI 1987 entstanden war, durchsetzen. Seine Präsidentschaft war von einer erneuten Währungs- und Finanzkrise überschattet, der mit einer zunehmenden Weltmarktintegration entgegnet wurde, allerdings mit drastischen sozialen Folgen, einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Entwicklung eines informellen Sektors mit prekären Beschäftigungsverhältnissen. Eine Wahlrechtsreform 1997 ermöglichte Wahlerfolge von Oppositionsparteien, wodurch die PRI auf nationaler Ebene erstmals die Parlamentsmehrheit an die konservative Oppositionspartei PAN und die linke PRD verlor. Beide Parteien erzielten auch auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene Erfolge. Das Ende des traditionellen, postrevolutionären PRI-Einparteiensystems markierte der Sieg des PAN-Kandidaten Vicente Fox bei den Präsidentschaftswahlen 2000. Dieser Trend setzte sich 2006 fort, diesmal überrundete der PAN-Kandidat Felipe Calderón den Herausforderer der PRD. Der Wandel von einem autoritär-korporatistischen System zum politischen Pluralismus vermochte die sozialen und wirtschaftlichen Probleme M.s allerdings nicht zu lösen. Mehr denn je ist das Land von einer gravierend ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung und einer gesellschaftlichen Polarisierung gekennzeichnet. Menschenrechtsverletzungen und Korruption, eine drastische Zunahme alltäglicher Gewalt und bürgerkriegsähnliche 539
m e y e r , h A ns
Zustände durch Bandenkriege und Drogenkartelle (→Drogen) verschärfen die Problematik und rücken die Rückkehr der PRI an die Macht in den Bereich des Möglichen. Walter Bernecker u. a. (Hg.), Eine kleine Geschichte Mexikos, Frankfurt/M. 2007. Alicia Hernández Chavez, Mexico, Berkeley / New York 2006. Daniel Cosío Villegas, Historia moderna de México, 10 Bde., Mexiko-Stadt 1955–1974. CHRI S T I NE HAT Z KY Meyer, Hans, * 22. März 1858 Hildburghausen, † 5. Juli 1929 Leipzig, □ Südfriedhof Leipzig (Sekt. III, Pl.54/55), ev.-luth. Der väterlichen Familie gehörte das 1874 nach Leipzig verlegte „Bibliographische Institut“, das erfolgreich neben populärwissenschaftlichen Werken u. a. „Meyers Konversations–Lexikon“ herausgab. Nach Abitur in Halle 1877 und Militärdienst in Berlin breit angelegtes Studium (Geschichte, →Völkerkunde, Staatswissenschaft, Botanik) in Leipzig, Berlin und Straßburg, das 1881 mit der volkswirtschaftlich orientierten Promotion „Die Straßburger Goldschmiedezunft von ihrem Entstehen bis 1681“ abgeschlossen wurde. Dank familiären Wohlstandes anschließend zweijährige Weltreise über →Indien, Ceylon, →Java, →Philippinen weiter nach →USA, →Mexiko, →Kuba, die u. a. seine kolonialpolitischen Interessen weckte. Veröffentlichung Leipzig 1885: „Eine Weltreise“. Ab 1884 aktive Verlagsleitung zusammen mit seinem Bruder Arndt. Dieser übernahm die kaufmännischen, M. die organisatorischen und wissenschaftlich-verlegerischen Aufgaben. Ab Dez.1886 Reise über Südafrika ins Kilimandscharo-Gebiet (→Kilimandscharo). Seit Juli 1888 Beginn einer zweiten Kilimandscharo-Expedition (→Expeditionen) in →Sansibar, nun zusammen mit dem österr., in Leipzig promovierten Geographen Oscar →Baumann. Beide gerieten jedoch in den im Sept. 1888 in Ostafrika ausgebrochenen →Araberaufstand. Bei der erzwungenen Umkehr wurden sie als Geiseln in Kettenhaft genommen. Freilassung erfolgte gegen Versprechen von 12 000 →Rupien (ca. 100 000 Euro) Lösegeld, das später auch bezahlt wurde. Die Erlebnisse veröffentlichte Baumann: „In →Dt.-Ostafrika während des Aufstandes. Reise der Dr. Hans Meyer’schen Expedition in Usambara“ (Wien, Olmütz 1890). M. selbst betrieb umgehend, unverändert privat finanziert, die Vorbereitung seiner dritten AfrikaExpedition, diesmal zusammen mit dem österr. Alpinisten Ludwig Purtscheller (1849–1900). Am 6. Okt. 1889 gelang ihnen die Besteigung des Kibo-Gipfels, dessen Hänge damals weit stärker vergletschert waren als heute. Höhenberechnung ergab 6010 m, erst 1999 abschließend korrigiert auf 5 892 m. Die Leistung bewirkte für M. Weltruhm und zahlreiche Ehrungen. Hauptveröffentlichung 1890: „Ostafr. Gletscherfahrten“. 1891 Heirat mit Tochter des bekannten Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919). 1894 Forschungen auf den Kanarischen Inseln, insb. Teneriffa. 1898 erneute KilimandscharoExpedition, zusammen mit dem Bergsteiger und Maler Ernst Platz zum Zwecke der Vertiefung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Alle Kilimandscharo-Besteigungen erfolgten jeweils in Zusammenarbeit mit dem lokalen 540
Herrscher Sultan Mareale von Marangu. 1900 erschien die wissenschaftlich orientierte Monographie „Der Kilimandscharo. Reisen und Studien“. Danach, bis 1915, voll engagiert im Verlag, nur 1903 unterbrochen durch Expedition in die Anden. Besteigung des Antisana (5870 m) und fast Gipfelerreichung des Chimborazo (6310 m). Hauptwerk darüber: „In den Hoch-Anden von →Ecuador“ (Berlin 1907). Auf Grund seiner Sachkenntnisse in kolonialen Fragen wurde M. 1904 ehrenamtlicher Vorsitzender der „Landeskundlichen Kommission“, deren Aufgabe es war, mit Hilfe des „Afrikafonds“ (Jahresbudget 200 000 Mark) des Auswärtigen Amts, ab 1907 des →Reichskolonialamts (RKA), dieses zu beraten, wie die Erforschung der dt. →Schutzgebiete zu fördern sei. Er wurde dabei unterstützt durch Bernhard →Dernburg, den neuen Leiter des RKA. M.s diesbezügliches Wirken, ergänzt durch sein Mäzenatentum, war besonders nachhaltig bei der Förderung der Expedition des Herzogs Adolf Friedrich zu →Mecklenburg 1907/08. Juli-Okt. 1911 unternahm M. seine letzte, fünfte, wieder selbstfinanzierte Afrikaexpedition, diesmal konzentriert auf →Ruanda und Urundi. Sie diente auch der Überprüfung seiner kolonialwirtschaftlichen Auffassungen und der Aktualität seines 1909 erschienenen Bandes „Ostafrika“, erster Teil des Standardwerks „Das dt. Kolonialreich“. Als Ergebnis dieser Forschungsreise publizierte er neben Aufsätzen in Fachzeitschriften „Die Barundi“ (Leipzig, 1916). Ein über Ruanda geplantes Werk wurde nicht vollendet, es erschien lediglich „Bergfahrten im ostafr. Zwischenseengebiet: Der Karissimbi 1911“ als Teil des Werkes „Hochtouren im tropischen Afrika“ (Leipzig 1923). Seit Juni 1915 ausgeschieden aus dem Verlag, Prof. der Kolonialgeographie und Leiter des von ihm finanziell geförderten kolonialgeographischen Instituts der Universität Leipzig. Spezielles Interesse: Vulkanologie tropischer Hochgebirge. Tod 1929 nach Rückkehr von einer Teneriffa-Reise. M.s Leistung bleibt es, wissenschaftliche Erkenntnisse über Afrika und seine Völker erarbeitet und mit schriftstellerischer Gewandtheit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sowie andere Forscher vielfältig gefördert zu haben. Außerdem war er, dem Zeitgeist entspr., überzeugt von der kolonialen Sache, jedoch ein aufgeklärter Sachverständiger in Fragen der kolonialen Erschließung. Reinhart Bindseil, Ruanda im Lebensbild von Hans Meyer (1858–1929), Berlin 2004. Heinz Peter Brogiato (Hg.), Die Anden – Geographische Erforschung und künstlerische Darstellung, München 2003. R EIN H A RT B IN D SEIL
Meyer (s. 1903 M.-Waldeck), Alfred, * 27. November 1864 St. Petersburg, † 25. August 1928 Bad Kissingen, □ Berlin, ev.-luth. M.s Vater war Prof. an der Universität Heidelberg und ksl. russ. Kollegienrat. Der Sohn studierte zunächst ebenfalls in Heidelberg, trat jedoch mit 20 Jahren als Kadett in die Marine ein. Er war zunächst im Oberkommando der Marine und später im Torpedowesen tätig. Während des →Boxerkriegs 1900 diente er im Rang eines Kapitänleutnants auf dem Kreuzer Geier, der zu dieser Zeit im Yangzi-Raum operierte, um ein Übergreifen der Kämpfe
m i g rAti o n i n s ü dA s i en
auf Zentral- und Südchina zu verhindern. 1909 wurde er Chef des Stabes beim Gouvernement in →Kiautschou. In dieser Eigenschaft vertrat er zunächst den beurlaubten →Gouv. →Truppel und wurde 1911, als dieser aus dem Dienst ausschied, zu dessen Nachfolger ernannt. Im Jahr seiner Ernennung brach in China die republikanische Revolution aus, die für das →Schutzgebiet tiefe Veränderungen mit sich brachte. Die zahlreichen Beamten und Anhänger der Monarchie, die nach Tsingtau flüchteten, entwickelten sich rasch zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor in der Kolonie. M. konnte erstmals mit ökonomischen Erfolgsmeldungen aufwarten und bemühte sich auch, die im Schutzgebiet bestehende Rassentrennung zumindest in Ansätzen abzubauen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs mußte M. die Festung Tsingtau nach zweimonatiger Belagerung an die jap. Armee übergeben und in Kriegsgefangenschaft gehen, aus der er erst 1920 zurückkehrte. 1921 wurde er Vize-Präs. der →Dt. Kolonialgesellschaft. 1928 verstarb er an den Folgen eines Herzleidens, das er sich in der Gefangenschaft zugezogen hatte. Klaus J. Bade, Meyer-Waldeck, Alfred, in: Badische Biographien. Neue Folge, Bd. 2, Stuttgart 1987. Thoralf Klein, Rasse – Kultur – soziale Stellung: Konzeptionen des ‚Eingeborenen‘ und koloniale Segregation in Kiautschou, in: Frank Becker (Hg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Segregation, Stuttgart 2004, 304–328. Mechthild Leutner, u. a. (Hg.), „Musterkolonie Kiautschou“, Berlin 1997. T HORAL F KL E I N Michif. Das M. wird gegenwärtig von höchstens 1 000 Muttersprachlern in Teilen →Kanadas und den angrenzenden nördlichen Staaten der →USA gesprochen. Es handelt sich um eine →Mischsprache, in deren Struktur sich das Verbsystem der Algonkinsprache Cree und das Nominalsystem des Französischen systematisch kreuzen. Die historischen Grundlagen des M. wurden im 18. Jh. während der Präsenz frz.-sprachiger Waldläufer in den indianisch besiedelten Territorien von Nouvelle France gelegt. Frz.-indianische →Mischehen waren ein entscheidender Faktor bei der Entstehung. Nicht alle heutigen Sprecher der Sprache können Französisch und/oder Cree. Ein typischer Satz (in vereinfachter Umschrift) lautet: I garsõ pi la fij ki:wa:pame:wak ãe šǝval meg. (Frz.: Le garçon et la fille ont vu un cheval magre.) „Der Junge und das Mädchen haben ein mageres →Pferd gesehen.“ Der Kursivdruck identifiziert die Cree-Elemente (d. h. das finite Verb). Alle übrigen Wörter sind frz. Herkunft. Peter Bakker, A Language of Our Own, Oxford 1997. T HOMAS S TOL Z
Migration in Südasien. M.en sind geographische Wanderungen von Individuen oder Gruppen aus →Auswanderungs- in Einwanderungsgebiete, mit dem Ziel, sich zeitlich begrenzt oder auch dauerhaft niederzulassen. M.en stehen für demographische Prozesse, die (oft einschneidende) ökonomische, politische, ethnische, religiöse, kulturelle oder soziale Veränderungen widerspiegeln. M. kann klassifiziert werden nach Kriterien, die sich auf die Zusammensetzung (Gruppen/Individuen), die Dauer (langfristig/kurzfristig), Geschlecht (Männer/
Frauen) und Beweggründe (erzwungen/freiwillig) beziehen. M. war seit den frühesten Zeiten ein entscheidender Faktor in Südasien bei der Herausbildung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Schichten. Die Untersuchung solcher M.s-Bewegungen stellt deshalb vorherrschende, stereotype Darstellungen, der ind. Gesellschaft als starr und durch ländliche Subsistenzwirtschaft geprägt, stark in Frage. Für das 16. und 17. Jh. gibt es Belege für Gruppen-M.en, die durch verschiedenste Gründe ausgelöst wurden, wie politische oder ökonomische Unterdrückung, übermäßige Steuerforderungen des Staates und lokaler Eliten auf landwirtschaftliche Erträge, Flucht vor den Unwägbarkeiten der Natur (Dürre, Hungersnöte und →Seuchen) oder als Folge kriegerischer Auseinandersetzungen. In der Ära der Mogulherrscher (→Moguln) kam es häufig zu einer bestimmten Form der Massen-M., oft als hijrat bezeichnet, in deren Verlauf Bauern durch die Auswanderung in das Territorium eines anderen Herrschers gegen hohe Abgaben protestierten (→Volksaufstände). Im Sept. 1669 verließen so 8 000 Angehörige der Händlerkaste der Baniyas aus Protest gegen die Ernennung eines reaktionären Beamten durch den Mogul-Ks. Aurangzeb die Stadt Surat. Die →Urbanisierung und die daraus resultierende Aufschwung der Wirtschaft, des Handels und des Handwerks schufen die Voraussetzungen für die M. von Händlern, Kaufleuten, Missionaren, Pilgern und Arbeitern. Während der Kolonialepoche verstärkte sich die gegenseitige Durchdringung des Staates und des Marktes samt der transformierenden Wirkungen dieses Prozesses. Die Umstrukturierung von Landbesitzrechten im Sinne einer Konsolidierung spezifischer etablierter Eliten und die Enteignung anderer landbesitzender Gruppen durch steuerrechtliche (das Permanent Settlement of Bengal 1793 und im 19. Jh. das Ryotwari und Mahalwari Settlement, →Steuersysteme) und forstrechtliche Reg.smaßnahmen (India Forest Act von 1865), leiteten umfassende Vertreibungen von Bauern und Stammesgemeinschaften auf dem gesamten Subkontinent ein. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s wuchs in den aufstrebenden Städten (→Bombay, →Madras und →Kalkutta) und kapitalistischen Unternehmen (→Bergbau, Fabriken und Plantagen, →Industrialisierung) der Bedarf an Fachleuten und Arbeitern, wodurch die M. verstärkt wurde. Die Abwanderung der Wirtschaftseliten aus Westindien (Marwaris) in die östlichen und nordöstlichen Regionen des Subkontinents ist ein gut dokumentiertes Beispiel dieser Prozesse. Eine weitere Händlergemeinschaft waren die →Chettiars aus Südindien, deren relative lange andauernde M. nach →Südostasien, v. a. →Birma, und →Sri Lanka bereits für die Frühe Neuzeit bedeutsam ist und sich im späten 19. Jh. noch verstärkte. M. durch →Vertragsarbeit von →Indien begann 1834 nach →Mauritius, weitete sich 1838 nach Brit.-Guyana, 1845 nach Trinidad und →Jamaika, 1861 nach Südafrika und 1879 auf die →Fidschi-Inseln aus. Grobe Schätzungen gehen von mindestens 5 Mio. Indern aus, die in der Zeit von 1834–1937 auf Grund von Vertragsarbeit auswanderten. Gail Omvedt, Migration in Colonial India, in: Journal of Peasant Studies 7 (1980), 185–212. Madhugiri S. A. Rao (Hg.), Studies in Migration, Delhi 1986. N ITIN VA R MA 541
m ikl u c ho- m Akl A i , ni k o l Ai n .
Miklucho-Maklai, Nikolai N., * 17. Juli 1846 in der Nähe von Nowgorod, † 24. April 1888 St. Petersburg, □ unbek., russ.-orth. M. entstammte einer verarmten Adelsfamilie. 1863 nahm er ein Studium der Mathematik und Physik in der russ. Hauptstadt auf. Auf Grund seiner Teilnahme an einem illegalen politischen Studentenzirkel, wurde er jedoch von der Universität relegiert. Er ging nach Deutschland, wo er in Heidelberg, Leipzig und Jena Philosophie und Medizin studierte. Die Begegnung mit dem bekannten Naturforscher Ernst Haeckel brachte ihm die Stellung eines wissenschaftlichen Assistenten ein. Dieser nahm ihn auf eine Forschungsreise nach Madeira, →Marokko und zu den Kanarischen Inseln mit. M. spezialisierte sich nun auf Zoologie und Botanik. 1867–1869 unternahm er Reisen nach Sizilien und zum Roten Meer sowie zur arab. Halbinsel. Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg assistierte er dem Naturforscher Karl Ernst von Baer. Während seiner Arbeit für von Baer begann sich M. für die Studien des dt. Südseeforschers Otto →Finsch zu interessieren. Dies gab Anlaß zu einer →Expedition nach →Neuguinea, die 1870 von St. Petersburg startete. 1871 betrat M. in der Astrolabe-Bucht die Nordküste Neuguineas. Hier blieb er 15 Monate. Die indigene Bevölkerung sprach dem russ. Forscher magische Kräfte zu und nannte ihn „Mondmann“. Zwischen 1873 und 1875 erforschte er die Halbinsel →Malakka. Es folgte ein mehrjähriger Aufenthalt in Australien. Ihm zu Ehren ist das Institut für Ethnologie und Anthropologie der Russ. Akademie der Wissenschaften nach ihm benannt. Felizitas Drobek, Nikolaj Nikolajewitsch Miklucho-Maclay und seine Forschungen auf den Admiralitätsinseln, Rheinfelden 1986. Nikolaj N. Miklucho-Maklaj, Bei den Papuas, Berlin 1986. E.M. Webster, The Moon Man, Melbourne 1984. E VA- MARI A S TOL BE RG Mikronesien. Gesamtheit der über 2 000 Inseln im westlichen Pazifischen Ozean, die nördlich von Melanesien die →Karolinen (Yap, Chuuk, Pohnpei, Kosrae), Guam, Ponape, die →Marshall- und die Gilbert-Inseln, →Nauru und →Palau umfassen. Geprägt von geographisch, kulturell und historisch unterschiedlichen Entwicklungen unterscheiden sich die traditionellen Lebensweisen der Ew. stark. Über die prähistorische Phase M.s ist wenig bekannt und kann nur mit Hilfe archäologischer, linguistischer und anthroposischer Untersuchungen konstruiert werden. Einige dieser Untersuchungen verweisen jedoch auf eine frühe Besiedlung zu Zeiten der austronesischen Wanderungen zu Beginn des 2. Jh.s v. Chr. Die schriftlich dokumentierte Geschichte beginnt mit den Entdeckungsfahrten des 16. Jh.s. Die ersten Kontakte mit Europäern ergaben sich durch span. Seeleute, die auf der Route von →Mexiko zu den →Philippinen M. durchquerten. Obwohl Spanien diese Inseln für sich reklamierte, führte es keine organisierte Kolonialverwaltung ein. Neben einem starken Ahnen- und Totenkult ist heute das Christentum sehr verbreitet. Religiös geprägt wurden Mikronesier zunächst durch span. rk., sowie seit Mitte des 19. Jh.s insb. durch die protestantischen Missionare aus den →USA. Nach einer Eskalation diverser Konflikte unterschiedlicher Händlergruppierungen anerkannte Papst 542
Leo XIII. 1885 in einem Schiedsspruch die Oberhoheit Spaniens, das seine Rechte 1899 an das dt. Reich weiterverkaufte. Bis zu seiner Besetzung durch die jap. Flotte 1914 blieb M. Teil von →Dt.-Neuguinea, mit Ponape als Verwaltungszentrum. 1914 wurden die Inseln von der jap. Flotte besetzt, welche 1921 ein Mandat des →Völkerbundes für M. erhielten. Das jap. Mandat bestand bis 1944, als die USA die Inseln eroberten und 1945 M. als →Treuhandgebiet der UN übernahmen. Innerhalb des mikronesischen Inselreiches haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s drei unabhängige Staatengebilde etabliert: die Rep. Nauru (1968), die Rep. Palau (1981) sowie seit 1990 die „Föderierten Staaten von M.“ (Karolinen). Neben der Amtssprache Englisch sind Gilbertisch, Marshallisch, Ponabe, Tabi, Palau und Nauru bedeutende Regionalsprachen. Anthropologisch überwiegt bei den Ew. M.s der polynesische Typ. Durch melanesische und indonesische Rassen-, Sprach- und Kulturelemente entstand jedoch eine Mischkultur. S. a. →Föderierte Staaten von Mikronesien. Hermann J. Hiery (Hg.), Die dt. Südsee 1884–1914, Paderborn 22002. Ferdinand Karl / Hermann Mückler, Oasen der Südsee, Gnas 2002. Barbara Treide, In den Weiten des Pazifik, Wiesbaden 1997. V EREN A SCH R A D ER
Milner, Alfred, * 23. März 1854 Gießen, † 13. Mai 1925 Sturry Court, □ St. Mary the Virgin / Salehurst, anglik. Einen Teil seiner Jugend verbrachte M. in Deutschland, aber seine formale Schulausbildung erhielt er am King’s College in London von 1872 bis 1876. Er absolvierte sein Studium in den Klassischen Disziplinen 1877 am Balliol College in Oxford. Obwohl er dazu befugt war, als Anwalt zu praktizieren, begann er 1881 als Assistenzredakteur bei der Pall Mall Gazette. M. war offizieller Privatsekretär des brit. Schatzkanzlers seit 1887, Viscount G. J. Goschen, und wurde 1897 zum Hochkommissar für Südafrika und Gouv. der →Kapkolonie ernannt. Er war überzeugter Anhänger des brit. Imperialismus und erkannte, daß nach der Entdeckung von Gold das reich gewordene und von den →Afrikaners kontrollierte →Transvaal die brit. Position in Südafrika gefährden könnte – eine Aussicht, die M. verhindern mußte. Seine Beschwerden über die ZAR (Südafr. Rep.), die er als Tyrannei verurteilte, und seine Ablehnung gegenüber den Forderungen der →Afrikaners („Boers“) nach einer Rep. führten zum Südafr. Krieg („Zweiter →Burenkrieg“) von 1899 bis 1902, der die gesamte politische Szene in Großbritannien lange Zeit beherrschte. Der Krieg endete mit dem militärischen Sieg der Briten und dem von M. mitunterzeichneten Friedensvertrag. M. überwachte auch das große Vorhaben beim Wiederaufbau der ZAR. Am meisten wurde er wegen der Konzentrationslager, die für die Zivilbevölkerung während des Krieges in Südafrika errichtet wurden, und für die Einfuhr chin. Arbeiter, die den Arbeitskräftemangel nach dem Krieg ausgleichen sollten, seitens humanitärer Gruppierungen in der ganzen Welt, aber auch in England kritisiert. M. verließ Südafrika im Apr. 1905 und wurde Mitglied (1916–21) im engl. Kriegskabinett von Lloyd George.
m i nA h As A
Hermann Giliomee u. a. (Hg.), New History of South Africa, Kapstadt 2007. ANNE KI E JOUBE RT Minahasa. Die M. (auch: Minahassa) sind eine ethnische Gruppe, die die gleichnamige Region an der nördlichsten Spitze der Insel →Sulawesi bewohnt. Unter diesem Überbegriff werden acht verschiedene Sprachgruppen zusammengefaßt. Die Sprachgruppen setzten sich traditionell aus einer oder mehreren Verwandtschaftsgruppen zusammen, die walak genannt wurden und eine politische und religiöse Einheit mehrerer Dörfer eines bestimmten Siedlungsgebiets bildeten. Der Name M. bedeutet „vereinigt worden sein“ und wird im landläufigen Verständnis auf eine Allianz gegen den Fürsten von Bolaang in mythischer Vorzeit zurückgeführt. Es gibt keine Belege für den Gebrauch des Namens M. oder für eine gemeinsame ethnische Identität für die Zeit vor dem 19. Jh., jedoch läßt sich ein historischer Einschnitt auf 1679 datieren, der die weiteren Entwicklungen in der M. entscheidend prägte. Damals besiegelte die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) ihre Vorherrschaft in Nordsulawesi durch einen Vertrag mit den walak-Führern im Hinterland der Stadt →Manado. Dieser Vertrag richtete sich aus Sicht der M. besonders gegen die Herrschaftsansprüche des Fürsten von Bolaang, während für die Niederländer die Konkurrenz mit Spaniern und Portugiesen, die seit Anfang des 16. Jh.s hier Handel getrieben und sporadische Missionsversuche unternommen hatten, im Vordergrund stand. Der Kontakt mit Europäern während des 16., 17. und 18. Jh.s war nicht unbedingt nur von Zwang und Gewalt geprägt, sondern auch vom freiwilligen Austausch. Mais als Nahrungspflanze verbreitete sich rasend schnell in der M. und angrenzenden Gebieten und erlaube es den M., mehr →Reis zu verkaufen und so am wachsenden Handel teilzuhaben und importierte Güter als Statussymbole zu erwerben. Zusätzliche Zeit und Ressourcen durch veränderte Landwirtschaftszyklen, die Verbreitung von Feuerwaffen und die Inflation von Statusgütern führte im Kontext der auf Konkurrenz basierenden Statushierarchie in der M.-Gesellschaft, in der sich walak-Führer durch Mut in Kriegszügen und zur Schau gestellten Wohlstand beweisen mußten, zu mehr interner Gewalt. Dies widersprach dem erklärten Ziel der VOC, die andererseits aber gerne als neutraler Schlichter in Fehden angerufen wurde. Im 19. Jh. nahm die ndl. Verwaltung immer stärker direkten Einfluß. Erhöhte Abgabenlast und die Aushebung von Soldaten führte 1808 zu einem bewaffneten Aufstand des walak Tondano. Daß noch keine gemeinsame M.-Identität vorherrschte, zeigte sich auch daran, daß andere walak auf Seiten der Niederländer kämpften, die den Aufstand niederschlugen. Als die Niederländer 20 Jahre später Soldaten für den Java-Krieg anwarben, erkannten einige M. darin eine willkommene Gelegenheit, statt in der verbotenen Kopfjagd auf legale Art Kriegsruhm zu erwerben. Diese neue Loyalität veranlaßte die Kolonialherren, den 1830 gefaßten Anführer des Java-Kriegs, Prinz Diponegoro, nach Manado zu bringen. Sein religiöser Berater Kyai Modjo wurde mit seinen Anhängern nach Tondano ins Exil geschickt, und mit Imam Bojol wurde auch der Führer der →padri-Bewegung aus West-Sumatra nach Ma-
nado verbannt. Ihren Ruf als Loyalisten erwarben sich die M. allerdings im Zuge radikaler gesellschaftlicher Transformation während des 19. Jh.s. Die protestantische ndl. Missionsgesellschaft (NZG) schickte 1831 die beiden dt. Missionare J.F. Riedel und J.G. Schwarz in die M., die den Grundstein dafür legten, daß die M. bald en masse konvertierten, so daß sich 1880 bereits ¾ der M. zum Christentum bekannten. Die Mission verbreitete europäische Kleidungs- und Umgangsformen, propagierte ein europäisches Familienbild und verdammte traditionelle Feste und alle Traditionen, die im Verdacht von Unsittlichkeit oder Heidentum standen. Die kunstvoll bearbeiteten Steinsarkophage (waruga), in denen herausragende Personen bestattet worden waren, wurden bis auf wenige zerstört. Andererseits sammelten Missionare Erzählungen und verhalfen in ihren Schulbüchern einem angeblich gemeinsamen Ursprungsmythos aller M. zur Verbreitung. Durch die Errichtung von Missionsschulen erreichten die M. bald eine der höchsten Bildungsraten in →Ndl.-Indien und wurden zu gesuchten Arbeitskräften in der Verwaltung, als Angestellte in Privatunternehmen und in der →KNIL, wo sie neben den ebenfalls überwiegend christl. Ambonesen eine herausragende Gruppe stellten. Der Zwangsanbau von →Kaffee hatte bereits im 19. Jh. neue Aufstiegschancen für die Eliten eröffnet, weil traditionelle Dorf- und Distriktoberhäupter als bezahlte Beamte in den Staatsapparat eingebunden wurden und für Einheimische mit grundlegender Schulbildung ein wachsendes Arbeitsfeld im Staatsdienst, als Büroangestellte und Plantagenaufseher offenstand. Dieser Bildungsvorsprung kam zum Ausdruck als 1877 per Gesetz alles unbebaute Land zu Staatseigentum erklärt worden war. Statt mit Rebellion reagierten die M.führer mit einer auf Niederländisch verfaßten Petition an den Gen.gouv. und das ndl. Parlament, in der sie sich auf ihren Vertrag mit der VOC aus dem 17. Jh. beriefen, der sie zu Verbündeten und nicht zu Untertanen gemacht habe. Das Beispiel illustriert ein Selbstverständnis, in dem die zuweilen abschätzig als „Verwestlichung“ bezeichneten Elemente wie Christentum, Schulbildung und Orientierung am kolonialen Mutterland mit einer Geschichtsinterpretation, die die historische Tiefe der M. als →Ethnie betont, bereits zur eigentlichen M.-Identität verschmolzen waren. Der aufkeimende indonesische Nationalismus des 20. Jh.s verdächtigte die M. des Verrats, während deren führende Intellektuelle wie Sam Ratulangie die M. und weniger →Indonesien als ihre Nation betrachteten. In der Zeit des Unabhängigkeitskampfes von 1945–1949 standen sich Anhänger von →Sukarnos unitarischer Rep. und Befürworter eines föderalen Systems, wie es im von den Niederländern eingesetzten Staat von Ostindonesien (NIT) vorgesehen war, gegenüber. Der Traum mancher von einem eigenen M.-Nationalstaat äußerte sich 1946 in der Gründung der Twapro-Partei, die den früheren Spitznamen der M. als 12. Provinz (Twaalfde Provincie) der Niederlande in die Realität umsetzen wollte. Nicht zuletzt weil auch viele M. als Widerstandskämpfer (pemuda) auf →Java gegen die Niederländer kämpften und sich der hoch angesehene Ratulangie eindeutig auf die Seite der Rep. gestellt hatte, fiel die Entscheidung zu Gunsten Indonesiens. 543
m in A n g k A bA u
David Henley, Nationalism and Regionalism in a Colonial Context, Leiden 1996. Reimar Schefold (Hg.), Minahasa Past and Present, Leiden 1995. Mieke Schouten, Leadership and Social Mobility in a Southeast Asian Society. Minahasa, 1677–1983, Leiden 1998. S VE N KOS OL
Minangkabau. Eine ethnische Gruppe, die die zentralen Teile der Westküste →Sumatras bewohnt; bekannt sind sie als matriarchalische Gesellschaft und zahlenmäßig größte →Ethnie der Welt mit matrilinearer Erbfolge. Seit dem 16. Jh. sind sie Moslems. Nach zwei Reformationen ihres religiösen Lebens (im frühen 19. und im frühen 20. Jh.) sind sie in →Indonesien auch als Ethnie bekannt, bei der nahezu alle Angehörige Moslems sind. Im zweiten Viertel des 19. Jh. wurde fast das gesamte Siedlungsgebiet der M. von der ndl. Kolonialmacht kolonisiert. Die M. reagierten auf die Anwesenheit der Niederländer, indem sie die angebotene Zusammenarbeit mit der Reg. im Bereich der modernen Bildung wahrnahmen. V. a. schickten sie ihre Kinder in die von der Kolonialreg. errichteten Schulen und arbeiteten als Eltern in den Schulvereinigungen nach ndl. Vorbild mit. Ihre eigenen islamischen Bildungsorganisationen modernisierten sie, indem sie das koloniale Schulsystem kopierten und somit indirekt ebenfalls Zugang zu westlicher Bildung hatten. Dies trug dazu bei, daß sie sich bis Mitte des 20. Jh.s zur Ethnie mit den meisten Intellektuellen Indonesiens entwickelten (u. a. die Journalistin →Rohana Kudus). Dadurch wurden viele M. zu Persönlichkeiten des politischen Lebens, die im Unabhängigkeitskampf sowohl gegen die Niederländer als auch gegen die Japaner aktiv waren. Viele herausragende Persönlichkeiten des politischen Lebens während der ersten Jahre nach der Unabhängigkeit der indonesischen Rep. waren M. Sie stellten mit Mohammad →Hatta einen Vize-Präs., vier Premierminister, einen Präs. einer Teilstaates (Rep. Indonesia in der Vereinigten Rep. Indonesien) sowie diverse Minister in vielen Kabinetten. 1958 wurden viele M. in die PRRI (Pemerintahan Revolusioner Rep. Indonesia – Revolutionäre Reg. der Indonesischen Rep.) involviert, eine separatistische Bewegung, die sich von Jakarta abspalten wollte. Jakarta reagierte hierauf mit militärischen Operationen, repressiven Maßnahmen und Verringerung der Möglichkeiten zur Teilnahme der M. am politischen Leben, v. a. auf nationaler Ebene. Seither ist die Rolle der M. auf der Bühne der nationalen Politik sehr eingeschränkt. GUS T I AS NAN Minas Gerais. Region im Landesinneren →Brasiliens, heute brasilianischer Bundesstaat. Durch die vorwiegend seegestützte Form der port. Landnahme in →Amerika erfolgte die Besiedlung dort v. a. an einem Küstensaum, der seinen Schwerpunkt zwischen den capitanias →Pernambuco und São Vicente mit kleineren urbanen Ballungsgebieten hatte. Mit Ausnahme gelegentlicher Streifzüge der →Bandeirantes blieb das weite Landesinnere Brasiliens lange Zeit unerschlossen. Bandeirantes waren es dann auch, die gegen Ende des 17. Jh.s zum ersten Mal Edelsteine im Landesinneren nördlich von →Rio de Janeiro fanden. Die Entdeckung immer weiterer Di544
amant- und v. a. Goldvorkommen im Lauf des 18. Jh.s, die Brasilien weltweit zu einem der größten Goldproduzenten machte, hatte weitreichende Folgen. Für die Ausbeutung der Bodenschätze gelangten nun in großer Zahl afr. Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) nach M.G. Zum überschnellen Bevölkerungswachstum trug auch die Zuwanderung aus anderen Teilen Brasiliens sowie aus Portugal bei. Alleinstehenden Frauen war, mit Ausnahme von Sklaven, die Zuwanderung in die Distrikte M.G. verboten, so daß sich rasch eine aus den sexuellen Verbindungen der zahlreichen Siedler und Glücksritter mit afr. Sklavinnen stammende Bevölkerung bildete. Wirtschaftlich begann sich das Gewicht zusehends in den Süden Brasiliens zu verlagern. Aus der Region um →São Paulo, später dann v. a. aus Rio de Janeiro, lieferten nicht nur die Karawanen der tropeiros die für die Goldgewinnung unabdingbaren Sklaven, Gerätschaften und Lebensmittel. Die an den dortigen Küsten gelegenen Häfen dienten auch als Verladeplätze für das aus dem Minendistrikt nach Portugal zu transportierende Gold. Bald kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen frühen, v. a. aus São Paulo stammenden Zuwanderern, die die alleinigen Schürfrechte gegen die erst später, v. a. aus →Bahia und Portugal nach M.G. gekommenen Siedler beanspruchten. Die Krone konnte in diesen Konflikt kaum eingreifen, geschweige denn ihn kontrollieren oder beenden. Nicht zuletzt aus diesem Grund sicherte sie sich noch in der ersten Hälfte des 18. Jh.s den Zugriff auf die neu erschlossenen Gebiete durch die Schaffung neuer capitanias. Um Schmuggel zu verhindern und dem Fiskus Einnahmen zu sichern, wurde außerdem eine Aufsichtsbehörde über den →Bergbau geschaffen sowie eine neue Steuer eingeführt. Insg. blieb aber die fiskalische Kontrolle der Gewinnung und des Handels mit Gold durch die Krone beschränkt. Mehrere Städte, die im Gefolge des Goldbooms entstanden waren, bekamen die Stadtrechte zugesprochen. Administrativ kam die Bedeutung, welche mit M.G. der gesamte Süden Brasiliens erlangt hatte, in der Verlegung des Sitzes des →Governo Geral von Salvador de Bahia nach Rio de Janeiro 1763 zum Ausdruck. Wohl um der Außenwelt möglichst wenig von den Reichtümern M. G.s bekannt werden zu lassen, wurde die Tätigkeit religiöser Orden untersagt, mit der Folge, daß sich Laienbruderschaften in großer Zahl bildeten. Zur Mitte des 18. Jh.s wurde M.G. überdies Sitz eines Erzbistums. Im Gegensatz zur extensiven Plantagenwirtschaft auf dem Land im brasilianischen Nordosten, begünstigte der Bergbau die →Urbanisierung. Rasch entstand eine Stadtkultur, welche Grundlage für eine kulturelle Blüte im 18. Jh. war: (Vila Rica de) Ouro Preto war schnell die größte Stadt Brasiliens, die drittgrößte in den beiden Amerikas und verfügte über das erste Theater →Lateinamerikas. Dort und in Städten wie Diamantina, Sabará, São João del Rey, Congonhas oder Mariana bildete sich eine v. a. sakrale Kunst in Architektur und Bildhauerei, die zu den Höhepunkten des Barockzeitalters zählen. Gegen Ende der Kolonialzeit ging die Goldproduktion wieder zurück und ein wachsender Unmut über die Besteuerung durch die Krone entlud sich, beschleunigt durch republikanisches Ideengut und die Vorbilder in Frankreich und den →USA, in einer rasch niedergeschlagenen Revolte, die
mi rA n dA , f rA n ci s co d e
später als Symbol des Unabhängigkeitswillens von M.G. und ganz Brasiliens Bedeutung erlangen sollte. Kenneth Maxwell, Conflicts and conspiracies, Cambridge u. a. 1973. Adriana Romeiro, Paulistas e emboabas no coração das Minas, Belo Horizonte 2008. CHRI S T I AN HAUS S E R
Miranda, Francisco de, * 28. März 1750 Caracas, † 14. Juli 1816 Cadiz, □ unbekanntes Massengrab des Militärgefängnisses Penal de las Cuatro Torres im Arsenal La Carraca in San Fernando / Cadiz, rk. Sohn des von den kanarischen Inseln nach Caracas eingewanderten Sebastián de M. Ravelo und der Caraqueña Francisca Antonia Rodríguez de Espinoza; Vater M. war mit Stoffhandel und Schmuggel, v. a. von Leinenstoffen vom dän. St. Thomas (→Karibik) gegen →Kakao, reich geworden, hielt einen eigenen Laden und ermöglichte M. ein Universitätsstudium in Caracas. Als Sebastián de M. seinen Status auch als Offizier der Kolonialmilizen zum Ausdruck bringen wollte, kam es zum Konflikt mit der extrem konservativen kreolischen (→Kreole) Oligarchie, u. a. mit dem Vater von Simón →Bolívar. M. ging auf Kosten seines Vaters nach Spanien, lernte Sprachen, begann seine berühmte Bibliothek anzulegen und beschäftigte sich mit der Philosophie der →Aufklärung. 1772 kaufte er, ebenfalls mit Geld des Vaters, von Juan Gaspar de Thurriegel (eigentlich Johann Kaspar von Thürriegel, preußischer Untertan und Mitarbeiter des span. Reformers Pablo de Olavide) ein Kapitänspatent für den Gegenwert von 8 000 Silberpesos und trat 1773 den Dienst in der nach preußischem Vorbild reformierten span. Infanterie an. Der Dienst führte ihn zunächst nach →Marokko (Melilla, Expedition gegen →Algier) und 1780– 1783 als Adjutant des Generalkapitäns nach →Kuba. Von dort aus nahm M. sehr erfolgreich an der Rückeroberung Floridas (Pensacola 1781) sowie der →Bahamas teil, die erheblich zum Sieg der Amerikaner im Krieg um die Revolution der 13 Kolonien und die Gründung der →USA beitrugen. M. wurde zum Oberstleutnant befördert, mußte aber wegen Intrigen, Schmuggelvorwürfen und Konflikten 1783 aus Kuba in die eben gegründeten USA fliehen. Dort traf er mit →Washington, Hamilton, Knox, John →Adams und Lafayette zusammen und äußerte erste Pläne für sein „América“-Konzept (→Lateinamerika). 1784 begab sich M. nach London und begann seine große Tour durch Alteuropa vor der großen Frz. Revolution (bis 1789): Niederlande, das Reich, Schweiz, Italien, Griechenland, →Osmanisches Reich (Konstantinopel), Russ. Reich (Bekanntschaft mit →Katharina der Großen), Polen, Finnland, Skandinavien, Reich, Schweiz und Frankreich, wo M. die Eröffnung der Generalstände beobachtete. Auf der Tour durch das „Europa der Aufklärung“, die er in seinen Tagebüchern festhielt, studierte M. Gesellschaftsformen, Militärsysteme, Reg.s- und Herrschaftsformen sowie Kunst, Sprachen und Alltagsleben und entwickelte weitere Ideen und Elemente seines „América“-Konzepts (u. a. Colombeia/ Colombia) sowie Pläne für eine militärisch kontrollierte Befreiung Span.Amerikas unter Ägide einer Schutzmacht (Frankreich, Großbritannien oder USA). 1792–1795 wirkte M. als Feldmarschall und General der frz. Armee, trug zum Sieg
in der Schlacht von Valmy (Sept. 1792) bei und wies den Plan der Brissotisten, ihn zum Militärchef einer Expedition gegen die Sklavenrevolution auf Saint-Domingue / Haiti zu machen, zurück. Als Anhänger der Girondisten geriet M. ins Visier der Jakobiner, wurde eingekerkert (u. a. La Force) und wäre beinahe auf der Guillotine geendet. Nach Ende der Jakobinerdiktatur befreit, gründete M. eine Geheimorganisation (Junta) zur Befreiung des „Kontinents Hispanoamerika“ und begab sich 1798 wieder nach London, wo er Verhandlungen mit William Pitt führte und in einem ersten liberalen Verfassungsprojekt 1798 das zukünftige unabhängige Span.-Amerika skizzierte (in der konstitutionellen Form wie Großbritannien mit einem „Inka“ an der Spitze; Territorium: Westgrenze im Norden der →Mississippi von der Mündung bis zur Quelle, von dort bis zum Pazifikküste, diese südlich bis Kap Hoorn, von dort (Ausnahmen: →Brasilien und Guayanas) wieder bis zur Mississippimündung, von allen Inseln sollte die neue „puissance purement terrestre et agricole“ nur Kuba behalten). M. ließ auch die Carta a los españoles americanos [Brief an die span. Amerikaner] des peruanischen →Jesuiten Juan Pablo Viscardo y Guzmán drucken. In London entwarf M. nach Verhandlungen mit N. Vansittart unter dem Titel A los pueblos del continente Colombiano alias Hispano-América [An die Völker des Kolumbianischen Kontinents alias HispanoAmerika, 1801] den neuen Plan einer provisorischen und föderalen Reg. (1801). M.s Haus Nr. 27 in der Grafton Street (heute Museum im Besitz →Venezuelas) wurde zum Zentrum der anti-span. Opposition sowie von Kaufleuten im Südamerikahandel und beherbergte eine der größten Bibliotheken; als Katholik heiratete M. heimlich seine Haushälterin Sarah Andrews (zwei Söhne: Francisco und Leandro). Verzweifelt über die Politik Frankreichs und Großbritanniens, versuchte M. 1805/06 erfolglos, formale Unterstützung der US-Reg. zu erlangen. Mit Hilfe von Freunden und Kaufleuten brachte er ein Schiff und eine Expeditionstruppe zusammen, die er mit Hilfe haitianischer Generäle in Jacqmel an der Südküste der Insel verstärkte, wo am 12.3.1806 erstmalig auf der Korvette Leander die Farben gehißt wurden, die noch heute die Staatsflagge Venezuelas bilden. Zwei Angriffe auf die Generalkapitanie (Span.-Amerika) Venezuela scheiterten, obwohl es dem Expeditionskorps gelang, die Städte Vela de Coro und Coro im Aug. 1806 einzunehmen und eine Proclama a los pueblos del continente Américo-Colombiano (Proklamation an die Völker des Am.-Kolombianischen Kontinents, 1806) zu verbreiten. Über die engl. Karibik kehrte M. nach London zurück. Nach der Rebellion der Oligarchien von Caracas traf 1810 eine Delegation der Junta von Caracas in London ein, der auch Simón Bolívar angehörte. Nach gemeinsamen Seminaren und gescheiterten diplomatischen Verhandlungen lud Bolívar M. ein, nach Venezuela zurückzukehren. M. spielte in Caracas eine entscheidende Rolle bei der Etablierung einer neuen politischen Kultur (Clubs, Zeitungen, Straßenmanifestationen, Beteiligung von Farbigen (pardos, →Rassismus) und bei der Proklamation der Unabhängigkeit (5.7.1811). Die Anführer der oligarchischen Rebellion hatten Ende 1810 den offenen Krieg gegen Städte vom Zaun gebrochen, die sich der 545
m is c he h e n, m i s c h eh e n v er b o t e
Unabhängigkeit unter der Führung von Caracas nicht anschließen wollten. Die Opposition sammelte sich um span. Marineinfanterietruppen unter dem Kanarier Domingo Monteverde und unter der Amtskirche, dazu kamen Sklavenaufstände sowie Aktionen farbiger und kanarischer Milizen. M. wurde wegen seiner militärischen Erfahrungen zum „Generalissimus der Heere Venezuelas“ ernannt. Den Bürgerkrieg „ohne Revolutionäre“ versuchte er als „Krieg der Linienregimenter“ v. a. mit Hilfe ausländischer Offiziere zu führen. Die Kolonialmilizen waren aber keine Linienregimenter in europäischer Militärtradition. Nach schweren Niederlagen nahm M. Friedensverhandlungen mit Monteverde auf und plante per Schiff zu fliehen. In der Nacht zum 31.7.1812 verhafteten junge Milizoffiziere, unter ihnen Simón Bolívar, M. und lieferten ihn an Monteverde aus. Nach langer Festungshaft in Puerto Cabello (Venezuela), San Juan de Puerto Rico und Cadiz sowie mehreren, von seinen engl. Freunden (v. a. dem Kaufmann John Turnbull) unterstützten Fluchtversuchen, starb M. 1816 im Gefängnis in Cadiz. Im heutigen Venezuela ist M. Teil des weit verbreiteten Bolívar-Mythos (→Bolivarianismo). Er gilt als precursor (Vorläufer) Simón Bolívars, „erster Antiimperialist“ und geistiger Schirmherr der bolivarianischen Milizen. Zur historischen Erinnerung seiner Leistungen in der Frz. Revolution findet sich sein Name u. a. am Arc de Triomphe in Paris. Karen L. Racine, Francisco de Miranda, Wilmington 2003. Michael Zeuske, Francisco de Miranda und die Entdeckung Europas, Hamburg / Münster 1995. Michael Zeuske, Francisco de Miranda, in: Bernd Hausberger (Hg.), Globale Lebensläufe, Wien 2006, 117–142. MI CHAE L Z E US KE
Mischehen, Mischehenverbote. Als M. wurden – in Anlehnung an konfessionell gemischte Ehen im Dt. Ksr. – Ehen bezeichnet, die zwischen Europäern und Indigenen in den Kolonien geschlossen wurden. Bis auf sehr wenige Ausnahmen handelte es sich dabei um Ehen zwischen europ. Männern und einheimischen Frauen, da die Zahl der europ. Männer die der weißen →Frauen in den Kolonien weit überstieg. Die Zahl der viel diskutierten M. war sehr gering: 1913 gab es 46 registrierte M. in Südwestafrika, 22 in Neuguinea (inkl. Inselgebiet), 76 in →Samoa und keine einzige in Ostafrika, →Kamerun und →Togo. Während in der Frühphase der Kolonialzeit die M. teilweise sogar positiv bewertet wurden, wurden mit dem Anwachsen der „Mischlingsbevölkerung“ auch die M. immer mehr problematisiert. M. zogen außerdem staatsbürgerliche Fragen nach sich: Sollten die einheimischen Ehefrauen dt. Männer und die aus diesen Verbindungen entstehenden Kinder die dt. Staatsbürgerschaft erhalten, so hatte das die Existenz farbiger Deutscher zur Folge, was man verhindern wollte. Zudem schürte die Argumentation, daß Europäer durch die Ehe mit Einheimischen auf deren vermeintlich niedrigere Kulturstufe „herabgezogen“ würden, die →Angst vor dem sog. „→Verkaffern“, „Verniggern“ oder „Verburen“. Es herrschte Konsens darüber, daß den aus der „Rassenmischung“ entstehenden Kindern nur die negativen Eigenschaften der beiden „Rassen“ vererbt würden und 546
somit beide „Rassen“ degenerieren würden. Der als bedrohlich empfundenen „Rassenmischung“ versuchte man durch die planmäßige Entsendung weißer Frauen in die Kolonien sowie durch Sanktionen und Verordnungen entgegenzuwirken. Das vorrangige Ziel dabei war zu verhindern, daß Indigene durch die Eheschließung die dt. Staatsbürgerschaft erwerben konnten. In →Dt.Südwestafrika waren seit 1905 keine standesamtlichen Trauungen von „gemischten“ Paaren mehr möglich, ab 1906 war auch ihre kirchliche Trauung nicht mehr erlaubt. 1908 wurden sogar alle M. annulliert, die vor 1905 geschlossen worden waren. Europäer, die mit Indigenen eine Ehe eingegangen waren, verloren ihre bürgerlichen Ehrenrechte, sie durften also nicht mehr wählen und keinen Grundbesitz erwerben; ihre Kinder galten von nun an als „Eingeborene“. Auch in der Kolonie →Dt.-Ostafrika wurden M. 1906 verboten. 1912 erließ Wilhelm →Solf als Staatssekretär im →Reichskolonialamt ein generelles Mv. für Samoa, bestehende Ehen wurden hier aber nicht annulliert. Während in Südwestafrika die Siedlerschaft zu den treibenden Kräften gegen die M. gehörte, widersprach die Initiative der Reg. in Samoa der toleranteren Einstellung vieler Kolonisten. Anders als in Dt.-Südwestafrika und Dt.-Ostafrika handelte es sich beim Mv. für Samoa nicht um eine lokale Maßnahme der dten. Kolonialverwaltung, sondern um ein auf Reg.sebene erlassenes Dekret, was zu Legitimitätsdebatten im Reichstag führte. Eine Mehrheit von Sozialdemokraten, Zentrum und Freisinnigen sprach sich ebenso wie die Missionen gegen ein gesetzliches Mv. aus. Die Gegner des Verbots beklagten v. a., daß das Recht des dt. Mannes, sich seine Braut frei zu wählen, durch die M.gesetzgebung beschnitten würde. Außerdem befürchtete man, daß durch Mv. die Zahl der Konkubinate und unehelichen Kinder zunähme. Die für →Togo und Dt.-Ostafrika geplanten Mv. wurden nicht mehr umgesetzt. Vor 1914 konnte man sich nicht auf ein allg. gültiges koloniales M.gesetz einigen, die Rechtslage blieb uneinheitlich. Die historische Forschung griff immer wieder die Frage auf, ob die kolonialen M. als Vorläufer der NS-Rassengesetze gewertet werden könnten. Diese Parallelisierung wurde jedoch mehrheitlich zurückgewiesen, da es während der Kolonialzeit nie zu einem M.gesetz kam, sondern „nur“ verwaltungsinterne Anordnungen vorlagen. Zudem speiste sich die Rassenpolitik der NS-Zeit primär aus antisemitischen Vorurteilsbeständen, die die M.debatte zur Kolonialzeit nicht beeinflußten, so daß auch inhaltlich keine kontinuierliche Entwicklung vorliegt. Q: Akten des Reichskolonialamts zu Mischehen (Bundesarchiv): BAB, R 1001, 5417; BAB R 1001, 5418; BAB, R 1001, 5423; BAB, R 1001, 5424. L: Frank Becker (Hg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung, Stuttgart 2004. Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche, Frankfurt/M. 2001. Birthe Kundrus, Von Windhoek nach Nürnberg?, in: Dies. (Hg.), Phantasiereiche, Frankfurt/M. 2003, 110–131. LIV IA LO O SEN Mischsprachen. Abweichend von der untechnischen Gebrauchsweise des Begriffs M. verstehen Linguisten hierunter die weltweit selten anzutreffende Kombination verschiedener Komponenten unterschiedlicher Herkunft
m i tA
in ein und derselben Sprache. Das Paradebeispiel ist die u. a. in →Kolumbien und →Ecuador gesprochene Media Lengua. Diese Sprache zeichnet sich dadurch aus, daß fast der gesamte Wortschatz aus dem Spanischen stammt, während alle grammatischen Elemente („Suffixe“, „Funktionswörter“) aus dem Quechua kommen. Etwas anders gelagert ist der Fall des kanadischen →Michif, das die Kombination von nach der Grammatik des Cree gestalteten Verben und frz. Substantiven (mit ihren Artikeln usw.) aufweist. Beide Sprachen sind als Folge der europäischen Kolonisation auf dem am. Doppelkontinent entstanden; M. dieses Typs trifft man jedoch auch außerhalb von Kontexten mit europäischer Beteiligung an. Sowohl die Media Lengua als auch das Michif werden muttersprachlich erlernt und verwendet und dienen der Kommunikation innerhalb einer sozial bzw. ethnisch von der Mehrheitsbevölkerung des Landes unterschiedenen Gruppe. Peter Bakker, Yaron Matras (Hg.), The Mixed Language Debate, Berlin New York 2003. T HOMAS S TOL Z Mississippi. 1. Fluß: Der M. River ist mit 3 778 km der längste Fluß Nordamerikas. Er entspringt dem Lake Itasca in Minnesota und durchfließt von Nord nach Süd die acht US-Bundesstaaten Minnesota, Illinois, Missouri, Kentucky, Arkansas, Tennessee, Mississippi und Louisiana bevor er südlich von New Orleans in den Golf von →Mexiko mündet. Sowohl der Missouri, als auch der Ohio River münden in den M. In voreuropäischer Zeit siedelten im M.tal die zivilisatorisch wohl am weitesten fortgeschrittenen Kulturen Nordamerikas, so einige Jh.e vor und nach Chr. die Hopewell-Leute (→HopewellKultur), die bereits Kultstätten und feste Plätze errichteten, sowie die →Natchez, die eine klare Klassenhierarchie kannten und deren Herrscher „Große Sonne“, der Überlieferung span. und frz. Entdecker nach, in einem dem Absolutismus vergleichbaren System regierte. Der Spanier Hernando de Soto (1496/1500?–1542) entdeckte 1541 als erster Europäer den M. 1687 fuhr R. R. de →La Salle (1643–1687) vom Ohio her kommend als erster Europäer den M. hinunter, nahm dabei die am Fluß liegenden Ländereien für die frz. Krone in Besitz und gab ihnen in Anlehnung an den frz. Kg. Ludwig XIV. den Namen Louisiana. 1699 wurde Fort La Balize als erste europäische Siedlung am M. errichtet. Wegen der enormen Handelskapazitäten, v. a. →Pelze, war das Gebiet entlang des M. sowohl bei frz. als auch bei brit. Siedlern sehr gefragt. Nach dem →Siebenjährigen Krieg wurde 1763 im Frieden von Paris das Gebiet östlich des M. dem Sieger Großbritanien zugesprochen. Bereits 1762 hatte Frankreich den westlichen Teil (Teile des heutigen Minnesota, Iowa, Missouri, Arkansas, Kansas, Oklahoma, Colorado, Wyoming, Idaho, Montana und Louisiana sowie North und South Dakota und Nebraska) an Spanien abgetreten. Der M. bildete nun die Grenze zwischen brit. und span. Kolonialreich in den späteren →USA. 1800 gelang es Frankreich in einem Geheimvertrag, das 1762 an Spanien abgegebene Territorium wiederzuerlangen. Nach dem am. Unabhängigkeitskrieg mußten die Briten 1783 im Frieden von Paris alles Gebiet östlich des M. an die USA abtreten. 1803 erreichten die US-am. Unterhänd-
ler R. Livingston (1746–1813) und James →Monroe (1758–1831) im →Louisiana-Purchase schließlich den Erwerb des westlichen Louisiana-Territorium, das 1800 von Spanien wieder an Frankreich gegangen war. Napoleon I. war auf Grund seiner europäischen Politik und der Seeblockade Großbritanniens nicht mehr an dem Gebiet interessiert und verkaufte es den USA für 15 Mio. US-$. Von nun an war der M. ein rein US-am. Fluß, der mit dem Aufkommen der Dampfschiffahrt (→Schiffahrt) zu einer zentralen Verkehrsader der USA wurde. Gleichzeitig aber blieb der M. weitgehend die Grenze zwischen dem immer dichter besiedelten Osten und dem sprichwörtlich gewordenen ‚Wilden Westen‘. Schlagworte wie →Frontier oder Wilderness waren bis Mitte des 19. Jh.s eng mit dem M. verbunden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, im wesentlichen nach dem →Am. Bürgerkrieg, begann die systematische Besiedlung des zwischen M. und Pazifik gelegenen Landes. 2. US Bundesstaat: M., mit der Hauptstadt Jackson, umfaßt ein Gebiet von 124 000 km² mit ca. 2,7 Mio. Ew. 1798 schuf der US-Kongreß das Territorium M., das 1804 um einen Streifen Land bis zur Grenze von Tennessee erweitert wurde. Nach der Abtrennung des heutigen Staates Alabama trat M. 1817 als 20. Staat der Union bei. Im Febr. 1861 schloß sich M. den Confederate States of America an, auf deren Seite der Staat im Bürgerkrieg kämpfte. Nach dem Sieg der Nordstaaten wurde M. 1870 wieder in die Union aufgenommen. M. war 1966 der letzte Staat, der die Prohibition abschaffte. John Ray Skates, Mississippi – A Bicentennial History, New York / Norten 1979. FLO R IA N VATES Mita. Administrativ organisiertes System zur Versorgung des Edelmetallbergbaus im spanischen Peru mit indigenen Arbeitskräften. Die überwiegend in extremen Höhenlagen Hochperus, v. a. im heutigen Bolivien, seit ca. der Mitte des 16. Jh.s aufgefundenen reichen Silbererzvorkommen, wie etwa der Cerro Rico de Potosí, konnten auf Grund der natürlichen Gegebenheiten weder mit natürlichen Ressourcen und technischem Gerät noch mit Arbeitskräften aus der näheren Umgebung der sich herausbildenden Bergwerkszentren versorgt bzw. betrieben werden. Ebenso wie zur Versorgung dieser entstehenden Bergwerkszentren weitgespannte, bis ins westliche Argentinien reichende Handelsnetzwerke entstanden, mußten Arbeitskräfte aus dem ganzen zentralen Andenbereich mobilisiert werden. Diese Funktion erfüllte die an vorspanische Mechanismen anknüpfende M., in Teilaspekten auch R(epartimiento) genannt. Teils bemühten sich die Kronbehörden auf freiwilliger Basis Abeitskräfte zur festen Ansiedlung im Umfeld der Minendistrikte anzusiedeln, teils geschah dies durch die Verpflichtung der indigenen Munizipien, in jährlichem Wechsel Kolonnen von Arbeitskräften in die z. T. weit entfernten Bergbauzentren zu entsenden. Diese Mobilisierung erfolgte nach vorgegebenen Regeln unter den Tributpflichtigen (z. B. war indigener Adel exempt) der Dörfer. Das System förderte direkt oder indirekt die Binnenmigration, da einesteils die Dienstverpflichteten von Familienmitgliedern begleitet wurden, andererseits tributpflichtige Männer sich vorübergehend in anderen Dörfern nieder547
m it t e l A f r ikA
ließen, wo sie als Fremde (forasteros) nicht registriert waren und folglich nicht erfasst wurden. Die periodisch aktualisierten Tributmatrikel der Dörfer bildeten mithin eine wesentliche (Rechts-)Grundlage des Systems. Die Anzahl der zu stellenden arbeitsfähigen Männer wurden von den indigenen Munizipalautoritäten gemeinsam mit dem →Corregidor de indios für festgelegte Zielorte ausgewählt, wo sie von den aufnehmenden Autoritäten untergebracht, zur Arbeit eingeteilt und geistlich betreut wurden. Die vergleichsweise hohe Entlohnung für die harte Arbeit, die auch einen gewissen Prozentsatz des in jeder Schicht geförderten Erzes zur eigenen Vermarktung umfasste, begünstigte die Akzeptanz. Nach Ablauf der vorgesehenen Dienstpflicht von einem Jahr konnten die Betroffenen entweder in ihre Dörfer zurückkehren oder sich dauerhaft im Umfeld des Bergbauzentrums niederlassen. Im weiteren Verlauf der Kolonialzeit verlor das System an Bedeutung. Es war konfliktträchtig, forderte viele Opfer, trug zu erhöhter Mobilität und sozialer Differenzierung der Bevölkerung bei. Peter Bakewell, Miners of the Red Mountain. Indian Labor in Potosí, 1545–1650. Albuquerque, NM 1984. El oro y la plata de las Indias en la época de los Austrias. Madrid 1999 (Ausstellungskatalog). HORS T P I E T S CHMANN
„Mittelafrika“. Den tatsächlichen dt. afr. Kolonialbesitz zu erweitern, dienten immer wieder Pläne, anderen macht- oder wirtschaftspolitisch schwächeren Nationen ihren „Anteil an Afrika“ abzukaufen oder abzunehmen. Dabei handelte es sich v. a. um Teile der port., belg. oder frz. afr. Kolonien, die als Ergänzungsräume für das „dt. →Indien“ in Afrika dienen sollten. Vorstellungen von einem im mittleren Afrika zu schaffenden kolonialen Großreich als einem „dt. Indien“ waren bereits in der vorkolonialen Propaganda aufgetaucht. Pläne eines „M.“ finden sich ferner bei den Kolonialconquistadoren Carl →Peters (von den Nilquellen (→Nil) bis zum Sambesi) und →Emin Pascha, schon um auf diese Weise den engl. Bestrebungen einer Verbindung vom Kap bis →Kairo einen Riegel vorzuschieben. Während namentlich die Alldeutschen das Projekt einer großen Kolonie „Dt.-M.“ propagandistisch verfolgten, diente nach dem Scheitern der dt. Marokko-Politik „M.“ einer einflußreichen Gruppe dt. Politiker und Wirtschaftsvertreter auch als Mittel der Verständigung mit England. Anstelle einer Rivalität in der Flotten- und Wahlkampfpolitik plädierten sie unter der Devise „dt. Weltpolitik und kein Krieg“ für einen dt.-engl. Kolonialinteressenausgleich in Afrika. Während des Ersten Weltkriegs wurde „M.“ als koloniale Entsprechung zu dem kontinentalen Kriegsziel „Mitteleuropa“ in die dt. Kriegszielprogramme einbezogen. Vorgesehen war ein „dt. Indien“, das die zentralafr. Kolonien Frankreichs, Belgiens und Portugals einschloß. Im Dritten Reich tauchte schließlich das „M.“-Projekt in den Planungen für das künftige Kolonialreich wieder auf, nachdem die früheren dt. Kolonien in der Südsee und in China (→Kiautschou) bereits in der Weimarer Zeit aus dem Rückgabekatalog verschwunden waren. Das geplante „Mittelafr. Reich“, das sich vom Atlantischen bis zum →Ind. Ozean erstrecken sollte und dessen Konturen 548
ständig erweitert oder geändert wurden, war als kolonialer Ergänzungsraum für das „Neue Europa“ gedacht. Stalingrad (1942/43) beendete dann alle weiteren organisatorischen und planerischen kolonialen Aktivitäten. Carina Müller-Burbach, Die dt. Mittelafrikapläne bis 1914, Ergebnisse 1, Hamburg 1978, 70–129. Beatrix Wedi-Pascha, Die dt. Mittelafrika-Politik 1871–1914, Pfaffenweiler 1992. Rolf Peter Tschapek, Dt. Imperialismus und die port. Kolonien, Stuttgart 2000. H O RST G RÜ N D ER
Mittelamerika →Mesoamerika Mkwawa, Mkwavinyika, * 1855 Luhota, † 19. Juli 1898, □ der möglicherweise echte Schädel befindet sich im Mkwawa Memorial Museum in Kalenga (Tansania), autochthon Nachdem sein Vater Munyingunda (auch Munyigumba) die ca. 30 Hehe-Gruppen vereinigt hatte, suchte sich sein kriegserfahrener Sohn M. gegen die Etablierung der dt. Kolonialherrschaft zu wehren. Am 17.8.1891 vernichtete er ein 3 000 Mann starkes dt. Kommandounternehmen unter Leutnant Emil v. →Zelewski vollständig. Bis 1898 vermochte er den dt. Expeditionen in einem Kleinkrieg hinhaltenden Widerstand zu leisten, bevor er sich im Juli 1898 das Leben nahm, um nicht den Deutschen in die Hände zu fallen. Sein Schädel wurde nach Deutschland gebracht. Im →Versailler Vertrag, der auch die Rückgabe von Kunstwerken und Archiven regelte, wurde Deutschland verpflichtet, den „Schädel des Sultans Makaua“ der brit. Reg. zu übergeben. Er war indes unauffindbar. Erst 1954 wurde er in seine Heimat zurückgebracht. Martin Baer / Olaf Schröter, Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika. Spuren kolonialer Herrschaft, Berlin 2001. H O RST G RÜ N D ER
Mlapa →Togo, deutsche Schutzerklärung Moa. Der M. (dt: Henne) war ein flugunfähiger Laufvogel, der in historischer Zeit auf Neuseeland in elf Arten vorkam. Die meisten Arten waren truthahngroß, lediglich zwei Arten (dinornis novaezealandiae und dinornis robustus) erreichten eine Schulterhöhe von ca. 2 m und ein Gewicht von ca. 180–270 kg. Der M. hatte weder Fluchtreflexe noch Abwehrverhalten entwickelt, da er auf Neuseeland praktisch keine natürlichen Feinde besaß. Das machte ihn für die im 13. Jh. aus →Polynesien nach Neuseeland eingewanderten →Maori zu leichter Beute. Man geht davon aus, daß die meisten Arten bereits Ende des 14. Jh.s ausgerottet waren. Ob die ersten europ. Siedler noch M. gesehen haben, ist nicht geklärt. Atholl Anderson, Prodigious Birds, Cambridge 1989. Trevor H. Worthy / Richard N. Holdaway, The Lost World of the Moa, Bloomington 2002. C H R ISTO PH K U H L / H ER MA N N H IERY
Mobutu, Joseph-Désiré, * 14. Oktober 1930 Lisala / Kongo, † 7. September 1997 Rabat, □ Cimetière chrétien in Rabat, rk. M. wurde in Lisala (Provinz Equateur) als Sohn eines Kochs und Hausangestellten in ärmlichen Verhältnis-
m o gA d i s ch u
sen geboren. Er besuchte eine rk. Missionsschule in Coquilhatville (heute: Mbandaka), von der er wegen Ungehorsam 1950 verwiesen und in die Kolonialarmee geschickt wurde. Ab 1956 betätigte er sich als Journalist in Léopoldville (Kinshasa, →koloniale Metropolen), wo er Kontakte zur Unabhängigkeitsbewegung knüpfte. In der ersten Reg. der unabhängigen Demokratischen Rep. →Kongo ab Mai 1960 fungierte M. zunächst als Berater und stieg dann zum Stabschef der Armee auf. Protegiert von belg. und US-am. Diplomaten putschte er im Sept. gegen Premierminister →Lumumba, gab die Macht aber an eine zivile Übergangsreg. ab. Zum Ende der „KongoKrise“ am 25.11.1965 folgte der zweite Armeeputsch. 1966 ließ M. sich zum Präs. der Rep. ernennen, die er in →Zaïre umbenannte. Zu Beginn der 1970er Jahre benannte M. sich in „M. Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga“ um (etwa: „Der machtvolle Krieger, der durch seine Ausdauer und seinen unbeugsamen Siegeswillen von →Eroberung zu Eroberung schreitet und Feuer in seiner Spur hinterläßt“). M. galt als autoritärer Politiker mit einem Hang zum Persönlichkeitskult. In den folgenden Jahrzehnten überstand er zwei Rebelleninvasionen sowie den wirtschaftlichen Zerfall des Landes, den er durch ein ausgeprägtes Klientelsystem selbst beschleunigte. Anfang der 1990er Jahre geriet er durch eine einheimische Demokratie-Bewegung in die politische Defensive, konnte aber erst durch die militärische Gewalt einiger Nachbarländer und der von Laurent Désiré →Kabila geführten Rebellenbewegung im Mai 1997 gestürzt werden. Er starb im marokkanischen Exil. Michela Wrong, Auf den Spuren von Mr. Kurtz, Berlin 2000. AL E X VE I T Moctezuma (náhuatl Moteuhcçoma, Motecuhzoma, span. Montezuma, u. a.) ist eine solare Bezeichnung mit der Bedeutung „der Herr, der sich erzürnt zeigt“ und bezieht sich auf die Wolken bedeckte Sonne, die ihr Antlitz verhüllende, Schauder erregende Gottheit. Mehrere Persönlichkeiten in der Geschichte →Mexikos tragen diesen Namen. Die bekanntesten sind Herrscher des „Sonnenvolkes“ der Azteken. 1. M. I. oder auch Huehue M., „M. der Ältere“ (* 1397?) mit dem Beinamen Ilhuicamina, „Himmelsschütze“, einem Epitheton der Sonne, regierte als Mitbegründer des von den Mexica geschaffenen aztekischen Staatswesens nach seinem Onkel Itzcóatl von 1440–1469? als fünfter „Herrscher“ (Tlatecuhtli) und „Großer Sprecher“ (Huey Tlatoani) in Tenochtitlán, der ca. 1325 im See von Texcoco gegr. Hauptstadt im Hochtal von Anáhuac. Zusammen mit seinem einflußreichen Halbbruder Tlacaélel festigte er den sog. aztekischen Städte-Dreibund (T., Texcoco, Tlacopan), der die Unterwerfung anderer Staaten zum Zweck von Tributlieferungen zum Ziel hatte, förderte die Kultur und Wissenschaft (Ackerbau, Botanik, Medizin, Bildung) und erweiterte den Einfluß des Herrschaftsgebietes durch →Eroberungen (Chalco, →Cholula, Tlatlauhquitepec, Coixtlahuaca) und Handelsbeziehungen mit zentralmexikanischen Völkern bis in die Regionen des heutigen →Oaxaca sowie der Golfund Pazifikküste.
2. M. II. oder auch M. Xocoyotl, „M. der Jüngere“ (der letzte M., 1467?–1520) mit der angefügten Reverenzerweisung –tzin (Xocoyotzin), der Urenkel von M.I. und neunte Herrscher der traditionellen aztekischen Herrscherliste, folgte 1502 seinem Onkel Ahuítzotl im Amt. Kriegerische Expansion, Wirtschaft und weitgespannter Handel bis in die Maya-Territorien, ein effizientes Verwaltungswesen, ein Tribut- und Steuersystem als Klammer des Einflußgebietes, Bildung und Wissenschaft, Schrift und Literatur, Philosophie, Religion und Kunst schufen unter seiner Herrschaft ein mächtiges Imperium mit einer Metropole, die mit ihren Häusern, Pyramiden, Tempeln und Palästen, mit ihren Gärten, Aquädukten und Brücken die Städte des damaligen Europas an Größe und Glanz übertroffen haben soll. Bei der Eroberung von Tenochtitlán durch die Spanier und die mit ihnen verbündeten Tlaxcalteken wurde M. am 14.11.1519 gefangen genommen und starb unter nicht geklärten Umständen wahrscheinlich am 30.6.1520 in Haft. Einheimische Darstellungen und span. Quellen zeichnen je nach Interessenlage ein unterschiedliches Bild von diesem Herrscher und seiner Regentschaft. Es reicht von würdevollem Ernst bis Unbarmherzigkeit, von Gottesfürchtigkeit bis religiösem Fanatismus, von Klugheit bis Arroganz. Die vielen kolonialen Berichte über zahllose sakrale Menschentötungen und über düstere Vorzeichen, die bereits vor dem Einfall der „Weißen Götter“ den Untergang des →Aztekenreiches angekündigt haben sollen, sowie über M.s angebliche Überzeugung, der Eroberer Hernán →Cortés sei der laut Verheißung wiederkehrende toltekische Kulturbringer Quetzalcóatl, sind Teil jener Übertreibungen bzw. Erfindungen aus der Zeit nach der Eroberung, die in Europa die „Bilder“ von →Amerika verzerrt oder ausgeschmückt und in der Folgezeit die publizistische „Zudeckung“ des „neu entdeckten“ Kontinents bis in die Gegenwart gefördert haben. Q: Berthold Riese, Crónica Mexicáyotl, Sankt Augustin 2004. Eberhard Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 1, München 1986, Bd. 2, München 1984. L: Cottie A. Burland, Montezuma, Würzburg 1976. Felix Hinz, „Hispanisierung“ in Neu-Spanien 1519–1568, Hamburg 2005. RICH A R D N EBEL
Moctezuma, Isabel →Isabel Moctezuma Mogadischu. Die Hauptstadt des Staates →Somalia geht auf eine Gründung durch arab. Kaufleute im 10. Jh. zurück. Ab dem 16. Jh. begann eine lange Phase port. Herrschaft mit zwei Unterbrechungen: 1698 übernahmen →Araber aus Oman die Herrschaft, in der Mitte des 18. Jh.s Araber aus →Sansibar. 1871 wurde M. vom Sultan von Sansibar, Barghas bin Said, eingenommen, der sie 1892 an Italien verpachtete. 1905 wurde das Gebiet von Italien aufgekauft, M. wurde zur Hauptstadt der Kolonie It.-Somaliland. 1941 geriet sie wie ganz It.-Somaliland unter brit. Verwaltung. Nach einer Phase der →Treuhandschaft der UN (1950–1960) wurde Somalia unabhängig und M. Hauptstadt. Über die Ew.-zahl gibt es kaum verläßliche Angaben. Schätzungen gingen für 2006 von über einer Mio. Ew. aus. Nach schweren Kämpfen sollen 549
m ogul n , mogul h er r s c h e r , m o g u lr ei c h
2007 ca. 600 000 Menschen die Stadt verlassen haben. Nach der Unabhängigkeit war Somalia eine Präsidialrep. unter Mohammed Siad Barre, der sein Amt zunehmend autoritär und diktatorisch ausübte. Dies führte zu einem Bürgerkrieg, in dessen Verlauf 1990 Rebellen des United Somali Congress (USC) in M. eindrangen und den Präs. vertrieben. Danach fanden in der Stadt heftige Kämpfe um dessen Nachfolge zwischen den beiden USC-Führern Ali Mahdi Mohammed und Mohammed Farah Aidid statt. Im Apr. 1992 begann die UNO-Mission UNOSOM I mit den Zielen, die Nahrungsversorgung der Bevölkerung sicherzustellen und den Bürgerkrieg zu beenden. Die Nahrungsmittellieferungen wurden jedoch häufig geplündert und die Verteilung behindert, was zu einer akuten Hungersnot führte. Von Dez. 1992 bis März 1993 lief die erfolgreiche Operation Restore Hope zur Stabilisierung der Lage. Anschließend sollte UNOSOM II (Operation Continue Hope) für Frieden und stabile politische Strukturen sorgen. Nach gescheiterten Friedensverhandlungen kam es allerdings zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Blauhelmen und Anhängern Aidids. In der Schlacht von M. (3./4.10.1993) gab es schwere Verluste auf Seiten der Somalier und der USArmee, was die US-Reg. veranlaßte, die Mission abzubrechen. Danach war M. ohne Reg., und verschiedene Kriegsherren lieferten sich Kämpfe. Eine 2000 gebildete Übergangsreg. konnte nicht in M. arbeiten. M. wurde ab Juli 2006 von der „Union islamischer Gerichte“ kontrolliert und befriedet. Sie wurde im Dez. 2006 von einer Übergangsreg. vertrieben, die starke militärische Unterstützung durch →Äthiopien erhielt. 2007/08 führten außerordentlich schwere, verlustreiche Kämpfe zwischen dieser Reg. und ihren Gegnern zur Flucht zahlreicher Ew. aus M. Auch nach dem Abzug der äthiopischen Truppen und der Wahl eines neuen Präs. Anfang 2009 ist M. ein unsicherer und rechtsloser Raum geblieben. AL KE DOHRMANN
Moguln, Mogulherrscher, Mogulreich. Das M.r. ist nach dem →Delhi-Sultanat (1206–1414) und den anschließenden Dynastien der Sayyiden (1414–51) und der Lodis (1451–1526, →Lodi-Dynastie) der vierte musl. Herrschaftsverbund in Nordindien. Sein „Gründer“, der timuridische Lokalherrscher Babur, hatte sich von seinem Stammsitz im Ferghana-Tal (Zentralasien) aus, nach einigen vergeblichen Versuchen, Samarkand zu erobern, in Kabul festsetzen können. Von dort zog er nach →Indien, wo seine Truppen 1526 bei Panipat dank des Einsatzes von Gewehren und Kanonen und der hohen Beweglichkeit der Reiterei gegen die Lodis siegen konnten. →Delhi wurde eingenommen, doch blieb der Widerstand der →Rajputen unter ihrem Führer Rana Sanga aus Mewar eine große Bedrohung. 1527 unterlagen die Rajputen schließlich den timuridischen Heeren bei Khanua. Als Babur 1530 starb, existierte jedoch noch kein gefestigtes M.r. So mußte sich sein Nachfolger Humayun gegen seine Brüder, verschiedene rebellische musl. Heerführer in →Gujarat und Bihar (→Bihar und Orissa) sowie gegen verbliebene regionale Statthalter der Lodis durchsetzen. 1539 erlitt er eine entscheidende Niederlage gegen einen von diesen, Sher Shah Sur. Humayun blieb nur die 550
Flucht in den Iran, während Sher Shah für einige Jahre die Dynastie der Suriden in →Agra etablieren konnte. Erst 1545 gelang dem M.h. mit Hilfe persischer Truppen die Rückkehr nach Indien. In der 2. Schlacht bei Panipat vernichtete 1556 sein Sohn und Nachfolger →Akbar die letzten Suriden. Akbar selbst (reg. 1556–1605) leitete zahlreiche erfolgreiche militärische Unternehmungen, durch die das Herrschaftsgebiet der M. in großem Umfang erweitert wurde. Wesentlich für die Stabilität des Reiches war darüber hinaus die umfassende Unterwerfung der Rajputenstaaten. Akbar steht ferner für eine Reihe einschneidender Reformen. Er zentralisierte die Provinzverwaltung und das Steuersystem (→Steuersysteme), wobei er die Steuersätze unter Berücksichtigung der teils erheblichen regionalen Preisunterschiede anhand von Durchschnittswerten bestimmen ließ. Neben den Kronländern gab es Steuerbezirke, in denen genau taxierte Ländereien (jagir) von einem Verwalter kontrolliert wurden. Diesem oblag v. a. die Verantwortung für die Steuereintreibung. Das Land blieb aber stets Eigentum des Staates. Alle Angestellten – Militärs wie Zivilisten – erhielten während Akbars Reg.szeit einen militärischen Rang von 10 bis 5 000. Auf dem Papier bedeutete die Zahl die Größe der zu befehligenden Reiter. Da diese aber meist nicht mit der Realität übereinstimmte, erschuf man ein doppeltes Rangsystem. Nun wurde die Besoldungsgruppe unabhängig von der Stärke der zu unterhaltenden Kavallerie aufgeführt. Sämtliche Ernennungen, Rangerhöhungen und Absetzungen konnten nur von dem Herrscher selbst durchgeführt werden, keiner der Ränge war erblich. Die Entlohnung erfolgte in bar oder durch die Zuteilung der Erträge eines Landstückes. Der akute Mangel an zur Verfügung stehenden Ländereien für diesen Zweck machte eine permanente Ausdehnung des Reiches notwendig. Wichtig für die ökonomische Infrastruktur war auch ein stabiles Währungssystem (→Währung). Akbar machte daher die Silberrupie mit einem Gewicht von ca. 11,5 g zur geldwirtschaftlichen Grundeinheit. Hinzu kamen der goldene Mohur (mit einem Wert von 8 →Rupien) sowie verschiedene Kupfermünzen. Religionspolitisch verfolgte Akbar eine Synthetisierung der verschiedenen Religionskonzepte aus den islamischen und hinduistischen Traditionen (→Hinduismus, →Sufismus), die ihn als Herrscher selbst als maßgebliche religiöse Autorität propagierte. Sein Versuch in diesem Zusammenhang, eine neue pan-ind. Glaubensform zu entwickeln, war allerdings sehr umstritten und konnte sich nicht durchsetzen. Unter dem nächsten der M.h., →Jahangir (reg. 1605–1627), festigten sich die inneren Strukturen des Reiches. Zudem konnte auch der letzte Rajputenstaat in Udaipur unterworfen werden. Zu einer weiteren Ausdehnung des eigenen Einflußbereiches auf dem Dekkan kam es allerdings nicht. Für Unruhe sorgte dort v. a. der Aufstand des Prinzen und vorgesehenen Thronfolgers Khurram. Als hochgebildeter und künstlerisch vielseitig interessierter Herrscher zog Jahangir eine Reihe von Gelehrten und Dichtern an seinen Hof. Er selbst verfaßte eine Art Autobiographie (→Chroniken und Geschichtsschreibung), die hinsichtlich ihrer künstlerischen Gestaltung nicht hinter den ihm als Vorbild dienenden Memoiren Baburs zurücksteht. Nach Jahangirs
m o g u ln , m o g u lh errs ch er, mo g u lrei ch
Tod 1627 und der Entmachtung seiner einflußreichen Gemahlin Nur Jahan durch den Wesir Asaf Khan bestieg Khurram als Shah Jahan (reg. 1627–1657/58) den Thron. Die höfische Kultur, insb. die Architektur, aber auch die Dichtung und Miniaturmalerei (→Kunst) erlebten eine Zeit der Blüte. Als einen ganz bewußt geschaffenen Erinnerungsort herrschaftlicher Repräsentation kann man das berühmte Mausoleum des Taj Mahal deuten, das Shah Jahan für seine Frau Mumtaz Mahal († 1631) in Agra am Ufer der Yamuna zu errichten befahl. 1639 beschloß der Herrscher (Padishah) darüber hinaus, in der Nähe von Delhi eine neue, prächtige Hauptstadt zu gründen, Shahjahanabad. Politisch war Shah Jahan durchaus erfolgreich. 1633 war es ihm möglich, das schiitische Sultanat von Ahmadnagar dem M.r. einzuverleiben. 3 Jahre später folgten →Golkonda und →Bijapur. Dann aber hatte Shah Jahan einige Rückschläge hinzunehmen. Ein Feldzug nach Transoxanien scheiterte und mit den persischen Safawiden entbrannte ein langwieriger Streit um den afghanischen Handelsknotenpunkt Qandahar. Hinzu kamen Kämpfe seiner Söhne Dara Shikoh und Aurangzeb um die Macht. Als der Padishah 1657 erkrankte, ließen sich seine beiden anderen Sprößlinge, Shah Shuja in →Bengalen und Murad Bakhsh in Gujarat, zum Herrscher ausrufen. Aurangzeb siegte schließlich in diesem Bruderstreit und ließ seinen Vater 1658 gefangensetzen. Nicht besser erging es auch Dara Shikoh, den er öffentlich wegen Häresie anklagen und 1669 hinrichten ließ. Dara Shikoh hatte in seinen Schriften zu zeigen versucht, daß die seit dem 16. Jh. auf dem Subkontinent intensiv geführte geistige Auseinandersetzung musl. Denker mit den Vorstellungen der Hindus zu dem Versuch einer Symbiose beider Religionen führen konnte. Sowohl die in der breiten Bevölkerung populären hinduistischen Bhakti-Traditionen wie auch die in den →Sikhismus mündende Bewegung sind symptomatisch für die Anstrengungen, eine pragmatische Symbiose zwischen musl. und hinduistischen Glaubensvorstellungen zu erreichen. Vieles deutet darauf hin, daß in dieser Zeit neben den intellektuellen Versöhnungsbestrebungen Akbars und Dara Shikohs beinahe überall auf dem Subkontinent einfache Muslime und Hindus viele religiös konnotierte Bräuche (→Feste), Zeremonien und Glaubensinhalte miteinander teilten (→Orale Traditionen). In der Person des neuen M.h.s (reg. 1658–1707) fanden die konservativen islamischen Religionsgelehrten, die solche synkretistischen Tendenzen scharf verurteilten, ihren Fürsprecher. Aurangzeb galt als frommer Muslim, der die religiösen Pflichten streng befolgte. Der allg. Wein- und Opiumkonsum (→Opium) bei Hofe war ihm ein Dorn im Auge. Statt dessen suchte er das Gespräch mit den Religionsgelehrten, studierte den Koran, die islamischen Rechtstexte und beschäftigte sich ausgiebig mit den Schriften des bekannten musl. Theologen al-Ghazali († 1111). Während seiner Reg.s-zeit erfolgte aber auch die weitere Ausdehnung des Reiches nach Süden, zeitweise bis fast an die Südspitze des Subkontinents, jedoch auf Kosten einer massiven Finanzkrise. Seine Religionspolitik (u. a. Wiedereinführung der Kopfsteuer für NichtMuslime, Verbot des Neubaus von Hindu-Tempeln und Gotteshäusern anderer Glaubensgemeinschaften) sorgte
in diesem Zusammenhang für Unruhe in der Bevölkerung. Des weiteren rebellierten die wieder erstarkten, wenn auch untereinander zerstrittenen Rajputen. Auf dem Dekkan stellten neben Golkonda und Bijapur die →Marathen unter Führung →Shivajis eine ernsthafte Gefahr für Aurangzeb dar. Er verlagerte daher die Hauptstadt in die Region. 1686 konnte Bijapur erobert werden, ein Jahr darauf Golkonda, aber die Marathen blieben eine Bedrohung. 1674 ernannte sich Shivaji offiziell zum Kg. (chatrapati). Sein Sohn und Nachfolger Shambaji († 1689) konnte für einige Zeit auf dem Dekkan schalten und walten, wie er wollte, da Aurangzebs Kräfte durch den Kampf gegen die Afghanen im Norden des Reiches gebunden waren. Die Finanzierung der Kriegszüge erschöpfte das Reich, die hohen Steuerlasten führten zu Aufständen der bäuerlichen Jats um Delhi und Agra und der Sikhs im →Panjab (→Volksaufstände). In der Zeit, die Aurangzeb auf dem Dekkan zubrachte, hatten die engl., ndl. und frz. Handelskompanien (→Ostindienkompanien) in den einzelnen Regionen an politischem Gewicht gewonnen. Sie traten nun gegenüber den lokalen Verwaltungen als gleichberechtigte Machthaber auf und verhandelten mit den M.-Autoritäten auf Augenhöhe. Aurangzebs Erbe, Bahadur Shah (reg. 1707–1712), versuchte noch einmal, grundlegende Reformen durchzuführen, aber der Verfall des Reiches war schon zu weit fortgeschritten. Marathen und Briten bauten ihre Machtpositionen aus, die Provinzen wurden zu halbautonomen Staaten. Innere Machtkämpfe schwächten das Zentrum. Farrukh Siyar (reg. 1713–1719), der erst nach erbitterten und langwierigen Auseinandersetzungen mit seinen Brüdern an die Macht gelangte, konnte seine Position nicht festigen. Zwar söhnte er sich mit den Rajputen aus und sicherte 1717 der East India Company neben weitreichenden Privilegien auch den zoll- und abgabefreien Handel in Bengalen, Bihar und Orissa zu, doch das Reich war durch die Auseinandersetzungen an der Spitze gelähmt, überall fielen Tributärfürsten und Statthalter von der Zentralreg. ab. Schließlich marschierte der Statthalter auf dem Dekkan mit einem großen Heer, das zu großen Teilen aus Marathen bestand, in Delhi ein und beseitigte den Padishah. Wie sehr das M.r. als einheitlicher Herrschaftsverband an Kohärenz und Struktur verloren hatte, zeigte sich in den 1720er und 1730er Jahren zur Zeit der Reg. von Muhammad Shah (reg. 1719–1747). 1724 trat Muhammad Shahs Premierminister Asaf Jah zurück, um fortan als Nizam (→Urdu: „Verwalter“) von →Haiderabad auf dem Dekkan als praktisch unabhängiger Herrscher zu regieren. Damit gingen dem M.-Reich ⅓ der Staatseinkünfte und ¾ des Kriegsmaterials verloren. 1739 erfolgte der Einmarsch des persischen Herrschers Nadir Shah und die Plünderung Delhis. Die Regionalisierung der Macht setzte sich mit dem Sieg der Briten 1757 in der Schlacht von Plassey gegen den Nawab von →Bengalen fort. 1803 mußte Shah Alam II. (1759–1808) die Briten offiziell als Schutzmacht anerkennen (→British Raj). Das Ende der nominellen Herrschaft der M. kam 1858 nach der Niederschlagung des →Ind. Aufstands mit der Exilierung des letzten Herrschers, Bahadur Shah Zafar, nach →Birma. Das Reich wurde zur 551
m ohr e n
Kolonie Brit.-Indien. 1876 ließ sich Kg.in Victoria zur Ks.in von Indien krönen. Richard B. Barnett, North India Between Empires, Berkeley 1980. Stephan Conermann, Das Mogulreich, München 2006. John F. Richards, The Mughal Empire, Cambridge 1993. S T E P HAN CONE RMANN Mohawk →Bogaert, →Irokesen-Föderation Mohren. Die Präsenz dunkelhäutiger Menschen an europäischen Fürstenhöfen ist zwar vereinzelt schon im Mittelalter belegt, nahm aber seit dem 16. Jh. stark zu, als durch den atlantischen →Sklavenhandel mehr und mehr Menschen schwarzer Hautfarbe nach Europa gelangten und Territorialfürsten begannen, ihren Hofstaat um „Exoten“ aus fernen Weltgegenden (Afrika, Südund →Südostasien, →Amerika) zu erweitern. Herzog Wilhelm V. von Bayern nutzte seine Verbindungen nach Italien sowie zum Hause →Fugger, um 1570–1573 „M.“ für den Landshuter Hof zu erwerben. Im 17. und 18. Jh. entwickelte sich das Phänomen der „Hof- und Kammer-M.“ an den europäischen Höfen zu einer weit verbreiteten Erscheinung. Beispiele finden sich u. a. in Frankreich, Skandinavien und Rußland, doch war ihre Präsenz im Heiligen Römischen Reich auf Grund der Vielzahl der Territorien und der entspr. hohen Dichte der Fürstenhöfe besonders ausgeprägt. An den Höfen in Berlin, Dresden, Stuttgart, Wolfenbüttel und Kassel lebte zeitweilig eine größere Zahl von „Hof-M.“, doch auch im Hofstaat vieler kleinerer Fürstentümer befanden sich zumindest zeitweise „M.“. Diese kamen zumeist in jungen Jahren nach Deutschland und erfüllten v. a. repräsentative Funktionen. Als farbig, häufig in orientalischer Tracht gekleidete Pauker, Trompeter, Lakaien, Pagen, Kammerjungen und -mädchen mehrten sie Glanz und Pracht fürstlicher, adeliger und großbürgerlicher Haushalte, befriedigten das Bedürfnis des Barockzeitalters nach Exotischem und Kuriosem und zeugten vom Status und den Verbindungen ihrer Herren und Herrinnen. Sie finden sich auch auf zahlreichen barocken Gemälden. Der Status dieser Gruppe in Mitteleuropa war ambivalent: Während ihre Lebenserwartung oft niedrig und sie in hohem Maße vom Hofdienst und der Gunst ihrer fürstlichen Herren abhängig waren, deuten die Übernahme von Patenschaften durch Mitglieder der Hofgesellschaft, lange Dienstzeiten und persönliche Freiheit ebenso auf eine Integration in die ständische Gesellschaft hin wie die gründliche Ausbildung zahlreicher schwarzer Hofbediensteter und Musiker, ihre Eheschließungen mit einheimischen Frauen, feste Gehälter, Pensionszahlungen u. a. materielle Zuwendungen. Im späten 18. Jh. wurden Schwarze in Mitteleuropa allerdings auch zu Objekten früher rassekundlicher Studien. Der Mediziner Samuel Thomas Sömmering führte um 1780 in Kassel Untersuchungen an lebenden und toten „M.“ durch, die die Basis seiner Schrift „Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer“ (1785) bildeten. Die präparierte Haut des 1796 verstorbenen „Hof-M.“ Angelo Soliman, einer gesellschaftlichen Berühmtheit im Wien des späten 18. Jh.s, wurde später zeitweilig im ksl. Naturalienkabinett ausgestellt. 552
Exotisch – höfisch – bürgerlich. Afrikaner in Württemberg vom 15. bis 19. Jh. Katalog zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart. Bearbeitet von Monika Firla, Stuttgart 2001. Mark Häberlein, „Mohren“, ständische Gesellschaft und atlantische Welt. Minderheiten und Kulturkontakte in der frühen Neuzeit, in: Claudia Schnurmann / Hartmut Lehmann (Hg.), Atlantic Understandings: Essays on European and American History in Honor of Hermann Wellenreuther, Hamburg / Münster 2006, 77–102. MA RK H Ä BER LEIN Mokrani-Rebellion. Die M.-R. war der bedeutendste Aufstand gegen die Ausbreitung der frz. Herrschaft in →Algerien (März 1871 – Jan. 1872, Kleine Kabylei) neben den Erhebungen Abd el-Kaders (1832–1847, Region Oran) und der Lalla Fatma (1854–1857, Große Kabylei). Der Anführer, Mohamed El-Mokrani (auch Mohamed Amokran; kabyl. Mohand Ait Mokrane; arab. Muham-mad al-Muqrânî), entstammte der angesehensten Familie der kleinkabylischen Elite, die seit Ende des 15. Jh.s an der Spitze der autonomen Konföderation („Kgr.“) der Ait Abbas stand. Zunächst enger Vertrauter der Franzosen und 1853 in der Nachfolge seines Vaters Statthalter („Bachaga“) von Medjana (1861 Aufnahme in die Ehrenlegion), ging er nach dem Sturz des Ksr.s auf Distanz, da die veränderte Kolonialpolitik durch Einführung ziviler Direktverwaltung, Abschaffung autonomer Sondergebiete, Landrechtsreform (Privatisierung von Stammesland) und v. a. die Etablierung frz. Siedler in Bordj Bou Arréridj, dem auch sein erster Angriff galt (16.3.1871), seine Position (und die der traditionellen tribalen Führungsschicht insg.) gezielt untergrub. Er brachte ein breites Stammesbündnis unter Einschluß der einflußreichen Rahmaniya-Bruderschaft zustande (250 Stämme, ca. 200 000 Kämpfer), so daß die M. ein weit über die Kabylei hinausreichendes Gebiet erfaßte und von der frz. Armee nur unter großen Anstrengungen und dank seines frühen Todes (5.5.1871) bezwungen werden konnte. Danach übernahm sein Bruder Boumezreg (Bou Mezrag; arab. Abû Mizrâq al-Muqrânî) die Führung, war jedoch nicht in der Lage, das heterogene Bündnis zusammenzuhalten. Der Aufstand forderte nach verschiedenen Schätzungen zwischen 20 000 und 100 000 Opfer und zog schwere Repressionen in Form der Einrichtung einer Sonderverwaltung, hoher Reparationszahlungen (36 Mio. Franc) und Konfiskation von ca. 500 000 ha Agrarland, das an frz. Siedler verteilt wurde, nach sich. Boumezreg u. a. überlebende Führer der M. wurden samt ihren Familien (212 Personen) nach →Neukaledonien deportiert, wo bis heute Nachkommen leben („Kabyles du Pacifique“). 1904 erhielten sie die Erlaubnis zur Rückkehr. Mehdi Lallaoui, Kabyles du Pacifique, Paris 1994. LO TH A R BO H R MA N N
Molukken (Maluku). Die M. sind eine ausgedehnte Inselgruppe im östlichen →Indonesien; als ursprüngliche Heimat von →Nelken und →Muskat wurden sie als „die Gewürzinseln“ weltberühmt. Diese →Gewürze waren sowohl Segen als auch Fluch. Sie brachten Reichtum, jedoch auch Leid durch Europäer, die im Streben nach
m o m bAs A
Gewürzmonopolen vor nichts zurückschreckten. Eine Handvoll Nelken wurde von Archäologen in einem Tonkrug in Syrien gefunden, der ungefähr aus der Zeit um 1 700 v. Chr. datiert. Plinius der Ältere erwähnt Nelken im 1. Jh. als wichtigen Importartikel aus →Indien. Chinesen, Inder und →Araber handelten damit in den M. lange bevor 1505 der Italiener Varthema wahrscheinlich als erster Europäer dort landete, noch bevor der Portugiese D’Abreu 1512 den ersten permanenten Handelsplatz errichtete. Gewürze brachten hohe Gewinne. Portugal und Spanien suchten nach neuen Handelswegen zu den M., um die Araber und Italiener als Mittelsmänner auszuschließen, was auch gelang. Es war der Beginn des Zeitalters der europäischen Expansion. Die Portugiesen segelten um Afrika und erreichten die M. vor den Spaniern, für die →Kolumbus nach Westen segelte und durch die unerwartete Entdeckung →Amerikas die span. Ankunft auf den M. verzögerte. Die Spanier konnten sich nur für eine kurze Zeit in den nördlichen M. niederlassen, bevor sie von den Portugiesen verdrängt wurden. Anfang des 17. Jh.s wurden sie von den Niederländern besiegt, die bis zum →Zweiten Weltkrieg die Inseln kontrollierten, unterbrochen von kurzen Intervallen brit. Herrschaft. Die M. befinden sich in einer Übergangszone zwischen asiatischer und australischer Fauna und Flora, hier treffen melanesische und malaiische Kulturen und →Ethnien aufeinander. Das vielleicht hervorragendste melanesische Kulturmerkmal ist der Kakehan-Männergeheimbund auf der Insel Ceram, der einzige im indonesischen Archipel. Die M. bestehen aus drei Kulturgebieten: 1. Die NordM. waren Sitz der vier mächtigen Sultanate →Ternate, →Tidore, Bacan und Jailolo, die sich in internen Kriegen gegenseitig aufrieben und schließlich den europäischen Kolonialmächten zum Opfer fielen, die sich dieses Zentrums des Gewürznelkenanbaus und Handels untertänig machten. Halmahera ist die größte Insel der M. und umfaßt protestantisch-christl. Regionen wie Tobelo in einer überwiegend islamischen Region. Der →Animismus ist fast ausgerottet. Andere Inselgruppen sind Sula und Obi. Morotai diente den →USA als wichtiger Stützpunkt bei der Rückeroberung der →Philippinen im Zweiten Weltkrieg. 2. Die Mittel-M. sind die am dichtesten bevölkerte Region. Sie umfassen die Inseln von Ambon-Lease (→Ambon), Ceram (Seram), Buru, Manipa, Kelang, Buano, Seram Laut und die →Banda-Inseln. Ceram ist die zweitgrößte Insel der M. und Heimat der Alfuren (Alifuru), einem Bergvolk von dem die „Ambonesen“, d. h. die Küstenbewohner von Ceram, Ambon und Lease ihre Abstammung herleiten. Sie waren animistische Kopfjäger bis anfangs des 20. Jh.s, sind aber heute protestantische Christen. Animistische Glaubensvorstellungen existieren noch vereinzelt bei kleineren Stämmen, z. B. den Nuaulu in Zentral-Ceram. Als die Zentralreg. der jungen Rep. Indonesien in Jakarta die molukkische Unabhängigkeitsbewegung 1950 zerschlug, flüchteten die RMS (Rep. Maluku Selatan)-Reg. und ehem. Truppen der →KNIL nach Ceram. Dort führten sie bis 1964 einen Guerillakrieg mit Hilfe der Bergalifuren. Ein großer Teil der Insel Buru wurde 1965 von Suharto als Konzentrationslager für Kommunisten benutzt. 3. Die Südost-M., dünn bevölkert, variieren sehr in kultureller und
ethnischer Hinsicht. Sie sind die wirtschaftlich am wenigsten entwickelte Region. Die Bevölkerung besteht aus Protestanten, Katholiken und Muslimen, verstreut über die Kei, Aru, Tanimbar und südwestlichen Inselgruppen (Kisar, Sermata, Luang, Moa, Lakor, Leti, Barbar, Roma, Damar, Wetar). Auf den Kei-Inseln und Kisar entwickelten sich Kastensysteme, die bis heute noch auf rituellem Gebiet funktionieren. Wirtschaftlich hatten die Inseln nur zur Zeit der →Vereinigten Ostind. Kompanie einige Bedeutung, wurden aber während der Kolonialzeit meist vernachlässigt, bis sie Ende des 19. Jh.s in den Fokus protestantischer und rk. Missionen gerieten. Während die rk. Kirche die einheimischen Sitten und Traditionen weitgehend respektierte, war die protestantische Kirche weit weniger tolerant. Nicht ndl., sondern ambonesische Missionare aus den Mittel-M. zerstörten systematisch die einheimischen Stammesreligionen. Sie verboten und vernichteten die kunstvoll geschnitzten Ahnenbilder und betrachteten die anderen Gebräuche als unchristl., obwohl Ähnliches auf den eigenen Inseln noch als normal befunden wurde. Nur die andere Kunstform dieser Inseln, die feine Ikat-Weberei, ausgeführt von Frauen, wurde verschont und ist auf verschiedenen Inseln erhalten geblieben. 1950 wurden die M. eine Provinz der Rep. Indonesiens. 1999 wurde die Provinz zweigeteilt in Maluku mit der Hauptstadt Kota Ambon (Ambon Stadt) und Maluku Utara (Nord Maluku) mit der Hauptstadt Sofili in West Halmahera. C. R. Boxer, The Dutch Seaborne Empire 1600–1800, London 1966. Ders., The Portuguese Seaborne Empire 1415–1825, London 1969. Nico De Jonge / Toos Van Dijk, Forgotten Islands of Indonesia, Singapur 1995. D IETER BA RTELS
Mombasa. Die auf Arab. Manbasa, auf →Ki-Suaheli Kisiwa Cha Mvita (kurz: Mvita = „Insel des Krieges“) genannte Stadt liegt auf der gleichnamigen Insel im →Ind. Ozean vor der südlichen Indik-Küste →Kenias. Zwei überbrückte Creeks trennen sie vom Festland. M. ist Hauptstadt der Küstenprovinz und mit ca. 800 000 Ew. zweitgrößte Stadt des Landes. M. wurde im 12. Jh. von arab. Kaufleuten gegründet. Sie wechselte häufig den Besitzer, worauf auch der Name verweist. V. a. durch den Handel mit Gold, →Gewürzen, →Elfenbein und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) entwickelte sich M. rasch zu einer wichtigen ostafr. Handelsmetropole. Die Beziehungen reichten schon im Mittelalter über Arabien, Persien und →Indien bis nach China. Erstmals erwähnt wird die Stadt 1151 durch den arab. Geographen Al Idrisi; der berühmte Reisende →Ibn Battuta weilte 1331 in M.; Vasco →da Gama traf 1498 als erster Europäer in M. ein. 1505 bemächtigten sich die Portugiesen der Stadt und bauten sie zu ihrem nördlichster Sitz an der Ostküste aus. 1593 errichteten sie als „Symbol ihrer Größe“ das Fort Jesus, heute noch als monumentales Denkmal zu besichtigen. Nach einem anti-port. Aufstand 1631 unterstellte Portugal M. 1638 offiziell seiner Kolonie mit Sitz im ind. →Goa. 1698 sowie 1728 vertrieben →Araber aus dem Oman die Portugiesen aus M. 1741 erklärte sich M. unter der lokalen Mazrui-Dynastie für unabhängig und übte die Oberherrschaft über einen Großteil der Küste 553
m ongol i s c h e e � PA n s i o n b i s 1 2 6 0
aus. Erst 1837 konnte die omanische Said-Dynastie ihre Herrschaft über die Stadt durchsetzen. Seit 1856 gehörte M. zum Sultanat →Sansibar, ab 1895 zum brit. East Africa Protectorate und von 1920 bis zur Unabhängigkeit des Landes 1963 zur →Kronkolonie Kenia. Ein Wahrzeichen der Stadt, die stählernen Stoßzähne als Torbogen („tusks“), erinnern an die Kolonialzeit. Heute ist M. ein bedeutendes Wirtschaftszentrum Kenias und gilt als wichtigste Hafenstadt Ostafrikas überhaupt (KilindiniHafen). Eine wichtige wirtschaftliche Rolle spielt heute auch der →Tourismus. Außerhalb von M. liegen zahlreiche Strände mit Luxushotels. GI S E L HE R BL E S S E Mongolische Expansion bis 1260. Nach dem Tode von →Činggis Khan ging die Würde des Großkhan auf Ögödei über, den dritten Sohn von Činggis und das imperiale Erbe wurde aufgeteilt: Den Nachkommen von Joči, seinem ältesten Sohn, wurden Territorien in Westasien zuteil, Ögödei erhielt Ostturkestan, Čaɣatai, der zweitälteste Sohn, Transoxanien und Tolui, der jüngste, bekam das mongolische Kernland und das unterworfene nordchinesische Gebiet. Unter Ögödei weitete sich das mongolische Reich weiter aus und man beschloß 1235 die Wiederaufnahme der Feldzüge in Westasien. Viele russische Fürstentümer unterwarfen sich freiwillig. Nachdem 1240 Kiew übernommen wurde, folgte ein Jahr später die Niederlage von Krakau und Schlesien. Gleichzeitig fiel ein mongolisches Heer in Ungarn ein und eroberte die Stadt Buda, während ein anderes Heer Kurs auf die Adriaküste nahm. Auf der anderen Seite plante Ögödei Vorstöße gegen Korea und das chinesische Song-Reich, das im Winter 1237/38 zum Teil geschlagen wurde. Als Ögödei im Dezember 1241 starb, setzte dies den Einfällen der Mongolen in Osteuropa ein jähes Ende. Sie zogen sich zurück und behielten lediglich einige südrussische Weidegebiete. Die Nachfolge Ögödeis gestaltete sich auf Grund der schlechten Erbregelung als schwierig. Erst 1251 konnte eine Einigung erzielt werden und man entschied sich für Möngke, den ältesten Sohn von Tolui. Möngke übertrug seinem Bruder Khubilai (→Polo, Marco) die Gebiete in Nordchina und Hülegü, sein jüngerer Bruder, wurde mit der Eroberung der westlichen Staaten, dem heutigen Iran, Irak und Syrien betraut. Ebenso organisierte er Feldzüge gegen Korea und das chinesische Song-Reich, die 1253–1255 regelmäßig unternommen wurden. Hülegü traf 1255 in Samarkand ein und eroberte von dort aus Anatolien, Aserbaidschan und Transkaukasien. Auch die Jahren 1259 und 1260 verliefen für Hülegü siegreich und er unterwarf Syrien und Damaskus. Als 1259 Möngke Khan bei seinem Feldzug in das Song-Reich starb, verließ Khubilai seine Position im Song-Reich und ließ sich 1260 in Peking zum Großkhan ausrufen. Sein Bruder, Ariɣ Böge, der in Karakorum regierte und ebenso ein Anrecht auf die Würde des Großkhans gehabt hätte, reagierte daraufhin prompt mit einem Angriffskrieg, konnte aber besiegt werden. Hülegü hingegen, der 1260 von den Mamelucken in Palästina eine schwere Niederlage einstecken mußte, schlug sich auf Khubilais Seite und gab sich selbst den Titel Il-Khan „friedlicher Herrscher“. Khubilai beanspruchte für sich die Alleinherrschaft und nachdem Ariɣ Böge 554
