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German Pages 370 Year 2018
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Maik Philipp
Lesekompetenz bei multiplen Texten
Grundlagen, Prozesse, Didaktik
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Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld
Prof. Dr. Maik Philipp lehrt Deutschdidaktik mit dem Schwerpunkt Schreibförderung an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
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Maik Philipp
Lesekompetenz bei multiplen Texten
Grundlagen, Prozesse, Didaktik
A. Francke Verlag Tübingen
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Umschlagabbildung: „Book and Laptop with E-Learning Icons, Education & Study“ by muchmania © Adobe Stock 2018 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke.de E-Mail: [email protected] Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany utb-Nr. 4987 ISBN 978-3-8385-4987-3
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Inhalt
Inhalt 1 Einleitung: Text ⨉ Text ⨉ Text ⨉ … – multiple Texte / Dokumente lesen und verstehen
......... 9 1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags . . . . . . . . . 10 1.1.2 Ein konkretes Beispiel zur Lektüre multipler Texte – oder: Wofür gibt es Schule? . . . . . . . . . 12 1.1.3 Einige wichtige empirische Befunde zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.1 Etwas Einführendes zu den namensgebenden Begrifflichkeiten des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.2 Ein Gang durch die Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2.3 Einige Gebrauchshinweise für einen optimalen Nutzen des Bandes, bevor es in medias res geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2 Theoretische Grundlagen zum Verstehen und Verwenden multipler Texte / Dokumente . . . .
........... 2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl . . 2.1.1 Zur Evolution von GrundlagenModellen – ein allgemeiner Überblick . . . . . . . 2.1.2 Ein vertiefender Überblick über die drei in diesem Band konsultierten Modelle . . . . . . . 2.2 Zwei relevante Vorläufermodelle: das Dokumentenmodell und das MD-TRACE-Modell . . . 2.2.1 Multiple Dokumente / Texte verstehen: das Dokumentenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Multiple Texte / Dokumente selektiv und zielbezogen lesen: das MD-TRACE-Modell . . .
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Inhalt
2.3 Ein aktuelles Modell für das zielbezogene, problemlösende Verwenden multipler Texte / Dokumente: RESOLV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.3.1 Sechs Basisannahmen des RESOLV-Modells . . 74 2.3.2 Das RESOLV-Modell im Überblick . . . . . . . . . . 79 2.3.3 Drei wichtige Bestandteile von RESOLV im Überblick: Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell am konkreten (schulischen) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3 Empirische Befunde aus der Grundlagenforschung zum Vorgehen beim Finden, Lesen und Nutzen multipler Texte / Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 107
3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Lesestrategien im verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten und Hypertexten – ein erster Überblick . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Lesestrategien im Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten – ein erstes Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Hypertexte finden, lesen und nutzen – ein zweites Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Wenn man liest, um zu schreiben . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Zur Einbettung von Schreib- in Leseprozesse 3.2.2 Ein genauerer (quantitativer) Blick auf die eigenen Hilfs- und Zwischentexte: Notizen . . 3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Vergleich von unterschiedlich kompetenten bzw. leistungsstarken Personen im Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.3.2 Muster beim Vorgehen – zu Typologien im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Prozesse und Produkte – gehört zusammen, was zusammengehört? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Zum Abschluss: Wenn es nicht so leicht ist, Zusammenhänge zwischen Prozessdaten und Produktmaßen zu finden . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 In- und externe Einflussfaktoren des glückenden Umgangs mit multiplen Texten / Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person . 4.1.1 Epistemische Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Lesefähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person . . . . . . . . . 4.2.1 Verwendete Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Aufgabenstellungen (nebst Hilfestellungen) . 4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Förderung des Verstehens und der kompetenten Nutzung multipler Texte / Dokumente – 15 finale evidenzbasierte Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen zur Orientierungsstiftung in einem unübersichtlichen Terrain . . . . . . 258 5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 5.2.1 Fokus 1: Die Organisation und Struktur der Informationen in den Bezugstexten erkennen und nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
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Inhalt
5.2.2 Fokus 2: Den Umgang mit Quelleninformationen für den Aufbau von Intertextmodellen schulen . . . . . . . . . . . . 5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben – wenn Lese- und Schreibstrategien interagieren . . . . 5.3.1 Beispiel 9: Historische Primärtexte lesen, mittels Fragen analysieren, mit anderen darüber diskutieren und dann selbst eine Argumentation schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Beispiel 10: Themen in eigenen Texten miteinander vergleichen lernen . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Beispiel 11: Argumentationen zu kontroversen Themen in kooperativen Schreibsettings synthetisieren lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Beispiel 12: Farbbasiert zu Synthesen verschiedener Textinhalte (für eigene Forschungssynthesen) gelangen . . . . . . . . . . . 5.4 Fokus 4: Der entlastende Einsatz von Apps bei der Anwendung von Lese- und Schreibstrategien . . . . . 5.4.1 Beispiel 13: Sourcer’s Apprentice – ein virtuelles Bücherregal mit Mehrwert . . . . 5.4.2 Beispiel 14: Met.a.ware – Texte aufbereiten und beurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Beispiel 15: Escribo – Schreibprozesse portionieren und entlasten . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Literatur
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1 Einleitung: Text ⨉ Text ⨉ Text ⨉ … – multiple Texte / Dokumente lesen und verstehen Hallo. Jemand da?
Ja. Die WhatsThat-Box. Die erklärt an jedem Kapitelanfang, worum es geht.
Verstehe. Und wozu?
Überblick verschaffen. Relevantes erkennen. Leseentscheidungen vereinfachen. So in etwa.
Hier in Kapitel 1 geht es übrigens um Grundsätzliches. Warm werden mit dem Gegenstand. Begrifflichkeiten. Orientierung.
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1 Einleitung
Wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen bzw. es auf einem Display vor sich haben, haben Sie sich vermutlich schon zuvor mit mehreren bzw. multiplen Texten auseinandergesetzt, z. B. mit den Rechercheergebnissen in Datenbanken wie Suchmaschinen, Bibliothekskatalogen oder Buchhandel-Plattformen, möglicherweise als einem Eintrag auf der Liste der Seminarliteratur oder einer Kurzbeschreibung in einer Neuerscheinungsliste. Sie werden abgewogen haben, ob dieses Buch zu Ihrem Leseziel passt (zumindest für den Moment), ob Sie dessen Verfasser so weit trauen, dass Sie Lebens- und Lesezeit investieren, und Sie werden – das hoffen im hochschulischen Kontext zumindest Ihre Dozentin, ihr Dozent und / oder die Personen, mit denen Sie das Buch nutzen – die Inhalte dieses Buches mit dem gedanklich verknüpfen, was Sie wissen und was in anderen Texten steht. Sie werden also den einen oder anderen begründeten Anlass haben, sich mit dem Thema Lesekompetenz bei multiplen Texten auseinanderzusetzen. Warum sich die Beschäftigung mit der Thematik lohnt und was Sie in diesem Buch erwartet, erfahren Sie in diesem einleitenden Kapitel.
1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags 1.1.1 Zu den Zielen dieses Bandes
Warum lohnt es sich ganz grundsätzlich, sich mit dem Lesen multipler Texte zu befassen? Dass diese Thematik der Beschäftigung wert ist, hat gleich mehrere gute bildungswissenschaftliche Gründe – vor allem den, dass die Thematik Lesekompetenz im Umgang mit multiplen Texten gerade beginnt, im nationalen wie internationalen Kontext stark an Bedeutsamkeit und Wichtigkeit zu gewinnen. Dafür lassen sich mindestens drei Indikatoren anführen:
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1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags
1. Wendet man zuerst die Aufmerksamkeit dem internationalen Parkett zu, so lässt sich dort eine Intensivierung der Forschungs- und Theoriearbeit attestieren. Im Sommer 2017 hat beispielsweise die renommierte Zeitschrift Educational Psychologist ein Themenheft zur Theorieentwicklung beim Lesen multipler Texte vorgelegt (s. dazu den Überblicksbeitrag von List und Alexander, 2017a; eine (auch für diesen Band) wichtige Theorieskizze daraus ist unlängst als Buch erschienen: Britt, Rouet & Durik, 2017). In diesem Jahr wurde mit dem Handbook of Multiple Source Use (Braasch, Bråten & McCrudden, 2018a) ein weiteres wichtiges Grundlagenkompendium veröffentlicht. 2. Auch nationale bzw. deutschsprachige Publikationen widmen sich verstärkt dieser Thematik (Philipp, 2015b; Richter & Maier, im Druck; Stadtler, Bromme & Rouet, 2014). Unlängst hat etwa das verstehende Lesen multipler Texte mehr Zuwendung im Zuge der Debatte um das materialgestützte Schreiben in der deutschdidaktischen Forschung erfahren (s. dazu die Debattenbeiträge in den Ausgaben Nr. 42 und 43 der Didaktik Deutsch). In Buchpublikationen zum materialgestützten Schreiben (etwa Feilke et al., 2016, oder Philipp, 2017b) kommt die gebührende Würdigung der Komplexität dessen, was während des (aufgabenbasierten) Lesens multipler Texte als Grundlage des Schreibens eines eigenen Sachtextes geschieht, aber noch recht kurz. Das gilt übrigens auch für die Ratgeberliteratur zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Hochschule, in der das kompetente Lesen multipler Texte immer noch einen blinden Fleck bildet. 3. Schließlich ist auch aus einem anderen, eher politisch zu nennenden Grund das Thema Lesen und Verstehen mehrerer Texte aktueller denn je. In Zeiten, in denen zum einen Schlagwörter wie „alternative Fakten“, „Fake News“ und „postfaktisch“ Teile des medialen Diskurses bestimmen und
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1 Einleitung
in denen zum anderen die digitalen Medien einen technisch nahezu ungefilterten Zugriff zu vielen Quellen unterschiedlichster Provenienz erlauben, gilt es, die eigene Mündigkeit als gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt durch kritischreflexive Teilhabe an der Medienkultur mitsamt ihren unterschiedlichen Angeboten aktiv und verantwortungsvoll zu sichern (Hurrelmann, 2002). Aus verschiedenen Gründen lohnt sich also ein genauer und systematischer Blick auf die Thematik, wie Personen kompetent mit multiplen Texten umgehen und was sie dabei leisten (müssen), was ihre Verstehensleistungen beeinflusst und wie sich die komplexen Fähigkeiten im kompetenten Umgang fördern lassen. In dieser Aufzählung sind die wesentlichen Stationen und Ziele dieses Buches bereits angeführt, die sich auch in seinem Aufbau niederschlagen (s. dazu Teilkap. 1.2.2): Es geht darum, einen Überblick über verschiedene Bereiche eines weiten Feldes zu gewinnen. Dieser Überblick erstreckt sich zum einen auf theoretische Grundlagen (in Kap. 2) und zum anderen auf Befunde aus der Grundlagenforschung (Kap. 3 und 4) zu Prozessen und Determinanten des glückenden Umgangs mit multiplen Texten sowie – ganz am Ende des Bandes (in Kap. 5) – auf die angewandte Forschung zur erfolgreichen Lese- und Schreibförderung. 1.1.2 Ein konkretes Beispiel zur (durch Schreiben verarbeitenden) Lektüre multipler Texte – oder: Wofür gibt es Schule?
Bevor es in diesem Buch bereits um konkrete wissenschaftliche Inhalte geht, soll ein kleiner Selbstversuch am Anfang stehen. Dabei handelt es sich um einen hochschulnahen Auftrag, den Studierende aus Frankreich in einer Studie handschriftlich bearbeiteten und dafür – ohne dass es eine Zeitvorgabe gab – durch-
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1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags
schnittlich 40 Minuten benötigten (Escorcia et al., 2017).*1 Bitte absolvieren Sie diesen im nachstehenden Kasten befindlichen Auftrag und beobachten Sie dabei Ihre Vorgehensweise möglichst genau (indem Sie etwa kurz notieren, wie Sie vorgegangen sind). Achten Sie dabei genau darauf, inwiefern Sie die Texte wie lesen, wie die Inhalte des entstehenden Textes planen oder verändern und wie Sie die Inhalte der beiden Bezugstexte wiedergeben. Ein Arbeitsauftrag zur Lektüre zweier Texte und die beiden Originaltexte Arbeitsauftrag Bitte schreiben Sie eine Synthese der beiden unteren Texte, welche die geäußerten Standpunkte von F. Mole und M. Crahay berücksichtigt, um diese Frage zu beantworten: „Wofür gibt es die Schule, und was sind ihre Ziele? Erklären Sie ihre Funktion.“ Ihr Text sollte 30 Zeilen umfassen. Stellen Sie sicher, dass die folgenden wichtigen Anforderungen erfüllt werden: Ihre Synthese muss lesbar sein, und Sie müssen gute Sätze konstruieren, korrekte Grammatik und Rechtschreibung verwenden und Abkürzungen vermeiden. Text 1 Mole, F. (2013). Die einzelne Schule: kollektive oder individuelle Emanzipation? Von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er. La Télémaque, 103 – 104.
1
Da der Forschungsstand zum Thema Lesen und Verstehen von multiplen Texten / Dokumenten deutlich von Studien mit Erwachsenen dominiert wird, die aus einer Entwicklungsperspektive andere Voraussetzungen mit sich bringen als Schülerinnen und Schüler (Paris, 2005), sind Untersuchungen nur bzw. überwiegend mit Erwachsenen – in der Mehrzahl Studierende – der Transparenz und Übersichtlichkeit halber in diesem Buch mit einem * gekennzeichnet.
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1 Einleitung
„Emanzipation durch Schule.“ Zusätzlich zu seiner intellektuellen Bedeutung hat dieser Ausdruck eine soziale Bedeutung, die man entweder aus einer kollektiven Perspektive oder von einem persönlichen Standpunkt verstehen kann. Gemäß der kollektiven Perspektive sollte Schule junge Menschen ermutigen, alle charakterlichen Züge der Unterordnung zu verbannen, um politisch autonomer zu werden. Gemäß dem individuellen Standpunkt gibt Schule den Individuen eine Möglichkeit, um sich von ihrem sozialen Hintergrund zu befreien. Es gibt zwei verschiedene französische republikanische Sichtweisen der Bildung: 1)
2)
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Schule muss die Bedingungen schaffen, die man benötigt, um politische und soziale Demokratie zu fördern, indem man die intellektuellen Ressourcen der Menschen entwickelt. Letztgenannte werden als kollektives, beherrschtes Gebilde betrachtet, das frei von jeder Art von Autorität ist und seine Souveränität ausübt. Ein Jahrhundert nach Concordet sagte Jaurès2, dass Bildung es Individuen zu agieren erlaubt, eine bessere Republik und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Schulen müssen Individuen auswählen, die fähig sind, menschliche Belange in einer Gesellschaft zu behandeln, in der Funktionen und Status nicht das Ergebnis von Zufall sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben Reformatoren die Grenzen kritisiert, die zwischen verschiedenen Kontex-
Concordet schlug vor, durch allgemeine Bildung den Menschen die Hilfsmittel zu geben, um „eine perfektere Verfassung zu erhalten“, und Jaurès behauptete, dass der „Sozialismus eine Konsequenz der sukzessiven Bürgerrechte zu sein scheint“ (Der sozialistische Staat und Funktionäre, La Revue Socialiste, 21, 124, April 1985, S. 387 – 388).
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1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags
ten bestehen, und für eine stärker vereinte Art der Bildung plädiert, indem man die Gemeinschaft erweitert, aus der die Mitglieder der Elite rekrutiert werden und das Land sein Humankapital3 entwickelt, und gleichzeitig alle Individuen gerecht behandelt. Text 2 Crahay, M. (2000). Können Schulen fair und effizient sein? Von der Chancengleichheit zur Gleichheit der Ergebnisse. Brüssel: De Boeck & Larcier. Gemäß Dubet und Martuchelli (1996) haben alle Schulsysteme drei wichtige Funktionen zu erfüllen und können danach definiert werden, wie sie Funktionen hierarchisieren und artikulieren. Die erste Funktion – Bildung – ist verbunden mit den persönlichen Projekten der Schüler, die, insofern sie zur Reflexion fähig sind, diese Projekte selbst regulieren und bestimmen, indem sie Situationen, in denen sie sich befinden, rational analysieren. Durkheim (1990) hat speziell diese Dimension hervorgehoben, indem er daran erinnerte, dass Schulen das Produkt eines christlichen Projekts sind, Individuen in ein anderes Leben zu überführen. Die zweite Funktion ist Sozialisation. Schulen sollten das Aufkommen von Individuen fördern, die an die Gesellschaft angepasst sind. Für dieses Ziel müssen Schulen die Normen, Gewohnheiten, Wissensbestände und Werte integrieren, die von der sozialen Gruppe geschätzt wird, in der diese Individuen Mitglieder werden sollen.
3
F. Buisson, L. Gérard-Varet, J. Bouveri, Gesetzentwurf zu den gleichen Rechten in der Bildung für Kinder, Frankreich: Repräsentantenhaus, 9. Legislatur, Sitzung von 1910, Nr. 3265), S. 8.
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1 Einleitung
Die dritte Funktion ist Verteilung. Dies „betrifft die Rollen, die die Schule gemäß den Qualifikationen erfüllt, die vor dem Hintergrund des Faktes einen sozialen Nutzen haben, dass bestimmte Jobs, Positionen und Status das Vorrecht der Akademiker sind. Die Schule verteilt Güter, die einen bestimmten Wert in den Arbeitsmärkten und der sozialen Hierarchie haben“ (Dubet und Martucelli, 1996, S. 23). (Quelle von Arbeitsauftrag und Texten: Escorcia et al., 2017, S. 269 f., Hervorh. im Orig.; Fußnoten 2 und 3 stammen ebenfalls aus dem Orig.)
1.1.3 Einige wichtige empirische Befunde zu Beginn
Hat Ihnen das Schreiben Schwierigkeiten oder Freude bereitet? Wie sind Sie vorgegangen? Wo haben Sie möglicherweise Schwerpunkte festgestellt? Wir kommen gleich auf diese Fragen zurück, wenn es um drei Gruppen geht, die in der Originalstudie hinsichtlich ihres Lese- und Schreibprozederes vorgefunden wurden. In der besagten Studie aus dem Teilkapitel zuvor wurden fast zwei Dutzend Studierende gebeten, den Arbeitsauftrag aus dem Kasten mit den beiden Bezugstexten zu den konfligierenden Aufgaben der Schule zu bearbeiten. Dabei wurden sie gefilmt und verbalisierten in regelmäßigen Abständen ihre Vorgehensweisen (sog. „lautes Denken“). Die Beobachtungs- und verbalen Daten wurden im Anschluss statistisch ausgewertet. Aus der Fülle der Befunde – zum Beispiel, dass sich die größten Unterschiede zwischen den Personen vor allem in der Phase des Schreibens ergaben – sei einer besonders hervorgehoben: eine Typologie beim Vorgehen. Es gab nämlich drei verschiedene Gruppen mit je spezifischem Profil beim schreibenden Verarbeiten der beiden Texte (Escorcia et al., 2017*), denen Sie sich selbst eventuell anhand Ihres eigenen Vorgehens zuordnen können:
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1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags
1. Die präzis Transkribierenden. Typisch für diese erste Gruppe war, dass die Studierenden durchgängig vor dem Schreiben und während des Textverfassens Bezug auf die Texte nahmen, um die dort enthaltenen Ideen möglichst präzise in eigenen Worten wiederzugeben. Die Studierenden lasen also nicht nur relativ viel, sondern taten es außerdem durchgängig. Typisch war ferner, dass sie vor dem Schreiben viele Notizen anfertigten und ihre Entwürfe häufig prüfend lasen. 2. Die aktiv Revidierenden. Diese Gruppe las nicht wie die Gruppe zuvor bis zum Schluss die Bezugstexte, sondern vor allem vor dem Schreiben. Dafür waren sie auffällig engagiert darin, ihre entstehenden Texte aktiv zu lesen und zu modifizieren (revidieren). Ihr Schreiben wies – anders als bei der Gruppe zuvor – eine Vorgehensweise auf, bei der aus eigenen Überlegungen die Textinhalte sukzessive elaboriert (also inhaltlich angereichert) wurden. 3. Die spontan Schreibenden. Diese zahlenmäßig größte Gruppe war im Vergleich mit den beiden anderen Gruppen insofern auffällig, als sie bei allen analysierten Aktivitäten die geringsten Häufigkeiten aufwiesen. Sie lasen also am wenigsten und planten und revidierten aus externer Sicht seltener. Anders als die beiden anderen Gruppen wirkte ihr Vorgehen weniger strategisch geplant, sondern insgesamt eher spontan. Die drei Gruppen wiesen insgesamt also markante Profile in der jeweiligen Aufgabenbearbeitung auf: 1. Gruppe 1 war sehr planerisch und nutzte das Lesen intensiv für den entstehenden Text. 2. Gruppe 2 war demgegenüber sehr flexibel beim Schreiben und reparierte den entstehenden Text im Schreibprozess. 3. Gruppe 3 hingegen schien besonders kognitiv kostensparend vorzugehen.
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1 Einleitung
Damit ist ein erstes wichtiges Ergebnis: Es gibt keine Standardverfahren, sondern unterschiedliche Herangehensweisen. Nicht nur bei den Prozessen ergaben sich Differenzen zwischen den Gruppen, sondern auch bei den in mehreren Kriterien untersuchten Textprodukten (s. Abbildung 1). Bezogen auf die entstandenen Texte unterschieden sich die drei Gruppen, wenn auch nicht durchgängig statistisch signifikant. Gruppe 1 und 2 schrieben besser strukturierte und kohärentere Texte, in denen sie die gelesenen Inhalte besser miteinander verglichen. Dafür wählten die Mitglieder der Gruppe 3 relevantere Informationen aus, waren bei den Formulierungen besser und hatten im Vergleich mit Gruppe 1 bessere Werte in der Orthografie und Grammatik, die denen der Gruppe 2 ähnelten. In diesen differenzierten Befunden zeigt sich, dass die Gruppen 1 und 2 in einzelnen Dimensionen der Textprodukte im Vorteil waren (und sich diese beiden Gruppen eher ähnelten). Dafür waren sie der Gruppe 3 zum Teil unterlegen.
Textstruktur
Kohärenz
Relevanz des Inhalts
(1) Präzis Transkribierende
Vergleich des Inhalts
Qualitität der Formulierungen
(2) Aktiv Revidierende
Orthografie
Grammatik
(3) Spontan Schreibende
Abbildung 1: Profile der drei Gruppen bei sieben textbezogenen Variablen (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Escorcia et al., 2017, S. 263*)
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
Stellvertretend für diverse andere Studien lässt sich an der exemplarischen Untersuchung aus Frankreich illustrieren, dass erstens mehrere Vorgehensweisen beim Lesen von (und Schreiben über) mehr als einem Text zu mehr oder minder geglückten Analyseprodukten führen. Zweitens muss man differenzieren, wenn man die Qualitäten der derlei entstandenen Texte betrachtet. Drittens zeigt sich in der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von 40 Minuten der beiden Texte mit einem Gesamttextumfang von im Original 550 Wörtern, dass solche Aufgaben, in denen Lesen und Schreiben im akademischen Kontext interagieren, anscheinend hochanspruchsvoll sind, wenn sie so viel Zeit beanspruchen. Und viertens – und zumindest an dieser Stelle: letztens – deutet sich an, dass die (im Schreiben endende) Lektüre von mehr als einem Text anscheinend ausgesprochen dynamisch verläuft. Und genau um diesen letzten Punkt geht es in diesem Buch.
1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches In diesem Buch ist das Konzept des kompetenten Lesens multipler Texte der Hauptgegenstand. Um dieses Konzept gleich zu Beginn stärker zu schärfen, werden seine zwei Bestandteile – Lesekompetenz zum einen und multiple Texte zum anderen – im Teilkapitel 1.2.1 in aller gebotenen Kürze definiert. Im Anschluss fasst das Teilkapitel 1.2.2 vorgängig zusammen, worum es in den vier Hauptkapiteln des Buches geht. 1.2.1 Etwas Einführendes zu den namensgebenden Begrifflichkeiten des Bandes
Im Namen dieses Bandes sind zwei Begrifflichkeiten miteinander verbunden, die in dieser Kombination bislang noch eher selten anzutreffen sind: „Lesekompetenz“ und „multiple Texte“.
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1 Einleitung
Das Zusammenführen beider Begriffe ist daher nicht selbstverständlich und sollte erläutert werden. Das gilt auf der einen Seite, weil multiple Texte als Ausgangspunkt des Lesens noch einen recht neuen Gegenstand der zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung bilden. Auf der anderen Seite ist das Konzept der Lesekompetenz im Licht der zunehmenden Bildungsforschung sehr prominent geworden und wird als Begriff zudem unterschiedlich verwendet. Deshalb wird an dieser Stelle knapp der kognitive Kern der Lesekompetenz mit dem alles andere als einheitlichen Lesematerial der Texte (bzw. im Weiteren auch Dokumente) verknüpft. Dies erfolgt in zwei Schritten, nämlich zunächst für die Lesekompetenz und dann für die multiplen Texte. 1.2.1.1 Lesekompetenz
Mit dem Aufkommen von großen Schulleistungsstudien und dem dort prominent verankerten und umfassend getesteten Konstrukt Lesekompetenz ist dieser Begriff in breiter, mitunter babylonisch anmutender Verwendung wie der Terminus „Kompetenz“ allgemein (Grabowski, 2014). Lesekompetenz basiert auf dem Leseverständnis, also jener Fähigkeit, aus Texten Inhalte und Bedeutung unter Zuhilfenahme diverser Teilprozesse aktiv zu rekonstruieren. Das Konzept der Lesekompetenz ist inhaltlich breiter: Es umfasst nicht nur das realisierbare Leseverstehen durch kognitive Prozesse, sondern eine unter Zuhilfenahme weiterer Faktoren (wie Motivation) tatsächlich erbrachte Leistung, in diesem Fall bezogen auf das Lesen (Lenhard, 2013). Wie sich bereits in der Unterscheidung von Leseverständnis und -kompetenz andeutet, gibt es Differenzen in der inhaltlichen Begriffsfüllung. Unstrittig ist der kognitive Kern des Konstrukts: Es sind diverse mentale Aktivitäten, die dazu führen, dass man Texte versteht bzw. auf der Basis des Textverstehens Leistungen
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
erbringt. Im Fall der Lesekompetenz als ohnehin schon weiter gefasstem Konzept geht das unterschiedliche Begriffsverständnis noch weiter, was auch für diesen Band von Belang ist, da in ihm ebenfalls unterschiedliche Perspektiven auf das kompetente Lesen mehrerer Texte eingenommen werden, ohne dass dies immer eigens expliziert wird. Außerdem wirkt vieles, was gegenwärtig in der Wissenschaft zum Kompetenz-Konstrukt in der Domäne Lesen für das kompetente Lesen einzelner Texte diskutiert wird, deutlich anschlussfähig an das, was dem erst allmählich entstehenden Diskurs rund um das Leseverständnis von multiplen Texten innewohnt. Deshalb lohnt sich der Blick auf das Konzept Lesekompetenz mit dem inhärenten Bezugspunkt einzelner Texte (s. Tabelle 1). Besonders wichtig für diesen Band sind die drei psychologischen Kompetenzmodellierungen (genauer beschrieben bei Müller & Richter, 2014, und hier paraphrasiert), wobei die pädagogischpsychologische Modellierung eine deutlich erkennbare Nähe zur (kulturwissenschaftlich und lesesozialisatorisch beeinflussten) lesedidaktischen Modellierung aufweist. Die drei psychologischen Kompetenzmodellierungen definieren Lesekompetenz als ▶ messbares Produkt (differenziell-psychologische Modellierung), also als mittels Tests erfassbare Leistungen, die ihrerseits Einflussfaktoren (Determinanten) haben. Solch eine Sichtweise offenbart sich in den großen und kleinen Studien, in denen es darum geht, Lese(verstehens)leistungen empirisch zu erfassen. Diese Modellierung findet sich deutlich in Kapitel 4 wieder, in dem es darum geht, Einflussgrößen auf das Produkt Leseverstehen bei multiplen Texten zu systematisieren (für einen Überblick über interindividuelle Leistungen s. Barzilai & Strømsø, 2018). ▶ beschreibbaren Prozess (kognitionspsychologische Modellierung), ein Zugang, welcher die kognitiven Aktivitäten
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differenziellpsychologisch
kognitionspsychologisch
pädagogischpsychologisch
lesedidaktisch
lesesozialisatorisch
Lesekompetenz als …
messbares Produkt
beschreibbarer Prozess
trainierbare Fähigkeit(en)
beeinflussbares Mehrebenenkonstrukt
Enkulturationsprozess / kulturelle Praxis
Erkenntnisinteresse und Vorgehen
▶ Testen von Fähigkeiten in der Domäne Lesen ▶ Vergleich von Personen (inkl. Determinanten) bzw. für die Individualdiagnostik
▶ Beschreibung und Modellierung von kognitiven Teilprozessen auf diversen Ebenen ▶ integrative Betrachtung aller kognitiven Prozesse
▶ gezielte Förderung von Leseprozessen auf verschiedenen Ebenen des Lesens ▶ (überwiegend differenziellpsychologische) Überprüfung der Effektivität von Interventionen
▶ systematische Verortung und Auswahl von Lesefördermaßnahmen auf verschiedenen Ebenen ▶ Gestaltung der Erwerbsprozesse im schulischen Kontext
▶ Verständnis kokonstruktiver sozialisatorischer Prozesse ▶ Rekonstruktion des Kompetenzerwerbs in diversen sozialen Kontexten
Tabelle 1: Fünf idealtypische Modellierungen von Lesekompetenz (bezogen auf einzelne Texte; Quelle: nach Philipp, 2015a, S. 31)
1 Einleitung
Modellierung
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
erklärt, differenziert und systematisiert, die ihrerseits erst in ein messbares Produkt münden. Dieser Zugang zur Lesekompetenz ist vergleichsweise nahe am Leseverstehen zu verorten und ergänzt die Produktperspektive. Ihm ist in diesem Buch relativ viel Raum gewidmet, nämlich sowohl im umfassenden Theoriekapitel zu Modellen und Prozessen des Leseverstehens bzw. des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten (Kap. 2) als auch im Kapitel 3 mit Ergebnissen der Grundlagenforschung. Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass es dort nicht allein um Leseprozesse, sondern auch um jene des Schreibens geht, weil im Falle des Lesens multipler Texte häufig Aufgaben mit dem Schreiben zum Einsatz gekommen sind. ▶ trainierbare Fähigkeiten (pädagogisch-psychologische und mit ihr eine der Lesedidaktik verwandte nahe Modellierung), mithin als ein förderfähiges und förderbares Konstrukt, bei dem es darum geht, durch gezielte Instruktion eine Verbesserung zu erzielen. Dieser Förderbarkeit, die sich auf die zu optimierenden Prozesse bezieht und sich in Produkten niederschlägt, steht ausführlich im Zentrum des Kapitels 5. Wie schon im Kapitel 3 wird zumindest partiell ebenfalls das Schreiben eine gewichtige Rolle spielen. Der Überblick über die verschiedenen Begriffsfüllungen verdeutlicht, dass es sinnvoll und notwendig ist, sich zu vergegenwärtigen, mit welcher konkreten Bedeutung ein Terminus wie Lesekompetenz verwendet wird. Wichtig für die Begriffsverwendung in diesem Band ist die kognitionspsychologisch grundierte Fokussierung auf kognitive Prozesse. Da die Thematik des kompetenten Lesens multipler Texte wie schon erwähnt noch längst nicht so ausgewiesen ist wie bei dem Konstrukt zur Lesekompetenz einzelner Texte und weil sich die Anforderungen beim Lesen verschiedener Texte anders darstellen (s. Kap. 2),
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1 Einleitung
wird in diesem Buch inhaltlich zwar eine Nähe zum Konzept Lesekompetenz aufrechterhalten, aber es wird häufiger vom „verstehenden Umgang“ mit Texten die Rede sein. Dieser Griff zu einer anderen Formulierung soll keineswegs dazu dienen, selbst nolens volens für die zu Beginn dieses Teilkapitels beklagten babylonischen Verhältnisse zu sorgen. Stattdessen soll damit der momentan aus wissenschaftlicher Sicht noch partiell provisorische Charakter dieser Form des Lesens betont werden. 1.2.1.2 Multiple Texte (und Dokumente)
Im Teilkapitel zuvor ging es um das Konzept der Lesekompetenz und die Brauchbarkeit für die Zwecke dieses Bandes, der das Lesen multipler Texte zentral behandelt. Ein hartnäckiges Problem der noch jungen Wissenschaft zum Lesen und Nutzen verschiedener Texte besteht in dem unklaren Sprachgebrauch dessen, was genau denn eigentlich mit dem Lesematerial gemeint ist. Dies schlägt sich auch in der im Folgenden systematisch vorkommenden Doppelnennung von „Text“ und „Dokument“ in diesem Band nieder. Das Problem ist in der Wissenschaft wohlbekannt und wird nicht nur als unbedeutende terminologische Angelegenheit betrachtet (Braasch, Bråten & McCrudden, 2018b; Goldman & Scardamalia, 2013). Ein Vorschlag, mit dieser begrifflichen Unschärfe produktiv umzugehen, stammt von Braasch und Kollegen (2018b) und ist in Tabelle 2 gegenübergestellt. Dieser Vorschlag bezieht sich ganz gemäß Erscheinungskontext des zitierten Buchkapitels, dem Handbook of Multiple Source Use, auf einen anderen Begriff („Quelle“), erscheint aber für die Zwecke dieses Buches anschlussfähig.
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Enger Begriff
Verständnis von „Quelle“
▶ Bezeichnung des Ursprungs von Informationen ▶ Synonyme Verwendung von „Informationsressource“, „Text“, „Dokument“, „Material“ und multimodaler „Multimediaressource“
▶ Bezeichnung des Ursprungs von Informationen ▶ Vorhandensein von Metainformationen / Metadaten (zu Herkunft, Kontext, Absicht etc.), die inner- oder außerhalb der Informationsquelle liegen
Verständnis des Umgangs mit Quellen
▶ Individuelle Fähigkeit, auf der Basis vielfältiger Prozesse Bedeutung aus verschiedenen Ursprüngen von Informationen zu konstruieren ▶ Beispiele: Aufgaben interpretieren; Informationen lokalisieren, auswählen, analysieren, evaluieren, verstehen; in einzelnen und über einzelne Quellen hinweg Informationen prüfen, integrieren und konstruieren
▶ Individuelle Fähigkeit, vorhandene oder verfügbare in- bzw. externe Metadaten zu erkennen, zu repräsentieren, zu beurteilen und anzuwenden ▶ Beispiel: Prüfung von verzerrten Sicht- und Darstellungsweisen mittels quellenbezogenen Daten
Tabelle 2: Gegenüberstellung von weitem und engem Verständnis des Begriffs „Quelle“ und des kompetenten Umgangs mit Quellen (eigene Darstellung basierend auf Braasch et al., 2018b, S. 2)
1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
Weiter Begriff
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1 Einleitung
Besonders bedeutsam ist nicht nur, wie der Begriff „Quelle“ je nach weiter oder enger gefasstem Terminus gefüllt wird (nämlich zum einen eher im Sinne eines medialen Verständnisses beim weiten Begriff oder zum anderen hinsichtlich einer Kombination von Informationen und Metainformationen beim eng gefassten Begriff). Vielmehr erstreckt sich die Begriffsfüllung ebenfalls auf die mit ihr verbundenen Anforderungen / Fähigkeiten einer Person im Umgang mit Quellen. In diesem zweiten Punkt, den nötigen Fähigkeiten für einen kompetenten Umgang – also der Kompetenz (s. Teilkap. 1.2.1.1 ) – , offenbart sich die bedeutsame Differenz beider Begriffsverständnisse: ▶ Der weite Begriff von Quellen und der Umgang mit ihnen zielt primär auf ein Verständnis von Informationen unterschiedlicher Herkunft und medialer Modalität. ▶ Der enge Begriff geht darüber hinaus, weil es zusätzlich um einen versierten Umgang mit Metadaten geht, die bei der Bedeutungskonstruktion verwendet werden. In den einzelnen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die diesem Band zugrunde liegen, werden sowohl enger als auch weiter gefasste Begrifflichkeiten verwendet, teils sogar synonym. Der enger gefasste Begriff ist allerdings jener, den dieses Buch bei aller Heterogenität in den Konzepten und Termini besonders klar ins Auge fasst. Wenn im Folgenden also von einem verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten die Rede ist, dann geht es zuvorderst darum, Inhalte von Texten / Dokumenten gezielt (mit ihren Metadaten) kognitiv zu kombinieren und für ein verstehendes Lesen zu nutzen.
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
1.2.2 Ein Gang durch die Kapitel
Eine so komplexe Thematik wie das kompetente Lesen von und der Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten erfordert eine klare thematische Gliederung und inhaltliche Entfaltung. Das Buch gliedert sich in insgesamt fünf Hauptkapitel inklusive dieses einleitenden Kapitels: ▶ Nach dieser Einleitung behandelt Kapitel 2 Grundlagen zum verstehenden Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten. Dabei stehen drei aufeinander aufbauende theoretische Modelle im Zentrum. Diese kognitionspsychologisch grundierten Modelle bilden das Rückgrat für die weiteren Ausführungen und helfen dabei, inhaltliche Verortungen der später behandelten Themen vorzunehmen. Das aktuellste der drei Modelle, das RESOLV-Modell, wird im Verlauf der Darstellung immer wieder eine wichtige Verortungsmöglichkeit für die in den Kapiteln jeweils behandelte Thematik bieten und der gedanklichen Strukturierung dienen. ▶ Kapitel 3 eröffnet den Blick auf die Ergebnisse der empirischen Grundlagenforschung. Dabei werden verschiedene Bereiche betrachtet, nämlich zu den strategischen Prozessen im verstehenden Umgang mit multiplen Texten, worunter auch das Schreiben über mehrere Texte fällt. Das Kapitel geht zudem auf sich abzeichnende personenübergreifende Muster bei der Aufgabenbewältigung mit multiplen Texten ein und behandelt die Frage, ob und wie sich Zusammenhänge zwischen (meta-)kognitiven, strategischen Prozessen und Produkten von Aufgaben mit mehreren Texten nachweisen lassen. ▶ Kapitel 4 nimmt ebenfalls eine empirische Perspektive ein, indem es ausgewählte Determinanten behandelt, also differenziell-psychologische Einflussgrößen des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten / Dokumenten. Dabei wer-
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1 Einleitung
den allein schon aus Platzgründen nicht sämtliche Einflussgrößen behandelt, sondern aus zwei Gruppen solcher Determinanten jene, für die es erstens ausreichend empirische Belege gibt und die zweitens eine Nähe zu Kognitionen aufweisen. Deshalb kommt die (selbstverständlich wichtige) Motivation in diesem Band (noch) nicht vor. Stattdessen geht es bei der ersten Gruppe von Determinanten um insgesamt drei internale kognitive Komponenten: epistemische Überzeugungen, thematisches Vorwissen und Lesefähigkeiten. In der zweiten Gruppe, die aus einer fachdidaktischen Perspektive nicht minder von Interesse ist, geht es um die Gestaltung der externen Aufgabenumgebung sowohl mittels bedacht ausgewählter Texte / Dokumente als auch dank sorgfältig konstruierter Aufgabenstellungen und der Bereitstellung von Hilfestellungen. ▶ In Kapitel 5 öffnet sich der Blick auf das Feld der pädagogisch-psychologisch geprägten Lese- und Schreibförderung im Umgang mit multiplen Texten. Dazu werden 15 verschiedene Beispiele evidenzbasierter, also hinsichtlich ihrer Wirksamkeit empirisch überprüfter Förderansätze steckbriefartig auf jeweils wenigen Seiten vorgestellt. Dieser von einer vorgängigen knappen Systematisierung flankierte Gang durch die Befunde in einem erst allmählich entstehenden Bereich der Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten zeigt: Die Förderung lohnt sich und kennt schon heute viele Ansatzpunkte und Herangehensweisen. 1.2.3 Einige Gebrauchshinweise für einen optimalen Nutzen des Bandes, bevor es in medias res geht
Bücher, zumal wenn sie wie dieses eine Einführung bieten wollen, stehen vor der Herausforderung, ihren optimalen Nutzen bei einer Gruppe unterschiedlich vorgehender Nutzerinnen und
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
Nutzer entfalten zu wollen. Dieser Band bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Um den Nutzwert möglichst zu erhöhen, folgen an dieser Stelle noch einige knappe Hinweise: ▶ Der Band ist modular aufgebaut. Dennoch ist es ein Kapitel, das besonders wichtig für das Gesamtverständnis ist, nämlich wie schon im Teilkapitel zuvor erwähnt das zweite Kapitel. Die theoretischen Grundlagen sind nicht nur besonders wichtig, sondern sie erfordern es auch, sich auf eine vermutlich eher unvertraute Thematik einzulassen. Hier ausreichend Lesezeit zu investieren und sich die Grundlagen anzueignen, lohnt sich mit Blick auf den Gesamtnutzen des gesamten Bandes. Das gilt umso mehr, als die drei Modelle im Kapitel 2 allmählich entfaltet werden und eine je spezifische Sicht auf den verstehenden Umgang mit multiplen Texten insbesondere in (hoch-)schulischen Kontexten erlauben. ▶ Der Gegenstand des Bandes ist zum Teil komplex. Um dennoch die Nützlichkeit zu erhöhen, steht ausnahmslos am Ende der Kapitel 2 bis 5 jeweils eine Zusammenfassung mit dem Wichtigsten der Kapitel. Eiligen Leserinnen und Lesern seien diese Zusammenfassungen besonders ans Herz gelegt. ▶ Für die Verwendung des Buches für hochschulische Lehrveranstaltungen, für Weiterbildungen und andere Zusammenhänge stehen die Abbildungen als Downloadmaterial zur Verfügung (http://www.utb-shop.de/9783825249878, „Zusatzmaterial“). Downloadmaterial ist in diesem Band mit dem folgenden Symbol gekennzeichnet: . ▶ Dieses Buch arbeitet stark mit verschiedenen Elementen. Neben dem Fließtext sind dies diverse Grafiken, Tabellen und Kästen. Im Falle der Kästen gibt es Unterschiede zu den Funktionen der jeweiligen Kästen, die Verschiedenes leisten:
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1 Einleitung
Exemplarische Beispiele und Vertiefungen – Kästen mit dieser Kennzeichnung entlasten den Hauptteil des Textes, indem sie verschiedene exemplarische Inhalte enthalten. Das können Beispiele sein oder die Beschreibungen von einzelnen Studien. Diese Textteile unterstützen und vertiefen Themen aus dem Haupttext.
Bündelungen – Einige Kästen enthalten zentrale Informationen, die sie bündeln. Solche Kästen sind besonders wichtig.
Arbeitsaufträge – Solche Kästen enthalten entweder authentische oder exemplarische Arbeitsaufträge, die sich an Sie als Leserin / Leser richten oder sich an Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Studien gerichtet haben. Weiter lesen, weiter denken – Diese Kästen stehen jeweils am Ende der fünf Hauptkapitel. Sie enthalten ganz bewusst nur wenige ausgewählte Lektüreempfehlungen zu Einstiegslektüren, um sich vertiefend mit den Themen der Kapitel auseinanderzusetzen.
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen für einen ersten Überblick Ein Buch wie dieses will einen Überblick verschaffen, zugleich will es weitere Denk- und Leseanstöße bieten. Deshalb steht am Ende jedes Kapitels eine kurze Liste knapp kommentierter Lesetipps, in diesem Fall beginnend mit solchen zum Überblick. ▶ Braasch, J. L. G., Bråten, I. & McCrudden, M. T. (Eds.). (2018). Handbook of Multiple Source Use. New York: Routledge. (Das Handbuch macht seinem Namen alle Ehre: International renommierte Forscherinnen und Forscher bündeln den Forschungsstand zu verschiedenen Themen und in sechs Themenkomplexen (wie Theorie, Domänenspezifika, Förderung und Messung bei der Nutzung multipler Texte). Besonders hervorhebenswert ist der interdisziplinäre Zugang.) ▶ Bråten, I., Braasch, J. L. G. & Salmerón, L. (in press). Reading Multiple and Non-Traditional Texts: New Opportunities and New Challenges. In: E. B. Moje, P. Afflerbach, P. Enciso & N. K. Lesaux (Eds.), Handbook of Reading Research. Volume V. New York: Routledge. (Dieses exzellent geschriebene Kapitel arbeitet die Unterschiede zwischen traditionellem Lesen singulärer Texte und dem von multiplen (Hyper-)Texten heraus. Es skizziert individuelle Unterschiede und ist insbesondere zum Verständnis von Leseprozessen ausgesprochen hilfreich.)
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1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches
2 Theoretische Grundlagen zum Verstehen und Verwenden multipler Texte / Dokumente Multiple Texte lesen? Theorie? Anstrengend!
Es wird noch besser: Es sind sogar 3 Theorien. Jede baut die nächste aus.
Theorie 1: Dokumentenmodell. Hat zwei Bestandteile, die man beide fürs Verstehen braucht.
T2: MD-TRACE. Bedeutet: Die Aufgabe steuert das Leseverstehen stark mit. Bedeutet: selektives Lesen. Logisch.
T3: RESOLV. Texte ohne Kontexte gehen gar nicht. Lesen ist was für Leute, die Probleme lösen wollen.
Multiple Texte = multiple Theorien
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2 Theoretische Grundlagen
Die Theorie zum Verstehen und Verwenden mehrerer (multimodaler, digitaler) Texte steckt, auch wenn das Phänomen – zumal im hochschulischen Kontext – eine recht lange Tradition aufweist, derzeit immer noch in wissenschaftlichen Kinderschuhen. Erst in letzter Zeit haben sich die Bemühungen stark intensiviert, das Phänomen angemessen zu fassen und zu beschreiben (Cromley, in press). Obwohl das Gesamtbild bei dieser Thematik also noch unvollständig ist, so erlauben es die vorgelegten verschiedenen Modelle inzwischen, einzelne Teile des Gesamtbildes klarer zu sehen. In diesem Kapitel geht es um einen Ausschnitt der theoretischen Grundlagen. Konkret werden drei chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauende theoretische Modelle zu kognitionspsychologisch grundierten Repräsentationen von Text- und weiteren Inhalten entfaltet. Der Grund, warum statt einem gleich drei Modelle bemüht werden, hat damit zu tun, dass sich bei den drei Modellen nicht nur jeweils die Perspektive ändert und ausweitet, sondern auch einzelne Bestandteile aus Vorgängermodellen in Nachfolgervarianten übernommen wurden und teilweise erst dort eine inhaltliche Beschreibung bzw. Extension erhielten, die man nicht ohne Weiteres aus den Vorgängermodellen mit anderen Zielen und Prämissen extrapolieren kann. Deshalb erscheint es für das Gesamtverständnis geboten, die Evolution der Modelle mit Blick auf die allmähliche inhaltliche Verfeinerung gesamthaft zu fokussieren. Daher auch der Hinweis an Sie als Leserin bzw. als Leser, wenn Sie mit der Thematik unvertraut sind: Folgen Sie nach Möglichkeit der Reihenfolge dieses Kapitels, um ein möglichst tiefes Verständnis der Thematik zu erzielen. Das Kapitel ist in insgesamt drei Teilkapitel unterteilt. Im ersten Teilkapitel (2.1) wird die eben schon angesprochene Evolution wissenschaftlicher Theorien zum Ausgangspunkt gemacht, um sodann einen ersten (tabellarischen) Überblick über die drei zentralen theoretischen Modelle zu erhalten. Die drei theoretischen
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2 Theoretische Grundlagen
Modelle werden in den verbleibenden beiden Teilkapiteln 2.2 und 2.3 betrachtet. Zunächst geht es um die beiden Vorläufermodelle. 1. Das erste Modell, das Dokumentenmodell, beschreibt, wie man sich die Komponenten und Prozesse vorstellt, die zu einer adäquaten mentalen Repräsentation der Inhalte aus verschiedenen Dokumenten verschiedener Autorinnen und Autoren führen. 2. Das zweite Modell, das MD-TRACE-Modell, ergänzt das Dokumentenmodell um ein den Umgang mit Texten steuerndes Aufgabenmodell. Dadurch wird die Lektüre in den Kontext einer Aufgabenbearbeitung gestellt und damit das reine Leseverstehen relativiert – das erklärt auch, warum im Titel dieses Kapitels vom „Verwenden multipler Texte / Dokumente“ die Rede ist. Das Dokumenten- und das MD-TRACE-Modell, die beide an einem Beispiel erläutert werden, bilden den Gegenstand des zweiten Teilkapitels (2.2). 3. Das dritte und damit letzte theoretische Modell RESOLV setzt nochmals einen anderen Akzent, indem es das MDTRACE-Modell um eine weitere systematische Perspektive ergänzt, nämlich um den Kontext, in welchem eine lesebezogene Aufgabe bearbeitet wird (s. Teilkap. 2.3). In dem RESOLV-Modell kommen entsprechend drei, innerhalb einer Person miteinander verbundene kognitive Repräsentationen zusammen: Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell.
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2 Theoretische Grundlagen
2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl 2.1.1 Zur Evolution von Grundlagen-Modellen – ein allgemeiner Überblick
Das Verstehen von multiplen Texten ist zwar im hochschulischen, akademischen Kontext durchaus üblich und traditionsreich. Dennoch besteht hier ein typisches „Hase-Igel-Phänomen“: Während die Praxis des (exegetischen) Lesens mehrerer Texte in verschiedenen Kontexten längst Usus ist, steht die systematische Grundlagenforschung (nebst Theoriebildung) zum Teil noch am Anfang. Erst allmählich erfreut sich das Thema einer gewissen Konjunktur im Wissenschaftsbetrieb – nicht zuletzt beim Vorlegen von Modellen zum Verstehen und zielgerichteten Nutzen multipler Texte / Dokumente.4 Hinzu kommen die bereits jetzt kaum noch zu überschauenden empirischen Arbeiten zu spezifischen Fragestellungen, die insbesondere in der internationalen Forschung vorgelegt wurden und werden. Auffällig ist bei alldem: Es gibt diverse Erkenntnisinteressen und Fokussierungen, was der Übersichtlichkeit wenig zuträglich ist, auch wenn der Kenntnisstand insgesamt davon profitiert. Unter den theoretischen Überlegungen überwiegen wenig überraschend jene, die aus der kognitionspsychologisch orientierten Grundlagenforschung stammen und zunächst einmal die beteiligten mentalen (kognitiven) Prozesse des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten bzw. Dokumenten angemessen 4
In der chronologisch-alphabetischen Reihenfolge seien hier nur die wichtigsten aufgeführt: Perfetti, Rouet & Britt, 1999; Rouet, 2006; Goldman et al., 2010; Bråten, Britt et al., 2011; Rouet & Britt, 2011; Britt & Rouet, 2012; Rouet & Britt, 2014; Stadtler & Bromme, 2014; Braasch & Bråten, 2017; Britt et al., 2017, bzw. Rouet, Britt & Durik, 2017; List & Alexander, 2017b; Richter & Maier, 2017 – für kondensierte (Teil-) Überblicke s. List & Alexander, 2017a, und Bråten, Braasch & Salmerón, in press.
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2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl
zu fassen und zu beschreiben versuchen. Diese kognitionspsychologischen Modelle werden von weiteren flankiert, die zum Beispiel die Rolle der Motivation berücksichtigen. Da zurzeit die Lage in Bezug auf die Rolle der Motivation noch recht unübersichtlich ist (s. a. Bråten, Ferguson, Anmarkrud & Strømsø, 2013; Guthrie, 2018; Salmerón, García & Vidal-Abarca, 2018, und Strømsø & Bråten, 2009) und die einflussreichen Modelle auf Kognitionen fokussieren, stehen solche Modelle auch in diesem Band im Zentrum. Entsprechend offeriert der selektive Überblick über sieben zentrale bzw. vielversprechende Modelle in Tabelle 3 eine Perspektive auf kognitionspsychologisch grundierte Modellierungen mit verschiedenen Zielen und Erklärungsansätzen. Die ersten vier Modelle stellen sukzessiv vorgelegte Erweiterungen eines Modells aus einer Forschungsgruppe dar. Die letzten drei in Tabelle 3 bauen aus der Perspektive anderer Leseforscherinnen und -forscher das MD-TRACE-Modell (Nr. 2 in der Liste) mit verschiedenen inhaltlichen Fokussierungen aus, um den Umgang mit konfligierenden Informationen – sei es zwischen den Texten, sei es zusätzlich zwischen Textinhalten und den innerhalb der lesenden Person zu lokalisierenden Annahmen zum Sachverhalt – zu beschreiben.
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Kurzcharakterisierung des jeweiligen Modells
1) Dokumentenmodell (Perfetti et al., 1999)
Das Modell beschreibt zwei miteinander verknüpfte Hauptbestandteile (Intertextmodell und mentales Modell), um der Besonderheit des Leseverstehens multipler Texte / Dokumente (dessen Ergebnis ist das namensgebende Dokumentenmodell) gerecht zu werden. Das Modell trennt sachlogisch inhaltliche und quellenbezogene Informationen aus multiplen Texten für ihre Beiträge am Dokumentenmodell; beide Information(sart)en sind wichtig für das gelingende Leseverstehen.
2) MD-TRACE (Rouet & Britt, 2011)
Das MD-TRACE-Modell (Multiple-Document Task-Based Relevance Assessment and Content Extraction) ist eine Erweiterung des Dokumentenmodells. Es berücksichtigt insbesondere konsequenter die (stark von einer konkreten Aufgabe und deren individuell repräsentierten Anforderungen beeinflussten) Prozesse des Umgangs mit Texten / Dokumenten und beschreibt die wichtigsten hierbei involvierten in- und externen Ressourcen. Neuer und wichtiger Bestandteil ist das Aufgabenmodell, welches die Lese- und Auswahlprozesse steuert.
3) RESOLV (Britt et al., 2017)
Das RESOLV-Modell (REading as Problem SOLVing) ist eine Weiterentwicklung von MD-TRACE. Kernelemente des Vorgängermodells blieben weitestgehend erhalten, dafür kamen neue wichtige Bestandteile hinzu, darunter das Kontextmodell, das dem Aufgaben- und dem Dokumentenmodell vorangeht, zugleich aber dynamisch mit ihnen verbunden ist. RESOLV betont vor allem die Selbstregulation beim Lesen verschiedener Texte / Dokumente innerhalb eines umfassenden Problemlöseprozesses.
4) MD-TRACE und Dokumentenmodell + epistemische Überzeugungen (Bråten, Britt et al., 2011)
Es handelt sich um eine Erweiterung des Dokumenten- und MD-TRACE-Modells bei der Konstruktion des Dokumentenmodells (als Bestandteil des MD-TRACE-Modells) und Aufgabenmodells um individuelle epistemische Überzeugungen, also subjektive wissensbezogene Theorien, innerhalb der lesenden Person. Diese verschiedenen Überzeugungen erleichtern oder erschweren je nach ihrem konkreten Bezugspunkt und ihrer Ausprägung systematisch die adäquaten Verstehensleistungen. Dies erfolgt durch die Beeinflussung der kognitiven Prozesse im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten vor allem beim Aufbau von Intertext- und mentalem Modell.
2 Theoretische Grundlagen
Bezeichnung des Modells (Kurzbeleg)
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Kurzcharakterisierung des jeweiligen Modells
5) Modell zur Integration von Inhalt und Quellen (Stadtler & Bromme, 2014)
In dem Drei-Phasen-Modell wird der Umgang mit konfligierenden Informationen aus Texten / Dokumenten behandelt; es geht also um inhaltliche Konflikte, die sich aufgrund von intertextuell widersprüchlichen Informationen ergeben. Einer ersten Phase der Problemerkennung (Kohärenzprobleme aufgrund von Widersprüchen entdecken) schließt sich eine zweite Phase der Problemregulation an, sei es durch Ignorieren, Bilden von überbrückenden Schlussfolgerungen oder das Begründen und Verknüpfen mit Merkmalen der Quelle. Die dritte und letzte Phase der Problemlösung bezieht sich auf eine abschließende Prüfung und Nutzung des Vorwissens und / oder der Quellen.
6) Diskrepanzinduziertes Verständnis von Quellen (Braasch & Bråten, 2017)
Zentral für dieses Modell ist die wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Inhalten aus gelesenen Texten / Dokumenten, wobei für die lesende Person nicht klar ist, welche Quelle recht hat. Das Erkennen der Diskrepanz geschieht zunächst in einem ersten Schritt. In einem zweiten Schritt wendet eine lesende Person ihre Aufmerksamkeit auf die Metadaten aus den Quellen und beginnt mit einer Prüfung dieser Metadaten, um die Diskrepanz möglichst aufzulösen. Durch die gesteigerte Fokussierung auf quellenbezogene Metadaten werden diese bei der Konstruktion des Gesamtverständnisses stärker berücksichtigt, um ein kohärentes Gesamtverständnis zu entwickeln.
7) Zwei-Schritte-Modell der Verarbeitung konfligierender Informationen (Richter & Maier, 2017)
Das Modell beschreibt, dass lesende Personen aufgrund impliziter Vorannahmen Texte / Dokumente lesen und bei Konflikten von externen, textbezogenen Informationen und internen, eigenen Vorannahmen in zwei Schritten reagieren. Der ohne Absicht ablaufende Schritt eins hat die Funktion, mittels metakognitiver Überwachung die Plausibilität von Informationen vor dem Hintergrund eigener Annahmen wahrzunehmen. Ohne Korrektur kommt es zu einem von Vorannahmen einseitig verzerrten Verständnis. Erfolgt allerdings im zweiten Schritt eine – insgesamt sehr voraussetzungsreiche – willentlich gesteuerte Beurteilung und Anreicherung der konfligierenden Informationen unter Nutzung diverser kognitiver Ressourcen, gelingt ein balanciertes Gesamtverständnis.
2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl
Bezeichnung des Modells (Kurzbeleg)
Tabelle 3: Überblick über sieben zentrale, primär kognitionspsychologische Grundlagenmodelle zum Verstehen und zur Nutzung multipler Texte / Dokumente (Auswahl, eigene Darstellung)
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2 Theoretische Grundlagen
Es ist allein schon mit Blick auf die komplexe, in Tabelle 3 selektiv zusammengefasste Lage in der Theorie und die sich daran anschließende Empirie geboten, eine sinnvolle Auswahl aus der breiten Forschungsliteratur – auch und gerade hier in diesem Kapitel zu Grundlagen – vorzunehmen. Deshalb fiel die Entscheidung, sich im Rahmen dieses Buches auf drei miteinander verbundene deskriptive Modelle des Lesens multipler Texte zu beschränken. Die angesprochene Verbindung der drei Modelle besteht darin, dass sie zum einen vom Kern eines Forschungsteams in jahrzehntelanger Arbeit vorgelegt und weiterentwickelt wurden. Zum anderen ist in den drei Modellen deutlich eine Art der „Evolution“ und damit einhergehend Verfeinerung von theoretischen Überlegungen erkennbar. Außerdem – und das ist ein dritter wichtiger Grund für die Auswahl dieser Modelle – haben sich die ersten beiden Modelle (vorgestellt in Teilkap. 2.2) in der Vergangenheit als sehr einflussreiche, wirkmächtige und in der Scientific Community breit rezipierte theoretische Grundlagen erwiesen. Ob dies auch auf das neueste Modell – vorgestellt im Teilkapitel 2.3 – zutreffen wird, wird die Zukunft zeigen. Weil es konsequent einerseits den wissenschaftlichen Fortschritt und andererseits die wissenschaftliche Kontinuität aufgreift, soll das in Teilkapitel 2.3 vorgestellte, lesedidaktisch ertragreich wirkende RESOLV-Modell stellvertretend für andere neue Modellierungen mit sich zum Teil inhaltlich überschneidenden, aber auch divergierenden Modellen stehen (List & Alexander, 2017a; Stadtler, 2017; Strømsø, 2017). 2.1.2 Ein vertiefender Überblick über die drei in diesem Band konsultierten Modelle
Drei komplementäre Grundlagen-Modelle aus dem Kontext der Kognitionspsychologie bilden das theoretische Rückgrat dieses Bandes: das Dokumentenmodell, das MD-TRACE-Modell und
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2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl
schließlich das RESOLV-Modell. Diese schon im Teilkapitel 2.1.1 in Tabelle 3 in aller Kürze skizzierten Modelle ergänzen einander und werden in Tabelle 4 vergleichend gegenübergestellt. Anhand des systematischen Vergleichs wird deutlich, wie die Modellierungen aufeinander aufbauen und inhaltlich immer etwas mehr integrieren, als dies bei den jeweiligen Vorläufer-Modellierungen der Fall war. Die drei Modelle in Tabelle 4 unterscheiden sich in ihren Eigenheiten und inhaltlichen Foki sehr deutlich voneinander: 1. Das Dokumentenmodell als erster vorgelegter theoretischer Zugang fokussiert vor allem darauf, wie eine lesende Person zu einem Verständnis multipler Texte gelangt. Hierfür, und darin liegt das Verdienst des Modells, wird die grundsätzliche Architektur der wichtigsten kognitiven Komponenten innerhalb der lesenden Person beschrieben. Merkmale des Kontextes, darunter auch die der Aufgabe, sowie interne prozessuale und motivationale Merkmale sind nicht Gegenstand des Dokumentenmodells. 2. Das ändert sich beim MD-TRACE-Modell, denn in diesem Modell wird insbesondere das Zusammenspiel von in- und externen Ressourcen durch einen komplexen, strategisch grundierten und damit zielbezogenen Entscheidungsprozess betont. Dabei wirkt die als Aufgabenmodell bezeichnete interne Repräsentation / Interpretation als Steuermodul für den umfassenden Leseprozess und bildet eine zweite Komponente der für eine lesende Person wichtigen mentalen Repräsentationen. 3. Noch einmal erheblich weiter geht das RESOLV-Modell, das zum einen den Kontext und dessen Repräsentation als eigenständige, dritte Repräsentation (Kontextmodell) innerhalb einer lesenden Person ergänzt. Zum anderen beschreibt RESOLV Lesen als einen stark zielgerichteten Prozess einer
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Modell des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten / Dokumenten Dokumentenmodell
MD-TRACE
RESOLV
Inhaltlicher Fokus des theoretischen Modells
Komponenten bei der verstehenden Lektüre multipler Texte
Prozesse und Entscheidungen beim selektiven, aufgabenbezogenen Leseverstehen multipler Texte
Interaktion von kontextuellen und aufgabenbezogenen Verständnissen einer lesenden Person samt deren Interaktion mit Leseprozessen innerhalb eines Problemlöseprozesses
Aufgabeninterpretation
nicht spezifiziert
Aufgabenmodell
Aufgabenmodell
Repräsentierter Lesekontext
nicht spezifiziert
nicht spezifiziert
Kontextmodell
Rolle der Ziele und Pläne (inklusive Strategien)
nicht spezifiziert
Ziele der lesenden Person bestimmen Aufmerksamkeit für die und Repräsentation der Inhalte multipler Texte
Ziele sind persönliche Aufgabeninterpretationen innerhalb eines Kontextes; Ziele bestimmen Aufmerksamkeit für die und Repräsentation der Inhalte multipler Texte
Prozesse (bzgl. Entscheidungen beim Lesen)
nicht spezifiziert
einzelne Arten von dichotomen Entscheidungen
Routine- und Nicht-Routine-Entscheidungen mit kontinuierlichen Schwellenwerten bei den Entscheidungen
Stufen vs. dynamische Entscheidungen beim Lesen
nicht spezifiziert
geordnete Stufen, die zum Teil rekursive Abläufe erlauben
hochdynamische Entscheidungen
Rolle der Motivation
nicht spezifiziert
Teil der inneren Ressourcen, aber nicht spezifiziert
mit Zielen und Plänen verbunden, allerdings noch unterspezifiziert
Tabelle 4: Vergleich des Dokumenten-, MD-TRACE- und RESOLV-Modells (Quelle: Rouet et al., 2017, S. 212; sprachlich und für diese Publikation leicht vereinheitlicht und beim Dokumentenmodell sowie einzelnen Vergleichsdimensionen ergänzt)
2 Theoretische Grundlagen
Vergleichsdimension
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2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl
umfassenden Problemlösung mithilfe der (nicht zwingend auf vollständiges Verstehen abzielenden) Lektüre von Dokumenten. Hier spielen motivationale Merkmale und diverse Entscheidungen bis zum Schluss eine gewichtige Rolle. Damit zeigt sich: Die drei theoretischen Modellierungen des Lesens multipler Texte setzen jeweils eigene Akzente und bauen aufeinander auf. In Folgemodellen wurden Komponenten aus den Vorgängern integriert, gleichzeitig wurden die Modelle immer komplexer und dynamischer. Das hat auch mit ihren jeweiligen Zielsetzungen zu tun, also damit, was in und mit den Modellen inhaltlich erfasst werden soll: ▶ Das Dokumentenmodell modelliert Komponenten (und partiell: Prozesse) des Leseverstehens, ▶ MD-TRACE deren Einbindung in eine Aufgabenstellung samt notwendiger in- und externer Ressourcen nebst Prozessen und ▶ RESOLV zusätzlich eine kontextuelle Rahmung, welche für die Verstehensprozesse eine filternde Wirkung hat. Aus einer lesedidaktischen Perspektive ist dies alles andere als trivial, sondern im Gegenteil sehr ergiebig. Denn durch die nachvollziehbare inhaltliche Ausweitung auf Aufgaben und Kontexte samt den – zum Teil vorläufig wirkenden – Implikationen ergeben sich Ansatzpunkte für die sinnvolle Nutzung des Lesens und der Nutzung multipler Texte für eine Leseförderung (auch im Sinne des Fachlernens). Bei der Auswahl der drei Modelle für diesen Band muss noch zu guter Letzt konzediert werden, dass es sich nicht um Modelle handelt, in denen der Nutzen von mehreren digitalen Dokumenten und Texten genauer beschrieben wird. Es gibt allerdings durchaus diverse empirische Daten dazu, dass bei deren Nutzung Eigenheiten bestehen (Afflerbach & Cho, 2009; Bråten et al., in
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2 Theoretische Grundlagen
press; Cho & Afflerbach, 2017; Salmerón et al., in press). Wie so oft klafft also die Empirie-Theorie-Lücke überdeutlich auch bei dieser Thematik (Cromley, in press). Wenn im Folgenden also theoretische Grundlagenmodelle präsentiert werden, in denen digitale Texte nur am Rande Gegenstand sind, soll im Folgenden das gewählte erläuternde Beispiel mit digitalen Texten gezielt und bewusst ein Gegengewicht bilden.