ausgeschaltet war, ging er gegen Čaɣatai vor. So entstanden familieninterne Rivalitäten, die als Ursache für die, kurz nach Mönkes Tod, beginnende Zersplitterung des mongolischen Großreiches angenommen werden dürfen. Georg Bachfeld, Die Mongolen in Polen, Schlesien, Böhmen und Mähren. Ein Beitrag zur Geschichte des großen Mongolensturmes in Jahre 1241, Innsbruck 1889. Walther Heissig, Die Mongolen, Innsbruck 1989. Michael Weiers (Hg.), Die Mongolen, Darmstadt 1986. SA N D R A MIK LI
Moñino y Redondo, José, Conde de Floridablanca, * 21. Oktober 1728 Murcia, † 30. Dezember 1808 Sevilla, □ Iglesia de San Juan Bautista, Murcia, rk. M. begann seine Karriere als Kronanwalt unter →Karl III. nach dem Motín de Esquilache von 1766 und war zusammen mit dem Conde de →Campomanes federführend bei der juristischen Rechtfertigung der Vertreibung der →Jesuiten und die Einziehung der Güter derselben im folgenden Jahr. Aus dem Jahr 1768 stammte ein zusammen mit Campomanes verfaßtes Gutachten, in dem sich die beiden Kronanwälte mit den Möglichkeiten zur Besänftigung der nach der Vertreibung der Jesuiten in Hispanoamerika aufgetretenen Unruhen auseinandersetzten. M. und Campomanes schlugen vor, den Hispanoamerikanern bessere Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der span. Verwaltung anzubieten und auf der anderen Seite daran festzuhalten, span. Beamte nach →Amerika zu entsenden. Auf diese Weise sollte ein einziger nationaler Körper („un sólo cuerpo de nación“) geformt werden. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Kolonien vom Mutterland sollte jedoch aufrechterhalten werden, womit freilich einer der Hauptgründe für die Unzufriedenheit der criollos erhalten blieb. 1772 ernannte Karl III. ihn zum span. Botschafter am Heiligen Stuhl, wo er das Verbot des Jesuitenordens durchsetzen konnte. 1777 kehrte er als Erster Minister nach Spanien zurück. Im Zuge der Bemühungen um die Einbeziehung aller Individuen in das Wirtschaftsleben führte M. die einige Jahre zuvor begonnene Politik der Beseitigung von Handelshemmnissen und der Abschaffung von Monopolen fort. Ein wichtiger Schritt zur Integration der indigenen Bevölkerung in den überseeischen Besitzungen war in diesem Sinne die Abschaffung des Repartimiento-Handels 1786. In diese Zeit fällt auch das Reglamento y Aranceles Reales para el Comercio Libre de España a Indias von 1778, das die in den 1760er Jahren begonnene Politik der Liberalisierung des Binnenhandels ausweitete und mehr span. und koloniale Häfen zum Handel untereinander zuließ, während die Zölle vereinheitlicht wurden. Innenpolitisch bemühte M. sich in den 1780 Jahren zunehmend um die Entmachtung des Kastilienrates zugunsten der Ministerien. Ein entscheidender Schritt hierzu war die Gründung der Junta del Estado 1787. Den Leitfaden für die Politik dieser wöchentlichen Versammlung aller Minister bildete seine Instrucción reservada. In Bezug auf Amerika hielt er darin an der Ungleichbehandlung der am. Untertanen fest. Der Festungsbau sollte in den dortigen Besitzungen nicht zuletzt zum Schutz gegen die Unzufriedenheit der Bevölkerung gegen die span. Herrschaft weiter vorangetrieben werden. Eine größere Einheit hoffte er durch
m o n ro e-d o k tri n
die Abschaffung des Indienministeriums und die Übertragung der Befugnisse desselben auf die anderen Ministerien zu erreichen. Vicent Llombart, „La política económica de Carlos III. ¿Fiscalismo, cosmética o estímulo al crecimiento?“, in: Revista de Historia Económica 12 (1994), 11–39. José Moñino, Conde de Floridablanca, Escritos políticos, hg. v. Joaquín Ruiz Alemán, Murcia 1982. José María Portillo Valdés, Revolución de nación, Madrid 2000. AL E XANDRA GI T T E RMANN
Monroe, James, * 28. April 1758 Westmoreland County, Virginia, † 4. Juli 1831 New York, □ Marble Cemetry / New York, anglik.-Episcopalian, Freimaurer Nach seiner aktiven Teilnahme am Revolutionskrieg war M. von 1780 bis 1783 Lehrling der Rechtswissenschaft bei Thomas →Jefferson. 1782 wurde er ins Virginia House of Delegates und 1783 in den Kontinentalkongreß gewählt. Wie →Madison war auch M. an der Ausarbeitung der →Northwest Ordinance beteiligt. Wiewohl er die neue Bundesverfassung 1787 ablehnte, wurde er im zweiten Anlauf 1790 in den US Senat gewählt. Als Botschafter der →USA zwischen 1794 und 1796 unterstützte er die Frz. Revolution und lehnte den von John Jay ausgehandelten Vertrag mit England (sog. Jay Treaty, 19.11.1794) ab. Zwischen 1811 und 1817 fungierte M. in der Präsidentschaft von Madison als Außenminister; 1814/1815 bekleidete er auch das Amt des Kriegsministers. Sowohl 1816 wie 1820 profitierte M. als Präsidentschaftskandidat vom Niedergang und Zerfall der Federal Party; 1820 wurde er ohne Opposition zum Präs. wiedergewählt. Zwei große Probleme bestimmten seine Amtszeit: Der Missouri Compromise von 1821 und die →Monroe-Doktrin von 1823. Nach einer vierjährigen bitteren Kontroverse stimmte der Kongreß zu, daß im neuen Staat Missouri die →Sklaverei eingeführt, die Sklaverei aber in allen Territorien nördlich der Linie 36° 30’ verboten werde; zugleich wurde Maine als sklavenfreier Staat in die Union aufgenommen. Am Ende der Präsidentschaft zog M. sich ins Privatleben zurück; nach dem Tod seiner Frau Elizabeth, geb. Kortright – sie hatten am 16.2.1786 geheiratet – 1830 zog er zu seiner Tochter nach New York City, wo er starb. Harry Ammon, James Monroe, Charlottesville 1990. Daniel Preston (Hg.), The Papers of James Monroe, Bd. 1–3, Westport 2003–2009. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Monroe-Doktrin. Außenpolitische Leitlinie, die auf eine Rede des fünften Präs. der →Vereinigten Staaten, James →Monroe (1817–1825), zur Lage der Nation zurückging; die Ansprache vom 2.12.1823 ist im Zusammenhang mit der auf dem Wiener Kongreß errichteten „Heiligen Allianz“ zu verstehen. Monroe sah ebenso wie Großbritanniens Foreign Secretary George Canning (1822–1827) das europäische Bündnis als sicherheitspolitische Bedrohung für die USA an. Die Restauration der span. Kolonialmacht wurde dabei als geringere Gefahr betrachtet als die russ. Proklamation von 1821, in der, von Alaska ausgehend, Ansprüche auf →Amerika geltend gemacht wurden und alle nicht-russ. Schiffe
aus dem Gebiet nördlich des 51. →Breitengrades auf dem am. Kontinent ausgeschlossen werden sollten. Es ging somit um die Zurückweisung europäischer Expansionsbestrebungen auf dem am. Doppelkontinent. In Anknüpfung an →Washingtons Farewell Adress legte die M.D. fest, daß jede europäische Einmischung in Angelegenheiten des am. Kontinents von den →USA als unfreundlicher Akt aufgefaßt werden würde. Entscheidenden Anteil an der Ausformulierung dieser Doktrin hatte Monroes mit den europäischen Machtverhältnissen ausgezeichnet vertrauter Außenminister John Quincy →Adams. Monroe nannte explizit vier Dimensionen der europäischen Gefahr: die Kolonisierung, die politische Einmischung, die Intervention und die politische Kontrolle. Als Gegenleistung für den Verzicht Europas auf diese Formen der Expansion in der „Neuen Welt“ bot er die US-am. Zurückhaltung in Europa und dem Rest der Welt an, was als Bekenntnis zum kontinentalen Isolationismus zu deuten ist. Monroe formulierte die Parameter „to our peace and safety“ unter Einbeziehung der lateinam. Rep.en. Er bezeichnete sie als „our southern brethren“, weil sie auf Grund des antikolonialen und antimonarchischen Unabhängigkeitskampfes die republikanische Staatsform angenommen hatten. Spätestens als die USA selbst Gebietsansprüche oder Interventionsrechte geltend machten (und durchsetzten) und sich dabei zur Rechtfertigung auf Monroes Rede beriefen, wurden sich lateinam. Politiker allerdings klar darüber, daß diese zu einer außenpolitischen Doktrin mit unilateralem, interessengebundenem Charakter geworden war. US-Präs. James K. Polk (1845–1849) deutete die Rede Monroes dahingehend um, daß sich die USA jegliche Einmischung Europas in Amerika verbaten. Die neu formulierte Doktrin diente nicht mehr in erster Linie der Abwehr des europäischen Expansionsstrebens, sondern war nun vielmehr ein Werkzeug nordam. Machtpolitik – auf Kosten der territorialen Integrität der noch wenig gefestigten „sister republics“ im Süden. In seiner Rede an den Kongreß vom 2.12.1845 versuchte Polk, brit. Bedenken hinsichtlich des im selben Jahr vollzogenen Anschlusses des durch Siedler „nordamerikanisierten“ Texas an die USA zu zerstreuen. Unter Polk gelang es den Vereinigten Staaten, ihr Territorium um ⅓ zu vergrößern: Texas durch freiwilligen Beitritt, das Oregon-Territorium durch einen Vertrag mit Großbritannien, New Mexico und Kalifornien durch den →Mexikanisch-Am. Krieg. Seit Polk bezogen sich US-Präs. bei Souveränitätsverletzungen südlich des Río Grande auf die M.D. Die beinahe rituelle Berufung auf die „Doktrin“ diente immer mehr dazu, Erklärungen über die tatsächlichen Gründe des →US-Interventionismus zu vermeiden; sie wurde durch wiederholtes darauf Bezugnehmen und rhetorische Bestätigungen zum sakrosankten Grundsatz. Zur Durchsetzung der Akzeptanz dieses Mechanismus im In- und Ausland bedurfte es faktisch bestehender Macht, wie sie die USA in zunehmendem Maße besaßen. Präs. Theodore →Roosevelt (1901–1909) leitete in seiner Jahresbotschaft an den Kongreß vom 6.12.1904 eine neue Etappe in der Deutung und Funktion der M.D. ein. Nun, da die Gefahr einer politischen Durchdringung →Lateinamerikas weitgehend gebannt war, diente die M.D. 555
m onr o v i A
der Durchsetzung und Konsolidierung der kontinentalen US-Hegemonie. Roosevelt beanspruchte das Monopol, darüber zu entscheiden, ob, wann und wo im Interesse des Fortschritts zu intervenieren sei. Zur Begründung führte er die angebliche Überlegenheit der „Zivilisation“ der USA an. Für Woodrow Wilson (1913–1921) stand die M.D. nicht mehr für sich selbst, sondern wurde zur Argumentationsfigur im größeren Zusammenhang seiner Vorstellungen über das Panamerikanismus-Projekt. Seine Vision war die Konstruktion einer Staatengemeinschaft, die gegenseitig Territorialität und politische Unabhängigkeit sicherte. Wilson hielt sich allerdings selbst nicht daran. 1928 beauftragte US-Außenminister Kellogg seinen Undersecretary of State, J. Reuben Clark, ein Memorandum über die M.D. zu verfassen. Erst im März 1930 gab US-Außenminister Henry L. Stimson grünes Licht für die Veröffentlichung der Denkschrift. Im wesentlichen handelte es sich um eine Rekonstruktion des historischen Entstehungszusammenhangs und der ursprünglichen Bedeutung der Doktrin. Franklin D. Roosevelt (1933–1945) widerrief das Recht der USA auf Interventionismus. Er setzte auf interam. Zusammenarbeit. Im Zeichen des Kalten Krieges allerdings intervenierten die USA weiterhin in Lateinamerika. Die Truman-Doktrin von 1947 sowie die Kennan-Corollary von 1950 waren die letzten Umdeutungen der M.D. David W. Dent, The Legacy of the Monroe Doctrine, Westport 1999. Ernest R. May, The Making of the Monroe Doctrine, Cambridge 1992. Jay Sexton, The Monroe Doctrine, New York 2010. T H O M A S F I S C H ER / HE RMANN WE L L E NRE UT HE R
Monrovia. Seit 1824 die Hauptstadt von →Liberia. Die Stadt entstand aus dem Kap Mesurado, einem von den Portugiesen benannten Ort am →Atlantischen Ozean, der um 1821 →Sierra Leone abgekauft wurde. Befreite Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) aus →Amerika unter der Führung von Philanthropen und Marinesoldaten ließen sich dort nieder und benannten 1824 den Ort zur Erinnerung an James →Monroe, den damaligen US-Präs. und Vorsitzenden der am. Kolonisationsgesellschaft, in M. um. Um 1920 belief sich die Zahl der Ew. M.s auf 5 000. Die Auswanderungsinstitutionen sowie der neue liberianische Staat unterstützen die am. Rückwanderer und deren Expansion ins Landesinnere, was zu zahlreichen Konflikten führte. Bis Anfang des 20. Jh.s gab es zahlreiche Aufstände der Einheimischen gegen Reg. und Rückwanderer, was die nationale Integration erheblich erschwerte. Erst nach dem →Zweiten Weltkrieg konnte sich M. zu einem relativ stabilen politischen sowie wirtschaftlichen Zentrum entwickeln. M. war im Mai 1961 Tagungsort der panafr. Konferenz der sog. M.-Gruppe. Die Kommunalpolitik in Liberia ist vom am. System der kommunalen Selbstverwaltung geprägt. Gegenwärtig gehört M. zum Montserrado County, an dessen Spitze ein Superintendent steht. 1986 schätzten die offiziellen Statistiken die Ew.-zahl M.s auf ca. 500 000. Während des Bürgerkrieges (1989–1997) wuchs die Zahl auf mehr als eine Mio. (fast ⅓ der Ew. Liberias). Im Zensus von 2008 lag die Ew.-zahl nur geringfügig darunter (GroßM. 970 824). Die Entwicklungspolitik (→Entwicklung) 556
der Hauptstadt wurde bislang von einflußreichen Missionsgesellschaften sowie den US-Reg.en unterstützt, die Geld für den Bau von Schulen und von Infrastrukturen wie den Hafen von M. bereitstellten. Das Hauptproblem nach den Zerstörungen des Bürgerkriegs ist der Wiederaufbau der städtischen wie ländlichen Versorgung. Elwood Dunn / Amos Jones Beyan / Carl Patrick Burrowes, Historical Dictionary of Liberia, Lanham 22001. Y O U SSO U F D IA LLO
Montejo y Mera, Esteban →Cimarrón Montezuma →Moctezuma Morenga (Marengo, Marinka), Jakob, * ca. 1875 Südwestafrika, † 19. September 1907 Eenzaamheid b. Warmbad, □ unbek., Religion nicht ermittelbar Geboren wurde M. als Sohn eines Herero und einer Nama am Gainab-Rivier östlich der Karrasberge. Er hatte eine Grundschulbildung auf einer dt. Missionsstation erworben und dann in England sechs Monate in einer Kupfermine gearbeitet. Der spätere Führer der BondelswartsNama (heutiges →Namibia) machte sich als einer der stärksten Widersacher dt. Kolonialherrschaft und geschickter Guerillaführer im →Herero-Nama-Aufstand 1904–1907 im Süden der Kolonie →Dt.-Südwestafrika einen Namen. Im Mai 1906 mußte er allerdings auf engl. Kolonialgebiet ausweichen, griff im Aug. 1907 noch einmal in die Kämpfe gegen die Deutschen ein, wurde aber infolge eines gemeinsamen engl.-dt. Vorgehens von der Kap-Polizei gestellt und tödlich verwundet. Der verantwortliche engl. Offizier erhielt von Wilhelm II. eine Auszeichnung. – Roman „M.“ mit authentischem Material von Uwe Timm (1978). H O RST G RÜ N D ER Morillo y Morillo, Pablo, * 1775 Fuentesecas, Zamora, † 1837 Barèges, Frankreich, □ unbek., rk. Span. Infanteriegeneral, Marineinfanterist sowie Anführer der wichtigsten und größten span. Expeditionsstreitmacht zur Verteidigung des Kolonialstatus 1815–1820 im Dienst des neoabsolutistischen Kg.s Ferdinand VII.; zeitgenössischer Titel El Pacificador (Der Befrieder), Generalleutnant der Heere Spaniens, geadelt conde de Cartagena (Graf von →Cartagena de Indias im heutigen →Kolumbien) und marqués de la Puerta [Marquis von La Puerta: Schauplatz mehrerer Schlachten im heutigen →Venezuela, in denen M. Truppen unter →Bolívar besiegte]. M. stammte aus einer sehr armen Bauernfamilie im nordwestlichen Spanien an der Grenze zu Nordportugal (Zamora). Bereits mit 13 Jahren trat M. der kgl. Marine (Real Armada) als Marineinfanterist bei. Marineinfanteriekorps waren in den Großmachtkonflikten des 18. Jh.s (→Karibik) nach den Erfolgen der Briten bei der →Eroberung von Havanna 1761 gebildet worden und stellten seitdem Eingreiftruppen bei Kolonialunternehmen und als solche (bis heute) Himmelfahrtskommandos dar. M. überlebte alle großen Seeschlachten (Cabo San Vicente, Trafalgar 1805) sowie Landungsunternehmen (Toulon) der Kriege 1792–1814, geriet mehrfach in Gefangenschaft, war mehrfach schwer verletzt und kämpfte in und mit Guerillamilizen im span. Landheer (Real
m o rri s , m A �
Ejército, z. B. Bailén, 1808, Sieg über Marschall Ney 1813). M. fiel wegen seiner Tapferkeit auf. Er eignete sich die Erfahrungen der napoleonischen Kriegführung an und stieg als Günstling hoher Offiziere nach dem militärischen Zusammenbruch des alten Regimes in Spanien schnell auf. Ende 1814 wurde er durch Ferdinand VII. zum Kommandeur der span. Expeditionsstreitmacht gegen die Patrioten Venezuelas und Neu-Granadas (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) ernannt. Die Expedition bestand aus 65 Schiffen und insg. 15 000 Mann, davon ca. 10 500 Veteranen der Napoleonischen Kriege, Rekruten und Freiwilligen, die größte Streitmacht, die Spanien zu Erhaltung des Kolonialstatus nach →Amerika sandte. Nach der Landung in Ostvenezuela im Apr. 1815 konnte M. durch eine Politik des „Vergebens und Vergessens“ die Mantuano-Oligarchien Venezuelas wieder auf loyalistische Positionen bringen und die Patrioten unter Simón Bolívar u. a. in die Defensive und z. T. in die Emigration in die Karibik (u. a. Bolívar in Haiti) drängen, stieß aber die irreguläre Kavallerie der Llaneros durch Eingliederung in niedrigen Rängen in das Heer vor den Kopf. M. belagerte 1815 erfolgreich die neben Havanna wichtigste Stadt der span. Karibik, Cartagena de Indias, und restaurierte die Generalkapitanie in Venezuela sowie das →Vize-Kgr. Neu-Granada durch die Besetzung von Bogotá u. a. Städten. Wegen des Wiederaufflammens der Kämpfe in Venezuela unter General Arismendi (dem M. persönlich die Todesstrafe erlassen hatte) und der starken Beteiligung von Intellektuellen in Neu-Granada errichtete M. mit Standgerichten eine Terrorherrschaft v. a. im urbanen Neu-Granada. Die Patrioten unter Bolívar konzentrierten sich seit 1816 auf Guayana und auf eine Allianz mit den Llaneros. Bolívar dekretierte Landverteilung und Sklavenbefreiung (1817). Angostura (heute Ciudad Bolívar) wurde zum neuen Ausgangspunkt eines liberalen Staates (→Großkolumbien 1819–1830, Venezuela ab 1830). M. konnte wegen seiner militärischen Erfahrung zwar den Vormarsch Bolívars gegen Caracas mit Infanterie und Milizen zeitweise aufhalten (La Puerta, 1818), aber nicht dessen Zug über die Anden und die Eroberung von Bogotá (1819) verhindern. In Spanien brach 1820 die liberale Revolution (Trienio liberal 1820–1823) aus. Die Liberalen drängten M. 1820, mit Bolívar den Tratado de Armisticio y Regularización de la Guerra (Vertrag über Waffenstillstand und Regulierung des Krieges) abzuschließen, der die 1813 von Bolívar dekretierte guerra a muerte (Krieg bis zur Ausrottung, keine Gefangenen) in Venezuela beendete. Im Spanien des Trienio Liberal und der fernandinischen Restauration (1823–1834) nahm der kg.streue, nicht-karlistische M. mehrmals hohe Militäposten ein. Sein Nachfolger in Venezuela, Tomás Morales, konnte 1821 den militärischen Sieg der Patrioten unter Bolívar und José Antonio Páez (Schlacht von Carabobo) nicht verhindern. Gonzalo M. Quintero Saravia, Pablo Morillo, Bogotá 2005. Stephen K. Stoan, Pablo Morillo and Venezuela 1815–1820, Ohio 1974. Michael Zeuske, Von Bolívar zu Chávez, Zürich 2008. MI CHAE L Z E US KE Mormonen. Von Joseph Smith (1805–1844) 1830 in Manchester / New York begründete religiöse Gemein-
schaft (engl. Bezeichnung The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints), die auf der Bibel und von Smith verfaßten Schriften, darunter dem Buch Mormon, basiert; seine Texte verbinden zeitgenössische Diskussionen um die Sonderstellung →Amerikas im göttlichen Heilsplan mit der Idee, die verlorenen Stämme Israels habe es nach Nordamerika verschlagen. Seit 1830/31 schloß sich Smith mit seinen Anhängern der Westwanderung an, gründete Gemeinden im Mittleren Westen und wurde nach mehrfachen Vertreibungen von aufgebrachtem Pöbel als Häftling in Illinois getötet. 1846 begann der Mormon Trail, der die M. unter Smiths Nachfolger Brigham Young (1801–1877), dem „zweiten Moses“ 1847 in das karge Utah Territory führte. Ihre erfolgreiche Siedlungsarbeit und weltweite Mission wurde beeinträchtigt durch krasse Intoleranz auf allen Seiten angesichts der Polygamie der M. Das Mountain Meadow →Massaker der M. an Siedlern aus Arkansas 1857 und der Utah-Krieg der US-Armee gegen die M. (1857/58) zeigen beide Seiten des Problems, das die Gruppe in dem aufgeheizten Klima unmittelbar vor Ausbruch des →Am. Bürgerkriegs in den →USA darstellte. Nach Aufgabe der Polygamie wurde das von M. dominierte Utah 1890 als 45. Bundesstaat in die USA integriert. Das religiöse Zentrum der heute ca. 13 Mio. M., davon ca. 6,5 Mio. in den USA, bildet der Tempel in Salt Lake City/Utah. Claudia Marian Lauper Bushman / Richard Lyman Bushman, Building the Kingdom: A History of Mormons In America, Oxford 2001. CLA U D IA SC H N U R MA N N Morphium →Opium Morris, Max, * 18. Oktober 1859 Berlin, † 15. April 1918 Weimar, □ Süd-Friedhof Berlin Weißensee, jüd. Als Sohn des aus Danzig stammenden Sprachlehrers Joseph M. und seiner Frau Helene geb. Jacoby, verlor er früh seine Eltern. M. wurde Pflegling der Auerbachschen Waisen- und Erziehungsanstalt und besuchte zunächst das Sophien-, dann das berühmte Friedrichsgymnasium in Berlin, wo er sich als Schüler in den Fremdsprachen wie auch in den Fächern Geschichte und →Geographie auszeichnete. Dennoch nahm er 1878 an der Universität Berlin das Studium der Naturwissenschaften auf, wechselte bald zur Medizin über, promovierte 1882 und erhielt 1883 seine Approbation. Jährliche Reisen in Mitteleuropa und bis Südamerika konnte er sich als Schiffsarzt finanzieren. Erwähnenswert ist v. a. eine Reise, die er 1897 als Begleiter von Alfred Maaß zu den indonesischen Sundainseln unternahm, wobei sie sich auf der zum Mentawai-Archipel (westlich von →Sumatra, →Mentawai-Inseln) gehörigen kleinen Insel Si Kobo (heute Sipora) im Stationsgebäude des ndl. Reg.sagenten fast zwei Monate aufhielten. Dabei hat M. sich seine außergewöhnliche Sprachbegabung zunutze gemacht und im direkten Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung den mentawaiischen Dialekt von Sipora dokumentiert. Zugleich konnte er seine Neigung zur Literatur befriedigen, weil er nicht einfach ein Wörterbuch zu erstellen versucht hat, sondern sich zunächst Märchen, Sagen, Sprüche, Rätsel usw. erzählen ließ, um diese Texte dann mit Hilfe von Informanten, u. a. des Malaien Samak, 557
m or u s , th o m As
Wort für Wort durchzugehen und sich erklären zu lassen. Nach Berlin zurückgekehrt, hat er sein Material intensiv bearbeitet und konnte schon 1900 ein Buch herausbringen, das die noch in Anfängen stehende sog. malayopolynesische Sprachwissenschaft bereichert hat. Zwar hat es Kritik an M.s Werk gegeben, berechtigte, doch höfliche von Renward Brandstetter, aber auch besonders massive vom am. Ethnologen Edwin Loeb, bei dem es heißt: „The monograph of M. worked out in Si Pora, has been utilized for want of better source.“ M. hat sich danach nicht weiter mit den malayo-polynesischen Sprachen beschäftigt, sondern ist ganz in seiner Arbeit in der Weimarer „Goethe-Werkstatt“ aufgegangen. Während des Ersten Weltkriegs als Feldarzt im ehem. polnischen Badeort Ciecochinek eingesetzt, kam er als Schwerkranker zurück und war nicht mehr arbeitsfähig. Renward Brandstetter, Besprechung von Max Morris: ,Die Mentawai-Sprache‘, in: Dt. Literaturzeitung 4 (26. Jan. 1901), 211f. Alfred Maaß, Bei liebenswürdigen Wilden, Berlin 1902. Karl-Heinz Pampus, Max Morris. Pionier der Mentawai-Forschung, ohne Ort 2007 (private Broschüre). KARL - HE I NZ PAMP US Morus, Thomas, * 7. Februar 1478 London, † 6. Juli 1535 London, □ unmarkiert in Chapel Royal of St. Peter ad Vincula / London, rk. M. war ein engl. Staatsmann und Humanist. Nach dem Besuch der Lateinschule St. Anthony studierte er Theologie in Oxford (1492). Auf Drängen seines Vaters kehrte er nach London zurück, studierte Rechtswissenschaft und arbeitete anschließend als Anwalt. Humanistische Ideale verbanden ihn mit Erasmus von Rotterdam, mit dem er einige Texte Lukians übersetzte. Sein bekanntestes Werk, „Utopia“ (1516), beschreibt einen fiktiven, idealen Inselstaat. Zudem wandte sich M. vehement mit Polemiken gegen die lutherische Reformationsbewegung, da er die Einheit des Christentums gefährdet sah. Seine politische Karriere begann 1504 als Parlamentsmitglied. Er wurde kgl. Sekretär (1518), Sprecher des Unterhauses (1523) und als Sir Thomas More 1529 Lordkanzler. Dabei war er für die Inhaftierung und Verbrennung von Häretikern verantwortlich. Als der Klerus 1532 das Supremat Heinrichs VIII. anerkannte, trat M. als Lordkanzler zurück. Er verweigerte 1534 den Eid auf das Nachfolgegesetz, wurde daraufhin inhaftiert, zum Tode verurteilt und am 6.7. 1535 enthauptet. Sein Kopf wurde in der St. Dunstan’s Church, Canterbury, und sein Körper im Tower beigesetzt. Die Standhaftigkeit, mit der M. an seinen religiösen Überzeugungen angesichts des bevorstehenden Todes festhielt, brachten ihm die Reputation eines Märtyrers ein. 1935 sprach ihn Papst Pius XI. heilig. Peter Ackroyd, The Life of Thomas More, London 1998. Richard Marius, Thomas More, London 1993. Thomas Morus, Utopia, (Hg.) Edward Surtz, New Haven 1965. ROL AND WI CKL E S
Mosambik (Mozambique). Mit seinen 815 000 km2 beansprucht das im südlichen Afrika liegende M. knapp 2 800 km Küste am →Ind. Ozean, ca. 400 km von der Insel →Madagaskar entfernt. Seine Landesgrenzen teilt M. im Norden mit →Tansania, im Nordwesten mit 558
→Malawi und →Sambia, mit →Simbabwe im Westen und →Südafrika und →Swasiland im Südwesten bzw. Süden. Die Hauptstadt →Maputo liegt im tiefen Süden, eine knappe Autostunde von der Grenze zu Südafrika und Swasiland entfernt. Seit 1975 ist M. von der ehem. port. Kolonialmacht unabhängig. Die Küste des heutigen M. wurde ab 1497 von port. Reisenden und Kaufleuten besucht und dann mit Stützpunkten versehen, die v. a. dem Handel mit afr. Herrschern im Hinterland sowie der Versorgung von Schiffen auf dem Weg nach Süd- und →Südostasien dienten. Die vorher die Küste dominierenden arab. Händler wurden verdrängt, um den Gold-, →Elfenbein- und dann v. a. den Sklavenexport (→Sklaverei und Sklavenhandel) nach →Amerika und auf die Inseln im Ind. Ozean zu kontrollieren. In der frühen port. Kolonialherrschaft hatten regionale Administratoren und die Besitzer großer, vom Staat vergebener Lehnsgüter („prazos“), die eine multiethnische koloniale Elite bildeten, relativ weitgehende Autonomie. Erst mit dem „Wettlauf um Afrika“ gegen Ende des 19. Jh.s wurde das ganze Gebiet des heutigen M. von Portugal in Besitz genommen und systematischer kolonial erschlossen und ausgebeutet. Der zehn Jahre andauernde Befreiungskampf (1964–1974) wurde von der Front für die Befreiung M.s (FRELIMO), einer 1962 ins Leben gerufenen Bewegung, geführt und mit dem Lusaka-Abkommen vom 7.9.1974 zwischen der port. Reg. und FRELIMO erfolgreich beendet. Von 1975 bis 1986 strebte die allein regierende FRELIMO eine sozialistische Transformation des Landes an, die v. a. von osteuropäischen Ländern sowie von der Volksrep. China ideologisch und materiell unterstützt wurde. Diese Transformation gelang der FRELIMO jedoch nicht. Eine vom Geheimdienst →Südrhodesiens (des heutigen Simbabwe) gegründete Rebellenorganisation (MNR – M. National Resistance; port. Abkürzung: RENAMO), die inzwischen zur zweitgrößte Oppositionskraft im heutigen M. geworden ist, brachte das Land mit ihrem grausamen Terrorkrieg, der ab 1980 – nach der Einführung des Wahlrechts für die schwarze Bevölkerung im damaligen Südrhodesien (heute Simbabwe) – tatkräftig durch die südafr. Armee unterstützt wurde, zum Erliegen. Dieser Umstand zwang die FRELIMOReg. zu Verhandlungen, die unter der Vermittlung einer rk. Laienorganisation (der it. Sant’Egidio-Gemeinschaft) mit dem Abkommen von Rom (1992) erfolgreich beendet wurden. Das Abkommen leitete eine Mehrparteiendemokratie ein, die – abgesehen von regelmäßig erhobenen Vorwürfen des Wahlbetrugs gegen die FRELIMO – Bestand hat. Bis jetzt kam es allerdings noch nicht zu einem Reg.swechsel und so wird die Politik nach wie vor von der FRELIMO-Partei dominiert. Die Ew. M.s gehören verschiedenen Bantu-Volksgruppen (→Bantu) an, die auch in den benachbarten Ländern vorzufinden bzw. beheimatet sind. Diese Tatsache ist auf die willkürliche koloniale Grenzziehung zurückzuführen. Wichtigster Faktor dabei war die finanzielle und militärische Schwäche der port. Kolonialmacht, die ihre Ansprüche auf M. auf der Berliner Konferenz (1885–1887) nicht geltend machen konnte und die Kolonie als Pfand zwischen den konkurrierenden dt. und brit. Ansprüchen dennoch zugewiesen bekam. Im Gegenzug erhielten sowohl die Deut-
m o u n tbAtten , lo u i s
schen als auch die Briten das Recht, M. wirtschaftlich auszubeuten. Dieses Recht schlug sich in der Zuweisung von Ländereien im Norden und im Zentrum des Landes an Unternehmen mit ausländischem Kapital nieder, die erst mit António de Oliveira Salazar und seinem „Estado Novo“ in den 1920er Jahren ihre Verwaltungsrechte verloren. Der Süden M.s wurde in ein Arbeitskraftreservoir für die südafr. Plantagen und Minen umgewandelt. Diese unterschiedlichen historischen Entwicklungen haben in M. Spuren hinterlassen. Es gibt gravierende regionale Ungleichheiten zugunsten des Südens. Politisch schlägt sich dieses Unbehagen darin nieder, daß in der Wahrnehmung der Eliten des Zentrums und des Nordens das Land von Volksgruppen aus dem Süden regiert wird. Amtssprache ist Portugiesisch. Daneben werden im Alltag ca. 40 afr. Sprachen und über 200 Dialekte verwendet, die allesamt den Bantu-Sprachen zuzurechnen sind. Die engl. Sprache hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, dank der wachsenden Integration der Region und des wirtschaftlichen Einflusses von Südafrika. →Islam und Christentum (sowohl rk. als auch evangelisch) sind die dominanten Religionen, aber auch einheimische animistische Kulte haben eine beachtliche Gefolgschaft. In den letzten Jahren haben Pfingstkirchen an Bedeutung gewonnen, v. a. solche, die aus →Brasilien stammen. Auf Grund des hohen musl. Anteils (v. a. an der Küste im Norden des Landes) gehört M. offiziell zur Organisation der islamischen Konferenz. Die Religion spielt in der Politik keine sichtbare Rolle. Das Land ist v. a. im Norden reich an Bodenschätzen. Seine lange Küste beschert ihm wirtschaftliche Vorteile als Umschlagort für die Länder der Region ohne Zugang zum Meer (Malawi, Simbabwe, Sambia, Swasiland) bzw. mit kostspieligem Zugang (Bsp. Südafrika). Eine Kolonialherrschaft, die M. in den Dienst der stärkeren Wirtschaften der Region (Südafrika und Südrhodesien) stellte, insb. was Arbeitskräfte für die Plantagenwirtschaft und die Goldminen anging, bescherte dem unabhängigen Land erhebliche strukturelle Defizite, die durch den Bürgerkrieg und die sozialistische Planwirtschaft noch gesteigert wurden. M. ist heute trotz seiner Bodenreichtümer eines der ärmsten Länder der Welt, das im wesentlichen durch die Entwicklungszusammenarbeit (→Entwicklung) alimentiert wird. Knapp über die Hälfte des Staatshaushaltes wird von ausländischen Gebern bezuschußt und ca. 60 % der Bevölkerung lebt noch in absoluter Armut. Auf Grund der politischen Stabilität wird dem Land jedoch eine bessere Zukunft vorausgesagt. Allen und Barbara Isaacman, The Tradition of Resistance in Mozambique, London 1976. Malyn Newitt, A History of Mozambique, London 1995. Leroy Vail / Landeg White, Capitalism and Colonialism in Mozambique, London 1980. E L I S I O MACAMO Moshoeshoe I., * ca. 1786 Menkwaneng, † 11. März 1870 Basutoland, □ unbek., autochthon M. wurde während einer Hungersnot geboren und erhielt den Namen Lepoqo (Desaster) wegen des Unglücks, in dem er geboren wurde. Seine Eltern waren Mokhachane, ein Koena-Unterhäuptling, und Kholu, eine Tochter des Fokeng-Häuptlings Ntsukunyane. M. wurde von Moh-
lomo, einem Verwandten der Koena und angesehenen Arzt, Weisen und Philosophen, darin unterwiesen und beraten, ein erfolgreicher Anführer zu sein. Er war eine bemerkenswerte Person, die ihre Herrschaft als Häuptling bis 1831 sichern konnte. M. wurde bekannt für seine friedliche Diplomatie und die Integration von Flüchtlingen und Opfern der ‚Difaqane‘ genannten Unruhen. Verstreute Gemeinschaften schlossen sich M.s Gemeinwesen zum Zwecke der Sicherheit und wirtschaftlichen Stabilität an. Er war ein aufgeklärter und fortschrittlicher Anführer, der die Notwendigkeit für sein Volk erkannte, westliche Bildung zu erwerben, um sich in einer neuen, ständig verändernden Welt zu behaupten. Ab 1833 lud M. frz. Missionare ein, sich in seinem Land niederzulassen; ein strategischer Zug, der ihm Stärke und Vertrauen im Umgang mit Weißen gab. Als die Übergriffe der →Afrikaners („Boers“) andauerten, bat er die Briten um Hilfe und erhielt 1848 deren Unterstützung gegen den Druck der Afrikaners. Bei vielen Gelegenheiten hielt er den Angriffen von Briten und →Buren stand. Sein diplomatisches Geschick sicherte ihm die Loyalität der brit. Reg., die Basutoland 1868 Protektoratsstatus gewährte (→Protektorat) und somit seinem Volk die Autonomie garantierte. Trotz regelmäßiger Kirchenbesuche nahm M. das Christentum nicht an, verkündete jedoch seine Konversion auf dem Totenbett. M. kann als Gründungsvater des modernen Lesotho und großer Diplomat im südlichen Afrika des 19. Jh.s angesehen werden. Hermann Giliomee u. a. (Hg.), New History of South Africa, Kapstadt 2007. Paul Maylam, A History of the African People of South Africa, London 1987. A N N EK IE JO U BERT
Mountbatten, Louis, 1st Earl of Burma (seit 1947), * 25. Juni 1900 Frogmore House / Windsor Castle, † 27. August 1979 Mullaghmore / Irland, □ Romsey Abbey / Hampshire, anglik. Der Urenkel Kg.in Victorias und Großcousin Kg. George VI. diente im Ersten Weltkrieg in der Royal Navy und studierte anschließend Ingenieurwissenschaften in Cambridge. 1926 wurde er in der Mittelmeerflotte Stabsoffizier für das Funk- und Signalwesen, 1934 erhielt er auf einem Zerstörer sein erstes Kommando. 1939 zum Kommandeur der 5. Zerstörerflottille befördert, machte Churchill ihn 1941 zum Chef der Abteilung „Combined Operations“, die Kommandounternehmen auf dem europäischen Festland durchführte. In dieser Position war M. 1942 wesentlich verantwortlich für den Mißerfolg des Landungsversuchs bei Dieppe. 1943–1946 führte M. den Oberbefehl über die alliierten Streitkräfte in →Südostasien. 1947 wurde er zum letzten Vize-Kg. von Brit.Indien (→Brit. Raj) ernannt, das laut Beschluß der brit. Reg. spätestens Mitte 1948 unabhängig werden sollte. M. schien es geboten, die Unabhängigkeit möglichst schnell zu vollziehen, da er andernfalls gewalttätige Unruhen befürchtete. →Gandhis Wunsch, die staatliche Einheit Brit.-Indiens nach der Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten, war unerfüllbar, da infolge der kolonialen „Divide et Impera-Politik“ der →Indian National Congress und die →Muslim League sich nicht auf politische Rahmenbedingungen für ein gemeinsames Staatswesen einigen 559
m ühl e nb e r g , he i n r i c h m elc h i o r
konnten. Insb. →Jinnah drängte auf einen eigenen Staat für die Muslime. Daher wurden am 14./15. August 1947 mit →Indien und →Pakistan (→Pakistan-Bewegung) zwei Staaten in die Unabhängigkeit entlassen. Beide blieben vorläufig als →Dominions im →British Commonwealth of Nations, M. blieb bis Juni 1948 Gen.gouv. in Indien. Er konnte nicht verhindern, daß es anläßlich der →Teilung Brit.-Indiens v. a. im →Panjab und in →Bengalen zu schweren →Massakern kam, die er mit dem Hinweis auf Indiens große Bevölkerungszahl zu relativieren versuchte („Only 100 000 people have died“; tatsächl. starben ca. 1 Mio., und es gab 15,5 Mio. Flüchtlinge). 1955–1959 diente M. als Erster Seelord, 1959–1965 als „Chief of Defence Staff“, d. h. als oberster Soldat der brit. Streitkräfte. 1979 wurde er in seinem irischen Urlaubsort Opfer eines Attentats der IRA. Philip Ziegler, Mountbatten, London 1985. CHRI S TOP H KUHL
Mühlenberg, Heinrich Melchior, * 6. September 1711 Einbeck, † 7. Oktober 1787 Trappe, Pennsylvania, □ Augustus Lutheran Church / Trappe, ev.-luth. Schulbesuch in Einbeck und Zellerfeld (Harz), Theologiestudium in Göttingen 1735–1738, Aufenthalt in den Glauchaschen Anstalten in Halle 1738–1739, Diakon und Waisenhausinspektor in Großhennersdorf, Oberlausitz, in der Nähe von Herrnhut. Nahm 1742 einen von Gottlieb August Francke, Direktor der Glauchaschen Anstalten, und Friedrich Wilhelm Ziegenhagen, Hofkaplan am Londoner Hof, vermittelten Ruf als Pfarrer der lutherischen Gemeinden in Philadelphia, New Providence und New Hanover in Pennsylvania an. Heiratete 1744 Anna Maria, die Tochter des prominenten dt. Siedlers Conrad Weiser. M. mühte sich erfolgreich um den Aufbau und Zusammenschluß der lutherischen Gemeinden in Pennsylvania und in der mittelatlantischen Region; in dem 1748 gegründeten Vereinigten Ministerium schlossen sich unter seiner Führung ein wichtiger Teil der lutherischen, dem halleschen Pietismus zuerst nahestehenden Pfarrer zusammen. Nach heftigen Kontroversen in der Philadelphischen lutherischen Gemeinde einigten sich Pfarrer und Gemeinde 1762 auf eine neue Kirchengemeindeverfassung, die als Vorbild auch für die anderen Gemeinden die weitgehenden Mitbestimmungsrechte der Gemeindemitglieder in der Führung und Regelung der Gemeindeangelegenheiten festschrieb. Während seine beiden ältesten Söhne Friedrich August Conrad und Johann Peter Gabriel in der →Am. Revolution auf der am. Seite wichtige militärische und politische Ämter innehatten, zogen sich sein jüngster Sohn Gotthilf Heinrich Ernst, ab 1780 bis zu seinem Tod Pfarrer in Lancaster und bedeutender Naturkundler, und M. selbst völlig aus dem öffentlichen Leben zurück. Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs aus der Anfangszeit des Dt. Luthertums in Nordamerika, 5 Bde., hg. v. Kurt Aland u. a., Berlin 1986–2002. Thomas Müller, Kirche zwischen zwei Welten, Stuttgart 1994. Hermann Wellenreuther, Heinrich Melchior Mühlenberg u. d. deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742-1787, Berlin 2013. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R 560
Müller, Wilhelm Friedrich, * 20. Mai 1881 Wismar, † 16. Oktober 1916 in Soerabaya / Java, □ Malang / Java, wahrscheinlich aufgelassen, ev.-luth. Über M. sind wenige Daten bekannt. Er schloß 1905 sein Studium der Ethnologie mit der Promotion zum Dr. phil. ab und begann seine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Völkerkundemuseum in Berlin. Während seiner dortigen Tätigkeit widmete er sich dem Studium des Sanskrit und des Pidgin English (→Pidginund Kreolsprachen). Während der →Hamburger SüdseeExpedition versah er seinen Dienst als Ethnologe. Nach Hans Fischer war M. ein hervorragender Ethnologe, dessen früher Tod weitere Meriten der Forschung verhinderte. In der Zeit nach der Hamburger Südsee-Expedition ist seine Tätigkeit nicht mehr zu erschließen. An der Publikation der „Ergebnisse der Südsee-Expedition“ wirkte er nicht mehr mit. Seine Personalakte im Staatsarchiv Hamburg wurde mit der eines Angestellten selben Namens vertauscht, so daß die Tätigkeit der Jahre 1910 bis 1916 unbekannt ist. M. starb auf einer Forschungsreise auf Java. A N D R EA S LEIPO LD Münster, Sebastian, * 20. Januar 1488 Ingelheim am Rhein, † 26. Mai 1552 Basel, □ Kreuzgang des Basler Münsters, urspr. rk., seit 1529 ev.-ref. Der Sohn eines Winzers und Spitalmeisters studierte nach dem Besuch einer Lateinschule am Generalstudium der Franziskaner in Heidelberg und trat 1507 in den Orden ein. Später setzte er seine Studien in Löwen (nicht gesichert), Freiburg im Breisgau und im elsässischen Rufach fort, wo er bei Konrad Pellikan Unterricht in Hebräisch, Mathematik und Geographie erhielt. Es folgten Aufenthalte in Tübingen und Basel, ehe M. von seinem Orden wieder nach Heidelberg geschickt und dort 1524 zum Prof. für Hebräische Sprache ernannt wurde. 1529 folgte er einem Ruf auf eine Professur für Hebräisch an der Universität Basel. Dort schloß er sich der Reformation an, trat aus dem Orden aus und heiratete 1530 die Witwe des Buchdruckers Adam Petri, der einige seiner frühen Werke verlegt hatte. M. machte sich zunächst einen Namen als Autor und Hg. hebräischer Wörterbücher, Grammatiken und Sprachlehren, u. a. einer hebräischlateinischen Bibelausgabe (1534/35). 1540 gab er die Weltbeschreibung des Claudius →Ptolemaios neu heraus. Als Ergebnis einer ca. zwanzigjährigen Lektüre- und Sammeltätigkeit publizierte er 1544 in Basel die Cosmographia, eine 660-seitige, mit über 500 Holzschnitten versehene Weltbeschreibung, die ein großer Publikumserfolg wurde. M. arbeitete bis zu seinem Tod an Neuauflagen. Bis 1628 wurde das Werk mehrfach erweitert. In der letzten Ausgabe umfaßte die Cosmographia ca. 1 800 S. Neben antiken und mittelalterlichen Quellen rezipierte M. Berichte über die Entdeckungsreisen des späten 15. und frühen 16. Jh.s (→Kolumbus, →Vespucci, →Pigafetta), die 1507 erschienene Cosmographia introductio von Martin →Waldseemüller und Matthias Ringmann und die 1493 in →Nürnberg gedruckte Weltgeschichte Hartmann Schedels. Die 24 Karten in der Erstausgabe der Cosmographia sind aus der Ptolemäus-Ausgabe M.s von 1540 übernommen. Die sechs Bücher des Textteils legen den Schwerpunkt auf Deutschland und Europa; das
m u rAwj o w- A m u rs k i j , ni k o lAi
fünfte und sechste Buch behandeln →Asien, →Amerika und →Afrika. Ungeachtet seiner Kenntnis neuerer Reiseberichte hielt M. vielfach an der Autorität der antiken Gelehrten fest. So erscheinen die außereuropäischen Kontinente von →Fabelwesen, merkwürdigen Tieren und Völkern mit bizarren Sitten (→Anthropophagie, Nacktheit, sexuelle Promiskuität) bevölkert und die Weltmeere voller monströser Ungeheuer. In späteren Ausgaben wurden die Teile über außereuropäische Weltgegenden allerdings wesentlich ausführlicher und die Informationen durch Berücksichtigung neuerer Reiseberichte insg. zuverlässiger. Matthew McLean, The Cosmographia of Sebastian Munster, Aldershot 2007. Günther Wessel, Von einem, der daheim blieb, die Welt zu entdecken, Frankfurt / New York 2004. MARK HÄBE RL E I N Münzunion →Union monétaire Muhammad Ali Pascha, * 1769 Kavala / heute griech. Makedonien, † 2. August 1849 Alexandria, □ Muhammad-Ali-Moschee / Kairo, musl. Der auf Türkisch Mehmet Ali genannte Militärdiktator begründete die balkanische, bzw. albanische Dynastie der bis 1953 regierenden Kg.e →Ägyptens. Der Sohn eines albanischen Janitscharen-Offiziers trat 1788 in die osmanische Armee ein und kam 1801 als Befehlshaber (binbâshî) einer makedonischen Einheit ins Land, um die napoleonischen Truppen zu vertreiben. 1805 wurde er von der Hohen Pforte als Herrscher (Wâli) Ägyptens bestätigt und zwang 1807 mit mamelukischer Hilfe die brit. Invasionsarmee zum Verlassen des Landes. Danach bekämpfte er die über Jh.e am unteren →Nil dominierenden Militärsklaven der Mameluken. Nach dem →Massaker vom 1.3.1811 verfolgte M.s Sohn Ibrahim die Flüchtlinge bis Oberägypten, 1820 bis Nubien, wobei M.s Truppen den gesamten →Sudan bis zur Sumpfbarriere (sadd) eroberten und 20 000 Sklaven nach Ägypten verschleppten. M. reformierte Verwaltung, Landwirtschaft, Verkehr und Militär Ägyptens mit Hilfe europäischer Berater und begründete die ägyptische Baumwollindustrie (→Baumwolle). Seine vom frz. Obersten Sèves (nach der Konversion Soliman Pascha) modernisierten Truppen schlugen die Wahabiten im Saudischen Krieg 1811–1818. In den 1820er Jahren bekämpfte er erfolgreich den griechischen Aufstand, bevor eine brit.-frz. Intervention 1830 Griechenland die Unabhängigkeit brachte. 1831 ließ M., der in seiner Außen- und Handelspolitik seinem armenischen Minister Boghos Jusuf Bei (1768–1844) folgte, von Ibrahim Palästina und Syrien besetzen und verteidigte es 1839 gegen die osmanische Armee. Erst die europäischen Mächte zwangen den siegreichen Ibrahim 1841 zum Rückzug nach Ägypten, worauf der Statthaltertitel „Vize-Kg.“ (→Khedive), den sich M. 1823 eigenmächtig zugelegt hatte, von Istanbul erblich gemacht wurde. Nachdem sein Nachfolger Ibrahim 1848 nach wenigen Monaten verstorben war, übernahm der geistig angeschlagene M. noch einmal das Szepter, bis sein Enkel Abbâs den Thron besteigen konnte. Größere Bedeutung erlangte aber erst →Ismail, der Sohn des Feldherrn Ibrahim, der 1863–1879 Khedive war.
Kaled Fahmy, All the Pasha’s Men – Mehmed Ali, His Army and the Making of Modern Egypt, Kairo / New York 1997. G ER H A R D H U TZLER / BER N H A R D STREC K Mulatte →Casta Mumbai →Bombay Munda, Birsa →Birsa Munda Munzinger(-Pascha), Johann Albert Werner, * 21. April 1832 Olten / Schweiz, † 16. November 1875 bei Aussa / Äthiopien, □ Aussa, rk. Als Sohn des Kaufmanns und Politikers Josef M. studierte M. in Bern, München und Paris zunächst Naturwissenschaften, später Orientalistik und trat 1852 in die Dienste eines frz. Handelshauses in Alexandria. Von dort aus machte er Bekanntschaft mit mehreren Häfen am Roten Meer und den Landschaften Kordofan, →Sudan und Boghos, →Eritrea. 1861/62 schloß er sich der Expedition an, die unter Theodor von Heuglin (1824–1876) den in Wadai verschollenen Eduard Vogel (1829–1856) suchen wollte. Bald erkundete er jedoch auf eigene Faust das nördliche Äthiopien und die Quellgebiete von Gash und Atbara. In →Khartum traf er besagte Suchexpedition wieder und wurde ihr Leiter. Der Versuch, nach Darfur zu gelangen, scheiterte jedoch. 1864 wurde M. frz. Konsul in →Massawa. Als Förderer der rk. Mission besuchte er häufig Keren im Hochland und heiratete dort eine Frau vom Stamm der Bilin sprechenden Bogos. Nach einem kurzen Aufenthalt in Europa kehrte M. 1865 nach Massawa zurück und betreute neben dem frz. auch das brit. Konsulat, nachdem Konsul Cameron (1826–1870) vom äthiopischen Ks. Theodore II. (1818–1868) gefangengenommen worden war. 1869 trat er in die Dienste des Vize-Kg.s oder →Khediven →Ismail (1830–1895) von →Kairo ein und wurde schon 1871 vom Bey zum Pascha befördert. Als osmanischer Gouv. von Massawa herrschte M. über ein Gebiet von der Somali-Küste bis nach Sawakin, wo er Telegrafenleitungen legen ließ und Eisenbahnen plante. Kurz vor Ausbruch des ÄgyptischAbessinischen Krieges (1875–1879) wurde M. zusammen mit seiner Frau, seinem adoptierten Sohn Kifle und seinem Assistenten Gustav Adolf Haggenmacher Opfer eines somalischen Überfalls bei Aussa. Er soll auf dem Weg zu Menelik, damals noch Gouv. von Shoa, gewesen sein, um diesen gegen Ks. Johannes IV. (1839–1889) zu unterstützen – entgegen dem ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten, des Vize-Kg.s. Q: Werner Munzinger, Sitten und Recht der Bogos, Winterthur 1859. Ders., Ostafr. Studien, Schaffhausen 1864. L: Herbert Lewandowski, Ein Leben für Afrika, Zürich 1954. BER N H A R D STREC K Murawjow-Amurskij, Nikolai, * 23. August 1809 St. Petersburg, † 30. November 1881 Paris, □ unbek., russ.orth. M. schlug zunächst eine militärische Laufbahn ein, er nahm an der Belagerung Varnas während des →Russ.Türk. Kriegs 1828/29, zwei Jahre später an der Niederschlagung des Novemberaufstandes in Polen teil. Nach 561
m us i k de r s PAn i s c h s Pr A c h i g e n k A r i b i k
einer weiteren kurzen Militärzeit im →Kaukasus und am Schwarzen Meer wurde er 1847 zum Gen.-gouv. von Ostsibirien (→Sibirien) ernannt. In diesem Amt tat er sich besonders bei der Erforschung und wirtschaftlichen Erschließung hervor und unterstützte hierbei auch die politischen Verbannten. Darüber hinaus betrieb er die schleichende Besiedlung der Gebiete nördlich des →Amur. Hier schlug er eine aggressive Politik gegenüber China ein. Die von ihm angeregten und von Gennadij Newelskoj in den Jahren 1851–1853 sowie 1854– 1858 durchgeführten Marineexpeditionen führten zum russ. Besitzanspruch auf die Mündung des Amur und die Insel Sachalin. Hieraus folgte der Vertrag von Aigun 1858. Während die chin. Seite aus ihrem Rechtsverständnis eine genaue Regelung der Grenzfrage ablehnte, konnte M. in den Verhandlungen mit China durchsetzen, daß seitdem der Amur als Grenze zwischen Rußland und China betrachtet wurde. Nach dem erfolgreichen Vertragsabschluß erhielt M. den Beinamen „Amurskij“. Weitere Ergänzungen, die den Gebietsanspruch Rußlands am Ussuri betrafen, fanden sich im Vertrag von Peking (1860). In seiner Amtszeit als Gouv. Ostsibiriens bemühte sich M., Siedler v. a. für die neu erworbene Amurregion anzuwerben, was jedoch scheiterte. Daraufhin verlegte der Gen.-gouv. einige Kosakenabteilungen (→Kosaken) und ihre Familien an den Amur. Mark Bassin, Imperial Visions, Cambridge 1999. Perry McDonough Collins / Charles Vevier, Siberian Journey down the Amur to the Pacific, 1856–1857, Madison 1962. Leopold von Schrenck, Wilhelm Grube, Reisen und Forschungen im Amur-Lande in den Jahren 1854–1856, St. Petersburg 1892. E VA- MARI A S TOL BE RG Musik der spanischsprachigen Karibik. Die →Karibik, eine Weltregion, die in Bezug auf ihre Bewohnerzahl und ökonomische Macht international kaum Bedeutung hat, brachte viele weltumspannende Musik- und Tanzmoden hervor. Besonders fruchtbar erwies sich dabei das sog. „Spanische Dreieck“, Dominikanische Republik, →Kuba und Puerto Rico, von dem aus der Son (fälschlicherweise als Rumba bezeichnet), der Mambo, der Cha Cha Cha, der Merengue, die Bachata und der Reggaetón ihren Siegeszug um die Welt antraten. Aber auch bei der Ausformung der nationalen und regionalen Identitäten spielen Musik und Tanz eine wichtige Rolle. Heute allerdings dominieren auch in der K. häufig moderne westliche Musikstile – Rock, House, Disco – den Äther und die Tanzflächen. Seit ihrer Entdeckung durch →Kolumbus waren die karibischen Inseln vielen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen ausgesetzt: Spanier, Franzosen, Engländer, Niederländer, Schweden, Dänen und die USA hinterließen als Kolonialherren ihre Spuren. Auf vielen Inseln waren es gleich mehrere Besitzer in Folge oder im Wechsel. Afrikanische Sklaven vielerlei Herkunft drückten den karibischen Kulturen ebenfalls einen prägnanten Stempel auf, v. a. in der Musik sind ihre Rhythmen prägend. In unterschiedlichem Ausmaß folgten ihnen „Gastarbeiter“ aus Asien (Chinesen, Inder etc.) und dem Nahen Osten, die auch ihre Spuren hinterließen (z. B. chinesisches Kornett auf Kuba). Nicht zu vergessen die Migration zwischen den verschiedenen Inseln, v. a. zwischen 562
Kuba, Puerto Rico und der Dominikanischen Republik. Diese kulturelle und rassische Vermischung hat überall „eine neue nationale und regionale Persönlichkeit hervorgebracht“, so der puertoricanische Dichter Palés Matos. Von der ursprünglichen indianischen Bevölkerung der Inseln – Araukanern und Kariben – sind in der Musik und im Tanz kaum Spuren enthalten, denn sie wurden von den Kolonialherren zügig ausgerottet oder umgesiedelt. Die Musik und die Tänze tragen erheblich dazu bei, daß sich die Menschen mit ihrem ethnisch-kulturellen Ursprung identifizieren und so ein kollektives Bewußtsein ihrer Herkunft entwickeln. Sie vermitteln das kulturgeschichtliche Erbe des eigenen Volkes und somit eine Identität und die Erfahrung, Teil einer größeren kulturellen Gemeinschaft zu sein. Musik und Tanz hatten eine gesellschaftskonstituierende Funktion. Das funktionierte seit Beginn des 20. Jh.s klassenübergreifend: So repräsentiert der Nationaltanz von Grenada ausschließlich Tänze verschiedener afrikanischer Ethnien, wird aber von allen Grenadinern als ihr Erbe angesehen. Allerdings wurden die Ursprünge der Tänze oft vergessen, wie zum Beispiel bei der Tumba Francesa, einem Salontanz in Santiago de Cuba, der nur durch die Flucht vieler Haitianer nach Kuba entstehen konnte. Natürlich existieren auch an den Festlandrändern der Karibik solche Phänomene, wie die Champeta in →Kolumbien, die die Identität der dort lebenden Afrokolumbianer stärkt. Der Tanz läßt sie die Ungerechtigkeiten der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dieser Minderheit vergessen. Die karibische Musik- und Tanzkultur reflektiert die politische Hegemonie der europäischen Kolonialmächte, u. a. in der weit verbreiteten Quadrille, der Mazurka (mazouk), der Polka oder dem Walzer. Sie wurden von den in den städtischen Tanzsälen engagierten Musikern aus der Stadt aufs Land getragen und dort über lange Zeit oral weitergegeben. Dieselben Musiker schufen aus solchen Tänzen, vermischt mit ruralen Musiken, auch neue Salontänze wie den Danzón in Kuba, die Danza in Puerto Rico oder den Meringue, die Nationalmusik Haitis (anders als sein Namensvetter aus der Dominikanischen Republik wird die haitianische Variante hauptsächlich mit Saiteninstrumenten und Trommeln gespielt und ist deutlich langsamer). Diese Musiker fungierten als musikalisches Verbindungsstück zwischen der vornehmen städtischen Gesellschaft und der Landbevölkerung. Mit den Weißen kamen auch die Kirchen und ihre Musik auf die Inseln: Gospeloder andere Gesänge der Katholiken und Protestanten gewannen ebenfalls Einfluß auf die Entwicklung der Musik. Die im 20. Jh. entstandenen Tänze, wie der kubanische Son, der dominikanische Merengue oder die puertoricanische Plena repräsentieren sehr kreative Hybride aus europäischen Textstrukturen und Melodien sowie afrikanischen Rhythmen. Sie verdrängten oft ältere Tänze, so auf Kuba der Son den ländlichen Zapateo. Einige Musiken und Tänze dehnten sich über andere Inseln der Karibik aus, v. a. seit der Verbreitung von Radio, Fernsehen und Tonträgern auf den Inseln ab etwa Mitte des 20. Jh.s, und trugen so auch zur Bildung einer regionalen Identität bei. Als regionale Stile haben sich Son, Merengue, der jamaikanische Reggae, der Zouk aus Martinique und der Calypso aus Trinidad etabliert, die fast im gesamten ka-
mu s i k d er sPAn i s ch sP rA ch i g en k Ari bi k
ribischen Raum eine Heimat gefunden haben, bei allen politischen, sprachlichen und religiösen Unterschieden, die zwischen den einzelnen Inseln existieren. Auf Kuba entstanden die populären Musikstile bis zum 20. Jh. fast immer in Zusammenhang mit rituellen Tänzen. Nach dem Ende der Sklaverei drängten die Schwarzen in die Städte, wo die Rumba entstand, ein säkulares Fest, dessen Name erst auf die Tänze – Columbia, Yambú und Guaguancó – und schließlich auf die Musik überging, zu der die Paare tanzten. Der Son entstand auf dem Land im Osten Kubas und gelangte nach Ende des Unabhängigkeitskrieges, 1898, mit der Binnenmigration in die Stadt, wo er in Struktur und Instrumentierung Veränderungen erfuhr und schließlich ab Ende der 1920er Jahre zum nationalen Musikstil aufstieg. Dies verdankt er auch der nationalistischen Afrocubanismo-Bewegung, die ihn als originär kubanisch bewertete und förderte. Auch der Bolero machte erst Karriere nachdem ihn Sänger zu Beginn des 20. Jh.s aus Santiago mit in die Hauptstadt gebracht hatten. Den Mambo entwickelte Orestes López in Havanna 1939 aus dem Danzón, der auch bei der Geburt des Cha Cha Cha, 1948 durch Enrique Jorrín, Pate stand. In Puerto Rico eroberte die Plena, die wahrscheinlich um das Jahr 1900 herum in Ponce entstand, bis 1924 die ganze Insel und fand Anhänger quer durch alle Gesellschaftsschichten. Charakteristisch für den Klang der Plena sind ihre aktuellen Texte, weswegen man sie auch als „gesungene Zeitung“ bezeichnet, sowie die Kombination von drei verschieden großen, tamburinähnlichen Handtrommeln (panderetas bzw. panderos) und dem Cuatro, einem gitarrenförmigen Saiteninstrument. Während die Plena nicht getanzt werden muß, handelt es sich bei der puertoricanischen Bomba um eine reine Begleitmusik zu afrikanischen Tänzen. Sie entstand noch zu Zeiten der Sklaverei, da die Spanier – im Gegensatz zu den Engländern – den Sklaven bestimmte kulturelle Freiheiten einräumten. Die verschiedenen Bomba-Stile werden nur von Trommeln in verschiedenen Größen sowie Klanghölzern oder Rasseln begleitet. Die Gesänge folgen dem call-and-response-Prinzip. Die Bomba wanderte mit dem Ende der Sklaverei vom Land in die Städte und konnte sich so ebenfalls zu einer Nationalmusik entwickeln. Musikalische Exportschlager Puerto Ricos jedoch sind die Salsa, die seit Ende der 1960er Jahre in New York entstand, und – neuerdings – der Reggaetón. Die Salsa basiert zwar v. a. auf kubanischen Genres wie dem Son, für ihre Entwicklung spielten aber auch andere karibische Stile eine Rolle, wie die Plena und die Bomba, und viele Musiker der ersten Salsero-Generation stammten aus Puerto Rico. Die ersten Salsa-Interpreten wie etwa Willie Colón (Puerto Rico) und Johnny Pacheco (Dominikanische Republik) hatten noch die harte Realität im Latino-Ghetto (El Barrio) New Yorks besungen, was ihrer Musik die Bezeichnung Salsa Consciente oder Salsa Dura einbrachte. Seit Beginn der 1980er Jahre trat eine neue Musiker-Generation in Erscheinung: Sie sang zu weicheren Klängen romantische, mitunter auch explizit erotische Texte, weshalb ihre Musik Salsa Romántica oder auch Salsa Erótica genannt wurde. Heute gehören beide Richtungen zum festen Bestandteil der internationalen Salsa-Szene. Daß sie sich aber keineswegs gegen-
seitig ausschließen, beweist das Beispiel des puertoricanischen Sängers Marc Anthony und seines Posaunisten Jimmy Bosch. Nach wie vor gehören in Puerto Rico lebende Musiker zu den Top-Namen der Salsa. So ist die Gruppe „El Gran Combo de Puerto Rico“, die im vergangenen Jahr ihr vierzigstes Bühnenjubliäum feierte, heute bereits einen Institution. In der Karibik liegt Puerto Rico bei der Produktion von Salsa-Hits vorne. Der Reggeatón ist ein Phänomen des neuen Jahrtausends. Er entstand – unabhängig voneinander – zwar schon in den 1990er Jahren in Panama, New York und Puerto Rico aus der Kombination von Dance-Hall, gerappten Texten sowie Bomba-, Merengue- und Salsarhythmen, aber erst auf Puerto Rico erfuhr er seine Vollendung und kommerzielle Vermarktung. Die (spanischen) Texte sind meistens inhaltlich sehr reduziert und handeln von der Realität urbaner Jugendlicher aus der Unterschicht. Der Merengue ist heute in der Dominikanischen Republik unbestreitbar das Symbol für die Kreolisierung der Kultur sowie für die nationale Identität schlechthin. Als die Wiege des Merengue gilt die Region Cibao im Norden des Landes. Die mit Akkordeon, Tambora – einer großen, einfelligen Trommel – und einem metallenen Schrappinstrument namens Güira gespielte Variante wird heute als Merengue Típico bezeichnet. Diese Form war es auch, die während der Diktatur Präsident Rafael Leónidas Trujillos (1930–1961) bewußt als nationales Symbol gefördert wurde. Unter seiner Ägide weiteten sich die Merengue-Ensembles zu großen Formationen mit mehreren Blasinstrumenten aus. Seit den 1960er Jahren fanden dann zunehmend elektrische Instrumente Eingang in die Gruppen. Einer der ersten, die den Merengue in großer Besetzung in New York populär machten, war der Bandleader Johnny Ventura. In den 1970er Jahren stieg dann Wilfredo Vargas zu einem der Top-Merengue-Interpreten auf. Der internationale Erfolg stellte sich endgültig in den 1980er Jahren ein, mit Juan Luís Guerra, dessen mehrfache Grammy-Auszeichnungen seinen Ausnahmestatus belegen. Er war es auch, der einem weiteren Genre aus der Dominikanischen Republik zu internationalem Ruhm verhalf, der Bachata mit ihrem typischen Saiteninstrument, dem Requinto. Bachata, ursprünglich bezeichnete der Begriff eine lokale Tanzveranstaltung, ersetzte den Begriff Fandango für den dortigen Tanz. Lange Zeit galt diese Musik als vulgär, was nicht zuletzt an den Texten vieler Lieder lag, in denen die Sänger sich ihrer Männlichkeit rühmten. Die Bachata wurde als „skandalöser“ afrikanischer Tanz oft verboten, zuletzt 1930, was ihrer Verankerung im Volk aber nicht schadete. Nicht zu unterschätzen ist seit dem 20. Jh. die Rolle der karibischen Diaspora in Großstädten wie New York, London und Paris. Sie modernisierte die traditionellen Klänge ihrer Heimatinseln und führte die Stile häufig zu internationalem Erfolg. Martha Ellen Davis, The Music of the Caribbean in: Dale A. Olsen / Daniel E. Sheehy (Hg.), South America, Mexico, Central America, and the Caribbean. The Garland Encyclopedia of World Music, Bd. 2, New York 1998, 789–800. Torsten Eßer / Frölicher Patrick (Hg.), Alles in meinem Dasein ist Musik… Kubanische Musik von Rumba bis Techno, Frankfurt/M. 2004. Ingrid Kum563
m us i k in i b e r oA m er i k A b i s 1 8 0 8
mels, Von Salsa bis Latin Rap, in: Bernd Hausberger / Gerhard Pfeisinger (Hg.), Die Karibik. Geschichte und Gesellschaft 1492–2000, Wien 2005, 205–220. TORS T E N E S S E R
Musik in Iberoamerika bis 1808. Einfuhr von Instrumenten und Musik nach Iberoamerika sind schon in den Expeditionen des →Kolumbus dokumentiert. Die Missionierung bzw. die einzurichtende kirchliche und klösterliche Infrastruktur zwang ab 1511 zur kontrollierten Einfuhr von Musikalien und Instrumenten, organisiert von der →Casa de la Contratación. Nach 1573 galt mit der Umsetzung der Beschlüße des Konzils von Trient die Kontrollpflicht für liturgische Bücher in besonderem Maße, doch blieben auf Grund von Versorgungsschwierigkeiten noch für lange Zeit vortridentinische Bücher und so auch die Musik veralteter / verbotener regionaler liturgischer Repertoires in Gebrauch. Archivalien und die im iberoam. Raum erhaltenen Bücher der Zeit zwischen 1540 und 1650 bezeugen regen Import liturgischer Bücher mit einstimmigem Choral. Von vielen Drucken mit Vokalpolyphonie span. Komponisten (z. B. Cristóbal de Morales, Francisco Guerrero oder Alonso Lobo) sind ca. 100 dort in Archiven erhalten. Abschriften aus gedruckten Büchern, Kopien von Neukompositionen örtlicher Kapellmeister wie Gutierre Fernández Hidalgo (ca. 1582–1623 Kapellmeister in Bogotá, →Quito, →Lima, →Cuzco und La Plata) förderten die Zirkulation von Musik. 1556 erschien in einem in →Mexiko gedruckten Ordinarium erstmals einstimmige Musik. Juan Navarros Liber in quo quatuor Passione Christi continetur, eine Kompilation einstimmiger Gesänge zur Karwoche, der 1604 in Mexiko erschien, gilt als erster monographischer Musikdruck in der Region. Die größten Sammlungen geistlicher Handschriften finden sich in Mexiko-Stadt, Puebla, →Guatemala und Bogotá. Zwei Merkmale sind dazu hervorzuheben: einige Handschriften enthalten ein auffällig altes Repertoire, das bis zum 17. Jh. immer wieder kopiert wurde und kaum Entsprechungen in iberischen Beständen hat. Andererseits überliefern geistliche Handschriften aus dem 16. und frühen 17. Jh. Hymnen und strophische, polyphone Werke geistlichen Inhalts in Nahuatl-Sprache. Darin spiegelt sich die Absicht wider, theologische Inhalte mit Praktiken der Volksfrömmigkeit zu verbinden. Über die in →Amerika vorgefundene Musik herrschen kontroverse Meinungen. Meist wird von Instrumentalmusik im öffentlichen Raum, bei Ritualen und Zeremonien berichtet. Blasinstrumente – Flöten, Panflöten, Okarinas und Zungenblasinstrumente –, Trommeln und Kastagnetten, sind nahezu überall überliefert und zahlreiche Mythen erwähnen Flöten und Trommeln als zentrale Motive. Zeugnisse von komplexeren mechanischen Instrumenten wie Orgeln oder Saiteninstrumenten fehlen. Ob noch gebräuchliche einsaitige Instrumente präkolumbischen Ursprungs sind, konnte bisher nicht bestätigt werden. Spanier und Portugiesen brachten sehr früh ihre Zupf- und Streichinstrumente nach Amerika, die erste aus Sevilla importierte Orgel ist schon 1539 in Mexiko-Stadt bezeugt. Man schätzt für das 18. Jh. einen Bestand von mehreren Hundert Orgeln. Bis ca. 1650 ist das Musikleben in den Kircheneinrich564
tungen Iberoamerikas durch Musik- und Musikerimporte bestimmt, bevor ortsansässige Komponisten zunehmend neues Repertoire produzieren. Der Übergang vom Import span. Komponisten und Kapellmeister zum Einsatz am. Musiker erfolgte im Zuge des Aufbaus musikalischer Infrastruktur für den Kirchendienst in der Tradition span. Katedralkapellen – capillas catedralicias. Die gesamte musikalische Ausbildung gehörte zu deren Aufgaben, Positionen, die nach einem geregelten Wettbewerbssystem auch in Amerika besetzt wurden. Die Aufgaben der Kirche in Iberoamerika zwangen jedoch zu entscheidenden Anpassungen im System der capilla catedralicia, da etwa die musikalische Alphabetisierung der Indios ein dringendes Desiderat darstellte, um den musikalischen Dienst in der Liturgie zu ermöglichen und das passive Verständnis der Musik zu befördern. Unterweisung in Gesang ist schon 1523 in der Schule von Fray Pedro de →Gante in Texcoco nachgewiesen, auch Bernardino de Sahagún unterrichtete Musik in der 1536 gegründeten Schule in Tlaltelolco, beide in Mexiko. Die indigenen Musiker wurden binnen kürzester Zeit in der musikalischen Liturgie eingesetzt und erwarben dabei Vorrechte und besseren Zugang zu geistlichen Laufbahnen. Die iberoam. Kirche konnte bald selbst für die Ausbildung ihres musikalischen Personals sorgen. Instrumentalunterricht wurde von span. ministriles, also nicht-geistlichen Berufsmusikern geleistet, die nicht nur Indios, sondern auch Schwarze und Mulatten (→Casta) unterrichteten. Bis 1630 ist die Ankunft von mehr als 200 Instrumentalmusikern aus verschiedenen europäischen Ländern dokumentiert. Mit ihnen kam auch das europäische und span. Instrumentarium. Schon B. de →Las Casas bewunderte den Erfindungsreichtum der Indios beim Nachbauen und Erlernen span. Instrumente, die Eingang in ihre eigenen Musiktraditionen fanden. Der hohe Bedarf an Instrumenten in der Musikausübung führte ab der Mitte des 16. Jh.s zur Etablierung von Gitarren-, Geigenund Orgelwerkstätten. Sebastián de León y Cárdenas aus Sevilla ist der erste bekannte Orgelbauer Iberoamerikas. Die meisten erhaltenen Orgeln in Amerika sind aber das Werk anonymer Handwerker, wohl indigener Orgelbauer, denen in einem Dokument der Zeit Philipps II. 1561 attestiert wurde, schnellere und bessere Instrumentenbauer zu sein als die Spanier. Die Kenntnis der populären und privaten Musikpflege fußt auf viel dünnerem Quellenstand als diejenige über die kirchliche Musik. Es scheint, daß sich populäre Musikpraktiken der Indios resistenter gegen den Einfluß der Kolonialherren erwiesen als die gewaltsam unterdrückten religiösen Äußerungen. Faßbarer ist die Permeabilität zwischen den Gattungen der importierten Theater- und Hofmusik und den lokalen, populären Gattungen der Stadt- und Landbevölkerung. Der mexikanische corrido, der karibische aguinaldo, die indianische yaravíes und huaynos in →Peru sind Ableitungen von span. Gattungen wie romance, cantiga oder villancico. Auch die Ensembles der Popularmusik bedienten sich bereits im 17. Jh. span. Instrumente und deren lokaler Abwandlungen wie der bandola, einem Instrument aus der Familie der Mandolinen, das von der span. bandurria abstammt. Orchester von Indios und von Schwarzen sorgten regelmäßig für Tanzmusik in sog. sa-
m u s i k , t h eAter, tA n z
raos, fandangos oder bailes. Jenseits der Städte und weit weg vom Einfluß der Bischofssitze waren die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Musikpflege fließend. Während man geistliche villancicos auch außerhalb der Kirche spielte, wurden weltliche Tänze und Lieder in die Liturgie integriert. Auch die europäischen Musiktraditionen veränderten sich durch den Kontakt zu den Ew. und auf Grund der größeren Entfernung zum europäischen Herkunftsgebiet. Wichtiger jedoch als der Einfluß indigener Musikpraktiken war derjenige der Musik von schwarzen Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und Mulatten. Zum einen war den Schwarzen die Aufführung ihrer Tänze und Gesänge selbst bei christl. Ritualen erlaubt, etwa im Kontext von →Cofradías, zum anderen wurden Schwarze und deren Musik in span. Werken thematisiert, etwa in den Villancicos de negros, negros, negrillas oder guineos. Deren Berücksichtigung in Text und Musik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich mit der Vermehrung der schwarzen Bevölkerung in Iberoamerika ihre Lebensumstände und soziale Stellung z. T. grundlegend verschlechterten. Selbst die villancicos de negros von Sor Juana Inés de la Cruz geben ein naives, idealisiertes Bild wider. Die fortschreitende Hybridisierung der weltlichen Musikpraktiken wirkte sich auch auf die geistliche Musik aus, da indigene und schwarze Musik-elemente in entlegeneren Kirchengemeinden nicht strikt ausgeklammert werden konnten, ohne den regelmäßigen musikalischen Dienst zu gefährden. Während etwa Bartolomé Lobo Guerrero (1546– 1622) in →Lima die Zerstörung der indigenen Instrumente überwachte, komponierte Gaspar Fernandes (1566–1629) in Guatemala negrillas für den Kirchendienst. Seit 1550 läßt sich höfische Musikpraxis in Peru, Santo Domingo (→koloniale Metropolen) und Mexiko nachweisen. Span. Vize-Kg.e, Adlige, hohe Beamte und Kleriker brachten Instrumentalmusiker, ministriles, und Sänger mit, die bei öffentlichen und privaten musikalischen Veranstaltungen wie Theateraufführungen, Festlichkeiten und repräsentativen Anläßen musizierten. Das praktische Musizieren gehörte jedoch nicht zum kulturellen Selbstverständnis der weißen Eliten, so daß weltliche Musik jedweden Repertoires im Verlauf des 17. Jh.s in die Hände von Indios, Schwarzen, Mestizen und Mulatten überging, sei es von der Tanzveranstaltung der niederen und höheren Gesellschaftsschichten bis zur Kantate, frühen Oper und Symphonie. Die Trennung zwischen Musikern und Publikum implizierte sowohl ein soziales Gefälle als auch eine deutliche Rassentrennung. Der soziale Status von Musikern war daher in Iberoamerika deutlich schlechter als in Europa. Bis zu Beginn des 18. Jh.s blieb die Konzertaktivität und die Produktion von Musik auf den Hof und die Kirche beschränkt, erst mit der verstärkten Rezeption it. Musik ab 1720, die durch regelmäßige Besuche it. Musiker unterstützt wurde, begann sich zumindest die Theatermusik vom Mäzenatentum des Hofes und der Kirche zu emanzipieren. Von den 1740er Jahren an führten it. Truppen Opernauszüge an öffentlichen Theatern in den wichtigen Metropolen auf. Erst seit den 1720er Jahren entstanden in allen größeren Metropolen öffentliche Theater und Opernhäuser. Die geregelte Musikausbildung blieb für den Bereich der
hochstehenden Musikpflege – Kirchenmusik, Musiktheater, symphonische Musik und Kammermusik – bis ca. 1750 v. a. in den Händen der Kirche. In Missionen und im Umfeld der Kirchenkapellen wurden Kinder, Männer und auch Frauen in Musik unterwiesen. Es waren auch Geistliche, die die ersten Musikakademien für die Öffentlichkeit eröffneten. 1711 öffnete die Musikschule der Kathedrale zu Mexiko-Stadt ihre Tore. Der Colegio de Santa Rosa María in →Valladolid / Mexiko spezialisierte sich spätestens 1738 auf die musikalische Ausbildung von Mädchen. Während sich seit ca. 1760 ein Netzwerk säkularer Musikschulen in allen wichtigen Städten herausbildete, entwickelte sich das Interesse für die Institutionalisierung des Konzertwesen bei den bürgerlichen Gesellschaftsschichten erst im 19. Jh. Als vereinzelte Pionierleistung dürften die Konzerte der Academia de la Escuela de Minas in Mexiko gelten, die ab 1785 stattfanden. María Gembero Ustárroz / Emilio Ros-Fábregas (Hg.), La música y el atlántico, Granada 2007. Malena Kuss (Hg.), Music in Latin America and the Caribbean. An Encyclopedic History, 4 Bde., Texas 2004ff. Lourdes Turrent, La conquista musical de México, Mexiko-Stadt 1996. C R ISTIN A U RC H U EG U ÍA Musik, Theater, Tanz. Die darstellenden Künste (→Kunst) in Indien sind auf Grund der vielfältigen ethnischen, kulturellen und linguistischen Identitäten äußerst heterogen, so daß man kaum von einer dominanten südasiatischen Tradition sprechen kann. Konzeptionell und von ihrer historischen Entstehung her betrachtet sind M., Th. und T. unter dem Begriff natya/sangita eng miteinander verknüpft und teilen sich häufig Terminologie, Metrum und Semiotik. Generell kann man bei den darstellenden Künsten Unterschiede zwischen der nordind. Hindustani- und der südind. Karnatak-Tradition feststellen. Beide haben den gleichen Ursprung und beruhen auf der ersten textlichen Abhandlung zum Thema M., Th. und T., dem Natyashastra. Dieses wurde zwischen 400 und 300 v. Chr. verfaßt und einer mythischen Gestalt namens Bharata Muni zugeschrieben. Es bildet bis heute einen wichtigen Referenzpunkt für die darstellenden Künste →Indiens. Weiter unterscheidet man zwischen den klassischen und den volkstümlichen Traditionen, obwohl dabei rigide Grenzen nicht auszumachen sind. Die 1953 in →Delhi gegründete zentrale „Sangeet Natak Akademi“ grenzt 9 klassische T.-Traditionen von einander ab. Hierzu zählen Bharata Natyam aus Tamil Nadu, Kathak aus Haryana, Rajasthan und Uttar Pradesh, Kathakali aus Kerala, Kuchipudi aus Andhra Pradesh, Manipuri aus Manipur, Mohiniaattam aus Kerala, Odissi aus Orissa, Satriya aus Assam und seit 1970 auch die Chhau Tänze aus Westbengalen (→Bengalen), →Bihar und Orissa. Weiterhin gibt es unzählige Stammes- und Volkstänze, die sich im Austausch mit den klassischen Tänzen entwickelten und den Facettenreichtum der Regionalkulturen widerspiegeln. Hierzu zählt bspw. der Bhangra aus dem →Panjab. In der M. gibt es volkstümliche musl. beeinflußte Traditionen wie das qawali (→Sufismus) und die musikalischen Überlieferungen aus der bhakti-Bewegung ab dem 16. und 17. Jh. Im Volks-Th. findet man 565
m us k At
eine weitverbreitete Tradition des Puppenspiels. Generell kann man den Prozeß einer Popularisierung der klassischen Traditionen durch die vermehrte Nutzung von Regionalsprachen vom 15. Jh. an beobachten. Oft erfüllen die darstellenden Künste sowohl im klassischen wie auch im volkstümlichen Bereich religiöse Funktionen. So bieten M. und T. in einigen ind. Traditionen einen Weg zu Katharsis und persönlicher Gotteserfahrung. Meist erkennt man in Texten und Darstellungsformen grundlegende religiöse Topoi, die oft rituellen Handlungen, wie dem vedischen Opfer, entspringen. Shiva in seiner Form des tanzenden kosmischen Nataraja stellt ein Beispiel für die Wichtigkeit des T.s im hinduistischen Glaubenskontext (→Hinduismus) dar. Auch die Herausbildung vieler klassischer ind. Tänze wie Bharata Natyam ist eng verknüpft mit den Performanzen der Tempeltänzerinnen (devadasis). Durch eine vermehrte Aufnahme der Künste in höfische Kontexte erweiterten sich deren Konnotationen über die rein religiös-rituelle Ebene hinaus. Die Herausbildung der unterschiedlichen Traditionslinien des Hindustani und des Karnatak wurde durch die Gründung des →Delhi-Sultanats im 13. Jh. eingeleitet. Es entstanden zwei unterschiedliche M.-Traditionen, wobei sich die nördliche Variante durch persische und türk. Einflüsse auszeichnete. Diese Tradition wurde insb. von Tansen, dem hochgeachteten Hofmusiker des Mogul-Ks.s →Akbar (→Moguln) im 16. Jh. geprägt. Eine ähnliche Rolle übernahm im südlichen Raum um Tanjore (→Tanjavur) Ende des 18. Jh.s das künstlerische Dreigestirn von Tyagaraja, Svami Shastri und Dikshitar für die Karnatak-Tradition. Eine intensive Beziehung zwischen dem Lehrer (Guru) und dem Schüler (Shishya) sowie die orale Überlieferung (→Orale Traditionen) von Wissen spielten eine große Rolle in der ind. Tradition. In den letzten Jahrzehnten kam es jedoch vermehrt zu einer Verschriftlichung und Institutionalisierung der darstellenden Künste, die eine orale Weitergabe der Traditionen zunehmend verdrängt. Ananda K. Coomaraswamy, The Sacred and the Secular in India’s Performing Arts, Delhi 1980. Bonnie Wade, Performing Arts in India, Berkeley 1983. M A N J U L U DWI G / JÜRGE N S CHAF L E CHNE R
Muskat (Myristica fragrans) ist ein Baum von ca. 20 m Höhe, der ursprünglich nur östlich der →Wallace-Linie vorkam und auf der kleinen zentralmolukkischen Insel →Banda endemisch war. Der M.-Baum liefert aus seiner Frucht zwei →Gewürze, nämlich die M.-Blüte und die M.-Nuß. Bei der M.-„Nuß“ handelt es sich um den von der Samenschale befreiten Kern der aromatischen Zitrusfrucht. Die M.-Blüte, die sog. Macis ist der getrocknete Arillus, der diesen Kern umgibt. Sie galt im asiatischen und europäischen Gewürzhandel des Mittelalters und der frühen Neuzeit als wertvoller. Neben dem M.-Baum auf Banda wachsen an den Küsten →Neuguineas noch weitere wilde M.-Arten, die teilweise auch geerntet wurden und in den Handel kamen, jedoch von minderer Qualität waren und nie die Bedeutung der auf Banda beheimateten Art erreichten. Geerntet wird zweimal jährlich, in guten Jahren kann man bis zu 1 500 Früchte von einem Baum erhalten. M.-Nuß und M.-Blüte werden anschließend in 566
der Sonne getrocknet. Neben seiner Funktion als Gewürz dient M. in →Indonesien bis heute auch als Rauschmittel, da v. a. die unreife M.-Nuß Halluzinogene enthält. Ferner wird M. zur Hungerdämpfung eingesetzt. M.-Öl wird aus Samen, Blättern und Rinde gewonnen und ist äußerst aromatisch. Es findet als Geschmacksverstärker für Softdrinks und Nahrungsmittel und als Parfum und Ingredienz für Haushaltssprays Verwendung. Der Handel mit M. ist sehr alt. Darauf weist alleine schon die indigene malaiische Bezeichnung pala hin, ein Lehnwort aus dem Sanskrit. Im Westen wird M. erstmals gesichert für das Jahr 540 in Byzanz erwähnt. Wie →Nelken wurde M. nach China, →Indien, Persien und Arabien exportiert, teils über die Route durch den Sulu-Archipel an →Nord-Borneo vorbei, teils über →Java und die malaiische Halbinsel. Über die Levante gelangten Nelken und M. weiter nach Europa. Die Versuche der Portugiesen im 16. Jh., ein Monopol auf den Handel mit M. in →Südostasien einzuführen, scheiterten an ihrer mangelnden militärischen Schlagkraft in den Zentralmolukken. Der ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) gelang es im frühen 17. Jh. nach der Vertreibung der Portugiesen aus den →Molukken, ein effizientes Handelsmonopol auf M. zu errichten, das bis ins 19. Jh. bestand. In den ersten Jahrzehnten bescherte der Gewürzhandel der VOC enorme Gewinne und ermöglichte den Auf- und Ausbau ihrer Städte und Häfen wie Amsterdam oder Hoorn. Die Durchsetzung ihres Monopols allerdings basierte auf einem →Massaker durch die VOC, dem 1621 fast die gesamte Bevölkerung der Insel Banda zum Opfer fiel. Nach Augenzeugenberichten überlebten von ca. 15 000 Ew. auf Banda nur knapp 1 000 das Massaker. Danach holte die VOC zur Gewinnung von M. andere Arbeitskräfte, v. a. aus Java, nach Banda. M. blieb auch im 18. Jh. eines der wichtigsten Handelsprodukte der VOC. In den letzten Dekaden allerdings sorgten Mißwirtschaft der VOC, Mißernten und Naturkatastrophen für einen starken Einbruch in der Produktion von M., der erst Anfang des 19. Jh.s kompensiert wurde. Die Einführung von M. in →Sansibar im frühen 19. Jh. war dort im Gegensatz zum Nelkenanbau erfolglos. Bis heute ist Indonesien (80 %) der größte Produzent von M., gefolgt von Grenada (17 %, hatte von 1967–1974 sogar M. in seiner Flagge) und →Sri Lanka (3 %). Charles Corn, The Scent of Eden, Tokio 1998. Joanna Hall Brierley, Spices, Kuala Lumpur 1994. Sigmund Rehm / Gustav Espig, Die Kulturpflanzen der Tropen und Subtropen, Stuttgart 1984. H O LG ER WA R N K Muslim League, All-India. Das Ziel der im Dez. 1906 gegründeten M.L. war es, die politischen, ökonomischen und religiösen Interessen der Muslime Südasiens zu vertreten. Da der Großteil der Führungsriege der landbesitzenden musl. Elite angehörte und das Parteiprogramm für eine pro-brit. Politik eintrat, vermied die M.L. über weite Strecken der ind. Unabhängigkeitsbewegung (→Ind. Nationalismus) eine konfrontative Position. In Folge der Wahlen von 1937, in denen die M.L. keine eindeutigen Mandate für die Provinzen mit musl. Bevölkerungsmehrheit erreichte, änderte sich ihre Politik erheblich. Enttäuscht durch das schlechte Wahlergebnis
n Ach ti g Al, g u s tAv
startete die M.L. eine Kampagne gegen die vermeintlichen „Grausamkeiten der Kongreßherrschaft“. Die Versuche des →Indian National Congress eine nationale ind. Identität zu formen, führten in den Augen der M.L. zu einer Marginalisierung der nicht-hinduistischen Gesellschaftsgruppen. Nach der Niederlegung aller Ämter in der Congressbewegung durch die Angehörigen der M.L. im Okt. 1939, wurde im März 1940 die sog. „PakistanResolution“ verabschiedet. Diese sah auf Grundlage der Zwei-Nationen-Theorie (→Pakistan-Bewegung) die Errichtung eines unabhängigen Staates in den Gebieten mit musl. Bevölkerungsmehrheit im Nordwesten und Nordosten Südasiens vor. Die M.L. nutzte den →Islam, um in breiten Teilen der Gesellschaft Unterstützung für die Pakistan-Bewegung zu gewinnen. In dem sie sich und ihren Führer →Jinnah als Vertreter aller Muslime Südasiens präsentierte, wurde die M.L. in der Pakistanfrage zum Hauptgesprächspartner der Briten und des Indian National Congress. Die Forderung nach einem Staat →Pakistan wurde durch die Wahlen 1946 gestützt, da die M.L. eine überwältigende Mehrheit der für Muslime reservierten Sitze errang. Um der Forderung mehr Gewicht zu verleihen, rief die M.L. im Aug. 1946 zum aktiven Handeln auf, was in →Bengalen zu gewalttätigen kommunalistisch motivierten Auseinandersetzungen führte. Auf Grund der scheinbar verbreiteten Unterstützung einer pakistanischen Staatsgründung und der unterschwelligen Gefahr weiterer kommunalistischer Unruhen gaben die Briten den Forderungen der M.L. nach und ließen am 14. bzw. 15.8.1947 die Gründung zweier Staaten zu: Pakistan und →Indien (→Teilung Brit.-Indiens). Nach der Unabhängigkeit schwand der Rückhalt der M.L. im Volk, da sie nach Jinnahs Tod im September 1948 ihre wichtigste Führungspersönlichkeit verloren hatte und bei der Ausarbeitung einer Verfassung und eines demokratischen Systems, welches ganz Pakistan repräsentieren sollte, gescheitert war. Abdul Hamid, Muslim Separatism in India, Lahore 1971. Syed S. Pirzada (Hg.), Foundations of Pakistan, Islamabad 2007. AL I US MAN QAS MI
Nagar-Aufstand von 1830–31 in dessen Folge die Briten die Verwaltung von M. übernahmen. (→British Raj) Um die Steuereinnahmen zu erhöhen, wurden verstärkt Exportgüter wie →Kaffee und →Baumwolle statt Nahrungspflanzen angebaut (→Vertragsarbeit), was schwere Hungersnöte, wie die von 1876–77 mit verursachte. 1881 wurde die Administration wieder der Wodeyar-Dynastie überlassen, deren Industrie- (Textilindustrie, KolarGoldfelder), →Bildungs- (Gründung von Colleges und Universitäten) und Sozialpolitik M. den Ruf eines „fortschrittlichen“ Fürstentums einbrachten. 1881 erhielt M. als erster ind. Fürstenstaat ein Repräsentantenhaus (Representative Assembly). 1947 wurde der Staat M. in die Ind. Union (→Indien) integriert. James Manor, Political Change in an Indian State, Delhi 1977. Janaki Nair, Miners and Millhands, Delhi 1998.
Mustafa Kemál →Atatürk
Nachtigal, Gustav, * 23. Februar 1834 Eichstedt/Altmark, † 20. April 1885 auf See vor westafr. Küste, □ Kap Palmas, Gebeine 1887 nach →Duala überführt, ev.-luth. N., Sohn eines Predigers, studierte Medizin in Greifswald und praktizierte dann als Militärarzt in Köln. An →Tuberkulose erkrankt, begab er sich nach Nordafrika, um sich dort zu kurieren, wurde Leibarzt des Bey von Tunis und übersiedelte 1868 nach →Tripolis. Dort traf er Gerhard →Rohlfs, der ihm vorschlug, an seiner statt im Auftrage Kg. Wilhelms I. von Preußen Geschenke an Shehu cUmar von Borno zu überbringen. 1869 brach N. von Tripolis auf und erreichte 1870 über Murzuk Kukawa, die Hauptstadt Bornos. Während der Saharadurchquerung bereiste er auch Tibesti und dokumentierte die dortigen Tibbu. Von Kukawa aus unternahm er ausgedehnte Reisen nach Borgu, Kanem und Bagirmi. Auch begleitete er den Herrscher von Borno auf einer Sklavenrazzia (→Sklaverei und Sklavenhandel) in das Land der Musgu, ausführlich beschrieb er das Tschadbecken und seine Bewohner sowie die politischen Verhältnisse.
Myanmar →Birma Mysore. Hauptstadt eines ind. Regionalreiches sowie des gleichnamigen Distriktes im ind. Bundesstaat Karnataka (2011: 983 893 Ew.). Die Ursprünge des Reiches von M. sind unklar. Angehörige der Wodeyar-Dynastie tauchen erstmalig in Dokumenten des späten 16. Jh.s auf. Im Verlauf des 17. Jh.s etablierte sich M. als wichtigster Staat im südlichen Dekkan, ein Prozeß, der mit Zentralisierungstendenzen in der Verwaltung und der Armee einherging. Die Wodeyars verloren allerdings zunehmend die Kontrolle über den Staat, zunächst an den Clan der Kalale und dann an den Armeeoffizier Haidar Ali. Unter Haidar Ali und dessen Sohn →Tipu Sultan expandierte M. beträchtlich. 1799 wurde Tipu Sultan endgültig von den Briten besiegt, welche die Wodeyar-Dynastie wieder einsetzten. Die massiven Zahlungen, die M. an die Briten zu leisten hatte, führten zu Unruhen und zum
TO R STEN TSCH A C H ER
Nabob (→Hindi: Navāb) war der vom arab. Naib (Stellvertreter) abgeleitete Titel v. a. musl. Provinz-Gouv.e im ind. Mogulreich (→Moguln). Während dessen Niedergang in der ersten Hälfte des 18. Jh.s etablierten viele N.s in ihren Provinzen unter Beibehaltung des Titels eigene Herrscherdynastien. Die Mehrheit der N.s erkannte 1857 die brit. Oberhoheit über →Indien an und nahm unter Beibehaltung ihrer Herrscherwürde Verwaltungsaufgaben in brit. Auftrag und unter brit. Aufsicht wahr. Seit dem Ende des 18. Jh.s wurden in Großbritannien ins Mutterland zurückgekehrte brit. Beamte und Geschäftsleute, die es in Indien zu erheblichem Wohlstand gebracht hatten, als N. bezeichnet. Von diesem Bedeutungsinhalt ausgehend, wurde N. bald die Bezeichnung für jeden Inhaber eines sehr großen Vermögens, auch wenn dieses nicht in Indien erworben worden war. Im Lauf des 20. Jh.s kam die Bezeichnung aus der Mode. Lauchlin Macleane, Original Papers Transmitted by the Nabob of Arcot to His Agent in Great Britain, London 1777. Tillmam Nechtman, Nabob: Empire and Identity in Eigtheenth-Century Britain, Cambridge 2010. C H R ISTO PH K U H L
567
n A c ht i g Al s c h n ellen
Im März 1873 machte er sich auf den Rückweg über Wadai, Darfur und Kordofan und erreichte →Kairo im Nov. 1874. In Deutschland begann er mit der Veröffentlichung seines Reisewerkes. 1882 wurde N. von Reichskanzler →Bismarck zum Generalkonsul in Tunis ernannt, 1884 zum Reichsbeauftragen für →Togo und →Kamerun. Nach mehreren Reisen an die Küsten Westafrikas erkrankte er 1885 wieder an Tuberkulose und starb an Bord des Kanonenboots SMS Möve. Er wurde zunächst auf Kap Palmas beigesetzt, später nach Kamerun überführt. Im Nachhinein betrachtet, verblassen N.s kolonialpolitische Aktivitäten hinter den wissenschaftlichen Errungenschaften. Mehr noch als Heinrich →Barth muß er als ungeheuer detailgetreuer und genauer Berichterstatter für die Länder am →Tschadsee gelten, der zudem seine Aufgabe mit großer Sensibilität und ohne Mißachtung gegenüber den Afrikanern wahrgenommen hat. Herbert Ganslmayr (Hg.), Gedenkschrift Gustav Nachtigal: 1874–1974, Bremen 1977. Gustav Nachtigal, Saharâ und Sûdân. Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika, Berlin 1879–81, Leipzig 1889. DE T L E F GRONE NBORN
Nachtigalschnellen (frz. Chutes de Nachtigal, engl. Nachtigal Falls). Die N. unterbrechen den Lauf des längsten kamerunischen Fluß Sanaga in dem Bezirk Batschenga, ca. eine Stunde Autofahrt nordöstlich von der Hauptstadt →Jaunde. Um 1888 benannte sie eine dt. →Expedition nach dem dt. Generalkonsul Gustav →Nachtigal, der 1884 im Auftrag des Dt. Reiches in →Kamerun einen „Freundschafts- und Schutzvertrag“ schloß. Auf der Handelsstraße nordwärts nach dem Gebiet Tibati über Joko bewunderte die Expedition hier die Schönheit der Landschaft i. allg. und der Flußschnellen insb. Deswegen errichteten die Expeditionsteilnehmer eine Residenz am linken Ufer des Sanaga. Die Gegend, die damals Otibili genannt wurde und heutzutage den Namen Nachtigal trägt, liegt am Übergang des Graslandes zum Regenwald. Bis zur Mündung des Mbam-Flusses, wo Wasserfälle liegen, ist der Sanaga abwärts der Flußschnellen schiffbar. Die ehem. Handelsstraße von Jaunde nach Tibati, heute eine normale Straße, kreuzt noch den Fluß aufwärts. Dort ist der Sanaga mittels eines Motorboots überquerbar. Über die N. kursieren viele Sagen. Nach einer davon wohne gerade in den N. die „Ngân Medîa“, eine mysteriöse und 1000 m lange Schlange. Mündlichen Erzählungen nach hätte dieses schwarze Monster den Beti (einer ethnischen Gruppe im Zentrum, im Süden und im Osten Kameruns) bei ihrer Flucht vor islamischen Kriegern Anfang der Neuzeit als Brücke die Überquerung des Flusses erleichtert. Wegen eines Speerstiches von einem bösen Mann sei die „Ngân Medîa“ aus Wut mit Menschen, die gerade auf ihrem Rücken gestanden hätten, in die N. gesunken. Heinrich Schnee (Hg.), Dt. Kolonial-Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1920, 613. GE RMAI N NYADA NAFTA (North American Free Trade Organization). Das am 1.1.1994 in Kraft getretene Nordam. Freihandelsabkommen (engl.: NAFTA, frz.: ALÉNA, span.: TLCAN) wurde im Herbst 1992 von den →USA, →Kanada und 568
→Mexiko unterzeichnet. Ziele des NAFTA sind, Handelsbarrieren zwischen den Staaten abzubauen, den →Freihandel zu fördern, für günstigere Investitionsbedingungen zu sorgen und eine Stärkung der Eigentumsrechte herbeizuführen. Das NAFTA repräsentiert neben der EU eine der weltweit größten Freihandelszonen mit einem BIP von über 15 000 Billionen US-$ und einer Bevölkerung von über 450 Mio. Menschen. Vorläufer des NAFTA ist das 1989 in Kraft getretene Abkommen für eine kanadisch-nordam. Freihandelszone (CUSFTA), welche als Reaktion auf den sich in Europa bildenden Binnenmarkt entstand. Von Beginn der 1980er Jahre an begannen sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Mexiko zu liberalisieren, und beide Länder senkten gegenseitig massiv ihre Zollsätze. Es folgte ein großer Aufschwung der Maquiladora-Fabriken in Mexiko, welche Halbfertigwaren aus den USA importieren, um sie weiter zu verarbeiten und als Fertigprodukte wieder in die USA zu exportieren. Anfang der 90er Jahre bemühte sich Mexiko um weitere Handelserleichterungen mit den USA, was letztendlich dazu führte, daß die von den USA und Kanada 1989 gebildete Freihandelszone zu einer nordam. Freihandelszone ausgeweitet wurde. Das Abkommen wurde im Herbst 1992 von Kanada, den USA und Mexiko unterzeichnet. Allerdings wurde es vor der Ratifizierung im US-Kongreß um zwei weitere Zusatzabkommen (side-agreements) für Arbeits- und Umweltstandards ergänzt. Mit dem NAFTA wurde erstmals eine Nord-Süd-Freihandelszone errichtet. Bei der Einführung des NAFTA handelte es sich um die Vereinbarung eines reinen Präferenzhandelsabkommen, mit dem Ziel der Liberalisierung der Märkte. Es zielte somit, anders als andere zu der gleichen Zeit entstandene regionale Wirtschaftsvereinbarungen (wie z. B. die EU), nur auf die Errichtung einer Freihandelszone für Güter, Dienstleistungen und Kapital ab. Befürworter des NAFTA erhofften sich durch dieses System die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Verbesserung der Lebensbedingungen durch den steigenden Handel in allen beteiligten Ländern. Das damals wirtschaftlich wenig stabile Mexiko sollte durch den leichteren Zugang zu Investitionen wieder gestärkt werden. Kritiker des NAFTA in den USA befürchteten aber eher das Gegenteil, nämlich eine Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die Verlagerung der einfachen Tätigkeitsbereiche nach Mexiko (aber auch Kanada) und damit den Verlust von Arbeitsplätzen sowie eine Angleichung der Arbeits- und Umweltverhältnisse nach unten. Kritiker in Mexiko warnten vor einer Überschwemmung der einheimischen Märkte mit US-am. Billigmais, was Existenzen auf dem Land kosten würde. Die meisten Bestimmungen wurden bereits bei Inkrafttreten des Abkommens eingeführt, 2008 wurden die letzten Handelsrestriktionen abgeschafft. Auf Grund der Asymmetrie der Vertragspartner, der eindeutigen Dominanz der USA und der beschränkten Beziehungen zwischen Kanada und Mexiko, könnte man beim NAFTA von zwei zusammengefügten bilateralen Freihandelsabkommen reden. In der Literatur findet man häufig die Bezeichnung „Dualer Bilateralismus“. Im Unterschied zu anderen Wirtschaftsabkommen spielen im NAFTA die Institutionen eine eher unterge-
n Ah ru n g s m i ttel, ü bers eei s ch e
ordnete Rolle; die Staaten selbst bestimmen die Politik. Hauptorgan des NAFTA ist die Freihandelskommission, die aus den Wirtschaftsvertretern der drei Staaten besteht und sich mindestens einmal im Jahr trifft. Sie koordiniert und beaufsichtigt die verschiedenen Ausschüsse und Arbeitsgruppen innerhalb des NAFTA-Raumes. Das Sekretariat ist für die administrativen Tätigkeiten zuständig und besteht aus den Sekretariaten in Washington D.C., Mexiko-Stadt und Ottawa. Da die Bestimmung des Streitschlichtungsmechanismus’ eine besondere Rolle bei den Verhandlungen spielte, wurden drei verschiedene Verfahrensmöglichkeiten bei Streitfragen eingeführt: ein Verfahren für Investitionsfragen, eines, das sich mit dem Antidumping beschäftigt und ein drittes, generelles Verfahren. 1994 dachte man auch über die Möglichkeit einer Ausweitung auf weitere Teile →Amerikas nach. Damals hatten die Reg.en der jungen Demokratien →Lateinamerikas einen zumeist neoliberalen Wirtschaftskurs eingeführt. Als großes Ziel hatte die US-Reg. die Gründung einer gesamtam. Freihandelszone (ALCA) vor Augen. Dieser Prozeß scheiterte 2005. Mittlerweile haben die USA ihre Strategie geändert und mit verschiedenen Ländern Lateinamerikas bilaterale Abkommen abgeschlossen. Die tatsächlichen Errungenschaften des NAFTAAbkommens, v. a. hinsichtlich Arbeit und Handel, sind stark umstritten. Die zuletzt eingeführten Bestimmungen betrafen den mexikanischen Agrarsektor, der unter den neuen Bedingungen nur schwer gegen das US-am. Agrobusiness konkurrieren kann, stark. Tatsächlich ist das Handelsvolumen zwischen den Ländern seit der Einführung des NAFTA stetig gestiegen, doch inwieweit dies dem Abkommen zu verdanken ist, ist schwer einzuschätzen. Dennoch muß man sagen, daß die Bildung des NAFTA ein unvermeidbarer Prozeß im Rahmen der →Globalisierung und der zunehmenden Verflechtung der wirtschaftlichen Verhältnisse der USA mit Kanada und Mexiko war, wobei hinter diesem Prozeß v. a. die Interessen transnationaler Firmen standen. MARÍ A L UCÍ A RODRI GUE Z B.
Nahrungsmittel, überseeische. Die N. umfassen v. a. →Reis, Mais, →Kartoffeln, aber auch Tomaten, Kürbis, Paprika, →Bananen und Zitrusfrüchte. Obwohl einige asiatische N. und Nutzpflanzen bereits im Mittelalter in der Levante und Teilen Europas kultiviert wurden – bekannt waren sie bereits vorher – begann der Siegeszug der ü. N. mit der europäischen Expansion seit dem ausgehenden 15. Jh. Sie sicherte dem Mais, dem Reis, später auch der Kartoffel, langfristig einen festen Platz im Speiseplan des europäischen Konsumenten. Produktion, Distribution und Konsum der ü. N. wurden durch die Überseeexpansion auf neue Grundlagen gestellt und den Bedürfnissen der europäischen Wirtschaft angepaßt. Eine wichtige Motivation der Expansion nach Übersee war die Erschließung „botanischer Ressourcen, die für Europa nutzbar gemacht werden konnten“ (Wendt). Die Produktion dieser Waren wurde nach 1500 in weiten Teilen der Welt unter Kontrolle europäischer Verteilernationen auf überseeische Märkte ausgerichtet. Die Nutzpflanzen außereuropäischer Herkunft wurden teilweise in Europa domestiziert (Mais, Reis, Kartoffel),
ihre Distribution häufig über zentralstaatlich gesicherte Monopole gelenkt. Umfangreiche Wanderungsbewegungen und globale Umschichtungen von Waren- und Kapitalströmen waren die Folge. Wie der →Zucker wanderte der Reis von seinen Ursprungsgebieten in Asien im Laufe der Frühen Neuzeit über den →Atlantik. Der Gegenstrom brachte den Mais und die Kartoffel nach Europa, Afrika und Asien. Die nordam. und karibischen Plantagenwirtschaften basierten auf einem steten Zustrom afr. Sklaven (→Sklaverei). Die maßgeblichen Steuerungsimpulse in diesen Prozessen gingen also von den europäischen „Kolonialmächten“ aus. Wie im Falle der überseeischen Genußmittel →Tee, →Kaffee, Schokolade (→Kakao) u. →Tabak geschah die Einführung und Adaption der ü. N. in Europa häufig dreistufig. Zunächst wurden die ü. N. importiert und in Kräuter- und Ziergärten kultiviert. Es folgte der kleinflächige Anbau in Bauerngärten, bevor in einer dritten Stufe eine generelle Verbreitung im Feldanbau erfolgte. Durch ihren relativ hohen Kaloriengehalt stellten insb. Mais, Reis und Kartoffeln eine willkommene Alternative zum Brotgetreide dar. Mais war die erste überseeische Feldfrucht, die in nennenswertem Ausmaße auch in Europa kultiviert wurde. →Kolumbus brachte ihn von seiner ersten Amerikareise mit, und sein Anbau verbreitete sich relativ schnell über die Iberische Halbinsel, Italien, Frankreich bis hin zum Balkan und sogar nach Asien. Wie beim Reis wirkten sich hierbei ein gemäßigtes →Klima mit genügend Wärme und Regen, wie es v. a. in Südwesteuropa zu finden war, begünstigend auf den Anbau aus. Mais wurde wegen seiner Süße geschätzt, oft aber auch als Viehfutter verwendet. Reis kam ursprünglich aus Indochina, wurde im 7. Jh. in →Ägypten und seit dem 15. Jh. in Italien kultiviert. Er war während des europäischen Mittelalters zentraler Bestandteil der arab. Küche und breitete sich während der frühen Neuzeit über weite Teile Süd- und Südwesteuropas (Italien, Frankreich, Spanien) aus. Im 19. Jh. war sein Anbau auf praktisch allen Kontinenten verbreitet. Seine Produktion konzentrierte sich aber auf die Monsungebiete Asiens (China, →Indien). Allerdings wurde nur ein geringer Teil der asiatischen Produktion exportiert. Die Kartoffel, ebenfalls aus Hispano-Amerika eingeführt, läßt sich im span. Konsumalltag spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s nachweisen. Nach 1600 verbreitete sie sich über weite Teile Zentraleuropas. Mehr noch als Reis und Mais galt sie als Arme-LeuteEssen. Attraktiv wurde sie nach dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland, als viele Produktionskapazitäten brachlagen. Im klein- und unterbäuerlichen Milieu und in klimatisch weniger begünstigten Gebieten war ihr Anbau attraktiv, da hier Überkapazitäten an Arbeitskraft bestanden und sie mit relativ bescheidenen Mitteln als Alternative zum Brotgetreide kultiviert werden konnte. Mißernten, sowie eine generelle Anspannung in der Relation zwischen Bevölkerung und Nahrungsproduktionskapazitäten führten ab der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zu einem breitflächigen Kartoffelanbau in weiten Teilen Europas. Ganze Populationen wurden von der Versorgung mit Kartoffeln abhängig (Irland). Wie bei Mais und Reis boten das mit der →Industrialisierung einhergehende Bevölkerungs- und Städtewachstum neue Marktimpulse 569
n A i d u , s A r oj ini
für diese N. Durch neue Düngungs- und Produktionsmethoden wurde die europäische Kartoffelproduktion industrialisiert. Weitere wichtige ü. N. waren Paprika, Tomate, Gartenbohne, Kürbis, sowie die „exotischen“ Bananen, Süd- und Zitrusfrüchte. Zitrone, Orange/Apfelsine und Limone waren in Europa seit dem Mittelalter bekannt, wurden aber stets in nur kleinen Mengen importiert und behielten bis in die neueste Zeit den Charakter von Luxusgütern bei. Bis zum Ende des 19. Jh.s dominierte Portugal (Azoren) den Anbau und Import von Süd- und Zitrusfrüchten nach Europa, bis Italien (Zitronen) und Spanien (Apfelsinen) ab 1875 (Krankheit der Obstbäume auf den Azoren) als ernstzunehmende Konkurrenten auftraten. Steigende Einkommen, sowie verbesserte →Transport- und Konservierungsmethoden (Kühl-, Containerschiffe) führten seit Ende des 19. Jh.s zu einer erheblichen Verbreiterung des Weltmarktes für Süd- und Zitrusfrüchte, die seitdem in den tropischen und subtropischen Zonen der Erde in mono-kulturellen Plantagenwirtschaften erzeugt werden. S. Cavaciocchi (Hg.), Prodotti e Tecniche d’Oltremare nelle Economie Europee Secc. XIII–XVIII, Prato 1998. M. Montanari, Der Hunger und der Überfluß, München 2 1999. Hans Pohl, Aufbruch der Weltwirtschaft, Stuttgart 1989. P HI L I P P RÖS S NE R Naicker →Periyar Naidu, Sarojini, * 13. Februar 1879 Haiderabad, † 2. März 1949 Lakhnau, □ Kremation am Ufer des Gomati Flusses in Lakhnau, Hindu N. gilt als eine der bedeutendsten ind. Unabhängigkeitskämpferinnen. Zwischen 1917 und 1919 setzte sie sich für die Montagu Chelmsford Reformen ein, engagierte sich in der →Khilafat-Bewegung sowie gegen die Rowlatt Bills und war eine enge Mitstreiterin →Gandhis während der Kampagnen des zivilen Ungehorsams (Civil Disobedience). 1924 wurde N. die einzige ind. Präs. in des →Indian National Congress in der Zeit vor der Unabhängigkeit. Sie nahm am Salzmarsch (→Salz) nach Dandi und an den Round Table Conferences teil. N. war eine glühende Vertreterin sowohl der Gleichberechtigung der Frauen als auch der Einheit von Hindus und Muslimen. Nach der Unabhängigkeit wurde sie 1947 Gouv.in des Bundesstaates Uttar Pradesh und damit die erste Frau in dieser Position in →Indien. Neben ihrer herausragenden politischen Karriere ist N. v. a. für ihre Dichtkunst bekannt, die ihr den Beinamen „ind. Nachtigall“ (Bharatiya Kokila) eingebracht hat. Hasi Banerjee, Sarojini Naidu, Kalkutta 1998. Raj Kumar, Women and the Indian Freedom Struggle, Bd. 4, Jaipur 1998. JI VA S CHÖT T L I Nairobi. Hauptstadt und mit ca. 3 Mio. Ew. auch größte Stadt →Kenias. Obwohl knapp südlich des Äquators und damit in den Tropen gelegen, hat N. wegen seiner Höhenlage ein mildes →Klima. N., dessen Name abgeleitet wird von einem Ausdruck des Maa (Sprache der →Massai), in dem engare nyarobie etwa „kühler Fluß“ bedeutet, wurde gegen Ende der 1890er Jahre im Süden des Landes am Fluß Athi gegründet. Ursprünglich lediglich 570
als brit. Eisenbahnarbeiter-Lager für den Bau der Strecke Mombasa-Uganda angelegt, wurde es bereits 1905 mit knapp 12 000 Ew. zur Hauptstadt Kenias erhoben. Der schon früh einsetzende Strom der Zuwanderer siedelte sich oft am Rande der Stadt an. Heute leben ca. 60 % der Ew. in einem der mehr als 200 Slums, allein ⅓ in Kibera, dem mit ca. 1 Mio. Ew. vermutlich größten Elendsviertel Afrikas. Der in starken Gegensatz dazu stehende mondäne Vorort Karen im Süden N.s wurde nach der dän. Schriftstellerin und Farmerin Karen (Tania) Blixen benannt, die dort jahrelang lebte. Ihr Haus ist seit 1986 ein Museum, ausgestattet mit Originalmöbeln und Requisiten aus dem Film „Jenseits von Afrika“, der nach einem ihrer Romane entstand. Ein anderer berühmter „Sohn der Stadt“ ist der Paläoanthropologe Richard Leakey. N. ist wirtschaftliches und kommunikatives Zentrum Kenias mit auffällig hoher Wachstumsrate. Der Flughafen von N. gilt als größter und verkehrsreichster in Ost- und Zentralafrika. Zahlreiche Büros der Vereinten Nationen weisen N. als stark international geprägte Stadt aus. Mit drei Universitäten, einem Polytechnikum und mehreren Forschungsinstituten gilt N. auch als „Bildungshauptstadt“ Ostafrikas. G ISELH ER BLESSE Namibia. Der Name der 1990 unabhängig gewordenen Rep. (Republic of Namibia) ist der langgestreckten Küstenwüste Namib entnommen, die in der Nama-Sprache „Ödes Land“ bedeutet. Östlich schließt sich in dem 824 292 km2 großen Staatsgebiet mit (Zensus 2011) 2 113 077 Ew. die Große Randstufe an (höchste Erhebung der wegen seiner Felsbilder berühmte Brandberg, 2 610 m), die sich allmählich zum abflußlosen KalahariBecken abflacht. Im Süden bildet der Oranje auf 500 km die Grenze, im Norden der Kunene und der Okawango. 13,6 % der extrem dünn besiedelten (2,2 Ew. / km2) Fläche stehen heute unter Naturschutz. Hauptattraktion ist der 22 270 km2 große Etoscha-Park im Norden. Neben →Bergbau (Diamanten, Uran, Gold etc.), Viehhaltung (Rinder und Karakulschafe) und →Fischerei ist der →Tourismus die bedeutendste Wirtschaftssäule des Landes. Als Ureinwohner gelten die wildbeuterischen San (→Buschmänner) und die viehhaltenden Khoikhoi (mehrheitlich Nama, „→Hottentotten“). Ihre KhoisanSprachen zeichnen sich durch Schnalz-, bzw. Sauglaute aus. Die Bevölkerungsmehrheit (46 %) bilden die →Bantu sprechenden →Ovambo im Norden. Zur gleichen, wohl im 17./18. Jh. eingewanderten Sprachfamilie zählen die Herero (6,6 %) mit den als traditionelle Pastoralisten lebenden Himba im nordwestlich gelegenen Kaokofeld. Die 6,1 % stellenden Weißen, die auf 52 % der Nutzfläche kommerzielle Farmen betreiben, sprechen →Afrikaans (60 %, wie auch die Mischlingsbevölkerung der „Rehobother Baster“), Deutsch (32 %) oder Englisch (7 %), das zur Amtssprache erklärt wurde. Dank der seit 1840 in N. tätigen →Rheinischen Missionsgesellschaft stellen die Lutheraner heute 51 % der 87 % Christen, 20 % sind rk., 6. % ndl.-ref. und über ⅔ der ca. 40 000 Herero bekennen sich zur 1955 von den Lutheranern abgespaltenen Oruuano-Kirche, die den traditionellen Ahnenkult respektiert. Im 19. Jh. dominierten im Zentrum und Süden von N. die Nama, v. a. unter den
n An m Ad o l
Führern der Untergruppe Orlam wie Jonker Afrikaner, Jacob Marengo oder Kido, Moses und Henrik →Witbooi, die sich mit den Herero im Norden lange Auseinandersetzungen lieferten. 1884 wurde die Niederlassung des Bremer Tabakhändlers (→Tabak) Adolf →Lüderitz um Angra Pequena zum dt. →Schutzgebiet erklärt. Von dieser „Lüderitzbucht“ aus dehnte die junge Kolonialmacht ihre Ansprüche über das gesamte bislang „herrenlose“ Gebiet aus, wobei Widerstände der Bewohner gewaltsam erstickt wurden (→Herero-Nama-Aufstand). Nach der Schlacht am Waterberg, die Samuel →Maharero 1904 gegen General von Trotha verlor, verdursteten Zehntausende Herero auf der Flucht nach →Bechuanaland. Ab 1920 verwaltete die →Südafrikanische Union das ehem. →Dt.-Südwestafrika und führte nach dem →Zweiten Weltkrieg dort auch die →Apartheid-Gesetze ein. Die von der UNO geförderte South West Africa People’s Organization (SWAPO) bekämpfte (u. a. mit kubanischer Hilfe von →Angola aus) auch die 1978 als Wahlsieger hervorgetretene Demokratische TurnhallenAllianz (DTA) und stellte 1990 die erste unabhängige Reg. unter Sam Nujoma. Klaus Becker / Jürgen Hecker (Hg.), 1884–1984 – Vom Schutzgebiet bis Namibia, Windhuk 1985. Larissa Förster u. a. (Hg.), Namibia-Deutschland, Köln 2004. H. E. Lenssen, Chronik von Dt.-Südwestafrika 1883–1915, Windhuk 1966. BE RNHARD S T RE CK Nan Madol. „Ort der Zwischenräume“, befestigte Stadtanlage, zeremonielles und politisches Zentrum der Saudeleur-Dynastie (ca. 200–1628 n. Chr.) und später der Nahnmwarki-Dynastie (1628 – ca. 1820 n. Chr.) auf der Insel Pohnpei (→Föderierte Staaten von Mikronesien), auf der Südostseite der Insel im Distrikt Madolenihnw gelegen. Bauwerke in massiver Steinbauweise auf größtenteils künstlich aufgeschütteten Fundamenten/Inseln, unter Verwendung von bearbeiteten länglichen prismaförmigen Basaltblöcken sowie Korallen als Füllmaterial, die zu bis über 7 m hohen Mauern aufgeschichtet wurden. Dazwischen ein Netzwerk von Wasserwegen und Kanälen. Als Entstehungszeit wird in der europäisch geprägten Wissenschaft auf Grund der Interpretation archäologischen Fundmaterials und mündlicher Überlieferungen ab ca. 200 n. Chr. durch Vorläufer der SaudeleurDynastie angenommen. Details über deren Herkunft und Ursprung sind weitgehend unbekannt. Die Ponapesen glauben bis heute hartnäckig, daß N. M. nicht von ihren Vorfahren, sondern von unbekannten Fremden gebaut wurde, wobei diese zum Bau übernatürliche Kräfte einsetzten. Einheimische verweisen dabei auf große, zerbrochene Basaltblöcke, die angeblich auf dem Weg nach N.M. im Awak-Tal vom Himmel fielen u. zerbarsten (Petersen, 21). Mythologisch auf die beiden Brüder Ohlosohpa und Ohlosihpa zurückzuführen, die, aus dem Land Katau Peidi kommend, einen Ort suchten, an dem sie ihren Gott Nahnisohnsapw huldigen konnten. Sie errichteten dabei das spätere N.M., den Ort Pahn Kadira. Nach dem Tod von Ohlosohpa nannte sich Ohlosihpa „Regent von Deleur“ und begründete eine Dynastie. Töpferei ist bis ca. 1100 n. Chr. nachweisbar und verschwindet dann. Nach der überwiegenden Meinung der
europ. geprägten Forschung ab ca. 800 n. Chr. Beginn und ab ca. 1200 n. Chr. erster Höhepunkt der Errichtung komplexer Steinbauten. Höhepunkt der Megalithkultur um ca. 1500 n. Chr. Zu dieser Zeit erstreckte sich das Reich der Saudeleur vermutlich über die ganze Insel Pohnpei. Die Anlage erstreckt sich im engeren Bereich über ca. 0,8 km², mit dem weiteren Einzugsgebiet, den vorgelagerten Inseln und dem Madolenihmw Harbour über ca. 18 km². Die unter Wasser befindlichen Strukturen wurden bislang so gut wie gar nicht untersucht. N.M. besteht aus 92 künstlichen Inseln, die der Insel Temwen vorgelagert sind. Die überwiegende Zahl der Bauwerke ist von hohen Mauern, in denen sich die Häuser und Versammlungshäuser, nahs, befanden, eingefaßt. N.M. gliedert sich in zwei Sektoren: Madol Powe und Madol Pah. Madol Powe, die Oberstadt, die aus 58 künstlichen Inseln/Bauwerken besteht, und der Begräbnisbezirk war. In diesem zeremoniellen Sektor der Stadt wohnten die Priester, wurden rituelle Handlungen durchgeführt und religiöse Feste veranstaltet. Einige der Inseln waren für bestimmte Zwecke auserkoren, z. B. wurden auf Usennamw Speisen zubereitet, auf Dapahu Kanus angefertigt, auf Peinering Kokosöl hergestellt. Die eigentlichen Friedhofsinseln mit den prominenten Grabstätten waren u. a. Epinkitel, Nandauwas, Karian und Lemenkou. Auf Nandauwas, dem Zentrum der Anlage, wurden die Saudeleurs und später die Nahnmwarkis bestattet. Die Gräber sind durch zwei Mauerringe und einem äußeren und innerem Hof sowie mehrere Vorbauten umgeben. Auf Peinkitel vermutet man die Begräbnisstätte des legendären Fürsten Isokelekel, der die Saudeleurs 1628 stürzte und die Nahnmwarki-Dynastie etablierte. Madol Pah, die Unterstadt, besteht aus 34 künstlichen Inseln/Bauwerken und war nach europ. Sicht Sitz des administrativen Sektors. Hier waren die Wohnsitze des Adels sowie auf der künstlichen Insel Pahnkadira der Wohnsitz des Saudeleurs, gleichzeitig Sitz des Donnergottes. Auf Kalapuel soll Isokelekel residiert haben. Die überwiegende Zahl der Inseln und Bauwerke hat eine viereckige Form. Der Rohstoff in Form von auffallend ebenmäßig bearbeiteten länglichen Basaltblöcken mit bis zu 5 t Gewicht und bis zu ca. 5 m Länge wurde, so die gängige Hypothese europäischer Wissenschaften, vom „Festland“ Pohnpei auf Flößen nach N.M. gebracht und mittels Hebel, schiefer Ebene und Seilen plaziert. Wie die riesigen Steine transportiert werden konnten, ohne daß die Flöße dabei untergingen, bleibt ein Rätsel. Erstmals beschrieben von James F. O’Connell, der zwischen 1828 und 1833 auf Pohnpei lebte, und N.M. bereits verlassen vorfand. 1852 vom am. Missionar Luther H. Gulick besucht. Der dt.polnische Ethnologe Johann S. →Kubary fertigte 1873 die ersten Zeichnungen des Komplexes an; der Hamburger F. W. Christian steuerte 1896 weitere Informationen bei. 1907 fand der deutsche Bezirksamtmann Victor Berg beim Versuch, N.M. näher zu untersuchen, den Tod. Die einheimische orale Überlieferung berichtet davon, N.M. habe zu diesem Zeitpunkt „gebebt und gesungen“. 1910 von Paul →Hambruch (→Hamburger Südsee-Expedition) ausführlich vermessen und beschrieben. Ab 1963 wurden, zuerst durch die Smithsonian Institution und seither durch zahlreiche v. a. am. Archäologen, umfang571
n A n k i n g , v e rt r Ag v o n
reiche Ergebnisse erhoben und mehrere tausend Artefakte der materiellen Kultur (Muschel- und Steinwerkzeuge, Keramikreste, etc.) erfaßt. Heute hat N.M. eingeschränkt touristische Bedeutung. Ähnliche Bauwerke im kleineren Maßstab finden sich im Inselinneren Pohnpeis bei Alauso, Diadi, Kiti, Panpei, Salapwuk und auf der Nachbarinsel Kosrae (Kusaie). N. M. spielt eine zentrale Rolle in den Science Fiction bzw. Fantasy-Geschichten The Moon Pool (1918) v. Abraham Merritt (1884-1943) u. The Call of Cthulhu (1928) v. H. P. Lovecraft (18901937). Q: Paul Hambruch, Ponape: Die Ruinen, Hamburg 1936. Johann S. Kubary, Die Ruinen von Nanmantal auf d. Insel Ponape, in: Journal d. Museums Godeffroy 4 (1873/74), 123–131. Frederick J. Moss, Through Atolls and Islands in the Great South Sea, London 1889, 191203 (mit Karte). L: J(ohn) Stephen Athens, The Discovery and Archaeological Investigation of Nan Madol. An Annotated Bibliography, Saipan 1981. William N. Morgan, Prehistoric Architecture in Micronesia, Austin 1988. Glenn Petersen, Lost in the Weeds. Theme and Variation in Pohnpei Political Mythology, Honolulu 1990. Sehr spekulativ: David Hatcher Childress, Ancient Micronesia & the Lost City of Nan Madol, Kempton IL 1998. H E R M ANN MÜCKL E R / HE RMANN HI E RY
Nanak →Sikhismus Nanking, Vertrag von. Der brit.-chin. Vertrag von N. (29.8.1842) war eine unmittelbare Folge des Opiumkrieges (→Opium) zwischen beiden Ländern (1839–1842) und bildete zusammen mit dem Zusatzvertrag von Bogue (18.10.1843) und der China darin aufgezwungenen Meistbegünstigungsklausel den Auftakt zu den „→ungleichen Verträgen“ zwischen imperialistischen Mächten und China. Die vorrangigen Ziele Großbritanniens waren gewesen, den regionalen Opiumhandel zwischen →Indien und China (→Country Trade) aufrechtzuerhalten und die zahlreichen Ärgernisse im Umgang mit China zu beseitigen, die der Sicherheit und den Interessen der Ausländer an der Chinaküste im Wege standen. Direkter Anlaß des Konflikts war die Vernichtung ausländischer Opiumvorräte durch die chin. Reg. in →Kanton und der darauffolgende Abzug der brit. Kaufleute. Der Vertrag von N. beendete die Beschränkungen für den ausländischen Handel in Kanton sowie das dortige Handelsmonopol der chin. Kaufleute (Co-hong), legte die dauerhafte Abtretung der Insel →Hongkong an Großbritannien sowie eine Kriegsentschädigung Chinas fest, öffnete fünf „Treaty Ports“ (→Vertragshäfen) und regelte die Aufnahme konsularischer Beziehungen zwischen London und Peking. Mit dem Vertrag von N. begann die Ära imperialistischer Penetration in China. John King Fairbank, Trade and Diplomacy on the China Coast, Stanford 1953. Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft, München 1989. BE RT BE CKE R Nanpei, Henry, Nankirounepeinpok, Sou Puai, *1862 Rohn Kiti, Pohnpei, † 14. August 1928 ebd., □u. Denkmal mit Statue i. Rohn Kiti, Ponape, Kongregat. 572
Einflußreicher Häuptling aus dem Lipithan Klan von Kiti, Ponape / Pohnpei, der es geschickt verstand, mit den spanischen, deutschen und japanischen Kolonialmächten alterierend zu kooperieren, Widerstand zu zeigen und gleichzeitig seine Machtposition innerhalb des traditionellen politischen Systems gegenüber Kontrahenden auszubauen. Vater: Häuptling Nahnku, Nahnken von Kiti. Mutter: Meri-An, Enkelin eines Nahnmwarkis des Dipwenluhk Soun Ant Klans und Tochter des Engländers James Headley. Verheiratet mit Caroline Santos (ab 1884). Fünf Söhne: Oliver, Thomas, Ernst, Robert und Enter; zwei Töchter: Jenny (Sehni, Senni) und Minna. Aufgewachsen in Rohn Kiti. N. ging in die protestantische Schule des American Board in Oa, (Madolenihmw), wo er seinen späteren Berater und Freund Luelen Bernart kennenlernte. Er entwickelte sich zu einem Vorzeigechristen, der die protestantischen Ideale lebte und verbreitete, aber auch in ökonomischen Belangen Geschick bewies. Er erlaubte und förderte die Errichtung protestantischer Kirchen der Boston Mission. Mit der Regierungsübernahme der Spanier und der Ankunft der katholischen Kapuziner entwickelten sich Konfrontationspunkte zwischen N. und den Spaniern, die den Katholizismus (zuerst im Norden der Insel) verbreiteten und die Protestanten (im Süden) zurückdrängten. In der Zeit nach dem Aufstand von Madolenihmw gegen die Spanier im Jahre 1890, den er wahrscheinlich im Hintergrund betrieb, hatte er die Führung der verbotenen protestantischen Kirche inne. N. handelte mit Kopra, Feldfrüchten, Gewehren und anderen Handelswaren und stand in engem Kontakt zu Walfängern und Händlern. 1898 von den Spaniern verhaftet, nach deren Niederlage im →Spanisch-Amerikanischen Krieg und der Übergabe von Pohnpei an Deutschland freigelassen. Zu den deutschen kolonialen Autoritäten baute er ein pragmatisches Verhältnis auf. N. war einer der Hauptratgeber von Albert →Hahl während dessen Zeit als dt. Vizegouv. von Mikronesien in Ponape. 1905 kam er für eine Augenoperation nach Hamburg. Vermutungen gehen von einer Sympathisantenrolle beim →Ponapeaufstand im Jahre 1910 aus. N. hatte ein Nahverhältnis zu den evangelischen Liebenzeller Missionaren, die ab 1907 die Missionare des American Board ersetzten. 1912 unternahm Nanpei mit seinen beiden jüngsten Söhnen Robert und Enter eine Europareise, bei der er in Deutschland und England Vorträge bei Missionsveranstaltungen über seine Heimat hielt. Er hielt sich ca. sechs Monate in Deutschland auf; seine beiden Söhne blieben dort in Schulen zurück, mit dem Ziel, später an einer dt. Universität zu studieren. Sie starben gegen bzw. nach Ende des Ersten Weltkrieges und sind in Tübingen begraben. N. konnte seinen umfangreichen Landbesitz auf Pohnpei auch mit der japanischen Besetzung erhalten und sogar ausbauen. Nach seinem Tod ließ sein ältester Sohn Oliver in Rohn Kiti ein Denkmal für ihn errichten. N. verknüpfte geschickt lokale traditionelle und koloniale politische und gesellschaftliche Strukturen und trug entscheidend zur Einführung veränderter westlicher Landrechte auf der Insel bei, wovon er selbst der größte Nutznießer wurde, da er auf Grund seines an sich nur niedrigen Häuptlingstitels im traditionellen System wesentlich weniger Land hätte akkumulieren kön-
n A rA i
nen. Er besaß ausgedehnte Kokospalmpflanzungen u. a. auf der ihm gehörenden Insel Ant. N. gilt heute als eine der wichtigsten, aber auch kontroversesten historischen pohnpeischen Persönlichkeiten, der auch von den Europäern Respekt gezollt wird. Er lernte u. sprach Englisch, Spanisch, Deutsch u. Japanisch. Paul Ehrlich, Henry Nanpei. Pre-eminently a Ponapean, in: Deryck Scarr (Hg.), More Pacific Islands Portraits, Canberrra 1978, 131-154. David Hanlon, Another Side of Henry Nanpei, in: The Journal of Pacific History 23 (1988), 36-51. Christina Ratz, Ponape 1852–1914: Geschichte einer Missionierung – Aufstieg des Häuptlings Henry Nanpei. Ein Beitrag zur Ethnohistorie Mikronesiens. Unpubliz. Diplomarbeit, Wien 1994. H E R M A N N MÜCKL E R / HE RMANN HI E RY
Nansen, Fridtjof, * 10. Oktober 1861 Vestre Aker bei Oslo, † 13. Mai 1930 Lysaker bei Oslo, □ Urne im Park seines Hauses in Lysaker beigesetzt, ev.-luth. Der Sohn eines Rechtsanwalts nahm nach dem Abitur das Studium der Zoologie auf. 1882 nahm er an der Fahrt der Viking ins nördliche Eismeer teil und wurde im Sept. 1882 zum 2. Kurator der zoologischen Abteilung des Museums in Bergen bestellt, 1886 zum 1. Kurator befördert und 1887 in Zoologie promoviert. Von Okt. 1888 bis Apr. 1889 durchquerte er →Grönland in OstWest-Richtung (600 km) und wertete die Reise in den Publikationen „Eskimoleben“ und „Auf Schneeschuhen durch Grönland“ aus. Der große Erfolg letzteren Werkes machte das Skilaufen in Europa populär. Die nach N.s Auffassung schädlichen Einflüsse der westlichen Zivilisation auf die Inuit ließen ihn zum überzeugten Antikolonialisten werden. 1895/96 scheiterte N.s Versuch, den Nordpol zu erreichen. Er mußte bei 86˚04’ nördlicher Breite umkehren – dem nördlichsten Punkt, den bis dahin ein Mensch erreicht hatte. Nach seiner Rückkehr war er Nationalheld Norwegens, das noch in Personalunion vom schwedischen Kg. regiert wurde. N.s Nordpolexpedition, obwohl erfolglos, gab dem norwegischen Nationalbewußtsein Auftrieb. Seit 1897 Prof. für Zoologie an der Universität Oslo, setzte er sich publizistisch für die Unabhängigkeit Norwegens ein. 1905 war er an den Sondierungen in Kopenhagen beteiligt, deren Ergebnis die Besteigung des Throns des unabhängigen Norwegen durch den dän. Prinzen Karl als Haakon VII. war. N. war norwegischer Gesandter in London (1906–1908) und seit 1909 Prof. für Ozeanologie in Oslo. 1915 wurde er Vorsitzender des norwegischen Verteidigungsrates, 1917 Sondergesandter Norwegens zu Wirtschaftsverhandlungen mit den →USA. 1920 fungierte er erfolgreich als Beauftragter des →Völkerbundes zur Repatriierung von Kriegsgefangenen, 1921–1923 ebenso erfolgreich als Hochkommissar des Internationalen Roten Kreuzes zur Bekämpfung der Hungersnot im kriegsverheerten Rußland, wofür er 1922 den Friedensnobelpreis erhielt. Als Hochkommissar des Völkerbunds zur Unterstützung der Armenier blieb ihm 1924 jedoch der Erfolg versagt. Es ließ sich keine hinreichende Unterstützung für die von N. geplante Überführung armenischer Flüchtlinge in den sowjetischen Teil Armeniens mobilisieren.
Detlef Brennecke, Fridtjof Nansen, Reinbek 1990. C H R ISTO PH K U H L
Narai, vollständig: Somdet Phra Narai oder Somdet Phra Ramathibodi III., * 1633, † 11. Juli 1688 Ayutthaya, Siam, □ Leiche eingeäschert, buddh. N. bestieg durch einen Putsch nach innenpolitischen Spannungen und Palastintrigen am 26.10.1656 den Thron von Ayutthaya (→Siam) unter Zuhilfenahme von jap., malaiischen und wohl auch persischen →Söldnern. Seinen Vorgänger ließ er hinrichten. 1662 war N. in Kriege mit den Burmesen und mit Lampang und Chiang Mai im Norden des heutigen →Thailand verwickelt, die die Staatskasse strapazierten. Eine gewisse finanzielle Absicherung war nach Aufnahme von Handelskontakten und Wiedereinrichtung von Kontoren für die brit. East India Company (EIC, →Ostindienkompanien) 1661 und die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) 1664 wieder gegeben. N. war außenpolitisch äußerst aktiv und unterhielt diplomatische Kontakte mit Persien, →Makassar, China, dem Hl. Stuhl, Frankreich und England. In den letzten Jahren seiner Herrschaft waren es v. a. die intensiven Kontakte zu den Franzosen, eng verbunden mit dem Aufstieg des griechischen Abenteurers Konstantin Phaulkon (1647–1688, seit 1678 in Siam) zum Außen- und Finanzminister und engsten persönlichen Ratgeber N.s. 1680 entsandte N. eine diplomatische Mission zu Kg. Ludwig XIV. nach Frankreich, die jedoch vor →Madagaskar Schiffbruch erlitt und niemals Europa erreichte. Diese erste Kontaktaufnahme wurde 1682 durch eine erste frz. Mission beantwortet, der auch →Jesuiten angehörten. Geleitet wurde sie von dem Jesuiten-Missionar Guy Tachard, der nach seiner Rückkehr in Frankreich die Ansicht vertrat, N. zum Katholizismus bekehren zu können. 1684 erreichte eine zweite Mission N.s den frz. und den engl. Hof. 1685 kam erneut eine frz. Mission in Siam an, die N. zum Christentum bekehren, die Handelsbeziehungen beider Staaten weiter ausbauen und auch eine militärische Basis in der Region aufbauen sollte. Dies geschah 1686 mit der Einrichtung frz. Garnisonen in →Bangkok und Mergui. Das Itinerar und die Aktivitäten einer siamesischen Gesandtschaft, die 1686/87 unter der Leitung des hohen Beamten Kosa Pan (Ok-phra Wisut Sunthon) den Hof in Versailles besuchte, können mithilfe jüngst aufgefundener, allerdings fragmentarischer Aufzeichnungen rekonstruiert werden. N. benutzte die Franzosen als Gegengewicht zum wachsenden Einfluß der VOC in seinem Staat und schloß am 11.12.1687 mit ihnen ein Handelsabkommen. Der zunehmende Einfluß ausländischer Mächte unter Minister Phaulkon führte schließlich zu einer Palastrevolution, als N. im März 1688 schwer erkrankte. Noch auf dem Krankenbett entzweite er sich mit Phaulkon und ließ ihn am 5.6.1688 hinrichten. N. erholte sich nicht mehr und starb am 11.7.1688. Sein Nachfolger Kg. Phetracha usurpierte die Macht und heiratete sowohl N.s Frau als auch seine Tochter. Er vertrieb die Franzosen und ihre Missionare und brach nahezu alle Verbindungen zu europäischen Mächten mit Ausnahme der VOC ab. Dirk van der Cruysse, Siam and the West 1500–1700, Chiang Mai 2002. Ders., Visudh Busyakul / Michael 573
n A s s Au- s ie g e n, j o h An n m o r i t z / j o hA n m A u ri ts , g rAf � A b 1 6 5 2 f ü rs t� v o n
Smithies (Hg.), The Diary of Kosa Pan (Ok-phra Wisut Sunthon), Thai Ambassador to France, June – July 1686, Chiang Mai 2002. J. C. Gatty, Voiage de Siam du Père Bouvet, Leiden 1963. John O’Kane (Hg.), The Ship of Sulaimān, London 1970. HOL GE R WARNK Nassau-Siegen, Johann Moritz / Johan Maurits, Graf (ab 1652 Fürst) von, * 18. Juni 1604 Dillenburg, † 20. Dezember 1679 Bergendael bei Kleve, □ Fürstengruft in Siegen, ev.-ref. (Calvinist) Nach Besuch der Universitäten Basel und Genf 1614/15 am Hof des Onkels, des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel, erzogen, erhielt J. M. auf dem Collegium Mauritianum, einer „Ritterakademie“, eine umfassende Ausbildung. Als Vetter zweiten Grades des späteren Statthalters Frederik Hendrik trat er 1620 in den Dienst des ndl. Heeres, bewies in verschiedenen Kriegen sein militärisches Geschick und stieg bis 1668 zum Feldmarschall auf. Am 4.8.1636 von den Direktoren der →Westind. Kompanie (WIC) zum Gen.-gouv. →Ndl.-Brasiliens berufen, erreichte er Recife im Jan. 1637, ausgestattet mit der Vollmacht, umfassende Heeres- und Verwaltungsreformen vorzunehmen. Trotz des Scheiterns einer →Eroberung des port. →Bahia 1638 konnte er das Herrschaftsgebiet der Kompanie beträchtlich erweitern, die Kolonie befrieden und den Handel zur Blüte bringen. Die WIC verschiffte in seiner Amtszeit →Zucker und Farbholz im Wert von fast 7,7 Mio. Gulden in die Niederlande. Unter seiner toleranten und aufgeklärten Regentschaft entwickelte sich in Nordost-Brasilien eine multikonfessionelle, von Glaubens- und Handelsfreiheit geprägte Gesellschaft, deren Bewahrung er in seiner Abschiedsrede („Politisches Testament“) am 6.5.1644 dringend empfahl. Seine Abberufung wurde von allen Bevölkerungsgruppen bedauert. Um umfassende Dokumentation seines Verwaltungsgebietes bemüht, ließ er in bzw. um seinen Reg.ssitz, das Palais Vrijburg in Mauritsstad bei Recife, das erste Observatorium, den ersten botanischen Garten und den ersten →zoologischen Garten →Amerikas errichten, beschäftigte sich selbst mit der Naturgeschichte Brasiliens und unterhielt eine Reihe von Wissenschaftlern und Künstlern, die bis heute nachwirkende Pionierleistungen in Botanik, Zoologie, Tropenmedizin, →Geographie, →Kartographie und Ethnologie vollbrachten. Seine umfangreiche Sammlung von „Brasiliana“, darunter Gemälde und Skizzen von →Eckhout, →Markgraf und →Post, war ab 1644 zunächst im Mauritshuis in Den Haag untergebracht. Er verschenkte sie in den folgenden Jahrzehnten teilweise im Tausch gegen Vergünstigungen an politische Gönner, etwa an die Kg.e von Dänemark und Frankreich und an den Kurfürsten von Brandenburg. Schon 1647 erschien in Amsterdam die Schilderung seiner Reg.sjahre in Brasilien unter dem Titel „Rerum per octenium in Brasilia…“ von Caspar von Baerle/Barlaeus. J. M. setzte seine Karriere im ndl. Heer fort, trat am 27.10.1647 als Statthalter von Kleve und Diplomat in brandenburgischen Dienst und wurde 1674 Gouv. von Utrecht. Nach seinem Tod auf Sitz Bergendael bei Kleve 1679 überführte man seinen Leichnam gemäß testamentarischer Verfügung in die Gruft in Siegen. 574
Q: Caspar Barlaeus, Brasilianische Geschichte Bey Achtjähriger in selbigen Landen geführeter Reg. Seiner Fürstlichen Gnaden Herrn Johann Moritz/Fürstens zu Nassau etc., Cleve 1659. L: E. van den Boogaart (Hg.), Johan Maurits van Nassau-Siegen 1604–1679, Den Haag 1979. Gerhard Brunn (Hg.), Aufbruch in neue Welten, Siegen 2004. A N N ELI PA RTEN H EIMER-BEIN Nasser, Gamal Abdel, * 15. Januar 1918 Alexandria, † 28. September 1970 Kairo, □ Abdel-Nasser-Moschee, Kairo, sunnitischer Muslim N. – eigentl. Abdel N., Gamal (arab. CAbd an-Nâsir, Djamâl) – kam aus einfachen Verhältnissen (Sohn eines Postmeisters) und stieg über die Offizierslaufbahn (1937 Militärakademie, 1948 Palästina-Krieg, 1950 Oberstleutnant) zum ägyptischen Präsidenten (1956–1970) auf. Seit 1939 gehörte er zu einer Gruppe nationalistischer Offiziere, die gegen die unverhüllte britische Vorherrschaft, das korrupte Regime des unfähigen Marionettenkönigs Faruk und die Privilegien der landbesitzenden „Pascha-Klasse“ konspirierten („Freie Offiziere“). Zur Koordinierung des verzweigten Untergrund-Netzes konstituierte sich 1949 unter seinem Vorsitz das „Komitee Freier Offiziere“, das am 23.07.1952 in einem unblutigen Putsch den König stürzte („Juli-Revolution“, jetzt Nationalfeiertag) und als „Revolutionärer Kommandorat“ das Ruder übernahm (Agrarreform, Parteienverbot, Juli 1953 Abschaffung der Monarchie). Anfangs zog N. die Fäden im Hintergrund („Stabschef der Revolution“) und überließ dem im Volk beliebten General Nagib die Bühne (1953 Präsident), drängte aber bald selber an die Spitze, wobei ihm sein legendär gewordenes Charisma gute Dienste leistete. Ein gescheitertes Attentat der Muslimbrüder (26.10.1954) lieferte die Handhabe für die Ausschaltung der inneren Opposition (Unterdrückung von Islamisten und Kommunisten; Entmachtung Nagibs). 1956 machten ihn die Nationalisierung des →Suezkanals und die Demütigung der alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich in der Suez-Krise zur gefeierten Symbolfigur des arabischen Nationalismus und zum einflußreichsten Politiker im arabischen Raum, darüber hinaus weltweit zu einem Hoffnungsträger antikolonialer Emanzipationsbewegungen (führender Kopf in der Bewegung der Nichtpaktgebundenen). Im Westen mit zunehmendem Mißtrauen betrachtet, lehnte sich N. immer enger an den Ostblock an (Finanzierung von Großprojekten, Militärhilfe), ohne jedoch zum bloßen Vasallen abzusinken. Im Innern verfolgte er einen rigiden antikommunistischen Kurs, und sein Konzept des „Arabischen Sozialismus“ grenzte sich scharf vom Sowjet-Modell ab; es verkündete „Klassenharmonie“ statt Klassenkampf und begründete ein auf seine Person zugeschnittenes bonapartistisch-staatskapitalistisches Herrschaftssystem (Alleinherrschaft mit populistischen Elementen, staatliche Wirtschaftslenkung, „soziale Gerechtigkeit“). In der links-nationalistischen Ideologie des „Nasserismus“ verschmelzen diese Sozialismus-Vorstellungen mit der Vision einer geeinten pan-arabischen Nation unter ägyptischer Führung, was zwar in der Bevölkerung großen Anklang fand, in der Praxis aber über kurzlebige Experimente nicht hinauskam (1958–61 „Ver-
n Ati o n A l co u n ci l o f ch u rch es
einigte Arabische Republik“ mit Syrien). Auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet setzte N. einen beachtlichen Modernisierungsschub in Gang (→Industrialisierung, Landgewinnung, Frauenrechte, Bildungs- und Gesundheitswesen). Dennoch blieb der Aufschwung weit hinter den Erwartungen zurück, denn die radikalen Verstaatlichungen (ab 1961 Banken, Außenhandel und größter Teil der modernen Industrie), der aufgeblähte Staats- und Sicherheitsapparat, das ruinöse Engagement der Armee im jemenitischen Bürgerkrieg (1962–67) und nicht zuletzt die Bevölkerungsexplosion (1952: 21,5 Mio. Einwohner; 1970: 35,5 Mio.) forderten ihren Tribut. Das Fiasko im Sechstagekrieg (den er in völliger Verkennung der Lage durch Drohgebärden und martialische Brandreden selber provoziert hatte) versetzte seinen ambitionierten Plänen den Todesstoß, tat aber der Popularität bei den Massen nur geringen Abbruch: Großdemonstrationen verhinderten den am 10.06.1967 angekündigten Rücktritt, und am 1.10.1970 folgten im 10 km langen Trauerzug um die 5 Mio. Menschen seinem Sarg. N. war der überragende arabische Staatsmann des 20. Jh., er hat eine ganze Generation geprägt und wie kein anderer seiner Zeit den Stempel aufgedrückt. Über alle Veränderungen der letzten 40 Jahre hinweg und ungeachtet der Kontroversen um seinen autoritären Herrschaftsstil ist er im Volk ein Idol geblieben – gerade heute erfährt er im Zuge des „Arabischen Frühlings“ wieder eine kräftige nostalgische Verklärung, und der seit den 80er Jahren von islamistischen Strömungen an den Rand gedrängte N.ismus erlebt momentan eine bescheidene Renaissance als demokratisch geläuterter „Neo-N.ismus“. Q: Gamal Abdul Nasser, Egypt’s Liberation: The Philosophy of the Revolution, Washington 1955. L: Said K. Aburish, Nasser, the Last Arab, New York 2004. Joel Gordon, Nasser: Hero of the Arab Nation, Oxford 2006. Aus sowjetischer Sicht: Anatoli Agaryschew, Gamal Abdel Nasser. Leben und Kampf eines Staatsmannes Frankfurt/M. 1977. L OT HAR BOHRMANN Natal. Vasco →da Gama war der erste Seefahrer, der die Küste von N. am Weihnachtstag 1497 anvisierte, und deswegen nach dem port. Wort für Weihnachten N. benannte. Die Briten errichteten 1824 den ersten Handelsposten in Port N. Die Kolonie N. grenzte im Norden an das mächtige Zulu-Reich (→Zulu), dessen Bevölkerungsgröße keinen Raum für die brit. Expansion ließ. Nach den „Difaqane“ genannten Unruhen akzeptierten nach Schutz suchende Häuptlinge die koloniale Protektion im Gegenzug für reserviertes Land und die Freiheit auf Selbstbestimmung in Übereinstimmung mit ihren eigenen Bräuchen. Zusätzlich zur Expansion wurden ab 1860 Vertragsarbeiter aus →Indien für die Arbeit auf den Zuckerplantagen (→Zucker) geholt. Die Entdeckung von Mineralen seit den 1860er Jahren wandelte die N.Region um, indem Eisenbahnnetze das Transportwesen (→Transport) revolutionierten und Küstenstädte wie Durban, die als Häfen dienten, einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten. Unabhängige afr. Häuptlingstümer wurden unterworfen und unter brit. Kontrolle gebracht. Der Südafr. Krieg (1899–1902, →Burenkrieg), welcher der „Mineralien-Revolution“ folgte, wurde
hauptsächlich unter den „Weißen“ ausgefochten. Nachdem die →Afrikaners („Boers“) besiegt waren, errichteten die Briten ihre Herrschaft, indem sie die beiden früheren Afrikaner-Rep.en („Boer republics“) →OranjeFreistaat und →Transvaal mit N. und dem Kap vereinten. Die vier Kolonien bildeten ab 31.5.1910 ein unabhängiges →Dominion mit dem Namen →Südafrikanische Union. Während der →Apartheid (1948–1994) wurde das „Homeland“ (auch: Bantustan) in N. als KwaZulu (Ort der Zulu) bezeichnet. Nach dem Ende der Apartheid wurde das Homeland wieder in N. eingegliedert, und die Provinz wurde in KwaZulu-N. umbenannt. S. a. →Gandhi. Bill Guest, Receded Tides of Empire, Pietermaritzburg 1994. Paul Maylam, A History of the African People of South Africa, London 1986. Walter Volker, The „Cotton Germans“ of Natal, Durban 2006. A N N EK IE JO U B ERT Natchez. Indigene Gruppe am unteren →Mississippi, deren von Le Page du Pratz dokumentiertes sozio-politisches System als Basis für die vorkolumbianischen Organisationsformen der Kulturen des östlichen Waldlandes gesehen wird. Die N. waren um einen Hauptort, das heutige Grand Village im Stadtgebiet von N., Mississippi, organisiert. Die Eliten lebten in auf abgeflachten Erdpyramiden erbauten Häusern. Bei ihren Begräbnissen wurde Totenfolge praktiziert. 1729 wurde die Siedlung während eines Krieges mit der frz. Kolonie Louisiane (Louisiana) zerstört. Die Überlebenden schlossen sich anderen Verbänden an. Le Page du Pratz’ Bericht über sein Leben in Louisiane als Pflanzer bietet einen subtilen Einblick in die frühe frz.-indigene Kontaktsituation. Q: Antoine Simone Le Page du Pratz, History of Louisiana or of the Western Parts of Virginia and Carolina, London 1774. L: Charles Hudson, The Southeastern Indians, Knoxville 1976. D ETLEV G R O N EN B O R N National Council of Churches. In den 1920er Jahren wurden in zahlreichen Ländern →Asiens, aber auch →Afrikas und →Lateinamerikas nationale Christenbzw. Kirchenräte gebildet. Sie stellen eine wichtige Etappe auf dem Weg der →Emanzipation der aus der protestantischen Mission hervorgegangenen Kirchen gegenüber ihren europäischen bzw. am. Mutterkirchen dar. Seit der Jh.wende gab es in verschiedenen Regionen starke nationalkirchliche Bestrebungen, die sich gegen den importierten Konfessionalismus der westlichen Missionare wandten. Statt dessen suchte man alle einheimischen Christen „unabhängig von ihrer Denomination“ in „einer nationalen Kirche“ zu vereinen (so etwa in →Indien die Zielsetzung der 1887 in →Madras gegründeten ‚National Church of India‘ u. a. Initiativen). Diese lokalen Ökumenebewegungen wirkten auf die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 ein, die ihrerseits entspr. Impulse verstärkend nach Übersee zurückgab. So fand 1912/13 in Asien eine Serie von Folgekonferenzen statt, die zunächst zur Bildung nationaler (statt konfessioneller) Missionsräte und dann zur Gründung nationaler Kirchenräte führten (zunächst in Indien, Japan und Korea) – verbunden mit der Maßgabe, daß 50 % der Sitze einheimischen Kirchenführern vorzubehalten 575
n At u r A l ge l d
seien (so 1922 in Indien). Angestrebt wurde „complete equality, in status and responsibility“ zwischen Indern und Europäern. Damit waren die Grundstrukturen einer Selbstorganisation der asiatischen Kirchen gelegt, die in erweiterter Form bis heute bestimmend blieben. Früher als in Europa führte die asiatische Ökumenebewegung zu konkreten Resultaten. Nicht zufällig erfolgte etwa die südind. Kirchenunion 1947 – im Jahr der politischen Unabhängigkeit Indiens und noch vor der Gründung des Weltkirchenrates 1948 in Amsterdam. Kaj Baago, A History of the National Christian Council of India 1914–1964, Nagpur 1965. Ruth Rouse / Stephen C. Neill, A History of the Ecumenical Movement I, Genf 4 1993. Hans-Ruedi Weber, Asia and the Ecumenical Movement 1895–1961, London 1966. KL AUS KOS CHORKE
Naturalgeld. Als N., Surrogatgeld oder Warengeld bezeichnet man Gegenstände, die als Tauschmittel und Wertmaßstab stellvertretend für alle anderen Güter gegeben und angenommen werden. Nach Material und Abstraktionsgrad (in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft) sind folgende Gruppen von Warengeld zu unterscheiden: 1. Steingeld (Feuersteine); 2. Ring- und Zahngeld (Süd-Pazifik, →Neuguinea); 3. Schmuckgeld (in →Amerika, Süd-Pazifik, →Afrika, →Südostasien; Bernstein im Ostseeraum; Ketten mit geschliffenen Muscheln in Melanesien [Diwarra] und Nordamerika [→Wampum]; in engl. Kolonien bis 1670 legales Zahlungsmittel [180 Wampums = 2½ sh], unter Siedlern bis 1709, unter Indianern bis 1825 in Gebrauch); 4. Kleidergeld (→Pelze im alten Rußland, →Sibirien und Nordamerika; Rindenstoffe in Ozeanien; Stoffstücke [Quatchtli] bei den Azteken; Baumwollstoffe (→Baumwolle) als Scheidegeld in Zentralafrika [Hedja bei den →Hausa, Bérne bei den →Fulbe; Ende 19. Jh.]; 5. Nutzgeld (Nahrungs- und Genußmittel [getrocknete Fische in Island]; →Reis in Korea; Pedan-Mandeln in →Indien [Kleingeld bis zum 18. Jh.]; Tee-Ziegel (→Tee) in Zentralasien; Kakaobohnen (→Kakao) in Alt-Mexiko und Nicaragua; Salzgeld (→Salz) im Ostseeraum sowie in Südchina [z. Zt. Marco →Polos]; Körbe mit geschälten Zerealien in →Guinea; →Tabak in Virginia und Maryland [17. Jh.]; →Pfeffer, Salztafeln, -brote und -stangen in →Äthiopien und im Süd-Sudan [18./19. Jh.], auch Viehgeld [Lateinisch: pecus – pecunia; Sanskrit: rupa – →Rupie; Griechisch: bous – Rind, Silbermünze]); 6. ungeformtes und geformtes Metall-Geld (Eisengeld in Sparta; römisches aes rude [Erzklumpen]); Beile und kleine Metallscheiben im keltischen Gallien; Zinnstücke in Alt-Mexiko; Stangen, dünne Platten, Haken und Speerspitzen im →Sudan und im inneren Ostafrika, Messingdrähte [Massango] in →Sansibar und am Horn von Afrika, Kupferkreuze im Kongobecken (→Kongo) sowie Gold- und Silberringe im oberen Nigergebiet (→Niger) [19. Jh.]). Das Warengeld mit der größten geographischen Verbreitung waren die jh.elang bei verschiedensten Völkern im Raum des gesamten →Ind. Ozeans und der angrenzenden Gebiete Asiens und Afrikas wie Münzen zirkulierenden KauriSchnecken (von altind.: kaparda, Porzellanschnecke; Cypraea moneta). Der arab. Reisende →Ibn Batutta 576
berichtet um 1325 von der Verwendung der Kauris auf den →Malediven, von denen zwischen 400 000 und 1,2 Mio. dem Wert eines Dinars entsprachen, und nach Marco Polo waren sie auch in Südasien als Kleingeld im Umlauf. Im 17. Jh. wurden sie sogar in Indien (als Untereinheit der Rupie) und auf den →Philippinen als Geld benutzt, in Siam unter der Bezeichnung Bia noch gegen Ende des 19. Jh.s (1 000–1 200 Kauris = 1 Fuang [Korb]; 100 Kauris = 3,2–4 Pfennige; 18. Jh.: 1 Taël = 25 000 Kauris); 1 t Kauris kostete auf Ceylon 70–75 £. Arab. Händler exportierten die Kauris aus Indien – die Portugiesen später direkt von den Malediven – und verbreiteten sie im gesamten Raum des Ind. Ozeans. Von der ostafr. Küste gelangten sie über den Sudan bis Ober-Guinea, Mauretanien und zu den →Berbern. Ihr Wert nahm mit zunehmender Entfernung von ihrem Herkunftsort zu. Das Hauptverbreitungsgebiet der Kauris war um die Jh.wende Afrika, wo sie als Scheidegeld zirkulierten (1 Makuta in →Angola = 2 000 Kauris; 1 Penny in →Uganda = 50 Kauris [bis 1897]). Der Hauptstapelplatz für den Kauri-Handel war Sansibar an der Ostküste, wo sie insb. zum Umwechseln des →Maria-Theresien-Talers oder des span. Peso dienten. In Zentralafrika mit dem Zentrum Jola war die größte Rechnungsmünze der Sack Kauri-Muscheln (ca. 20 000 Stück = 7 Francs in Dahomé bis 1907), der einem Baumwolltuch von der Größe eines Kleides gleichgesetzt und in sog. Banos (eiserne Haken einer bestimmten Form; 1 Bano = 170–250 Kauris) bzw. Karsen (Messingstange zu 2 Banos) unterteilt wurde. An der westafr. Küste wurde mit Kauris v. a. das Palmöl bezahlt (40 Kauris = 1 Schnur; 50 Schnüre = 1 Kopf; 10 Köpfe = 1 Sack). Ende des 19. Jh.s waren das Landesinnere von Ostafrika (Sansibar) und Abessinien/Äthiopien mit die wichtigsten Länder, in denen die Umlaufswährung (→Währung) im wesentlichen aus Warengeld bestand: In Ostafrika tätigte man Zahlungen in nordam. Baumwollstoffen (Domestics, Merikani) sowie in venezianischen Glas- und Porzellanperlen (arab.: charas; suahel.: uschanga). An der Küste rechnete man die Schucka Baumwollstoff (ca. 1,83 m) zu ca. ¼ US-$, in Landesinneren zu 1 US-$; für 1 US-$ erhielt man in Sansibar ca. 5–6 Pfund weiße Porzellanperlen, deren Wert in verschiedenen Gegenden stark variierte. Haupttauschmittel in Abessinien war das Gabi, ein Stück Baumwollstoff von 20 abessinischen Ellen Länge (ca. 9,14 m), unterteilt in Hälften (Karanna) und Viertel (Gerbba; Stoff für etwa ein Kleid). Zahlungen geringerer „Summen“ erfolgten in Süd-Abessinien und ganz Zentralafrika durch Stücke unreinen Steinsalzes (amharisch: amulé; tigré: kehle) in der Form eines Wetzsteines. Für 1 Maria-Theresien-Taler erhielt man um 1870 in Adowa (Tigré) 30–40 Amulé, in Gondar 20–30, in Ankóber (Schoa) 20, in Abessinien 18–20, in Simäu 52–54 und in Wochni (Nubien) 17. Im Kleinhandel (z. B. um →Massawa) bestimmten Glasperlen (Borjookes) den Umlauf; dabei rechnete man 3 Borjookes = 1 Kebir, 40 Kebir = 1 Harf oder Dahab und ca. 1 ½ Harf = 1 Abulé. F. Noback, Münz-, Maass- und Gewichtsbuch, Leipzig 1877. R. Klimpert, Lexikon der Münzen, Maße, Gewichte, Zählarten und Zeitgrößen aller Länder der Erde,
n AvAj o
Berlin 1896, Ndr. Graz 1972. R. Sedillot, Muscheln, Münzen und Papier, Frankfurt 21999. M A R K U S A . DE NZ E L / OS KAR S CHWARZ E R
Nauru ist eine 21,2 km² große, gehobene Koralleninsel im Südpazifik, südlich der →Marshallinseln und westlich von Kiribati gelegen. Da sie komplett von einem Riff umgeben ist, an dessen Außenseite der Meeresboden steil abfällt, besitzt sie weder einen Hafen noch eine natürliche Anlegestelle. Wann die erste Besiedelung erfolgte, ist nicht bekannt, ebensowenig die Herkunft der N.er. Da sie sprachlich und kulturell mit den Gilbert-Insulanern (→Gilbert and Ellice Is.) verwandt sind, liegt eine gemeinsame Abstammung nahe. Auf Grund der geographisch isolierten Lage und der ungünstigen Meeresströmungen betrieben sie zur Zeit der ersten europäischen Besucher keine regelmäßige Hochseeschiffahrt, auch nicht nach dem 305 km westlich gelegenen Banaba (→Ocean Island), der nächstgelegenen Insel. Die erste bekannte schriftliche Aufzeichnung über N. stammt von dem Besuch des englischen Handelsschiffs „Hunter“, dessen Kapitän John Fearn am 8. November 1798 in sein Logbuch eintrug, daß er die Insel auf Grund der freundlichen Haltung und des ihm attraktiv erscheinenden Äußeren der Bewohner „Pleasant Island“ benannt habe. Spätestens seit Anfang der 1840er Jahren gelangten desertierte Seeleute und flüchtige Sträflinge nach N. Sie ließen sich ebenso wie verschiedene Händler in den folgenden Jahren auf der Insel nieder und waren die ersten europäischen Bewohner N.s. Zu dieser Zeit organisierten sich die N.er in 12 Klans oder Sippen, eine Zentralgewalt war nicht vorhanden. Gesellschaftlich teilten sie sich in drei Klassen auf, den Demoniba oder Eomo (landbesitzende Titelträger), den Emananama (landbesitzende Freie) und den Itio (Leibeigene oder Hörige). Mit der Zeit verlor diese Einteilung an Bedeutung, bis sie schließlich ganz verschwand. Durch die Einfuhr von Schußwaffen gerieten die traditionellen Fehden außer Kontrolle und mündeten in einen blutigen Dauerkriegszustand (1878 bis 1888). Nach einer Einigung mit Großbritannien fiel N. an das Deutsche Reich und wurde am 2. Oktober 1888 durch eine Flaggenhissung (S.M.S. Eber) in Besitz genommen und unter deutsche Verwaltung gestellt. Durch die darauffolgende Entwaffnung und den prinzipiellen Willen zum Frieden der N.er hörten die blutigen Fehden abrupt auf. Bereits 1887 kamen die ersten Missionare – Gilbert-Insulaner der kongregationalistischen Bostoner Mission (ABCFM) – auf die Insel, mußten die Inseln aber auf Drängen der N.er bereits 1894 wieder verlassen. 1899 nahm die Bostoner Mission unter dem Deutsch-Amerikaner Delaporte ihre Tätigkeit erneut auf und 1902 begann die katholische →Herz-Jesu-Mission ihre Tätigkeit. 1901 wurde entdeckt, daß der Korallenkalk N.s sehr phosphathaltig ist, 1906 wurde mit dem Abbau durch die Pacific Phosphate Co. begonnen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, am 6. November 1914, besetzte Australien die Insel. Die Deutschen wurden deportiert. Durch den Völkerbund wurde die Insel 1921 als C-Mandat dem britischen Empire unterstellt, faktisch übte Australien die Regierungsgewalt aus. Im Zweiten Weltkrieg besetzte Japan N. und deportierte zwei Drittel
der Bevölkerung nach Truk und anderen Karolineninseln, von wo die Überlebenden 1946 zurückkehrten. Insgesamt betrug der Bevölkerungsverlust der N.er etwa ein Drittel, ca. 1.200 N.er überlebten den Krieg. Durch die Vereinten Nationen wurde N. als Treuhandgebiet Großbritannien, Neuseeland und Australien zur gemeinsamen Verwaltung übergeben, faktisch bestimmte Australien weiterhin die Geschicke N.s. 1968 wurde N. als zweiter Staat des Südpazifiks überhaupt völkerrechtlich vollständig souverän und gelangte durch den fortgeführten Abbau des Phosphats kurzzeitig zu einem der höchsten BIPpro-Kopf-Einkommen weltweit. Nach der weitgehenden Einstellung des Abbaus 2000 versiegte die Quelle des Reichtums jedoch. Australien benutzt N. gegen eine geringe finanzielle Entschädigung als exterritoriales Internierungslager für unerwünschte Asylanten. Währung N.s ist der australische Dollar. Wilhelm Fabricius, Nauru 1888–1900, Canberra 1992. Paul Hambruch, Nauru, Hamburg 1914–15. Nancy Viviani, Nauru, Honolulu 1970. MA RK U S PLATTN ER Navajo. Die N. sind die größte Gruppe der bis nach Kanada und Alaska verbreiteten dene- bzw. athapaskischsprachigen Völker im nordamerikanischen Südwesten. Sie sind sprachlich und kulturell nahe mit den ApacheVölkern (→Apachen) verwandt. Ihre Eigenbezeichnung lautet „Diné“ („die Leute“, „das Volk“). Vermutlich zwischen 1300 und 1500 A.D. wanderten wildbeuterische Vorfahren der heutigen N. in das Gebiet des Südwestens ein. Der Druck der spanischen Kolonialmacht auf ihre Nachbarn, die seßhaften Pueblo-Völker, führte ab dem 16. Jh. zur Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge. Spätestens seit dieser Zeit übernahmen die N. von den Pueblos Töpferei, Weberei und Techniken des Bodenbaus. Auch Mythologie und Kultus weisen Ähnlichkeit mit entsprechenden Zügen bei den Pueblos auf; die N. formten die Pueblo-Anleihen jedoch nach eigenen Bedürfnissen zu einem eigenständigen mythisch-kultischen Komplex um. Durch den Kontakt mit Europäern gelangten die N. in den Besitz von Vieh, zunächst das Schaf, später auch Ziege, Rind und v. a. das Pferd. Dies brachte erhöhte Mobilität mit sich. Sie wurden zunehmend zu Konkurrenten der Europäer um Land und Vieh, erst der Spanier und seit der Mitte des 19. Jh.s der einsickernden Anglo-Amerikaner. Nach den „Indianerkriegen“ der US-Armee wurden die N. 1864–68 nach Fort Sumter (Bosque Redondo) im östlichen Prärieland New Mexicos umgesiedelt – diese Episode ihrer Geschichte trug Züge eines Genozids. Die N.-Sprache diente im Zweiten Weltkrieg als Grundlage der Entwicklung eines Codes zur Übermittlung von Nachrichten im Funkverkehr, der von den Japanern nicht entschlüsselt werden konnte. N. „Code Talker“ an vorderster Front trugen spielten somit eine entscheidende Rolle für den Erfolg der US-Truppen im Pazifikkrieg. Die N. sind matrilinear in einem komplexen, weitverzweigten Netz der Clanverwandtschaften organisiert. Der Ehemann zieht zur Gruppe seiner Gattin, mitsamt seinen ebenfalls zugezogenen Schwiegersöhnen bearbeitet er den Boden u. betreibt Viehzucht. Teppichweberei ist eine Haupttätigkeit der Frau, Männer üben die kunsthandwerklich ebenfalls hochstehende Kunst des Silber577
ndebele
schmiedens aus. Das kultisch-mythische Leben konzentriert sich auf das Heilen in einem umfassenden Sinn. Krankheit ist ein Zeichen der Störung der Harmonie im Zusammensein von Mitmenschen und übermenschlichen Wesen. Durch die von Spezialisten durchgeführten, teils mehrereTage dauernden Heilungszeremonien soll der Mensch wieder in die umfassende Harmonie eingerückt werden. Die N. bezeichnen sich als N. Nation und haben, anders als die übrigen in Reservaten lebenden Indianervölker, keinen Gouverneur, sondern einen Präsidenten an der Spitze ihrer nach demokratischen Grundsätzen gebildeten Regierung. Das Hauptterritorium der N. Nation liegt größtenteils auf dem Gebiet des nordöstlichen Arizona sowie auf angrenzenden Teilen von Utah und New Mexico. Dazu kommen verschiedene Exklaven in New Mexico. Das Reservat der →Hopi ist vollständig von der N. Nation umschlossen, deren Gesamtfläche ca. 71 000 km2 beträgt. Das entspricht der Größe Bayerns. Über die Bevölkerungszahl existieren höchst unterschiedliche Angaben: Dem Zensusbüro der Navajo Nation zufolge lag die Zahl der „eingetragenen Mitglieder“ der Nation im Jahre 2011 über 300 000, von denen aber nicht alle auf dem eigenen Territorium lebten. Nach der letzten amtlichen Volkszählung der USA 2010 lebten 169 321 N. im N.reservat. Damit war das Reservat der N. das mit Abstand größte Indianerreservat in den Vereinigten Staaten. Die Gesamtzahl aller sog. unitribalen N. betrug 286 731 – die größte indianische Gruppe in den Vereinigten Staaten, vor den →Cherokee. Rechnet man die Verbindungen mit anderen ethnischen Gruppen hinzu, zählte der USZensus 2010 insgesamt 332 129 N. Öffentlicher Reichtum (Schulen, Verwaltungsgebäude) auf Grund der Einnahmen aus der Erdöl-, Erdgas- und Kohlegewinnung kontrastiert markant mit privater Armut. Kelli Carmean, Spider Woman Walks This Land, Walnut Creek 2002. Alfonso Ortiz (Hg.), Handbook of North American Indians 10, Washington D.C. 1983. Ruth Underhill, The Navajos, Norman 1956. T HOMAS BARGAT Z KY
Ndebele. Untergruppe der Nguni, die sich im 17. Jh. von ihren Verwandten an der Küste Südafrikas lossagten. Sie bestehen aus zwei Gruppen, von denen eine in →Simbabwe lebt und vom Heerführer Mzilikazi abstammt. Die andere Gruppe wanderte landeinwärts und ließ sich unter ihrem Anführer Musi nördlich vom heutigen →Pretoria (Tshwane) nieder. Nach Musis Tod spaltete ein Streit zwischen seinen Söhnen Manala und Ndzundza die einst vereinten N. Nzundza wurde besiegt und floh nach KwaSimkhulu nahe dem heutigen Belfast. Infolge der Aneignung des →Transvaal durch die Briten 1877 und ihrem Sieg über das Pedi-Häuptlingstum 1879 verloren die meisten unabhängigen afr. Kgr.e in dieser Region ihre Macht. 1883 brach ein Krieg zwischen den →Afrikaners und den Ndzundza-N. unter ihrem Häuptling Nyabela aus. Das Ndzundza-Häuptlingstum wurde zerstört, Nyabela inhaftiert, seine Stammesleute zur Farmarbeit gezwungen, das gesamte Ndzundza-Land konfisziert und unter den siegreichen Afrikaners verteilt. Die Macht des Ahnenglaubens ermöglichte es ihnen, trotz ihrer über ein Jh. lang andauernden Diaspora, eine eigene Identität und 578
den Fortbestand ihrer Kultur zu bewahren. Unter den männlichen und weiblichen N. wird eine rituelle Initiation praktiziert, um den Übergang von der Kindheit in das Erwachsensein zu markieren. Die N. bezeichnen sich selbst als „amaN.“. Süd-N. (isiN.) wird von ca. 600 000 Menschen in den Provinzen Mpumalanga, Limpopo, Gauteng und Nordwest gesprochen und ist eine der 11 offiziellen Sprachen Südafrikas. Nord-N. (siN.) wird von den Matabele in Simbabwe und Botswana gesprochen. Beide Sprachen gehören zur Nguni-Sprachgruppe. Die N. sind international bekannt für ihre farbenprächtigen Wanddekorationen und ihre Perlenstickerei. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Peter Magubane, Vanishing Cultures of South Africa, London u. a. 1998. Izak Johannes van der Merwe / J.H. van der Merwe, Linguistic Atlas of South Africa, Stellenbosch 2006. A N N EK IE JO U BERT
N’Djamena. Hauptstadt des →Tschad, einer ehem. frz. Kolonie (1920–1960). Sie liegt am Zusammenfluß der Ströme Logone und Schari im südlichen Grenzgebiet zu →Kamerun. Wie die meisten Hauptstädte im ehem. Frz.-Äquatorialafrika ist N. eine koloniale Kreation. Der Ort wurde 1900 von dem frz. Offizier Émile Gentil (1866–1914) gleich nach der Errichtung des Militärterritoriums Tschad gegründet und nach Amédée-François Lamy Fort-Lamy benannt. Lamy (1858–1900) hatte am 22.4.1900 an der Entscheidungsschlacht bei Kousséri gegen den Händler und Kriegsherrn Rabeh Zubair (1835–1900) teilgenommen und war dabei ums Leben gekommen. Das Militärterritorium, das 1920 eine eigenständige Kolonie wurde, ist größtenteils Trockensavanne und Wüste, in die kaum etwas investiert werden kann. Um 1940 belief sich die Zahl der Ew. Fort-Lamys auf nur 15 000. Das riesige Land ist aber Weidegebiet nomadischer Viehzüchter, und die Großviehhaltung ist neben der Produktion von →Baumwolle im südlichen Teil des Landes die wichtigste ökonomische Aktivität. Aus diesem Grund wurden in Fort-Lamy u. a. Textilfabriken und ein Schlachthof errichtet, welcher aber unter der Konkurrenz der entspr. Einrichtungen von →Bangui in Zentralafrika und Maiduguri im Nordosten →Nigerias litt. Fort-Lamy wurde 1973 in N. umbenannt. Zu diesem Zeitpunkt lebten in der Stadt ca. 115 000 Ew. 1971 wurde eine Universität gegründet Marianne Cornevin, Histoire générale de l’Afrique contemporaine, Paris 1972. Hubert Deschamps, Histoire générale de l’Afrique noire, de Madagascar et des archipels, Paris 1970. Y O U SSO U F D IA LLO Neger. Vom Lateinischen niger (schwarz) abgeleitet, finden sich in den meisten europäischen Sprachen Bezeichnungen, die ausschließlich auf die oft dunklere Hautfarbe der Menschen in den entdeckten und kolonisierten Weltregionen Bezug nehmen. Das spanische negro, französische nègre oder deutsche N. löste in der Neuzeit den im Mittelalter gebräuchlichen Begriff →Mohren (Mauren, von lat.maurus, griech. αμαυρός, dunkel) oder den in der Antike verbreiteten Terminus Äthiopen (von griech. αίθιοψ, Brandgesicht) für die Bewohner des
n eg er
jeweils bekannten „Schwarzafrika“ ab. Entsprechend klassifizierte Linné 1735 einen homo africanus niger, der von den Philosophen der →Aufklärung (z. B. Kant oder Meiners) gleich mit negativen Eigenschaften (z. B. „faul“ oder „tändelnd“) belegt wurde. Damit sollte das zivilisatorische Gefälle zu Außereuropa psychologisch begründet werden, das lange religiös, v. a. durch die im AT beschriebene Verfluchung Hams (1. Mos. 9, 25) erklärt wurde. In dem arabischen Namen kâfîr (ungläubig) für periphere Bewohner →Asiens wie →Afrikas und seiner kapholländischen Übernahme (Kaffern) für schwarze Südafrikaner hat sich diese ältere Diskriminierung terminologisch erhalten. Mit dem Übergang vom merkantilen zum industriellen Kolonialismus setzte sich eine Wissenschaftlichkeit beanspruchende rassenbiologische Konzipierung der unterworfenen Völker durch, in der aber weiter der Hautpigmentierung eine Schlüsselrolle zugesprochen wurde. Entsprechend der romantischen Idee einer Einheit aus Rasse, Volk, Sprache und Kultur wurden die als N. bezeichneten Bewohner Afrikas und Melanesiens, sowie die nach den Amerikas deportierten Sklaven (→Sklaverei) in die unterste Kategorie verortet und entsprechend behandelt. Diese Hierarchisierung der Menschheit nach Farbtönungen samt ihrer fluchmythologischen Begründung hat gewisse Entsprechungen im arabischen, indischen, chinesischen, japanischen und polynesischen Kulturkreis, und eine vergleichbare kategoriale Wahrnehmung prägt noch heute das faktische Zusammenleben auch in so multiethnischen Großgesellschaften wie →Brasilien. Die rassenideologisch begründete Diskriminierung Dunkelhäutiger hatte in den portugiesischen, spanischen, britischen, holländischen, französischen, dänischen, italienischen und deutschen Überseegebieten unterschiedliche Kodifizierungen und Praktiken zur Folge; bisweilen wirkten Mission und Kirchen lindernd oder ausgleichend; die elaborierteste Gesetzgebung einer überseeischen „Rassengesellschaft“ wurde in der →Südafrikanischen Union 1910 bis 1989 sukzessive durchgesetzt. Dort sollte die in swart/black (71,2 %), kleurling/coloured (9,3 %) und blank/white (16,7 %) aufgeteilte Bevölkerung sich getrennt oder „parallel“ (Mulder) entwickeln und jede weitere „Bastardisierung“ verhindert werden. Diese, also die Vermischung von Menschen auch unterschiedlicher Hautfarbe, scheint aber trotz aller Verehrung von Reinheit und Verteidigung von Eigenarten der natürliche Gang der Dinge zu sein und wird durch entsprechende „Hybridisierungen“ auf sprachlichem und kulturellem Gebiet abgestützt. In →Lateinamerika, wo Mischungen aus Immigranten und Autochthonen oft die Mehrheit darstellen, ist das Ideal des mestizaje (Mestizentum) auch schon politisch geworden und hat entsprechend pluralistische Programme hervorgebracht. In der →Karibik, in den USA und manchen Ländern Afrikas revoltierte gegen die universelle Vorherrschaft der Weißen aber ein Bekenntnis zum N.tum (négritude), das sich auf künstlerische und emotionale Begabungen der schwarzen Rasse beruft (Césaire, →Senghor u. a.). Ähnlich argumentieren für die religiöse Disposition afroamerikanische Kultgruppen, und in Brasilien bevorzugen dem black consciousness vergleichbare Bestrebungen neuerdings den Begriff ne-
gro statt preto (port. schwarz). Nun lassen sich (rassen-) psychologische Eigenschaften bestimmter Formengruppen innerhalb der menschlichen Art aber wissenschaftlich schwer nachweisen. Die heutige Humangenetik, die längst den morphologischen Rassendiskurs abgelöst hat, kann außerdem nur noch fließende Übergänge beschreiben, bzw. „Unterschiede ohne Grenzen“ (Cavalli-Sforza 1994). Der Begriff N. hat heute fast wie das kapholländische nikker oder das nordamerikanische nigger einen so pejorativen Beiklang bekommen, daß er meist durch die Vorwörter Schwarz- oder Afro- ersetzt wird (z. B. Afrodeutsche). In den USA ist auch von Farbigen (coloreds) die Rede, wenn dunkler getönte Menschen gemeint sind, ohne daß sich der Begriff auf Mischlinge wie in Südafrika beschränken würde. Diese waren zur Zeit der →Apartheid besser als Schwarze gestellt, während die US-amerikanische Rassentrennung (in Schulen, Busabteilen, Toiletten, Warteräumen etc.) nur coloreds von whites schied. Auch im internationalen Kontext spricht man von „farbigen Völkern“, wenn die Peripherie der Industrienationen bzw. die sog. →Dritte Welt gemeint ist. Diese ist aber infolge der europäischen Expansion und Auswanderung nicht identisch mit den indigenen Völkern, für die die Entkolonisierung nach dem II. Weltkrieg meist keine substantielle Verbesserung bedeutete. Deswegen wurden in diesem Zusammenhang auch schon die Begriffe „Binnenkolonisation“ oder „Vierte Welt“ verwendet. Die in solchen Peripherzonen lebenden, fast eine halbe Milliarde zählenden Menschen sind heute nicht selten vom Ethnozid, dem Verlust ihrer tradierten Kultur, vom Genozid, ihrer physischen Beseitigung bzw. Deportation, oder vom Ökozid, der Vernichtung ihres Lebensraumes, bedroht. Ursache ist die industrielle →Globalisierung mit ihrem wachsenden Hunger nach Energie und Rohstoffen, nach Entsorgungsplätzen für oft giftigen Industriemüll und nach Sicherheit. Letzteres führte zu zahlreichen Atombombentests in Asien, dem Pazifik und in Nordafrika mit bis heute unkalkulierbaren Folgen. Um Wasserkraft zu nutzen, werden überall riesige Staudämme gebaut, die Bauernland überfluten. Dieses schrumpft auch infolge gigantischer Projekte der Agroindustrie, einschließlich des plantagenmäßigen Anbaus von Energiepflanzen. Für beides wird auch weiter Regenwald gerodet, der angestammte Wirtschaftsraum von Jägern und Sammlern sowie der unverzichtbare Regenerationsraum für das Weltklima. Die Bewohner dieser bedrohten Räume wurden früher →Eingeborene genannt, auch der vom französischen naturels übernommene Begriff Naturvölker ist noch weit verbreitet; im 19. Jhdt. sprach man von Primitiven, davor von Wilden oder von wiederum nach dem Französischen (nations non policés) benannten „unpolizierten Nationen“ (Herder). In der ibero-, insbesondere hispanoamerikanischen Welt ist immer noch der Terminus indigenas (auch als Ersatz für das im Spanischen diskriminierend klingende indios) gebräuchlich (vom lat. indigenus, eingeboren), und in Frankreich spricht man heute von peuples autochthones, während in Australien die Ureinwohner →Aborigines, in →Indien Adivasi und in Nordamerika First Nations genannt werden. Einzelne Vertreter dieser Kleingruppen, die in der Regel über Schulbildung und moderne Kom579
n e hr u , j AwA h A r lA l
munikationstechnik verfügen, versuchen, die Rechte ihrer Leute vor Nichtregierungsorganisationen, Behörden und internationalen Gremien geltend zu machen. Es gibt aber in Südamerika, Inselindien u. →Neuguinea auch noch kleine Stammesgesellschaften, die auf jeglichen Kontakt mit der Zivilisation, bzw. ihrer Vorhut, der Mission, freiwillig verzichten und als Isolate (im Span. als isolados) zu überleben versuchen. Julian Burger, The Gaia Atlas of First Peoples: A Future for the Indigenous World. London 1990 (dt. 1991). Luca u. Francesco Cavalli-Sforza, Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage. München 1994. Erika-Irene A. Daes, Indigenous Peoples. Keepers of Our Past – Custodians of Our Future. Kopenhagen 2008. Henning Melber, Der Weißheit letzter Schluß. Rassismus und kolonialer Blick. Frankfurt/M. 1992. Maren Rößler, Zwischen Amazonas und East River. Indigene Bewegungen und ihre Repräsentation in Peru und bei der UNO. Bielefeld 2008. BE RNHARD S T RE CK
Nehru, Jawaharlal, * 14. November 1889 Allahabad, † 27. Mai 1964 Delhi (→Delhi), □ am Raj Ghat eingeäschert, Hindu Als Sohn des Rechtsanwalts Motilal N. genoß N., der von 1947 bis 1964 ind. Premierminister war, eine westlich geprägte Ausbildung, die ihn 1905 nach England (Harrow und Cambridge) führte, wo er auch 1912 in London (Inner Temple) sein Jura-Studium beendete. Während dieser Zeit kam er mit progressiven politischen Ideen wie z. B. denen der Fabian Society in Kontakt. Früh bekannte er sich zu einer liberaldemokratischen Reg.sform sowie zum →Säkularismus. Die Rückkehr →Gandhis nach →Indien 1915 bedeutete für N. den eigentlichen Beginn seines politischen Engagements. Die zuvor tonangebenden Gemäßigten innerhalb des →Indian National Congress (INC), zu denen auch Motilal N. gehörte, gingen ihm in ihren Forderungen nicht weit genug. Obwohl von Gandhis moralischer Integrität und seinen gewaltfreien Methoden angezogen, vermied es N. im Gegensatz zu Gandhi, die Religion zum Bezugspunkt des Handels zu machen. Auch wenn beide in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen oftmals nicht übereinstimmten, stellte N. die Autorität Gandhis nie in Frage. Gandhi integrierte N. in den Führungszirkel des INC, um seiner Radikalisierung entgegenzuwirken und die Generation um N. und Subhas Chandra →Bose an den INC zu binden. Anders als Bose lehnte N. jedoch eine Zusammenarbeit mit den Achsenmächten ab. Zwischen 1921 und 1945 wurde er als führender Kongreßpolitiker mehrfach inhaftiert. In dieser Zeit schrieb er u. a. seine Autobiographie und historische Reflexionen, die ein marxistisches Geschichtsverständnis erkennen lassen. Nach seiner Teilnahme am Kongreß gegen koloniale Unterdrückung 1927 in Brüssel sah er den ind. Freiheitskampf (→Ind. Nationalismus) als Teil einer weltweiten Bewegung gegen den →Kolonialismus. Dies äußerte sich später im Engagement für die afro-asiatische Solidarität. Sein Internationalismus kam zudem in Vermittlermissionen (Indochina-Krise 1954, Korea-Krieg 1953) sowie bei der Formierung der Blockfreien-Bewegung 1961 zum Ausdruck. Die ind. Unab580
hängigkeit sollte für N. mit einer Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft einhergehen. Dabei lehnte er Gandhis ländliches, dezentrales Entwicklungsmodell ab und sah sein Vorbild für eine zentralstaatlich organisierte Entwicklung in der Sowjetunion, wenngleich er die dortige Diktatur kritisierte. Als Premierminister forcierte er dementspr. den Aufbau der Schwerindustrie sowie große Infrastrukturprojekte im Rahmen staatlicher Fünfjahrespläne. Andere Vorstellungen wie die Säkularisierung der ind. Gesellschaft sowie der Abbau sozialer Ungleichheit konnten während seiner Reg.szeit kaum realisiert werden. Durch den Grenzkrieg mit China 1962 wurden Teile seiner außenpolitischen Konzeption (Panch Sheela = 5 Prinzipien der friedvollen Koexistenz) widerlegt. Mit seiner insg. als pragmatisch zu charakterisierende Politik sicherte N., der sich stets für ein demokratisches politisches System in Indien einsetzte, der Kongreßpartei bei Wahlen die politische Vorherrschaft. Judith M Brown, Nehru, New Haven u. a. 2003. Sarvepalli Gopal, Jawaharlal Nehru, Delhi u. a. 1975–1984. Benjamin Zachariah, Nehru, London u. a. 2004. RO B B Y G EY ER / JIVA SCH Ö TTLI
Nelken. Bei Gewürz-N. handelt es sich um die ungeöffneten Blütenknospen des tropischen Baumes Eugenia aromatica, der bis zu 20 m hoch und 400–500 Jahre alt werden kann. Der Baum gehört zu den Myrtengewächsen und ist mit Piment und Eukalyptus verwandt. Ursprünglich nur östlich der →Wallace-Linie vorkommend und auf den fünf nordmolukkischen Inseln →Ternate, →Tidore, Moti, Makian und Bacan endemisch, ist der Handel mit N. nach China bereits im 3. Jh. v. Chr. nachweisbar. N. sollten vor Audienzen mit dem chin. Ks. gekaut werden, um einen frischen Atem zu haben. Spätestens seit Plinius’ Zeiten sind sie auch in Europa bekannt. Der Baum wuchs auf den Nordmolukken bis ins 16. Jh. wild und wurde nicht kultiviert, allerdings gepflegt. Nach 4–5 Jahren beginnt er zu blühen, eine Ernte ist zweimal im Jahr möglich und liefert pro Saison ca. 15 kg N. pro Baum. Die ungeöffneten Blüten werden kurz vor dem Öffnen gepflückt und anschließend in der Sonne getrocknet. Von den →Molukken aus wurden die getrockneten N. entweder über eine nördliche Route via →Nord-Borneo und den Sulu-Archipel nach China verschifft oder über →Ambon und →Banda nach →Java und →Malakka und von dort weiter nach Westen geliefert. Insb. Malakka gelang es im 15. Jh. auf Grund seiner geographischen Lage in der Straße von Malakka zum Hauptprofiteur des Gewürzhandels (→Gewürze) aus den Molukken nach →Indien, Persien, Arabien, →Siam, →Vietnam und China zu werden. Dort wurden N. als Arzneimittel, Betäubungsmittel bei Zahnbehandlungen, Bestandteil von Parfums, Ölen und Medizinen, Zutat zum Betelkauen als auch als Speisegewürz verwendet. Ihr Wert war so hoch, daß sie bei diplomatischen Missionen häufig als Geschenk oder Tribut überreicht wurden. Den im 16. Jh. im →Ind. Ozean auftauchenden Portugiesen wurde rasch die herausragende Bedeutung Malakkas für den Gewürzhandel klar. Nach der →Eroberung Malakkas 1511 suchten sie die Quellen für die Gewürz-N. in den Molukken auf und errichteten einen Stützpunkt
n es to riA n er
auf Ternate. 1522 legten sie den N.handel in Asien als Monopol der port. Krone fest. Dies stieß auf heftigen Widerstand der beiden Sultanate Ternate und Tidore. Da jedoch keine weiteren port. Posten in den Nordmolukken eingerichtet werden konnten, war die Überwachung des N.monopols militärisch nicht zu gewährleisten und sehr durchlässig. Die Ankunft der Niederländer zu Beginn des 17. Jh.s markierte einen Wendepunkt. Der →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) gelang es nach der Vertreibung der Portugiesen aus den Molukken, ein für mehr als 100 Jahre effizientes Handelsmonopol zu errichten, teils mit militärischer Gewalt, teils durch Verträge mit den einheimischen Herrschern. Die Erträge der VOC aus dem Gewürzhandel waren anfangs enorm: Die ersten Reisen brachten teilweise Gewinne von 250 % und mehr gegenüber dem bei Abfahrt investierten Kapital. Unter der VOC wurden N.bäume gezielt angepflanzt und kultiviert, sehr stark z. B. auf Ambon in den zentralen Molukken. Das Monopol der Niederländer wurde erst in den letzten Dekaden des 18. Jh.s gebrochen, als einige Setzlinge nach →Sansibar geschmuggelt wurden, das sich im 19. und 20. Jh. zu einem der bedeutendsten Produzenten von N. entwickelte. Der größte Produzent ist heute nach wie vor →Indonesien, allerdings gelangt kaum etwas davon in den Export. N. sind ein unverzichtbarer Bestandteil der in Indonesien nach wie vor äußerst populären Kretek-Zigaretten und werden als Würzstoff dem →Tabak beigegeben, was beim Anzünden einen unverwechselbaren süßlichen Geruch ergibt. Hauptproduzenten für den Weltmarkt sind Sansibar, →Brasilien, →Madagaskar und →Sri Lanka. K. N. Chaudhuri, Trade and Civilisation in the Indian Ocean, Cambridge 1985. Joanna Hall Brierley, Spices, Kuala Lumpur 1994. Sigmund Rehm / Gustav Espig, Die Kulturpflanzen der Tropen und Subtropen, Stuttgart 1984. H. R. C. Wright, The Moluccan Spice Trade Monopoly, 1770–1824, in: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society 31 (1958), Heft 4. HOL GE R WARNK
Nepal. Landumschlossenes himalayisches Kgr., zwischen Tibet im Norden und →Indien im Osten, Westen und Süden gelegen. Die Kiratis, deren Herrschaft sich bis ins 7. Jh. v. Chr. zurückverfolgen läßt, waren die ersten historisch nachweisbaren Siedler N.s. Ab dem 2. Jh. n. Chr. wurde der →Buddhismus allmählich vom →Hinduismus verdrängt. Dies läßt sich auf das Eindringen der aus Nordindien stammenden Licchavis zurückführen. Das damalige N. bestand aus diversen ethnischen Gruppen, die ursprünglich größtenteils aus Tibet, China, →Südostasien und Nordostindien stammten. Mit dem Ende der Ära der Licchavis erhöhte sich der Einfluß der aus dem Kathmandu Tal stammenden indigenen NewarGemeinschaften, die eine neue Handelsroute von Indien nach Tibet errichteten. Diese verstärkte den Einfluß aus Süd- und Zentralasien und war einer der Schlüsselfaktoren im Aufbau eines neuen intellektuellen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrums. Die Invasionen durch den südlichen Nachbarn hielten bis zum 14. Jh. an, insb. auf Grund musl. Einfälle in Indien, die zu Massenfluchten einflußreicher Hindu-Familien aus den oberen Kasten
(→Kastensystem) führten, die sich überwiegend in den westlichen Gebirgsketten niederließen und diese unter ihren sozialen und politischen Einfluß brachten. Unter der Malla-Dynastie wurde das Kgr. ca. 1484 in 3 unabhängige Staaten, Kathmandu, Bhatgaon (Bhaktpur), Patan aufgeteilt und wurde erst durch die Shah-Dynastie der Gurkhas im 18. Jh. wieder geeint. Die von Prithvinarayan Shah (1730–75), der als Gründer des modernen N.s betrachtet wird, eroberten Gebiete bilden bis heute die Basis für die territoriale Identität N.s, die nach der verlorenen Auseinandersetzung mit der brit. Kolonialmacht 1814–16 als gefestigt gilt. Der Rana-Dynastie gelang es, durch Abgabe der außenpolitischen Souveränität an die Briten und eine Gurkha-Einheit in der brit.-ind. Armee, die innere Autonomie N.s zu sichern. Mit dem Ende der brit. Kolonialherrschaft bröckelte auch die Vormachtstellung der Rana-Dynastie, die in der Revolution von 1950 ihre Macht wieder an die Krone verlor. Rishikesh Shaha, Ancient and Medieval Nepal, Delhi 1992. John Whelpton, A History of Nepal, Cambridge 2005. SIEG FRIED O . WO LF Nertschinsk, Vertrag von. Im Zuge der →Eroberung →Sibiriens gelangten russ. →Kosaken seit den 1640er Jahren in die fernöstliche Region entlang des →Amur, deren indigene Bevölkerung unter chin. Tributherrschaft stand. Immer wieder kam es in den folgenden Jahrzehnten zu bewaffneten Konflikten zwischen Kosaken und chin. Grenztruppen. Eine Regelung der Grenzfrage erschien daher vonnöten. Der Vertrag wurde am 27.8. (Julianischer Kalender) / 6.9. (Gregorianischer Kalender) 1689 in der russ. Stadt N. zwischen dem Zarenreich und der chin. Qing-Reg. geschlossen. Danach erhielt China das Territorium bis zur Gebirgskette nördlich des Amur und seiner Nebenflüsse sowie die russ. Festung Albasin zugestanden. Zu verdanken hatte China dieses günstige Ergebnis der Verhandlungsstärke der →Jesuiten. Allerdings blieb die Grenzregelung sehr vage, da die geographischen Namen in den zudem unterschiedlichen Fassungen des Abkommens (Lateinisch, Russisch und Mandschurisch) voneinander abwichen. Dies sollte Mitte des 19. Jh.s der russ. Reg. Anlaß geben, durch militärische faits accomplis das im Vertrag von N. China zugesprochene Territorium zu annektieren und damit einen seit 150 Jahren gültigen Vertrag zu brechen. Vincent Chen, Sino-Russian Relations in the Seventeenth Century, The Hague 1966. Peter C. Perdue, China Marches West: The Qing Conquest of Central Eurasia, Cambridge (Mass.) 2005. Joseph Sebes, The Jesuits and the Sino-Russian Treaty of Nerchinsk (1689), Rom 1961. EVA -MA R IA STO LB ER G
Nestorianer. Als frühes Beispiel religiöser →Globalisierung und als prominenter Repräsentant des orientalischen Christentums verdient die sog. ostsyrisch-nestorianische ‚Kirche des Ostens‘ besonderes Interesse. Auf dem Höhepunkt ihrer Ausbreitung im 13./14. Jh. erstreckte sie sich von Syrien bis Ostchina und von →Sibirien bis Südindien. Damit umfaßte sie – wenngleich zumeist nur eine Minderheit – ein Kirchengebiet, das das der zeitgenössischen lateinischen Christenheit in Europa bei weitem 581
n e ue n d e t t e l s A u er m i s s i o n s g e s ells c h A f t
übertraf. Ihre Anfänge reichen bis ins 2. Jh. zurück. Im 5. Jh. trennte sie sich erst organisatorisch und dann auch dogmatisch von der römischen Reichskirche. Zugleich entfaltete sie von Mesopotamien aus eine rege – von Kaufleuten und Mönchen getragene – Missionstätigkeit entlang den Fernhandelsrouten →Asiens. Spätestens 635 erreichte sie China, wo blühende Gemeinden entstanden (Stele von Xi’an). Bereits zuvor hatten sich christl. Gemeinden in →Indien dem Netzwerk der ‚Kirche des Ostens‘ angeschlossen. Auch für →Sri Lanka (und später für andere Küstenregionen im →Ind. Ozean) ist frühe nestorianische Präsenz bezeugt. Die Ausbreitung vollzog sich v. a. in zwei großen Wellen (7.–9. und 13./14. Jh.). Dabei traten die N. mit vielfältigen Kulturen und Religionen (wie Zoroastrismus, Schamanismus, →Buddhismus, Taoismus, →Hinduismus und →Islam) in Kontakt und bewiesen zugleich eine außerordentliche sprachliche Adaptionsfähigkeit. Allein aus 2 Oasen des Tarim-Beckens (Turfan, Dunhuang) sind nestorianische Texte in mindestens 9 verschiedenen Sprachen bezeugt. Zugleich stellte die syrische Kirchensprache, zusammen mit dem organisatorischen Zentrum in Gestalt des Katholikos-Patriarchen in Mesopotamien, ein verbindendes Element der weit zerstreuten Gemeinden dar. Im 14. Jh. wurden sie von zahlreichen Katastrophen getroffen (wie den Feldzügen Timur Lenks), die einstige Weltkirche wurde zunehmend zur bloßen Regionalkirche (im nördlichen Mesopotamien und Kurdistan). Doch trafen die Portugiesen noch um 1500 in Südindien mit den →Thomaschristen auf zahlreiche Angehörige der Gemeinschaft. Die ‚Kirche des Ostens‘ existiert noch heute – wenngleich in ihren Ursprungsländern Irak und Iran akut vom Untergang bedroht – und ist seit 1950 Mitglied im Weltkirchenrat in Genf. Christoph Baumer, Frühes Christentum zwischen Euphrat und Jangtse, Stuttgart 2005. Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum, Stuttgart 2007. Klaus Koschorke, „Ob er nun unter den Indern weilt oder unter den Chinesen...“ Die ostsyrisch-nestorianische „Kirche des Ostens“ als kontinentales Netzwerk im Asien der Vormoderne, in: JbEÜG 9 (2009), 9–35. Roman Malek / Peter Hofrichter (Hg.), Jungjiao, Nettetal 2006. KL AUS KOS CHORKE
Netzwerke →Kaufmannsnetzwerke Neue Hebriden →Vanuatu Neuendettelsauer Missionsgesellschaft. Der Name der Mission der ev.-luth. Kirche verweist auf ihren Sitz im bayerischen Neuendettelsau. Der N. Pfarrer Wilhelm Löhe (1808–1872) bildete st. 1841 sog. „Nothelfer“, später Pfarrer aus, die zunächst dt. Auswanderer in Nordamerika, ab 1875 auch in →Australien u. st. 1897 in →Brasilien seelsorgerisch betreuen sollten. In Australien christianisierte man als erste unter den →Aborigines. 1886 begann Pioniermissionar Wilhelm →Flierl die Missionsarbeit in →Dt.-Neuguinea. Hauptmissionsgebiet war die Umgebung von Finschhafen im →Kaiser-Wilhelmsland. Über die heutige Provinz Morobe hinaus wurde nach dem →Ersten 582
Weltkrieg auch die Bev. im Hochland christianisiert. Bedeutendster Missionar war neben Flierl Christian →Keyßer, der einen besonderen Zugang zur indigenen Bev. fand. Trotz Schwierigkeiten nach dem Ersten u. →Zweiten Weltkrieg sind N. Missionare immer noch in →Papua-Neuguinea tätig, neben der Seelsorge v. a. im Erziehungs- u. Gesundheitswesen. 1964 begann zudem eine enge Zusammenarbeit mit der luth. Kirche von →Tansania. Die 1888 in N. gegründete Gesellschaft für äußere Mission „im Sinne der luth. Kirche“ ging 1972 im „Missionswerk der Ev.-Luth. Kirche in Bayern“ auf. Q: Umfangreiches Archiv in Neuendettelsau. L: Horst Gründer, Christliche Mission u. dt. Imperialismus, Paderborn 1982. Georg Pilhofer, Die Geschichte der Neuendettelsauer Mission in Neuguinea, 2 Bde., Neuendettelsau 1961–1963. Herwig Wagner / Hermann Reiner (Hg.), The Lutheran Church in Papua New Guinea, Adelaide 1986. H ERMA N N H IERY Neuguinea ist mit 884 824 km2 (Angaben variieren wegen der unterschiedlichen Berücksichtigung vorgelagerter Inseln) die zweitgrößte Insel der Welt. Im westlichen Teil des Pazifischen Ozeans, südl. von →Mikronesien – die Grenze ist der Äquator – und nördl. von →Australien gelegen, ist das Klima tropisch. Flora u. Fauna sind australisch geprägt; Beuteltiere u. endemische Vögel, unter den letzteren die Paradiesvögel und der Helmkasuar (→Tok Pisin: muruk), besonders auffallend. Die Bev. ist melanesisch. Einflüsse von →Südostasien sind insb. in den westl. u. südwestl. Küstenregionen erkennbar. Europäerkontakt im frühen 16. Jh. durch Spanier u. Portugiesen, jedoch immer nur vereinzelt an wenigen Plätzen u. jh.elang nie wirklich dauerhaft. Die Namengebung erfolgte aber durch sie. Den Spanier Iñigo Ortiz de Retes, der die Nordküste 1545 befuhr u. dort landete, erinnerte die Bev. an die Guineas im Westen Afrika. Er bezeichnete das Land daher als „Nova Guinea“ bzw. „Nueva Guinea“, ein Begriff, der sich auf europ. Karten schnell durchsetzte. Der Ausdruck ist historisch auffällig, da Europäer im Rahmen ihrer Expansion i.d.R. europ. Vorgaben u. Namen auswählten u. diese mit „novo/ nova“ „nuevo/a“, „nieuw“, „nouvelle“, „new“, „neu“ etc. verbanden, um das neu „entdeckte“ zu benennen (etwa Nueva Castilla, Nueva León, Nieuw Nederland, Nouvelle-France, New England etc.). Jorge de Meneses, ein Portugiese möglicherweise sephardischer (→Sepharden) Herkunft, hatte 1526 von den „Ilhas dos Papuas“ gesprochen. Dem Gouverneur von →Ternate sollen die – im Gegensatz zu den Malaiien – krausförmige Haare vieler Bew. N.s als Grundlage der Namensgebung gedient habe. „Papuwah“ oder „Papua“ bedeute im Malaiischen „lockig“, „kraus“, „kraushaarig“ – wird in der Literatur immer wieder behauptet. Ein solches Wort existiert im Malaiischen (→Malaiisch in Ndl.-Indien) aber gar nicht. Wieviel Malaiisch der Portugiese verstand, sei dahingestellt. Vielleicht handelt es sich auch um eine der nicht ganz seltenen Verwechslungen in der Geschichte der Namensgebungen während der europ. Expansion. Nicht fern läge die Annahme, der Portugiese habe von den Malaiien in seiner Mannschaft erfahren wollen, wie denn die Leute an Land genannt würden u. habe dann eine ty-
n eu -g u i n eA - co mPA g n i e
pische malaiische Redewendung zur Antwort erhalten: „siapa tahu“, „wer weiß“ oder „siapa pun“, „wer auch immer“, „niemand“. ... Wie auch immer, die Begriffe N. und Papua bürgerten sich ein und werden heute auch von der indigenen Bev. verwendet, weil es angesichts von historisch um 1000 autochthone Sprachen auf N. und der Kleinheit und Abgeschiedenheit vieler Ethnien keine einh. Bezeichnung für die Insel gab. Die ersten, die sich pol. u. ökonomisch für die Insel interessierten, waren die Niederländer, auf Grund der Nähe zu ihren Besitzungen im Westen u. traditioneller Handelsbeziehungen vom Westen N.s zu den Sultanaten Ternate u. →Tidore. Am 24. August 1828 annektierten die Niederlande den Westteil der Insel. Die Grenze wurde auf einem europ. Reißbrett gezogen und mit 141° östl. Länge festgelegt. Der Osten der Insel wurde, ähnlich willkürlich, 1884/85 zwischen Deutschland u. Großbritannien aufgeteilt: Deutschland im Nordosten u. den vorgelagerten Inseln (→Dt.-Neuguinea), Großbritannien im Südosten. Diese Grenzziehung wurde am 29. April 1886 in einem Abkommen zwischen Briten u. Deutschen bestätigt. Britisch-Neuguinea war zunächst ein Protektorat, wurde 1888 offiziell annektiert u. nach der Gründung des Bundesstaates Australien an diesen zur Verwaltung übergeben (1906). In Abgrenzung zur brit. u. dt. Administration wurde die Kolonie in „Papua“ umbenannt. Der Schotte William MacGregor (1846–1919), der später u. a. als Gouv. in →Nigeria u. →Queensland amtierte, prägte 1888–1897 die frühe Phase der Kolonialpolitik. Dynamisch u. weitblickend, ragte er unter den übrigen Kolonialadministratoren im Südosten heraus, ganz besonders aber wenn man ihm mit Hubert Murray (1861–1940) vergleicht. Murray bestimmte von 1908–1940 die austral. Kolonie Papua. Grantig u. mysophob, gelegentlich paternalistisch-fürsorglich, dann wieder offen rassistisch, lehnte er Erziehung u. Ausbildung der indigenen Bev. ab, weil es seiner Meinung nach Geldverschwendung wäre („education is absolutely essential to a white man, but it is not absolutely essential to a Papuan“, Murray, Papua of To-Day; London 1925, 280). So wurden im austral. Papua keine Schulen, aber auch keine Straßen gebaut. Der auffällige Mangel an Infrastrukturmaßnahmen außerhalb der Hauptstadt Port Moresby ist noch heute ein Problem für →Papua-Neuguinea. Der westl. Teil N.s blieb nach der Unabhängigkeit →Indonesiens unter ndl. Kolonialverwaltung. Drohungen aus Jakarta u. zunehmender Druck aus Washington sorgten für den Abzug der Niederländer im August 1962. Kurze Zeit unter nomineller Kontrolle der Vereinten Nationen, annketierte Indonesien den ehem. ndl. Teil N.s am 1. Mai 1963. Der mehrfache Namenswechsel – zunächst Irian Barat, d. h. West-Irian, 1973–2003 Irian Jaya, d. h. „siegendes Irian“, s. 2001/2003 Papua Barat (West-Papua) oder auch „Tanah Papua“ („Land Papua“) – reflektiert die verschiedenen Stadien indon. Bemühungen, West-Papua (so die indigene Bezeichnung) in das eigene Staatsgebiet zu integrieren oder ihm autonome Sonderrechte zuzugestehen. Faktisch behandelte Indonesien West-Papua wie eine militärisch besetzte Kolonie. Der Erlangung bzw. Gewährung staatl. Unabhängigkeit stehen handfeste ökonom. Interessen Indonesiens entgegen (u. a. Boden-
schätze, Holzfirmen). Auch ist durch die indon. Einwanderung die indigene Bev. in Städten u. einigen Regionen mittlerweile in der Minderheit. Paul van der Veur (Hg.), Documents and Correspondence on New Guinea’s Boundaries, Canberra 1966. H ER MA N N H IERY
Neu-Guinea-Compagnie. Im Zuge der Sanierung des durch Spekulationen mit rheinischen und westfälischen Bergwerkskuxen 1878/79 in die Insolvenz geschlitterten →Godeffroy’schen Wirtschaftsimperiums wurde Heinrich v. →Kusserow, der Referatsleiter im Auswärtigen Amt, auf das „herrenlose Land Neu-Guinea im Westen Oceaniens“ aufmerksam. Er interessierte seinen Schwager Adolph v. →Hansemann, den Geschäftsführenden Gesellschafter der Direktion der Disconto Gesellschaft, für das Projekt einer Chartered Company zur Bewirtschaftung der Insel. Der Bankier gründete daraufhin zusammen mit Personen aus Hochfinanz, rheinischer und schlesischer Großindustrie sowie preußischem Adel ein informelles „Consortium zur Vorbereitung und Errichtung einer Südsee-Compagnie“. Am 26.5.1884 erfolgte dessen Umwandlung in die handelrechtlich bindende Form eines Syndikats. Dieses hatte statutengemäß „Verfolgung colonialer Pläne in der Süd-See“ zum Ziel. v. Hansemann beauftragte den Ethnologen Otto →Finsch mit der Erkundung der Region und dem Landerwerb. Finsch gelang es, mit bikmen (→bikman) an der Nordostküste →Neuguineas und auf den vorgelagerten Inseln der Duke of York-Gruppe „Erwerbungsverträge“ abzuschließen. Hierdurch sicherte er dem Syndikat mehr als 200 000 km2. Auf Antrag v. Hansemanns, stellte daraufhin Fürst →Bismarck ksl. Schutz für die Erwerbungen in Aussicht. Im Nov. 1884 hißten auf Anweisung des Reichskanzlers zwei dt. Kriegsschiffe an der Nordostküste Neuguineas und auf den nunmehr →Bismarckarchipel genannten Inseln der Duke of York-Gruppe die Reichskriegsflagge. Aus dem Syndikat ging im Frühjahr 1885 die als Kapitalgesellschaft preußischen Rechts geführte N.-G.-C. hervor. Ihr Grundkapital betrug 6 Mio. Mark. Am 17.5.1885 erhielt die C. einen ksl. →Schutzbrief für das „erworbene“ Gebiet. Dessen Wortlaut orientierte sich an der der →British North Borneo Company verliehenen →Charter. Damit war sie nach zeitgenössischer Rechtsmeinung ein autonomer Verwaltungskörper mit quasi souveränen Hoheitsrechten. Ihr Landeshauptmann genannter Chef wurde der verabschiedete VizeAdmiral Georg Frhr. v. →Schleinitz. Er kehrte bereits im März 1888 nach dem Tod seiner Ehefrau in die Heimat zurück. Kommissarischer Nachfolger wurde Postrat Reinhold →Kraetke. Schon bald stellte sich heraus, daß die Verwaltung der C. ihren Aufgaben nicht gewachsen war. Unkenntnis des Landes, latente Krankheiten (v. a. →Malaria), Unfähigkeit, Großmannssucht u. eine nicht pazifizierte einheimische Bevölkerung ließen ein „bedrohliches Gemisch“ entstehen. 1889 übernahm das Reich zeitweilig die Verwaltung. Zum ksl. Kommissar dafür wurde Friedrich →Rose, ein Beamter des Auswärtigen Amtes bestellt. Am 1.9.1892 ging die Verwaltung auf die N.-G.-C. zurück. V. Hansemann erkannte im Laufe der Zeit immer deutlicher, daß der erwartete 583
n e ukA l e d o n i e n
kurzfristige Gewinn nicht erreicht werden konnte. Es gelang ihm, Ks. und Reichskanzler dafür zu gewinnen, daß das Reich auf Dauer die Verwaltung übernahm. Gemäß Vertrag vom 7.10.1898 erfolgte dies am 1.4.1899. Für den Verzicht auf den Schutzbrief erhielt die N.-G.-C. eine Barentschädigung von 4 Mio. Mark sowie die Bestätigung des Eigentums an „erworbenem“ Grundbesitz. Dadurch wurde die C. ein reines Erwerbsunternehmen. Im März 1900 erfolgte ihre Umwandlung in die Rechtsform einer Kolonialgesellschaft. Im folgenden Jahrzehnt gelang es ihr, die Verlustzone zu verlassen. 1912/1913 wurde erstmals eine Dividende von 5 % ausgeschüttet. Nach der Besetzung durch die Australier zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Besitz der C. enteignet. Ab 1920 versuchte sie einen Neubeginn in anderen Kontinenten. Sie erzielte jedoch keinen nennenswerten Erfolg. Daraufhin wurde sie liquidiert. GE RHARD HUT Z L E R Neukaledonien (frz. Nouvelle-Calédonie) ist ein Inselarchipel östl. von →Queensland, der am 24. September 1853 von Frankreich annektiert wurde u. dann 1864–1894 als Sträflingskolonie diente. Insg. sollen etwa 20 000 Sträflinge von Frankreich nach N. deportiert worden sein. Historisch bes. relevant ist N. als Zwangsaufenthalt für die Pariser Kommunarden. 1860 wurde N. verwaltungsmäßig von Frz.-Polynesien getrennt u. das 1854 gegründete Nouméa Hauptstadt der Kolonie (97 579 Ew., Zensus 2009). Die einh. Bev. ist melanesisch. Nach den frz. Niederlagen in →Vietnam u. →Algerien wanderten viele zuvor dort lebende Überseefranzosen, sog. →Pieds-Noirs, nach N. aus. Dies erschwerte eine pol. Lösung, insb. eine von der indigenen Bev. – die sich Kanak nennt – seit Jahrzehnten geforderte völlige pol. Unabhängigkeit. St. 1875 wird auf N. Nickel gefördert u. zwar in ganz erheblichem Umfang. Teilweise kam fast die ganze Weltproduktion von Nickel aus N. Dazu kommt der Abbau von Gold u. Kobalt, so daß die Vermutung naheliegt, daß sich Frankreich gerade deswegen mit der Gewährung der pol. Unabhängigkeit schwer tut. 1878/79 u. 1917 kam es zu indigenen Aufständen, die blutig niedergeschlagen wurden. In den 80er Jahren des 19. Jh.s kam es erneut zu Unruhen u. gewaltsamem Widerstand, in deren Verlauf der Führer der Kanak-Bewegung, Jean-Marie Tjibaou (* 30. Januar 1936 Hienghène, N., † Ouvéa 4. Mai 1989) ermordet wurde. Er handelte zuvor jedoch ein Abkommen mit Frankreich aus. Danach genießt N. heute einen eigenen, bes. Autonomiestatus, der ihn von allen anderen frz. Überseeterritorien (→TOM) unterscheidet. Zwischen 2014 u. 2018 muß ein Referendum über die Art u. Weise der zukünftigen Reg. form N. stattfinden. Ob es tatsächlich zu einer Unabhängigkeit N. kommen wird, ist völlig offen. Die indigene Bev. ist numerisch in der Minderheit u. zudem pol. gespalten. Die Ges.bev. betrug 2009 (Zensus) 245 580 Ew. Roselène Dousset-Leenhardt, Colonialisme et contradictions. Les causes de l’insurrection de 1878, Paris 1978. La Nouvelle-Calédonie. Les Kanaks et l’histoire, hg. v. Eddy Wadrawane / Frédéric Angleviel, Paris 2008. Friedrich Valjavec, Wege der Tradition. Aspekte kultureller Wechselbeziehungen in Vanuatu u. Neukaledonien, Berlin 1995. Eric Waddell, Jean-Marie Tjibaou, Kanak 584
Witness to the World. An Intellectual Biography, Honolulu 2008. H ERMA N N H IERY Neukamerun →Kamerun, →Marokko-Krisen Neuländer. Bezeichnet dt. Siedler, die im 18. Jh. regelmäßig zwischen Nordamerika und den dt. Territorien, aus denen besonders viele Menschen nach Nordamerika auswanderten (Württemberg, Baden, Pfalz, südliches Hessen), pendelten, die Regelung von Erbschaftsangelegenheiten nach →Amerika ausgewanderter Deutscher in Deutschland übernahmen, Briefe für und an diese Auswanderer transportierten, Waren aus Deutschland nach Amerika brachten und v. a. Druckschriften aus Amerika, insb. Schilderungen über die dortigen Verhältnisse, v. a. in Pennsylvania, nach Deutschland brachten und umgekehrt dt. Druckschriften nach Amerika importierten. In den Quellen des 18. Jh.s wurden N. überwiegend negativ dargestellt. Die neuere Forschung sieht ihn ihnen wichtige Vermittler zwischen Kulturen im atlantischen Raum. Mark Häberlein, Migration and Business Ventures, in: John R. Davis u. a. (Hg.), Transnational Networks: German Migrants in the British Empire 1670–1914, Leiden 2012, 19–38. Ders., Kulturelle Vermittler in der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit, in: Ders. / Alexander Keese (Hg.), Sprachgrenzen, Sprachkontakte und kulturelle Vermittler in der Geschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen, Stuttgart 2010. H ERMA N N WELLEN REU TH ER
Neulauenburg. Deutsch-kolonialer Name für die Duke of York-Gruppe (→Bismarckarchipel, →Deutsch-Neuguinea, →Papua-Neuguinea) Neumecklenburg. Deutsch-kolonialer Name für die Insel Neuirland (New Ireland, →Bismarckarchipel, →Deutsch-Neuguinea, →Papua-Neuguinea). Neupommern. Deutsch-kolonialer Name für die Insel Neubritannien (New Britain, →Bismarckarchipel, →Deutsch-Neuguinea, →Papua-Neuguinea). Neuseeland →Aotearoa Neuspanien →Mexiko Ne Win, seit ca. 1940 Revolutionsname für Shu Maung, * 24. Mai 1911 Paungadale, † 5. Dezember 2002 Yangon, □ Yangon-Fluß, Atheist Sohn einer chin.-stämmigen, der Mittelschicht angehörenden Familie. 1929 versuchte N.W. sich an einem Medizinstudium, welches er 1931 nach nichtbestandenen Prüfungen aufgab und Post-Mitarbeiter wurde. Desillusioniert von der brit. Kolonialreg. schloß sich N.W. der nationalistischen Bewegung der Dobama Asiayone (dt. Wir →Birma Vereinigung) an, der u. a. auch Aung →San und der spätere Premierminister U Nu angehörten. Die jap. Besetzung 1941 führte zum Aufbau eines birmesischen Militärs (Burma Independence Army, engl. Abk. BIA). Zu den sog. Thirty Comrades, einer speziell ausgebildeten Truppe zählten sowohl N.W. als auch Aung San. Aus
new ze A lA n d co mPAn y
jener Zeit stammt auch sein bis heute geläufiger Name N.W. Die Armee bescherte ihm einen schnellen Aufstieg. Nach der Umstrukturierung und diversen Umbenennungen der Armee von BIA zu BDA (engl. Burmese Defense Army) und schließlich BNA (engl. Burmese National Army) verstand es N.W. 1945 gekonnt, seine Kontakte zu den Briten zu nutzen, um seine Stellung innerhalb der Armee auszubauen. Nach der Niederlage Japans und der Unabhängigkeit von Großbritannien leitete N.W. v. a. die Bekämpfung der aufständischen Minderheiten- und kommunistische Splittergruppen. Nach der Ermordung Aung Sans 1947 stieg N.W. zum Stabschef der Streitkräfte auf und beobachtete mit wachsendem Mißtrauen die chaotischen Zustände unter U Nus parlamentarischer Demokratie, deren Führung er 1958 auf Einladung U Nus übernahm. In der provisorischen Übergangsreg. (Caretaker-Regime) ging N.W. v. a. gegen die Kommunisten vor und konnte die Ordnung stellenweise wiederherstellen. Damit legte er den Grundstein für die Wahlen von 1960. Zwei Jahre später übernahm N.W. nach einem Militärputsch erneut die Führung, nachdem er die Einheit des Landes durch die Forderungen einzelner Minderheitengruppen, den föderalen Charakter der Verfassung von 1947 und die Aussicht auf Abspaltung von B. zu realisieren, gefährdet sah. Mit einer Mischung aus nationalistischen, buddh. und kommunist. Elementen errichtete N.W. mit dem Revolutionsrat den Birmanischen Weg zum Sozialismus, in dessen Verlauf die Wirtschaft verstaatlicht, Ausländer (v. a. Inder) ausgewiesen und die Opposition (Minderheiten und politische Aktivisten) massiv bekämpft wurde. In dem Einparteienstaat wurde die BSPP (engl. Abk. für Burmese Socialist Programme Party) die einzig zugelassene Partei. 1974 wurde N.W. im Zuge einer neuen Verfassung Staatspräs. der neuen Sozialistischen Föderativen Rep. Birmas. 1976 kam es zu mehreren politischen Säuberungsaktionen in Militär und Parteiapparat. Die internat. Isolation warf Birma in wirtschaftl. Hinsicht um Jahre zurück. Trotz Eingeständnissen von Fehlern und Mißwirtschaft ließ N.W. 1987 25-, 35- und 75-kyat Banknoten wegen seines Aberglaubens bezügl. der Zahl „9“ entwerten und neue 45- und 90-kyat Banknoten einführen, was zu massiven Protesten führte, deren blutiger Höhepunkt in den 8888 Uprising (Aufstand am 8.8.1988) gipfelte. Bereits zuvor war N.W. als Präs. und Vorsitzender der BSPP zurückgetreten. Trotz der Niederlegung seiner Ämter schien N.W. weiterhin im Hintergrund die Fäden gezogen zu haben und somit General Saw Maung bei dessen Militärputsch 1988 behilflich gewesen zu sein. Sein Einfluß und seine Macht schwanden erst Ende der 1990er Jahre, und schließlich wurde er 2002 unter Hausarrest gestellt. Er starb Anfang Dez. 2002. Auf sein Konto gehen die brutale Verfolgung der ethnisch motivierten Separatistenbewegung, sowie der studentischen und buddh. Oppositionsbewegung. Seine militärische und politische Laufbahn ist eng mit dem frühen Nationalismus während des →Zweiten Weltkriegs verbunden. Seine Weigerung, Minderheiten und demokratisch gesinnte Aktivisten gleichermaßen an Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, ist das politische Erbe, das Birma bis heute belastet.