2.2 Zwei relevante Vorläufermodelle: das Dokumentenmodell und das MD-TRACE-Modell Im Teilkapitel 2.1 wurde dargelegt, dass drei aufeinander aufbauende theoretische Modelle das Rückgrat für den Grundlagenteil dieses Bandes bilden. In diesem Teilkapitel sollen zunächst zwei Vorläufermodelle konsultiert werden. Die Darstellung beginnt mit dem Dokumentenmodell (2.2.1) zum Leseverstehen mehrerer Texte. Es folgt das darauf aufsetzende MD-TRACE-Modell zum Lesen multipler Texte in Abhängigkeit von lesebezogenen Aufträgen (2.2.2). 2.2.1 Multiple Dokumente / Texte verstehen: das Dokumentenmodell
Einen ersten wichtigen Ansatz auf dem Weg zur theoretischen Modellierung, wie wir Menschen Texte verstehen, wenn wir mehr als einen Text / ein Dokument lesen, hat eine internationale Forschungsgruppe rund um Anne Britt, Charles Perfetti und Jean-François Rouet in jahrelanger Arbeit vorgelegt (Britt et al., 1999; Perfetti et al., 1999; Rouet, 2006; Rouet & Britt, 2011; Britt & Rouet, 2012; Britt, Rouet & Braasch, 2013; Rouet & Britt, 2014 – s. für eine knappe deutschsprachige Beschreibung: Philipp, 2017b, S. 39 – 44, und Schüler, 2017, S. 168 – 188). Die entscheidende Grundannahme ist, dass bisherige kognitionspsychologische
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
Modelle des Leseverstehens zu kurz greifen, da sie sich – ohne dass dies immer so offensichtlich ist – vor allem auf das Leseverstehen von einzelnen (Sach-)Texten konzentrieren und dabei vor allem auf das umfassende Leseverstehen dieser singulären Texte fokussieren. Um diesem Schwachpunkt zu begegnen, bildet den Nukleus der theoretischen Beschreibung ein „Dokumentenmodell“ genanntes Konstrukt, welches die kognitive Integration von Informationen aus und über multiple Texte fokussiert. Das Dokumentenmodell, das in diesem Teilkapitel, aber auch darüber hinaus in den folgenden Teilkapiteln eine wichtige Rolle spielt, ist freilich nur eine Variante der mentalen Repräsentation unter vielen möglichen; vier davon sind im nachstehenden Kasten kurz beschrieben. Dennoch favorisiert das oben genannte Forschungsteam diese Variante aus guten Gründen. Das Dokumentenmodell bildet eine Variante, bei der zum einen inhaltsbezogene Informationen aus den Texten / Dokumenten möglichst stimmig zu einem sogenannten „mentalen Modell“, einem generell sehr zentralen Element verschiedener Lesetheorien (McNamara & Magliano, 2009), vereint werden. Hinzu kommt zum anderen eine angemessene, selektive Repräsentation der quellenbezogenen Informationen zu den genutzten Texten / Dokumenten. Inhaltlich umfassend und quellenbezogen angemessen selektiv – so lässt sich das Dokumentenmodell schlaglichtartig bezeichnen. Sein Vorteil liegt darin, dass es im gelingenden Fall für eine Vielzahl von Leseanlässen jenseits des Spezialistentums eine kognitiv anspruchsvolle, aber bewältigbare Verbindung schafft zwischen verschiedenen Informationsarten und -mengen.
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2 Theoretische Grundlagen
Die Inhalte multipler Texte kognitiv repräsentieren: vier mögliche Modelle und warum das Dokumentenmodell von kognitivem Vorteil ist In einem für das Dokumentenmodell wichtigen Buchkapitel wurden vier verschiedene Varianten diskutiert, wie lesende Personen die Inhalte aus und über multiple(n) Texte(n) mental repräsentieren (Britt et al., 1999). Diese vier Varianten unterscheiden sich konkret in zwei Merkmalen. Dabei handelt es sich erstens um die Integration, also kognitive Verschmelzung von Informationen, auf einem Kontinuum von singulär repräsentierten Inhalten aus Einzeltexten hin zu einer hochintegrierten, angemessenen Gesamtintegration von Informationen aus mehreren Texten. Zweitens geht es darum, ob und wie viele der kognitiv repräsentierten Textinhalte mit Quelleninformationen, also Metadaten, wie mit einem Etikett verknüpft sind. 1)
2)
Das erste Modell, die separate Repräsentation, macht aus, dass Quelleninformationen keine (gesonderte) Rolle spielen. Zudem hat eine Person voneinander getrennte inhaltliche Repräsentationen der jeweiligen Texte / Dokumente, die parallel und unverbunden voneinander bestehen, etwa die Schilderung eines historischen Sachverhaltes aus zweierlei Perspektiven. Diese Separation gibt dem kognitiv kostensparenden Modell seinen Namen und macht zugleich seinen größten Nachteil aus. Das zweite Modell, das Misch-Modell (Mush Model), bildet das Gegenteil des ersten Modells. Hier werden die Inhalte aus den Dokumenten / Texten als stimmiges, überlappendes Gesamt repräsentiert. Um beim historischen Ereignis als Beispiel zu bleiben: Die Schnittmenge der in beiden Texten beschriebenen Sachverhalte ist einer lesenden Person in diesem Modell präsent.
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
3)
4)
Das dritte Modell, das Modell mit allen Etiketten (TagAll Model), trägt seinen Namen, weil sämtliche mental repräsentierten Sachverhalte und Informationen mit der Herkunft verknüpft sind. Jemand merkt sich – analog zum Misch-Modell – die Inhalte vollständig, hat aber zudem noch bei dieser Repräsentation die jeweilige Quelle und darüber hinaus die semantischen Beziehungen zwischen den Quellen präsent, etwa welcher Autor / welche Autorin bei einer Ereignisschilderung eine andere, ähnliche, tendenziöse etc. Sicht hat. Diese kognitiv besonders verarbeitungsintensive Art der Repräsentation wird vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugestanden. Sie merken sich also nicht nur, wie historische Ereignisse beschrieben wurden, sondern auch, wer wie übereinstimmend (und mit welchen möglichen Motiven) etwas dargestellt hat. Das vierte Modell ist das Dokumentenmodell. Es bildet eine mittlere Variante aus Misch- und dem Modell mit allen Etiketten. Dem Mischmodell ähnelt es aufgrund der umfassenden Repräsentation der beschriebenen Sachverhalte. Dem Modell mit allen Etiketten ähnelt es, weil es eine Verknüpfung von Informationen aus Text / Dokument und über den Text / das Dokument enthält. Während das Modell mit allen Etiketten sehr viele solcher quellenbezogenen Informationen enthält, trifft dies im Dokumentenmodell nur auf die wichtigsten Informationen zu.
Bei den vor der Aufzählung angeführten zwei Unterscheidungsdimensionen a) Grad der Integration von Informationen aus Einzeltexten bzw. -dokumenten sowie b) Einbezug von Quelleninformationen unterscheiden sich die vier Modelle deutlich voneinander. Mit Ausnahme des ersten Modells der separaten Repräsentation weisen alle anderen Modelle eine umfassendere
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2 Theoretische Grundlagen
Integration von Informationen aus multiplen Texten / Dokumenten auf. Hierin liegt also der Hauptunterschied bei der ersten Unterscheidungsdimension. Bei der zweiten Unterscheidungsdimension des Einbezugs der Quelleninformationen berücksichtigen die ersten beiden Modelle (separate Repräsentation und Misch-Modell) diese Informationen gar nicht. Diametral anders ist das beim dritten Modell mit allen Etiketten, welches diese Informationen vollständig beinhaltet. Bei der zweiten Unterscheidungsdimension des Einbezugs von Quelleninformationen nimmt das Dokumentenmodell als viertes Modell eine Zwischenstellung ein: Es berücksichtigt partiell die Quelleninformationen bei umfassender Repräsentation der inhaltsbezogenen Informationen. Damit nimmt es mit Blick auf den kognitiven Arbeitsaufwand beim verstehenden Lesen multipler Texte / Dokumente eine mittlere Position bei der zweiten Unterscheidungsdimension ein, gehört aber bei der ersten Unterscheidungsdimension der Maximalvariante an.
Für das Dokumentenmodell als inhaltlichem Nukleus der theoretischen Grundlagen in diesem Band gibt es nun ein konkretes, alltagsnahes Beispiel, das Sie im Laufe dieses Kapitels wiederholt begleiten wird:
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
Das Smartphone und die multiplen Dokumente – ein Beispiel Stellen Sie sich vor, Sie recherchieren, nachdem Sie in einer Publikumszeitschrift eine Anzeige für ein Smartphone gesehen haben, die Ihr Interesse geweckt hat, zu diesem Smartphone. Sie scannen mit Ihrem aktuellen Smartphone den QR-Code in der Anzeige, der Sie auf die Website mit näheren Produktinformationen führt. Da das angepriesene Smartphone recht teuer ist, recherchieren Sie noch zusätzlich im Netz und finden auf einem Kundenportal diverse, inhaltlich durchwachsene Kundenbeurteilungen sowie separat dazu einen aktuellen Bericht der Stiftung Warentest. Sie haben nun also mehrere Dokumente bzw. Dokumentenarten zum Smartphone zur Verfügung: eine Zeitschriftenannonce, Herstellerangaben auf der Website des Unternehmens, mehrere Kundenrezensionen aus dem Internet sowie einen Testbericht der Stiftung Warentest. All diese Dokumente stammen von unterschiedlichen Verfasserinnen und Verfassern mit unterschiedlichen Absichten in der Kommunikation, und Sie als Leserin bzw. Leser sind jetzt gefragt, dieses Dokumentenset nicht nur hinsichtlich der einzelnen Dokumente, sondern auch hinsichtlich ihrer Verbindung untereinander so zu verstehen, dass Sie eine für sich begründete Kaufentscheidung zu treffen in der Lage sind.
2.2.1.1 Komponenten des Dokumentenmodells – an einem Beispiel
An dieser Stelle setzt das sogenannte Dokumentenmodell an (Perfetti et al., 1999), das gleichsam auf bestehende kognitionspsychologische Modelle des Leseverstehens aufsetzt (vor allem aus den Arbeiten von Werner Kintsch und Adrianus van Dijk; Kintsch & van Dijk, 1978; van Dijk & Kintsch, 1983; Kintsch, 1988, 1998). Was aktuell gemäß Britt et al. (2017) unter dem Dokumentenmodell
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2 Theoretische Grundlagen
(s. dafür ein exemplarisches Modell mit zwei Einzeldokumenten in Abbildung 2) mitsamt seinen beiden Bestandteilen – Intertextmodell und mentales Modell – zu verstehen ist, wird in Tabelle 5 erläutert.
Mentales Modell
Mentales Modell des Texts A
Intertextmodell
Dokumentenknoten (A)
Informationen zum Inhalt
Informationen zur Quelle Text A
Mentales Modell des Texts B
Intertextprädikat
Dokumentenknoten (B)
Informationen zur Quelle
Informationen zum Inhalt
Text B
Abbildung 2: Überblick über das Dokumentenmodell am Beispiel von zwei einzelnen Texten (Quelle: Britt & Rouet, 2012, S. 285, basierend auf Rouet, 2006, S. 72, mit leichten Modifikationen)
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE Dokumentenmodell: kognitive Repräsentation des Inhalts der Einzeltexte und der integrierten Informationen aller Einzeltexte Bestandteil 1 – Intertextmodell: Repräsentation der Dokumenteninformationen (z. B. AutorIn, Kontext) in Form der Dokumentenknoten mit Verbindungen sowohl zum Inhalt des jeweiligen Textes als auch zu anderen Dokumenten über das Intertextprädikat (z. B. „stimmt zu“, „stimmt nicht zu“, „unterstützt“, „widerspricht“)
Bestandteil 2 – Mentales Modell: Repräsentation des semantischen Inhalts, der aus multiplen Texten stammt und rund um die Struktur der Texte organisiert ist; das mentale Modell über alle gelesenen Texte besteht aus Teilen oder dem Gesamt aller Texte / Dokumente
Tabelle 5: Definitionen des Dokumentenmodells samt seiner zwei Hauptbestandteile (Quelle: Britt et al., 2017, S. 201 und 203; Übersetzung und Modifikation des Originalwortlauts, um die Terminologie zu vereinheitlichen)
Das Intertextmodell Beginnen wir die Erläuterung des Dokumentenmodells samt seiner Bestandteile mit dem Intertextmodell. Das wiederum besteht gemäß dem Modell aus Abbildung 2 seinerseits aus zwei Bestandteilen, für die man diverse Informationen außerhalb der eigentlichen Dokumente kognitiv repräsentieren muss: ▶ zum einen dem Dokumentenknoten für jedes einzelne gelesene Dokument, den man sich als eine Art „Steckbrief “ oder auch als „Etikett“ mit einer Sammlung von Metadaten für jedes einzelne Dokument vorstellen kann, wobei diese Sammlung bestenfalls vollständige Informationen über a) das Dokument (AutorIn, Kontext, Form); b) die rhetorischen Ziele und c) den Hauptinhalt des jeweiligen Dokuments umfasst (s. Perfetti et al., 1999, S. 104 f.); ▶ zum anderen die Verbindungen zwischen den einzelnen Dokumentenknoten in Form der Intertextprädikate. Diese Intertextprädikate bilden Beschreibungen der Beziehungen der einzelnen Dokumente, die im besten Falle sprachlich
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2 Theoretische Grundlagen
explizit markiert sind, ansonsten aber von einer lesenden Person aktiv und zum Teil kognitiv sehr aufwändig rekonstruiert werden müssen (s. Perfetti et al., 1999, S. 106 f.). Nimmt man das eingangs erwähnte Beispiel des Smartphones und der vier einzelnen Dokumentenarten (wobei wie bei den Kundenrezensionen aus dem Internet die Anzahl der einzelnen Texte / Dokumente stark variieren kann – im konkreten Beispiel sind es drei), so zeichnet sich bereits eine komplexe Struktur ab. Als (fiktives) Beispiel für ein entsprechendes, hier aus darstellerischen Gründen stark schematisch dargestelltes Intertextmodell mit vereinfachten Dokumentenknoten und Intertextprädikaten findet sich in Abbildung 3. Die Darstellung enthält insgesamt sechs einzelne Dokumente, und es sind nicht alle 15 potenziell möglichen Intertextprädikate zwischen allen Dokumenten(knoten) – im Sinne des Modells mit allen Etiketten (s. o., S. 47) – im Intertextmodell enthalten. Das hat mit der Möglichkeit zu tun, dass es (abgesehen vom Inhalt – dem Smartphone – , der dann im mentalen Modell wieder eine Rolle spielt) nicht zwingend Verbindungen zwischen sämtlichen Texten und deren Dokumentenknoten in Form der Intertextprädikate geben muss.
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Zeitschriftenannonce
verweist mit QR-Code direkt auf
partieller Widerspruch unzufriedene Internet-Kundenrezension B
zufriedene Internet-Kundenrezension A
part. Widerspr.
stimmt indirekt zu
Widerspruch
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
teilzufriedene Internet-Kundenrezension C
unterstützt mit technischen Details
HerstellerWebsite erweitert mittels Zusatzinformationen
zitiert direkt Details zitiert direkt positive Details widerspricht indirekt
Testbericht Stiftung Warentest
zitiert direkt Gesamturteil
partieller Widerspruch
Abbildung 3: Ein fiktives Beispiel für ein vereinfachtes Intertextmodell am Beispiel Smartphone-Dokumente (graue Rechtecke: Einzeldokumente; Linien mit (Doppel-)Pfeilen und kursiver Beschriftung: Intertextprädikate)
Betrachtet man nun die Verbindungen (Intertextprädikate) zwischen den sechs Dokumenten, so ergeben sich teils sehr unterschiedlich gelagerte Beziehungen zwischen den einzelnen Dokumenten. So besteht zwischen Zeitschriftenannonce und Hersteller-Website (ganz oben in Abbildung 3) ein wechselseitiges Intertextprädikat: Die Annonce verweist mit dem QR-Code direkt auf die Website des Herstellers, auf der zusätzliche technische Informationen die Annonce anreichern, welche in der Anzeige so nicht enthalten waren. Zum Testbericht der Stiftung Warentest haben beide Dokumente eine unterschiedliche Beziehung: Die Website wird vom Testbericht mit zusätzlichen (technischen) Informationen angereichert, die nicht aus dem eigenen Testdesign der Herstellerfirma stammen. Die Anzeige und der Testbericht haben wiederum ein komplexes reziprokes Verhältnis. So zitiert die Annonce einzelne positive Details aus dem Testbericht, der
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2 Theoretische Grundlagen
im Gegenzug aber Aussagen der Werbeanzeige (etwa zur Laufzeit des Akkus) partiell widerspricht. Hinzu kommen noch drei unterschiedliche Kundenrezensionen aus dem Internet. Der teilzufriedene Kunde C zitiert und gewichtet in seiner recht nüchtern gehaltenen, abwägenden Produktrezension diverse technische Informationen sowohl von der Website des Herstellers als auch aus dem Testbericht. Da er – anders als die Kundinnen A und B – einzelne Aspekte anders sieht, dafür aber in anderen zustimmt, kommt es zu einem partiellen Widerspruch zwischen den Rezensionen von Kunde C und den Kundinnen A und B. Diese wiederum beziehen sich in ihren Rezensionen auf ähnliche Themen, die sie aber – zum Beispiel anhand der Akku-Laufzeit und der Displaygröße – ganz unterschiedlich beurteilen. Deshalb besteht zwischen ihnen als Intertextprädikat ein Widerspruch. Zusätzlich gibt es bei diesen beiden Texten noch eine divergierende Verbindung zur Zeitschriftenannonce, die in ihrem Text die Größe des Displays hervorhebt. Kundin A bezieht sich auf die Werbung allgemein („Ich bin in der Werbung auf dieses Smartphone mit seinem großen Display aufmerksam geworden …“) und stimmt damit indirekt der Zeitschriftenannonce zu. Kundin B findet das Display zu klein als in der von ihr explizit erwähnten Werbeannonce, ist aber mit dem Akku und seiner Laufzeit zufrieden (ebenfalls in der Annonce erwähnt). Aus ihrem differenzierten Urteil ergibt sich als Intertextprädikat zwischen ihrer Rezension und der Annonce ein partieller Widerspruch. Die oben stehenden Beziehungen zwischen einzelnen Dokumenten sind das Ergebnis der auf im Modell leider nur sehr wenig beschriebenen kognitiven Verarbeitungsprozesse, welche die Inhalte und quellenbezogenen Informationen betreffen. Gerade die rhetorischen Ziele als Teil des Dokumentenknotens sind im Beispiel des Smartphones besonders wichtig, da sie eine umfassende Quellenbeurteilung erfordern, die insbesondere bei
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
inhaltlichen Widersprüchen zum Tragen kommt (Braasch & Bråten, 2017, s. die Aufgabe im nachstehenden Kasten). Das Smartphone, die Rhetorik und Sie Doch überlegen Sie an dieser Stelle einmal selbst: Welche rhetorischen Ziele, also kommunikativen Absichten, haben die (mutmaßlichen) Autorinnen und Autoren in ihren Dokumenten? Wie hängt dies mit den Inhalten zusammen – und wie mit den Intertextprädikaten? Analysieren Sie diese Fragen – auch mit Blick auf einen möglichen zukünftigen Kauf eines eigenen neuen Smartphones – möglichst in der gebotenen Ausführlichkeit und Tiefe.
Das mentale Modell Bislang erwähnt, aber nicht vertieft ist das mentale Modell, das die mentale Repräsentation der gelesenen und analysierten Informationen aus den Einzeltexten umfasst. Dabei baut diese Form der Repräsentation auf die des Intertextmodells auf, da letztgenanntes partieller Bestandteil des erstgenannten ist. Für das mentale Modell bietet das Intertextmodell eine Basis, weil es bereits Informationen zu dem Verhältnis der einzelnen Dokumente / Texte enthält (s. die Darstellung in Abbildung 2). Das mentale Modell geht darüber aber noch hinaus, indem es zudem die Repräsentation der eigentlichen Textinhalte noch stärker betont. In dem schematischen Modell aus Abbildung 2 wird das Verhältnis zwischen dieser Repräsentation einzelner Textinhalte als Venn-Diagramm mit einer Schnittmenge dargestellt, die man am Beispiel des Smartphones verallgemeinernd als Gründe für bzw. gegen den Kauf des konkreten Smartphones bezeichnen kann. Diese Schnittmenge der Gründe wiederum muss im Beispiel des Smartphones genauer bestimmt werden, indem man die Übereinstimmungen (in Form der Gründe für und gegen den
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2 Theoretische Grundlagen
Kauf) genauer bestimmt, was auch heißt, dass die zweidimensionale Darstellung in Form von einander überlappenden Ellipsen schnell an ihre Grenze stößt. Allerdings könnte man die gemeinsamen, aber auch nicht-gemeinsamen Gründe in die Form einer analytischen Tabelle samt Belegen und Informationen zu den einzelnen Dokumenten überführen, um so den Überblick genauer zu behalten. 2.2.1.2 Zwischenfazit: wichtige Prozesse bei der kognitiven Konstruktion des Dokumentenmodells
Deutlich geworden dürfte anhand der bisherigen Schilderungen sein, dass beim Aufbau eines mentalen Modells diverse kognitive Aktivitäten nötig sind, die sich als Lesestrategien, also planvolle, regelgeleitete Handlungspläne definieren lassen (Philipp, 2015b, S. 42 – 46). Diese Strategien haben Bråten, Britt et al. (2011) in Hinblick auf wichtige Bestandteile des mentalen Modells tabellarisch zusammengefasst. Diese zentral wirkenden Strategien im Umgang mit verschiedenen Informationsarten und Bezugspunkten sind in Tabelle 6 im Überblick dargestellt. Elemente des Dokumentenmodells
Strategische Prozesse
Informationen zu den Dokumentenknoten (im Intertextmodell)
▶ vor dem Lesen Informationen zur Quelle finden und beurteilen ▶ Beurteilung der Merkmale von Texten und deren Urheber(n) überwachen ▶ Inkonsistenzen oder Übereinstimmung bei wichtigen oder noch unsicheren Informationen dafür nutzen, um Quelleninformationen zu verwenden
Intertextprädikate
Perspektiven der Dokumente miteinander vergleichen und dabei auf Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen den Dokumenten achten
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE Elemente des Dokumentenmodells
Strategische Prozesse
Verknüpfung von Quelleninformationen (Dokumentenknoten) und Inhalten der Einzeltexte zu mentalen Modellen einzelner Texte
Belege finden, um Informationen zur Quelle (Dokumentenknoten) und Textinhalte miteinander zu verbinden und diese Informationen für eine inhaltliche Interpretation zu nutzen
Mentales Modell
Vergleich von Informationen innerhalb von und zwischen den Texten, um Inkonsistenzen oder Abweichungen zu finden
Tabelle 6: Strategische Prozesse, die die kognitive Repräsentation von verschiedenen Bestandteilen des Dokumentenmodells unterstützen (Quelle: Bråten, Britt et al., 2011, S. 51, sprachlich angepasst zur Vereinheitlichung der Terminologie)
Soweit also ein Gang durch das theoretisch begründete Dokumentenmodell anhand eines lebensweltlichen, quasi-authentischen Beispiels. Der Gang durch das Modell zeigt deutlich, dass der kognitive Aufwand bei dem verstehenden Lesen von multiplen Dokumenten / Texten relativ hoch ist (sich aber durchaus lohnt, etwa bei Abschluss längerfristiger Verträge, wenn man mehrere Angebote für Versicherungspolicen, Kredite, ärztliche Behandlungsmethoden etc. vorliegen hat). Konkret müssen lesende Personen ▶ analysieren, in welchem Verhältnis einzelne Texte / Dokumente zueinander stehen (sie müssen mithin Intertextprädikate und die auf ihnen basierenden Dokumentenknoten bilden); ▶ dafür zum Teil erst aufwändig rekonstruieren, woraus sich dieses Verhältnis aus intertextuellen und weiteren außertextuellen, zum Teil nicht immer explizit gegebenen Informationen zur verwendeten Quelle (hier: Dokument / Text) ergibt;
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▶ allgemein ein text-/dokumentenübergreifendes mentales Modell bilden und bei der Lektüre neuer Texte / Materialien aktualisieren; ▶ relativ viele Informationen einerseits intra-, andererseits intertextuell verstehen, verarbeiten, verknüpfen, beurteilen, aktualisieren und verwerfen. Die oben stehende Liste ist keineswegs schon abgeschlossen, sondern illustriert, wie anspruchsvoll und aufwändig das Verstehen multipler Texte aus der Perspektive der kognitionspsychologischen Leseforschung und Theoriebildung ist. In dem Beispiel mit dem Smartphone kommen zudem auch digitale Texte (Kundenrezensionen aus dem Internet, welche wiederum ihrerseits von anderen auf ihren hilfreichen Charakter beurteilt worden sein können, sowie die Hersteller-Website) vor, die aus dem gegenwärtigen Lesealltag kaum noch wegzudenken sind. Die hohen kognitiven Anforderungen sind inzwischen auch von der Leseforschung anerkannt worden und geraten zunehmend ins Zentrum des Erkenntnisinteresses (Afflerbach & Cho, 2009; Cho & Afflerbach, 2017; Bråten et al., in press). 2.2.2 Multiple Texte / Dokumente selektiv und zielbezogen lesen: das MD-TRACE-Modell
Das MD-TRACE-Modell – MD-TRACE steht für „MultipleDocument Task-Based Relevance Assessment and Content Extraction“, sinngemäß auf Deutsch: aufgabenbasierte Relevanzbewertung und Inhaltsentnahme bei multiplen Dokumenten (Rouet & Britt, 2011; s. für eine knappe deutsche Beschreibung: Philipp, 2017b, S. 44 – 50) – ist eine erhebliche Weiterentwicklung des Dokumentenmodells aus Teilkapitel 2.2.1. Es beschränkt sich aber primär auf das Lesen in akademischen Zusammenhängen (s. Rouet et al., 2017, S. 213).
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
Im Vergleich mit dem reinen Dokumentenmodell bildet jenes lediglich einen Bestandteil des MD-TRACE-Modells (s. Abbildung 4 am Ende dieses einleitenden Textabschnitts), genauer gesagt: einen Teil der internen Ressourcen der lesenden Person. Was das Modell außerdem noch stark von dem des Dokumentenmodells aus dem Teilkapitel zuvor unterscheidet: Ziele der lesenden Person auf der einen Seite und der Kontext auf der anderen Seite werden viel stärker in diesem Modell gewichtet, was sich insbesondere im Vorhandensein eines Aufgabenmodells niederschlägt (s. Rouet & Britt, 2011, S. 20 f.). Eine der treibenden Kräfte hinter dem MD-TRACE-Modell (Rouet & Britt, 2011) bzw. seinem Vorläufer TRACE (Rouet, 2006; dieses Modell ist noch nicht spezifisch auf multiple Dokumente ausgelegt) war ein blinder Fleck bzgl. des Lesens, bei dem es (statt des reinen Leseverständnisses) um eine gezielte Informationsbeschaffung im Sinne einer Beantwortung einer Frage oder Erreichung eines anderen Ziels geht. Hier stellen sich andere, nämlich relevanzbasierte Anforderungen an eine lesende Person, die aufwändigere, zum Teil rekursive Leseprozesse verlangen (McCrudden, 2018). Rouet (2006, S. 104) verdeutlicht dies an drei Punkten, die inhaltlich aufeinander aufbauen, weil sie den umfassenden Leseprozess im Gesamten betreffen: 1. Nicht immer ist die nötige Information nur und alleinig in einem Text zu finden. Vielmehr müssen eigene Wissensbestände und die textuellen Informationen nicht nur interagieren, sondern die Aktivierung des Vorwissens ist mitunter entscheidend dafür, ob und wie man die Informationen in – teils erst zu recherchierenden – Texten findet. 2. Die Beurteilung von Relevanz und das Verständnis von Informationen in Texten / Dokumenten sind schwerlich voneinander zu trennen, sondern beeinflussen einander sowohl sachlogisch als auch chronologisch in verschiedenen Richtun-
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gen. Verstehen und Relevanzzuweisung interagieren damit hochdynamisch und haben damit auch einen Einfluss auf den weiteren umfassenden Leseprozess. 3. Das Verhältnis von gefundenen Informationen in Texten / Dokumenten und der zu bewältigenden Aufgabe ist nicht in dem Sinne linear, dass die gefundene Information sofort nach der Relevanzbeurteilung integriert oder verworfen wird. Vielmehr erfolgt die kognitive Verarbeitung eher zyklisch – insbesondere bei sehr komplexen oder wenig vorstrukturierenden Arbeitsaufträgen. Das bedeutet: Eine lesende Person entwickelt erst sukzessive eine kognitive Repräsentation der Inhalte aus Dokumenten mit Blick auf die Aufgabe. Dabei ist es unter Umständen erforderlich, im umfassenden Leseprozess früher gelesene Informationen mittels diverser (meta-)kognitiver Prozesse neu zu beurteilen, ehe ein befriedigendes, kohärentes Dokumentenmodell entsteht. Die drei nur kurz skizzierten Aspekte einer relevanzbasierten Beurteilung und Informationsextraktion schlagen sich auch in der Architektur des MD-TRACE-Modells direkt nieder. Ehe es im Folgenden um eine Beschreibung des MD-TRACE-Modells, einem komplexen Flussdiagramm, gehen wird, muss an dieser Stelle noch ein wichtiger Hinweis zu dem MD-TRACE-Modell aus Abbildung 4 erfolgen: Das dortige MD-TRACE-Modell ist eine Synthese der zwei in der Abbildungsbeschriftung genannten Quellen. Der Grund dafür ist, dass in praktisch allen Bereichen des Modells aus Abbildung 4 im Vergleich der beiden zugrundeliegenden Originalmodelle leichte bis doch deutliche Unterschiede bestanden. Im Sinne einer angemessenen Modellierung von MD-TRACE wurden deshalb wichtig wirkende Bestandteile aus beiden veröffentlichten Modellen synthetisiert.5 5
Dass eine solche Synthese Fragen mit sich bringt, zeigt sich im Kasten ab Seite 66 in dem es um die Reihenfolge und Konsequenzen von
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
Informationsbasierte Prozesse
Gedächtnisbasierte Prozesse
Interne Ressourcen
Externe Aufgabenspezifikationen
(1) Aufgabenmodell spezifikationen kreieren/ erneuern prüfen –
(1) Aufgaben(2) modell kreieren/ erneuern
Aufgabenmodell
Suchhilfsmittel Quellen Textorganisation
(1) Aufgaben(4) modell Dokument kreieren/ auswählen erneuern –
(3) Externe Informationen nötig?
Lese- und Suchfähigkeiten
Inhalte der Dokumente
(5) Informationen verarbeiten –
Externe Ressourcen
+ –
Vorwissen
–
Von der lesenden Person hergestellte (Hilfsund Zwischen-) Produkte
(6) Dokument relevant?
(7) Aufgaben(1) produkt modell kreieren/ kreieren + bzw. erneuern erneuern (8) Produktziele erfüllt?
Dokumentenmodell –
Selbstregulationsfähigkeiten
+ Fertig.
Abbildung 4: Überblick über das MD-TRACE-Modell (synthetisierende Darstellung gemäß Rouet, 2006, S. 105, und Rouet & Britt, 2011, S. 24)
2.2.2.1 Die drei Bereiche von Hauptbestandteilen im MD-TRACE-Modell
Das MD-TRACE-Modell in Abbildung 4 unterscheidet in seinem allgemeinen Aufbau drei große Bereiche mit Hauptbestandteilen (Paraphrase im Folgenden überwiegend gemäß Rouet & Britt, 2011, S. 24 – 30): 1. die externen Ressourcen: Hier sind im Modell (ganz links) vier Elemente enthalten, die sich zu drei Kategorien zusammenfassen lassen: a) die externen Aufgabenspezifikationen, b) die textuellen Ressourcen (hier: Suchhilfsmittel, Quellen sowie Organisation und Inhalte der Texte / Dokumente) sowie c) die von einer lesenden Person während und nach kognitiven Entscheidungen und Prozessen geht.
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dem Umgang mit den Dokumenten / Texten hergestellten (Hilfs- bzw. Zwischen-)Produkte. 2. die internen Ressourcen: Diese Ressourcen (ganz rechts im Modell) sind, wie es der Name schon sagt, innerhalb der lesenden Person zu lokalisieren. Dabei lassen sich zwei Arten der internen Ressourcen voneinander unterscheiden: a) zeitlich übergreifende Ressourcen, also relativ stabile Merkmale einer Person wie Vorwissen sowie Fähigkeiten im Lesen und Suchen zum einen und zur Selbstregulation zum anderen, sowie b) transitorische Ressourcen, mithin eher instabile und vor allem mit dem konkreten Lesen und der aktuellen Aufgabe verbundene kognitive Repräsentationen. Zu diesen transitorischen Ressourcen zählen die im Modell in Ellipsen dargestellte Aufgaben- und Dokumentenmodelle, welche einerseits mit dem Aufgabenverständnis und andererseits mit dem Verständnis der Dokumente / Texte zusammenhängen. 3. die kognitiven Prozesse zwischen den in- und externen Ressourcen: Im Zusammenspiel von in- und externen Ressourcen vollziehen sich verschiedene Prozesse (in der Mitte des Modells), die im Modell als komplexes Flussdiagramm dargestellt sind. Diese Prozesse sind tendenziell eher gesteuert von den externen Ressourcen und werden daher als a) informationsbasierte Prozesse bezeichnet (links in der Abbildung) oder aber eher initiiert von den internen Ressourcen (rechts in der Abbildung), weshalb man sie im Modell als b) gedächtnisbasiert bezeichnet. Auch wenn diese beiden Arten von Prozessen sachlogisch zwei übergeordneten Kategorien zugeordnet werden können, so hängen sie doch dynamisch miteinander zusammen.
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
2.2.2.2 Das Zusammenspiel der Bestandteile im MD-TRACE-Modell am konkreten (schulischen) Beispiel
Nach diesem kursorischen Überblick über das MD-TRACEModell und seine Hauptkomponenten erfolgt nun ein genauerer Blick und ein Gang durch das Modell. Um die theoretischen Überlegungen besser zu veranschaulichen, sollen sie mit dem Beispiel des Smartphones aus dem Teilkapitel 2.2.1 ergänzt und beschrieben werden. Dabei ist nun – anders als im Teilkapitel 2.2.1 – nicht mehr nur alleinig das eigene Interesse am Kauf eines solchen Gerätes leitend, sondern eine fiktive schulbezogene Aufgabe der Sekundarstufe (Paraphrase des Modells gemäß Rouet, 2006, S. 105 – 108, und vor allem Rouet & Britt, 2011, S. 31 – 43). Die konkrete Aufgabenstellung lautet: „Lies die sechs Dokumente zu Eigenschaften des Smartphones vorbereitend für eine mündliche Präsentation (samt knapper Visualisierung) in der kommenden Woche. Sammle Argumente für und gegen den Kauf des Smartphones und stell die aus deiner Sicht drei jeweils wichtigsten Argumente für und gegen den Kauf vor. Achte dabei insbesondere darauf, in welcher Quelle und warum die Gründe für und gegen den Kauf entweder direkt genannt werden oder aber sich aus der genauen Prüfung und Verknüpfung der Informationen aus den sechs Dokumenten ergeben.“
Laut MD-TRACE-Modell interagieren in den ersten beiden, inhaltlich zusammenhängenden Schritten 1) Prüfen der Aufgabenspezifikationen und 2) Kreieren eines Aufgabenmodells sowohl die externen als auch die internen Ressourcen miteinander. Dies geschieht, indem die lesende Person 1) die Aufgabenspezifikationen anhand des Arbeitsauftrags prüft und mental repräsentiert.
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2 Theoretische Grundlagen
Dies sind im Beispiel der Smartphone-Präsentation unter anderem folgende: ▶ eine vorbereitende Lektüre von sechs Dokumenten über das Smartphone, ▶ um bis zu einem Datum – unter Berücksichtigung etwaiger weiterer Verpflichtungen – eine mündliche Präsentation (von nicht spezifiziertem Umfang) mit Visualisierung vorzubereiten ▶ und dabei eine Gegenüberstellung von drei selbstgewählten wichtigen Pro- und Contra-Argumenten ▶ unter Berücksichtigung von Quellen sowie direkt gegebenen und indirekten, zu erschließenden Informationen zu erstellen. In einem weiteren Schritt formiert die lesende Person anhand der extrahierten Aufgabenspezifikationen ein intern repräsentiertes 2) Aufgabenmodell. Dies enthält Informationen sowohl zum Ziel und zum erwarteten Ergebnis der Aufgabe (mündliche Präsentation als Hauptziel mit untergeordneten Teilzielen wie Anzahl der Argumente – mithin handelt es sich um ein zu erstellendes Aufgabenprodukt) als auch zum Vorgehen, um dieses Ziel zu erreichen (Flower, 1990*). Hier muss gerade bezogen auf das Vorgehen die lesende Person Informationen aus dem eigenen Vorwissen aktiv nutzen, um die Aufgabe sinnvoll zu sequenzieren und die notwendigen Schritte ausführen zu können. Sie muss also wissen, was Argumente sind, was eine Visualisierung ist, was eine mündliche Präsentation beinhaltet etc. Außerdem muss sie wissen, wie sie zu einer Gewichtung der Argumente gelangt, um die wichtigsten sechs Argumente (mit Bezug zur Quelle und ggf. zur Rekonstruktion bei implizit gegebenen Informationen) zu finden und wo möglich aufeinander zu beziehen. Das Aufgabenmodell ist insgesamt nicht statisch, sondern kann und soll bei Bedarf aktualisiert und modifiziert werden – dies zeigen
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
die Pfeile im Flussdiagramm in Abbildung 4 (s. Prüfung der Produktziele, Schritt 8 unten rechts in der Grafik). Ausgehend vom soeben skizzierten Aufgabenmodell, welches das Resultat einer eingehenden Analyse ist, prüft eine Person, 3) ob externe Informationen (aus den externen Ressourcen) nötig sind. Dies erfolgt infolge eines Abgleichs von eigenem Vorwissen und externen Aufgabenspezifikationen. Diese Einschätzung ist rekursiv angelegt und sowohl von dem Ergebnis der relevanzbasierten Dokumentenauswahl und -lektüre (gemäß MD-TRACEModell Schritte 4 – 6) als auch von der (zwingend erforderlichen) Einschätzung der Zielerfüllung (s. Schritt 8 in Abbildung 4) abhängig. Sie fungiert als Leitfrage im weiteren Prozess der Aufgabenbearbeitung, indem sie als zielbezogene Leitvorstellung das Lesen und Entscheiden durch (meta-)kognitive Abgleichaktivitäten strukturiert (s. Kasten). Bezogen auf das Beispiel mit dem Smartphone muss eine lesende Person also entscheiden, bis wann sie welche Informationen aus dem eigenen Vorwissen bzw. den Dokumenten benötigt und ob sie ggf. weiter recherchieren muss. Hierfür ist wiederum das Aufgabenmodell mit der Repräsentation der Teilschritte bei der Aufgabenbearbeitung entscheidend, da zum Beispiel bei einigen Informationen stärker vorwissens- und bei anderen eher dokumentenbasierte Vorgehensweisen nötig erscheinen können.
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2 Theoretische Grundlagen
Wählen, Verarbeiten, Prüfen oder Prüfen, Wählen, Verarbeiten – was kommt zuerst, was danach? Ein Vergleich zweier Modelle und ihrer Reihung wichtiger kognitiver Prozesse TRACE und dessen Nachfolger MD-TRACE setzen bei der Se-
quenz der Aktivitäten etwas andere Akzente. Diese Akzentuierungen betreffen auf den ersten Blick vor allem die Reihenfolge der MD-TRACE-Schritte 4 – 6 (Dokument auswählen, Informationen verarbeiten, Prüfung der Relevanz eines Dokuments samt seiner Informationen), aber auch – tieferliegend – das Updating des Dokumentenmodells:6 ▶ TRACE-Modell: Während Rouet (2006, S. 107) in seinem TRACE-Modell eine Abfolge vorschlägt, bei der jemand zunächst 4) aus einem Dokumentenset (aus den externen Ressourcen) ein verfügbares Dokument auswählt, dann 5) die Inhalte verarbeitet und 6) die Relevanz des Dokuments prüft, um dann das Dokumentenmodell zu modifizieren (dieser Abfolge folgt auch das Modell aus Abbildung 4), gibt es in dem MD-TRACE-Modell einen anderen Aufbau (Rouet & Britt, 2011, S. 34 – 39). 6
Dies steht gewissermaßen in direktem Zusammenhang mit der zweiten, zu Beginn dieses Teilkapitels genannten relevanzbasierten Anforderung beim selektiven Lesen multipler Texte (s. o., S. 59). Rouet und Britt (2011, S. 34) gehen in ihrer vom TRACE-Modell (Rouet, 2006) abweichenden Darstellung darauf ein, dass die von ihnen vorgeschlagenen Teilschritte sachlogisch trennbar sind, aber hochdynamisch interagieren. Dies zeigt sich auch im ursprünglich auf TRACE basierenden Modell in Abbildung 4 welches ein rekursives Prüfen und Verarbeiten von einzelnen Dokumenten und den in ihnen enthaltenen Informationen vorsieht. Dies steht in Einklang mit neueren lesetheoretischen Erkenntnissen, nach denen Informationsverständnis und -beurteilung gleichsam zwei Seiten einer Medaille bilden (Richter, 2015).
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
▶ MD-TRACE-Modell: Konkret sind dort insbesondere die Prozesse der a) Relevanzprüfung (unter Zuhilfenahme der (etwaigen) Suchhilfsmittel, der Quelleninformationen und der Textorganisation) und der Dokumentenauswahl im MD-TRACE-Modell als erster von insgesamt drei Teilschritten zusammengefasst, dem die b) Informationsverarbeitung folgt. Diese Informationsverarbeitung umfasst bei MD-TRACE – anders als bei TRACE – nicht nur die reine Informationsverarbeitung, sondern auch – mündend in einen dritten Teilschritt – c) den Aufbau und die Aktualisierung des Dokumentenmodells als transitorische interne Ressource. Diese skizzierten Unterschiede in Reihenfolge und berücksichtigten Elementen verdeutlichen die große Dynamik bei der Informationsbeurteilung und -verarbeitung im umfassenden Leseprozess bei multiplen Dokumenten (s. auch Fußnote 6). Entscheidend ist hier die Differenz vor allem beim Dokumentenmodell, welches besonders bei MD-TRACE stärkere systematische Berücksichtigung findet – gerade in Hinblick auf dessen Aktualisierung im Prüfprozess der einzelnen Dokumente. Hinzu kommt noch die zunächst auffälligere Differenz bei der Reihenfolge der einzelnen Schritte. Gleichwohl gibt es auch große inhaltliche Schnittmengen zwischen dem TRACE- und MDTRACE-Modell, welche die grundsätzlich vorhandenen Komponenten – darunter die Schritte – im Modell betreffen.
Wendet man sich nach dem kleinen, aber alles andere als trivialen Exkurs über bzw. diesem Zoom auf den lokalen Aufbau von MD-TRACE und seinem Vorgänger TRACE aus dem Kasten zum Beispiel mit dem Smartphone zu, dann ist nun der Schritt 5), die Verarbeitung der Information aus den Dokumenten, von Belang. Er ist vor allem mit dem Aufbau und dem ggf. nötigen
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2 Theoretische Grundlagen
Anpassen eines Dokumentenmodells gleichzusetzen, wobei die Anpassung sich unter anderem durch ein erneutes Durchlaufen von Entscheidungen unter Zuhilfenahme weiterer externer Dokumente ergibt (s. Rouet & Britt, 2011, S. 37 – 39). Insofern umfasst dieser Schritt prinzipiell das, was in der allgemeinen Beschreibung zum Aufbau eines Dokumentenmodells schon in Teilkapitel 2.2.1 dargestellt wurde. Allerdings wird diese Konstruktion des Dokumentenmodells von einer in Hinblick auf die Aufgabenanforderungen und Informationsbedürfnisse abgestimmten und damit relevanzbasierten Auswahl gesteuert. Dies unterscheidet – unter anderem – das MD-TRACE-Modell bei der Konstruktion des Dokumentenmodells entscheidend von der im zuvorigen Teilkapitel beschriebenen allgemeinen Konstruktion eines Dokumentenmodells. Hinzu kommt im Falle des Beispiels mit dem Smartphone-Auftrag, dass eine genaue Analyse von Informationsarten unter Berücksichtigung der Quellen erforderlich ist. Hierauf muss man also als lesende Person bei der Konstruktion des Dokumentenmodells mit Blick auf die Aufgabenstellung gesonderte Aufmerksamkeit lenken. Die eben angesprochene Entscheidung über und Auswahl von relevanten Dokumenten (Schritte 4 und 6) erfolgt nach einer Prüfung mehrerer Aspekte, die sich zum einen auf den Nutzen eines Dokuments zur Zielerreichung beziehen und zum anderen auf die damit verbundenen Kosten (s. Rouet & Britt, 2011, S. 34 – 37). Damit werden mögliche folgenschwere Entscheidungen zur Auswahl getroffen, aber auch zur Verarbeitungstiefe beim Lesen. Zunächst zum Nutzen am Beispiel des Smartphones: Hier ist eine lesende Person gefragt, bei jedem Dokument zu prüfen, ob es mit Blick auf die Aufgabenstellung und die Informationsbedürfnisse verspricht,
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
a) thematisch einschlägig (Wie ist eine Werbung gegenüber technischen Informationen auf Website oder im Testbericht zu beurteilen?), b) nützlich (Erhalte ich die gerade gesuchte(n) Information(en)? etc.) und c) hinsichtlich der Informationen belastbar bzw. vertrauenswürdig zu sein (Stichwort: anonyme Kundenrezension vs. ausreichend verifizierter Testbericht). Es ist also nötig zu prüfen, welche Fragen bzw. Aufgaben mit einem Dokument unter Berücksichtigung der Merkmale eines Dokuments beantwortet werden können. Dies führt zur Prüfung der Kosten hinsichtlich a) der Zugänglichkeit des Dokuments und der Informationen (Bekomme ich die Information schnell? Muss ich erst noch recherchieren? etc.) und b) des Aufwands für die kognitive Verarbeitung des jeweiligen Dokuments (Wie lesbar ist es? Wie lang und komplex ist ein Text?). Wer also den schulischen Auftrag zum argumentbasierten Präsentieren mithilfe der insgesamt sechs Dokumente bearbeitet, wird vermutlich mehrfach Relevanzentscheidungen treffen müssen, um Subziele aus dem Aufgabenmodell bearbeiten zu können, und dies ist – wie diverse andere Prozesse – nicht ohne Selbstregulationsfähigkeiten denkbar. Dies führt in den Schritt 7): das Erstellen bzw. Aktualisieren des Aufgabenprodukts (s. Rouet & Britt, 2011, S. 39 – 43). Im Fall des Smartphone-Beispiels soll dies eine mündliche Präsentation samt darzustellender Argumentstruktur und Visualisierung sein. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier nicht von einem homogenen Aufgabenprodukt die Rede sein kann, sondern dass sowohl schriftliche Produkte (Visualisierung, die sich an die Klassenmitglieder richtet) als auch Hilfs- und
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2 Theoretische Grundlagen
Zwischenprodukte für die Präsentation (Notizen, Kommentierungen, Ordnung dieser Informationen, Stichwortzettel für die mündliche Präsentation) entstehen. Diese (Hilfs-/Zwischen-) Produkte als Teil der externen Ressourcen speisen sich letztlich aus den Aufgabenanforderungen (samt deren Folgen) und dem Dokumentenmodell. Die Hilfs-, Zwischen- und Aufgabenprodukte ihrerseits bilden aber noch nicht den Abschluss. Dieser folgt (vorläufig) erst im Schritt 8), der Überprüfung des Produkts hinsichtlich der Zielerreichung (s. Rouet & Britt, 2011, S. 43). Diese Überprüfung vollzieht sich mit Bezug zum Aufgabenmodell, und im Falle einer noch nicht zufriedenstellenden Lösung ist gemäß MD-TRACE eine Rückkehr zu früheren Stationen im Gesamtprozess (Schritte 1, 2, 3 und 7) möglich. Eine solche Rückkehr an jeweils frühere Stationen geht damit einher, aufwändige, mit Blick auf die Selbstregulationsfähigkeiten umfassende Reparaturen vorzunehmen, um das angestrebte Ziel einer Aufgabe zu erreichen. Wer also die Aufgabe zum mündlichen Smartphone-Referat bearbeitet, das auf der Lektüre von sechs Dokumenten mit spezifischen Hinweisen basiert, kann sowohl diese Aufgabenspezifikationen als auch deren mentale Repräsentation (und ggf. auch vorwissensbasierte Anreicherung) dafür nutzen, die entstandenen Produkte zu überprüfen und, so notwendig, weitere Arbeitsschlaufen zu durchlaufen. 2.2.2.3 Zwischenfazit: wichtige Schritte mit ihrer jeweiligen Bedeutung und ihren Ergebnissen im MD-TRACE-Modell
Die soeben vorgenommene Entfaltung des MD-TRACE-Modells mit dem Smartphone-Beispiel verdeutlicht, dass dieses Modell im Vergleich zum alleinigen Aufbau eines Dokumentenmodells höhere und andere Erfordernisse an eine lesende Person aufweist, weil man diverse Entscheidungen treffen muss, einen Auf-
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2.2 Zwei Vorläufermodelle: Dokumentenmodell und MD-TRACE
gabenbezug sicherzustellen hat und auch noch Produkte (jenseits des kognitiv repräsentierten Verstehensproduktes) herstellt. All diese Aspekte sind auf komplexe Weise miteinander verwoben und verknüpft. Es ist also unschwer abzuleiten, dass Personen, die gemäß des MD-TRACE-Modells lesend multiple Dokumente nutzen, kognitiv stark gefordert sind. Um diese Anforderungen aus den einzelnen Schritten mit ihren verschiedenen Ergebnissen und zugehörigen Bedeutungen nochmals vor Augen zu führen, versammelt Tabelle 7 überblicksartig die Essenz des MD-TRACEModells. Im Vergleich zu den Hauptprozessen zum Dokumentenmodell aus Teilkapitel 2.2.1.2 (in Tabelle 6) fällt auf, dass bis auf den Schritt 5 aus Tabelle 7 keine Parallele besteht. Kurzum: MD-TRACE ist allein schon bei der Anzahl der Schritte, aber auch bei deren qualitativen Unterschieden und Erfordernissen nochmals erheblich komplexer.
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Bedeutung
Ergebnisse
1) und 2): Aufgabenmodell aufgrund der Aufgabenspezifikationen kreieren / erneuern
Explizite Aufgabenmerkmale und kontextuelle Beschränkungen kognitiv verarbeiten
Aufgabenmodell (gedächtnisbasierte Repräsentation der Aufgabe mit deren Zielen und erwarteten Ergebnissen)
3) Bedarf an externen Informationen prüfen
Beurteilung von eigenem gegenwärtigen Wissensstand und Zielzustand
Entscheidung, sich externen Informationsquellen zuzuwenden oder anders vorzugehen
4) (in Verbindung mit 6) Dokument auswählen
Nutzung von externen Ressourcen (Inhaltsverzeichnisse, Menüs, Indizes, Überschriften, anderen (textuellen) Informationen etc.)
Auswahl eines Dokuments
5) Informationen aus dem Dokument / den Dokumenten verarbeiten (inkl. Verständnis von einzelnen und multiplen Dokumenten)
▶ Lesen und Leseverstehen der einzelnen Dokumente ▶ dokumentenübergreifende Belege finden ▶ Verarbeitung sowie Vergleichen von Informationen
sukzessiver Aufbau eines Dokumentenmodells
7) Aufgabenprodukt kreieren bzw. erneuern
Informationen in ein (Zwischen-)Produkt überführen (z. B. Sprechen, Schreiben, Zeichnen, Weiterverarbeiten etc.)
(Zwischen-)Produkt gemäß Aufgabenspezifikationen
8) Prüfung der Erfüllung der Produktziele in Bezug auf das Aufgabenmodell
▶ Vergleich des Aufgabenprodukts mit dem -modell ▶ Zielerreichung und ggf. weitere Schritte zur Zielerreichung prüfen
Entscheidung, Aktivitäten entweder zu stoppen oder vorherige Schritte (zum Teil) erneut zu absolvieren
Tabelle 7 Hauptschritte bei der Konstruktion eines mentalen Modells (und zur übergeordneten Aufgabenbearbeitung) im MD-TRACE-Modell (Quelle: Bråten, Britt et al., 2011, S. 53, sprachlich vereinheitlicht, ergänzt und modifiziert)
2 Theoretische Grundlagen
Schritte bei MD-TRACE
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
2.3 Ein aktuelles Modell für das zielbezogene, problemlösende Verwenden multipler Texte / Dokumente: RESOLV Das derzeit aktuellste Modell RESOLV (REading as Problem SOLVing – deutsch: Lesen als Problemlösen) trägt seinen Namen deshalb, weil es den Leseprozess als grundsätzlich offenen, entscheidungsbasierten, eng mit dem Kontext und einer spezifischen Leseaufgabe verknüpften Problemlöseprozess modelliert (Britt et al., 2017, 2018; Rouet et al., 2017). Damit geht es nochmals weiter als MD-TRACE und das Dokumentenmodell, weil es nun nicht mehr lediglich darum geht, einen gesamten Text bzw. multiple Dokumente verstehend zu lesen, sondern das Lesen mit einem leserseitigen Ziel und einem konkreten Bezug zu einer Aufgabe innerhalb eines absichtsvollen, hochkomplexen, dynamischen Problemlöseprozesses stattfindet (s. dazu allgemein: Dinet, Chevalier & Tricot, 2012). Die Forschungsgruppe, die das RESOLV-Modell entwickelt hat, zeichnet sich auch für die Vorläufermodelle des Dokumentenmodells und MD-TRACE (s. Teilkap. 2.2) inhaltlich verantwortlich, formuliert aber selbstkritisch angesichts des neueren Forschungsstandes drei Kritikpunkte an den Vorgängermodellen, wobei die Selbstkritik sich vor allem auf das MD-TRACEModell (s. Teilkap. 2.2.2) bezieht (s. Britt et al., 2017, S. 20 f.), womit auch die Treibkraft zur Entwicklung des neuen RESOLVModells benannt wäre: 1. Insbesondere an ihrem MD-TRACE-Modell moniert die Autorinnengruppe, dass die Entscheidungen dichotom entweder als „Ja“ (in Abbildung 4 auf S. 61 als +) oder „Nein“ (–) erfolgen. Wenn ein Text allerdings einer lesenden Person zu einem bestimmten Zeitpunkt als möglicherweise relevant erscheint und deshalb provisorisch noch im Gesamtset aller Dokumente behalten wird, dann wirken simplifizierende,
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2 Theoretische Grundlagen
einander ausschließende Kategorien nicht mehr sinnvoll. Damit bezieht sich der erste Kritikpunkt auf eine allzu binäre Art der Entscheidungen im umfassenden Leseprozess multipler Texte / Dokumente. 2. Der zweite Kritikpunkt betrifft ebenfalls das MD-TRACEModell und hier den Zeitpunkt der Entscheidungen, die gemäß Modell aus Abbildung 4 an idealtypischen Stellen stattfinden. Diese Entscheidungen sind durch Rückkopplungen zwar nicht statisch, dennoch kritisiert die Forschungsgruppe am eigenen Vorgängermodell eine gewisse Starrheit und Linearität, die nicht dem Umstand gerecht wird, dass lesebezogene Entscheidungen hochgradig kontextund zielabhängig sind und damit einerseits sehr individuell ausfallen und andererseits jederzeit vorkommen können. 3. Der dritte Kritikpunkt zielt auf Hindernisse und mögliche Sackgassen ab, die im MD-TRACE-Modell so nicht vorgesehen bzw. berücksichtigt sind. Was passiert, wenn beispielsweise eine lesende Person ein (Unter-)Ziel für sich formuliert hat, aber es mit einem konkreten Dokument nicht erreichen kann, ist beim MD-TRACE nur unzureichend spezifiziert. Was die drei (Selbst-)Kritikpunkte eint: Sie alle haben mit dem selbstregulierten Lesen zu tun, also einem Lesen, bei dem Leserinnen und Leser metakognitive und kognitive Aktivitäten flexibel und adaptiv so orchestrieren, dass sie ihre lesebezogenen Ziele erreichen (s. Britt et al., 2017, S. 28 – 44; Philipp, 2012, S. 50 – 57). 2.3.1 Sechs Basisannahmen des RESOLV-Modells
Die Autorinnen und der Autor des RESOLV-Modells legen ihrem Modell mehrere wichtige Basisannahmen zugrunde, die zum Teil inhaltliche Überlappungen bzw. Anknüpfungspunkte auf-
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
weisen. Das Forschungsteam selbst schreibt von fünf, insgesamt nur sehr knapp skizzierten Basisannahmen (s. Britt et al., 2017, S. 46 – 51, und Rouet et al., 2017, S. 203). Faktisch sind es aber mehr und zum Teil auch sehr weitreichende Prämissen, die RESOLV zugrunde liegen. Deshalb wurde die erste Basisannahme für dieses Buch ergänzt – sie ist gleichsam eine übergeordnete Prämisse und nicht völlig trennscharf von den anderen Prämissen zu begreifen. Die sechs entscheidenden Grundannahmen sind im Kasten zunächst überblicksartig zusammengestellt und werden im Fließtext kurz erläutert. Die sechs Basisannahmen von RESOLV im Überblick 1.
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Lesen hat weniger das Ziel, einen oder mehrere Texte komplett im Sinne des Autors / der Autorin zu verstehen, sondern hängt eher von leserseitigen Zielen und dem Kontext ab. Lesen erfolgt adaptiv. Die kognitiven Verarbeitungskapazitäten beim Lesen sind limitiert. Während des Lesens beurteilen lesende Personen ihr „Feeling of Knowledge“. Lesende Personen analysieren und beurteilen die physischen, kognitiven und emotionalen Kosten des Lesens in Bezug auf den zu erwartenden Nutzen. Entscheidungen zu lesebezogenen Aktivitäten erfolgen gemäß Schwellenwerten.
1) Lesende Personen und ihre (kontextabhängigen) Ziele steuern das Lesen, weniger die Intention des Autors / der Autorin
Die bisherige Leseforschung war gemäß dem Forschungsteam zu sehr von einer aus seiner Sicht korrekturbedürftigen Annahme geprägt: dass das Leseverstehen sich vorrangig darin zeigt, einen Text möglichst vollständig und gemäß der von der Autorin
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bzw. dem Autor beabsichtigten kommunikativen Absicht zu verstehen. Dies weist bei aller konstruktiven Eigenleistung einer lesenden Person dieser Person im Leseprozess eine andere Rolle zu als bei RESOLV. Das RESOLV-Modell geht davon aus, dass eine lesende Person Texte eher für ihre höchst eigenen Ziele in ihrem individuellen Problemlöseprozess verwendet und Texte dafür gleichsam in den Dienst stellt. Dies zeigt sich empirisch etwa darin, ob man a) Texte zu Zwecken der Unterhaltung oder des Lernens liest (van den Broek et al., 2001*; Zhang & Duke, 2008*), b) Texte in Hinblick auf spezifische, der lesenden Person zum Zeitpunkt der Lektüre bereits bekannte Aufgaben rezipiert (Vidal-Abarca, Salmerón & Mañá, 2011), c) komplexere Aufgaben bearbeitet, für die man Texte liest (Bråten & Strømsø, 2003*; Cho, 2014; Strømsø, Bråten & Samuelstuen, 2003*), oder d) Texte aus einer bestimmten Perspektive lesen soll (McCrudden, Magliano & Schraw, 2010). Diese Liste ist unvollständig und lässt sich erheblich erweitern (s. zum Beispiel die umfassende Liste der Ergebnisse aus der Studie von Lorch, Lorch & Klusewitz, 1993*, zu Lesesituationen und ihren Merkmalen). 2) Adaptives Lesen
Lesen erfolgt mit einer Absicht, wobei die Absichten höchst unterschiedlich sein können (etwa zur Unterhaltung, zur Vermeidung von Langeweile – s. zu Lesemotiven als Basis von verschiedenen Facetten der Lesemotivation umfassend: Schiefele et al., 2012). Diese Absichten sind die Grundlage für eine zielbezogene, kognitive Investition im Leseprozess. Zur Adaptivität beim Lesen gehört auch der Bezug zu einem Kontext (mitsamt
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Aufgabenstellungen), der beeinflusst, wie, wozu und mit welchen Zielen Personen Texte lesen. Daraus ergibt sich, dass der Erfolg beim Lesen nicht allein vom Text abhängt, sondern auch von der mentalen Repräsentation weiterer textexterner Informationen, welche den Leseprozess steuern. 3) Limitierte kognitive Verarbeitungskapazitäten beim Lesen
Das menschliche kognitive System ist begrenzt, vor allem mit Blick auf das Arbeitsgedächtnis und hinsichtlich der exekutiven Funktionen. Dies beeinflusst sowohl den Informationsabruf als auch die Speicherung von Informationen – auch beim Leseverstehen, bei dem mittlere Korrelationen zwischen Arbeitsgedächtnisleistungen (Quinn & Wagner, in press; Peng et al., 2018) und exekutiven Funktionen (Follmer, 2018) nachgewiesen werden konnten. Die limitierten Verarbeitungskapazitäten beeinflussen im RESOLV-Modell die Fähigkeit, Aufgaben- und Kontextmodelle aufzubauen, und darüber hinaus die Fähigkeit, die eigenen lesebezogenen Ziele zu überwachen und Entscheidungen im Leseprozess zu treffen. Zudem kommen textuelle Merkmale hinzu, die der individuellen Verarbeitungskapazität entgegenkommen oder die kognitiven Prozesse erschweren. Hier geht das RESOLV-Modell davon aus, dass lesende Personen zunächst diverse unvollständige mentale Repräsentationen haben, die sie im prototypisch gelingenden Fall während des Lesens vervollständigen und reparieren. 4) Beurteilung bzgl. „Feeling of Knowledge“
Die Beurteilung bzgl. des „Feeling of Knowing“ stammt aus der kognitiven Psychologie (s. dazu Miner & Reder, 1994, und Schwartz, 1994). Hierbei handelt es sich um eine metakognitive Einschätzung des eigenen Wissens in Bezug darauf, dass man eine
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nötige Information entweder im eigenen Langzeitgedächtnis verfügbar hat und damit darauf zugreifen kann oder aber hierfür auf externe Quellen (wie Texte) rekurrieren muss. Diese Einschätzung hängt mit der Repräsentation des aufgabenbezogenen Ziels zusammen, welches unter anderem die Art und Beschaffenheit der Informationen betrifft. Gemäß RESOLV beeinflusst die Beurteilung des „Feeling of Knowledge“, ob, was und wie man etwas liest. 5) Kosten-Nutzen-Analyse mit Blick auf das Ziel
Diese Prämisse hängt eng mit der Lesemotivation zusammen und beinhaltet, dass eine lesende Person in Hinblick auf ihr lesebezogenes Ziel bzw. ihre lesebezogenen Ziele während des gesamten Leseprozesses abwägt, ob der in Aussicht stehende Nutzen die entstehenden Kosten durch verschiedene Aktivitäten rechtfertigt. Das kann zum Beispiel die Wahl der Quellen beeinflussen (indem etwa das Dokument mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, die gesuchte Information zu enthalten, eher gewählt wird, oder aber das am leichtesten verfügbare Dokument wird konsultiert). Diese Prämisse entspricht zum Teil der bei MD-TRACE (s. Teilkap. 2.2.2) beschriebenen Relevanzprüfung bei der Dokumentenauswahl, geht aber bei RESOLV darüber hinaus, weil die Kosten-Nutzen-Analyse sich auch auf kognitive Prozesse wie die weiter unten beschriebenen Nicht-Routine-Entscheidungen beziehen kann (s. S. 96). 6) Schwellenwertbasierte Entscheidungen zu lesebezogenen Aktivitäten
Diese Annahme geht davon aus, dass lesebezogene Aktivitäten erst dann erfolgen, wenn die Notwendigkeit, sie tatsächlich auszuführen, einen gewissen inneren Schwellenwert innerhalb der Person übersteigt. Das bedeutet, es gibt innerhalb einer Person eine zu überschreitende Grenze bzgl. eines nötig erscheinenden Handelns,
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
ehe die Person tatsächlich lesend tätig wird und die damit verbundenen kognitiven Kosten in Kauf und das Lesen auf sich nimmt. Damit rücken die schwellenbasierten Entscheidungen inhaltlich in die Nähe der unmittelbar zuvor genannten beiden Prämissen des „Feeling of Knowledge“ sowie der Kosten-Nutzen-Analyse. 2.3.2 Das RESOLV-Modell im Überblick
Wie aus den Basisannahmen aus dem Teilkapitel zuvor deutlich geworden ist, läuft das Geschehen im umfassenden Prozess des Lesens multipler Texte / Dokumente nicht nach einem strengen, vorab festgelegten Algorithmus ab. Vielmehr bilden sowohl die internen als auch die externen Bedingungen und Parameter einen Rahmen für die jeweils neu auszugestaltenden individuellen Entscheidungs-, Planungs- und Lese- sowie Verstehensprozesse. Genau diesen Rahmen versucht das RESOLVModell als ein dezidiert vorläufig zu nennendes beschreibendes Modell herzustellen, indem es das Lesen als zwar offenen, aber doch strukturierbaren Problemlöseprozess behandelt und zugegebenermaßen recht skizzenhaft plausible Elemente (zum Teil aus seinen beiden Vorgänger-Modellen) im Sinne von ModellKomponenten verwendet, aber auch neue Elemente ergänzt. Ein wichtiger Hinweis zu dem RESOLV-Modell in Abbildung 5 geht in eine ähnliche Richtung wie jener zum MD-TRACE-Modell aus dem Teilkapitel 2.2.2: Das RESOLV-Modell in Abbildung 5 stellt eine Synthese der beiden in der Abbildungsbeschriftung genannten Quellen dar. Der Grund dafür liegt darin, dass sowohl beim physischen bzw. sozialen Kontext als auch bei den Ressourcen und mentalen Repräsentationen der lesenden Person zwischen beiden Modellen Unterschiede bestanden. Im Sinne einer möglichst angemessen umfassenden Modellierung von RESOLV wurden deshalb wichtig wirkende Bestandteile aus beiden veröffentlichten Modellen zusammengeführt. Eine wichtige
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Einschränkung muss ebenfalls erwähnt werden: Die Rolle der Motivation, die in der aktuellen Beschreibung des RESOLV-Modells noch ausgesprochen lückenhaft wirkt (s. Britt et al., 2017, S. 63 – 77), bleibt an dieser Stelle bewusst ausgespart. Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 5: Überblick über das RESOLV-Modell (Synthese von zwei Originalmodellen aus Britt et al., 2017, S. 53, sowie Rouet et al., 2017, S. 204, mit leichten Modifikationen; Legende: interne Ressourcen im oberen Teil der Grafik sind mit gestrichelten Linien dargestellt, mentale Repräsentationen im unteren Teil der Grafik mit durchgängigen Linien)
Das RESOLV-Modell in Abbildung 5 trennt – wie auch schon sein Vorgänger MD-TRACE (s. Teilkap. 2.2.2) – in zwei Arten von Ressourcen: externe und interne Ressourcen. Im Modell sind links die externen Ressourcen (physischer und sozialer Kontext) im Kasten und rechts davon die internen Ressourcen (samt mentalen Repräsentationen innerhalb der lesenden Person unten in der Abbildung) dargestellt. Wie schon beim MD-TRACE-Modell bilden die externen Ressourcen bzw. Parameter einen Rahmen, der durch die kognitive Verarbeitung unter Rückgriff auf die eigenen
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Ressourcen das Bilden von drei verschiedenen, kaskadenhaft verknüpften und wechselseitig zusammenhängenden Repräsentationen (Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell) ermöglicht. Die vielen Doppelpfeile im RESOLV-Modell verdeutlichen vor allem den Grundgedanken des Modells: Die einzelnen Komponenten sind durch hochdynamische Prozesse miteinander verknüpft und sorgen für eine hohe Flexibilität und Individualität bei dem Lesen multipler Texte als Problemlösen. Gleichwohl zeichnet sich im Aufbau des Modells auch eine Zuordnung einzelner Ressourcen aus dem oberen Teil des RESOLV-Gesamtmodells zu den einzelnen innerhalb der lesenden Person gebildeten kognitiven Modellen im unteren Teil des RESOLV-Gesamtmodells ab: ▶ Die Kontextschemata als im Gedächtnis gespeicherte Wahrnehmungsmuster hängen mit dem Kontextmodell dynamisch zusammen, indem diese Schemata von der Person geprüft werden und bei der Repräsentation eines Kontextmodells unterstützend wirken. ▶ Das Strategiewissen zum günstigen Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung wird einerseits durch das Kontextmodell als Informationsquelle aktiviert. Es hilft andererseits wie die mit ihm interagierenden selbstregulatorischen Fähigkeiten bei der Zielsetzung und Planung sowie – das wird weiter unten bei der Schilderung der Entscheidungen bei der Aufgabenbearbeitung deutlicher – bei der Anpassung und Modifikation des Aufgabenmodells. ▶ Die im Spiegelstrich zuvor schon erwähnten selbstregulatorischen Fähigkeiten fungieren und steuern beim Aufbau eines Dokumentenmodells als eine erste, metakognitiv überwachende Komponente. Die zweite Komponente, die sich auf die lesebezogenen Wissensbestände wie Lesefähigkeiten, Wortschatz und lesebezogenes Wissen bezieht, hilft über die Leseprozesse bei der leserseitigen mentalen Kon-
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2 Theoretische Grundlagen
struktion eines Dokumentenmodells, das wiederum mit dem Aufgabenmodell interagiert. Das RESOLV-Modell, welches hier nur kurz in seinem allgemeinen Aufbau skizziert wurde, wird im Folgenden noch näher erläutert. Dabei seien zwei Komponenten besonders hervorgehoben, weil sie im RESOLV-Modell eine zentrale Rolle spielen, nämlich das Kontextmodell auf der einen Seite (das es in dieser Form bei MD-TRACE so noch nicht gegeben hat, s. Teilkap. 2.2.2) und das Aufgabenmodell auf der anderen Seite, welches bei RESOLV anders als bei MD-TRACE gefasst und auch präziser beschrieben wurde. Das Kontext- und das Aufgabenmodell hängen bei RESOLV eng miteinander zusammen und sind nicht immer leicht bzw. trennscharf voneinander zu trennen. Deshalb ist es nötig, eine Abgrenzung der einzelnen Modellbestandteile vorzunehmen, was im folgenden Teilkapitel geschieht. 2.3.3 Drei wichtige Bestandteile von RESOLV im Überblick: Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell am konkreten (schulischen) Beispiel
Das RESOLV-Modell beinhaltet drei verschiedene kognitive Repräsentationen, die in der modellimmanenten Logik allesamt für die erfolgreiche Aufgabenbearbeitung nötig sind. Dabei handelt es sich um die mentale Repräsentation des Kontextes allgemein samt seiner Parameter (Kontextmodell), weiterhin um die aufgabenspezifischen Konkretisierungen (Aufgabenmodell) und schließlich um die Inhalte der gelesenen Texte / Dokumente (Dokumentenmodell). Das Verhältnis dieser drei kognitiven Präsentationen von kontextuellen und aufgabenbezogenen Merkmalen hin zu den Inhalten des Gelesenen nimmt dieses letzte Teilkapitel umfassend in den Blick. Dabei geht es zunächst um eine Abgrenzung von Kontext- und Aufgabenmodell, bevor ein Gang durch die drei Modelle erfolgt.
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
2.3.3.1 Zur Abgrenzung: Kontext- und Aufgabenmodell im Vergleich
Ehe es im Folgenden um das Zusammenspiel von in- und externen Ressourcen und über Prozesse gehen kann, sollen an dieser Stelle zwei zentrale Komponenten genauer fokussiert und zunächst kurz definiert werden. Es handelt sich um das im RESOLV neu hinzugefügte Kontextmodell und das aus dem MD-TRACEModell schon bekannte Aufgabenmodell: ▶ Das Kontextmodell ist eine subjektive Repräsentation der zuvorderst externen Ressourcen. Es geht um Elemente, auf die eine lesende Person zurückgreift und ihnen Relevanz zuweist. Das Kontextmodell basiert aber nicht nur rein auf kognitiv repräsentierten externen Situationsmerkmalen, sondern stellt zudem deren Verarbeitung und Interpretation dar, die wiederum auf Schemata als Teil der inneren Ressourcen basiert. ▶ Das Aufgabenmodell stützt sich auf das Kontextmodell, ist aber spezifischer. Aufgabenmodelle enthalten vor allem kleinteiligere subjektive interne Repräsentationen des konkreten, aufgabenbezogenen Ziels und durch welche Aktivitäten es erreicht werden kann. Um die Unterschiede zwischen Kontext- und Aufgabenmodell nochmals deutlicher herauszuarbeiten, werden beide internen Repräsentationen in Tabelle 8 anhand verschiedener Dimensionen verglichen. Der direkte Vergleich zeigt, dass das Kontextmodell das inhaltlich breiter aufgestellte Konstrukt ist, das diverse externe Parameter berücksichtigt und zeitlich stabiler ist. Demgegenüber ist das Aufgabenmodell sehr viel enger mit der unmittelbaren Aufgabenbearbeitung verknüpft, also spezifischer und damit auch inhaltlich und zeitlich dynamischer.
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Kontextmodell
Aufgabenmodell
Inhalt
▶ jegliche verfügbare Informationen über physischen und sozialen Lesekontext: Ort, Zeit, Personen, externe Ressourcen etc. ▶ globale Aufgabenstellungen und -anforderungen
▶ interpretierte Aufgabenstellungen und -anforderungen ▶ Übersetzung von Aufgabenstellungen und -anforderungen in Ziele und Pläne (inklusive Strategien), die das Leseverhalten steuern ▶ lokale Unterziele und Strategien
Informationsquellen, welche für die Bildung des Modells nötig sind
▶ primäre Quelle: Repräsentation der Aufgabe selbst ▶ sekundäre Quellen: weitere Elemente aus dem physischen bzw. sozialen Kontext
▶ Interpretation des Kontextmodells (insbesondere der Aufgabenstellung innerhalb einer Situation) ▶ relevantes Schemawissen
Zeitliche Stabilität
▶ relativ stabil ▶ aktualisiert aufgrund von Sackgassen und Hindernissen
▶ hochdynamisch ▶ routinierte Erneuerung / Anpassung während des Fortschritts in der Aufgabenbearbeitung
Kognitives Abrufen und Verarbeiten
▶ beinhaltet Extraktion und Verarbeiten der situationsbezogenen Informationen ▶ Verwendung von Mustererkennung, um Kontextschemata zu aktivieren
▶ Interpretation von explizit und implizit gegebenen Aufgabenstellungen ▶ Verwendung von aktivierten Aufgabenschemata und interpretierten Standards / Kriterien
Tabelle 8: Überblick über Hauptunterschiede zwischen Kontext- und Aufgabenmodell (Quelle: Darstellung gemäß Britt et al., 2017, S. 53, 201 und 207, sowie Rouet et al., 2017, S. 208; gekürzte Fassung bzgl. der Vergleichsdimension Inhalt, leichte weitere Anpassungen)
2 Theoretische Grundlagen
Vergleichsdimension
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
2.3.3.2 Das Kontextmodell, …
Wie es der Name des Kontextmodells verheißt, ist die Repräsentation des Kontextes zentral für diese Komponente des RESOLVModells. Entsprechend kommen hier die externen Ressourcen und ihre gefilterte, interne Wahrnehmung innerhalb einer lesenden Person zusammen. Der Kontext umfasst mehrere Elemente, die nun in der Reihenfolge gemäß dem RESOLV-Modell in Abbildung 5 zunächst einmal in aller Kürze skizziert werden und die man im Überblick kennen sollte, um ihren Zusammenhang mit dem Kontextmodell besser zu erkennen (s. Britt et al., 2017, S. 54 f.; Rouet et al., 2017, S. 205 – 207): ▶ Als das wichtigste Element gilt die Aufgabenstellung bzw. darauf aufbauend deren sprachliche und von der lesenden Person interpretierte Repräsentation. Dabei kann die Aufgabenstellung bereits Hinweise für das zu erreichende Ziel erhalten, die im Falle des Fehlens von der lesenden Person selbstständig aufgefüllt werden müssen. Zu der Aufgabenstellung gehören außerdem noch Hinweise, Qualitätskriterien, Erläuterungen zu den Dokumenten, der gewünschten Form der Ergebnispräsentation etc. (s. Britt et al., 2017, S. 55 und 205). ▶ Eng verknüpft mit der Aufgabenstellung ist jene Person bzw. Instanz, die die Aufgabe stellt. Dabei spielt nicht allein die Person / Instanz eine Rolle, sondern ergänzend dazu deren sozialer Status, ihre Rolle innerhalb eines Settings, ihre (unterstellten) Absichten und Ziele, ihr Wissen und nicht zuletzt ihre Beziehung zur lesenden Person, die den Auftrag erhält. Nicht alle aufgabenbasierten Lektüren multipler Texte / Dokumente haben einen expliziten Bezug zu einer tatsächlichen Person, sondern können auch impliziter Natur sein (man denke zum Beispiel an Personen, die schriftliche Abiturprüfungen mit materialgestütztem Schreiben korri-
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2 Theoretische Grundlagen
gieren). In solchen Fällen müssen lesende Personen hochgradig ihre Langzeitgedächtnisinhalte nutzen, um eine optimale, wenngleich auch mit einer gewissen Restunsicherheit behaftete Repräsentation dieses Elements aus den externen Ressourcen aufzubauen (s. Britt et al., 2017, S. 55 und 205 f.). ▶ Eine der wichtigsten Prämissen des RESOLV-Modells ist die Kontextsensitivität und -eingebundenheit. Diese betrifft gleichfalls das Setting im Sinne von Zeit und Ort – und mit ihnen auch den Zugang zu bestimmten Texten, weiteren Hilfsmitteln und sozialen Ressourcen. Diese externen Parameter haben vermutlich einen mindestens mittelbaren Effekt auf die Möglichkeiten bei der Aufgabenbearbeitung und wurden bei MD-TRACE so nicht berücksichtigt. ▶ Ein weiteres, soziales Element aus dem Kontext ist das Publikum eines Arbeitsauftrages. Nicht immer ist nämlich die Person / Instanz, welche die Aufgabe stellt, mit dem Personenkreis der Adressatinnen und Adressaten gleichzusetzen. Wenn ein Arbeitsauftrag einer Lehrperson darauf abzielt, einen in multiplen Texten beschriebenen Sachverhalt für eine Broschüre aufzubereiten oder für jüngere Mitschüler darzustellen, müssen das lesende Personen berücksichtigen, um so die relevanten Informationen adressatengerecht aufzubereiten. Eine wichtige Parallele zur aufgabenstellenden Instanz bzw. Person ist gleichwohl, dass hier auch ähnliche Aspekte wie Rollen, Beziehungen sowie Absichten bedeutend sind und dass man gleichermaßen bei fehlenden Informationen dazu diese (aufwändig) rekonstruieren muss (s. Britt et al., 2017, S. 55 und 200). Dieses Element war im MD-TRACE-Modell allenfalls implizit enthalten. ▶ Eine Parallele zum MD-TRACE-Modell besteht hinsichtlich der externen Ressourcen bei dem, was im RESOLV-Modell als Materialien (gemäß MD-TRACE: die Dokumente samt ihren Inhalten) bzw. als Objekte und Hilfsmittel (gemäß MD-
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
TRACE: Suchhilfsmittel, Quellen und Textorganisation) be-
zeichnet wird (s. Britt et al., 2017, S. 55). Es geht hier also um die zu lesenden Dokumente und ergänzenden Hilfsmittel, um Dokumente und weitere Aufgabenbestandteile besser zu verstehen. ▶ Ein weiteres Element der sozialen externen Ressourcen bilden andere Personen, wobei sie nicht zwingend Bestandteil sein müssen, etwa dann, wenn man alleine eine lesebasierte Aufgabe bearbeitet. Gleichwohl kann bei kooperativen Aufgaben (gemeinsam ein Referat vorbereiten, bei einer Stationenarbeit gemeinsam einen Sachverhalt lesend verstehen und ihn anderen erläutern etc.) der Rückgriff auf andere Personen eine Ressource bilden (s. Britt et al., 2017, S. 55). Diese Komponente ist im Vergleich von MD-TRACE mit RESOLV neu. ▶ Ein hier letztes, ebenfalls neues Element des Modells sind die Unterstützungen und Hindernisse, also hilfreiche und erschwerende Bestandteile der physikalischen und sozialen Umgebung (s. Britt et al., 2017, S. 92 und 207). Hier können sämtliche aus der Aufzählung bislang angeführten Elemente je nach ihrer konkreten Beschaffenheit sowohl erfolgsfördernd als auch -hemmend wirken. Hinzu kommt, dass weitere, bislang nicht genannte Elemente die janusköpfige Gestalt von Hindernissen oder Unterstützungen aufweisen können. Erwähnenswert ist, da in der Darstellung immer wieder ein Vergleich von MD-TRACE und RESOLV erfolgte, noch Folgendes: Kein eigens ausgewiesener Bestandteil der externen Ressourcen bzw. des physischen und sozialen Kontextes im Vergleich zum MD-TRACE-Modell ist mehr das (Hilfs-, Zwischen-)Produkt, welches aus der Aufgabenbearbeitung hervorgeht. Das ist deshalb hervorhebenswert, weil einerseits im MD-TRACE-Modell die
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2 Theoretische Grundlagen
Prüfung des allmählich entstehenden Produkts den letzten, prominenten Prüfschritt im Flussdiagramm bildet. Hinzu kommt andererseits, dass in der zentralen Publikation des RESOLVModells in den vier ausführlichen Fallbeispielen genau diese (schriftlichen) Produkte, welche durch die aufgabengelenkte Lektüre multipler Texte entstehen, eine äußerst wichtige Rolle spielen (s. Britt et al., 2017, S. 82 – 116). Es scheint, als wären damit die (Zwischen-/Hilfs-)Produkte nolens volens in den toten Winkel der Theorie geraten. Ganz entschwunden ist diese Komponente indes freilich nicht: In der ausführlicheren Publikation zu RESOLV wird das Aufgabenprodukt nebst weiteren von der lesenden Person hergestellten Hilfs- und Zwischenprodukten den Materialien zugeordnet (s. Britt et al., 2017, S. 55). Wie eingangs erwähnt sind die Elemente aus dem physischen und sozialen Kontext als externe Ressourcen nicht mit dem Kontextmodell gleichzusetzen, sondern bilden nur dessen mögliche Basis. Entscheidend sind die Wahrnehmung und die interne kognitive Repräsentation, wofür es wiederum kognitiver Prozesse bedarf, nämlich einer Extraktion der Merkmale des Kontextes (s. Rouet et al., 2017, S. 210 f.). Hier bilden die vorhandenen Kontextschemata, also bisherige Erfahrungen mit bestimmten Aufgaben in bestimmten Kontexten eine wichtige Rolle, weil sie der lesenden Person dabei helfen können, durch Wiedererkennung bekannter und vertrauter Muster innerhalb eines Kontextes samt entsprechender kognitiver Abrufprozesse aus dem Gedächtnis schneller und mit geringerem kognitiven Aufwand Informationen zu verarbeiten (s. Britt et al., 2017, S. 57 – 59; Rouet et al., 2017, S. 206). Umgekehrt stellen unbekannte und wenig vertraute Situationen mit ihren Parametern höhere Anforderungen an die lesende Person. Um das bis dato nur allgemein beschriebene Kontextmodell mit Leben zu füllen, wird es mit dem im Teilkapitel 2.2.2 skizzierten Szenario eines mündlichen Referats über verschiedene
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Texte zu einem Smartphone verknüpft und inhaltlich ergänzt. Entsprechend werden (einzelne) Inhalte des Kontextmodells anhand des Smartphone-Beispiels in der Reihenfolge der Elemente spezifiziert, die oben und in der grafischen Darstellung des Kontextmodells aus RESOLV zugrunde liegt: ▶ Aufgabenstellung: Die Aufgabenstellung beim SmartphoneBeispiel umfasst mehrere Bestandteile. Es geht a) um das Lesen von sechs verschiedenen Dokumenten für b) eine mündliche Präsentation mitsamt einer c) Visualisierung, wobei die Bestandteile b) und c) innerhalb eines schulischen Kontextes als Leistungssituation stattfinden und die restlichen Bestandteile der Vorbereitung dienen. Das bedeutet, dass die lesende Person alleine innerhalb des ersten Satzes im Arbeitsauftrag erkennen und repräsentieren muss, dass sie lesen, schreiben und monologisch sprechen muss. Hinzu kommen Hinweise zur d) Argumente-Auswahl sowie zum e) im-/expliziten Vorkommen der Argumente. Sämtliche Bestandteile eint, dass sie als Informationen aus dem Kontext für die Person zunächst lediglich als externe Hilfestellungen fungieren und später noch in Handlungspläne und Ziele übersetzt werden müssen, um ihnen tatsächlich inhaltlich gerecht zu werden. ▶ Aufgabenstellende Person: Die Person, die die Aufgabe zur mündlichen Präsentation anhand gelesener Texte stellt, ist die Lehrperson mit ihren spezifischen Zielstellungen, die im besten Fall der Person bekannt sind, die den Arbeitsauftrag bearbeitet. Im Hintergrund läuft zudem die Institution Schule mit ihren im- und expliziten Regeln zum angemessenen Umgang mit Texten und zum angemessenen mündlichen Präsentieren von Inhalten im Unterricht. Darunter fallen nicht nur schulspezifische Register des Sprachgebrauchs wie die Bildungssprache, sondern auch Erwartungen an den Auf-
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2 Theoretische Grundlagen
bau des Referats, kritischen Quellenumgang, Explikation der Interpretationen von Aussagen aus den Bezugstexten usw. ▶ Zeit und Ort: Das Setting, innerhalb dessen der Schüler bzw. die Schülerin den Arbeitsauftrag umsetzen soll, lässt sich in zeitliche und örtliche Bestandteile untergliedern. Beide wiederum teilen sich in schulische und außerschulische Anteile. Schulisch beispielsweise ist jener Anteil, der an einem Ort wie dem Klassenzimmer an einem Datum mit einer Uhrzeit in der Leistungssituation als mündliche Präsentation stattfinden wird. Damit gibt der schulische Kontext auch vor, mithilfe welcher räumlichen Ausstattung – darunter die technische Infrastruktur – die Präsentationsaufgabe realisiert werden kann. Außerschulische Anteile betreffen vor allem die Vorbereitung auf die Präsentation, darunter das zur Verfügung stehende Zeitbudget, Rückzugsmöglichkeiten für eine konzentrierte Auftragsbearbeitung, aber auch die jeweilige örtliche Infrastruktur mit Zugang zu technischen und weiteren Ressourcen für die erfolgreiche Aufgabenbearbeitung. Zu guter Letzt ist unter dem Stichwort Zeit noch anzuführen, dass für die Bearbeitung der Aufgabe ein nicht veränderlicher Zeitkorridor zur Verfügung steht, in welchem die Vorbereitung auf die mündliche Präsentation erfolgen kann und muss – auch dies setzt innerhalb des Kontextes klare Grenzen. ▶ Publikum: Das Publikum ist in diesem Fall ein doppeltes. Zum einen handelt es sich – mutmaßlich – primär um die Mitglieder der Schulklasse, zum anderen um die Lehrperson, von der die Aufgabe stammt. Beide Adressatengruppen unterscheiden sich mit Blick auf Vorwissensbestände, bei den präsentationsbezogenen Erwartungen zum Aufbau, zur Themenentfaltung sowie zu nötigen Details, aber auch zur Art, wie die Argumente dargestellt werden, und den Auffassungen, welche Form der Visualisierung verstehensför-
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
derlich ist. Diese zwei Publika sind für die spätere Aufgabenbearbeitung alles andere als trivial, gilt es doch, beide trotz der Unterschiedlichkeiten in verschiedenen Aspekten im Vortrag – und den vorbereitenden Aktivitäten – angemessen in einer Doppeladressierung zu berücksichtigen. ▶ Materialien sowie Objekte und Hilfsmittel: Hinsichtlich der Materialien ist der Kontext eindeutig in seinen Vorgaben: Als lesende Person stehen die klar definierten verschiedenen Dokumente für die Lektüre zur Verfügung. Sie bilden das klar erwartete Minimum an zu lesenden und für die mündliche Präsentation zu berücksichtigenden Texten. Hinzu kommen mögliche weitere Objekte und Hilfsmittel aus dem Kontext, die man nutzen kann, aber nicht verwenden muss: Suchmaschinen zum Recherchieren von Informationen, um weitere, insbesondere (Hyper-)Texte, um Quellen zu prüfen, um weitere Informationen zu erhalten etc. Gerade über diese Objekte und Hilfsmittel sind im Arbeitsauftrag keine expliziten Informationen enthalten, sodass man sie selbstständig in das eigene Kontextmodell integrieren muss. ▶ Andere Personen: Andere Personen werden im Beispiel der Aufgabe nicht explizit erwähnt, sondern sind allenfalls impliziter Bestandteil des Kontextmodells. Wenn beispielsweise jemand für die Bearbeitung der Aufgabe in Erwägung zieht, mit anderen Personen, die einen solchen oder einen vergleichbaren Arbeitsauftrag bearbeitet haben, mit der Lehrperson, anderen Mitgliedern aus der Schulklasse etc. zu sprechen, dann sind solche anderen Personen als Teil des Kontextes und damit des Kontextmodells involviert. In diesem Sinne fungieren sie dann als mögliche Ressourcen. ▶ Unterstützungen und Hindernisse: Analog zu den Hilfsmitteln und Objekten sowie den anderen Personen gibt es hierzu im Arbeitsauftrag als Teil des Kontextes nur sehr wenige bis gar keine expliziten Angaben, sodass es erforderlich ist, diese
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2 Theoretische Grundlagen
Informationen für das eigene Kontextmodell zu ergänzen. Bei den in den Spiegelstrichen weiter oben genannten Ressourcen herrschen klar die möglichen Unterstützungen vor. Zugleich können aber wenig ergiebige Texte, Fundstellen und menschliche Auskunftsquellen veritable Hindernisse darstellen, welche die erfolgreiche Aufgabenbearbeitung erschweren. Dasselbe gilt übrigens auch für die Materialien, also die Texte selbst. Je nach Inhalt und sprachlicher Gestaltung sowie nötigem Vorwissen erleichtern oder hemmen sie das Verstehen – gerade mit Blick auf die zu rekonstruierenden impliziten, intra- und intertextuellen Argumente. Soweit also ein kurzer und bei Weitem nicht abgeschlossener Gang durch die vielen Bestandteile eines möglichen Kontextmodells am Beispiel des Arbeitsauftrages, eine mündliche Präsentation über multiple Texte zu einem Smartphone zu erstellen. Deutlich dürfte bei aller Selektivität und Vorläufigkeit der Elemente und Bestandteile des Kontextmodells die Komplexität einer solchen (vollständigen) Repräsentation des Kontextes mit seinen aufgabenbezogenen Anforderungen sein. Ebenfalls deutlich sollte geworden sein, dass nicht alle wichtigen Informationen für ein Kontextmodell zwingend direkt und explizit verfügbar sind. Vielmehr ist es erforderlich, sie aus dem Kontext, aus dem eigenen Vorwissen und ggf. unter Rückgriff auf weitere Informationsquellen selbst zu erschließen. Es sind aber mitunter genau diese rahmenden Informationen aus dem Kontextmodell, die man benötigt, um ein adäquates Aufgabenmodell zu bilden. 2.3.3.3 … das Aufgabenmodell …
Das Aufgabenmodell präzisiert das Kontextmodell, indem eine lesende Person ausgehend vom kognitiv repräsentierten Kontext vor allem die aufgabenspezifischen Ziele und die hierfür
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
erforderlichen (Teil-)Schritte rekonstruiert. Dieses Aufgabenmodell ist im Vergleich zum Kontextmodell relativ dynamisch, weil es sich durch die (Zwischen-)Ergebnisse der lesebezogenen Aktivitäten aktualisiert, insbesondere wenn eine lesende Person auf Hindernisse oder Sackgassen stößt (s. Britt et al., 2017, S. 207). Das Aufgabenmodell ist also über Rückkopplungsschleifen mit Merkmalen des lesebezogenen Prozesses verbunden, wobei diese Rückkopplungen in der Logik des RESOLV-Modells zum Teil über das Kontextmodell vermittelt werden, da diese Komponente explizit Hindernisse beinhaltet (s. Abbildung 5). Drei Quellen speisen gemäß RESOLV-Modell das Aufgabenmodell: a) das schon erwähnte Kontextmodell sowie b) das Strategiewissen und c) die selbstregulatorischen Fähigkeiten. Die (meta-)kognitiven Fähigkeiten zur Selbstregulation und das Strategiewissen als innere Ressourcen benötigt eine lesende Person vor allem dazu, für ihr Aufgabenmodell Informationen aus dem Kontext (darunter: die Aufgabe) zu extrahieren und zu analysieren, um auf dieser Basis ein angemessenes Ziel und adäquate Vorgehensweisen zu formieren bzw. auszuwählen. Je breiter das Repertoire an Strategiewissen und Selbstregulations- und damit Steuerungsmöglichkeiten für den umfassenden Lese- und Problemlöseprozess ist, desto wahrscheinlicher wirkt der Erfolg. Kennzeichnend für das Aufgabenmodell ist – im gelingenden Fall – eine genaue Aufgaben- und Problemanalyse, auf deren Basis jemand (Teil-)Ziele formuliert und die adäquaten Vorgehensweisen wählt, was sich auf die Verstehensleistungen auswirkt (s. Britt et al., 2017, S. 150 – 153, 207 f.). Das Formulieren von Zielen und Vorgehensweisen folgt seinerseits einer Logik, die bei RESOLV an zwei besonders wichtig wirkenden Dynamiken skizziert werden kann: erstens den Rückgriff auf Aufgabenschemata und zweitens dem allmählichen Formieren von Zielen (s. Britt et al., 2017, S. 153 – 160, 202 f.).
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2 Theoretische Grundlagen
1) Lesende Personen greifen – bedingt durch Aufgabenformulierungen und Ressourcen in Situationen – auf gespeicherte und erworbene Aufgabenschemata zurück, um Ziele und Strategien auszuwählen.
Das bedeutet im Falle des Beispiels mit dem Smartphone, dass die Person aus Formulierungen wie „Lies sechs Dokumente … für eine mündliche Präsentation“, „Sammle Argumente“ und „Stell Argumente vor“ oder „Achte auf die Quellen“ aus der Aufgabenstellung auf ihre Erfahrungen zurückgreift, und Aufgabenschemata – analog zu den Kontextschemata im Kontextmodell, nur eben mit Aufgabenbezug (s. Britt et al., 2017, S. 208) – aktiviert. Diese sind im konkreten Beispiel komplex, weil die Aufgabe insgesamt komplex und hybrid ist: Es geht um das Lesen, Argumente-Sammeln und -Abwägen nebst einer umfassenden Analyse von Quellen. Jede dieser Einzelaufgaben, die man für die konkrete Aufgabenstellung im Verbund lösen muss, verlangt jeweils unterschiedliche Schritte, und überdies sind die Aufgaben untereinander komplex verschachtelt. Deshalb muss man als lesende, problemlösende Person auch wissen, dass der Erfolg bei der mündlichen Präsentation hochgradig von der lesenden Verarbeitung der Texte und einer genauen Repräsentation der Aufgabenstellung abhängt. 2) Gerade bei unvertrauten bzw. neuen Aufgaben stellen lesende Personen zunächst ein grobes übergeordnetes Ziel auf, das sie in Abhängigkeit vom Fortschritt justieren und mit weiteren Teilzielen füllen bzw. solche Ziele verwerfen, wenn dies nötig ist.
Damit sind solche Aufgaben besonders entscheidungsintensiv und -bedürftig, aber auch ausgesprochen kostenintensiv bei den internen Ressourcen. Insbesondere der Mangel an Kriterien für die Zielerfüllung (nebst ggf. mangelnden Aufgabenschemata) sorgt nämlich dafür, dass eine lesende Person viele metakognitive
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Aktivitäten durchführen muss, um schlussendlich erfolgreich zu sein. Das lässt sich zum Beispiel gut an der Aufgabenstellung für die Lektüre verschiedener Dokumente illustrieren. Dort heißt es: „Achte dabei insbesondere darauf, in welcher Quelle und warum Gründe für und gegen den Kauf entweder direkt genannt werden oder aber sich aus der genauen Prüfung und Verknüpfung der Informationen aus den sechs Dokumenten ergeben.“ Diese Aufgabe lässt sich ohne die genaue Lektüre der Texte nicht sinnvoll lösen, sodass man als übergeordnetes (Teil-)Ziel formulieren sollte, genau auf die Verknüpfung der impliziten bzw. indirekten von Inhalten aus den einzelnen Dokumenten (Intertextmodell) ableitbaren Argumente zu achten. Aus der Lektüre jedes neuen Dokuments resultiert die Notwendigkeit, dieses allgemeine (Teil-)Ziel zu aktualisieren, indem etwa bestimmte Argumentstrukturen einer eingehenden Überprüfung, Anreicherung, Modifikation etc. bedürfen. Dieser Aktualisierungsbedarf wiederum hängt hochgradig vom sukzessiv entstehenden Dokumentenmodell ab, sodass sich komplexe, wechselseitige Wirkungen ergeben. Die Entscheidungsnotwendigkeiten, die sich aus den beiden oben skizzierten Dynamiken ergeben, führen wenig überraschend zu dynamischen Entscheidungen im umfassenden Lese- und Problemlösungsprozess. Gerade das Verständnis des Lesens als Suche nach Lösungen für Probleme macht deutlich, dass die Wahl von Alternativen fundamental für den Erfolg ist. Entsprechend sind zwei Arten von Entscheidungen dezidierter Bestandteil des Aufgabenmodells bei RESOLV (s. Britt et al., 2017, S. 206), die beide auf – wenn auch unterschiedlich gelagerten – metakognitiven Entscheidungen im Leseprozess basieren und damit das RESOLV-Modell inhaltlich stark in die Nähe des selbstregulierten Lesens rücken. Beide Arten von Entscheidungen dienen nicht nur der Zielerreichung, sondern auch dazu, das Aufgabenmodell ggf. zu justieren, wenn solche Anpassungen aus dem fort-
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2 Theoretische Grundlagen
schreitenden Lese- und Problemlösungsprozess heraus aus der Sicht der lesenden Person nötig wirken. Für beide Arten von Entscheidungen sind als interne Ressourcen sowohl Wissensbestände über Strategien als auch selbstregulatorische Fähigkeiten nötig. Diese beiden Arten von Entscheidungen sind: ▶ Routine-Entscheidungen: Lesen wird von Entscheidungen geleitet, die es der lesenden Person erlauben, zielgerichtete Aktionen mit den Texten durchzuführen. Drei Routine-Entscheidungen, die man für die Regulation des Leseprozesses benötigt, lauten als Fragen formuliert: 1) Benötigt man externe Informationen? 2) Ist die gegenwärtige Information mit Blick auf das Ziel relevant? 3) Ist das Ziel ausreichend erreicht? Die Routine-Entscheidungen interagieren wechselseitig mit dem Aufgabenmodell (s. Britt et al., 2017, S. 206). ▶ Nicht-Routine-Entscheidungen: Diese Entscheidungen tauchen auf, wenn eine Person auf unerwartete Hindernisse oder Sackgassen trifft, die dazu führen, dass die Person nicht weiß, was sie als Nächstes tun soll. Solche Entscheidungen, die auf drei Arten von Entscheidungen – a) Ziel / Aktion formieren, b) Ziel / Aktion ändern oder c) Ziel / Aktion auswählen – hinauslaufen, sind bei drei Problemen nötig. Solche Probleme liegen vor, wenn in Bezug auf Ziele und Aktionen 1) Unklarheiten bestehen, 2) bis dato verfügbare Vorstellungen und Vorgehensweisen momentan nicht funktionieren oder 3) mehrere konkurrierende Optionen existieren. Nicht-Routine-Entscheidungen sind vor allem dann nötig, wenn die Routine-Entscheidungen an ihre Grenzen stoßen (s. Britt et al., 2017, S. 204). Betrachtet man zunächst die Routine-Entscheidungen (umfassender erläutert bei Britt et al., 2017, S. 120 – 132), dann fällt etwas auf, was das Autorinnenteam hinter dem RESOLV-Modell weder im- noch explizit selbst beschreibt: Die drei Fragen bei dieser
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Art von Entscheidung weisen inhaltliche Parallelen zu den Entscheidungen im MD-TRACE-Modell auf (siehe die Rauten in Abbildung 4 auf S. 61). Dort gibt es eine, sicherlich keineswegs zufällige (partielle) Entsprechung der Frage 1. „Benötigt man externe Informationen?“ mit dem Schritt 3 „Externe Informationen nötig?“; 2. „Ist die gegenwärtige Information mit Blick auf das Ziel relevant?“ mit Schritt 7 „Dokument relevant?“ und 3. „Ist das Ziel ausreichend erreicht?“ mit Schritt 8 „Produktziele erfüllt?“ – allerdings ist ein Produktziel nicht mit einem übergeordneten Ziel gleichsetzbar, weil ein Produktziel durchaus lediglich Teil eines übergeordneten Zieles sein kann. Diese Parallelen haben damit zu tun, dass sowohl bei den Routine-Entscheidungen gemäß RESOLV und den Prozessen aus MD-TRACE die Entscheidungen binär ausfallen: Die Antworten auf die (folgenreichen) Fragen lauten entweder „Ja“ oder „Nein“. Anders als bei MD-TRACE wird bei RESOLV aber eine höhere Dynamik bei den Routine-Entscheidungen innerhalb des umfassenden Leseprozesses angenommen. Weil es so große Parallelen zwischen MD-TRACE-Prozessen und den RoutineEntscheidungen gibt, werden an dieser Stelle keine vertiefenden Beispiele mehr vorgestellt. Denn diese Entscheidungen waren schon Gegenstand des Teilkapitels 2.2.2.2. Während die Routine-Entscheidungen in der Logik der theoretischen Annahmen gewissermaßen genuiner Bestandteil des Leseprozesses mit multiplen Texten sind, trifft dies auf die NichtRoutine-Entscheidungen nicht zu, da diese vor allem bei Unterbrechungen und Hindernissen im Leseprozess vorkommen (s. dazu Britt et al., 2017, S. 132 – 137). Anzumerken ist bei den NichtRoutine-Entscheidungen außerdem noch, dass sie im Vergleich
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2 Theoretische Grundlagen
zum MD-TRACE-Modell einen Bestandteil bilden, der bei RESOLV neu hinzugekommen ist. Wie schon oben angedeutet können sich Nicht-Routine-Entscheidungen sowohl auf Aktionen / Aktivitäten als auch auf Ziele beziehen und sich in drei Arten von Entscheidungen niederschlagen. Einen Überblick über die Entscheidungen, die damit verbundenen Hindernisse sowie die aktions- bzw. zielbezogenen Handlungen gibt Tabelle 9. Entscheidung
Hindernis
Aktionen
Ziele
Formieren
Unklarheit
über neue Aktivitäten bei unklarem Vorgehen entscheiden und diese ausführen
Ziele und Subziele bei Kontakt mit Aufgabenstellung mittels Kontext- für das Aufgabenmodell formulieren
Ändern
kein gegenwärtiges Funktionieren der Auswahl
alternative Aktivitäten bei erkannter Verfehlung gegenwärtiger Handlungen ausführen
bei Blockaden neues Ziel bzw. neues Subziel formieren
Auswählen
mehrere konkurrierende Optionen
Handlungsalternativen prüfen (z. B. bei Dokumentenauswahl) und sich entscheiden (vor allem bei der Konstruktion von Aufgabenmodellen)
bei kostspieligen und aufwändigen Gesamtprozessen gezielte Auswahl von passenden und bewältigbaren Einzelzielen vornehmen
Tabelle 9: Aktionen und zugehörige auslösende Hindernisse bei Nicht-RoutineEntscheidungen, die sich entweder auf Aktionen oder Ziele beziehen (eigene Darstellung basierend auf Britt et al., 2017, S. 133 – 137)
Wendet man sich nach diesen allgemeinen Ausführungen zum Aufgabenmodell, das im RESOLV-Modell am umfangreichsten, wenn auch bei Weitem noch nicht ausreichend beschrieben
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
wurde, wieder dem Beispiel des Smartphone-Vortrags zu, dann ergeben sich für die lesende Person viele Notwendigkeiten der Ziel-Mittel-Analyse (s. das Formieren von Zielen in Tabelle 9). Das übergeordnete oder auch Hauptziel ist eine mündliche Präsentation auf der Basis gelesener Texte, für das man in gleich mehreren sprachlichen Kompetenzbereichen wie dem Lesen, Schreiben und mündlichen Präsentieren ergebnisorientiert vorgehen muss (Subziele), wofür man wiederum diverse Einzelaktionen durchführen muss. Über diese Haupt- und Subziele samt zugehörigen notwendigen Aktionen gibt – zugegeben: nur in einer Auswahl – die Tabelle 10 Auskunft. Dezidiert nicht Bestandteil ist der genaue Umgang mit anderen Personen, Hilfsmitteln, Objekten, Dokumenten und Hindernissen und Unterstützungen. Teils ergibt sich dieser Umgang erst unmittelbar im umfassenden Prozess der Aufgabenbearbeitung und muss dann von der Person gesteuert werden, die also ganz im Sinne des Lesens als Problemlöseprozess agiert.
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Kompetenzbereich Lesen
Kompetenzbereich Schreiben
Kompetenzbereich Sprechen
Hauptziel
Mündliche Präsentation über gelesene Texte vor Klassenmitgliedern und Lehrperson halten
Subziele
Dokumentinhalte ergebnisorientiert verstehen
Dokumentinhalte ergebnisorientiert aufbereiten
Dokumentinhalte ergebnisorientiert darstellen
Nötige Aktionen
▶ Verstehendes Lesen der Dokumente (zunächst: Verständnis der Informationen einzelner Texte) ▶ Orientierendes Lesen mit vorläufiger Auswahl möglicher Informationen ▶ Relevanzbasiertes Verständnis des Dokumentensets aufbauen ▶ Konstruktion und Auswahl von (drei präsentierfähigen) Pro- und ContraArgumenten mit text- und vorwissensbasierter Begründung vornehmen ▶ Gesamtverständnis der Pro- und Contra-Argumente aus den Dokumenten entwickeln
▶ Mögliche Zwischenergebnisse des Lesens handschriftlich oder am Computer bzw. auf einem anderen digitalen Gerät festhalten ▶ Zwischenergebnisse gewichten und organisieren ▶ Anfertigen einer knappen Visualisierung für die mündliche Präsentation
▶ Festlegen der Ziele der Präsentation unter Zuhilfenahme der expliziten und impliziten Informationen aus dem Kontextmodell ▶ Üben der mündlichen Präsentation vor dem eigentlichen Termin
Tabelle 10: Überblick über Ziele aus dem Aufgabenmodell und damit verbundene Aktionen für einen mündlichen argumentativen Vortrag über kaufrelevante Eigenschaften eines Smartphones (Auswahl)
2 Theoretische Grundlagen
Vergleichsdimension
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2.3 Ein aktuelles Modell: RESOLV
Im Zusammenhang mit den Inhalten aus Tabelle 10 ist schon die Notwendigkeit angesprochen worden, Entscheidungen mit verschiedenen Bezugspunkten zum Kontextmodell zu treffen. Genau das macht den Kern dessen aus, was weiter oben in Tabelle 9 gesamthaft beschrieben ist: insbesondere bei Hindernissen möglichst günstige Umgangsweisen durch eine Analyse der Situation zu passenden Zielen und damit verbundenen Lösungen entwickeln. Hierfür bedarf es – angesichts der Vielzahl potenziell möglicher Hindernisse bei komplexen Aufgaben – hoher selbstregulatorischer Fähigkeiten. 2.3.3.4 … und schließlich: das Dokumentenmodell
Das Dokumentenmodell, also die Repräsentation der Inhalte und Beziehungen multipler Texte mitsamt den relevanten Quelleninformationen (s. Teilkap. 2.2.1), bildet gemäß RESOLV-Modell (s. Abbildung 5) die dritte und letzte mentale Repräsentation (s. Rouet et al., 2017, S. 5 und 61). Diese Sequenz der Modelle (Kontextmodell ↔ Aufgabenmodell ↔ Dokumentenmodell) deutet darauf hin, dass das Dokumentenmodell eine gefilterte, sowohl von ex- als auch internen Ressourcen beeinflusste Form des Leseverstehens bildet. Im Sinne des RESOLV-Modells sind zwei Arten von internen Ressourcen von besonderer Bedeutung für den interaktiven kognitiven Aufbau des Dokumentenmodells: ▶ Das sind zum einen die Lesefähigkeiten im weiten Sinn (Lesefähigkeiten, Wortschatz, Wissen über das Lesen etc., rechts oben im RESOLV-Modell aus Abbildung 5). Über den aktiven Zugriff auf diese Fähigkeiten ermöglichen diese Fähigkeiten die Aneignung von Inhalten aus multiplen Texten / Dokumenten. ▶ Zum anderen sind im Leseprozess selbstregulatorische Fähigkeiten nötig, die dabei helfen, die unmittelbaren Leseprozes-
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2 Theoretische Grundlagen
se und deren (Zwischen-)Ergebnisse zu überwachen. Hinzu kommt – ganz neu – das „Feeling of Knowledge“. Auch dieser Komponente wohnt eine metakognitive Komponente inne, da es darum geht, Selbstbeurteilungen vorzunehmen, ob man für ein konkretes Ziel tatsächlich lesen soll oder ob die nötige(n) Information(en) bereits im Gedächtnis der lesenden Person vorliegt bzw. vorliegen (s. Britt et al., 2017, S. 202). Hier gibt es also durchaus eine Parallele zum Schritt 3 (der Prüfung, ob externe Informationen nötig sind) aus dem MD-TRACE-Modell (s. Teilkap. 2.2.2). Wie schon weiter oben erwähnt wurde, ist bei RESOLV nicht mehr das gesamte Verständnis aller Dokumente aus dem Dokumentenset notwendig oder vorgesehen, wie es das Dokumentenmodell gemäß Teilkapitel 2.2.1 beschreibt. Stattdessen steht am Ende bei RESOLV– in Anlehnung und Erweiterung des MD-TRACEModells (Teilkap. 2.2.2) – ein hochgradig relevanzbasiertes, aufs Engste mit der aufmerksamkeitslenkenden Filterung durch Kontext- und Aufgabenmodell verknüpftes Dokumentenmodell. Denn es geht, um im Beispiel des Smartphones zu verharren, nicht um das Verständnis aller Einzeltexte, sondern um eine Aufstellung von einem halben Dutzend Argumente auf der Basis der gelesenen Texte. Oder in der Terminologie der Wissenschaft ausgedrückt: Das Dokumentenmodell, das eine Person aufbaut, ist stark auf ein aktiv zu konstruierendes mentales Modell (hier: in argumentativen Strukturen) mitsamt Intertextmodell über sechs Dokumente angewiesen. Hinzu kommt das hier so wichtige Intertextmodell, das gerade in der Aufgabenstellung stark betont wird: „Achte dabei insbesondere darauf, in welcher Quelle und warum Gründe für und gegen den Kauf entweder direkt genannt werden oder aber sich aus der genauen Prüfung und Verknüpfung der Informationen aus den sechs Dokumenten ergeben.“ Ohne eine tiefergehende Analyse der intra-, inter- und
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2.4 Zusammenfassung
metatextuellen Informationen als Basis für das Intertextmodell erscheint es wenig realistisch, eine Lösung für die Aufgabenstellung der mündlichen Präsentation zu erzielen.
2.4 Zusammenfassung Dieses zweite Kapitel hat das wichtige theoretische Fundament für dieses Buch gelegt, indem es das kompetente Nutzen und Lesen multipler Texte und die dafür nötigen und daran beteiligten Komponenten fokussiert hat. Drei konsekutive theoretische Modelle bildeten dafür die Grundlage: erstens das Dokumentenmodell, zweitens das MD-TRACE-Modell und drittens RESOLV. Alle diese Modelle sind stark kognitionspsychologisch geprägt. Damit setzen sie beim Kern des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten und Dokumenten an. Das ist einerseits ihre Stärke, impliziert andererseits zur gleichen Zeit die Grenzen der Modelle. Ein erstes Modell, das Dokumentenmodell, hilft dabei, die beim Leseverstehen multipler Texte beteiligten Komponenten zu erkennen und einzuordnen. Die erste der beiden Hauptkomponenten eines Dokumentenmodells ist das sogenannte mentale Modell, ein Gesamtverständnis aller multiplen Texte. In diesem Modell repräsentiert eine lesende Person die Inhalte der gelesenen Texte aus einem Set an diversen Texten möglichst umfassend. Die Basis dafür ist eine eigenaktive konstruktive Leistung der lesenden Person auf der Basis textueller und individueller Merkmale. Die zweite Hauptkomponente wird Intertextmodell genannt. Diese Komponente umfasst die übergeordneten semantischen Beziehungen zwischen den Texten zum einen (Intertextprädikate) und Merkmale der jeweiligen Einzeltexte (Dokumentenknoten) zum anderen. Auch dieses Intertextmodell muss eine lesende Person durch Analyseleistungen selbstständig konstruieren. Dominant in diesem ersten Modell ist insgesamt
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2 Theoretische Grundlagen
das Set an multiplen Texten mitsamt seinen Anforderungen, die inhaltlichen Beziehungen zwischen den Texten nachzuvollziehen. Merkmale der lesenden Person sind im Dokumentenmodell hingegen untergeordnet; sie bleiben eher randständig und implizit. Das zweite theoretische Modell erweitert die Perspektive, indem es nicht mehr allein auf die reine Verstehensleistung fokussiert. Vielmehr geraten innerhalb des MD-TRACE-Modells die in- und externen Ressourcen in ihrer systematischen Verknüpfung bei der Bearbeitung von lesebezogenen Aufgaben in den Blick. Dafür modelliert MD-TRACE die Dynamik als komplexes Flussdiagramm. Nicht nur der Einbezug externer Ressourcen ist ein Novum im Modell, sondern auch eine das Vorgehen beim Lesen steuernde Komponente, nämlich das Aufgabenmodell. Diese interne Repräsentation aufgabenbezogener Anforderungen interferiert mit selbstregulatorischen Entscheidungen der lesenden Personen, was, wie und wozu sie einzelne und multiple Texte liest und wie sie die gewonnenen Informationen nutzt. Damit eröffnet MD-TRACE eine lesedidaktisch ertragreiche Perspektive auf die Prozesse beim durchaus selektiven Nutzen multipler Texte als Zusammenspiel von Text, Kontext und lesender Person. Das dritte und letzte theoretische Modell RESOLV geht nochmals weiter. Erstens verlässt es die Modellierung der Prozesse als schematisches Flussdiagramm und nimmt eine grundsätzlich noch höhere Dynamik beim Lesen als Problemlöseprozess an. Diese Dynamik schlägt sich in einem Aufbau des Modells als Gruppe von verschiedenen interagierenden Komponenten nieder. Zweitens erweitert RESOLV die beiden schon beschriebenen internen Repräsentationen um eine dritte, nämlich das Kontextmodell, welches sich in verschiedenen Vergleichsaspekten von dem Aufgabenmodell unterscheidet. In seiner Kombination von Dokumenten-, Aufgaben- und Kontextmodell liegt das eigentliche Novum des RESOLV-Modells.
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2.4 Zusammenfassung
Man kann die drei Modelle aus diesem Kapitel ebenfalls danach systematisieren, wie sie das entstehende Verständnis des Inhalts von multiplen Texten beschreiben und welche eigenaktiven Prozesse einer lesenden Person dafür nötig sind. Das Dokumentenmodell rückt in sein Zentrum, wie die Inhalte der einzelnen Texte nebst gegebenen und rekonstruierbaren Informationen zu einem kohärenten Gesamtverständnis verschmolzen werden. MD-TRACE setzt hier einen eigenen neuen Akzent, indem es die Aufgabenrepräsentation als wichtiges steuerndes Element ergänzt. Infolgedessen werden relevanzbasierte Nutzungsweisen multipler Texte erklärbar. RESOLV schließlich nimmt den Kontext am konsequentesten in den Blick und verdeutlicht, dass die gewinnbringende Nutzung multipler Texte stark von der Umgebung abhängt. Dadurch erscheinen die Prozesse einer lesenden Person insgesamt nochmals dynamischer. Die sich von Modell zu Modell deutlich zeigende Erweiterung der zu beschreibenden Phänomene resultiert im Kern aus einer doppelten Einsicht. Zum einen hängt die kompetente Nutzung multipler Texte von vielen in- und externen Faktoren ab. Zum anderen müssen diese Faktoren in dynamischen Modellen abgebildet werden, um der Komplexität angemessen Rechnung zu tragen.
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2 Theoretische Grundlagen
Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen zur Theorie des Lesens multipler Texte Zugegebenermaßen sind einführende Publikationen zurzeit noch Mangelware. Aber ein Buch und eine Zeitschriftenausgabe stiften erste Orientierung: ▶ Rouet, J.-F. (2006). The Skills of Document Use: From Text Comprehension to Web-Based Learning. Mahwah: Erlbaum Associates. (Dieses bis heute einflussreiche Buch beschreibt das MD-TRACE-Modell, auf das sich viele aktuelle theoretische Modelle beziehen und berufen.) ▶ List, A., & Alexander, P. A. (Eds.) (2017). Models of Multiple Text Comprehension. Educational Psychologist, 52 (3). (Diese Spezialausgabe einer einflussreichen Fachzeitschrift enthält vier verschiedene Modellierungen des Umgangs und Verstehens multipler Texte nebst drei rahmenden Kommentaren. Gerade die vier Modellierungen – RESOLV ist prominent Gegenstand dieses Kapitels – verdeutlichen die Spannbreite gegenwärtiger Theoriearbeit.)
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2.4 Zusammenfassung
3 Empirische Befunde aus der Grundlagenforschung zum Vorgehen beim Finden, Lesen und Nutzen multipler Texte / Dokumente
Genug Theorie. Weiß man in der Forschung schon Genaueres?
Aber sicher doch, wenn auch längst nicht alles. Terra incognita quasi. Aber fangen wir mal mit den Prozessen an.
Lesen multipler Texte IST strategisches Lesen. Dabei gibt es sogar echte Muster-Typen.
Ach ja: Wer über multiple Texte schreibt (z. B. im Studium), muss beides beherrschen: strategisches Lesen + strategisches Schreiben.
Okay, dann erklär mir noch, wie Prozesse und Produkte genau zusammenhängen.
Habe ich das mit der Terra incognita erwähnt?
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3 Empirische Befunde
Bislang standen in diesem Band die theoretischen Bezüge rund um das Thema verstehender Umgang mit multiplen Dokumenten und Texten im Vordergrund. Diese Theoriebezüge wurden im Kapitel zuvor sukzessive entfaltet und betrachtet. Ab diesem Kapitel werden vor allem empirisch gewonnene Erkenntnisse behandelt. Konkret geht es um die Vorgehensweisen, die Personen bei der Lektüre von mehreren Texten als Teil von übergeordneten Aufgaben gewählt haben, und diese Vorgehensweisen wurden vor allem über eine in der Leseforschung recht verbreitete Methodik gewonnen: das „laute Denken“, also das Verbalisieren (meta-)kognitiver Prozesse parallel zur lesebezogenen Aufgabenbearbeitung (Afflerbach & Cho, 2009; Cho & Afflerbach, 2017; Hu & Gao, 2017; Israel, 2015; Pressley & Afflerbach, 1995). Um das Hauptergebnis der Studien vorwegzunehmen: Selbst in kleineren Fallzahlen und bei aller Spezifik in den jeweiligen Einzelstudien besteht in der Leseforschung ein durchgängiges, konsistentes Muster darin, dass es viele individuelle Vorgehensweisen und teilweise große Unterschiede zwischen Einzelpersonen gibt, die multiple Texte / Dokumente in Bezug auf eine Aufgabe lesen und bearbeiten.7 Um all der Individualität des Vorgehens aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll zu begegnen, hat man in der Forschung Systematisierungsversuche betrieben. Das Stichwort Systematik ist auch für dieses Kapitel leitend, das den Versuch unternimmt, anhand exemplarischer Untersuchungsergebnisse verschiedene Systematiken aufzuspannen. ▶ In einem ersten Teilkapitel (3.1) werden die Besonderheiten des lesestrategischen Umgangs mit multiplen Texten bzw. 7
S. dazu im Detail u. a. Barzilai, Tzadok & Eshet-Alkalai, 2015*; Bråten & Strømsø, 2003*; Cho, 2014; Goldman et al., 2012*; Hartman, 1995*; Kirkpatrick & Klein, 2016; Leinhardt & Young, 1996*; Lenski & Johns, 1997; McGinley, 1992*; Schüler, 2017; Solé et al., 2013; Stahl et al., 1996; Strømsø & Bråten, 2002*; Strømsø et al., 2003*; Wineburg, 1998*.
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3 Empirische Befunde
Dokumenten beleuchtet und systematisiert. Neben einer Klärung des Konzepts „Lesestrategien“ werden Gruppen solcher Strategien unter dem Stichwort „konstruktivresponsives Lesen“ dargestellt und mit Beispielen zu Leseprozessen unterfüttert. ▶ Das zweite Teilkapitel (3.2) widmet sich dem, was einen immer stärker untersuchten Bereich der Forschung bildet, nämlich der Frage, was passiert, wenn Lese- und Schreibprozesse interagieren. Die geschieht immer dann, wenn es gilt, auf der Basis multipler gelesener Texte bzw. Dokumente einen eigenen Text zu schreiben – dies hat nämlich einen eminenten Einfluss auf den Prozessverbund, der anhand von drei Beispielen beschrieben wird. ▶ Im dritten Teilkapitel (3.3) steht die Frage im Zentrum, wie sich verschiedene Personen darin (systematisch) unterscheiden, wenn sie Aufgaben im verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten bearbeiten. Bei aller schon angesprochener Individualität lassen sich nämlich durchaus Muster rekonstruieren, denen sich das Teilkapitel entsprechend widmet. ▶ Den inhaltlichen Abschluss des Kapitels bildet vor der Zusammenfassung ganz am Ende ein Teilkapitel, das der nicht immer leicht oder gar eindeutig zu beantwortenden Frage nachspürt, wie sich die Prozesse aus empirischer Sicht mit Produkten verknüpfen lassen (3.4). Die Befunde dazu sind zugegeben noch etwas vorläufig und spärlich, lohnen aber die vertiefende Betrachtung.
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3 Empirische Befunde
3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte und Dokumente In der Leseforschung besteht Konsens darüber, dass sich ein günstiges, verstehendes Lesen als ein zielgerichtetes, diverse Prozesse orchestrierendes Problemlösen beschreiben lässt, in dem der lesenden Person und ihrer eigenständigen, selbstregulierten Auseinandersetzung mit Texten eine zentrale Rolle zukommt (Alexander et al., 2012). Eine solche Art des Lesens ist, so viel deutet sich in der knappen Beschreibung an, naturgemäß komplex und vielgestaltig. Um den Kern eines derartigen Lesens auszumachen, haben Forscherinnen und Forscher mittels verschiedener einzelner Untersuchungen Lesestrategien erfasst (s. Tabelle 6 auf S. 57). Diese Lesestrategien bilden das Zentrum dieses Teilkapitels. Es beginnt mit einem systematisierenden Überblick, der eine Definition von Strategien und eine Übersicht über verschiedene Gruppen von Strategien mit spezifischen Funktionen bietet (Teilkap. 3.1.1). Im Anschluss daran stehen in zwei weiteren Teilkapiteln zwei exemplarische Studien im Vordergrund, die sich relativ nahtlos in das Theoriegefüge des konstruktiv-responsiven Lesens einpassen, nämlich zum einen im Umgang mit multiplen Texten, die bereits als Dokumentenset vorliegen (3.1.2). Zum anderen geht es in einem weiteren Beispiel darum, wie Schülerinnen und Schüler Texte zu einer eigenen Fragestellung recherchieren, lesen und beurteilen (3.1.2). Der genauere, ausführlichere Blick auf zwei exemplarische Studien offeriert Einblicke in hochdynamische Prozesse, die im Gesamt für den Erfolg bei der Aufgabenlösung nötig sind.
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
3.1.1 Lesestrategien im verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten und Hypertexten – ein erster Überblick 3.1.1.1 Das konstruktiv-responsive Lesen im Allgemeinen
In einem wegweisenden Forschungsüberblick über mehrere Dutzend Studien haben Michael Pressley und Peter Afflerbach (1995) das übergeordnete Muster eines günstig wirkenden Vorgehens beim Lesen einzelner (Sach-)Texte einst als „konstruktivresponsives Lesen“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Sammlung abstrahierter Vorgehensweisen, die im Gesamt ein kompetentes Vorgehen charakterisieren. Dem Wortsinn nach ist ein solch konstruktiv-responsives Lesen eines, das auf der Basis eigenaktiver und konstruktiver Anteile ebenso basiert wie auf der Grundlage externer Gegebenheiten, die wichtig für das responsive Element sind. Demnach gibt es eine inhaltliche Nähe zur zentralen Prämisse des RESOLV-Modells mit dem Lesen als einerseits regelgeleitetem, andererseits offenem Problemlöseprozess (s. Teilkap. 2.3 und dort insbesondere Teilkap. 2.3.1). Außerdem ist das konstruktiv-responsive Lesen auch anschlussfähig an die Vorläufermodelle von RESOLV, nämlich das Dokumentenmodell und MD-TRACE (2.2), denn insbesondere bei der Lektüre multipler Texte bzw. Dokumente sind jene Prozesse zentral, die dem konstruktiv-responsiven Lesen zugrunde liegen. Das konstruktiv-responsive Lesen lässt sich über ein selbstreguliertes Zusammenspiel verschiedener vor allem (meta-) kognitiver Aktivitäten (= Lernstrategien, Friedrich & Mandl, 2006) charakterisieren, die dem Leseverstehen als übergeordnetem Ziel dienen, und diese Aktivitäten werden als Lesestrategien bezeichnet. Unter Lesestrategien versteht man steuerbare Aktivitäten mit einem Zielbezug, die eine lesende (aber auch eine schreibende) Person gezielt aktiviert, nutzt und steuert, um Probleme im Lese- (und Schreib-)prozess zu lösen (Aff-
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3 Empirische Befunde
lerbach, Pearson & Paris, 2008). Strategien, darunter im Lesen und Schreiben als zwei eigenen Domänen oder Bereichen, weisen eine Vielzahl von Merkmalen auf, von denen die wichtigsten zehn im nachstehenden Kasten zusammengefasst sind. Werkzeuge des kompetenten Lesens, Schreibens und textbasierten Lernens – zehn allgemeine Merkmale von Lese- und Schreibstrategien 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7.
8.
9.
Strategien bezeichnen überwiegend mentale Aktivitäten, die zielgerichtet und aufwändig sind. Strategien werden gezielt aktiviert, wenn es Probleme im Schreibund / oder Leseprozess gibt. Strategien sequenzieren, entschleunigen und entlasten damit den Lese- und Schreibprozess. Strategien stehen im Sinne einer Heuristik für eine typische oder auch bevorzugte Herangehensweise, werden aber nicht rigide, sondern flexibel und mit Bezug zu den Aufgaben und deren jeweiligen Anforderungen genutzt. Strategien sind im Ergebnis (Textprodukt bzw. Textverständnis) nicht mehr direkt sichtbar. Strategien setzen basale Lese- und Schreibfertigkeiten voraus. Strategien müssen von Lernenden aktiv erworben, automatisiert und vielfältig geübt sowie hinsichtlich ihrer Wirkung beurteilt werden (das heißt, sie sind nicht Ergebnis eines natürlichen Reifungsprozesses oder angeboren). Strategien stützen sich auf das günstige Zusammenspiel von Wissensbeständen, nämlich deklarativem (Wissen, dass), prozeduralem (Wissen, wie) und konditionalem Wissen (Wissen, wann und warum man welche Strategien anwendet). Strategien entfalten dann den größten Nutzen, wenn Lernerinnen und Lerner sie für persönlich bedeutsame Ziele nutzen, sie als nützlich und effektiv empfinden und sie Strategien selbstreguliert anwenden.
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
10. Strategien sind für den Kompetenzerwerb in einem Bereich wie dem Lesen oder Schreiben zwingend erforderlich. (Quelle: Philipp, 2013, S. 39 – 44, s. dort auch für genauere Ausführungen sowie Philipp, 2015b, S. 42 – 46, für eine Klassifikation von Lesestrategien und Philipp, 2014, S. 42 – 54, für eine Übersicht über Schreibstrategien im Gesamt der Elemente des selbstregulierten Schreibens)
Wie schon erwähnt spielen beim konstruktiv-responsiven Lesen mehrere Strategien zusammen, die sich bündeln lassen (s. Tabelle 6 in Teilkap. 2.2.1.2 auf S. 32). Entsprechend bilden folgende drei verschiedene Hauptgruppen von Lesestrategien das Zentrum des konstruktiv-responsiven Lesens (einzelner Sachtexte) gemäß Pressley und Afflerbach (1995): 1. wichtige Informationen als solche erkennen und sie lernen, 2. verschiedene Bereiche von Texten beurteilen sowie 3. – als metakognitive Steuerung und als Monitoring – das eigene Verstehen überwachen. 3.1.1.2 Das konstruktiv-responsive Lesen bei multiplen (Hyper-)Texten
Die frühen Arbeiten zum konstruktiv-responsiven Lesen bei einzelnen Texten wurden fortgesetzt: Cho und Afflerbach (2017; Afflerbach & Cho, 2009) adaptierten beispielsweise die oben angeführten drei Gruppen von Lesestrategien für mehrere (digitale) Texte, weiteten sie also empiriebasiert aus. Diese Extrapolation erfolgte zum einen hinsichtlich der Lektüre multipler (überwiegend analoger) Texte, zum anderen in Bezug auf das (recherchierende) Lesen mehrerer digitaler Hypertexte. Die Datenbasis für die Analyse bildeten Laut-Denk-Protokolle aus Studien mit
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3 Empirische Befunde
Dokumentensets mit mehreren (Hyper-)Texten, welche als Ausgangsmaterial für Arbeits- und Leseaufträge fungierten. Die aktuellen Strategie-Hauptgruppen des konstruktivresponsiven Lesens fasst Tabelle 11 zusammen. Sortierung und Inhaltspräsentation in der Tabelle folgen mehreren Prinzipien: ▶ Vertikale Sortierung: In den Spalten werden die multiplen Texte danach differenziert dargestellt, ob es sich um (auch digitale) Dokumentensets aus mehreren Texten oder um ausschließlich digitale (multimodale) Hypertexte handelt. ▶ Horizontale Sortierung: In der linken Spalte und den ihr zugehörigen horizontalen Zeilen ist das Sortierungsprinzip die Verortung der Strategien im Umgang mit multiplen Texten bzw. mit Hypertexten innerhalb der drei Hauptgruppen der Strategien des konstruktiv-responsiven Lesens vom Ende des Teilkapitels 3.1.1.1. Dadurch wird die Parallelität deutlich, die sich im Umgang mit verschiedenen Arten und Anzahlen von Texten zeigt. ▶ Ergänzende Informationen in der Inhaltspräsentation: Zusätzlich zu den von 1) bis 3) durchnummerierten Bezeichnungen der Hauptgruppen der Strategien enthält die Tabelle 11 noch die inhaltlichen Bezugspunkte der Strategien. Im Vergleich von mehreren Texten und Hypertexten besteht eine große Schnittmenge, die sich partiell auch in gemeinsamen Zellen der Tabelle zeigt. Doch es existierten auch Unterschiede in den Bezugspunkten, welche durch Unterstreichungen hervorgehoben sind, die an zwei Stellen innerhalb der ersten Gruppe von Strategien aufgetreten sind.