Donald M. Seekins, The Disorder in Order: The ArmyState in Burma Since 1962, Bangkok 2002. Josef Silverstein, Burma, Ithaca 1977. Robert H. Taylor, The State in Myanmar, Honolulu 2009. A LEX A N D RA A MLIN G Newport. Die in Rhode Island / →USA gelegene Stadt wurde 1639 gegründet und fokussierte sich auf Schiffsbau und Handel. Bis ins 18. Jh. war N. wichtiger Schiffahrtsstützpunkt (→Schiffahrt) zwischen →Boston und New York und beherbergte eine große jüdische Gemeinde (1763 Fertigstellung der ersten Synagoge auf dem nordam. Festland). Im 19. Jh. avancierte das landschaftlich reizvoll gelegene N. zum Feriendomizil und Altersruhesitz wohlhabender US-Industrieller und Intellektueller. Elaine F. Crane, A Dependent People, New York 1985. Deborah Davis, Gilded. How Newport Became America’s Richest Resort, Hoboken, NJ 2011. CLA U D IA SC H N U R MA N N
New Zealand Company. Engl. Aktiengesellschaft, unter deren Auspizien die erste großangelegte systematische Migration brit. Siedler nach Neuseeland (→Aotearoa) stattfand. Die C. war im Aug. 1838 aus einer früheren aber kurzlebigen Kolonisationsgesellschaft entstanden, und zählte zu seinen Aktieninhabern und Anhängern eine Anzahl von einflußreichen und wohlhabenden Menschen, die durch die Theorien Edward Gibbon Wakefields (1796–1862) über Emigration und Kolonisation motiviert waren und deren Ziel es war, eine Art neues Großbritannien des Südens zu gründen, das die besten Eigenschaften brit. Gesellschaft nachbilden würden. Die C. hatte bereits bis Mai 1839 genug Gelder aufgebracht, um eine private Expedition nach Neuseeland zu entsenden, die Landkäufe tätigen und den Weg für die Ankunft der ersten Siedler vorbereiten sollte. Diese Expedition traf im Aug. 1839 in Neuseeland ein, und man fing sofort an, mit ortsansässigen →Maori über Landkäufe in der Gegend um Port Nicholson (Wellington) zu verhandeln. Das erste Einwandererschiff der C. landete im Jan. 1840 in Wellington, und zwei weitere Siedlungen wurden im darauffolgenden Jahr in Nelson und in New Plymouth gegründet. Das Verhältnis der C. zum brit. Kolonialamt, das ihre Kolonisationspläne ursprünglich opponiert hatte, war immer gespannt, und verschlechterte sich, nachdem der Vertrag von →Waitangi am 6.2.1840 durch Kapitän William Hobson als Vertreter der brit. Krone und verschiedene Maori-Stammeshäuptlinge unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen, das die formelle Annexion Neuseelands durch Großbritannien markierte, gewährte nämlich der jungen Kolonialreg. exklusive Vorkaufsrechte auf von Maori verkauftes Land und gefährdete dadurch die Ansprüche der C. auf ca. 20 Mio. Morgen Land, von dem der Großteil allerdings unter durchaus fragwürdigen Umständen angeeignet worden war. Gegen Ende 1840 aber änderte sich die Haltung des Kolonialamts der C. gegenüber, und im Febr. des darauffolgenden Jahres wurde diese inkorporiert. Ihr Status als Agent der brit. Reg. in der Kolonisation Neuseelands wurde also gesetzlich bestätigt, und die Werbung von neuen Siedlern, die häufig unter Nutzung von ganz übertriebenen 585
n iA m e y
Schilderungen der eigentlichen lokalen Verhältnisse gemacht wurde, ging weiter. Der Umgang der Landagenten der C. in Neuseeland mit Maori, deren Rechte oft ignoriert wurden, ließ viel zu wünschen übrig, und es kam bald zu Spannungen. Das Niedermetzeln von 22 Siedlern in einem Scharmützel mit Maori, das im Juni 1843 in der Nähe von Nelson stattfand und in England weithin berichtet wurde, versetzte der C. insofern einen fast tödlichen Schlag, als es das Interesse an Emigration nach Neuseeland stark abfallen ließ und dadurch ihre bereits unsichere finanzielle Lage umso mehr erschütterte. Die C. erholte sich nie wieder von den vielen finanziellen Krisen, die sie ständig geplagt hatten. Sie unterstützte zwar die Gründung von zwei weiteren Siedlungen in Neuseeland (1848 in Dunedin und zwei Jahre später in Christchurch), aber diese waren späte wie auch indirekte Erfolge. 1850 gaben die Inhaber der C. deren Privileg auf und setzten dadurch deren Tätigkeit als Kolonisationsgesellschaft ein Ende. Das übriggebliebene Land der C. in Neuseeland, das sich auf mehr als 1 Mio. Morgen belief, wurde von der Krone übernommen, und die C. selbst wurde 1858 endgültig aufgelöst. Ihre Siedlungen dürften insg. nur 15 500 Ew. zur gründenden europäischen Bevölkerung der jungen Kolonie beigetragen haben, aber aus diesen Siedlungen entstanden drei der vier wichtigsten Großstädte des heutigen Neuseeland. Patricia Burns, Fatal Success: A History of the New Zealand Company, Auckland 1989. Michael King, The Penguin History of New Zealand, Auckland 2003. A. H. McLintock, Crown Colony Government in New Zealand, Wellington 1958. JAME S BRAUND Niamey. Hauptstadt von →Niger. N. liegt am westlichen Ufer des gleichnamigen Flußes. Nach seiner Gründung durch die Songhai im 18. Jh. wurde N. ein Sammelbecken für verschiedene ethnische Gruppen (→Hausa, Fulani, Zarma usw.). Der schwierige Prozeß einer administrativen und urbanen Entwicklung der Stadt begann erst in der Kolonialzeit und kam nur schleppend voran. Bevor N. 1926 zur Hauptstadt der Kolonie Niger erklärt wurde, war sie 1904 ein Kanton und Teil des bestehenden Kreises von Zarma. Im gleichen Jahr wurde das erste Handelshaus in N. eröffnet. Eine erste Straße, die nach N. führte, wurde 1901 gebaut. Wegen der Rekrutierung von Zwangsarbeitern und der rigiden Steuerpolitik der Franzosen kam es jedoch zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Stadtbevölkerung. Dazu kam die Emigration vieler Ew. nach Nordnigeria in den Jahren 1901 und 1902, was die Entwicklung der Stadt zusätzlich erschwerte. Andrerseits zeichnet sich N. durch eine ständige Bevölkerungszunahme infolge von Dürren und Landfluchtbewegungen aus. 1959 lebten in N. ca. 30 000 Menschen. Zehn Jahr später war die Ew.-zahl auf 70 000 und 2002 auf ca. 700 000 angewachsen. N. ist heute in viele Stadtgemeinden aufgeteilt und wird durch einen Gouv. vertreten. John C. Caldwell (Hg.), Croissance démographique et évolution socio-économique en Afrique de l’ouest, New York 1973. Idrissa Kimba, Guerres et sociétés, Niamey 1981. YOUS S OUF DI AL L O 586
Nias. Obgleich N. am nordwestlichen Ende des indonesischen Archipels und somit →Indien und Europa am nächsten liegt, zog es die Europäer zuerst nach →Malakka und zu den Gewürzinseln (→Gewürze), also an der Nordspitze →Sumatras vorbei in die Malakkastraße entlang der Ostküste Sumatras. Schon 851 kreuzten arab. und persische Seekaufleute – nach Suleyman zugeschriebenen Aufzeichnungen – bis nach China und berichteten von N. Die ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie fand schnell heraus, daß →Aceh die Gewässer und den Handel an der Westküste Sumatras beherrschte und seine Sklavenkäufe (→Sklaverei und Sklavenhandel) auf N. u. a. mit →Kampfer beglich. Auch chin. Zwischenhändler liefen die Insel an. Der Handel mit Sklaven und Sklavinnen hat sich vermutlich aus der innerniasischen Sklavenhaltung entwickelt. Die Stämme auf N. haben – jeder in sich – die drei Stände Adel, gemeines Volk, Sklaven – möglicherweise unter hinduistischem Einfluß – hervorgebracht. In unaufhörlichen Fehden wurden auf der sehr dicht besiedelten Insel Gefangene zu Sklaven gemacht oder verschuldete Dörfer dazu verurteilt, Sklaven herauszugeben. Mit dem Sklavenhandel setzten zusätzlich Sklavenjagden ein. Die Niederländer schlossen mit den Führern einzelner Dorfallianzen Verträge über das Monopol im Sklaven- und Lebensmittelhandel, um langfristig den Einfluß Acehs zu untergraben und die Sklaven als Haussklaven oder in den Goldminen Sumatras arbeiten zu lassen – und last not least Flagge gegenüber den konkurrierenden Briten zu zeigen. Während des Interregnums unter →Raffles bekämpfte dieser den Sklavenverkauf an Aceh zum eigenen Vorteil, was die wiederkehrenden Niederländer fortsetzten. Die Zeit zwischen 1825 und 1900 war in N. von immer heftigeren Auseinandersetzungen der Inselbewohner mit der ndl. Kolonialverwaltung gekennzeichnet. 1863 wurde N. offiziell zum ndl. Kolonialgebiet erklärt, was mit der Präsenz von Militär in Gunung Sitoli Hand in Hand ging. Als Teil der Befriedungspolitik wurde als erster Missionar Ernst Ludwig Denninger von der →Rheinischen Missionsgesellschaft ins Land gelassen – andere folgten. Ein großartiger Reisebericht (Elio Modigliani, 1890), gefolgt von einer anthropologischen Untersuchung (Kleiweg de Zwaan, 1913–1915) und einer Verwaltungsanalyse (E.E.W.G. Schröder, 1917) prägte zusammen mit den laufenden Missionarsberichten das Bild von N. Die Publikationen zeichnen eine niassische Kultur aus europäischem Erkenntnisinteresse heraus – mit einer megalithischen Vorgeschichte, überformt von jungmalaiischen animistischen und hinduistischen Einflüssen. Missionsbemühungen auf N. zeitigten Erfolge. Missionar Heinrich Sundermann setzt mit seiner Bibelübersetzung Maßstäbe, 1892 gefolgt von seinem niassisch-dt. Wörterbuch und schließlich einer Sprachlehre. Nach ihrer Internierung am 10.5.1940 legten die dt. Missionare die Leitung der Kirche in einheimische Hände. 1942 empfingen die Niasser die jap. Besatzer mit Wohlwollen. Dies ersparte ihnen nicht den dreijährigen grausamsten Alltag in ihrer Geschichte. Besonders die →chin. Minderheit wurde dezimiert. Als nach der jap. Kapitulation die Niederlande die Gründung eines unabhängigen Staates Ost-Sumatra
n i ed erlÄ n d i s ch -i n d i en
unterstützten, lehnte N. den Beitritt ab und erklärte seine Zugehörigkeit zur Rep. →Indonesien. Wolfgang Marschall, Der Berg des Herrn der Erde, München 1976. Theodor Müller, Die „große Reue“ auf Nias, Gütersloh 1931. Art. Nias, in: ENI, Bd. 3, 22–31. WI L F RI E D WAGNE R
Niebuhr, Carsten, * 17. März 1733 Lüdingworth-Westerende, † 26. April 1815 Meldorf (Dithmarschen), □ St. Johannis Meldorf, ev.-luth. Der Sohn eines Landwirts studierte nach Besuch des Gymnasiums in Hamburg seit 1757 in Göttingen Mathematik und wurde 1758 für eine im Auftrag des dän. Kg.s durchgeführte Forschungsexpedition nach Arabien verpflichtet. Die →Expedition verließ Kopenhagen im Jan. 1761 und reiste u. a. über Konstantinopel, →Kairo, →Suez und Dschidda in den Jemen, wo ein Aufenthalt von zwei bis drei Jahren vorgesehen war. Bis Febr. 1764 verstarben dort alle Expeditionsteilnehmer außer N. an →Malaria. N. gelang es, neben seinen eigenen auch die Aufzeichnungen seiner verstorbenen Mitreisenden (u. a. des Philologen Frederik von Haven und des Naturforschers Peter Forsskål) nach Kopenhagen zu schaffen. N. selbst hatte u. a. die ersten präzise Karten des Nildeltas (→Nil), des Roten Meers und des Jemen angefertigt, die Cheopspyramiden und die Ruinen von Persepolis vermeßen und gezeichnet sowie zahlreiche Hieroglyphen und Keilschrift-Inschriften in bislang nicht gekannter Präzision kopiert und damit die Voraussetzung für deren spätere Entzifferung geschaffen. N. gilt als erster moderner europäischer Forschungsreisender, der sich in den bereisten Gebieten an die Lebensgewohnheiten der Einheimischen anzupassen suchte. Die Absicht, eine weitere Expedition von →Libyen bis zum →Niger zu unternehmen, gab er auf, nachdem er 1773 geheiratet hatte. Seine von der dän. Krone vorgesehene Erhebung in den Adelsstand lehnte er auf Grund seines ausgeprägten bäuerlichen Standesbewußtseins ab. Reimer Hansen, Niebuhr, Carsten, in: NDB 19, 217–219. CHRI S TOP H KUHL
Niederländisch-Brasilien (1630–1654). Nach einjähriger Besetzung des port. San Salvador de →Bahia 1624–1625 eroberte die ndl. →Westindien-Kompagnie (WIC) 1630 die Städte Recife und Olinda in der Capitania →Pernambuco im Norden →Brasiliens, sah sich dort aber Guerilla-Überfällen der port. Kolonisten (moradores) ausgesetzt. Die Zerstörung zahlreicher Zuckermühlen (→Engenhos) brachte die Kompanie um die erhofften Gewinne aus der neuen Kolonie; trotz weiterer →Eroberungen bis 1635 verhinderten Streitigkeiten zwischen der militärischen Führung und der Zivilverwaltung eine Machtstabilisierung. Erst ab 1636 erlebte B. eine kurze Blütezeit unter Gen.-gouv. Graf Johann Moritz von →Nassau-Siegen, der weitere brasilianische Provinzen und Elmina, →Luanda und Sào Tomé an der afr. Westküste zur Sicherung des Sklavennachschubs (→Sklaverei und Sklavenhandel) unter ndl. Kontrolle brachte. Die wichtigsten Exportgüter aus der nun die Kapitanien Sergipe, Pernambuco, Paraïba, Ceara und →Maranhão umfassenden Kolonie waren – neben →Zucker – Farb-
holz, Palisander, Tierhäute und kandierte Früchte. Da die Anwerbung ndl. und dt. Bauern fehlschlug, blieb die WIC auf den Zuckerplantagen auf die mittels einer besitzstandswahrenden, ökonomisch vorteilhaften und Glaubensfreiheit garantierenden Politik befriedeten moradores angewiesen, während sich die in Handel und Handwerk tätige Stadtbevölkerung durch ethnische Vielfalt auszeichnete. Besonders gefördert wurde die Ansiedlung sephardischer Juden (→Sepharden) aus Europa, deren Kapital als Wiederaufbaukredit für die port. Zuckerpflanzer benötigt wurde. Auf Grund der deshalb eingeschlagenen und vom Gen.-gouv. noch verstärkten religiösen und ökonomischen Toleranzpolitik wuchs die jüdische Gemeinde in B., bis sie einen großen Teil der nicht rk. weißen Bevölkerung ausmachte und den Handel dominierte, bei dem der WIC nur der Import afr. Sklaven und der Export von Brasilholz (→Brasilholzgewinnung) vorbehalten blieb. Die Missionierung der Eingeborenen war dagegen kein Hauptziel der Kompanie. Schulische Unterweisung im protestantischen Glauben und in Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben stärkten aber die Allianz zwischen den Niederländern und den Tupi gegen die Portugiesen, die die Indianer auf ihren Plantagen versklavt hatten. Trotz des, nach Lösung Portugals aus der Personalunion mit Spanien, ausbrechenden Aufstandes der moradores in Maranhão 1642 zog die Kompanie 1644 aus Kostengründen einen Teil ihrer Truppen und den Gen.-gouv. ab. In der Folge ließ sich der Verlust weiter Gebiete an die Aufständischen auch durch eine 1648 von den Generalstaaten gestellte Unterstützungsflotte nicht lange aufhalten. Das port. Angebot einer Friedensregelung für Nordost-Brasilien lehnten die Direktoren der WIC in Fehleinschätzung ihrer politischen und militärischen Lage ab. Während des Engl.-Ndl. Krieges eroberte der Gen.-gouv. von San Salvador im Jan. 1654 den letzten ndl. Stützpunkt Recife zurück. Damit war die Vision eines südatlantischen Imperiums der WIC an der unzureichenden Eigenkapitaldecke gescheitert, aber auch am nachlassenden Interesse einflußreicher ndl. Kaufmannskreise, die nach dem Vertrag vom 12.6.1641 zwischen der Rep. und Portugal den gewinnträchtigen friedlichen Handelsaustausch riskanten überseeischen Auseinandersetzungen vorzogen. Ein 1663 verkündeter Vertrag verpflichtete Portugal zu einer Schadensersatzsumme von 4 Mio. cruzados, die 1669 in einer Zusatzvereinbarung durch den Zugriff der Niederländer auf die Salzsteuer in Setúbal abgesichert und deren letzte Rate Anfang des 18. Jh.s gezahlt wurde. Charles R. Boxer, The Dutch in Brazil 1624–1654, Oxford 1957. Henk Den Heijer, De Geschiedenis van de WIC, Zutphen 2002, 22013. Hermann Wätjen, Das holländische Kolonialreich in Brasilien, Gotha 1921. A N N ELI PA RTEN H EIMER-BEIN
Niederländisch-Indien. Der Kolonialstaat N.-I. umfaßte die Großen Sunda-Inseln (→Java und Madura, →Sumatra, →Borneo, →Celebes), die Kleinen Sunda-Inseln (→Bali, Lombok, Sumbawa, Flores, Timor, Sumba), die →Molukken sowie kleinere dazugehörige Inseln und das westliche →Neuguinea auf einer Gesamtfläche von fast 2 Mio. km2. 1619 entstand die Faktorei der →Vereinigten 587
n i e d e r lÄ ndis c h e m Al er ei
Ostind. Kompanie (VOC) in →Batavia, von wo aus eine Monopolstellung im regionalen Gewürzhandel (→Gewürze) erkämpft wurde. Nach dem Bankrott der VOC und der Besetzung der Niederlande durch Frankreich ging N.-I. 1798/99 an die frz.-dominierte Batavische Rep. über. 1811–1816 übte Großbritannien die Herrschaft in N.-I. aus. 1830 wurde das Zwangsanbau- oder „Kultursystem“ (Kultuurstelsel) eingeführt, das eine Ablieferungspflicht von Exportprodukten, die Abgabe von sämtlichen Agrarprodukten an die Kolonialverwaltung zu fixierten Preisen und die Verschiffung durch eine privilegierte ndl. Handelsgesellschaft umfaßte. Das Staatsmonopol von Produktion und Handel sowie Arbeitsverpflichtungen der Dorfbewohner war hochprofitabel, stand aber auch in der zeitgenössischen liberalen Kritik und wurde mit dem Agrargesetz von 1870 schrittweise abgeschafft und durch den Plantagenanbau auf privatwirtschaftlicher Basis ersetzt. Nach 1850 verlagerte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt vom übervölkerten Java auf die äußeren Inseln, v. a. nach Nordost-Sumatra, für deren verkehrsmäßige Erschließung die →Koninklijke Paketvaart Maatschappij gegründet wurde. Kapitalintensive Plantagen unter europäischem Management und mit chin. und einheimischen →Kulis als Arbeitskräften produzierten u. a. →Kaffee, Kautschuk, Kopra, →Tabak, →Tee, →Zucker, was N.-I. zu einem der weltweit größten Exporteure tropischer Produkte machte. „Native farming“ der Einheimischen nahm seit den 1920er Jahren stetig zu und steigerte dessen Exportanteil von 10 % (1894) auf ca. 50 % (1937). Die industrielle Entwicklung wurde seit den 1930er Jahren von der Kolonialverwaltung gefördert. Um 1900 hatte sich das Prinzip indirekter politischer Herrschaft mit beträchtlicher Autonomie der einheimischen Selbstverwaltung durchgesetzt, was zur späteren indonesischen Staatsbildung beitrug. Nach der jap. Besetzung (1942–1945) konnte die ndl. Herrschaft über N.-I. kurzfristig wiederhergestellt werden, mußte aber 1949 an die Indonesische Rep. unter →Sukarno abgegeben werden. Die ca. 300-jährige Geschichte von N.-I. blieb weitgehend unspektakulär: Die Niederlande bemühten sich in ihrer „ethischen“ Politik kaum um die christl. Mission und die Verbreitung ihrer Sprache oder Kultur, sondern verstanden Imperialismus als Zivilisierung der einheimischen Bevölkerung und betrieben seit Beginn des 20. Jh.s eine verstärkt auf Kooperation mit den Einheimischen setzende Ausbeutungspolitik. Rudolf von Albertini, Europäische Kolonialherrschaft 1880–1940, Zürich 1976. Maarten Kuitenbrower, The Netherlands and the Rise of Modern Imperialism, New York/Oxford 1991. BE RT BE CKE R Niederländische Malerei. Frans Post (1612–1680, Haarlem); Albert Eckhout (1610–1665, Groningen). P. aus Leiden und E. aus Groningen nahmen neben dem Arzt Willem →Piso (1611–1678) und dem Forscher Georg →Markgraf 1637–1644 an der Brasilien-Expedition unter dem Gouv. und Oberbefehlshaber Johann Moritz von →Nassau-Siegen (1604–1679) im Auftrag der →Westind. Kompanie der Niederlande (WIC) teil. P. illustrierte u. a. die berühmte Historia Naturalis Brasiliae (Leiden:Franciscus Hack; Amsterdam: Ludovicus 588
Elzevier, 12 Bde., 1648). Die meisten Werke P.s wie auch E.s finden sich heute über ganz Europa verteilt, meist in ehemals brandenburgisch-preußischen Schlössern oder in Museen ehem. Territorien, die mit Brandenburg in Verbindung standen, aber auch in Dänemark, Polen und Frankreich. E. porträtierte 1641–1644 nicht nur Typen der Kolonialbevölkerung →Pernambucos, sondern auch Menschen aus nicht der Kolonialherrschaft unterworfenen Indiovölkern, sowie →Atlantikreolen (Mann und Frau). Er fertigte auch Stilleben mit detaillierten Ansichten tropischer Früchte und Nahrungsmittel sowie Vögel und Pflanzen. Mit Hilfe seiner Vorlagen gestaltete E. als Hofmaler des sächsischen Kurfürst Johann Georg II. (1653–1655) die Deckenillustrationen von Schloß Hoflößnitz in Radebeul. Im Dän. Nationalmuseum in Kopenhagen finden sich u. a. die berühmten „Atlantikkreolen“ sowie Porträts des Gesandten des Kongo-Reiches (www.eckhout.natmus.dk/gallery.shtml). Hunderte von Handzeichnungen E.s werden im Besitz der JagellionenUniversität in Krakau geführt. Im 17. Jh. waren P. und E. keineswegs „Maler des verlorenen Paradieses“, sondern brachten den Menschen in Nordwesteuropa exotische Landschaften, Stilleben und Körper des →Kolonialismus nahe. Die Realitäten hatten beide nicht nur während der Jahre der ndl. →Eroberung des im 17. Jh. wichtigsten Zuckerplantagengebietes (→Zucker) mit →Sklaverei schwarzer Menschen aus Afrika im späteren →Brasilien (Pernambuco, 1630–1654) studiert und skizziert, sondern auch auf dem →Atlantik und in Westafrika. P.s erste Zeichnungen orientierten sich am sog. landverkenningen, einer Gattung von Zeichnungen für Karten und Portulane, die zum Handwerkszeug von Seeoffizieren gehörten, in gewissem Sinne also zur wissenschaftlichen Ausbildung des Fachpersonals der europäischen Atlantikexpansion. P.s „brasilianisches“, atlantisches und „westafr.“ Werk (dabei handelt es sich neben den später entstandenen bunten Ölbildern um 18 kleinformatige Zeichnungen für Caspar Barlaeus’ Geschichtswerk Rerum per octennium in Brasilia et alibi nuper gestarum, wovon heute noch sieben bekannt sind) gilt als Innovation gegenüber den phantastischen Landschaften →Amerikas von De →Bry oder Jan Mostaert „Westind. Landschaft, ca. 1520–1540“ (Haarlem, Frans Hals Museum) oder Adam Willarts, die als Vorlagen für ihre „am. Bilder“ Felsformationen der Alpen nutzten. P.s und E.s Bilder gelten als in den Details sehr genaue, aber im Grunde romantisierende und exotisierende Blicke auf reale Landschaften. Eigentlich handelt es sich bei allen Bildern um Küstenlandschaften des Atlantiks. Sie finden sich nicht nur in Amerika, sondern P. sah auch afr. Küstenlandschaften, Inseln und Häfen. P.s und E.s Darstellungen spiegeln recht anschaulich die wirkliche atlantische und globale Expansion sowie ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Ergebnisse wider, für Asien v. a. im Werk der dt.-ndl. Naturforschers Georg Eberhard Rumpf (1627–1702): Amboinsche Rariteitkamer (Ambonesisches Raritätenkabinett) sowie die zwölf Bde. seines Amboinsche Kruydboek (Ambonesisches Pflanzenbuch). P. selbst war wohl 1641 sogar auf der Insel São Tomé (→São Tomé und Príncipe) im Golf von →Benin, einem Sklavenhandelszentrum, und in →Luanda, ebenfalls ein zentraler Ort des atlantischen
ni ed erlÄ n d i s ch es k o lo n i Alrei ch
Sklavenhandels. P. bereiste nicht nur Pernambuco und die angrenzenden brasilianischen Kapitanien unter Herrschaft der Niederländer, sondern auch das kurzfristig besetzte →Bahia de Todos os Santos, heute Salvador (1638 oder 1640), möglicherweise auch die Goldküste von Afrika (Juni 1637?), São Paulo de Loanda in →Angola (= Luanda, 1641?), São Tomé (1641) sowie die Küste von →Guinea. Andere Vermutungen besagen, daß P. 1644 auf dem Rückweg nach Holland an der westafr. Küste an Land ging, wobei er seine entspr. Ansichten in Barlaeus angefertigt oder komplettiert haben dürfte. Vielleicht begleitete er den Kartographen Georg Markgraf, der zu Beginn des Jahres 1644 in Luanda starb. In diesem Fall dürfte er derjenige gewesen sein, der dessen Nachlaß nach Holland brachte. P. war einer der besten Kenner von Küstenlandschaften, Menschen, Tieren und Gebräuchen eines „hidden Atlantic“ des Sklavenhandels und der kolonialen Expansion der Niederlande. Insg. hat P. ab 1637 ca. 140–160 Gemälde, meist auf Basis von Zeichnungen, Landschaftsbildern und Skizzen, die er vor Ort gemacht hatte, erst nach seiner Rückkehr 1645 in die Niederlande angefertigt. Die Nachfrage nach Bildern sowie Zeichnungen von P. und E. im Umfeld der Niederlande, etwa in Dänemark, Brandenburg-Preußen oder Sachsen, also v. a. in den Gebieten, die aus atlantischer Sicht Halbperipherien darstellten und versuchten, am globalen Kolonialboom teilzunehmen, stieg zu einem Zeitpunkt, als die Niederländer aus Pernambuco im Nordosten des heutigen Brasilien vertrieben wurden (1650er Jahre). Auch Neu-Amsterdam in Nordamerika (heute: Manhattan) ließ sich nicht halten. Die das Kolonialunternehmen führende WIC war nicht mehr kreditwürdig. Flugblätter griffen öffentlich die dubiosen Geschäftspraktiken der Handelsherren an. Das Festland und große Inseln Amerikas (wie Long Island im Norden) fielen seit 1667 aus der politischen Reichweite der Niederländer. In diesem Zeitraum begann die ndl. Politik in Europa, die wissenschaftliche Ausbeute ihrer →Expeditionen zu verbreiten und zu vermarkten, nicht nur in Form von Bildern, Büchern, Skizzen und Karten, sondern auch durch die Weitergabe von Naturalia und Artificialia. In diesem Zusammenhang sind auch die höfischen Schenkungen von Johann Moritz von Nassau-Siegen an Dänemark, Brandenburg und Frankreich zu sehen, quasi als eine ndl. koloniale „Promotion-Action“ der „Nassauischen-Schenkungen“, zu denen auch die Werke von E. und P. gehörten. Luiz Felipe de Alencastro, Johann Moritz und der Sklavenhandel, in: Gerhard Brunn / Cornelius Neutsch (Hg.), Sein Feld war die Welt, Münster u. a. 2008, 123–144. Leon Krempel (Hg.), Frans Post, München 2006. Michael Zeuske, Sklavenbilder, in: zeitenblicke 7, Nr. 2, [1.10.2008], URL: http://www. zeitenblicke.de/2008/2/ zeuske. MI CHAE L Z E US KE Niederländisches Kolonialreich. Die Geschichte der niederländischen Übersee-Expansion läßt sich grob in zwei Epochen aufteilen. Vor 1795 war die Eroberung, Verwaltung und Verteidigung der ndl. Überseebesitzungen die Aufgabe zweier Monopol-Handelsgesellschaften, die durch private Teilhaber finanziert wurden (→Ostindienkompanien, →Vereinigte Ostindische Kompanie,
→West-Indische Compagnie). Nach 1795 gingen die ndl. Kolonien in Staatsbesitz über. 1. Die ndl. Expansion in Asien. Die ndl. Ostindiengesellschaft (VOC). Die 1603 gegründete VOC war das erste Handelsunternehmen Europas, das durch anonym bleibende Teilhaber und einem Betriebskapital auf Dauer finanziert wurde. Sie entwickelte sich mit der Zeit zur größten Handelsgesellschaft der Welt, die zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung über 40.000 Angestellte beschäftigte. Sie kontrollierte weite Regionen im heutigen →Indonesien, in Taiwan (1624–1662) und Ceylon (1640–1795, →Sri Lanka) und besaß Handelsniederlassingen auf →Malakka (1641–1825), der Coromandel- (1608–1825) und →Malabarküste (1663–1795) Indiens und in Deshima (1641–1859) in Japan, sowie am →Kap der guten Hoffnung (1652–1806). 1796 löst der ndl. Staat die VOC auf und übernahm selbst die Kontrolle über die Besitzungen der Gesellschaft in Asien und am Kap der guten Hoffnung. 2. Die ndl. Expansion im Atlantik. Die ndl. West-Indische Compganie (WIC). Der Erfolg der VOC war ursächlich dafür, für den →atlantischen Bereich ebenfalls eine Handelsgesellschaft zu gründen. 1621 wurde die West Indische Compagnie (WIC) gegründet. Allerdings war diese nicht annähernd so erfolgreich wie ihre Schwester im Osten. Der WIC gehörten NeuHolland (1609–1664) in Nordamerika u. Teile Brasiliens (1630–1654), →Essequibo und Demerarij (1606–1803) in Südamerika. Dazu kamen sechs kleine Inseln in der →Karibik: Curaçao, Aruba, Bonaire, St. Eustatius, Saba und, zusammen mit Frankreich, St. Maarten (→Antillen). Außerdem existierten noch zwei kleinere koloniale Handelgesellschaften, die Surinam (ab 1664) u. Berbice (1627–1796) verwalteten. An der afrikanischen Goldküste besaß die WIC eine ganze Kette von Festungen, auf die man im Sklavenhandel (→Sklaverei) zurückgriff. Elmina (1637–1871) war der Sitz der Verwaltung. 1792 wurde die WIC aufgelöst und die Republik der Niederlande wurde selbst zu einer Kolonialmacht im Atlantik. 3. Die Niederlande als Kolonialmacht. Im Zeitraum von 1795–1816, während der Napoleonischen Kriege, fielen nahezu alle ndl. Überseebesitzungen an die Briten. Letztendlich wurden Nl.-Ostindien, Surinam und die ndl. Antillen wieder zurückgegeben, nicht dagegen die Kapkolonie, Ceylon, Demerara, Essequibo u. Berbice. Unter britischem Druck schafften die Niederlande 1814 den Sklavenhandel ab und 1871 kaufte Großbritannien die ndl. Festungen an der Goldküste. 1942 besetzten die Japaner Ndl. Ostindien und nach der japan. Kapitulation erklärte sich Indonesien für unabhängig. Die Ndl. versuchten vergeblich, die Vorkriegsordnung u. ihre koloniale Herrschaft wiederherzustellen. Am 17. August 1949 wurde die Republik Indonesien formal unabhängig. Surinam war mit seiner Produktion von Aluminum und Curaçao mit seinen Ölraffinerien während des →Zweiten Weltkrieges so wichtig für die Alliierten, daß die USA und Großbritannien mit Zustimmung der ndl. Exilregierung in London deren Kolonialverwaltung übernahmen. Nach dem Krieg erhielten Surinam und die ndl. Antillen 1948 Selbstverwaltung. 1954 bestimmte ein ndl. Commonwealth-Statut die gegenseitige Gleichberechtigung der Nl., Surinams u. d. sechs ndl. Antilleninseln. 1975 589
niger
wurde d. ndl. Vorstoß, Surinam die Unabhängigkeit zu gewähren, in die Tat umgesetzt. Die sechs ndl. Antilleninseln lehnten ein ähnliches Angebot, ebenfalls in die Unabhängigkeit entlassen zu werden, ab. C. R. Boxer, The Dutch Seaborne Empire, 1600–1800, Oxford 1967. P. C. Emmer, The Dutch in the Atlantic Economy, 1580–1880, Aldershot 1998. M. Kuitenbrouwer, The Netherlands and the Rise of Modern Imperialism, New York 1991. P I E T E R E MME R Niger (Fluß). Der N. entspringt in Tembakounda im südlichen Hochland →Guineas und entwässert mit einer Länge von 4 184 km ein Einzugsgebiet von ca. 2,3 Mio. km2 in den Staaten Guinea-Conakry, →Mali, →Niger, und →Nigeria. In einem weiten Bogen durchfließt er Feucht-, Trocken- und Dornsavannen bis an die Randbereiche der Sahara und erreicht den →Atlantik in einem Mündungsdelta der Regenwaldzone. Im südlichen Mali bildet er ein ausgedehntes „Binnendelta“, und er stellt die Lebensader v. a. für die Bewohner in den Trockenräumen dar. Zu den wichtigsten →Ethnien am N. zählen Malinke, Bambara, →Fulbe, Bozo, Songhai, Zerma, Nupe, Yoruba, Igala, Ibo und Idjo. Die Anrainer nutzen das Flußwasser zur Bewässerung von Feldern und Gärten, zeitweilig überschwemmte Areale dienen als Viehweiden und einige Gruppen leben bevorzugt vom Fischfang, dessen Erträge jedoch wegen Überfischung geringer werden. Außerdem bildet der Fluß eine viel befahrene Verkehrsader, wobei der Ober- und Mittellauf außerhalb der Regenzeit nur für Pirogen mit geringem Tiefgang und der Unterlauf bis Lokoja auch für größere Wasserfahrzeuge schiffbar sind. Die Etymologie des Namens N. geht wahrscheinlich auf das lateinische Wort für „schwarz“ zurück in Anspielung auf die Hautfarbe der Menschen in dieser Region. Bis zu Beginn des 19. Jh.s war der Lauf des N. der europäischen Afrikaforschung weitgehend unbekannt. Zumeist wurde vermutet, daß er mit dem Flußsystem des →Nils in Verbindung stehe. 1796 erreichte der Brite Mungo →Park den Oberlauf des N., doch kehrte er von einer zweiten Reise am Mittellauf 1805/06 nicht zurück. Der tatsächliche Verlauf des N. wurde nicht vor 1830 bekannt und die Quelle erst 1879 geographisch kartiert. UL RI CH BRAUKÄMP E R Niger (Staat) war frz. Kolonie und besitzt einen beträchtlichen Flächenanteil am Sahelgürtel wie an der Saharawüste. Nach der kolonialen Landnahme Ende 1897 war das Gebiet bis 1899 Teil der ehem. großen Verwaltungsregion Frz.-Sudan und später von Obersenegal (→Senegal) und N. Um 1900 entstand das Militärterritorium des N., welches 1922 den Status einer eigenständigen Kolonie mit eigenem Gouv. erlangte. Jules Brévié, der spätere Gen.-gouv. in →Dakar, hatte als erster dieses Amt inne. Die Entwicklung N.s ist die Geschichte einer unvollkommenen kolonialen Erschließung. Diese Beurteilung gilt auch für die Nachbarstaaten →Mali, →Burkina Faso und →Tschad. Vieh und früher Erdnuß waren vor der Entdeckung der Uranvorkommen im AïrGebiet in den 1970er Jahren die einzigen Exportartikel. In N. wurden administrative Reformen kaum durch Investitionen in die Infrastruktur ergänzt. Die Eisenbahn590
linien →Abidjan-Niger und Dakar-Niger z. B. erreichten →Niamey, die eigentliche Endstation im Hinterland, nicht. Erstere endete in →Ouagadougou und die zweite in →Bamako. Wiederkehrende Dürren und Hungersnöte suchen oft weite Teile des Landes heim. Die Hungersnot von 1931 war so groß, daß die brit. (→Nigeria) und frz. Kolonialverwaltungen eine Kommission einsetzten, die die ökologischen Probleme untersuchen und eventuelle Schutzmaßnahmen vorschlagen sollte. Die im Norden von N. nomadisierenden →Tuareg sind am stärksten von der Desertifikation betroffen. Nach der Unabhängigkeit am 3.8.1960 fühlten sie sich von den neuen Dienstleistungen des unabhängigen N. (v. a. im Bildungs- und Gesundheitswesen) ausgeschlossen oder diskriminiert. Dies führte auch zu gewaltsamen Konflikten und untergrub die Bemühungen des Staates um politische Stabilität und die nationale Integration. Edmond Bernus u. a., Nomades et commandants, Paris 1993. Hubert Deschamps, Histoire générale de l’Afrique noire, de Madagascar et des archipels, Paris, 1970. Idrissa Kimba, Guerres et sociétés, Niamey 1981. Y O U SSO U F D IA LLO
Nigeria zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt historischer Kulturen und Reiche aus, die ab 800 v. Chr. archäologisch nachweisbar sind, z. B. in Zentral-N. die neolithische Nok-Kultur. Die ersten größeren Reiche entstanden im Norden. Um 900 n. Chr. wuchs das Kgr. Kanem-Bornu (→Bornu) dank eines florierenden Handels, konvertierte 1086 zum →Islam und wurde zu einem Zentrum islamischer Kultur. An der Nordgrenze des heutigen N. entwickelten sich die Hausastaaten (→Hausa), z. B. Fulani. Durch arab. Händler verbreitete sich dort der Islam ab dem 14. Jh. Westlich des →Nigers entstanden zwei mächtige Yoruba-Staaten um Ife und Oyo. Um 1470 trafen die Portugiesen als erste Europäer in N. auf die in →Benin herrschenden Edo, deren Anfänge auf das 13. Jh. zurückgehen. Schließlich lebten die Igbo im Südosten und am Nigerdelta. Noch heute sind die einzelnen →Ethnien stark fragmentiert. Dementspr. herrscht eine große Sprachvielfalt (über 500 Sprachen bei einer Bevölkerung von 145 Mio.). Ab dem 16. Jh. gründeten vorwiegend Portugiesen und Briten Stationen für den →Sklavenhandel im Nigerdelta. Gleichzeitig begann die christl. Missionierung. Das europäische Interesse richtete sich auf den Handel und die Erforschung des Landesinneren. →Expeditionen, mit deren Hilfe man das Gebiet genauer kartographisch erfassen konnte, unternahmen Mungo →Park (1795/96), Hugh Clapperton (1821–1825) sowie die Brüder John und Richard Lander (1830/31). Damit war der Weg für einen stärkeren Handel geebnet. Die Briten förderten insb. den Absatz von Palmöl und übten ab ca. 1850 eine aktivere Kolonialpolitik aus. 1861 annektierte man →Lagos und richtete dort ein brit. Konsulat ein. Es wurden mehrere Verträge mit verschiedenen Stämmen geschlossen und das →Protektorat „Oil Rivers“ in Süd-N. gegründet. 1886 erhielt die „Royal Niger Company“ von der brit. Kg.in Victoria de facto das Handelsmonopol in N. und die Erlaubnis, das Schutzgebiet, das bis 1900 zum „Protektorat SüdN.“ ausgeweitet wurde, zu regieren. Im gleichen Jahr
ni u e
stellte man auch Nord-N. unter europäische Schutzherrschaft. Beide Gebiete wurden 1914 zum „Protektorat von N.“ zusammengeführt. Seitdem wird offiziell von „N.“ gesprochen. Alleiniger Kolonialherr war fortan Großbritannien, das zunächst eine indirekte Herrschaft (→Indirect Rule) ausübte. Den Stämmen blieben viele Privilegien erhalten, obgleich sie im Einvernehmen mit der Kolonialmacht handeln mußten. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurden die Forderungen nach Selbstverwaltung immer lauter. Das Resultat war eine Reihe von Verfassungsänderungen, die N. immer eigenständiger und föderalistischer machten. Am 1.10.1960 wurde das Land unabhängig und kurz darauf Mitglied der Vereinten Nationen. Die Rep. wurde am 1.10.1963 ausgerufen. Der politischen Entwicklung standen jedoch ethnische und religiöse Differenzen entgegen, die im Jan. 1966 in mehreren Staatsstreichen kulminierten. Initiativen der Reg., die sich insb. gegen die Igbo richteten, führten 1967 zum Versuch der Gründung eines eigenen Igbo-Staates („Rep. →Biafra“), was einen mehr als zweijährigen Bürgerkrieg auslöste. Danach erholte sich die nigerianische Wirtschaft dank der Erdölvorkommen schnell, sah sich jedoch einer längeren Rezessionsphase in den achtziger Jahren gegenüber. Die Politik blieb unbeständig sowie von Putschversuchen, Repression und Militärgewalt erschüttert. Seit den Präsidentschaftswahlen 1999 war eine deutliche Demokratisierung und innere Stabilisierung erkennbar, die insb. nach 2013 durch islamistischen Terror (Boko Haram) in Frage gestellt wurden. Toyin Falola / Matthew M. Heaton, A History of Nigeria, Cambridge 2008. Elizabeth A. Isichei, A History of Nigeria, London 1983. ROL AND WI CKL E S Nikobaren →Andamanen Nil. Der mit seinen 6 671 Flußkilometern längste Strom der Erde verbindet die Berge des zentralafr. Grabens mit dem Mittelmeer. Unterlauf und Mündungsbereich brachten eine der ältesten Zivilisationen hervor, während der Quellbereich in den „Mondbergen“ bis zum Ende des 19. Jh.s ein Rätsel blieb, dessen Lösung („caput nili quaerere“) viele Opfer forderte. Für die intensive Landwirtschaft erlaubenden Überschwemmungen, die das Niedrigwasser um das Achtzehnfache übersteigen können, ist v. a. der kürzere Hauptarm, der Blaue N. verantwortlich, der aus dem Äthiopischen Hochland kommt. Seine Quelle im Tana-See, die 1634 die Portugiesen Paez und Lobo, 1698 der Franzose Poncet und 1790 der Schotte Bruce gesehen haben, liegt 1830 m über dem Meer, während der größte unter den Quellseen in Zentralafrika, der →Victoriasee (Ukerewe), „nur“ eine Höhe von 1134 m erreicht. Diese ausgedehnte Quellandschaft wurde ab 1857 von Speke, Burton, Grant, Baker und →Stanley erforscht und nach engl. Royals benannt, genau kartographiert wurde das Kagera-Flußsystem aber erst 1897 von Richard →Kandt. Der N. ist der einzige Strom, der die riesige Sahara durchqueren konnte, wo er auf einer Länge von 3 000 km ohne Zufluß auskommen muß. Die Notwendigkeit, die N.fluten zu regulieren, gebar in AltÄgypten Verwaltung und Wissenschaft; seit der europäischen Kolonialzeit wurden auch massivere Eingriffe in
den Wasserhaushalt vorgenommen: Dem Owen-FallsDamm in →Uganda folgten mehrere kleinere Aufstauungen in →Ruanda, →Burundi und →Tansania; dem schon 1898 begonnenen Aswan-Damm, dessen 1960 fertiggestellter Neubau das alte Kulturland Unternubien überflutete, folgten auf sudanesischer Seite ein Damm im Weißen N. beim Jebel Aulia und im Blauen N. bei Sennar und bei Roseires. Gegenwärtig wird ein Damm bei Karima fertiggestellt und mit dem Wasser des NubiaSees plant die ägyptische Reg., ein Neues Tal (Wadi Gedid) durch die westlichen Oasen anzulegen. Die gerechte Verteilung der N.wasser unter der immens gewachsenen Bevölkerung der acht Anrainerstaaten wird bald zum Hauptkonflikt Nordostafrikas werden. Eva Ambros u. a., Der Nil, München 1996. Karl-Heinz Bochow, Zu den Quellen des Nils, Leipzig / Innsbruck 1977. Alan Moorehead, The White Nile, Harmondsworth 1971, Ndr. London 2008. BER N H A R D STREC K Niue ist eine hohe Koralleninsel im Südpazifik, südlich von →Samoa und östlich von →Tonga gelegen. Nur das Hochplateau ist besiedelt; die Fläche umfaßt ca. 260 km2. Wenig ist über die voreuropäische Zeit bekannt, da erst 1858 europäische Missionare – und damit Chronisten – die Hochebene betraten. Zu dieser Zeit war durch die im Auftrag der London Missionary Society (→Protestantische Missionsgesellschaften) seit den 1840er Jahren auf N. ansässigen samoanischen Missionare die alte Kultur schon stark verändert worden. Die Besiedlung N.s erfolgte archäologischen Funden zufolge ab etwa 250 v. Chr.; linguistische Indizien und Mythen weisen auf zwei größere Einwanderungsströme von Tonga und Samoa aus hin. N.s Gesellschaft ist seit alters her egalitär: Zwar gab es über mehrere Generationen einen rituellen Führer für alle Distrikte sowie bestimmte, ihm untergeordnete Ämter; die politische Macht lag jedoch offenbar stets bei gewählten Familienoberhäuptern bzw. erfolgreichen Kriegern. 1774 entdeckte James →Cook die Insel für die Europäer. N.anische Krieger schlugen die Ankömmlinge schon am zerklüfteten Ufer in die Flucht, was N. auf europäischen Karten den Namen Savage Island eintrug. In den folgenden Jahrzehnten trieben N.r zwar Handel mit ankernden Schiffen oder verdingten sich auf ihnen; Fremde wurden jedoch lange am Betreten des Hochplateaus gehindert. Mit dem in Samoa bekehrten N.r Peniamina und den samoanischen Missionaren kam in den 1840er Jahren das Christentum auf die Insel, 1861 auch der erste europäische Missionar. Die häufigen Kriege fanden ein Ende und um die neu errichteten Kirchen herum konstituierten sich allmählich die bis heute bestehenden Dörfer. Zugleich etablierten bereits die samoanischen Missionare ein rigides System von Regeln und Abgaben. 1900 übernahm Großbritannien nach einer niueanischen Petition, die wohl Begehrlichkeiten anderer europäischer Mächte und Neuseelands zuvorkommen wollte, die Insel als Kolonie, gab sie allerdings schon 1901 an Neuseeland weiter. Auf Grund der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit N.s blieben neuseeländische Resident Commissioners weitgehend unkontrolliert in ihrer Arbeit, was bei einer Reihe von ihnen in Mißwirtschaft, Amtsmißbrauch und unverhältnismäßiger Strenge gegenüber N.rn ausar591
n j o yA , i b rAh i m
tete. Diese Situation kulminierte 1953 in der Ermordung des effizienten, aber zu extremer Willkür neigenden Hector Larsen – der einzigen jemals erfolgten Ermordung eines Resident Commissioner in der Geschichte des brit. Empire. 1974 wählte N. den Status der freien Assoziation mit Neuseeland mit eigenem Parlament und vollständiger Freiheit in inneren Angelegenheiten. Robert Rex wurde der erste Premierminister. 1970 eröffnete der Flughafen; seitdem hat die seit dem →Zweiten Weltkrieg anwachsende Abwanderung auf Grund mangelnder wirtschaftlicher Perspektive so zugenommen, daß mittlerweile 90 % aller N.r als Arbeitsmigranten die Insel verlassen haben, die meisten Richtung Neuseeland. David K. McDowell, A History of Niue [unveröffentliche Magisterarbeit], Auckland 1973. Hilke Thode-Arora, Weavers of Men and Women. Niuean Weaving and Its Social Implications, Berlin 2009, 17–69. Hafe Vilitama / Terry Chapman (Hg.), Niue: A History of the Island, Suva 1982. HI L KE T HODE - ARORA Njoya, Ibrahim, * 1875 Foumban, † 30. Mai 1933 Jaunde, □ unbek., musl. N. war der 17. Sultan der Bamun-Dynastie und wurde in der dt. Kolonialzeit zu einer der einflußreichsten und bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte →Kameruns. Er regierte von 1894 bis 1924, als ihn die frz. Besatzungsmacht absetzte. Als N. sechs Jahre alt war, starb sein Vater Sultan Nsangu. So übernahm N. die Macht unter der Regie seiner Mutter Ndjapndjunke. Anschließend brachen zwei Jahre lang heftige Unruhen in Fumban aus. Die Konsequenzen, die der Sultan bzw. seine Mutter daraus zog, hatten einen nachhaltigen Einfluß auf das Sultanat. Um den ausgebrochenen Volksaufstand zu bekämpfen, erbat der junge Sultan auf Rat seiner Mutter Hilfe von dem mächtigen Fulbe-Lamido von Banyo, einer an der Grenze zu →Nigeria liegenden Stadt. Als Gegenleistung für seinen Einsatz wurden dem Lamido eine Belohnung und die Einführung des →Islam am Hof versprochen. Durch diese Verstärkung konnte N. seine Macht zurückgewinnen und im Alter von 15 Jahren als neuer Sultan die Herrschaft tatsächlich übernehmen. Er ließ von seinen Handwerkern einen schloßähnlichen Palast bauen, in dem heute das Museum von Fumban untergebracht ist. N. ließ auch von seinen Höflingen eine eigene Bamun-Schrift entwickeln, in der er dann in mehreren Bänden die Geschichte und Traditionen seiner Vorfahren herauskristallisierte. Der Sage nach erschien N. eines Nachts im Traum eine Gestalt, die ihm auftrug, seine rechte Hand mit Holzkohle auf einem Bananenblatt (→Banane) zu zeichnen, das Bild zu waschen und dieses Wasser zu trinken. Infolgedessen würde er lesen und schreiben können, denn er solle die Geschichte seines Volkes in der Sprache der Bamun schreiben. Daraufhin rief der Sultan seine Höflinge zusammen und befahl ihnen, eine Serie von Zeichen zusammenzustellen, anhand derer er sich dann an die Transkription der Überlieferungen machen könnte. Nach mehreren Versuchen verfügte er schließlich über seine eigene Bamun-Schrift, die er alsbald in der ersten Schule Fumbans den Kindern seiner Notabeln beibringen ließ. Die Bamun-Schrift enthält 83 Zeichen und 10 Ziffern. N. gründete eigene Schulen, 592
in denen den Lernenden die Bamun-Schrift beigebracht wurde. Noch heute existiert im Palast von Fumban eine solche Schule. Lange Zeit pendelte N. zwischen der christl. Religion und dem Islam und versuchte, eine eigene Religion zu entwickeln mit christl., musl. und animistischen Elementen. Doch letzten Endes erlangte der Islam die Vorherrschaft, so daß er bis heute im BamunGebiet weiter verbreitet ist als die anderen Religionen. 1902 nahmen die dt. Kolonialisten Kontakt auf zum Palast von Fumban. Mit großen Feierlichkeiten begrüßte N. die Ankunft der Deutschen in seiner Residenzstadt Fumban, obwohl das Bamun-Volk früher eine brit. Annexion befürwortet hatte. Sein Status als offizieller Statthalter des Gouvernements läßt sich daraus erklären. Die Deutschen waren beeindruckt vom höfischen Leben mit seinem Glanz und Reichtum. Er wählte den Weg der Zusammenarbeit mit den Eindringlingen, vermied jeden Streit und untersagte seinen Untertanen den Widerstand. Der Sultan glaubte an die Möglichkeit, die Kultur der Bamun mit der der Deutschen vereinigen und sein Kgr. dadurch erhalten zu können. Durch zahlreiche Geschenke versuchte er, sich unter den Kolonisten Freunde zu machen. So übergab er 1908 seinen mit →Perlen bestickten Thron der Kolonialverwaltung in →Buea als Geburtstagsgeschenk für den dt. Ks. Dieser Thron steht heute im Berliner Museum für →Völkerkunde. Er bekam im Gegenzug vom Ks. eine Kürassieruniform, ein Ölbild und ein Harmonium. Die dt., später die frz. und engl. Besatzungsmacht führten zu einer stetigen Verschlechterung der politischen Situation im Reich der Bamun. Sultan N. wurde 1924 von der frz. Kolonialverwaltung wegen seiner Zuneigung zu Deutschland abgesetzt. Anschließend wurde sein Land in mehrere Chefferien unterteilt. Als er sich schließlich dem frz. →Kolonialismus durch die Kolonialreg. widersetzte, wurde er 1931 nach Jaunde ins Exil entsandt, wo er am 30.5.1933 an →Tuberkulose starb. Sein Sohn Sultan Njoya Seidou Njimoluh wurde am 25.6.1933 als 18. Sultan der Bamun ins Amt eingeführt. Als dieser 1992 starb, erhielt der ehem. Minister Ibrahim Mbouombouo Njoya im Aug. desselben Jahres als 19. Sultan den Thron. In den verschiedenen Chefferien (Palastorganisationen) mit ausgeprägten hierarchischen Gliederungen und in Geheimbünden lebt die Tradition des Bamun-Reiches weiter. N.s Macht und Werk zeigen sich auch heute noch in prunkvollen Festen, Statussymbolen wie Throne und festlicher Kleidung, und den verschiedenen Riten, die sich im Wandel der Zeit erhalten haben. Dank N. hinterließ das Bamun-Volk viele mündliche und schriftliche Überlieferungen, Dokumente und kunsthandwerkliche Schätze (Palastmuseum Fumban). N. hat außer seiner Schrift viele Neuerungen politischer und technischer Art, die aus dem Sultanat Bamun ein Kgr. mit einer regelrechten Künstler-, Weber- und Metallgießer-Kaste machte, in sein Kgr. eingeführt. Während seiner dreißigjährigen Herrschaft nahm die wirtschaftliche Entwicklung und Kultur des Landes einen großen Aufschwung: Eine Bodenreform wurde durchgeführt, der Handel gefördert, und die traditionelle Handwerkskunst des Graslandes erreichte Berühmtheit. Aus der Perspektive der Gegenwart wird Sultan N. als autoritär, ehrgeizig, wißbegierig und ideenreich geschil-
no m m en s en , lu d wi g i n g wer
dert. N. wird aber auch als Verräter angesehen, insofern als er die dt. Kolonisten von dem geplanten Aufstand seines Landsmannes Rudolf Duala →Manga Bell aus dem Küstengebiet →Duala informierte. Regina Fuchs, Kamerun, Bielefeld 2001. Alexandra Loumpet-Galitzine, Njoya et le royaume bamoun, Karthala 2006. Adamou Ndam Njoya, Njoya, Dakar 1977. GE RMAI N NYADA
Nkrumah, Kwame, * 21. September 1909 Nkroful, † 27. April 1972 Bukarest, □ Kwame Nkrumah Mausoleum / Accra, rk. N. war Präs. →Ghanas von 1957 bis 1966. Er wurde 1909 in Nkroful, im Südwesten der Goldküste, geboren. Nach der rk. Grundschule besuchte er das Achimota College. 1935 ging er in die →USA, wo er Theologie und Philosophie an der Lincoln University studierte. 1945 traf er in London George →Padmore. In Zusammenarbeit mit ihm organisierte er den fünften →Pan-Afrikanischen Kongreß in Manchester. In der Goldküste war N. 1948 Generalsekretär der United Gold Coast Convention von Joseph Danquah. 1949 trennte er sich von ihm, gründete die Convention People’s Party (C.P.P.) und forderte von Großbritannien „Self-Government Now!“. Im Rahmen der Positive Action – d. h. des gewaltlosen Widerstandes sowie Kooperationsverweigerung mit der brit. Kolonialmacht – organisierte die CPP Streiks, Boykotte und Demonstrationen. 1950 wurde N. inhaftiert. Ein Jahr später gewann die CPP die Mehrheit bei legislativen Wahlen. N. wurde freigelassen und zum sog. „Leader of Government Business“ ernannt. Die Versöhnung und Zusammenarbeit mit den Briten bezeichnete er als „Tactical Action“. Nach der Verfassungsreform von 1954 wurde er Premierminister. Bei der Unabhängigkeit am 6.3.1957 übernahm die Goldküste den Namen Ghana. N.s Hauptziel war die Einigung Afrikas. Wegen seiner autoritären Machtsausübung geriet er jedoch bald in die Kritik. 1966 endete seine Präsidentschaft durch einen Militärputsch während eines Staatsbesuches in →Vietnam. Er ging ins Exil nach →Conakry, wo er von Sékou →Touré als „CoPräs.“ →Guineas Aufnahme fand. Bis zu seinem Tod am 27.4.1972 dachte N. an eine Rückkehr zur Macht. Er starb an Krebs in Bukarest, wurde in Guinea beigesetzt und später nach Ghana überführt. Q: Kwame Nkrumah, The Autobiography of Kwame Nkrumah, Edinburgh 1957. Kwame Nkrumah, Dark Days in Ghana, London 1973. L: Ronald Segal, Political Africa, London 1961. YOUS S OUF DI AL L O Noble Savage →Edler Wilder Nóbrega, Manuel da, SJ, * 18. Oktober 1517 Nordportugal, † 18. Oktober 1570 Rio de Janeiro, □ unbek., rk. Als Sohn eines Beamten der port. Krone absolvierte N. ein Studium der Philosophie und des Kirchenrechtes in Salamanca und an der Universität Coimbra. Nach dem Beitritt in den Jesuitenorden und Missionstätigkeit auf der iberischen Halbinsel gehörte N. zur ersten Gruppe von →Jesuiten, deren Ankunft in →Brasilien 1549 mit der Errichtung eines →Governo Geral zusammenfiel. Im Zuge seiner Arbeit als Missionar der indigenen Bevöl-
kerung entwickelte N. auch eine rege Reisetätigkeit, bei der er u. a. an der Gründung von Städten wie Salvador da →Bahia und →Rio de Janeiro mitwirkte. Daneben forcierte er auch die Erschließung des Landesinneren und gründete in dieser Absicht zusammen mit José de →Anchieta im südöstlichen Küstenhochland Brasiliens ein →Kollegium in Piratininga, dem Kern des späteren →São Paulo. N. war erster Provinzial der Jesuiten in Brasilien. In seinen Schriften, v. a. Briefen und Abhandlungen zur Katechese, hob N. die Eignung und Bereitschaft der Ureinwohner, besonders der Kinder, zur Annahme des christl. Glaubens hervor und setzte sich für deren Schutz vor Übergriffen der Siedler ein. Dauril Alden, The Making of an Enterprise, Stanford 1996, 474–501. Fernando Amado Aymoré, Die Jesuiten im kolonialen Brasilien, Frankfurt/M. u. a. 2009. Thomas Cohen, ‚Who is My Neighbor?‘ The Missionary Ideals of Manuel da Nóbrega, in: Joseph A. Gagliano, Charles E. Ronan, SJ (Hg.), Jesuit Encounters in the New World, Rom 1997, 209–228. CH R ISTIA N H A U SSER Nommensen, Ludwig Ingwer, * 6. Februar 1834 Nordstrand, † 23. Mai 1918 Pematan / Siantar, □ Familiengrab auf dem Kirchhof Siantar, ev.-luth. Als Sohn armer Leute geboren, gelobte er nach einem schweren Unfall mit 12 Jahren, Missionar zu werden. 1857 trat er ins Seminar der →Rheinischen Missionsgesellschaft ein. 1861 reiste N. nach →Sumatra aus. Bald zeigte er sich als der volkstümliche Meister der Toba-Bataksprache und faßte rasch Fuß. Er übersetzte alttestamentliche Geschichten und das Neue Testament unter Verwendung vorchristl.-heidnischen Sprachschatzes. 1875 begann er mit der Lehrerausbildung. 1882 folgte die Ausbildung batakscher Pastore (Simatupang). Schon 1881 wurde N. Ephorus der Stammeskirche Huria Kristen Protestan Batak (HKBP) und entwarf die erste Kirchenordnung, angepaßt an eine Übergangssituation. Seine erste Frau verstarb 1887, 1909 seine zweite. Als „Apostel der Batak“ verehrt, trägt noch heute die evangelische Universität in Siantar seinen Namen. Während schon zu Lebzeiten die charismatische Persönlichkeit in Verbindung mit der Stammeskonversion der Toba-Batak gebracht wurde, mangelte es an profanen Analysen des Kontextes. Die Kolonialverwaltung erschloß durch Straßenbau das unzugängliche Innere mit islamischem Missionsdruck und Modernisierungsschüben aus dem Süden und dem Norden als Folgen. Von Osten rückte der Plantagenbau immer näher. Die Hinwendung zum Christentum – also der Religion der Kolonialherren – geschah demnach weniger als eine Angelegenheit des Herzens. Sie stellte eher ein internes Verarbeitungsmuster äußerer Anschübe dar. Die Entscheidung für das in ihren Augen fortschrittlichste Modernisierungsangebot eröffnete den Zugang zu dem subsidierten Schulsystem der Niederländer und die Gleichstellung mit der islamischen Weltreligion unter Beibehaltung vieler Traditionen in dem weitherzigen Zukunftskonzept einer Volkwerdung unter dem Kreuz. Theodor Müller-Krüger, Der Protestantismus in Indonesien, Stuttgart 1968, 255ff. Wilfried Wagner, Volkwerdung unter dem Kreuz, Berlin 2003. SIG RU N WA G N ER 593
n o o t k A -s und
Nootka-Sund. Breite Einbuchtung an der Westküste der heutigen Vancouver-Insel; wurde im Aug. 1774 vom span. Seefahrer Juan Peréz als erstem Europäer gesichtet und ab Mitte der 1780er Jahre von privaten Handelsschiffen besucht, deren Eigner vom damals florierenden Seeotterpelzhandel mit China zu profitieren suchten. 1790 wurde dieser entlegene und sonst unauffällige Meeresarm beinahe zum Kriegsgrund zwischen Großbritannien und Spanien, nachdem bekannt geworden war, daß im vorangegangenen Sommer die Spanier vier brit. Handelsschiffe nebst einer Faktorei dort konfisziert und den Sund formell in Besitz genommen hatten. Spanien rechtfertigte dies unter Berufung auf das Prinzip erster Entdeckung sowie – weit weniger überzeugend – auf eine päpstliche →Bulle von 1493, die ihm exklusive →Schiffahrt im Pazifik und alleinigen Besitz der Westküste Nord- und Südamerikas gewährt hatte. Großbritannien, das nach dem Verlust seiner nordam. Kolonien nach neuen Handelsmöglichkeiten suchte, bestand jedoch auf dem →Recht fremder Nationen (d. h. Großbritannien selbst), ungehindert an der Küste Nordwestamerikas Handel zu treiben und Niederlassungen in jenen Gebieten dort zu gründen, die durch andere Nationen (d. h. Spanien) nicht bewohnt worden waren, und forderte die sofortige Rückgabe des in N. konfiszierten brit. Eigentums. Beide Nationen bereiteten sich über Sommer 1790 aktiv auf einen Krieg vor, der global geführt worden wäre. In letzter Minute aber willigte Spanien, da offensichtlich wurde, daß es mit der traditionellen Unterstützung Frankreichs nicht mehr rechnen konnte, in die Forderungen Großbritanniens ein. Die sog. N.-S.-Konvention, die am 28.10.1790 in Madrid unterzeichnet wurde (1793 und 1795 folgten zwei weitere Konventionen), war für die Reg. des brit. Premierministers William Pitt ein Triumph diplomatischen Manövrierens und ermöglichte auf lange Sicht eine umfangreiche brit. Expansion in Nordwestamerika. Für Spanien aber erwies sie sich als eine schmachvolle außenpolitische Niederlage. Sie bewies ein für allemal, daß die traditionellen Ansprüche Spaniens auf ein Monopol auf Schiffahrt, Handel und Kolonisation an der pazifischen Küste Nord- und Südamerikas nicht mehr vertretbar waren und kündigte damit den Anfang vom Ende des span. Weltreichs an. Warren L. Cook, Flood Tide of Empire, New Haven / London 1973. Alan Frost, The Global Reach of Empire, Carlton 2003. William Ray Manning, The Nootka Sound Controversy, New York 1966. JAME S BRAUND Nordamerikanisierung Lateinamerikas ist ein vielgestaltiger Begegnungsprozeß mit dem Greifbaren und dem Symbolischen, mit den wirklichen und den vorgestellten →Vereinigten Staaten. Diese Begegnungen finden in bestimmten historischen Kontexten statt, die durch Konstellationen ungleicher Machtverteilung geprägt sind. N. ist folglich kein Prozeß kultureller Homogenisierung, durch den der „Empfänger“ zum „amerikanisierten“ und subalternen Teil einer Überkultur wird. Es handelt sich vielmehr um einen Interaktionsprozeß, wobei die Grenzen zwischen den interagierenden Systemen erst durch die Begegnungen konstituiert und verändert werden. N. ist ein Konzept, das im Verhältnis zur 594
→Globalisierung älter, aber weniger umfassend ist. Sie ist gleichsam ein Teilprozeß der Globalisierung, der im Gegensatz zu letzterer insofern territorialisiert bleibt, als er einerseits auf der zunehmenden Ausbildung von Verflechtungen und Netzwerken sowie Waren und Kapitalströmen mit den USA beruht und andererseits in der individuellen oder kollektiven Wahrnehmung auf die USA bezogen wird. N. – in Europa besser bekannt unter dem Begriff „Amerikanisierung“ – ist einer jener globalen Prozesse, die gemeinhin als prägend für das „kurze“ 20. Jh. gelten. In seiner konventionellen Form wurde das Konzept als Ausbreitung US-am. wirtschaftlicher und ökonomischer Macht sowie des „American way of life“ definiert. Dieser heterogene Prozeß wurde insb. seit Ende des →Zweiten Weltkriegs oft als Teil von oder gar als Synonym für Modernisierung und „Westernisierung“ im Sinne eines unilinearen Prozesses der Nachahmung und Angleichung verstanden. Der Aufstieg von Massengesellschaften und -kulturen, die Nachahmung des technologischen Fortschritts, des politischen Systems und v. a. des Wohlstands und Konsumstandards der USA erschienen als Elemente des sozialen Wandels, den der Begriff N. umschreibt. Die Reaktionen auf diese Wandlungsprozesse waren in der Regel ambivalent und reichten von enthusiastischer Zustimmung bis hin zu ebenso bestimmter Ablehnung. Dieses konventionelle Modell wurde durch die Dichotomien bestimmt, mit denen es die Welt einteilte. Zentrale Parameter dieses Denkens waren die Einteilung in Zentren und Peripherien und die Vorstellung, daß letztere nur durch die von den Zentren ausgestrahlten Einflüsse verstanden werden können; ferner das Konzept der Penetration der peripheren Gesellschaften und die dazugehörige Schuldzuweisung an die sog. „Kollaborationseliten“. Kultur spielte in diesem Denken eine nachgeordnete Rolle. Daran änderte sich grundsätzlich nichts, als dieses dichotome Modell neben der schon klassischen Analyse von wirtschaftlichen und politischen Prozessen des Imperialismus seit den 1960er Jahren verstärkt auch für die Untersuchung von Produktionsbedingungen und -prozessen kultureller Selbstbestimmungen herangezogen wurde. Den dichotomen Ansätzen war gemein, daß sie die Ebene der Rezipienten oder der Opfer auf Grund der ihnen zugrunde liegenden Vorstellung eines unilinearen Diffusions- bzw. Dominanzmodells kaum beachteten. Jüngste, vom Ansatz des Postkolonialismus inspirierte Beiträge zur Geschichte Lateinamerikas haben jedoch herausgestellt, daß die scharfen Trennungen von modern – traditional, imperialistisch – abhängig nicht mehr haltbar sind und zwar gerade dann nicht, wenn von Kultur die Rede ist. Die US-am. Einflüsse seien von der sog. Peripherie nicht einfach mehr oder weniger gezwungenermaßen übernommen, sondern internalisiert, angeeignet worden und hätten sich in diesen Prozessen verändert. Das Resultat dieser Begegnung sind aber eben nicht Angleichungen, sondern neue kulturelle Symbole: heterogen, hybrid, unbeabsichtigt und oft auch widersprüchlich. Dabei haben Vorstellungen und Untersuchungen von Hegemonie und asymmetrischen Machtbeziehungen ihre Notwendigkeit und Deutungsmacht nicht verloren. Nach wie vor bleibt es wichtig zu erfahren, in welchen Kontexten von Un-
n o rd -bo rn eo / s A bA h
gleichheit die kulturellen Symbole angeeignet werden können. Allerdings ist dabei der Konstruktcharakter von hegemonialen Machtkonstellationen und Hierarchien zu beachten, die zumindest teilweise auf Zustimmung basieren. Zustimmung, die im kulturellen Raum auf dem Weg der Aushandlung zwischen Mächtigen und Untergeordneten durchaus nicht immer durch gewaltsame Mittel zustande kommt. Dem Ansatz des Postkolonialismus verpflichtete Untersuchungen, die sich ursprünglich mit den kulturellen Mischungen und der Aushandlung der Konstellationen von Macht und Autorität in Situationen formeller Kolonialherrschaft auseinander setzten, haben herausgearbeitet, daß Macht und Autorität, Disziplinierung und Unterordnung keine statischen Zustände sind, sondern beständig neu ausgehandelt und transformiert werden, wobei Widerstand der subalternen Gruppen in Situationen alltäglichen Kontakts eine zentrale Rolle spielt. Macht bleibt also eine zentrale Kategorie, aber die Machtsysteme werden als komplex erkannt, wobei der Erkenntnisgewinn aus dem Blick jenseits der ehemals scharf gezogenen Grenzen nationaler Konfliktfelder auf regionale und lokale Beziehungen resultiert. Durch den Neuansatz rücken Akteure in den Mittelpunkt der historischen Analyse, deren Handeln und Wahrnehmungen durch transnationale Zusammenhänge bestimmt werden. Diese Transaktionen jenseits von Staats- und Nationsgrenzen können direkte oder indirekte Rückwirkungen auf die Ebene staatlicher Politik haben. N. ist ein solcher transnationaler Prozeß, über dessen historische Dimension bislang noch wenig bekannt ist. Die Untersuchung dieser transnationalen Zusammenhänge öffnet notwendigerweise den Blick des Historikers einerseits für die Ebene der Migrationen, die neben den Strömen von Wirtschaft, Finanzen und Kommunikation ein entscheidendes Element der Globalisierungsprozesse ist. Andererseits rückt damit das Element des Reisens, des Überquerens von Grenzen in den Mittelpunkt, das Interaktionen und Transfers hervorruft, die wiederum essentialistische Definitionen von Nation und Kultur in Frage stellen. Die Idee der Grenzüberschreitung, sowohl als realer Vorgang als auch als mentale Operation des Verlassens festgefügter Identitätskonstrukte, und der vielgestaltigen Begegnung mit dem Fremden nimmt in der Postkolonialismustheorie eine zentrale Stellung ein. Für Lateinamerikaner bedeutete die Begegnung mit Nordamerika lange Zeit eine Reise in die Zukunft, die sich als Begegnungsprozesse mit dem Fremden in den realen und symbolischen Kontaktzonen abspielten. Diese Räume lassen sich nicht mehr fest umgrenzen, sondern sind deterritorialisiert. In den Begegnungsprozessen werden Identitäten und Kulturen ständig neu konstruiert und verändert, was wiederum zur Reterritorialisierung führen kann, das heißt zur Rekonstruktion bestimmter Traditionen oder Identitäten wie z. B. der nationalen. Gilbert Joseph u. a. (Hg.), Close Encounters of Empire, Durham 1998. Stefan Rinke, Begegnungen mit dem Yankee, Köln 2004. William Roseberry, Americanization in the Americas, in: Ders. (Hg.), Anthropologies and Histories, New Brunswick 1989, 80–91. S T E FAN RI NKE
Nord-Borneo / Sabah. Das Gebiet von N.B. gehörte bis in die zweite Hälfte des 19. Jh.s zum Einflußbereich des Sultanats →Brunei. Die Region war in das asiatische Handelsnetzwerk integriert und lieferte Produkte wie Tropenhölzer, Rattan, Wachs, Sago, →Kampfer, Dammar, Gold, →Perlen, Trepang oder →Vogelnester, vieles davon war für den ostasiatischen Markt bestimmt. Wichtige Importwaren waren ind. Stoffe, →Opium, →Reis, →Tabak, Zinn, Metallwaren, chin. u. a. Keramik, Porzellan und →Salz. Auf Grund von finanziellen Problemen hatte der Sultan von Brunei das Gebiet bereits 1875 für eine jährliche Zahlung von 15 000 Straits Dollar an Baron Gustav von Overbeck (nicht verwandt mit Hans Friedrich →Overbeck) verpachtet. Für den Sultan war dieses Gebiet ökonomisch völlig unbedeutend, so daß er nach seiner Sichtweise garantierte jährliche Einnahmen für praktisch nichts erhielt. Overbeck konnte keine Geldgeber für den Aufbau einer Kolonie in Deutschland oder Österreich finden und verkaufte seine Anteile 1880 an Alfred Dent weiter. Um diplomatische Konflikte mit Spanien und den Niederlanden wegen der Grenzziehung ihrer Kolonien →Philippinen und →Ndl.-Indien zu vermeiden, wurden die Grenzen des Territoriums auf die heutige Ausdehnung festgelegt, wodurch der Sultan von Brunei seine Ansprüche auf die Küstenregionen Ostborneos bis zu den heutigen indonesischen Erdölgebieten von Balikpapan und auf die Südphilippinen de facto damit aufgab. Die heutigen Nationalstaaten Philippinen und →Indonesien erkennen allerdings diese Grenzen nicht an. Zur Finanzierung der Verwaltung N.B.s gründete Dent 1881 die →British North Borneo Company (BNBC), die zur Überraschung vieler Beobachter in den ersten Jahren ihres Bestehens wirtschaftlich durchaus Erfolge vorzuweisen hatte. Unter der autokratischen Führung von Dent und seines Managing Director W.C. Cowie begann die wirtschaftliche und administrative Erschließung des Gebietes. Bereits 1888 durch Großbritannien mit Protektoratsstatus ausgestattet (→Protektorat), begann die BNBC mit dem Ausbau der Hauptstadt Jesselton (ca. 160 km nördlich von Brunei gelegen, das heutige Kota Kinabalu). Großbritannien übernahm bereits 1881 die nominelle Oberherrschaft über das Gebiet und entsandte 1881 W. H. Treacher als ersten Gouv. nach N.B., die einzelnen Distrikte wurden von brit. Beamten verwaltet, die allerdings nicht dem Colonial Office angehörten. Der natürliche Hafen Sandakan an der Ostküste →Borneos wurde zum Zentrum für die Verschiffung von Tropenhölzern ausgebaut und entwickelte sich in den 1930er Jahren zu einem der größten Verladehäfen für Tropenhölzer in der Welt. Erste Eisenbahnen und Telegrafenstationen wurden noch im 19. Jh. eröffnet. Zur Erweiterung des Plantagenanbaus (Kautschuk, Tabak, →Kaffee) holte man eine große Anzahl chin. →Kulis ins Land. Kopfjagd und Piraterie wurden verboten. Die Einrichtung von Schulen wurde bis 1909 den verschiedenen Missionen überlassen, so z. B. der →Basler Mission. Die erste staatliche Schule für Einheimische wurde erst 1915 in Jesselton für die Söhne von einheimischen Oberhäuptern eröffnet und beinhaltete lediglich ein dreijähriges Curriculum in malaiischer Sprache. Die Ausbildung von chin. Schülern blieb ausschließlich Aufgabe 595
n o r dde u t s c he m i s s i o n s g es ells c h A f t
der chin. Gemeinde. 1912 wurde endlich ein legislativer Rat geschaffen, der die wirtschaftlichen Interessen der Pflanzer und Chinesen vertrat. Hingegen gab es keinerlei Versuche bis zum jap. Angriff im Jan. 1942, der einheimischen Bevölkerung größere politische Teilhabe an der Entwicklung N.B.s zuzugestehen. Bereits am 6.1.1942 wurde Jesselton von den Japanern eingenommen, bis Febr. wurde ganz N.B. erobert. Die jap. Militärverwaltung zog sich durch Mißhandlungen und Vergewaltigungen rasch den Unmut der einheimischen Bevölkerung zu. Im Juni 1945 wurden Jesselton und Sandakan durch alliierte Bomber nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Im gleichen Monat landeten australische Truppen auf der Insel Labuan vor Brunei. Sie erreichten Jesselton am 28.9. und Sandakan am 1.10.1945. Nach dem Ende des →Zweiten Weltkriegs übergab die BNBC am 1.7.1946 N.B. als →Kronkolonie an Großbritannien, da sie die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg nicht mehr tragen konnte. Die BNBC wurde nach Begleichung ihrer Schulden aufgelöst. Am 16.9.1963 trat N.B. als Bundesstaat Sabah der Föderation →Malaysia bei, nachdem der einheimischen Bevölkerung Zugeständnisse bei der politischen Mitbestimmung gemacht wurden, wie z. B. die Kontrolle der Einwanderung nach Sabah (auch aus Malaysia selbst), die rechtliche Gleichstellung der indigenen Bevölkerung in der malaysischen Verfassung mit den Malaien u. eine separate öffentliche Verwaltung des Landes. 1962 äußerten die Philippinen Ansprüche auf Sabah, begründet in historischen Beziehungen des Sultanats von Sulu nach N.B. Nach dem Eintritt Sabahs in Malaysia brachen die Philippinen von 1963–1989 die diplomatischen Beziehungen zu Malaysia ab. Durch Vermittlung Großbritanniens konnten zwischenstaatliche Feindseligkeiten vermieden werden, ohne daß allerdings die Philippinen bis heute ihre Forderungen offiziell aufgegeben haben. Lela Garner Noble, Philippine Policy Toward Sabah: A Claim to Independence, Tucson 1977. Rainer Pape, Gustav Frhr. von Overbeck (1830–1894), in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 28 (1959), 163–217. P. J. Rivers, The Origin of ‚Sabah‘ and a Reappraisal of Overbeck as Maharajah, in: Journal of the Malaysian Branch of the Royal Asiatic Society 77 (2004), Heft 1, 67–99. K. G. Tregonning, Under Chartered Company Rule: North Borneo 1881–1946, Kuala Lumpur 1957, Ndr. 2007. HOL GE R WARNK Norddeutsche Missionsgesellschaft (NMG). Von sechs norddt. Missionsvereinen am 9.4.1836 in Hamburg mit überkonfessionellem Charakter gegründet, war die NMG in den ersten Dekaden ihres Bestehens vor große Probleme gestellt: Neben gescheiterten Missionsprojekten in Neuseeland (ab 1842) und Ostindien (1843–1850) kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des lutherischen und des ref. Glaubens, die überdies finanzielle Schwierigkeiten hervorriefen. Am 1.1.1851 erfolgte daher die Neukonstituierung der NMG und die Verlegung ihres Sitzes nach Bremen, wodurch sie in enge Verbindungen mit Bremischen Kaufmannsfamilien – insb. mit der Familie →Vietor – trat. Da die NMG zudem kein eigenes Missionsseminar mehr unter596
hielt, wurden ihre Missionare fortan durch die →Basler Mission ausgebildet. Auch die 1847 in Westafrika unter den →Ewe begonnene Mission erlitt zunächst Rückschläge. Die klimatisch bedingte (→Klima) hohe Mortalitätsrate der Missionare, geringe Missionserfolge sowie der →Ashanti-Krieg (1867–1874) bedrohten den Fortbestand der Arbeit. Erst unter Franz Michael Zahn (1833–1900), Missions-Inspektor 1862–1900, der eine vergleichsweise liberale Missionsauffassung vertrat, nahm die Ewe-Mission einen Aufschwung. Neben dem Ausbau des Stationsnetzes wurde 1882 mit Rudolf Mallet (um 1855–1912) der erste von 14 indigenen Pfarrern („Osofo“) für die Ewe-Kirche bis 1914 ordiniert, und die NMG bildete zudem 1884–1900 im württembergischen Ochsenbach sowie in Westheim afr. Missionsgehilfen aus. Obwohl in Zahns Amtszeit die koloniale Besitzergreifung des Missionsgebiets durch England und Deutschland fiel, distanzierte er sich von einer Kolonialmission im →Schutzgebiet →Togo, was sich in Auseinandersetzungen mit der Kolonialverwaltung über den →Schnapshandel, die Schul- und →Sprachpolitik sowie über Stationsgründungen zeigte. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dessen Folge das Missionsgebiet durch die brit. und frz. Mandatsverwaltung geteilt wurde und die Missionare Westafrika verlassen mußten, ging die Leitung der Arbeit auf die Ewe über. Im Mai 1922 konstituierte sich in der Synode von Palime grenzübergreifend die selbständige „Evangelische Ewe-Kirche“, zu der die NMG 1923–1939 Mitarbeiter entsandte. Nach der nationalsozialistischen Diktatur, während der es innerhalb der NMG zum Kirchenkampf kam, engagierte sie sich zunächst 1953–1971 in Japan, da ihr eine Arbeit in Westafrika untersagt wurde. Erst 1961 bzw. 1964, nach der Selbständigkeit der westafr. Staaten, kehrten auf Bitten der Eglise Evangélique Presbytérienne du Togo und der Evangelical Presbyterian Church (→Ghana) als Nachfolgeorganisationen der Evangelischen Ewe-Kirche wieder NMG-Mitarbeiter nach Westafrika zurück. Deren Unterstellung unter die beiden Kirchenleitungen markierte den endgültigen Wandel zu einer gleichberechtigten Partnerschaft. Rainer Alsheimer, Zwischen Sklaverei und christl. Ethnogenese, Münster u. a. 2007. Dieter Lenz / Eva SchöckQuinteros (Hg.), 150 Jahre Norddt. Mission 1836–1986, Bremen 1986. Werner Ustorf, Die Missionsmethode Franz Michael Zahns und der Aufbau kirchlicher Strukturen in Westafrika, Erlangen 1989. TH O RSTEN A LTEN A
Nordenflycht, Fürchtegott Leberecht Frhr. von, ~ 4. September 1752 Enguren b. Mitau (Jelgava) / Lettland, † nach dem 5. November 1815 (Testament) Madrid, □ Armengrab in Madrid, genauer Ort nicht ermittelbar, ev.-luth. Obwohl die Edelmetallerträge (→Edelmetalle) in vielen Gebieten des kolonialen Hispanoamerika im letzten Drittel des 18. Jh.s anstiegen, sahen die span. BourbonenKg.e v. a. in den Bergbauzentren (→Bergbau) →Perus und Hochperus Handlungsbedarf. Deren Aufschwung verlief u. a. wegen des schlechteren technischen Niveaus niedriger als im →Vize-Kgr. Neuspanien. Neben gesetz-
no rd wes tPA s sA g e
lichen und institutionellen Veränderungen versuchte die Krone seit den 1770er Jahren, veraltete Fördermethoden und die für die minderwertigen Erze unergiebige PatioAmalgamation zu verbessern. Als ein Stolleneinsturz in der Quecksilbermine von →Huancavelica 1786 die Silbergewinnung der südam. Kolonien zurückwarf, entschied →Karl III., den dortigen Bergbau mit Hilfe ausländischer Experten zu modernisieren. So warb 1787 der Spanier Fausto de Elhuyar (1755–1833) u. a. in Wien und Freiberg / Sachsen eine Gruppe von Fachleuten an. An ihrer Spitze stand N., sein ehem. Kommilitone der Freiberger Bergakademie, der einem schwedischen Adelsgeschlecht entstammte und bis 1787 dem polnischen Kg. gedient hatte. Ca. 30 dt. Fachleute, darunter der Metallurg Anton Zacharias Helms und der Chemiker Friedrich Traugott Sonnenschmidt, schloßen sich N. an. Barón Timoteo de Nordenflicht, wie sich N. auf Spanisch nannte, handelte einen Zehn-Jahres-Vertrag aus, der auch Glaubensfreiheit für die Protestanten vorsah. Der Frhr. starb 1815 in Madrid und hinterließ seine in →Chile geborene Frau, María Josefa Cortés y Azúa, und vier Kinder. Die meisten „einfachen“ Bergleute blieben in →Amerika. Insg. war die von N. geleitete Bergexpedition (→Expeditionen) in Peru und Hochperu ein Mißerfolg. Sie scheiterte an technischen Problemen, Facharbeitermangel, hohen Kosten und kreolischer (→Kreole) Opposition (siehe Helms’ Tagebuch einer Reise durch Peru, Dresden 1798). Trotz ihres Sachverstands trugen die Deutschen selbst durch überhebliches, undiplomatisches Verhalten dazu bei. Andererseits stellen ihre Berichte, Statistiken und mineralogischen Sammlungen die erste seriöse internationale Untersuchung zum Thema dar. Dieses Material nutzte z. B. Alexander von →Humboldt auf seiner Amerika-Expedition (1799–1804). In →Mexiko waren die Deutschen dagegen erfolgreicher: Sonnenschmidt, bis 1800 Hüttendirektor in Neuspanien, verbesserte den traditionellen Patio-Prozeß und lehrte in Mexiko-Stadt mit anderen dt. Ingenieuren an der 1792 gegründeten Bergbauschule, die in →Lima nicht zustande kam. Ihre Übersetzungen machten dt. Lehrbücher über Berg- und Hüttenwesen im spätkolonialen Hispanoamerika zugänglich. Rose Marie Buechler, Technical Aid to Upper Peru: the Nordenflicht Expedition, in: Journal of Latin American Studies 5 (1973), 37–77. Renée Gicklhorn, Die Bergexpedition des Frhr. von Nordenflycht und die dt. Bergleute in Peru, Leipzig 1963. Manuel Torres Marín, Los de Nordenflycht. Ensayo de genealogía descriptiva. Santiago de Chile 1986. OT TO DANWE RT H Nordmarianen →Northern Marianas Nordostpassage. Die N. ist eine 6 500 km lange Seeroute im Nordpolarmeer, die sich vom Weißen Meer bis zur Beringstraße erstreckt. Erste Erforschungen eines Seeweges nach China durch das Nordpolarmeer unternahmen engl. und ndl. Seefahrer im 16. Jh. William Barents erreichte im Juli 1594 die Insel Nowaja Semlja. Der Teil des Nordpolarmeeres, der zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja liegt, wurde Barents-See genannt. Ein weiteres Vordringen nach Osten war auf Grund des
Packeises nicht möglich. Die Mannschaft war gezwungen zu überwintern. Fünf Teilnehmer der →Expedition, darunter Barents, starben. Die Überlebenden der Mannschaft konnten sich auf die Halbinsel Kola retten und wurden dort von einem Schiff Willem Corneliz Schoutens nach Holland zurück-gebracht. Weiter nach Osten drangen v. a. russ. Seefahrer vor. 1648 umsegelte Semjon →Deschnjow die Tschuktschen-Halbinsel. Die eigentliche Erforschung und Kartographierung der Küste des Nordpolarmeeres erfolgte durch die 2. →Kamtschatkaexpedition unter Vitus →Bering. Eine erste Durchfahrt der gesamten Strecke gelang erst Adolf Erik Nordenskiöld 1878/79, allerdings mit Überwinterung. Erst im 20. Jh. war auf Grund der technischen Neuerungen eine Durchfahrt mittels eines Eisbrechers (der sowjetischen „Sibirjakow“, 1932) auch ohne Überwinterung möglich. Die sowjetische Reg. erkannte die strategische Bedeutung des nördlichen Seeweges und richtete eine Hauptverwaltung „Nördlicher Seeweg“ ein. Ziel war es, die Seeroute zu kontrollieren und die natürlichen Ressourcen des hohen Nordens zu erschließen. In den 1950er und 1960er Jahren wurden die Häfen Dikson, Tiksi und Prowidenija ausgebaut. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 führte zum Niedergang der N. und der Hafenstädte. Nach 2005 verbesserten sich allerdings die allgemeinen Voraussetzungen für die Befahrbarkeit der N., die im Sommer zunehmend länger eisfrei wurde. Der chines. Containerfrachter Yong Sheng durchquerte 2013 als erstes Handelsschiff die N. ohne Unterstützung durch Eisbrecher. Richard Hakluyt / Edmund Goldsmid, The Principal Navigations, Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation, Bd. 2–4: North Eastern Europe and Adjacent Countries, the Muscovy Company and the North Eastern Passage, Edinburgh 1886. Adolf Erik Nordenskiöld, Die Umsegelung Asiens und Europas auf der Vega mit einem historischen Rückblick auf frühere Reisen längst der Nordküste der Alten Welt, Leipzig 1882. EVA -MA R IA STO LB ER G
Nordrhodesien →Sambia Nordsalomonen →Bougainville Nordwestpassage. Bezeichnung für den Seeweg, der entlang der Nordküste →Amerikas →Atlantik und Pazifik verbindet; die seit Ende des 15. Jh.s betriebene Suche nach der N. war ursprünglich von der Absicht geleitet, einen kürzeren Seeweg nach →Indien zu finden. Giovanni →Caboto suchte 1497/98 im Auftrag Heinrichs VII. von England als erster die N., kam aber nur bis Neufundland. Im Auftrag der frz. Krone erreichte Jacques →Cartier 1534/35 den St.-Lorenz-Golf und das heutige Quebec. Engl. Fahrten unter Martin Frobisher (1576–1578) und John Davis (1585–1587) erreichten die Baffin-Insel, gelangten aber nicht darüber hinaus. Henry Hudson, der dabei Opfer einer Meuterei seiner Mannschaft wurde, erreichte 1611 die nach ihm benannte Hudson Bay. Deren Größe verleitete wegen der noch geringen Kenntnis über den Umfang Nordamerikas viele weitere N.-Sucher im 17./18. Jh. zu der irrigen Annahme, sie sei mit dem Pazi597
n o rt h e r n m Ar i An A s
fik verbunden. Der Versuch James →Cooks, die N. vom Pazifik aus zu finden, scheiterte 1776. 1819 erreichte Edward Parry die Melville-Insel, während →Expeditionen von John Franklin u. a. in den 1820er und 1830er Jahren genaue Kenntnisse über Erstreckung und Verlauf der Nordküste →Kanadas erbrachten. Diese Kenntnisse machten das ursprüngliche ökonomische Motiv, einen kürzeren Seeweg zum Pazifik zu finden, obsolet, doch wurde die Suche nach der N. aus wissenschaftlichem Interesse fortgesetzt. 1850 gelangte Robert McClure vom Pazifik aus zur Melville-Insel, die Parry 1819 von England aus erreicht hatte. Damit war im Prinzip eine Passagenroute bekannt, die für ständige Benutzung aber ungeeignet war, weil sie zu weit nördlich, d. h. streckenweise jenseits der Dauerfrostgrenze, lag. Die N., die komplett südlich der Dauerfrostgrenze lag, als erster Mensch zu passieren, blieb Roald →Amundsen vorbehalten (1903– 1906). Edward Struzik / Mike Beedell, Die Nordwestpassage, Braunschweig 1991. George M. Thomson, Die Suche nach der Nordwestpassage, München 1982. CHRI S TOP H KUHL
Norfolk Island →Australien Northern Marianas. Northern Mariana Islands, Commonwealth of the Northern Mariana Islands (CNMI), Bund der Nördlichen Marianen in →Mikronesien, selbstverwaltetes inkorporiertes Territorium der →Vereinigten Staaten mit innerer Autonomie seit 3.11.1986 und Aufhebung der →Treuhandschaft der UN (Trust Territory of the Pacific Islands, TTPI) 1990, bestehend aus 14 Inseln sowie 27 Kleininseln und 61 Felsen, die sich in nordsüdlicher Richtung über eine Distanz von ca. 543 km erstrecken. Hauptinsel Saipan mit der Hauptstadt bzw. dem Verwaltungszentrum Garapan/Susupe. Hohe Inseln die eine fortlaufende Kette bilden, mit vulkanischem Gestein und teilweise aktiven Vulkanen (v. a. auf den nördlichen Inseln) sowie Kalkformationen (südliche Inseln) und häufig vorgelagerten Saum- und Barrier-Riffen. Saipan hat als einzige Insel eine größere Lagune. Gesamtlandfläche: ca. 457 km². Größte Insel: Saipan (122,9 km²), kleinste Insel: Farallon de Medinilla (0,85 km²). Von Norden gegen Süden gehören folgende Inseln zu den N. M.: Farallon de Pajaros, Maug, Asuncion, Agrihan, Pagan, Alamgagan, Guguan, Sarigan, Anatahan, Farallon de Medinilla, Saipan, Tinian, Aguijan und Rota. Das geographisch zu den Marianeninseln zählende, am südlichsten liegende Guam, ist politisch nicht Teil der Nördlichen Marianen. Überwiegend subtropisches →Klima mit Temperaturen um die 27° C, das den Anbau von Kulturpflanzen wie Kokospalme, Pandanus, Brotfrucht, Zitrusfrüchte ermöglicht. Gesamtbevölkerung (2004): ca. 78 800 Ew., bestehend aus indigenen Chamorro, die aber mit ca. 40 % nicht die Mehrheit im Land darstellen sowie von den →Karolinen (überwiegend von Yap, →Föderierte Staaten von →Mikronesien) stammende Ew., Filipinos, Japaner sowie anderen Asiaten und Europäern. Bevölkerungswachstum in den 1990er Jahren: 2,7 %; Geburtenrate (2004): ca. 2 %; Sterberate (2004): 0,2 %. Bevölkerungsdichte (2004): ca. 180 Ew./km². Sprachen: 598
→Chamorro, Yapesisch, mikronesische Dialekte; daneben Englisch als Amtssprache und teilweise Japanisch. Religion: ca. 90 % Katholiken, der Rest verteilt sich auf Protestanten, Bahai u. andere Religionen. Die Ew. sind US-Bürger, jedoch ohne Stimmrecht in den USA. Das Parlament besteht aus einem Repräsentantenhaus mit 18 Abgeordneten, die alle 2 Jahre gewählt werden. Der dem CNMI vorstehende Gouv. wird alle 5 Jahre gewählt. Die gesetzgebende Versammlung besteht aus dem Senat (9 gewählte Mitglieder aus den drei Distrikten) und einem House of Representatives (15 allg. gewählte Mitglieder). CNMI entsendet einen gewählten Repräsentanten in den Kongreß nach Washington. Das Land ist in 3 Distrikte gegliedert: 1) Rota, 2) Tinian und Aguijan, 3) Saipan und die nördlichen Inseln. Die Wirtschaft ist extrem abhängig von den USA. →Tourismus existiert nur auf wenigen Inseln und konzentriert sich auf Saipan, Tinian und Rota. Früheste Geschichte und Gegenwart: Besiedlungsspuren weisen in das zweite vorchristl. Jahrtausend; die Besiedlung erfolgte aus dem südostasiatischen Raum. Die Chamorro-Bevölkerung weist starke Ähnlichkeit mit Indonesiern, Malayen und Filipinos auf. Eine der frühesten archäologischen Funde in der Region überhaupt befindet sich nahe Chalan Piao auf Saipan und bestätigt eine Besiedlung vor mindestes 1527 v. Chr. Archäologisch interessante latte-Steinsäulen, als Zeugen der voreuropäischen Besiedlung von ca. 1000–1500 n. Chr., finden sich überwiegend auf Saipan, Tinian und Rota. Für Europa entdeckt von Ferdinand Magellan am 6.3.1521. Von Miguel de Legaspi (San Pedro) 1565 zusammen mit den übrigen Marianeninseln für Spanien in Besitz genommen. Frühe europäische Besuche u. a. 1588 durch den Engländer Thomas Cavendish und 1600 durch die ndl. Flotte unter Kommando von Oliver van Noort. Erste rk. Missionierungsversuche durch Fray Antonio de los Angeles (1596) und Fray Juan Pobre de Zamora (1602). Ab 1668 systematische christl. Mission durch Diego Louis de Sanvitores und die →Jesuiten mit fatalen Folgen für die Widerstand leistenden Chamorro. Bis 1698 wurden die meisten Inseln entvölkert und die überlebenden Chamorro nach Guam gebracht. Spätere Neuansiedlung von Bewohnern der Karolinen sowie die Vermischung mit Europäern und Asiaten brachte die Chamorro-Bevölkerung weitgehend zum Verschwinden. 1899 wurden die Marianen von Spanien an das Dt. Reich verkauft, welches die Kopraindustrie forcierte. Ab 1914 im jap. Einflußbereich; ab 1920 Mandatsgebiet der Japaner. Diese investierten massiv in den Ausbau der Zuckerrohrindustrie (→Zucker) und der Infrastuktur sowie in den Aufbau militärischer Anlagen. Im →Zweiten Weltkrieg wurden v. a. die strategisch wichtigen Saipan und Tinian in Mitleidenschaft gezogen. Ab 1945 Teil des USverwalteten Trust Territory of the Pacific Islands (TTPI). Seit 1978 (1986) in einem Commonwealth mit den USA. Das Land steht in enger Abhängigkeit zu den USA, die sich auch in Zukunft erhalten wird. Die Entwicklungsperspektiven sind eingeschränkt und erstrecken sich v. a. auf die Intensivierung des Tourismus. Das hohe Bevölkerungswachstum ist ein Problem, welches sich derzeit v. a. durch Abwanderung in die USA löst, jedoch in Zukunft auf Grund fehlender Ausbildungs- und Arbeitsperspek-
n o uA k ch o tt
tiven signifikant verschärfen wird. Saipan zählt zu den bevölkerungsmäßig am schnellsten wachsenden Inseln des Pazifiks. Hermann Costenoble, The Marianas, Guam 1981. Lawrence J. Cunningham, Ancient Chamorro Society, Honolulu 1992. Teresa del Valle, Die Marianen, in: Gabriele Weiss / Carmen Petrosian-Husa (Hg.), Strahlende Südsee, Wien 1996. Howard P. Willens / Deanne C. Siemer, An Honorable Accord, Honolulu 2002. HE RMANN MÜCKL E R
North-West Frontier-Province (Nordwest-Grenzprovinz). Die N.W.F.P. als Ergebnis kolonialer Grenzziehungen bildet eine der nördlichen Provinzen des heutigen →Pakistan mit einer Gesamtfläche von 74 521 km² (656 km Länge, 449 km Breite). Begrenzt wird das waldreiche Gebiet durch den Hindukusch im Norden, →Kaschmir und →Panjab im Osten, Belutschistan im Süden und Afghanistan im Westen. Früh als Grenzregion von verschiedenen rivalisierenden Reichen beansprucht, stand die N.W.F.P. seit dem 11. Jh. unter dem Einfluß musl. Herrscher, u. a. des →Delhi-Sultanats und später der →Moguln. 1818–1834 suchten die Sikhs (→Sikhismus) die Region zu erobern, bis schließlich 1849, nach dem Sieg über die Sikhs, die brit. Kolonialmacht die Herrschaft übernahm und sie mit Panjab vereinigte. Auf Befehl des Vize-Kg.s Lord Curzon wurden 1901 5 Distrikte (Hazara, Peshawar, Kohat, Bannu, Dera Ismail Khan) und 5 Agencies (Malakand, Khyber, Kurram, SüdWaziristan, Nord-Waziristan) zur N.W.F.P. zusammengefaßt. Sie wurden zu einer strategisch wichtigen Grenzregion in den Auseinandersetzungen mit Rußland und Afghanistan. Von den ca. 5 Mio. größtenteils ländlichen Ew. waren 93 % Muslime und 7 % Nicht-Muslime. Die Mehrheit der Bevölkerung bildeten die sog. Paschtunen (auch: Pathanen) die die gemeinsame Sprache Paschtu sprechen und sich auch durch anti-brit. Bewegungen von anderen musl. Gruppen abgrenzten. Im späten 19. Jh. bildete sich eine sozio-politische Militanz gegen das →British Raj heraus, die sich in der Unterstützung der Hijrat- und →Khilafat-Bewegung in weiten Bevölkerungsteilen zeigte und zur Gründung der Khudai Khidmatgar Bewegung Abdul Ghaffar →Khans führte, die soziale Mißstände und die brit. Vormacht beheben, sowie einen unabhängigen Staat Paschtunistan gründen wollte. Nach einigen gewalttätigen Auseinandersetzungen Anfang der 1930er Jahre und der Umwandlung in eine Governors’s Province 1932 schloß sich die Bewegung zunächst dem →Indian National Congress an. Mit der →Teilung Brit.-Indiens trat die Region trotz eigener Autonomieansprüche nicht ohne innere Widerstände 1947 dem neu gegründeten Pakistan bei. Stephen Rittenberg, Ethnicity, Nationalism and Pukhtuns, Durham 1988. Sayed W. A. Shah, North-West Frontier Province, Islamabad 2007. S AYE D WI QAR AL I S HAH
Northwest Ordinance. Die N. O. vom 13.7.1787 legte die verfassungsrechtlichen und demographischen Voraussetzungen fest, die für einen erfolgreichen Antrag auf Aufnahme eines Territoriums in die →Vereinigten Staa-
ten von Amerika erfüllt sein mußten. Ihr vorausgegangen war die O. von 1785, die den Begriff „Territorium“ als der Konföderation der Vereinigten Staaten unterstehenden Raum bestimmte und deren Vermessung autorisiert hatte. Daraus leitete der Kongreß 1787 sein Recht ab, für die Territorien eine Verfassungsform und die Regeln für die Aufnahme in die Union festzuschreiben. Die N. O. sah ein dreistufiges Modell vor. Bis die Bevölkerung eines Territoriums eine Bevölkerung von 5 000 freien weißen Siedlern erreicht hatte, sollte es unter der Oberaufsicht des Kongresses von einem vom Kongreß eingesetzten Gouv., einem Sekretär und einem Gremium von drei Richtern verwaltet werden. War die Zahl von 5 000 Siedlern erreicht, konnte eine territoriale Abgeordnetenkammer als Legislative gewählt werden. Der Gouv. wurde immer noch vom Kongreß bestimmt. Erst wenn 60 000 freie weiße Siedler in dem Territorium wohnten, konnte das Territorium einen Antrag auf Aufnahme in die Union stellen, und eine Verfassung für ein republikanisch geordnetes Gemeinwesen ausarbeiten. Die N. O. von 1787 schuf die Rahmenbedingungen für die geordnete Expansion der Vereinigten Staaten. Das Dreistufenmodell für die Verfassung der Territorien bildete eine Art Blitzdurchgang durch die Entwicklung von einem autokratischen zu einem republikanischen Gemeinwesen als einer Rekapitulation der Erfahrungen der am. Siedler als Kolonisten und Bürger freier Rep.en. Peter S. Onuf, Föderalismus und Expansionspolitik in Amerika, in: Hermann Wellenreuther / Claudia Schnurmann (Hg.), Die Am. Verfassung und dt.-am. Verfassungsdenken, New York 1991, 54–78. Hermann Wellenreuther, „First Principles of Freedom“ und die Vereinigten Staaten als Kolonialmacht 1787–1803, in: Erich Angermann (Hg.), Revolution und Bewahrung, München 1979, 89–188. H ERMA N N WELLEN REU TH ER Nouakchott. Am →Atlantik gelegene Hauptstadt Mauretaniens mit ca. 750 000 Ew. (2009), was mehr als ⅓ der gesamten Staatsbevölkerung entspricht. N. ging aus einem Fischerdorf hervor, das vergleichsweise günstige Bedingungen für territoriales Wachstum und die Anlage eines Überseehafens bot. 1959 hatte N. ca. 30 000 Ew., deren Zahl sprunghaft anwuchs, als es 1962, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit Mauretaniens von Frankreich, Kapitale des neuen Staatswesens wurde. 1970 wurde die Zahl 40 000 überstiegen, und seitdem verzeichnete die Stadt ein jährliches Wachstum von 15–20 %. Die Tatsache, daß Mauretanien als eines der ärmsten Länder der Welt nur über äußerst geringe Anbauflächen verfügt und der hohe Anteil der Pastoralnomaden an der Bevölkerung kaum Überschüsse erwirtschaftet und zunehmend durch Dürren bedroht ist, steigert die Landflucht in die Metropole N. Verstärkt wird die Sogwirkung durch die nach wie vor in erheblichem Umfang fortbestehenden gesellschaftlichen Gegensätze mit sklavereiähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen in ländlichen Regionen und durch ethnische Konflikte in den Randzonen zu →Senegal und →Mali. Als Alternative zur Ansiedlung in N. gilt durchweg nur die Arbeitsmigration nach Westafrika, in den Mittleren Osten oder nach Westeuropa (ca. 600 000 Mauretanier leben im Ausland). Die meisten Neuan599
n o vA rA -e � P e d i t i o n
kömmlinge sind gezwungen, sich in Vorstadtvierteln (Kebba) anzusiedeln, die einen eklatanten Mangel an Infrastruktur aufweisen. Obwohl die Stadt in der Nähe des Trarza-Sees angelegt ist, stellt die Wasserversorgung ein kaum lösbares Problem dar. Arbeitsmöglichkeiten in nicht ausreichendem Umfang bieten die Verwaltungsund Dienstleistungssektoren, Bildungseinrichtungen, wie seit 1983 eine Universität, See- und Flughafen, Import, Export und Fischindustrie. Staatliche Planungen und Fördermaßnahmen zur Rücksiedlung von KebbaBewohnern in ihre ländlichen Herkunftsgebiete zeigten bislang kaum Erfolg. UL RI CH BRAUKÄMP E R Nouvelle France →Kanada Novara-Expedition. Nach dem österr. Marineforschungsschiff SMS Novara benannte, 1857–1859 durchgeführte Weltumseglung und umfassende Forschungsexpedition. Diese größte und publikusmwirksamste Weltumseglung der österr. Kriegsmarine wurde v. a. durch die in mehreren Sprachen veröffentlichten Werke sowie die reiche wissenschaftliche Ausbeute bekannt. Initiator dieser Reise war der damalige Oberbefehlshaber der k.k. Kriegsmarine, Erzherzog Ferdinand →Maximilian. Durchgeführt wurde die →Expedition mit der 1843 auf Kiel gelegten und 1850 vom Stapel gelaufenen Fregatte N., die ihren Namen zum Andenken an den österr. Sieg bei N. durch Feldmarschall Radetzky und die Kapitulation →Venedigs 1849 erhalten hatte. Für die Weltumsegelung war das Schiff 1856 umgebaut worden, wobei das Deckshaus vergrößert und auf dem Batteriedeck eine Bibliothek eingerichtet wurde. Hervorzuheben ist, daß das Trinkwasser erstmals nicht in Fässern, sondern in eisernen Behältern aufbewahrt wurde, was eine Mehr-Kapazität bei gleichem Platzbedarf ergab. Auch einen Destillierapparat zur Gewinnung von Trink- aus Seewasser war an Bord, ebenso spezielle Duscheinrichtungen. Die Reise selbst stand unter dem Kommando von Kommodore Bernhard von Wüllerstorf-Urbair. Die u. a. auch von der Ksl. Akademie der Wissenschaften in Wien vorbereitete und von Wissenschaftlern wie dem Geologen Ferdinand von →Hochstetter, dem Zoologen Georg von Frauenfeld sowie dem Expeditionsmaler Joseph Selleny begleitete Forschungsreise war die erste Weltumsegelung eines dt.-sprachig geführten Schiffes. Die N. verließ Triest am 30.4.1857 und segelte über Gibraltar, Madeira, →Rio de Janeiro zum →Kap der guten Hoffnung. Im →Ind. Ozean besuchte die Expedition vom 19.11. bis 6.12.1857 die Inseln St. Paul und Amsterdam. Über Ceylon und →Madras wurde →Singapur angesteuert. Von dort ging es weiter nach →Java, →Manila, →Hongkong, Shanghai und die melanesischen →Salomoninseln. Am 5.11.1858 gelangte die Fregatte nach Sydney. Von dort wurde der Pazifik, nach einem Aufenthalt in Auckland, überquert und das damals bereits unter frz. Verwaltung stehende Tahiti angelaufen. Die Rückreise führte über Valparaíso und um das Kap Hoorn zu den Azoren und zurück nach Europa. Am 26.8.1859 lief die N. wieder in Triest ein. Der Verdienst der Expedition liegt in der Fülle an kartographischen, geologischen sowie zoologischen und botanischen Ergebnissen, die durch die umfangreichen 600
Erhebungen an den zahlreichen Orten erbracht wurden. Geologische Untersuchungen, insb. auf der Sankt-PaulInsel, den Nikobaren (→Andamanen und Nikobaren) und auf Neuseeland (→Aotearoa) schufen die Grundlagen für künftige Forschungen und die Ausbeutung von Erzlagerstätten. Insb. die geologischen Kartierungen und Lagerstättenuntersuchungen durch Ferdinand von Hochstetter, der bis zum Okt. 1859 in Neuseeland blieb, gelten als Startpunkt für die intensive geowissenschaftliche Erforschung dieses Landes. Die ozeanographischen Forschungen, insb. im südlichen Pazifik, erbrachten Substantielles für die Ozeanographie und Hydrographie. Die mitgebrachten Sammlungen an botanischem, zoologischem und völkerkundlichem Material bereicherten die österr. Museen, v. a. das Naturhistorische Museum Wien. Die während des ganzen Expeditionsverlaufes gemachten erdmagnetischen Beobachtungen vermehrten die wissenschaftlichen Kenntnisse auch auf diesem Gebiet nachhaltig. Die wissenschaftlichen Resultate der Reise wurden in einem Werk der Wiener Akademie der Wissenschaften veröffentlicht (21 Bde.), dessen erster Teil (3 Bde.) eine populärwissenschaftliche Beschreibung der Reise vom Forschungsreisenden und Diplomaten Karl von Scherzer war. Die jüngst erstmals beleuchteten politischen Hintergründe dieser Weltumseglung, nämlich das Ausloten einer Wiederinbesitznahme der Nikobareninseln, die damals in dän. Besitz und davor eine zeitlang von Österreich beansprucht worden waren, geben der Expedition eine zusätzliche Wendung. Bis heute sind noch nicht alle mitgebrachten Sammlungen und Aufzeichnungen aufgearbeitet und publiziert worden. So fehlt bislang die Veröffentlichung des ethnologischen Teils der Expedition. Q: Ferdinand von Hochstetter, Gesammelte Reise-Berichte von der Erdumsegelung der Fregatte „Novara“ 1857–1859, Wien 1885. Karl von Scherzer, Reise der Österr. Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858 und 1859 unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllersdorf-Urbair, 3 Bde., Wien 1864. L: David G. L. Weiß / Gerd Schilddorfer, Die Novara, Wien 2010. H ER MA N N MÜ CK LER
Nürnberg. Als eine der größten süddt. Städte, Wirtschaftsmetropole, Zentrum des Verlags- und Nachrichtenwesens sowie als wichtiger Produktionsort für astronomische und nautische Instrumente hatte die fränkische Reichsstadt v. a. zwischen dem späten 15. und 17. Jh. vielfältige Beziehungen zur überseeischen Welt. Martin →Behaim ging um 1480 mit umfassenden astronomischen und nautischen Kenntnissen nach Portugal, nahm 1484/85 an einer port. Afrikaexpedition teil und fertigte 1492 seinen berühmten →Globus an. Nach der Entdeckung →Amerikas und des Seewegs nach →Indien errichteten Nürnberger Handelshäuser Niederlassungen (Faktoreien) in Antwerpen und Lissabon, um von der Verlagerung der Handelsrouten zu profitieren. Die Imhoff und Hirschvogel beteiligten sich 1505 an einer port. Indienfahrt; in den folgenden Jahrzehnten reisten wiederholt N.er Kaufleute und Handelsdiener nach Indien, u. a. Lazarus →Nürnberger, Jörg Pock, Jörg Imhoff und Gabriel Holzschuher. Im 17. Jh. bot der Dienst in der
o Au
ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) neue Karriereoptionen. Johann Sigmund Wurffbain, 1632–1646 als VOC-Angestellter auf den →Banda-Inseln und in Surat, und Johann Jakob Saar 1645–1660 im Dienst der VOC auf Ceylon und den →Molukken, verfaßten Reiseberichte, die in N. gedruckt wurden. Auch die Entdeckung und →Eroberung Amerikas zog frühzeitig das Interesse N. Kaufleute auf sich: Die Gesellschaft Jakob →Welsers beteiligte sich 1534/35 an der Expedition Pedro de Mendozas ins La Plata-Gebiet, Bartholomäus Blümel (Flores, 1506–1585) ging 1528 als Handelsagent Lazarus Nürnbergers nach Santo Domingo (→koloniale Metropolen), reiste 1536 nach →Peru und schloß sich dort Pedro de Valdivias Eroberungszug nach →Chile (1540/41) an, wo er ausgedehnten Landbesitz erwarb. Der Patrizier Hans Tetzel (1518–1571) reiste 1542 nach Westindien und erprobte nach seiner Rückkehr das Schmelzen von kubanischem Kupfererz. 1546 schloß er mit der span. Krone einen Vertrag, der ihm zehn Jahre lang exklusive →Bergbau- und Schmelzrechte auf der Insel einräumte. Zur Finanzierung des Unternehmens gründete er mit vier Verwandten und Lazarus Nürnberger eine Handelsgesellschaft, die ein Kupferhüttenwerk unweit von Santiago de Cuba errichtete. Das Unternehmen florierte für einige Jahre, ehe es frz. Korsarenangriffe auf →Kuba und Naturkatastrophen in Schwierigkeiten brachten. Egidius Arnold (ca. 1550–1608) hielt sich als Handelsverteter und Bergbauexperte in Peru auf, von wo er 1589 nach N. zurückkehrte. In N. selbst sammelten und ordneten Gelehrte das Wissen über die überseeische Welt, im 16. Jh. etwa der Humanist Johannes Schöner, im folgenden Jh. der produktive Schriftsteller Erasmus →Francisci und im 18. Jh. der vielseitige Gelehrte Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811), der u. a. Arbeiten zur Entdeckungsund Missionsgeschichte verfaßte. N.er Verleger druckten →Weltkarten, Reisebeschreibungen und „Neue Zeitungen“, die über Ereignisse in Übersee berichteten. Christine R. Johnson, The German Discovery of the World, Charlottesville / London 2008. Helmut Neuhaus (Hg.), Nürnberg, Nürnberg 2000. MARK HÄBE RL E I N Nürnberger, Lazarus, ~ 5. März 1499 Neustadt/Aisch, † 1564 Sevilla, □ unbek., rk. N. begann seine kaufmännische Laufbahn als Handelsdiener der Nürnberger Hirschvogel-Gesellschaft. Wahrscheinlich in deren Auftrag nahm er 1517/18 an einer port. Expedition nach Ostindien teil. 1520 übersiedelte er von Lissabon nach Sevilla, wo er eine Tochter des dt.stämmigen Buchdruckers Jakob →Cromberger heiratete. 1525 erhielten Cromberger und N. als erste Deutsche die Erlaubnis, eigenständig mit den span. Kolonien in Amerika Handel zu treiben. N. entsandte Vertreter nach Santo Domingo (→koloniale Metropolen), handelte mit am. →Perlen und Edelsteinen und vertrat die Interessen großer oberdt. Handelshäuser in Sevilla. Ein Unternehmen, das er seit 1535 gemeinsam mit seinem Schwager Hans Cromberger und Christoph Raiser aufbaute, umfaßte Silberbergwerke in Zultepeque (→Mexiko) und eine Faktorei in Nombre de Dios (→Panama). 1546 beteiligte er sich an der Kupferhütte des Nürnbergers Hans Tetzel auf →Kuba. Ferner stand er in geschäftlichem Kontakt mit
dem Seefahrer Sebastian Cabot (→Caboto) und betätigte sich im →Sklavenhandel. Mark Häberlein, Lazarus Nürnberger, in: NDB, Bd. 19, Berlin 1999, 372f. Enrique Otte, Jacob und Hans Cromberger und Lazarus Nürnberger, die Begründer des dt. Amerikahandels, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 52 (1963/64), 129–162. MA RK H Ä BER LEIN
Nyassaland →Malawi Nyerere, Julius Kambarage, * 13. April 1922 Butiama / Tansania, † 14. Oktober 1999 London, □ Mausoleum in Butiama Village, Victoriasee, rk. Der bekannteste tansanische Politiker wurde als Sohn eines Oberhauptes der kleinen →Ethnie Zanaki nahe dem Ostufer des Victoriasees geboren. Als erster Tanganjikaner studierte er von 1949 bis 1952 in Großbritannien an der Universität Edinburgh. Zunächst wurde N. Lehrer, entwickelte aber auch bald politische Aktivitäten und gründete 1954 die Tanganyika African National Union (TANU) als nationale Massenpartei. 1960 wurde er Ministerpräs., 1962 Staatspräs. des 1961 unabhängig gewordenen Tanganjika und 1964 auch Staatspräs. der aus dem Zusammenschluß von Tanganjika und →Sansibar entstandenen Vereinigten Rep. →Tansania. 1965–1980 wurde N. in dieses Amt wiedergewählt; 1985 trat er zurück. Auf seine Anregung hin vereinigten sich 1977 die TANU und die Afro-Shirazi Party (ASP) Sansibars zur CCM (dt.: „Partei der Revolution“ oder „Revolutionäre Staatspartei“), deren Vorsitzender N. wurde und bis 1990 blieb. Während seiner Amtszeit bestimmte er die Politik, den Premierminister und die Minister des Kabinetts. N. strebte den Aufbau einer spezifisch afr. sozialistischen Gesellschaft nach dem Vorbild der ujamaa, der traditionellen Dorfgemeinschaft an. Bereits 1967 hatte er seine Überzeugung in der „Deklaration von Arusha“ propagiert. Obwohl diese Vision sich nicht realisieren ließ, blieb auch dank seiner Politik des Ausgleichs Tansania immerhin nach der Unabhängigkeit ein Bürgerkrieg erspart. Wegen seines ursprünglichen Berufs war N. in Tansania als Mwalimu (→Ki-Suaheli: Lehrer) bekannt, aber auch als „Vater der Nation“. 2009 verlieh ihm die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Ehrentitel „World Hero of Social Justice“. Julius Nyerere, Freedom and Socialism, Daressalam / Oxford 1968. William Edgett Smith, We Must Run While They Walk. A Portrait of Africa’s Julius Nyerere, New York 1971. G ISELH ER BLESSE OAU. Die OAU (Organization of African Unity, frz. Organisation de l’Unité Africaine), war von 1963 bis 2001 eine panafr. Einrichtung, deren Sitz sich in →Addis Abeba in →Äthiopien befand. Dort war die OAU am 25.5.1963 von 30 Staats- und Reg.schefs gegründet worden. Ihre Ziele waren, die Einheit und die Solidarität der afr. Staaten zu fördern, ihre Zusammenarbeit zu koordinieren, die Unabhängigkeit und die Souveränität der Staaten zu verteidigen, den →Kolonialismus in Afrika zu beseitigen, die →Menschenrechte zu berücksichtigen und die internationale Kooperation zu fördern. Die 601
oA�AcA
Konferenz der Staats- und Reg.schefs stellte die oberste Instanz dar. Das Generalsekretariat leitete die administrativen Angelegenheiten. Der erste Sekretär war Kifle Wodajo aus Äthiopien. 1963–2001 amtierten neun Generalsekretäre. Weitere Organe der OAU waren der Ministerrat, der die Beschlüsse der jährlichen Konferenz vorbereitete und ausführte, sowie die Vermittlungs-, Versöhnungs- und Schlichtungskommission. Fünf Sonderkommissionen (Wirtschaft, Erziehung, Gesundheit, Verteidigung, Wissenschaft) wurden eingesetzt. Das Hauptproblem der OAU war neben der umfangreichen Bürokratie, daß die von ihr definierten Prinzipien in die Realität wenig umgesetzt wurden. Bis zu ihrer Auflösung war die OAU kontinentweit mit Putschen, Kriegen und Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Hinzu kamen interne Krisen. 1964 entstanden z. B. Meinungsverschiedenheiten, als er darum ging, einheitlich Stellung zum arab.-israelischen Konflikt zu beziehen. 1985 trat →Marokko als Reaktion auf die Aufnahme der →Westsahara aus der Organisation aus. Die OAU wurde im Juli 2001 nach der letzten Gipfelkonferenz durch die Afr. Union (AU) abgelöst, deren Sitz sich ebenfalls in Addis Abeba befindet. Marianne Cornevin, Histoire générale de l’Afrique contemporaine, Paris 1972. Joseph Ki-Zerbo, Die Geschichte Schwarzafrikas, Frankfurt/M. 1981.