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
Eine Besonderheit weist die Tabelle 11 insofern auf, als sie eine Spezifik der Hypertext-Lektüre verdeutlicht, nämlich die Notwendigkeit, strategisch Lesepfade durch den Hypertext bzw. durch zu explorierende Informationsräume zu finden und zu beschreiten. Deshalb gibt es eine eigene Spalte ganz rechts in der Tabelle mit vier Gruppen von Lesestrategien, die sich mit dem Navigieren befassen. Mit dem Ausdruck „Lesepfade“ sind Wege durch, zwischen und in den Texten gemeint, wobei diese Pfade notwendigerweise durch aktives Handeln der lesenden Person zustande kommen – und mit ihnen der letztlich zu lesende Text, der erst durch die aktivierende Nutzung von Hyperlinks entlang eines Lesepfades sukzessive entsteht. Nachweislich machen solche Aktivitäten einen bedeutenden Anteil im Umgang mit Hypertexten aus (Cho, 2014; Cho, Woodward, Li & Barlow, 2017). Cho (2014; s. Teilkap. 3.1.2) ermittelte beispielsweise, dass unter Jugendlichen bis zu einem Viertel der Lesestrategien auf die Lokalisierung der Texte durch Suche und Bewertung entfällt, wenn diese Personen offene Rechercheaufträge bearbeiten, in denen – anders als in einer Vielzahl bisheriger Studien – das (digitale) Dokumentenset nicht vorgegeben und damit limitiert wurde. Auffällig ist im Vergleich der Hauptgruppen von Lesestrategien, die sich entweder rein auf die Hypertexte oder die Lesepfade beziehen, dass es nicht nur strukturelle Parallelen gibt (s. die Paare der Strategiegruppen 1 und 4, 2 und 5 sowie 3 und 6), sondern auch ein Spezifikum der Lesepfad-Strategien, die sich in der Gruppe mit der Nummer 7 befinden. Diese Strategien beziehen sich auf planvolles Umgehen mit Suchmaschinen, deren Ergebnissen und insgesamt diversen allgemeinen Entscheidungen, nützliche Informationen in Hypertexten zu lokalisieren und sodann auszuwerten. Anzumerken ist dabei, dass sich hierin eine Schnittmenge zum Beurteilen (Nr. 5 in Tabelle 11) zeigt, die Gruppen von Strategien also nicht immer trennscharf sind.
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Hypertexte
Analoge / digitale Texte
analog und digital
digital
Gruppe von Lesestrategien mitsamt ihren wesentlichen Bezugspunkten (als Aufzählung)
1. Zentrale Inhalte erkennen und Bedeutung konstruieren ▶ Inhalte des aktuellen Dokuments in Verbindung mit anderen Dokumenten ▶ Verbindung(en) zwischen den einzelnen Dokumenten und ihren Inhalten
▶ Inhalte des aktuellen Dokuments in Verbindung mit anderen Dokumenten und der Aufgabe ▶ Verbindung(en) zwischen den einzelnen Dokumenten und ihren Inhalten ▶ Modalität von Dokumenten
Lesepfade bei Hypertexten
4. Intertextuelle Verbindungen erkennen und aus Hypertexten Bedeutung konstruieren ▶ ▶ ▶ ▶
Suchmaschinen und ihre Ergebnisse Links Navigations- und andere Hilfsmittel Strukturen von Websites
2. Beurteilung von Texten und deren Inhalten
5. Beurteilung von mehrschichtigen Links und Texten
▶ ▶ ▶ ▶
▶ Informationen und ihre Merkmale (wie Nützlichkeit, Relevanz, Belastbarkeit) ▶ Adressen von Websites und ihre Merkmale ▶ Websites und ihre Merkmale ▶ Suchergebnisse und ihre Merkmale ▶ Links und ihre Merkmale
Inhalte der Texte Merkmale der Texte Merkmale der Quelle Einzeltext innerhalb eines Dokumentensets
3 Empirische Befunde
Multiple Texte
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Multiple Texte
Hypertexte
Lesepfade bei Hypertexten 6. Überwachung der Lesepfad-Konstruktion ▶ Suchprozesse und Navigationsverhalten ▶ Verständlichkeit von Texten und Suchergebnissen ▶ Verständnisprobleme (wegen Informationsmenge und -darbietung, Überforderung) 7. Mit Informationsräumen umgehen und zu nützlichen Texten navigieren ▶ Informationseingrenzung ▶ Einschätzung der Informationsbedürfnisse und Relevanz von Information (z. B. durch erste Recherchen, Erstellen von Suchbegriffen etc.) ▶ Reihenfolge von zu besuchenden und zu lesenden Seiten
Tabelle 11: Übersicht über die Hauptgruppen von empirisch nachgewiesenen Lesestrategien im Umgang mit multiplen (digitalen) (Hyper-)Texten samt zugehörigen zentralen Bezugspunkten (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Cho & Afflerbach, 2017, S. 120 f. und 125 f., im Abgleich mit Afflerbach & Cho, 2009, S. 80 f. und 83 f., mit leichten sprachlichen Anpassungen und Zusammenfassungen)
3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
3. (Selbst-)Überwachung von Verstehensprozessen ▶ verschiedene (interagierende) Verstehensprozesse ▶ Verständnisprobleme und Erfolg beim Leseverstehen ▶ Zusammenspiel von Textinhalten, Aufgabe und Vorwissen
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3 Empirische Befunde
Die Strategien des konstruktiv-responsiven Lesens multipler Texte / Dokumente bzw. von Hypertexten sind nicht nur ein Set von verschiedenen, aus diversen Einzelstudien gewonnenen Lesestrategien, also Gruppen von empirisch nachweisbaren und unterscheidbaren Vorgehensweisen. Vielmehr lässt sich auch aus ihnen auch eine normative Zielvorstellung ableiten: Leserinnen und Lesern können nicht nur auf eine bestimmte Art vorgehen, sondern sie sollen es auch können, um möglichst handlungsfähig zu sein, wenn sie mit komplexen Aufgaben konfrontiert sind, die den Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten erfordern. 3.1.1.3 Zwischenfazit zum konstruktiv-responsiven Lesen
Damit lässt sich an dieser Stelle festhalten: Das Lesen von Sachtexten – seien es einzelne, seien es multiple Texte / Dokumente oder seien es (multimodale) miteinander durch Links verknüpfte Hypertexte – erfordern einen lesestrategischen Zugang von der lesenden Person. Mit dem Begriff „konstruktiv-responsives Lesen“ ist ein solch zutiefst strategischer Zugang gemeint, der sich als Regenschirm-Konzept erweist, das verschiedene, qualitativ unterschiedliche einzelne Lesestrategien unter sich versammelt. Diese absichtsvollen Vorgehensweisen dienen generell der Informationsbeurteilung, dem Finden von zentralen Informationen und der Konstruktion von Bedeutung und schließlich der aktiven metakognitiven Überwachung der Lese- und Verstehensprozesse. Das konstruktiv-responsive Lesen lässt sich auch im verstehenden Umgang mit multiplen Dokumenten und Texten sowie Hypertexten in Studien rekonstruieren. Eine Besonderheit bei den Hypertexten ist, dass es hier zusätzlich Strategien für die eigenen Lesepfade durch das zu explorierende Dokumentenset gibt und dass die Navigationsanforderungen Strategien eigener Dignität erfordern. Dies bedeutet, dass lesende Personen sich je nach Art der Dokumente in einem Set mithilfe verschiedener
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
Lesestrategien einen verstehenden, zum Teil auch erst orientierenden Zugang verschaffen müssen, ehe sie dazu in der Lage sind, das Intertext- und das mentale Modell aufzubauen, das sie für das Dokumentenmodell benötigen, um multiple (digitale) Texte / Dokumente verstehen zu können (s. Teilkap. 2.2.1). 3.1.2 Lesestrategien im Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten – ein erstes Exempel
Welche Strategien wenden Personen an, die multiple Texte lesen? Genau das wurde in einer wichtigen Studie mit einem für die üblichen Forschungsverhältnisse vergleichsweise großen Personenkreis untersucht. Konkret sollten rund 50 norwegische Studierende in einem Set aus sechs digitalen, inhaltlich partiell divergierenden Texten zum Thema Gesundheitsgefahren durch die Benutzung von Mobiltelefonen Informationen für einen eigenen argumentativen Text finden, der sich an eine befreundete Person richtete, und diesen Text dann schreiben (Anmarkrud, Bråten & Strømsø, 2014*). Ihre bewussten und verbalisierbaren Aktivitäten äußerten die jungen Erwachsenen parallel zur Aufgabenbearbeitung, und ihre Verbaläußerungen wurden als Laut-Denk-Protokolle erfasst und analysiert. Aus dem gesamten Verbalmaterial aller Personen ließen sich 326 sogenannte „Strategieepisoden“ extrahieren, also Äußerungen, die auf den Einsatz von Lesestrategien schließen lassen. Diese einzelnen Strategieepisoden wurden den drei Hauptgruppen von Strategien des konstruktivresponsiven Lesens zugeordnet, welche im Teilkapitel 3.1.1.2 in Tabelle 11 überblicksartig dargestellt wurden. In der Tabelle 12 sind die Ergebnisse der Studie aus Norwegen zusammengestellt. Neben den drei Hauptgruppen von Strategien enthält die Darstellung die Benennung von einzelnen Strategien, jeweils ein Beispiel einer Aussage aus den Laut-Denk-Protokollen und zwei Prozentangaben. Die erste Prozentangabe gibt an,
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3 Empirische Befunde
welchen Anteil die jeweilige Strategie im Gesamt einer der drei Gruppen von Strategien ausmacht, und die Sortierung innerhalb der Tabelle ist absteigend – besonders häufig vorgekommene Strategien stehen also zuoberst. Die zweite Prozentangabe in der Spalte ganz rechts steht für den Anteil der einzelnen Strategie am Gesamt aller 326 Strategieepisoden, sodass diese Anteile entsprechend erheblich geringer ausfallen.
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Hauptgruppe von Lesestrategien und einzelne Strategien
Beispielaussage aus den Protokollen lauten Denkens
Anteil an der jeweiligen Gruppe (in %)
Anteil am Gesamt (in %)
1.1 Intertextuelle Inhalte verbinden und dadurch Informationen anreichern
„Ich denke dann über die ersten Texte nach, die ich las, besonders den von der Nationalen Strahlenschutzbehörde. Dort wurde mir mitgeteilt, dass noch nicht wirklich bewiesen ist, dass Mobiltelefone schädlich sind.“
52,7
18,1
1.2 Inhalte von einem Text / multiplen Texten in Bezug auf die Leseaufgabe zusammenfassen
„Dann denke ich, weil sie nicht sicher über die Folgen des Benutzens [von Mobiltelefonen] sind, geben sie vorsorgliche Empfehlungen … das ist etwas, das ich meinem Freund nach dem Lesen dieser Texte mitgeben würde.“
30,4
10,4
1.3 Textinhalte mit Vorwissen verknüpfen und dadurch Informationen anreichern
„Und es scheint, dass er besorgt ist, dass Mobiltelefone die Person schädigen, die es benutzt, während der Gebrauch von Computern die Menschen in der Umgebung schädigen kann. Genau wie das passive Rauchen; das ist etwas, worüber ich gerade nachdenke.“
13,4
4,6
1.4 Hauptinformationen aus Texten fokussieren, um rekursiv Bedeutung zu konstruieren
„Und sie sprechen die ganze Zeit über Hirntumore, die vom Benutzen der Mobiltelefone stammen.“
1,8
0,6
3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
1) Zentrale Inhalte erkennen und Bedeutung konstruieren
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Beispielaussage aus den Protokollen lauten Denkens
Anteil an der jeweiligen Gruppe (in %)
Anteil am Gesamt (in %)
1.5 Geteilte und einzigartige Beiträge von Informationen zur übergeordneten konstruierten Bedeutung identifizieren
„Ja, dieser Text wirkt ein wenig skeptischer, etwas offener gegenüber anderen Möglichkeiten [als die vorher gelesenen Texte].“
1,8
0,6
2) Beurteilung von Texten und deren Inhalten 2.1 Informationen über die aktuelle Quelle dafür nutzen, Textinhalte zu beurteilen und zu interpretieren
„Zunächst sehe ich, dass das von der Nationalen Strahlenschutzbehörde geschrieben wurde, und ich denke, dass diese Leute wissen, worüber sie schreiben.“
48,8
23,9
2.2 Informationen über eine Quelle innerhalb einer aktuellen Quelle dafür nutzen, Textinhalte zu beurteilen und zu interpretieren
„Sie beziehen sich auf die WHO; ich fühle nun plötzlich, dass ich denen mehr vertraue als einem zufälligen Typen aus Australien.“
23,8
11,7
2.3 Merkmale verschiedener Texte wahrnehmen und unterscheiden und auf dieser Grundlage die Genauigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Textes beurteilen
„Ich glaube, dass viele Menschen von Rolf Teigens Geschichte erschreckt und Angst bekommen werden, dass ihnen etwas Ähnliches passieren könnte. Aber das ist nur ein Einzelfall, und dann wird es schwer, daraus etwas zu schließen.“
12,5
6,1
2.4 Texte in Bezug auf die Leseaufgabe beurteilen
„Okay, das ist nicht relevant, wenn man einen Hinweis geben wird, wenn das die Aufgabe ist.“
10,0
4,9
3 Empirische Befunde
Hauptgruppe von Lesestrategien und einzelne Strategien
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Beispielaussage aus den Protokollen lauten Denkens
Anteil an der jeweiligen Gruppe (in %)
Anteil am Gesamt (in %)
2.5 Text-zu-Text-Beurteilung auf der Basis eines Gesamteindrucks jedes Textes vornehmen
„Der sagt etwas völlig anderes als das, was die anderen gesagt haben.“
1,9
0,9
2.6 Einen Text in Bezug auf einen anderen beurteilen und dabei spezifische Informationen aus jedem Text verwenden (z. B. Vergleich von Behauptungen und Beweisen in zwei oder mehr Texten)
„Der sagt, von dem ich dachte, dass es den anderen Text betrifft – dass keine anderen Experten diese Studien überprüft haben; es ist nur Khurana, der das getan hat … also, basierend auf anderen.“
1,3
0,6
2.7 Nützlichkeit einer Information aus einem Text in Bezug zu anderen Texten beurteilen
„Ich mochte den Text von der Nationalen Strahlenschutzbehörde eigentlich, weil der am Ende Empfehlungen zur Verwendung von Mobiltelefonen hatte. Die anderen Texte fokussieren nur auf die negativen Seiten von Mobiltelefonen, während die Nationale Strahlenschutzbehörde eigentlich erklärt, was man tun kann, wenn man ein wenig ängstlich wird.“
1,3
0,6
2.8 Stichhaltigkeit und Zuverlässigkeit von Texten anhand von Kriterien kritisch beurteilen
„Khuranas Text wurde zu früh veröffentlicht. Es gibt viele Spekulationen. Er hätte vielleicht überhaupt nicht veröffentlicht werden sollen.“
0,6
0,3
3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
Hauptgruppe von Lesestrategien und einzelne Strategien
123
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Hauptgruppe von Lesestrategien und einzelne Strategien
Beispielaussage aus den Protokollen lauten Denkens
Anteil an der jeweiligen Gruppe (in %)
Anteil am Gesamt (in %)
3.1 Ein Verständnisproblem bei einem bestimmten Text erkennen
„Übertreiben sie die Gefahr? Ja. Wer sagt das?“
42,6
7,1
3.2 Wahrnehmen, dass verschiedene Texte zum Thema divergierende Sichtweisen und / oder komplementäre Informationen beisteuern können
„In einigen Artikeln sind Mobiltelefone wirklich gefährlich, während sie in anderen überhaupt nicht schlimm sind.“
29,6
4,9
3.3 Ein erkanntes Verständnisproblem in einem bestimmten Text zu lösen versuchen, indem klärende Informationen aus anderen verfügbaren Texten gesucht werden
„Der Grenzwert für die Belastung liegt bei 2 Watt / kg, und die meisten Mobiltelefone haben zwischen 0,2 und 1,7. Es müssen die Zahlen sein, von denen der letzte Artikel meinte, sie wären zu hoch.“ [anschließender Wechsel zwischen den Texten]
16,7
2,8
3.4 Bedeutungskonstruktion gemäß originaler und revidierter Leseaufgabe und Zielstellung anpassen
„Und dann lese ich die Aufgabe noch einmal, um herauszufinden, worauf ich die Antwort finden werde.“
11,1
1,8
Tabelle 12: Überblick über empirisch nachgewiesene Strategien des konstruktiv-responsiven Lesens bei norwegischen Studierenden innerhalb drei übergeordneter Hauptgruppen von Strategien (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Anmarkrud et al., 2014, S. 70 und 75*, zum Teil mit sprachlichen und inhaltlichen Vereinfachungen; eigene Berechnungen zum Anteil der Strategien am Gesamt aller Strategien; Abweichungen in den Summen von 100 Prozent ergeben sich über Rundungsfehler)
3 Empirische Befunde
3) (Selbst-)Überwachung von Verstehensprozessen
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
Wendet man sich zunächst einmal den drei Hauptgruppen der verschiedenen Lesestrategien zu und addiert die Prozentwerte aus der Spalte ganz rechts, so zeigen sich Auffälligkeiten in der Verteilung. Strategien zur Beurteilung von Texten und Informationen (Gruppe 2) machten etwa die Hälfte aus (N = 160), gefolgt von jenen Strategien, mittels derer die Studierenden zentrale Informationen eruierten und Bedeutung konstruierten (Gruppe 1), denn diese bildeten zusammen ungefähr ein Drittel (N = 112). Mit ca. einem Sechstel waren metakognitive Strategien (Gruppe 3) am wenigsten vertreten (N = 54). Auch innerhalb der einzelnen Strategiegruppen verteilten sich die insgesamt 17 einzelnen Strategien unterschiedlich, wobei einzelne Strategien mit einem Gesamtanteil von mehr als zehn Prozent (gemessen an allen Strategieepisoden) in nur zwei Gruppen vorkamen: ▶ In der ersten Gruppe der Strategien zum Finden der wichtigen Informationen und Bedeutungskonstruktion dominieren ganz klar solche Strategien, mittels derer (durch Vorwissensnutzung) intertextuelle Verbindungen hergestellt werden (1.1). Gefolgt werden sie – mit einigem Abstand – von jenen Strategien, die dem Zusammenfassen dienen (1.2). ▶ In der zweiten Gruppe der Informations- und Textbeurteilung machen zwei Strategien den Löwenanteil aus, mittels derer die Studierenden entweder auf der Basis von Merkmalen der Quelle den Inhalt des Textes beurteilen (2.1) oder aber aus Informationen innerhalb eines Textes Informationen einschätzen (2.2). Zusammengenommen bilden die vier in der Aufzählung genannten Strategien aus zwei Hauptgruppen fast zwei Drittel aller ermittelten Strategieepisoden. Damit stellt sich die Frage, ob sie auch untereinander zusammenhängen. Dies wurde in der norwegischen Studie mittels Korrelationsanalysen überprüft. Bei solchen Analysen wird getestet, ob und in welchem Verhält-
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3 Empirische Befunde
nis statistische Zusammenhänge zwischen mehreren Variablen bestehen. Die Grundlage für die konkreten Analysen bildeten Summenwerte der 17 einzelnen Strategien, die verschiedentlich zu Gruppensummen addiert wurden. Tatsächlich gab es ein doppeltes Muster: ▶ Die beiden kognitiven Gruppen von Strategien (Gruppe 1 – zentrale Inhalte erkennen und Bedeutung konstruieren – sowie Gruppe 2 – Beurteilung von Texten und deren Inhalten) hingen untereinander stark zusammen. Wer also Strategien aus einer Gruppe nutzte, tat dies mit großer Wahrscheinlichkeit in erhöhtem Maße auch bei Strategien der anderen Gruppe. ▶ Die Gruppe der metakognitiven Strategien (Gruppe 3 – (Selbst-)Überwachung von Verstehensprozessen) hing hingegen in dieser Studie mit keiner der beiden anderen der beiden Strategien zusammen. Kognitive und metakognitive Strategien bestanden nach diesen Analysen unabhängig voneinander, was auch mit der geringen Gesamtzahl der metakognitiven Strategieepisoden zu tun haben dürfte. Zusätzlich gab es noch weitere Auswertungen, bei denen Strategiekategorien gebildet bzw. kodiert wurden, die quer zur Logik der drei Hauptgruppen lagen. Zum einen wurde ein Gesamtwert von allen eingesetzten Strategien aus allen drei Gruppen gebildet (neue vierte Kategorie: Summe aller Strategien). Zum anderen wurde noch eine zusätzliche Kategorie gebildet, bei der alle Strategien, die sich auf die Verbindung von multiplen Texten bezogen und aus allen drei Gruppen stammen konnten (neue fünfte Kategorie: Verbindungsstrategien). Auch hier wurden Korrelationen berechnet. Sowohl die Summenwerte aller Strategien als auch die Summe aller Verbindungsstrategien korrelierten mit den drei Hauptgruppen und auch untereinander. Diese letzten beiden Analyseergebnisse lassen sich derart inter-
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
pretieren, dass im Sinne des konstruktiv-responsiven Lesens ein Verbund verschiedener Strategien zusammenwirkt, um lesebezogene Probleme erfolgreich zu bewältigen. 3.1.3 Hypertexte finden, lesen und nutzen – ein zweites Beispiel
Im Beispiel aus dem Teilkapitel zuvor waren digitale Texte zwar Teil des Dokumentensets, aber sie waren vorgegeben. Anders ist der Fall in diesem Teilkapitel gelagert, das auf Daten basiert, die von hinsichtlich ihrer Lesefähigkeiten besonders leistungsstarken Schülerinnen zehnter bis zwölfter Klassen stammen. Die insgesamt sieben Schülerinnen sollten in der sehr aufwändigen Studie eine komplexe Internetrecherche in mehreren Schritten durchführen (Cho, 2014). Das Besondere an der Studie war ihre ökologische Validität oder auch Passung in ein natürliches (Schul-) Setting. Denn anders als in vielen weiteren bisher vorgelegten Studien gab es nicht nur eine schulfeld- und realitätsnahe Aufgabe (hier: anhand einer Internetrecherche eine eigene kritische Frage formulieren, die für eine Diskussion innerhalb der Klasse leitend sein sollte). Hinzu kam noch, dass die Teilnehmerinnen in zwei jeweils 45-minütigen Sitzungen relativ frei zu ihrem selbstgewählten Thema nach drei verschiedenen Websites für die Entwicklung der Fragestellungen suchen konnten (Sitzung 1: Informationssuche) und danach vertiefend die gefundenen Texte für die Entwicklung ihrer Frage lesen sollten (Sitzung 2: fokussiertes Lernen). Die Verbaldaten zum Vorgehen wurden in der Datenanalyse in sogenannte „Zellen“ zergliedert, in denen sich prototypisch vier Arten des konstruktiv-responsiven Lesens wiederfinden ließen: 1. Textsuche, also die Suche nach relevanten Informationsquellen und die Suche nach nützlichen Texten durch Auswahl von Hyperlinks – dies entspricht der Konstruktion der Lesepfade (Gruppe Nr. 7) gemäß Tabelle 11 in Teilkapitel 3.1.1.2;
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3 Empirische Befunde
2. Selbstüberwachung, darunter die aktive Bestimmung der Lesepfade durch die möglichen Texte, die metakognitive Regulation der Bedeutungskonstruktion und die Wahrnehmung des eigenen Vorgehens (Nrn. 3 und 6 gemäß Tabelle 11); 3. Informationsbeurteilung, hierunter fallen die Prüfung von Links, Informationswert und -qualität von Websites (Nrn. 2 und 5 gemäß Tabelle 11); 4. Bedeutungskonstruktion, also das Verstehen von Hyperlinks, Inhalten einzelner Websites und von multiplen Texten (Nrn. 1 und 4 gemäß Tabelle 11). Waren die Vorgehensweisen der sieben Schülerinnen sehr wohl individuell (dazu gleich mehr), so ergaben sich auch Muster: ▶ In der ersten Sitzung mit der Informationssuche etwa entfielen ungefähr gleich große Anteile der vier verschiedenen Kategorien auf das Gesamt aller strategischen Aktivitäten. ▶ In der zweiten Sitzung des fokussierten Lernens stand die Textsuche deutlich im Hintergrund und die Bedeutungskonstruktion stattdessen deutlich im Vordergrund. Trotz dieser offenkundigen Anpassung des Vorgehens an Auftrag und Funktion der jeweiligen Einzelsitzung ist bemerkenswert, dass alle vier Kategorien in beiden Sitzungen vorkamen, also keine Kategorie entbehrlich war. Dies entspricht dem Grundgedanken des konstruktiv-responsiven Lesens als flexible Nutzung eines Strategieverbunds. Wie schon erwähnt zeigten die sieben Schülerinnen ein individuelles Vorgehen bei der Bearbeitung des komplexen Arbeitsauftrags in den beiden Sitzungen. Als Illustration dafür fungieren die beiden Schülerinnen Rachel und Andy, deren Herangehensweisen in Abbildung 6 überblicksartig dargestellt sind. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus den beiden Lektionen, nämlich jeweils die ersten 20 Minuten in den Sitzungen 1 und
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte
2, also knapp der Hälfte der Gesamtdauer. Das Diagramm in Abbildung 6 ist von oben nach unten zu lesen und zeigt jeweils in vier Spalten pro Schülerin und Sitzung ihr Profil in jeder der beiden Sitzungen. Dabei offenbaren sich Gemeinsamkeiten der beiden Schülerinnen in einer relativ konsistenten Selbstüberwachung und Informationsbeurteilung. Die entscheidenden profilrelevanten Differenzen ergeben sich bei der Textsuche und Bedeutungskonstruktion, also den strategischen Kategorien, welche jeweils außen in den Spalten dargestellt sind. Deutlich und sehr gut zu erkennen sind zwei Muster der beiden Schülerinnen, die sich aus Abbildung 6 herauslesen lassen (und ihrerseits wiederum für andere Muster in der Aufgabenbearbeitung stehen, die später in Teilkapitel 3.3.2.1 Gegenstand sein werden): ▶ Rachel zeigt ein insgesamt eher offenes Vorgehen bei der Textsuche, in die sie viel Zeit investiert, indem sie mit verschiedenen, immer wieder modifizierten Einträgen in Suchmaschinen nach relevant wirkenden Websites recherchiert. Die Bedeutungskonstruktion beim Lesen spielt eine nachgeordnete Rolle. Dies zeigt sich markant in der ersten Sitzung, aber auch noch in abgeschwächter Form in der zweiten Sitzung. Für die Schülerin ist typisch, dass sie immer wieder zwischen Suchergebnissen und deren Inhalten wechselt, um einzelne Teilaspekte ihrer Frage zu prüfen und an nützliche Informationen zu gelangen. ▶ Anders ist der Fall bei Andy gelagert: Sie gelangt schneller per Suchmaschineneinträgen zu den Texten und verwendet mehr Zeit darauf, auf verschiedene Weisen die Bedeutung zu konstruieren. Ihr Vorgehen ist im Vergleich deutlich selektiver, was auch mit ihrer stärkeren Zuspitzung auf zwei einzelne Aspekte der kritischen Frage innerhalb ihres Vorgehens zu tun gehabt haben dürfte.
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3 Empirische Befunde
Sitzung 1: Informationssuche
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Rachel
Andy
TS SÜ IB BK
TS SÜ IB BK
Sitzung 2: Fokussiertes Lernen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Rachel
Andy
TS SÜ IB BK
TS SÜ IB BK
Abbildung 6: Kategorien des strategischen Vorgehens zweier Schülerinnen innerhalb der ersten beiden 20 Minuten von zwei aufeinanderfolgenden
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3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte Bearbeitungssitzungen (Legende: vertikal angeordnete Zahlen links geben die Nummer der Zelle an; Abkürzungen aus dem Kopf der Diagramme: TS = Textsuche, SÜ = Selbstüberwachung, IB = Informationsbeurteilung, BK = Bedeutungskonstruktion; Darstellung gemäß Cho, 2014, S. 280)
Die geringe Anzahl von Schülerinnen ließ es – im Gegensatz zu dem Vorgehen der norwegischen Studie im Teilkapitel 3.1.2 – in der Studie von Cho (2014) nicht zu, dass die vier einzelnen Gruppen von Strategien miteinander in Korrelationsanalysen zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden. Deshalb sind die Befunde einer vom Forschungsdesign ähnlichen Untersuchung mit älteren Jugendlichen aus der High-School hilfreich, in der mit einer für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer identischen Vorgabe 43 Jugendliche eine internetbasierte Rechercheaufgabe lösten (Cho et al., 2017). Das Vorgehen wurde ebenfalls mit lautem Denken dargelegt, und die vier Gruppen von Strategien anschließend analysiert und in ihrer Effektivität beurteilt. Die Ergebnisse demonstrierten eindrucksvoll mittlere bis sehr starke positive Zusammenhänge aller Gruppen von Strategien. Diese Zusammenhänge blieben auch unter statistischer Berücksichtigung des Vorwissens bestehen. Insofern replizieren diese Analysen prinzipiell das, was mit norwegischen Studierenden im Teilkapitel zuvor ermittelt wurde: Die Strategien hängen untereinander positiv zusammen.
3.2 Wenn man liest, um zu schreiben Das Lesen multipler Texte, zumal im (hoch-)schulischen Kontext, ist selten etwas, das ohne das Schreiben auskommt (Mateos et al., 2007). Deshalb wird in diesem Teilkapitel ein exemplarischer Blick auf ausgewählte Studien präsentiert, die sich mit dem Lesen und dem Schreiben befasst haben. Zunächst werden drei ausgewählte Studien und ihre Befunde konsultiert (Teilkap. 3.2.1),
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3 Empirische Befunde
danach widmet sich das Teilkapitel 3.2.2 den Notizen als (didaktisch) wichtigem Zwischenglied zwischen dem Lesen fremder Bezugstexte und dem Schreiben eigener Texte. Beide Teilkapitel zeigen deutlich, dass Lesen und Schreiben einander sinnvoll bedingen und zusammenhängen. 3.2.1 Zur Einbettung von Schreib- in Leseprozesse
In vielen Studien im Kontext des Umgangs mit multiplen Dokumenten und Texten spielt das Schreiben eine Rolle – vor allem um Leseverstehensleistungen jenseits der von Forschenden standardisiert vorgegebenen Instrumente zu erfassen. Um eigene Texte zu verfassen, genügen aber Leseprozesse nicht mehr, sondern es bedarf auch der gelingenden Orchestrierung der Schreibprozesse, also der Schreibkompetenz (s. dazu bspw. Philipp, 2015c). Im Falle des Schreibens über mehrere Texte und Dokumente rückt die Konvergenz und Hybridität des strategiebasierten Lesens und Schreibens in den Fokus. Das Lesen erfolgt nämlich mit dem für die Personen erkennbaren Ziel des Schreibens, zusätzlich basiert das Schreiben eines Textes auf der Basis multipler Bezugstexte. Die Forscherin Nancy Spivey schrieb in diesem Zusammenhang ganz treffend: „we often cannot say whether a writer performs a certain operation to make meaning of the text that is read or to make meaning for the text that is being written“ (Spivey, 1990, S. 258, Hervorh. im Orig.). Spivey, die selbst gleich mehrere eigene Studien zu der Thematik durchgeführt hat (Spivey, 1991*; Spivey & King, 1989), hat auf dieser Basis die Komplementarität und Konvergenz des Lesens und Schreibens in Bezug auf drei Arten von Prozessen beschrieben. Dieser Konvergenz widmet sich das folgende Teilkapitel.
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
3.2.1.1 Zur Konvergenz von Lese- und Schreibprozessen beim Schreiben eines eigenen Textes über multiple gelesene Texte / Dokumente
Lesen und Schreiben gelten als Domänen mit hoher kognitiver Eigenleistung und einer hohen Überlappung bei den Anforderungen und Wissensbeständen (Shanahan, 2016) – das gilt umso mehr in dem Fall, wenn man multiple Texte liest, um einen eigenen Text zu verfassen. Unter dieser Prozessperspektive hat Nancy Spivey (1990) drei Prozesse hervorgehoben, die sowohl für das Lesen als auch das Schreiben im verstehenden Umgang mit mehreren Texten von Belang sind, einander ergänzen und ineinander übergehen (s. Tabelle 13): ▶ Organisieren: Mit dem Organisieren ist gemeint, dass jemand zentrale, übergeordnete Informationen und Konzepte und untergeordnete, sich auf Details beziehende Informationen bzw. Konzepte (in der Psycholinguistik werden sie als „Propositionen“ bezeichnet; Proposition ist – holzschnittartig ausgedrückt – eine Bezeichnung von Informationen) und ihre Verbindungen kognitiv repräsentiert. Für die Verbindungen zwischen solchen zentralen Propositionen ist die Textstruktur bedeutsam, die der lesenden Person diese Zusammenhänge signalisiert und der schreibenden Person eine Stütze beim Verfassen des Textes bietet. Deshalb kann man das Organisieren auch als Strukturieren übersetzen. ▶ Auswählen: Mit dem Auswählen ist eine auf Gewichtungen abzielende Art von kognitiven Aktivitäten gemeint, die auf einer Analyse der Informationen fußt. Das Gewichten erfolgt zum einen auf der Basis der von einer lesenden Person aktiv erkannten Informationshierarchie innerhalb eines Textes bzw. eines Dokumentensets (und setzt damit das Organisieren als Teilprozess direkt voraus). Damit wird die Wichtigkeit von Informationen für das gelingende Auswählen deutlich. Zum anderen kann eine Gewichtung auch auf
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3 Empirische Befunde
der Basis von kontextuellen, also außerhalb der eigentlichen Texte liegenden Informationsgrundlagen erfolgen, darunter dem Vorwissen einer Person oder der Aufgabenstellung. Solche Gewichtungen basieren dann auf extratextuellen Relevanzzuweisungen, also auf der Basis dessen, was lesende Personen tun, um Texte für ihre Ziele zu nutzen, wofür sie auch auf das interne Aufgabenmodell zurückgreifen (s. Teilkap. 2.2.2). ▶ Verknüpfen: Das Verknüpfen bezieht sich auf das Verbinden von textuellen Informationen mit dem eigenen Vorwissen. Dies geschieht beim Lesen durch das Schlussfolgern (Bilden von Inferenzen), indem Informationen aus Texten mit eigenem Wissen angereichert werden. Solche Leistungen im Sinne von Anreicherungen sind auch beim Schreiben über Gelesenes typisch, wenn es darum geht, dokumentenbasiert zu neuen Aussagen zu gelangen, die zwar in den gelesenen Dokumenten angelegt, aber nicht expliziert sind. Die drei in der Aufzählung angeführten und in der Tabelle 13 für das Lesen und Schreiben spezifizierten Prozesse basieren auf einer anderen Logik als der rein lesespezifischen zum konstruktiv-responsiven Lesen gemäß Teilkapitel 3.1.1. Gleichwohl besteht eine große inhaltliche Übereinstimmung insofern, als das Organisieren, Auswählen und Verknüpfen starke Überlappungen mit dem Erkennen und Lernen wichtiger Informationen beim konstruktiv-responsiven Lesen zum einen und zum Teil auch dem Beurteilen zum anderen aufweisen. Die metakognitiven Strategien (Monitoring) kommen in der oben angeführten Liste hingegen nicht vor.
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Lesen
Schreiben
1) Organisieren
Erkennen und (Re-)Konstruieren von propositionalen Informationsstrukturen (Textstruktur und z. T. bei konventionalisierten Strukturen: Textsorten)
Nutzen der propositionalen Strukturen der Informationen aus Texten für eine (aufgabenspezifische) (Re-)Organisation der Inhalte mit verschiedenen Transformationsgraden
2) Auswählen
Textuelle und kontextuelle Zuweisung von Wichtigkeit und Relevanz von Textinformationen auf der Basis von propositionalen und aufgabenbasierten Informationsanalysen
Auswahl von wichtigkeits- und / oder relevanzbasierten Informationen für eigene Texte (Beurteilung nebst Selektion der Informationen auf der Basis intra- und / oder intertextueller Informationsanalyse sowie auf der Grundlage des sukzessive entstehenden eigenen Textes)
3) Verknüpfen
Verbinden des Textinhalts mit eigenem Vorwissen auf der Basis text- und vorwissensbasierter Schlussfolgerungen (Inferenzen)
Verbinden von eigenem Vorwissen und Textinformationen im Schreibprozess, dabei Kreieren / Hinzufügen neuer Informationen durch Schlussfolgerungen
Tabelle 13: Überblick über drei Arten von komplementären Prozessen des Lesens und Schreibens beim Verfassen eigener Texte auf der Basis multipler fremder Bezugstexte (eigene Darstellung, basierend auf Spivey, 1990)
3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
Inhaltsbezogener Prozess
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3 Empirische Befunde
Die Konvergenz der Lese- und Schreibprozesse bei der schriftlichen Weiterverarbeitung mehrerer gelesener Texte / Dokumente, wie sie hier vorgestellt wurde, öffnet den Blick auf strukturelle Gemeinsamkeiten des hybriden Prozessverbunds, der dann zum Einsatz kommt, wenn man multiple Texte ziel- und aufgabenbezogen weiterverarbeitet. Was bei der Zusammenfassung der Lese- und Schreibprozesse in Tabelle 13 besonders augenfällig ist, ist die Transformation von gelesenen Informationen beim Schreiben, sei es durch Restrukturierungen (Organisieren), Relevanzzuweisungen (Auswählen) oder durch Anreicherungen (Verknüpfen). Genau diese Arten der aufs Engste mit den Leseprozessen verquickten Aktivitäten macht sich eine Didaktik des „materialgestützten Schreibens“ gezielt zunutze (Feilke et al., 2016; Philipp, 2017b; s. Teilkap. 5.3). Ähnliches gilt für jene Maßnahmen, in denen das strategische Lesen und Schreiben integrativ gefördert werden (Graham & Hebert, 2011; Graham et al., in press a, in press b; Hebert, Gillespie & Graham, 2013, s. Philipp, 2017a, S. 137 – 176). 3.2.1.2 Drei vertiefende empirische Beispiele
Eine echte integrative Sicht auf das Lesen und Schreiben haben bislang nur wenige Studien eingenommen, wenn es darum geht, die Lese- und Schreibprozesse zu quantifizieren. In diesem Teilkapitel können deshalb nur ausgewählte Beispiele mit unterschiedlichen methodischen Zugängen vorgestellt und sich abzeichnende Muster herausgearbeitet werden. Zwei der Studien stellt der nachstehende Kasten vor, ein ausführlicheres Exempel folgt im Anschluss.
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
Die Vermessung der Lese- und Schreibprozesse – zwei exemplarische schreiprozessnahe Untersuchungen zu den Anteilen der Lese- und Schreibprozesse bei der Aufgabenbearbeitung Lese- und Schreibprozesse nicht nur gemeinsam zu erfassen, sondern sie auch noch quantifizierend auszuwerten, das haben bislang nur wenige Forscherinnen und Forscher unternommen. Zwei solcher Positivbeispiele sind die folgenden empirischen Untersuchungen: ▶ In der ersten Studie von Schüler (2017) bearbeiteten Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II einen Arbeitsauftrag innerhalb einer digitalen Schreibumgebung. Gegenstand des Schreibauftrags war das wissenschaftsnahe Schreiben über ein kontroverses Thema, das in drei Artikeln behandelt wurde. Ausgewertet wurde unter anderem die Verweildauer in einzelnen Menüs der besagten Schreibumgebung. Die Aufenthaltszeit innerhalb der einzelnen Menüs – gemessen an den insgesamt fast 201 Minuten Gesamtdauer – betrug für die Aufgabenstellung anteilig zwei Prozent, für das Lesen 35 Prozent, beim Ordnen waren es 21 Prozent, im Falle des Schreibens 39 Prozent, und auf Pausen entfielen 3 Prozent. Damit macht das Schreiben bzw. der Aufenthalt in diesem Teil der digitalen Schreibumgebung in der Studie knapp zwei Fünftel der Gesamtbearbeitungszeit aus und bildet damit die größte einzelne Kategorie. ▶ In einer zweiten Untersuchung mit 15-Jährigen sollten die Jugendlichen Inhalte aus zwei Texten (im Gesamtumfang von weniger als 500 Wörtern) im Sinne einer Synthese schriftlich integrieren (Mateos et al., 2008). Bei ihrem Vorgehen wurden die Jugendlichen gefilmt und äußerten
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3 Empirische Befunde
ihre Vorgehensweisen mit lautem Denken. Diese Daten wurden auf mehrere Weise analysiert, unter anderem wurden die rein verbalen Aktivitäten einer von insgesamt fünf Hauptkategorien mit mehreren Subkategorien zugeordnet und hinsichtlich der Anteile ausgewertet. Diese ausgewerteten Verbaldaten bildeten die Grundlage für die erste Auswertung zu den Anteilen der einzelnen Aktivitäten. Die Aufgabenanalyse (als Reflexion über die Aufgabeschwierigkeit und die Beurteilung der Aufgabe) machte mit knapp einem Prozent den geringsten Anteil aus. Gefolgt wurde diese Kategorie vom Anteil planerischer Aktivitäten auf globaler und lokaler Ebene, die sich auf das Lesen und Schreiben bezogen (fünf Prozent). Emotionale Reaktionen machten mit elf Prozent einen noch größeren Anteil aus. Mit 29 Prozent bildete die metakognitive Überwachung der Lese- und Schreibprozesse die zweithäufigste Kategorie. Auf 55 Prozent summierten sich Aktivitäten der Bedeutungskonstruktion und bildeten dadurch das Gros aller Aktivitäten. In diese Kategorie der Bedeutungskonstruktion fielen sowohl Leseals auch Schreibaktivitäten, von denen mehr als insgesamt 30 Prozent aller Aktivitäten (oder hier: mehr als die Hälfte aller bedeutungskonstruierend genannten Aktivitäten) das wörtliche Wiederholen oder Paraphrasieren von Texten ausmachten. Die zweite Auswertung in der Studie fußte auf den rein per Videografie aufgezeichneten, direkt beobachtbaren Leseund Schreibaktivitäten, die verbal kommentiert worden waren. Hier ergab sich ein etwas anderes Bild: Fast vier Fünftel aller Aktivitäten bezogen sich auf das Lesen entweder der beiden fremden Bezugsexte (58 Prozent) oder des eigenen (entstehenden) Textes (20 Prozent). Diese Leseak-
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
tivitäten wurden noch danach unterschieden, ob sich die Lektüre auf lokale Stellen oder globale Passagen bezogen, und das Verhältnis betrug ziemlich genau 4 : 1, die lokale (Re-)Lektüre überwog also deutlich und machte am Ende etwas mehr als die Hälfte aller ausgewerteten Aktivitäten aus. Der Rest der Aktivitäten entfiel auf inhaltlich etwas unspezifizierte Problemlöseaktivitäten (14 Prozent) und auf das Revidieren des eigenen Textes (8 Prozent). Wichtig erscheint aus methodischer Sicht – auch hinsichtlich der jeweiligen erzielten Instrumente der direkten und indirekten Erfassung von Schreibprozessen (Linnemann, 2017) – bei den beiden Untersuchungen: Die Perspektiven offerieren unterschiedliche Erkenntnisse, wobei dies auch mit den Merkmalen der Texte, der Personen und der Aufgabenstellungen zu tun haben dürfte. In der Studie von Schüler (2017) ergaben die reinen Verweildauern innerhalb der digitalen Schreibumgebung, dass etwas mehr als die Hälfte der Zeit auf die lesende Vorbereitung auf das Schreiben entfiel (Lesen und Ordnen), während fast zwei Fünftel für das Schreiben reserviert waren. Die Studie von Mateos et al. (2008) kam mit ihrem Fokus auf analoges Lesen und Schreiben mit jüngeren Versuchspersonen und mit anderem methodischem Zuschnitt auf andere Ergebnisse. Hier wurden Lese- und Schreibprozesse auffälligerweise zusammengefasst (s. dazu Teilkap. 3.2.1.1), sodass sich im Nachhinein eine analytische Trennung von Lesen und Schreiben nicht mehr vornehmen lässt. Doch sowohl die Verbaldaten als auch die videografierten Aktivitäten deuten so wie die in der Studie von Schüler (2017) ermittelten Anteile auf eine Dominanz des (lokalen) Lesens hin. Das Schreiben – in der einen Studie mit deutlichen Verweildauern sehr umfassend, in der anderen Studie kaum separat ausgewiesen – kommt gleichwohl deutlich erkennbar in den verschiedenen Prozessdaten vor.
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3 Empirische Befunde
Die beiden im Kasten vorgestellten Studien liefern wichtige Daten zu den Anteilen der Lese- und Schreibprozesse im Rahmen zweier unterschiedlicher Arbeitsaufträge mit unterschiedlichen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern. Noch etwas genauer und aussagekräftiger sind die Ergebnisse einer schon deutlich älteren Studie, die sich der Vermessung der Lese- und Schreibprozesse aus zwei verschiedenen Perspektiven widmete (McGinley, 1992*). An der Studie partizipierten sieben Studierende, welche auf der Basis von zwei Zeitungsartikeln – also zwei analogen, linearen Texten – einen eigenen argumentativen Text zu obligatorischen Drogentests am Arbeitsplatz verfassten. Die Protokolle des lauten Denkens mit fast 2.800 erfassten einzelnen Prozesseinheiten wurden nach zwei Gesichtspunkten kodiert und ausgewertet. Zum einen wurden die Lese- und Schreibprozesse erfasst, zum anderen die verschiedenen mentalen Handlungen, die man nur zum Teil als Strategien bezeichnen kann, in Gruppen zusammengefasst. Um für beide in der Studie separat ausgewiesenen Forschungsperspektiven noch genauere Ergebnisse zu berichten, erfolgte pro Person eine Aufteilung der im Durchschnitt 25 Minuten langen Bearbeitungsdauer in gleich lange Viertel. Für diese vier Zeitabschnitte wurden die jeweiligen einzelnen Prozesse zusammenfassend über alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgewertet (s. Abbildung 7 für die Lese- und Schreibprozesse und Abbildung 8 für die mentalen Handlungen / Strategien).
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
Gesamt
1
8
44
1/4
4
29
15 12
87
2/4
0
3/4
1
4/4
1 10
11
23 17
9
4 3
40 49
52
16
1 11 3
29 34
Lesen der Aufgabe
Lesen der Texte
Schreiben von Notizen
Lesen der Notizen
Schreiben des eigenen Textes
Lesen des eigenen Textes
Abbildung 7: Verteilung der lese- und schreibbezogenen Aktivitäten beim Schreiben einer Argumentation auf der Basis zweier gelesener Texte, dargestellt für den gesamten Zeitraum der Aufgabenbearbeitung und die vier einzelnen Viertel (Angaben in gerundeten Prozent, eigene Darstellung auf der Basis von McGinley, 1992, S. 232*; Differenzen zu 100 Prozent in der Summe ergeben sich über Rundungsfehler)
Zunächst zu den Lese- und Schreibprozessen: Wie aus dem obersten Balken im Diagramm aus der Abbildung 7 deutlich wird, sind es zwei Prozesse, die bezogen auf den Gesamtprozess sehr deutlich dominieren und fast zwei Drittel aller kodierten Einheiten ausmachten: das Lesen der beiden Zeitungsartikel (44 Prozent) und das Schreiben des Textes (29 Prozent). Im Gesamt überwiegen bei der Aufgabenbearbeitung mit fast zwei Dritteln die Leseaktivitäten (bezogen auf Aufgabe, fremde Texte, eigene Notizen und eigenen Text), während ein gutes Drittel auf das Schreiben entfiel. Mit Blick auf die vier Viertel fallen über alle sieben Personen hinweg deutliche Trends auf: ▶ Das Lesen des Auftrags erfolgt nur am Rande und zum Teil nur im Promillebereich. ▶ Das Lesen der beiden Zeitungsartikel bildet den deutlich und unverkennbar dominanten Prozess ganz zu Beginn und
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3 Empirische Befunde
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ist danach stark rückläufig, allerdings kommt es bis zum Schluss noch vor. Das darauf aufbauende Schreiben von eigenen Notizen ist hingegen nur in der ersten Hälfte aller Prozesse zu beobachten gewesen, verschwindet dann aber in seiner Bedeutung. Das Lesen der Notizen kommt nach dem Schreiben auf geringem Niveau in den letzten drei Vierteln vor – vor allem im zweiten Viertel. Das Schreiben des Textes findet ab dem zweiten Viertel statt und bildet ab der zweiten Hälfte den dominanten Prozess, der dann ungefähr die Hälfte aller erfassten Prozesse ausmacht. Zu guter Letzt nimmt das Lesen des eigenen Textes ebenfalls zu, es steigt als Prozess in seinem Anteil kontinuierlich an.
Damit lassen sich je nach Mischverhältnis der erfassten Prozesse im Lesen und Schreiben Profile für jedes betrachtete Viertel erstellen: ▶ Kurz gesagt geht es im ersten Viertel vor allem um die Inhaltsgenerierung (durch das Lesen) und -aufbereitung (durch das Notieren) und ▶ im dritten und vierten Viertel um das lese- und notizenbasierte Verfassen des eigenen Textes mit kontinuierlicher Überprüfung. ▶ Das zweite Viertel nimmt eine verbindende Zwischenstellung ein, denn es beinhaltet sowohl die Aufbereitung des Inhaltes als auch das beginnende eigene Schreiben. Dennoch gilt bei alldem: Es gibt trotz Muster keinen Hinweis auf eine strikte Linearität im Prozess der gesamten Aufgabenbearbeitung, da sämtliche Prozesse in allen vier Vierteln vorkommen.
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
Gesamt
16
1/4
19
2/4
16
3/4
16
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20
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9
30
8
3
17
25
6
5
5
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8
4
1 6
17 19
Klärendes Fragen
Hypothesen aufstellen
Kommentare Ziel/Entscheidung
Kommentare eigenes Wissen
Kommentare Inhalte
Belege anführen
Paraphrase Inhalte
Wiedergabe Gelesenes
Abbildung 8: Verteilung der mentalen Handlungen / Strategien beim Schreiben einer Argumentation auf der Basis zweier gelesener Texte, dargestellt für den gesamten Zeitraum der Aufgabenbearbeitung und die vier einzelnen Viertel (Angaben in gerundeten Prozent, eigene Darstellung auf der Basis von McGinley, 1992, S. 233*; Differenzen zu 100 Prozent in der Summe ergeben sich über Rundungsfehler; Unterstreichungen bei vier mentalen Handlungen / Strategien verweisen auf auffällige Veränderungen in den vier Vierteln des Gesamtprozesses)
Die Untersuchung erfasste nicht nur den Bezugspunkt Lesen oder Schreiben in der Gesamtbearbeitung beim Schreiben eines argumentativen Textes. Vielmehr wurden die verbalen Äußerungen danach analysiert, auf welche mentalen Handlungen / Strategien sie außerdem verweisen. Das bedeutet: Dieselben Daten wurden aus anderer Perspektive kodiert und ausgewertet. Die Verbaldaten wurden in acht Kategorien eingeteilt, in der Abbildung 8 sind sie zusammenfassend dargestellt. Vier der Kategorien sind mit Unterstreichungen hervorgehoben, nämlich jene vier, in denen sich auffällige Veränderungen zwischen den vier Vierteln der Bearbeitungszeit zeigten. Die acht mentalen Handlungen / Strategien als zum Teil sehr weit gefasste inhaltliche Kategorien mitsamt ihren wichtigsten Auffälligkeiten sind:
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3 Empirische Befunde
▶ Klärendes Fragen: Diese Kategorie ist inhaltlich besonders heterogen und umfasst Äußerungen, die Unklarheiten, Fragen, Unvollständigkeiten in Bezug auf Texte, Inhalte etc. betreffen. Solch ein klärendes Fragen war zu Beginn des Bearbeitungsprozesses deutlich häufiger nachweisbar als am Ende. ▶ Hypothesen aufstellen: Hierunter fallen Formulierungen zu Plänen, Vermutungen oder Vorhersagen, die sich auf diverse Elemente des Textes, einer möglichen Problemlösung oder ein Thema beziehen. Mit ca. einem Zehntel am Gesamt bleibt diese Art von mentalen Handlungen / Strategien auf niedrigem Niveau recht stabil in allen vier Vierteln. ▶ Kommentare zu Zielen / Entscheidungen: Äußerungen dieser Kategorie verweisen auf eine getroffene Entscheidung oder eine Zielerreichung und haben damit einen deutlich erkennbaren metakognitiven Charakter. Solche mentalen Handlungen / Strategien fanden durchgängig mit einem geringen quantitativen Teil Niederschlag in den Laut-Denk-Protokollen. ▶ Kommentare über eigenes Wissen: Hier reflektierten die Personen über ihr eigenes (domänenspezifisches) Wissen in Bezug auf die Inhalte der gelesenen Texte, zum Teil aber auch darüber hinaus. Diese mentalen Handlungen / Strategien machen den größten Gesamtanteil aus. ▶ Kommentare zu Inhalten: In solchen Kommentaren äußerten sich die Personen über (Nicht-)Verwendung von sowohl textstrukturbezogenen als auch inhaltlichen Informationen. Diese Kommentare – im Gesamt die zweithäufigste Kategorie – nehmen im fortschreitenden Bearbeitungsprozess massiv zu. ▶ Belege anführen: In solchen Äußerungen ging es um ein Heranziehen verschiedener Informationen, um ein spezifisches Problem mit einer gewissen Offenheit zu lösen und eine Po-
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
sition abzustützen. Diese mentalen Handlungen / Strategien bilden den kleinsten Anteil unter allen acht Kategorien. ▶ Paraphrase der Inhalte: Dies sind Aktivitäten, Inhalte – vor allem jene aus den Bezugstexten – in eigenen Worten wiederzugeben. Nur im ersten Viertel tauchten diese Aktivitäten massiv auf, danach hingegen erheblich weniger. ▶ Wiedergabe des Gelesenen, also das Wiederholen von eigenen oder fremden Texten bzw. Textteilen und Zwischentexten wie Notizen. Auch hier ergaben sich markante Veränderungen, allerdings in Form von stetiger Zunahme hin zum Ende des Gesamtbearbeitungsprozesses. Als Muster bei den Veränderungen ergeben sich damit zwei gegenläufige Tendenzen: Klärende Fragen nehmen auf der einen Seite ebenso ab wie die Paraphrase von Inhalten. Auf der anderen Seite nehmen inhaltliche Kommentierungen und inhaltliche Wiedergaben zu. Wie schon bei den lese- und schreibbezogenen Prozessen, die in Abbildung 7 weiter oben zusammengefasst sind, ergaben sich Dynamiken in Form von Verschiebungen, aber auch in Form von einer Parallelität der einzelnen Kategorien in den vier Vierteln. Dieses Mit- und Nebeneinander der zwei verschiedenen Arten von Prozessen bzw. mentalen Handlungen / Strategien verweist auf eine hohe Dynamik dessen, was (kognitiv leistungsfähige) Personen binnen weniger als einer halben Stunde leisten, die einen eigenen Text auf der Basis von zwei Bezugstexten mit Blick auf eine konkrete Aufgabenstellung verfassen. Zwischenfazit
Was lehren abschließend die drei Studien, die in diesem Teilkapitel vorgestellt wurden, hinsichtlich der Lese- und Schreibprozesse, wenn sie – wie soeben geschehen – gemeinsam in
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3 Empirische Befunde
den Blick geraten? Es sind drei studienübergreifende, markante Muster, die sich extrahieren lassen: 1. Die Studien illustrieren, dass trotz unterschiedlichster methodischer Zugänge das Lesen – seien es der fremden Bezugstexte, der eigenen Zwischentexte oder des entstehenden eigenen Textes (oder anders: ganz unterschiedlicher Texte) – den dominanten Teil der Aufgabenbearbeitung bildet. Dieses Lesen lässt sich zum einen über alle erfassten Leseund Schreibaktivitäten mehr oder minder deutlich konturieren und damit im Gesamt aller Prozesse der Gesamtbearbeitungszeit ausmachen. 2. Besonders gewinnbringend ist es aber, wenn in Studien wie jener von McGinley (1992* – aber auch der hier aus Platz- und Komplexitätsgründen nicht berichteten wie von Escorcia et al., 2017*, oder Lenski & Johns, 1997) die aufgabenbezogenen Aktivitäten aus chrono- und sachlogischer Perspektive genauer analysiert werden. Hierdurch schälen sich Eigenheiten in bestimmten Phasen deutlicher heraus, die für das möglichst umfassende Verständnis der Leseund Schreibprozesse wichtig sind (Escorcia et al., 2017*; McGinley, 1992*). 3. Zu guter Letzt verdeutlichen die Befunde aus den hier präsentierten Studien, dass für das Bearbeiten von Aufgaben, in denen Personen multiple Texte lesen und schriftlich weiterverarbeiten, viele unterschiedliche Aktivitäten erforderlich sind, die in den Studien mittels grobmaschigerer oder feinerer Analyseraster erfasst wurden. Damit gleicht das, was die lesenden und schreibenden Personen leisten, insgesamt einem komplexen Orchestrationsprozess mit äußerst hohen kognitiven und metakognitiven Anforderungen.
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
3.2.2 Ein genauerer (quantitativer) Blick auf die eigenen Hilfsund Zwischentexte: Notizen
Das Anfertigen von Notizen als Lernhilfe bzw. als Zwischentexte hat in vielen Einzelstudien seine lern- bzw. leseverstehensförderliche Wirkung demonstriert (Graham & Hebert, 2011; Hebert et al., 2013; Kobayashi, 2005, 2006; Reed, Rimel & Hallett, 2016*). Notizen haben insbesondere beim Schreiben über multiple Texte / Dokumente eine Doppelfunktion. Erstens dienen sie der (Zwischen-)Ergebnissicherung im Sinne der Aufbereitung des Dokumentensets. Zweitens fungieren sie zugleich als Ausgangsmaterial für das Schreiben eines eigenen Textes. Beides macht sie wiederum sehr anschlussfähig an den Forschungsstrang zu Strategien des Planens eigener Texte (Philipp, 2014; Robledo-Ramón & García, 2018). Insofern nehmen die Notizen eine wichtige Doppelfunktion zwischen Lese- und Schreibstrategien und damit ebenso zwischen dem Lesen und Schreiben ein (Parodi, 2007; Spivey, 1990). Genau das lässt sie aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht besonders interessant wirken (s. auch Teilkap. 5.2.1) – insbesondere aus der Perspektive einer Förderung des Wissens über Textstrukturen, für die Notizen eine wichtige (Zwischen-)Funktion haben können (Hebert et al., 2016; Pyle et al., 2017; s. Philipp, 2017b, S. 122 – 142), wenn es darum geht, Intertext- und mentale Modelle aufzubauen (s. Teilkap. 2.2.1). Nur eine Handvoll Studien hat sich bislang jedoch genauer mit Merkmalen der Notizen bei multiplen Texten auseinandergesetzt (Daher & Kiewra, 2016*; Hagen, Braasch & Bråten, 2014*; Kirkpatrick & Klein, 2009; Risemberg, 1996*; Schüler, 2017; Spivey & King, 1989; Stahl et al., 1996). Die Notizen wurden in den drei exemplarischen, hier im Folgenden vorgestellten Studien auf unterschiedliche Weise vermessen und analysiert. Darin offenbart sich nicht nur ein jeweils divergierendes Erkenntnisinteresse mit entsprechender methodischer Ausrichtung der Untersuchungen.
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3 Empirische Befunde
Vielmehr zeigt sich darin zusätzlich das Potenzial eines vertiefenden Blickes auf Zwischen- resp. Hilfstexte, das sich insbesondere für die Entwicklung von Fördermaßnahmen nutzen lässt. Zu den drei Studien: ▶ Studie 1: In einer der wenigen Studien, zumal einer mit Probandinnen und Probanden im Schulalter (Stahl et al., 1996), wurde bei jenen knapp 50 Prozent der Personen, die für ihren Text Notizen als Zwischentexte anfertigten, die insgesamt rund 500 entstandenen Notizen inhaltlich kodiert und gezählt. Diese Auszählung ergab sechs Kategorien von Notizen. Wörtliche oder nahezu verbatime Übernahmen als erste Kategorie machten nahezu ein Drittel aus (32 Prozent). Paraphrasen des Gelesenen bildeten mit 36 Prozent aller Notizen die größte Kategorie. Einen stärkeren Reduktionsvorgang setzte die dritte Kategorie, das Verknappen und Verdichten von Aussagen in kürzere Aussagen, voraus (9 Prozent). Gesteigert wurde diese Reduktion durch das eigenständige Finden übergeordneter Konzepte – diese vierte Kategorie bildet mit insgesamt 15 Prozent die dritthäufigste Art der Notizen. Die letzten beiden Kategorien, Evaluierungen in Form von urteilenden schriftlichen Kommentaren bzw. Notizen ohne erkennbaren Bezug zum Text fielen mit 4 bzw. 3 Prozent sehr gering aus. Anzumerken ist noch, dass in der Studie der Ort, an dem die Notiz entstanden ist, vom Forschungsteam zwar kodiert, aber in Analysen nicht mehr berücksichtigt wurde. Stattdessen wurde die Zahl der Notizen allgemein berichtet und zudem analysiert, dass mit steigender Zahl der Bezugstexte die Zahl der Notizen pro Text abnimmt – gerade nach der Lektüre des ersten Textes. Vertiefende Auswertungen erfolgten bedauerlicherweise nicht mehr.
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
▶ Studie 2: In einer zweiten Studie, in der Studierende sieben Bezugstexte zum Thema Klimawandel lasen, wurden die Notizen vertiefend untersucht, die dabei entstanden sind (Hagen et al., 2014*). Sechs Maße wurden hierbei erfasst: 1) die Zahl der Texte, aus denen sich die Notizen speisten, 2) die Anzahl der Wechsel zwischen den einzelnen Texten in den Notizen, 3) die Anzahl geschriebener Wörter, 4) die Menge der paraphrasierten Inhalte aus den Texten, 5) die Anzahl der Verbindungen von Informationen aus Einzeltexten (intratextuelle Elaborationen) und 6) das Vorhandensein intertextueller Elaborationen (Verbindungen von Informationen zwischen den Einzeltexten). Mittels Korrelationsanalysen wurde erfasst, wie diese sechs Maße zusammenhingen. Dabei gab es mittlere bis starke statistische Zusammenhänge zwischen allen der ersten fünf Maßzahlen. Auffällig war aber das Vorhandensein der intertextuellen Elaborationen, denn dieses sechste Maß korrelierte lediglich mit der Anzahl der Wechsel zwischen den einzelnen Texten in den Notizen – und mit keiner anderen notizenbezogenen Variable. Das ist deshalb hervorzuheben, weil es spezielle Muster beim Zusammenhang der Notizen mit dem Leseverstehen multipler Texte gab (s. u. Teilkap. 3.4.1.2). ▶ Studie 3: Eine dritte Studie, ebenfalls mit Studierenden durchgeführt, welche auf der Basis von zwei kurzen Texten zwei historische Persönlichkeiten in einem eigenen Text vergleichen sollten, liefert weitere Daten zu den Merkmalen von Notizen (Risemberg, 1996*). Die Notizen während der Aufgabenbearbeitung wurden hinsichtlich der Ausprägung von zwei Merkmalen kategorisiert, nämlich zum einen hinsichtlich der Organisation von über- und untergeordneten Informationen aus den beiden Bezugstexten und zum anderen mit Blick auf die Transformation von Informationen.
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3 Empirische Befunde
Die Notizen wurden in sechs Kategorien eingeteilt, und je höher der erzielte Wert bzw. die Kategorie war, desto besser gerieten auch die schriftlichen Texte der Studierenden. Die niedrigste Kategorie (1) war für jene Notizen vorgesehen, in denen kaum Transformationen erfolgt und Textpassagen verbatim kopiert worden waren. Den nächsthöheren Wert (2) erhielten Notizen mit vielen wörtlich übernommenen, aber bereits ungefähr zur Hälfte in eigene Paraphrasen überführten Informationen. Schon sehr stark transformierte Informationen, allerdings noch ohne größere erkennbare Organisation bekamen einen Wert von 3. Insgesamt erhielt ungefähr ein Zwölftel aller Notizen einen Wert von 1 bis 3; die drei untersten Kategorien wurden also nicht einzeln ausgewiesen, sondern als Summe zusammengefasst. Die nächste Kategorie (4) enthielt Notizen in Form von Listen zu beiden Persönlichkeiten, dies traf auf zwei Fünftel der Notizen zu. Die zweithöchste Merkmalsausprägung (5) bezog sich auf organisierte Notizen, aus denen hervorging, dass und worin die beiden Persönlichkeiten vergleichbar sind. Mit ebenfalls zwei Fünfteln traf dies auf einen großen Teil der Notizen zu. Die höchste Form der Organisation und Transformation (6), die rund ein Siebtel aller Studierenden in ihren Notizen demonstrierten, schlug sich in Gliederungen oder Tabellen nieder. Damit lässt sich festhalten: Es entfielen insgesamt ca. neun von zehn Notizen auf eine der drei höchsten Kategorien, die Studierenden konnten also mehrheitlich Informationen nicht nur gut transformieren, sondern sie auch schon vorbereitend für das spätere Schreiben organisieren. Soweit also zunächst ein kursorischer Überblick über die drei Studien – was aber eint die Untersuchungen?
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3.2 Wenn man liest, um zu schreiben
▶ Ein erstes Muster ist: Notizen bieten diverse Möglichkeiten, sie hinsichtlich der kognitiven Transformationsprozesse zu analysieren. In Studie 1 wurden beispielsweise Reduktionsund Transformationsprozesse fokussiert. In Studie 3 wurde dies ergänzt um die Art der Organisation der Informationen aus den Texten – es entstand hier also eine Mischkategorie von Transformation und Organisation. Hier eine Dekomposition vorzunehmen und zu betrachten, wie sich in Notizen die informationsbezogenen Veränderungen und die Art ihrer (Re-)Strukturierung bedingen, verstärken etc., ist vertiefender Untersuchungen wert. ▶ Ein zweites Muster, das sich allerdings nur aus der zweiten Studie abzuzeichnen beginnt (und in der ersten Studie lediglich angelegt, aber nicht expliziert ist), bezieht sich auf die Quellen der Informationen, die sich in verschiedenen Maßen wie Wechseln zwischen den Dokumenten, Verknüpfungen von Inhalten aus einzelnen Texten und weiteren denkbaren Indikatoren niederschlagen. Ob beide Muster noch mit der Aufgabenstellung und weiteren Merkmalen wie den ausgewählten Texten selbst interagieren, lässt sich bislang nur als noch offene Frage formulieren. Gleiches gilt natürlich auch für die konkrete, qualitative Perspektive auf die Notizen. Eine rein quantitative Betrachtung, wie sie im Rahmen dieses Teilkapitels erfolgte, stellt zwangsläufig eine Form der Inhaltsreduktion dar. Die Empirie zeigt jedoch, dass solche wie Appendix von Stahl et al. (1996, S. 451 – 456) veröffentlichten Einblicke in die Notizen (und das finale Produkt) sowie die genaueren Analysen von schriftlichen Annotationen in einer digitalen Schreibumgebung von Schüler (2017, S. 323 – 368) wichtige Perspektiven auf und mögliche Wege in ein weites, ergiebig wirkendes Forschungsfeld eröffnen.
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3 Empirische Befunde
3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen Mag die Forschung zu den Prozessen bei der Bearbeitung von Aufgaben mit multiplen Texten und Dokumenten zwar noch relativ jung sein, so erbringt sie doch schon die ersten Erträge bei Mustern im Vorgehen der Aufgabenbearbeitung. Der Ausdruck „Muster“ ist in diesem Fall mehrdeutig insofern, als sich Muster ganz unterschiedlich zeigen können: ▶ Eine erste Suche nach Mustern ist – gerade für die gesamte Kompetenzthematik – typischerweise jene nach Vorgehensweisen von Expertinnen und Experten (bzw. anderen Personen, die auf ihrem Weg zur Kompetenz fortgeschritten sind). Deren Vorgehen wurde und wird in Studien immer wieder mit jenem verglichen, welches Personen mit geringerer Expertise bzw. Kompetenz demonstriert haben. Aus dem Vergleich dieser beiden Personenkreise lassen sich markante Differenzen, aber auch Schnittmengen ableiten. Diesem Erkenntnisinteresse sind jene Studien verhaftet, deren Ergebnisse in Teilkapitel 3.3.1 zusammenfassend präsentiert werden und die zugegeben gezielt nach Vorsprüngen der kompetenteren Personen suchen. ▶ Ein weiteres Muster besteht darin, weniger a priori auf anfängliche Differenzierung von Personengruppen (wie etwa unterschiedliches Wissen) zu setzen, sondern die Prozesse von Personen zunächst zu beobachten und ex post datenbasiert typische Vorgehensweisen zu rekonstruieren und damit Personen bzw. die von ihnen durchgeführten Prozesse zusammenzufassen. Die Ergebnisse aus solchen Untersuchungen behandelt Teilkapitel 3.3.2. Diesen beiden Hauptformen von Mustern verschreibt sich also dieses Teilkapitel. Es stellt hierfür ausgewählte Befunde ins Zentrum.
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3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
3.3.1 Vergleich von unterschiedlich kompetenten bzw. leistungsstarken Personen im Vorgehen
Vieles von dem, was in der empirischen Bildungsforschung zur Kompetenz in verschiedenen Domänen bekannt ist, verdankt die Wissenschaft einem Forschungszweig, in dem besonders versierte Personen in einzelnen Leistungsdomänen ihr Vorgehen demonstrieren. Die Expertiseforschung war auch für das Lesen multipler Texte bzw. Dokumente ergiebig, und es wundert nicht, dass eine der zentralen Studien ausgerechnet in der Domäne Geschichte vorgelegt wurde, in welcher der vergleichende Umgang mit mehreren (Primär- und Sekundär-)Dokumenten zum Kerngeschäft gehört. Diese zentrale, bis heute einflussreiche Untersuchung mit ihren Hauptbefunden ist im nachstehenden Kasten dargestellt. Historikerinnen und Historiker sowie Sekundarschuljugendliche lösen Aufgaben mit multiplen Dokumenten Eine der frühesten und wirkmächtigsten Studien zum Vorgehen beim Lesen multipler Dokumente hat Samuel Wineburg (1991) vorgelegt. In seiner Untersuchung nahmen jeweils acht Historikerinnen und Historiker aus Hochschulen zum einen und acht Jugendliche im Alter von 16 bis 17 Jahren zum anderen teil. Die Jugendlichen waren – insbesondere in Bezug auf ihre Lesefähigkeiten und ihre Kompetenz, historische Aufgaben zu lösen – wegen ihrer hohen Leistungen vorab gezielt ausgewählt worden: In einem landesweiten standardisierten Test, der die Fähigkeiten zum Studieren erfasste, zählten sie zum leistungsstärksten Fünftel. Damit handelt es sich bei beiden Personengruppen um innerhalb ihrer Bezugsgruppe ausgesprochen leistungsfähige Personen. Dies war kein Zufall, ging es
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3 Empirische Befunde
doch darum, diese beiden Gruppen gezielt miteinander zu vergleichen. Dazu lasen sie mit dem Auftrag, möglichst zu verstehen, was in Lexington Green am Morgen des 19. April 1775 passierte (ein wichtiges Datum im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), insgesamt acht verschiedene Dokumente und betrachteten drei historische Bilder. Dabei lösten sie verschiedene Aufgaben und verbalisierten beim Lesen des Dokumentensets ihr Vorgehen unmittelbar bei der Aufgabe, die Vorkommnisse im Jahr 1775 zu verstehen. Bei den acht Text-Dokumenten zeichneten sich diese Muster ab: ▶ Die Historikerinnen und Historiker neigten stärker dazu, die Texte untereinander zu vergleichen, um ihre Plausibilität zu ermitteln. Darunter fällt ebenfalls, dass sie häufiger zu vorherigen Dokumenten zurückkehrten als die Jugendlichen. ▶ Zusätzlich schenkten die Historikerinnen und Historiker den Informationen zu den Quellen mehr Aufmerksamkeit, und zwar nahezu die gesamte Zeit. Die Jugendlichen taten dies in einem erheblich geringeren Umfang, wenn sie die Quelleninformationen denn überhaupt fokussierten. ▶ Die Historikerinnen und Historiker reagierten sensitiver auf Hinweise aus den Dokumenten, die ihnen halfen, die historischen Ereignisse örtlich und zeitlich zu kontextualisieren. ▶ Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer sollten alle acht Text-Dokumente hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit zu den Ereignissen in Lexington Green beurteilen, indem sie sie in eine Reihenfolge brachten. Die Urteile fielen bei den Historikerinnen und Historikern in der Gesamtgruppe deutlich homogener aus.
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3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
Bei den drei Bild-Dokumenten gab es folgende Auffälligkeiten: ▶ Die Historikerinnen und Historiker äußerten sich umfassender zu den Bildern und hatten im Vergleich zu den Jugendlichen in drei Bereichen höhere Werte. Erstens mutmaßten sie stärker über die unterstellten Intentionen des Malers und zu dem Entstehungszeitraum der Gemälde (Analyse). Zweitens bezogen sie sich mehr auf Vergleiche einerseits zwischen den Bildern und andererseits zwischen den Bildern und den gelesenen Texten (Referenzen). Drittens stammten von ihnen mehr urteilende Aussagen über die Bilder und deren Bezüge zum eigenen Wissen (Beurteilungen). ▶ Die historische Akkuratheit der Bilder, für die es über alle Bilder hinweg piktorale Hinweise gab, erwähnten die Historikerinnen und Historiker mehr als sechs Mal so häufig wie die Jugendlichen. ▶ Das eine Gemälde mit der höchsten historischen Akkuratheit erkannten die meisten Historikerinnen und Historiker (und zwar mit ähnlichen Begründungen), aber am wenigsten die Jugendlichen. Damit lässt sich zusammenfassend als Hauptergebnis dieser wegweisenden Studie festhalten, dass selbst eine dezidierte Positivauswahl von Jugendlichen am Ende der High-School-Zeit anders mit Dokumenten in Bezug auf historisches Problemlösen umgeht als Expertinnen und Experten in der Domäne Geschichte. Letztgenannte prüfen intensiver und systematischer die Dokumente und stellen stärkere Verbindungen zwischen ihnen her, um eine übergeordnete Aufgabe zu lösen.
Die Studie von Wineburg ist eine von bislang leider nur ganz wenigen, in der unterschiedlich kompetente Personen(gruppen)
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3 Empirische Befunde
mit vergleichbaren Aufgaben konfrontiert wurden, um etwaige systematische Unterschiede beim Lesen multipler Dokumente herauszufinden und herauszuarbeiten, und deren Ergebnisse hier berichtet werden können. Entsprechend sind die nachstehenden Muster wegen der noch dünnen Datenbasis zuvorderst nicht mehr als rein empirische Hinweise für ein Gesamtbild zu werten (zumal die Studien mehrheitlich mit Erwachsenen durchgeführt wurden), und die analysierten Strategien passen dabei mal mehr oder mal minder gut zu den Strategiegruppen gemäß konstruktiv-responsivem Lesen. Aus diesem Grund erfolgt an dieser Stelle auch keine explizite Anbindung an die verschiedenen Hauptgruppen der Strategien. Die Ergebnislinien lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden. Auf der einen Seite zeichnen sich die Leistungsgruppen dadurch aus, dass leistungsstärkere Person mehr von einem bestimmten strategischen Verhalten demonstrierten. Auf der anderen Seite gibt es auch etwas, was die leistungsstärkeren Personen weniger tun. Zunächst zum ersten Fall, also dem Mehr an Strategien: Leistungsstärkere Personen ▶ wendeten mehr Strategien an, um Inhalte und Informationen in ihrer Struktur zu erkennen bzw. eine derartige Struktur zu finden (Azevedo, Guthrie & Seibert, 2004*; Bråten & Strømsø, 2003*; Kennedy, 1985*); ▶ nutzten ihr Vorwissen stärker, um Textinformationen anzureichern und damit Wissen aktiv herzustellen (Cho, Woodward & Li, in press; Goldman et al., 2012*); ▶ überprüften Informationen und Informationsquellen spezifischer hinsichtlich ihrer Tiefenmerkmale und insgesamt weniger oberflächlich (Brand-Gruwel et al., 2017*; Cho et al., in press; von der Mühlen et al., 2016*); ▶ navigierten bei Aufgaben mit Hypertexten mehr auf Websites, um ihre eigenen Ziele zu erreichen (Goldman et al.,
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3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
2012*; Sullivan, Gnesdilow & Puntambekar, 2011) bzw. nutzen stärker relevante Links und Inhalte (Desjarlais, 2013*); ▶ nutzten während der Aufgabenbearbeitung ihre Lernumgebung günstiger und selbstständiger (Azevedo et al., 2004*); ▶ planten vorgängig ihr Vorgehen für die Aufgabenbearbeitung mehr (Azevedo et al., 2004*; Kennedy, 1985*); ▶ demonstrierten eine stärkere Tendenz, den eigenen Verstehenserfolg beim Lesen bzw. bei der Aufgabenbearbeitung zu überwachen und bei Bedarf neue Herangehensweisen zu wählen (Azevedo et al., 2004*; Bråten & Strømsø, 2003*; Cho et al., in press; Goldman et al., 2012*). Wie schon erwähnt wurde, gab es nicht nur etwas in den Studien, was die leistungsstärkeren Personen mehr taten, sondern im Gegenteil auch weniger. Konkret zeichneten sich diese Muster dadurch aus, dass leistungsstärkere erwachsene Personen ▶ weniger Strategien verwendeten, um sich wortwörtliche Informationen einzuprägen (Azevedo et al., 2004*; Bråten & Strømsø, 2003*); ▶ weniger nach Informationen suchten, ohne ein erkennbares Ziel damit zu verfolgen (Azevedo et al., 2004*); ▶ Textinhalte – bei unvertrauten Themen in hochschulisch relevanten Fachtexten – weniger mit eigenem Vorwissen anreicherten (Bråten & Strømsø, 2003*). Wie sich aus den beiden obigen Aufzählungen unschwer ablesen lässt, kann man aus den einzelnen Studien zu strategischen Vorgehen leistungsstärkerer und -schwächerer Personen etwas rekonstruieren, das auch in Einklang mit den weiter oben berichteten Befunden von Wineburg (1991) berichtet worden ist: Insgesamt wenden leistungsstärkere Personen im verstehenden Umgang mit Texten bzw. Dokumenten solche Strategien an, die günstiger in Bezug auf die Zielerreichung wirken, und
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3 Empirische Befunde
es handelt sich in aller Regel um einen Mix von mehreren, komplementären Strategien. Dass auch leistungsstarke Personen nicht frei von Irrungen und Wirrungen vorgehen bzw. nicht immer zur optimal wirkenden Strategie greifen, illustriert abschließend für dieses Teilkapitel der nachstehende Kasten.
Der Mix macht’s? Effektiv und weniger effektiv wirkende Strategien in der Kombination Besonders bemerkenswert ist eine schon erwähnte Studie, in der zwei Gruppen von teilnehmenden Studierenden danach gebildet wurden, ob die Erwachsenen durch den Umgang mit multiplen digitalen Dokumenten einen hohen oder geringen Wissenszuwachs erzielten (Azevedo et al., 2004*). Aus den Laut-Denk-Protokollen wurden die einzelnen kognitiven Strategien vom Forschungsteam dahingehend zusammengefasst, ob es sich aus der Sicht der Wissenschaft um effektive oder ineffektive Strategien handelte. Zur ersten Gruppe zählten beispielsweise Strategien wie das Zusammenfassen oder das textbezogene Schlussfolgern, zur zweiten Gruppe das Einprägen verbatimer Inhalte oder die ziellose Suche. Beide Gruppen von Studierenden wendeten beide Gruppen von Strategien an, allerdings mit einem markanten Unterschied: ▶ Studierende, die in der Studie weniger zum Thema des Dokumentensets lernten, nutzten in etwa gleich viele effektive und ineffektive Strategien. ▶ Die Studierenden, die im Vergleich dazu viel aus dem Dokumentenset lernten, nutzten doppelt so viele effektive wie ineffektive Strategien. Auch leistungsstarke Personen, die von dem Lerngehalt einer Aufgabe profitieren, sind damit nicht nur „strategische Licht-
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3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
gestalten“ ohne Fehler und Makel bei der Strategieanwendung, aber sie wenden als Gruppe einen insgesamt günstiger wirkenden Mix aus Strategien an, zu denen neben den in diesem Kurzbericht fokussierten kognitiven auch weitere Strategien gehören.
3.3.2 Muster beim Vorgehen – zu Typologien im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten
Bei einer so anspruchsvollen Tätigkeit wie dem Lesen und Verstehen (sowie dem Weiterverarbeiten) multipler Texte / Dokumente ist ein individuelles Vorgehen im Lichte der Empirie die Regel und nicht die Ausnahme. Dennoch lassen sich überindividuelle Muster durchaus vorfinden, also Gruppen von Personen, die innerhalb von einzelnen Studien die gleiche Aufgabe auf ähnliche oder doch vergleichbare Art bearbeitet haben. Solchen Mustern war man bislang in nur wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen auf der Spur, doch haben sich in den wenigen Untersuchungen durchaus einige Hinweise auf verschiedene prototypische Arbeitsweisen, also Prozesse, finden lassen. Auf den ersten solcher Hinweise sind Sie in diesem Buch bereits sehr früh gestoßen, nämlich zu Beginn im Teilkapitel 1.1.3. Dort wurde eine französische Studie mit Studierenden skizziert, die auf der Basis zweier kurzer, gleichwohl inhaltlich komplexer Bezugstexte die Funktionen und die Ziele der Schule in einer Synthese darstellen sollten (Escorcia et al., 2017*). Aufgrund ihres Vorgehens ließen sich in der Untersuchung drei Gruppen voneinander unterscheiden: 1) präzis transkribierende, 2) aktiv revidierende und 3) spontan vorgehende Schreiberinnen und Schreiber (s. o., S. 17). Diese drei Gruppen hatten erkennbare Schwerpunkte in ihrer Art, wie sie Lese- und Schreibprozesse bei der Aufgabenbearbeitung orchestrierten.
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3 Empirische Befunde
Um Gruppen wie die eben erwähnten drei geht es in diesem Teilkapitel in doppelter Hinsicht. Zunächst werden aus mehreren Studien (tabellarisch) die jeweiligen Typen oder Gruppen synoptisch aufbereitet. Die große Unterschiedlichkeit der zugrundeliegenden Untersuchungen lässt für die Zwecke dieses Buches kaum eine sinnvolle Aggregation der Befundmuster zu, sodass am Ende des Teilkapitels 3.3.2.1 nur allgemeine Aussagen abstrahiert werden können, deren allgemeinste lautet: Es gibt verschiedene Arten, die gestellten Aufgaben mit Strategien zu absolvieren. Im zweiten Teilkapitel 3.3.2.2 wird ein kurzer, auf bisher nur wenig Empirie basierender Blick auf die wichtige Frage geworfen, ob es Entwicklungstendenzen bei der strategiebasierten Aufgabenbearbeitung im Umgang mit multiplen Texten gibt. 3.3.2.1 Muster? Muster! Typologien beim Bearbeiten von Aufgaben mit multiplen Texten
Mit ihrem Ansatz, überindividuelle Vorgehensweisen (und zum Teil darauf basierend: Gruppen von Personen) zu rekonstruieren, sind die französischen Forscherinnen und Forscher (Escorcia et al., 2017*) aus Teilkapitel 1.1.3 wie erwähnt nicht allein. In anderen Studien ging es – mit jeweils spezifischem Erkenntnisinteresse und daraus resultierender Methodik – ebenfalls darum, Muster zu finden. Einen Überblick über neun solcher Untersuchungen gibt Tabelle 14 mit ihrer steckbriefartigen Darstellung. Die Sortierung folgt dabei dem Alter der Personen(gruppen): Je jünger die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer waren, desto weiter oben sind sie in der Tabelle angeführt.
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Studie
Kurzbeschreibung der Vorgehensweisen / Typen
a) Erkenntnisinteresse b) Anzahl und ggf. Art der Vorgehensweisen / Typen Lenski & Johns (1997)
1. 2.
3.
Mateos et al. (2008)
1.
a) Rekonstruktion des Vorgehens beim Lesen und Schreiben einer Synthese zweier Texte b) Drei Vorgehensweisen
2.
3.
Sequenzielles Vorgehen (sukzessives Absolvieren der Phasen Recherchieren, Lesen und Schreiben) Spiralförmiges Vorgehen (ähnlich wie sequenzielles Vorgehen, aber sukzessive Wiederholung des sequenziellen Vorgehens in mehreren Zyklen / Spiralen) Rekursives Vorgehen (hochdynamisches Vorgehen kann beim Recherchieren, Lesen oder Schreiben beginnen, endet aber mit dem Schreiben) Lineares Vorgehen (Lesen der Bezugstexte, gedächtnisbasiertes Schreiben über das Gelesene, kein bzw. marginaler Rückblick auf die gelesenen Bezugstexte, kein Revidieren des eigenen Textes) Geringfügig rekursives Vorgehen ohne Revidieren (erstes Lesen der Bezugstexte, erneutes absatzweises Lesen in der Phase des Schreibens, kein Revidieren des eigenen Textes) Stark rekursives Vorgehen (Lesen der Bezugstexte, Schreiben während der (Re-)Lektüre der Bezugstexte und Revidieren des eigenen Textes)
3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
a) Rekonstruktion des Recherche-, Lese- und Schreibprozesses beim Verfassen eines Textes, der auf der Basis von Bibliotheksbesuchen entstehen sollte b) Drei Ansätze im allgemeinen Vorgehen
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Studie
Kurzbeschreibung der Vorgehensweisen / Typen
Sole et al. (2013) a) Rekonstruktion des Vorgehens beim Lesen dreier Texte und Schreiben einer Synthese b) Drei Vorgehensweisen gemäß Komplexität des Vorgehens
1.
2.
3.
Linear-reproduktives Muster (lineares erstes Lesen der Bezugstexte, dabei wenig planerische / transformierende Aktivitäten, zweite Lektüre mit Auswahl jener Inhalte, die in der Reihenfolge des Gelesenen später relativ isoliert im Text auftauchen, keine / wenige Revisionen) Linear-reproduktives Muster (sequenzielles Lesen der Bezugstexte mit gelegentlichen planerisch-transformierenden Aktivitäten, Wechsel zwischen Lese- und Schreibaktivitäten in der Textproduktion, Textrevisionen während des Schreibens) Linear-elaboratives Muster (separates Lesen jedes einzelnen Bezugstextes gefolgt von erneuter vertiefender Re-Lektüre des Einzeltextes mit planerisch-transformierenden Aktivitäten, revisorische Aktivitäten mit Orientierung an Inhalten der Bezugstexte)
3 Empirische Befunde
a) Erkenntnisinteresse b) Anzahl und ggf. Art der Vorgehensweisen / Typen
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Studie
Kurzbeschreibung der Vorgehensweisen / Typen
a) Erkenntnisinteresse b) Anzahl und ggf. Art der Vorgehensweisen / Typen 1.
a) Rekonstruktion des Vorgehens beim Lesen zweier Texte und Schreiben einer Synthese bei vier Altersgruppen b) Drei Vorgehensweisen gemäß Komplexität des Vorgehens
2.
3.
Kiili et al. (2008)
1.
a) Rekonstruktion des Recherchevorgehens im Internet b) Fünf Personenprofile des Lesens und Evaluierens (anhand von verbalen Evaluationen und Lesezeiten)
2. 3. 4. 5.
Geringe Komplexität (Bezugstexte lesen und Textstellen unterstreichen; Schreiben des Textes ohne erneutes Konsultieren der Bezugstexte; keine Textrevision) Mittlere Komplexität (Bezugstexte lesen und Textstellen unterstreichen; partielles Konsultieren der Texte beim Schreiben; Textrevisionen erfolgen, allerdings nahezu ausschließlich sprachformal) Hohe Komplexität (Bezugstexte lesen und Anfertigen von Notizen bzw. ersten Gliederungen; paralleles Nutzen der Bezugstexte, Notizen und / oder Gliederungen beim Schreiben; Textrevisionen erfolgen bezogen auf Sprachformalia und Inhalte) Unkritische Leserinnen und Leser (lange Lesezeiten, aber dabei auffällig viel bei fragwürdigen Quellen verbrachte Zeit mit insgesamt durchschnittlich vielen Evaluationen) Desorientierte Leserinnen und Leser (kurze effektive Lesezeit, wenige relevanz- und glaubwürdigkeitsbasierte Kommentare) Eingeschränkt Evaluierende (lange Lesezeiten, aber wenige relevanz- und kaum glaubwürdigkeitsorientierte Kommentare) Relevanzorientiert Evaluierende (lange Lesezeiten mit vielen vor allem relevanzorientierten Kommentaren) Flexibel Evaluierende (lange Lesezeiten mit vielen glaubwürdigkeits- und relevanzorientierten Kommentaren)
3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
Mateos & Solé (2009)
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Studie
Kurzbeschreibung der Vorgehensweisen / Typen
Kirkpatrick & Klein (2016)
1.
a) Rekonstruktion des Recherche-, Lese- und Schreibprozesses beim Verfassen eines Textes, der auf der Basis von digitalen Texten entstehen sollte b) Zwei Muster des Vorgehens
2.
Barzilai et al. (2015)*
1.
a) Analyse des Vorgehens bei der Repräsentation von Quellenmerkmalen (1) jeweilige Quelle; 2) Verbindung von Quelle und deren Inhalten; 3) Verbindungen zwischen den Quellen) im Rahmen eines Schreibauftrags b) Vier Arten der Repräsentation von Quelleninformationen
2.
3.
4.
Hilfs- und Zwischentexte herstellen, ehe man selbst schreibt (Vorgehen folgt dem Muster Recherchieren, Zwischentext erstellen, Text verfassen und überarbeiten) Direkt aus den Texten heraus den eigenen Text schreiben (Lesen und Schreiben (inkl. Überarbeitungen) interagieren direkt, keine oder allenfalls minimale Zwischentexte) Keine Quellenrepräsentation (keine Erwähnung von quellenbezogenen Informationen) Minimale Quellenrepräsentation (nur Hinweise auf Quellenrepräsentationen, aber nicht zu Verbindungen zwischen Quelleninformationen und Inhalt bzw. zu Verbindungen zwischen den einzelnen Quellen) Geringe Quellenrepräsentation (Hinweise auf Quellenrepräsentationen und zu Repräsentationen von Quelleninformationen und Inhalten, aber nicht zwischen den einzelnen Quellen) Ausgeprägte Quellenrepräsentation (Hinweise auf alle drei Arten von Repräsentationen)
3 Empirische Befunde
a) Erkenntnisinteresse b) Anzahl und ggf. Art der Vorgehensweisen / Typen
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Studie
Kurzbeschreibung der Vorgehensweisen / Typen
a) Erkenntnisinteresse b) Anzahl und ggf. Art der Vorgehensweisen / Typen Escorcia et al. (2017)*
1.
2. 3.
Segev-Miller (2007)* a) Rekonstruktion von (Lese- und) Schreibstrategien beim Verfassen von Synthesen multipler Texte b) Fünf Strategien der rhetorischen Informationsstrukturierung und -transformation im eigenen Text
1. 2. 3.
4. 5.
Präzis Transkribierende (Paraphrase des Gelesenen, viel parallele Lektüre beim und umfassendes Anfertigen von Notizen vor dem Schreiben, kritische Prüfung des Geschriebenen durch langes Lesen) Aktiv Revidierende (Lesen vor allem vor der eigentlichen eigenen Textproduktion, häufiges Revidieren der eigenen Texte) Spontan Schreibende (wenig strategisch wirkende Lese- und Schreibprozesse) Zusammenfassen eines Primärtextes (ein Bezugstext wird fokussiert und zusammengefasst, die anderen ignoriert) Auflisten von Primärtextinhalten (chronologisches Darstellen gelesener Bezugstexte und ihrer Inhalte) Verbinden von Bezugstextinhalten anhand eines Bezugstextes (ein Bezugstext liefert die Struktur für die Darstellung der Inhalte anderer Bezugstexte) Zer- und Zusammensetzen von Bezugstexten (Rearrangieren von Inhalten aus Bezugstexten rund um inhaltliche Schwerpunkte) Synthetisieren von Inhalten (vollständige Restrukturierung von Inhalten aus Bezugstexten im eigenen Text)
Tabelle 14: Überblick über verschiedene empirisch rekonstruierte Vorgehensweisen bzw. Typen in der Bearbeitung von Aufgaben, in denen multiple Texte / Dokumente gelesen wurden
3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
a) Rekonstruktion des Vorgehens beim Lesen zweier Texte und Schreiben einer Synthese b) Drei Gruppen von Personen
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3 Empirische Befunde
Die neun Studien aus Tabelle 14 folgen zwar jeweils spezifischen Forschungsfragen in Bezug auf Muster beim Vorgehen der Probandinnen und Probanden, gleichwohl lassen sich aus ihnen übergeordnete Muster erkennen: ▶ Komplexität der Vorgehensweisen: Es gibt idealtypisch lineare, also strikt sequenzielle Vorgehensweisen, denen idealtypisch rekursive, offenere und insgesamt komplexere Herangehensweisen gegenüberstehen. Im erstgenannten Fall werden – kognitiv kostensparend – diskrete Einheiten oder Arbeitspakete nacheinander absolviert und bearbeitet, im zweiten Fall verschwimmen die Grenzen im dynamischen Gesamtprozess. ▶ Anzahl der einzelnen Aktivitäten: Mit dem ersten Muster verbunden ist, dass es auch quantitative und qualitative Unterschiede darin gibt, wie viele (Teil-)Aktivitäten die Personen absolvieren. Solchen Herangehensweisen mit wenigen Aktivitäten lassen sich jene diametral gegenüberstellen, in denen Prozessverbünde mit vielen Aktivitäten erkennbar sind. ▶ Zahl und Vernetzung der repräsentierten Informationen: Daran anschließend gibt es auch Differenzen darin, wie viele und damit wie viele vernetzte Informationen die Basis der Aufgabenbearbeitung bilden – es geht also um die Quantität und Qualität der mental repräsentierten Informationseinheiten. Hier reicht das Spektrum von wenigen Informationen hin zu stark vernetzten, vielen Informationen. Dies betrifft auch die Struktur der Informationen, die die Personen unterschiedlich stark restrukturieren und transformieren. Dieser Abstraktion von Mustern entlang eines Kontinuums aus den Studien – und das kann an dieser Stelle nicht ausdrücklich genug betont werden – wohnt kein normatives Urteil über die (vermeintliche) Über- und Unterlegenheit inne. Zum einen ist dies sowohl aus der knappen Darstellung als auch ohne kla-
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3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
re Bezüge zu Leistungsdaten (die zum Teil weit außerhalb des Erkenntnisinteresses der Studien lagen) nicht ableitbar. Zum anderen bedürfte es dazu der Kenntnis verschiedener externer Parameter, die beispielsweise hochbedeutsam im RESOLV-Modell und seinem Vorgänger, dem MD-TRACE-Modell, sind (s. Teilkap. 2.2.2 und 2.3). Dieser letzte Punkt wird besonders deutlich anhand der verschiedenen Determinanten von gelingenden Leistungen im Umgang mit multiplen Texten, denen sich das Kapitel 4 später ausführlicher widmet. 3.3.2.2 Entwicklungsaspekte
Das Teilkapitel zuvor illustriert eindrücklich: Die Studien, in denen verschiedene Personen einer Alters- bzw. Personengruppe einen Arbeitsauftrag bearbeiteten und dabei untersucht wurden, weisen auf Aggregate bei personen- bzw. prozessbezogenen Daten in Form von Typologien hin. Diese empirische Bestandsaufnahme und Verdichtung von Daten zu Mustern lässt Ähnlichkeiten und Differenzen markanter zutage treten, beantwortet aber eine Frage nicht: Wie sind sie langfristig zustande gekommen? Oder anders: Gibt es Entwicklungen im Vorgehen? Um solche fachdidaktisch hochrelevanten Fragen zu beantworten, bedarf es anderer Daten und anderer Studiendesigns, nämlich Längsschnittstudien, die rar gesät sind (s. aber die mit demselben Datensatz publizierten Untersuchungen von Bråten & Strømsø, 2003*, und Strømsø et al., 2003*; in diesen Studien wurden Befunde über den Zeitraum von zwei Monaten mit drei Messzeitpunkten erhoben). Um trotz des eklatanten Mangels an Längsschnittdaten zu heuristischen Annäherungen an Entwicklungsverläufe zu gelangen (s. dazu Israel, 2015, mit einer auf Studien mit Laut-Denk-Protokollen basierenden Skizze eines vierphasigen Entwicklungsmodells), bieten sich Studien an, in denen ein Längsschnitt simuliert wird. Dies erfolgt, indem verschiedene Altersstufen untersucht werden,
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3 Empirische Befunde
um auf qualitative (und quantitative) Unterschiede zu stoßen (s. z. B. für das Zusammenfassen eines Einzeltexts: Fidalgo et al., 2014). Eine der ganz wenigen Studien, in denen ein Längsschnitt bei der Bearbeitung von Aufgaben mit multiplen Texten simuliert wurde, ist die schon in Tabelle 14 im Teilkapitel 3.3.2.1 aufgeführte Studie von Mateos und Solé (2009). In ihr wurden vier Altersgruppen betrachtet, wie sie Informationen aus zwei gelesenen Bezugstexten zu einer eigenen Synthese kombinieren. Die in der Studie ermittelten Alterseffekte werden im nachstehenden Kasten zu Entwicklungseffekten präsentiert, und die Klassifikation des Vorgehens in den vier Altersgruppen weist – wenig verwunderlich – eine große Schnittmenge mit den drei auf der Prozesskomplexität basierenden Vorgehensweisen aus Tabelle 14 auf.
Zur Komplexität des Vorgehens beim Schreiben über Gelesenes – gibt es einen Entwicklungseffekt? Der Entwicklungsthematik beim Schreiben von Texten nach der Lektüre multipler Bezugstexte haben sich bislang nur wenige Studien gewidmet, und echte Längsschnittstudien gibt es dazu bislang nicht. Deshalb bilden momentan solche Studien mit Personen verschiedener Altersgruppen im Sinne simulierter Längsschnitte einen ersten Zugriff auf die Entwicklungsthematik. Hier ist eine spanische Untersuchung lehrreich, in der vier Gruppen mit untereinander jeweils rund zwei Jahren Altersabstand einen synthetisierenden Text verfassten (Mateos & Solé, 2009). Die Prozesse wurden bezogen auf das Lesen (hier als Grundlage für das Planen des eigenen Textes), das Formulieren eines ersten Textentwurfs und ein etwaiges Revidieren dieses Textes ausgewertet. Die altersgruppenspezifischen empirischen Muster, die sich aus den Daten rekonstruieren ließen, sind Gegenstand der Tabelle 15.
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Altersgruppe / Bildungsetappe
Lesen (bzw. Planen)
Formulieren: Erster Entwurf
Revidieren:
12- bis 13-Jährige
Lesen und unterstreichen
Abschreiben, was unterstrichen wurde
–
–
14- bis 15-Jährige
Lesen
Sich auf die Quelle beziehen
–
–
16- bis 17-Jährige
Lesen, unterstreichen und Notizen anfertigen
Einen ersten Entwurf schreiben und sich auf Notizen und die Quelle beziehen
Eine gute Kopie des Entwurfs erstellen
Revision von formalen Aspekten des ersten Entwurfs
Studierende
Lesen, unterstreichen und Notizen anfertigen
Einen ersten Entwurf schreiben und sich auf Notizen und die Quelle beziehen
Sich auf den eigenen Entwurf und die Quellentexte beziehen
Revision von formalen und inhaltlichen Aspekten des ersten Entwurfs
Verbessern des ersten Entwurfs
Fokus bei der Revision
3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen
Tabelle 15: Prototypisches Vorgehen beim Schreiben einer Synthese über zwei Bezugstexte in verschiedenen Altersgruppen bzw. Bildungsetappen (Quelle: Darstellung basierend auf Mateos & Solé, 2009, S. 444)
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3 Empirische Befunde
Aus einer genaueren Betrachtung der Befunde aus Tabelle 15 ergeben sich drei verschiedene Muster des Vorgehens: 1.
2.
3.
Der Lese-/Schreibprozess bei den jüngeren, 12- bis 15-jährigen Testpersonen wirkt insgesamt wie ein recht rigides Generieren des Inhaltes, und zwar zunächst durch Lesen und Unterstreichen des fremden Inhalts. Diese Inhalte aus den Bezugstexten werden sodann im nächsten Schritt in den eigenen Text übernommen. Im Falle der älteren Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer ist dieser Prozess nicht nur bei der Inhaltsgenerierung offener und provisorischer, sondern bleibt es bei der Gruppe der Studierenden sogar bis in das Revidieren der Texte hinein. Damit eng verknüpft ist die Art der Sequenzialität: Jüngere Personen arbeiten eher lineare Stationen im Lese- und Schreibprozess ab, ältere hingegen folgen nicht einer strikten Sequenz, sondern gehen bis zum Schluss flexibel immer wieder auf die beiden Bezugstexte und ihre Zwischentexte (Notizen und Entwürfe) ein. Das Revidieren, insbesondere das inhaltliche, taucht in der Studie erst bei den älteren bzw. ältesten Personen in einer elaborierten Variante auf.
Die im Titel dieses Kastens aufgeworfene Frage nach Entwicklungseffekten lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht mit „Ja“ beantworten. Im Altersgruppenvergleich zeigt sich nicht nur eine Ausweitung der Schreibprozesse beim Verfassen eines eigenen Synthesetextes insgesamt, sondern auch eine größere Rekursivität und Komplexität.
Die Frage nach Entwicklungsaspekten im verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten ist momentan noch schwer
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3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen
eindeutig zu beantworten. Allerdings zeigt sich, wenn man gesamthaft die Befunde aus allen im Teilkapitel 3.3.2 versammelten Studien betrachtet, durchaus ein Muster, das zumindest auf Alterseffekte hindeutet: Ältere Personen nutzen komplexere Vorgehensweisen, was sich in der Zahl der Prozesse, aber auch deren Verknüpfung untereinander zeigt. Dies verweist neben einer besseren Informationsverarbeitung auch auf eine günstigere Selbstregulation der (meta-)kognitiven Prozesse. Diese Indizien bei den Alterseffekten sind wiederum anschlussfähig an die hohen Anforderungen, die der verstehende Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten als komplexer Prozessverbund an lesende Personen stellt.
3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen In den drei Teilkapiteln zuvor war die Perspektive auf die leseund schreibstrategischen Prozesse beim verstehenden Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten leitend, also ein Verständnis von Lesekompetenz als Prozess (s. Teilkap. 1.2.1.1). Dieses Teilkapitel ergänzt eine weitere Sichtweise auf Lesekompetenz, nämlich die Modellierung als Produkt, weil es um die Zusammenhänge zwischen Prozessen und Produkten geht. Auch diese Thematik bildet in der Forschung ein noch weitgehend unkartiertes Terrain. Hinzu kommt: Die wenigen Befunde sind bei Weitem nicht so konsistent, als dass sich hier leicht erkennbare, durchgängige Muster ergeben, die auf ganz klare, sehr eindeutige Verbindungen von Prozessen und Produkten verweisen. Aus diesem Grund sind die beiden Teilkapitel mit Fragen übertitelt. Teilkapitel 3.4.1 widmet sich zunächst mehr oder minder klaren Prozess-Produkt-Verbindungen auf der Basis quantitativer Befunde. Das darauffolgende Teilkapitel 3.4.2 geht darauf ein, wie
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3 Empirische Befunde
schwer es auf der Basis quantitativer Daten mitunter (noch) ist, statistisch überzufällige Zusammenhänge zu eruieren. 3.4.1 Prozesse und Produkte – gehört zusammen, was zusammengehört?
Wenn man sich mit der Frage auseinanderzusetzen beginnt, inwiefern kognitive Prozesse wie die Strategien im Bearbeitungsprozess von Aufgaben mit multiplen Texten bzw. Dokumenten mit Leistungsmaßen korrespondieren, wird schnell klar, dass die Erkenntnisse bestenfalls als fragmentarisch bezeichnet werden können. Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass praktisch keine Studie mit einer anderen direkt vergleichbar ist. Mitunter – und das zeigt der nachstehende Kasten – sind es zudem sehr grobe, ungenaue Maße, die Erstaunliches zeigen.
Leseverstehen und Navigationsverhalten – Rendite der Rückwärtsbewegung In einer norwegischen Studie lasen Zehntklässler fünf digitale Texte zu einem Gesundheitsthema (Bråten, Ferguson, Anmarkrud & Strømsø, 2013). Das Navigationsverhalten wurde mittels einer Software aufgezeichnet und im Anschluss ausgewertet. Es wurde anhand der technisch möglichen, aber von den Jugendlichen tatsächlich unterschiedlich genutzten Gelegenheiten, vorherige Texte anzuwählen und nochmals zu lesen, je nach Navigationsmuster erfasst. Je nach Grad der Rückwärtsbewegungen im Dokumentenset waren drei Arten des Vorgehens beim Lesen multipler Texte rekonstruierbar: 1.
lineares Vorgehen (keine Rückwärtsnavigation, stattdessen Lektüre in der vorgegebenen Reihenfolge der Texte);
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3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen
2.
3.
moderat nicht-lineares Vorgehen (mindestens eine, aber höchstens vier Rückwärtsbewegungen – empirischer Mittelwert: zwischen einer und zwei Rückwärtsnavigationen); nicht-lineares Vorgehen (mehr als fünf Rückwärtsnavigationen – empirischer Mittelwert: zwischen sieben und acht Navigationsvorgängen).
Das Navigationsverhalten wurde mit dem Leseverstehen in Bezug gesetzt. Über den Effekt anderer Variablen, darunter Vorwissen, Worterkennung und Lesemotivation, ergab sich eine Rendite der Rückwärtsbewegung beim moderat nicht-linearen Vorgehen bzw. beim nicht-linearen Vorgehen beim Lesen multipler Texte: Wer häufiger rückwärts durch die Texte navigierte, hatte ein erheblich stärkeres Leseverstehen.
Der Befund zu positiven Effekten der Anzahl von Rückwärtsnavigationen aus dem Kasten ist ähnlich aussagefähig wie das ebenfalls schon ermittelte Ergebnis, dass eine zeitlich längere Nutzung von zur Verfügung gestellten Hinweisen und Materialien mit höherer Textqualität beim Aufgabenergebnis einherging (Risemberg, 1996*). Beide Befunde eint nämlich eines: Sie bilden jeweils nur ein sehr grobes Maß dafür, welche konkreten mentalen Operationen jemand warum wann ausgeführt hat. In den nächsten drei Teilkapiteln werden darum Ergebnisse präsentiert, die auf der Basis von genaueren Datenanalysen entstanden sind. 3.4.1.1 Das konstruktiv-responsive Lesen und seine Produkte – ein empirisches Exempel
Eine der wenigen Studien, in der relativ strikt nach den Strategiekategorien des konstruktiv-responsiven Lesens das Vorgehen analysiert wurde, stammt von Cho et al. (2017) und war bereits
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3 Empirische Befunde
im Teilkapitel 3.1.2 Gegenstand. In der Untersuchung sollten im Durchschnitt 17 Jahre alte Schülerinnen und Schüler im Internet nach Dokumenten suchen, die zu einem ökologisch-ökonomischen Thema ausreichend Informationen liefern, um auf dieser Basis eine geeignet wirkende Frage für eine schulische Diskussion zu formulieren. Das per lautem Denken rekonstruierte Vorgehen wurde kodiert und zudem wie die im Verlauf der Aufgabenbearbeitung entstandene Frage beurteilt. Mithilfe pfadanalytischer Auswertungen wurden Prozesse (in Abbildung 9 in weißen Ellipsen dargestellt) und die Produkte (grau unterlegte Ellipse) auf der Basis theoretischer Annahmen ins Verhältnis zueinander gesetzt. Hinter sämtlichen der in der Grafik dargestellten Konstrukte verbergen sich einzelne Merkmale, die für die Zwecke der Datenauswertung und -analyse zusammengefasst wurden. Selbstüberwachung
Informationssuche
Bedeutungskonstruktion
Generierte Fragen
Quellenbeurteilung Abbildung 9: Pfadmodell zum empirischen Zusammenhang von vier Kategorien der konstruktiv-responsiven Lesestrategien und dem Ergebnis einer Aufgabe (generierte Fragen) (Legende: Stärke der Pfeile geben Stärke des Zusammenhangs an, gestrichelte Linien sind nicht signifikant; Quelle: Darstellung basierend auf Cho et al., 2017, S. 709)
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3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen
Die Befunde aus Abbildung 9 lassen sich so interpretieren: Die Fragen der Jugendlichen wurden dann als insgesamt gehaltvoller beurteilt, wenn es der jeweiligen Person geglückt war, auf der Basis der gelesenen Texte eine übergeordnete Bedeutung zu konstruieren. Hierfür war ein günstiges Zusammenspiel der zwei kognitiven Strategien Quellenbeurteilung und Informationssuche zum einen und der metakognitiven Selbstüberwachung zum anderen hilfreich. Die Informationssuche stand in einem günstigen Verhältnis mit der Beurteilung der gefundenen Quellen und der Selbstüberwachung, die Quellenbeurteilung zusätzlich mit der Selbstüberwachung. Allgemeiner ausgedrückt: Wer dazu in der Lage ist, sich bei einer komplexen, offenen Rechercheaufgabe mit einem klaren Ziel (Frage zu einer vorgegebenen Thematik) selbst zu regulieren und die eigenen kognitiven Prozesse zu steuern, dessen kognitive Prozesse der Informationssuche und -beurteilung korrespondieren mit einer gelingenden Konstruktion der Bedeutung auf der Basis zentraler Elemente. Und dieses Nadelöhr der Bedeutungskonstruktion wiederum stellt die Verbindung zum mehr oder minder geglückten Produkt her. So umfassend und aufwändig wie die Testung der theoretischen Vorannahmen in der Studie von Cho et al. (2017) sind nicht alle bislang publizierten Untersuchungen. Häufig wurden in der Empirie Ergebnisse aus Korrelationsanalysen zwischen zwei Variablen berichtet. Diesem Korpus an Befunden widmen sich nun die folgenden beiden Teilkapitel. 3.4.1.2 Zentrale Inhalte erkennen und Bedeutung konstruieren: Notizen und Leistungsmaße
Bereits im Teilkapitel 3.2.2 wurden die Zwischentexte als Provisorien zwischen Lesen und Schreiben unter der Perspektive der Eigenschaften dieser Zwischenprodukte thematisiert. Das hat mit ihrer Doppelfunktion für das Lernen zu tun: einerseits zur
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3 Empirische Befunde
Enkodierung (Aufnahme) von externen Informationen (Prozess der Informationsverarbeitung) und andererseits – darauf aufbauend – für die Speicherung solcher Informationen (Prozess der Informationsverarbeitung und Herstellung eines eigenen (Zwischen-)Produkts; Staub, 2006). Zudem helfen Notizen dabei, die Limitationen des Arbeitsgedächtnisses zu adressieren (Jansen, Lakens & IJsselsteijn, 2017; Piolat, Olive & Kellogg, 2005). Das macht sie aus theoretischer Perspektive tendenziell lernförderlich, und ihr Potenzial offenbart sich auch in der Grundlagenforschung, deren Befunde im Kasten zusammengefasst sind. Von Inhalten Notiz nehmen? Multiple Texte, Notizen und Leistungsmaße Die Zusammenhänge von Notizen und verschiedenen Leistungsmaßen wurde in gleich mehreren Studien untersucht, und die Hauptbefunde lauten überblicksartig: ▶ Ein längeres Schreiben von Notizen zu den gelesenen Bezugstexten vor dem Schreiben eines eigenen Textes korrespondierte mit besser geglückten Vergleichen der Inhalte (Escorcia et al., 2017*). ▶ Das Lesen von eigenen Notizen während der Aufgabenbearbeitung hing positiv mit dem Lernzuwachs zu den Inhalten der gelesenen Texte zusammen (Greene, Yu & Copeland, 2014*). ▶ Je länger man eigene Notizen vor und parallel zu dem Schreiben studierte, als desto besser wurde die Struktur des eigenen Textes beurteilt (Escorcia et al., 2017*). ▶ Zusammenfassende Notizen beim Lesen hatten einen positiven Effekt auf das Leseverstehen (Kobayashi, 2009b*). ▶ Notizen, in denen Verbindungen zwischen den Informationen aus multiplen Texten hergestellt wurden, korrelierten positiv mit dem Leseverstehen mehrerer Texte (Hagen et al., 2014*) – allerdings taten sie das in der Studie, aus der dieser Befund stammt, als einziges von insgesamt sechs Merkmalen der Notizen (s. o., S. 149).
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3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen
▶ Personen, die schriftlich mithilfe von Notizen vor dem Schreiben eigener Texte planten, transformierten und abstrahierten Informationen aus den Bezugstexten im eigenen Text stärker (Spivey, 1991*). ▶ Je mehr inhaltliche Transformationen und (Re-)Organisationen eigene Notizen enthielten und je strukturierter solche Schreibpläne waren, desto höher war die Qualität eines eigenen Textes (Risemberg, 1996*, s. o., S. 149; Schüler, 2017; Spivey & King, 1989). Die Daten aus mehreren Studien verdeutlichen die positiven Zusammenhänge mit dem Leseverstehen, den Lernzuwächsen auf der Basis gelesener Texte sowie – bezogen auf das Schreiben – mit mehreren Merkmalen der eigenen Texte (Struktur, kommunikative Funktion, Textqualität). Notizen anzufertigen steht also im Zusammenhang mit besseren Leistungen im verstehenden Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten. Allerdings sei noch einmal darauf verwiesen, dass hier nicht allein das Anfertigen von Notizen per se entscheidend sein dürfte, sondern das Anfertigen einer bestimmten Form von Notizen, nämlich solchen, in denen inhaltliche Transformationen erfolgen (s. auch dazu das Kap. 5). Es geht also um das Verfassen von Notizen, die über das reine Zwischenspeichern von Informationen bereits hinausgehen und schon erkennbare kognitive Investitionen in das anvisierte Ergebnis erkennen lassen.
Die Sammlung empirischer Befunde aus dem Kasten unterstreicht, dass Notizen, die bereits Spuren der kognitiven (Re-) Organisation der Textinhalte für die eigenen Zwecke beinhalten bzw. im Prozess der Aufgabenbearbeitung dafür genutzt werden, mit besseren Leistungen korrespondieren. Dieses sich abzeichnende Befundmuster spricht aus einer didaktischen Perspektive sehr dafür, die Fähigkeit zu schulen und zu fördern, Notizen zur Strukturierung und Transformation im Sinne einer kognitiven Vorentlastung anzufertigen (Kiewra, 2009).
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3 Empirische Befunde
3.4.1.3 Beurteilung von Texten und deren Inhalten: weitere Strategien und Leistungsmaße
Die Analyse von anderen Strategien und Leistungsindikatoren in diesem Teilkapitel folgt nicht stringent der Klassifikation von Strategiegruppen wie in Teilkapitel 3.1. Wenn im Folgenden dennoch von der Text-/Dokumentenbeurteilung die Rede ist, dann soll hierunter auch das Verbinden von (als wert befundenen) Informationen mit dem eigenen Vorwissen subsumiert werden. Dies stellt zugegeben eine erhebliche Ausweitung der Gruppe der Strategien mit Urteilen der lesenden Person aus dem Teilkapitel 3.1.1.2 dar. Es erscheint aber im Lichte anderer Gruppierungen von Lesestrategien unter dem Stichwort der vorwissensbasierten Elaborationsstrategien möglich und legitim (Philipp, 2015b). Die Datenbasis zu Strategien jenseits des Notierens ist zwar noch dünn, aber erste korrelative Zusammenhänge mit Leistungsdaten ließen sich durchaus finden: ▶ Ein aktives Verknüpfen von Informationen aus den Dokumenten mit dem eigenen Vorwissen sagte einen Zuwachs an Wissen durch die Aufgabenbearbeitung positiv voraus (Greene et al., 2014*). ▶ Jene Selbsterklärungen, bei denen die lesenden Personen Inhalte aus den Texten mit dem allgemeinen eigenen Vorwissen verknüpften und anreicherten, prädizierten die Qualität eines tieferen Verstehens der in den Texten beschriebenen Thematik (Wolfe & Goldman, 2005). ▶ Je mehr negative Evaluationen in den Bezugstexten bei jenen Stellen erfolgten, die von Expertinnen und Experten als weniger relevant eingestuft worden waren – ein Indiz für die Sensibilität für die Textinhalte – , als desto besser wurden eigene argumentative Texten eingeschätzt (Anmarkrud et al., 2013*).
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3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen
▶ Ein höherer Einsatz der Strategien zur Beurteilung von Texten und deren Inhalten, welche anhand der Studie aus Teilkapitel 3.1.2 vorgestellt wurden (Anmarkrud et al., 2014*), korrespondierte mit besseren eigenen argumentativen Texten. Dieses Befundmuster gilt auch für die am Ende desselben Teilkapitels angeführten Verbindungsstrategien. ▶ Strategien zur Beurteilung korrespondierten zudem in der im Spiegelstrich zuvor genannten Studie mit korrekt angeführten Belegen: Wer mehr beurteilte, führte auch die Quellen fremder Gedanken expliziter und korrekter an (Anmarkrud et al., 2014*). ▶ Je mehr jemandem Merkmale der gelesenen Quelle präsent waren und je mehr diese Quelleninformationen mit dem Inhalt des jeweiligen Dokuments verknüpft wurden, a) desto besser gelang in einem eigenen argumentativen Text die Struktur der Argumentation, b) desto mehr relevante Informationen enthielt der eigene Text und c) desto mehr Quellen berücksichtigte die getestete Person darin (Barzilai et al., 2015*). Ein Muster zeichnet sich aus den angeführten Studien ab: Je aktiver und konzertierter die überwiegend erwachsenen Personen aus den Studien Strategien der Informations- und Quellenbeurteilung einsetzten – unter anderem auch für die textübergreifende Verknüpfung von Informationen zum einen und zum anderen mit Quelleninformationen – , desto besser glückten ihre Texte bzw. desto mehr lernten sie.
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3 Empirische Befunde
3.4.2 Zum Abschluss: Wenn es nicht so leicht ist, Zusammenhänge zwischen Prozessdaten und Produktmaßen zu finden
Nicht immer ist es scheinbar einfach, theoretisch plausible Zusammenhänge zwischen Prozess- und Produktdaten in der Empirie zu finden (s. dazu etwa exemplarisch Anmarkrud et al., 2013*, 2014*; Greene & Azevedo, 2009; Greene, Bolick & Robertson, 2010, oder Greene et al., 2014*). Die (zugegebenermaßen noch recht spärlichen) Befunde aus dem Teilkapitel 3.4.1 legen zwar korrelative Zusammenhänge nahe, doch erstens sind dies noch keine Kausalwirkungen und zweitens bleiben selbst bei den korrelativen Relationen bisher noch viele Muster unklar. Das wirft die Frage danach auf, wie sich diese Zusammenhänge erstens konkret gestalten und wie sie sich – zweitens – erklären lassen. Um hier bei der ersten Frage zu bleiben, gibt der nachstehende Kasten ein ausführliches Beispiel dafür, wie aufwändig erfasste Prozessdaten mit mehreren Produktdaten (nicht) korrespondieren. Dieses abschließende Beispiel verdeutlicht, dass die Zusammenhänge zwischen Prozessen und Produkten offenkundig doch komplexer sind, als es auf den ersten Blick scheint, und dass man gut daran tut, nicht von dem einen auf das andere zu schließen. Hier wird – mit Blick auf die zweite zu Beginn dieses Absatzes formulierte Frage – die zukünftige Forschung gefragt sein, die Muster bei den Zusammenhängen noch stärker herauszuarbeiten und dabei verstärkt auf die in- und externen Determinanten von Leistungen (s. Kap. 4) einzugehen, um die Effekte besser theoriebasiert zu erklären.
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3.5 Zusammenfassung
Hilft viel viel? Von der Schwierigkeit, zahlreiche Prozess- und Produktdaten eindeutig aufeinander zu beziehen – ein ausgiebiges Beispiel In der in diesem Band schon mehrfach erwähnten Studie mit französischen Studierenden, die eine Synthese zweier Texte schreiben sollten und dabei ihr Vorgehen verbalisierten und gefilmt wurden (Escorcia et al., 2017*), wurden die dadurch rekonstruierbaren Prozesse differenziert erfasst. Hinzu kamen die Produktmaße. Diese Untersuchung bietet damit besonders reichhaltige Daten, an ihr lässt sich aber auch zeigen, dass eine große Datenmenge nicht immer mit größerer Eindeutigkeit einhergehen muss. ▶ Zu den Prozessdaten: Das französische Forschungsteam unterschied dabei mehrere Aspekte. Zum einen wurden zwei Phasen der Aufgabenbearbeitung erfasst (einerseits nämlich die Phase vor dem Schreiben mit 10 Aktivitäten und andererseits die Phase des Schreibens mit 17 Aktivitäten), und zum anderen wurden die einzelnen Aktivitäten auf zweierlei Arten ausgewertet, nämlich in der Zahl des Vorkommens (Frequenz) und in ihrer Länge (Dauer). Damit ergaben sich (10 + 17) x 2 = 54 Kategorien rein prozessbezogener Daten. ▶ Zu den Produktmerkmalen: Die Texte, welche die Studierenden schrieben, wurden hinsichtlich sieben Produktmerkmalen ausgewertet (s. dazu Abbildung 1 in Teilkap. 1.1.3 auf S. 18). Diese sieben Merkmale sind nach Tiefen- und Oberflächenmerkmalen der Texte differenzierbar. Aus der oben genannten Differenzierung verschiedener Produkt-, vor allem aber Prozessvariablen lassen sich rechnerisch
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3 Empirische Befunde
7 x 54 Kombinationen ermitteln, wie einzelne vorkommensbzw. dauerbasierte Prozessmerkmale mit Produktmerkmalen zusammenhängen. Das sind 378 mögliche Kombinationen. Tatsächlich hat das Forschungsteam mittels Korrelationsanalysen genauer überprüft, ob sich statistisch auffällige Zusammenhänge ergaben – die wichtigsten Ergebnisse lauteten: ▶ Jede 14. mögliche Korrelation erwies sich als signifikant, dies entspricht 27 statistisch auffälligen Zusammenhängen. ▶ Sämtliche dieser Korrelationskoeffizienten lagen jenseits der (bedingt durch die kleine Gesamtstichprobe) Werte von ± 0,38, sind damit also gemäß den Konventionen als mittlere bis starke Zusammenhänge zu klassifizieren und damit von ihrer Ausprägung her keineswegs trivial. ▶ Von den 27 Korrelationen waren nur sechs positiv, die restlichen 21 aber negativ. ▶ Die Zusammenhänge betrafen Prozessmerkmale unterschiedlich stark: Nur 16 Verhaltensmerkmale aus den Prozessen hingen positiv oder negativ mit Produktindikatoren zusammen. Wie lassen sich die Muster zusammenfassen? Um im Folgenden eine gewisse Lesbarkeit zu erleichtern, werden die Befunde nach Variablen zusammengefasst, und zwar nach dem Prinzip der Häufigkeit. Das bedeutet: Variablen, die besonders viele statistisch auffällige Bezüge zu anderen aufwiesen, werden zuerst genannt, dabei stehen die vier betroffenen Texttiefenmerkmale vor den Merkmalen der Textoberfläche Rechtschreibung und Grammatik. Prozessmerkmale mit Bezug zur frequenzbezogenen Auswertung werden mit (F) gekennzeichnet, solche mit dem Bezugspunkt Dauer mit (D). Zu den Mustern:
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3.5 Zusammenfassung
▶ Produkt(tiefen)merkmal Qualität der Formulierungen: Die Qualität der Formulierungen hing mit neun anderen Variablen zusammen, und zwar ausschließlich negativ. Demnach wurde die Qualität der Formulierungen im Text der Studierenden dann als schlechter eingeschätzt, wenn sie vor dem Schreiben ohne weitere rekonstruierbare Tätigkeiten das Blatt mit den beiden Bezugstexten ausgiebiger betrachteten(D, F), beim Lesen häufiger unterstrichen(F) oder mit Symbolen versahen(F). Auch das ausgiebigere nochmalige Lesen der beiden Bezugstexte(D, F) während des Schreibens korrespondierte mit geringerer Formulierungsgüte. Etwas erwartungswidrig ist die negative Korrelation zwischen Formulierungsqualität und Häufigkeit des Handschreibens(F), erwartungskonformer hingegen die zu den längeren Wechseln zwischen einzelnen Texten (Bezugstexte, Entwurf)(D) sowie längeren Phasen, in denen die schreibende Person Teile ihres Textes durchstreicht(D). ▶ Produkt(tiefen)merkmal Relevanz des Inhalts: Ein zunächst kontraintuitiver Befund liegt darin, dass ein längeres Nicken(D) – Indikator für inhaltliche Zustimmung – , welches das Lesen der Bezugstexte vor dem eigentlichen Schreiben begleitete, negativ mit der Relevanz der Inhalte im eigenen Text zusammenhing. Im Prozess des Schreibens waren es drei Prozessmerkmale, die negativ mit der inhaltlichen Relevanz im Text korrelierten: a) ausgiebigeres Lesen des bisher geschriebenen Textes(D, F), b) längere Phasen, in denen jemand zu schreiben anzufangen schien, dann aber den Stift wegzog – intendierte, aber unvollendete Formulierungsansätze also –(D), und c) ein häufigeres Löschen von bereits geschriebenem Text(F). ▶ Produkt(tiefen)merkmal Textstruktur: Die Kohärenz und der Aufbau des Textes als Indikator der Textstruktur hingen mit vier Prozessmerkmalen positiv zusammen. Zum einen
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3 Empirische Befunde
gab es positive Zusammenhänge mit einem längeren Lesen der eigenen Notizen(D) vor dem Schreiben. Zum anderen traf dies auf ein ausgiebigeres Konsultieren der Notizen beim Schreiben(D, F) und ein ausführlicheres paralleles Lesen der Bezugstexte bei parallelem Schreiben zu(D). ▶ Produkt(tiefen)merkmal Vergleich des Inhalts: Die Vergleiche des Inhalts – hier: den Funktionen der Schule im französischen Schulsystem – wurden dann als günstiger eingeschätzt, wenn jemand vor dem Schreiben Notizen verfasste(D) und während des Schreibens den eigenen Textentwurf öfter las(F). ▶ Produkt(oberflächen)merkmale Grammatik und Orthografie: Die Grammatikleistungen sind im Vergleich mit der Orthografie mit mehr Prozessmerkmalen negativ verknüpft. Wer vor dem Schreiben die Bezugstexte häufiger las(F), öfter Aktivitäten des Notierens durchführte(F) und ausgiebiger diese Notizen las(D, F), demonstrierte im eigenen Text schlechtere Grammatikleistungen. Das häufigere Lesen eigener Notizen im Schreibprozess(F) ging ebenfalls mit schlechteren Grammatikwerten im Text einher. Wer vor(F) bzw. während(D) des Schreibens ausgiebiger die eigenen Notizen las, hatte zu guter Letzt schlechtere Rechtschreibleistungen.
3.5 Zusammenfassung In diesem dritten Kapitel wurde zum Vorgehen mit multiplen Texten aus empirischer Warte ein sehr weiter Bogen geschlagen. Den Auftakt bildete eine empiriebasierte Systematik von verschiedenen kognitiven und metakognitiven Lesestrategien, die sich im Gesamt als konstruktiv-responsives Lesen bezeichnen lassen. Diese Systematik nimmt die Merkmale des Umgangs mit
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3.5 Zusammenfassung
verschiedenen multiplen Texten ganz gezielt auf und unterscheidet deshalb beispielsweise gründlich zwischen Sets aus analogen und digitalen Texten, etwa weil die Lesepfade zu den einzelnen Hypertexten selbst zum Bezugspunkt von Lesestrategien werden. Da das Lesen von multiplen Texten und das Schreiben darüber insbesondere in Leistungssituationen oftmals korrespondieren, stellt sich die Frage, welche Lese- und Schreibprozesse sich beobachten und aufeinander beziehen lassen. Die vorliegenden Studien weisen darauf hin, dass Lesen und Schreiben stark interagieren, dass das Lesen dabei anscheinend einen dominanten Anteil hat und dass die Schnittmenge von Lesen und Schreiben in der Form von Zwischenprodukten wie strukturierten Notizen von besonderem Belang ist. Die sich aus der Theorie und Empirie abzeichnende große Offenheit beim Lesen und Nutzen multipler Texte bzw. Dokumente wirft viele Fragen auf. Eine von ihnen lautet, ob sich Muster und Typologien im Vorgehen finden lassen. Das ist tatsächlich der Fall, wie es an zwei Zugängen deutlich wurde. Der erste Zugang basiert darauf, zwei vorab gebildete Personengruppen von stärkeren und schwächeren Personen im Umgang mit multiplen Texten miteinander zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigen: Besseren Personen glückt es insgesamt eher, ihre Lesestrategien selbstreguliert zu nutzen und zu orchestrieren. Sie gehen damit zielführender bei komplexen Aufgaben vor. Der zweite Zugang betrifft ebenfalls Muster von Personengruppen, allerdings eher auf der Basis der von ihnen gezeigten und sodann klassifizierten Strategien. Hier zeichnen sich Muster dadurch aus, dass verschiedene Lese- und zum Teil Schreibstrategien von einzelnen Personengruppen unterschiedlich kombiniert wurden. Dies trifft sowohl auf altersgleiche als auch auf unterschiedlich alte Personen zu. Insgesamt lassen sich also Personen entweder durch vorab festgelegte Vergleichskategorien oder aber basierend auf
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3 Empirische Befunde
ihren gezeigten Strategien nachträglich gegenüberstellen und Strategieprofile konturieren. In einem letzten Schritt wurden in diesem Kapitel die Zusammenhänge der bis dahin dominanten Prozessdaten mit Produktdaten beleuchtet. Der Zusammenhang von Strategien und Leistungen ist aus theoretischer Sicht vermeintlich leichter zu beschreiben, als er sich aus empirischer Perspektive auf Prozesse und Produkte mitunter tatsächlich gestaltet. Dabei scheint die Art, wie die Prozesse in Studien erfasst und ausgewertet werden, stark mitzusteuern, ob und welche Zusammenhänge gefunden werden. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass das Forschungsfeld noch reichlich unkartiert ist. Jedoch erscheint es angesichts der vielen möglichen Einflussfaktoren auf die Zusammenhänge unumgänglich, dass mikroanalytische Auswertungen erfolgen, um so zunächst die Prozesse besser zu verstehen, ehe schon der Bezug zu Produkten erfolgreich hergestellt werden kann.