Verkehrsinfrastruktur, insb. die Eisenbahnlinie →Abidjan-Niger, die 1934 Bobo-Dioulasso und 1954 →Ouagadougou erreichte, diente der Beförderung von Gütern und Zwangsarbeitern zu den Plantagen und Häfen an der Küste. 1932 wurde O. zwischen der →Elfenbeinküste, →Niger und →Mali aufgeteilt. Naaba Kom II. und sein Nachfolger Naaba Saaga II., die damaligen Kg.e der politisch dominanten →Ethnie der Mosi, setzten sich aber für die Wiederherstellung O.s in den Grenzen von 1932 ein, was erst 1947 geschah. Nach der Proklamation der Rep. im Dez. 1959 erlangte O. am 5.8.1960 die Unabhängigkeit. Die politische Lage des Landes war bis 1983 durch Instabilität geprägt. Das autoritäre Regime des ersten Präs. Maurice Yaméogo wurde 1966 von Militärs unter General Sangoulé Lamizana abgelöst. Lamizana wurde 1978 als Präs. durch Wahlen bestätigt und regierte bis zu seinem Sturz durch Saye Zerbo im Nov. 1980. 1982 wurde die Reg. Saye Zerbos durch einen Putsch von Jean-Baptiste Ouédraogo abgesetzt, 1983 ergriff Hauptmann Thomas Sankara die Macht. Die kommunistisch orientierte Reg. Sankaras, die sich für die →Emanzipation der Unterprivilegierten einzusetzen versprach, änderte am 4.8.1984 den Staatsnamen in →Burkina Faso. Salfo Albert Balima, Genèse de la Haute-Volta, Paris 1969. Daniel Miles McFarland, Historical Dictionary of Upper Volta (Haute Volta), London 1978.
YOUS S OUF DI AL L O
Y O U SSO U F D IA LLO
Oaxaca. 1486 gründeten Soldaten des Aztekenherrschers Ahuizotl im Valle Central der Sierra Madre del Sur die Siedlung Huaxyacac („von Wald bedeckt“), später namensgebend für die Stadt und die Region. Die südmexikanische Region erlebte schon unter den Zapoteken und später den Mixteken im ersten Jahrtausend n. Chr. eine große Blütezeit mit herausragenden religiösen Zentren wie Monte Albán und Mitla. Nach der →Eroberung 1521 errichteten die Spanier in Antequera einen zentralen Stützpunkt (1526/28 Villa, 1532 Ciudad). 1529 erhielt in unmittelbarer Nachbarschaft Hernán →Cortés große Lehensgebiete und den Titel eines Marqués del Valle de O. (mit dem Hauptort Villa de O.). 1535 wurde Antequera Bischofsitz. Baugeschichtlich herausragend ist die seit 1575 errichtete Dominikanerkirche Santo Domingo. Die Region blieb stark durch indigene Landwirtschaft geprägt, insb. durch die Kultivierung der Farbstofflaus (→Farbstoffe) Koschenille. 1786 wurde Antequera de O. eine von insg. zwölf neu-span. Intendanzen, die neben dem Hochland im Westen und Zentrum und der Pazifikküste im Süden auch Teile des Isthmus von Tehuantepec umfaßte. Immer häufiger wurden die Stadt und die Region als O. bezeichnet, bis die Stadt 1823 auch offiziell diesen Namen erhielt. Silke Hensel, Die Entstehung des Föderalismus in Mexiko, Stuttgart 1997. S E BAS T I AN DORS CH
Oblastniki. Mit dem Begriff, der sinngemäß mit „Regionalisten“ übersetzt werden kann, bezeichnete im unter Alexander II. eingeleiteten „Reform-Frühling“ die politische Polizei geheime armenische und georgische Zusammenschlüsse, die eine Lösung der seit der Spätantike bestehenden Nationalkirchen vom Moskauer Heiligen Synod anstrebten. Erfolglosigkeit führte in den folgenden Jahrzehnten zum Zerfall der Gruppen. Nach der Jh.wende erscheinen sie nicht mehr in Aufzeichnungen der Ochrana. Seit der Unabhängigkeit Armeniens und Georgiens wird an sie erinnert und häufig, wenn auch nicht immer historisch korrekt, auf sie Bezug genommen. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung fehlt jedoch bislang. In →Sibirien wurden erstmals nach dem →Krimkrieg Sezessionsgedanken in intellektuellen Kreisen der Städte geäußert. Als der Zar sich 1865 weigerte, Semstwo-Reformen auch jenseits des →Urals zuzulassen, führte dies zu einer rasch Zugkraft gewinnenden Bewegung, die selbständige regionale Verwaltungseinheiten forderte. Ihre Anhänger nannten sich O. Die Reg. betrachtete sie als Revolutionäre und verfolgte sie. Um die Jh.wende bildeten O. unter der Losung Semlja und volja (Erde und Freiheit) eine parteiähnliche Organisation, deren Führung der charismatische Tomsker Prof. Grigorij →Potanin (1853–1920) übernahm. Sie agitierte ab 1905 mit auf sibirische Verhältnisse umgedeuteten Schlagworten der Frz. Revolutionen und erzielte auch in der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit Anhang. Auf dem ab Okt. tagenden 1. Allsibirischen Rätekongreß erzwangen die O. die Einrichtung einer sibirischen Gebietsduma. Diese sprengten im Jan. 1918 bolschewistische Kräfte. Die den O. zugerechneten zwei Minister der durch die Duma eingesetzten Provisorischen Reg. wurden ermordet. Im
Obervolta (frz. Haute-Volta) ist nach dem Fluß Volta benannt und war von 1919 bis 1932 und von 1947 bis 1960 eine frz. Kolonie, deren erster Gouv. Édouard Hesling war. O. galt als eine der ärmsten Kolonien Frankreichs und diente auf Grund seiner hohen Bevölkerungszahl als Rekrutierungsgebiet für billige Arbeitskräfte. Die 602
o d y s s eu s
sich gegen die Bolschewiki formierenden Widerstand konservativer Kreise unterstellten sich die O. Admiral Alexander →Kolchak (1873–1920). Nach dessen Niederlage wurde die Regionalbewegung von den Bolschewiki brutal unterdrückt. Die Zahl der Todesopfer soll im sechsstelligen Bereich gelegen haben. In der Sowjetzeit wurde geleugnet, daß O. im →Kaukasus und in Sibirien Volksbewegungen entwickelt hätten. Man stufte sie als bürgerliche Sektierer ein. Deshalb brachte die Bolschaja Sowjetskaja entsiklopedija über sie in allen Ausgaben keine Einträge. Stephan Stuch, Regionalismus in Sibirien im 20. Jh., Köln 2003. GE RHARD HUT Z L E R Ocean Island, heute auch häufig: Banaba. Gehobene Korallen-Insel, südwestlich der Gilbert-Gruppe gelegen, Staat Kiribati, Zentralpazifik. Alternative/historische Namen: Baanopa, Bonabe, Paanopa, Panopea, Rodman. Hauptort Tabiang, weitere Orte Uma, Tabwewa, Buakonikai. Annähernd kreisrunde Gestalt. Entdeckt vom am. Kapitän Jered Gardner (Diana) am 3.1.1801 und Rodman’s Island benannt. Der Name O. stammt von Kapitän John Mertho (Ocean), der 1804 die Insel besuchte. Nach einem Abkommen mit Deutschland fiel die Insel in den brit. Einflußbereich, wurde aber nicht annektiert. Erst der Fund reicher Phosphatvorkommen, die um 1900 von (Sir) Albert Ellis im Auftrag von John T. Arundel entdeckt wurden und in der Folge wie in →Nauru kommerziell abgebaut wurden, änderte das Verhalten. Am 3.5.1900 wurde ein entspr. Vertrag mit der Pacific Islands Company (später: Pacific Phosphate Company, ein Unternehmen von John T. Arundel) geschlossen. Den Einheimischen von Banaba wurden in einem Vertrag für 999 Jahre die exklusiven Schürfrechte abgekauft, gegen Bezahlung von jährlich 50 £. Die daraus resultierende Unzufriedenheit bei der lokalen Bevölkerung mündete 1913 in eine Vertragsänderung, die eine prozentuelle Beteiligung per geschürfter Tonne festlegte. Am 28. 9.1901 wurde von der Besatzung des engl. Kriegsschiffes H.M.S. Pylades die brit. Flagge auf O. gehißt. Von 1908 bis 1945 war Banaba an Stelle von Tarawa das Verwaltungszentrum des brit. →Protektorates der →Gilbert and Ellice Islands. In den Jahren des Phosphatabbaus wurden neben den vereinbarten Zahlungen auch Rücklagen angelegt, die eine finanzielle Grundlage der Bevölkerung nach Abbau aller Ressourcen gewährleisten sollten. Nach dem Krieg wurde ein Teil dieses Geldes dazu verwendet, die Insel Rabi (Rambi) auf →Fidschi zu erwerben. Während des →Zweiten Weltkriegs litt die lokale Bevölkerung in den Jahren 1942–45 schwer unter der jap. Besatzung. Aus Rache für die weitgehende Zerstörung der Phosphatförder- und Verladeanlagen sowie im Zuge des Ausbaus der Befestigungsanlagen der Insel wurde ein Großteil der Bevölkerung (ca. 700 Banabans und ca. 800 I-Kiribati) nach Kosrae auf die →Karolinen und nach Tarawa deportiert. Im Aug. 1945, kurz vor Kriegsende, wurde ein →Massaker unter den verbliebenen ca. 200 Banabern angerichtet, welches nur eine einzige Person überlebte, die später vor einem Kriegsverbrechertribunal aussagte, was zur Verurteilung der verantwortlichen jap. Kommandeure führte. Nach dem
Krieg versuchte Banaba erfolglos, zuerst von Großbritannien und später von Kiribati die Unabhängigkeit zu erlangen. Dieses Ansinnen wird bis heute von Tarawa entschieden abgelehnt. 1975 strengten die Banabaer ein Gerichtsverfahren an, um höhere Abschlagszahlungen für die Ressourcenausbeutung zu erhalten. Die Phosphatvorräte sind heute weitgehend erschöpft. Ein Teil der Bevölkerung Banabas (ca. 1 000) entschied sich für ein Leben auf der zu den Fidschi-Inseln gehörenden Insel Rabi (Rambi); sie sind heute fidschianische Staatsbürger. Gesamtlandfläche: 6,3 km²; Gesamtbevölkerung (2002) 570 Ew.; Lage: 0°53’ Süd, 169°39’ Ost. Pearl Binder, Treasure Islands, London 1977. Albert F. Ellis, Ocean Island and Nauru, Sydney 1936. H. C. Maude / H. E. Maude, The Book of Banaba, Suva 1994. H ERMA N N MÜ CK LER
Odysseus (O.) / Odyssee (Od.), Sohn des Laërtes und der Antikleia, Mythischer Herrscher von Ithaka. O. ist eine zentrale Figur des griechischen Mythos, berühmt und verewigt durch die Großepen Ilias und die (wahrscheinlich) etwas jüngere Od. Homers aus der Mitte bzw. dem Ende des 8. Jh.s v.Chr. Die eigentliche Handlung beider Epen beschränkt sich auf einen Zeitraum von 51 (Ilias) bzw. 41 (Od.) Tagen am Ende einer jeweils zehnjährigen Ereignisfolge, die dem Publikum bekannt war. Im Falle der Od. bildet dieser Rahmen die Rückfahrten (nostoi) der Helden nach der Zerstörung Trojas sowie ihr Schicksal in der Heimat. Während O. in der Ilias v. a. als kluger Berater, überzeugender Redner und militärischer Problemlöser (trojanisches →Pferd) in einem begrenzten Handlungsraum (Kampf vor Troja) hervorsticht, steht er in der Od. als verwegener Seefahrer, Spätheimkehrer und Erdulder zahlloser, meist selbst verschuldeter „Leiden“ ganz im Mittelpunkt einer maritim geweiteten Handlung, welche die Erfahrung der beginnenden Entdeckungsund Kolonisationsfahrten der Griechen spiegelt. Bedeutsam aus entdeckungsgeschichtlicher Perspektive sind deshalb die von O. am Hofe des Phäaken-Kg.s Alkinoos (in den Gesängen 9–12) in der Rückschau geschilderten „Irrfahrten“. Sie beginnen, als er mit seiner Flotte am Kap Malea (Südspitze der Peloponnes) durch Nordwind zu den Lotophagen verschlagen wird. Die Abfolge der nächsten Stationen (Kyklopen, Insel des Aiolos, Laistrygonen, Kirke) wird unterbrochen durch die Fahrt ins Totenland im Lande der Kimmerier am jenseitigen Ufer des Weltstromes. Nach Befragung der Seele des Sehers Teiresias folgt die Rückfahrt zu Kirke und von dort an den Sirenen vorbei durch die Meerenge der Skylla und Charybdis nach Thrinakia. Hier verliert O. nach der Schlachtung der Rinder des Helios sein letztes Schiff samt Mannschaft. Auf Schiffstrümmern gelangt O. nach Ogygia, der Insel der Kalypso, die ihn nach 7 Jahren auf einem Floß die Heimreise antreten läßt. Durch den Zorn des Poseidon erneut zum Schiffbrüchigen gemacht, wird O. zu den Phäaken getrieben. Nachdem O. sich zu erkennen gegeben und seine Abenteuer erzählt hat, bringt ihn ein Schiff der Phäaken reich beschenkt nach Ithaka. Doch nach der Rückgewinnung der Herrschaft muß O. gemäß der Prophezeiung des Teiresias aufbrechen, bis er zu jenen gelangt, „die nichts mehr wissen vom Meer“ 603
o e rt z e n, g u s tAv v o n
(Od. 11,122). Dies war ein Anknüpfungspunkt für die Gestaltung weiterer Geschichten (epischer Kyklos) sowie Ausgangspunkt zahlreicher Interpretationen im Zuge der intensiven literarischen Rezeption der Od. bis in die Neuzeit. Schon in der Antike stritt man um die Frage, ob man die Irrfahrten in realen geographischen Räumen verorten kann und wo diese ggf. zu suchen sind – eine Diskussion, die bis heute anhält. Während die Skeptiker in den Fahrten märchenhafte Phantasieprodukte sehen, die sich jeder realgeographischen Zuordnung entziehen, verweisen andere darauf, daß die Irrfahrten auf Grund der Transformierung der Märchenmotive in eine epische Erzählung in einer dem Publikum logisch erscheinenden Erfahrungsrealität verlaufen müssen. Diese Welt kann tatsächlich mit den nautischen und topographischen Gegebenheiten in Deckung gebracht werden und entspricht in etwa einem Raum zwischen Sizilien und der Levante sowie Teilen des Schwarzen Meeres, welcher von den Seefahrern der homerischen Zeit erschlossen wurde. Unabhängig von der Diskussion um eine „Homerische →Geographie“ blieb der seefahrende Abenteurer O. ein komplexes Leitbild, an dem sich spätere Jh.e bis in die Neuzeit abarbeiteten. Das mittelalterliche Denken blieb weithin geprägt von der ambivalenten Einschätzung des Perfiden und Maßlosen einerseits, der nie nach Ithaka heimkehrt (Dante) und des Weisen andererseits, der nach neuem Wissen sucht, sich aber der Verlockungen der Welt (Sirenen) entzieht (Patristik). Erst im Zuge der europäischen Expansion wird der von Fernweh geplagte O. zur Identifikationsfigur des Menschen, der „rastlos auf der Suche nach Neuem ist“ (Aleida Assmann) und zum Leitbild des engl. Seefahrers, der illusionslos im Kampf mit dem Element sein Leben zu meistern versteht. Gotthard Fuchs (Hg.), Lange Irrfahrt – große Heimkehr, Frankfurt/M. 1994. Homer, Die Odyssee, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Zürich / Stuttgart 2001. Armin Wolf, Homers Reise, Köln u. a. 2009. RAI MUND S CHUL Z Oertzen, Gustav von, * 23. Januar 1836 Kittendorf, † 22. Oktober 1911 Dresden, □ nicht erhalten, ev.-luth. Studium der Rechtswissenschaften. 1875 Eintritt ins Auswärtige Amt. 1879–1883 Consularsecretair ad interim in Apia. Juni 1883 auf Anweisung →Bismarcks nach Matupi / Melanesien „delegirt“. 16.6.1884–3.2.1887 Reichs-Kommissar / ksl. Kommissar für „Gebiete in der Südsee“ mit Charakter eines Vize-Konsuls. Abberufung nach Amtsantritt des Landeshauptmanns der →Neu-Guinea-Compagnie. 1888–1895 Konsul in Sarajewo, 1895– 1903 Konsul in Le Havre, 1903–1907 dort Generalkonsul. Die Personalakte im Auswärtigen Amt ist erhalten. GE RHARD HUT Z L E R
Ogaden →Ual-Ual Okkupation. Die O. zählt zu den wichtigsten juristischen Denkfiguren in der Geschichte der europäischen Expansion. Die originäre Form des Landerwerbs entsprach dem Selbstverständnis und dem Selbstbewußtsein der europäischen Mächte, die eine Ausdehnung ihres Einflusses in Übersee anstrebten. Die Argumentation basierte unmittelbar oder mittelbar auf römischrechtlichen 604
Konzepten. Als zentraler Referenztext bot sich ein Fragment aus den Digesten (D. 41,1,7,3) an, das von der „im Meer geborenen“ Insel handelt. Weil sie als →terra nullius gilt, kann sie der erste Okkupant rechtmäßig erwerben. Allerdings läßt diese Stelle viele Fragen offen, insb. geht aus ihr nicht hervor, welches Maß an tatsächlicher Herrschaft für den Erwerb notwendig ist. Im Mittelpunkt der frühneuzeitlichen Diskussionen um den kolonialen Rechtsstatus stand daher v. a. das Besitzrecht der Digesten, der zweite Titel des 41. Buches (De adquirenda vel amittenda possessione), der das Problem des tatsächlichen Näheverhältnisses, der „Effektivität“ der Ingewaltnahme, einbezieht. Die Texte widersprechen sich teilweise, so daß schon aus diesem Grund kein Konsens hergestellt werden konnte. Unklar blieb oft auch, ob – in modernen Begriffen – ein völkerrechtliche Erwerb von Staatsgebiet oder ein privatrechtlicher Eigentumserwerb zur Diskussion stand. Wenn auch nahezu alle Mächte, die sich in Übersee engagierten, die O. als solche anerkannten und sich dieser Figur bedienten, so gab es doch durchaus Unterschiede in Hinsicht auf die Intensität der Bezugnahme. Für die kastilische Krone hatte die O. nur sekundäre Bedeutung. Sie leitete bis in das 17. Jh. hinein ihren Anspruch vornehmlich von den päpstlichen Übertragungen des Jahres 1493 ab. Francisco de Vitoria hatte überdies nicht nur den Dominus-mundi-Anspruch des Papstes in Frage gestellt, sondern auch den Terranullius-Status der am. Besitzungen bestritten. Unter dem Eindruck der Begegnung mit den hochstehenden Zivilisationen Süd- und Mittelamerikas zweifelten sogar Juristen im Dienste der Krone daran, ob sich ein solches Territorium überhaupt als herrenlos qualifizieren lasse. Anders stellten sich die Dinge aus der Perspektive der aufstrebenden Seemächte Nordwesteuropas dar. Da sie weder über einen päpstlichen Rechtstitel verfügten noch einen solchen anerkannten, erklärten sie die O. zum allein maßgeblichen Erwerbsgrund. Der Feststellung Portugals und Spaniens, alles Land sei bereits von ihnen erworben, entgegnete sie, es fehle namentlich in Nordamerika bisher an einer physischen Ingewaltnahme, also sei eine O. noch möglich. Das gleiche Argument kam gegenüber der indigenen Bevölkerung zur Anwendung. Um die Nomadenvölker von einer Teilhabe auszuschließen, konkretisierte man die „Effektivität“ in der Weise, daß nur eine Kultivierung des Bodens als ein rechtsbeständiger Akt des Sichbemächtigens galt. Eine solche Sicht entsprach zugleich einem aristotelisch geprägten Zweckrationalismus und genuin engl. Traditionen. Eine Bedeutung für die Geistesgeschichte hat das Prinzip der effektiven O. dadurch erlangt, daß John Locke es seiner Theorie von der Entstehung des Eigentums aus der Arbeit (im berühmten 5. Kapitel des Second Treatise) zugrunde legte. Allerdings darf die Bedeutung der O. als Legitimationsbasis im kolonialen Alltag nicht überschätzt werden. Schon im 17. Jh. erwies es sich aus Sicht der Europäer oft als zweckmäßiger, den indians das Land abzukaufen (wenngleich zu keineswegs angemessenen Konditionen) als es gegen ihren Willen zu okkupieren. Da kaum noch staatenlose Gebiete existieren, spielen der O.s-Tatbestand und das Effektivitätsprinzip im modernen Völkerrecht nur noch dann eine Rolle, wenn über
o mA i
die Rechtsstellung früher erworbener Gebiete gestritten wird, wie bspw. im Falle „Island of Palmas“, ein Rechtsstreit zwischen den Niederlanden und den →USA über die Zugehörigkeit einer Insel im philippinischen Archipel. Daniel Damler, Wildes Recht, Berlin 2008. DANI E L DAML E R
Old Dominion. Populäre Bezeichnung für den USBundesstaat Virginia, frei übersetzt in etwa „Altes Herrschaftsgebiet“ oder „Alter Besitz“. Die Herkunft des Namens ist historisch nicht vollständig geklärt. Für die These, Kg. Charles II. (1630–1685) habe die Kolonie Virginia für ihre Loyalität zur Krone während der Engl. Bürgerkriege 1642–1649 und der republikanischen Periode unter Oliver und Richard Cromwell 1649–1659 mit dem Beinamen O. D. ausgezeichnet, existieren keine Belege. Etymologisch muß dennoch auf diese Zeit verwiesen werden. 1663 sprach Charles II. gegenüber Sir William Berkeley (1606–1677), dem Gouv. Virginias, von „seiner alten Kolonie“ und seinem „eigenen Besitz“ (own dominion). Ähnliche Begriffe wählte auch das Parlament Virginias in den beiden Schreiben an den engl. Kg. 1699 (ancient colony and dominion) und 1700 (most ancient colony and dominion). Die Entstehung des umgangssprachlich gebrauchten Begriffes O. D. als Synonym für Virginia dürfte wohl Ergebnis einer allmählichen Symbiose der oben genannten Bezeichnungen zu einem verkürzten Terminus im Verlauf des 18. Jh.s sein. Daß Virginia die älteste überseeische Besitzung Englands und zugleich erste engl. Kolonie auf am. Boden war, dürfte dabei, insb. während und nach der →Am. Revolution, eine Rolle gespielt haben, evtl. auch als süffisante Anspielung auf die nunmalige Unabhängigkeit vom Vereinigten Kgr. In dieser Zeit, 1778, ist denn zum ersten Mal die Bezeichnung O. D. verbürgt. In Briefen zweier Offiziere, die im Unabhängigkeitskrieg in der Continental Army kämpften, wird Virginia als O. D. bezeichnet. Um 1800 scheint der Begriff in den →USA durchaus geläufig gewesen zu sein. Während des 19. Jh.s, besonders nach dem Bürgerkrieg, stieg die Popularität des Beinamens und er fand Verwendung in der Literatur (z. B. bei John P. Kennedy und John E. Cooke), Musik, Politik und Presse. 1859 gründeten in New York City lebende Virginier die O. D. Society of the City of New York. 1962 wurde das College of William and Mary in Norfolk, VA in O. D. College, 1969 in O. D. University umbenannt. Ronald Heinemann / John Kolb u. a. (Hg.), Old Dominion, New Commonwealth, Charlottesville 2007. Peter Wallenstein, Cradle of America, Lawrence 2007. F L ORI AN VAT E S
Olearius, Adam, * 16. (?) August 1599 oder 1603 Aschersleben, † 22. Februar 1671 Gottorp (Schleswig), □ im Schleswiger Dom, ev.-luth. Der Sohn des Schneiders Oehlschlaeger aus Aschersleben schloß 1627 das Studium der Theologie, Philosophie, →Geographie und Mathematik in Leipzig ab. In dieser Zeit latinisierte er seinen Familiennamen. 1630 wurde er Konrektor des Leipziger Nicolai-Gymnasiums und trat 1633 in den Dienst Herzogs Friedrichs III. von
Schleswig-Holstein-Gottorp. 1635 war er Sekretär einer Gesandtschaft, die auf der Route Moskau – Nishni Nowgorod – Astrachan nach Isphahan, der Residenzstadt des Schahs Safi I. zum Zweck der Anknüpfung von Handelsbeziehungen mit Persien reiste. O. nutzte die Zeit in Persien zum Erlernen der Landessprache Farsi. Mit den erworbenen Kenntnissen übersetzte er das Hauptwerk Gulistan des Dichters Sa’adi und publizierte es 1654 in Schleswig unter dem Titel „Persianisches Rosenthal“. Nach der Rückkehr 1639 wurde O. vom Herzog zum Hofmathematiker ernannt. 1649 übernahm er zusätzlich das Amt des Hofbibliothekars. Er baute die Herzogliche Bibliothek zu einer der bedeutendsten in Nordeuropa aus. 1654 konstruierte er einen drehbaren →Globus mit 3 m Durchmesser, der sich jetzt in St. Petersburg befindet. Nach dem Tod Herzog Friedrichs III. zog sich O. hochgeehrt vom Hofleben zurück. Schon zu Lebzeiten wurde er als „holsteinischer Plinius“ gefeiert. Dauernde Bedeutung gewann er durch seine 1647 erschienene, unter dem Titel „Offt begehrte Beschreybung der Newen Orientalischen Reise“ in vielen Auflagen verbreitete Darstellung der bereisten Regionen. Er fertigte die erste wirklichkeitsnahe kartographische Aufnahme der Wolga von ihrem Oberlauf bei Kostroma bis zur Mündung ins Kaspische Meer und korrigierte die von Klaudios →Ptolemaios postulierte Annahme, das Kaspische Meer habe eine größere Ost-West- als Nord-Süd-Ausdehnung. Auf der Karte Persiens legte er die Nordgrenze und den Verlauf der zentralen Gebirge zuverlässig fest. Ethnologen schätzen die fundierten Beschreibungen der Bewohner Rußlands und Persiens sowie die einfühlsame Schilderung ihrer Lebensweise und Gebräuche. O. gilt als Begründer der dt.-sprachigen wissenschaftlichen Reiseliteratur. Faramarz Behzad, Adam Olearius’ Persianischer Rosenthal, Göttingen 1970. Elio Christoph Brancaforte, Visions of Persia: Mapping the Travels of Adam Olearius, Cambridge (Mass.) 2003. Wolfgang Geier, Russ. Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jh.en, Wiesbaden 2004. G ERH A R D H U TZLER Omai, * um 1750 Ra’iatea, † um 1780 Huahine (Gesellschaftsinseln), □ Huahine (Gesellschaftsinseln), autochthon O. (richtiger: Mai) war ein junger →Polynesier, den Tobias Furneaux, Kapitän der Adventure, des Begleitschiffs James →Cooks auf dessen zweiter Weltumsegelung, 1774 von den Gesellschaftsinseln nach England mitbrachte. Als erster Südseeinsulaner, der engl. Boden betrat, erregte Mai großes Aufsehen unter Gebildeten und Angehörigen der höheren Kreise Englands, denen er häufig als Beispiel eines „→edlen Wilden“ präsentiert wurde. (Georg →Forster für seinen Teil blieb einigermaßen unbeeindruckt von Mais geistigen Begabungen und moralischem Charakter, und mußte sich fragen, ob er eigentlich Nützliches in England gelernt hatte). Nach zweijährigem Aufenthalt in England wurde O. von Cook während dessen dritter pazifischer Reise nach den Gesellschaftsinseln zurückgebracht.
605
o m A r mu k h tAr
Eric McCormick, Omai, Auckland 1977. Francesca Rendle-Short (Hg.), Cook & Omai, Canberra 2001. Anne Salmond, The Trial of the Cannibal Dog, London 2003. JAME S BRAUND
Omar Mukhtar, * 1862 Zâwiyat Zanzûr / Libyen, † 16. September 1931 Sulûq / Libyen, □ Mausoleum in Sulûq, musl. Der Religionsgelehrte und Senussi-Scheich O. (Omar al-Mukhtar; berberisch: Omar Imukhta; arab.: CUmar alMukhtâr) wurde 1862 als Angehöriger des Marabutstammes der Minîfa in Zâwiyat Zanzûr östlich von Tobruk in der Kyrenaika geboren. Seit Beginn der it. Invasion in Libyen (It.-Türk. Krieg 1911/12) gehörte er zu den prominentesten Aktivisten im antikolonialen Abwehrkampf. Um den zähen Widerstand der von den →Senussi geführten Stämme einzudämmen, gewährte Italien zunächst begrenzte Autonomierechte (tribale Selbstverwaltung auf unteren Ebenen) und akzeptierte das Senussi-Oberhaupt Sayyid Muhammad Idris (1951 Kg. Idris I.) formal als Emir der Kyrenaika (1917) und der „Rep. →Tripolitanien“ (1920). 1923 annullierte Mussolini diese Zugeständnisse, da sie seinem „Riconquista“-Projekt im Wege standen („Rückeroberung“ altrömischer Provinzen und Landkonfiskation für it. Siedler). Als Bevollmächtigter des ins ägyptische Exil ausgewichenen Emirs und gestützt auf ein breites Stammesbündnis organisierte O. in der Kyrenaika vom Dschebel Akhdar aus jahrelang einen verbissenen, für die Kolonialarmee verlustreichen Kleinkrieg. Die Besatzer reagierten auf die zermürbende Guerilla-Taktik mit zunehmend brutalerem Vorgehen, das unter dem (auch wegen seiner Kriegsverbrechen in →Äthiopien) berüchtigten General Rodolfo →Graziani den Höhepunkt erreichte (Einsatz von Giftgas, Massenerschießungen, Internierung von ca. 100 000 DschebelBewohnern in 15 Konzentrationslagern). Am 12.9.1931 geriet O. in Gefangenschaft und wurde vier Tage später im KZ Sulûq als „Bandit“ gehängt. Reste der Aufständischen konnten sich noch bis 1935 in den KufraOasen halten. Heute wird O. in Libyen als Nationalheld und „Scheich der Märtyrer“ verehrt (seit 2001 Mausoleum und Gedenkstätte auf dem ehem. KZ-Gelände in Sulûq). Unter Gaddafi, der sich zum legitimen Erben und Nachfolger stilisierte, erfuhr O. eine hochgradige Sakralisierung und politische Instrumentalisierung. Jetzt berufen sich auch die Rebellen (islamistische, nationalistische und pro-westliche Fraktionen gleichermaßen) auf sein Vermächtnis und deklarieren sich zu „Enkeln O.s“. Einem weltweiten Publikum wurde er durch den Monumentalfilm „O. – der Löwe der Wüste“ (1981) mit Anthony Quinn in der Titelrolle bekannt, der im it. Fernsehen erst 2009 gezeigt werden durfte. Ali Abdullatif Ahmida, The Making of Modern Libya, New York 22009. Enzo Santarelli, Omar al-Mukhtar e la riconquista fascista della Libia, Mailand 1981. L OT HAR BOHRMANN
Opium wird aus Schlafmohn (Papaver somniferum) gewonnen. Sein Saft ergibt getrocknet den sog. O.-kuchen. Etymologisch leitete sich der lateinische Begriff O. von griechisch opós (Milchsaft) ab. Die Entschlüs606
selung seiner Inhaltsstoffe, eines Komplexes von 25 Alkaloiden, unter denen das 1805 erstmals extrahierte Morphin als wichtigster zu nennen ist, fand jedoch erst während des 19. Jh.s statt. Bei der Namensgebung Morphin bzw. Morphium stand auf Grund der stark narkotisierenden Wirkung des Stoffes der griechische Gott des Schlafes und des Traumes, Morpheus, Pate. Ende des 19. Jh.s entwickelte sich Morphin zum wichtigen Grundstoff bei der Herstellung des halbsynthetischen Stoffs Heroin (Diacetylmorphin). Die Produktion von Morphiumderivaten steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der →Industrialisierung, insb. der Entwicklung der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Der zunächst überwiegend auf die nördliche Halbkugel beschränkte Anbau von Schlafmohn kann anhand archäologischer Funde bis ca. 4000 v. Chr. zurückdatiert werden und erstreckte sich auf nahezu sämtliche Hochkulturen der Antike. Seine Wertschätzung, nicht zuletzt auf Grund seiner nahrhaften Samen, sowie sein Gebrauch bei verschiedenen religiösen Handlungen sind anhand von Münzfunden, die Mohnkapseln zeigen, zu vermuten. Anfangs wuchs die Mohnpflanze in nur wenigen vom →Klima begünstigten Räumen des östlichen Mittelmeeres, also dem griechischen Festland und den Ägäischen Inseln, wo sie sich von der Gartenpflanze zur Feldpflanze entwickelte. Wenig später wurde O. nach Rom importiert, wo die Oberschicht es als „mildes Rauschgift“ schätzte, was zu seiner gesellschaftlichen Anerkennung führte. Im Abendland spielte es nach der Völkerwanderung nur noch eine marginale Rolle. Erst im Mittelalter wurde das in der arab. Medizin sehr geschätzte, im Laufe der Zeit wegen seiner suchterzeugenden Wirkung jedoch wiederholt verbotene Heilmittel in Folge der →Kreuzzüge als O.-mischung (Theriak) wiederentdeckt. Nachdem verschiedene Gelehrte zu seiner Prestigesteigerung beigetragen hatten, erreichte v. a. das aus Alkohol und O. bestehende sog. Laudanum hohe Popularität. Mitte des 19. Jh.s erreichte überwiegend Rauch-O. die Pariser Salons, wo es zur „Modedroge“ avancierte. Nach China kam O. erst im 8. Jh. und konnte sich u. a. durch das Tabakverbot (→Tabak) des Jahres 1644 rasch verbreiten. Im 19. Jh. unterband das chin. Ks.haus, zum Schutz der vielfach unter Abhängigkeit leidenden Bevölkerung, die Einfuhr von O. Großbritannien, das Hauptprofiteur des O.-imports war, erzwang daraufhin durch den Ersten O.krieg (1839–1842) die Duldung des O.-imports, sowie die Öffnung der chin. Märkte. Anbau und Ernte von O. sind kurzzeitig sehr arbeitsintensiv, bedürfen gewisser Erfahrung und geschehen bis heute in Handarbeit, so daß die Gewinnung lange bei kleinbäuerlichen Produzenten lag. Die Kapseln werden kurz vor der Reife, wenn sie am ertragreichsten sind, mehrfach angeritzt, so daß eine weißliche Milch, das O., austritt, das abgekratzt wird. Dieser klebrige O.-kuchen wird durch Trocknung handelsfähig. Medizinisch wurde O. und später seine Bestandteile vielseitig eingesetzt. Stets dominierte jedoch sein Gebrauch als sehr wirksames Schlaf- und Schmerzmittel, das in entspr. Dosierung sogar vergiftend wirkte. Morphium wurde ab Mitte des 19. Jh.s bevorzugt zur Behandlung Kriegsversehrter eingesetzt, worauf es wiederholt zu regelrechten „Suchtschüben“ kam. Opiate
ord en An z As d e d es cu bri m i en to
(Rauch-O., Morphium und Heroin) zählen gegenwärtig zu den →Drogen. Durch seine Ächtung im Laufe des 20. Jh.s entwickelte sich die Handelsware von einem lange Zeit kaum rentablen, nicht selten unter Zwang angebauten, zu einem der weltweit profitabelsten Produkte. Mathias Seefelder, Opium. Eine Kulturgeschichte, Landsberg 1996. Jacob Tanner, Cannabis und Opium, in: Thomas Hengartner / Christoph Maria Merki (Hg.), Genußmittel: ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt/M. / New York, 1999, 195–227. KRI S T I NA S TARKL OF F
Orale Traditionen in Südasien. Als o. T. wird i. allg. die mündliche Überlieferung kulturellen Wissens von Generation zu Generation innerhalb menschlicher Gemeinschaften bezeichnet. Dies kann auch von Formen von Schriftlichkeit begleitet sein. In Südasien gab es vor dem Aufkommen von Schrift eine stark ausgeprägte Tradition der mündlichen Überlieferung, die ihre Bedeutung auch durch die Verbreitung der Schrift nicht verlor. Religiösen Narrativen kommt hier die große Bedeutung zu: Der Rigveda (ca. 1500–1000 v. Chr.; →Hinduismus), der erst viel später normiert und aufgezeichnet wurde, ist eines der frühesten Beispiele für die religiösen, mündlichen Überlieferungen der nomadisch geprägten arischen Gesellschaft. Fast alle der heute klassischen Epen, ausgehend von der vedischen Literatur, über die Jataka Erzählungen und die Sangam Schriften hin zu dem Mahabharata und dem Ramayana, haben ihre Wurzeln in mündlichen Erzähltraditionen. Auch die sog. mittelalterliche Devotionsliteratur der Bhakti/Sufi Heiligen (→Sufismus), ebenso die Verse Siddhas und Nathpanthis, gehören vornehmlich zur mündlichen Überlieferung. Um die vorherrschende soziale/religiöse Ordnung zu kritisieren (→Soziale und religiöse Reformbewegungen), entwarfen Heilige wie Ramanand, Kabir, Nanak (→Sikhismus) oder Dadu sowohl eigene Ideen, bedienten sich aber auch aus teilweise marginalisierten o. T. und verbreiteten diese mündlich. Als eines der einschlägigsten Beispiele für das Fortbestehen der traditionellen religiösen o.T. kann das Rama-Epos gelten. Die Geschichte des Rama, mit einer starken moralischen Komponente, taucht in vielen verschiedenen Varianten, in verschiedenen südasiatischen (und südostasiatischen) Sprachen und Kulturräumen auf. Das Ramayana erzählt vom Triumph des Protagonisten Rama, als Verkörperung der moralischen Werte und kulturellen Ideale, über den Dämonen-Kg. Ravana. Selbst in Zeiten des ‚Print-Kapitalismus‘ haben einige Versionen der Rama-Geschichte überlebt ohne je gedruckt worden zu sein. Parallel zu der aufgezeichneten und gedruckten Form wird die Geschichte immer wieder durch verschiedene Darbietungsformen der kulturellen Überlieferung (→Musik, Theater, Tanz) aufgeführt. Z. B. gelten in Nordindien das Ramlila (schauspielerische Darstellung), das Katha (Rezitation und Darstellung) und das Kirtan (Gesang), als bevorzugte Darstellungs- bzw. Erzählformen für das Rama-Epos. Bei diesen Formen der mündlichen Überlieferung werden, je nach lokalen Zusammenhängen, neue Bedeutungen und Botschaften in die kanonisierte Geschichte eingearbeitet. Anders ausgedrückt ist die Struktur der mündlichen Überliefe-
rung anpassungsfähiger als ihr schriftlich fixiertes Gegenstück. Da diese moralisch-religiösen Erzählungen einen zentralen Bestandteil des kulturellen Universums der (ländlichen) Hindugesellschaft darstellten, wurde die Narrative oftmals zu Gunsten lokaler sozio-politischer Ereignisse umgedeutet. Protest-, Widerstands und Erweckungsbewegungen wie z. B. Baba Ramchandras radikale Bauernbewegung gegen die Grundherrschaft (1920–1922) in →Awadh oder die hindu-nationalistische Ramjanmabhoomi Bewegung (1989–1992), zeigen die Wirkungsmacht dieser Erzählung innerhalb der kulturellen Landschaft Südasiens. Philip Lutgendorf, The Life of a Text, Berkeley u. a. 1991. Paula Richman (Hg.), Many Ramayanas, Berkeley 1991. PR A B H AT K U MA R
Oranje-Freistaat. Nach dem Widerstand der →Xhosa im östlichen Kap richteten die Briten ihr Augenmerk auf das südliche Transorangia. Diese Region wurde seit 1840 von den Griqua (→Griqualand) unter ihrem Häuptling Adam Kok III. politisch beherrscht. Der Anführer der Voortrekker, Hendrik Potgieter, bot Kok 1844 ein Abkommen an. 1845 ernannte der Gouv. des Kaps, Sir Pergrine Maitland, einen brit. Gesandten in Transorangia, und es wurde →Afrikaners („Boers“) gewährt, unter strengen Bedingungen Land von den Griqua zu pachten. Sir Harry Smith, der 1847 Gouv. des Kaps wurde, wollte die Fläche seiner Kolonie vergrößern und faßte Transorangia ebenso wie Teile des Gebietes, das dem BasothoHäuptling →Moshoeshoe gehörte, ins Auge. Der Voortrekker-Anführer Andries Pretorius wandte sich daher an Moshoeshoe, um eine gemeinsame Front gegen den brit. Imperialismus zu bilden, jedoch entschied sich Moshoeshoe für die Seite der Briten. Die Spannungen zwischen den Basotho und einigen Afrikaners über das fruchtbare Caledon-Flußtal nahmen zu. Sir Harry Smiths Lösung war, 1848 die brit. Herrschaft über das gesamte BasothoGebiet zu erklären, und es wurden zwei Angriffe (1851 und 1852) gegen die Basotho gestartet. Nach Niederlagen in beiden Fällen beschloß der neue Kap-Gouv., George Cathcart, den Rückzug Großbritanniens aus diesem Gebiet. Ohne irgendeinen afr. Häuptling zu konsultieren, übertrug die brit. Reg. auf der Bloemfontein-Konferenz Transorangia an die Afrikaners. Großbritannien erkannte somit die burische Unabhängigkeit im Gebiet zwischen den Flüssen Oranje und Vaal an – der erste Schritt zur bis zum Krieg 1899–1902 unabhängigen Afrikaner-Rep. O.-F. (1854). Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. Paul Maylam, A History of the African People of South Africa, New York 1986. A N N EK IE JO U BERT
Ordenanzas de descubrimiento. Bei den als O. d. d. nueva población y pacificación de las Indias bezeichneten Richtlinien Philipps II. vom 13.7.1573 handelt es sich um eine 148 Kapitel umfassende Verordnung Philipps II., die der Kolonisations- und Siedlungspolitik in →Amerika eine neue Grundlage gaben und wohl einen Teil des von Juan de →Ovando bearbeiteten und unvollendet gebliebenen Rechtskodex für die „Indien“ bildeten. Priorität 607
o r ie n tA l is m u s
sollte erkennbar in Zukunft nicht mehr die Ausdehnung des Herrschaftsraumes, sondern die Konsolidierung des Hinterlandes haben. Im Übrigen wurden die „Entdeckungsunternehmen“ gleichsam standardisiert. Die ersten 110 Kapitel widmeten sich der Durchführung der Expeditionen sowie der Rechte und Pflichten der Teilnehmer. Die Kapitel 136 bis 148 enthielten Vorschriften über den Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Einen ungewöhnlichen Inhalt hatten die Kapitel 111 bis 135. Sie regelten mit großer Genauigkeit die Modalitäten des Städtebaus. Charakteristisch waren das schachbrett-förmige Grundmuster und der zentrale Platz (plaza mayor) mit Kirchen und Verwaltungsgebäuden. Das lief z. T. auf eine Perpetuierung vorhandener Strukturen hinaus, denn 200 Städte waren bei Inkrafttreten bereits nach dem Schema der O. gegründet. Die geometrische Gleichförmigkeit entsprach den Idealen der in der Renaissance wiederbelebten römischen Stadtarchitektur. Daneben finden sich baupolizeiliche Anweisungen, die hygienische Lebensbedingungen sicherstellen sollten. Auch das steht im Einklang mit den damals herrschenden Vorstellungen, dem Ideal der von der Obrigkeit garantierten „guten Ordnung“. Viele Vorschriften der O. hatten sehr lange Bestand. Sie fanden Aufnahme zunächst in den Cedulario Indiano des Diego de →Encinas (1596), dann auch in die Recopilación de las Leyes de las Indias (1680). Sie überdauerten sogar das Ende der Kolonialherrschaft. Insb. die Vorschriften über die Städteplanung kamen noch im 19. Jh. zur Anwendung. Q: Transcripción de las Ordenanzas de Descubrimiento, Madrid 1973 (Faksimile und Transkription des Originals). L: Marta Milagros del Vas Mingo, Las Ordenanzas de 1573, sus antecedentes y consecuencias, in: Quinto Centenario 8 (1985), 83–101. Francisco de Solano Pérez-Lila, Die hispanoam. Stadt, in: Horst Pietschmann (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 1, Stuttgart 1994, 555–575. DANI E L DAML E R Orientalismus. 1) Adaption von asiatischen Stilelementen und Motiven in Kunst und Architektur. 2) Kulturwissenschaftliches Konzept des am. Literaturwissenschaftlers Edward →Said (1935–2003). In der Studie „Orientalism“ (1978) entwarf Said in Anlehnung an Begriffe Michel Foucaults und Antonio Gramscis den O. als einen kolonialen Diskurs, der Wahrnehmung und Handeln seiner Teilnehmer bestimmt. Ausgangspunkt des O. ist demnach die Annahme einer grundlegenden Differenz zwischen einem starken und dynamischen Okzident und einem schwachen und statischen Orient. Als Träger des abwertenden Orientbildes hätten sich u. a. Kunstgenres und Wissenschaften (Orientalistik) manifestiert. Spätestens mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons (1798/99) seien die Orientwissenschaften eine enge Verbindung mit den westlichen Kolonialmächten eingegangen, die auf eine kulturelle und politische Hegemonie über die asiatischen Gesellschaften abzielte. Das Erscheinen von „Orientalism“ zog eine wissenschaftliche Kontroverse nach sich. Said selbst hat sein Konzept mehrfach modifiziert und erweitert. Auch wenn die O.-These mittlerweile in vielen Bereichen relativiert oder widerlegt wurde, bleibt sie jedoch ein fester Bestandteil postkolonialer Studien. 608
Edward W. Said, Orientalism, New York 1978, dt.: Orientalismus, Frankfurt/M. 42009. RA LF EMIN G Orientfrage. Seit Mitte des 19. Jh.s Bezeichnung für das komplexe Geflecht der Bemühungen der europäischen Großmächte um Wahrnehmung ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen im →Osmanischen Reich und den von diesem im 19. Jh. zwangsweise aufgegebenen Gebieten, insb. dem Balkan; für das Dt. Reich proklamierte →Bismarck, es habe in der O. keinerlei eigene Interessen, während er ständig bemüht war, die Interessengegensätze der anderen Großmächte in der O. zur Abwendung von Kriegsgefahren vom Dt. Reich zu nutzen. Die Konkurrenz Österreich-Ungarns und Rußlands um Einfluß auf dem Balkan schloß ein Bündnis beider Mächte gegen Deutschland aus und sorgte dafür, daß beide zur Absicherung erzielter Einflußgewinne auf ein gutes Verhältnis zu Deutschland angewiesen waren. Die Aufrechterhaltung des österr.-russ. Gegensatzes (z. B. durch die 1878 mit dt. Zustimmung erfolgte österr. Annexion Bosniens) schien Bismarck daher ein probates Mittel zur Erhaltung des Friedens. Die Entscheidung für den Zweibund mit Österreich (1879) war indes auf Dauer mit der proklamierten Interesselosigkeit Deutschlands an der O. nicht zu vereinbaren, da die weitgehenden Bündnisverpflichtungen das österr. Interesse am Balkan auch für Deutschland zu einer wichtigen Frage machten. Daher versuchte Bismarck, das mit Rußland um die Kontrolle über die Dardanellen rivalisierende Großbritannien für den Schutz der österr. Balkaninteressen gegen Rußland einzuspannen, was durch Zustandekommen des sog. Orientdreibundes (Großbritannien, Österreich, Italien) 1887 teilweise gelang. Als 1888 ein von dt. Banken geführtes Konsortium die Konzession für den Bau der Anatolischen Eisenbahn erwarb, konnte von Interesselosigkeit Deutschlands am Orient endgültig keine Rede mehr sein. Die Verlängerung dieser Bahnlinie zum Persischen Golf (→Bagdad-Bahn) wurde bis 1914 zu einer schweren Belastung des dt.-brit. Verhältnisses. Zwar konnte dieser Konflikt beigelegt werden, doch geriet Deutschland, dessen leitenden Politiker nach 1890 Bismarcks diplomatisches Geschick und Sinn für Mäßigung fehlten, in weitgehende Isolierung. Friedrich Scherer, Adler und Halbmond, Paderborn u. a. 2001. Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht, München 1984. CH R ISTO PH K U H L Orientkriege. Unter dieser an und für sich ungebräuchlichen Bezeichnung können folgende Kriege zusammengefaßt werden (wobei die Zeitgrenze 1800 eher willkürlich gesetzt ist): 1798–1801 1804–1813 1806–1812 1826–1828 1828/29 1853–1856 1877/78 1897 1911/12
Ägyptische Expedition Frankreichs Russ.-Persischer Krieg Sechster →Russ.-Türk. Krieg Russ.-Persischer Krieg Siebter Russ.-Türk. Krieg →Krimkrieg Achter Russ.-Türk. Krieg Türk.-Griechischer Krieg It.-Türk. Krieg
o ri n o k o
1919–1923 1934 1947–1949 1956 1967 1973 1975–1990 1980–1988 1982 1987–1993 1990/91 2000–2005 2003–2011 2006 2008/09 2012 2014
Griechisch-Türk. Krieg Saudi-Jemenitischer Krieg Palästinakrieg Suezkrise (Zweiter Israelisch-Arab. Krieg, →Suez) Sechs-Tage-Krieg (Dritter IsralischArab. Krieg) Jom-Kippur-Krieg (Vierter IsraelischArab. Krieg) Libanesischer Bürgerkrieg Erster Golfkrieg Iran-Irak 1. Libanonkrieg Erste Intifada (Gaza/Palästina/Israel) Zweiter Golfkrieg (UN-Koalition – Irak) Zweite Intifada Irakkrieg 2. Libanonkrieg 2006 Operation „Gegossenes Blei“, IsraelGaza (Hamas) Operation „Säulen d. Verteidigung“, Israel-Gaza (Hamas) Operation „Protective Edge“, IsraelGaza (Hamas)
Vereinfachend läßt sich feststellen, daß es sich vor dem Ersten Weltkrieg zumeist um Waffengänge des Russ. Reichs gegen Türken oder Perser handelte, nach dem →Zweiten Weltkrieg überwiegen Kampfhandlungen, die sich aus der Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel durch seine arab. Nachbarn ergaben. Friedrich Schreiber, Kampf um Palästina, München 1992. CHRI S T I AN HANNI G Orientkrise. Nach der Schwächung des →Osmanischen Reichs durch den Griechischen Unabhängigkeitskrieg und den sich anschließenden →Russ.-Türk. Krieg 1828/29 war ein Zusammenhalt des (mehrheitlich) islamischen Staatskörpers – insg. als Orientalische Frage (→Orientfrage) bezeichnet – nur noch schwerlich denkbar. Man stritt in der Folgezeit in erster Linie darum, wer den „kranken Mann am Bosporus“ beerben könne, und sei es unter dem Deckmantel eines →Protektorats. Auf eine solche Oberhoheit arbeitete insb. Großbritannien hin. Auslösendes Moment der ersten O. war aber das Bestreben Frankreichs, Nordafrika bis nach →Ägypten unter frz. Einfluß zu bringen. Demgemäß wurde 1830 →Algerien besetzt und der ägyptische Nationalstolz gegen den Kalifen Mahmud II. aktiviert. Dieser verweigerte →Muhammad Ali Pascha, dem Vize-Kg. Ägyptens, zusätzlich auch die Statthalterschaft in Syrien anzutreten, woraufhin dessen Truppen 1831/32 bis nach Anatolien vorstießen. Tatsächlich erreichte Muhammad Ali 1833 die Anerkennung seiner Herrschaft über Syrien. Die (zweite) eigentliche O. lösten die Türken 1838 aus, indem sie erfolglos versuchten, das ägyptische Heer unter Ibrahim Pascha wieder aus Syrien zu vertreiben (Niederlage in der Schlacht von Nizip, 24.6.1839). Nun machte sich der frz. Ministerpräs. Adolphe Thiers für Muhammad Ali Pascha stark. Das Ziel war die Lösung Ägyptens aus der Oberhoheit des Kalifen. Dies führte Großbritannien, Österreich, Preußen und Rußland zwecks Erhaltung
des Osmanischen Reichs zusammen, wobei die mit dem Zerfall des türk. Staatswesens verbundenen Unwägbarkeiten am meisten England und Österreich beunruhigten. Alle vier Staaten schlossen am 15.7.1840 in London den Viermächtevertrag zur „Befriedung“ der Levante und gestanden Muhammad Ali Pascha im Gegenzug bloß die Statthalterschaft über die Provinz Akkon zu. Der Vize-Kg. ignorierte das Ultimatum, weil er auf Frankreich hoffte. Die militärische Entscheidung erfolgte dergestalt, daß brit. und österr. Schiffe das Nildelta (→Nil) blockierten und Soldaten dieser Länder Beirut, Sidon und Akkon einnahmen. Auf Grund seiner Militärhilfe für die Türken besaß Großbritannien jetzt ein faktisches Protektorat über das Osmanische Reich. Muhammad Ali Pascha blieb Vasall des Kalifen. Lediglich das Recht, die Herrschaft an seine Nachkommen weiterzugeben, wurde ihm zuerkannt. Die Parteinahme Preußens zu Gunsten Großbritanniens kann kritisch hinterfragt werden, noch mehr die Motive des Russ. Reichs: anscheinend waren frankophobe Gefühle aus der napoleonischen Ära entscheidend für die Allianz mit England. Wichtige Folgen der O. waren der Dardanellen-Vertrag von 1841 und die Rheinkrise zwischen Frankreich und dem Dt. Bund. Morroe Berger, Military Elite and Social Change, Princeton 1960. CH R ISTIA N H A N N IG Orinoko, der (Span.: El Orinoco). Das nördliche Südamerika ist neben Andenausläufern und karibischen Küsten (→Karibik) durch zwei Flußwelten geprägt, die zugleich während der Kolonialzeit sowie bis weit ins 19. Jh. hinein wichtigste Verkehrs-, Handels- und Schmuggeladern bildeten, nämlich das O.-System „Orinoquía“ im heutigen →Venezuela und das Magdalena-CaucaFlußsystem in Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.) / →Kolumbien. Das O.-System liegt im wesentlichen zu ⅔ auf dem Staatsgebiet des heutigen Venezuela und zu ca. ⅓ auf dem Staatsgebiet des heutigen Kolumbien und entwässert vorwiegend die Llano-Savannen und Teile Guayanas. Venezuela verfügt daneben über einen der größten Süßwasserseen der Welt (Maracaibo-See) und wird durch mehr als 1 000 Flüsse entwässert, darunter die Ströme Apure, Caura und Caroní, die fast alle zum O.-System gehören. Das O.-System gilt als viertgrößtes der Welt und zweitgrößtes Südamerikas. Der O. fließt in Quellgebiet, Oberlauf (Alto O.) und Mittellauf (O. Medio) um den Granitsockel des Guayanaschildes herum. Sein Unterlauf (Bajo O.) und der Mündungsästuar bilden eine Grenze zu den nördlichen Guayanas, einer Wasser-Urwald-Welt, die das Orinoquía mit dem Amazonas-Strom-System (Amazonía, →Amazonas) verbindet. Beide Systeme werden heute auch mehr und mehr mit dem Aruakwort omagua für riesige, wasserdurchflossene Wälder bezeichnet. Unter- und Mittellauf des O. konnten wegen der vorherrschenden atlantischen Passatwinde (Trade Winds) über Angostura (heute: Ciudad Bolívar) bis nach San Fernando de Apure ( Llanos, →Tasajo) nicht nur von Flußbooten und -schiffen (curiaras, bongos, piraguas und lanchas), sondern auch von Hochseeschiffen befahren werden, was Vieh-, Fleisch-, Häute- und Sklavenschmuggel während der gesamten Kolonialzeit und auch noch im 19. Jh. Vorschub 609
o s mA nis c he s r e i c h
leistete. Über die O.-Nebenflüsse Apure und Meta war das Vordringen bis in die Kerngebiete des →Vize-Kgr.s Neu-Granada möglich. Die vorkolonialen Indio-Völker des oberen O.-Gebietes, der Amazonía und Guayanas entwickelten in saisonalen Garten-Überschwemmungskulturen den Anbau der süßen und bitteren Yuca (mandioca). Aus dem unter tropischen Bedingungen sehr haltbaren Mehl (mañoco) der ergiebigen Yuca-Wurzeln stellten die Indios →casabe (kassava) her. Im Mündungsgebiet des O. lebten und leben die Marschland- und Sumpfvölker der Warraos (nie kolonisiert, heute ca. 30 000 Menschen) von Schildkröten, Schildkröteneiern, Fisch- und Krebsfang sowie →Jagd mit Blasrohren, Palmherzen (moriche) und proteinreichen Käfer-Larven, die aus der Moriche-Palme gewonnen oder gesammelt werden (auch Palmwein und Material für Hängematten, Hausbau und Kanus). Aus den Früchten einer Urwaldliane entwickelten Indigene der Amazonía / Orinoquía vor Jahrtausenden durch Züchtung eines der wichtigsten Nahrungsmittel der Welt, die Bohne, aus anderen Pflanzen das Gift Curare. Der O. spielte in der Kolonialzeit seit ca. 1520 eine extrem wichtige Rolle im endemischen Schmuggel von Sklavenhändlern aus Territorien, die von Portugiesen und →Rescate-Trupps aus →Brasilien erschlossen wurden, beim Menschen- und Güterschmuggel der Niederländer aus →Essequibo, Demerara und Suriname, bei der Suche der Spanier aus Bogotá nach dem mythischen →Eldorado sowie bei der Expansion von Engländern (Walter →Raleigh) im Guayanagebiet der →Arawak-, Warrao- und Karibenvölker. Das span. Imperium arrondierte durch den Bau von Festungen und Anlage von Siedlungen (u. a. Santo Tomé, Angostura) seine Kolonialterritorien im Osten zwischen dem Zusammenfluß von O. und Río Caroní sowie dem Delta des O. in den Urwald- und Grenzgebieten zu anderen Kolonialmächten. Noch zu A. v. →Humboldts Zeiten schwebte über Guayana, der Orinoquía und der Amazonía die Legende, sozusagen Heimat der Mythen von Eldorado, Manoa oder Parime-See zu sein (der auch noch auf Karten des frühen 19. Jh.s verzeichnet ist). In Wirklichkeit befindet sich in diesen Weltgegenden, die erst seit 1950 systematisch erforscht werden, ein Eldorado vegetal – ein grünes Dorado der Pflanzen in Wäldern, unter deren Pflanzendächer u. a. →Kakao und verschiedene →Farbstoffe sowie andere Flora-und Fauna-Ressourcen domestiziert oder gesammelt worden sind. Der obere Mittellauf und der in Süd-Nordrichtung fließende Oberlauf des O. wurde erst durch jesuitischen Missionen (→Jesuiten) im 18. Jh. erschlossen und kolonialwirtschaftlich (u. a. →Sklaverei, Viehhaltung) genutzt, als die Gefahr der „port. Bedrohung“ aus dem Amazonasstromgebiet deutlicher wurde. Zugleich gaben jesuitische Forschungen (u. a. das enzyklopädische Werk des Jesuiten José Gumilla (1686–1750; 35 Jahre Missionar in den Llanos am Mittellauf des O.) El Orinoco Ilustrado y Defendido (Erstauflage 1745) und die Forschungen anderer Missionare sowie wissenschaftliche →Expeditionen (u. a. José de Iturriaga / José Solano, der Franziskaner Antonio Caulín, der Linnéschüler Pehr Löffling, und Humboldt) dem kolonialen KüstenSüdamerika seine kontinentale Gestalt. Die erst 1951 geklärte Frage der Quellen des O. blieb eine Streitfrage, 610
die u. a. zu Grenzstreitigkeiten und Expansion der Grenzen Brasiliens führte. Jules Verne schrieb einen seiner Romane zum Thema (Der stolze O. Bekannte und unbekannte Welten, 1899). Alexander von Humboldt, Reise durch Venezuela, (Hg.) Margot Faak, Berlin 2000. Michael Zeuske, Von Bolívar zu Chávez, Zürich 2008. MICH A EL ZEU SK E / JÖ RG H A U PTMA N N
Osmanisches Reich. Beginnend mit den Eroberungen unter seinem Gründungssultan und Namensgeber Osman I. (reg. 1299–1324/26) am Anfang des 14. Jh.s, entwickelte sich der o. Staat über eine Zeitspanne von mehr als sechs Jh.en von einem Kleinfürstentum zu einem mächtigen Reich, das bis 1922 bestand. Erste Hauptstädte waren Bursa und, nach ihrer Eroberung, ab ca. 1361 die Stadt Edirne. Trotz zwischenzeitlichen Zusammenbruchs der eigenen Herrschaft durch das Vordringen der Mongolen unter Timur (1336–1405), gelang es den Osmanen, sich bis zum Ende des 14. Jh.s auf der Balkanhalbinsel dauerhaft zu etablieren und das Reich insbesondere in Kleinasien, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika bedeutend zu vergrößern (für die weitere Expansionsgeschichte des Reiches →Arabische Expansion). Im 14./15. Jh. standen durch ein Feudalsystem (timar) finanzierte Reiterheere im Mittelpunkt der osmanischen Kriegsführung. Ergänzt wurden sie durch Fußsoldaten, von denen die in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum Sultan lebenden, aus Kriegsbeute oder der Knabenlese hervorgegangenen Janitscharen den größten Bekanntheitsgrad erlangten. Die Gesetze der Tanzimat-Zeit (ab 1839) begrenzten den Wehrdienst auf fünf Jahre, bedeuteten aber auch tiefgreifende Modernisierungsreformen in der Verwaltung, im Handelswesen und in der Justiz. Die Reform des millet-Systems hatte eine rechtliche Gleichstellung auch der nichtmuslimischen Untertanen des Staates zum Ziel. Zwischen 1774 und 1924 führten die osmanischen Sultane den Kalifentitel. Als Hüter der heiligen Stätten im Hedschas (al-Hijaz) unterstrichen sie ihren Vorrang in der islamischen Welt (→Islam). Im Laufe der Jh.e entwickelte der o. Staat eine reiche Kunst- und Architekturkultur, die sich insbesondere in repräsentativen und religiösen Bauten (z. B. in Bursa und Istanbul), sowie der Miniaturmalerei und der Herstellung von mit Blumenmotiven geschmückten Fayencen zeigte. Chroniken und Fürstenspiegel waren Ausdruck der o.n Geschichtsschreibung. Die o. Schriftsprache stellte eine in mehreren Entwicklungsstufen gebildete Mischform aus anatolischtürkischen, persischen und arabischen Sprachelementen dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s bildete sich in den Zentren des Reichs, ähnlich wie in europäischen Metropolen, eine Theater-, Literatur- und Presselandschaft. Trotz Zensur und mangelnder Transportmöglichkeiten außerhalb der Zentren wurden Zeitungen und Journale während des Zerfallsprozesses des Reiches und dem Erstarken separatistisch-nationalistischer Kräfte zu wichtigen Medien für politische Inhalte. Die Sicht auf das historische Erbe des O. R.es ist ambivalent und abhängig vom jeweiligen Zeitgeist. Sie differiert sowohl zwischen den einzelnen Nachfolgestaaten bzw. -regionen als auch Außenstehenden. Einerseits erfährt
o s tAs iAti s ch es kreu zerg es ch wA d er
das R. durch seine kulturellen und politischen Errungenschaften in der Rückschau eine positive, teils verklärende Bewertung. Negativ ausgelegt werden dem R. andererseits v. a. die bis in das politische Tagesgeschäft der heutigen Zeit reichenden Auswirkungen der Minderheitenverfolgungen und Völkermorde vor, während und nach dem I. Weltkrieg. Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches, München 52010. Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300–1922, München 2008. Josef Matuz: Das Osmanische Reich, Darmstadt 62010. CHRI S T I AN KI RCHE N Ostasiatisches Kreuzergeschwader. Die dt. Schiffahrtsbeziehungen (→Schiffahrt) zu China intensivierten sich nach dem Vertrag von →Nanking von 1842 und der damit verbundenen Öffnung von fünf chin. →Vertragshäfen. Die politische Folge war die Eröffnung von elf dt. Konsulaten zwischen 1852 und 1866. Auch die junge preußische Marine richtete ihr Augenmerk auf den ostasiatischen Raum und sandte 1859/62 unter Führung des Grafen zu Eulenburg vier Schiffe auf eine OstasienExpedition, um ein erstes Zeichen für die militärische Unterstützung des dt. Handels zu setzen. 1876 bildete die ksl. Marine vorübergehend ein erstes O. K. Auf der Weltreise der Korvette Prinz Adalbert 1878–1880 mit dem Prinzen Heinrich an Bord, der 1897 Führer der 2. Division und später Chef des O.n Geschwaders werden sollte, wurde im Frühjahr 1880 ein zweimonatiger Aufenthalt in →Hongkong eingelegt. 1881 wurde unter Admiral Louis v. Blanc ein ständiges Ostasiengeschwader aufgestellt, das bereits 1885 wieder aufgelöst und 1886 durch ein permanentes K. ersetzt wurde. Das zuletzt fast nur noch formal bestehende K. wurde im März 1893 aus Kostengründen aufgelöst. 1894 erfolgte jedoch wegen des Chin.-Jap. Krieges eine Neubildung unter der Bezeichnung „Kreuzerdivision“. Da die Firma Krupp in Essen China mit fünf und Japan mit drei Dampferladungen Kriegsmaterial (Konterbande) belieferte, verlangten die Käufer der Versicherungspolicen der mit je 5–6 Mio. Mark versicherten Transportschiffe staatliche Maßnahmen zur Sicherung ihres Kapitals. Glücklicherweise hielten sich die Kriegsparteien streng ans Völkerrecht, so daß die Ende des Jahres aus drei Kreuzern und zwei Kanonenbooten bestehende Division nicht einzugreifen brauchte. Im Sommer 1896 wurde Alfred →Tirpitz, der zuvor betont hatte, daß zur Unterstreichung der Existenzberechtigung der ksl. Marine stets ein Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Seeinteressen nachzuweisen sei, kurzzeitig Chef des Geschwaders. Ab 1899 unterstand die jetzt wieder K. genannte Einheit Ks. Wilhelm II. direkt. Als in der chin. Provinz Südshantung zwei dt. Missionare ermordet wurden, sah die Marine den Zeitpunkt gekommen, um den langgehegten Plan der Schaffung eines Stützpunktes zu verwirklichen. Entspr. Erkundungen waren seit langem u. a. durch den Geographen Ferdinand Frhr. von →Richthofen auf seinen Reisen 1868–1872 durchgeführt worden. Am 14.11.1897 setzte das K. unter Admiral Otto v. →Diederichs in der Bucht von →Kiautschou ein aus 30 Offizieren, 77 Unteroffizieren und 610 Mannschaften bestehendes Landungskorps an Land, das das kleine Fischerdorf Tsingtau und die umliegenden Hö-
hen besetzte. 1898 wurde das Gebiet, das sich rasch zu einer Musterkolonie entwickelte, für 99 Jahre von China gepachtet. Der →Gouv. war stets ein Marineoffizier. Nennenswerte Seestreitkräfte, vergleichbar der Größe derer anderer europäischer Mächte, konnten dort nicht stationiert werden. Denn der Aufbau einer heimischen Schlachtschifflotte, die dem im März 1897 aus China heimkommandierten Admiral Tirpitz übertragen worden war, erlaubte keine derartige Zersplitterung der Kräfte. Militärstrategisch war die Kiautschou-Bucht eine Mausefalle, da jede größere Seemacht das Gelbe Meer hätte blockieren können. Tirpitz bekämpfte die Verwendung Tsingtaus als militärische Basis. Schließlich brachte er die militärische Ausrichtung zu Fall, und der Ks. entschied sich für einen ungeschützten Handelshafen gleichsam als Einfalltor nach Shantung. In Friedenszeiten konnte das K. die Hafenanlagen nutzen. Zur Enttäuschung des Reichs-Marine-Amtes mußten die Werftanlagen aus dem eigenen Etat bezahlt werden, da sich Krupp wegen mangelnder Rentabilität weigerte, Firmenmittel bereitzustellen. Der Hauptwert der für das Reich teuren Kolonie lag für die Marine auf einem ganz anderen Sektor: Sie ließ sich für die Marinepolitik im Dt. Reich instrumentalisieren. Die Reichsleitung übergab nach Kapitulation der Marinelandstreitkräfte im Nov. 1914 den Japanern Tsingtau ohne Bedauern. Bei Kriegsausbruch 1914 suchte das Geschwader umgehend das Weite. Mehrere dem K. unterstellte Kanonen- und Torpedoboote wurden bis zum 7.11.1914 im Hafen von Tsingtau selbstversenkt. Unter dem Kommando von Vizeadmiral Maximilian Graf Spee wurde das Geschwader in den östlichen Pazifik verlegt, während der Kleine Kreuzer Emden im →Ind. Ozean einen Kreuzerkrieg führte, ehe der australische Kreuzer Sydney die Emden am 9.11.1914 bei den Cocos-Inseln südwestlich von →Sumatra schwer beschädigte, so daß der Kreuzer aufgegeben werden mußte. Das Geschwader, bestehend aus den Großen Kreuzern Scharnhorst und Gneisenau sowie den Kleinen Kreuzern Nürnberg, Leipzig und Dresden, wurde von dem verfolgenden brit. Verband unter Admiral Sir Christopher Cradock vor der chilenischen Küste gestellt. Im Seegefecht von Coronel am 1.11.1914 wurden zwei brit. Panzerkreuzer ohne eigene Verluste versenkt. Nach kurzem Aufenthalt in Valparaiso entschied sich Graf Spee auf Grund der schlechten Versorgungslage – u. a. war die Hälfte der Munition bei Coronel verschossen worden – für den Abbruch aller kriegerischen Operationen im Pazifik. Auf dem Weg nach Deutschland wollte er sich mit Kohlen aus dem brit. Stützpunkt Port Stanley auf den →Falklandinseln versorgen, den er nach der Vernichtung von Cradocks Geschwader leer vorzufinden glaubte. Er ahnte nicht, daß er dort auf einen starken brit. Verband mit den modernen Schlachtkreuzern Invincible und Inflexible stoßen würde. Spee ließ sofort abdrehen, als er die Situation erkannte. Schnell holten die brit. Schlachtkreuzer das dt. Geschwader ein. Spee stellte sich mit Scharnhorst und Gneisenau dem Kampf, um den Kleinen Kreuzern die Flucht zu ermöglichen. In dem Seegefecht bei den Falklandinseln wurden am 8.12.1914 vier der fünf dt. Schiffe versenkt. Mehr als 2 000 dt. Seeleute, darunter Graf Spee und seine beiden Söhne, verloren ihr Leben. Die Dresden 611
o s t e nde k o m PA g n i e
konnte wegen ihres modernen Turbinenantriebs und des aufziehenden Nebels entkommen. Am 14.3.1915 wurde sie im neutralen chilenischen Hafen Más a Tierra von den brit. Kreuzern Kent und Glasgow angegriffen. Da sowohl ein Kampf als auch ein Entkommen keine Aussicht auf Erfolg hatten, versenkte die Besatzung ihr Schiff. Das war das Ende des O.K. Die Besatzung wurde in →Chile interniert. Dem späteren Chef der Abwehr, Wilhelm Canaris, gelang die spektakuläre Flucht nach Deutschland. Der Marinemaler Hans Bohrdt malte 1915 das berühmte Gemälde „Der letzte Mann“ und verherrlichte den Heldentod der Seeleute in der Falklandschlacht. Über den abenteuerlichen Heimweg der Überlebenden der Besatzung der Emden kursierten die unglaublichsten Geschichten. Die Reichsreg. verlieh allen Besatzungsmitgliedern das Recht, den Zusatz Emden ihrem Familiennamen hinzuzufügen. S. a. →Kriegsmarine, dt. Andreas Leipold, Die dt. Seekriegsführung im Pazifik in den Jahren 1914 u. 1915, Wiesbaden 2012. Wolfgang Petter, Dt. Flottenrüstung von Wallenstein bis Tirpitz, in: Othmar Hackl / Manfred Messerschmidt (Hg.), Handbuch der dt. Militärgeschichte, Teil VIII, München 1977, 13–262. Lars U. Scholl, Africa to the British, East Asia to the Germans. Germany’s Rise to an East Asian Power, in: Richard Harding u. a. (Hg.), British Ships in China Seas: 1700 to the Present, Liverpool 2004, 179–196. L ARS U. S CHOL L
Ostende Kompagnie (1722–1732). Die kurzen – gleichwohl einträglichen – Aktivitäten der O.K. sind mehr eine Fußnote innerhalb der europäischen Diplomatiegeschichte als in der Überseegeschichte wert. Aus den Türken- und Franzosenkriegen war Österreich als Großmacht hervorgegangen, wobei ihm die „Span. Niederlande“ – also in etwa der heute Niederländisch sprechende Teil Belgiens – zufiel. Die Zusammenfassung der verstreuten Territorien zu einem Staat gelang Österreich aber nicht. Karl VI., zugleich dt. Ks., ergriff statt dessen die Initiative auf wirtschaftlichem Gebiet, was u. a. Ende 1722 zur Errichtung der O.K. für den Handel nach Ostindien führte. Zwei Jahre später sah er sich von den Seemächten bedrängt, die einen Antrag Spaniens auf Aufhebung der Kompagnie aufgriffen. 1725 bot er Frankreich für einen Vertrag der rk. Mächte gegen England die Suspension an. Im gleichen Jahr traten der Ks. und Spanien zu der Wiener Allianz zusammen, woraufhin Frankreich, England und Preußen in Hannover eine Gegenabsprache trafen und die Rep. der Niederlande zum Beitritt einluden. Den Haag bat sich ohne Zögern als Preis die Unterstützung seiner Bemühungen aus, die O.K. zu liquidieren. Diese hatte sich in der Einschätzung der Niederländer zu einer konkurrenzfähigen Gesellschaft im Kolonialhandel entwickelt (Lademacher 1983, ohne Quellen). Während England gerne zusagte, gingen für Preußen, das sich nicht mit dem Ks. wegen Jülich und Berg überwerfen wollte, die Forderungen zu weit, es trat aus dem Bündnis aus. Im Wiener Vertrag vom 16.3.1731 erhielt Karl VI. gegen den Verzicht auf die O.K. die engl. Garantie seiner Erbfolgeordnung. Die O.K. wurde in eine Finanzierungsgesellschaft umgewandelt. Wenn so die vermutlich rentable Kompagnie als Bauernopfer im Schachspiel 612
der europäischen Mächte endete, bleibt die Frage, was ihr im Vergleich zu den anderen Kompagnien fehlte. Als merkantilistisches Unternehmen der österr. Krone besaß sie nicht die Flexibilität und den Wagemut einer bürgerlichen Kaufmannschaft sowie die Vernetzung mit wehrhaftem Kolonialbesitz und einer Flotte. Auch stand Österreich vor der Doppelaufgabe, die Ks.würde zu tragen und gleichzeitig eine binneneuropäische Eigenstaatlichkeit zu schaffen. „Es schwankte zwischen dem modernen Staatsgedanken und der Bindung an das Reich“ (Wandrurszka 1964, 418). Max Braubach, Vom westfälischen Frieden bis zur Frz. Revolution, in: Herbert Grundmann (Hg.), Handbuch der dt. Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 81955, 203–316. Horst Lademacher, Geschichte der Niederlande, Darmstadt 1983. Adam Wandrurszka, Die europäische Staatenwelt im 18. Jh., in: Golo Mann / Karl Danz (Hg.), Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 7, Berlin 1964, 385–465. WILFR IED WA G N ER
Osterinsel. Polynesisch: Rapa Nui, spanisch: Isla de Pascua. Im südöstlichen Pazifik abgelegen liegende Insel, die politisch zum Staatsgebiet →Chiles, geographisch und kulturell zu →Polynesien zählt. Die O. steht sowohl exemplarisch für endogene indigene Entwicklungswege, die in eine ökologisch prekäre Situation mündeten, als auch für massive äußere teilweise genozidale Einflüsse, denen die Bewohner und die Kultur der O.insulaner (Rapanui) ausgesetzt waren. An Rapa Nui können die vielfältigen in Wechselbeziehungen zueinander stehende Faktoren, die eigen- und fremdbestimmt, die Geschicke des isoliertesten Eilands der Welt lenkten und lenken, besonders eindrücklich beobachtet werden. Die Erstbesiedlung der annähernd dreieckigen vulkanischen Insel mit einer Größe von 162,5 km2, deren höchste Erhebung der 507 Meter hohe Maunga Terevaka ist, und die sich auf Grund ihrer Abgeschiedenheit und klimatischen Bedingungen als fragiles Ökosystem darstellt, war und ist strittig. Gestützt auf archäologische, sprachwissenschaftliche sowie genealogische Befunde gilt heute eine Einwanderung von Westen aus dem zentralpolynesischen Raum von Mangareva als anerkannt. Es hielten sich lange zwei Argumentationsstränge die Waage: die Monound die Multibesiedlungsthese. Während die Vertreter der ersten These (z. B. Terry L. Hunt, Steven R. Fischer) eine Einwanderung im 5. Jh. n. Chr. annahmen, verwiesen Vertreter der zweiten These (z. B. Thor Heyerdahl) auf zumindest zwei Wellen der Besiedlung, wobei die Erstbesiedlung im 5. oder 6. Jh., die zweite Besiedlungswelle im 13.–14. Jh. unserer Zeitrechnung angenommen wurde. Derzeit wird sogar die Erstbesiedlung erst um das 13. Jh. angenommen – die Kultur der Rapanui daher als relativ jung interpretiert. Wichtige Indizien über die Frühgeschichte der Rapanui werden aus der überlieferten Legende von Hotu Matua herauszulesen versucht, da generell schriftliche Aufzeichnungen in der auf Oraltraditionen fußenden schriftlosen Kultur nicht vorhanden war. Nachweisbar ist eine die natürlichen Ressourcen der Insel schnell verzehrende Lebensweise der Bewohner, welche hohe Adaptierungsanforderungen an diese stellte, um eine Ernährungsbasis zu gewährleisten. Großflächige
os ti n d i en k o mPAn i en
Entwaldung sowie die Dezimierung endemischer Vogelarten können mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen und wiederholten Stammes- und Religionskriegen erklärt werden. Die stratifizierte polynesische Gesellschaft bestand aus zehn unabhängigen Stämmen (máta), die mit verschiedenen Teilen der Insel assoziiert werden können. Diese standen über längere Zeiträume immer wieder in ressourcenverzehrenden Konflikten zueinander. Großtechnische Bauwerke – dazu gehören neben Zeremonialplattformen vor allem die steinernen Statuen (moai) –, die ab dem 11. u. 13. Jh. errichtet wurden, gelten als sichtbares Indiz für die Kulturblüte, gleichzeitig steckte darin vermutlich bereits eine der Ursachen für den Niedergang der Rapanui Kultur ab Mitte des 17. Jh.s. Die von Jared Diamond vertretene These des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen, der zur Störung des ökologischen Gleichgewichtes auf der isolierten Insel geführt hat, wird von manchen Fachwissenschaftlern nur bedingt geteilt und Klimakatastrophen, die eingeschleppte polynesische Ratte, aber auch bereits der europäische Einfluß als Ursachen für den Niedergang der Rapanui angesehen. Ende des 17. Jh.s wurde die Insel erstmals von Europäern gesichtet, der 1722 anlandende holländische Jakob Roggeven ist für die Namensgebung O., die an den christlichen Feiertag erinnern sollte, verantwortlich. Der Engländer James →Cook besuchte die Insel 1774, der Franzose Jean-Francois de La Pérouse (→Galaup) 1786. Die ab dieser Zeit in immer kürzeren Abständen eintreffenden Europäer brachten bis dahin unbekannte Krankheiten auf die Insel, die dadurch einen rapiden Bevölkerungsrückgang im 19. Jh. zu verzeichnen hatte. In den Jahren 1862–1863 gelangten peruanische Arbeitskräftehändler auf die O. und entführten einen Großteil der männlichen arbeitsfähigen Bevölkerung, so daß von rund 3.000 indigenen Bewohnern nur mehr einige hundert, vor allem Frauen, Kinder und Alte, die Insel bevölkerten. Dies hatte die fatale Konsequenz, daß die meisten Träger des traditionellen Wissens und der Überlieferungen verschwanden und eine nicht mehr überbrückbare Lücke in der Weitergabe der kulturellen Traditionen entstand, die es heute verunmöglicht, über bestimmte Aspekte der traditionellen polynesischen Kultur der Rapanui Gewissheit erlangen zu können. Dazu zählt auch die Entzifferung der Rongorongo-Holztafeln, deren Zeichensymbole von manchen Forschern als (Vor-) Form einer Schrift interpretiert werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s errichtete der ehemalige französischer Offizier Jean Baptiste Dutroux-Bornier mit seinem britisch-tahitischen Geschäftspartner John Brander auf der O. eine Gewaltherrschaft. Nachdem er fast alle nutzbaren Weidegründe von indigen Vertretern erworben hatte, verbannte er die Bevölkerung von einem Großteil der Insel an einen einzigen Ort. Der Widerstand von Seiten der Rapanui, die sich ihrer Lebensgrundlage beraubt sahen, gipfelte schließlich in der Ermordung des Geschäftsmannes. Während dieser Zeit verringerte sich die Gesamtzahl der Bevölkerung weiter; 1877 gab es nur mehr 111 indigene Rapanui. Aus strategischen Gründen annektierte 1888 Chile die Insel, engagierte sich jedoch nicht für die indigene Bevölkerung. Die Viehzucht wurde unter wechselnden Pächtern weiter betrieben und die Le-
bensverhältnisse der Rapanui blieben katastrophal. Die 1911 unter der Leitung des Deutschen Walter Knoche durchgeführte chilenische O.-Expedition, bei der erstmals interdisziplinär die Situation der Insel und deren Bewohner untersucht wurde, kam zu einem erschreckenden Befund über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort. Diese gipfelten 1914 im letztlich erfolglosen Aufstand der verbliebenen Rapanui unter Führung der charismatischen Seherin Angata, der von chilenischen Soldaten niedergekämpft wurde. Bis 1967 blieb die O. unter Kriegsrecht und damit unter direkter chilenischer Verwaltung, spielte aber in den weiterführenden Planungen keine besondere Rolle. Erst unter dem Diktator Augusto Pinochet erfuhr die Insel eine Aufwertung. Pinochet, der die Insel mehrmals besuchte, erkannte die strategische Bedeutung der Insel zu Zeiten des Kalten Krieges und ernannte 1984 den ersten indigenen Rapanui zum Gouverneur der Insel. Mit der Demokratisierung in Chile wuchs auf Rapa Nui der Ruf nach mehr Autonomie bzw. einer Unabhängigkeit von Chile. In immer kürzeren Abständen kommt es seither zu Demonstrationen auf der Insel und zu Widerstand gegen verwaltungstechnische und infrastrukturbezogene Maßnahmen, die von der chilenischen Regierung zu implementieren versucht werden. Die Rapanui treten jedoch selbst nicht geschlossen auf: Neben jenen, die ökonomisch einen Vorteil darin sehen, daß Rapa Nui Teil von Chile ist, fordern andere eine weit reichende Autonomie, wieder andere die vollständige Unabhängigkeit der Insel. Darüber hinaus gibt es jene, die das gemeinsame polynesische Erbe der Insel mit den zentralpolynesischen Inseln, die unter französischer Verwaltung stehen, in Erinnerung rufen, und einen Anschluß an Französisch-Polynesien favorisieren. Die Überreste kultureller Manifestationen der traditionellen voreuropäischen polynesischen Kultur in Form der weltweit berühmten Steinstatuen sowie Holzschnitzereien hat nicht nur Fachwissenschaftler verschiedenster Disziplinen nach Rapa Nui gebracht, sondern ist auch Grundlage des stetig wachsenden Tourismus, der jedoch gleichzeitig von den indigenen Rapanui kritisch gesehen wird, da eine Wertschöpfung vor allem für chilenische Unternehmen vom Festland gegeben ist. Die Konflikte um einen widerrechtlich auf unter der Pinochet-Zeit enteignetem Rapanui-Land errichteten Hotelbau eskalierten 2011 in Straßenkämpfen und bilden bis heute ein ungelöstes Problem. Q: Ann M. Altman, Early Visitors to Easter Island 1864– 1877. The Reports of Eugène Eyraud, Hippolyte Roussel, Pierre Loti and Alphonse Pinart, Los Osos 2004. L: Steven Roger Fischer (Hg.), Easter Island Studies. Contributions to the History of Rapanui in Memory of William T. Mulloy, Oxford 1993. Walter Knoche, Die Osterinsel. Eine Zusammenfassung der chilenischen Osterinselexpedition 1911, Conception 1925. H ERMA N N MÜ CK LER Ostindienkompanien. Die vorrangig für den →Gewürzund Luxushandel gegründeten O. (East India Company/ EIC in England 1600, →Vereinigte Ostind. Kompanie/ VOC, in den Niederlanden 1602) konzentrierten sich in den ersten Jahren auf den Malaiischen Archipel. Der ind. Subkontinent, auf dem die Portugiesen (→Estado 613
o s t i n d i e nkom PAn i en
da India) anfangs eine stärkere Position innehatten, trat zunächst als zusätzlicher Lieferant von →Pfeffer sowie als Herkunftsregion von Textilien für die Refinanzierung des Gewürzhandels ins Blickfeld. Nachdem die VOC ihren engl. Konkurrenten auf Grund besserer Kapitalausstattung und militärischer Vorteile in den 1620er Jahren weitgehend aus dem Malaiischen Archipel verdrängen konnte, setzte die EIC zunächst auf die Geschäfte in →Indien. Ab dem Beginn des 18. Jh.s wurde darüber hinaus ein blühender Handel mit China (→Tee) etabliert. Grundlage für die brit. Position in Indien bildete das Privileg (farman), in dem der Mogul-Ks. (→Moguln) →Jahangir 1616 der EIC günstigere Zoll- und Handelskonditionen als allen anderen Europäern und den meisten asiatischen Kaufleuten einräumte. Weitere Verträge mit lokalen Herrschern und die militärische Verdrängung der Portugiesen verstärkten die Stellung der EIC weiter. Nach den ersten Niederlassungen an der Koromandelküste (Masulipatnam 1611, →Madras 1640) und in →Gujarat (Surat 1613) wurde in der 2. Hälfte des 17. Jh.s →Bengalen durch seine Seidenproduktion (→Seide) und der hohen Qualität seiner Baumwollprodukte zum Zentrum der engl. Aktivitäten (Hugli 1651). Der Handel mit ind. Textilien wurde sowohl im Warenverkehr nach Europa als auch im innerasiatischen Handel (→Country Trade) zum Kerngeschäft der EIC. In den Hochburgen des Textilgewerbes (Hinterland von Madras und Masulipatnam, Bengalen und Gujarat) gelang es, über etablierte Mittelsmänner (dalal) und dank einer starken Marktposition in den Städten zunehmend Einfluß auf die Produktion zu nehmen. Maßnahmen zur Standardisierung und Qualitätssicherung ließen sich durch die starke Position ind. Weber im traditionell dezentralen Produktionssystem nur langsam durchsetzen. Dennoch richteten sich diese zunehmend an der europäischen Nachfrage aus, zumal die EIC dazu überging, die Produktion vorzufinanzieren. Machte der Textilhandel in der 2. Hälfte des 17. Jh.s mehr als 50 % der Warentransporte nach Europa aus, wurde er während des 18. Jh.s vom chin. Teehandel überflügelt. Die negative Handelsbilanz durch den Abfluß des dafür unentbehrlichen Silbers glich die EIC erfolgreich durch den Export ind. →Opiums aus. Der Subkontinent wurde damit zusätzlich als Standort einer marktorientierten Agrarproduktion interessant, in deren Rahmen neben Opiaten auch →Baumwolle oder Indigo angebaut wurden (→Vertragsarbeit). Vor diesem Hintergrund richtete sich die Politik der EIC seit Mitte des 18. Jh.s zunehmend auf die fiskalische Kontrolle von Agrarland aus (→Steuersysteme). Unterstützt wurde diese Entwicklung vom steigenden Finanzbedarf für Administration und Militär, der über Steuereinnahmen abgedeckt werden sollte. Die EIC als stärkste O. in Indien war nie ohne Konkurrenz. Die VOC war früh in Indien vertreten, wo sie einen regelmäßigen Textilhandel mit dem Malaiischen Archipel organisierte. Zunächst wurde sie an der Koromandelküste (Petapuli 1606, Masulipatnam 1612) und in Gujarat (Surat 1618) aktiv, während eine ndl. Präsenz im äußersten Süden des Subkontinents erst Mitte des 17. Jh.s möglich war und in Bengalen stets wechselhaften Bedingungen unterworfen blieb. Wie die Engländer bauten die Niederländer ein weitgespanntes 614
Stützpunktnetz auf, das aber keinen so weitreichenden Einfluß auf die Textilproduktion entwickeln konnte und am Agrarexport nicht beteiligt war. Dahingegen unternahmen sie seit den 1630er Jahren gezielte Anstrengungen, das port. dominierte Ceylon (→Sri Lanka) mit seiner hochwertigen Zimtproduktion unter Kontrolle zu bringen. Vollendet wurden diese mit der →Eroberung von Colombo (1656) und Jaffnapatnam (1658) und dem parallel geschlossenen Protektionsabkommen mit dem ceylonesischen Kgr. von Kandy, welches das Erstzugriffsrecht auf Zimt ermöglichte. Einen v. a. machtpolitischen Rivalen für die EIC stellte die (erst 1664 gegründete) frz. Compagnie des Indes dar, die sich während der 2. Hälfte des 17. Jh.s (Surat 1668, →Pondicherry 1674) erstmals in Indien etablierte. Nach politischen und wirtschaftlichen Wirren wurde sie so weit reorganisiert, daß sie in den 1730er Jahren deutlich gegenüber EIC und VOC aufholen konnte. In den 1740er Jahren suchte sie mehrfach die militärische Auseinandersetzung mit der EIC um die Vormacht in Karnatik und Bengalen, die sie trotz verschiedener Erfolge nicht gewinnen konnte. Ab 1752 wurden die Expansionspläne der Compagnie des Indes eingestellt. Kleinere Kompanien traten hingegen nur punktuell in Erscheinung. Die Dänen, die sich auf den innerasiatischen Handel konzentrierten, waren z. B. bereits 1620 in →Tranquebar vertreten und hielten diesen Stützpunkt bis 1845. Die belg. →Ostende Kompagnie konnte 1727 in Bankibazar in Bengalen eine Niederlassung errichten, die jedoch bereits 1730/31 an die EIC überging. Im gleichen Jahr wurde eine O. in Schweden gegründet, die sich jedoch vorrangig dem Chinahandel widmete und Bengalen nur gelegentlich anlief. Der Prioritätenwechsel hin zu agrarbasierten und fiskalischen Einnahmen sowie die siegreichen Auseinandersetzungen mit Frankreich läuteten den Wandel der EIC von einer Handelskompanie zu einem machtpolitischen Akteur mit territorialen Herrschaftsansprüchen ein. Dies wurde begünstigt durch die innere Schwäche des Mogulreiches und die daraus resultierenden regionalen Machtkämpfe, welche die EIC geschickt instrumentalisierte. Als sie 1757 aktiv in einen Staatsstreich in Bengalen eingriff, konnte die EIC 1765 die Steuerhoheit (diwan) in Bengalen erringen und wurde so zu einer ind. Territorialmacht. In mehreren Kriegen, insb. gegen die Sultane von →Mysore (bis 1799) und die Marathen-Föderation (1817/18, →Marathen), konnte die Machtposition konsolidiert und durch territoriale Eroberungen ausgeweitet werden. Der sich zum Volksaufstand ausweitende Aufstand von ind. Soldaten 1857 (→Ind. Aufstand) führte schließlich zur Auflösung der EIC. Diese war nicht in der Lage, die astronomischen Kosten für den Militäreinsatz der kgl.-brit. Truppen zu begleichen, die die Niederschlagung der Erhebung nach sich zog. So endete die Geschichte der EIC nach 2½ Jh.en und Indien wurde zur brit. →Kronkolonie. Die Niederlande hatten ihren Einfluß in Südasien bereits nach dem Untergang der VOC 1799 verloren, während port. (→Goa) und frz. (Pondicherry) Besitzungen bis ins 20. Jh. überdauerten.