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3.5 Zusammenfassung
Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen für das grundsätzliche Vorgehen beim Lesen von multiplen Texten und dem Schreiben darüber Angesichts der thematischen Breite in diesem Kapitel beziehen sich die folgenden Empfehlungen auf ausgewählte Themen: ▶ Afflerbach, P. P. & Cho, B.-Y. (2009). Identifying and Describing Constructively Responsive Comprehension Strategies in New and Traditional Forms of Reading. In S. E. Israel & G. G. Duffy (Eds.), Handbook of Research on Reading Comprehension (pp. 69 – 90). New York: Routledge. (Dieser Forschungsüberblick systematisiert die empirisch vorgefundenen Strategien im Umgang mit multiplen Texten und Hypertexten, indem er sie gezielt denen zum verstehenden Lesen einzelner Texte gegenüberstellt.) ▶ Spivey, N. N. (1990). Transforming Texts: Constructive Processes in Reading and Writing. Written Communication, 7 (2), 256 – 287. (Ein luzide verfasster, absolut lesenswerter Beitrag, der eng auf die Konvergenz von Lesen und Schreiben im Umgang mit multiplen Texten verweist und bereits vor knapp 30 Jahren viele bis heute wichtige Ideen enthält.)
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3.5 Zusammenfassung
4 In- und externe Einflussfaktoren des glückenden Umgangs mit multiplen Texten / Dokumenten Bislang war es eher allgemein, wie das Leseverstehen multipler Texte funktioniert. Was ist mit spezifischen Einflussfaktoren?
Davon gibt es in der Tat welche. In- und externe. Interne Faktoren sind z. B. Lesefähigkeiten und Vorwissen. Wer gut lesen kann, ist im Vorteil. Wer viel zum Thema weiß, meistens auch.
Und es gibt da noch die epistemischen Überzeugungen, die wie Wahrnehmungsfilter steuern, wie man vorgeht. Manche von denen sind günstig. Andere weniger.
Interne Faktoren sind schwer änderbar. Was ist mit den externen?
Definitiv wichtig und dann gut, wenn es explizit zur Sache geht: Konflikte und klare Ansagen helfen.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
In diesem Kapitel werden Einflussfaktoren auf den Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten behandelt, die einerseits in der wissenschaftlichen Literatur als wichtig gelten und für die andererseits ausreichend viele empirische Belege vorhanden sind. Wenn hier von Einflussfaktoren (Determinanten) berichtet wird, dann geschieht dies auch aus Platzgründen nur für eine Auswahl bei den Einflussfaktoren und vor allem für das Leseverstehen als beeinflusste Größe. Insgesamt fünf Determinanten werden vertieft betrachtet, nämlich bei den innerhalb einer Person liegenden, also internen Faktoren zunächst die ersten drei: die epistemischen Überzeugungen (Teilkap. 4.1.1), das thematische Vorwissen (4.1.2) und die Lesefähigkeiten bei einzelnen linearen Texten (4.1.3). Bei den externen Einflussfaktoren werden zwei zusätzliche Determinanten fokussiert: die zum Einsatz kommenden Texte / Dokumente (4.2.1) und Hilfestellungen für die Aufgabenbearbeitung (4.2.2). Um angesichts der Verschiedenartigkeit und Auswahl der Determinanten dennoch eine Systematik zu gewährleisten, wird immer zu Beginn eines Teilkapitels eine Verortung der jeweiligen Einflussgröße im RESOLV-Modell aus Teilkapitel 2.3.2 vorgenommen. Hierdurch werden Theorie und Empirie miteinander verbunden.
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person 4.1.1 Epistemische Überzeugungen
Wenn es im Folgenden um epistemische Überzeugungen geht – also um subjektive Theorien über das Wissen (Buehl & Alexander, 2001), von denen angenommen wird, dass sie als interne Bedingungen das selbstregulierte Lernen vorsteuern (Bromme, Pieschl & Stahl, 2010; Muis, 2007) – , dann lohnt sich ein authentisches Beispiel zum Einstieg. Im Kasten zu Ada, Bob und ihrem Umgang mit uneindeutigen Informationen werden
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
zwei anonymisierte Studierende in der Auseinandersetzung mit konfligierenden gesundheitsbezogenen Informationen aus mehreren Internettexten beschrieben. Das jeweilige Fallbeispiel steht für einen spezifischen Umgang mit Uneindeutigkeiten in einem Sachverhalt. Während das Beispiel der Studentin Ada die limitierenden Effekte epistemischer Überzeugungen illustriert, verdeutlicht der Ansatz des Studenten Bob, dass es auch eine produktive, zielführende Herangehensweise bei unklaren Phänomenen gibt. Bei beiden Fällen bilden die im Experiment rekonstruierten subjektiven Überzeugungen zu den in den Texten behandelten Informationen und Themen die Grundlage für Erfolg und Misserfolg bei der Aufgabenbearbeitung. Die entscheidende Differenz liegt dabei darin, wie die beiden Studierenden mit der Uneindeutigkeit der verschiedenen Positionen innerhalb der verfügbaren Texte verfahren.
Ada, Bob und ihr Umgang mit uneindeutigen Informationen In einer norwegischen Studie wurden Studierende innerhalb eines Experiments gebeten, nach der Teilnahme an einem Wissenstest zur Funktionsweise und möglichen Gesundheitsgefahren von Mobiltelefonen sechs Internettexte zu lesen und dabei ihre Gedanken beim Lesen zu verbalisieren (Ferguson, Bråten & Strømsø, 2012*). Die sechs Texte mit einer Gesamtlänge von 2.800 Wörtern (400 – 1.000 Wörter / Einzeltext) bezogen sich auf die gesundheitlichen Risiken der Mobiltelefonnutzung. Der Arbeitsauftrag beinhaltete, einer Freundin, die über Unwohlsein bei der Mobiltelefonnutzung klagt und die jeweilige Studentin / den jeweiligen Studenten um Rat bittet, einen schriftlichen Tipp in Form eines Briefs zu erteilen. Auf der Basis dieser Situation wurde eine realitätsgetreue Suchmaschinen-
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4 In- und externe Einflussfaktoren
seite erstellt, die sechs Einträge enthielt. Die Studierenden gingen zum Teil sehr unterschiedlich vor und benötigten im Durchschnitt 29 Minuten für die Aufgabe. Die Studentin Ada beispielsweise hat laut Vorwissenstest wenig Vorkenntnisse. Ihre Vorgehensweise innerhalb der experimentellen Aufgabe (sie bearbeitet sie in 22 Minuten) weist ein Muster auf, welches damit zu tun hat, für a) wie sicher sie das allgemeine Wissen zu den Gesundheitsgefahren hält und b) inwiefern sie sich selbst eine ordnende Rolle bei der (vorläufigen) Klärung der Thematik zuweist. Ada nutzt in ihrem Leseprozess früh ein Dokument einer staatlichen Strahlenschutzbehörde, in dem erklärt wird, dass es für die Gesundheitsschädigung noch nicht genügend wissenschaftliche Hinweise gibt. Diese Informationen scheinen bei der Studentin eine Hypothese zu nähren, dass für eine abschließende Antwort auf die Frage ihrer Freundin zu wenig belastbare Hinweise vorliegen. Diese Hypothese, die sich im Kern darauf bezieht, dass sich selbst Expertinnen und Experten uneins sind, scheint im weiteren Verlauf beim Kontakt mit anderen Dokumenten immer wieder zum Tragen zu kommen und dabei geradezu zu verhindern, sich auf die Suche nach komplexeren Zusammenhängen zu machen und durch Vergleiche zwischen den sechs aufgrund ihrer divergenten Positionen ausgewählten Dokumente eine fundierte Antwort zum Rechercheauftrag zu erhalten. Adas Suche bleibt oberflächlich, die Verknüpfung der Inhalte aus den einzelnen digitalen Dokumenten erfolgt allenfalls fragmentarisch, das komplexere Muster der Positionen vermag Ada nicht zu entdecken und mit dem Ziel der Aufgabe gewinnbringend zu verquicken. Ein anderer Student, Bob, hat ebenfalls ein eher ausbaufähiges Wissen über Mobiltelefone und deren etwaige Gesundheitsrisiken. Aber er beschäftigt sich anders und deutlich länger (mit 68 Minuten recht genau dreimal so lang) mit den sechs
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Dokumenten. Auch Bob erkennt die Unklarheit, die Unbestimmtheit, die Klärungsbedürftigkeit und die Divergenz der Positionen im Laufe des Lesens. Anders als seine Kommilitonin (und diverse andere Studierende aus der Studie) nimmt er dies aber zum Anlass, die Klärungsbedürftigkeit produktiv anzugehen. Besonders deutlich wird dies bei dem Dokument der staatlichen Strahlenschutzbehörde, welches keine eindeutige Antwort gibt und entsprechend zu vielen fragenden Äußerungen bei Bob führt. Im gesamten und zeitlich sehr umfassenden Bearbeitungsprozess äußert sich Bob immer wieder zur Vorläufigkeit und Unvollständigkeit des Wissens, aber er tut es nicht resignativ, sondern eher im Sinne des Anerkennens eines Status quo. Außerdem nimmt Bob seine Verwirrung insofern produktiv auf, dass er versucht, aus den Inhalten der sechs Dokumente die bestmögliche Antwort zu (re-)konstruieren. So gibt er sich nicht mit einer letztlich unbefriedigenden Antwortlosigkeit zufrieden, sondern anerkennt die Ambiguität der Positionen. (Quelle: Beschreibungen auf der Basis von Ferguson, 2015, S. 732, und den zwei ausführlicheren Falldarstellungen von Ferguson et al., 2012, S. 114 – 116*)
Wie aus den beiden Fallbespielen Ada und Bob hervorgeht, scheint es eine Art „Filter“ zu geben, der dafür sorgt, dass sie den Arbeitsauftrag – eine über Gesundheitsbeschwerden klagende Freundin mit einem schriftlichen Ratschlag zu versorgen – unterschiedlich gut auf der Basis der vorliegenden Dokumente bewältigen. Ada kapituliert gleichsam vor der Uneindeutigkeit der Positionen, Bob hingegen versucht, dieser Uneindeutigkeit mit der Suche nach der gegenwärtig bestmöglichen Lösung zu begegnen. Diese „Filter“ verdienen eine genauere Betrachtung hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Zusammenhänge mit dem verstehenden Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Die als Filter bezeichneten epistemischen Überzeugungen sind erst in jüngerer Zeit im Kontext des verstehenden Umgangs mit multiplen Dokumenten / Texten zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung avanciert. Entsprechend handelt es sich bei dem bislang einflussreichsten Modell dazu – dem von Bråten, Britt et al. (2011) – eher noch um eine Skizze denn um ein ausgearbeitetes wissenschaftliches Modell oder gar eine elaborierte Theorie. Im RESOLV-Modell wie auch in seinen Vorläufern (s. Teilkap. 2.2 und 2.3) kommen epistemische Überzeugungen zudem nicht vor. Wenn also in Abbildung 10 die epistemischen Überzeugungen dennoch verortet werden, dann eher als impliziter Bestandteil. Sachlogisch gehören sie zu den internen Ressourcen, die den Einsatz und die Art des selbstregulierten Umgangs mit den Texten steuern. Wichtig ist noch: Man nimmt in der Forschungsliteratur an, dass verschiedene Ausprägungen und Teildimensionen der epistemischen Überzeugungen jeweils eigene Zusammenhänge mit den Bestandteilen und der Art des entstehenden Dokumentenmodells haben, sodass in der Darstellung in Abbildung 10 zwar nur wenige, mutmaßlich beteiligte Elemente – nämlich bei den Prozessen zwischen den internen Ressourcen und den internen Repräsentationen – hervorgehoben sind, diese betreffen und beeinflussen aber mutmaßlich massiv das Endprodukt des Umgangs mit den multiplen Texten / Dokumenten.
Verortung Teilkap. Epistem. Überzeugunge Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.212.165 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 27.09.2019 um 22:14 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beur- rung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 10: Verortung der epistemischen Überzeugungen innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
4.1.1.1 Zur Struktur epistemischer Überzeugungen im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten
Warum Studierende wie Ada und Bob unterschiedlich bei der Bearbeitung von Aufgaben mit multiplen Texten / Dokumenten vorgehen, verfolgt die Wissenschaft unter dem Stichwort der epistemischen Überzeugungen. Epistemische Überzeugungen werden gemäß Hofer und Pintrich (1997) als individuelle Sichtweisen auf die Natur des Wissens (Nature of Knowledge) zum einen und auf die Prozesse des Wissenserwerbs und Wissens (Nature of Knowing) zum anderen definiert. Als übergeordnetes Konstrukt beziehen sich epistemische Überzeugungen demnach auf mehrere untergeordnete Dimensionen, die auch in der Forschung in der Nutzung multipler Texte / Dokumente Aufmerksamkeit erfahren haben, insbesondere in einem norwegischen Forschungsverbund (Bråten, Britt et al., 2011; Ferguson, 2015).
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Die Fragen zur Dimensionalität der epistemischen Überzeugungen – also zu ihrer Zahl, ihrer Trennbarkeit und ihrem Aufbau – wurden bislang vor allem für die zwei schon angeführten Dimensionen – Art des Wissens und Prozesse des Wissens – für mehrere untergeordnete Teildimensionen bearbeitet (z. B. Bråten et al., 2009*; Ferguson et al., 2012*, 2013). Besonders deutlich wird die Frage nach den Dimensionen epistemischer Überzeugungen in dem von Bråten, Britt et al. (2011) vorgelegten Modell mit insgesamt vier Teildimensionen der epistemischen Überzeugungen (s. Tabelle 16): ▶ Im Modell werden bei der Natur des Wissens zwei untergeordnete theoretische Teildimensionen unterschieden: Überzeugungen zur Einfachheit des Wissens und zur Bestimmtheit des Wissens. ▶ Bei den Prozessen des Wissenserwerbs gibt es ebenfalls zwei Teildimensionen: Überzeugungen zu den Quellen des Wissens auf der einen Seite und solchen zu der Begründung des Wissens auf der anderen Seite. Alle vier untergeordneten Teildimensionen eint, dass sie ihrerseits ein Kontinuum bilden. Beispielsweise wird bei der Einfachheit des Wissens danach differenziert, ob Wissen aus Sicht von Personen generell eine Sammlung simpler Fakten darstellt oder sich als komplexe Verknüpfung von Konzepten konstituiert. Differenzierungen wie diese markieren mögliche Extrempole, zwischen denen im Einzelfall ganz verschiedene individuelle epistemische Überzeugungen liegen können. Man könnte auch sagen, dass eine einzelne Person ein Profil unterschiedlich ausgeprägter epistemischer Überzeugungen hat, welches jenem anderer Personen gleicht bzw. eben nicht gleicht (s. dazu z. B. Barzilai & Zohar, 2012; Bråten, Strømsø & Samuelstuen, 2008*; Ferguson & Bråten, 2013; Mason, Boldrin & Ariasi, 2010*; Mason, Ariasi & Boldrin, 2011; Mateos et al., 2016*; Trevors et al., 2017).
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Die vier erwähnten Teildimensionen epistemischer Überzeugungen, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand besonders bedeutsam sind, sind in Tabelle 16 zusammengestellt. Neben einer Definition (in Form einer Frage, worauf sich die Überzeugungen beziehen) enthält die systematische Gegenüberstellung auch das angesprochene Kontinuum der Ausprägungen der Überzeugungen, Beispielaussagen eines Fragebogens zum Thema Klima und eine Verortung, welchem Bestandteil des Dokumentenmodells eine einzelne Teildimension von Überzeugungen bei der Entwicklung eines gesamthaften Verständnisses der gelesenen Texte / Dokumente nähersteht.
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Allgemeine epistemische Überzeugungen Natur des Wissens
Prozesse des Wissenserwerbs Bestimmtheit des Wissens
Quelle des Wissens
Begründung des Wissens
Definition in Form einer Leitfrage
Wie komplex ist Wissen?
Wie stabil ist Wissen?
Woher stammt das Wissen?
Wer entscheidet über die Richtigkeit von Wissen?
Inhaltliches Kontinuum der Teildimension
Wissen als Ansammlung isolierter Fakten (Einfachheit des Wissens) ↔ Wissen als Verknüpfung verbundener Konzepte (Komplexität des Wissens)
Wissen ist absolut und unveränderlich (Bestimmtheit des Wissens) ↔ Wissen ist vorläufig und dynamisch-progressiv (Vorläufigkeit und Genese des Wissens)
Wissen stammt von außen (Wissenstransport durch externe Autoritäten) ↔ Wissen wird vom Individuum selbst produziert (eigene Wissenskonstruktion)
Wissen wird von Autoritäten und Beobachtungen, also extern und regelgeleitet bestätigt ↔ Wissen wird von subjektiven Wissensbeständen und Überzeugungen, also intern bestätigt
Beispiel-Item aus einem Fragebogen zum Thema Klima°
„Innerhalb der Klimaforschung machen verschiedene Theorien über dasselbe die Dinge unnötig kompliziert.“
„Gesichertes Wissen über das Klima ist rar.“
„In Bezug auf Klimaprobleme fühle ich mich nur dann auf sicherem Grund, wenn ich eine Aussage eines Experten finde.“
„Wenn ich über Vorfälle zum Thema Klima etwas lese, prüfe ich, ob der Inhalt logisch scheint.“
4 In- und externe Einflussfaktoren
Einfachheit des Wissens
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Allgemeine epistemische Überzeugungen Natur des Wissens Einfachheit des Wissens
Bestimmtheit des Wissens
Quelle des Wissens
Begründung des Wissens
mentalen Modell
Intertextmodell
Intertextmodell
mentalen Modell
Tabelle 16: Gegenüberstellung von epistemischen Überzeugungen (samt Dimensionen und ihnen untergeordneten Teildimensionen), die für das Leseverstehen von multiplen Texten / Dokumenten als bedeutsam gelten (Quelle: Darstellung basierend auf Bråten, Britt et al., 2011, Ferguson, 2015, und Hofer & Pintrich, 1997; ° Quelle der Fragebogenaussagen: Strømsø, Bråten & Samuelstuen, 2008, S. 519; + Der engere Bezug meint hier nicht, dass eine Dimension der epistemischen Überzeugungen nicht auch mit dem jeweils anderen Teil des Dokumentenmodells zusammenhängt.)
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Engerer Bezug+ im Dokumentenmodell zum
Prozesse des Wissenserwerbs
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Wichtig im Zusammenhang mit der Dimensionalität ist aus Sicht der Forschung die Verbindung zum Umgang mit und Verstehen von multiplen Texten. Das gilt umso mehr, als das Modell von Bråten, Britt et al. (2011) mit den vier Teildimensionen epistemischer Überzeugungen eine explizite Ergänzung und Erweiterung des Dokumentenmodells (Teilkap. 2.2.1) und MD-TRACE-Modells (2.2.2) darstellt. Insofern ist es nötig, die Verknüpfung von epistemischen Überzeugungen mit Prozessen und Produkten des MD-TRACE-Modells zu explizieren. In der Darstellung in der Tabelle 16 ist dies zunächst für einen Teil des MD-TRACEund damit auch des RESOLV-Gesamtmodells erfolgt, nämlich für das Dokumentenmodell und seine Hauptbestandteile Intertext- und mentales Modell (s. Teilkap. 2.2.1). Hierbei wird differenziert: Jeweils zwei Teildimensionen epistemischer Überzeugungen hängen mit einem der beiden Hauptbestandteile des Dokumentenmodells mutmaßlich enger zusammen (Paraphrase im Folgenden nach Bråten, Britt et al., 2011, S. 58 – 64): ▶ Zunächst zum Intertextmodell: Gemäß Bråten, Britt et al. (2011) sind hier Überzeugungen zur Bestimmtheit und zur Quelle des Wissens entscheidend. Bei den 1) Überzeugungen zur Bestimmtheit des Wissens dürfte ein erster Grund für die Bedeutsamkeit darin liegen, wie eine lesende Person die Aufgabe interpretiert (Aufgabenmodell): Gilt es, feststehende Fakten für eine eindeutige Lösung zu finden oder aber eine explorierende Suche nach möglichen Antworten zu unternehmen? Mit diesen Überzeugungen gestaltet sich die kognitive Repräsentation der in den Texten / Dokumenten dargestellten Sachverhalte und ihrer Verknüpfungen über das Intertextmodell mehr oder minder komplex, Selbiges gilt für die oberflächliche oder tiefendurchdringende Suche nach Informationen.
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Bei den 2) Überzeugungen zur Quelle des Wissens wird begründet vermutet, dass insbesondere bei unvertrauten Thematiken der Aufbau der Dokumentenknoten mithilfe der (umfassenden) Beurteilung der Quelleninformationen dafür dienlich ist, die Art, Vertrauenswürdigkeit und Belastbarkeit einzelner Texte / Dokumente genauer zu überprüfen. Solche auf Tiefenverarbeitung externer Wissensquellen abzielende Prozesse sollten zu einer angemesseneren Repräsentation und Gewichtung von Informationen im gesamten Dokumentenmodell führen. ▶ Wie gestalten sich die Zusammenhänge beim mentalen Modell? Hier sind die Überzeugungen zur Einfachheit und Begründung des Wissens vermutlich besonders wichtig. 1) Überzeugungen zur Einfachheit des Wissens stehen aus mehreren, miteinander stark verflochtenen Gründen in Verbindung mit dem mentalen Modell. Erstens beeinflusst wie schon im Spiegelstrich zuvor ausgeführt bei der Bestimmtheit des Wissens die Überzeugung zur Einfachheit des Wissens das Aufgabenmodell: Geht es um die Suche nach einfachen oder komplexen Antworten mit entsprechender Notwendigkeit der Informationsverknüpfung? Damit geht zweitens einher, welchen Maßstab zur Aufgabenerfüllung die lesende Person anlegt, nämlich ein fragmentarisches oder ein möglichst komplettes kohärentes Verständnis des Sachverhaltes. Entsprechend wird sie – drittens – eher oberflächlich-suchend oder eher selbstreguliert-konstruierend vorgehen. Schließlich – viertens – liegt der Zeitpunkt der subjektiv wahrgenommenen Zielerreichung je nach Überzeugung früh oder spät im Gesamtprozess. Bei den 2) Überzeugungen zur Begründung des Wissens wird vermutet, dass Überzeugungen zur Notwendigkeit der regelgeleiteten und bzw. oder extern vermittelten Nachprüfbarkeit des Wissens damit einhergehen, dass eine lesende
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Person mehr metakognitive Aktivitäten durchführt, um den Wahrheitsgehalt systematisch zu überprüfen. Mit dieser stärkeren Überwachung des eigenen Verstehensprozesses nebst der Aktivierung von diversen Lesestrategien wird ein adäquateres Verständnis begründet. Wie schon erwähnt erfolgt die Zuteilung der jeweils beiden Teildimensionen epistemischer Überzeugungen zu den beiden Hauptbestandteilen des Dokumentenmodells (bzw. noch zusätzlich zum Aufgabenmodell gemäß MD-TRACE) idealtypisch. In Teilen der Beschreibung ist über die Nennung eines Kontinuums bereits die Grundidee angelegt, welche Ausprägung der epistemischen Überzeugung als eher günstig für den angemessenen Aufbau eines Dokumentenmodells insgesamt gilt. Gleichwohl bedarf es noch einer genaueren Beschreibung, wie man sich diese Zusammenhänge vorstellt. Darum geht es im Folgenden. 4.1.1.2 Zum günstigen und ungünstigen Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Bestandteilen des MD-TRACE-Modells
Von der veranschlagten Bedeutsamkeit epistemischer Überzeugungen für das verstehende Lesen und den günstigen Nutzen multipler Dokumente / Texte ist es nicht weit zur Frage, wie sich diese Zusammenhänge konkret gestalten. Entsprechend gehen die theoretischen Überlegungen, die Bråten, Britt et al. (2011) zu den epistemischen Überzeugungen (als Bestandteil der internen Ressourcen) anstellen, über die allgemeinen Angaben aus Tabelle 16 weit hinaus. Dort ist zwar postuliert, dass es ein Kontinuum von konkreten einzelnen Überzeugungen in jeder der vier aufgeführten Teildimensionen gibt und dass jeweils zwei der Teildimensionen stärker mit einem der beiden Hauptbestandteile des Dokumentenmodells (s. Teilkap. 2.2.1) zusammenhängen.
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Allerdings bedarf es einer Spezifikation dieser Zusammenhänge, die das Forschungsteam aufgrund der vorläufigen Befundlage in Form von hypothetischen Verbindungen beschreibt. Diese hypothetischen Beziehungen fasst Tabelle 17 zusammen und erweitert den Blick, indem nicht nur Intertext- und mentales Modell berücksichtigt werden, sondern auch das Aufgabenmodell, welches als „Aufgabenverständnis“ bezeichnet wurde und welches von der Forschungsgruppe als wichtige Vorstufe der Aufgabenbearbeitung häufig direkt zu Beginn der jeweiligen Aufzählungen in der Tabelle vorkommt.
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1.
Konstruktion des Intertextmodells
Konstruktion des mentalen Modells
Einfachheit des Wissens Misstrauen gegenüber und Herunterspielen vereinfachter Darstellung in einzelnen Texten / Dokumenten
▶ Aufgabenverständnis zielt auf kohärente Integration und Repräsentation der Informationen ▶ aktives kognitives Engagement, um Überblick zu erhalten, Inhalte zwischen den Texten zu elaborieren und Textinhalte (überwachend) miteinander zu vergleichen und dadurch ein Gesamtverständnis zu entwickeln
– Einfachheit des Wissens
Vertrauen gegenüber und prominente Behandlung vereinfachter Darstellung in einzelnen Texten / Dokumenten
▶ Aufgabenverständnis zielt auf Ansammlung von Informationen (als Faktenkatalog); ▶ Bezugnahme auf Wiederholung und Paraphrase von Fakten; ▶ Akzeptanz fragmentarischen Gesamtverständnisses
Bestimmtheit des Wissens
+ Vorläufigkeit und Genese des Wissens
▶ Aufgabenverständnis zielt auf Exploration verschiedener Quellen ab ▶ Verständnis unterschiedlicher Perspektiven, Aufmerksamkeit auf Unklarheiten / Ungewissheiten ▶ Verknüpfung von Inhalten und Quelleninformationen ▶ Akzeptanz von Breite und Vielfalt im Verstehensprozess ▶ Verwendung von Argumentationsschemata
Vergleich der Informationen, um ein (auf der Basis von Argumentationsschemata gebildetes) mentales Modell aufzubauen
4 In- und externe Einflussfaktoren
+ Komplexität des Wissens
2.
204
Teildimension epistemischer Überzeugungen
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Konstruktion des Intertextmodells
Konstruktion des mentalen Modells
– Bestimmtheit des Wissens
▶ Aufgabenverständnis als Finden der richtigen Antwort ▶ Ziel ist Reproduktion einer unstrittigen Antwort ▶ Suche nach Informationen beschränkt sich auf einzelnen Text / einzelnes Dokument und singuläre Informationen, weitere Suchvorgänge werden vermieden
oberflächliche Informationsverarbeitung in einzelnen Texten / Dokumenten, um korrekte Antwort zu lokalisieren
▶ Aufgabenverständnis zielt auf Nachvollzug der Perspektive von Expertinnen und Experten ▶ Anerkenntnis, aber auch Überschätzung des Bedarfs an externen Ressourcen ▶ Aufmerksamkeit für relevante Merkmale der Texte / Dokumente ▶ gelingende Unterscheidung von mehr oder weniger vertrauenswürdigen Dokumenten / Texten ▶ Herstellung der Verbindungen zwischen Text-/Dokumentmerkmalen und deren Inhalten ▶ Akzeptanz des Wissens von Expertinnen und Experten
▶ prominente Behandlung vertrauenswürdiger Informationen in der übergeordneten kognitiven Repräsentation ▶ gezielter Vergleich, um Expertise und Belege zu finden
3.
Quelle des Wissens
+ Wissenstransport durch externe Autoritäten
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Teildimension epistemischer Überzeugungen
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Konstruktion des Intertextmodells
Konstruktion des mentalen Modells
– Eigene Wissenskonstruktion
▶ Aufgabenverständnis als Formierung oder Bestätigung der eigenen Sichtweise ▶ Unterschätzung des Bedarfs an externen Ressourcen ▶ wenig Bezugnahme auf externe Ressourcen ▶ geringere Aufmerksamkeit auf Inhalte der Texte / Dokumente, dafür mehr auf eigene Meinung ▶ misslingende Unterscheidung von mehr oder weniger vertrauenswürdigen Dokumenten / Texten ▶ Akzeptanz der eigenen Meinung
▶ geringere Differenzierung der vertrauenswürdigen und weniger vertrauenswürdigen Informationen in der übergeordneten kognitiven Repräsentation ▶ geringerer Einbezug von dokument-/textbasierten Informationen und weniger Vergleiche der Informationen aus den Texten / Dokumenten
4.
Begründung des Wissens°
+ Adaptive Überzeugungen
▶ Vergleiche zwischen den Dokumenten / Texten, um sie zu beurteilen ▶ Aufmerksamkeit auf Merkmale der Dokumente / Texte
▶ Perspektivenverknüpfung über Strategieeinsatz (Planen, Überwachen, Regulieren, Vergleichen) ▶ Verwendung von Argumentationsschemata zur Organisation des mentalen Modells
4 In- und externe Einflussfaktoren
Teildimension epistemischer Überzeugungen
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Konstruktion des Intertextmodells
Konstruktion des mentalen Modells
– Weniger adaptive Überzeugungen
▶ weniger Vergleiche zwischen den Dokumenten / Texten, um sie zu beurteilen ▶ geringere Aufmerksamkeit auf Merkmale der Dokumente / Texte
▶ geringerer Einsatz von (meta-)kognitiven Strategien, insbesondere beim Vergleichen ▶ geringere Verwendung von Argumentationsschemata zur Organisation des mentalen Modells
Tabelle 17: Vermutete hypothetische Beziehungen zwischen den Ausprägungen verschiedener Teildimensionen epistemischer Überzeugungen und dem kognitiven Aufbau des Intertext- und mentalen Modells gemäß der Logik des MD-TRACE-Modells (Quelle: Darstellung basierend auf Bråten, Britt et al., 2011, S. 59, mit leichten sprachlichen und inhaltlichen Anpassungen; Legende: + = vermutlich positiver Effekt von epistemischen Überzeugungen auf das Verstehen multipler Texte / Dokumente, – = vermutlich negativer Effekt; ° keine reine Dichotomie bei dieser Teildimension wie bei den anderen drei Teildimensionen, sondern ein Konglomerat verschiedener günstiger (adaptiver) bzw. ungünstiger (nicht-adaptiver) Überzeugungen)
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
Teildimension epistemischer Überzeugungen
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Innerhalb der Tabelle 17 erfolgt eine Differenzierung nach günstigeren und ungünstigeren Konstellationen der epistemischen Überzeugungen für die gelingende mentale kognitive Repräsentation des Dokumentenmodells (dargestellt mit „+“ bzw. „–“). Für die die ersten drei Teildimensionen aus Tabelle 16 (Einfachheit, Bestimmtheit und Quelle des Wissens) folgte die Zuordnung zu den günstigeren bzw. ungünstigeren Konstellationen gemäß der in der Tabelle 16 aufgeführten inhaltlichen Ausprägung innerhalb des Kontinuums der Teildimensionen. Im Falle der Teildimension Begründung des Wissens als einem anscheinend in sich recht komplexen Konstrukt (Ferguson, 2015) fällt die Zuteilung in Tabelle 17 nicht ganz so leicht. Entsprechend fassen Bråten, Britt et al. (2011) hier mehrerlei zusammen: ▶ Als günstig gelten schon ihrer Bezeichnung nach die adaptiven Überzeugungen: Hierzu gehören die Überzeugungen, wissensbezogene Behauptungen auf Argumente, wissenschaftliche Vorgehensweisen und / oder die kognitive Integration und Beurteilung von multiplen Dokumenten / Texten zu stützen. ▶ Demgegenüber haben die weniger adaptiven Überzeugungen mutmaßlich einen unterminierenden Effekt. Hierzu zählen die Überzeugungen, Wissensurteile auf der (alleinigen) Grundlage der eigenen Meinung, der selbstgemachten Erfahrungen und des „gesunden Menschenverstands“ zu fällen. Aus Tabelle 17 zeichnet sich bezüglich der Zusammenhänge ein allgemeines Muster ab: Als günstig gelten Überzeugungen, die Wissen als vorläufig und sich entwickelnd, gleichwohl überprüfbar, im Wechselspiel von in- und externen Wissensbeständen verschiedentlich (re-)konstruierbar, regelgeleitet hergestellt und nachvollziehbar behandeln. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegen die (plausiblen) Annahmen zu Effekten
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
der epistemischen Überzeugungen hinsichtlich des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten / Dokumenten noch deutlich die vorhandenen eindeutigen empirischen Belege (Greene, Cartiff & Duke, in press). Einen abschließenden selektiven Überblick über die Empirie gibt Tabelle 18, aus der deutlich hervorgeht, dass insbesondere eine Teildimension der epistemischen Überzeugungen, nämlich jene zur Begründung des Wissens am Ende der Tabelle, große Aufmerksamkeit erfahren und besonders viele empirische Befunde zutage gefördert hat. Das ist kein Zufall, bietet sich doch gerade bei kontroversen, uneindeutigen Sachverhalten genau diese Teildimension aus theoretischer Warte an, Unterschiede in den Leseleistungen zu finden und zu erklären. Dieses Muster reiht sich inhaltlich in die prinzipielle Offenheit des Lesens gemäß RESOLV ein (s. Teilkap. 2.3.1), nach welcher lesende Personen auf ihre Ressourcen wie die epistemischen Überzeugungen zurückgreifen müssen, um den Problemlöseprozess zu bewältigen.
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Ermittelte positive Effekte (Quelle)
Einfachheit des Wissens: Komplexität vs. Einfachheit des Wissens
höheres Leseverstehen zugunsten der Überzeugung zur Komplexität des Wissens (Bråten & Strømsø, 2010b*; Cho et al., in press; Pieschl, Stahl & Bromme, 2008*; Strømsø et al., 2008*)
Bestimmtheit des Wissens: Vorläufigkeit und Genese vs. Bestimmtheit des Wissens
höheres Leseverstehen zugunsten der Überzeugung zur Vorläufigkeit / Genese des Wissens (Strømsø et al., 2008*)
Quelle des Wissens: Wissenstransport durch externe Autoritäten vs. rein eigene Wissenskonstruktion
höheres Leseverstehen zugunsten der Überzeugung zur Anerkenntnis von Expertinnen und Experten als Quelle des Wissens (Strømsø et al., 2008*)
Begründung des Wissens: adaptive Überzeugungen vs. weniger adaptive Überzeugungen
▶ höheres Leseverstehen zugunsten der Überzeugung, Behauptungen sollen forschungsbasiert und auf breiter Basis abstützbar sein (Bråten & Strømsø, 2010b*; Bråten, Ferguson, Strømsø & Anmarkrud, 2013; Mason et al., 2010*, 2011; Strømsø & Bråten, 2009; Strømsø et al., 2016) ▶ stärkere Bezugnahme auf gelesene Texte innerhalb eines eigenen argumentativen Textes und höhere Qualität dieses Textes bei der verstärkt geäußerten Überzeugung, es sei günstig, multiple Texte miteinander gewinnbringend zu vergleichen (Bråten, Ferguson et al., 2014*)
Tabelle 18: Überblick über empirisch gesicherte Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und lesebezogenen Leistungen in Studien (eigene Darstellung; die Auswahl der Studien erfolgte, indem nur Studien mit einzelnen, klar unterscheidbaren Teildimensionen epistemischer Überzeugungen berücksichtigt wurden)
4 In- und externe Einflussfaktoren
Epistemische Überzeugung mit Gegenüberstellung der Pole
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
4.1.1.3 Zwischenfazit
Epistemische Überzeugungen, also subjektive Annahmen zur Natur des Wissens und zu Prozessen der Wissensaneignung, haben seit einiger Zeit verstärkte Aufmerksamkeit in der Forschung zum verstehenden Umgang mit multiplen Texten erfahren. Dabei gibt es nicht eine einzige epistemische Überzeugung, sondern hierarchisch strukturierte Teildimensionen, die ihrerseits verschiedene Ausprägungen auf einem Kontinuum haben. Jeder dieser Teildimensionen wird aus Sicht der Theorie zugestanden, auf einzelne Bestandteile des Dokumentenmodells einen Effekt zu haben, wobei das Aufgabenmodell ebenfalls betroffen zu sein scheint. Insofern kann den epistemischen Überzeugungen durchaus eine hohe Bedeutsamkeit aus der theoretischen Perspektive zugewiesen werden. Allerdings ist diesbezüglich die Forschung noch in der Bringschuld, die vielfältig postulierten Zusammenhänge mit Evidenz zu untermauern und damit die Theorie auf ein solides empirisches Fundament zu stellen. Gleichwohl lässt sich vorsichtig bereits zum jetzigen Zeitpunkt der Kenntnisstand wie folgt zusammenfassen: Als günstig gelten jene epistemischen Überzeugungen, a) die Wissen als vorläufig (statt als feststehend) begreifen, b) welche Wissen als komplex und nicht als einfach auffassen, c) die externen Instanzen mehr Gewicht zusprechen als der eigenen Meinung und d) welche Wissen als regelgeleitet und überprüfbar verstehen (statt es auf rein subjektiven Erfahrungen zu gründen). Dahinter steckt – bezogen auf den Umgang mit Dokumenten und Texten – ein Muster eines vorläufigen, auf komplexes Verstehen abzielenden Umgangs mit Texten, in dem Positionen kritisch geprüft werden. Es sind paradoxerweise also ausgerechnet die Überzeugungen günstig, die den Leseprozess deutlich verlangsamen und erschweren. Doch dies steht in Einklang mit neueren Theorien des angemessenen Umgangs mit multiplen Texten und Dokumenten, die Lesen als
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4 In- und externe Einflussfaktoren
offenen Problemlöseprozess begreifen und gerade den Umgang mit Ambiguität fokussieren (s. Kap. 2). 4.1.2 Vorwissen
Leseverstehen bzw. ein versierter Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten ist ohne Vorwissen der Person, die mit den Texten umgeht, kaum vorstellbar, schon gar nicht auf dem längerfristigen Weg zu einer umfassenden Kompetenz im Umgang mit multiplen Texten (Alexander, 2005; Alexander et al., 2012; Braasch & Bråten, 2017, Britt, Richter & Rouet, 2014; Goldman, 2004; Goldman et al., 2016). Dies nehmen auch die entsprechenden theoretischen Modellierungen zum Teil explizit mit auf. Im MD-TRACE-Modell ist beispielsweise das Vorwissen dezidierter Bestandteil der internen Ressourcen einer lesenden Person (s. Teilkap. 2.2.2). Zum Teil explizit und zum Teil implizit ist das auch im RESOLV-Modell bei den internen Ressourcen der Fall (s. Teilkap. 2.3.2), gemäß dessen immanenter Logik die entscheidenden kognitiven Repräsentationen von Kontext, Aufgabe und Dokumenten (auch) auf der Basis individueller Wissensbestände gebildet werden. In der Forschung ist aber vorrangig der Effekt auf das Dokumentenmodell bzw. dessen Folge – das Leseverstehen – analysiert worden. Deshalb sind in Abbildung 11 Domänenwissen und Dokumentenmodell ebenso hervorgehoben wie jene wechselseitigen Prozesse zwischen diesen beiden ModellBestandteilen.
Verortung Teilkap. Vorwissen Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.212.165 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 27.09.2019 um 22:14 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 11: Verortung des Vorwissens innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
Mit dem Ausdruck Vorwissen werden in der Forschungsliteratur ganz unterschiedliche Wissensbestände angeführt. In den Untersuchungen insbesondere rund um eine Forschungsgruppe aus Norwegen (Ferguson, 2015) ist das inhaltliche Vorwissen innerhalb einer Domäne bzw. einem Wissensgebiet – meist zu naturwissenschaftlichen Themen – sehr häufig miterfasst worden, und zwar in aller Regel als sogenannter Prädiktor oder Kovariate weiterer in den Blick genommenen psychologischen Konstrukte. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Vorwissensbestände sowohl aus theoretischer Sicht als auch aus empirischer Warte hochbedeutsam sind für das Leseverstehen (Goldman, 2004; Kintsch, 2004; Fox, 2009). Vor diesem Hintergrund ist es zu verorten, dass im Kontext der mehrfach erwähnten Forschungen aus Norwegen zumindest bei einem Teil der vorlegten Einzelstudien das thematische Vorwissen zu dem im jeweiligen Dokumentenset behandelten Themenkomplex mithilfe verschiedener Auf-
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4 In- und externe Einflussfaktoren
gabenformate erfasst wurde. In den Analysen wurde dann der „Netto-Effekt“ des Vorwissens statistisch bestimmt. Auch wenn nicht in allen Studien zum Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten durchgängig ein Effekt des Vorwissens festgestellt werden konnte (z. B. Barzilai & Ka’adan, 2017; Bråten, Ferguson, Strømsø & Anmarkrud, 2013; Bråten, Ferguson et al., 2014*; Coiro, 2011; Strømsø, Bråten & Britt, 2011*; Stadtler et al., 2013*), so ergaben sich in einem beträchtlichen Teil der Empirie positive Zusammenhänge des thematischen Vorwissens mit ▶ der Anzahl und Richtigkeit von wissenschaftlichen Konzepten in schriftlichen Aufgaben zur Überprüfung des Leseverstehens multipler Texte (Bråten, Anmarkrud et al., 2014*; Braasch et al., 2014*; Taboada & Guthrie, 2006; Taboada et al., 2009); ▶ dem Zuwachs des Wissens durch die Lektüre multipler Texte / Dokumente (Bråten, Ferguson, Anmarkrud & Strømsø, 2013; Strømsø et al., 2016) bzw. nach Lektüre von einzelnen Textteilen innerhalb von Hypertexten (Pieschl et al., 2008*); ▶ dem Leseverstehen sowohl bei intra- als auch intertextuellen Aussagen, die in Multiple-Choice-Aufgaben abgetestet wurden (Bråten & Strømsø, 2006*; Bråten, Strømsø & Britt, 2009*; Bråten & Strømsø, 2010b*, 2011*; Davis, Huang & Yi, 2017; Gil et al., 2010b*; Le Bigot & Rouet, 2007*; Potelle & Rouet, 2003*; Strømsø et al., 2008*; Strømsø & Bråten, 2009; Strømsø, Bråten & Britt, 2010), und schließlich ▶ der Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit einzelner Dokumente innerhalb von Dokumentensets (Braasch et al., 2014*; Bråten, Strømsø & Salmerón, 2011*). Damit zeigt sich insbesondere aus der Produktperspektive ein allgemeiner positiver Effekt des Vorwissens bei Themen, um die es in den Aufgaben zum Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten geht: Je höher das Vorwissen war, desto besser
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
schnitten die Testpersonen verschiedener Altersgruppen und Bildungsetappen in den lesebezogenen Leistungsaufgaben ab. Dieser zunächst trivial anmutende Befund ist aus einer Förderperspektive hochbedeutsam, weil sich anhand der doch recht konsistenten Ergebnisse die berechtigte Frage danach stellt, ob ein mangelndes Vorwissen für die anspruchsvolle Fähigkeit, mit multiplen Dokumenten / Texten kompetent umzugehen, eine Einstiegshürde oder sogar eine gläserne Decke darstellt. 4.1.3 Lesefähigkeiten
Der Effekt der Lesefähigkeiten ist im Vergleich zu anderen Variablen in der Forschung bislang weniger stark untersucht worden. Deshalb ist das Gesamtbild noch sehr fragmentarisch. Allerdings existieren schon positive Hinweise: In der PISA-Studie 2009, der zweiten Großuntersuchung kognitiver Kompetenzen, in der die Lesekompetenz im Zentrum stand, sind in 19 Teilnehmerstaaten die Lesefähigkeiten 15-jähriger Jugendlicher am Computer digital erfasst worden (Becker, Schnotz & Naumann, 2016). Um die digitalen Lesetests absolvieren zu können, mussten die Schülerinnen und Schüler erfolgreich navigieren. Das erfolgreiche Navigieren durch die digitalen Texte und das Beantworten der Fragen wurden dahingehend analysiert, ob sie sich durch das Leseverstehen statistisch hervorsagen lassen. Das war tatsächlich der Fall: Die bei PISA erfasste Lesekompetenz war der stärkste Prädiktor des erfolgreichen und korrekten Navigationsverhaltens. Wer also als Jugendliche / r kompetent liest, ist auch besser darin, digitale lesebezogene Aufgaben zu absolvieren. Es gibt noch weitere empirische Hinweise verschiedener Couleur: ▶ Bei Jugendlichen der Sekundarstufe etwa sagten Leseverstehensleistungen von analogen Texten über andere Maße
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4 In- und externe Einflussfaktoren
hinweg das Leseverstehen digitaler Texte vorher (Coiro, 2011; Naumann & Salmerón, 2016). ▶ In einer anderen Studie waren die Leseverstehensleistungen prädiktiv für die Qualitäten von Texten, die Studierende materialgestützt verfassten (Risemberg, 1996*). ▶ In einer weiteren Untersuchung mit Sekundarschuljugendlichen hingen Leseleistungen aus einem standardisierten Leseverstehenstest systematisch mit den Merkmalen der Texte aus der Feder der Testpersonen zusammen (Spivey & King, 1989). All diese Belege deuten auf günstige Verbindungen der im Umgang mit einzelnen Texten verschiedentlich erfassten Lese- und weiteren Leistungsindikatoren zu solchen Fähigkeiten im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten hin. In gleich einer Reihe von Studien wiederum aus Norwegen wurden zwei Arten von Tests eingesetzt, die zum einen das Leseverstehen von einzelnen Sachtexten und zum anderen das Leseverstehen mehrerer Texte eines Dokumentensets betrafen. Zentral für beide Tests waren textbasierte Schlussfolgerungen auf der Basis von gegebenen Informationen. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer waren in Verifikationstests gefordert, Informationen aus den Texten angemessen miteinander zu verknüpfen, um dann die inhaltliche Korrektheit von Sätzen zu beurteilen. Unabhängig davon, ob es sich um intratextuelle (innerhalb eines Textes) oder intertextuelle (zwischen multiplen, hier: mindestens zwei Texten) Schlussfolgerungen handelte, war das Testformat ähnlich: Die Testpersonen beurteilten, ob ein Satz begründet aus den textbasierten Schlussfolgerungen zu bilden war. Die folgenden Beispiele verdeutlichen eine zutreffende intratextuelle Schlussfolgerung und eine unzutreffende intertextuelle Schlussfolgerung (Quelle beider Beispiele: Bråten et al., 2009, S. 13 f.*):
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4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person
▶ Beispiel für eine gültige Schlussfolgerung von Aussagen innerhalb eines Einzeltextes (zulässige intratextuelle Schlussfolgerung): „Das Kyoto-Protokoll verpflichtet die Mitgliedsstaaten nicht dazu, die nötige Reduktion der Ausstöße innerhalb der nächsten 50 Jahre einzuhalten.“ Diese Schlussfolgerung basiert auf folgenden beiden Sätzen: a) „Die UN-Klimakommission kommt in ihrem dritten Hauptbericht zu der Schlussfolgerung, dass für das Ziel, die globale Erwärmung auf 2 Grad Celsius zu beschränken, der globale Ausstoß in den nächsten 50 Jahren um 50 bis 80 Prozent reduziert werden muss.“ b) „Es wird erwartet, dass das Protokoll dazu führt, dass innerhalb der obligatorischen Phase von 2008 bis 2012 in den Industrienationen der gesamte Ausstoß der wichtigsten Klimagase um 5 Prozent unter das Ausmaß der 1990er Jahre reduziert wird.“ ▶ Beispiel für eine ungültige Schlussfolgerung von Aussagen übergreifend über multiple Einzeltexte (unzulässige intertextuelle Schlussfolgerung): „Die Kohlendioxidausstöße der Menschheit machen nur einen geringen Teil der Klimagase aus, die in die Atmosphäre entlassen werden, und diese Ausstöße sind deshalb nicht innerhalb des Rahmenwerks der UN-Konvention zur internationalen Zusammenarbeit enthalten.“ Diese unzulässige Schlussfolgerung wurde aus Versatzstücken dieser Sätze aus zwei Texten konstruiert: a) „Die Ausstöße der Menschheit machen nur einen geringen Teil der Klimagase aus, die in die Atmosphäre entlassen werden, und der Effekt ist beispielsweise gering im Vergleich zur natürlich stattfindenden Wasserverdunstung.“ b) „Die internationale Zusammenarbeit findet innerhalb des Rahmenwerks der UN-Klimakonvention statt. Die Klimakonvention beinhaltet das Kyoto-Protokoll, das die Verpflichtungen über den Ausstoß der Industrieländer behandelt.“
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Wie schon erwähnt kamen die beiden Tests mit intra- und intertextuellen Schlussfolgerungen in einer Reihe von Studien zum Einsatz. Dort wurde in aller Regel mit Korrelationsanalysen der statistische Zusammenhang zwischen beiden Testinstrumenten geprüft. In aller Regel war dieser Zusammenhang gemessen an den Konventionen der Beurteilung von Korrelationskoeffizienten recht stark ausgeprägt. Anders gesagt: Wer in dem einen Test ein gutes Resultat erzielte, tat dies ebenfalls im anderen, und zwar sowohl im Sekundarschulalter (Strømsø & Bråten, 2009; Strømsø et al., 2010) als auch bei jungen Erwachsenen im Studium (Bråten et al., 2009*; Bråten & Strømsø, 2010b*, 2011*; Gil et al., 2010b*; Hagen et al., 2014*; Strømsø et al., 2008*). Die (korrelativen) Ergebnisse aus PISA 2009 und weiteren Studien zeigen damit deutlich, dass es recht enge Zusammenhänge zwischen dem Leseverstehen einzelner (analoger) Texte und der erfolgreichen Bearbeitung von Aufgaben zu multiplen (digitalen) Texten gibt. Damit wirkt eine gut ausgebildete Lesekompetenz (die wiederum selbst voraussetzungsreich ist) gleichsam wie die Basis für die Leseleistungen (darunter: das Dokumentenmodell) im Umgang mit mehreren Texten und Dokumenten. Die Basis hierfür sind die damit zusammengehörigen Prozesse der Aneignung, Aktivierung und Ermöglichung (s. Abbildung 12).
Verortung Teilkap. Lesefähigkeiten Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.212.165 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 27.09.2019 um 22:14 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 12: Verortung der Lesefähigkeiten innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person Im Teilkapitel 4.1 ging es um drei interne Einflussfaktoren beim Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten. Diese innerhalb der lesenden Person liegenden Determinanten sind zum einen Voraussetzung für den Erfolg der Aufgabenbearbeitung, zugleich sind sie zum anderen auch ein limitierender Faktor, wenn die entsprechenden Merkmale nur unzureichend entwickelt sind. Hier setzen die externen Determinanten als von außen steuerbare Ressourcen an, geben sie doch einen fachdidaktisch ergiebigen Einblick, wie sich ein positiver – und damit auch: ein negativer – Einfluss auf die Leistungsmaße ausüben lässt, weil Stellschrauben erkennbar werden. Dies gilt für die hier beschriebenen Zusammenhänge zunächst einmal indirekt, handelt es sich doch um Befunde aus der Grundlagenforschung, die sich
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4 In- und externe Einflussfaktoren
der Grundsatzfrage verschrieben hat, allgemeine Wirkmechanismen zu erkennen, zu beschreiben und zu erforschen. Deutlicher werden Einflussmechanismen aber dann, wenn über (quasi-) experimentelle Versuche innerhalb der Interventionsforschung gezielt Effekte herbeigeführt werden sollen (s. dazu Kap. 5). Zwei Arten von externen Faktoren stehen in diesem Teilkapitel im Vordergrund, auch wenn es selbstredend mehr gibt. Der erste Faktor ist das Textmaterial, also die Auswahl von Dokumenten oder Texten innerhalb eines Dokumentensets, welches Personen lesen und bearbeiten sollen (s. Teilkap. 4.2.1). Einen weiteren Faktor bilden die Aufgabenstellungen, die sich auf Dokumentensets beziehen (4.2.2). Auch hier gibt es in Lehr-Lernsettings vielgestaltige Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, sodass sich ein punktueller, konzentrierter Blick auf die Empirie in diesem Bereich lohnt. 4.2.1 Verwendete Texte
Eine hochbedeutsame Rolle spielen im verstehenden Umgang mit multiplen Dokumenten und Texten genau jene Texte und Dokumente, welche Personen nutzen, lesen und weiterverwenden. Dies schlägt sich im RESOLV-Modell insofern nieder, dass dort die Texte (als „Materialien“ bezeichnet) prominent als Teil der externen physischen Ressourcen auftauchen und deren Inhalte von einer lesenden Person innerhalb des Dokumentenmodells final repräsentiert werden (s. Abbildung 13). Unter welchen Bedingungen welche Texte in Dokumentensets welche Effekte haben, ist allerdings noch spärlich empirisch mittels vergleichender (quasi-)experimentellen Studien untersucht worden. Aus diesem Grund geht dieses Teilkapitel auf lediglich zwei Aspekte ein: zum einen auf den Mehrwert der Inhaltspräsentation innerhalb mehrerer Texte (s. Teilkap. 4.2.1.1) und zum anderen auf die
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Verortung Teilkap. Textauswahl
inhaltlichen Konflikte zwischen Informationen aus einzelnen Texten innerhalb eines Dokumentensets (4.2.1.2). Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
(interne Ressourcen)
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermöglichung; bzgl. „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 13: Verortung der verwendeten Texte bzw. Dokumente innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
4.2.1.1 Inhalte präsentieren – besser in einem Text oder in multiplen Texten?
Eine in der Empirie bislang nur wenig bearbeitete (und wenn dann bei älteren Versuchspersonen im Erwachsenenalter bzw. kurz davor befindlichen Personen untersuchte) Frage lautet: Hat die Präsentation von Inhalten in multiplen Texten / Dokumenten gegenüber einer Darbietung innerhalb eines Textes überhaupt einen Mehrwert? Diese Frage ist angesichts der allgemein als höher proklamierten Anforderungen an die lesenden Personen (s. etwa Afflerbach & Cho, 2009) alles andere als trivial. Fünf Studien, die inhaltlich entweder in der Domäne Geschichte oder im medizinischen Kontext angesiedelt waren, haben systematisch
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4 In- und externe Einflussfaktoren
überprüft, welche Effekte die Verteilung von Inhalten auf einen Text oder mehrere Dokumente hat. Diese fünf Untersuchungen stehen in diesem Teilkapitel im Fokus. Die zum Einsatz gekommenen vier Varianten sind diese: ▶ Multiple Texte vs. Inhalte dieser Texte als eingefügte Zitate oder als Endnoten in einer Textbuchvariante: In einem Experiment mit Elftklässlern wurde eine App namens „Sourcer’s Apprentice“ mit zwei Arten der textuellen Darbietung getestet (Britt & Aglinskas, 2002; s. Teilkap. 5.4.1 für eine Beschreibung der App). Der Unterschied der beiden Textvarianten bestand darin, dass die eine Gruppe sieben separate Dokumente (Primär- und Sekundärquellen) zu einem kontroversen historischen Thema bearbeitete; diese Texte folgten einem Sortierprinzip von zunehmender Detailliertheit. Die andere Gruppe hingegen erhielt das Textmaterial als kontinuierlichen Fließtext in Form eines Textbuchauszugs, in dem die Inhalte der mehreren Texte bzw. der Quelleninformationen entweder als Zitate oder als Endnoten enthalten waren (s. Britt & Aglinskas, 2002, S. 516 – 522, für einen Abdruck des gesamten Textes in der Textbuch-Version). ▶ Inhalte in acht Quellen vs. chronologisch angeordnete Inhalte als Textbuchversion: In zwei ähnlichen Studien wurden historische Inhalte zum einen entweder in acht digitalen Quellen (Wiley & Voss, 1999*, – mithilfe der oben schon erwähnten App „Sourcer’s Apprentice“) oder als analog vorliegendes Dokumentenset (Wiley & Voss, 1996*) präsentiert. Zum anderen wurden die historischen Inhalte in Form eines Textbuchauszugs dargeboten. Sie folgten als Textbuchauszug in der Sequenz weitestgehend der Chronologie der Geschehnisse und waren über einleitende Sätze miteinander verknüpft, allerdings ohne Hinweise auf mögliche Kausalzusammenhänge.
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
▶ Multiple Texte in randomisierter Reihenfolge vs. fixierte und strukturierte Textbuchvariante: In der Version mit mehreren Dokumenten lasen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sieben Texte zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), und diese Texte wurden ihnen in zufälliger Reihenfolge präsentiert (Bråten & Strømsø, 2006*). Die sieben Texte stammten aus verschiedenen Quellen und Textsorten und waren aus unterschiedlichen, teils widersprechenden Perspektiven auf ADHS verfasst. In der Textbuch-Variante war die Reihenfolge fixiert, und es gab zusätzliche einleitende und resümierende Sätze sowie Zwischenüberschriften in Form der Originalüberschriften der sieben Ausgangstexte. ▶ Multiple Texte (verschiedener Autorinnen und Autoren) vs. ein Text (einer Person): In einem Experiment erhielten die teilnehmenden Erwachsenen zwei Varianten digitaler Texte zu einem gesundheitlichen Thema (Stadtler et al., 2013*). Die eine Gruppe las eine Variante, bei der die Inhalte in einem Text standen, der gemäß Quelleninformationen von einer Person stammte. Die andere Gruppe erhielt den gleichen Text, allerdings aufgeteilt in vier Teile, denen jeweils ein separater Verfasser bzw. eine separate Verfasserin zugeordnet wurde. Die Navigation durch beide Textvarianten erfolgte strukturell ähnlich über ein Menü. Die verschiedenen Varianten, in denen die Präsentation von entweder multiplen oder einzelnen Texten miteinander in Studien verglichen wurden, führten zu verschiedenen Effekten in den gemessenen abhängigen Variablen. Diese fallen – zum Teil in Verbindung mit anderen Variablen – überwiegend positiv zugunsten der Varianten mit mehreren Texten aus, wie es die folgende Ergebnissammlung zeigt. Denn die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, welche multiple Texte lasen, erzielten – bei den
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4 In- und externe Einflussfaktoren
ersten drei Spiegelstrichen bezogen auf das Leseverstehen und Lernen aus Texten, bei den letzten drei Spiegelstrichen bezogen auf Textmaße – ▶ bessere Testergebnisse beim Erkennen und Memorieren von quellenbezogenen Informationen (Britt & Aglinskas, 2002); ▶ bessere Erinnerungsleistungen zu Details aus den gelesenen Texten (Wiley & Voss, 1996*) bzw. inhaltlichen Konflikten aus den Texten (Stadtler et al., 2013*); ▶ ein besseres Textverständnis in Form von korrekt gebildeten bzw. als korrekt erkannten textbezogenen Schlussfolgerungen (Bråten & Strømsø, 2006*; Wiley & Voss, 1999*); ▶ eine korrektere und überlegene Verwendung von fremden Informationen in eigenen Texten – als Zitat, als korrekte bzw. angereicherte Informationsübernahme und als stärkere Verknüpfung dieser Informationen durch Konnektoren, die Kausalität markieren (Britt & Aglinskas, 2002; Wiley & Voss, 1996*, 1999*); ▶ eine bessere Inhaltsorganisation im eigenen Text (Wiley & Voss, 1996*) und ▶ eine höhere Textqualität, die durch holistische Fremdurteile erfasst wurde (Britt & Aglinskas, 2002). Die Befunde gehen trotz einer im Gesamt noch deutlich ausbaufähigen empirischen Basis in eine eindeutige Richtung: Die Nutzung multipler Dokumente scheint sich in diversen Variablen positiv niederzuschlagen. Dies lässt sich darüber erklären, dass die lesenden Personen gefragt sind, aktiv das Verhältnis von Informationen (unter Berücksichtigung der Metadaten zum Dokument) aktiv zu (re-)konstruieren, um dadurch ein angemessenes und reichhaltiges Dokumentenmodell aufzubauen (s. Teilkap. 2.2.1). Das gilt zumindest für die Gruppe älterer Personen, da in den hier berichteten Studien vor allem Personen am Ende der
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Sekundarstufe II oder aber zu Beginn / in der Mitte des Studiums untersucht wurden, also ein bildungsnaher Personenkreis. 4.2.1.2 Warum es sich lohnt, auf inhaltliche Konflikte zu setzen
Texte mit inhaltlichen Konflikten sind in der Grundlagenforschung zum Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten sehr häufig anzutreffen und fungieren schon seit Beginn der intensiveren Zuwendung in der empirischen Forschung als das textuelle Material für Dokumentensets in Studien (s. z. B. schon Wineburg, 1991, Perfetti et al., 1994, oder Rouet et al., 1996). Dies schlägt sich nicht zuletzt in zweierlei nieder: Erstens bilden mit dem Intertextmodell und dem darin enthaltenen Intertextprädikat sehr deutlich die inhaltliche Relation zwischen zwei oder mehr Dokumenten einen prominenten Gegenstand (s. Teilkap. 2.2.1) – darunter auch in Bezug auf eine konfligierende Beziehung. Zweitens zielen Teile der aktuellen Theorieentwicklung darauf ab, die Rolle intertextueller Konflikte beim verstehenden Lesen mit solchen Texten und Dokumenten zu beschreiben und zu erklären (Braasch & Bråten, 2017; Stadtler & Bromme, 2014). Außerdem liegen inzwischen erste experimentelle Untersuchungen mit Befunden dazu vor, dass Aufgaben dazu geeignet sind, inhaltliche Widersprüche zwischen Texten durch Beurteilungen produktiv zu lösen, und sich diese positiv auf das Leseverstehen niederschlagen (Kobayashi, 2015*). Die Forschung zur Rolle von konfliktuösen Inhalten in Text-/ Dokumentensammlungen mittels vergleichender Textsets steht noch am Anfang. Das bedeutet, dass es gegenwärtig noch zu wenige empirische Zugänge gibt, in denen gezielt Varianten von Dokumentensets mit unterschiedlich stark konfligierenden Inhalten untersucht wurden. Dass sich solche Studien lohnen und dass selbst vermeintlich kleine inhaltliche Modifikationen auf sehr lokaler Ebene folgenreich sind, zeigen sehr deutlich die im
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4 In- und externe Einflussfaktoren
nachstehenden Kasten beschriebenen zwei Experimente. Sie verdeutlichen zudem, dass die gezielte Auswahl und Bereitstellung von Dokumentensets mit intertextuellen Konflikten der Inhalte eine wichtige lesedidaktische Stellschraube darstellen.
Kleine Ursache, große Wirkungen? Zur kleinteiligen Modifikation von Dokumentensets und deren Folgen – Ergebnisse aus zwei Experimenten Zwei Experimente widmeten sich der Fragestellung, wie sich Veränderungen von Textpassagen innerhalb von Dokumentensets zu kontroversen Themen auswirken. Wichtig ist dabei, dass die Modifikationen nur gering waren, weil sie entweder (Experiment 1) Inhalte leicht verändert darstellten oder (Experiment 2) auf die Uneindeutigkeit von strittigen Punkten hinwiesen. Beide Experimente und ihre Hauptergebnisse werden im Folgenden skizziert Experiment 1 In einem ersten Experiment mit norwegischen Zehntklässlern erhielten die Sekundarschuljugendlichen fünf Texte (Gesamtumfang: ca. 1.900 Wörter), welche sich mit dem Thema Sonnenstrahlung und Gesundheit befassten (Ferguson et al., 2013). Die Experimentalgruppe bekam neben einem neutralen Text jeweils zwei Texte, die entweder die gefährliche Rolle von Sonnenstrahlen bei Hautkrebs konstatierten oder aber die schützende Rolle ultravioletter Strahlen innerhalb der Vitaminproduktion beschrieben. Die Kontrollgruppe las ein Dokumentenset, in dem die beiden Texte, welche die positive Funktion der Sonnenstrahlen behandelten, die Sonnenstrahlen anders gewichteten. Damit unterschieden sich die Inhalte von zwei der fünf Texte inhaltlich, allerdings – wie die Autorin und die Autoren betonen – nur punktuell und semantisch geringfügig.