o s tti m o r
Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel, Darmstadt 2007. Om Prakash, European Commercial Enterprise in Pre-Colonial India, Cambridge 1998. JÜRGE N G. NAGE L
Osttimor. Die Demokratische Rep. Timor-Leste wird im Deutschen oft noch als O. bezeichnet. Timor-Leste ist jedoch der international offizielle Landesname (port.: „O.“). In der Amtssprache Tetum heißt das Land Timór Loro Sa’e, ebenfalls mit der Bedeutung „O.“ (wörtlich „Timor der aufgehenden Sonne“, aufgehende Sonne steht im Malayischen für die Himmelsrichtung Osten). Die Bevölkerung Timors gelangte im Rahmen der allg. Besiedlung der Region auf die Insel, die zu den Kleinen Sundainseln zählt und sich geographisch zwischen →Südostasien und Ozeanien befindet. Anthropologen gehen davon aus, daß die Nachkommen von drei Einwanderungswellen hier leben, wodurch auch die ethnisch-kulturelle und linguistische Vielfalt Timors zu erklären ist (Besiedlung durch vedo-australoide Völker um 40 000 bis 20 000 v. Chr., zweite Welle um 3000 v. Chr. vorwiegend aus →Neuguinea und einigen pazifischen Inseln, dritte Welle um 2500 v. Chr. aus Südchina durch austronesisch-sprachige Gruppen). Schon im 10. Jh. war Timor für sein →Sandelholz und als Anlaufpunkt für malaiische, javanische, chin. und später auch arab. Händler bekannt. Die ersten europäischen Entdecker berichteten von einer Anzahl von kleinen Stammesgebieten und Reichen auf Timor, die durch den Handel entstanden waren und von Liurais (timoresischen Klein-Kg.en) regiert wurden. Der erste Kontakt der Insel mit port. Händlern und Missionaren ist ins frühe 16. Jh. zurückzudatieren. Erstmals taucht Timor 1514 namentlich in einem port. Dokument auf. 1515 kamen die ersten Dominikaner und port. Händler nach Timor. Doch erst 1556 gründeten die Portugiesen in dem Ort Lifau im Gebiet der damaligen Kgr.e Oekussi und Ambeno (die heutige o.esische Enklave Oekussi) eine Siedlung, um den Handel mit Sandelholz zu sichern. Anfangs unterhielten die Portugiesen auf Timor jedoch weder eine Verwaltung, noch Militäroder Handelsposten. Diese wurden erst nach und nach als Reaktion auf die Bedrohung durch die Niederländer aufgebaut, die ihren Einfluß in der Region immer mehr ausdehnten. 1586 wurden schließlich große Teile Timors zur Kolonie Port.-Timor erklärt. Im Zuge der rk. Missionierung der Kleinen Sundainseln entstand im 16. Jh. auf der Nachbarinsel Solor eine Gemeinschaft von lokalen Christen, port. Soldaten und Sandelholzhändlern, die einheimische Frauen heirateten (von den Niederländern „Schwarze Portugiesen“ oder „Topasse“ genannt). Die Topasse wurden nach und nach zu einer unabhängigen Macht, die weder von den Niederländern noch von den Portugiesen kontrolliert werden konnten und den Sandelholzhandel mit Stämmen als Schiffsmasten größtenteils bestimmten. Mitte des 18. Jh.s schlossen sie sich mit lokalen Herrschern zusammen, um die Portugiesen aus Lifau, dem wichtigsten Hafen Timors zu vertreiben. 1769 gaben die Portugiesen schließlich Lifau auf, um in Dili, der heutigen Hauptstadt O.s, ein neues port. Zentrum zu gründen. Zur Gründungszeit Dilis herrschte auf Timor ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Portu-
giesen, Niederländern und Topasse. Grundsätzlich war Timor nun in einen Machtbereich der Niederländer im Westen, ausgenommen dem Gebiet der Topasse, und eine port. Einflußsphäre im Osten geteilt. Um die Besitzstreitigkeiten über die kolonialen Grenzen in der Region (Solor- und Timorarchipel) zwischen Portugiesen und Niederländern zu klären, kam es zu diplomatischen Verhandlungen in den letzten Dekaden des 19. Jh.s und zu Beginn des 20. Jh.s. Mit dem Vertrag von Lissabon (1859) und endgültig mit einem weiteren Vertrag 1916, nachdem Portugal in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland eingetreten war, legten die Niederlande und Portugal die heutigen Grenzen Timors fest. Der westliche Teil wurde Teil →Ndl.-Indiens und später an die Rep. →Indonesien angegliedert, der östliche Teil wurde zu einem Überseeterritorium Portugals (inkl. der Enklave Oekussi in der westlichen Hälfte Timors). Bis zum Ende des 19. Jh.s verfügten die Kolonialmächte über keine wirkliche Reg.sgewalt, sondern mehr über Einflußbereiche, in denen die einheimischen Herrscher die Macht über ihre Reiche behielten. Die Eingliederung Port.Timors in das →Port. Kolonialreich war in dieser Zeit einem ständigen Wechsel unterworfen. Die Zuständigkeit für die Kolonie verlagerte sich mehrfach zwischen →Macao und →Goa, denen sie jeweils aus finanziellen Gründen untergeordnet war. Der Nachteil lag in der eingeschränkten Entscheidungsbefugnis für die Gouv.e in Dili. Erst 1896 wurde Port.-Timor endgültig zu einer eigenständigen Kolonie. Portugal führte seine am weitesten entfernte Kolonie relativ locker bis in die 1960er Jahre, als es seine Politik der sozialen und linguistischen Assimilation intensivierte, innerhalb welcher Portugiesisch zur alleinigen Sprache in zentralen Institutionen in O. wurde. Die port. Kolonialzeit endete überstürzt 1975 mit der Dekolonisierungspolitik Portugals, die eine Folge der port. Nelkenrevolution 1974 war (→Dekolonisation). Nachdem die Nelkenrevolution die faschistische Diktatur in Portugal beendet hatte, bildeten sich in O. bereits im Mai 1974 mehrere Parteien. Am 28.11.1975 wurde die Unabhängigkeit O.s durch die Revolutionäre Front für ein unabhängiges O. (Frente Revolucionaria do Timor Leste Independente, FRETELIN) ausgerufen. Doch nur neun Tage später besetzte Indonesien das gesamte Gebiet und annektierte es unter dem Namen Timor Timur völkerrechtswidrig. Die durch einschüchternde Militärpräsenz geprägte Zeit der indonesischen →Okkupation (1975–1999) wird allg. als brutal und unterdrückend charakterisiert. Indonesien implementierte eine systematische soziale, ökonomische und linguistische Assimilation, in der der Gebrauch der Volkssprachen zugunsten des Indonesischen unterdrückt wurde. Einer der Höhepunkte der Unterdrückung der Bevölkerung O.s war das Santa-Cruz-Massaker (→Massaker) von 1991. Bei einer Demonstration gegen die indonesische Besetzung des Landes kam es zu einem blutigen Angriff auf Demonstranten, der zufällig von ausländischen Journalisten gefilmt werden konnte, wodurch O. weltweite Öffentlichkeit für den bereits 15 Jahre währenden Konflikt zuteil wurde. Als sich die Bevölkerung nach langem Widerstandskampf in einem Referendum 1999 für die Unabhängigkeit aussprach (mit 78,5 % registrierter 615
o u A g A dougou
Wähler), kam es zu schweren Übergriffen seitens indonesischer Milizen. Die Vereinten Nationen intervenierten und nahmen O. unter ihre provisorische Verwaltung (UNTAET). Die Übergangsverwaltung UNTAET endete mit der Unabhängigkeitsdeklaration am 20.5.2002. Erster Präs. O.s wurde der ehem. Unabhängigkeitskämpfer Xanana Gusmão (2002–2007). Innere Konflikte sorgten noch in den ersten Jahren für neue Krisen, doch seit 2008 haben sich die Verhältnisse im Land relativ stabilisiert. Das Indonesische, ohnehin die Lingua Franca WestTimors und der umliegenden Inseln, ist in der jüngeren Generation in Gebrauch geblieben. S. a. →Südostasien, Christentum, Timor Leste. James Dunn, East Timor: A Rough Passage to Independence, Double Bay 32003. Damien Kingsbury / Michael Leads (Hg.), Beyond Independence, Caulfield East 2007. Andrea K. Molnar, Timor Leste: Politics, History, and Culture, London 2010. E VA E NS L I NG Ouagadougou ist seit 1960 die Hauptstadt von →Burkina Faso. O. (in der Mosi-Sprache: Waogdogo) wurde vermutlich Ende des 15. Jh.s von den Mosi gegründet und war die kgl. Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, das an der Kreuzung wichtiger Karawanenwege lag. Der Hof des Moogo Naaba (Kg.) besteht bis heute. Sowohl die lokale Aristokratie und die Kolonialbeamten als auch die rk. Hierarchie prägten die urbane Entwicklung O.s. Sie setzte ein mit der Gründung der Kolonie →Obervolta, v. a. als Gouv. Hesling mit seinem Modernisierungsplan für die neue Hauptstadt begann. Damit wuchs die damalige Ansammlung kleiner Dörfer zu einer Stadt mit Lehmhäusern zusammen – im Kolonialjargon Bancoville („Lehmstadt“) genannt. Schon als die Franzosen 1896 O. eroberten, gehörte die Gegend zu den bevölkerungsreichsten Regionen der späteren Kolonie Obervolta. Infolge der Rekrutierung von Soldaten für den Ersten Weltkrieg sank die Zahl der Ew. der Stadt zwischen 1914 und 1926, stieg aber später wieder an. Die kommerziellen Aktivitäten in O. gewannen an Bedeutung, als sie nicht nur von den →Hausa- und den Yoruba-Händlern, sondern auch von Europäern ausgeübt wurden. Die erste Missionsstation wurde 1901 eröffnet. Die Missionsschulen wurden durch eine neue Erziehungspolitik seitens der Kolonialverwaltung ergänzt. Schon 1920 richtete Hesling u. a. eine Grund- und Berufschule ein und eröffnete 1922 eine Schule für Mädchen in O. 1932 wurde O. eine Stadtgemeinde, die die Berechtigung erhielt, einen eigenen Bürgermeister zu wählen. Die Metropole mit mehr als einer Mio. Ew. ist heute in fünf Arrondissements geteilt und beherbergt verschiedene internationale Organisationen. Michel Izard, Moogo, Paris 2003. Daniel Miles McFarland, Historical Dictionary of Upper Volta, London 1978. Elliott P. Skinner, African Urban Life, Princeton / New Jersey 1974. YOUS S OUF DI AL L O Ovambo. Im Nordwesten →Namibias zwischen dem Grenzfluß Kunene, der Namib-Wüste im Westen und dem Hochland im Osten leben die O. auf einer Fläche von ca. 56 000 km2 (d. i. 7 % der Fläche Namibias). Der Name stammt aus der Herero-Sprache und bedeu616
tet „Fröhliche“. Sie selbst nennen sich Aajamba („Reiche“). Sie bildeten bereits in der dt. Kolonialzeit die größte Bevölkerungsgruppe; in der Volkszählung von 1914 wurden 114 000 Angehörige ermittelt; 2003 bezeichneten sich 516 000 Ew. Namibias als O., was 30 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Nach der mündlichen Überlieferung wanderten die O. aus →Angola in ihr späteres Siedlungsgebiet ein. Die Ethnologen sind mehrheitlich der Meinung, daß dies nicht in Form einer „Völkerwanderung“, sondern seit ca. 1700 als Einsickern kleiner Gruppen in die nahezu menschenleeren Landstriche erfolgte. Die O. gliederten sich in der Kolonialzeit in sieben →Ethnien: Die Kwanyama (1914 ca. 37 %), die N’donga (28 %), die Kwambi (12 %), die N’gandjere (8 %), die Mbalantu (7 %), die Kwaluudhi (5 %) und die N’golonkaadhi (3 %). Die O. zählen zu den →Bantus. Als Verkehrssprache benutzen sie die vokalreiche Sprache der größten Gruppe, der Kwanyama. Daneben hat sich das Englische, das durch die vornehmlich von O. getragene Widerstandsbewegung SWAPO zur Verständigung mit den anderen Volksgruppen benutzt wurde, durchgesetzt. Die O. lebten während der dt. Kolonialperiode als Großviehzüchter und Ackerbauern. Außerdem betrieben sie Eisen- und Kupferverarbeitung. Da sich bis 1914 in ihrem Siedlungsgebiet kaum Weiße niederließen, hatte die Schutzgebietsverwaltung mit den O. wenige Probleme. Erst als die südafr. Verwaltung die →Apartheid einführte, kam es zu Spannungen, die in den von der SWAPO erfolgreich geführten Kleinkrieg mündeten. Eine Geschichte der Kwanyama verfaßte 1990 der einheimische Reverend Vilho Kaulinge, Healing the Land. Kaulinge’s History of Kwanyama Oral Tradition and History by the late Reverend Vilho Kaulinge of Ondobe as told to Patricia Hayes and Natangwe Shapange, Windhoek 1997. G ERH A R D H U TZLER Ovando, Juan de, * 1514 (?) Cáceres, † 8. September 1575 Madrid, □ Iglesia de San Mateo / Cáceres, rk. O., ein in Salamanca graduierter Jurist und Kollegiat des Colegio Mayor de San Bartolomé (seit 1547), war an zahlreichen bedeutenden Reformprojekten in der ersten Phase der Reg.szeit Philipps II. beteiligt. Erste Verdienste erwarb er sich 1564/65 als Modernisierer der von Kardinal →Jiménez de Cisneros gegründeten Universität Alcalá de Henares. 1566 erfolgte die Berufung in den Inquisitionsrat. Bald jedoch nahm eine andere Aufgabe ihn vollständig in Anspruch: Der Präs. des Consejo de Castilla, Diego de Espinosa, der einen alarmierenden Bericht über die Mißstände in den überseeischen Territorien erhalten hatte, veranlaßte die Beauftragung O.s mit einer Visitation des Indienrates, die von Juni 1567 bis Aug. 1571 dauerte. Seit 1571 stand O. dem Indienrat als Präs. vor. Er gehörte auch der 1568 eingesetzten Junta Magna an, die auf eine Anregung des 1566 verstorbenen Bartolomé de →Las Casas zurückging und die Verwaltung in Übersee auf neue Grundlagen stellen sollte. Daraus ging das von O. betriebene Projekt eines Rechtskodex für Las Indias nach dem Vorbild der Nueva Recopilación de las Leyes de Castilla hervor, das durch den Tod O.s unvollendet blieb und nach mehreren Zwischenstationen erst 1680 abgeschlossen wurde. Die Untersuchungen
PA As ch e, h An s
hatten nach Auffassung O.s v. a. erhebliche Informationsdefizite der Entscheidungsträger in Spanien in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten in Las Indias zu Tage gefördert. Um den Informationsaustausch zu verbessern, veranlaßte er u. a., daß dem Indienrat ein oberster Kosmograph und Chronist zur Seite gestellt wurde, daß ferner der Rat ein „Buch der Beschreibungen“ mit ständig zu aktualisierenden Daten verwahre, schließlich daß Fragebögen an Amtsträger der einzelnen Jurisdiktionen in Übersee verschickt wurden mit dem Ziel, aus den Antwortschreiben den Zustand der am. Territorien zu rekonstruieren. Die Ernennung zum Präs. des Finanzrates belastete das Zeitbudget O.s in seinen beiden letzten Lebensjahren zusätzlich mit der Herkulesaufgabe der Sanierung der kgl. Finanzen. So blieben – trotz eines hohen persönlichen Einsatzes – viele der von O. angestoßenen und betreuten Vorhaben ohne nachhaltigen Erfolg. Stafford Poole, Juan de Ovando, Norman 2004. DANI E L DAML E R
Overbeck, Hans Friedrich, * 28. März 1882 Bremen, † 19. Januar 1942, □ verschollen im Ind. Ozean, ev.-luth. O. stammte aus bremisch-hanseatischem Milieu. Der Vater war Reismakler (→Reis) u. sächs. Konsul in →Rangun. Nach dem „Einjährigen“ verließ O. das Alte Gymnasium, diente bei den Ulanen und stand bei seiner Ausreise 1904 in Diensten der Firma Behn-Meier & Co. in →Singapur. Nach kürzester Zeit wurde er Bevollmächtigter für Insulinde und pendelte zwischen der Zentrale in Singapur und den Hauptvertretungen und Außenstellen in SOA hin und her. Während dieser Dienstreisen durchstöberte er die Basare auf der Suche nach alten Manuskripten oder ließ sich mündlich weiterlebende Gedichte in Malaiisch bzw. Javanisch und in anderen indonesischen Sprachen aufsagen und hielt sie schriftlich fest. Es sind u. a. jene vierzeiligen Pantun, die er z. T. auf diese Weise vor dem Vergessen rettete. Früh erkannte O. die Bedeutung der von ihm übersetzten und hg. klassischen malaiischen Epen „Die Chronik der Malaien“ und „Die Geschichte des Hang Tuah“ für die malaiischsprachige Welt. Über 100 sprachwissenschaftliche Aufsätze in Fachzeitschriften stammen von ihm, genauso wie die 1938 bilingual javanisch-ndl. Sammlung von illustrierten Kinderliedern und Spielen der Kindermädchen. Ein weiteres Interessengebiet O.s. war bereits seit 1910 und verstärkt in der brit.-australischen Gefangenschaft während des Ersten Weltkriegs (erst in Singapur, dann ins Australien) die Sammlung und Bestimmung von Ameisen und Käfern. Seine Forschungsergebnisse schenkte er der entomologischen Abteilung des Staatlichen Museums für Tier- und →Völkerkunde in Dresden. 110 umfangreiche Begleitschreiben privaten Inhalts („Dresdener Briefe“, 1925–1939) sind weithin die einzigen autobiographischen Zeugnisse. Seit dem 10.5.1940 interniert – zuletzt in Alas Valley zusammen mit Walter →Spies u. a. – fand er den Tod mit dem Untergang der „Van Imhoff“ am 19.1.1942. O. war Autodidakt und Privatgelehrter. Von den Gebildeteten in der langen Reihe Deutscher in →Ndl.-Indien war er einer der letzten. Das Elternhaus, der Respekt vor klassischen Texten und die romantische dt. Schule ließen ihn in seiner
südostasiatischen kaufmännischen Umgebung zu einem Entdecker und Vermittler eines abstrakten überzeitlichen Malaientums für den dt.-sprachigen Leser werden. Was er als das wahre Gesicht der Malaien und Javaner entdeckt zu haben glaubte, hatte für ihn wenig zu tun mit der „Eingeborenenbewegung“, die am Vorabend der indonesischen und malaiischen Unabhängigkeit stand. Seine Interpretation der malaiischen Seele war nicht handlungsorierntiert, wie bei den Nationalisten, sondern kontemplativ. Seine wissenschaftlichen Aufsätze werden in →Indonesien und →Malaysia im sprachwissenschaftlichen Diskurs bis heute berücksichtigt. Wilfried Wagner, Hans Overbeck – ein früher Künder malaiischer und javanischer Identität, in: Ingrid Wessels (Hg.), Indonesien am Ende des 20. Jh.s, Hamburg 1997, 123–134. WILFRIED WA G N ER Overweg, Adolf, * 24. Juli 1822 Hamburg, † 27. September 1852 in Maduaria / Tschadsee bei Kukawa, □ Europäerfriedhof in Maiduguri / Nigeria, ev.-luth. O. studierte →Geologie in Bonn und Berlin u. a. bei Carl Ritter und erhielt durch seine Vermittlung die Gelegenheit, an der →Expedition von James Richardson und Heinrich →Barth als Astronom teilzunehmen. Nachdem die Gruppe die Sahara gemeinsam durchquert hatte, teilte sie sich auf und O. erreichte über Zinder und Gobir schließlich Kukawa, die damalige Hauptstadt von Borno. Von dort erkundete er als erster Europäer den Tschadsee. Mit Barth – Richardson war nach der Durchquerung der Sahara gestorben – unternahm er eine Reise nach Kanem nordöstlich des Tschadsees und begleitete einen Feldzug des Herrschers von Borno in das benachbarte und abhängige Schari-Logone-Zweistromland. Obwohl bereits gesundheitlich angegriffen, unternahm O. von Kukawa aus weitere Exkursionen. Erfaßt von einem schweren Fieber erlag er diesem 1852. Auf Befehl des brit. Residenten wurde sein Grab 1908 auf den europäischen Friedhof von Maiduguri im heutigen Borno State, Nigeria, umgebettet. O. Manuskripte gelangten über Barth nach Europa und wurden in Teilen posthum veröffentlicht. Wissenschaftlich bedeutsam sind O.s frühe geographische Erkundungen des Tschadsees, aber auch seine Vermessungsarbeiten während der Durchquerung der Sahara. Adolf Overweg, Reise zu den Buduma, in: K. Schleucher (Hg.), Frühe Wege zum Herzen Afrikas, Darmstadt 1969, 176–206. Heinrich Schiffers, Adolf Overweg, in: K. Schleucher (Hg.), Frühe Wege zum Herzen Afrikas, Darmstadt 1969, 146–175. D ETLEF G R O N EN B O R N Paasche, Hans, * 3. April 1881 Rostock, † 21. Mai 1920 Gut Waldfrieden bei Wiesental (Przesieki), □ Gut Waldfrieden, ev.-luth. Nach vorzeitigem Schulabbruch begann der Sohn des nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Hermann P. eine Laufbahn als Marineoffizier und wurde 1904 im Rang eines Oberleutnants auf dem Kreuzer Bussard vor die Küste →Dt.-Ostafrikas abkommandiert. Des →Ki-Suaheli mächtig, unternahm er mehrere Erkundungs- und Jagdausflüge ins Landesinnere, wobei er Nahaufnahmen von Wildtieren schoß, die zu den ersten →Fotografien dieser Art gehören. Auf Grund der erworbenen Kennt617
PA dm or e , ge o r g e
nisse erhielt er während des →Maji-Maji-Aufstandes im Aug. 1905 das militärische Kommando im Distrikt Rufiji. Für seine Erfolge bei der Niederschlagung der Revolte ausgezeichnet, beorderte man ihn wegen nicht autorisierter Friedensbemühungen nach →Daressalam zurück. Eine Malariaerkrankung (→Malaria) erforderte 1906 die Rückkehr ins Reich, wo er, geprägt von den Erfahrungen in Afrika, die Kolonialreg. öffentlich kritisierte. Nach seinem Abschied aus der Marine 1909 bereiste er mit seiner Frau →Ruanda, →Burundi und das Gebiet um den Kivusee, wo das Paar umfangreiches ethnologisches Material sammelte. Mit den seit 1912 in der von P. mitbegründeten Lebensreformzeitschrift „Der Vortrupp“ erscheinenden satirischen „Briefen“ des „Afrikaners Lukanga Mukara“, der seinem Kg. die Deutschen und ihre Eigenheiten auf entlarvende Weise beschreibt, wurde der Autor zu einem populären Vorkämpfer der Friedensbewegung; außerdem wirkte er an führender Stelle in der Abstinenz- und Jugendbewegung mit. Dennoch meldete er sich 1914 freiwillig zur Marine, die ihn jedoch 1916 unehrenhaft entließ. Wegen Verbreitung pazifistischer Flugblätter im Herbst 1917 des versuchten Landesverrates angeklagt, entging er der Todesstrafe, weil er auf Betreiben des Vaters, inzwischen Vizepräs. des Reichstags, als geistig unzurechnungsfähiger Schutzhäftling in ein Berliner Sanatorium eingewiesen wurde. Dort befreiten ihn am 9.11.1918 revolutionäre Matrosen und wählten ihn in den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte. Der plötzliche Tod seiner Frau zwang ihn zur Rückkehr auf das Familiengut zu seinen vier Kindern, wo er weiter publizierte und im Mai 1920 von Soldaten des Reichswehrschutzregiments 4 ermordet wurde. Zuvor hatte er sich in seinem letzten Text über den Verlust der dt. Kolonien im →Versailler Vertrag („Das verlorene Afrika“) noch einmal kritisch mit der dt. Kolonialherrschaft auseinandergesetzt, die sich einerseits durch wissenschaftlichen Erfassungseifer, andererseits durch Überheblichkeit, Respektlosigkeit und Verständnislosigkeit gegenüber fremden Kulturen und andersartiger Natur ausgezeichnet habe. Werner Lange, Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland, Bremen 1995. Ders., Hans Paasche: Militant Pacifist in Imperial Germany. A Biography, Victoria/Can. 2005. Alan Nothnagle, „Wer zählt die Tränen, die das kostete?“ Hans Paasches Weg vom Kolonialoffizier zum Pazifisten, in: Hans-Martin Hinz / Hans-Joachim Niesel / Almut Nothnagle (Hg.), Mit Zauberwasser gegen Gewehrkugeln, Frankfurt/M. 2006, 125–143. ANNE L I PART E NHE I ME R- BE I N
Padmore, George, * 28. Juli 1902 Tacarigua, Trinidad, † 23. September 1959 London, □ Urne i. Christianborg Castle, Accra, Religion unbek. P., dessen eigentlicher Name Malcolm Ivan Meredith Nurse war, war Journalist, Kolonialexperte und führender Vertreter des modernen →Panafrikanismus. 1924 ging er in die →USA und studierte dort Medizin, Soziologie und internationale Beziehungen. Nachdem er 1928 der kommunistischen Partei beigetreten war, nahm er den Tarnnamen G. P. an. 1929 nahm er am zweiten Kongreß der League Against Imperialism in Frankfurt teil. 1930 618
ging er nach Moskau, wo er zum Leiter des Negro Bureau of the Communist International of Labour Unions wurde. Er baute ein Netz von internationalen Kontakten in den Kolonien auf. 1931 nahm P. Kontakte mit afr. Nationalisten auf, mit denen er später zusammenarbeitete. 1934 wurde er aus der sowjetischen kommunistischen Partei ausgeschlossen. Daraufhin siedelte er 1935 nach London über. Dort spielten P. und sein Schulfreund aus Trinidad, C.L.R. James, eine herausragende Rolle in der Entwicklung des Panafrikanismus. 1945 war er an der Organisation des fünften →Pan-Afrikanischen Kongresses in Manchester beteiligt. Nach der Unabhängigkeit der Goldküste wurde P. Berater →Nkrumahs für panafr. Fragen. In →Accra traf er mit der jungen Generation afr. Nationalisten zusammen. Im Dez. 1958 organisierte er die erste all-afr. Völkerkonferenz in Accra, die als sechster Pan-Afrikanischer Kongreß gilt. P. veröffentlichte viele Bücher. Das von ihm 1956 veröffentliche Buch Pan-Africanism or Communism? The Coming Struggle for Africa schildert die Unabhängigkeitsbewegungen der Kolonien und diskutiert die Herausforderungen, mit denen die neuen afr. Staaten konfrontiert würden. Marianne Cornevin, Histoire générale de l’Afrique contemporaine, Paris 1972. James Hooker, Black Revolutionary, New York 1967. Dorothy Nelkin, Socialist Sources of Pan-African Ideology, in: William H. Friedland / Carl G. Rosberg (Hg.), African Socialism, Stanford 1967, 63–79. Y O U SSO U F D IA LLO Padri, Padrikriege. Die sog. Pk. in Westsumatra müssen als zwei unterschiedliche historische Auseinandersetzungen verstanden werden, die sich später verbanden, so daß aus einem Bürgerkrieg ein Kolonialkrieg wurde. Am Beginn des Konfliktes stand eine islamische Reformbewegung, die von den arabischen Wahhabiten beeinflußt war. Eine Gruppe von zurückkehrenden Pilgern brachte die Idee eines, von allen kulturellen Zufügungen gereinigten →Islam, 1803 nach Westsumatra und versuchte diesen „reinen“ Islam als Norm durchzusetzen. Neben diesem religiösen Motiv stand aber auch ein wirtschaftliches. Gegen Ende des 18. Jh.s erschöpften sich die Goldvorkommen in Westsumatra und damit zerbrach die wirtschaftliche Grundlage des Königtums in Tanah Datar. Dagegen hatte die Textilheimindustrie in Agam und →Lima Puluh Kota einen Aufschwung erfahren und auch der Kaffeeanbau (→Kaffee) weitete sich stark aus. Zum Aufstieg dieser exportorientierten Industrien war eine gewisse Rechtssicherheit nötig, die durch die Einführung der Scharia gewährleistet werden sollte. So kam es also zum Konflikt zwischen zwei sozialen und wirtschaftlichen Gruppen, der auf religiöser Ebene ausgetragen wurde. Dieser Bürgerkrieg wurde mit unterschiedlichen Intensitäten zwischen 1803 und 1821 geführt und sah die religiösen Erneuerer, die P., oder wenn man so will, die Kaffeeanbauer und Textilproduzenten, bald in der Oberhand. Als nach dem britischen Interregnum in Java und →Sumatra 1819 die Holländer wieder an die Küste Westsumatras zurückkehrten, mußten sie sich auf diese veränderten Machtverhältnisse einstellen. Der kostbarste und dynamischste Teil der Ökonomie, der Kaffeeanbau, befand sich unter der Kontrolle der P., die wenig Lust
PA k i s tAn
hatten, sich holländischen Interessen unterzuordnen. Die Holländer suchten deshalb das Bündnis mit der traditionellen Hierarchie, die 1821 bereit war, den Holländern Westsumatra vertraglich abzutreten. Damit kam der erste Teil des Pk.s, der Bürgerkrieg, zu seinem Ende und der zweite Teil, der Kolonialkrieg, begann. Wesentliche Teile der Hochlandbevölkerung Westsumatras wollten nicht akzeptieren, daß einige gescheiterte Aristokraten das Land an die Holländer verschachern konnten und schlossen sich dem von den P. geführten Widerstand an. Nachdem holländische Truppen bis 1824 einige Gebiete in Tanah Datar besetzen konnten, kam es zum Friedensvertrag mit den P., der jedoch schon nach wenigen Wochen von holländischer Seite gebrochen wurde. In dieser Phase des Krieges ging es u. a. darum, den →Minangkabau ein Opiummonopol (→Opium) aufzuzwingen, das der Kolonialmacht schnelle Gewinne versprach. Genau das wollten die puritanischen P., die selbst den Tabakkonsum (→Tabak) verboten hatten, auf keinen Fall dulden. Da zwischen 1825 und 1830 der Javakrieg alle holländischen militärischen Kräfte band, hielt in Westsumatra der status quo während dieser Zeit. 1832 wurden jedoch die Kaffeeanbaugebiete des Nordens angegriffen, Lintau und Kamang fielen und der Krieg wurde in das Gebiet des mächtigen Tuanku Bonjol ausgeweitet. Erst 1837 konnte Bonjol eingenommen und kurz darauf der Zwangsanbau von Kaffee in Westsumatra eingeführt werden. Die P. und ihre Form des „reinen“ Islam waren besiegt, aber nicht wirklich unterworfen. Der Widerstand der Minangkabau gegen die Kolonialmacht war und blieb. Christine Dobbin, Islamic Revivalism in a Changing Peasant Economy, Stockholm 1982. Werner Kraus, Zwischen Reform und Rebellion. Islam in Minangkabau, Wiesbaden 1984. WE RNE R KRAUS Páez Jaramillo, Pedro, SJ, * 1564 Olmeda de las Cebollas (Olmeda de las Fuentes), † 20. Mai 1622 Gorgora, □ Gorgora (genauer Ort nicht ermittelbar), rk. Der Spanier P. trat 1582 mit 18 Jahren dem Jesuitenorden (→Jesuiten) bei und studierte einige Jahre Theologie in Coimbra, Portugal. 1588 ging er als Missionar nach →Goa, das damals port. Kolonie war. Ein Jahr später reiste er Richtung →Äthiopien mit dem Ziel, dort als Missionar zu arbeiten. Er wurde jedoch von →Arabern gefangengenommen und als Sklave (→Sklaverei und Sklavenhandel) verkauft. Dabei wurde er zum ersten Europäer, der die südarab. Wüste Hadramaut durchquerte. Die Jahre 1590–1596 verbrachte er in Gefangenschaft im Jemen, wo er fließend Arabisch lernte. Nachdem er freigekauft worden war, brach er 1603 erneut nach Äthiopien auf. Er blieb zunächst in →Massawa, wo er Amharisch und Ge‘ez lernte. Anschließend reiste er nach Fremona, der damaligen Hauptniederlassung der Jesuiten in Äthiopien, und nahm seine Tätigkeit als Missionar auf. Er wurde an den Hof des äthiopischen Ks.s Za Dengel gerufen, der sich von P.s Sprach- und Kulturkenntnissen beeindruckt zeigte. 1604 konvertierte Za Dengel zum Katholizismus. Die Veränderungen religiöser Riten, die er anordnete, führten zu einer Rebellion, die mit dem Tod des Ks.s endete. P. war zuvor nach Fremona zurückgekehrt und blieb von der Gewalt verschont. 1607 bestieg
Susenyos den Thron. Er lud P. erneut an den Hof ein, und zwischen beiden entstand eine Freundschaft. Vom Ks. bekam P. Land auf der Halbinsel Gorgora am Tanasee, wo er ein Jesuitenzentrum gründete und den römischen Katechismus ins Ge‘ez übersetzte. 1618 sah und beschrieb P. als erster Europäer die Quelle des Blauen →Nils am Tanasee. Kurz vor P.s Tod 1622 konvertierte Susenyos zum Katholizismus. Das Grab P.s ist heute mit einer Gedenktafel versehen. George Bishop, A Lion to Judah, Anand 1998. A LK E D O H RMA N N
Pakeha →Aotearoa, →Maori Pakistan ist einer der bevölkerungsreichsten musl. Staaten der Welt und ging 1947 aus der →Teilung BritischIndiens hervor, die sich maßgeblich entlang religiöser Grenzen vollzog. Während der 1940er Jahre betonte die →Pakistan-Bewegung unter →Muhammad Ali Jinnah, daß P. als eine von den Hindus durch Religion und Kultur getrennte Nation betrachtet werden sollte. Seit seiner Gründung sah sich P. daher mit der Herausforderung konfrontiert, eine anerkannte ideologische Grundlage für eine religiös definierte nationale Identität zu formulieren. Diese Instrumentalisierung von Religion konnte die Entstehung von ethnisch begründeten Gruppenidentitäten allerdings nicht verhindern. Das Versagen, eine repräsentative Regierungsform zu entwickeln, verband sich mit einer ungleichen Verteilung von Ressourcen, was 1971 schließlich zur Abspaltung des östlichen Teils von P. führte, welcher zum unabhängigen Staat Bangladesch wurde. P. durchlebte eine wechselhafte politische Geschichte. Es dauerte 9 Jahre bis die erste Verfassung vollendet wurde, die zu großen Teilen eine Fortführung des →Government of India Act von 1935 (→British Raj) darstellte. Der Militärdiktator Ayyub Khan annullierte sie allerdings zwei Jahre später und führte 1962 seine eigene Verfassung ein. Diese war stark auf die Person des Präsidenten zugeschnitten, überdauerte jedoch nur sieben Jahre. Die dritte Verfassung, welche bis heute gültig ist, wurde 1973 verabschiedet und umfaßt eine parlamentarische Regierungsform, die in eine föderale Struktur eingebettet ist. Die Militärdiktatoren Zia-ul-Haq und Parvez Musharraf, die 1977 bzw. 1999 an die Macht kamen, setzten die Verfassungen allerdings aus und führten zahlreiche Änderungen ein, die ihrer Absicht dienten, dem Präsidentenamt mehr Macht zuzuerkennen. Der 18. Verfassungszusatz, der 2010 mit der Zustimmung der Oppositionsparteien verabschiedet wurde, stellte den ursprünglichen parlamentarischen Geist der Verfassung wieder her und umfaßt zusätzlich Klauseln, die den Provinzen durch die Übertragung von zahleichen Ministerien größere Eigenständigkeit gewähren. Doch gleichwohl die Demokratie 2008 wiedereingeführt wurde, besteht weiterhin ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Institutionen des Landes: Das Militär bleibt eine überentwickelte Institution, die besonders während Krisensituationen entscheidende Macht ausübt; gleichzeitig ist die Justiz in letzter Zeit selbstbewußter und unabhängiger geworden, was zu zahlreichen Konflikten mit dem Parlament und der Exekutive geführt hat. Hin619
PA kis tA n-b e we g u n g
sichtlich der Verwaltung ist P. in vier Provinzen unterteilt. Zusätzlich gibt es jedoch Regionen, die formal nicht als Teil des Territoriums betrachtet werden. Hierzu zählen die föderal verwalteten Stammesgebiete (federally administered tribal areas, FATA), Gilgit-Baltistan (die früheren Nördlichen Gebiete) und Azad →Kashmir. Im Jahre 2009 erhielt Gilgit-Baltistan durch die Errichtung eines eigenen gewählten Parlaments einen erheblichen Grad an Autonomie. Theoretisch ist auch Azad Kashmir autonom und besitzt einen Präsidenten sowie einen Premierminister. In Fragen der Verteidigung, der Außenbeziehungen sowie der Währung befindet es sich allerdings unter der direkten Kontrolle P.s, ohne jedoch formal als eine seiner Provinzen anerkannt zu sein. Auf Grund der zunehmenden Bevölkerungszahl und einem Mangel an funktionierender Verwaltung kam es zudem zu einer Intensivierung ethnischer Konflikte. Dies führte dazu, daß besonders im Süd-Panjab und in der Hazara-Division in Khyber Pakhtunkhwa (ehemal. →North-West Frontier Province) vermehrt Forderungen nach der Schaffung neuer Provinzen geäußert wurden. Zum Zeitpunkt seiner Gründung war P. mehrheitlich landwirtschaftlich geprägt. In der Folge haben jedoch zahlreiche Regierungen eine liberale wirtschaftliche Politik verfolgt, um lokale und ausländische Investitionen anzuziehen und P. so von einem Rohstoffproduzenten in einen industriellen Produktionsstandort zu verwandeln. Trotz der Verstaatlichung verschiedener großer und mittelgroßer Unternehmen unter Zulfikar Ali Bhuttos Regierung in den 1970er Jahren folgte man seit den 80er Jahren einer konsistenten Politik der Privatisierung und wirtschaftlichen Liberalisierung. P. ist ein Schlüsselspieler in den Unternehmungen der US-geführten NATO-Kräfte in Afghanistan. Dies resultiert aus der anhaltenden, wenn auch inkonsistenten, Partnerschaft mit den USA seit den 1950er Jahren, als P. während des Kalten Krieges zahlreiche Verteidigungsabkommen mit westlichen Ländern unterzeichnete. Seit den späten 70er Jahren versucht P. seinen strategischen Einfluß in Afghanistan und darüber hinaus auszudehnen, wodurch es in dieser Region zu einem wichtigen Akteur geworden ist. Ayesha Jalal (Hg.), The Oxford Companion to Pakistani History, Karachi 2012. Farzana Shaikh, Making Sense of Pakistan, London 2009. Mohammad Waseem, Politics and the State in Pakistan, Lahore 1989. AL I US MAN QAS MI
Pakistan-Bewegung. Die P.-B. bezeichnet die Bemühungen verschiedener musl. Gruppen und politischer Parteien, die Gründung eines unabhängigen Staates durchzusetzen, der die Gebiete Brit.-Indiens mit einer musl. Bevölkerungsmehrheit umfassen sollte (→Teilung Brit.-Indiens). Am 23.3.1940 verabschiedete die →Muslim League unter ihrem Vorsitzenden Muhammad Ali →Jinnah eine Resolution, in der erklärt wurde, daß die Muslime eine eigenständige Nation bildeten, da sie sich durch die Religion, die Geschichte und das Wertesystem von den Hindus (→Hinduismus) grundsätzlich unterschieden („Zwei-Nationen-Theorie“). Diese Definition der nationalen Identität durch das Kriterium der Religion betont eine Zurückführung der „Geschichte 620
Pakistans“ bis zur →Eroberung des Sindhs durch Muhammad b. Qasim 711 und der darauf folgenden Konversion von Hindus zu Muslimen. Durch diese lineare Entwicklungslinie von 711 bis 1947, die sich bei nationalistischen Historikern wie I.H. Qureshi und auch in heutigen pakistanischen Schulbüchern findet, werden die Muslime als eine Gemeinschaft dargestellt, die sich über Jh.e hinweg ihrer Identität bewußt war und sich so von den Hindus abgrenzte. Die brit. Herrschaft wurde in dieser nationalistischen Form der Geschichtsschreibung als eine leidvolle Zeit aufgefaßt: besonders die Vorherrschaft der Hindus in allen Bereichen des sozioökonomischen Lebens zu Lasten der ind. Muslime, wird hier herausgestellt. Die Periode der Kongreß-Reg.en in den Jahren 1937–1939 (→Indian National Congress, →Ind. Nationalismus) mit ihren vermeintlichen Übergriffen gegen die Rechte und die Kultur der Muslime, wird als eine Zeit beschrieben, in der sich die →Angst der Muslime vor einer hinduistischen Dominanz und Diskriminierung in einem ungeteilten unabhängigen →Indien verstärkte. Die kumulative Wirkung dieser historischen Strömungen und Ereignisse manifestierte sich in der Forderung nach einem eigenständigen musl. Staat, in dem die ind. Muslime gemäß den Vorschriften des →Islam leben könnten, die verschiedene Bereiche des Lebens, der Gesellschaft und des Staates betreffen. Die zentrale Stellung des Islam ist so gesehen „die ideologische Basis Pakistans“. Diese offizielle Version der pakistanischen Geschichte wurde von anderen Intellektuellen angezweifelt. Marxisten wie Hamza Alavi beschrieben die P.-B. als Werkzeug der musl. Bourgeoisie zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Interessen. Ayesha Jalal vertritt die These, daß wahlrechtlich festgeschriebene Mitbestimmungsrechte sowie sozioökonomische Rechte – nicht für eine bestimmte soziale Klasse, sondern für die gesamte musl. Gemeinschaft – die Beweggründe Jinnahs bildeten. So habe er die Forderung nach „Pakistan“ als Teil einer gewagten Verhandlungsstrategie in der Aushandlung der politischen Ordnung eines ungeteilten unabhängigen Indien instrumentalisiert. Verschiedene andere Wissenschaftler haben ebenfalls die Auffassung vertreten, daß die „Losung Islam“ v. a. darauf abzielte, Rückhalt für Pakistan zu schaffen und die vorrangigen Ziele des vorgeschlagenen Staates in erster Linie ökonomisch und sozial und nur in zweiter Linie religiös orientiert waren. Ferner standen gerade die führenden Geistlichen und verschiedene religiöse Gruppe in Indien der Forderung nach einem „islamischen Pakistan“ ablehnend gegenüber, nennenswert wären hier v. a. Abul Kalam Azad, Husain Ahmad Madani und Ata Ullah Shah Bukhari. Darüber hinaus hatte sich die Muslim League bis zu den Wahlen 1946 nicht zur stärksten Partei unter den ind. Muslimen entwickeln können, und selbst bei diesen Wahlen verzeichnete sie in der →North-West Frontier-Province eine Niederlage gegen die dem Congress nahe stehende Khudai-Khidmatgar–Bewegung (→Khan, Abdul Ghaffar) und konnte sich auch im →Panjab nur knapp die Mehrheit sichern. Hamza Alavi, The Social Origins of Pakistan and Islamic Ideology, in: Kalim Bahadur (Hg.), South Asia in Transition, Delhi 1986. Ayesha Jalal, The Sole Spokesman,
PAl Au
Cambridge 1985. Francis Robinson, Separatism among Indian Muslims, Delhi 1993. AL I US MAN QAS MI Palau, Palau Islands, Republic of Palau, auch: Belau; palauanisch: Belu’u er a Belau. Präsidialrep., in einem Compact of Free Association mit den →USA und seit 1.10.1994 unabhängig. Bestehend aus 16 administrativen Bezirken, offiziell „States“ genannt, deren Politik von direkt gewählten Gouverneuren und Provinzialparlamenten bestimmt wird. Hauptstadt ist st. 2006 Melekeok auf Babeldaop (zuvor Koror). Mittelpunkt ist ein dem USKapitol mit seiner Kuppel nachempfundener Gebäudekomplex. Die Nationalfahne zeigt den goldgelben Vollmond auf hellblauem Hintergrund, der den Himmel symbolisieren soll. Dem Präs., der direkt u. auf 4 Jahre gewählt wird, steht ein Rat der Häuptlinge (einer aus jedem „Staat“) bei, der in Fragen traditioneller Rechte u. Werte beratend hinzugezogen werden soll. Die Legislative, der Olbiil Era Kelulau (Nationalparlament), besteht aus zwei Kammern, dem Senat u. dem Abgeordnetenhaus. Die Legislativperiode beträgt 4 Jahre. Die P.-Inseln sind der westlichste Teil der →Karolinen, bestehend aus insg. 241 Inseln (mit Kleinstinseln 343), von denen neun Inseln besiedelt sind mit einer Gesamtlandfläche von ca. 500 km², davon fallen auf die größte Insel Babeldaop ca. 408 km². Die Inseln Babeldaop, Ngerekbesang und Ngemelachel sind vulkanischen Ursprungs und zeichnen sich durch fruchtbare Böden und erhöhte hügelige Lagen im Inselinneren aus. Die meisten übrigen Inseln sind von koralliner Beschaffenheit und niedere bzw. gehobene Inseln, die ebenfalls Höhen bis zu 208 m erreichen können und häufig dicht bewaldet sind. Auf Babeldaop befinden sich der einzige größere See Ngardok Lake sowie mehrere kleinere Flüsse, der größte und im Unterlauf von kleineren Schiffen befahrbare Fluß ist der Ngardorok. Südlich von Koror befinden sich unzählige Kleinstinseln, die sog. „Rock Islands“ (Chelbacheb). Höchste Erhebung: Mount Ngerchelchuus mit 232 m. Die regionale Land-Fauna ist v. a. im Bereich der Reptilien größer als im Rest des Pazifiks (Krokodile). Die marine Fauna zeichnet sich durch eine außerordentliche Vielfalt aus und umfaßt mehr als 1 500 Arten, darunter die im Bestand gefährdeten Seekühe (dugongs). Vegetationszonen reichen von Mangrovengebieten an der Küste zu savannenartigen Gebieten im Inneren der größeren Inseln. Die topographischen Gegebenheiten erschweren die Landwirtschaft trotz der fruchtbaren vulkanischen Böden. Die Gesamtbevölkerung betrug 2011 ca. 21 000 Ew., die Bevölkerungsdichte lag 1998 bei 48 Ew./km². Große ökonomische und finanzielle Abhängigkeit von den USA. Das teilweise hohe Bevölkerungswachstum stellt v. a. in den wenigen städtischen Bereichen ein soziales (Alkoholismus, Kriminalität) und wirtschaftliches Problem (Arbeitslosigkeit) dar. Hohe Bedeutung des →Tourismus (Tauchtourismus, Kriegsveteranen), daher forcierter Ausbau touristischer Einrichtungen. Geschichte: Die Besiedlung der Region erfolgte vom Westen kommend in Richtung Osten. Archäologische Indizien lassen eine Erstbesiedlung der Region zumindest im westlichen Teil vor ca. 4 000 Jahren möglich erscheinen. Funde lassen auf Kontakte nach →Südostasien (Glas- bzw. Keramikperlen aus der
Zeit ca. 200 v. Chr., udoud) und zu den Marianen-Inseln (Keramik- und Muschelartefakte) schließen sowie auf ein enges Nahverhältnis zu den Karolinen. Die europäische Entdeckung erfolgte wahrscheinlich bereits 1522 durch Gomez de Espinosa, der das span. Schiff Trinidad in palauanische Gewässer steuerte und eine Insel San Juan taufte, wahrscheinlich Sonsorol. 1686 hatte Spanien seine Autorität über die Inseln proklamiert, jedoch keine weiteren Schritte zur Entwicklung unternommen. Die eigentliche Kontaktphase begann mit d. Besuch von Kapitän Henry Wilson, dessen Schiff Antelope 1783 vor Koror strandete. Wilson unterstützte den lokalen Ibedul (Großhäuptling) von Koror in seinem Kampf gegen benachbarte Rivalen mit europ. Waffentechnologie. Der Sohn des Ibedul, →Lee Boo, begleitete Wilson bei seiner Rückkehr nach London. Die Briten blieben der Haupthandelspartner der Palauaner bis Spanien 1885 offiziell von den Inseln Besitz ergriff und die Verbreitung des rk. Christentums massiv förderte. Beziehungen zu Deutschland: 1861 hielt sich der dt. Naturforscher Karl →Semper 9 Monate auf P. auf. →Kubary folgte ihm eine Dekade später. Nach dem →Span.-Am. Krieg verkaufte Spanien P. zusammen mit den Marianen und Karolinen 1899 an das Dt. Reich. Dieses forcierte die ökonomische Nutzung P.s und initiierte zahlreiche Infrastrukturprojekte, die Verbesserung der medizinischen und sanitären Situation und die Anlage von Kokospalmplantagen. Da keine Europäer vor Ort waren, wurde zunächst der Karibikinsulaner James Gibbon(s) v. d. dt. Kolonialverwaltung als Administrator eingesetzt. Ihm folgte als dt. Stationsleiter (in Koror) August Winkler (1908–1914). Zusammen mit seiner p.anischen Ehefrau Ngeribongel kämpfte Winkler gegen traditionelle Widerstände der galid (Zauberer) u. reformierte die Geschlechterbeziehungen in den sog. bai, den Männerhäusern. St. 1910 baute die Dt. Südseephosphat AG (Bremen) Guano auf dem benachbarten Angaur ab. Eine Postanstalt u. eine Telegrafenstation wurden errichtet. Entwicklung nach 1914: Japan übernahm mit Beginn des Ersten Weltkriegs die P.-Inseln. Die darauf folgende Epoche war von gravierenden Veränderungen für die lokale Bevölkerung geprägt. Massive jap. Einwanderung veränderte die demographische Situation. Koror wurde zum administrativen Zentrum ausgebaut, ab 1922 alle jap. Besitzungen in →Mikronesien von Koror aus verwaltet. Während des →Zweiten Weltkriegs spielten die P.-Inseln eine bedeutende strategische Rolle auf dem Weg der US-Amerikaner nach den →Philippinen und nach Japan. Die Schlacht um Peleliu von 15.9. bis 25.11.1944 zählte zu den verlustreichsten Schlachten des Pazifikkrieges. Nach dem Krieg wurde P. Teil des US-verwalteten Trust Territory of the Pacific Islands (TTPI). Nach mehr als 30 Jahren im Status eines TTPI optierte die Bevölkerung P.s 1978 für die Unabhängigkeit und gegen eine Verschmelzung mit den →Föderierten Staaten von Mikronesien. Ein Compact of Free Association mit den USA wurde 1986 vereinbart, jedoch erst 1993 nach heftigen internen politischen Konflikten ratifiziert. Er trat am 1.10.1994 mit der Unabhängigkeit P.s in Kraft. Diese Verzögerung trat ein, nachdem es innerhalb P.s unterschiedliche Ansichten über die Gestaltung des zukünftigen Verhältnisses zu den USA gab. 621
PA l m e r s to n , he n ry j o h n tem Ple
Insb. die von P. vertretene Anti-Nuklearpolitik, die in der Verfassung, welche mit 1.1.1981 in Kraft trat („Republic of P.“), niedergeschrieben stand, vertrug sich nicht mit den am. strategischen Interessen. Die langjährigen politischen Kämpfe zeigten auch die Bruchlinien zwischen traditionellen politischen Autoritäten und gewählten politischen Führern sowie das Problem der Korruption auf. Der erste Präs., Haruo Remeliik (1933–1985), wurde ermordet, der dritte Präs., Lazarus Salii (1935–1988), beging angeblich Selbstmord. Eine Verringerung der Auslandsverschuldung ist langfristig überlebenswichtig für die Entwicklung des Landes. Dabei muß eine Balance gefunden werden, zwischen der Notwendigkeit, US-am. Finanzhilfe anzunehmen und gleichzeitig am. Begehrlichkeiten verstärkter militärischer Nutzung der Inseln zu stoppen. Ökologische Themen bestimmen zunehmend die palauanische Politik und die Ausweitung nachhaltiger Entwicklungskonzepte kann sowohl eine Erholung der teilweise überfischten und vom Tourismus in Mitleidenschaft gezogenen Gebiete bedeuten, als auch neue Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten schaffen. Offizielle Währung ist der US-Dollar. P. u. seine Bev. besitzen ein deutlich stärkeres Selbst- u. Unabhängigkeitsbewußtsein gegenüber den →Vereinigten Staaten als benachbarte mikronesische Staaten. Besondere Beziehungen bestehen zu Taiwan, das China in P. diplomatisch vertritt und sich finanziell dort stark engagiert. Die Gewässer um P. bilden st. 2009 das weltweit erste Haifisch-Schutzgebiet. Roland W. Force, Leadership and Cultural Change in Palau, Chicago 1960. Augustin Krämer, Palau, 5 Bde., Hamburg 1917–1929. Claudia Lauterbach, Von Frauen, Machtbalance und Modernisierung, Opladen 2001. Petra Steimle, Frauen u. Feste. Feste als sozialer Brennpunkt i. Pohnpei u. Belau, Diss. Freiburg i. Br. 1996. www.palaugov.org (offizielle Webseite d. Reg. v. Palau). H E R M ANN MÜCKL E R / HE RMANN HI E RY
Palmerston, Henry John Temple, 3rd Viscount, * 20. Oktober 1784 Westminster, † 18. Oktober 1865 London, □ Westminster Abbey / London, anglik. Brit. Politiker, seit 1806 für die Konservativen Mitglied des Unterhauses, dem er 58 Jahre angehören sollte. P. war Kriegsminister (1809–1828) und wechselte als Anhänger der Wahlreform 1829 zu den Liberalen. In den Reg.en Grey und Melbourne diente er als Außenminister (1830–1841). Liberale Kräfte auf dem Kontinent setzten große Hoffnungen auf ihn. Er zeigte sich als entschlossener Verteidiger brit. Interessen (Unabhängigkeit Belgiens, Opiumkrieg mit China, →Orientfrage usw.). Als Innenminister im Kabinett Aberdeen (1852–1855) setzte P. verschiedene Reformen durch (Arbeitsgesetze, Verbesserung der Bedingungen in der Gefängnisse usw.). 1855–1858 und 1859–1865 war er Premierminister. Unter seiner Führung erreichte Großbritannien Siege im →Krimkrieg gegen Rußland (1856) und im Zweiten und Dritten Opiumkrieg gegen China (1856–1858 bzw. 1859/60; →Opium), unterdrückte den →Ind. Aufstand und unterstützte den Prozeß der Vereinigung Italiens. In der Innenpolitik verfolgte P. den liberalen Kurs der Senkung von Steuern und Reg.sausgaben. 622
Evelyn Ashley, The Life of Henry John Temple, Viscount Palmerston, 2 Bde., London 2001. Jasper Ridley, Lord Palmerston, London 1970. Paul R. Ziegler, Palmerston, Basingstoke u. a. 2003. A LEŠ SK ŘIVA N JR. Palmyra. Gehobene Insel und Atoll, niederes in westöstlicher Richtung verlaufendes unbewohntes Atoll der nördlichen Line-Inseln, südlich Kingman Reef, nördlich Washington Island im östlichen Zentralpazifik. Incorporated territory der →USA, in Privatbesitz befindlich. Bestehend aus mehreren kleinen Inseln, deren meiste miteinander verbunden sind; Hauptinsel Cooper. Entdeckt vom am. Kapitän Sawle (Palmyra) am 7.11.1802, aber wahrscheinlich bereits von Kapitän Edmund Fanning (Betsy) am 13.6.1798 gesichtet. Die Besitzverhältnisse an dem Atoll wechselten häufig: Gerrit P. Judd (Josephine) nahm P. am 19.10.1859 für die American Guano Company in Besitz. Im Auftrag des hawai’ianischen Kgr.s (Kamehamehas IV.) wurde P. durch Kapitän Zenas Bent 1862 für →Hawai’i annektiert. Großbritannien annektierte kurzzeitig die Inseln am 28.5.1889 durch Kapitän Nichols (H.M.S. Cormorant). Nach der Einverleibung Hawai’is durch die USA wurde das Atoll ab 7.7.1898 zu Hawai’i hinzugezählt und von den USA annektiert. 1912 wurde durch das US-Kriegsschiff West Virginia formell die Inbesitznahme vollzogen und das Atoll verwaltungstechnisch von Hawai’i abgetrennt. Der in Honolulu lebende Amerikaner Henry Ernest Cooper erwarb am 23.6.1911 einen Titel für die Nutzung der Insel zwecks Anpflanzung von Kokospalmen. Er verkaufte später das Atoll bis auf zwei Inseln an Leslie und Ellen Fullard-Leo, die Gründer der P. Copra Company. Nach Coopers Tod gingen die restlichen Inseln an die Familie Fuller-Leo über. 1924 im Zuge der vom Bernice Pauahi Bishop Museum gemeinsam mit der US-Navy initiierten Whippoorwill Expedition besucht und untersucht. Während des →Zweiten Weltkriegs und den damit verbunden militärischen baulichen Maßnahmen (Bau einer Rollbahn) wurden aus 52 kleinen Inseln 39 größere und teilweise zusammenhängende Inseln geschaffen und die P. Island Naval Air Station gebaut. Nach dem Krieg fiel das Atoll in Bedeutungslosigkeit und Pläne, die Inseln touristisch zu nutzen, zerschlugen sich ebenso, wie Verkaufspläne an die US-Reg. Atollausdehnung: ca. 62,7 km²; Gesamtlandfläche: 11,9 km²; derzeit unbewohnt. Lage: 5° 52’ Nord, 162° 06’ West. H ER MA N N MÜ CK LER
Pan-Afrikanischer Kongreß. Internationale Tagung, deren explizites Ziel es war, die politische Lage des afr. Kontinents und der Afrikaner der Diaspora zu erörtern. Diese Orientierung wurde durch insg. fünf P.A.K.e beibehalten. Der erste P.A.K. wurde vom 19. bis 21.2.1919 in Paris organisiert. Die Kongreßteilnehmer, die aus Europa, den →USA, den →Westind. Inseln und →Afrika kamen, beschlossen Resolutionen und verfaßten Petitionen über die →Emanzipation der Afrikaner. Auch wurde die Idee aufgeworfen, weitere Sitzungen des Kongresses abzuhalten. Der zweite P.A.K. tagte 1921 in mehreren Sitzungen in London, Brüssel und Paris. In London wurden am 28. und 29. Aug. Rassendiskriminierung, Frei-
PAn Am Ak A n A l
heit, Gerechtigkeit, Bildung und Autonomie diskutiert. Der Kongreß zog dann nach Brüssel, wo die Tagung vom 31. Aug. bis 3. Sept. fortgesetzt wurde. In Paris tagte der Kongreß am 4. und 5. Sept. Das wichtigste Ergebnis des zweiten Kongresses war die Gründung einer Pan-African Association. Die erste Tagung des dritten P.A.K. von 1923 fand am 7. und 8. Nov. in London statt und die zweite in Lissabon Ende Nov./Anfang Dez. Zum vierten Kongreß vom 21. bis 24.8.1927 in New York kamen über 200 Delegierte aus US-Staaten und elf Ländern. Am 15.10.1945 fand der fünfte P.A.K. in Manchester statt, wo alle Fraktionen (wie Gewerkschaftsvertretern) und Tendenzen (etwa die Garvey-Bewegung) des →Panafrikanismus vertreten waren. Zum Vorbereitungskomitee gehörten George →Padmore und die junge Generation von afr. Staatsmännern wie →Nkrumah. Die P.A.K.e als Forumsdiskussionen kamen – trotz Kontroversen – zu substantiellen politischen Empfehlungen, die zur Emanzipation der Afrikaner von der kolonialen Bevormundung beitrugen. Imanuel Geiss, Panafrikanismus, Frankfurt/M. 1968. YOUS S OUF DI AL L O
Panafrikanismus. Afr. Einheitsbewegung. Ursprünglich bedeutete P. die Zusammengehörigkeit aller Menschen afr. Kultur und Herkunft weltweit, unabhängig von ihrer Nationalität. Der Begriff wurde erst 1900 während der Pan-Afr. Konferenz in London durch Henry Sylvester Williams aus Trinidad geprägt. Vorher war der P. keine präzise politische Ideologie, auch wenn es eine prinzipielle Idee der Rassensolidarität zwischen allen schwarzen Menschen als Reaktion der Afroamerikaner auf →Sklaverei, Diskriminierung und Segregation gab. Das Solidaritätsgefühl war grundlegend für die Entstehung des Pan-Negroism, welcher letztendlich die Stellung von Nachfahren ehem. Sklaven in den →USA und der brit. →Karibik zu →Afrika bestimmte. Befreite Sklaven aus →Amerika kehrten als Diaspora ins „Gelobte Land“ Afrika zurück. Der Problemkomplex des neuen Bewußtseins, der Rassensolidarität und der Auswanderungsbewegung resultierte in einem Proto-P. im 18. Jh. Im 20. Jh. kam der P. zur Entfaltung im Dreieck des ehem. Sklavenhandels, d. h. in Westafrika, in Nordamerika und in Westeuropa (v. a. England). Die Anhänger der neuen Pan-Bewegung in Westafrika waren die Eliten der brit. Kolonien insb. aus →Sierra Leone, der Goldküste und →Nigeria. In London und Paris, den zwei wichtigsten Zentren panafr. Aktivitäten, trafen sich die DiasporaIntellektuellen zu Diskussionen. Mit den weltpolitisch emanzipatorischen Prinzipien der Nachkriegszeit verband sich das P.-Konzept als Ideologie der →Dekolonisation Afrikas sowie der ökonomischen und politischen Modernisierung des ganzen Kontinents. Imanuel Geiss, Panafrikanismus, Frankfurt/M. 1968. YOUS S OUF DI AL L O
Panama. Staat in Mittelamerika, 75 517 km2, 3,4 Mio. Einw. (2011). Die Bevölkerung besteht zu 70 % aus Mestizen (→Casta) und je ca. 10 % Weißen, Afr.-stämmigen und Indianern. In P. wurde 1510 mit Santa María de La Antigua del Darién der erste span. Reg.ssitz auf am.
Festland errichtet. Die 1538 eingerichtete →Audiencia von P. wurde 1567 ins →Vize-Kgr. →Peru eingegliedert. 1740–1821 unterstand sie dem Vize-Kgr. Neu-Granada (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 4.). P. kam zentrale Bedeutung für die Verschiffung von →Edelmetallen nach Spanien zu. 1671 plünderten engl. Piraten P.Stadt und zerstörten es völlig. Es wurde an strategisch günstigerer Stelle einige km entfernt neu errichtet. In der Unabhängigkeitsbewegung des frühen 19. Jh.s spielte P. keine Vorreiterrolle, vielmehr blieb es royalistisch. Die Unabhängigkeit machte P. zu einer Provinz →Kolumbiens. Schon in den 1830er/40er Jahren unternahm P. einige Anläufe, ein souveräner Staat zu werden, was Kolumbien jedoch verhindern konnte. Brit. Ambitionen auf eine führende Rolle in P. zwecks Bau eines Kanals zwischen →Atlantik und Pazifik führten 1846 zum Abschluß des Bidlack-Mallarino-Vertrags zwischen Kolumbien und den →USA, in dem letztere die Souveränität Kolumbiens über P. und den ungehinderten Transit von Menschen und Waren innerhalb P.s garantierten. Mit US-Kapital wurde am Isthmus von P. eine Bahnlinie gebaut, die die Reise- bzw. Transportdauer zwischen den Ozeanen verkürzte. Seit 1856 kam es immer wieder zu Interventionen des US-Militärs zum Schutz der Bahnlinie. P. war durch den Bidlack-Mallarino-Vertrag de facto →Protektorat der USA geworden. Dieser Status wurde nach Erreichen der formalen Souveränität P.s 1903 durch die bilateralen Abkommen im Zusammenhang mit dem →Panamakanal zementiert, was in P. beständigen Anlaß zu Kritik gab (Stürmung der Kanalzone durch Studenten 1958, 1959, 1964). In der Politik dominierte jahrzehntelang das Militär. 1989 wurde der letzte Militärdiktator Manuel Noriega wegen seiner Beteiligung am internationalen Drogenhandel (→Drogen) per US-Intervention abgesetzt. Seitdem gelang eine umfassende gesellschaftliche Demokratisierung. 1999 übernahm P. von den USA die Kontrolle über die Kanalzone. Robert C. Harding, The History of Panama, Westport 2006. David Howarth, Panama, New York 1966. C H R ISTO PH K U H L
Panamakanal. Dem ehem. panamaischen Präs. Belisario Porras (1912–1916, 1918–1920, 1920–1924) wird der Ausspruch zugeschrieben, daß P. für und wegen des Kanals existiere. Tatsächlich sind Geschichte und Gegenwart des mittelam. Landes auf das engste mit dem berühmten Bauwerk verbunden. So verdankt sich die Gründung des heutigen Staates P. einzig den US-am. Plänen, mit Hilfe des Pk. die Häfen der Ost- und Westküste der →USA miteinander zu verbinden. Der Pk. ist nach dem →Suezkanal in →Ägypten der zweitwichtigste Schiffahrtsweg (→Schiffahrt) der Welt. Es handelt sich um eine künstliche Wasserstraße über den zentralam. Isthmus, die den →Atlantik mit dem Pazifik verbindet. Die heutzutage über die Schleusen des Pk. transportierte Warenmenge entspricht ca. 6 % des Welthandels (2005), wobei insb. die USA, Asien sowie einige lateinam. Staaten zu den Nutznießern gehören. Der Bau des Pk. begann im Frühjahr 1904 unter der Federführung von US-Präs. Theodore →Roosevelt (1901–1909), nachdem P. zuvor seine Unabhängigkeit von →Kolumbien erklärt hatte. 623
PA n A mA k A nA l
Leitende Ingenieure waren John F. Stevens und George W. Goethals. Hinter dem Vorhaben des Kanalbaus standen in erster Linie geopolitische Überlegungen, die maßgeblich von einer Studie des US-Militärstrategen Alfred T. →Mahan angeregt wurden. Um den Pk. unter Einsatz US-am. Kapitals und modernster Technik bauen zu können, mußte zunächst eine Einigung mit Kolumbien erzielt werden, zu dessen Staatsgebiet die vormalige Real →Audiencia de Panamá (1538–1751) seit 1821 als Departement gehörte. Auf Grund diplomatischer Differenzen mit der Reg. in Bogota über finanzielle Fragen und die Souveränität auf dem Isthmus, entschied Roosevelt, eine Separationsbewegung in P. zu unterstützen. Die alteingesessenen Eliten in Panama-Stadt versprachen sich von der Anbindung an die USA wirtschaftliche Vorteile und waren deshalb schnell bereit, die Unabhängigkeit zu erklären. Unter dem Schutz der US-Marine wurde dieser Schritt schließlich am 3.11.1903 vollzogen, ohne daß Kolumbien eingreifen konnte. Die Bauarbeiten in der sog. Kanalzone (16 km zu beiden Seiten des Pk.), die von 1904 bis 1999 existierte und de facto US-am. Territorium war, konnten somit beginnen. Am 15.8.1914 wurde der Pk. zur Durchfahrt freigegeben. Bis in die 1930er Jahre dominierten in P. die traditionellen Parteien der Liberalen und der Konservativen, die sich in ideologischer Hinsicht am kolumbianischen Vorbild orientierten. Im Unterschied zu Kolumbien, wo bewaffnete Parteianhänger im 19. Jh. zahlreiche Bürgerkriege über Fragen der Religion und des Staatsmodells ausfochten, waren die politischen Gegensätze in P. deutlich schwächer ausgeprägt. Die Konservativen waren für gewöhnlich von weißer Hautfarbe und rekrutierten sich in erster Linie aus Großkaufleuten und Finanziers, wohingegen die Liberalen oftmals →Mulatten oder Mestizen (→Casta) waren, die in vielen Fällen der urbanen Mittelschicht entstammten. Eine mächtige Großgrundbesitzerkaste wie in Kolumbien konnte sich in P. nie herausbilden. Obwohl die Konservativen die offene Unterstützung der USA genossen, regierten zwischen 1903 und 1932 auch liberale Politiker. Die bekannteste liberale Persönlichkeit in dieser Zeit war der erwähnte Belisario Porras. Auf Grund des 1904 zwischen P. und den USA abgeschlossenen Kanalvertrages war nicht nur die Kanalzone „auf ewig“ an die USA abgetreten, sondern auch die Souveränität des Landes massiv eingeschränkt worden. In dem Vertragswerk erhielten die USA das Recht, in Panama-Stadt sowie in der am Atlantik gelegenen Hafenstadt Colón zu intervenieren, sobald die politische Stabilität des Landes und damit die Sicherheit des Pk. gefährdet wären. Bis zum Beginn der Good Neighbor Policy unter US-Präs. Franklin D. Roosevelt (1933–1945) wurde der entspr. Artikel des Vertrages mehrmals als Vorwand für bewaffnete Interventionen mißbraucht, wobei die US-Marines in vielen Fällen von den Eliten regelrecht „gerufen“ wurden, um den politischen Gegner im Inneren auszuschalten. Erst in den 1930er Jahren erkannten Teile der panamaischen Eliten, daß die Existenz der US-Enklave im eigenen Land zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen führte. Somit begann der Kampf um die Wiederherstellung der nationalen Souveränität und die Kontrolle des Pk. Als sich die USA im Zeichen des heraufziehenden 624
Faschismus in Europa immer mehr aus Zentralamerika zurückzogen, gelangten in P. dezidiert nationalistische Politiker an die Macht, die sich v. a. auf die mittleren und unteren Schichten stützten. Auf der Grundlage eines rechtspopulistischen Diskurses machten insb. die Brüder Harmodio Arias (Präs. 1932–1936) und Arnulfo Arias (Präs. 1940–1941, 1949–1951, 1968) die Sache der „nationalen Souveränität“ zu ihrem Anliegen. Erst als Letzterer unverhohlen mit den europäischen Achsenmächten kokettierte, entschloß sich die US-Reg. zu dessen Absetzung, die im Okt. 1941 in Form eines Staatsstreichs erfolgte. Nichtsdestotrotz sollte sich Arnulfo Arias in den folgenden Jahrzehnten zur wichtigsten politischen Figur entwickeln, der zwar insg. dreimal zum Präs. gewählt wurde, seine Amtszeiten auf Grund weiterer Staatsstreiche jedoch niemals regulär beenden konnte. Doch selbst nach einer zweimaligen Revision der Kanalverträge (1936, 1956), wobei u. a. die Anwendung des Interventionsrechtes auf die Kanalzone begrenzt worden war, blieb das grundlegende Problem der beschnittenen Souveränität und der als unzureichend empfundenen US-Jahrespacht für den Pk. bis in die 1970er Jahre bestehen. Diese Situation änderte sich erst unter dem linksnationalistischen →Populisten und Militär Omar Torrijos (1968– 1981), der 1968 nach einem Staatsstreich der paramilitärischen Guardia Nacional die Macht an sich riß. Unter seinem →autoritären Regime, das sich ebenfalls auf die Unterschichten und Teile der Mittelschichten stützte, erreichte der panamaische Nationalismus seinen Höhepunkt. Obwohl Torrijos außerordentlich hart gegen Dissidenten vorging, erfreute sich „El General“, wie ihn seine Anhänger nannten, auf Grund diverser Imagekampagnen, assistenzialistischer Sozial- und Infrastrukturprogramme sowie eines dezidiert anti-am. und antioligarchischen Diskurses bald größter Beliebtheit in weiten Teilen der Bevölkerung. Bereits 1970 hatte Torrijos einen bedeutenden Schritt getan, um die ökonomische Abhängigkeit des Landes von der Ressource des Pk. zu verringern. Durch die Einführung liberaler Bankengesetze wurde P. zu einem bedeutenden Zentrum des Offshore Banking, wobei auf Grund des strengen Bankgeheimnisses neben internationalen Großbanken bald auch dubiose Finanzdienstleister ihre Filialen in Panama-Stadt eröffneten. Ein großer Teil von deren Einlagen bestand aus Geldern der kolumbianischen Drogenmafia (→Drogen). Ebenso gelang es dem Regime, die mit Handel, Finanzen und →Transport verbundenen Dienstleistungen weiter zu diversifizieren und auszuweiten, allerdings zum Preis einer stetig schrumpfenden Landwirtschaft und einer schwach entwickelten Industrie. Erst die allg. Schuldenkrise zu Beginn der 1980er Jahre sollte die zu einseitige Ausrichtung der panamaischen Wirtschaft auf den tertiären Sektor offenbar machen. So wies das Land inzwischen die höchste Pro-Kopf-Verschuldung sowie die ungleichste Einkommensverteilung in der Region auf. Torrijos, der 1981 aus nie geklärten Gründen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, erlebte den rapiden wirtschaftlichen Verfall allerdings nicht mehr mit. Trotz der unter seiner Reg. angehäuften Rekordverschuldung sollte er als der Mann in die Geschichte eingehen, dem es gelungen war, →Panamas Souveränität wiederherzustel-
PA n g lo n g k o n f eren z
len. Ein 1977 von US-Präs. Jimmy Carter (1977–1981) und Torrijos unterzeichneter Vertrag legte die schrittweise Übereignung des Pk. mitsamt der Kanalzone bis zum 31.12.1999 fest. Die USA behielten sich jedoch weiterhin Sonderrechte vor, die den Schutz und die Neutralität des Pk. auch in Zukunft garantieren sollten. Von USSeite waren zur Sicherung der Wasserstraße, aber auch zur Vorbereitung auf Counter Insurgency-Einsätze in →Lateinamerika, zeitweise bis zu 20 000 Soldaten in der Kanalzone stationiert. Daneben wurden in der School of the Americas (SOA) zahlreiche lateinam. Militärs ausgebildet, die in den 1970er und 80er Jahren großen Einfluß in den Armeen bzw. Militär-Reg.en ihrer Länder erlangten. Am Ende geriet auch Panama unter die diktatorische Herrschaft eines zunächst von den USA gestützten, bald jedoch international geächteten SOA-Absolventen: Manuel Noriega (1983–1989), ehemals Geheimdienstchef unter Torrijos. Dieser kooperierte zunächst mit den USA im Kampf gegen „Kommunisten“ sowie kolumbianische Drogenkartelle, wurde aber schließlich selbst unter der Anklage des Drogenhandels von US-Präs. George Bush (1989–1993) zum Rücktritt aufgefordert. Als sich Noriega weigerte, kam es zu einer blutigen Militärintervention durch US-Truppen, um – wie es offiziell hieß – die Sicherheit des Kanals zu gewährleisten, die Demokratie wiederherzustellen, den Drogenhandel zu bekämpfen sowie das Leben von US-Bürgern zu schützen (Dez. 1989/Jan. 1990). Nach Noriegas Verhaftung und der Stabilisierung des Landes zogen sich die US-Truppen 1999 schließlich vollständig aus Panama zurück. Das ehemals in der Kanalzone angesiedelte United States Southern Command (SOUTHCOM) wurde nach Miami verlegt, während die SOA mittlerweile im US-Bundesstaat Georgia unter dem Namen Western Hemisphere Institute for Security Cooperation (WHINSEC) angesiedelt ist. Bereits 1997 wurde zudem die autonome Autoridad del Canal de Panamá (ACP) gegründet, die den Pk. bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt verwaltet. Sie arbeitet unabhängig vom Staat P., der jährlich Gebühren aus der Benutzung des Pk. erhält. Da der Pk. jedoch mittlerweile an seine Kapazitätsgrenzen stößt, hat die panamaische Reg. 2006 entschieden, die Wasserstraße auszubauen. Insb. Schiffe der sog. Post-PANAMAX-Klasse können den zu eng geworden Pk. derzeit nicht passieren. Bei einem verfassungsmäßigen Referendum haben 78 % der Wahlberechtigten dem auf Grund befürchteter ökologischer Schäden umstrittenen Ausbau ihre Zustimmung erteilt. Dieses Ergebnis dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß der Pk. noch immer mit Abstand die wichtigste ökonomische Ressource des 3,3 Mio. Ew. zählenden Landes darstellt. Trotz zahlreicher Befürchtungen, daß P. nach dem langen autoritären Zwischenspiel unter Omar Torrijos und v. a. unter dem repressiven Regime von Manuel Noriega noch lange brauchen würde, um wieder zu einer liberal-demokratischen Ordnung zurückzukehren, haben die Jahre nach der Invasion eine erstaunliche Kontinuität und Stabilität in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht gezeigt. In wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht sind freilich noch immer Grundprobleme wie die monosektorale Ausrichtung der
Wirtschaft oder die ungleiche Einkommensverteilung geblieben. Karl-Dieter Hoffmann, Der Panama-Kanal soll wettbewerbsfähiger werden. Das Megaprojekt einer dritten Schleusenstraße, in: KAS-Auslandsinformationen 12 (2005), 31–64. Sven Schuster, „I Took Panama“. Die Separation Panamas in der neueren Historiographie Panamas, Kolumbiens und der USA, Eichstätt 2006. Rüdiger Zoller (Hg.), Panama: 100 Jahre Unabhängigkeit: Handlungsspielräume und Transformationsprozesse einer Kanal-Rep., Erlangen 2004. SV EN SC H U STER Panglong Konferenz, Februar 1947 in P., Shan Staat, →Birma. Unter Federführung von →Aung San ging es um die Gestaltung Birmas nach der anstehenden Unabhängigkeit von Großbritannien im gleichen Jahr und die Einheit Birmas unter Einbeziehung der ethn. Minderheiten. Der Konferenz war ein vom Shan-Staat organisiertes Treffen in P. vorangegangen, bei dem Vertreter anderer Volksgruppen vertreten waren und die Situation der Grenzgebiete bezüglich ihrer Eingliederung in ein unabhängiges Birma zu diskutieren. Die faktische Zweiteilung Birmas in „Upper Burma“ (z.T. autonom verwaltete Grenzgebiete) und „Ministerial Burma“ (von Birmanen dominiert und regiert) hatte in unterschiedl. Wahrnehmung u. Herangehensweise bezügl. der Unabhängigkeit resultiert. Die Minderheiten fürchteten den Ausschluß bei wichtigen Verhandlungen und verlangten ihrerseits, unabhängig von Birma zu werden. Derart polit. Konzessionen wurden trotz stetigem Kontakt zwischen Großbritannien und den Volksgruppen nie gewährt. Um den Graben zwischen den als rückständig bezeichneten Grenzgebieten und den von Aung Sans Exekutivrat verwalteten Irrawaday-Delta zu überbrücken, lud Aung San Vertreter der Kachin, Chin und Shan nach P. In dem anschließenden P. Abkommen ging es vordergründig um die Einheit Birmas und Übereinkünfte zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die Grundstein eines föderalen Staates werden sollte. Die Teilnehmer kamen überein, 1) einen von dem Minderheitenrat gewählten Vertreter als Berater dem Exekutivrat beizustellen, um die Angelegenheiten der Minderheiten aktiv einzubinden, und 2) prinzipielle Autonomie für Grenzgebiete bei internen Angelegenheiten zu gewähren. Außerdem wurde angeregt, die Kachin in einen separaten unabhängigen Staat zu entlassen. Die Privilegien (finanz. und wirtschaftl. Autonomie), die die Shan als größte Minderheitengruppe bereits genossen, sollten unangetastet und auf andere Minderheitengruppen übertragbar sein. Zusätzlich sollten Rechte nach dem Vorbild demokrat. Staaten gewährleistet werden. Bezeichnenderweise waren Vertreter der Karen, größtenteils loyal gegenüber der brit. Kolonialregierung, nur als Beobachter anwesend, Mon und Rakhine waren gar nicht geladen, da sie geographisch zu „Ministerial Burma“ gezählt wurden und somit nicht die gleichen Ansprüche geltend machen konnten wie die Volksgruppen der Grenzgebiete. Andere, heute als Separatisten operierende Gruppen wie die Wa oder Palaung wurden zu den Shan(Gebieten) gezählt. Somit war die ethn. Diversität Birmas nur geringfügig repräsentiert und die Rebellion einzelner Gruppen, die einem Flächenbrand gleich Birma bis heute 625
PA nj A b
in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand halten, nach der Unabhängigkeit eine logische Konsequenz. „P.“ ist trotz der Kritik und der Mängel zum Schlagwort für die Hoffnung auf ein vereinigtes Birma geworden: Der Ruf nach einer zweiten Konferenz wird seit den Wahlen von 2010 v. a. von Aung San Suu Kyi promulgiert, um alte Mißstände zu beheben und Birma langfristig zu versöhnen. Michael W. Charney, A History of Modern Burma, Cambridge 2009. Martin Smith, Burma (Myanmar): The Time For Change. Minority Rights Group International 2002. Robert H. Taylor, The State in Myanmar, Honolulu 2009. AL E XANDRA AML I NG
Panjab. Der zwischen →Indien und →Pakistan geteilte P. liegt im Nordwesten Südasiens. Etymologisch verweist der Name (panj: fünf; ab: Fluß, Wasser) auf die fünf Nebenflüsse des Indus, namentlich des Jhelam, Chanab, Ravi, Satluj und des Beas, die das Land durchziehen. Die Region war Schauplatz der antiken Hochkultur des Industals und einer aufsteigenden buddh. Zivilisation. Außerdem diente sie ab der vedischen Zeit als Zentrum der Produktion verschiedener bedeutender Texte, u. a. des Ramayana (→Hinduismus). Über die Jh.e hinweg wurde der P. von verschiedenen Dynastien unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft regiert. Zu ihnen gehören u. a. die Griechen, →Rajputen, Afghanen, Türken, →Moguln, Sikhs (→Sikhismus) und Briten (→British Raj). Mit der Etablierung einer musl. Autorität durch einfallende Afghanen und mit den späteren Mogulherrschern wurde der →Islam die dominante religiöse Tradition im P. Während der Herrschaft der Mogulen entwickelte Baba Guru Nanak eine neue religiöse Tradition, die später unter dem Namen Sikhismus bekannt werden sollte. Den Angehörigen dieser Tradition gelang es, ab dem späten 18. Jh. die Macht in der Region an sich zu reißen und ein eigenes Sikh-Reich zu etablieren, das 1848 von der brit. Kolonialmacht annektiert wurde. Mit der Unabhängigkeit wurde 1947 der P. entlang kommunaler Grenzen zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt. Auf Grund des großen militärischen und bürokratischen Einflusses der mehrheitlich musl. Bevölkerung im WestP., wurde die Region zu einem wichtigen Bestandteil von Pakistan. Der östliche ind. Teil wurde weiter, entlang seiner linguistischen Grenzen, in die drei Provinzen P., Harayana und Himachal Pradesh aufgeteilt. Imran Ali, The Punjab Under Imperialism, 1885–1947, Princeton 1988. Jaspal S. Grewal, The Sikhs of the Punjab, Cambridge 1990. Sayyid M. Latif, History of the Punjab, Lahore 1997. AL I US MAN QAS MI Panthersprung nach Agadir →Marokko-Krisen Papalagi (sprich: Pa’alangi) bedeutet im Samoanischen „Europäer“, „Weißer“. Ein Buch gleichen Namens wurde zum Kultbuch der 68er Bewegung, weil es insuinierte, ein von der westlich-europ. Kultur unabhängiger Samoahäuptling halte hier predigtähnlich Zivilisationsu. Europakritik. Dabei stammten sowohl der Text u. die vordergründig samoan. Kritik vom dt. Schriftsteller Erich Scheurmann (1878–1957), der sich 1914 im dt. Teil →Samoas aufgehalten u. dort Material für Veröf626
fentlichungen gesammelt hatte. Wenig Beachtung erfuhr dabei, daß Scheurmann selbst sehr anfällig für Zeitgeiststimmungen war u. 1936 im Verlag von Mathilde Ludendorff den offen rassistischen Roman „Zweierlei Blut“ publiziert hatte. Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea, Buchenbach 1920, unzählige Neuausgaben u. Ndr. nach 1973. H ERMA N N H IERY Papua-Neuguinea ist der nach Bev. u. Fläche größte Staat d. pazifischen Inselwelt. Entstanden aus den beiden Kolonien →Dt.-Neuguinea u. Brit. Neuguinea wurden diese auch nach der austral. Besetzung Dt.-Neuguineas u. der Übernahme als C-Mandat d. →Völkerbundes zunächst getrennt verwaltet. Besetzung durch Japan während d. Pazifischen Krieges. Nach dem →Zweiten Weltkrieg wurden die beiden austral. Kolonialverwaltungen vereint zum „Territory of Papua and New Guinea“. Auch nach der pol. Unabhängigkeit ist die historische Teilung des Landes in „Papua“, den ehem. britischen Teil, u. „New Guinea“, den ehem. dt. Teil, im Bewußtsein der Bev. noch so stark verankert, daß bis heute die Herkunft der Bewohner danach beurteilt. P. war einer der letzten Staaten weltweit, die einen eigenen Fernsehsender bzw. ein nationales Fernsehprogramm entwickelten (em tv, 1987). Die Bev. wächst rasant. Von 2 978 057 (Zensus 1980) über 5 171 548 (Zensus 2000) auf 7 059 653 (Zensus 2011), d. h. eine Zunahme um 137 % in 31 Jahren. Heute ist P. nach →Australien das bev.reichste Land im Pazifik u. nahezu doppelt so groß wie →Aotearoa. Dennoch wird das Land diplomatisch von Deutschland über die dt. Botschaft in Canberra, d. h. aus dem Land der ehem. Kolonialmacht, betreut. Die bereits eingerichtete dt. Botschaft in Port Moresby wurde auf Grund einer der ersten Maßnahmen des Außenministers Fischer im Oktober 1999 geschlossen. Damit ist P. das mit Abstand größte Land der Erde, in dem die Bundesrep. Deutschland nicht durch eine Botschaft vertreten ist. H ER MA N N H IERY
Paraguay (guaraní: Paraguái). Heutzutage das drittgrößte der vier Länder, die zum Cono Sur gezählt werden (→Argentinien, →Chile, P., Uruguay), mit Grenzen an →Brasilien, Argentinien und →Bolivien. Knapp 90 % der Bevölkerung sprechen das Guaraní (‚Krieger‘). Die Mehrheit der Paraguayer sind Nachkommen einer intensiven Mestizisierung (→Casta) verschiedener indigener →Ethnien (v. a. Guaraní) mit Spaniern, Portugiesen und weiteren Europäern zwischen dem 16. und dem 19. Jh., seit dem 20. Jh. auch mit Asiaten, sowie mit schwarzen Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), die Anfang des 19. Jh.s ca. 11 % der Bevölkerung ausmachten. Der Großteil der Bevölkerung lebt in der Hauptstadt →Asunción und im überwiegend fruchtbaren Osten des Landes, der von den beiden mächtigen Flüssen P. und Paraná sowie der Grenze zu Brasilien begrenzt wird, wohingegen sich in der westlichen Hälfte P.s der dünn besiedelte, aride Gran Chaco erstreckt, von dem weite Teile 1932– 1935 im →Chacokrieg gegen Bolivien erobert wurden. Das Gebiet des heutigen P. war vor Beginn der span. →Eroberung von verschiedenen Guaraní- u. a. Ethnien
PA rk , m u n g o
besiedelt. Mit dem Portugiesen Juan Díaz de Solís, der 1516 im Auftrag der span. Krone das Mündungsdelta der Flüsse Paraná, P. und Uruguay erreichte, begannen zahlreiche Erkundungs- und Eroberungsexpeditionen im Río de la Plata-Raum, die jedoch meist scheiterten. Dennoch gelang Spaniern und Portugiesen die Gründung mehrerer Ansiedlungen, von denen das am 15.8.1537 durch Juan de Salazar gegründete Nuestra Señora de la Asunción eine der wenigen dauerhaften sein sollte. Auf Grund des geringen wirtschaftlichen Erfolgs von der Krone vernachlässigt, fristeten Spanier und weitere Europäer in jener Region lange Zeit ein abgeschiedenes Dasein, wobei der geringe Zuzug von Europäern zu einem frühen Mestizisierungsprozeß beitrug. Viele dieser Mestizen nahmen ab den 1550er Jahren von Asunción aus ebenso wie mehrere Mönchsorden (Dominikaner, Mercedarier, Franziskaner) an der weiteren Kolonisierung teil, die v. a. durch die →Jesuiten ab dem 17. Jh. mit der Gründung zahlreicher Jesuitenreduktionen einen enormen und neuartigen Aufschwung erfuhr (→Jesuiten in Span.- und Port.-Amerika, 6.). Bis zu deren Vertreibung 1767 umfaßten diese misiones guaraníes, die für das Gebiet P.s häufig als Jesuitenstaat bezeichnet werden, an die 100 000 Indigene. Diese paternalistische, aber für viele Indigene auch Schutz bietende Parallelstruktur führte (oft auch aus Konkurrenz um den yerba mateHandel) zu zahlreichen Zusammenstößen mit Kolonisatoren und Jägern von Indigenen und Sklaven span. und port. (→Bandeirantes) Provenienz, z. B. im Guaraníkrieg (1751–1756). Administrativ gehörte das Gebiet seit 1534 zur Gobernación (Verwaltungsbereich) del Río de la Plata y del P. und war Teil des →Vize-Kgr.s →Peru. Ab 1537 hatte die Verwaltung ihren Sitz in Asunción, 1617 wurde das Gebiet zweigeteilt, wobei die Gobernación de Guayrá bzw. del P. in etwa das Ausmaß des heutigen Ostteils des Landes hatte. Der Rest des heutigen Gebiets stand damals unter der Kontrolle indigener Ethnien oder war nur dünn besiedelt. Ab 1776 wurde die Gobernación del P. Teil des neuen Vize-Kgr.s Río de la Plata mit Hauptsitz in →Buenos Aires, was die sinkende Bedeutung der demographisch konstant schrumpfenden Randregion P. im span. Kolonialreich verdeutlicht. Zu Beginn der Unabhängigkeitskriege blieb P.s Oberschicht der span. Krone treu und wehrte Annexionsversuche Buenos Aires’ ab, doch schon 1811 führte dieses lokalpatriotisch bedingte Bestreben zur Unabhängigkeit, die weiterhin auch gegen die Argentinische Konföderation verteidigt werden mußte. Unter José Gaspar Rodríguez de Francia, einem der Protagonisten der Unabhängigkeit, wurde P. 1813 eine Rep., doch Francia (genannt Dr. Francia oder karaí-guasu, ‚großer Herr‘) regierte das Land bis zu seinem Tod 1840 als Diktator mit starkem sozialem Ausgleich sowie hoher interner Repression. Zugleich stieg P. unter ihm und seinen Nachfolgern Carlos Antonio López und Francisco Solano López zu einer wirtschaftlich wie militärisch starken Regionalmacht auf. Deren Ambitionen wurden jedoch 1864–1870 im →Tripelallianzkrieg gegen Brasilien, Argentinien und Uruguay erstickt, bei dem wohl über die Hälfte der Ew. P.s ihr Leben ließ und ein Gutteil des Territoriums annektiert wurde. Der Krieg wurde so zur tiefsten Zäsur in der Geschichte der Rep.
P.; die folgenden Jahre waren v. a. von Wiederaufbau, Reparationszahlungen und der Penetration durch argentinische, brasilianische und brit. Wirtschaftsinteressen geprägt. Obwohl nach dem Krieg Männer überdeutlich in der Unterzahl waren, etablierte sich Ende des 19. Jh.s erneut eine männlich dominierte politische Landschaft, zu der auch die einflußreiche Asociación Nacional Republicana (Colorado-Partei) zählte. Diese wurde mit dem Umsturz von 1904 von den Liberalen abgelöst, was eine erste, fragile Demokratisierung einläutete. Ende der 1920er Jahre begann schließlich eine neue Phase der Kolonisierung durch die ersten dt.-sprachigen →Mennoniten, die aus →Kanada und der Sowjetunion nach P. kamen und im abgeschiedenen Chaco die Siedlungen Menno, Fernheim und Neuland gründeten. Ricardo Caballero Aquino, La segunda república paraguaya 1869–1906. Política, Economía, Sociedad, Asunción 31985. Jan M. G. Kleinpennig, Paraguay 1515–1870. A Thematic Geography of Its Development, 2 Bde., Madrid / Frankfurt/M. 2003. Jens Meyer-Aurich, Wahlen, Parlamente und Elitenkonflikte. Die Entstehung der ersten politischen Parteien in Paraguay 1869–1904, Stuttgart 2006. Thomas Whigham / Jerry W. Cooney, El Paraguay bajo el Dr. Francia, Asunción 1996. A LB ERT MA N K E
Parfüm →Duftstoffe Park, Mungo, * 11. September 1771 Foulshiels b. Selkirk / Schottland, † Januar oder Februar 1806 Yauri b. Bussa / Nigeria, □ unbek., ev.-ref. P. war siebtes von insg. dreizehn Kindern einer streng calvinistischen Bauernfamilie. Seit 1785 absolvierte er eine dreijährige Lehre bei dem Landarzt Thomas Anderson, dessen Tochter Allison seine Ehefrau und dessen Sohn Alexander sein Begleiter auf der zweiten Nigerreise wurden. Von 1788 bis 1792 studierte P. Medizin und Naturwissenschaften in Edinburgh. Nach einer Reise nach →Sumatra brach er 1795 mit Unterstützung der brit. African Association zur Erforschung des Niger-Gebietes auf. Von →Gambia aus zog er mit nur wenigen einheimischen Begleitern ostwärts und erreichte über Jarra, wo er vier Monate in der Gefangenschaft von Mauren verbrachte, am 21.7.1796 den oberen →Niger in der Nähe des heutigen →Bamako. Er hielt sich sieben Monate in dem westlich davon gelegenen Ort Kamilia auf und gelangte unter großen Strapazen und von Tropenkrankheiten geschwächt am 10.6.1797 an den Ausgangspunkt seiner →Expedition am Gambia-Fluß. Er war dann als Arzt in Großbritannien tätig, wo 1799 sein berühmter Reisebericht „Travels in the Interior of Africa“ erschien. Im Apr. 1805 brach P. von Gambia aus zu einer zweiten mit Mitteln der brit. Reg. reichlich ausgestatteten Forschungsreise zum Niger auf und erreichte ihn am 19. Aug. im Gebiet der Bambara. In Sansanding ließ P. ein Boot bauen, um den Fluß bis zur Mündung zu befahren. Danach erreichten nur noch einige briefliche Berichte die brit. Posten in Gambia, bevor seine Spuren sich bei Bussa im heutigen →Nigeria vollständig verloren. Heinrich Pleticha, Reisen ins innerste Afrika 1795–1806, Stuttgart / Wien 1995. U LR ICH BR A U K Ä MPER 627
PA r k i n s on, r i c h A r d
Parkinson, Richard, * 13. November 1844 Augustenburg auf Alsen (seit 1919 Dänemark), † 24. Juli 1909 Kuradui b. Herbertshöhe (Kokopo) / Neupommern, □ Kuradui, ev.-luth. Der angebliche Vater, aus Großbritannien stammend, war Gestütsleiter des Herzogs von Augustenburg. P. soll aber der illegitime Sohn des Herzogs gewesen sein. Gefördert durch die Prinzessin von Augustusburg, absolvierte P. eine Ausbildung zum Lehrer und war ab 1868 als Pädagoge im damals brit. Helgoland tätig. 1876 reiste er mit Johann →Kubary im Auftrag von Johan César →Godeffroy nach →Samoa. Von dort aus erkundete er erfolgreich Geschäftsmöglichkeiten für das Hamburger Handelshaus auf den polynesischen Inseln. Daneben war er auf Upolu als Plantagenleiter tätig. 1879 heiratete er die 16-jährige Halbsamoanerin Phoebe Coe (1863–1944), die Schwester „Queen“ Emmas. Die Familie siedelte 1882 nach Mioko im Bismarck-Archipel um. Dort und in Ralum auf der Gazellehalbinsel Neupommerns legte er im Auftrag von „Queen“ Emma Kokospalmen-Plantagen an. Auf Grund seines Antrags wurden die nördlichen →Salomonen ebenfalls unter den „Schutz“ des Reiches gestellt u. dem →Schutzgebiet der →Neu-Guinea-Compagnie zugeteilt (1885). Ab 1885 war P. vornehmlich als Ethnologe tätig. Er unternahm mehrfach Reisen innerhalb des Bismarck-Archipels, in den Nordosten Neuguineas, zu den Admiralitätsinseln und auf die nördlichen Salomonen. Dabei erforschte er Totemismus, Geheimbünde und Maskentänze. Sagen und Märchen Melanesiens zeichnete er auf. Seine Frau Phoebe, die →Kuanua sprach, half ihm dabei als Übersetzerin. Von Gebrauchsgegenständen der Bewohner des Bismarck-Archipels stellte P. Sammlungen zusammen, die an Völkerkunde-Museen in Deutschland und Wien gingen. Differenzen mit „Queen“ Emma und die Sicherung eines regelmäßigen Einkommens veranlaßten ihn 1889, bei der Neu-Guinea-Compagnie eine Anstellung als Plantagenleiter anzunehmen. Ab 1892 betrieb er die eigene Pflanzung in Kuradui. 1902 erkrankte er an Frambösie (→Treponematainfektionen), woran er 7 Jahre später starb. Dr. →Hahl, der →Gouv. von Dt.-Neuguinea, hielt die Grabrede. 1989 wurde der Grabstein aufgefunden und wieder aufgerichtet. Die Gebeine seiner Frau Phoebe († 28. Mai 1944 Bo Internment Camp) wurden 2004 ebenfalls hierhin überführt. Phoebe war in jap. Kriegsgefangenschaft gestorben u. in der Nähe von Namatanai vorläufig beigesetzt worden. Q: Im Bismarckarchipel. Erlebnisse und Beobachtungen auf der Insel Neu-Pommern (Neu-Britannien), Leipzig 1887. Beiträge zur Kenntnis des dt. Schutzgebietes in der Südsee, Hamburg 1887. Dreißig Jahre in der Südsee. Stuttgart 1907. L: Karl Baumann, Richard Parkinson, ein Pionier der Südsee, Fassberg 1993. Alfred Uechtritz, Concerning Phebe Parkinson (www.jje.info/lastlives/exhib/parkinsonpcl; 13.07.2014). G E R H ARD HUT Z L E R / HE RMANN HI E RY
Parsen. Die hauptsächlich in →Indien, v. a. in den westlichen Bundesstaaten Maharashtra und →Gujarat, vertretenen P. sind Nachfahren persischer Zoroastrier (Anhänger des iranischen Propheten Zarathustra), die sich vor mehr als 1000 Jahren infolge der arab. →Eroberung 628
Persiens in Indien niedergelassen haben. Ihre Bevölkerungsanzahl ist über die Jahrzehnte kontinuierlich zurückgegangen (laut offiziellen Angaben 69 601 bei der Volkszählung 2001). Die Qissa-i Sanjan ist der einzige existierende Text, der näher auf die Ereignisse im Zuge des Exodus und der schlußendlichen Besiedelung Westindiens eingeht. Das Avesta ist der wichtigste heilige Text der Zoroastrier und die Feuertempel die Kultstätten. Nach dem Tod bestatten die P. die Leichen in den dakhma, den „Türmen des Schweigens“. Ihre wichtigen →Feste sind u. a. der religiöse Initiationsritus Navjote, Nouruz (Neujahrstag), etc. Die P. leisteten, besonders seit dem 19. Jh., wichtige Beiträge für die ind. Kultur, auf sozio-ökonomischen und politischen Gebieten und spielten eine prominente Rolle in der ind. Geschichte. Berühmte P. waren u. a. die ind. Politiker Dadabhai Naoroji (1825–1917), Sir Pherozeshah Mehta (1845–1915) (→Ind. Nationalismus), Sir Disha E. Wachta (1844– 1936) und der Gründervater der ind. Eisen- und Stahlindustrie (→Industrialisierung) Jamsetjee Nusserwanjee Tata (1839–1904). Als Beispiele aus jüngerer Zeit zu nennen sind die Industriellenfamilien Wadia und Godrej. Mary Boyce, History of Zoroastrianism, 3 Bde., Leiden 1996. Eckehard Kulke, Die Parsen, Freiburg i. Br. u. a. 1968. Jesse S. Palsetia, The Parsis of India, Leiden 2001. SO U MEN MU K H ER JEE Partition →Teilung Britisch Indiens Passarge, Siegfried, * 26. Februar 1867 Königsberg / Preußen, † 26. Juli 1958 Bremen, □ Bremen, 1978 aufgelassen, ev.-luth. P. wurde als Sohn des Schriftstellers Ludwig P. in Königsberg in Preußen geboren. Der Vater reiste weitläufig in Europa und verfaßte über die Reisen etliche Publikationen. P. studierte in Berlin, Freiburg und Jena u. a. Medizin, promovierte 1890 in →Geologie. Die folgenden Jahre waren durch ausgedehnte Reisen nach Afrika gekennzeichnet, zunächst 1893/94 nach Adamaua ins heutige →Kamerun, 1896–1899 nach Südafrika, wo die Kalahari im Zentrum der Forschungen stand. Letztere Reise geschah, wie eine folgende nach →Venezuela 1901/02, im Auftrage der brit. West Charterland Company. 1903 habilitierte sich P. in Berlin für →Geographie und wurde 1905 Prof. in Breslau, 1908 in Hamburg, wo er dem neu gegründeten →Hamburgischen Kolonialinstitut beitrat. In Hamburg hat sich P. für eine enge Verbindung zwischen Kolonialpolitik und Wissenschaft, speziell der Geographie, ausgesprochen, hat aber auch den regionalen Schwerpunkt Südamerika begründet. Seine Publikationstätigkeit war enorm, bis zu seiner Emeritierung 1936 verfaßte er über 70 Landschaftsbeschreibungen, Lehrbücher zur Geographie, aber auch archäologischhistorische Studien, mitunter aber ist in den Schriften eine deutlich rassistische Einstellung zu vermerken. So bleibt eine wissenschaftsgeschichtliche Bewertung problematisch: Einerseits sind seine Verdienste für die Geographie unbestritten, andererseits haftet ihm insb. in der Ethnologie seine Nähe zum Nationalsozialismus an. Trotz dieser Färbung seiner Werke bleiben sie wertvolle Quellen für die Landschafts- wie auch Kulturgeschichte.