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Dafür ein konkretes Beispiel der Unterschiede zwischen den zwei Textvarianten: Nach einem Passus mit dem Hinweis auf die Sonnenstrahlung und ihre Bedeutung für die Bildung von Vitamin D lasen die Jugendlichen aus der Experimentalgruppe in einer positiv getönten Darstellungsform, dass ein halbstündiger Aufenthalt in der mittsommerlichen Sonne den Effekt einer kleinen Flasche von Lebertran habe. In der Kontrollgruppe war dies negativ formuliert: Das Trinken einer kleinen Flasche liefere so viel Vitamin D wie ein halbstündiger Sonnenaufenthalt im Sommer. Damit wurde also im konkreten Beispiel die Quelle des Vitamins unterschiedlich positiv dargestellt. Die Befunde der Studie: Im Vergleich von Experimental- und Kontrollgruppe hatte die Experimentalgruppe mit inhaltlich kontroversen Darstellungen nach der Lektüre ein besseres Leseverstehen (bei etwas kürzerer Gesamtlesedauer). Sie stimmte bei den epistemischen Überzeugungen eher der Bedeutung des Wissens mittels Begründung durch mehrere Quellen und weniger aufgrund eigener Sichtweisen zu (s. Teilkap. 4.1.1). Zudem war sie stärker der Auffassung, dass Wissen vorläufig und komplex ist (Bestimmtheit und Quelle des Wissens). Anders gesagt: Es ergaben sich neben dem Leseverstehen auch positive Effekte bei drei Teildimensionen epistemischer Überzeugungen. Experiment 2 In einem zweiten Experiment mit deutschen Studierenden standen neun digitale Texte über eine medizinische Kontroverse im Zentrum (Stadtler, Scharrer et al., 2014*). Das Gesamt aller Texte umfasste fast 2.800 Wörter, und in sechs der Dokumente befand sich in der Experimentalgruppe jeweils eine Aussage, die auf einen von insgesamt drei inhaltlichen Konflikten hinwies und aus darstellerischen Zwecken im Folgenden typografisch hervorgehoben wurde.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Hierfür folgt nun ein Beispiel für einen der Konflikte, nämlich zur Frage, ob ein Medikament namens Statin dabei hilft, einen hohen Cholesterinspiegel zu senken. In der Experimentalgruppe hieß es dazu in einem Dokument: „Im Gegensatz zu dem, was einige Mediziner denken, kann der Cholesterinspiegel mit Statinen gesenkt werden. Das ist deshalb der Fall, weil Statine dazu in der Lage sind, Enzyme zu binden, welche für die Absorption von Cholesterin aus dem Blut verantwortlich sind. Die Verbindung mit Statinen behindert die Enzyme.“ In einem zweiten Text hieß es: „Im Gegensatz zu dem, was einige Mediziner behaupten, kann der Cholesterinspiegel nicht mit Statinen gesenkt werden. Statine lösen Prozesse im menschlichen Körper aus, welche die Absorption von Cholesterin aus dem Blut verhindern. Das Ergebnis ist jedoch eine erhöhte eigene Cholesterinproduktion, welche den ursprünglichen Cholesterinlevel wiederherstellt.“ (Quelle der beiden übersetzten Textauszüge: Stadtler, Scharrer et al., 2014, S. 101 f.*; Hervorhebungen waren im Experiment nicht vorhanden und dienen hier nur der Veranschaulichung; in der Kontrollgruppe gab es solche auf Dissens hinweisende Aussagen nicht.) Die Ergebnisse der Studie waren, dass sich jene Studierende aus der Experimentalgruppe mit Formulierungen, die auf inhaltliche Konflikte hinwiesen, besser an intertextuelle Konflikte erinnern konnten. Außerdem berichteten diese Probandinnen und Probanden in einem eigenen Text, den sie nach der Lektüre der Dokumente verfassten, ausgewogener über die im Dokumentenset beschriebenen Konflikte und benannten auch mehr Quellen ihrer Informationen. Wie das Autorenteam selbst berichtet, sind die Ergebnisse insofern bemerkenswert, als in nur sechs Dokumenten kleinteilige Modifikationen vorgenommen wurden, um eine überschaubare Anzahl von konträren Sichtweisen auf klar umrissene Themen sprachlich zu markieren.
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
4.2.2 Aufgabenstellungen (nebst Hilfestellungen)
Die in den Teilkapiteln 2.2.2 und 2.3 vorgestellten Modelle MDTRACE und RESOLV betonen die Bedeutung des Aufgabenmodells für das Leseverstehen, daher sind Effekte unterschiedlicher Aufgabenstellungen bei demselben Dokumentenset aus Sicht der Theorie wahrscheinlich. Diesen Zusammenhängen hat sich inzwischen die Forschung verstärkt mit einem Fokus auf Indikatoren des Leseverstehens und des angemessenen Umgangs mit Dokumenten gewidmet, und die Forschungsbefunde stehen entsprechend im Zentrum dieses Teilkapitels. Aus einer theoretischen Sicht lassen sich Aufgabenstellungen und die ihnen zugehörigen Hilfestellungen als Teil der Aufträge im RESOLVModell an drei Stellen bei den externen Ressourcen lokalisieren (s. Abbildung 14). Neben der wenig überraschenden Verortung bei a) den Aufgaben sind zwei miteinander inhaltlich verbundene Bereiche bei RESOLV angesprochen: Es handelt sich um b) Hilfsmittel, die mithin c) eine Unterstützungsleistung darstellen sollen. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf das Aufgabenmodell, zu dem die lesenden Personen explizite Informationen erhalten, um auf dieser Basis ein besseres Dokumentenmodell zu konstruieren.
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Verortung Teilkap. Aufgaben/Hilfestellung
4 In- und externe Einflussfaktoren
Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 14: Verortung der Aufgaben- und Hilfestellungen innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
In diesem Teilkapitel stehen argumentative Texte, die Testpersonen im Anschluss an die Lektüre von Dokumentensets verfassten, im Zentrum. Dies fußt auf einer als hoch veranschlagten Überlegenheit des Argumentierens für das Fachlernen (Cavagnetto, 2010; Rapanta, Garcia-Mila & Gilabert, 2013). Deshalb widmet das erste Teilkapitel 4.2.2.1 den argumentativen Schreibaufgaben viel Aufmerksamkeit. Das Teilkapitel 4.2.2.2 ist insofern thematisch etwas breiter aufgestellt, als es prüft, wie sich Arbeitsaufträge gezielt mit Unterstützungen in ihrer Effektivität steigern lassen.
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
4.2.2.1 Sind Aufträge mit Argumentationen anderen Arbeitsaufträgen überlegen?
In der Forschung zu Aufgaben, in denen Personen unterschiedlicher Altersgruppen multiple Bezugstexte lesen und schriftlich deren Inhalte weiterverarbeiten, beginnen sich einige sehr markante Traditionen in Bezug auf die Überlegenheit einzelner Aufgabenformate abzuzeichnen. Ein inzwischen deutlich erkennbarer Strang in der Forschung besteht darin, die spezifischen Effekte von argumentativen Texten zu prüfen, welche in Bezug auf inhaltlich kontroverse Dokumente / Texte entstehen. Dies zeigt sich insbesondere in den gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Fächergruppen (Goldman et al., 2016). In diesem Teilkapitel werden deshalb Schreibaufträge mit argumentativen Texten ins Zentrum gestellt, was auch damit zu tun hat, dass diese Schreibanlässe besonders oft in der Vergangenheit in Studien zum Einsatz kamen. In 13 dieser Studien wurde das Schreiben von argumentativen Texten mit jeweils mindestens einem anderen zu schreibenden Text verglichen, wobei sich diese Studien nahezu ausnahmslos auf Studierende als Testpersonen stützten. In den Untersuchungen wurden Argumentationen in abnehmender Häufigkeit mit folgenden anderen Textsorten verglichen: ▶ Zusammenfassungen (Bråten & Strømsø, 2010a*;8 De La Paz & Wissinger, 2015; Gil et al., 2010a*, 2010b*; Hagen et al., 2014*; Le Bigot & Rouet, 2007*; Stadtler, Scharrer et al., 2014*; Wiley & Voss, 1999*);
8
In dieser Studie schrieben die Studierenden nicht, sondern sollten sich lediglich vorstellen, dass sie später schreiben würden. Dies macht die Anlage der Studie im Vergleich mit den bei anderen Studien gewählten Designs auffällig anders, da in diesen anderen Studien tatsächlich das Schreiben eines eigenen Textes erfolgte.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
▶ Beschreibungen (Naumann, Wechsung & Krems, 2009*; Stahl et al., 1996; Voss & Wiley, 1997*; Wiley & Voss, 1996*, 1999*; Wiley et al., 2009*); ▶ Erzählungen (Voss & Wiley, 1997*; Wiley & Voss, 1996*, 1999*) und schließlich ▶ Verfassen von Schlagwörtern (Stadtler, Scharrer et al., 2014*). Um einen Überblick über die Arbeitsaufträge aus den Untersuchungen zu erhalten, enthält Tabelle 19 einen Querschnitt von übersetzten Aufgabenstellungen, welche Studierende bearbeiteten. Dieser Querschnitt ist insofern repräsentativ, als er alle fünf Arbeitsaufträge exemplarisch umfasst, die im Set der oben angeführten Studien zum Einsatz gekommen sind. Wie die Arbeitsaufträge aus Tabelle 19 deutlich machen, unterscheiden sich die Formulierungen zum Teil lediglich auf sehr lokaler Ebene, teils nur bei einzelnen Wörtern. In Hinblick auf die mitunter großen Unterschiede bei den Ergebnissen der Untersuchungen ist es wenig trivial, dass solche geringen Änderungen in den verschiedenen Varianten partiell sehr folgenreich sind.
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Historikerinnen und Historiker arbeiten mit Quellen inklusive Zeitungsartikeln, Autobiografien und Regierungsdokumenten wie Zensusberichten, um Geschichte zu schreiben. Ihre Aufgabe ist es, die Rolle eines Historikers / einer Historikerin einzunehmen und eine Erzählung darüber zu entwickeln, was die signifikanten Veränderungen in Irlands Bevölkerung zwischen 1846 und 1850 bewirkt hat. (Hinweis: Das unterstrichene Wort „Erzählung“ wurde in den weiteren drei Aufgabenvarianten durch „Zusammenfassung“, „Erklärung“ oder „Argumentation“ ersetzt.)
Aufgabe 2: Argumentation und Zusammenfassung (Quelle: Le Bigot & Rouet, 2007, S. 455*)
Sie sollen Texte über soziale Einflüsse lesen und verstehen. Danach sollen sie Zusammenfassung von der Länge einer Seite (ca. 15 – 20 Zeilen) auf der Basis dieses Texte-Sets schreiben. Die Zusammenfassung soll die in den Texten ausgedrückten Hauptideen zum Thema soziale Einflüsse wiedergeben. Bitte beachten Sie, dass Sie keine Notizen beim Lesen anfertigen können. Deshalb sollten Sie die Texte sorgfältig lesen, damit Sie sich an sie erinnern können, wenn Sie Ihre Zusammenfassung schreiben. Sie haben ungefähr 15 Minuten Zeit, um die Texte zu lesen. (Hinweis: Für die Aufgabe mit der argumentativen Schreibaufgabe wurden das Wort „Zusammenfassung“ mit „Argumentation“ und das Wort „Hauptideen“ mit dem Ausdruck „Ihre Meinung basierend auf den Ideen“ ersetzt; die Unterstreichungen dienen der Übersichtlichkeit.)
4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Aufgabe 1: eine von vier Textsorten (Argumentation, Erklärung, Erzählung und Zusammenfassung) (Quelle: Wiley & Voss, 1999, S. 303*)
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234 ▶ Argumentation: Lesen Sie die Texte aufmerksam, um danach eine Argumentation zu schreiben. Der erste Teil einer Argumentation liefert einen vergleichenden Überblick der Standpunkte und der unterstützenden Argumente, die von den verschiedenen Autorinnen / Autoren vorgebracht wurden. Der zweite Teil besteht aus Ihrer eigenen persönlichen Sicht in Hinblick auf die Positionen der Autorinnen / Autoren, die auf berechtigtem Grund steht. ▶ Zusammenfassung: Lesen Sie die Texte aufmerksam, um danach eine Zusammenfassung zu schreiben. Eine Zusammenfassung ist ein klar dargestellter Überblick über die wichtigen Inhalte. Daher sollten Sie darüber informieren, wovon die neun Texte handeln. ▶ Schlagwörter: Lesen Sie die Texte aufmerksam, um danach eine verständliche Liste angemessener Schlagwörter zu jedem der neun Texte zu schreiben. Eine verständliche Liste angemessener Schlagwörter ist eine Sammlung aller wichtigen Konzepte eines Textes. Solche Schlagwörter, auch bekannt als „Tags“, werden im Internet dazu verwendet, die Verfügbarkeit von Texten zu erhöhen.
Tabelle 19: Beispiele für unterschiedliche an Studierende gerichtete Schreibaufträge bei der Lektüre multipler Bezugstexte
4 In- und externe Einflussfaktoren
Aufgabe 3: Argumentation, Zusammenfassung und Schlagwörter (Quelle: Stadtler, Scharrer et al., 2014, S. 116*)
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Die soeben schon angedeuteten Ergebnisse verschiedener Arbeitsaufträge mit unterschiedlichen Textsorten sind aufgrund der vielen Vergleiche, einzelnen Fragestellungen und unterschiedlichen Instrumente nicht immer leicht zu überblicken. Um der Heterogenität sinnvoll zu begegnen, erfolgt in diesem Teilkapitel eine Ergebnisdarstellung in Form von Listen mit den wichtigsten Befunden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, die diesem Teilkapitel seinen Namen gibt: Sind Aufträge mit Argumentationen anderen Arbeitsaufträgen überlegen? Vorab kann schon verraten werden, dass sich die Argumentationen tatsächlich in einer Vielzahl von Vergleichen in verschiedenen Maßen als vorteilhafter erwiesen haben. Betrachtet man als ersten Arbeitsauftrag die schriftliche Zusammenfassung, gab es im direkten Vergleich mit zusammenfassenden Studierenden Vorteile für die argumentierenden Personen, denn diese ▶ hatten ein besseres Leseverstehen, nämlich hier bezogen auf korrekt erkannte textbezogene Schlussfolgerungen und Sätze aus den Bezugstexten (Naumann et al., 2009*; Wiley & Voss, 1999*); ▶ wiesen stärkere positive Zusammenhänge zwischen Textverstehen und jenen eigenen Notizen auf, welche Informationen aus den Texten miteinander kombinierten (Hagen et al., 2014*); ▶ verfassten längere eigene Texte (Le Bigot & Rouet, 2007*); ▶ nutzten in eigenen Texten mehr elaborierte, also mit eigenem Vorwissen angereicherte Inhalte aus den Bezugstexten und paraphrasierten diese Inhalte weniger (Le Bigot & Rouet, 2007*; De La Paz & Wissinger, 2015); ▶ bauten in den eigenen Texten häufiger Konnektoren ein, die auf Kausalität der Konzepte aus den Bezugstexten des Dokumentensets verweisen (Le Bigot & Rouet, 2007*), und
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4 In- und externe Einflussfaktoren
▶ fügten mehr explizite Quellenangaben im eigenen Text ein, wenn es in den Bezugstexten sprachlich markierte Konflikte von Inhalten gab (Stadtler, Scharrer et al., 2014*; s. Teilkap. 4.2.1.2). Die Beschreibungen bilden die zweite Textsorte, mit der die Argumentationen empirisch verglichen wurden. Im direkten Vergleich waren die beschreibenden Personen – tatsächlich waren Erwachsene im Studium hier die hier nahezu alleinig berücksichtigte Personengruppe – jenen mit argumentativem Schreibauftrag in diversen Maßen unterlegen. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer mit persuasivem Schreibauftrag ▶ nutzten beim Lesen weniger Zeit dazu, unzuverlässige Texte / Dokumente aus dem Set während der Auftragsbearbeitung zu konsultieren (Wiley et al., 2009*); ▶ konnten die Zuverlässigkeit von Dokumenten besser beurteilen (Wiley et al., 2009*); ▶ verstanden die gelesenen Texte / Dokumente besser, denn sie konnten besser textbezogen schlussfolgern und sich an Textinhalte erinnern (Wiley & Voss, 1996*, 1999*); ▶ integrierten mehr korrekte Inhalte aus den Bezugstexten in ihre eigenen Texte (Wiley et al., 2009*); ▶ verwendeten eine andere, angemessenere Textstruktur beim eigenen Text: Sie arrangierten die Inhalte weniger listenhaftlinear, sondern eher persuasiv (Naumann et al., 2009*); ▶ nutzten mehr Informationen aus mehr als nur einem Text (Stahl et al., 1996); ▶ transformierten mehr der gelesenen Informationen in den eigenen Texten zu neuen Informationen, verknüpften fremde Inhalte stärker und verwendeten auf der Textoberfläche mehr Konnektoren, die auf Kausalität verweisen, um so die Zusammenhänge zwischen Konzepten zu markieren
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
(Naumann et al., 2009*; Voss & Wiley, 1997*; Wiley & Voss, 1996*), und ▶ gaben zu guter Letzt auch mehr Quellen der übernommenen Informationen explizit im eigenen Text an (Naumann et al., 2009*). Die bisher betrachteten beiden Textsorten bzw. die Schreibaufträge Zusammenfassung und Beschreibung fallen insofern auf, als besonders viele Vorteile zugunsten der im Vergleich dazu argumentierenden Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer ermittelt wurden. Dieses Muster setzt sich – aufgrund der dünneren empirischen Basis mit entsprechend geringerem Gesamtausmaß – bei der dritten Textsorte fort: den Narrationen / Erzählungen. Im Vergleich zu den Studierenden, die zu den gelesenen Dokumentensets einen narrativen Text schrieben, konnten Studierende mit einem Schreibauftrag für einen argumentierenden Text ▶ sich besser an Textinhalte erinnern und angemessener textbezogen schlussfolgern (Wiley & Voss, 1996*, 1999*) sowie ▶ gelesene Informationen zu mehr neuen Informationen in den eigenen Texten transformieren, Inhalte aus den Bezugstexten besser kombinieren und kausale Konnektoren häufiger einsetzen (Voss & Wiley, 1997*; Wiley & Voss, 1996*). In einer finalen Studie schließlich sollten Studierende gelesene Texte in Stichwörter als vierter und letzter hier betrachteten Variante überführen (Stadtler, Scharrer et al., 2014*). Im Vergleich zu ihren Gleichaltrigen, die nicht eine Stichwörterliste kreierten, sondern argumentierten, gab es einige Vorsprünge zugunsten der schriftlich argumentierenden Personen. Diese Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die argumentierende Texte schrieben,
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4 In- und externe Einflussfaktoren
▶ zeigten bessere Erinnerungsleistungen zu inhaltlichen Konflikten aus den Texten, hatten also konfligierende Inhalte kognitiv präsenter, ▶ berichteten ausgewogener über die Konflikte aus den Bezugstexten und führten zudem – bei sprachlich markierten Konflikten von Inhalten (s. Teilkap. 4.2.1.2) – mehr explizite Quellenangaben im eigenen Text an. Damit lässt sich an dieser Stelle vorerst resümieren: In verschiedenen Maßen des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten und Dokumenten zeigten sich im Vergleich diverser Schreibaufgaben markante studienübergreifende Muster. Solche Muster sprechen sehr deutlich für den Einsatz von Schreibaufträgen, in denen ältere Personen schriftlich über Gelesenes argumentieren. Diese Vorteile lassen sich aus theoretischer Warte in beiden Bestandteilen des Dokumentenmodells, dem Intertext- und dem mentalen Modell, verorten (s. Teilkap. 2.2.1). Sind Argumentationen wirklich immer die überlegenen Schreibanlässe? Das Beispiel Zusammenfassung
Auch wenn die bisherigen Ausführungen für eine empirische Überlegenheit der Argumentationen sprechen, so gibt es erste Risse in diesem Gesamtbild, da sich auch andere Schreibanlässe den Argumentationen als tendenziell überlegen erwiesen haben, etwa bei der Anzahl übernommener Informationen oder der geringeren Verwendung von Informationen, die für die Gesamtaufgabe irrelevant waren (Le Bigot & Rouet, 2007*; Naumann et al., 2009*). Besonders deutlich wird die Frage nach der Überbzw. Unterlegenheit am Beispiel der Zusammenfassungen, denn hier sind die meisten Studien vorgelegt worden, was naturgemäß andere Befunde und Befundmuster wahrscheinlich macht. Dies gilt umso mehr, als die bisherigen Darstellungen eine Positivaus-
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
wahl der Befunde bilden, da die damit implizierte Suche nach Differenz zwischen Aufgaben und ihren Effekten notwendigerweise Gemeinsamkeiten in den Hintergrund rücken lässt. Wenn also beispielsweise Null-Effekte, also keine statistischen Effekte für oder wider eine Aufgabenstellung, ermittelt werden konnten (etwa bei Bråten & Strømsø, 2010a*, oder De La Paz & Wissinger, 2015), tauchen sie in der Liste oben nicht auf. Tatsächlich sind aber nicht nur Null-Effekte ermittelt worden, sondern auch Überlegenheiten des Zusammenfassens im Vergleich mit dem Verfassen argumentativer Texte. In gleich zwei Experimenten mit Studierenden ergaben sich konsistente Vorteile des schriftlichen Zusammenfassens sowohl in Multiple-Choice-Tests als auch in Textprodukten (Gil et al., 2010a*, 2010b*). Zum Teil spielte in diesen Studien das Vorwissen einen moderierenden Effekt (s. Teilkap. 4.1.2), das heißt, es gab Zusammenhänge zwischen Aufgabenformat, abhängigen Variablen und dem thematischen Vorwissen. Der nachstehende Kasten widmet sich der Frage nach den Moderatoreffekten des thematischen Vorwissens und verdeutlicht neben dem allgemeinen Forschungsbedarf auch die (aus didaktischer Sicht) unbedingte Notwendigkeit, nicht allein auf den vermeintlich linearen Zusammenhang von Aufgabe und Outcome zu setzen, sondern auch komplexere Beziehungsgefüge angemessen zu berücksichtigen.
Für wen ist das Schreiben von Zusammenfassungen bzw. Argumentationen besser geeignet? Die Rolle des Vorwissens als möglicher Moderator Betrachtet man die Forschungslage anhand der Studien, welche die Effekte des schriftlichen Argumentierens über multiple gelesene Texte / Dokumente mit dem schriftlichen Zusammenfassen vergleichen, scheint das Bild vorderhand klar:
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Das Argumentieren wirkt überlegen. In jüngerer Zeit mehren sich jedoch empirische Hinweise, die eine grundsätzliche Überlegenheit des Schreibens von Argumentation gegenüber dem schriftlichen Zusammenfassen infrage stellen, und zwar sowohl bei Studierenden (Gil et al., 2010a*, 2010b*) als auch bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II (De La Paz & Wissinger, 2015). Die genannten Studien haben nicht nur die unklaren Befunde generiert, sondern auch deren Ursache zu erforschen begonnen. Als eine wichtige moderierende (vermittelnde) Hintergrundvariable gilt das thematische Vorwissen (s. Teilkap. 4.1.2; Gil et al., 2010b*). De La Paz und Wissinger (2015) konnten zum Beispiel bezogen auf das Leseverstehen als erster abhängigen Variable zeigen, dass Jugendliche elfter Klassen mit hohem Vorwissen, die argumentative Texte schrieben, besser in einem Multiple-ChoiceTest abschnitten. Jugendliche mit geringem Vorwissen zeigten hingegen höhere Leseverstehensleistungen beim schriftlichen Zusammenfassen. In den Textprodukten als zweiter abhängiger Variable ergaben sich keine Effekte der Kombination von Vorwissen und zu schreibender Textsorte. Die Über- oder Unterlegenheit argumentativer Schreibaufträge in Bezug auf multiple gelesene Texte und Dokumente im Vergleich zum Zusammenfassen scheint nach dieser Studie mit dem Vorwissen zu tun zu haben, allerdings nur in Bezug auf das Leseverstehen. Gil und Kollegen (2010a*) führten zwei Experimente mit Studierenden durch, wobei in einem der beiden Experimente ganz gezielt das Vorwissen zum Thema erhoben wurde. Je nach Wissensausprägung wurden die Studierenden dort zwei Gruppen zugewiesen: einer mit geringem und einer mit hohem Vorwissen. Die Mitglieder beider Gruppen absolvierten eine der beiden Schreibaufgaben Zusammenfassen oder Argumentieren und zusätzlich noch Lesetests. Die Befunde für die interessierenden vier Merkmale – jeweils zwei im Lesen und zwei
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
im Schreiben – sind in Form eines Säulendiagramms in Abbildung 15 dargestellt. 19,8
17,5 13,8 10,8 9,2 6,9
6,5
8,8
6,0
4,8
4,1
3,8
Vorwissen gering
9,3
9,1
8,1
2,6
Vorwissen hoch
Aufgabe: Zusammenfassung Leseverstehen: Satzverifikation Textprodukte: Wechsel
Vorwissen gering
Vorwissen hoch
Aufgabe: Argumentation Leseverstehen: Intertext-Schlussfolgerungen Textprodukte: Transformationen
Abbildung 15: Überblick über die Testwerte in zwei Leseverstehensmaßen (Satzverifikations- und intertextuelle Schlussfolgerungsaufgabe) sowie zwei Textproduktmaße (Wechsel zwischen verschiedenen Quellen und Anzahl der Transformationen der Inhalte aus dem Dokumentenset) nach Schreibauftrag (Argumentation und Zusammenfassung) und Art der Vorwissensausprägung (gering / hoch) (Quelle: eigene Darstellung auf der Basis von Gil et al., 2010a, S. 169 f.*)
Zunächst zu den Lesetest-Ergebnissen, die über zwei Aufgaben erfasst wurden, nämlich zum einen über den schon im Teilkapitel 4.1.3 beschriebenen Test zu intertextuellen, also textübergreifenden Schlussfolgerungen (im Diagramm: Intertext-Schlussfolgerungen). Zum anderen kam ein Test zur Satzverifikation zum Einsatz, der erfasste, ob die Studierenden den Inhalt von Sätzen aus den gelesenen Texten richtig wiedererkannten. Beim Test mit den Intertext-Schlussfolgerungen hatten Studierende mit hohem Vorwissen in der argumentativen Aufgabe bessere Testwerte als in jener mit der Zusammenfassung. Außerdem waren Studierende mit hohem Vorwissen ihren Peers mit geringem Vorwissen in der argumentativen Aufgabe überlegen. Anders war der Fall bei den zusammenfassenden Studierenden: Hier ergab sich keine statistische auffällige Überlegenheit von Personen
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4 In- und externe Einflussfaktoren
mit höherem Vorwissen, sondern sogar eine augenscheinliche Unterlegenheit. Im zweiten Test mit der Satzverifikation wiederholte sich dieses Muster. Bei den Schreibmaßen wurden zwei Indikatoren ausgewertet: erstens die Wechsel zwischen den Inhalten aus verschiedenen Texten (und damit indirekt ebenso: die Anzahl der verwendeten Texte) und zweitens ein Summenwert von verschiedenen Kategorien, wie Inhalte aus fremden Texten im eigenen Text transformiert worden waren. Dieser Summenwert gibt die Anzahl, aber nicht die Art der Transformationen an. Die Befunde: Bei den Wechseln zwischen den gelesenen Inhalten im eigenen Text als erster hier interessierender Variable trennte das Vorwissen nur in der argumentativen Aufgabe Personen mit geringem und höherem Vorwissen zugunsten der letztgenannten Gruppe. Bei den Zusammenfassungen trat das Vorwissen statistisch gesehen nicht in Erscheinung. Dieses Befundmuster ließ sich ebenfalls bei den inhaltlichen Transformationen als zweiter Variable replizieren, wobei hier die Differenzen des Vorwissens in den beiden Aufgabenformaten besonders deutlich zutage traten, wie es der Blick auf die jeweils ganz rechts befindlichen Säulen in Abbildung 15 zeigt. Statistisch auffällig ist gewesen, dass Studierende mit geringem Vorwissen bei eigenen Zusammenfassungen erheblich mehr Inhalte transformierten als in eigenen Argumentationen. Das ist ein neuer Befund, der Fragen nach seinem Zustandekommen aufwirft – und danach, welche Art der Transformationen hierfür verantwortlich ist, da der Gesamtsummenwert aller Transformationen darüber wenig verraten kann. Wie lassen sich die komplexen Befunde aus den Gruppen verschiedener Studierender zum Abschluss bündeln? Personen mit hohem Vorwissen waren nur bei der argumentativen Aufgabe im Leseverstehen überlegen, während Vorwissensunterschiede beim Zusammenfassen keine statistische Auffälligkeit mit sich
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
brachten. Ähnliches gilt für die Wechsel zwischen Inhalten gelesener Texte und der Transformationen fremder Texte in eigenen Texten, denn auch hier waren nur bei Argumentationen positive Effekte eines höheren Vorwissens ermittelbar. In den vier Aufgaben zeichnete sich damit ein Vorsprung des Vorwissens bei einem Aufgabentyp ab. Allerdings gab es einen auffälligen Befund zugunsten jener Personen mit geringem inhaltlichen Vorwissen, die in Zusammenfassungen – also dem zweiten Aufgabentyp – mehr Inhalte transformierten als in den Argumentationen. Dies wirft die Frage danach auf, inwiefern ein geringes Vorwissen ein echtes Problem darstellt. Zusammengefasst: Beide hier referierten Studien zeigten beim Leseverstehen eine Überlegenheit der Personen mit hohem Vorwissen nur bei den argumentativen Texten. Bei den Aufgaben zum Zusammenfassen der gelesenen Texte kamen die Studien zu unterschiedlichen Befunden. Beim Schreiben ist die Befundlage selbst bei zwei Studien schon so widersprüchlich, dass von echten Mustern keine Rede sein kann, sondern stattdessen dringend weitere (Replikations-)Studien mit direkt vergleichbaren Forschungsdesigns nötig wirken.
4.2.2.2 Hilfestellungen in Aufgabenstellungen
Eine weitere Form, auf den verstehenden Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten einzuwirken, sind Hilfestellungen. Hilfestellungen sollen die Bearbeitung des kognitiv anspruchsvollen Umgangs mit mehreren Texten erleichtern. Der Effekt von verschiedenen Hilfestellungen – sei es in Form des Vorhandenseins von einzelnen oder verschiedenen Hinweisen, sei es in Form der gezielten Abwandlungen einzelner Hinweise – bei Aufgaben ist ein noch unsystematisch erforschter Bereich. Gleichwohl nimmt das Interesse an Effekten der Hilfestellungen spürbar in der For-
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4 In- und externe Einflussfaktoren
schung zu. In den bisher durchgeführten Studien zeigen sich folgende ermutigende Befunde: ▶ positive Effekte auf das Verständnis chronologischer Ereignisse durch einen eingeschobenen Auftrag, eine drei bis vier Sätze lange Kurzzusammenfassung über einen gelesenen Text zu schreiben, ehe ein zweiter Text gelesen wurde (Britt & Sommer, 2004*); ▶ positive Effekte bezüglich diverser produkt- und prozessbezogener Daten durch Fragen nach übergeordneten Informationen direkt nach der Lektüre zweier Texte (Britt & Sommer, 2004*; Proske & Kapp, 2013*); ▶ besseres Leseverstehen durch das selbstständige Generieren von mehreren, auf Texttiefenmerkmale abzielenden Lernfragen nach dem Lesen von multiplen Texten ohne Zugriff auf die Bezugstexte (Taboada & Guthrie, 2006; Taboada et al., 2009); ▶ positive Effekte auf eine angemessene schriftliche Wiedergabe von Positionen bei dem Arbeitsauftrag, die Verbindung zwischen Argumenten aus multiplen Texten zu finden (statt sich eine eigene Meinung zu bilden) und dabei schriftliche Notizen anfertigen zu können (Kobayashi, 2009a*); ▶ positive Effekte auf ein textübergreifendes Verständnis der Konsistenz von Inhalten, wenn es nicht nur einen Auftrag zur Erklärung eines wissenschaftlichen Phänomens gab, sondern auch den Hinweis, eine mögliche Lösung für das Phänomen zu beschreiben (Blaum et al., 2017); ▶ ausgewogenere Darstellung von komplexen Faktoren und Ereignissen in eigenen schriftlichen Darstellungen über historische Ereignisse, wenn der Arbeitsauftrag eine allgemeinere, neutrale statt einer einseitigen, positionsbasierten Analyse erforderte (Wiley et al., 2014);
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
▶ richtigere Anwendung des Wissens bei klassifikatorischen Transferaufgaben mithilfe von inhaltlichen und rhetorischen Zielen zum Schreiben kontrastierender Texte (Klein, Haug & Arcon, 2017). Das Muster der Ergebnisse aus den verschiedenen Untersuchungen mit sehr unterschiedlichen Texten und Hilfestellungen lässt sich verdichtet so ausdrücken: Als wirksam haben sich solche Hilfestellungen erwiesen, bei denen eine tiefergehende Analyse von Informationen erforderlich ist, welche die Basis für ein vollständigeres Intertext- und mentales Modell darstellt. Solche Hinweise in den Aufgabenstellungen machen sich bei aller Vorläufigkeit und Unvollständigkeit der Befundlage offenkundig bezahlt – es handelt sich ergo um ein zwar noch breiter abzustützendes, doch schon jetzt ein (lese-)didaktisch ermutigendes empirisches Gesamtergebnis. Um die positiven Beiträge von gezielten Hilfestellungen besser nachvollziehen zu können, sollen an dieser Stelle zwei Beispiele den Sachverhalt verdeutlichen. Beide Beispiele stammen aus experimentellen Studien mit Studierenden. Im ersten Beispiel bearbeiteten Studierende zwei unterschiedliche Arten von Fragen, im zweiten Beispiel halfen konkrete inhaltsbezogene Fragen dabei, bei einem ausgesprochen anspruchsvollen Schreibanlass, Informationen aus zwei Texten aufeinander zu beziehen. Die Hilfestellungen entfalteten ihre Wirkung nicht nur in den Produkten des Umgangs mit verschiedenen Texten, sondern zum Teil auch deutlich in den Prozessen.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Erstes Experiment: Ist weniger mehr? Oder: Hilft eine umfassende Frage mehr als vier einzelne Fragen? In einer experimentellen Studie mit Studierenden lasen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer drei digitale Texte (zwischen 390 und 680 Wörtern Länge) und bearbeiteten danach eine von zwei verschiedenen Aufgaben, ein Teil der Testpersonen verbalisierte das Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung mittels lautem Denken (Cerdán & Vidal-Abarca, 2008*). Erfasst wurden Produkt- und Prozessmaße; letztgenannte Maße wurden über das Navigationsverhalten und zum Teil mittels Verbaldaten parallel zur Aufgabenbearbeitung erhoben. Die beiden Bedingungen im Experiment bezogen sich auf die beiden zum Einsatz gekommenen Aufgaben: ▶ entweder eine Intertext-Frage, die die Integration von Informationen über die Texte hinweg erforderte – diese Frage bezog sich auf sämtliche 22 für die Bearbeitung nötigen Hauptinhalte aller drei Texte („Erläutern Sie, wie Bakterien der Wirkung von Antibiotika widerstehen und welche biologischen Mechanismen dieses Phänomen und seine Übertragung auf andere Bakterien erklären.“); ▶ oder auf vier Intratext-Fragen, die sich auf drei bis neun Hauptinhalte aus einem Text bzw. zwei Texten bezogen (a) „Welche Merkmale von Bakterien beeinflussen die Entwicklung bakterieller Resistenz gegenüber Antibiotika?“ b) „Welche biologischen Mechanismen erlauben es Bakterien, gegenüber Antibiotika resistent zu werden?“ c) „Kann Resistenz zwischen Bakterien übertragen werden – und wenn ja, unter welchen Umständen?“ d) „Wie können Bakterien Antibiotika widerstehen?“ (Quelle aller Fragen: Cerdán & Vidal-Abarca, 2008, S. 222*).
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
Was waren die Ergebnisse dieses ersten Experiments? Zunächst zu den Produktdaten: Es zeigten sich keine Unterschiede bei der Anzahl der in der schriftlichen Aufgabe verwendeten Anzahl von Hauptinhalten aus den drei Bezugstexten. Dafür stellte sich ein positiver Effekt der Intertext-Frage im Vergleich zu den vier Intratext-Fragen ein: In einer Anwendungsaufgabe, in der das Wissen aus den drei Texten in eine neue Situation transferiert werden musste, schnitten die Studierenden der Experimentalgruppe mit der Intertext-Frage besser ab. Bei einer von drei, und zwar der anspruchsvollsten Aufgabe ließ sich also ein deutlicher Vorsprung der Intertext-Frage eruieren. Bei den Prozessdaten zeigten sich sogar bei deutlich mehr, nämlich bei fünf (von insgesamt zwölf betrachteten) abhängigen Variablen die Überlegenheit der Gruppe mit der IntertextFrage. Die Versuchspersonen lasen erstens auffällig langsamer jene Textteile mit den relevanten 22 Hauptinhalten. Zweitens sprangen sie beim Lesen stärker zwischen den Absätzen hin und her, welche die relevanten Hauptinhalte enthielten, und verbrachten weniger Zeit damit, das Lesen von Absätzen mit relevanten Hauptinhalten mit anderen Aktivitäten zu unterbrechen. In der Teilgruppe, die ihr Vorgehen parallel zum Arbeiten an der jeweiligen Aufgabe mithilfe des lauten Denkens verbalisierten, ergaben sich zwei Effekte zugunsten der Gruppe mit der Intertext-Frage: Zum einen wiesen die Verbaldaten auf ein tieferes Verstehen der relevanten Hauptinhalte hin, weil die Personen sie zusammenfassten, erklärten, über sie sinnierten oder sie miteinander verknüpften. Zum anderen befassten sich die Testpersonen beim Schreiben weniger mit oberflächlichen Aspekten des Schreibens. Damit verweisen sowohl die wesentlichen, auf eine Transferleistung abzielenden Produktdaten als auch ein großer Teil der Prozessdaten auf deutliche positive Effekte einer auf Tiefenverständnis abzielenden Aufgabenstellung. Insbesondere die
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4 In- und externe Einflussfaktoren
Prozessdaten sind ermutigend, weil aus ihnen das Muster klar erkennbar ist, dass die inhaltliche Auseinandersetzung an den entscheidenden Stellen intensiver erfolgt – und das bei einer im Vergleich sogar durchschnittlich etwas geringeren Gesamtbearbeitungsdauer.
Zweites Experiment: Sollten Personen besser rhetorische oder besser inhaltsbezogene Hinweise erhalten, wenn sie einen sehr komplexen Schreibauftrag bearbeiten? Studierende bearbeiteten in zwei Teilexperimenten eine Aufgabe, bei der es um das menschliche Gedächtnis ging (Butcher & Kintsch, 2001*). Nach der Lektüre eines Fachtextes sollten die Studierenden eine Einleitung für einen wissenschaftlichen Forschungsartikel verfassen, von dem sie bereits vorhandene Teile lasen, um sie dann zu ergänzen. Der Auftrag, einen fehlenden Teil eines Textes mit den Inhalten eines zweiten Bezugstextes zu komplettieren, bildet eine sehr anspruchsvolle Schreibaufgabe. Um die Studierenden hierin zu unterstützen, erhielten sie zwei Arten von Hinweisen: rhetorische und inhaltliche. Dabei handelte es sich um diese: ▶ Rhetorische Hinweise: „Helfen Sie dem Leser / der Leserin, die ungeklärten Probleme oder unbeantworteten Fragen zu verstehen, die für diese Forschung Basis sind. Kommunizieren Sie die Forschungsergebnisse vorwegnehmend und überzeugen Sie den Leser / die Leserin, warum diese Ergebnisse erwartbar sind.“ (Butcher & Kintsch, 2001, S. 286*)
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
▶ Inhaltliche Hinweise: Es gab fünf Hinweise zu den Inhalten, wobei diese Hinweise eher allgemein gehalten und formuliert waren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten zu folgenden Punkten Informationen geben: a) Struktur des Arbeitsgedächtnisses, b) forschungsrelevante Merkmale der phonologischen Schleife, c) unbeantwortete Forschungsfrage zum inneren Sprechen, d) Effekte interferierenden Sprechens auf das Gedächtnis sowie e) zu erwartende Forschungsergebnisse in Bezug auf die phonologische Schleife. Die Effekte waren bei den Prozessen im ersten Teilexperiment, bei dem die Hinweise vor dem eigentlichen Schreiben der Einleitung und damit nach der Lektüre des Fachtextes gegeben wurden: Studierende planten bei inhaltsbezogenen Hinweisen länger und verbrachten mehr Zeit mit dem Schreiben. In den Texten, also den Produkten, verwendeten sie zudem mehr relevante Informationen. Die Studierenden, die lediglich die rhetorischen Hinweise erhalten hatten, waren hingegen unterlegen. Im zweiten Teilexperiment, bei dem den Studierenden die Hinweise nicht nach, sondern vor dem Lesen des Fachtextes gegeben wurden, ergaben sich ebenfalls keine klar erkennbaren Vorteile der rhetorischen Hinweise. Somit verweisen die beiden Teilexperimente auf die Überlegenheit inhaltlicher Hinweise bei einer besonders herausfordernden Art des akademischen Schreibens.
Waren die beiden ausführlicheren Beispiele recht eindeutig in ihrer Wirkrichtung, so deutet sich in der Empirie schon jetzt an, dass es auch komplexere Zusammenhänge und Uneindeutigkeiten gibt. Dafür kann eine spanische Studie herbeigezogen werden. Sie ist insofern lehrreich, weil zum einen sowohl aus-
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4 In- und externe Einflussfaktoren
gewählte Prozesse als auch einige Produkte beim Umgang mit multiplen digitalen Texten in den Blick gerieten (s. Kasten). Zum anderen zeigte sich in der Untersuchung, dass die Zusammenhänge zwischen ▶ Aufgabenstellungen (drei verschiedene Aufgaben mit je unterschiedlicher Perspektive), ▶ eingesetzten Texten bzgl. Inhalt (die drei einzelnen Perspektiven a) unterstützend, b) davon abweichend oder c) neutral berichtend) und ▶ Glaubwürdigkeit (hohe / vorhandene bzw. geringe / keine Vertrauenswürdigkeit) – mithin eine Kombination von 3 x 3 x 2 Merkmalen – längst nicht so eindeutig sind, wie man meinen könnte. Lediglich bei einer Variante – einem Auftrag mit einer kritischen Perspektive auf die Thematik – ergab sich eine umfangreichere Kongruenz zwischen Prozessen, Produkten und Merkmalen der eingesetzten Texte.
Textinhalte, Aufträge und Glaubwürdigkeit in der Kombination: Ist die Aufgabenbearbeitung eine Frage der Perspektive? In einer Studie mit 16-Jährigen aus Spanien erhielten die Jugendlichen je nach Gruppenzugehörigkeit einen spezifischen Arbeitsauftrag in Hinblick auf ein Dokumentenset (Cerdán, Marín & Candel, 2013). In dem Dokumentenset mit sechs kurzen, unterschiedlich vertrauenswürdigen, jeweils eine von drei Positionen vertretenden Sachtexten ging es um transgen veränderte Nahrungsmittel. Jeweils zwei Dokumente (ein laut Expertinnen und Experten vertrauenswürdiges und ein nichtvertrauenswürdiges Dokument) standen für a) Risiken oder b) Vorteile transgen veränderter Nahrungsmittel bzw. berichteten
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4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person
c) neutral darüber. Die Jugendlichen sollten die digitalen Texte lesen und im Anschluss eine allgemeine, offen gehaltene Frage schriftlich beantworten, die mit einer von drei einzunehmenden Perspektiven zusammenhing: 1.
2.
3.
Die Gruppe „Neutral“ sollte über die Verbraucherfreundlichkeit transgen modifizierter Nahrungsmittel einen Text schreiben. Die Gruppe „Dafür“ sollte einen ähnlichen Schreibanlass bewältigen, aber aus der Sicht einer Geschäftsfrau / eines Geschäftsmanns, die / der eine Gen-Food-Firma besitzt. Die Gruppe „Dagegen“ war gehalten, bei vergleichbarem Auftrag aus der Warte eines grünen Aktivisten / einer grünen Aktivistin zu verfassen.
Neben der Lese- und Schreibaufgabe sollten die Jugendlichen sowohl vor als auch mit einer gewissen Verzögerung am Ende der Untersuchung die Vertrauenswürdigkeit der sechs Dokumente einschätzen. In der Auswertung der Daten fokussierte die Studie neben Produkt- vor allem auf Prozessmerkmale bei den drei Gruppen Jugendlicher. Zunächst zu den Produktdaten, zu denen auch die Einschätzung der Quellen zählt: ▶ Eine Teilfrage der Untersuchung zielte darauf ab, inwiefern die Jugendlichen Informationen aus Texten mit einer Übereinstimmung zum Arbeitsauftrag verwendet hatten (also etwa Informationen aus neutralen Texten bei dem allgemeinen Auftrag). In den Antworttexten der Gruppe „Dafür“ tauchten im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen mehr Informationen aus jenen Texten auf, die sich positiv über genveränderte Nahrung äußerten. ▶ Eine zweite Teilfrage betraf, ob die Jugendlichen je nach Gruppenzugehörigkeit Informationen aus mehr oder weniger vertrauenswürdig geltenden Texten in ihre Antworttexte integrierten. Das war tatsächlich der Fall: Mitglieder
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4 In- und externe Einflussfaktoren
der „Dagegen“-Gruppe nutzten vor allem Informationen aus vertrauenswürdigen Texten, während die Gruppenmitglieder mit neutralem Auftrag stärker die weniger vertrauenswürdigen Dokumente verwendeten. ▶ Bei der Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Dokumente ergab sich nach dem Experiment – unabhängig von der Zugehörigkeit der Jugendlichen zu einer der Experimentalgruppen – ein doppelter Effekt. Konkret stuften die Jugendlichen – erstens – (vor allem nach dem Experiment) diejenigen Dokumente korrekter als weniger vertrauenswürdig ein, in denen entweder die Vor- oder die Nachteile der Nahrung einseitig dominierten. Es kam damit zu einer Annäherung an die Urteile der erwachsenen Expertinnen und Experten. Bei den beiden vertrauenswürdigen Dokumenten mit unterschiedlicher Darstellung ergab sich – zweitens – ein ähnlicher Effekt der größeren Übereinstimmung nach dem Experiment. Auch die Prozessdaten konnten aufgrund der elektronischen Erfassung und des Versuchsaufbaus gemessen und später analysiert werden. Bei der Analyse interessierten die Lesezeiten, aber auch das Navigationsverhalten der Jugendlichen, was zum Teil noch differenziert nach dem Arbeitsauftrag der Jugendlichen und Status der Vertrauenswürdigkeit der Dokumente ausgewertet wurde. Die Ergebnisse: ▶ Ein erster Effekt betraf die Lesezeiten je nach Gruppe: Texte, die die Nachteile von transgen veränderten Lebensmitteln behandelten, lasen Jugendliche mit kritischem bzw. neutralem Arbeitsauftrag länger. Demgegenüber verwendeten Jugendliche mit positiver Perspektive auf transgen modifizierte Nahrungsmittel mehr Zeit auf die Lektüre der Texte, die inhaltlich zu dieser Perspektive passten. Passend zu den weiter oben berichteten Befunden zu verwendeten
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4.3 Zusammenfassung
Informationen aus den (nicht-)vertrauenswürdigen Texten in den eigenen Antworten zeigte sich ebenfalls ein Muster bei den Lesezeiten: Die Gruppe „Dagegen“ las länger in vertrauenswürdigen Texten, die anderen beiden Gruppen länger in nicht-vertrauenswürdigen Dokumenten. ▶ Ebenso interessierte man sich für die Anzahl konsultierter Texte (allgemein und je nach Dokumentinhalt und Vertrauenswürdigkeit). Hier lagen die Mitglieder der Gruppe mit neutralem Auftrag vor jenen, die der Gruppe „Dagegen“ bzw. „Dafür“ angehörten. Außerdem wurde analysiert, inwiefern sich die Gruppen bei den besuchten (nicht) vertrauenswürdigen Dokumenten unterschieden. Gruppenmitglieder der Gruppe „Dafür“ nutzten insgesamt weniger vertrauenswürdige Dokumente als die Gleichaltrigen aus den beiden anderen Gruppen. Zusammengefasst: Die eindeutigsten Muster ergaben sich bei den Produktdaten in der Verwendung der Informationen aus Texten, die zum Lese-/Schreibauftrag passten, sowie einer allgemein besseren Klassifikation vertrauenswürdiger Dokumente. Bei den Prozessdaten ist eine Gruppe besonders stark hinsichtlich der Konsistenz in den Befunden anzuführen, nämlich jene Jugendlichen, die gegen eine Position schreiben sollte. Diese Gruppe setzte sich länger mit belastbar wirkenden, also vertrauenswürdigen Dokumenten auseinander. Diese produktund prozessbezogenen Daten sprechen zunächst also nur für eine Hilfestellung in Form einer perspektivischen Lesehaltung – hier: die kritische Contra-Position. Ob diese Überlegenheit mit der Thematik und der einzunehmenden Position im Experiment konfundiert ist, müsste freilich vertieft untersucht werden.
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4 In- und externe Einflussfaktoren
4.3 Zusammenfassung Das vierte Kapitel hat sich der wichtigen Frage verschrieben, welche Einflussfaktoren das Verstehen multipler Texte begünstigen oder erschweren. Die hier versammelten fünf ausgewählten Determinanten lassen sich zwei Gruppen zuordnen: den kognitiven internen Faktoren und den externen Faktoren. Die internen Faktoren kann man wiederum prototypisch danach untergliedern, ob es sich um kognitive oder metakognitive Determinanten handelt. Bei den internen kognitiven Einflussfaktoren lassen sich das inhaltliche Vorwissen auf der einen Seite und die Lesefähigkeiten auf der anderen Seite beschreiben. Während bei den Lesefähigkeiten die Forschungslage insofern eindeutig ist, dass bessere Lesefähigkeiten bei einzelnen Texten mit besseren Verstehensleistungen bei multiplen Texten korrespondieren, ist der Fall beim Vorwissen anders gelagert. Zwar gibt es auch hier ähnliche Muster wie bei den Lesefähigkeiten. Zugleich wirkt das Vorwissen wie eine notwendige, allerdings nicht hinreichende Voraussetzung für den Erfolg bei der Bearbeitung von Aufgaben mit multiplen Texten. Komplexer stellt sich die Lage bei einem metakognitiven Einflussfaktor dar, welcher zunehmende Beachtung in der Forschung erfahren hat, nämlich den epistemischen Überzeugungen zu multiplen Texten, also wissensbezogenen Theorien in Bezug auf den Umgang mit mehreren Texten. Epistemische Überzeugungen scheinen wie ein Filter den Umgang mit Texten zu steuern, und sie tun dies anscheinend auf unterschiedliche Weise. Das hat damit zu tun, dass es nicht nur verschiedene Dimensionen gibt, die sich ihrerseits noch einmal in Teildimensionen untergliedern lassen. Vielmehr gestalten sich Einflüsse epistemischer Überzeugungen auf verschiedene Bestandteile des Dokumentenmodells unterschiedlich und werden mutmaßlich auch noch über bis-
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4.3 Zusammenfassung
lang nur unvollständig verstandene Prozessmerkmale vermittelt. Dennoch lassen sich bei aller Vorläufigkeit des Wissensstandes bereits günstige und ungünstige Kombinationen verschiedener epistemischer Überzeugungen vermuten, begründen und zum Teil nachweisen. Bei den externen Determinanten wurden zwei Arten betrachtet: erstens die Texte und zweitens Aufgaben- und Hilfestellungen. Bei den Texten hat sich gezeigt, dass es vorteilhaft ist, in Sets multipler Texte auf inhaltliche Konflikte zu setzen, die den Aufbau adäquater Intertext- und mentaler Modelle erleichtern. So lässt sich beispielsweise die relativ große empirische Überlegenheit von eigenen schriftlichen Argumentationen auf der Basis gelesener Texte als Leistungsmaß erklären. Die Aufgabenstellungen als zweiter Einflussfaktor erleichtern das Verstehen multipler Texte dann, wenn sie gezielt bei der Bildung korrekter, informationsreicher Intertextmodelle ansetzen. Ein sich abzeichnender Wirkmechanismus liegt hierbei in einer gezielt gesteuerten Informationsanalyse der multiplen Texte. Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen für in- und externe Determinanten Der Forschungsfrage nach den Einflussfaktoren des ge- und misslingenden Umgangs mit multiplen Texten haben sich viele empirische Arbeiten verschrieben. Diese Empfehlungen bündeln die empirischen Arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten: ▶ Braasch, J. L. G., Bråten, I. & McCrudden, M. T. (Eds.). (2018). Handbook of Multiple Source Use. New York: Routledge. (Das Handbuch widmet sich sowohl einzelnen internen Determinanten, z. B. in den Kapiteln „Individual Differences in Multiple Document Comprehension“ (Barzilai & Strømsø) und „Promoting Multiple Text Comprehension through Motivation in the Classroom“ (Guthrie) sowie externen Determinanten
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4 In- und externe Einflussfaktoren
wie in den Kapiteln „The Role of Conflict in Multiple Source Use“ (Bråten & Braasch) oder „Text Relevance and Multiple Source Use“ (McCrudden).) ▶ Bråten, I., Braasch, J. L. G. & Salmerón, L. (in press). Reading Multiple and Non-Traditional Texts: New Opportunities and New Challenges. In E. B. Moje, P. Afflerbach, P. Enciso & N. K. Lesaux (Eds.), Handbook of Reading Research. Volume V. New York: Routledge. (Das Kapitel verschafft auf knappem Raum einen systematischen Überblick über verschiedene Einflussfaktoren des Leseverstehens multipler Texte und geht sogar auf deren Interaktion untereinander ein. Gesonderte Aufmerksamkeit legen die Autoren auf die Besonderheiten digitaler Texte, die in sozialen Kontexten eingebettet sind.)
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4.3 Zusammenfassung
5 Förderung des Verstehens und der kompetenten Nutzung multipler Texte / Dokumente – 15 finale evidenzbasierte Exempel Got it: Leseverstehen bei multiplen Texten = anspruchsvoll. Kann man da nix machen?
Doch. Klar. Möglichkeit 1: Strategien beim Lesen und beim Schreiben vermitteln. Hilft ganz gut.
Möglichkeit 2: Apps fürs Lesen und Schreiben.
Danke.
Mit diesem Kapitel zur Förderung endet das Buch. Das Thema Förderung verdient viel Aufmerksamkeit, da die Notwendigkeit, bei verschiedenen Altersgruppen den kompetenten Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten zu steigern, in der Forschungsliteratur immer wieder aufs Neue betont wird (Cumming, Lai & Cho, 2016; Paul et al., 2017; Richter & Maier,
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
im Druck; Solé et al., 2013; Stadtler, Bromme & Rouet, 2018; Stahl et al., 1996; Walraven, Brand-Gruwel & Boshuizen, 2008). Vor diesem Hintergrund ist das finale Kapitel zu verorten. Es will möglichst anschauliche Einblicke in empirisch fundierte Fördermaßnahmen gewähren, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit oder angesichts der geringen Trennschärfe der konkreten Förderansätze eine fixe Systematik zu hegen (s. dazu Barzilai, Zohar & Mor-Hagani, in press, und Brante & StrØmsØ, in press). Stattdessen stehen 15 verschiedene evidenzbasierte Beispiele im Zentrum des Kapitels, die gleichwohl in eine gewisse Ordnung und Struktur überführt werden. Dazu wird zu Beginn in Teilkapitel 5.1 ein erster tabellarischer Überblick über die Mehrheit der Fördermaßnahmen gegeben, in dem verschiedene Elemente der Vermittlung von Lese- und Schreibstrategien für eine erste Orientierung aufbereitet sind. Diese Fördermaßnahmen werden dann (in vier Foki gebündelt und über drei Teilkapitel verteilt) skizziert. Den Auftakt bilden die ersten beiden Foki, die zwei Gruppen von Lesestrategien behandeln, für die jeweils vier Beispiele stehen (s. Teilkap. 5.2). In dem folgenden Teilkapitel 5.3 werden im Fokus 3 vier weitere Exempel präsentiert, deren Förderansätze auf eine tiefergehende schriftliche Verarbeitung (materialgestütztes Schreiben) abzielen. Im letzten Teilkapitel 5.4 illustrieren im Fokus 4 drei Einsatzmöglichkeiten mit Apps, wie digitales Lesen und Schreiben gleichermaßen unterstützt werden können.
5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen zur Orientierungsstiftung in einem unübersichtlichen Terrain In diesem fünften Kapitel geht es um die Möglichkeiten der Förderung des verstehenden, kompetenten Umgangs mit multiplen Texten bzw. Dokumenten. Mag die angewandte Grund-
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5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen
lagenforschung zu den Prozessen des Verstehens multipler Texte gegenwärtig noch diverse Fragen unbeantwortet lassen, so gibt es doch bereits erste und ernstzunehmende Bemühungen, sich der effektiven Förderung dieser Prozesse zu widmen. Um solche Fördermaßnahmen wird es im Folgenden gehen. Zunächst aber ist noch der Hinweis wichtig, dass bereits die im Kapitel zuvor beschriebenen externen Determinanten primär des Leseverstehens multipler Texte (s. Teilkap. 4.2) aus einer didaktischen Perspektive eine hohe Bedeutsamkeit haben. Die Essenz fasst der nachstehende Kasten zusammen. Befunde der Grundlagenforschung zur Optimierung der externen Ressourcen mit Texten, Aufgaben und Hilfsmitteln Wie in den Vorbemerkungen des Teilkapitels 4.2 angesprochen wurde, haben die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung aus didaktischer Sicht unmittelbare Relevanz. Auf der empirischen Suche nach optimalen Gestaltungsvarianten von Dokumenten(sets) und den Arbeitsaufträgen lassen sich Hinweise für die Förderung extrahieren: ▶ Der Einsatz von multiplen Dokumenten / Texten lohnt sich allgemein, insbesondere dann, wenn es innerhalb der Texte im Dokumentenset inhaltliche Konflikte gibt. ▶ Einiges spricht für den Einsatz von argumentativen oder zusammenfassenden Arbeitsaufträgen, also Aufgabentypen, bei denen auch Studierende noch teils erhebliche Probleme haben (Hyytinen, Löfström & Lindblom-Ylänne, 2017). ▶ Ebenfalls lohnt sich aus empirischer Warte die Verwendung von Hilfestellungen, welche die Bearbeitungen auf verschiedene Arten erleichtern, indem sie die Aufmerksamkeit der lesenden / schreibenden Person gezielt lenken.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Im Kapitel 3 ist deutlich geworden, dass sich der kompetente Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten vor allem durch ein zutiefst strategisches, also zielbezogenes, zugleich aber individuelles und flexibles kognitives Vorgehen beschreiben lässt (konstruktiv-responsives Lesen). Dies machen sich die Fördermaßnahmen in aller Regel zunutze, indem sie gezielt darauf setzen, Strategien zu vermitteln und / oder durch gezielte instruktionale Gestaltung deren Anwendung einzufordern. Die Vermittlung von Strategien kennt diverse Formen, wobei die klassische Variante im Sinne der kognitiven Meisterlehre die direkte, explizite Vermittlung mit Demonstration der Strategieanwendungen (Modellieren) mit Phasen des angeleiteten Übens und zunehmend offeneren, eigenständigeren Anwendens der neuen Strategien kombiniert (Collins, Brown & Newman, 1989). Diese drei Phasen – explizite Vermittlung, angeleitetes Üben und selbstständiges Anwenden – bilden damit das Herzstück oder auch den Kern der klassischen Strategievermittlung. Häufig werden diese drei Phasen mit Hilfsmitteln angereichert, um die Strategievermittlung zu erleichtern. Diese eher peripheren Elemente der Strategievermittlung sind aus lese- und schreibdidaktischer Perspektive wiederum von besonderem Interesse, bilden sie doch zum einen wichtige Stellschrauben und Anhaltspunkte bei der Gestaltung eigener Förderprogramme. Zum anderen sind sie in der wissenschaftlichen Literatur mitunter differenzierter und genauer beschrieben als andere, zentrale Bestandteile der Fördermaßnahmen, etwa die genutzten konkreten Texte. Deshalb verdienen die strategiespezifisch(er)en Hilfsmittel über die im Teilkapitel 4.2.2 bereits betrachteten allgemeinen Hilfestellungen hinaus einen genaueren Blick im Rahmen dieses Bandes. Das Zentrum und die Peripherie der Strategievermittlung sind für zwölf der 15 Beispiele dieses Kapitels in Tabelle 20 überblicksartig (und je nach einem der vier Foki nach Altersgruppen
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5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen
sortiert) zusammengestellt.9 Dabei ist ein deutlicher Fokus bei der Strategievermittlung in der Domäne Lesen nochmals hervorzuheben. Das erscheint deshalb nötig, weil beispielsweise in der Literatur zu Prozessen und Förderung des materialgestützten Schreibens (s. Teilkap. 3.2.1 und 5.3; Philipp, 2017b) die Bedeutung von Schreibstrategien hoch veranschlagt wird. Die zweifelsohne sehr wichtigen Schreibstrategien nebst ihrer Vermittlung (MacArthur, 2018; Philipp, 2014; Robledo-Ramón & García, 2018) bleiben aus Platzgründen und wegen der inhaltlichen Fokussierung dieses Buches hier bewusst randständig (s. Philipp, 2017b, S. 102 – 121, für vier Beispiele mit starkem Fokus auf Schreibstrategien).
9
Die drei Beispiele mit Unterstützung durch Apps, die in Teilkapitel 5.4 zur Sprache kommen, werden in Tabelle 20 nicht eigens verortet, weil sie sich in den allgemeinen Merkmalen des Kerns der Strategieanwendung (vermittelt werden die Strategien nicht) strukturell stark ähneln und in den peripheren Merkmalen durchaus markant unterscheiden, dies aber für die darstellerischen Zwecke der Tabelle zu weit führt. Um die Tabelle nicht zu überfrachten, bleiben die drei Beispiele also bewusst ausgespart.
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Beispielansatz mit Nummer und Kurzbeschreibung (Teilkap.)
Kern der Strategievermittlung Phase des angeleiteten Übens
Phase des unangeleiteten Übens / Anwendens
Beispiel 1 – Textinhalte aufbereiten und visualisieren (5.2.1.1)
(+)
–
+
Drei konsekutive Denkblätter zur Sammlung und Einschätzung von Informationen und Quellen
Beispiel 2 – Argumente mit V-Diagrammen ordnen und zusammenfassen (5.2.1.2)
+
+
+
Visualisierung der Argumentstruktur mithilfe eines Denkblatts (V-Diagramm)
Beispiel 3 – Fragen generieren (5.2.1.3)
–
–
+
▶ Blanko-Denkblatt zur Sammlung von Informationen ▶ Beispielfragen verschiedener Art und Funktion
Beispiel 4 – Inhalte mittels SOAR strukturieren (5.2.1.4)
–
+
–
Interimistische Zwischen- und mögliche finale Produkte zur Analyse der erfolgreichen Strategienutzung
Beispiel 5 – widersprüchliche Positionen in narrativen Texten computerunterstützt erkennen (5.2.2.1)
–
+
–
Reduktion der Textmenge auf einen Text, aber Beurteilung textinhärenter Konflikte wie bei multiplen Texten
5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Explizite Vermittlung (inkl. Modellieren)
Peripherie der Strategievermittlung: wichtigste Hilfsmittel
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Beispielansatz mit Nummer und Kurzbeschreibung (Teilkap.)
Kern der Strategievermittlung Explizite Vermittlung (inkl. Modellieren)
Phase des angeleiteten Übens
Phase des unangeleiteten Übens / Anwendens
Peripherie der Strategievermittlung: wichtigste Hilfsmittel
–
–
+
Denkblatt (zwei verschiedene Versionen) zur Sammlung von Informationen
Beispiel 7 – den Einsatz von Strategien an kontrastiven Beispielen selbst rekonstruieren (5.2.2.3)
–
–
–
▶ Beispielprotokolle variierender Qualität der Strategieanwendung als Analysematerial ▶ Denkblatt zur Sammlung von strategiebezogenen Informationen
Beispiel 8 – Websites mit Fragen und Anweisungen systematisch durchprüfen lernen (5.2.2.4)
–
+
–
▶ Umfassende Anleitung mithilfe eines Fragenkatalogs zur Beurteilung von Internetquellen ▶ Übung zur Reihung der Dokumente mit ExpertenFeedback
5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen
Beispiel 6 – eine komplexe Frage mithilfe vieler Dokumente beantworten (5.2.2.2)
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Beispielansatz mit Nummer und Kurzbeschreibung (Teilkap.)