P elze, P elzh A n d el
Q: Siegfried Passarge, Adamaua, Berlin 1895. Ders., Die Kalahari, Berlin 1904. L: Eldridge Mohammadou, Les sources de l’exploration et de la conquête de l’Adamawa et du Bornou Allemands (1893–1903): Passarge, Dominik, Bauer, in: Paideuma 40 (1994), 37–66. DE T L E F GRONE NBORN
Pastorius, Franz (Francis) Daniel, * 26. September 1651 Sommerhausen (Mainfranken), † Jahreswende 1719/20 Germantown (Pennsylvania), □ unbek., zunächst ev.-luth., dann radikaler Pietist, schließlich Quäker Der Sohn des Juristen, Bürgermeisters der Reichsstadt Windsheim und Barockdichters Melchior Adam P. (1624–1702) besuchte 1668–1674 die Universitäten Altdorf, Straßburg, Basel und Jena und wurde 1676 in Altdorf promoviert. Bis 1679 praktizierte er als Jurist in Windsheim und ging dann nach Frankfurt/M., wo er sich den Saalhofpietisten um Johann Jakob Schütz und Johanna Eleonore von Merlau anschloß. 1680–1682 begleitete er einen Adligen auf einer Kavalierstour durch mehrere europäische Länder. Wachsende Abneigung gegen die akademische Gelehrsamkeit seiner Zeit, Kritik an der Lebensführung der Oberschichten und Differenzen mit seinem Vater führten schließlich zum Bruch mit der als moralisch korrumpiert empfundenen alten Welt. Den konkreten Anlaß zur →Auswanderung bildete der Erwerb einer Option auf 15 000 Morgen Land in der neu gegründeten Kolonie Pennsylvania durch die Saalhofpietisten, die eine „Teutsche Landcompagnie“ bildeten. Die Absicht der Gruppe, durch Übersiedlung nach →Amerika dem „sündhaften“ Europa zu entfliehen, wurde jedoch nie realisiert. Im Aug. 1683 erreichte P. mit neun Begleitern Philadelphia; zwei Monate später gründete er mit Krefelder Einwanderern die Siedlung Germantown, die 1702 ca. 230 Einwohner zählte. P.s Briefe und Berichte nach Europa, die wiederholt gedruckt wurden (Umständige Geographische Beschreibung Der zu allerletzt erfundenen Provintz Pensylvaniae, … Frankfurt/ Leipzig 1700, 21704), beschreiben die Anfänge der Siedlung, den natürlichen Reichtum des Landes und die indianischen Ureinwohner. Auf Grund seiner Bildung und beruflichen Erfahrung bekleidete P. als Dolmetscher, Notar und Verfasser von Rechtsdokumenten eine führende Stellung in Germantown und übernahm zahlreiche öffentliche Ämter (u. a. Friedensrichter, Mitglied des →Abgeordnetenhauses). 1688 unterzeichneten P. und drei weitere Ew. Germantowns die erste in Nordamerika verfaßte Protestschrift gegen die →Sklaverei. Nachdem ihn die Frankfurter Landkompanie 1700 seiner Stellung als Agent enthoben hatte, war P. als Lehrer in Germantown tätig. Als polyglotter, enzyklopädisch gebildeter Akademiker und Literat nimmt er unter den frühen dt. Amerikaauswanderern eine singuläre Stellung ein. Klaus Deppermann, Pennsylvanien als Asyl des frühen dt. Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 10 (1984), 190– 212. Rüdiger Mack, Franz Daniel Pastorius – sein Einsatz für die Quäker, in: Pietismus und Neuzeit 15 (1989), 132–171. MARK HÄBE RL E I N Pazifikkrieg →Salpeterkrieg
Peary, Robert Edwin, * 6. Mai 1856 Cresson/Pennsylvania, † 20. Februar 1920 Washington D. C., □ Arlington, National Cemetery, Rel. unbek. Der US-Amerikaner galt, nachdem die einschlägigen Experten die Inanspruchnahme dieses Erfolgs seitens Frederick Cooks (1865–1940) mit hoher Wahrscheinlichkeit widerlegt hatten, vielen als Entdecker des Nordpols. P. will den Nordpol am 6.4.1909 mit fünf Begleitern, darunter vier →Eskimo, erreicht haben. Aus dem entspr. Dokumentationsfoto kann allerdings nur eine Polannäherung auf ca. 100 km sicher abgeleitet werden. Mehrheitlich versagt die Wissenschaft mittlerweile P. die Anerkennung. Zentraler Kritikpunkt ist die Festlegung P.s, er habe in den letzten vier Tagen knapp 250 km zurückgelegt. Vorher hatte man täglich nur 20 km geschafft. Die Rückkehretappen sollen sogar noch länger gewesen sein. Dazu kommt, daß ausgerechnet der Arktisreisende und Navigator Robert Bartlett beim genannten letzten Stück nicht mehr dabei war. Die Eskimos waren nicht imstande, die →Eroberung des Nordpols zu verifizieren. Außerdem enthält P.s Tagebuch keine Eintragung hinsichtlich des entscheidenden Tages. Auch behauptete P. fälschlicherweise, ein neues Festland („Crocker-Land“) gefunden zu haben. Mehrere US-Kriegsschiffe wurden nach ihm benannt. Q: Robert Peary, Nearest the Pole, New York 1907. L: S. Allen Counter, North Pole Legacy: Black, White and Eskimo, Amherst MA 1993. Dennis Rawlins, Peary at the North Pole: Fact or Fiction? Washington DC 1973. Johannes Zeilinger, Auf brüchigem Eis, Berlin 2009. CH R ISTIA N H A N N IG
Pelze, Pelzhandel. P. stellten bereits in der Antike, besonders aber seit der Frühen Neuzeit im Zusammenhang mit der europäischen Expansion ein wichtiges Handelsgut dar. Sie zeugten von Status und Macht militärischer und ziviler Würdenträger, dienten dagegen bei den indigenen Völkern Nordamerikas, der Polarregionen und →Sibiriens als alltägliche Bekleidung. Rußland war z. B. der wichtigste Pelzlieferant für die Hanse und Novgorod wurde zum Hauptumschlagplatz. Die russ. P. stammten v. a. aus Nordrußland. Eine Erweiterung des russ. Pelzhandels setzte mit der →Eroberung Sibiriens seit dem späten 16. Jh. ein. Bereits seit der Mongolenherrschaft über Sibirien im 13. Jh. hatte sich ein reger Pelzhandel zwischen Sibirien, Zentralasien (Buchara), dem Mittleren Osten (Persien) und China entwickelt. 300 Jahre später waren an der neuzeitlichen Eroberung Sibiriens durch das Zarenreich →Kosaken, Jäger und Pelzhändler beteiligt. Sie bildeten in der Anfangszeit der russ. Kolonisation die wichtigste Bevölkerungsgruppe. Bei ihrer Suche nach Pelzvorkommen erschlossen sie neue Gegenden und trieben die Expansion immer weiter nach Osten. Wenn die Pelztiervorkommen erschöpft waren, verließen Jäger und Pelzhändler die Siedlungen und zogen weiter. Die Grundlage des Handels mit der indigenen Bevölkerung Sibiriens waren zunächst P., die als Tribut (jassak) eingezogen wurden. Später übernahmen die Händler die Aufgabe, die Bevölkerung mit Gebrauchsgütern zu versorgen. So tauschten die sibirischen Stämme P. gegen Waffen, Handwerkzeug, europäische 629
P e n A ng
Lebensmittel sowie Alkohol und →Tabak. Der Ph. in Sibirien zeigte von Anfang an eine Monopolbildung, an der sich zunächst die aus Nordrußland stammende Familie der Stroganovs, später auch Kaufleute aus Moskau beteiligten. 1799 folgte unter Zar Paul I. die Gründung der Russ.-Am. Handelskompanie, die v. a. für Pelzjagd, Verarbeitung und Handel auf den →Kurilen, den Aleuten sowie Alaska (→Russ.-Amerika) zuständig war. Sie war als Konkurrenzunternehmen zur brit. Hudson’s Bay Company (HBC) gedacht. Die Geschichte des Ph.s in Sibirien und Nordamerika weist Ähnlichkeiten auf. Mit der Gründung der HBC am 2.5.1670 wollten die Briten das Pelzmonopol der Franzosen in →Kanada brechen. Wie in Sibirien wurden die Pelzgebiete über Flüße erschlossen, die P. wurden im Tausch gegen Werkzeuge, Waffen, Alkohol und Tabak getauscht. Durch die Vereinigung mit der ebenfalls im kanadischen Pelzgeschäft tätigen North West Company (Sitz Montréal) 1821 reichte das Territorium der HBC im Norden bis zum Arktischen Ozean und im Westen bis zum Pazifik. Während in Sibirien v. a. der Zobel gejagt wurde, war es in Kanada der Biber. An der sibirischen und kanadischen Pazifikküste wurden zudem Seeotter und Robben gejagt. In den →USA gab die Pelzjagd den Impuls für die Erschließung des Westens. Von den Great Plains erschlossen v. a. Trapper die Gebiete bis zu den Rocky Mountains und der Pazifikküste. Der Ph. hat von der Mitte des 17. bis zu Beginn des 19. Jh.s die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Sibirien und Nordamerika entscheidend geprägt. Gleichzeitig führte die extensive →Jagd zur Dezimierung bzw. Ausrottung zahlreicher Tierarten wie z. B. des sibirischen Zobels und des nordam. Bisons. Esther Cameron, Leather and Fur, London 1998. James R. Gibson, Otter Skins, Boston Ships, and China Goods, Montreal 1992. Harold A. Innis, The Fur Trade in Canada, Toronto 1999. E VA- MARI A S TOL BE RG Penang. Die Insel P. (Malaiisch Pinang‚ Betelpalme, Betelnuß) gehörte zum Sultanat Kedah, das an der Westküste der malaiischen Halbinsel liegt. Kedah ist eines der ältesten noch existierenden malaiischen Sultanate im heutigen →Malaysia und wahrscheinlich mit dem aus mittelalterlichen arab. Quellen bekannten Land ‚Kālah‘ identisch. Kedah unterhielt im 18. Jh. rege Handelbeziehungen zur brit. East India Company (EIC, →Ostindienkompanien), zur ndl. →Vereinigten Ostind. Kompanie (VOC) als auch zu freien Händler wie z. B. Thomas Forrest oder Francis →Light. Am 11.8.1786 wurde P. unter dem Namen „Prince of Wales Island“ von der EIC formell in Besitz genommen, wodurch die EIC auch in der malaiischen Halbinsel zu einer territorialen Macht wurde. Die wachsende Macht und Präsenz der VOC in →Sumatra hatte das Interesse der EIC an einem Stützpunkt in der Straße von →Malakka in den 1780er Jahren wieder wachsen lassen. Light leitete bis zu seinem Tode 1794 die Verwaltung der neuen Kolonie, die zunächst als Zwischenhafen und -station für den wachsenden Chinahandel der EIC diente. Ursprünglich ein relativ unbedeutender Außenposten des Sultanats Kedah, wurde P. rasch zu einem wichtigen regionalem Handelszentrum des frühen 19. Jh.s, begünstigt durch 630
seine geographische Nähe zum malaiischen Festland mit seinen ausgedehnten Zinnvorkommen einerseits, und zu →Aceh und den malaiischen Sultanaten an Sumatras Ostküste andererseits. Die Folge war eine unmittelbare Bevölkerungszunahme. Die meisten Siedler kamen aus den benachbarten Regionen wie Kedah u. a. Staaten auf der malaiischen Halbinsel, aus Aceh und den Gebieten Nordsumatras, sowie aus →Siam und →Birma. Weitere frühe Einwanderer stammten aus China, →Indien und Hadramaut. Ein weiterer Bevölkerungsschub aus der malaiischen Halbinsel erreichte P. nach den siamesischen Angriffen auf Kedah 1821. 1826 schuf die EIC die administrative Einheit der →Straits Settlements, der neben P. auch →Singapur und Malakka angehörten. P. war zunächst Sitz des brit. Gouv.s und der Verwaltung, bis man 1831 beides nach Singapur verlagerte. 1868 wurden die Straits Settlements zur →Kronkolonie erklärt. Seine Position im Handel verlor P. spätestens seit den 1830er Jahren immer mehr an Singapur, dessen strategische Lage als Eintrittstor nach Indonesien und Stützpunkt des brit. Chinahandels ungleich besser war. Dennoch blieb auch P. im 19. und frühen 20. Jh. ein attraktives Zentrum für den maritimen Handel und wurde von allen großen Schiffahrtslinien (→Schiffahrt) angelaufen. Diese brachten auch um die Wende zum 20. Jh. erste Touristen wie die Schriftsteller Hermann Hesse oder Karl →May nach P., die ihre Erfahrungen in Reiseberichten (Hesse: Aus Indien, 1913) oder Romanen (May: Und Friede auf Erden, 1904) verarbeiteten. Auf P. existierten zahlreiche Kontore und Sitze von Firmen, die aktiv im →Kolonialwaren- oder Überseehandel engagiert waren, wie Guthrie & Co., MacAlister & Co., The Borneo Company Ltd., Behn, Meyer & Co. oder Paterson, Simon & Co. Bekannte Persönlichkeiten wie der Bremer Kaufmann und Malaiologe Hans →Overbeck oder der später in →Ndl.-Indien erfolgreiche Emil →Helfferich waren ebenfalls zeitweilig auf P. in Handelshäusern aktiv. Die Bevölkerung P.s war multiethnisch. U. a. konnten sich südind. Muslime, →Araber und Chinesen erfolgreich als Händler etablieren. Für die Chinesen entwickelte sich P. auch politisch zu einem zentralen Ort in British Malaya. Die Eröffnung eines chin. Konsulats auf P. 1893 sorgte für engere Verbindungen der chin. Gemeinde nach Peking. Dr. Sun Yat-sen besuchte Malaya, u. a. auch P. zwischen 1900–1910 mehrmals und gründete Auslandszweige der T’ung Meng Hui-Bewegung. Ihre revolutionären Aktivitäten, u. a. auch die Herausgabe einer eigenen Zeitung und die Organisation der sog. P.Konferenz am 13.11.1910 führten direkt zur berühmten Revolte in →Kanton in China im Apr. 1911. P. bzw. seine Hauptstadt Georgetown war in den ersten Dekaden des 20. Jh.s auch ein wichtiges Zentrum für den islamischen Reformismus auf der malaiischen Halbinsel, was sich in der Einrichtung vieler modernisierter islamischen Schulen oder malaiischer kritischer Zeitungen niederschlug. Auch wurden viele bekannte Islamgelehrte von innerhalb und außerhalb Brit.-Malayas nach P. gezogen. In der Weltwirtschaftskrise ab 1929 hatte auch P. ökonomische Einbußen hinzunehmen. V. a. der Preisverfall wichtiger Plantagenerzeugnisse wie Kautschuk und →Tabak sorgte für erhebliche Probleme unter den europäischen
P eri P lu s
Firmen, die viele ihrer Angestellten und Arbeiter entlassen mußten. Im Dez. 1941 wurde P. von jap. Truppen eingenommen. Nach der jap. Kapitulation im Aug. 1945 kam P. wieder unter brit. Kolonialverwaltung. 1957 entließ man die brit. Kolonien auf der malaiischen Halbinsel als „Föderation Malaya“ in die Unabhängigkeit, P. wurde einer ihrer Bundesstaaten. P. gilt politisch als eine der Hochburgen der politischen Opposition in Malaysia, die bei den Parlamentswahlen im Mai 1969 dort auch mit der Partei Gerakan Rakyat Malaysia die Reg. stellten. Durch die im Anschluß an die Wahlen v. a. in →Kuala Lumpur aufgetretenen Rassenunruhen wurde allerdings umgehend der nationale Notstand verhängt. Erst 1971 kehrte Malaysia zur politischen Normalität zurück. Das heutige P. ist nach Kuala Lumpur und dem die Hauptstadt umgebenden Industriegürtel das zweitwichtigste urbane Industriezentrum Malaysias. 1969 wurde mit der Universiti Sains Malaysia eine angesehene Universität eingerichtet. Der gegenüber von Georgetown auf dem Festland gelegene Hafen Butterworth ist nach dem Hafen von Kelang nahe Kuala Lumpur einer der wichtigsten Seehäfen des Landes. Khoo Salma Nasution, More than Merchants, Penang 2006. Yeoh Seng Guan u. a. (Hg.), Penang and Its Region, Singapur 2009. C.M. Turnbull, The Straits Settlements 1826–1867, Kuala Lumpur 1972. HOL GE R WARNK
Peonage →Sklaverei und Sklavenhandel Perham, Dame (1965) Margery Freda, * 6. September 1895 Bury, England, † 19. Februar 1982 Burcot, England, □ Asche wurde in den südengl. South Downs verstreut, anglik. Die brit. Universitätslehrerin und Publizistin war einer der wichtigsten Experten zur brit. Kolonialverwaltung in Afrika. P. beeinflußte die offizielle und akademische Meinungsbildung zu den Themen Kolonialherrschaft und Dekolonisierung (→Dekolonisation) in hohem Maße. Ihre Sympathie für Afrika wurde 1922 geweckt, als sie ihre Schwester in Brit.-Somaliland besuchte. 1930 kehrte P. als Wissenschaftlerin nach Afrika zurück, diesmal in das brit. Tanganyika. Insg. verbrachte sie in den 1930er Jahren fünf Jahre in verschiedenen afr. Ländern. Durch Stipendien finanziert, forschte und publizierte sie besonders über das System der brit. „→Indirect Rule“. Dabei zog sie auch Vergleiche zur frz. Kolonialadministration. In ihren Forschungen standen ethisch-moralische Fragen und die koloniale Verantwortung im Vordergrund, so daß ihre kritischen Einschätzungen der Kolonialverwaltung unbequem werden konnten. In der Debatte, die zwischen den Weltkriegen geführt wurde, ob die afr. Kolonien durch zivile Kolonialbeamte im Sinne der afr. Bewohner entwickelt werden sollten oder durch die europäischen Siedler, die ihre Interessen gewahrt sehen wollten, nahm sie die erstere Position ein. Der →Zweite Weltkrieg veränderte ihre Einstellung zur kolonialen Herrschaft, und sie beschäftigte sich mit Prozessen der Dekolonisierung. Sie forderte den Aufbau einer egalitären Gesellschaft in den Kolonien und die Unterstützung der neuen Nationalstaaten in Afrika. 1939 war P. Gründungsmitglied des
Nuffield College an der Universität Oxford, wo sie einen Ruf als ausgezeichnete Tutorin und Lehrerin hatte. Margery Perham, The Colonial Reckoning, New York 1962. Alison Smith / Mary Bull (Hg.), Margery Perham and British Rule in Africa, Oxford 1992. A LK E D O H RMA N N
Periplus. Griech: periplous, Pl.: periploi = „Umsegelung“, „Umschiffung“. Im Zuge griechischer Erkundungs- und Handelsfahrten über das Mittelmeer, das Schwarze Meer und in den →Ind. Ozean entstanden im 6. Jh. v. Chr. schriftliche Darstellungen der Lage von Städten, Häfen, Ankerplätzen, Flußmündungen, Winde sowie über die Völker, die Fauna und Ökologie der Küsten, an denen man während einer maritimen Explorationsfahrt entlanggesegelt war. Diese literarische Form der Küstenbeschreibung nannte man P., weil sie aus der Sicht der Seefahrer die Route der „Umschiffung“ einer Halbinsel oder eines Meeresbeckens wiedergab. Sie diente jedoch nicht in erster Linie praktisch-nautischen Zwecken – diesbezügliches Wissen wurde mündlich weitergegeben! – , sondern war eine Art Rechenschaftsbericht, der dem Bedürfnis politischer Instanzen und Auftraggeber (wie z. B. des persischen Kg.s) nach genauen Informationen über mögliche Zielgebiete militärischer oder handelspolitischer Expansion sowie dem Interesse gebildeter Schichten an fremden Völkern und fernen Ländern entsprach. Insofern bildet die P.-Literatur nicht nur die älteste geographische Literaturgattung der griechischen Welt, sondern war auch eine wichtige Vorform der griechischen Geschichtsschreibung und Ethnographie (→Herodot). Dennoch hat sich kein einziger P. vollständig erhalten; Fragmente entstammen meist der historiographischen Sekundärüberlieferung. Die bekanntesten frühesten Beispiele sind die in etwa zeitgleich im 6. Jh. entstandenen (aus dem spätantiken Lehrgedicht „ora maritima“ des Avienus zu rekonstruierende) P. der Küste von Massilia bis Tartessos sowie der P. des karischen Seefahrers Skylax über seine im Auftrag des Perser-Kg.s Dareios I. zwischen 519–516 unternommene Erkundungsfahrt vom Indus zum Roten Meer (Herodot 4,44; FGrH 709 F 1–7; 8–13; Auszüge im P. des PseudoSkylax GGM 1,15–96). Auch die →Phöniker scheinen die Form des P. für die Aufzeichnung ihrer Fahrten benutzt zu haben, wie aus der griechischen Übersetzung des Reiseberichtes hervorgeht, den der Karthager Hanno zu Beginn des 5. Jh.s anläßlich seiner Kolonisations- und Erkundungsfahrt entlang der afr. Westküste von Gibraltar bis nach →Sierra Leone verfaßte (Codex Palatinus graecus 398; GGM I, p. 1–14; vgl. Plin.nat. 2,69; Mela 3,93). Einen großen Aufschwung erlebte die P.-Literatur noch einmal in Folge der hellenistischen Handels- und Entdeckungsfahrten des 4. und 3. Jh.s v.Chr. So dokumentiert Patrokles seine in den Jahren 280–281 im Auftrag des Seleukos unternommene Forschungsreise im Kaspischen Meer (FGrH 712 F 1–8,) in Form eines P. Pytheas von Massilia hielt seine abenteuerliche Fahrt in den →Atlantik (vielleicht bis Island und Skandinavien) in einem fragmentarisch erhaltenen P. „Über den Okeanos“ (H. J. Mette, Pytheas von Massilia, Berlin 1952) fest. Die Sammlung des Wissens an den hellenistischen 631
P e r i yA r , e . v. r Am A s wA m y n A i c k er
Residenzen und die einzigartigen Forschungsmöglichkeiten in der Bibliothek von Alexandria erlaubten nun auch Wissenschaftlern die Erstellung von umfangreichen P., ohne selbst Fahrten in fremde Gewässer unternommen zu haben: So schrieb der Geograph Agatharchides von Knidos im 2. Jh. auf der Basis von Augenzeugenaussagen, offiziellen Expeditionsberichten (der Ptolemäer) sowie den Angaben früherer Historiker einen (in Auszügen bei Diodor und Photios enthaltenen) P. maris Erythraei (des „Roten Meeres“) in fünf Büchern über die Küsten des Ind. Ozean und am Persischen Golf, welcher ausführliche ethnographische, geographische und wirtschaftlich-politische Erörterungen enthielt und zu den wichtigsten Quellen über den maritimen Raum in dieser Zeit gehört (GGM 1,111 ff; FGrH 86). Spätere P. wie der eines anonymen Verfassers aus dem 1. Jh. n. Chr. über das Rote Meer (GGM 1,257–305) basierten nach wie vor auf Agatharchides. Inwieweit die weit ausgreifenden Expeditionen griechischer Seefahrer des 1. Jh.s n. Chr. (wie die des Alexandros) bis in das chin. Meer in Form von P. festgehalten wurden, ist heute nicht mehr auszumachen, da die Quellen keine Hinweise geben und sich insg. das Interesse der ks.zeitlichen Schriftsteller zunehmend auf die Beschreibung des Mittelmeerraums und seiner maritimen Randgebiete konzentrierte (P. Ponti Euxeni des Arrian 130 n. Chr.; GGM 1, 370–401; P. maris interni des Menippos v. Pergamon GGM 1, 563–572 um 20 v. Chr.). Ob die antiken P. Vorbild für die it. Portulane waren, ist umstritten, aber angesichts der fragmentarischen Überlieferung der P. sowie der andersartigen Struktur der Portulane eher unwahrscheinlich. Informationen über antike Explorationsunternehmungen entnahmen die frühneuzeitlichen Entdecker jedenfalls nicht den P., sondern der griechischen Historiographie (Herodot) sowie der geographischen und naturkundlichen Fachliteratur der römischen Ks.zeit (Strabon, Plinius, Pomponius Mela). Q: F. Jacoby, Die Fragmente der der griechischen Historiker, 3 Teile in 14 Bde., 1923–1958, Teil 1, 21957 (= FGrH). Übersetzungen mit Kommentar z. T. bei Hennig, Terrae Incognitae, Leiden 21944 sowie in Einzelpublikationen: G. W. B. Huntingford (Hg.), The Periplus of the Erythraean Sea, London 1980. Agatharchides von Knidos: Über das Rote Meer. Übersetzung und Kommentar von Dieter Woelk, Bamberg 1966. C. Müller (Hg.), Geographi Graeci Minores, 2 Bde., 1855 (= GGM; Originalfragmente). D. Stichtenoth, Pytheas von Marseille: Über das Weltmeer. Die Fragmente übers. und erläut., Weimar 1959. L: M.L. Allain, The Periplous of Skylax of Karyanda, Columbus (Ohio), 1982. Jan Burian, Periplus, in: Der Neue Pauly 9 (2000), 586–587. Robert Güngerich, Die Küstenbeschreibung in der griechischen Literatur, 1950. J. P. Murphy, Ora maritima or Description of the Seacoast, Chicago 1977. Doris Meyer, Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur: Timosthenes von Rhodos und der griechische Periplus, in: Wolfgang Kullmann/ Jochen Althoff/ Markus Asper (Hg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998, 193–215. RAI MUND S CHUL Z
632
Periyar, E. V. Ramaswamy Naicker, * 17. September 1879 Erode, † 24. Dezember 1973 Vellore, □ Madras, Hindu, ab 1904 (?) Atheist P. (Tamil für „großer Weiser“, Respektsperson), der aus einer Händlerfamilie stammte, gilt als bedeutender ind. Sozialreformer (→Soziale und religiöse Reformbewegungen) und Begründer des dravidischen (→Dravidische Sprachen) Nationalismus (→Ind. Nationalismus). 1919 schloß er sich der ind. Unabhängigkeitsbewegung unter Führung des →Indian National Congress an, geriet aber bald darauf in einen Konflikt mit den Führungsgremien der Partei, der sich an seinem Einsatz gegen jedwede Form von Kastendiskriminierung und seiner Ablehnung einer von Brahmanen dominierten Gesellschaft und Politik entzündete. Bereits 1925 verließ er den Ind. Nationalkongreß und gründete die „Selbstachtungs-Bewegung“ („self-respect movement“), die sich gegen die rigiden Sozialvorschriften und Kastengesetze (→Kastensystem) des brahmanischen →Hinduismus wandte. Er sprach sich fortan für eine Abkehr von den religiösen Traditionen des Hinduismus und eine Hinwendung zu einem rationalistischen Weltbild aus. 1929 legte er zudem seinen Kastennamen „Naicker“ ab, allmählich setzte sich der Titel „P.“ durch. Mitte der 1930er Jahre trat P. der „Justice Party“ bei, dem parteipolitischen Gegenspieler des Ind. Nationalkongreß, und engagierte sich im Protest gegen die Einführung von →Hindi als Pflichtsprache an Schulen in Südindien. 1944 wurde die „Justice Party“ unter P.s Führung als militante dravidische Massenorganisation unter dem Namen „Dravida Kazhagam“ (Dravidische Föderation) reorganisiert und propagierte die Schaffung einer unabhängigen dravidischen Rep. P.s politische Aktivitäten trugen wesentlich zur Abschwächung der brahmanischen Vormachtstellung in Südindien bei und er kann als wesentlicher Vertreter eines tamilischen Kulturnationalismus gelten. Anita Diehl, E. V. Ramaswami Naicker-Periyar, Lund 1977. Jakob Rösel, Die Gestalt und Entstehung des Tamilischen Nationalismus, Berlin 1997. C LEMEN S SPIESS
Perlen sind krankhafte Wucherungen von in Salz- und Süßwasser lebenden Mollusken, insb. der namengebenden Perlmuschel Pinctada margaritifera L. Sie entstehen nach Eindringen von Fremdkörpern in die Gewebe. Die Muscheln sondern daraufhin Stoffe ab, die den Fremdkörper mit konzentrischen Schalen aus kristallinem Calciumcarbonat umschließen. Die Salzwassermuscheln holen P.fischer genannte Taucher von den bis 25 m unter dem Wasserspiegel liegenden Muschelbänken. Hauptfundplätze sind Küstenregionen →Indiens, →Sri Lankas, des Persischen Golfes, des Roten Meeres, vieler Inseln der Südsee (schwarze P. v. a. aus Manihiki u. Penrhyn / →Cookinseln), Japans und Mittelamerikas. Einer polynesischen Legende zufolge wurde die Perlmuschel von Oro, dem Gott des Friedens, zur Freude der Menschen geschaffen. P. aus Muscheln vom Persischen Golf und Roten Meer waren in der Antike und im Mittelalter als Schmuck hoch geschätzt. Nach Entdeckung weiterer Fundorte in der Frühen Neuzeit in →Amerika, Asien und Ozeanien vermehrte sich in Europa das Angebot so sehr,
P ero n i s m u s
daß der Wert stark zurückging. Die meisten P. aus Salzwassermuscheln werden jetzt in Japan und China durch gezielte „Impfung“ der Mollusken erzeugt. Süßwassermuscheln werden vornehmlich in den großen Flüssen Nordamerikas und Chinas gefunden. In China erfolgte ihre Züchtung zur Gewinnung von P. bereits im 1. Jahrtausend v. Chr.; Japan übernahm nach dem Ersten Weltkrieg diese Methode und entwickelte sie zu industrieller Produktion. GE RHARD HUT Z L E R Pernambuco, der Name ist wahrscheinlich indianischen Ursprungs, war in der Kolonialzeit →Brasiliens der Name einer Kapitanie im nordöstlichen Brasilien. Nicht zuletzt dank der überwiegend friedlichen Zusammenarbeit mit den Ureinwohnern war P. unter den wenigen prosperierenden donátarias die erfolgreichste. Die Ansiedlung einer größeren Zahl von Portugiesen sowie die aufstrebende Zuckerwirtschaft, die auch zahlreiche afr. Sklaven ins Land brachte (→Sklaverei und Sklavenhandel), machten P. gegen Ende des 16. Jh.s nach →Bahia zur bevölkerungsreichsten Kapitanie in Brasilien. Während das früh gegründete Olinda Hauptstadt P.s und Sitz eines Erzbistums wurde, entwickelte sich das benachbarte Recife zu einem wichtigen Hafen und Handelsplatz P.s. Das einschneidende Ereignis der Kolonialzeit war die Besetzung des brasilianischen Nordostens durch die Holländer. Im Zuge der überseeischen Expansion ndl. Handelsgesellschaften v. a. nach Asien, dann auch in westlicher Richtung, zogen besonders die Gewinne, welche der Anbau von und der Handel mit →Zucker versprachen, das Interesse auf sich. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Westindienkompanie (WIC) stand P. mit seinen Küstenstädten Olinda und Recife, die zu den reichsten Städten der damaligen atlantischen Welt gehörten. Besonders unter dem Regiment von Johann Moritz von →Nassau-Siegen entwickelte sich Recife dann zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum →Ndl.-Brasiliens, geprägt von den Erfahrungen von Menschen unterschiedlichster Herkunft aus vier Kontinenten. Nach dem Abzug der Holländer 1654 verschärfte sich das Verhältnis von Olinda, wo die alteingesessene Landaristokratie, Besitzer von →Engenhos, ihren städtischen Wohnsitz hatte, und Recife, der von port. Händlern geprägten Hafenstadt. Letzere waren Gläubiger der nach dem Verfall der Zuckerpreise unter Druck geratenen Zuckerproduzenten, die zudem auch politisch an Macht verloren. Ein kurzlebiger Aufstand zu Beginn des 18. Jh.s konnte den Bedeutungsverlust Olindas nicht aufhalten. Die wachsenden Spannungen innerhalb P.s zwischen den mit der Metropole verbunden Handelsinteressen und der lokalen Wirtschaft kamen im Übergang zur Unabhängigkeit in neuen Revolten zum Ausdruck. Marcus Joaquim Maciel de Carvalho, O outro lado da Independência: Quilombolas, negros e pardos em Pernambuco (Brazil), 1817–23, in: Luso-Brazilian Review 43/1 (2006), 1–30. Evaldo Cabral de Mello, A fronda dos mazombos. Nobres contra mascates, Pernambuco, 1666–1715, São Paulo 22003. CHRI S T I AN HAUS S E R Peronismus. Als P. bezeichnet man eine populistische, politisch-soziale Bewegung in →Argentinien. Sie kam
in den 1940er Jahren auf und wurde nach ihrem Anführer Juan Domingo Perón (1895–1974) benannt. Perón war 1946–1955 und 1973/74 argentinischer Präs. Der historische P. stützte sich in erster Linie auf die Gewerkschaften und die Arbeiter. Letztere sollten durch staatliche Maßnahmen in die Gesellschaft integriert werden. In seinem politischen Konzept verband Perón korporatistisches, nationalistisches und sozialistisches Gedankengut. Während seiner Herrschaft unterhielt Perón freundschaftliche Beziehungen zu genehmen Gewerkschaften und förderte sie gezielt. Bald war der Gewerkschaftsverband Confederación General del Trabajo (CGT) neben dem Militär die einflußreichste Organisation. Nationalistische Elemente bildeten die importsubstituierende →Industrialisierung (ISI) und die Außenpolitik. Perón vertrat eine „Dritte Position“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Durch stärkere Zusammenarbeit mit den anderen Ländern →Lateinamerikas sollte der Einfluß der →USA vermindert und Argentinien politisch souverän werden. Perón entwickelte den „Justicialismo“ (von Span. „justo“ = gerecht), mit dem er soziale Gerechtigkeit schaffen wollte. Die Mindestlöhne wurden angehoben, die Sozialversicherung sowie das Arbeitsrecht verbessert, und den Arbeitern wurden Wohnungen zu günstigen Konditionen bereitgestellt. Ebenso legalisierte Perón die Gewerkschaften und verstaatlichte die Eisen- und Straßenbahn sowie das Telefonnetz. Seine Ehefrau, Eva Duarte de Perón („Evita“) spielte eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der Massen und wurde zum Symbol der peronistischen Bewegung. In der „Fundación Eva Perón“ wurden Steuergelder und Gewerkschaftsspenden zur Errichtung von Krankenhäusern und Schule sowie zur Medikamentenversorgung und Kleiderspenden für Arme verwendet. Ebenso stellte die Propaganda das →Frauenwahlrecht als eine Errungenschaft der Eva Perón dar. Nach „Evitas“ Tod 1952 schwand auch der Rückhalt ihres Mannes in den Unterschichten. Perón war an dem Putsch von 1943 beteiligt und wurde zum Chef des Ministeriums für Arbeit und Soziales. Durch die Ankündigung von Sozialreformen gelang es ihm, Rückhalt unter den städtischen Industriearbeitern zu erlangen. Ebenso unterstützen ihn die rk. Kirche sowie das Militär, so daß er zwischen 1946 und 1955 zweimal zum Präs. gewählt wurde. Seine Reg.szeit war zunächst von Erfolg gekrönt, scheiterte aber letztendlich auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene. Nachdem sich die rk. Kirche auf Grund von Differenzen von ihm abgewandt hatte, brachte er auch die Armee gegen sich auf. 1955 wurde er durch einen Militärputsch gestürzt und ging ins Exil nach Spanien. In Argentinien folgte daraufhin eine Phase der politischen Instabilität. Die Peronisten sowie die Gewerkschaften blieben eine bedeutende Gruppe, so daß 1974 Perón die Rückkehr nach Argentinien und ein erneuter Wahlsieg mit mehr als 60 % der Stimmen gelang. Sein gesamtes Regime wies autoritäre Züge auf. Nach seinem Tod im darauf folgenden Jahr übernahm seine dritte Ehefrau, María Estela Martínez de Perón („Isabelita“) das Amt des Präs. Im März 1976 wurde Isabelita vom Militär abgesetzt und ein Militärregime eingerichtet. 1989 kam mit Carlos Saúl Menem wieder ein Peronist an die Macht. Er setzte überraschenderweise auf eine Liberalisierung. 633
P e r ry, m At t h e w c A l b r A i th
Die Gewerkschaften gehörten zu den großen Verlierern dieses Wandels. Ebenso befürwortete Menem die Integration im Süden Südamerikas (→Mercosur/Mercosul). Der P. spielt auch heute noch eine bedeutende Rolle in Argentinien. Mit Néstor Kirchner (Präs. 2003–2007) und seiner Ehefrau Cristina Fernández de Kirchner (Präs.in seit 2007) kamen Anhänger der peronistischen Partei „Partido Justicialista“ an die Macht. Peter Waldmann, Der Peronismus 1943–1955, Hamburg 1974. S T E FANI E BE NDI G Pérouse →Galaup Perry, Matthew Calbraith, * 10. April 1794 Newport RI, † 4. März 1858 New York City NY, □ Island Cemetery / Newport RI, anglik.-Episcopalian, Freimaurer US-amerikanischer Marineoffizier. P., Sohn des Revolutionsveteranen C. R. Perry, entschied sich bereits früh für eine Karriere bei den Seestreitkräften. Nach seinem Eintritt in die US Navy 1809 konnte er im Krieg von 1812 erste militärische Erfahrungen sammeln und wurde 1813 zum Leutnant befördert. Nach Einsätzen im Second Barbary War von 1815 und vor der Küste Liberias 1819 wurde P. 1821 mit dem Kommando über die USS Shark betraut, welches er bis 1825 innehatte. Seinem Engagement an der New York Navy Yard, wo er von 1833–1837 in leitender Position agierte, folgte die Beförderung zum Captain, vor 1862 der höchste Rang in der US-Navy. Federführend bei der Modernisierung der amerikanischen Seestreitkräfte, kommandierte P. von 1838 bis 1840 die USS Fulton, eines der ersten Dampfschiffe der Marine. 1840 wurde P. mit der Kommandantur der New York Navy Yard beauftragt, wofür man ihm den Rang eines Commodore, eines Titels, den die Navy ursprünglich nur für die Dauer bestimmter Einsätze oder Aufgaben vergab, der in der Praxis aber nach deren Abschluß ehrenhalber weitergeführt wurde, verlieh. Zu Beginn des Amerikanisch-Mexikanischen Krieges (→MexikanischAm. Krieg) 1846 wurde P. mit dem Befehl über die USS Mississippi betraut und kommandierte unter anderem die Feldzüge gegen Tabasco und Frontera bevor er 1847 zum Commodore der Home Squadron und damit zum Oberbefehlshaber der Seestreitkräfte im Golf von Mexiko ernannt wurde. Ab 1852 diente P. als Commodore der East India Squadron. In dieser Funktion erhielt er von Präsident M. Fillmore den Auftrag, Handels- und diplomatische Beziehungen mit dem bis dato völlig isolierten Japan herzustellen. Einem ersten Besuch der „schwarzen Schiffe“ P.s im Juli 1853, bei dem er der Shogunregierung sein offizielles Anliegen übermittelte, folgte im Frühjahr 1854 ein zweiter. Dabei gelang ihm am 31. März der Abschluß des Vertrags von Kanagawa, der dem amerikanischen Handel u. a. die Häfen Hakodate und Shimoda zugänglich machte und allgemein als Beginn sowohl der Öffnung und Modernisierung Japans als auch der Open Door Politik der USA gilt. Anläßlich der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg am 2. September 1945 wurde die US-Flagge, die P. nach Japan begleitet hatte, an Bord der USS Missouri zur Schau gestellt. Joseph Icenhower, Perry and the Open Door to Japan, New York / Ft. Watts 1973. John Schroeder, Matthew 634
Calbraith Perry – Antebellum Sailor and Diplomat, Annapolis 2001. FLO RIA N VATES Peru. Wie in allen Ländern →Lateinamerikas blieb auch in P. ein tiefgreifender sozialer Wandel nach der vergleichsweise späten Unabhängigkeit 1821 und der endgültigen Kapitulation der span. Truppen 1824 aus. Die kreolischen (→Kreole) Eliten dominierten das nationale politische und wirtschaftliche Geschehen, das sich in den urbanen Zentren, allen voran in der Hauptstadt →Lima, konzentrierte. Auf dem Land litt besonders die in kleinen comunidades oder als quasi-Leibeigene auf den Latifundien von Weißen und Mestizen (→Casta) lebende indigene Bevölkerung unter den lokalen Machtstrukturen des gamonalismo. Die miserablen Lebensbedingungen führten bis in die 1920er Jahre zu unzähligen indigenen Aufständen, die mitunter erst nach intensiven Kämpfen von der Armee niedergeschlagen werden konnten. So wie auf der lokalen Ebene von den gamonales wurde auch auf der nationalen Ebene die Rep. in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens von militärischen caudillos (→Caudillismo) geprägt, die miteinander um die Macht rangen. Ausdruck der äußerst instabilen politischen Verhältnisse dieser Zeit sind fünf Bürgerkriege und zahlreiche größere und kleinere Aufstände, mehr als 40 Präs. sowie neun Verfassungen, die bis 1872 verschlissen wurden. Dazu kamen Kriege mit den Nachbarländern →Großkolumbien (1828–1830), →Chile (1837–1839), →Bolivien (1841/42), und →Ecuador (1858–1860) sowie ein Krieg gegen Spanien (1866). Konflikte gab es zwischen den Politiker-Militärs in Fragen der Wirtschaft (→Freihandel oder Protektionismus), der Stellung der Kirche (Staatskatholizismus vs. Säkularisierung), die wegen des Einflusses von der Kanzel auf die Gläubigen, wegen ihres Engagements im Bildungswesen und wegen ihres v. a. auf Landbesitz basierenden Reichtums ein wichtiger Machtfaktor war, und der staatlichen Verfaßtheit (Zentralismus vs. Regionalismus). 1836–1839 kam es sogar zu einer Teilung des Staatsgebietes in der Peruanisch-Bolivianischen Konföderation. Einzig General Ramón Castilla (Präs. 1845–1851 und 1854–1862) gelang es in einer Phase wirtschaftlicher Prosperität, diese in relative politische Stabilität, die sog. Pax andina, und die Festigung des Zentralstaates umzumünzen, nicht zuletzt dank der Flexibilität seiner politischen Haltung. Die wirtschaftliche Entwicklung nach außen (→Desarrollo hacia afuera), die in den 1840er Jahren mit dem Guanoboom begann und von einem Anstieg der Exporte von →Zucker und →Baumwolle, die auf den Plantagen des Küstenstreifens produziert wurden, gefolgt wurde, führte zum Entsehen einer zivilen Elite, die als politische Kraft in Form des Partido Civil, der ersten politischen Partei des Landes, in Erscheinung trat. 1872 wurde Manuel Pardo als erster Nicht-Militär zum Präs. gewählt. Der civilismo, der wirtschaftlich für Liberalismus, sozial und politisch für die positivistische Formel „ordén y progreso“ stand, sollte die Rep. mit Unterbrechungen bis 1919 dominieren. Die erste dieser Unterbrechungen war der →Salpeter- oder Pazifikkrieg 1879–1883 zwischen P. und Bolivien auf der einen und Chile auf der anderen Seite. Die militärische Niederlage, die Besetzung der Hauptstadt
P eru
durch chilenische Truppen, der Verlust der an Salpeter reichen Provinz Tarapacá, Aricas und Tacnas, welches P. erst 1929 zurückerhielt, sowie Reparationsleistungen an den südlichen Nachbarn bedeuteten nicht nur einen schweren Rückschlag in der wirtschaftlichen wie übrigen Entwicklung des Landes sondern stellen ein nationales Trauma dar, das noch heute für nationalistische Zwecke instrumentalisiert wird. Die schwere Aufgabe des Wiederaufbaus übernahm der aus dem andinen Ayacucho stammende Kriegsheld General Andrés Avelino Cáceres. Er hatte den Widerstand gegen die chilenische Besatzung mit indigenen Guerilla-Truppen (→Guerilla) organisiert. Auf diese Weise ermöglichte er es der zuvor unsichtbaren indigenen Bevölkerung, sich erstmals, wenn auch in äußerst bescheidener Form, in den peruanischen Nationbuildingprozeß einzubringen. Nach einem Bürgerkrieg gegen den von Chile eingesetzten Präs. Iglesias wurde der populäre, quechua-sprechende Militär 1886 und noch einmal 1894 zum Präs. gewählt. Die Unzufriedenheit mit Konsolidierungsmaßnahmen wie dem Grace-Kontrakt von 1886, der P. zwar seine Auslandsschulden erließ, dafür aber im Gegenzug den in der „Peruvian Corporation“ zusammengeschlossenen brit. Gläubigern weitreichende Konzessionen gewährte und als Ausverkauf des Landes von nationalistischer Seite z. T. bis heute beklagt wird, eine wirtschaftliche Schwächephase und das Wiedererstarken der alten Eliten, die ihre Differenzen für den Moment überwanden und gegen Cáceres und seinen Partido Constitucional agitierten, führten 1894/95 zu einem weiteren, blutigen Bürgerkrieg. Aus diesem ging die von Nicolás de Piérola angeführte Koalition aus seinem rk.konservativen Partido Demócrata und den bürgerlichen Civilistas als Sieger hervor. Piérola, der bereits während des Salpeterkrieges die Macht an sich gerissen hatte, wurde 1895 zum Präs. gewählt. Er stieß mit zahlreichen Reformen eine umfassende Modernisierung des Landes an. In wirtschaftlicher Hinsicht zog der Export von →Rohstoffen v. a. nach Großbritannien, das später von den →USA als P.s wichtigster Handelspartner abgelöst wurde, an. Neben den bereits erwähnten Produkten handelte es sich dabei um Wolle, die auf z. T. riesigen →Haciendas im Hochland produziert wurde, Kautschuk aus dem Amazonasgebiet (→Amazonas), Kupfer u. a. Bergbauerzeugnisse (→Bergbau) aus der sierra sowie seit dem frühen 20. Jh. um Erdöl. Für die breite Mehrheit der Bevölkerung blieben Veränderungen zum Positiven jedoch auch während der sog. „Aristokratischen Rep.“ (1895–1919) zunächst aus. Viele Angehörige der städtischen Unterschichten und die Indigenen wurden auf Grund eines von Piérola eingeführten Alphabetisierungszensus vom Wahlrecht praktisch ausgeschlossen. Doch konnten die Eliten, die wieder von den Civilistas dominiert wurden, seit Präs. López de Romaña 1899 das Ruder übernommen hatte, das Streben dieser Gruppen nach Partizipation nicht länger unterbinden. Mit Guillermo Billinghurst wurde 1912 sogar erstmals ein vom Volk, in diesem Fall in erster Linie von den Ew. von Lima, unterstützter Kandidat entgegen der Interessen der Eliten ins Präsidentenamt gebracht, 1914 allerdings aus diesem wieder herausgeputscht. Die sich formierende Arbeiterbewegung (→Klassen in Lateinamerika), zu der
neben den wenigen Textil- und Hafenarbeitern auch Handwerker, Angestellte und Studenten beitrugen, erkämpfte in den ersten beiden Dekaden nach der Jh.wende mit zahlreichen Streiks mehr sozioökonomische Teilhabe und als Höhepunkt 1919 nach einem Generalstreik in Lima die Einführung des Acht-Stunden-Tages. War die Bewegung in der Hauptstadt auf Grund ihres Vordenkers Manuel González Prada zunächst anarchistisch geprägt (in der Provinz dominierten z. T. andere Strömungen), setzten sich später mit Víctor Raúl Haya de la Torre und der 1924 gegründeten, bis heute bestehenden APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) linkssozialistische sowie mit José Carlos Mariátegui, dem Verfasser der ungemein einflußreichen „Sieben Versuche die peruanische Wirklichkeit zu verstehen“ (1928), auch kommunistische Ideen durch. Während die städtische Unterschicht mit einigen ihrer Forderungen zur sozialen Frage Erfolg hatte, blieb der indigenen Bevölkerung solches versagt. Immerhin rückte sie nach zögerlichen Anfängen im 19. Jh. zu Beginn des 20. Jh.s stärker in den nationalen Blickpunkt. Ab den 1920er Jahren machte der →Indigenismus, eine literarisch-kulturelle wie sozial-politische Strömung, auf die prekäre Situation von Indigenen aufmerksam und forderte Rechte und Schutz für sie ein. Auch der mit dem Slogan „patria nueva“ ins Amt gekommene Präs. Augusto B. Leguía (1919–1930), der bereits von 1908–1912 regiert hatte, verfolgte mit einem staatlichen Indigenismuskonzept die Lösung der indigenen Frage. Es sah allerdings die totale Anpassung der als rückständig und wild wahrgenommenen „Barbaren“ an die vorgeblich überlegene westliche „Zivilisation“ vor – und damit gewollt oder ungewollt die Eliminierung der indigenen Kultur. Indem er das Staatsdefizit und die Auslandsschulden in ungeahnte Höhen trieb, führte der ebenso populistisch wie autoritär herrschende Leguía während seines oncenio außerdem weitere Modernisierungsmaßnahmen durch und installierte 1920 eine neue Verfassung. Im Zuge der wirtschaftlichen Turbulenzen der ausgehenden 1920er Jahre, welche in P. zu Exporteinbußen, sinkenden Löhnen und Arbeitslosigkeit führten, gelang es im Sept. 1930 dem charismatischen Oberstleutnant Sánchez Cerro, mit einem Militärputsch die Macht an sich zu reißen. Er wurde sowohl von Teilen der Bevölkerung, die ihn als einen der ihren ansah („es cholo como nosotros“), als auch von der Kirche und den Wirtschaftseliten, die von ihm die rigorose Bekämpfung der linkspopulistischen APRA erhofften, unterstützt. Tatsächlich ließ der unter dem Motto „patria en peligro“ regierende Präs. 1932 in Trujillo einen Aufstand von Anhängern der APRA durch die Armee brutal niederschlagen, mehr als 1 000 Apristas starben. Des Weiteren fällt in seine Amtszeit der →Leticiakrieg 1932/33 mit →Kolumbien. Am 30.4.1933 starb Sánchez Cerro bei einem Attentat von einem jungen APRA-Anhänger. Als Präs. folgte General Oscar Benavides (1933–39), der 1914 Billinghurst gestürzt hatte. Er führte den Kurs Sánchez Cerros gegen die APRA fort und unterschrieb 1933 eine neue Verfassung, die bis 1979 Bestand hatte. Die Dekaden Mitte des 20. Jh.s waren geprägt vom Kampf um die politische Macht zwischen Angehörigen der Wirtschaftseliten (Präs. Manuel Prado y Ugarteche 1939–1945 und 635
P e r u , b ür g e r k r i eg e
1957–1962), Militärs (Präs. Manuel A. Odría 1948–1957 und Ricardo Pérez Godoy 1962/63) und der APRA (unterstützte zunächst die Wahl von Präs. José Bustamente y Rivero 1945–48) sowie von gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen. Seit den 1930er Jahren schritt die →Industrialisierung voran und durch die Migration von Indigenen in die Städte (→Urbanisierung) wuchs z. B. die Zahl der Ew. von Lima in den drei Jahrzehnten nach 1940 um mehr als das Vierfache auf über 2,5 Mio. 1969. Dazu kam es 1941 zu einem weiteren Grenzkrieg mit Ecuador. 1968 stürzte General Velasco Alvarado den 1963 gewählten Präs. Fernando Belaúnde Terry von der sozialliberalen Acción Popular. Das linksgerichtete Militärregime führte zahlreiche Verstaatlichungen sowie weitere ökonomische und soziale Reformen durch. Die bedeutendste war eine radikale Agrarreform, bei der ab 1969 Großgrundbesitzer zugunsten kleiner Bauern und Landarbeiter enteignet wurden. 1975 mündeten Unruhen dann in einem weiteren Coup: General Morales Bermúdez nahm in den nächsten Jahren viele Reformen zurück und läutete die Übergabe der Macht an eine zivile Reg. ein; 1980 wurde Belaúnde Terry zum zweiten Mal zum Präs. gewählt. Wie schon in seiner ersten Amtszeit sah er sich mit einem bewaffneten Aufstand konfrontiert. Konnten die drei linken Guerillagruppierungen im Hochland 1965/66 noch von der Armee besiegt werden, sollte sich der Bürgerkrieg, den der maoistische Partido Comunista del Perú – por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui, kurz Leuchtender Pfad, 1980 von Ayacucho aus entfesselte, über zehn Jahre hinziehen. Denn auch der 1985 als erster APRA-Kandidat zum Präs. gewählte Alan García Pérez, damals erst 35 Jahre alt, schaffte es nicht, den Krieg, der am Ende ca. 70 000 Menschen das Leben kosten sollte, zu beenden. Die verheerende Bilanz seiner Präsidentschaft wurde ergänzt durch steigende Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Schwierigkeiten und eine nicht anders als katastrophal zu nennende Finanzpolitik, die fast zum Staatsbankrott führte. Die Inflation lag 1988 bei 1 722 %, 1989 bei unglaublichen 2 776 %. Erst der neu gewählte Präs. Alberto Fujimori (1990–2000), der sich überraschend gegen den für das konservative Parteienbündnis Frente Democrático (FREDEMO) angetretenen Schriftsteller Mario Vargas Llosa durchgesetzt hatte, konnte diese Spirale schließlich mit einer neoliberalen Roßkur und der zweiten Währungsreform binnen sechs Jahren stoppen. 1992 führte „el chino“, wie der jap.stämmige Fujimori von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, unterstützt vom Militär einen „autogolpe“ durch: Er löste das von APRA und FREDEMO dominierte Parlament auf und setzte die Verfassung außer Kraft. 1993 trat eine neue, bis heute gültige Verfassung in Kraft, an die sich der immer autoritärer herrschende Präs. aber selbst nicht unbedingt hielt. Zu Beginn des Jahres 1995 kam es mit dem Cenepa-Krieg zu einem weiteren kurzen Grenzkrieg mit Ecuador, in dessen Folge 1998 endlich ein von beiden Staaten anerkanntes Grenzabkommen geschlossen wurde. Gegen den Leuchtenden Pfad ging Fujimori mit aller Härte vor und erzielte militärische Erfolge wie die Festnahmen des Gründers und Anführers Abimael Guzmán 1992 und des Kommandanten Camilo Santos Vera 1996. Wie seine beiden Amtsvor636
gänger und auch die Guerilla ist Fujimori, er allerdings in weitaus größerem Maß, für Menschenrechtsverletzungen wie den Einsatz von Todesschwadronen, auch gegen Nicht-Kombattanten, verantwortlich. Am 17.11.2000 wurde Fujimori wegen Korruption und Verstoßes gegen die →Menschenrechte vom Kongreß als moralisch ungeeignet seines Amtes enthoben. Nachdem er sich auf einer Asienreise zunächst nach Japan abgesetzt hatte, wurde der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Fujimori im Nov. 2005 in Chile verhaftet und 2007 an P. ausgeliefert. 2009 wurde er dort wegen der Menschenrechtsverletzungen zu 25 Jahren Haft verurteilt, in weiteren Verfahren wegen Korruption und Bestechung zu 7½ und 6 Jahren. Die Aufarbeitung der Gräuel des Bürgerkrieges dauert bis heute an, auch wenn die Arbeit der Kommission für Wahrheit und Versöhnung, bereits 2001 von der Übergangs-Reg. eingesetzt, 2003 offiziell abgeschlossen wurde. Auf Fujimoris Entmachtung folgte der Versuch der Redemokratisierung des Landes. Die Wahlen 2001 gewann der aus einer armen Familie indigener Landarbeiter stammende Alejandro Toledo von der Partei Perú Posible, der von den USA unterstützt wurde. Seine Präsidentschaft war von zahlreichen Skandalen überschattet. Ihm folgte 2006 der aprista Alan García, in der Stichwahl 2001 noch unterlegener Kandidat, mit seiner zweiten Präsidentschaft nach. García war als Zweitplatzierter im ersten Wahlgang dem linksnationalistischen Militär Ollanta Humala vom Partido Nacionalista Peruano deutlich unterlegen. Da dieser jedoch die benötigte absolute Mehrheit verfehlte, kam es zu einer Stichwahl, die García mit Stimmen auch aus dem konservativen Lager knapp gewann. Das peruanische Establishment stand zusammen aus Furcht vor dem von Hugo Chávez unterstützten Vertreter des etnocacerismo. Es handelt sich dabei um eine radikale soziale Bewegung nach dem Vorbild der bolivianischen Kokabauern hinter Evo Morales, die sich auf General Cáceres, den Held des Salpeterkrieges, beruft. Die etnocaceristas treten für die Rechte der jh.lang unterdrückten Angehörigen der indigenen Bevölkerung ein und streben die Entmachtung der weißen und asiatischen Eliten an. Kritiker werfen ihnen dabei einen umgekehrten →Rassismus vor. Mittlerweile hat sich Humala allerdings zumindest teilweise vom etnocacerismo distanziert und politisch auch die Nähe zu gemäßigten Linken wie →Brasiliens Ex-Präs. Lula da Silva gesucht. Dennoch nimmt die politische Radikalisierung P.s zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jh.s zu. Denn neben Humala ist Fujimoris Tochter Keiko sehr populär. Sie will an die autoritäre Politik ihres Vaters anknüpfen und diesen begnadigen. In der Stichwahl 2011 unterlag sie allerdings Humala (7 937 704 : 7 490 647 Stimmen). Die Geschichte läßt das Land nicht los. Jorge Basadre, Historia de la República del Perú, 18 Bde., Lima 72005–2006. Peter Flindell Klarén, Peru. Society and Nationhood in the Andes. New York / Oxford 2000. Eleonore von Oertzen / Ulrich Goedeking, Peru, München ³2004. H IN N ER K O N K EN Peru, Bürgerkriege. Als „B.“ werden in der peruanischen Geschichte die Kämpfe zwischen dem Pizarround dem Almagro-Clan und die sich anschließenden
P es t
Auseinandersetzungen zwischen den Pizarristas und den Anhängern der span. Krone bezeichnet. Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen war der Streit zwischen Francisco →Pizarro und Diego de →Almagro um die Frage, wem von der Krone die alte Inka-Hauptstadt →Cuzco zugesprochen worden war. Nach Rückkehr von einer Expedition in →Chile ließ Diego de Almagro 1537 Hernando und Gonzalo →Pizarro (Halbbrüder von Francisco) in Cuzco einsperren. Diese konnten sich allerdings befreien, und die Pizarristas besiegten ein Jahr später die Anhänger Almagros in der Schlacht von Las Salinas. Diego de Almagro wurde gefangen genommen und hingerichtet. Sein gleichnamiger Sohn, „El Mozo“ genannt, rächte den Tod seines Vaters 1541: Beim Überfall auf den Reg.spalast in →Lima wurde Francisco Pizarro getötet und die Almagristen kamen für kurze Zeit an die Macht. Sie verloren diese, als mit Cristóbal →Vaca de Castro ein kgl. Untersuchungsrichter ins Land kam, der zusammen mit den Pizarristas und kg.streuen Spaniern die Almagristas 1542 in der Schlacht von Chupas besiegte und den jungen Diego de Almagro kurz darauf gefangen nahm und hinrichten ließ. 1544 wurde Vaca de Castro durch den Vize-Kg. Blasco Nuñez Vela ersetzt, welcher die Macht der Krone mit Hilfe der Neuen Gesetze in →Peru zu etablieren suchte. Gegen diese Politik erhob sich Gonzalo Pizarro. Die Pizarristas besiegten den Vize-Kg. und ließen ihn nach der Schlacht von Iñaquito 1546 hinrichten. Auch wenn die Pizarristas damit alle ihre Gegner besiegt zu haben schienen, hielt sich Gonzalo Pizarro nur zwei Jahre an der Macht. Mit Pedro de la →Gasca kam 1547 ein Kronbeauftragter nach Peru, dem es mit Hilfe einer ansehnlichen Streitmacht und weit reichenden Amnestiegeboten schnell gelang, Pizarros Rückhalt zu erschüttern. Als sich die Truppen der beiden Seiten im Apr. 1548 zur Schlacht formierten, verließen die meisten Anführer mit ihren Soldaten Gonzalo Pizarro, der gefangen-genommen und hingerichtet wurde. José Antonio del Busto Duthurburu, La pacificación del Perú, Lima 1984. Rafael Varón Gabai, Francisco Pizarro and His Brothers, Norman / London 1997. UL RI CH MÜCKE
Peru, Eroberung. Als E. wird der siegreiche Feldzug der Spanier unter Francisco →Pizarro und Diego de →Almagro gegen die Herrschaft der Inkas im heutigen →Peru zwischen 1530 und 1537 bezeichnet. Pizarro war zur Jahreswende 1530/31 von →Panama Richtung Süden aufgebrochen, wo es im Nov. 1532 in Cajamarca zum Aufeinandertreffen mit dem Inka →Atahualpa kam, bei dem knapp 170 Spanier mehrere Tausend Indianer überwältigten und niedermetzelten und den als Gott verehrten Atahualpa gefangennahmen. Ein Jahr später nahmen die Spanier, mittlerweile unterstützt von zahlreichen andinen →Ethnien, die Hauptstadt des →Inkareichs, →Cuzco, ein. Der von den Spaniern eingesetzte neue Inka, Manco, erhob sich 1536 gegen die neuen Herrscher und belagerte mit Zehntausenden von Kriegern monatelang das von knapp 200 Spaniern verteidigte Cuzco. Erst als 1537 Diego de Almagro mit einer span.indigenen Streitmacht von seiner Expedition aus →Chile zurückkehrte, gewannen die Spanier die Oberhand, und
Manco zog sich mit seinen Getreuen in die abgelegene Region von Vilcabamba zurück. Dort etablierte er eine neo-inkaische Herrschaft, die 1572 unter dem Vize-Kg. Francisco de →Toledo zerstört werden sollte. Die E. hat seit jeher zu der Frage geführt, wie eine so kleine Schar von Spaniern ein so großes Reich erobern konnte. Kurzfristig profitierten die Spanier von ihren überlegenen Waffen. Während es relativ einfach war, sich mit Metalloder Wollpanzern gegen die Steine der indigen Truppen zu schützen, verfügten diese gegen die Metallwaffen und Reiter der Spanier über keinen Schutz. Mittelfristig erwies sich das Inkareich als ein fragiles Gebilde, wurde den Spaniern doch nach ihrem ersten Erfolg gegen die inkaischen Truppen von zahlreichen Ethnien Unterstützung zuteil, da diese die Spanier als das kleinere Übel und als Verbündete gegen das verhaßte Cuzco betrachteten. Für diese Indios bedeutete die Ankunft der Spanier nicht die E., sondern die Befreiung ihrer ethnischen Gruppe vom Joch der Inka. Pedro Cieza de León, Crónica del Perú, Bd. 1–4, Lima 1984–1992. John Hemming, The Conquest of the Incas, New York 1970. Karen Spalding, The Crisis and Transformation of Invaded Societies: Andean Area (1500– 1580), in: Frank Salomon, Stuart B. Schwartz (Hg.), The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Cambridge 1999, Bd. 3,1, 904–972. U LRICH MÜ CK E
Pest. Der Erreger ist das Bakterium Yersinia pestis (entdeckt 1894). Die P. ist eine Zoonose der Nagetiere wie Ratten u. a. Die Übertragung auf den Menschen erfolgt durch den Ratten- oder Menschenfloh. Das Auftreten von P.-Epidemien ist daher an bestimmte klimatische und ökologische Voraussetzungen gebunden. Die P. tritt klinisch in 2 Varianten auf. Bei der Beulen-P. kommt es nach kurzer Inkubationszeit zu einem schweren Krankheitsbild mit Fieber, Gliederscherzen und starker Vergrößerung der regionalen Lymphknoten meist in der Leiste (Bubo). Als Komplikation können sich eine Septikämie und eine sekundäre Lungenbeteiligung einstellen. Die Primäre Lungen-P. wird durch Tröpfcheninfektion durch P.-Kranke übertragen. Sie hat ebenso wie die Beulen-P. mit Komplikationen unbehandelt eine hohe Sterblichkeit von 70–100 %. P.-Epidemien begleiten die Menschheit bereits seit dem Altertum. Es ist jedoch zweifelhaft, ob alle als P. bezeichneten →Seuchen Infektionen mit Yersinia Pestis waren (biblische Darstellung im Buch Samuel, P. des Thukydides 430 v. Chr. in Athen, antonioische P. 160 n. Chr. im römischen Heer, julianische P. 542 n. Chr. in Konstantinopel.) Dieses gilt auch für die große Seuche 1348 in Europa (Der schwarze Tod), die die Bevölkerung schätzungsweise um ⅓ dezimierte. Im 15–18. Jh. traten in Europa immer wieder P.-Epidemien auf, z. T. mit erheblichen Opfern (London 1667, Wien 1678, Marseille 1720). Nach einer größeren Epidemie in Ostpreußen 1711 und Moskau 1771 verschwand die P. aus Europa. In Asien trat sie in der 2. Hälfte des 19. Jh.s wieder auf. Diese Epidemie dauerte mehrere Jahrzehnte (in der Mongolei, China und →Indien). Heute ist sie noch endemisch in Zentral- und →Südostasien, Zentral- und Südafrika, →Madagaskar und →Amerika). 637
Peters, cArl
Manfred Vasold, Die Pest, Darmstadt 2003. DE T L E F S E YBOL D
Peters, Carl, * 27. September 1856 Neuhaus an der Elbe, † 10. September 1918 Woltorf, □ Engesohder Friedhof/ Hannover, ev.-luth. Mit Intelligenz und Willenskraft begabt, aber auch zur Selbstüberschätzung neigend, wünschten ihm seine Lehrer 1876 beim Abitur, „daß sein Glaube, ein Genie zu sein, recht bald erschüttert werde.“ Sein Studium der Geschichte in Göttingen, Tübingen und Berlin schloß er mit Promotion und Oberlehrerexamen ab. Eine Habilitationsschrift über Schopenhauer legte er vor, ohne die Habilitation abzuschließen. Die Einladung eines Bruders seiner Mutter nach London und dessen Tod machten ihn finanziell unabhängig, gleichzeitig brachte ihn sein England-Aufenthalt in Verbindung mit dem Gedankengut der radikaleren Strömungen der brit. Kolonialideologie. Das beneidet-bewunderte Vorbild des brit. Empire gab denn auch den Anstoß zu seinen kolonialen Ambitionen und Kolonialplänen. Im Nov. 1884 setzte er zusammen mit seinen Gefährten von →Sansibar aus auf das ostafr. Festland über, wo er in wenigen Wochen für die spätere →Dt.-Ostafr. Gesellschaft (DOAG) ein Gebiet von 140 000 km2 von Häuptlingen erwarb, denen die Tragweite ihres Handelns kaum bewußt sein konnte. Am 27.2.1885 übernahm Ks. Wilhelm I. die Oberhoheit über diese Gebiete. Damit hatte P. die Grundlage für den dt. Kolonialbesitz in Ostafrika geschaffen, der offiziell am 1.1.1891 in den Besitz des Dt. Reiches überging, erweitert um die Gebiete, die dem Dt. Reich durch den →Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890 zugesprochen worden waren. Dazu gehörte auch das Land am →Kilimandscharo, mit dessen Unterwerfung P. als Reichskommissar beauftragt wurde. Aber es war nicht nur sein eigenmächtiges und oft brutales Handeln, sondern die „Hängegeschichte vom Kilimandscharo“, die das Verhältnis zwischen →Gouv. und Reichskommissar belastete. Im Okt. 1891 hatte P. seinen Diener Mabruk, wenige Wochen später seine Konkubine hängen lassen, was P. mit Verrat und Vertrauensbruch begründete. Alles spricht dafür, daß P. das Urteil aus persönlichen Gründen vollzog. Politischer Druck, aber auch rechtliche Bedenken verhinderten eine strafrechtliche Ahndung des Falles, der wiederholt den Reichstag beschäftigte. Aber der ksl. Disziplinarhof verurteilte P. im Nov. 1897 zur Entlassung aus dem Dienst, zum Verlust seines Titels und seines Ruhegehalts. 1905 wurde ihm durch einen ksl. Gnadenakt sein Titel, 1914 sein Pensionsanspruch wieder zuerkannt. Nach seiner Entlassung lebte P. überwiegend in England. Nach Ausbruch des Weltkriegs kehrte er nach Deutschland zurück. Für die Tansanier lebt er weiter als „der Mann mit den blutigen Händen“, für die Nationalsozialisten war er einer der „Großen Deutschen“. Eine Reihe dt. Städte hat ihre P.-Straßen umbenannt, andere haben daran festgehalten. BArchiv Berlin. BArchiv Koblenz (NL Frank). W. Frank (Hg.), Carl Peters. Gesammelte Schriften, München 1943/44. Arne Perras, Carl Peters and German Impe-
638
rialism 1856–1918, Oxford 2004. Heinz Schneppen, Der Fall Carl Peters: ZfG 49 (2001), 869–885. H EIN Z SC H N EPPEN
Pfeffer. Bis zu 50 cm hoher Strauch (lat. piperaceae), dessen Fruchtstände Beeren ausbilden, die späteren P.körner. Zum einen lassen sich aus ihnen die weitverbreiteten schwarzen P.körner (piper nigrum) durch Trocknung der im unreifen Zustand gepflückten Beeren herstellen, zum anderen der weiße P. (piper album) aus den vollreifen und geschälten Beeren. P. wurde in SüdWestindien schon vor Jahrtausenden kultiviert. Auch auf →Sumatra und →Borneo war der Anbau verbreitet. P. konnte als →Gewürz genutzt werden, dabei entwickelte sich die Schärfe aus dem Alkaloid Piperin. Auf Grund des Piperins eignete er sich auch als Arznei gegen Verdauungsprobleme und Magenbeschwerden, da er schweres und fettes Essen bekömmlicher machte. Schon früh läßt sich der Export von P. nachweisen. So fanden sich etwa in der Mumie Ramses II. († 1213 v. Chr.) schwarze P.körner, die darauf schließen lassen, daß schon in dieser Zeit in →Ägypten P. bekannt war. Seinen Weg nach Westeuropa fand der P. ferner durch die Asienfeldzüge →Alexander d. Gr. († 323 v. Chr.) im 4. Jh. v. Chr., zunächst nach Griechenland und dann auch nach Rom, wo er ein der Oberschicht vorbehaltenes Gewürz und Heilmittel war. Er war so wertvoll, daß 408 n. Chr. Alarich erst gegen die Tributzahlung von Gold und 3 000 Pfund P. von seiner Belagerung Roms abließ. Auch im Mittelalter blieb P. ein bekanntes, sehr kostbares Gewürz, das zunächst v. a. von der westind. →Malabarküste, später auch aus →Indonesien und →Java durch HandelsKarawanen eingeführt wurde. Marco →Polo berichtete um 1299 von P.vorkommen in Asien, speziell auf Java. P. kam über verschiedene Handelswege aus Asien (v. a. →Calicut, Cochin, Cannanore an der Malabarküste) über den →Ind. Ozean nach Europa. Zahlreiche Zwischenhändler sorgten für hohe P.preise, so daß P. bis ins 18. Jh. ein Luxusgewürz blieb. Preisstudien des 15. Jh.s zeigen, daß sich der P.preis vom Einkauf an der Malabarküste bis zum Endverbraucher um das 15fache erhöhen konnte, (der Einkaufspreis lag für 1 kg P. bei 1–2 g Silber, in Alexandrien schon bei 10–14 g Silber, in →Venedig bei 14–18 g Silber und schließlich beim Endverbraucher bei 20–30 g Silber). Bis ins 16. Jh. dominierte Venedig den P.import, venezianische Galeeren brachten jährlich 2,5 Mio. Pfund Gewürze von der Levante nach Europa, davon allein 40–50 % P. Davon profitierten bis Ende des 16. Jh.s v. a. die großen Handelshäuser in Ravensburg, →Augsburg und →Nürnberg (z. B. die sog. Große Ravensburger Handelsgesellschaft, Imhoff, →Welser), so daß schon Hans Sachs († 1576) in Nürnberg sie um 1500 als „P.säcke“ bezeichnete. 1498 entdeckte Vasco →da Gama im Auftrag des port. Kg.s auf seiner Fahrt um das →Kap der guten Hoffnung einen neuen See- und damit Handelsweg nach →Indien: Damit löste Portugal auf Dauer Venedig als Hauptimporteur von P. ab. Der port. Kg. nahm bald eine monopolartige Stellung im P.import für Europa ein, die auch durch zeitweilige Versuche des Augsburger Kaufmanns Konrad Roth und des sächsischen Herzogs August (z. B. 1575–1580 Verpachtung des
P f erd e
P.imports an K. Roth) nicht gebrochen werden konnte. Dennoch blieb für dt. Kaufleute die Gewinnspanne im P.handel mit bis zu 30 % exorbitant hoch. Seit dem 17. Jh. traten zunehmend die Märkte und Börsen zunächst in Antwerpen und dann in Amsterdam und seit dem 18. Jh. in London und Hamburg als zentrale P.märkte in den Vordergrund. Die neuen Großmärkte und Handelsbörsen waren wiederum eng mit den zeitweise monopolartige Strukturen aufweisenden Handelskompanien der 1600 und 1602 gegründeten engl. East India Company (EIC, →Ostindienkompanien) und ndl. →Vereinigte Ostind. Kompanie (VOC) verbunden. Sie konkurrierten jahrzehntelang um die Vorherrschaft im Seehandel nach Asien, insb. im P.handel. Im 17. Jh. gelang es der VOC, Anbau, →Transport und Verkauf von P. in eine Hand zu bringen. Der Verkauf blieb auch im 18. Jh. noch gewinnbringend, so daß VOC und EIC mit weiteren Konkurrenten zu kämpfen hatten, so z. B. mit Handelssyndikaten aus Dänemark und Frankreich. Die Gesamteinfuhr von P. nach Europa steigerte sich von 1,5 Mio. Pfund [um 1500] auf ca. 7–8 Mio. Pfund um 1700. Auf Grund sich verändernder Ernährungsgewohnheiten, des Hinzutretens weiterer Gewürze als P.ersatz (Schärfe) sowie verbesserter maschineller Ernte und geringerer Transportkosten sank im 19. und 20. Jh. der Preis für P. Bis heute macht P. 20 % des gesamten Gewürzhandels aus. Hauptproduzent sind neben Indien mittlerweile →Vietnam und →Brasilien. Hauptumschlagplätze sind →Singapur, Rotterdam, →Bombay und das „alte“ Cochin an der Malabarküste. Hans Heinrich Mauruschat, Gewürze, Zucker und Salz im vorindustriellen Europa – eine preisgeschichtliche Untersuchung, Göttingen 1975. Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007. Eberhard Schmitt, Europäischer Pfefferhandel und Pfefferkonsum im Ersten Kolonialzeitalter, in: Markus A. Denzel (Hg.), Gewürze: Produktion, Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit, St. Katharinen, 1999, 15–26. ME CHT HI L D I S E NMANN
Pfeil und Klein-Ellguth, Joachim Graf von, * 30. Dezember 1857 Neurode / Schlesien, † 12. März 1924 Friedersdorf bei Lauban, □ in Langenöls (jetzt Olszyna) nicht erhalten, ev.-luth. Nach Tod des Vaters (promovierter Justizrat) 1873 Schulabbruch und →Auswanderung nach Südafrika. Im →Oranje-Freistaat gescheiterter Versuch als Farmer. 1883 Rückkehr in die Heimat. Dort Zusammentreffen mit Carl →Peters und Karl Ludwig Jühlke, den Propagandisten einer dt. Kolonisation Ostafrikas. Zusammen mit beiden zog er im Herbst 1884 nach →Sansibar und von dort auf den afr. Kontinent. Im Landesinneren des späteren →Dt.-Ostafrika schloß er mit hamitischen Sultanen und Bantu-Häuptlingen (→Bantu) Verträge, die Landerwerb für die →Gesellschaft für dt. Kolonisation zum Gegenstand hatten. Von Okt. 1885 bis Mai 1887 erforschte P. die Flußregionen des Rufidji und des Pangani. Im Juli 1887 gewann ihn Adolph v. →Hansemann als leitenden Angestellten für die →Neu-Guinea-Compagnie. In den zwei Jahren seiner Tätigkeit in der Südsee erforschte er systematisch die Gazelle-Halbinsel Neupommerns und die Insel Neumecklenburg. Damit trug er wesentlich
zur Wissensvermehrung über die dt. Besitzungen im Bismarckarchipel bei. Nach Differenzen mit dem 1889 vom Reichskanzler eingesetzten ksl. Kommissar Friedrich →Rose quittierte er den Dienst. Die Rückreise nach Deutschland unterbrach er in Ndl.- und Brit.-Indien, um die dortige Praxis der Kolonialverwaltung kennenzulernen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse versuchte er 1891 in Dt.-Ostafrika umzusetzen, fand aber bei der Verwaltungsspitze wenig Gehör. 1892 bereiste er im Auftrag des Syndikats für die Siedlung in →Dt.-Südwestafrika den Süden dieser Kolonie. 1897 bis 1908 unternahm er, teils gemeinsam mit anderen Forschern, Reisen nach →Marokko, Zentralafrika und Nordamerika. Ab 1905 war er als Funktionär im Alldt. Verband aktiv. 1911 stieg er in dessen Vorstand auf. Meinungsverschiedenheiten mit Carl Peters, die P. schon während der gemeinsamen Tätigkeit in Ostafrika hatte, eskalierten nach dem Weltkrieg. Umfangreicher, teilweise noch nicht ausgewerteter Nachlaß im Bundesarchiv, Koblenz, Nr. 2225. G ERH A R D H U TZLER
Pferde. Fam.: Equidae, Gatt.: Equus, verschiedene Arten, die in Pf., Esel und Zebras unterteilt werden. Paläontologische Untersuchungen zeigen, daß sich Urpf. bereits vor 55 Millionen Jahren in Nordamerika und Eurasien aufhielten. Aus ihnen gingen alle bekannten Pf.gattungen und -arten hervor. Vor 10.000 Jahren starben Pf. aus bisher strittigen Gründen in Nordamerika aus und wurden erst durch die europäischen →Eroberungen dort wieder heimisch. Die Domestizierung erfolgte etwa 4000 v. Chr. im Gebiet des Don und des Dnjepr, wie archäologische Funde zeigen. Von dieser zentralen Lage aus erreichten domestizierte Pf. Europa, →Südostasien und den Nahen Osten. Eine Verbreitung innerhalb des →Maghreb und in späterer Zeit auch im Gebiet Senegambias nahm von dort ihren Ursprung. Die Verbreitung der Tsetsefliege machte ein dauerhafte Vorkommen der domestizierten Pf. im südlichen →Afrika in früheren Zeiten unmöglich. Trotzdem war das Zebra als Art der Gattung equus auf dem afrikanischen Kontinent zu Hause. Dieses war am Ende des Pliozän über die gefrorene Beringsee über Asien und Europa nach Afrika gelangt und hat sich dort einzig verbreitet. Zu einer dauerhaften Nutzbarmachung dieses Tieres kam es indes nie, wenngleich Ende des 19. Jh.s Versuche unternommen wurden (Baron Rothschild). Innerhalb der europäischen Geschichte nehmen Pf. eine besondere Rolle ein. Ihre in Antike und Mittelalter bedeutende Rolle als Statussymbol läßt sich etymologisch durch Begriffe wie „equester ordo“ (Imperium Romanum) oder „Ritterstand“ (Sacrum Imperium, Mittelalter) bestimmen. Diese Bedeutung der Pf. leitet sich v. a. aus ihrem Einsatz innerhalb von Kriegen und Kriegszügen ab, in denen die Kavallerie immer von ausschlaggebendem Nutzen war. Diese Rolle, die spätestens mit der Einführung der Panzer und der mobilen Artillerie einen Niedergang erlebte, hatten die Pf. trotzdem bis in den →Zweiten Weltkrieg hinein. Der kriegerische Einsatz von Pf.n brachte innerhalb der spanischen Eroberung Mittel- und Südamerikas einen entscheidenden Vorteil. Durch den Einsatz der in Südamerika unbekannten Tiere 639
P h i l i P P ii .
verbreitete sich innerhalb der indigenen Bevölkerung schnell der Mythos des Ungeheuers. Die anfängliche →Angst der Ureinwohner in Nord- und Südamerika aber wurde mit zunehmender Kolonisierung abgebaut und der landwirtschaftliche Nutzen der Pf. erkannt, auch wenn es zu Verwilderungen kam (Mustang). Die Erschließung Südafrikas durch die →Buren führte zu einer Einfuhr der domestizierten Pf. im Bereich Subsahara. Ein ursprünglich lediglich auf landwirtschaftlichen Nutzen ausgerichteter Gebrauch der Pf. führte im Rahmen der weiteren Landerschließung und den damit einhergehenden Auseinandersetzungen mit den südafrikanischen →Ethnien auch hier zu einer militärischen Nutzung der Tiere. Die dadurch verbreitete Angst wurde durch die im späteren 19. Jh. etwa in →Dt.-Südwest-Afrika begonnene Pf.zucht aber normalisiert. Die Domestizierung der Pf. im Zentrum von Eurasien führte auch innerhalb des asiatischen Teils zu ähnlichem Einsatz des Tieres wie in Europa, wenn auch kein besonderes Standesdenken an Pf. geknüpft war. Ihr kriegerischer Einsatz etwa bei der Einigung Chinas wird durch die Terrakotta-Abbildungen des Kaisers Yíng Zhèng deutlich. Ihr symbolischer Wert zeigt sich darin, daß Pf. immer wieder als Tauschmittel benutzt wurden, um z. B. Handelsprivilegien zu erlangen. In →Australien und Ozeanien gab es im 18. Jh. durchaus Ansätze zur Einführung der Pf., die aber an unterschiedlichen Mentalitäten und den vorhandenen Umweltbedingungen scheiterten. Erst mit der Besiedlung Australiens im 19. Jh. und der Missionierung der Inseln Ozeaniens wurde eine gezielte Verbreitung von Pf.n auch in dieser Region gefördert, wenn für Ozeanien auch ohne großen Erfolg. In Australien wurden Pf.-Rennen bereits kurz nach der dauerhaften Besiedlung um 1825 eine beliebte Sportart. Erhard Oeser, Pferd und Mensch, Darmstadt 2007. Angela Schottenhammer, Horses in Late Imperial China and Maritime East Asia, in: Bert G. Fragner u. a. (Hg.), Pferde in Asien: Geschichte, Handel und Kultur, Wien 2009, 231–254. Felix Schürmann, Herrschaftsstrategien und der Einsatz von Pferden im südwestlichen Afrika, ca. 1790–1890, in: Rainer Pöppinghege (Hg.): Tiere im Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2009, 65–84. HE I KO S CHNI CKMANN Philipp II., * 21. Mai 1527 Valladolid, † 13. September 1598 El Escorial, □ im Escorial, rk. Der Sohn Kaiser Karls V. und Isabellas von Portugal trat nach der Abdankung seines Vaters 1556 die Herrschaft in Spanien samt seinen amerikanischen Kolonien, den Niederlanden und den spanischen Besitzungen in Süditalien an, während die Kaiserkrone an seinen Onkel Ferdinand (I.) überging. Um seine Länder zu regieren, setzte Philipp II. auf administrative Zentralisierung und die Sammlung schriftlicher Informationen. Dafür stand ihm ein bereits unter seinen Vorgänger etabliertes System von Ratsgremien zur Verfügung; wichtigste Behörden für die Regierung und Verwaltung der Kolonien waren der Consejo da Indias (Indienrat) und die für Handelsund Schifffahrtsangelegenheiten zuständige Casa de la Contratación in Sevilla. Im Anschluß an eine Visitation des Indienrats durch Juan de Ovando dekretierte Philipp 640
II. 1571–73 die Schaffung des Amtes eines obersten Kosmographen und Chronisten Amerikas, die Versendung von Fragebögen an königliche Amtsträger in Übersee, die Kodifikation der die Kolonialgebiete betreffenden Gesetze (Recopilación de las leyes de Indias) und eine umfassende Landesbeschreibung, welche allerdings nicht über Ansätze hinaus gelangte. Gestützt auf einen umfassenden Herrschaftsanspruch und steigende Silbereinfuhren aus Amerika verfolgte Philipp II. eine expansive Macht- und Interventionspolitik in Nordwesteuropa und gegen die Osmanen im Mittelmeer. Gegen die Osmanen gelang 1571 mit dem Sieg in der Seeschlacht von Lepanto ein vorübergehender Prestigeerfolg; wichtige Häfen in Nordafrika (Algier, Tunis) blieben allerdings in osmanischer Hand. Während der Aufstand der niederländischen Untertanen gegen die Zentralisierungs- und Religionspolitik des Königs zur Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande führte und die Expedition der spanischen Armada gegen das protestantische England scheiterte, konnte Philipp II. seine Position auf der Iberischen Halbinsel und in Übersee ausbauen: Nach dem Aussterben der Dynastie der Avis 1580 sicherte sich der verwandtschaftlich eng mit dem portugiesischen Königshaus verbundene König auch die Herrschaft über Portugal. Obwohl Portugal und Spanien bis 1640 in Personalunion verbunden waren, blieben Regierung und Verwaltung – einschließlich der Kolonialreiche – getrennt. Und obwohl englischen und französischen Korsarenaktionen gegen spanische Silbertransporte und Überseehäfen mitunter spektakuläre Erfolge beschieden waren, gelang es Spanien unter Philipp II., seine Besitzungen in Übersee zu behaupten. Mit der Besetzung der nach ihm benannten →Philippinen entstand überdies ein spanischer Außenposten im Pazifik, der gegen Ende des 16. Jh.s v. a. für den Handel zwischen China und Neuspanien (Mexiko) wichtig wurde. Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Formen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln u. a. 2009; Friedrich Edelmayer, Philipp II. Biographie eines Weltherrschers, Stuttgart 2009. MA RK H Ä BER LEIN Philipp V., * 19. Dezember 1683 Versailles, † 9. Juli 1746 Madrid, □ Kollegialkirche des Palais La Granja in San Ildefonso, rk. Der Enkel Ludwigs XIV. wurde am 24.11.1700 als erster Bourbone zum span. Kg. ausgerufen, nachdem Frankreich ein diplomatisches Tauziehen mit Österreich um die Nachfolge des kinderlosen Habsburgers Karl II. für sich hatte entscheiden können. Katalonien stellte sich im Lauf des bald darauf ausbrechenden Span. Erbfolgekrieges auf die Seite der Habsburger. Schon während des Krieges begann die Reg. P.s daher mit der Abschaffung der territorialen Privilegien der aragonesischen Reiche, die in den sog. Decretos de Nueva Planta (1707–1716) ihren Niederschlag fanden. Diese Vereinheitlichung der Verwaltung wurde durch die Einführung der Intendanten, die direkt von den Staatssekretären abhingen, gestützt, was zu einer Reduzierung der persönlichen Abhängigkeiten und damit einer Schwächung des Hochadels führte. Ebenso wie die Abschaffung der Consejos (bis auf den Indien- und den Kastilienrat) führten diese Maßnahmen
P h i liP P i n en
langfristig zu einer Ablösung der alten Eliten zugunsten einer neuen Kaste von Verwaltungsbeamten sowie zur Entwicklung Spaniens hin zu einem zentralisierten Territorialstaat. Der zunehmende Einfluß merkantilistischen Gedankengutes spiegelt sich im Aufstieg der ökonomischen Literatur in Spanien zu dieser Zeit wider. Die Krone wurde als alleinige Kraft gesehen, die den ökonomischen Aufschwung herbeiführen konnte. Die Wirtschaftspolitik war daher rein merkantilistisch geprägt und beinhaltete die Beseitigung der Zollgrenzen im Innern, die Vereinheitlichung der →Währung und der Maße sowie die Gründung von Manufakturen für Luxusgüter und privilegierten Handelskompagnien. Die Notwendigkeit der Steigerung des Außenhandels brachte die verstärkte Konzentration auf die ökonomischen Rolle der überseeischen Besitzungen mit sich, die zunehmend als Rohstofflieferanten betrachtet wurden (→Uztáriz, →Campillo y Cosío). Die Einführung der Intendanten (nach 1765) sollte auch hier die Grundlage für die Durchsetzung der kgl. Politik bilden. Der Aufschwung der span. Wissenschaften wurde durch die Gründung der Academia de Guardias Marinas in Cadiz (1717), die kgl. Anerkennung der bereits bestehenden Real Academia Española (1714) und der Academia Médica Matritense (1734), die Protegierung Jerónimo Feijoos sowie die Genehmigung der ersten naturwissenschaftlichen →Expedition nach Hispanoamerika (1736–1745, →Jorge Juan y Santacilia, Antonio de →Ulloa) gefördert. Treibende Kraft hinter der Politik des eher lethargischen P. war dabei v. a. sein langjähriger Minister José Patiño. Agustín González Enciso, Felipe V., Pamplona 2003. Esteban Mauerer, Philipp V., in: Walther L. Bernecker u. a. (Hg.), Die span. Kg.e, München 1997, 133–145. Elíseo Serrano (Hg.), Felipe V. y su tiempo, 2 Bde., Saragossa 2004. AL E XANDRA GI T T E RMANN Philippinen, Inselgruppe von über 7 000 Inseln im Malaiischen Archipel. Sie ist seit ca. 40 000 Jahren besiedelt. Zwischen 900 und 1521 existierten schon kleine Fürstentümer und islamisierte Sultanate im Süden. Diese Kleinstaaten trieben zwar Handel mit China und →Borneo, kooperierten aber nicht miteinander, so daß es keinen großen Widerstand gab, als 1521 die Spanier auftauchten. Der erste war Ferdinand Magellan, der bei seiner Weltumseglung auf die P. stieß und ihnen den Namen Islas de San Lazaro gab. Im Apr. 1521 wurde Magellan auf der Insel Mactan in der Nähe von Cebu von einem lokalen Fürsten getötet. 1543 kam wieder eine span. Expedition unter Ruy Lopez de Villalobos, der die Inseln Samar und Leyte nach Kg. →Philipp II. von Spanien Las Islas Filipinas nannte. Die eigentliche Kolonisierung begann 1565, als Miguel Lopez de Legazpi aus →Mexiko kam und die erste europäische Siedlung in Cebu gründete. Dort begann auch die Missionierung durch die Augustiner. Legazpi gründete 1571 →Manila und wurde der erste span. Gouv. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte er die P. mehr oder weniger unter span. Kontrolle gebracht, bis auf die Bergregionen mit ihren kriegerischen Stämmen und den musl. Moros im Süden. Von 1565 bis 1898 waren die P. span. Kolonie und wurden von 1565 bis 1821 über das →Vize-Kgr. Neuspanien in Mexiko
regiert. Nach der Unabhängigkeit Mexikos 1821 wurden sie bis 1898 direkt von Spanien aus regiert. Die Spanier regierten das Land mit Hilfe der Mönchsorden. Diese teilten das Land unter sich auf. Nach den Augustinern kamen die Franziskaner 1577 auf die P., 1581 die →Jesuiten, 1587 die Dominikaner und 1606 die Rekollekten. Sie tauften die Ew. Diese durften aber nicht Spanisch lernen, vielmehr lernten die Mönche die einheimischen Sprachen, in denen sie auch Katechismen verfaßten. Die verstreut lebenden Landbewohner wurden in Ortschaften angesiedelt, in deren Mitte sich immer eine große Kirche befand. Die Mönche erwarben auch große Landgüter, die sie verpachteten. Im Laufe der Jh.e wurden die Mönchsorden zu einem Staat im Staate. Die span. Beamten kamen und gingen, die Mönche blieben. Bei der Missionierung waren sie sehr erfolgreich. Bis heute sind 90 % der Filipinos rk. 1611 wurde die Santo Tomas Universität in Manila durch die Dominikaner gegründet. Zunächst war sie ein reines Priesterseminar, wurde aber 1645 zur Universität erhoben. In der befestigten Innenstadt von Manila, Intramuros, lebten die Spanier, der Gouv., die Beamten und Kaufleute und der Bischof. Ganz ungefährdet war die Herrschaft der Spanier nicht, denn die ewigen Rivalen Spaniens, die Portugiesen und Holländer, griffen ab und zu an, und die engl. Piraten Sir Francis →Drake und Thomas Cavendish überfielen Küstenstädte. 1574 griff der chin. Pirat Limahong mit einer Armee von 2 000 Mann Manila an. 1593 sicherte sich die Krone auf Befehl Philipps III. das Monopol für den Handel mit China. Alle Waren aus China mußten in Manila auf Galeonen umgeladen und von dort nach →Acapulco verschifft werden. Dieser Galeonenhandel war sehr profitabel für die span. Krone, aber auch mit großen Risiken behaftet. Die Reise nach Mexiko dauerte vier bis fünf Monate und oft gingen die Schiffe unter oder wurden von Piraten angegriffen. Das Monopol wurde bis 1813 aufrechterhalten. Nur von 1762 bis 1764 wurde der Galeonenhandel unterbrochen, weil die Briten während des →Siebenjährigen Krieges Manila besetzten. Da die rasche →Eroberung Manilas die Schwäche der Spanier gezeigt hatte, gab es in dieser Zeit mehrere Aufstände auf dem Lande, der berühmteste unter ihnen war der von Diego Silang. Um mehr Profit zu erzielen, ließen die Spanier auch kommerzielle Agrarprodukte wie →Zucker, Hanf und →Tabak anpflanzen, kontrollierten aber weiterhin ihre Ausfuhr: 1781–1882 gab es ein staatliches Tabakmonopol. Erst 1834 wurde Manila zum internationalen Hafen erklärt. Schon 1856 hatten sich dann 13 ausländische Handelsunternehmen in Manila niedergelassen, darunter auch dt. und schweizerische. Die Deutschen wurden durch Honorarkonsuln von Hamburg, Bremen und Preußen vertreten. Ab 1871 gab es ein Konsulat des Dt. Reichs. Nach der Eröffnung des →Suezkanals 1869 intensivierten sich die Kontakte zu Europa. Inzwischen hatte sich auch eine philippinische Elite entwickelt, die zum großen Teil aus Mestizos bestand, d. h. Mischlingen mit philippinischen, chin. und span. Vorfahren. Sie konnten es sich leisten, ihre Söhne auf gute Schulen zu schicken, oder sogar in Europa studieren zu lassen. Diese Ilustrados (Gebildeten), die philippinischen Studenten in Spanien, organisierten sich in der Propaganda-Bewegung und verlangten Re641
P h n o m P e nh
formen. Sie wollten nicht die Unabhängigkeit von Spanien, sondern die Anerkennung der P. als span. Provinz, ihre Vertretung im span. Parlament, Freiheit der Rede und Versammlung, einheimische statt span. Priestern in den Dörfern sowie die Gleichberechtigung von Spaniern und Einheimischen. Einer von ihnen war der Nationalheld José →Rizal, der 1896 in Manila von den Spaniern hingerichtet wurde. Im selben Jahr brach die bewaffnete Revolte des Katipunan unter Führung von Andres Bonifacio aus. Während des →Span.-Am. Krieges versenkte die am. Flotte unter Commodore Dewey im Mai 1898 die span. Flotte in der Bucht von Manila. Zwei Wochen später stand ihm stand ein dt. Geschwader unter Admiral von →Diederichs gegenüber. Es kam zu Reibereien, aber die Deutschen zogen wieder ab. Am 12.6.1898 erklärte General Emilio Aguinaldo die P. für unabhängig. Im Pariser Vertrag Ende 1898 verkaufte Spanien die P. jedoch für 20 Mio. US-$ an die →USA. Der Widerstand der Filipinos gegen die Amerikaner dauerte noch bis 1902. Die Moros im Süden ergaben sich erst später. Von 1898 bis 1946 waren die P. eine Kolonie der USA. In dieser Zeit wurden sie gründlich amerikanisiert. Auf beinahe 400 Jahre im span. Kloster folgten 50 Jahre Hollywood. Sehr schnell nahmen die Filipinos die engl. Sprache an. Die Amerikaner modernisierten das Erziehungs- und Gesundheitswesen, führten ihr Reg.ssystem ein und besetzten es nach und nach mit Mitgliedern der philippinischen Elite. Die hatte inzwischen die →Haciendas der Mönchsorden übernommen und war sehr reich geworden. 1942–1945 waren die P. von Japan besetzt. Am 4.7.1946 wurden die P. endlich eine unabhängige Rep. Teodoro P. Agoncillo, History of the Filipino People, Quezon City 1977. Renato Constantino, A Past Revisited, Quezon City 1974. Stanley Karnow, In Our Image, New York 1989. MARL I E S S AL AZ AR Phnom Penh ist als Haupt- und Residenzstadt, wirtschaftliches und akademisches Zentrum die Primatstadt →Kambodschas. Die Metropoleregion zählte 2011 ca. 2,2 Mio. Einwohner. Der „Hügel der (Dame) Penh“, wie es in der Gründungslegende heißt, liegt in einer Schwemmebene am k-förmigen Flußwegekreuz von Mekong, Tonle Sap und Tonle Bassac, deren amphibischer Charakter mit der Baulandgewinnung durch Landaufschüttungen sukzessive verschwunden ist. Diesem Wachstum wurde mit der Ausweitung der Stadtgrenzen Rechnung getragen. Der Bau- und Investorenboom des ersten Jahrzehntes im neuen Millennium läßt mit Hochhäusern im Zentrum (CBD) das Stadtbild erstmals in die Höhe wachsen. Typische Stadtbausteine sind in serieller Gleichförmigkeit ein- und mehrstöckige Shophouses mit Gewerbeflächen im Erdgeschoß bzw. Villenbauten unterschiedlicher Epochenstile. Apartmentblöcke sind eine neue Wohnform und Folge der steigenden Immobilienpreise. Am Stadtgrundriß mit seinem unregelmäßigen Schachbrett und seinen breiten Boulevards und Nebenstraßen hat sich seit der französischen Kolonialzeit wenig geändert. Mit dem schleichenden Niedergang des Angkorreiches verlegten die Khmerkönige im 15. Jh. ihre Paläste schließlich weiter südlich an wechselnden Standorten in ein altes Siedlungsgebiet, das ein wichti642
ges kultisches Zentrum war: den chaktomuk (frz. quatre bras), wie der geostrategisch günstig gelegenen Raum in Khmer heißt. 1863 schloß Frankreich mit Norodom I. ein Protektoratsabkommen mit einem Handels- u. Marinestützpunkt. Die Franzosen wollen sich die untere Mekongregion für eine projektierte Wasserstraße nach China sichern und gegenüber den Briten das Hinterland ihres kolonialen Hauptinteressens Vietnam arrondieren. Für Norodom war die Allianz mit Frankreich anfangs nur eine weitere Option, um sich zwischen den expandierenden Nachbarn →Vietnam und →Siam behaupten zu können. 1865/66 verlegte er seine Residenz von der alten Hauptstadt Udong nach P. Es entstand eine duale Stadt: im Norden die europäische Siedlung als Kolonialstützpunkt; im Süden der Palastbezirk als kosmische Stadt, worin der König absolut herrschte. Zwischen den Polen konzentrierte sich die polyglotte Bevölkerung mit Khmer, Cham, Europäern, (christlichen) Vietnamesen, einer königlichen Leibwache aus den →Philippinen und Chinesen, die Handel und Wirtschaft dominierten. 1884 kam es zu einem Verfassungsputsch: Unter militärischer Gewaltandrohung wurde der Protektoratsvertrag einseitig durch die Franzosen aufgekündigt. Das Land wurde de facto Herrschaftskolonie und der König auf repräsentative Aufgaben beschränkt. P. war als Kolonialstadt französischer Bautradition Sitz des Résident Supérieur (Gouverneur). Von ihr ausgehend wurde die Kolonie administrativ-fiskal wie ökonomisch-infrastrukturell zentralistisch durchdrungen. In der Städtehierarchie →Französisch-Indochinas blieb P. jedoch von sekundärer Bedeutung. Wirtschaftlich war es lediglich ein Satellit von →Saigon-Cholon. Mit der Unabhängigkeit 1954 (→Genfer Konferenz) wurde P. unter der Regie des begeisterten Bauherren Sihanouk und seines Stadtplaners Vann Molyvann zu einer Stadt der architektonisch eigenständigen, heute wenig bekannten Baumoderne ausgebaut. Als Nebenschauplatz des Vietnamkrieges fiel P. am 17. April 1975. Umgehend führten die Roten Khmer die Zwangsevakuierung der rund 2 Mio. Bewohner (ca. die Hälfte Kriegsflüchtlinge) in die umliegenden Provinzen durch. Speziell die Städter wurden unter →Pol Pot ideologisch gebrandmarkt und in seinem ruralen, auf Reisproduktion fokussierten totalen Herrschaft zu Kollektivarbeitern. Mit der Trockenzeitoffensive der Vietnamesen 1979/80 wurde das Regime aus P. vertrieben. Seit der UNTAC-Mission (UN Transitional Authority, 1992/93) setzte die urbane Normalisierung ein. Gregor Muller, Colonial Cambodia’s ‚Bad Frenchmen‘ – The Rise of French Rule and the Life of Thomas Caraman, 1840–87, London / New York 2006. Milton Osborne, Phnom Penh – A Cultural and Literary History, Oxford 2008. Helen Ross / Collins Grant / Darryl Leon, Building Cambodia: ‚New Khmer Architecture‘ 1953– 1970, Bangkok 2006. TH O MA S K O LN BER G ER Phöniker (Punier). Der Name P. ist eine griechische Fremdbezeichnung im engeren Sinne für die Bürger, Seefahrer und Händler der antiken Stadtstaaten Arwad, Byblos, Sidon und Tyros in der Levante. Im weiteren Sinne werden darunter auch die Bewohner der von Tyros gegründeten Kolonien verstanden. Die Ew. der mächtigs-
P i d g i n - u n d k reo ls Pr Ach en
ten Kolonie Karthago (Qart Hadast) nannten die Römer Poeni. Die (semitischen) P. galten schon den Zeitgenossen als herausragende Seefahrer, Händler und Entdecker, obwohl ihr Bild von den Griechen auch mit negativen Stereotypen besetzt wurde. Grundlage ihrer maritimen Disposition bildeten die politischen und ökologischen Bedingungen der Levanteküste. Sie ermöglichte nur eine eingeschränkte landwirtschaftliche Produktion, bot aber am Schnittpunkt ostmediterraner und vorderasiatischer Handelsrouten die Chance, die Nachfrage der nahöstlichen Territorialreiche sowie →Ägyptens nach Gütern aus dem phönikischen Hinterland (Zedern) und aus dem westlichen Mittelmeerraum (Erze, Zinn, Gold, Silber) zu befriedigen sowie dem eigenen Handwerk entspr. Rohstoffe zuzuführen. Die ersten Westfahrten der P. am Ende des 12. Jh.s v. Chr. richteten sich auf die Metallvorkommen Zyperns und führten über Kreta und Malta nach Spanien, Sardinien und Italien (Etrurien). Im Zuge dieser ersten Phase entstanden Handelskontore; erst im 8. Jh. folgten feste Ansiedlungen und Faktoreien. In machtpolitisch besetzten Regionen wie dem mineralreichen „Reich von Tartessos“ in Südspanien wurden phönikischen Händler (aus Tyros) Handels- und Aufenthaltsrechte gewährt, die ihnen faktisch ein Fernhandelsmonopol mit speziellen Schiffen („Tarsisschiffe“) verschafften (AT 1 Kg 10,22; Ez 27,12). Kolonien (apoikiai) wurden dagegen wohl nur von Tyros aus gegründet; die bedeutendsten waren Kition auf Zypern, Utica, Gades (Cadiz) und Karthago, das selbst Subkolonisation betrieb. Schon um 600 gelang phönikischen Seefahrern eine der größten Entdeckungsleistungen des Altertums, als sie im Auftrage des Pharao Necho II. vom Roten Meer aus →Afrika umsegelten und damit den Inselcharakter des Kontinents bewiesen (→Herodot 4,42). Zu Beginn des 6. Jh.s übernahm Karthago eine dominierende Rolle bei der Durchführung explorativer Unternehmungen. Auch sie richteten sich, bedingt durch die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen der Stadt, auf Afrika (dreimalige Durchquerung der Sahara durch Mago im 4. Jh. v. Chr. vielleicht bis →Timbuktu, Athenaios 14,44e) sowie die iberisch-atlantischen (Fahrt des Himilko zu den Zinninseln, Avienus, ora maritima 113–129; Plinius Naturalis Historia 2,169 ) und westafr. Küstengewässer (Kenntnis der Kanarischen Inseln). Die berühmteste, durch die griechische Abschrift eines punischen Originalberichtes (Pal. Gr. 398, fol. 55r – 55v) am besten bezeugte Expedition ist die des Hanno um 500 v. Chr. mit angeblich 60 Schiffen entlang der westafr. Küste. Nach der Anlage von Kolonien im Gebiet des heutigen →Marokko gelangte Hanno über Kap Verde bis zum Golf von →Guinea, wo er den →Kamerunberg sichtete und auf Grund von Versorgungsschwierigkeiten umkehren mußte. Die Hannofahrt wurde in der Antike fleißig rezipiert und über Zusammenfassungen des Plinius (Naturalis historia 5,1,1) und Pomponius Mela (3,89) bis in die frühe Neuzeit tradiert (der griechische Text des Fahrtberichtes wurde im 16. Jh. übersetzt). Nach Damiao de Gois stützte sich →Heinrich der Seefahrer bei der Planung der port. Afrikafahrten auch auf das Vorbild Hannos (E. Schmitt, Hg., Die großen Entdeckungen. Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 2, Mün-
chen 1984, 52–54). Theorien über eine vorkolumbische Kenntnis →Amerikas durch die P. lassen sich bis heute nicht verifizieren. Q: Übersetzungen der antiken Texte zu den Entdeckungsfahrten der P. bei: R. Hennig, Terrae Incognitae. Eine Zusammenstellung und kritische Bewertung der wichtigsten vorcolumbischen Entdeckungsreisen an Hand der darüber vorliegenden Originalberichte, Bd. 1, Leiden 21944. L: Maria Eugenia Aubet, The Phoenicians and the West, Cambridge u. a. 1997. Max Cary / Eric H. Warmington, Die Entdeckungen der Antike, Zürich 1966. Michael Sommer, Die Phönizier, Stuttgart 2005. R A IMU N D SC H U LZ
Piaggia, Carlo, * 4. Januar 1827 Badia di Cantignano, † 17. Januar 1882 Karkaudsch, □ ebd., rk. Der it. Afrikareisende P. begab sich 1851 nach →Tunesien und Alexandria, wo er Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Ab 1856 erkundete er von →Khartum aus wiederholt den Nilverlauf (→Nil). P. begleitete 1860 den it. Forscher Orazio Antinori zum Bahr al-Ghazal, wo die Niam Niam (Azande) sein Interesse weckten. Eineinhalb Jahre (1863–1865) verbrachte er bei ihnen, lernte ihre Lebensweise kennen und sammelte Informationen über ihre Sprache, die dortige →Geographie und Natur. 1871– 1876 erforschte P. Abessinien (→Äthiopien), umsegelte den Tanasee und erreichte den Kyogasee. 1881 brach er seine Suche nach den verschollenen Forschungsreisenden Antonio →Cecchi und Giovanni Chiarini nach Kenntnis von Chiarinis Tod und Cecchis Gefangenschaft in Abessinien aus nicht vollständig geklärten Gründen ab. Er starb 1882 in Karkaudsch, wo er unter einem Baobab begraben wurde. Trotz fehlender formaler Schulbildung (als Sohn eines einfachen Müllers) war P. ein hervorragender Afrikaforscher, der weitgehend vorurteilsfreie Reiseberichte verfaßte. Aurora Carlini Venturino, Carlo Piaggia e i suoi viaggi nell’Africa orientale ed equatoriale, Turin 1951. Carlo Piaggia, Niam Niam, (Hg.) Giovanni Alfonso Pellegrinetti, Mailand 1982. Antonio Romiti, Il viaggio in Abissinia di Carlo Piaggia, Capannori 1998. R O LA N D WIC K LES
Pidgin- und Kreolsprachen. Ohne die europäische Kolonisation in Übersee würden wir heute in der Sprachwissenschaft die Doppelkategorie der P.- u. K. vermutlich nicht kennen. Typischerweise sind P.- u. K. das Produkt des →Sprachkontaktes zwischen einer sozial dominanten europäischen Sprache und möglichst mehreren untereinander nicht gut verständlichen außereuropäischen Sprachen unter den Bedingungen der →Sklaverei (inkl. →Deportation). P.- u. K. sind neue Sprachen in dem Sinne, daß sie eine vor dem Kontakt so nicht gegebene Kombination aus überwiegend europäischer Lexik und außereuropäischer Grammatik inkl. Semantik und Lautsystem reflektieren. P. haben im Gegensatz zu K. keine Muttersprachler, P. können sich zu K. entwickeln. Man teilt K. entweder danach ein, welche europäische Sprache für ihren Wortschatz verantwortlich ist (z. B. port.basierte K.), oder in welcher Weltgegend sie gesprochen werden (z. B. atlantische K. in der →Karibik, auf dem 643
P i e d s - n oir s
südam. Festland, vor und an der westafr. Küste). Man schätzt, daß es gegenwärtig über 100 P.- u. K. gibt, deren überwiegende Anzahl durch Kontakt mit dem Englischen, Französischen, Niederländischen, Portugiesischen und/oder Spanischen zustande gekommen ist. Die größte Muttersprachlergemeinde weist mit ca. 5 Mio. Sprechern das Haitien, die frz.-basierte K. Haitis auf. Als Schriftsprache gut etabliert ist das (port.-)span.-basierte Papiamentu der Ndl. →Antillen. Eine P., die den Status einer K. erlangt hat, ist das engl.-basierte →Tok Pisin in →Papua-Neuguinea. Auch auf arab. oder anderer nichteuropäischer Basis sind P.- u. K. entstanden (z. B. das Ki-Nubi in →Uganda). Der bekannteste historische Vorläufer der P.- u. K. ist die mittelalterliche Lingua Franca. John A. Holm, An Introduction to Pidgins and Creoles, Cambridge 2000. T HOMAS S TOL Z Pieds-Noirs. Die in der Mitte der 1950er Jahre in Frankreich aufgekommene informelle Bezeichnung für die im Zuge der Entkolonialisierung (→Dekolonisation) aus →Algerien ins Mutterland zurückkehrenden europäischen Siedler (Colons) ersetzte allmählich den offiziellen Namen „Algerienfranzosen“ (Français d’Algérie). P. (auch ohne Bindestrich) bedeutet „Schwarzfüße“ und stand Ende des 19. Jh.s im Matrosen-Jargon für die (großenteils aus →Arabern und →Berbern rekrutierte) Berufsgruppe der Kohlenschipper auf den MittelmeerDampfern. Der unverkennbar abwertende Unterton reflektiert die aus Sicht der „Heimatfranzosen“ existierende kulturelle Differenz: fremdartige Dialekte und Akzente sowie viele merkwürdige, „afr.“ oder „arab.“ anmutende (und damit als „zurückgeblieben“, „ungehobelt“, „naiv“, „primitiv“ diskreditierte) Gewohnheiten oder Eigenschaften der Neuankömmlinge wurden als Defizite wahrgenommen und belächelt. Trotzdem haben die Betroffenen selbst den Namen als Eigenbezeichnung angenommen. Bei umfassenderer Auslegung bezieht der schillernde und vieldeutige Begriff auch die 1870 durch das Décret Crémieux zu frz. Staatsbürgern erklärten alteingesessenen algerischen Juden (meist berberischer oder sephardischer Herkunft) ein, im weitesten Sinne die Gesamtheit der Repatriierten aus allen ehem. frz. Besitzungen in Nordafrika (Algerien, →Marokko, →Tunesien). Die wichtigste Gruppe mit der stärksten Präsenz in der Öffentlichkeit stellen die „Algerienfranzosen“ dar, was aus ihrer zahlenmäßigen Dominanz, ihrer sehr kontrovers diskutierten Rolle im →Algerienkrieg sowie dessen tragischen Auswirkungen auf sie selbst (1962 Exodus von ca. 900 000) resultiert. René Domergue, L’intégration des pieds-noirs d’Algérie dans les villages du Midi, Paris 2005. Daniel Leconte, Les Pieds-noirs, Paris 1980. L OT HAR BOHRMANN Pies →Piso Pigafetta, (Francesco) Antonio, * um 1480 Vicenza, † nach 1534 Vicenza, □ nicht erhalten (Gedenktafel an der Stadtbasilika), rk. Der in Mathematik und Nautik ausgebildete Patriziersohn nahm aus Abenteuerlust an der 1519 vom port. Generalkapitän in span. Diensten Fernão de Magalhães 644
begonnenen Weltumseglung teil. Bei der Auseinandersetzung mit Eingeborenen auf einer Philippinen-Insel (→Philippinen), in der Magalhães den Tod fand, wurde er verwundet. Mit 17 weiteren Überlebenden von ursprünglich 234 Expeditionsteilnehmern kehrte er auf dem Admiralsschiff Victoria am 6.9.1522 nach Spanien zurück. P. führte auf der Reise das Schiffstagebuch. Daraus schöpfend, beschrieb er 1524, dem Wunsch Papst Clemens VII. entspr., seine Erlebnisse während der ersten Weltumseglung. Vom Originalbericht Notizie del mondo nuovo ist nur ein Fragment in der Mailänder Ambrosiana erhalten. Die Überlieferung, P. sei später Ordensritter auf Rhodos geworden, ist ungesichert, ebenso die Nachricht, er habe um 1530 ein Werk über die Navigation verfaßt, in das auf der Weltumseglung gewonnene Erfahrungen eingeflossen seien. Laurence Bergreen, Over the Edge of the World, New York 2003. Antonio Pigafetta, Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumseglung 1519–1522, (Hg.) Robert Grün, Stuttgart-Basel 2001. G ERH A R D H U TZLER
Pilgerväter. Mit diesem Begriff werden seit Ende des 18. Jh.s umgangssprachlich die separatistischen Puritaner bezeichnet, die 1620 die Kolonie von Plymouth (heute Plymouth/Massachusetts) gründeten. Den Kern der Gruppe bildeten Mitglieder der Exilantengemeinden in Leiden/Niederlande, die unter steigendem Konformitätsdruck England verlassen und die Hoffnung auf eine innere Erneuerung der anglik. Kirche aufgegeben hatten. Vielmehr strebten sie in →Amerika die Errichtung eines unabhängigen, strikt kongregationalistisch organisierten, am Urchristentum orientierten Gemeinwesens an. Mit ihrem Schiff, der Mayflower, wollten die Kolonisten eigentlich im Gebiet der Virginia Company am →Hudson anlanden, statt dessen fanden sie sich an der Küste von Cape Cod / Massachusetts wieder. Da ihr Privileg dieses Siedlungsgebiet nicht abdeckte, konstituierten sich die Passagiere mit dem Mayflower Compact (21.11.1620) als „civil body politic“, der von einer durch den Konsens aller freien Männer legitimierten Obrigkeit regiert werden sollte. Zusammen mit der ersten Erntedankfeier von 1621 ist dieser im Sinne einer protodemokratischen Verfassungsgebung gedeutete Akt die Wurzel der nach der Revolution aufkommenden populären Verehrung der P. als Wegbereiter eines Volkssouveränität und Frömmigkeit verbindenden am. Republikanismus. Michael Kammen, The Mystic Chords of Memory, New York 1991. George D. Landon Jr., Pilgrim Colony, New Haven 1966. Eugen A. Stratton, Pilgrim Colony, Salt Lake City, 1986. JA N STIEV ERMA N N Pinto, Fernão Mendes, * um 1510 Montemor-o-Velho, † 8. Juli 1583 Pragal b. Almada, □ Sta. Maria do Castelo, Almada (1835 zerstört), rk. P. hat mit seinem Werk einen bleibenden Einfluß auf das Bild →Asiens in Europa ausgeübt. Er gehört zu den Schriftstellern, die durch ein einziges Werk berühmt wurden, in seinem Fall die Peregrinação. Es erschien erst posthum 1614, wurde dann aber schnell berühmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, 1671 auf Deutsch unter
P i s o /P i es , wi llem
dem Titel Wunderliche und Merckwürdige Reisen Ferdinandi Mendez Pinto … Es ist im Stil eines Reiseberichts geschrieben, in dem er Erlebnisse und Erfahrungen während seines 21jährigen Asienaufenthalts niederschreibt. Seine Reisen sind im wahren Sinne abenteuerlich. In vielen Funktionen und Rollen – Diplomat, Jesuit, Pirat usw. – besuchte er zahlreiche Länder im Umkreis des Indischen Ozeans und Ostasiens einschließlich Japans und Chinas, v. a. aber Südostasiens. Es wurde immer darüber gestritten, was von seinen Erzählungen wahr und was erfunden sei. Fest steht jedenfalls, daß der Kern wahr ist und dann mit Erfahrungen Anderer und eigener Phantasie ausgeschmückt wurde. Was das Werk so interessant macht, ist der Umstand, daß es sich eben nicht auf eine nüchterne Reisebeschreibung beschränkt. Es ist in der Form eines pikaresken Romans geschrieben, der zu jener Zeit auf der Iberischen Halbinsel en vogue war (auch Don Quijote gehört mit Einschränkungen hierhin). Diese Schelmenromane schildern Ereignisse aus der Sicht eines Underdogs, der in seiner Position auch in der Lage ist, Zustände zu kritisieren. Und eben dies tut Pinto. Ganz im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung, die die portugiesische Kolonisation als christlichzivilisatorische Mission präsentiert, sieht Pinto viele Dinge kritisch und ist – für jene Zeit ganz ungewöhnlich – in der Lage, sich auch in die Position der dortigen Menschen hineinzuversetzen. Zwischen den Zeilen kann man dann herauslesen, daß die vermeintlichen Barbaren oft zivilisierter sind als ihre europäischen Widersacher. Aus diesem Grund wird die Peregrinação bisweilen als frühes antikoloniales Werk betrachtet. Dies würde aber sicher über das Ziel hinausschießen. Pinto füllte weiße Flecken, indem er Dinge beschrieb, die vor ihm keiner beschrieben hatte. Er setzte den kognitiven Rahmen für Neues und bestimmte somit die Rezeption Asiens in Europa. Er trug damit wesentlich zur Konzeptualisierung der Kulturen Asiens in Europa bei. Q: Fernão Mendes Pinto, Wunderliche und merkwürdige Reisen des Fernão Mendez Pinto, Berlin 21979. L: Martin Angele, Peregrinação oder die Reisen des Fernão Mendes Pinto, Norderstedt 2004. Marília Santos Lopes, Fernão Mendes Pinto und seine Peregrinação – ein portugiesischer Klassiker in Deutschland, in: Fördern und Bewahren – Studien zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit, hg. v. Helwig Schmidt-Glintzer, Wiesbaden 1996, 173–184. F RI T Z S CHUL Z E Pisa. Aus kleinen, beinahe dörflichen Anfängen blühte P. im 12. Jh. zur führenden Kommune an der it. Westküste auf. Wegweisend u. a. in der sehr frühen Ausprägung konsularischer Stadt-Reg., alsbald genauso auf kulturellem Gebiet mit der für das kaufmännische Rechnungswesen so wichtigen Einführung der arab. Zahlen, neuen Formen der Küstenkartographie und seerechtlichen Fixierungen. Entscheidend waren wohl erfolgreiche maritime Anstrengungen gegen die Raubzüge der Sarazenen erst in der regionalen Defensive, dann in der Offensive gegen deren Stützpunkte und Herrschaftsräume im westlichen Mittelmeer – auf Sizilien und den Balearen, schließlich gegen die tunesischen Küsten (1087) und seit dem Ersten Kreuzzug (→Kreuzzüge) gegen Palästina. Im Zuge
solcher militanter Unternehmungen wurden teils privilegierte, teils autonome Stützpunkte für den pisanischen Seehandel gewonnen, so in Jerusalem, Jaffa, Tyros, so in wiederholt kriegerischer Auseinandersetzung mit →Venedig bis nach Konstantinopel und an die Eingänge der Adria. Für die schnell wachsende Bevölkerung der Stadt an der Mündung des Arno und deren Reichtum im glänzenden 12. und auch 13. Jh. waren verfestigte überseeische Herrschaftsräume wie die wegen ihrer Erzvorkommen besonders wichtige Insel Elba und Sardinien von entscheidender Bedeutung. Elba stand unter direkter Herrschaft, von P. her wanderten viele Kolonisten ein. Auf Sardinien gelangten seit Anfang des 11. Jh.s adelige pisanische Geschlechterverbände über militärische Funktionen zur Kontrolle über weite Gerichtsbereiche und zu familiären Verbindungen mit den sardischen Eliten, insg. begünstigt durch päpstliche kirchenpolitische Entscheidungen (Sardinien, Korsika unter dem Erzbistum zu P.), aber auch ksl. Belehnungen. Durch Ausnutzung von Konflikten zwischen adeligen Gruppen blieb die Entwicklung unter der Regie der Kommune. Die Machtpositionen wurden zur Privilegierung der p.anischen Handelsinteressen genutzt; p.anische Handelsniederlassungen wiederum funktionierten als Ausgangspunkte weitläufiger wirtschaftlicher Durchdringung der Insel durch Abdrängung des einheimischen Handels und Produktausrichtung auf die Bedürfnisse P.s. Für das 12. Jh. kann der Status Sardiniens wohl als eine Art p.anisches →Protektorat mit einigen genuesischen Einsprengseln beschrieben werden, während Korsika wegen der Konkurrenz →Genuas nur punktuell unter p.anischen Einfluß (beendet 1299) geraten war. In der zweiten Hälfte des 13. Jh.s begann der Abstieg P.s im Verhältnis zum Herausforderer Genua, verdeutlicht mit der katastrophalen Niederlage in der Seeschlacht bei Meloria 1284, unter dem Druck des aragonesischen Vordringens im westlichen Mittelmeer (Annexion Sardiniens 1324), innerlich zerrissen zwischen traditioneller ghibellinischer Orientierung und guelfischer Opposition, zwischen Popolanen und Patriziern, dazu infolge der Verlandung des Hafens und selbstverschuldeter Versumpfung des Umlandes. 1406 wurde es von Florenz erobert. John Day, Bruno Anatra, Lucetta Scaraffia (Hg.), La Sardegna medioevale e moderna, Turin 1997. Michael Mitterauer, Kaufleute an der Macht. Voraussetzungen des Protokolonialismus in den it. See-Rep.en am Beispiel Pisa, in: Peter Feldbauer u. a. (Hg.), Mediterraner Kolonialismus. Essen 2005, 82–110. Gabriella Rossetti, Pisa nei seccoli XI. e XII., Pisa 1979. WO LFG A N G A LTG ELD Piso/Pies, Willem, * 1611 Leiden, † 24. November 1678 Amsterdam, □ Westerkerk Amsterdam (Grabstein nicht erhalten), ev.-ref. Die ursprünglich rk. Familie stammte aus dem Raum Kleve. Vater Harmen P. trat bei seiner Übersiedlung nach Leiden zum Calvinismus über. W. P. studierte dort Medizin, promovierte 1633 in Caen und zog nach Amsterdam. Dort machte er im Künstler- und Intellektuellenkreis des „Muiderkring“ Bekanntschaft mit Direktoren der →Westind. Kompanie, die ihn zum Leibarzt des Gen.-gouv.s von →Ndl.-Brasilien, Graf Johann Moritz 645
P i t cA ir n
von →Nassau-Siegen, bestellten. Zusammen mit zwei Gehilfen, darunter →Markgraf, erreichte er die Kolonie im März 1638. Dort gehörte er dem Hofstaat seines Patienten an, begleitete ihn auf Reisen und Militärzügen, wurde oberster Verwalter des Gesundheitswesens und 1640 Justizrat in Recife. Mangels Nachschub aus den Niederlanden auf die Entdeckung neuer Medikamente angewiesen, erforschte P. die Heilmethoden der Eingeborenen und die Wirkungsweise der von ihnen benutzten Heilpflanzen, u. a. von radix Ipecacuanha (Brechwurzel) gegen Dysenterie, die in der Folge auch in Europa Anwendung fand. Seine Forschungsergebnisse erschienen 1648 in der „Historia naturalis Brasiliae“ (veränderte Neuauflage 1658 unter dem Titel „De Indiae utriusque“). Dieses Werk galt für fast 200 Jahre als Standardwerk zur Medizin und Naturgeschichte →Brasiliens und machte P. zu einem der Väter der Tropenmedizin. Nach der Rückkehr aus Südamerika blieb er Leibarzt des Grafen bis zur Familiengründung 1647/48 in Amsterdam. Von drei Kindern überlebte nur Tochter Maria. Durch Belehnung mit dem Familiengut Wickeren im Raum Kleve 1647 finanziell abgesichert, wurde er zum angesehenen Arzt in führender Stellung. Er blieb als Agent für Johann Moritz tätig, für dessen Sammlung er Brasiliana aufkaufte. Eike Pies, Willem Piso (1611–1678), Düsseldorf 1981. ANNE L I PART E NHE I ME R- BE I N
Pitcairn. Bewohnte vulkanische Insel im östlichen Zentralpazifik, östlich der Tuamotu-Gruppe gelegen, Hauptinsel der brit. Kolonie P. Islands. Allg. bekannt v. a. durch seine Besiedlung von Meuterern des Schiffes →Bounty (Kapitän William →Bligh). Steile Felsinsel mit fruchtbaren Böden ohne flache Strände und mehreren die Insel umgebenden Felsen (der größte ist St. Paul’s Rock bzw. Adam’s Rock). Steile Nordküste, zur Südküste hin flachere Hochebene, die sich für den Anbau von landwirtschaftlichen Produkten eignet. Höchster Punkt: 365 m. Hauptort: Adamstown an der Nordseite der Insel. Die meisten Tier- und Pflanzenarten wurden von den Europäern eingeführt. Alternative/historische Namen: Occas, Petania, Pitcairn’s, Pitkern. Archäologische Funde, v. a. Felszeichnungen, Gräber und Steinklingen, bestätigen eine voreuropäische Besiedlung durch →Polynesier, wahrscheinlich von der Insel Managreva, Gambier Islands, kommend. Für Europa am 2.7.1767 von Philipp Carteret (Swallow) entdeckt und nach dessen Midshipman Robert P. benannt. Die Meuterei auf der Bounty am 28.4.1789 und die darauffolgende Fahrt der verbliebenen Meuterer unter Kommando von Fletcher Christian führte das Schiff über Tahiti und die Tubuai Inseln, Austral Inseln, wo ein Ansiedlungsversuch mit mitfahrenden Polynesiern scheiterte, nach den →Cookinseln, →Tonga und →Fidschi, bevor schließlich P. als sicherer und von den damaligen Schiffahrtsrouten (→Schiffahrt) abgelegene Insel am 15.1.1790 erreicht wurde. Die Bounty ankerte zuerst in der heute Bounty Bay genannten Bucht, bevor sie am 23.1.1790 verbrannt wurde, um alle Spuren zu verwischen. Fletcher Christian hatte Kenntnis über P. durch ein an Bord befindliches Buch über die Carteret’sche Reise. Mit ihm waren acht Meuterer, sechs polynesische Männer und zwölf polynesische Frauen sowie ein Mädchen 646
von Tahiti aufgebrochen. Die Meuterer waren Edward Young, Alexander Smith alias John Adams, William McCoy und Matthew Quintal sowie die bald bei Konflikten getöteten Männer Mills, Brown, Martin und Williams. Massive Konflikte zwischen den Meuterern und den Polynesiern sowie untereinander führten zu mehreren Morden; Fletcher Christian wurde am 3.10.1793 getötet. 1794 lebten noch Young, Adams, Quintal und McCoy sowie zehn Frauen und Kinder. Nach Youngs Tod 1800 übernahm Adams die Ausbildung und Erziehung der neunzehn Kinder. Die Suche nach den Meuterern durch die brit. Marine durch Kapitän Edward Edwards (Pandora) führte zur Auffindung der auf Tahiti verbliebenen Meuterer, P. blieb jedoch unentdeckt. Erst am 6.2.1808 wurde die Insel vom am. Schiff Topaz unter Kommando von Kapitän Mayhew Folger entdeckt und die Kenntnis vom Überleben einiger Meuterer erreichte Europa. Am 17.9.1814 wurde P. von den brit. Schiffen Briton und Tagus „wiederentdeckt“. Bis zu Adams’ Tod am 5.3.1829 besuchten mehrere Schiffe die Insel und versorgten die von weiterer Verfolgung ausgenommenen Nachkommen der Meuterer mit lebenswichtigen Werkzeugen, Bibeln u. a. Materialien. Weitere Siedler kamen auf die Insel, darunter John Buffet, John Evans und George Hunn Nobbs. Die wachsende Zahl der Bewohner stellte diese vor Versorgungsprobleme. Begrenzte Anbauflächen auf der felsigen Insel, ungünstige Anlandemöglichkeiten sowie eingeschränkte Wasservorräte ließen eine geordnete Absiedlung als geeignete Maßnahme erscheinen. Im März 1831 veranlaßte die brit. Reg. eine Umsiedlung der Bewohner nach Tahiti. Nach Tod durch Krankheiten kehrten die verbliebenen 65 Personen jedoch im Sept. 1831 mit dem am. Schiff Charles Dogett wieder nach P. zurück. 1832 kam der puritanische Abenteurer Joshua Hill nach P. und errichtete ein diktatorisches Regime unter den Bewohnern. Erst 1837 konnte er durch die Anwesenheit des brit. Schiffes Actaeon (Kapitän Lord Edward Russell) von seinem Posten vertrieben werden. Mit dem Schiff Imogene (Kapitän H. W. Bruce) wurde Hill von der Insel deportiert. Im Nov. 1838 wurde eine Verfassung und ein Gesetzeskodex durch Kapitän Russell Elliott (Fly) eingeführt und P. offiziell brit. Kolonie. Ein weiterer Umsiedlungsversuch der damals 193 Bewohner fand auf Anregung der brit. Reg. 1856 zur kurz zuvor wieder unbewohnt gewordenen ehem. Gefängnisinsel Norfolk Island mit dem Schiff Morayshire statt. 1859 kehrten jedoch 16 Personen zweier Familien mit Namen Young wieder mit dem Schiff Mary Ann nach P. zurück. 1864 kehrten weitere vier Familien auf die Insel zurück. 1886 wechselten die Bewohner auf Einfluß des Missionars John Tay von der Church of England zu den Seventh Day Adventists. 1893 wurde mit Unterstützung von Kapitän Rookes (Champion) eine parlamentarische Reg. mit sieben gewählten Vertretern auf der Insel geformt, die sich aber nicht bewährte und 1898 durch eine magistrale Verwaltung durch den High Commissioner for the Western Pacific ersetzt wurde. Mit der Eröffnung des →Panamakanals 1914 vermehrten sich die Kontakte mit vorbeifahrenden Schiffen. 1938 wurde eine Funkstation errichtet, welche die relative Isolation der Insel beendete. Während des →Zweiten Weltkriegs hielten sich mehrere
P lA Atj e, s o lo m o n
neuseeländische Funker auf P. auf. 1940 wurden die ersten Briefmarken ausgegeben, 1957 wurde der Anker der Bounty aus dem Meer geborgen und in Adamstown ausgestellt. 1959 wurde von einem Adventistenpastor die Monatszeitschrift „P. Miscellany“ gegründet, 1965 die vorhandenen Wege zu Erdstraßen erweitert, Traktoren u. a. Kleinfahrzeuge schrittweise eingeführt. Versuche, eine Landebahn für Flugzeuge zu bauen, scheiterten an den finanziellen Erfordernissen. V. a. der Kreuzfahrttourismus (→Tourismus) bescherte den Bewohnern P.s neben dem Verkauf von Briefmarken und Telefonwertkarten eine Einkommensquelle. Seit 2002 waren mehrere Bewohnern P.s sexueller Vergehen mit Minderjährigen angeklagt, was international Aufsehen erregte. Die langfristige Aufrechterhaltung einer Besiedlung der Insel ist durch starke Abwanderung sowie das Fehlen größerer medizinischer Einrichtungen gefährdet. Die Insel wird vom British High Commissioner in Neuseeland verwaltet, der den Titel eines Governor of P. trägt. Verwaltungstechnisch gehören zu P. die Inseln Henderson, Oeno und Ducie, die 1902 von Großbritannien durch Kapitän G. F. Jones annektiert wurden. Gesamtlandfläche: ca. 450 ha, Gesamtbevölkerung (2004): ca. 55 Ew.; Lage: 25°02’ Süd, 130°04’ West. John Barrow, A Descritpion of Pitcairn’s Islan and Its Inhabitants, New York 1832. William Bligh, The Mutiny on Board H.M.S. Bounty, Santa Barbara 2003. Walter Brodie, Pitcairn’s Island, and the Islanders in 1850, London 1851. HE RMANN MÜCKL E R Pizarro, Francisco, * 1476/1478 Trujillo, † 26. Juni 1541 Ciudad de los Reyes (Lima), □ Kathedrale von Lima, rk. P. wurde zwischen 1476 und 1478 als unehelicher Sohn des mittellosen Hidalgo Gonzalo P. und Francisca González in Trujillo geboren. Er begann vermutlich schon in jungen Jahren seine Laufbahn als Soldat, doch ist unsicher, ob er tatsächlich an einem Feldzug in Italien teilnahm. 1502 schiffte er sich unter Nicolás de Ovando nach Santo Domingo ein und beteiligte sich ab 1509 an ersten Eroberungszügen auf dem am. Festland. 1519 an der Gründung von →Panama beteiligt, wurde er Bürger der Stadt. Nach zwei Expeditionen entlang der Pazifikküste Südamerikas und Bildung eines Gemeinschaftsunternehmens mit Diego de →Almagro und dem die Finanzierung vermittelnden Kanoniker Luque reiste er 1529 nach Spanien, um sich von der Krone mit der Leitung eines Eroberungszuges nach →Peru beauftragen zu lassen. Zum Jahreswechsel 1530/1531 (→Peru, Eroberung) brach die Expedition von Panama aus auf. Nach Gefangennahme (1532) und Hinrichtung (1533) des Inka →Atahualpa nahm P. 1533 die Hauptstadt des →Inkareichs, →Cuzco, ein. Das Zentrum der span. Herrschaft verlegte er aber wohl aus strategischen Gründen 1535 mit der Gründung von →Lima an die Küste Perus. Nach der Teilung der Herrschaft über die neu eroberten Gebiete zwischen P. und seinem Kompagnon Diego Almagro durch die Krone, kam es zwischen beiden Eroberern zum Streit über die Frage, welche Teile die Krone wem zugesprochen habe. Der Konflikt löste die sog. Bürgerkriege zwischen den Spaniern aus (→Peru, Bür-
gerkriege). Nachdem die Anhänger P.s 1538 die Truppen Almagros in der Schlacht von Salinas geschlagen hatten, nahmen sie Almagro fest und richteten ihn 1538 hin. Der Tod Almagros wurde 1541 von dessen Sohn Diego de Almagro „El mozo“ gerächt. Seine Anhänger überfielen am 26. Juni den Palast von P. in Lima, wo sie ihn mit seinen Leuten zum Kampf stellten und umbrachten. José Antonio del Busto Duthurburu, Francisco de Pizarro, 2 Bde., Lima 2000 / 2001. Bernard Lavallé, Francisco Pizarro, Paris 2004. Rafael Varón Gabai, Francisco Pizarro and His Brothers, Norman / London 1997. U LRICH MÜ CK E
Pizarro, Gonzalo, * 1502 Trujillo, † 10. April 1548 bei →Cuzco, □ Kirche des Klosters La Merced / Cuzco, rk. P. wurde in den ersten Jahren des 16. Jh.s als unehelicher Sohn des mittellosen Hidalgo Gonzalo P. und María Alonso in Trujillo (Extremadura / Spanien) geboren. Die Kindheit und Jugend von P. ist weitgehend unbekannt. Nachdem die Krone seinem Stiefbruder Francisco →Pizarro Rechtstitel zu Eroberungszügen in Südamerika eingeräumt hatte, schiffte sich P. mit seinem Bruder nach →Amerika ein und beteiligte sich ab dem Jahreswechsel 1530/1531 an der Expedition, die 1532/1533 zur →Eroberung des →Inkareichs führte. Bei den Eroberungszügen nahm er keine bedeutende Rolle ein. Allerdings trug er 1536/37 zur Verteidigung der alten Inka-Hauptstadt Cuzcos bei, die monatelang von inkaischen Truppen belagert wurde. P: war eines der ersten Opfer der Auseinandersetzung zwischen dem P.- und dem Almagro-Clan. Er wurde 1537 von Diego de →Almagro in Cuzco verhaftet und eingekerkert. Nach seiner Freilassung war er mitverantwortlich für die Hinrichtung von Diego de Almagro (→Peru, Bürgerkriege). Zwischen 1540 und 1542 suchte er im Osten der Anden nach neuen sagenhaften Reichtümern. Als die Krone durch die „Neuen Gesetze“ und die Entsendung eines Vize-Kg.s die Macht der Eroberer einzuschränken suchte, stellte sich P. an die Spitze der Rebellen in →Peru und besiegte in der Schlacht von Iñaquito 1546 die kg.streuen Truppen unter Vize-Kg. Blasco Nuñez Vela, der gefangengenommen und hingerichtet wurde. Die Herrschaft P.s dauerte nur zwei Jahre. Dem von der Krone entsandten Pedro de la →Gasca gelang es, die Mehrzahl der span. Eroberer für sich zu gewinnen und im Apr. 1548 G. P. und seine Anhänger zu besiegen, P. selbst gefangen zu nehmen, abzuurteilen und hinzurichten. James Lockhart, The Men of Cajamarca, Austin / London 1972. Rafael Varón Gabai, Francisco Pizarro and His Brothers, Norman / London 1997. U LRICH MÜ CK E Plaatje, Solomon, * 9. Oktober 1876 Boshof, † 19. Juni 1932 Pimville (Johannesburg), □ West End Cemetery / Kimberley, Christian Brotherhood P. war ein begabter, schwarzer, südafr. Intellektueller, der zu den führenden Persönlichkeiten im Kampf der Afrikaner gegen Ungerechtigkeit und Vertreibung aus ihrem Besitz während der zweiten Hälfte des 19. Jh.s und der frühen Hälfte des 20. Jh.s gehörte. P. war Christ und erhielt seine Schulausbildung von Missionar Ernst Westphal auf der Missionsstation in Pniel. Neben seiner Mutterspra647
P l At z An d e r s o n n e
che, Setswana, beherrschte er mindestens sieben weitere Sprachen fließend, was zu seiner Karriere als Journalist, Dolmetscher und Schriftsteller führte. Als Angestellter des British Empire und Gerichtsdolmetscher im Büro des Staatsbeauftragten und Verwaltungsbeamten während der Belagerung von Mafeking (Okt. 1899 – Mai 1900), machte P. genaue Aufzeichnungen in seinem Tagebuch, welches der einzige Augenzeugenbericht über die Belagerung ist. Dieses wertvolle historische Dokument aus der Sicht eines Afrikaners wurde erst in den 1970ern entdeckt und unter dem Titel The Boer War Diary of Sol T. Plaatje, an African at Mafeking veröffentlicht. Nach dem →Burenkrieg wurde P. erster Generalsekretär des South African Native National Congress (SANNC), aus dem 1923 der Afr. Nationalkongreß (ANC) wurde. Er war Hg. und Miteigentümer von Koranta ea Becoana (TswanaGazette), Tsala ea Becoana (Freund der Tswana) und Tsala ea Batho (Freund des Volkes). Sein historischer Roman Mhudi (1919 geschrieben, 1930 veröffentlicht) machte ihn zum ersten schwarzen Südafrikaner, der einen Roman auf Englisch geschrieben hat. Er übersetzte verschiedene Stücke von Shakespeare ins Setswana. P. war ein überaus produktiver Autor und hat einen bedeutenden literarischen und linguistischen Beitrag, sowohl in Setswana als auch in Englisch, geleistet. Hermann Giliomee u. a. (Hg.), New History of South Africa, Kapstadt 2007. ANNE KI E JOUBE RT Platt Amendment →Span.-Am. Krieg Platz an der Sonne. Geflügeltes Wort, das st. Ende 1897 den dt. Anspruch auf koloniale Gleichberechtigung ausdrücken sollte u. in der brit. Propaganda des Ersten Weltkriegs u. Teilen der Historiographie nach 1945 das dt. Streben nach Weltherrschaft belegen soll. Es geht zurück auf die Jungfernrede des Staatssekretär des Auswärtigen, →Bülow, am 6. Dezember 1897 im dt. Reichstag, als dieser anläßlich der 1. Beratung der →Tirpitzschen Flottengesetze u. im Zusammenhang mit der dt. Besetzung von →Kiautschou äußerte: „Wir empfinden auch durchaus nicht das Bedürfniß, unsere Finger in jeden Topf zu stecken. Aber allerdings sind wir der Ansicht, daß es sich nicht empfiehlt, Deutschland in zukunftsreichen Ländern von vornherein auszuschließen vom Mitbewerb anderer Völker.“ ... „Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Bülows Ausführungen lagen damit durchaus auf einer Ebene mit Reichskanzler Hohenlohe-Langenburg, der in derselben Sitzung betont hatte, „daß wir nicht daran denken, mit den großen Seemächten zu rivalisiren, und für den, der Augen hat zu sehen, zeigt sie“ (d. h. die Marinevorlage), „daß uns eine Politik der Abenteuer fern liegt.“ Zugleich hatte er angekündigt, das Deutsche Reich werde zukünftig „ein bescheidenes Wort“ „mitzureden“ haben. HE RMANN HI E RY
648
Pocahontas, * um 1595 Virginia, † 21. März 1617 Gravesend / England, □ Friedhof der Kirche St. George / Gravesend, anglik. Die Tochter des Häuptlings der zum Stamm der Algonkin gehörenden Powhatan-Indianer, in deren Siedlungsgebiet die engl. Kolonie →Virginia eingerichtet worden war, hörte eigentlich auf den Namen Matoaka. P. (dt: kleine Übermütige) war ein Spitzname. Zwischen den Powhatan und den engl. Siedlern waren Feindseligkeiten an der Tagesordnung, in deren Verlauf im Dez. 1607 der in →Jamestown tonangebende John →Smith von den Powhatan gefangengenommen wurde. Aus nicht endgültig geklärten Motiven, vermutlich infolge einer schon früh ausgeprägten Affinität zur Kultur der engl. Siedler, setzte sich P. bei ihrem Vater energisch für Smith ein und rettete diesen damit vor der Hinrichtung. Trotz Smith’ Freilassung gingen die Kampfhandlungen weiter. 1612 nahmen die Engländer P. gefangen, offenbar in der Absicht, ihren Vater unter Druck zu setzen. P. wollte indes freiwillig bei den Engländern bleiben, deren Lebensart sie schätzte. Durch Reverend Alexander Whitaker wurde sie ans Christentum herangeführt und war im engl. Herrschaftsbereich in →Amerika die erste Einheimische, die zum Christentum konvertierte. Sie nahm den Taufnamen Rebecca an. 1614 heiratete sie John Rolfe, einen Angestellten der Virginia Company. Die Heirat bewirkte das Ende der Feindseligkeiten zwischen Europäern und Eingeborenen in Virginia. Das Paar hatte einen Sohn (Thomas Rolfe, * 1615). 1616 reisten John und Rebecca Rolfe nach England. Die Virginia Company bezweckte, P. als Beispiel der günstigen Wirkung des →Kolonialismus auf die einheimische Bevölkerung zu präsentieren und so das mäßige Interesse der engl. Öffentlichkeit an Virginia zu steigern. Als Häuptlingstochter wurde P. auch in England wie eine Adlige behandelt, nahm rege am gesellschaftlichen Leben teil und wurde auch Kg. James vorgestellt. Kurz nach Antritt der Rückreise nach Virginia 1617 erkrankte sie schwer. Das Schiff ging vor Gravesend vor Anker, wo sie starb und beigesetzt wurde. Als Todesursache werden Lungenentzündung oder →Tuberkulose vermutet. Die romantisch verklärte erste transatlantische Liebesgeschichte zwischen P. und John Rolfe wurde seitdem Gegenstand vielfältiger künstlerischer Adaption (u. a. Walt-Disney-Filme). Bis zur Aufhebung der Rassentrennung im →Süden der USA galt im Staat Virginia die sog. „P. exception“, wonach die Angehörigen der vornehmen Familien, die ihren Stammbaum auf Thomas Rolfe zurückführten, trotz dessen indigener Mutter nicht als „Mischlinge“ galten. David A. Price, Love and Hate in Jamestown, New York 2003. Robert S. Tilton, Pocahontas, Cambridge 1994. CH R ISTO PH K U H L
Pocken. Auslöser der Erkrankung sind die P.-Viren, sie werden durch Tröpfcheninfektion übertragen. Nach zweiwöchiger Inkubationszeit treten Fieber und Schüttelfrost auf sowie generalisiert Papeln und Pusteln. Nach Abheilung hinterlassen die Eiterblasen Narben. Blindheit, Taubheit und Hirnschäden können als Komplikationen auftreten. Die Mortalität wird im Durchschnitt mit 30 % geschätzt. Die P. sind seit dem Altertum bekannt,
P o li zei
seit dem 14. Jh. waren sie weltweit verbreitet. Sie waren eine wesentliche Ursache für den Rückgang der indigenen Bevölkerung →Amerikas während der Kolonisation. In Europa lösten im 18. Jh. die P. die →Pest ab. Erst mit der Vakzination nach Edward Jenner 1796 konnten sie besiegt werden. Heute ist die Welt P.-frei. Abbas M. Behbehani, The Smallpox Story, Kansas City 1988. DE T L E F S E YBOL D Pogge, Paul, * 27. Dezember 1838 Gut Zierstorf, † 17. März 1884 São Paulo de Loanda (Luanda), □ protestantischer Friedhof / Luanda, ev.-luth. P. unternahm 1865/66 zu Jagdzwecken (→Jagd) seine erste Reise nach Südafrika (Kapland, →Natal), trat 1875 als Freiwilliger der von der →Dt. Gesellschaft zur Erforschung Äquatorialafrikas ausgerüsteten →Expedition von Alexander von Homeyer bei und stieß nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden der anderen dt. Expeditionsteilnehmer von Kimbundo (heute →Angola) aus allein bis zur Hochebene des oberen Kassai und dem Zentrum des Lunda-Reichs vor. 1880 folgte eine zweite Expedition bis Njangwe am Lualaba. Sein Begleiter Hermann von Wissmann führte die Expedition von dort bis zur ostafr. Küste fort. P. gründete zu biogeographischen und meteorologischen Beobachtungen und landwirtschaftlichen Versuchen am Lulua die Station Luluaburg (seit 1968: Kananga), starb aber schon kurz nach seiner Rückkehr an die Küste. Mit seinen beiden Expeditionen leitete er die Erschließung des südlichen Kongobeckens (→Kongo) von Westen her ein. Sein 1880 unter dem Titel „Im Reiche des Muata Jamvo“ veröffentlichtes Tagebuch der ersten Reise enthielt, ohne wissenschaftlichen Anspruch, wertvolle Beobachtungen über Vegetation und Fauna des bereisten Gebiets. Eine grundlegende Auswertung seiner Arbeiten im Kongobecken wurde – abgesehen von kleineren Aufsätzen und Berichten – nicht publiziert. Zu seinen wesentlichen Verdiensten gehört die Entdeckung und Förderung Wissmanns, der seine Forschungen im Zentralkongogebiet fortsetzte. NDB 20 (2001), 578f. Hartmut Pogge von Strandmann (Bearb. und Hg.), Ins tiefste Afrika, Berlin 2004. F L ORI AN HOF F MANN
Pohnpei →Föderierte Staaten v. Mikronesien, →Karolinen, →Nan Madol, →Nanpei Pojarkow, Wassilij Danilowitsch, * um 1610 am WolgaOberlauf (Kostroma ?), † nach 1660 Jakutsk, □ unbek., unsicher, ob nach 1660 raskolnisch P. stammte aus der „Seelen“-Familie der Romanows. 1637 wurde er als Pelzaufkäufer (→Pelze) in Jakutsk erwähnt. 1643 beauftragt ihn der Gouv. Ostsibiriens mit der Erkundung der Amurregion (→Amur), mit dem erklärten Ziel, weitere indigene Stämme ins russ. Abgabensystem einzubeziehen. Von Jakutsk aus gelangte P. über die Lena und das Stanawoi-Gebirge ins Stromgebiet des Amur, den er bis zur Mündung befuhr. Von dort kehrte er, zunächst an der Küste des Ochotskischen Meeres entlang, über die Ulja und das Dshugdshur-Gebirge 1646 mit den Resten seiner Expeditionsmannschaft – 33 von 132 Mann – nach Jakutsk zurück. Der gewünschte wirt-
schaftliche Erfolg stellte sich nicht ein. Die im Amurgebiet lebenden tungusischen Völkerschaften blieben bis ins frühe 19. Jh. von Abgaben ans Zarenreich verschont. P.s ausführlicher Reisebericht ist erhalten und erstmals publiziert in: Der Stille Ozean. Russ. wissenschaftliche Forschungen, Leningrad 1926 (in russ. Sprache). G ERH A R D H U TZLER
Polisario →Westsahara Polizei. In den Kolonien sollte die P. als Teil der Verwaltung den sog. Landfrieden aufrechterhalten und war damit zuständig für die Garantie der öffentlichen Ruhe und Ordnung. Ihr Handlungs- und Ermessensspielraum war groß: Die P.behörden überwachten nicht nur Amtsgebäude und Straßen, sondern hatten darüber hinaus das Recht, Personen festzunehmen, sobald dies zu deren eigenem Schutz oder zur Aufrechterhaltung der Sicherheit erforderlich schien, und kleinere →Strafen zu verhängen. Zudem war die P. berechtigt, in nicht befriedeten Bezirken Wohnungen zu durchsuchen sowie Beschlagnahmungen durchzuführen und im Notfalle von der Waffe Gebrauch zu machen. Sie kontrollierte darüber hinaus auch die Vorschriften über das Melde- und Paßwesen und war für Ausweisungen sowie Aufenthaltsbeschränkungen zuständig. P.behörden waren überdies befugt, die Vereins- und Versammlungsfreiheit zu begrenzen sowie Einschränkungen der Pressefreiheit durchzusetzen. Schließlich waren sie an der Bekämpfung von Menschen- und Tierseuchen sowie Pflanzenschädlingen beteiligt und sorgten für die Einhaltung von Berg-, →Jagd-, Forst-, →Fischerei- und Wasserrechten. Neben den jeweiligen „Eingeborenenkommissariaten“ war die P. das Organ, mit dem die Verwaltung der Kolonien in unmittelbaren Kontakt zur einheimischen Bevölkerung stand. Dabei war die P. nicht nur für die Kontrolle der Arbeiter in den Farmbetrieben, Plantagen oder Minen zuständig. Vielmehr mußte sie zum Schutz gegen Hochverrat, Landesverrat, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Auflauf und Aufruhr in Patrouillen durch das Land ziehen. Zur Bekämpfung innerer Unruhen wurden Streifzüge oder Expeditionen organisiert, die extrem hohe Anforderungen an die Ausrüstung und die physische Belastbarkeit der P.truppen stellten. Auf solchen Expeditionen konnte vom Expeditionsführer im Falle eines Aufruhrs oder Überfalls ein Verfahren gegen Einheimische eingeleitet und sofort die Todesstrafe vollstreckt werden. Ebenso griff dieses Verfahren, sobald der Kriegszustand erklärt war. Unübersehbar vermischten sich somit zivilpolizeiliche und militärische Aufgabenbereiche. Daher stammten P.-Angehörige oftmals aus der jeweiligen Kolonialarmee. Da viele Soldaten nach Ende ihrer Militärdienstzeit in den P.dienst überwechselten, blieben die Grenzen zwischen dem zivilen P.- und dem militärischen Apparat auch in personeller Hinsicht fließend. In Kolonien hingegen, in welchen kein Militär eingesetzt war – so etwa in den dt. Kolonien →Togo und denen im pazifischen Raum – fungierten ausschließlich P.-Einheiten als Vollzugsorgan der Zivilverwaltung. In den meisten Kolonien konnten angesichts hoher Bevölkerungszahlen und der geringen Zahl von Kolonisierenden die öffentliche Ord649
P o l o, m A r c o
nung und Sicherheit ohne Kooperation mit den Einheimischen nicht durchgesetzt werden. Daher dienten den P.behörden als ausführende Organe neben weißen immer auch einheimische Polizisten, obgleich zwischen beiden Gruppen große Unterschiede bestanden. Die weißen P.Angehörigen waren Beamte, unterstanden den bürgerlichen Gerichten bzw. in ihrem Dienstverhältnis dem für Zivilbeamten geltenden →Recht. Hingegen sollten einheimische Polizisten zwar die Bevölkerung kontrollieren, wurden aber ihrerseits extrem streng überwacht. So durften sie ihre Aufgaben nicht gegenüber Weißen, sondern nur gegenüber der einheimischen Bevölkerung wahrnehmen. Das Dienstverhältnis regelte sich in zivilrechtlicher, disziplinar- und strafrechtlicher Beziehung nach dem für die Einheimischen geltenden Recht. Zudem konnten sie nur selten den Beamtenstatus erreichen – wenn dies auch nicht ausgeschlossen war – und oftmals nur subalterne Positionen einnehmen. Damit handelte es sich bei diesen P.-Angehörigen um eine intermediäre Gruppe, die zwischen den jeweiligen Kolonialherren und der Bevölkerung stand. Während sie aus der Sicht der Kolonialmacht mit starkem Mißtrauen betrachtet wurden, galten sie bei der Bevölkerung als Verräter. Das zeigte sich besonders deutlich bei den einheimischen Geheimpolizisten, die in der Regel in Zivil arbeiteten, um ihre Landsleute auszuspionieren. Dies wurde v. a. dann zu einem Problem, als nach dem →Zweiten Weltkrieg Nationalismus und Dekolonisierungsbestrebungen zunahmen. David M. Anderson, Policing and Decolonisation, Manchester 1992. Thomas Morlang, Askari u . Fitafita, Berlin 2008. Jakob Zollmann, Koloniale Herrschaft und ihre Grenzen, Göttingen 2010. S US ANNE KUS S Polo, Marco, * um 1254 Venedig (?), † 8. Januar 1324 Venedig, □ San Lorenzo/Venedig, rk. Als Sohn des venezianischen Kaufmanns Nicolò P. geboren, gelangte P. nicht als Händler zu Ruhm, sondern als einer der ersten europäischen Ostasienreisenden, der seine Erlebnisse niederschrieb. Das entspr. Werk ist zwar als „Die Reisen des M. P.“ oder „Il Milione“ geläufig, trägt aber tatsächlich den Titel „Beschreibung der Welt“. Zugleich ist es beinahe die einzige, wenn auch spärliche Quelle zum Leben P.s, denn nur wenige andere Zeugnisse, wie etwa sein Testament, berichten einigermaßen gesichert von seiner Existenz. Viele Fragen zu seiner Vita lassen sich daher lediglich vage oder gar nicht beantworten. P. schildert im Buch seine Reise an den Hof des mongolischen Großkhans Khubilai, der gleichzeitig auch Ks. der chin. Yuan-Dynastie (1279–1368) war, seine Missionen als dessen Gesandter und seine Heimkehr. Der Prolog berichtet primär von P.s Vater und seinem Onkel Maffeo, die 1269 von einem ersten Aufenthalt beim Großkhan nach Venedig zurückkamen. Zusammen mit dem 17jährigen P. brachen beide 1271 erneut in Richtung Osten auf. Dabei durchquerten sie die Landmassen West- und Zentralasiens, bis sie 1275 Khubilais Sommerresidenz Shangdu in der Inneren Mongolei erreichten. Im Auftrag des Khans soll sich v. a. P. in den darauffolgenden 17 Jahren in zahlreichen Städten Nord- und Südchinas aufgehalten haben. Schließlich kehrten alle drei P.s 1295 nach Venedig zurück, nachdem sie zunächst von der südchin. 650
Küste bis in den Persischen Golf segelten und dann an Land ihre Reise fortsetzten. Das Werk verzeichnet allerdings nicht nur die einzelnen Reisestationen. Es liefert vielmehr zahlreiche geographische und ethnographische Beobachtungen sowie Nachrichten über die lokalen Tier- und Pflanzenwelten. Daneben enthält es aber auch weniger realistische Elemente, denn besonders in der Beschreibung seiner Person bewegt sich P. oft am Rande zur Fiktion. Bspw. bekleidete er wohl nie tatsächlich das Amt des Gouv.s der südchin. Stadt Yangzhou. In seinen Episoden vom →Priester Johannes verarbeitet er dagegen eindeutig einen Mythos des europäischen Mittelalters. Besonders die Überbetonung der eigenen Rolle und das Fehlen vermeintlich signifikanter Informationen kratzten an seiner Glaubwürdigkeit. Da er mitunter die Chin. Mauer nicht erwähnte, bezweifelten manche Forscher, ob er jemals in China gewesen sei oder ob er lediglich die Nachrichten Anderer kopierte. Die fragliche Genese und Überlieferung des Texts verstärken derlei Bedenken. Der in →Genua inhaftierte P. diktierte 1298 nämlich nur die Informationen, deren Ausformulierung in den Händen seines Mithäftlings Rustichello lag. Allerdings ist keines der heute ca. 130 mittelalterlichen und 19 neuzeitlichen bekannten Manuskripte – sie divergieren z. T. erheblich in Inhalt, Sprache und Verfassungsdaten – als Original zu identifizieren. Eine frankoital. Handschrift aus dem frühen 14. Jh. (Text F) gilt indes als authentische Kopie davon. Ihr Sprachstil zeigt wiederum, daß es neben Rustichello noch andere Co-Autoren gab. Zweifel an den Errungenschaften der Person P. sind immer wieder geäußert worden, ebenso hat man aber auch konkrete Belege für die Authentizität seiner Angaben eruiert. Q: Luigi Foscolo Benedetto (Hg.), Marco Polo, Il Milione, Florenz 1928. L: Leonardo Olschki, Marco Polo’s Asia, Berkeley 1960. Hans Ulrich Vogel, Marco Polo Was in China, Leiden 2013. Frances Wood, Marco Polo kam nicht bis China, München 1996. A R MIN SELB ITSCH K A
Pol Pot (seit ca. 1956 Deckname für Saloth Sar), * 19. Mai 1928 Prek Spauv, † 15. April 1998 Along Veng, □ unbek., Atheist Der Sohn eines wohlhabenden Bauern genoß dank familiärer Herkunft und persönlicher Beziehungen eine privilegierte schulische Ausbildung. 1942–1947 besuchte er das Collège Norodom Sihanouk in Kompong Chan. 1948 scheiterte er an den Aufnahmeprüfungen für das Lycée Sisowath. 1949–1953 hielt er sich mit einem Auslandsstipendium in Frankreich auf, wo er seine erste Frau, Khieu Ponnary, traf (Hochzeit 1956) und seine Freundschaften zu Khieu Samphan und Ieng Sary, späteren Weggefährten, vertiefte. Ab 1951 nahm P. an einer kambodschanischen Diskussionsgruppe über marxistische Texte teil, deren Mitglieder überwiegend der stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) angehörten. Der Sieg →Mao Zedongs in China (1950) und Proteste gegen die Kriegsführung in Korea und Indochina hinterließen einen bleibenden Eindruck bei den Studenten in Paris. Während des Internationalen Jugendkongresses in Ost-Berlin 1951 erfuhren Mitglieder von P.s Diskussionsgruppe erstmals von einer kom-
P o ly n es i en
munistischen Widerstandsbewegung in →Kambodscha. Der Sieg der Demokraten in der kambodschanischen Nationalversammlung 1951 und deren Auflösung 1952 radikalisierten viele kambodschanische Studenten. 1952 verfaßte P. seine erste politische Schrift „Monarchy or Democracy?“ und wurde Mitglied der KPF, 1953 in der KP Indochinas. Nach seiner Rückkehr arbeitete P. als Lehrer und half heimlich bei der Organisation der kommunistischen Bewegung in Kambodscha. 1963 wurde er Generalsekretär des ZK der kambodschanischen Arbeiterpartei (gegr. 1960), seit 1966 KP Kampuchea (KPK). 1964/65 tauchte er unter und unternahm 1965/66 Reisen nach Nordvietnam (→Vietnam) und China, die u. a. seine Begeisterung für die Organisationsstrukturen (totale Kontrolle, Mobilisierung der Massen) kommunistischer Parteien verstärkten. Bürgerkrieg und Ausweitung des Vietnamkriegs 1970–1975 verschafften P.s Bewegung immer mehr Mitglieder und zwangen Prinz Sihanouk zur Einheitsfront mit der KPK gegen die US-gestützte Reg. von Lon Nol. Am 17.4.1975 zogen die Roten Khmer in →Phnom Penh ein und proklamierten das Demokratische Kampuchea (DK), das 1979 durch vietnamesische Truppen beendet wurde. 1–2 Mio. Menschen fielen dem kommunistischen Terrorregime des DK zum Opfer. P. floh 1979 in den Nordwesten und blieb offiziell bis 1982 Premierminister. 1997 wurde er seiner Ämter enthoben und zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis zum Tode zeigte er keine Reue für die Folgen seiner Ideologie und Politik. David Chandler, Brother Number One: A Political Biography of Pol Pot, Chiang Mai 1993. David P. Chandler, The Tragedy of Cambodian History, Chiang Mai 1993. Ben Kiernan, The Pol Pot Regime, New Haven 22002. AL E XANDRA AML I NG
Polyandrie (von griech. polys, „viel“ und andrós, „Mann“). Form der Polygamie (Vielehe, von griech. polys, „viel“ und gamós, „Ehe“) einer Frau mit mehreren Männern, häufig klassifikatorischen Brüdern (fraternale P.), um etwa die Aufteilung von Land, das in der männlichen Linie vererbt wird, zu vermeiden. Gesellschaften mit dieser Heiratsform sind selten (bspw. die Toda in →Indien und bestimmte Gruppen in Tibet). Die P. ist weitaus seltener als ihr Gegenstück, die →Polygynie. Robin Fox, Kinship and Marriage, Cambridge 1983. DOMI NI K E . S CHI E DE R
Polygynie (von griech. polys, „viel“ und gyné, „Frau“). Form der Polygamie (Vielehe, von griech. polys, „viel“ und gamós, „Ehe“) eines Mannes mit mehreren Frauen. Gesellschaften, die P. praktizieren, finden sich in Teilen →Afrikas, der islamisch geprägten Welt, der VR China, →Indonesiens, sowie in Teilen Ozeaniens und →Amerikas. Die Vielehe eines Mannes mit klassifikatorischen Schwestern wird als sororale P. bezeichnet. Zumeist ist die P. ein Privileg ökonomisch gut situierter und/oder hochrangiger Männer in hierarchischen Gesellschaften. P. ist in vielen Fällen Teil eines Systems von Alters- und Geschlechtshierarchien und dient überwiegend zur Ausweitung politischer Machtbereiche durch Allianzbildungen.
Horst Flachsmeier, Polygamie u. Mission i. Mosambik, Diss. Hamburg 1970. Robin Fox, Kinship and Marriage, Cambridge 1983. D O MIN IK E. SCH IED ER Polynesien (griech., poly, „viel“, nesos, „Insel“, „Vielinselwelt“). Bezeichnung für die flächenmäßig größte Teilregion Ozeaniens, die sich östlich von Melanesien und →Mikronesien im Pazifik erstreckt. Die Ausdehnung kann durch ein Dreieck mit den Eckpunkten Neuseeland (→Aotearoa), →Hawai’i und →Osterinsel (Rapa Nui) verdeutlicht werden. Die darin enthaltenen Inseln erstrecken sich über ein Meeresgebiet von ca. 50 Mio. km², haben eine Landfläche von ca. 312 200 km² und ca. 6,38 Mio. Ew. (2002). Mit Ausnahme von Neuseeland sind alle Inseln entweder jüngeren vulkanischen Ursprungs (z. B. Hawai’i, →Tonga, Futuna), niedere Korallenbankinseln (Frz.-P.), gehobene Korallenbankinseln (→Cookinseln) kahle Felsinseln (→Marquesas-Inseln) oder eine Mischung mehrerer Typen (→Fidschi), die sich in den gemäßigten Breiten sowie den wechselfeuchten Tropen bzw. den tropisch-feuchten Regenklimaten befinden. Politisch gehören zu P. folgende Staaten: die Fidschi-Inseln (am Schnittpunkt zu Melanesien), →Samoa, Am.-Samoa, Hawai’i (US-Bundesstaat), Tonga, Cookinseln, Wallis und Futuna (Frz.), →Tokelau, Tuvalu, →Niue, Frz.-P. (Frz.), →Pitcairn (Brit.), die Osterinsel (Rapa Nui) (→Chile) und Neuseeland. Die Bezeichnung P. stammt vom Franzosen Charles de Brosses, der den Begriff 1756 auf alle pazifischen Inseln anwendete. Er bezog sich dabei, laut seinem Landsmann Malte Brun, auf einen Begriff, den die Portugiesen Jean de Barros und Diego Couto bereits 200 Jahre davor für die Inseln der →Molukken, →Philippinen und die Inseln östlich davon zur Anwendung brachten. Domeny de Rienzi verwendete 1831 den Begriff für die Region des heutigen P. inkl. Teile Mikronesiens (→Karolinen, →Marshallinseln). Erst sein Landsmann Dumont d’Urville verwendete in einem Vortrag in der Geographischen Gesellschaft von Paris 1832 die Bezeichnung für eine der von ihm postulierten drei Teilregionen des Pazifiks in ihrer heutigen Bedeutung. Te Rangi Hiroa (Peter Buck) schließlich entwickelte den Begriff des „polynesischen Dreiecks“. Im Bereich von Kiribati gibt es kulturelle Überlappungsbereiche mit Mikronesien. Zum Westen hin sind in Melanesien und Mikronesien polynesische Enklaven zu finden, die sog. „Polynesian Outliers“, die wahrscheinlich durch Rückwanderungen entstanden; dazu zählen u. a. die Inseln Nukumanu, Ontong Java, Sikaiana, Tikopia, Rennell und Bellona. Die Bezeichnung wird heute teilweise als überholt und willkürlich angesehen und von Bewohnern der Region die alle drei Großregionen vereinende engl.sprachige Bezeichnung „Nesia“, dt.: „Nesien“, insb. in der Populärkultur, favorisiert. Die →Polynesier zeichnen sich, trotz der teilweise großen Entfernungen zwischen den Inseln, durch Gemeinsamkeiten in kultureller, anthropologischer und linguistischer Hinsicht aus, welche sie von den Melanesiern und Mikronesiern unterscheiden. Die traditionellen polynesischen Gesellschaften waren alle maritim orientiert, mit einer hoch entwickelten Seefahrt (Bootsbau und Navigation) und entspr. Nutzung maritimer Ressourcen. Sie waren vor dem Kontakt mit 651
P o ly n e s i e r
den Europäern durch eine stratifizierte Gesellschaft mit mehreren Klassen, einem komplizierten System von Meidungsgeboten (→Mana, →Tapu) sowie Ansätzen zu einer entwickelten Theokratie (Hawai’i, Tahiti) mit lokalen graduellen Unterschieden gekennzeichnet. Die Gesellschaftsformen haben sich aus der sog. „Ancestral Polynesian Society“ entwickelt, die sich im „kleinen“ Dreieck Fidschi-Samoa-Tonga entwickelte und schrittweise im Zuge der Besiedlung und Überlagerung (Besiedlungstheorien) das „große“ Dreieck ausfüllte. Die Gesellschaften waren patrilinear organisiert und grundsätzlich in Adel (ali’i, ariki, arii), gemeines Volk (manahune) sowie vereinzelt Zwischenformen (rangatira, Grundbesitzer, matapule, Beamte) und Unfreie und Sklaven (teuteu) unterteilt. Polynesische Inseln wurden mit Ausnahme von Hawai’i (Pearl Harbour, 1941) keine direkten Kriegsschauplätze des →Zweiten Weltkrieges, spielten strategisch jedoch eine wichtige Rolle. Ab 1962 schrittweise Entkolonisierung (→Dekolonisation, beginnend mit Samoa), die bis heute nicht abgeschlossen ist (z. B. Pitcairn, Frz.-P.). In der Gegenwart Suche nach regionalen Gemeinsamkeiten und einer gemeinsamen Identität im Sinne eines „Polynesian Way of Life“, die aber durch unterschiedliche Interessen und Orientierungen an ehem. Kolonialmächte erschwert wird. Irving Goldman, Ancient Polynesian Society, Chicago 1970. Jesse D. Jennings (Hg.), The Prehistory of Polynesia, Cambridge 1979. Patrick V. Kirch, The Evolution of the Polynesian Chiefdoms, Cambridge 1984. HE RMANN MÜCKL E R
Polynesier. Bezeichnung für die Bewohner der pazifischen Großregion →Polynesien. Die P. der weit verstreut liegenden Inseln zeichnen sich durch anthropologische, linguistische und kulturelle Gemeinsamkeiten aus. Anthropologisch: Polyneside (griech.), deren systematische Stellung umstritten ist und von rein europid bis gemischt europid-australoid-mongolid angenommen wird. Die Mehrheit der P. zeichnet sich durch hohen kräftigen Wuchs, schwarzes welliges Haar, dunkelbraune Augen und lichtbraune Haut aus. Die P. sind hellhäutiger als die Melanesier. Eine Besonderheit stellen die Fidschianer (→Fidschi) dar, die in ihrer Physiognomie (und Kultur) melanesische Kennzeichen aufweisen. Linguistisch: Alle polynesischen Sprachen zählen zu den austronesischen Sprachen. Vom Proto-Austronesischen ausgehend, haben sich von den Proto-Zentral-Pazifischen Sprachen eine Proto-West-Zentral-Pazifische (Fidschianisch, Rotuman) und eine Proto-Zentral-Ost-Pazifische Sprachgruppe (alle anderen polynesischen Sprachen) abgeleitet. Die Sprachen unterscheiden sich oft nur durch geringfügige Änderungen bei den Konsonanten (z. B. arii – alii – aliki – ariki, tangaroa – hangaroa). Als Europäer in die Region kamen, gab es keine verschriftete Sprache; ein Streitfall sind die Rongorongo-Zeichentafeln der →Osterinsel (Rapa Nui). Mündliche Überlieferungen (Genealogien) bestimmten das kollektive Gedächtnis. Kulturell: Gemeinsamkeiten im gesellschaftlichen, politischen und religiösen Bereich. Maritime Kulturen mit Schwerpunkt auf Fisch- und Meerestierfang sowie Anbau von Feldfrüchten (Jams, Taro, Maniok, Süßkartoffel); Brotfrucht652
bäume, Kokosnußpalme und Schraubenbaum (Pandanus). Schweine- und Hundehaltung. Verwendung des Erdofens. Kava (ava, kava-kava) ist typisches Getränk, welches, eingebettet in ein sehr stark ritualisiertes Zeremoniell, häufig, v. a. zu offiziellen Anlässen Verwendung findet. Überwiegend Haufendörfer mit Anordnung um ein zentrales Versammlungshaus. Typische traditionelle Hausformen: bure (Fidschi), fale (→Samoa, →Tonga), hale (→Hawai’i), wharepuni, wharenui (Neuseeland). Kultanlagen für rituelle Handlungen und Zeremonien mit Plattformen marae (Tahiti, Tonga), heiau (Hawai’i). Rituelles Zentrum in Zentralpolynesien: Tempelanlage Taputapuatea in Raiatea, Gesellschaftsinseln. Tänze und Gesang spielen eine wichtige Rolle. Schlag- und Blasinstrumente (z. B. Nasenflöte). In der Zeit vor dem Kontakt mit Europäern waren die P. technologisch weitgehend am Niveau der Jungsteinzeit. Keine Kenntnis von Metallen und deren Verarbeitung. Töpferei in Polynesien nur auf Fidschi, Tonwaren wurden jedoch von Melanesien bis zu den →Marquesas-Inseln verhandelt (spezielle Form: Lapita-Keramik), ebenso Steinbeile und Steindechseln. Wichtigste Waffen waren Keulen und Speere. Pfeile und Bogen wurden nicht als Waffe genutzt. Matten und Körbe aus Palmblättern und Kokosfasern geflochten. Besonderheit: tapa, flächige Textilien aus Rindenbaststoff, häufig mit geometrischen Mustern und Ornamenten bedruckt. Spezielle Federmäntel für Adelige auf Hawai’i. Keine Weberei. →Tätowierungen für beide Geschlechter mit unterschiedlichen Bedeutungen und Motiven (besonders Marquesas-Inseln, Neuseeland, Samoa). Hochentwickelter Schiffbau und Navigation, die bereits zur Besiedlung der Inselwelt Anwendung fanden. Doppelrumpfboote mit Plattformen und Mattensegeln zur Überwindung großer Distanzen über das offene Meer, Auslegerboote und Kanus für Fahrten innerhalb der Lagunen. Verknüpfung von terrestrischer und astronomischer Navigation. Mit Einsetzen der europäischen Einflußnahme drastische Veränderungen und Verschwinden der traditionellen polynesischen Kultur und Geisteswelt. Kulturelle Desintegration. Heute werden im Zeichen einer Rückbesinnung und Retraditionalisierung („revival of tradition“) einzelne Kulturelemente nicht nur aus touristischen Gründen erhalten bzw. reaktiviert, sondern dienen der Suche nach einem dritten Weg zwischen überlieferten Lebensweisen und Verwestlichung (z. B. Hula-Tanz Hawai’i). Peter Bellwood / James J. Fox / Darell Tryon (Hg.), The Austronesians, Canberra 1995. Edward S. Craighill Handy, Polynesian Religion, Honolulu 1927. Jack Golson (Hg.), Polynesian Navigation, Wellington / Sydney 1972. H ER MA N N MÜ CK LER Pomaré. Kg.sdynastie gleichnamiger Herrscher auf Tahiti im heutigen Frz.-Polynesien (→TOM), beginnend mit Kg. P. I. (1743–1803); bedeutendste Gestalt der Dynastie war Kg.in P. IV. (* 28. Februar 1813, † 17. September 1877), die seit 1827 herrschte. Sie förderte den europäischen Einfluß auf Tahiti, insb. durch ihre Zustimmung zur Errichtung des frz. →Protektorats über die Insel 1842. Mit ihrem an Alkoholismus leidendem Sohn P. V., der 1880 abdankte, endete die Dynastie.
P o nA Pe Au f s tA n d
Patrick O’Reilly, La vie à Tahiti au temps de la reine Pomaré, Paris 1975. Bertrand de la Roncière, La reine Pomaré, Paris 2003. CHRI S TOP H KUHL Pomare, Maui, * 24. August 1875 oder 13. Januar 1876 Urenui (Aotearoa), † 27. Juni 1930 Los Angeles, □ Manukorihi Pa Friedhof b. Waitara, anglik., ab 1892 Adventist P.s Eltern entstammen Häuptlingsfamilien der →MaoriStämme Ngati Mutunga und Ngati Toa. Nach dem Besuch des von Maori-Schülern geprägten anglikanischen Te Aute College bei Hawke’s Bay von 1889 bis 1893 studierte P. am College der Siebenten-Tags-Adventisten in Battle Creek, Michigan/USA. Seine Studien in Medizin schloß er 1899 am ebenfalls adventistischen American Medical Missionary College in Chicago mit der Promotion ab. Nach seiner Rückkehr nach Neuseeland im August 1900 wurde er im März 1901 Amtsarzt für Maori und arbeitete mit großer Hingabe und beträchtlichem Erfolg an der Verbesserung der hygienischen und gesundheitlichen Umstände des Lebens der Maori. Am 7. Januar 1903 heiratete er Mildred Tapapa Woodbine Johnson, die Tochter eines wohlhabenden weißen Landwirts und einer Maori-Frau. 1911 wurde er Abgeordneter des neuseeländischen Unterhauses für den Sonderbezirk Western Maori und blieb dies bis zu seinem Tod. Von 1916 bis 1928 war er Minister für die →Cookinseln, von 1923 bis 1926 dazu Gesundheitsminister. Kurzzeitig wurde er 1928 zum Innenminister ernannt. Im selben Jahr noch erkrankte er an der Tuberkulose, von der er sich bis zu seinem Tod nicht mehr erholen sollte. Zeit seines Lebens war P. starker Verfechter einer weitgehenden Assimilation der Maori an die europäisch-stämmigen Neuseeländer, wodurch er auf große Widerstände seitens maorischer Traditionalisten stieß. Sein Engagement für die Anwerbung und sein Einverständnis mit der späteren Einziehung von Maori im Ersten Weltkrieg gründete sich auf die Hoffnung, daß die vollständige Anerkennung der Maori in Neuseeland durch militärischen Einsatz erlangt werden könnte. Für seine Verdienste wurde er 1920 zum Companion of the Order of St. Michael and St. George und 1922 zum Knight Commander of the Order of the British Empire ernannt. Joseph F. Cody, Man of Two Worlds: Sir Maui Pomare, Wellington 1953. MARKUS P L AT T NE R Ponape →Föderierte Staaten v. Mikronesien, →Karolinen, →Nan Madol, →Nanpei Ponapeaufstand, Aufstand des Stammes der Sokehs (Jokoj, Dschokadsch) im Jahre 1910 gegen Maßnahmen der deutschen Kolonialverwaltung auf der Insel Ponape (heute: Pohnpei), der nach langen Kämpfen blutig niedergeschlagen wurde. Auslöser war die Einführung einer Kopfsteuer von fünfzehn Mark pro Jahr von jedem Ponapesen bzw. eine äquivalente Arbeitsleistung als Ersatz dafür durch die deutsche Kolonialverwaltung. Daraufhin regte sich unter den Einheimischen Widerstand, der beim Bau einer Straße von der am Fuße des auf einer vorgelagerten Insel gelegenen Sokehs Mountain befindlichen Missionsstation zum Festland eskalierte. Am 18. Okto-
ber 1910 wurde, nachdem ein Aufseher am Vortag den Ponapesen Eliu Santos für seine Arbeitsverweigerung geohrfeigt hatte, die Arbeit von den Ponapesen niedergelegt. Bewaffnete Einheimische töteten am selben Tag den zur Vermittlung herbei geeilten Bezirksamtmann Gustav Boeder (* 11. September 1860), st. 1909 auf Ponape (zuvor in →Togo, →Kamerun u. →Dt.-Ostafr.) und dessen Sekretär Brauckmann sowie die zwei deutschen Aufseher Hollborn und Häfner, die sich in die nahegelegene Missionsstation geflüchtet hatten. Der Aufstand, der von Anhängern des Sokehs Stammes unter Führung des Häuptlings Soumadau (auch Jomatau) vorgetragen wurde, weitete sich nicht auf eine Rebellion ganz Pohnpeis aus, jedoch wurden die Deutschen und Europäer auf der Insel zu Eingekesselten in der teilweise bereits abgebauten ehemaligen spanischen Befestigungsanlage. Sie mußten vierzig Tage auf Entsatz warten, der erst mit Ankunft des Postdampfers Germania Ende November kam. Die Germania dampfte bereits am folgenden Tag nach →Deutsch-Neuguinea ab, um dem deutschen Gouverneur in Herbertshöhe Bericht zu erstatten. Sie kehrte mit 179 melanesischen Soldaten am 5. Dezember 1910 nach Pohnpei zurück. Das inzwischen verständigte →Ostasiatische Geschwader erreichte Anfang Januar 1911 die Insel, um eine Entsetzung sowie eine Niederwerfung der Rebellion einzuleiten. Mit den Kriegsschiffen (S.M.S.) Cormoran, Nürnberg, Emden sowie dem Vermessungsschiff Planet und der vor Ort bereits anwesenden Germania sowie 300 deutschen Soldaten, zahlreichen melanesischen Hilfssoldaten und loyalen Einheimischen konnte am 13. Januar 1911 nach heftiger Artillerievorbereitung der Gegenangriff unter Kommando von Fregattenkapitän Vollerthun (Emden) gestartet werden, der zur schwierigen, aber für die Deutschen erfolgreichen Erstürmung des Sokehs-Felsens führte. Dabei gab es auf beiden Seiten Verluste sowie rund 250 Gefangene, die Hälfte der Sokehs-Bevölkerung. Die Rädelsführer entkamen und leisteten weiteren Widerstand, der erst nach der Erstürmung eines weiteren ehemaligen spanischen Forts gebrochen werden konnte. Erst am 13. Februar 1911 gab Soumadau, der Anführer, in Gebiet von Madolenihmw auf, drei Tage später sein Stellvertreter Samuel in Kiti. Die fünfzehn Rädelsführer wurden nach einem Gerichtsverfahren zum Tode durch Erschießen verurteilt. Darunter waren die Anführer Soumadau, Lepereren (Lepen Ririn) und Samuel. Die verbliebenen rund 460 Bewohner von Sokehs wurden zu lebenslangem Exil verurteilt und zuerst für mehrere Monate nach Jap / Yap gebracht und anschließend dauerhaft auf Aimeliik, im Süden der Insel Babeldaop, Palau, angesiedelt. Der leere SokehsFelsen bzw. die Sokehs-Insel wurde mit Bewohnern der Mortlock-Inseln, Mokil und Pingelap, die nach Zyklonen in den Jahren 1905 und 1907 heimatlos geworden waren, besiedelt. Q: Edgar Freiherr Spiegel, von und zu Peckelsheim. Kriegsbilder aus Ponape. Erlebnisse eines Seeoffiziers im Aufstande auf den Karolinen, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1912. L: Thomas Morlang, Rebellion in der Südsee. Der Aufstand auf Ponape gegen die deutschen Kolonialherren 1910/11, Berlin 2010. H ERMA N N MÜ CK LER 653
P o n d i c he r ry
Pondicherry, seit 2006 Puducherry. Hauptstadt des gleichnamigen ind. Unionsterritoriums, das bis 1954 frz. Kolonialgebiet in →Indien war. Das heutige Unionsterritorium P. besteht aus 4 Distrikten, von denen 3 an der Ostküste und einer an der Westküste Südindiens liegen: Yanam liegt als →Enklave im Bundesstaat Andhra Pradesh, die Hauptstadt P. und der Distrikt Karaikal als Enklave im südöstlichen Bundesstaat Tamil Nadu und Mahé als Enklave im südwestlichen Bundesstaat Kerala. Die Gesamtbevölkerung des Unionsterritoriums liegt bei knapp über 1 Mio., von denen fast 2/3 (654 392, Zensus 2011) in der Hauptstadt P. leben, die mit ihrem nach europäischem Model gitterförmig konstruiertem Straßennetz, den zahlreichen frz. Kolonialbauten und Einrichtungen ein Außenposten der frz. Kultur in Indien ist. Die frz. Ostindienkompanie (→Ostindienkompanien) gründete 1674 in der Siedlung P. einen Handelsposten, 150 km südlich von Chennai (→Madras) an der Koromandelküste, der heutigen Hauptstadt des Unionsterritoriums. In der ersten Hälfte des 18. Jh.s expandierten die Franzosen ihre Niederlassung und eigneten sich auch die kleineren Siedlungen von Yanam, Karaikal und Mahé an. Im kolonialen Wettstreit mit der ndl. und brit. Ostindienkompanie wurde die Siedlung P. im 18. Jh. mehrmals erobert, ehe sie ab 1814 wieder in frz. Besitz überging. Nach der ind. Unabhängigkeit gaben die Franzosen die 4 Kolonialsiedlungen 1954 an die Ind. Union zurück, die diese dann 1963 als Unionsterritorium deklarierte. Ayyasamy Ramasamy, History of Pondicherry, Delhi 1987. T HOMAS L E HMANN Ponty, Amédée William Merlaud, * 4. Februar 1866 Rochefort, † 13. Juni 1915 Dakar, □ unbek., Freimaurer P. wirkte 1899–1915 als frz. Kolonialbeamter in →Frz. Westafrika. 1899–1904 diente er in Kayes (im heutigen →Mali) und war 1904–1908 Gouv. der Kolonie Obersenegal und →Niger. 1908 wurde er nach Dakar versetzt und blieb dort als Gen.-gouv. bis 1915. P. war Begründer der politique des races („Rassenpolitik“). Sein Name ist aber v. a. durch die 1915 nach ihm benannte Pädagogische Hochschule von →Gorée in →Senegal bekannt geworden. Aus ihr ging die erste Generation westafr. Politiker hervor. Als P. 1899 sein Amt antrat, war die Pazifikation nahezu abgeschlossen. Die bis dahin bestehende militärische Verwaltung der Kolonien wurde durch eine zivile ersetzt. Dennoch waren die anstehenden Fragen besonders der traditionellen Herrschaftsstrukturen, der Autorität, der Assimilation und der Religion längst noch nicht gelöst. Die von Gen.-gouv. Ernest Roume (1902– 1907) initiierte Islampolitik versuchte ab 1905, zwischen strenggläubigen und loyalen Muslimen zu unterscheiden und die Kooperation mit letzteren zu fördern. P. befürwortete 1909 eine Art Rassenpolitik und plädierte ebenfalls für eine Unterscheidung nach →Ethnien sowie für eine differenzierte Anerkennung und Stärkung der Macht loyaler Herrscher. Die Theorie der Rassenpolitik wurde allerdings nicht weiter ausgearbeitet. Es handelte sich im wesentlichen um eine Trennung der Stammesgruppen und ihre Befreiung von der Unterdrückung durch ortsfremde musl. Herrscher. Mit dem Kampf gegen Wanderprediger und dem Ringen um die Loyalität der einhei654
mischen Bevölkerung wurde die Rassenpolitik von P.s Nachfolger François Closel (1916) weitergeführt. Erst 1917 versuchte Gen.-gouv. Joost van Vollenhoven, einen anderen Kurs einzuschlagen. Joseph-Roger de Benoist, Église et pouvoir colonial au Soudan français, Paris 1987. Y O U SSO U F D IA LLO Popo →Anecho Popol Vuh →Chronistik, indigene, in Mesoamerika Populismus. Typisch für den lateinam. P. ist die Forderung nach einem paternalistischen Staat, der die Beseitigung sozioökonomischer Ungleichheiten durch eine aktive Umverteilung der Ressourcen von „oben“ nach „unten“ erreichen soll. Der historische P. der 1930er, 40er und 50er Jahre weist dabei nationalistische, etatistische und protektionistische Züge auf. In einer vom Aufstieg des Nationalismus und des Antiimperialismus geprägten Zeit wandten sich viele lateinam. Reg.en vom bis dato propagierten Agrar-Export-Modell ab und setzten zunehmend auf die sog. „Entwicklung nach innen“. Diese Politik hatte eine nachholende →Industrialisierung sowie die stärkere Einbindung der bisher vom politischen Prozeß und der Verteilung des Reichtums ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheit zum Ziel. Mit ihrem Wahlvolk, das sich v. a. aus den Unterschichten und einem Teil der Mittelschichten rekrutierte, kommunizierten die Populisten insb. mittels öffentlicher Auftritte sowie der Massenmedien. Daneben spielten auch das persönliche Charisma, gekonnte Inszenierungen und der selbstbewußte Umgang mit damals neuen Medien wie Radio oder Fernsehen eine wichtige Rolle. Es gelang ihnen auf der Grundlage umfangreicher Sozialprogramme, eine Massenbasis aufzubauen, die sich häufig aus den Bewohnern der Randbezirke schnell wachsender Großstädte zusammensetzte. Die traditionellen Parteien verloren im P. zunehmend an Einfluß, wohingegen andere Massenorganisationen, wie z. B. Gewerkschaften, gestärkt wurden und oft unter die direkte Kontrolle des populistischen Führers gerieten. Der Führungsstil der Populisten war für gewöhnlich autoritär-paternalistisch und von der Ausschaltung bzw. Umgehung demokratischer Kontrollmechanismen (Verfassungsgericht, Oberster Gerichtshof, Parlament etc.) geprägt. Die Legitimation der Führerfigur erfolgte über Wahlen, durch Akklamation auf der Straße sowie mittels Volksbefragungen. In ideologischer Hinsicht wurde im historischen P. meist ein Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus angestrebt. Im Unterschied zu den zeitgleich in Europa auftretenden totalitären Ideologien, entwickelten die lateinam. Populisten jedoch niemals eine geschlossene und allgemeingültige Weltanschauung. Statt dessen handelte es sich meist um ausgesprochen heterogene Ideologie-Konstrukte, in denen Elemente des Faschismus, des Sozialismus sowie folkloristische Versatzstücke eine durchaus eigenständige Verbindung eingehen konnten. Als bekannteste Vertreter des historischen P. gelten der Brasilianer Getúlio Vargas (1930–1945), der Mexikaner Lázaro Cárdenas (1934–1940) sowie der Argentinier Juan Domingo Perón (1946–1955 u. 1973/74). Spätestens seit den 1990er Jah-
P o rto - no v o
ren ist in Politikwissenschaft und Soziologie vermehrt die Rede vom sog. Neo-P., denn neue populistische Führer wie der Peruaner Alberto Fujimori (1990–2000) oder der Argentinier Carlos Menem (1989–1999) wiesen zwar Merkmale des historischen P., wie etwa Charisma, einen autoritär-paternalistischen Führungsstil, die direkte Kommunikation mit den Massen, die Aushöhlung demokratischer Institutionen oder einen antioligarchischen Diskurs auf. Im Gegensatz zu früheren Zeiten waren ihre wirtschaftlichen Maßnahmen jedoch dezidiert neoliberal, wenngleich auch sie Sozialprogramme auflegten. Diese waren jedoch meist assistenzialistischer Natur und kaum als nachhaltig zu bezeichnen. Weiterhin zweifelten seit Beginn der 1990er Jahre sog. „Anti-Politik-Politiker“ die Existenzberechtigung der Parteien prinzipiell an, wodurch sie die Schwächung des Institutionen-Gefüges und der Parteienlandschaft noch beschleunigten. Sie schufen indes keine alternativen Organisationen, um die gesellschaftlichen Interessen im Sinne einer repräsentativ-demokratischen Ordnung zu aggregieren. Nach der Aushebelung zentraler Kontrollmechanismen und der Schwächung intermediärer Strukturen setzten sie, wie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, auf Referenden und „direkte Demokratie“ als Legitimationsgrundlage. Der argentinische Politologe Guillermo O’Donnell spricht angesichts dieser uneingeschränkten Machtübertragung vom Volk an den Präs. von „delegativen Demokratien“. Seit dem Amtsantritt von Präs. Hugo Chávez in →Venezuela (1999) ist in einigen lateinam. Staaten (u. a. →Bolivien, →Ecuador, Nicaragua) wieder ein klarer Trend hin zu einer stärker protektionistisch-etatistischen Wirtschaftspolitik sowie zu massiven Umverteilungsmaßnahmen zu Gunsten der unteren Bevölkerungsschichten zu beobachten. Ebenso wie die „klassischen“ Nationalpopulisten führen auch Chávez und seine Epigonen einen antiimperialistischen und anti-oligarchischen Diskurs. Nikolaus Werz zufolge besteht zwischen den Neo-Populisten und den historischen Populisten allerdings noch immer ein grundlegender Unterschied: So stünden heutzutage die privaten Medien und insb. die Presse eher in Opposition zu den populistischen Führern, anstatt sich wie in der Vergangenheit von ihnen vereinnahmen zu lassen. Guillermo O’Donnell, Delegative Democracy, in: Journal of Democracy 7 (1994), 112–126. Ursula Prutsch, Populismen, Mythen und Inszenierungen – Getúlio Vargas, Juan und Eva Perón im Vergleich, in: Martina Kaller-Dietrich u. a. (Hg.), Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jh., Wien 2004, 193–208. Nikolaus Werz, Alte und neue Populisten in Lateinamerika, in: Ders. (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, 45–64. S VE N S CHUS T E R Porjakow, Wassilij Danilowitsch, Geburtsdatum unbek., † um 1646, genaues Todesdatum und □ unbek., russ.-orth. In den vierziger Jahren des 17. Jh.s sandte der Gouv. von Jakutsk, Pjotr Golowin, eine Truppe von →Kosaken unter der Führung P.s aus, um das sagenhafte Land „Daurien“ entlang des →Amur zu erkunden. Die dortige indigene Bevölkerung der Dauren, die China tributpflichtig war, bauten Getreide, Gemüse und Obst im fruchtbaren
Amurtal an. Mit seiner Kosakeneinheit folgte P. von Jakutsk aus dem Aldan, einem Nebenfluß der Lena bis zur Quelle. Dann führte der Weg weiter entlang der Seja, einem Nebenfluß des Amur. In Daurien angekommen, plünderten P.s Kosaken die daurischen Dörfer und nahmen Geiseln. Daraufhin legten die Dauren den Russen im Winter 1643/44 in der Schlucht Umlekan einen Hinterhalt. Nur wenige Kosaken überlebten und erreichten im Herbst 1644 die Mündung des Amur. Von dort aus machten sie sich auf die Rückreise nach Jakutsk. James Forsyth, A History of the Peoples of Siberia, Cambridge 1994. Ludmila Thomas, Geschichte Sibiriens, Berlin 1982. EVA -MA R IA STO LB ER G Portendick. Ursprüngliche Toponymie: Porto d’Arco (Hafen in Bogenform). Bedeutendster Handelsplatz an der Küste →Mauretaniens, gelegen 30 km nördlich von →Nouakchott. Das maurische Emirat Trârza kontollierte den dortigen Handel mit Gummi Arabicum, der seinen Aufstieg zur Hegemonialmacht maßgeblich bestimmte. Zeitweise befestigt: Von 1688–1691 brandenburgischpreußisch, 1721–1722 ndl., 1722–1723 frz., 1723 bis zur Zerstörung durch Frankreich 1724 ndl. Zwischen Mitte des 15. Jh.s und 1728 wichtigste Dependenz der Festung →Arguin, wo die Waren bis zum →Transport nach Europa gelagert wurden. Nach Aufgabe Arguins 1727 entwickelten sich um die Kontrolle P.s militärisch-diplomatische Streitigkeiten zwischen Briten und Franzosen die sich bis 1857 hinzogen, als die Briten ihr Handelsrecht von P. gegen die frz. →Enklave →Albreda in →Gambia abtraten. Till Philip Koltermann u. a., Pages d’histoire de la côte mauritanienne XVIIe-XVIIIe siècles, Paris 2006. TILL PH ILIP K O LTER MA N N
Porto-Novo. Hauptstadt der Rep. →Benin. P.-N. (234 168 Ew.) wird v. a. von Angehörigen der Gun, Yoruba und Fon bewohnt. Die Ursprünge der Stadt gehen auf Siedlungen der Adja zurück. P.-N. wurde Ende des 17. Jh.s Hauptstadt des Kgr.s Adjatche, das von Teagbanlin gegründet wurde. Die Stadt wurde zu einem großen Umschlagplatz im →Sklavenhandel. Schließlich gründeten die Portugiesen 1752 den Stützpunkt P.-N. Das Kgr. erreichte seinen Höhepunkt im 19. Jh. unter Toffa, unterlag aber der Vormacht des Kgr.s von Abomey. Toffa unterschrieb 1863 einen ersten Protektoratsvertrag (→Protektorat) mit den Franzosen. Diese machten später den Ort 1884 zur Verwaltungshauptstadt der Kolonie →Dahomey. P.-N. ist heute Sitz des Parlaments (Assemblée Génerale im ehem. Gouv.spalast, Neubau in Planung), mehrerer Ministerien und der École du Patrimoine Africain. In den vergangenen Jahren führte ein Sanierungsprogramm zur Verbesserung der städtischen Infrastruktur. Mit der größten Stadt des Landes, Cotonou, ist P.-N. durch eine Schnellstraße verbunden. P.-N. profitiert von der nahe gelegenen Grenze und dem Handel bzw. Schmuggel mit →Nigeria. Der Ort ist auch Hauptsitz der Kirche Christianisme Célèste, zugleich sind hier Gemeinschaften anderer evangelischer Gemeinschaften, Katholiken, Muslime und traditioneller Religionen zu finden. Wichtige Sehenswürdigkeiten sind der Palast des 655
P o rt u g i e s e n i n s ü d o s tAs i e n
Kg.s Toffa, die Bunte Moschee, das Ethnographische Museum sowie der Markt von Adjarra. Gilbert Rouget, Un roi africain et sa musique de Cour, Paris 1996. Alain Sinou und Bachir Oloudé, Porto-Novo, Marseille 1989. Claude Tardits, Porto Novo. Les nouvelles générations africaines entre leurs traditions et l’Occident, Paris 1958. T I L O GRÄT Z Portugiesen in Südostasien. Auf Grund der port. Expansion im 15./16. Jh. entstanden viele port. Gemeinden und damit auch portugiesisch-basierte Kontaktsprachen in Asien. Vom 16. bis 18. Jh. war Portugiesisch Handelssprache an den Küsten des →Ind. Ozeans und wurde von lokalen Herrschern im Kontakt mit europäischen Mächten benutzt. Die Einheit von Kirche und Staat in Portugal und die starke Bindung der Portugiesen an ihre Muttersprache sind Grund dafür, daß der rk. Glaube in port. Sprache verbreitet wurde, aus der sich in den jeweiligen Regionen kreolisierte Formen entwickelten (→Pidginund Kreolsprachen). Für andere europäische Mächte, die in den asiatischen Markt eintraten, war es praktisch, die existierende Lingua franca anzunehmen. Erst mit der Expansion der brit. Macht in Asien Ende des 18. Jh.s wurde die Funktion des Portugiesischen durch Englisch ersetzt. Lokale Varianten des Portugiesischen wurden in allen kolonisierten Gebieten Portugals gesprochen. Port. Kreolsprachen, die teilweise bis ins 20. Jh. gesprochen wurden, entwickelten sich z. B. in →Malakka, →Batavia (dem heutigen Jakarta), Larantuka und Dili. Port. Niederlassungen im 16./17. Jh. nahmen drei Hauptformen an: →Feitorias (Handelsposten), fortalezas (befestigte Hochburgen) und viel seltener cidades (urbane Siedlungen). Port. Kaufleute, Missionare und Abenteurer ließen sich aber auch oft an Orten nieder, die entweder nur eingeschränkt oder gar nicht unter der Gerichtsbarkeit der port. Krone standen. Solche Niederlassungen waren zu dieser Zeit fast überall im südostasiatischen Raum in Küstennähe zu finden, doch stellte die verfügbare Menge an port. Personal ein ständiges Problem für das port. Imperium dar. Die Lösung dieses Defizits an Kräften sollten die casados sein – port. Männer, die einheimische Frauen heirateten, um so eine Bevölkerung von loyalen europäischen Portugiesen und Eurasiern zu bilden. Die Portugiesen spielten zwar eine Schlüsselrolle in Geschäftsleben, Politik und oft auch in der Administration, doch wurden sie der Zahl nach von anderen Gruppen übertroffen: von Eurasiern, lokalen Christen, lokalen Kollaborateuren und Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel), auf denen die koloniale Gesellschaft aufbaute. Port. Gemeinschaften entstanden in Batavia und Tugu, einem etwas außerhalb von Batavia gelegenen Dorf. Während des 17. Jh.s wurden zwar Versuche von seiten der Niederländer, die ihren Hauptsitz in Batavia hatten, unternommen, den Gebrauch des lokalen Portugiesischen zu unterbinden, doch gab die protestantische Kirche solche Versuche schnell wieder auf und verwendete weiterhin Portugiesisch und Malaiisch in ihren Messen. Die port.-sprachige Ew.-schaft Batavias – u. a. Sklaven, Migranten aus Malakka, Burghers aus →Indien (eurasische Gemeinschaft aus Nachfahren von Portugiesen, Niederländern, Singhalesen und Tamilen) – wurden im Laufe des 17. Jh.s zu einer einheitli656
chen Gemeinschaft, ermöglicht durch die Verknüpfung von Sprache und Religion. Die übliche Verknüpfung von allem Portugiesischem und dem Katholizismus wurde hier aufgelöst, da die Mardijkers (freigegebene Sklaven asiatischer Herkunft), Mestizen, Sklaven und Burgers zum Calvinismus bekehrt wurden und die protestantische port. Gemeinde Batavias bildeten. Im Laufe des 18. Jh.s wurde das Portugiesische jedoch mehr und mehr durch die malaiische Sprache verdrängt, bis die Gemeinschaft schließlich mit der malaiischen verschmolz. Das Dorf Tugu war Sammelpunkt für port. Mestizen, Mardijkers und Händler aus Ostindonesien, die das „Portugiesische“ der Gemeinschaft in Musik und Sprache bis in die 1940er Jahre bewahren konnten. 1561 errichteten die Portugiesen in Larantuka auf Flores – einem wichtigen Ort für den Handel mit →Sandelholz – eine rk. Mission und ein Priesterseminar, um von dort und von Sikka aus die Kleinen Sundainseln zu missionieren. Auf der Nachbarinsel Solor wurde 1566 eine Festung errichtet, um die herum eine Bevölkerung von lokalen Christen, port. Soldaten, Seeleuten und Sandelholzhändlern wuchs, die einheimische Frauen heirateten und von den Niederländern „Topasse“ genannt wurden. Nach der →Eroberung Solors durch die Niederländer wurde Larantuka Zentrum des port. Einflusses in den Kleinen Sundainseln. Die Topasse übten während des 16./17. Jh.s unangefochtenen Einfluß im Inland aus, um den größten Teil des Sandelholzhandels für sich zu behaupten. Sie eroberten schließlich 1769 Lifau, den wichtigsten Hafen Timors, und vertrieben so die Portugiesen nach Dili. In Bidau, einem Vorort Dilis, entstand eine Varietät des Kreolportugiesischen, das Português de Bidau genannt wurde und erst in den 1960er Jahren ausstarb. Eingeführt wurde es von Soldaten aus Lifau und port. Siedlern und Mestizen aus Flores. Die →Molukken wurden 1546 von St. Francis Xavier (→Xaver) besucht, der dort erfolgreich missionierte. Bis zur Mitte des 20. Jh.s wurde auf →Ambon und →Ternate eine Variante des Kreolportugiesischen, genannt Ternateno, gesprochen. Bei der Invasion der Niederländer flohen viele Portugiesen und Katholiken auf Ambon in die Berge, die sich mit der dortigen Bevölkerung mischten. In Soya auf Ambon ist heute noch eine starke port. Tradition in Form von Kleidung und Tänzen vorzufinden. Malakka, der florierendste südostasiatische Hafen des 16. Jh.s, wurde von den Portugiesen unter Leitung Alfonso de →Albuquerques 1511 erobert. Die Herrschaft über die Stadt bedeutete effektive Kontrolle des Gewürzhandels (→Gewürze) im Südchin. Meer und wurde so zur Basis der P. i. S. Um die Festung A Famosa herum lebte eine heterogene Bevölkerung aus Malaien, Javanern, Tamilen, Hokkien Chinesen, Europäern und Indern aus dem Heer der Portugiesen, die politisch motivierte →Mischehen mit den Einheimischen eingingen (casado-Politik). Alle Personen, die zum Katholizismus konvertierten, wurden port. Bürger und erhielten oft auch port. Namen. Der Unterschied zwischen „weißen“ und „einheimischen“ Portugiesen entfiel nach der Eroberung Malakkas durch die Niederländer 1641. Nachdem 1824 Großbritannien Malakka übernommen hatte, teilten sich die port. Eurasier in zwei unterschiedliche soziale Klassen, definiert durch Wohlstand, Beschäftigung und
P o rtu g i es i s ch es k o lo n iAlrei ch
Erziehung. Die Oberschicht wurde „eurasisch“ genannt, während diejenigen, die „Portugiesen“ genannt wurden, von niedrigem Stand waren, das Kreolportugiesisch Papiá Kristang sprachen und zumeist Fischer waren. Die noch heute existierende port. Siedlung, in der die „armen Portugiesen“ untergebracht wurden, entstand 1926. Die Kristang-Gemeinschaft war besonders in den 1990er Jahren für ihre kulturellen Shows bekannt. Das Kristang wird heute nur noch von älteren Menschen in der Siedlung gesprochen. In Pulau Tikus, →Penang, entstand das Kampung Serani („Dorf der Nazarener“), das überwiegend von port. Eurasiern rk. Glaubens bewohnt wurde. Auch dort wurde Kristang gesprochen, das aber mittlerweile ausgestorben ist. In →Singapur waren die port. Eurasier von Anfang an beteiligt, als Thomas Stamford →Raffles 1819 in einem malaiischen Dorf einen Hafen für Großbritanniens Macht in Asien errichtete. Schnell kamen weitere Eurasier aus Malakka und Penang nach. Insg. war die eurasische Gemeinschaft jedoch sehr heterogen und umfaßte Aspekte der port., ndl. und brit., sowie der chin., malaiischen und ind. Kultur. Ganz wie ehedem in Batavia sind die „Portugiesen“ auch in Singapur essentiell ein soziales und politisches Phänomen, nicht eine genetische Realität. Die nach der Unabhängigkeit marginalisierte Gruppe der Eurasier erfuhr in den 1990er Jahren eine Revitalisierung durch junge aktive Eurasier, die dazu tendierten, auf die Kultur der port. Siedlung in Malakka (Küche, Musik, traditionelle Kostüme und Sprache) zurückzugreifen. C. R. Boxer, The Portuguese Seaborne Empire 1415– 1825, London 1991. Ronald Daus, Portuguese Communities in Southeast Asia, Singapur 1989. Gerard Fernandis (Hg.), Save Our Portuguese Heritage Conference 95 – Malacca, Malaysia, Malacca 1995. E VA E NS L I NG Portugiesisches Kolonialreich. Das P. K. bezeichnet die Gesamtheit der überseeischen Gebiete, die als Kolonien unter port. Verwaltung standen. Der Beginn der port. Expansion wird gewöhnlich mit der →Eroberung Ceutas 1415 datiert; mit der Übergabe →Macaos an China 1999 endete das p. K. Die Bezeichnung für das p. K. wandelte sich mit den politischen Zielsetzungen im Laufe der Zeit. So war die Bezeichnung „Império Português“ (Port. Imperium) besonders in der Phase des kolonialen Imperialismus im politischen Diskurs gebräuchlich; ab 1951, als durch eine Verfassungsänderung die „Kolonien“ in „überseeische Territorien“ umbenannt wurden, setzten sich die Bezeichnungen „Império Ultramarino“ (Überseeisches Imperium) und „Ultramar Português“ (Port. Übersee) durch. In der historiographischen Forschung wird für das gesamte Kolonisationszeitalter die Denomination „Expansão Portuguesa“ (Port. Expansion) vorgezogen. Die Konsolidierung des port. Staates nach der Eroberung der Algarve von der maurischen Herrschaft gegen Mitte des 13. Jh.s sowie der Ausbau eines zentralen Verwaltungsapparates unter Johannes I. von Avis (1385–1415) begünstigten den Beginn der territorialen Expansion des port. Reiches. Die unmittelbaren Faktoren, die zur Eroberung Ceutas führten, waren vielfältig. Geopolitische Interessen (die strategische Lage Ceutas an der Straße von Gibraltar), wirtschaftliche Faktoren
(die Bedeutung Ceutas als Umschlagplatz des Handels mit dem subsaharischen Afrika), aber auch die religiös motivierte Kreuzzugsmentalität (→Kreuzzüge) beeinflußten die Entscheidung für die Eroberung der nordafr. Stadt. Unter der Ägide von →Heinrich dem Seefahrer wurden ab 1418 die Entdeckungsfahrten am →Atlantik vorangetrieben. Zunächst schuf die Eroberung der atlantischen Inseln Madeira, Porto Santo (1419) und Azoren (1427) die Grundlage für die weitere Expansion. Bis zum Tod Heinrichs wurde auf zahlreichen Reisen die westafr. Küste erkundet: 1434 leitete Gil Eanes die Expedition, die das Kap Bojador umsegelte; zwei Jahre später entdeckte Afonso Gonçalvesden Rio do Ouro; 1441 wurde das Cap Blanc erreicht; 1445 entdeckte Dinis Dias die Kapverdischen Inseln. Als →Heinrich der Seefahrer 1460 starb, hatte eine Expedition →Sierra Leone erreicht. 1469 verlieh Alfons V. dem Lissaboner Händler Fernão Gomes das Monopol über den Goldhandel am Golf von →Guinea. Der lange Streit mit Kastilien um den Besitz der Kanarischen Inseln wurde mit dem Vertrag von Alcácovas (1479) beigelegt, in dem Portugal auf die Kanarischen Inseln verzichtete, im Gegenzug jedoch Anspruchsrechte auf die südlich der Inselgruppe neu zu entdeckenden Territorien erhielt. Als Bartolomeu Dias 1488 das →Kap der guten Hoffnung umsegelte, hatten port. Händler bereits ein organisiertes Netz von Handlungsstützpunkten entlang der westafr. Küste etabliert, über die mit den lokalen Herrschern Sklaven (→Sklaverei und Sklavenhandel) und Gold gegen Stoffe und Schmuck eingetauscht wurden. Mit der ersten von Vasco →da Gama geführten Expedition von Portugal nach →Indien 1498 etablierten port. Händler ein Monopol über den Gewürzhandel (→Gewürze) zwischen Indien und Europa. Auf der Grundlage dieses Handelsmonopols verfestigte sich die militärische und politische Präsenz Portugals durch die Gründung des Estado da Índia (Port.Indien) mit der Eroberung von →Goa 1510, die zugleich als Verwaltungssitz des Estado da Índia fungierte. Von hier aus entwickelten die Portugiesen ein Netz von Handelsstützpunkten entlang der ind. Küste, von denen neben Goa Daman und Diu die wichtigsten waren. Auch nach Ostasien stießen port. Händler vor: 1515 erreichten sie →Osttimor, 1554 Macao. Als nach 30 Jahren die Konkurrenz weiterer europäischer Händler dem Gewürzmonopol ein Ende setzte, wandte sich Kg. Johannes III. der Kolonisierung →Brasiliens zu. Brasilien war während der zweiten Expedition nach Indien entdeckt worden. Die von Pedro Álvares Cabral kommandierte Flotte von 13 Schiffen driftete westlich der vorgesehenen Route am Atlantik nach Westen ab und stieß am 22.4.1500 auf Land. Das Gebiet fiel auf Grund der im Vertrag von Tordesillas 1494 (→Bullen) zwischen Kastilien und Portugal vereinbarten Demarkationslinie 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln unter port. Besitz. Zunächst zögerlich und auf die Errichtung von Handelsstützpunkten ausgelegt, wurde mit der Entsendung 1549 eines Gen.-gouv.s und der Errichtung einer Jesuitenmission (→Jesuiten) die Kolonisierung des Landes gefestigt. Die Geschichte der port. Kolonisation in →Amerika wird bis zur Unabhängigkeit Brasiliens 1822 von Handelszyklen bestimmt, die auf den angebauten Rohstoffen basierten: 657
P o s it i v i s m us in l At ei n Am e r i k A
Brasilholz (→Brasilholzgewinnung), →Zucker, Gold, →Kakao, →Tabak. Basis der Kolonialwirtschaft war der Dreieckshandel: Manufakturprodukte aus Europa wurden in Afrika gegen Sklaven getauscht, die nach Brasilien transportiert wurden, um dort in den Plantagen zu arbeiten, deren Produkte wiederum in Europa verkauft wurden. Mit der Unabhängigkeit Brasiliens suchte die port. Krone in Afrika nach Alternativen für die Aufrechterhaltung der Kolonialwirtschaft. 1836 präsentierte der amtierende Premierminister Sá da Bandeira einen Vorschlag zur Intensivierung der Kolonisation der afr. Territorien. In seinem Bericht an die Cortes kündigte er Maßnahmen an, die Migrationsströme port. Emigranten von Brasilien nach →Angola, →Mosambik und den Kapverdischen Inseln umzuleiten, um dort den Anbau von Kolonialprodukten zu steigern. Trotz dieser Maßnahmen nahm die Zahl der Siedler in den afr. Kolonien vor Ende des 19. Jh.s kaum zu. Zwar konnte Portugal im Zuge der imperialistischen Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten den Anspruch auf fünf Territorien in Afrika – Angola, Mosambik, →Guinea-Bissau, →Kap Verde und →São Tomé und Príncipe – auf Grund seiner historischen Präsenz verteidigen, dennoch wurden diese Gebiete immer wieder das Objekt der Begierde anderer Kolonialmächte – allen voran Großbritanniens und des Dt. Reiches. Gegen 1870 wurde deutlich, daß weniger historische Argumente als eine tatsächliche Kolonisierung der afr. Gebiete den port. Besitz über diese Territorien garantieren konnten. In diesem Zusammenhang wurde die Geographische Gesellschaft („Sociedade de Geografia de Lisboa“) 1875 gegründet. Auch die sog. Besiedlungskampagnen („Campanhas de Ocupação“) bewirkten ab ca. 1880 einen spürbaren Anstieg der port. Bevölkerung in den afr. Gebieten. In der Zeit des Estado Novo unter Oliveira Salazar dienten die afr. Kolonien immer mehr ideologischen und politischen Zwecken. Noch in seinem Amt als Kolonialminister der Militärdiktatur (1926–1933) verabschiedete Salazar 1930 die Kolonialcharta („ActoColonial“), in der der Besitz der afr. Kolonien historisch legitimiert wurde. Portugals Teilnahme an der Pariser Kolonialausstellung von 1931, die Veranstaltung einer Kolonialausstellung im eigenen Land (Porto 1934) und die Ausstellung „O Mundo Português“ (Die port. Welt), die 1940 im Stadtteil Belém in Lissabon stattfand, flankierten die politischen Bestrebungen, die afr. Kolonien als selbstverständlichen Bestandteil des port. Staats nach außen und nach innen darzustellen. Der zunehmende Druck der internationalen Diplomatie auf Portugal nach dem →Zweiten Weltkrieg veranlaßte den Estado Novo zur Intensivierung der Siedlungskampagnen in Afrika, was einen tatsächlichen Anstieg der weißen Bevölkerung in den 1950er und 60er Jahren bewirkte. Die Verfassungsänderung 1951 unterstrich die Kolonialideologie des Estado Novo, nach der die Überseeterritorien und das Mutterland Portugal unzertrennliche Bestandteile eines organischen Reiches seien. Die verstärkte Besiedlungspolitik und die ideologisch motivierte Umbenennung der Kolonien in „Überseeprovinzen“ markierten die Aufrechterhaltung des kolonialen Status quo trotz internationaler Kritik. Der Anfang vom Ende des P. K.es ist in den internationalen Kontext der 658
Dekolonisierung einzubetten. 1961 verlor Portugal die ind. Kolonien Goa, Diu und Daman. Im selben Jahr flammten die ersten Proteste gegen die Kolonialherrschaft in Angola auf. Um die Revolten zu unterdrücken, startete Salazar eine Offensive – eine schnelle und starke Militäroperation sollte die Unruhen im Keim ersticken. Statt dessen organisierten sich die Unabhängigkeitskämpfer in →Befreiungsbewegungen (MPLA und UPA) und erhielten Unterstützung von beiden Lagern des Kalten Krieges. Der →Kolonialkrieg dehnte sich auf Mosambik und Guinea-Bissau aus, dauerte 13 Jahre und brachte verheerende Folgen auf afr. wie port. Seite. Mit zunehmendem Verlauf des Kriegs wurde auch in Portugal die Unzufriedenheit größer. Anfang der 1970er Jahre verbreitete sich in großen Teilen der politischen und militärischen Eliten die These, der Krieg sei militärisch nicht zu gewinnen. Diese Position vertrat ebenfalls General Spínolain seinem Buch „Portugal e o Futuro“ (Portugal und die Zukunft). Der Veröffentlichung des Buches im Febr. 1974 folgte am 25. Apr. ein Militärputsch gegen das Regime des seit 1968 amtierenden Marcelo Caetano. Eine der Forderungen des von jungen Hauptleuten, die in Afrika gekämpft hatten, organisierten Putschs war die sofortige Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit. Die →Dekolonisation der afr. Gebiete war somit ein unmittelbares Ereignis der port. Nelkenrevolution: 1974 wurden Mosambik und Guinea-Bissau unabhängige Staaten, 1975 erlangten auch São Tomé und Príncipe, Kap Verde und Angola politische Souveränität. Die Dekolonisation der asiatischen Kolonien nahm einen anderen Verlauf. In Osttimor wurde die Unabhängigkeit am 28.11.1974 ausgerufen, doch nur neun Tage später kam es zur Annexion durch →Indonesien. Nach einem langen Widerstandskampf im Land sowie diplomatischen Bemühungen erlangte Osttimor durch ein Referendum 1999 de facto die Unabhängigkeit (de iure stand Osttimor bis 2002 unter provisorischer Administration der UNO). 1999 wurde Macao – das seit 1976 nicht als Kolonie, sondern als Territorium unter port. Verwaltung galt – an die Volksrep. China übergeben, was das offizielle Ende des P. K.es markiert. Luís de Albuquerque, Dicionário dos Descobrimentos Portugueses, Lissabon 1994. Francisco Bethencourt / Kirti Chaudhuri, História da Expansão Portuguesa, 5 Bde., Lissabon 1998–2000. Joel Serrão / A.H. de Oliveira Marques, Nova História da Expansão Portuguesa, 12 Bde., Lissabon 1986. TER ESA PIN H EIRO Positivismus in Lateinamerika. Die von Auguste Comte (1798–1857) begründete Philosophie des P. gelangte v. a. durch lateinam. Schüler Comtes ab Mitte des 19. Jh.s in →Lateinamerika zu weitreichender Bedeutung. Nach der Unabhängigkeit erschien der P. den lateinam. Eliten als avantgardistische Philosophie, mit Hilfe derer eine „geistige →Emanzipation“ (Leopoldo Zea) von Spanien und Portugal erreichbar sei. Der P. in Lateinamerika basierte auf liberalem Gedankengut, wies in einigen Staaten aber auch konservative bis autoritäre Züge auf. Allg. nahm der P. in Lateinamerika in den verschiedenen Staaten unterschiedliche Ausformungen an, beinhaltete jedoch auch einige Gemeinsamkeiten, die
P o s i ti v i s m u s i n lAtei n A m eri k A
aber auf den gemeinsamen europäischen Ursprung zurückzuführen waren, da ein Austausch zwischen den Positivisten der einzelnen Länder kaum stattfand. Die Positivisten Lateinamerikas verstanden sich als Liberale, welche die freiheitlich-anarchischen Zustände, die wirtschaftliche Stagnation und die innenpolitischen Konflikte nach dem Erlangen der Unabhängigkeit durch eine Verbindung von Freiheit, Ordnung und Fortschritt überwinden und so, durch eine Modernisierung „von oben“, sozialen Wandel unter stabilen politischen Verhältnissen erreichen wollten. Der P. legitimierte mit seinem inhärenten Evolutionismus die Machterhaltung der kreolischen (→Kreole) Eliten (gegen Partizipationsforderungen von Mestizen (→Casta), Indigenen und Schwarzen). In →Mexiko und →Venezuela vertraten die Positivisten die Ansicht, daß die erwünschte Ordnung im Land auf Grund der von ihnen analysierten Gegebenheiten eher von Diktatoren etabliert werden könne und gingen folglich eine Allianz mit autoritären Herrschern ein, anstatt eine Rep. zu unterstützen, welche qua Verfassung Freiheiten gewährte, die sich nicht einhalten ließen. Ausgangspunkt positivistischen Denkens in Mexiko war eine Oración cívica von Gabino Barreda (1820–1881), die er in Folge des Sieges der republikanischen Truppen über das ksl. Heer →Maximilians I. 1867 hielt. Barreda formte Comtes positivistische Formel „Liebe als Prinzip, Ordnung als Fundament, Fortschritt als Ziel“ in „Freiheit als Mittel, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel“ um. Auf die Unabhängigkeit und die Reformgesetze zur Trennung von Kirche und Staat von 1859 müsse, so Barreda, eine Periode der Ordnung folgen. Die bereits bei Barreda vorhandene aristokratische Auffassung des P., nach der er staatliche Interventionen verwarf und Reichtum als Mittel des sozialen Fortschritts nicht Umverteilen wollte, findet sich um so stärker in der sog. zweiten Generation von Positivisten, welche, als científicos bezeichnet, maßgeblich das diktatorische Regime von Porfírio Díaz (1877–1880; 1884–1911) unterstützten. Die científicos waren zudem von Herbert Spencers evolutionärem Biologismus beeinflußt. Sie vertraten die Meinung, Mexiko könne noch keine weitreichenden Freiheiten zulassen, standen der Verfassung von 1857 distanziert gegenüber und plädierten für eine starke Reg., welche die Grundlagen der Freiheit erst schaffen müsse. Dies sollte durch Vergabe von Konzessionen, Investitionen aus dem Ausland, Abschaffung des bäuerlichen Gemeinschaftsbesitzes und Stärkung des Unterneh-mertums erreicht werden. Besonders ab dem frühen 20. Jh. stiegen Mexikos Positivisten bis in hohe Staatspositionen auf und bildeten einen Beraterkreis um Díaz. Ihrer Ansicht nach entsprach der Porfirismus wissenschaftlichen Prinzipien und war Ausdruck von Naturgesetzen. Die spezifische Ausprägung des P. in Venezuela ähnelte dem in Mexiko. Die Rezeption des P. begann in den 1860er Jahren, nachdem Adolfo Ernst 1863 einen Lehrstuhl für dt. Sprache und Rafael Villavicencio 1866 einen Lehrstuhl für positive Philosophie an der Universität von Caracas errichtet hatten. V. a. die zweite Generation der Positivisten (Laureano Vallenilla Lanz, César Zumeta, Pedro Manuel Arcaya, José Gil Fortoul, Julio C. Salas, u. a.), meist Schüler von Ernst oder Villavicencio, ge-
wann entscheidende Bedeutung, als Juan Vicente Gómez (1908–1935) die Macht erlangte. Die Positivisten bekleideten z. T. hohe Positionen im In- und Ausland und legitimierten das Gómez-Regime in wohlwollenden Vorträgen, Interviews und Publikationen. V. a. Vallenilla Lanz erregte große Aufmerksamkeit; sein Hauptwerk (Cesarismo democrático. Estudio sobre las bases sociológicas de la constitución efectiva de Venezuela, 1919) wurde bereits 1925 in Frankreich und auf Betreiben Mussolinis 1934 in Italien hg. Demzufolge waren „demokratische Cäsaren“ dazu auserkoren, Länder, die von →Caudillismo drangsaliert wurden, zu befrieden, den Zentralstaat zu festigen und durch eine Art aufgeklärte Entwicklungsdiktatur den Fortschritt der Gesellschaft zu beschleunigen. Die venezolanischen Positivisten betonten, dem Leitspruch von Gómez („Einheit, Frieden und Arbeit“, „unión, paz y trabajo“) folgend, vermeintliche Fortschritte der sozialen Situation der Bevölkerung (z. B. Pedro Manuel Arcaya: Venezuela y su actual régimen, 1935), was aus dem P. eine „Philosophie der Macht“ (Arturo Sosa) oder einen „positivistischen Despotismus“ (Leopoldo Zea) werden ließ. Einige der positivistischen Gedanken avancierten in Venezuela zum Allgemeingut politischer Ideen und wurden später auch von demokratischen Parteien vertreten. In →Argentinien hatte die Diktatur Juan Manuel de Rosas (1829–1832; 1835–1852) viele Intellektuelle ins Exil getrieben. Anders als in Mexiko und Venezuela gab es keine Positivisten, die autoritäre politische Ansätze propagierten. Angefangen bei sog. Vor-Positivisten (Bartolomé Mitre, Domingo Faustino Sarmiento, Nicolás Avellaneda, Esteban Echeverría) wurde im Namen des P. eine liberale Demokratie mit eingeschränktem Wahlrecht gefordert, die Betonung auf das Individuum und eine laizistische Erziehung und nicht auf den Staat gelegt und verstärkt ausländischen, nach Ansicht der Positivisten fortschrittlicheren, Vorbildern nachgeeifert. Die Unterscheidung zwischen P. und liberalen Strömungen fällt in Argentinien schwer. 1870 gründete Sarmiento die Escuela Normal de Paraná, aus der zahlreiche Positivisten, neben Comte auch stark von den evolutionären Konzepten Darwins beeinflußt, hervorgingen. Daneben existierte die Generación del Ochenta, welche von Darwin, aber auch stärker von Spencer geprägt war. Zu ihr gehörte z. B. Carlos Octavio Bunge (1875–1918), welcher in seinem Werk Nuestra América (1903) die von den Spaniern geerbten negativen Charaktereigenschaften der Argentinier beschrieb und Vermischung mit Immigranten als Lösung des Problems ansah. Allg. zeigte der argentinische P. Überschneidungen mit dem Sozialismus; die Erziehung der Arbeiterschaft war, neben einer geförderten „guten Immigration“, für viele Positivisten der zu beschreitende Weg aus der Barbarei (José Ingenieros: Evolución sociológica argentina: de la barbarie als imperialismo, 1910). In →Brasilien erschienen die ersten vom P. beeinflußten Schriften ab Mitte des 19. Jh.s (z. B. Luis Pereira Barreto: As Tres Filosofías, 1874), 1876 wurde die „Positivistische Gesellschaft Brasiliens“ gegründet. Die Forderungen der brasilianischen Positivisten finden sich hauptsächlich in den Schriften von Teixeira Mendes und Julho de Castilhos wieder: Übergang vom Ksr. zur Rep., Föderalismus, 659
P o s t d Am P f e r - l i n i en
Laizismus, ökonomische Freiheit, Sklavenbefreiung (→Abolitionismus), Schutz der Indigenen, Zivilehe und Pazifismus. Zum Erreichen von Ordnung und Fortschritt wurde für eine Reg. mit autoritären Zügen, einem Staatsoberhaupt auf Lebenszeit und ein relativ schwaches Parlament plädiert. Der P. spielte in Brasilien eine gewichtige Rolle bei der Transition vom Ksr. zur Rep. 1889. Zu Beginn der Rep. war Benjamin Constant, einer der bedeutendsten Positivisten Brasiliens, kurzzeitig in einer vom P. geprägten Reg. Kriegsminister. Die brasilianische Flagge hatte das positivistische Binom „Ordnung und Fortschritt“ integriert. Constant war ab 1852 Lehrer an der Militärakademie in →Rio de Janeiro und machte diese Schule zu einem Zentrum der positivistischen Ideen Brasiliens. Daneben existierten andere positivistische Strömungen, z. B. die sog. Schule von Recife, die sich allerdings mehr mit juristischen als mit soziologischen Fragen beschäftigte. Allg. war der P. in Brasilien weniger als in den anderen lateinam. Staaten auf die Hauptstadt beschränkt. Die religiöse Komponente des P. in Brasilien manifestierte sich in der Gründung einer eigenen Kirche. 1897 wurde in Rio de Janeiro der „Tempel der Humanität“ eingeweiht. Gavvin O’Toole, Politics in Latin America, Harlow 2007. Leopoldo Zea, Pensamiento positivista latinoamericano, Caracas 1980. Nikolaus Werz, Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika, Freiburg i. Br. 1992. BE NE DI KT RI E S S Post →Deutsche Posteinrichtungen in Übersee Post, Frans →Niederländische Malerei Postdampfer-Linien, dt. in Mikronesien. Durch die →Jaluit-Gesellschaft betriebene Schiffe der Jaluit-Gesellschaft befuhren zwischen 1902 und 1914 drei Routen, für die das Dt. Reich auf Grundlage des PostdampferSubventionsgesetzes vom 23.4.1898 Zuschüsse zahlte: Vom 1.1.1901 bis Anfang Jan. 1902 der Dampfer Oceana (711 Bruttoregistertonnen) die Linie Sydney-Jaluit-Yap. Vom 9.1.1902 bis Ende Dez. 1904 der Dampfer Oceana die Linie Sydney-Jaluit-Yap-Palau-Hongkong, zurück über Saipan. Von Anfang 1905 bis Juli 1914 der neugebaute Dampfer Germania (1 096 Bruttoregistertonnen) die „Jaluit-Linie“ von Sydney nach Jaluit, bei Bedarf weiter bis →Hongkong oder →Singapur. Arnold Kludas, Die Geschichte der dt. Passagierschiffahrt, Bd. 1, Hamburg 1986. GE RHARD HUT Z L E R Potanin, Grigorij Nikolajewitsch, * 22. September / 4. Oktober 1835 Janyischewskaja nahe Akmolinsk (heute Astana), † 30. Juni 1920 Tomsk, □ Ehrengrab in Tomsk, russ.-orth. P. entstammte einer russ. Kosakenfamilie aus Akmolinsk (dem heutigen Astana) in →Kasachstan und wurde stark vom Kolonistenleben geprägt, das auch sein späteres Werk maßgeblich beeinflußte. Die Kolonisation Kasachstans wie auch anderer asiatischer Peripherien des Zarenreiches wurde von →Kosaken getragen. Prägend war dabei auch die militärische Ausbildung. Als Sohn eines Kosakenoffiziers besuchte P. Mitte des 19. Jh.s die 660
Kadettenschule im westsibirischen Omsk. 1853 – nach dem →Krimkrieg – absolvierte er den Militärdienst in Semipalatinsk. 1857 erhielt er vom Topographischen Generalstabs-Institut den Auftrag zur Erforschung und Kartographierung des russ. Teils des Altai-Gebirges. Dies war der Auftakt zu verschiedenen Forschungsreisen in Zentralasien und →Sibirien. 1859–1861 absolvierte er eine geographische und ethnologische Weiterbildung an der St. Petersburger Universität. 1863/64 nahm er an der →Expedition des Astronomen Struve zum Schwarzen Irtysch und ins Tarbagatai-Gebirge teil und wurde 1865 zum Sekretär des Statistischen Staatskomitees →Sibiriens in Tomsk berufen. Hier wertete er u. a. die Ergebnisse der Expeditionen aus. Schon früh plädierte er für eine Autonomie Sibiriens und wurde zu einem bedeutenden Wortführer der sibirischen Regionalisten (→Oblastniki). Dem autokratischen Regime gingen die Autonomieforderungen zu weit und den Oblastniki wurde Separatismus vorgeworfen. P. wurde denunziert und 1869 zur Zwangsarbeit verurteilt. 1874 erfolgte jedoch seine Begnadigung. Zwei Jahre später wurde er rehabilitiert, als die →Russ. Geographische Gesellschaft ihn mit einer Expedition in die nordwestliche Mongolei beauftragte. Er konnte jetzt an seine früheren beruflichen Erfolge anknüpfen. 1879 führte ihn eine Forschungsreise an die Quellen des Jenissei. In den achtziger Jahren widmete sich P. v. a. der Erforschung Innerasiens jenseits der russ. Grenzen, was ihn – ebenfalls im Auftrag der Russ. Geographischen Gesellschaft – in die chin. Provinz Gansu und nach Tibet und in die Südmongolei (1884–1886) führte. Zwischen 1892 und 1893 fand eine erneute Expedition nach China, diesmal bis in die Provinz Sichuan, statt. Während neuerlicher Expedition nach Zentralasien starb 1893 seine Ehefrau Alexandra Wiktorowna (* 1843), die seit 1876 an seinen Forschungen aktiv teilgenommen hatte. Der Versuch, 1899 unbekannte Teile Tibets zu erkunden, mußte wegen schwerer Erkrankung abgebrochen werden. Die letzten zwei Lebensjahrzehnte verbrachte P. größtenteils in Omsk und Tomsk mit Aufarbeitung seiner umfangreichen naturwissenschaftlichen und völkerkundlichen Sammlung, die in den Nachkriegswirren weitgehend verlorenging. 1915 verlieh Omsk P. das Ehrenbürgerrecht, 1918 folgte die Auszeichnung als „Bürger Sibiriens“ durch die sibirische Regional-Duma. P. ist in Sibirien unvergessen. Die Bibliothek Potaninskaya in Nowosibirsk, die Bezirksbibliothek in Tomsk sowie Denkmäler in Tomsk und Omsk tragen zur Erinnerung bei. Seine zahlreiche Publikationen erschienen nur in russ. Sprache, teilweise posthum. Zu ihnen zählen „Erdkunde Asiens“ (1876), „Skizzen der nordwestlichen Mongolei“ (3 Bde. 1881–1883), „Reisen in China und der Mongolei“ (2 Bde. 1893), „Aus Reisen ins östliche Sibirien, die Mongolei, Tibet und China“ (1895). Eine wissenschaftliche Biographie in dt. Sprache bleibt ein Desiderat. Andrej M. Sagalaev / Vladimir M. Krjukov, G.N. Potanin, Nowosibirsk 1991. Marina G. Sesjunina / Izrail M. Razgon, G.N. Potanin i N.M. Jadrincev – ideology sibirskogo oblastničestva (G. N. Potanin und N.M. Ja-
P reto ri A
drincev – Ideologen des sibirischen Regionalismus), Tomsk 1974. E VA - M A R I A S TOL BE RG / GE RHARD HUT Z L E R
Präsidentialismus in Lateinamerika. Das Reg.ssystem der meisten am. Staaten kann, mit Abweichungen und Unterschieden, mehrheitlich als präsidentiell bezeichnet werden. Ausnahmen bilden →Kanada und Belize sowie einige Staaten in der →Karibik (→Kuba, →Jamaika). Es existieren viele z. T. abweichende Definitionen des P. Die meisten Wissenschaftler stimmen aber nach dem Politologen Bernhard Thibaut in der folgenden Definition überein: „Im präsidentiellen System verfügen sowohl der Präs. als auch das Parlament über eine je eigene, als demokratisch geltende Legitimationsbasis, und eventuelle Konflikte zwischen beiden Gewalten lassen sich in der Regel weder im Wege einer Abberufung und Ersetzung der Reg.sspitze noch durch eine Auflösung und Neuwahl des Parlaments lösen.“ (Thibaut 1996, 51–52) Zum Vorbild für die meisten Staaten in L. wurde die Verfassung der →USA. Aber auch traditionelle Überbleibsel der bourbonischen Monarchie und die sich als legitime Herrscherschicht ansehende Oligarchie in den ehem. span. Kolonien hatten ihren Anteil an der neuen Staatsform. Deswegen kann man den P. in L. als ein hybrides, aber doch zu gleich auch ein Produkt sui generis bezeichnen. Typisch für den lateinam. P. ist die Stärke der Exekutive, die zu ungunsten der anderen beiden Gewalten, hervorgehoben wurde. Ausgehend von den Anführern der Conquista, über die Generale der Unabhängigkeitskriege bis hin zu den charismatischen Politikern des 20. Jh.s läßt sich dies mit der historischen Tradition eines starken Führers, der im sog. →Caudillismo seine Entsprechung fand, erklären. Ein weiteres Spezifikum erkennt man im ausgeprägten Zentralismus der in den meisten lateinam. Staaten vorherrscht. Wie schon zur Kolonialzeit der Sitz des Vize-Kg.s das politische und kulturelle Zentrum des Landes gewesen war, so galt und gilt dies nach der Unabhängigkeit bis heute für die jeweiligen Hauptstädte. Begründen läßt sich dies mit dem strengen hierarchischen Sozialaufbau in der lateinam. Gesellschaft. Die Oberschicht, die sich um den Vize-Kg. bzw. den späteren Präs. scharte, bildete zu gleich auch dessen Machtbasis, da diese wiederum die Wirtschaft kontrollierte und auf eine Vielzahl an Gefolgsleuten als „Wahlhelfer“ zurückgreifen konnte (→Klientelismus). Die Position des Präs. wurde im Laufe der 200-jährigen Verfassungsgeschichte der jungen Rep.en ständig gestärkt und seine Machtbefugnis auf Kosten der Parlamente erweitert. Z. T. führte dies zu Militärdiktaturen, die den verfassungsrechtlichen Schein zwar wahrten, doch das Amt des Präs. nutzten, um autoritär zu regieren. Trotz dieser negativen Erfahrung kehrten alle Staaten L.s in der Zeit der Re-Demokratisierung zum traditionellen P. zurück. Dieter Nohlen, El presidencialismo renovado, Caracas 1998. Judith Schultz, Präsidentielle Demokratien in Lateinamerika, Frankfurt/M. 2000. Bernhard Thibaut, Präsidentialismus und Demokratie in Lateinamerika, Opladen 1996. S T E P HAN KROE NE R Praying Indians →Eliot, John
Presse →Kolonialzeitungen, deutsche Pressewesen in Kiautschou (Jiaozhou). Hatte es bis Ende der 1890er Jahre nur eine dt.-sprachige Zeitung in China gegeben (den in Shanghai erscheinenden „Der Ostastiatische Lloyd“), sorgten die Annexion der Bucht von →Kiautschou und der Aufbau der Stadt Tsingtau für schnellen Zuwachs. Bereits ab dem 21.11.1898 erschien „Die Dt.-Asiatische Warte. Wochenblatt des dt. Kiautschou-Gebietes“ im Verlag Picker und Pickardt. Sie erschien wöchentlich und enthielt als Beilagen die „Tsingtauer Verkehrszeitung“ und „Die Welt des Ostens“. Im Juni 1904 stellte sie ihr Erscheinen ein. Die Einstellung der „Dt.-Asiatischen Warte“ war vermutlich mit einer neuen Zeitung, den „Tsingtauer Neuesten Nachrichten“, verknüpft, deren erste Probenummer am 1.10.1904 erschien. Sie war in Gestalt des Hg.s und Redakteurs Carl Fink eng mit dem „Ostasiatischen Lloyd“ verbunden und hielt sich bis zur →Eroberung Kiautschous durch Japan als wichtigste dt. Tageszeitung. Die letzte Nummer erschien im Nov. 1914. Von Jan. 1908 bis Mai 1912 erschien als drittes Presseorgan die „Kiautschou-Post“ als „Unparteiisches Wochenblatt für die dt. Interessen im Fernen Osten“. In Anlehnung an die „Dt.-Asiatische Warte“ hieß ihre Beilage ebenfalls „Die Welt des Ostens“. Entgegen weitergehenden Hoffnungen, mit der Ausbreitung dt. Zeitungen ein Gegengewicht gegen die engl. dominierte ausländische Presse in China schaffen zu können, blieb der Wirkungskreis der Presse in Tsingtau eng begrenzt. Neben Nachrichten aus dt. Tageszeitungen dominierten lokale Meldungen. Nachrichten aus anderen chin. Städten oder Kommentare zur Tagespolitik in China blieben die Ausnahme. Frank Henry Haviland King, A Research Guide to ChinaCoast Newspapers, 1822–1911, Cambridge/Mass. 1965. C O R D EBER SPÄ C H ER
Pretoria in der Gauteng-Provinz Südafrikas wurde 1855 vom Anführer der Voortrekker Marthinus Pretorius gegründet und nach seinem Vater Andries Pretorius benannt. P. wurde am 1.5.1860 Hauptstadt der Südafr. Rep. Während des Ersten →Burenkrieges (1880/81) wurde P. belagert; der Friedensvertrag, der das Kriegsende besiegelte, wurde am 3.8.1881 im Rahmen des →P.-Abkommens unterzeichnet. Im Zweiten Burenkrieg (1899– 1902) mußte die Stadt vor den brit. Truppen kapitulieren, und der Konflikt endete in P. mit der Unterzeichnung des Friedens von Vereeniging (Treaty of Vereeniging) am 31.5.1902. Nach der Bildung der →Südafrikanischen Union 1910 wurde P. sowohl administrative Hauptstadt der Union als auch Hauptstadt der Provinz →Transvaal. Das offizielle Stadtrecht erhielt P. am 14.10.1931, und es ist auch nach 1961, als Südafrika Rep. wurde, bis heute die Verwaltungshauptstadt geblieben. Mit der Erschaffung neuer städtischer Strukturen in Südafrika im Jahr 2000 wurde der Name Tshwane angenommen, der sich auf alle Stadtbezirke (Metropolitan Municipality) bezieht, die P. und die umliegenden Gemeinden mit einschließen. Die Bevölkerung der eigentlichen Stadt zählt ca. eine Mio. Ew., während nahezu zwei Mio. Menschen im gesamten Metropolraum von Tshwane leben. In P. 661
P r e to r i A -Ab k o m m en
werden vorwiegend die Sprachen Nord-Sotho, Tswana, →Afrikaans, →Ndebele und Englisch gesprochen. Der Spitzname der Stadt lautet „Jacaranda City“, da viele Straßen mit Jacaranda-Bäumen gesäumt sind, die im Frühling blühen. Die architektonischen Stilrichtungen in P. reichen von brit. →Kolonialarchitektur über Art Deco bis zu einzigartigen lokalen Bauformen. Hermann Giliomee / Bernard Mbenga, New History of South Africa, Kapstadt 2007. ANNE KI E JOUBE RT Pretoria-Abkommen. 1. Pretoria Convention, 3.8.1881: Abkommen, das den ersten →Burenkrieg von 1880/81 und die brit. „Annexion“ des →Transvaal (ab 1877) formell beendete, indem es die vollständige staatliche Autonomie des Transvaal (vorher Suid Afrikaansche Republiek) anerkannte. Zusammen mit dem Londoner Abkommen von 1884 legte die P.C. die Grenzen des Transvaal fest, bestimmte Verfahren zur Aushandlung von Reparationsansprüchen, schuf eine brit. →Residentur und etablierte eine „Kommission für Eingeborenen-Gebiete“ zur Übergabe von Land, das durch afr. Gemeinschaften (im Namen von Missionaren) gekauft worden war, für die Schaffung von Reservaten. Die letztgenannte Bestimmung wurde durch das Londoner Abkommen von 1884 obsolet, welches das Land an den Inspektor für Eingeborenenfragen (Superintendent of Native Affairs) übertrug. 2. Pretoria Agreement, 18.4.1944: Vereinbarung zur Einsetzung einer aus Weißen und Indern zusammengesetzten Kommission, die in Südafrika die Ausführung des unpopulären Pegging Act von 1943 gestalten sollte, der das Verbot der Eigentumsübertragung von Weißen auf Inder vorsah, was zu Protesten sowohl der in Südafrika lebenden Inder als auch des ind. Hochkommissars (the Indian High Commissioner) geführt hatte. Die Kommission versuchte den Eindruck gleichberechtigter Mitwirkung der Inder zu vermitteln, trieb de facto jedoch die vom Pegging Act intendierte Segregation der Rassen voran. G. W. Eybers, Select Constitutional Documents Illustrating South African History 1795–1910, New York 1969. L. Lloyd, ‚A Family Quarrel‘. The Development of the Dispute over Indians in South Africa, in: Historical Journal 34/3 (1991), 703–725. F RE D MORTON Priester Johannes (auch als Priester-Kg., Presbyter oder nztl.-engl. Prester Johannes bezeichnet). Seit Mitte des 12. Jh.s gab es in Europa Gerüchte über einen mächtigen christl. Priester(kg.), der im Osten erfolgreich gegen den →Islam kämpfte, so finden sich die frühesten Berichte über den P. bei Otto von Freising (Chronica VII 33) und in der Epistola presbiteri Johannis aus dem späten 12. Jh. Der P. wird hier als idealtypischer Herrscher über ein mächtiges, christl. Reich voller Wunder beschrieben. Zuerst wurde dieses Reich, wohl auf Grund von Berichten über nestorianische Christen (→Nestorianer), in →Indien vermutet. Ab dem 13 Jh. wurde der P., vermutlich beeinflußt durch die Berichte über die Mongolen, in Zentralasien lokalisiert und im 15. Jh. sorgten Berichte über christl. Herrscher in →Äthiopien für Spekulationen, daß das Reich des P. in Afrika zu finden sei. Obwohl die Suche nach dem P. erfolglos blieb, war sie doch ein Antrieb 662
für →Expeditionen nach Zentralasien und die Entdeckungsfahrten port. Kapitäne nach Afrika. Ulrich Knefelkamp, Europa auf der Suche nach dem Erzpriester Johannes, Bamberg 1990. Ders., Der Priesterkg. Johannes und sein Reich – Legende oder Realität?, in: Journal of Medieval History 14 (1988), 337–355. JO H A N N ES BER N ER
Protektorat. Völkerrechtlicher, vom lateinischen Verbum protegere (d. h. schützen) abgeleiteter Begriff, der bis in die 2. Hälfte des 19. Jh.s unterschiedlich interpretiert wurde. Frz. Juristen entwickelten im 2. Empire eine Definition, die sich in den folgenden Jahrzehnten allg. durchsetzte. Danach ist ein P. ein teilsouveränes Territorium, dessen auswärtige Vertretung und Landesverteidigung einem anderen Staat vertraglich zusteht. Das P. besitzt nach dieser Rechtsmeinung wie sein Protektor vertragsfähige Subjektivität und steht somit im Gegensatz zu Kolonien oder Überseeterritorien, die als Objekte uneingeschränkter Besitz der jeweiligen Macht sind. Die dt. →Schutzgebiete waren trotz der suggerierenden Ähnlichkeit der Bezeichnung keine P.e, sondern Kolonien, sieht man von den Sultanaten →Ruanda und Urundi in →Dt.-Ostafrika ab. Die nach dem Ersten Weltkrieg durch den →Völkerbund geschaffenen Mandatsgebiete mit A-, B- und C-Status (→Mandatssystem) können nicht als P.e angesehen werden. Die A-Mandate, die zu selbständigen Staaten hingeführt werden sollten, wurden jedoch im Laufe der Entwicklung bis zur Unabhängigkeit P.en immer ähnlicher. B- und C-Mandate erlangten dagegen nie P.seigenschaften. Die →Treuhandgebiete der UN nach dem →Zweiten Weltkrieg und die Gebiete, die in den letzten Jahrzehnten unter die Souveränität internationaler Organisationen kamen, wie z. B. Bosnien, sind völkerrechtlich als P.e zu werten. Für letztere hat sich die Bezeichnung „Internationale P.e“ durchgesetzt. G ERH A R D H U TZLER
Protestantische Mission in Nordamerika, 17.–18. Jahrhundert. Erste Forderungen nach einer aktiven Mission der Indianer wurden in Virginia um 1620 und in Neuengland trotz der Warnungen des prominenten engl. Theologen Joseph Mede (1586–1638), die Indianer seien „the devil’s chosen people“, nur wenig später erhoben. In Virginia schuf dazu →Pocahontas, die Tochter von Häuptling Powhatan, wichtige Voraussetzungen. Die Häuptlingstochter wurde von dem Sekretär der Virginia Company, John Rolfe, 1614 geehelicht. Rolfes Pläne zur Gründung einer Schule für indianische Kinder starben im Chaos und Schrecken des ersten „Indian Massacre“ (→Massaker) von 1622. In Neuengland bestärkten 1635 die Grausamkeiten im Pequot War die Ansicht von Joseph Mede. Ernsthafte Anstrengungen zur Indianermission kamen erst nach 1640 mit der wiederaufkeimenden Hoffnung auf das baldige Kommen des Tausendjährigen Reiches zu Stande. Letztlich sollten diese Bemühungen, die mit den Namen von John Cotton (1585–1652), Thomas Mayhew Jr. (1620–1657) und John →Eliot (c.1604–1690) verbunden sind, nicht weiter als zur Ansiedlung von bekehrten Indianern in separaten Dörfern führen. Die „Praying Indians“ in Massachusetts, die von
P ro tes tAn ti s ch e m i s s i o n s g es ells chA f ten
der Obrigkeit streng überwacht wurden im Unterschied zu den bekehrten Wampanoag-Gemeinden auf Martha’s Vineyard, gerieten in King Philipps War 1675/76 zwischen alle Fronten und führten bis weit ins 18. Jh. hinein ein Leben als billige Arbeitskräfte und halbzivilisierte Wilde, die streng kontrolliert werden mußten. Aus ihnen ragte der eine oder andere nur deshalb heraus, weil er das Glück hatte, nach 1750 in Eleazar Wheelocks „Indian College“ so viel an theologischer Bildung mitzubekommen, daß er wie die Mohegan Samson Occom (1723– 1792) und Joseph Johnson selbst als Missionar wirken konnte. Erst die erneuerte Unitas Fratrum (→Herrnhuter Brüder-Unität) brachte nach 1740 neue Ansätze und Missionskonzepte nach Nordamerika – einiges davon war von David Brainerd (1718–1747), kongregationalistischer Theologe und Schwiegersohn von Jonathan Edwards, schon antizipiert worden. Missionsstationen in Checomeco (eigentlich Shekomeko, New York) und Wechquetank (in Polk Township, Pennsylvania), dann die Mission bei den Delaware unter der Leitung von David →Zeisberger (1721–1808) im Gebiet des späteren Staates Ohio, standen für eine Missionsauffassung, in der der Missionar nicht als Amtsperson, sondern als Prediger bei den „Wilden“ wohnte, mit ihnen gemeinsam lebte, arbeitete, litt und vielleicht irgendwann die Früchte seiner Arbeit genoß. S. a. →Anglo-amerikanische Protestantische Missionsgesellschaften. Kristina Bross, Dry Bones and Indian Sermons, Ithaca 2004. Hans-Dieter Metzger, Heiden, Juden oder Teufel?, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (2001), 118–148. David J. Silverman, Faith and Boundaries, Cambridge, 2005. HE RMANN WE L L E NRE UT HE R Protestantische Missionsgesellschaften. Der Missionsgedanke spielte im Protestantismus schon früh eine wichtige Rolle. Mit der Gründung der ersten überseeischen Handelsstützpunkte und Siedlungen gingen sogleich Bestrebungen einher, bei den autochthonen Gesellschaften, die man dort antraf, den protestantischen Glauben zu verbreiten. Zu den frühesten Beispielen für protestantische Missionsinitiativen in der außereuropäischen Welt zählen die englischen Versuche in Neuengland und Virginia sowie die ndl. Bemühungen in Taiwan und →Brasilien im 17. Jh. Im 17. und 18. Jh. betätigten sich verschiedene protestantische Konfessionen mehr oder weniger engagiert in der sogenannten „Heidenmission“. So entsandte beispielsweise die Herrnhuter Brüdergemeine in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s immer wieder Mitglieder zu den nordam. Delaware-Indianern. Ein wichtiges protestantisches Missionsprojekt des frühen 18. Jh.s zur Entsendung von Geistlichen nach Südindien war die sogenannte „Tranquebar-Mission“, die vom dänischen König Friedrich IV. initiiert und von der Londoner „Society for Promoting Christian Knowledge“ und den Einrichtungen August Hermann Franckes in Halle finanziell und personell getragen wurde. Bei diesen frühen protestantischen Missionsbestrebungen handelte es sich zunächst um unkoordinierte, vereinzelte Unternehmungen. In der Mitte des 17. Jh.s begannen dann die ersten Initiativen, die „Heidenmission“ in Gesellschaften zu organisieren und damit zu verstetigen. Eine Vorrei-
terrolle kam der 1649 gegründeten nonkonformistischen „New England Company“ zu, die die Indianermission in Neuengland voranbringen sollte. 1701 wurde die anglikanische „Society for the Propagation of the Gospel“ ins Leben gerufen. Neben der Seelsorge für die brit. Siedler definierten die Mitglieder der „Society for the Propagation of the Gospel“ auch die Konversion der „Heiden“, also der afro-am. Sklaven und der Native Americans, als wichtige Aufgabe. 1709 folgte die Gründung der presbyterianischen „Society in Scotland for Propagating Christian Knowledge“, die sich die Verbreitung des Protestantismus unter den Bewohnern der schottischen Highlands und die Bekehrung der nordamerikanischen Indianer zum Ziel gesetzt hatte. Ihre eigentliche Blütezeit erlebten die p.n M. im 19. Jh. Um 1800 wurde das protestantische Europa sowie der nordatlantische Raum von einer großen Erweckungsbewegung ergriffen. In diesem Kontext erlebte der Missionsgedanke einen gewaltigen Aufschwung. Es wurde eine große Zahl an Missionsgesellschaften gegründet. Auf brit. Seite, um nur einige wichtige Beispiele aus der Vielzahl von Neugründungen zu nennen, wurden die „Church Missionary Society“, die „London Missionary Society“ und die „Baptist Missionary Society“ eingerichtet. Im deutschen Sprachraum formierte sich die →Basler Mission, die →Berliner Missionsgesellschaft und etwas später die →Rheinische Missionsgesellschaft und die →Norddeutsche Mission. In Nordamerika baute man das „American Board of Commissioners for Foreign Missions“ auf. Die M., die aus der Gründungswelle des frühen 19. Jh.s hervorgingen, entsandten im Laufe des 19. Jh.s Zehntausende von Missionaren in alle Teile der außereuropäischen Welt. Die auf globaler Ebene organisierten Gesellschaften waren geprägt von der Diskrepanz zwischen dem klar vorgegebenen, institutionalisierten Ziel der Durchsetzung des protestantischen Glaubens in aller Welt und den Schwierigkeiten, diese Vorgabe im jeweiligen außereuropäischen Wirkungsfeld umzusetzen. Sehr kompliziert gestaltete sich das Verhältnis der p.n M. zu den kolonialen Interessen der europäischen Großmächte. Einerseits bewegten sich die M. in engem, manchmal symbiotischen Zusammenhang mit der Kolonialexpansion. Sie nutzten die administrativen Infrastrukturen, die sich ihnen in den Kolonialreichen zur Verfügung stellten und bemühten sich, neben dem protestantischen Glauben auch europäische Normen und Wertvorstellungen bei den nicht-christlichen Gesellschaften in den Kolonien durchzusetzen. Andererseits griffe es zu kurz, die Mitglieder der p.n M. als vorbehaltlose Erfüllungsgehilfen eines Kulturimperialismus oder als aggressive Vorkämpfer einer Zivilisierungsmission zu betrachten. Nicht selten übten protestantische Missionare Kritik an der imperialen Machtpolitik. Ihre eigenen Interessen standen häufig im Widerspruch zu den wirtschaftlichen oder militärischen Zielen europäischer Kolonialexpansion. Auch die enge internationale Vernetzung der p.n M. und die Aktivitäten jenseits der räumlichen und zeitlichen Grenzen der großen Kolonialreiche weisen auf eine gewisse Eigenständigkeit der Missionsgesellschaften im Verhältnis zur Kolonialexpansion hin. 663
P r ot e s tA nt i s m u s i n l Atei n Am er i k A , 1 9 . u n d 2 0 . j Ah rh u n d ert
Thoralf Klein, Wozu erforscht man Missionsgesellschaften? Eine Antwort am Beispiel der Basler Mission in China, 1860–1930, in: JbEÜG 5 (2005), 73–99. Andrew Porter, Religion versus empire? British Protestant Missionaries and Overseas Expansion, 1700–1914, Manchester/New York 2004. UL RI KE KI RCHBE RGE R Protestantismus in Lateinamerika, 19. und 20. Jahrhundert. Seit dem 19. Jh. nimmt der P. Einfluß auf die Gesellschaften L.s. Aktuell bewegt sich der protestantische (vorwiegend pfingstkirchliche) Bevölkerungsanteil in →Guatemala und →Brasilien zwischen 25 % und 30 %; in →Kolumbien oder →Venezuela freilich nur bei ca. 6 %. Die starke Gesamtzunahme wie auch die Differenzen erklären sich aus den unterschiedlichen nationalen Kontexten, mit denen es eine zunächst weitgehend homogene protestantische Mission – die Einwanderung ist weniger bedeutsam – zu tun bekam. Im 19. Jh. gliederte sich die protestantische Mission in die nachkolonialen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen ein. Nach den weitgehend unwirksamen Mühen einiger Bibelkolporteure im 18. und frühen 19. Jh. traten die ersten Missionen des Historischen P. aus den →USA im mittleren 19. Jh. ihre Arbeit an (Presbyterianer: 1823 →Argentinien, 1856 Kolumbien, 1859 Brasilien, 1882 Guatemala; Methodisten: 1836 Argentinien; Episkopale: Brasilien 1889). Während die Konservativen mit der rk. Hierarchie paktierten, bot sich die protestantische Mission als ein religiöser Partner für Liberale an. Die USProtestanten waren selbst eher liberal; zudem füllten sie sozio-religiöse Legitimationsdefizite und stellten alternative Institutionen für Erziehung, Heirat, Krankenpflege, Beisetzung usw. Damit gewannen sie – wenngleich nur in der liberalen Mittel- und Oberschicht etabliert – unmittelbaren politischen Einfluß auf nationalem Niveau. Die ethnisch orientierten Missions- (→Herrnhuter Brüder-Unität in Nicaragua, 1849) oder Immigrantenkirchen (Lutheraner in Brasilien 1837, Argentinien 1843) blieben in ihrer unmittelbaren Wirkung auf die jeweiligen ethnischen Gruppen (Mískitu, Deutsche) beschränkt und wirken lediglich indirekt über die ethnischen Gruppen auf politische Prozesse. Im späten 19. Jh. entwickeln sich – mit der Konsolidierung der Nationalstaaten und innenpolitischen Verhältnisse sowie der Differenzierung des Verhältnisses zwischen der rk. Kirche und den Staaten – Position und Einfluß der protestantischen Missionen und Gemeinden in Entsprechung zum Erfolg der Liberalen: gut etwa in Guatemala, sehr eingeschränkt in Kolumbien. Mit den hemisphärischen Herrschaftsansprüchen der USA (→Monroe-Doktrin) und zunehmendem Handel mit Lateinamerika im Laufe des 19. Jh.s begann auch im P. eine professionalisierte Transnationalisierung des Religions- und Kulturmodells. L. wurde nun auch für die Evangelikale Bewegung in den USA zum Missionsgebiet. Es begannen erste sog. Faith Missions als freie Unternehmen zu arbeiten (Salvation Army, 1889 Argentinien; Central American Mission 1900 in Guatemala; YMCA, 1901 Argentinien). Auf der ersten großen lateinam. Missionskonferenz (→Panama 1916) wurde die panam. Perspektive dieser Aktivitäten bestätigt und der Kontinent unter verschiedenen Denominationen und 664
Faith Missions aufgeteilt. Gleichwohl wurde die kulturprotestantische Prägung der älteren Mission durch den evangelikalen Akzent auf Bekehrung zur geistlichen Rettung im Laufe der Zeit konterkariert. Die evangelikalen Missionen (→Chile 1897 Christian and Missionary Alliance; Guatemala 1912 Prim