Kern der Strategievermittlung Phase des angeleiteten Übens
Phase des unangeleiteten Übens / Anwendens
Peripherie der Strategievermittlung: wichtigste Hilfsmittel
Beispiel 9 – Dokumentensets in puncto Argumentation analysieren, diskutieren und dann darüber schreiben (5.3.1)
+
+
+
▶ Systematisierende Fragen zur Beurteilung von Dokumentensets ▶ Akronym mit Schritten zum Schreiben des eigenen Texts (ohne Anleitung / Strategievermittlung)
Beispiel 10 – mithilfe einer Tabelle Vergleiche erstellen (5.3.2)
+
–
+
Blanko-Denkblatt (Tabelle) für die Sammlung von Informationen und als Planungshilfe des Schreibens
Beispiel 11 – Argumentationen kooperativ synthetisieren lernen (5.3.3)
(+)
+
–
Lese- und Schreib-Guide als Grundlage für das schriftliche Synthetisieren (für einen Teil der untersuchten Personen)
Beispiel 12 – mit farbigen Zetteln Inhalte sichern und strukturieren (5.3.4)
–
–
+
Online-Tutorial mit kurzem Erklärvideo zum Vorgehen beim Vorbereiten des Schreibens
Tabelle 20: Überblick über zwölf Profile der insgesamt 15 exemplarischen Förderansätze zur Vermittlung und Anwendung von lese- und schreibbezogenen Strategien im Umgang mit multiplen Texten / Dokumenten (Quellen: eigene Darstellung; Legende: + = Merkmal deutlich enthalten, (+) Vermittlung erfolgte in einer der Varianten partiell, in der anderen aber nicht, – = Merkmal nicht enthalten)
5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Explizite Vermittlung (inkl. Modellieren)
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Die Förderansätze dieses Kapitels haben zwar alle spezifische Profile und Zielsetzungen, die zum Teil bereits aus Tabelle 20 hervorgehen, aber sie haben auch eine wichtige Gemeinsamkeit, nämlich ihre Kürze in der Durchführungsdauer, die teilweise darauf zurückgeht, dass es sich um methodisch strenge Studien aus dem Labor handelte, welche naturgemäß eher von kürzerer Durchführungsdauer sind. Wenn also im Folgenden Förderansätze mit insgesamt jeweils recht kurzer Dauer im Zentrum stehen, dann muss noch auf mindestens zweierlei hingewiesen werden. Erstens wurden die hier versammelten Fördermaßnahmen in aller Regel mit leistungsstarken Schülerinnen und Schülern bzw. Studierenden durchgeführt – es handelt sich also um eine Positivauswahl von Personen. Zweitens gibt es durchaus auch längere, curriculare Förderansätze (im schulischen Kontext), in denen die Fähigkeiten im versierten Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten längerfristig erfolgt, darunter auffällig häufig in der Domäne Geschichte (De La Paz & Felton, 2010; De La Paz et al., 2014; Monte-Sano, De La Paz & Felton, 2014; Reisman, 2012a, 2012b). Solche zeitlich längeren Studien, die zudem mehr auf die Belange des Schulfelds abgestimmt sind, enthalten in aller Regel aber Elemente der Strategievermittlung und Hilfsmittel, die auch mindestens teilweise in den 15 folgenden Beispielen vorkommen.
5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren Die Vermittlung und Anwendung von Lese- und Schreibstrategien (zur Definition s. Teilkap. 3.1) steht im Folgenden prominent im Zentrum, und deshalb lassen sich diese Strategien als interne Ressourcen des textbezogenen Problemlösens auch gut im RESOLV-Modell verorten (s. Abbildung 22, welche für die zwölf Beispiele sowohl aus dem Teilkapitel 5.2 als auch aus dem Teil-
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
kapitel 5.3 zur Orientierung dient). Im Kern zielen die Strategien darauf, das Dokumentenmodell als interne Repräsentation der Text-/Dokumenteninhalte kognitiv aufbauen zu können. Hierfür werden bei den internen Ressourcen vor allem zwei Komponenten benötigt: zum einen das Wissen über Strategien (welches nicht immer zwangsläufig explizit vollumfänglich durch die jeweilige Fördermaßnahme vermittelt wird) und zum anderen – darauf aufbauend – die selbstregulatorischen Fähigkeiten bei der Strategieanwendung. Als externe Ressourcen fungieren die als Verortung Teilkap. Strategien Unterstützung intendierten Hilfsmittel verschiedenster(ohne Art undApps) die dazu passenden Materialien in Form der eigens ausgewählten Texte und Dokumente, die zum Strategieeinsatz passen. Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermöglichung; bzgl. „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 16: Verortung der Vermittlung / Nutzung von Lese- und Schreibstrategien als Fördermaßnahmen innerhalb des RESOLV-Modells auf der Basis empirischer Befunde
Die Lesestrategien, die in diesem Teilkapitel mit zwei Foki eingehender betrachtet werden, lassen sich zwei Schwerpunkten zuschlagen:
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
▶ Es gibt zum einen Strategien, die schwerpunktmäßig darauf fokussieren, innerhalb multipler Texte und Dokumente eine übergeordnete Struktur zu erkennen und sie für die Zwecke der Aufgabenbearbeitung zu nutzen (s. Teilkap. 5.2.1) ▶ Zum anderen fokussieren Strategien darauf, (überwiegend) außerhalb des eigentlichen Textes / Dokuments Informationen zur Beurteilung heranzuziehen (5.2.2). Damit weisen die beiden idealtypischen Foki der Strategien eine Komplementarität auf, weil sie trennbare, aber eben auch prinzipiell sehr gut kombinierbare Schwerpunkte besitzen, die im Lichte der Theorie zum Verstehen multipler Texte beiderseits benötigt werden (2.2.1). Aus darstellerischen Gründen werden diese beiden Foki bei den Lesestrategien nacheinander betrachtet. 5.2.1 Fokus 1: Die Organisation und Struktur der Informationen in den Bezugstexten erkennen und nutzen
In diesem ersten Teilkapitel mit Maßnahmen zur Förderung des Erkennens und Nutzens der einzeltextübergreifenden, also intertextuellen Informationsstruktur und -organisation bilden vier konkrete Fördermaßnahmen das Herzstück. Um diese insbesondere mit Studierenden erprobten Fördermaßnahmen geht es: 1. Den Auftakt macht ein Beispiel, in dem Jugendliche Texte mithilfe verschiedener Hilfsmittel analytisch auf- und vorbereiten, um strittige biologische Themen zu klären (s Teilkap. 5.2.1.1). Diese Inhalte wurden in Diskussion besprochen und damit gefestigt. 2. Im zweiten Beispiel (5.2.1.2) lernten Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II, wie sie mittels einer grafischen Unterstützung, dem V-Diagramm, zwei argumentative Texte synthetisieren.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
3. In einem Exempel mit Studierenden wurde ein dritter Förderansatz evaluiert, bei dem die jungen Erwachsenen lernten, auf Tiefenmerkmale der Texte abzielende Fragen zu formulieren, und damit zu einem tieferen Textverständnis gelangten (5.2.1.3). 4. Zentral ist im vierten Beispiel mit Studierenden ein Element der grafischen Anordnung von Informationen aus multiplen Texten, die in Form einer Matrix angeordnet und systematisiert werden (5.2.1.4). 5.2.1.1 Beispiel 1: Texte vorbereiten und das Verhältnis der Informationen zu einer strittigen Frage durch Hilfsmittel visuell aufbereiten
In einer Studie mit leistungsstarken Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse absolvierten die Jugendlichen eine kurze Sequenz von drei Unterrichtslektionen im naturwissenschaftlichen Unterricht (Barzilai & Ka’adan, 2017). Das Thema der Lektionen betraf Ernährung und Gesundheit. Inhaltlich umfassten die kurzen Texte (Durchschnittslänge: 150 Wörter) konfligierende Positionen zum jeweiligen Einzelthema, partiell waren die Texte aber auch inhaltlich neutral. Zum Einsatz kamen ursprünglich digitale Texte, die jedoch aus technischen / logistischen Gründen als analoge Ausdrucke verwendet wurden; auf den Ausdrucken waren Informationen zur Quelle und zur Autorin / zum Autor angegeben. Die Förderung erfolgte innerhalb einer Schulwoche und in zwei Varianten: ▶ Die erste Variante enthielt drei Denkblätter, die als kognitive Hilfsmittel („Cognitive Scaffolds“) bezeichnet wurden. ▶ Die zweite Variante beinhaltete zusätzlich zu den kognitiven weitere metakognitive Hilfsmittel („Metacognitive Scaffolds“), die in der zweiten der drei Lektionen zum Einsatz kamen. Diese Variante wird im Kasten auf Seite 273 vorgestellt.
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Zunächst zur ersten Variante, die rein auf dem wenig angeleiteten Umgang mit den kognitiven Hilfsmitteln basiert. Hier waren drei Schritte zentral, die von den Hilfsmitteln (Denkblättern als Provisorien für Inhalte; Collins & Madigan, 2010) flankiert wurden: 1. Schritt 1: Check die Quellen. (Hilfsmittel / Denkblatt in Tabelle 21) – Arbeitsauftrag: „Beantworte die folgenden Fragen zu jeder Quelle.“ 2. Schritt 2: Beurteile die Zuverlässigkeit der Quellen. (Hilfsmittel / Denkblatt in Tabelle 22) – Arbeitsauftrag: „Beurteile nun die Zuverlässigkeit jeder Quelle. Erläutere, warum du jeder Quelle ihre Beurteilung gegeben hast.“ 3. Schritt 3: Vergleiche die Quellen. (Hilfsmittel / Denkblatt in Abbildung 17) – Arbeitsauftrag: „Stimmen die Quellen überein?“ Die ersten beiden Hilfsmittel in der Tabelle 21 und in der Tabelle 22 dienten als Vorarbeit dazu, Informationen zur Quelle systematisch aufzubereiten und festzuhalten. Nach einer Faktensammlung in dem Hilfsmittel aus Tabelle 21 sollten die Jugendlichen in dem Formular aus Tabelle 22 die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der jeweiligen Quelle einschätzen. Quelle A Wie lautet der Name des Autors / der Autorin? Ist die Autorin / der Autor eine Expertin / ein Experte zum Thema oder zitiert sie / er ExpertInnen? Wurde die Website von einer wohlbekannten Organisation veröffentlicht, die sich auf dieses Thema spezialisiert hat? Was ist der Standpunkt der Autorin / des Autors?
Quelle B
Quelle C
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte Quelle A
Quelle B
Quelle C
Hat die Autorin / der Autor spezielle Absichten oder Interessen, über dieses Thema zu schreiben? Wenn ja: Welche sind es? Wann wurde die Information veröffentlicht? Ist sie aktuell?
Tabelle 21: Schritt 1: Quellencheck (Quelle: Übersetzung von Barzilai & Ka’adan, 2017, Appendix B, S. 1)
Quelle
Zuverlässigkeitseinschätzung
A
sehr geringe Zuverlässigkeit / geringe Zuverlässigkeit / mittlere Zuverlässigkeit / hohe Zuverlässigkeit / sehr hohe Zuverlässigkeit
B
sehr geringe Zuverlässigkeit / geringe Zuverlässigkeit / mittlere Zuverlässigkeit / hohe Zuverlässigkeit / sehr hohe Zuverlässigkeit
C
sehr geringe Zuverlässigkeit / geringe Zuverlässigkeit / mittlere Zuverlässigkeit / hohe Zuverlässigkeit / sehr hohe Zuverlässigkeit
Warum hast du die Quelle so beurteilt?
Tabelle 22: Schritt 2: Zuverlässigkeitscheck (Quelle: Übersetzung von Barzilai & Ka’adan, 2017, Appendix B, S. 2)
Das dritte kognitive Hilfsmittel, das in Abbildung 17 dargestellt ist, hatte andere Funktionen als die vorherigen beiden. Das schlägt sich sowohl in der Form als leeres Schaubild als auch in den Arbeitsaufträgen oben in der Grafik nieder, welche dazu dienen, dass die Jugendlichen sukzessive die Inhalte der einzel-
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
nen Dokumente miteinander kognitiv verbinden und vernetzen. Dabei waren laut Forschungsteam drei Überlegungen leitend für das kognitive Hilfsmittel in Abbildung 17, die mit der äußerlich nachvollziehbaren Präsenz einzelner Elemente zu tun hatten: 1. Die Positionen sollten sichtbar werden. Dazu dienten in der Grafik mehrere Elemente. Ganz oben ist beispielsweise die strittige Frage (die gesundheitlichen Folgen von Sojanahrung für das Herz) explizit formuliert, und direkt unter ihr sind die gegenläufigen Aussagen zu dieser Frage klar benannt (links: nahezu keine Wirkungen; rechts: positive Folgen). Damit nicht genug: Die Abbildung enthält im unteren Teil noch die Möglichkeit, die Positionen der drei Texte zu ergänzen. Dadurch wird die Bildung eines mentalen Modells erleichtert. 2. Die Quellen sollten sichtbar werden. Dies erfolgt in den drei unteren Sprechblasen, die Platz für drei Einträge lassen (eine Erklärung zur Wirkung, Notizen für Beweise sowie die eingeschätzte Glaubwürdigkeit aus Tabelle 22). Arbeitsauftrag 2 aus der Abbildung 17 weist die Jugendlichen ausdrücklich darauf hin, diese Informationen aktiv zu ergänzen. 3. Die Verbindungen sollten sichtbar werden. Ebenfalls werden die Jugendlichen aktiv dazu ermutigt (jeweils durch die Arbeitsaufträge 1 und 3 mit den Pfeilen), die Verbindungen zwischen den Texten des Dokumentensets und der jeweiligen Position herzustellen.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte Stimmen die Quellen überein? 1) Zeichne einen Pfeil von jeder Quelle, die die Behauptung unterstützt. 2) Schreibe eine Erklärung, welche die Quelle für ihre Position gibt, und prüfe, ob sie Beweise für die Erklärung anführt. 3) Prüfe, ob die Quellen übereinstimmen oder einander widersprechen. Zeichne Pfeile zwischen die Quellen, die Übereinstimmung oder Widerspruch kennzeichnen.
Ist der Konsum von Sojaprodukten förderlich für die Herzgesundheit?
Sojanahrung hat fast keine Wirkungen auf die Herzgesundheit.
Sojanahrung ist förderlich für die Herzgesundheit.
Quelle A Erklärung (Warum ist gemäß der Quelle Sojanahrung förderlich oder nicht?)
Beweise (Welche Beweise liefert die Quelle dafür, dass diese Erklärung korrekt ist?) Quelle A Zuverlässigkeit
Quelle C Erklärung (Warum ist gemäß der Quelle Sojanahrung förderlich oder nicht?) Quelle B Erklärung (Warum ist gemäß der Quelle Sojanahrung förderlich oder nicht?)
Beweise (Welche Beweise liefert die Quelle dafür, dass diese Erklärung korrekt ist?)
Beweise (Welche Beweise liefert die Quelle dafür, dass diese Erklärung korrekt ist?) Quelle C Zuverlässigkeit
Quelle B Zuverlässigkeit
Abbildung 17: Schritt 3: Quellenvergleich (Quelle: Übersetzung von Barzilai & Ka’adan, 2017, Appendix B, S. 3)
Die kognitiven Hilfsmittel kamen in zwei Lektionen zum Einsatz, nämlich in der ersten und in der dritten Lektion (in der zweiten gab es eine reguläre Lektion). Bemerkenswert an dem Einsatz der Hilfsmittel ist, dass sie vor allem als Unterstützung des mündlichen, zweistufigen Austauschs dienten: erstens in Form von Diskussionen in Tandems und zweitens in der gesamten Klasse. Nach einer kurzen Einführung durch die Lehrperson erhielten die Jugendlichen die Texte und die kognitiven Hilfsmittel. Die Lehr-
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
person erläuterte kurz die Einsatzmöglichkeiten der drei Hilfsmittel, ehe die Jugendlichen zu zweit über die gelesenen und grafisch aufbereiteten Texte miteinander diskutierten. Die Jugendlichen sollten nach der Diskussion in Tandems eine eigene begründete schriftliche Position zur Frage der Lektion verfassen und sich dabei auf die Texte beziehen. Auf der Basis der geschriebenen Positionen folgte eine klassenweite Diskussion. Die Lehrperson unterstützte diesen Austausch durch Fragen, die sich an die Hilfsmittel anlehnten („Waren die Quellen zuverlässig?“). Die Beiträge der Lehrperson unterstützten und strukturierten den Austausch, waren dabei aber nicht-direktiv, sondern eher zurückhaltend.
Eine Zusatzvariante – kognitive und metakognitive Hilfsmittel in der Kombination Zusätzlich zu der Variante nur mit den kognitiven Hilfsmitteln gab es eine weitere Version, bei der in der zweiten Lektion überdies metakognitive Hilfsmittel zum Einsatz kamen (Barzilai & Ka’adan, 2017). In dieser Lektion ging es darum, die in der Lektion zuvor erlernte Strategie im Umgang mit Texten zu einer kontroversen Thematik zu reflektieren und ihre Zwecke und Einsatzmöglichkeiten zu bestimmen. Dazu wurde zunächst das metakognitive Wissen der Schülerinnen und Schüler durch klassenweit diskutierte Fragen wie jene zum Vorgehen bei Internetrecherchen, sobald konfligierende Informationen vorliegen, aktiviert. Es folgte eine explizite Einführung der Strategie, indem die Lehrperson erläuterte, dass es bei der Anwendung der Strategie darum geht, wichtige Informationen und Details aus multiplen Texten so miteinander zu verknüpfen, dass neues Wissen entsteht. Danach erhielten die Jugendlichen ein Blatt mit drei leeren Boxen zum Beantworten von drei Leitfragen zum Strategiewissen, nämlich zu 1) Anwendungssituationen, 2) Zwecken und 3) Vorgehensweisen:
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
1. 2.
3.
Wann sollte man Informationen aus mehreren Informationsquellen verknüpfen? In welchen Situationen? Warum ist es wichtig, mehrere Informationsquellen miteinander zu verknüpfen? Was sind die Vorteile der Verknüpfung? Was kann passieren, wenn man Informationsquellen nicht miteinander verknüpft? Wie verknüpft man mehrere Informationsquellen? Was sollte man tun, um sie gut miteinander zu verknüpfen?
Die kursiv gesetzten Fragewörter strukturierten die leeren Boxen grafisch. Die Jugendlichen diskutierten in Tandems die Fragen, füllten die leeren Blätter danach für sich allein aus und diskutierten abschließend klassenweit die Fragen miteinander. Die Lehrperson ermunterte diesen Austausch mit vertiefenden Fragen, die sich an den drei Leitfragen orientierten. Am Ende erstellte die Lehrperson gemeinsam mit den Jugendlichen ein Poster mit Antworten zu den Leitfragen, das aufgehängt wurde. Auf dieses Plakat und seine Nutzungsmöglichkeit für die Lektion verwies die Lehrperson am Anfang der dritten Lektion.
Die Wirksamkeitsanalysen demonstrieren, dass sich mit einem Abstand von vier Wochen nach der Förderung Effekte zugunsten der beiden Gruppen (kognitive bzw. kognitive plus metakognitive Hinweise) einstellten: ▶ Jugendliche beider Gruppen wurden besser darin, inhaltliche Positionen aus Texten wiederzugeben und zu begründen, wobei sich beide Gruppen nicht voneinander unterschieden, dafür aber einer Kontrollgruppe überlegen waren. ▶ Bei einem zweiten Maß, nämlich einem Wissenstest zum Umgang mit widersprüchlichen Informationen in Quellen hatten die Jugendlichen aus der Gruppe mit kognitiven und metakognitiven – sprich: beiden – Hilfsmitteln sowohl direkt nach der Förderung als auch nach einer vierwöchigen
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Frist die besseren Testwerte – und zwar sowohl im Vergleich mit der Kontrollgruppe als auch mit der zweiten geförderten Gruppe der Jugendlichen, die nur kognitive Hilfsmittel erhalten hatten. Damit zeigte sich insgesamt ein recht schneller (aber auch überdauernder) Effekt auf Wissensmaße, die eng mit dem Inhalt der zweiten Lektion für die Gruppe mit metakognitiven Hinweisen korrespondieren, und ein zeitverzögerter Effekt für beide geförderten Gruppen auf die Leistungsmaße. 5.2.1.2 Beispiel 2: Mit V-Diagrammen Argumente anordnen und schriftlich zusammenfassen
In einer der nur sehr wenigen Studien aus Deutschland erlernten Schülerinnen und Schüler der elften Klassenstufe in sieben Lektionen eine Lesestrategie mit dem Akronym WAZ zum schriftlichen Zusammenfassen von Argumenten (Spörer, 2013). WAZ steht für die drei Schritte, um die es in der Fördermaßnahme schwerpunktmäßig geht: 1) Wissen aktivieren, 2) Argumente vergleichen und 3) Zusammenfassen der Argumente. Die drei Schritte sind im Einzelnen: 1. Wissen aktivieren. Dieser Schritt dient dazu, anhand der Überschrift eines Bezugstextes zu überlegen, was man zum Thema schon weiß, und zu spekulieren, worum es in dem Text inhaltlich gehen könnte. 2. Argumente vergleichen. In diesem Schritt geht es darum, die Argumente aus den beiden jeweiligen Bezugstexten zu ordnen und miteinander zu verbinden. Zentral dafür war ein grafisches Unterstützungsmittel: das V-Diagramm aus Abbildung 18, das seinen Namen aus seiner Form erhält. Die Logik des Vorgehens beim sukzessiven Ausfüllen des V-Diagramms besteht darin, ausgehend von einer Fragestellung / Thematik (oben in der Mitte der Grafik) sowohl Pro-Argumente (links)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
als auch Contra-Argumente (rechts in der Abbildung) zu sammeln, um am Ende (unten) zu einem Ergebnis zu gelangen. Dieses ursprünglich für das Planen von argumentativen Texten eingesetzte Diagramm wurde insofern erweitert, als mithilfe von Quellenbelegen verdeutlicht wurde, aus welchen Bezugstexten welche Argumente stammten, wodurch die Schülerinnen und Schüler auch die konvergierenden Positionen erkennen sollten. Durch Verbindungen mit Pfeilen und Linien zwischen den Argumenten (sowohl auf einer der beiden Seiten als auch zwischen Pro- und Contra-Seite sollen die semantischen Bezüge klarer werden, mithin das Intertextmodell (s. Teilkap. 2.2.1.1) visualisiert werden. Argumente
Frage
Gegenargumente
Integration Welche Seite ist stärker und warum? Gibt es einen Kompromiss oder eine kreative Lösung?
Abschließendes Fazit Begründung
Abbildung 18: Original-V-Diagramm, das im Schritt „Argumente vergleichen“ der WAZ-Strategie zum Einsatz kam (Quelle: Nussbaum, 2008, S. 552*, beschrieben bei Spörer, 2013)
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
3. Zusammenfassen der Argumente. Der dritte Schritt betraf das schriftliche Zusammenfassen der im Schritt zuvor aufund vorbereiteten Bezugstextinhalte innerhalb eines eigenen Textes mit Einleitung, Hauptteil und Abschluss. Mit diesem Schritt vollzog sich der Schritt vom Lesen zum Schreiben. Die dreischrittige WAZ-Strategie wurde in zwei Phasen eingeführt und geübt (s. Tabelle 23). Die eigentliche Einführung dauerte zwei, die Übungsphase fünf weitere Lektionen. Entscheidend bei der Übungsphase ist, dass hier kooperative (anteilig im Plenum und in Tandems) und individuelle Arbeiten sowohl bei dem Vergleichen und Systematisieren der Argumente als auch beim Schreiben der Zusammenfassung sukzessive ineinander übergingen bzw. aufeinander aufbauten. Phase
Lektion
Inhaltlicher Fokus
Einführung
1
▶ Motivationsklärung: Lehrperson und Schülerinnen und Schüler erarbeiten die Relevanz des Verstehens multipler Texte ▶ Einführung der WAZ-Strategie und Vorstellung des V-Diagramms
2
▶ Lehrperson und Schülerinnen und Schüler erstellen gemeinsam eine Argumentation unter Anwendung der WAZ-Strategie ▶ Aktivierung des Vorwissens zum nächsten Thema
3
▶ Wiederholen der WAZ-Strategie: Schülerinnen und Schüler erklären die einzelnen Schritte der Strategie ▶ Gemeinsames Vergleichen und Systematisieren der Argumente ▶ Paarweises Erstellen der Zusammenfassung ▶ Aktivierung des Vorwissens zum nächsten Thema
4
▶ Wiederholen der WAZ-Strategie ▶ Gemeinsames Vergleichen und Systematisieren der Argumente ▶ Paarweises Erstellen der Zusammenfassung ▶ Aktivierung des Vorwissens zum nächsten Thema
Übung
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte Phase
Lektion
Inhaltlicher Fokus
5
▶ Paarweises Vergleichen und Systematisieren der Argumente ▶ Paarweises Erstellen der Zusammenfassung ▶ Aktivierung des Vorwissens zum nächsten Thema
6
▶ Paarweises Vergleichen und Systematisieren der Argumente ▶ Individuelles Erstellen der Zusammenfassung ▶ Aktivierung des Vorwissens zum nächsten Thema
7
▶ Individuelles Vergleichen und Systematisieren der Argumente ▶ Individuelles Erstellen der Zusammenfassung ▶ Abschließendes Gespräch und Diskussion der Lernzuwächse
Tabelle 23: Überblick über den Ablauf des WAZ-Lesestrategietrainings (Quelle: Spörer, 2013, S. 266, mit leichten sprachlichen Modifikationen)
Die Einführungsphase begann mit einer Erläuterung, wozu die Strategie zum Verstehen multipler – hier: zweier Texte – hilfreich ist, nämlich in Hinblick auf selbstständiges Lernen und für das Studium. Im Anschluss erfolgte ein Modellieren der drei Schritte und ein gemeinsames Erstellen eines V-Diagramms, das die Schülerinnen und Schüler in der zweiten Lektion zusammen mit der Lehrperson für das Schreiben eines ersten Textes nutzten. Die Überleitung in die Übungsphase bildete eine Diskussion über das Thema der nächsten beiden Bezugstexte (jugendliche Gewalttäter). Diese zwei Texte lasen die Schülerinnen und Schüler vorbereitend vor der dritten Lektion. In der Übungsphase wurden in der dritten Lektion zunächst die WAZ-Schritte rekapituliert. Es folgte ein Ausblick auf die kommenden Themen (a) Strafen für jugendliche Gewalttäter, b) Vorratsdatenspeicherung, c) Alkoholkonsum von Jugendlichen, d) Entwicklungshilfe für Afrika und e) Computerspiele). Sodann wurde der zweite WAZ-Schritt besonders fokussiert. Die Argumente wurden im Klassenverbund gesammelt, gewichtet und in
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
ihrer Überzeugungskraft besprochen sowie die verschiedenen Verbindungen untereinander hergestellt. Danach, dies entsprach dem WAZ-Schritt 3, erfolgte ein kooperatives Schreiben eines gemeinsamen zusammenfassenden Textes über die Argumente. Dieses Vorgehen wurde in den Folgelektionen mit allmählich zunehmender individueller Verantwortung für die Strategieanwendung an Bezugstexten zu den oben genannten Themen geübt, wobei die Lehrperson für Fragen zur Verfügung stand und formative Rückmeldungen gab. Trotz der geringen Förderdauer ließen sich in der Studie diverse Effekte feststellen. Zum einen betraf dies zwei motivationale Merkmale der Sekundarschuljugendlichen. Jene hatten nämlich sowohl eine höhere intrinsische Lesemotivation als auch eine stärker ausgeprägte lesebezogene Selbstwirksamkeit. Zum anderen gab es auch positive Effekte auf Leseverstehensmaße in den Texten der Schülerinnen und Schüler, mittels derer der Interventionserfolg erfasst wurde. In ihren Texten gaben die geförderten Schülerinnen und Schüler erstens mehr zentrale Inhalte aus den Bezugstexten korrekt wieder. Zweitens verknüpften die Schülerinnen und Schüler mehr Informationen aus den gelesenen Bezugstexten in ihrem eigenen Text und wechselten – drittens – häufiger zwischen den Inhalten der Texte. Damit ergaben sich bei fünf Variablen im motivationalen und im kognitiven Bereich deutliche Verbesserungen durch die WAZ-Strategie. 5.2.1.3 Beispiel 3: Mithilfe von auf Tiefe abzielenden Fragen Inhalte aus Dokumentensets zusammenführen
Studierende erlernten in einer ungefähr einstündigen Sitzung, bis zu zehn Fragen zu vier historischen Dokumenten aus der Zeit der Wende vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert zu generieren (Cameron, van Meter & Long, 2017*). Bei den vier Dokumenten handelte es sich um zwei Texte (Länge: zwischen
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
290 und 820 Wörtern), eine Fotografie und eine Karikatur. Die Fördermaßnahme wurde computerbasiert durchgeführt (auch die Dokumente wurden digital am Bildschirm gezeigt), das Hilfsmittel in Form der Blanko-Matrix aus Tabelle 24 erhielten die jungen Erwachsenen allerdings als Ausdruck. Diese Unterscheidung in digitale und analoge Elemente des Förderansatzes ist deshalb so bedeutsam, weil die Studierenden nicht die ganze Zeit auf die Texte zurückgreifen konnten, sondern nur für eine Zeit vor dem Generieren der eigenen Fragen Zugang zu den Primärdokumenten hatten. Auf die eigenen Notizen in der Matrix aus Tabelle 24 hatten sie während des Formulierens von dokumentbezogenen Fragen Zugriff.
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Quelle Art des Dokuments
Kontextualisierung Autorin / Autor
Perspektive
Absicht des Dokuments
Hauptinhalte
Tabelle 24: Matrix für die Auswertung historischer Dokumente (Quelle: Cameron et al., 2017, S. 340*)
Wichtigkeit
5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Titel des Dokuments
281
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Die eigentliche Fördermaßnahme bestand aus insgesamt drei aufeinander folgenden und inhaltlich aufbauenden Bestandteilen: 1) einer Identifikation von Fragen, 2) einem instruktionalen Video sowie 3) Beispielfragen als Rahmen. Diese drei Bestandteile sollten insbesondere den Aufbau eines Dokumentenmodells (s. Teilkap. 2.2.1) erleichtern und waren im Einzelnen: 1. Frage-Identifikation: Mithilfe von jeweils zwei exemplarischen Quiz-Fragen sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für zwei Arten von Fragen sensibilisiert werden, nämlich zum einen für rein faktenbasierte Fragen und zum anderen für Fragen, die die Integration von Informationen aus verschiedenen Texten förderten. Jede der beiden Fragen in dem quizartigen Format stand für einen Typus, und die Studierenden sollten jene Frage auswählen, die den zweiten Typus repräsentierte. War die Antwort korrekt, konnten sie zum nächsten Fragen-Paar wechseln. War die Antwort falsch, gab es korrektives Feedback wie dieses: „Diese Frage bezieht sich nur auf einen Einzeltext und zwei Hauptgründe für die industrielle Revolution. Sie vergleicht nicht die Hauptgründe aus verschiedenen Quellen oder verlangt es nicht von dem Leser, verschiedene Gründe aus mehreren Texten zu finden und zu kombinieren.“ 2. Instruktionales Video: Nach dem ersten Teil mit der Identifizierung eines anspruchsvollen Fragetypus’ folgte ein rund fünfminütiges Video, in dem der Wert von solchen kognitiv anspruchsvollen Fragen für historisches Lernen (auch im Kontext einer potenziellen Prüfung) hervorgehoben wurde. 3. Beispielfragen als Rahmen: Ganz am Ende, ehe die Studierenden selbstständig Fragen formulierten, erhielten sie noch Hinweise in Form von exemplarischen Fragen. Solche Fragen waren zum Beispiel: a) Wie unterscheiden sich die Perspektiven bzgl. … und …, und was bedeutet dies? b)
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Wie betrifft … …? c) Wie unterscheidet sich … von der traditionellen historischen Sicht? d) Was sind die Konsistenzen und / oder Inkonsistenzen in den Dokumenten? e) Sind diese Zugänge konsistent mit anderen Zugängen jener Zeit? f) Aus welcher Perspektive können wir dieses historische Ereignis in Anbetracht dieser Zugänge betrachten? Nachdem sie diese Hilfsmittel in einer rein digitalen Lernumgebung absolviert hatten, bearbeiteten die Studierenden das Dokumentenset autonom und formulierten dann ihre eigenen Fragen. Die Ergebnisse zeigten eindeutig: Die geförderten Studierenden formulierten im Leistungstest zur Effektivitätsüberprüfung mehr Fragen, die auf den Vergleich von Informationen aus multiplen Texten abzielten und einen höheren kognitiven Verarbeitungsaufwand erforderten. Damit stellte sich ein positiver trainingsnaher Fördereffekt ein. 5.2.1.4 Beispiel 4: Textinhalte in vier Schritten in eine Matrix-Struktur überführen, verknüpfen und tiefer kognitiv verarbeiten
In einer experimentellen Studie mit Studierenden kam eine Strategie namens SOAR zum Einsatz, wobei das Akronym für die vier Schritte ▶ Selektion (von übergeordneten Kategorien und dazugehörigen Informationen aus den Texten), ▶ Organisation (der Kategorien und Inhalte in Form von Graphic Organizers), ▶ Assoziation (Herstellen von Verbindungen zwischen den Themen und Inhalten) und ▶ Regulation (Verständnisüberwachung, zum Beispiel durch Lernerfolgsfragen zum Thema)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
steht (Daher & Kiewra, 2016*). Diese Strategie war zuvor schon in mehreren anderen Studien erprobt worden (z. B. Jairam & Kiewra, 2010*, oder Jairam et al., 2014*), wurde aber in besagter Untersuchung erstmals auf multiple Texte (als Transfermaterial, mit dem auch der Interventionserfolg festgestellt wurde) appliziert. Bei der SOAR-Strategie geht es im Kern um die Ordnung und Strukturierung von Propositionen aus Texten. Dieser Erkennensund Sortierungsprozess vollzieht sich in mehreren Schritten, was deutlich wird, wenn man die Inhalte aus Tabelle 25, Tabelle 26 und Tabelle 27 eingehender betrachtet, denn diese Tabellen bauen im Sinne von SOAR aufeinander auf: 1. Tabelle 25 enthält drei exemplarische Texte über verschiedene Affen, in denen diverse biologische Fakten die jeweiligen Affenarten/-familien charakterisieren. 2. In Tabelle 26 sind Notizen zu den Inhalten aus den drei Texten versammelt, und für jeden Text / jede Affenart/-familie gibt es eine separate, kontinuierliche Liste von Fakten, wobei diese Fakten schon mit Kategorien wie Größe, Fortbewegungsgeschwindigkeit in Bäumen etc. versehen sind. Entscheidend ist, dass trotz dieser Ordnung mithilfe übergeordneter abstrakter Kategorien die jeweiligen Einzeltexte für sich mit Notizen inhaltlich verknappt sind. 3. In Tabelle 27 ändert sich dies dadurch, dass nun die abstrakten Kategorien als Ordnungsprinzip in den Zeilen der Tabellen fungieren, während die einzelnen Texte (und mit ihnen die darin beschriebenen Affen resp.: die Informationen) vertikal dazu in den Spalten angeordnet werden. Dieses Ordnungsprinzip überführt die Struktur der Informationen aus den Bezugstexten in eine andere, stärker lernförderliche Form (z. B. bei der Ernährung, zu welcher die einzelnen Texte an sehr unterschiedlichen Stellen die entsprechenden Informationen enthalten).
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren Gibbons Gibbons sind geschickt, wenn sie sich in den Bäumen bewegen. Fast keine Jäger können sie fangen. Dieser Affe bewegt sich von einem Baum zum anderen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 35 Meilen pro Stunde. Wegen ihrer geringen Größe ist ihr einziger Schutz, sich bei Konfrontationen hangelnd wegzubewegen. Sie sind etwa zwei Fuß hoch und wiegen rund 20 Pfund. Sie können nicht schwimmen, aber weil sie Allesfresser sind, können sie Pflanzen und Fleisch fressen, sie können in verschiedenen Arealen des Regenwaldes in den Bäumen überleben.
Orang-Utans Orang-Utans wiegen im Durchschnitt 200 Pfund bei einer durchschnittlichen Höhe von fünf Fuß. Sie können sich auf dem Boden mit einer Geschwindigkeit von 15 Meilen pro Stunde bewegen. Nur wenn sie attackiert werden, ist von diesen Allesfressern bekannt, sich in ihren Gruppen zu versammeln und lauten Lärm zu machen, um die anderen zu vertreiben. Obwohl sie dafür bekannt sind, in den Bäumen zu schwingen, verbringen sie die meiste Zeit ihres Lebens auf dem Boden. Ihr Name bedeutet Mensch des Waldes. Sie sind dafür bekannt, sich in der Gruppe um ihre Jungen zu kümmern.
Gorillas Gorillas sind große Affen, die 300 Pfund wiegen und im Durchschnitt sechs Fuß hoch sind. Trotz ihrer Größe attackieren sie selten andere Tiere. Tatsächlich sind Gorillas Pflanzenfresser, die meistens pflanzliches Material fressen. Sie sind trotz ihrer Größe die am wenigsten aggressiven Affen. Wenn ein Eindringling sie stört, können sie sich in ihren Gruppen zusammenfinden, um als Ausdruck ihrer Macht Lärm zu machen. Männchen werden Silberrücken genannt. Sie erreichen etwa zehn Meilen pro Stunde, wenn sie sie sich von Baum zu Baum schwingen, aber sie verbringen ihr Leben mehrheitlich auf dem Boden.
Tabelle 25: Überblick über Übungstexte zum Thema Affen (Quelle: Daher & Kiewra, 2016, S. 11*; Hinweis: Diese Texte wurden als Teil eines Dokumentensets mit zwei weiteren über Schimpansen und Siamangs dazu verwendet, den Interventionserfolg zu erfassen; sie bilden also nicht das eigentliche Übungsmaterial der Studie.)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte Komplette Notizen Gibbons Geschwindigkeit in den Bäumen: 35 Mph Masse: 20 Pfund Größe: 2 Fuß Ernährung: Allesfresser Verteidigung: Hangelndes Flüchten Habitat: Leben in den Bäumen Einzigartige Fakten: ▷ Können nicht schwimmen ▷ Geschickt in den Bäumen Orang-Utans Geschwindigkeit in den Bäumen: 15 Mph Masse: 200 Pfund Größe: 5 Fuß Ernährung: Allesfresser Verteidigung: Machen laute Geräusche in der Gruppe Habitat: Boden Einzigartige Fakten: ▷ Name bedeutet Mensch des Waldes ▷ Gruppe kümmert sich um ihre Jungen Gorillas Geschwindigkeit in den Bäumen: 10 Mph Masse: 300 Pfund Größe: 6 Fuß Ernährung: Pflanzenfresser Verteidigung: Zusammenschluss in Gruppen Habitat: Boden Einzigartige Fakten: ▷ am wenigsten aggressiver Affe ▷ Männchen Silberrücken genannt
Tabelle 26: Vollständige Notizen zu den Inhalten aus den Übungsmaterialien zum Thema Affen (Quelle: Daher & Kiewra, 2016, S. 12*)
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren Gorillas Masse (Pfund):
Orang-Utans
Gibbons
300
200
20
Größe (Fuß):
6
5
2
Geschwindigkeit in den Bäumen (Mph):
10
15
35
Ernährung: Verteidigung:
Habitat: Einzigartige Fakten:
Pflanzenfresser
Allesfresser
Allesfresser
Zusammenschluss in Gruppen mit Lärm
Laute Geräusche in der Gruppe
Hangelndes Flüchten
Boden
Boden
Bäume
▶ am wenigsten aggressiver Affe ▶ Männchen Silberrücken genannt
▶ Name bedeutet Mensch des Waldes ▶ Gruppe kümmert sich um Junge
▶ Können nicht schwimmen ▶ Geschickte Fortbewegung in den Bäumen
Tabelle 27: Matrix-Organisation der Inhalte aus den Übungsmaterialien zum Thema Affen (Quelle: Daher & Kiewra, 2016, S. 12*, mit leichten, singulären Modifikationen)
Die Förderung der SOAR-Strategie bestand in dem Experiment aus einer insgesamt nur halbstündigen Trainingseinheit. Die Bearbeitung der Texte erfolgte dabei digital am Rechner. Die eigentliche Fördermaßnahme war aus vier Bestandteilen aufgebaut: 1. Einführung (Betrachten der Trainingsanweisungen und Überblick über SOAR – Dauer: 2 min): In diesem ersten kurzen Teil der Trainingseinheit wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt, erhielten einen Überblick über SOAR und die vier Schritte, aus denen das Akronym besteht. 2. Passage 1 (Betrachten der SOAR-Demonstration – 5 min): Mit der ersten Textpassage – einem kurzen Text (84 Wörter Länge) über das Thema Symbiose mit drei kurz be-
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
schriebenen Formen der Symbiose – wurde SOAR in der Anwendung vorgestellt. Die Studierenden sahen neben dem Text auch ein komplettes Set von Notizen nebst einer Matrix zu den Informationen. Damit umfasste dieses erste Beispiel im Grunde das, was in Tabelle 25 – 27 für drei Affen enthalten ist, freilich in einer Variante zu nur einem Thema und nur einem Kurztext. Hinzu kamen aber noch – für die beiden letzten Schritte der SOAR-Strategie Assoziation und Regulation – weitere Hinweise. Für die Assoziation wurden textbasierte Verbindungen zwischen den Themen aufgeführt, die im Beispiel der Affen aus den drei Tabellen auf der Basis von intertextuellen Vergleichen etwa lauten können, dass die Geschwindigkeit in den Bäumen im Zusammenhang mit der Masse und Größe der Affen steht. Eine andere Form der Assoziationen bezieht sich auf die Verknüpfung von textinternen Informationen mit außerhalb der Texte befindlichen Wissensbeständen. Externe Assoziationen könnten am Beispiel der Affen-Texte Vergleiche der Körpergröße mit dem Menschen oder der Vergleich der Nachwuchsaufzucht mit anderen Tieren sein. Für die Regulation wurden Fragen gezeigt, die der Lernerfolgskontrolle dienen können. Solche Fragen können zum Beispiel sein: Wie groß sind Gibbons? Oder: Welche Affen fressen Pflanzen? 3. Passage 2 (SOAR-Strategie üben und dabei paralleles Feedback erhalten – 8 min): Nach der Analyse der Schritte an einem Beispiel mit dem Symbiose-Text wurde in diesem Teil des Experiments von den Studierenden verlangt, selbst aktiv zu werden und eigene Notizen und Fragen anzufertigen. Geübt wurde dies mit einem Text (116 Wörter) über das psychologische Erforschen von Tierverhalten, und die Forschungsansätze wurden aus der Perspektive zweier Psychologen geschildert. Die Studierenden lasen den Text, fertigten
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Notizen an, ordneten die Notizen in ihrer Matrix an, stellten in- und externe Verbindungen zwischen den Fakten her und formulierten Fragen zur Regulation des Lernens. Zu ihren eigenen Notizen und Fragen erhielten sie als Feedback Musterlösungen. Dieses Feedback bekamen sie nach jedem einzelnen der vier SOAR-Schritte, also parallel (bzw. richtiger: leicht zeitversetzt) zum eigenständigen Bearbeiten des Textes. 4. Passage 3 (SOAR-Strategie üben und am Ende Feedback erhalten – 15 min): Im letzten Teil, welcher sowohl zeitlich als auch vom Textumfang her – das Textmaterial bestand aus einem Einzeltext (505 Wörter) über vier Wildkatzen – am umfassendsten ausfiel, absolvierten die Studierenden alle vier Schritte wieder selbstständig, allerdings ohne Unterbrechung. Ein Feedback in Form einer Musterlösung zu allen vier SOAR-Schritten konnten die Studierenden am Ende dieses Teils abrufen. Mit dieser Vorbereitung bearbeiteten die Studierenden im Anschluss ein Set von fünf digitalen, über eine nachgestellte Suchmaschine miteinander verknüpften Sachtexten zu fünf Affen (Textlänge: jeweils 280 Wörter). Im Vergleich mit Studierenden, die bei den oben genannten vier Schritten keine Anweisungen erhielten, sondern nach ihren eigenen Vorlieben vorgingen und mit ihren eigenen typischen Strategien die Texte bearbeiteten, erwiesen sich die mit SOAR geförderten Studierenden in diversen Maßen zum Teil sehr deutlich überlegen. Konkret wurde der Erfolg der Fördermaßnahme mittels mehrerer Merkmale erhoben: 1) den Hilfs- und Zwischentexten der Studierenden bei der Aufgabenbearbeitung, 2) Leistungsmaßen in Texten und 3) Einschätzungen des Strategienutzens. In allen drei Merkmalskategorien ergab sich eine Überlegenheit, und zwar am deutlichsten in den ersten beiden:
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1. Die Hilfs- und Zwischentexte, die ausgewertet wurden, stammten aus der Phase der Testung mit fünf Texten über Affen, die weiter oben in Tabelle 25 dargestellt sind, und sind nichts anderes als strukturierte Notizen. In diesen hatte die SOAR-Gruppe a) mehr Inhalte aus den Texten notiert, b) diese Inhalte stärker (SOAR-Matrix-konform) angeordnet, c) stärker miteinander verknüpft und ferner d) mehr lernförderliche Fragen formuliert. 2. In den Leistungsmaßen, die mittels verschiedener (geschlossener und offener) Fragen das Verständnis der gelesenen Texte erfassten, schnitten die SOAR-Studierenden ebenfalls besser ab – insbesondere bei jenen besonders anspruchsvollen Fragen, die eine Verknüpfung verschiedener Informationen für die richtige Lösung erforderten. 3. Bei den Einschätzungen des Strategienutzens war die Befundlage gemischter, dennoch berichteten die SOAR-Studierenden, in Zukunft die neu erlernte Strategie stärker einsetzen zu wollen. 5.2.2 Fokus 2: Den Umgang mit Quelleninformationen für den Aufbau von Intertextmodellen schulen
Einen aktuellen Forschungsüberblick zum Umgang mit Quelleninformationen („Sourcing“) im lesenden Umgang mit multiplen Dokumenten hat ein Forschungsteam aus Norwegen vorgelegt (Brante & Strømsø, in press). Dabei ging es dem Forschungsteam um Interventionsstudien, die sich damit befasst hatten, bei Heranwachsenden verschiedener Altersgruppen die Fähigkeiten zu fördern, Merkmale der Quellen zu identifizieren und mental zu repräsentieren, um den Inhalt und die Relevanz von Dokumenten mit Blick auf den Leseauftrag vorherzusagen, zu interpretieren und einzuschätzen. Es handelte sich also um eine recht breit gefasste Fähigkeit, die gerade nach der einflussreichen
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Publikation von Wineburg (1991, s. Teilkap. 3.3.1) in der Scientific Community breite Aufmerksamkeit erfahren hat. Gleichwohl fanden die Forscher aus Norwegen nur insgesamt 18 Studien aus den Jahren 2002 – 2016, in denen Kinder ab Klassenstufe 4 bis hin zu Studierenden gefördert wurden (Brante & Strømsø, in press). Von diesen fast 20 Studien seien vier in diesem Teilkapitel besonders hervorgehoben, weil sie zum einen eine breite Altersgruppe bei den geförderten Personen – von der späten Primarstufe bis hin zu Studierenden – betreffen und zum anderen niederschwellig und mit geringem Zeitaufwand funktioniert haben. Sämtliche dieser Untersuchungen widmeten sich inhaltlich kontroversen Themen aus dem Bereich Umwelt und Gesundheit. Die Besonderheiten der vier empirischen Beispiele sind im Einzelnen: 1. Im Beispiel 5 mit Viert- und Fünftklässlern lernten die Kinder in insgesamt drei kurzen Durchgängen, textinterne Hinweise zur Beurteilung zu erkennen und für die Inhaltszuordnung und Begründung der Glaubwürdigkeit zu nutzen. Davon profitierten schwach lesende Kinder besonders stark (s. Teilkap. 5.2.2.1). 2. Beispiel 6 mit digitalen Texten, die Neuntklässler mit außertextuellen Hinweisen verbanden, zeigt, dass es möglich ist, dadurch die korrekte Zuordnung von Hauptaussagen zu einzelnen Quellen zu verbessern und auch die Zuverlässigkeit von Internetdokumenten angemessener einzuschätzen (5.2.2.2). 3. Das Beispiel 7 mit einem anders gelagerten Förderansatz setzte darauf, dass junge Erwachsene der Sekundarstufe II fremde Vorgehensweisen beim Umgang mit Texten aus dem Internet analysierten und diskutierten, ehe sie selbst getestet wurden (5.2.2.3).
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
4. Beispiel 8 schließlich mit Studierenden verwendete eine ausführliche Anleitung, mittels derer die geförderten jungen Erwachsenen in einem Experiment digitale Texte gezielt prüften, ihre Analyseergebnisse festhielten, begründeten und zum Teil Feedback erhielten (5.2.2.4). Das Prinzip der Reihung über Alter und Bildungsetappen ergibt, dass die in den vier Beispielen gewählten und beschriebenen Fördermaßnahmen hinsichtlich ihrer Komplexität und ihren kognitiven Anforderungen zunehmen. 5.2.2.1 Beispiel 5: Wie belastbar sind Aussagen in kurzen narrativen Texten?
In einem Experiment wurden die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (späte Primarstufe und frühe Sekundarstufe I, Kl. 4 und 5) in einer Interventionsstudie zum Einbezug von Quelleninformationen geschult (Macedo-Rouet et al., 2013). Die Förderung des Einbezugs von Quellen von Äußerungen erfolgte allerdings – mit Blick auf die Verstehensfähigkeiten dieser Altersgruppe – anhand einzelner kurzer, narrativer Texte (max. 190 Wörter), in denen Charaktere unterschiedlicher Meinung waren. Damit unterscheidet sich diese Fördermaßnahme von den anderen in diesem Band auffällig dadurch, dass zum einen die quellenbezogenen Informationen nicht außerhalb des eigentlichen Textes zu lokalisieren waren und es zum anderen jeweils auch nur einen Text als jeweiliges Übungsmaterial gab. Die Förderung erfolgte in Gruppen von acht, in ihren Leistungen vergleichbaren Kindern, und jedes Kind arbeitete während des Experiments an einem eigenen Computer. Die Kinder absolvierten in einer insgesamt 40-minütigen Förderung insgesamt fünf Schritte, drei der fünf Schritte mehrfach, nämlich
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
die Schritte 3 – 5 jeweils zwei weitere Male. Die Schritte waren im Einzelnen: 1. Der erste Schritt diente der Einführung in die Thematik, indem beispielsweise das Ziel der Lektion (kurze Texte mit verschiedenen Meinungen zu lesen und zu verstehen) verkündet wurde. Hinzu kam, dass die Kinder gezielt aufgefordert wurden, darüber nachzudenken, wem sie bei verschiedenen Meinungen warum folgen bzw. nicht folgen. Dadurch sollten sie sensibilisiert werden für die Quelle der geäußerten Meinung. Als vertiefendes Beispiel diente eine fiktive Situation, bei der entweder eine Lehrperson oder aber die Leiterin des Experiments zur Gestaltung der Schulwoche einen Ratschlag geben sollte. Dabei wurde mit den Kindern erarbeitet, dass eine Lehrperson für diese Frage mehr Expertise hat als die Leiterin des Experiments und deshalb vertrauenswürdiger ist. 2. Nach diesem Einstieg lasen die Kinder einzeln und für sich an einem Computermonitor im zweiten Schritt kurze Texte wie diesen:
„Autos oder öffentliche Verkehrsmittel? Motorfahrzeuge sind ein Grund der Luftverschmutzung. Einige Menschen denken, dass die Leute ihre Gewohnheiten ändern und mehr den öffentlichen Verkehr nutzen sollten. Zum Beispiel denkt Herr Lefort, der Direktor eines Forschungslabors zur Luftverschmutzung, dass es ‚nur eine Angelegenheit der Gewohnheit ist. Meistens benutzten die Leute, die in der Stadt leben, ihr Auto ohne Grund. Sie könnten auch einfach den Bus nehmen. Das würde die Verschmutzung und weltweite Erwärmung verringern.‘
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Aber Frau Dubreuil, eine Dame, die in der Stadt lebt, stimmt nicht zu. ‚Ich selbst habe ein kleines Auto, das nicht viel Benzin verbraucht, gerade weil ich nicht schnell fahre. Deshalb hätte es keinen Sinn für mich, einen Bus zu nutzen. Außerdem würde es im Vergleich zum Auto eine Zeitverschwendung sein.‘“ (Quelle: Macedo-Rouet et al., 2013, S. 226)
Nach dem Lesen beantworteten die Kinder Fragen wie diese am Rechner: 1) Wer denkt, dass die Leute einen Bus nutzen sollten? 2) Wer hat das meiste Wissen über Luftverschmutzung in dieser Geschichte und warum? Dieser zweite Schritt dauerte fünf Minuten. 3. Im dritten Schritt kam es zu Diskussionen über das Thema des gelesenen Textes sowie die Anzahl, Namen und Ansichten der Charaktere in dem Text. Insbesondere ging es darum, warum es einen inhaltlichen Konflikt gab. Alle Kinder waren gefragt, sich aktiv zu beteiligen, damit für alle das Ziel dieser Aktivität erreicht wurde, die Charaktere und deren Meinungen korrekt identifiziert zu haben. 4. Der vierte Schritt widmete sich dem unterstellten Wissen der Charaktere. Die Kinder sollten erklären, wen sie warum für wissender hielten. Dabei ging es in diesem Schritt auch darum, was es heißt, dass jemand eine bessere Quelle ist. Die Kinder sollten außerdem erklären, wie sie den in dem kurzen Text beschriebenen Konflikt lösen würden und welcher Charakter warum mit seiner Meinung richtig lag. 5. Im fünften Schritt gab es eine Diskussion über die gelesenen Texte sowie Hinweise seitens der Experiment-Leiterin, sich auf die Quellen von Meinungen zu beziehen. Die Bearbeitung von zwei weiteren Texten am Computerbildschirm wiederholte im Anschluss, was im ersten Durchgang ein-
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
geführt worden war. Die Kinder lasen Texte mit konfligierenden Meinungen, beantworteten Fragen, diskutierten darüber, wer was warum und wie gut begründet geäußert hatte. Nach dieser sehr kurzen Fördermaßnahme wurden die Kinder sofort im Anschluss getestet, die Auswertung erfolgte separat danach, wie gut die Kinder in einem allgemeinen Lesetest abgeschnitten hatten – deshalb gab es Auswertungen für besser und schlechter lesende Kinder. Die Ergebnisse zeigten, dass nur schwächer lesende Kinder von der Förderung profitierten (Brante & Strømsø, in press; Macedo-Rouet et al., 2013). Sie konnten zum einen inhaltliche Aussagen korrekter den Charakteren in den Texten zuordnen. Zum anderen konnten sie in Multiple-Choice-Tests die Vertrauenswürdigkeit von Charakteren exakter bestimmen. Dass gerade die schwach lesenden Kinder von der Förderung im Vergleich stärker profitierten, hatte übrigens weniger mit der Anlage des Förderansatzes zu tun als damit, dass die besser lesenden Kindern auch ohne Förderung gut in den Tests abschnitten. Sie waren gewissermaßen zu erfolgreich für diese spezielle Art der Förderung. 5.2.2.2 Beispiel 6: Wie gefährlich ist Handystrahlung? Digitale Quellen benennen und Informationen aus ihnen sammeln
In einer Studie mit deutschen Neuntklässlern wurden den Jugendlichen eine Vorauswahl von neun Websites mit Texten einer Länge von 150 bis 350 Wörtern Länge vorlegt (Kammerer, Meier & Stahl, 2016). Die Texte wurden in einem Browser mitsamt der zugehörigen URL und den jeweiligen Namen der Websites angezeigt. In den verschiedenen digitalen Texten ging es um das Thema Mobiltelefone und die Gesundheitsgefahren, die von Strahlen aus den Geräten stammen. Die neun Texte entfielen in Bezug auf ihren Ursprung auf vier Kategorien von eigens für das
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Experiment hergestellten Quellen und wurden im Experiment in gemischter Reihenfolge präsentiert: 1. Eine Website stammte von einem kommerziellen Anbieter. Dieser proklamierte, dass Strahlungen von Mobiltelefonen definitiv gefährlich seien, und offerierte einen Chip für das Mobiltelefon, um sich mithilfe des Chips vor der gesundheitsgefährdenden Strahlung zu schützen. 2. Zwei Websites kamen von wissenschaftlichen Institutionen wie dem Deutschen Krebsforschungsinstitut. 3. Drei Websites fußten auf Texten von populären Online-Zeitungen. 4. Drei Quellen waren privater Provenienz, z. B. Blogs. Anders als die Website des kommerziellen Anbieters einte die anderen drei Quellen-Kategorien inhaltlich, dass sie bzgl. der Strahlengefahr weitaus moderatere Positionen vertraten und insbesondere auf den Mangel an wissenschaftlichen Studien verwiesen. Die Jugendlichen erhielten in der Studie den Auftrag, sich mithilfe der digitalen Texte über den ungeklärten Status der Gesundheitsgefährdung durch Mobiltelefone zu informieren und sich dafür schriftliche Notizen zum wichtigsten Inhalt jeder Website zu machen. Dazu erhielten sie – je nach Gruppenzugehörigkeit im Experiment – eines von zwei Hilfsmitteln in Form eines auf DIN-A3-Papier ausgedruckten Blattes mit einer Blankotabelle: ein Blatt mit Hinweisen und eines ohne. Das Blatt mit Hinweisen (s. Abbildung 19) unterschied sich von seinem Pendant ohne Hinweise in zweierlei Hinsicht: Erstens gab es direkt vor, wie viele der neun Websites auf die vier verschiedenen Quellen-Kategorien entfielen. Zweitens erhielten die Jugendlichen auf dem Blatt einen Hinweis darauf, den Namen der jeweiligen Website in einer Zeile über der Zeile mit den einzutragenden Hauptinhalten zu notieren. Die Blankotabelle beim Blatt ohne Hinweise bestand
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
hingegen nur aus einer Sammlung von neun leeren Zellen. Es gab keine weiteren Hinweise zur Nutzung des Hinweisblattes für die Aufgabenbearbeitung und -lösung. Strahlung von Mobiltelefonen und potenzielle Gesundheitsrisiken Websites von privaten Personen (z. B. Blogs, Foren, …) Name der Website:
Name der Website:
Name der Website:
Websites von wissenschaftlichen Institutionen (z. B. Institute, Organisationen, …) Name der Website:
Name der Website:
Kommerzielle Websites (z. B. Shops, Werbung, …) Name der Website:
Journalistische Websites (z. B. Zeitungen, Zeitschriften, …) Name der Website:
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte Strahlung von Mobiltelefonen und potenzielle Gesundheitsrisiken Name der Website:
Name der Website:
Abbildung 19: Hilfsmittel zur Einschätzung von Website-Quellen mit Hinweisen in Form der Quellen-Kategorien und zum einzutragenden Namen der Website (Quelle: Darstellung gemäß Kammerer et al., 2016, S. 56)
Gemessen an der Kürze der Fördermaßnahme – die Bearbeitung dauerte insgesamt lediglich 40 Minuten, also keine ganze Schulstunde – waren die Effekte in der Gruppe mit Hinweisen auf dem Blatt mit Tabelle teils beachtlich (Brante & Strømsø, in press; Kammerer et al., 2016). Besonders hoch waren sie bei der Fähigkeit, sich an die Namen der Websites zu erinnern, gefolgt von der korrekten Zuordnung von Kernaussagen zu den einzelnen Websites. Außerdem beurteilten die Jugendlichen aus der Gruppe mit Hinweisen die kommerziellen und journalistischen Websites als weniger glaubwürdig als jene Jugendlichen ohne Hinweise. Bei zwei Befunden spielte die miterfasste basale Lesefähigkeit eine Rolle: Je besser Jugendliche darin waren, desto mehr Websites konnten sie aus der Erinnerung anführen und als desto unglaubwürdiger stuften sie die kommerzielle Website ein. 5.2.2.3 Beispiel 7: Den Umgang mit Internetdokumenten stellvertretend kennenlernen und anwenden
Akademisches Neuland beschritt man in einer Interventionsstudie aus Norwegen mit Jugendlichen im letzten Schuljahr (Kl. 13; Braasch et al., 2013). Neuland ist insofern zutreffend, als sich der
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Förderansatz als ausschließlich induktiv bezeichnen lässt, weil die jungen Erwachsenen in der Studie anhand kontrastierender stellvertretender Beispiele im Umgang mit Texten selbstständig eine gelingende Lesestrategieanwendung an konkreten Beispielen rekonstruieren mussten. Deshalb ist auch im Teilkapitel 5.1 in Tabelle 20 keines der Kern-Merkmale mit dem Prädikat „enthalten“ versehen. Zentral für die Förderung waren insgesamt jeweils vier Bestandteile in drei Modulen, sämtliche dieser Bestandteile wurden als Papierausdrucke zur Verfügung gestellt: 1. Der erste Bestandteil war ein Kurzauszug eines Internetdokuments (mit vorgängigem Titel sowie Quelleninformationen), der auf die Frage Antwort gab, ob die Verwendung von Mobiltelefonen für den Nutzer / die Nutzerin ein Gesundheitsrisiko darstellt. Diese Kurzauszüge waren zwischen 70 und 190 Wörtern lang und wurden zusätzlich von Quelleninformationen flankiert. Im Titel der Dokumente waren die Wörter „Gesundheit“ und „Mobiltelefonnutzung“ explizit enthalten. 2. Den zweiten und dritten Bestandteil bildeten zwei fiktive Strategieprotokolle eines besseren und eines schlechteren Umgangs mit dem Internetdokument, die rechts vom Kurzauszug standen (jeweils mit A und B gekennzeichnet; Länge 790 – 820 Wörter). Die Schülerinnen und Schüler erhielten zwar keinen Hinweis darauf, welches Beispiel für welche Variante stand. Allerdings bekamen die jungen Erwachsenen den mündlichen Hinweis, dass es Unterschiede gab und eines der Beispiele für einen besseren Schüler und das andere Beispiel für einen schlechteren Schüler stand. Die Reihenfolge der beiden Beispiele wechselte. Wichtig ist noch, dass das erste Modul zwei Paare von Strategieprotokollen enthielt (also insgesamt vier Protokolle), und das zweite und dritte jeweils zwei.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
3.
4.
Zunächst zum besseren, kritischeren Schüler-Protokoll: Dies enthielt fortgeschrittene Vorgehensweisen im Umgang mit Texten. Diese Vorgehensweisen bezogen sich auf vier Merkmale der Quelle: a. deren Autorin / dessen Autor, b. die Art des Dokuments, c. den Publikationsort und d. das Datum der Publikation. Die Protokolle beinhalteten Sätze zur Einschätzung eines Quellenmerkmals (z. B. „Ich beginne mit der Autorin, um zu sehen, ob sie sachkundig bei dem Thema ist“), Sätze zur Verbindung der Einschätzung eines Quellenmerkmals mit der übergeordneten Fragestellung (z. B. „Eine Krebsärztin hat diesen Text geschrieben, also kennt sie sie sich mit dem Thema aus“) sowie am Ende eine Zusammenfassung, wie die verschiedenen Quellenmerkmale die übergeordnete Glaubwürdigkeit eines Dokuments betreffen. Das jeweils schlechtere, unkritischere Schüler-Protokoll ging im Vergleich kaum bis gar nicht auf Quellenmerkmale ein und orientierte sich beispielsweise an Oberflächenmerkmalen wie dem reinen Vorhandensein von Schlagwörtern im Titel als Grundlage für die Belastbarkeit des Dokuments. Bestandteil vier war ein Blanko-Blatt mit einer Tabelle und Arbeitsaufträgen in Form von Fragen. Das Blatt enthielt eine vierspaltige Tabelle, in deren Kopf vier Arbeitsaufträge das Vorgehen der Schülerinnen und Schüler steuerten: a. Was war die Strategie? b. Verwendete sie Schüler A oder B? c. Ist das eine gute oder eine schlechte Strategie? d. Erkläre, warum dies eine gute oder eine schlechte Strategie beim Umgang mit Texten aus dem Internet ist.
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Die eigentliche Förderung der jungen Erwachsenen fand innerhalb einer 60-minütigen Lektion statt, in der die drei Module mitsamt ihren Materialien das Herzstück bildeten. Die Lektion war aus drei aufeinanderfolgenden Bestandteilen aufgebaut, die nachstehend erläutert werden: 1. Einführung (5 min): Die Lektion begann mit einer klassenweiten Diskussion darüber, welche Strategien im Umgang mit mehreren aus dem Internet stammenden Dokumenten nützlich sind. Danach ging es um besser und weniger gut geeignete Strategien im Umgang mit den Dokumenten. Ziel dieser ersten Aktivität war eine Sensibilisierung für den strategischen Umgang mit Internetdokumenten allgemein. Dabei hielten sich die Lehrpersonen mit Werturteilen gezielt zurück und moderierten die Diskussion lediglich. 2. Arbeit an den drei Modulen (25 min – Modul 1: insg. 15 min, Module 2 und 3: je 5 min): Den sich anschließenden Kern der Arbeit mit den Modulen leiteten die Lehrpersonen ein, indem sie annoncierten, dass die Schülerinnen und Schüler in der Folge mit jeweils zwei Vorgehensweisen im Umgang mit Internetdokumenten zur Frage der möglichen Gesundheitsschädigung durch Mobiltelefone konfrontiert würden. Die Schülerinnen und Schüler sollten die beiden strategischen Vorgehensweisen genau miteinander vergleichen und insbesondere darauf achten, was der bessere Schüler anders macht als der schlechtere. Der Nutzen dieses Vergleichs für die sich am anderen Tag anschließende Testung wurde den Schülerinnen und Schülern ebenfalls explizit mitgeteilt. Nun erhielten die Schülerinnen und Schüler Ordner mit den Inhalten aus den drei Modulen sowie zwei Textmarker (grün und rot). Die Schülerinnen und Schüler bearbeiteten zunächst das erste Modul mit einem Internetdokument und den zwei
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gelungenen und zwei kritisch zu bezeichnenden Vorgehensweisen. Dazu lasen sie die Texte, markierten die gelungenen Strategien mit dem grünen Textmarker und die weniger gelungenen mit dem roten Textmarker. Sodann widmeten sie sich dem Blatt mit der Tabelle, trugen dort in die erste Spalte einzeln die Strategie aus den Protokollen ein, ordneten sie in Spalte zwei dem jeweiligen fiktiven Schüler (A oder B) zu und klassifizierten und begründeten in der dritten und vierten Spalte, ob und warum sie die Vorgehensweise für günstig / ungünstig hielten. Mit dieser Vorbereitung, die im ersten Modul zehn Minuten umfasste, starteten die Schülerinnen und Schüler eine Diskussion mit einer Sitznachbarin bzw. einem Sitznachbarn, um im Konsensverfahren die insgesamt bessere Vorgehensweise zu küren. Die Schülerinnen und Schüler waren explizit dazu ermuntert worden, in der vierten Spalte weitere Begründungen aus der Diskussion mit ihrem Gegenüber festzuhalten. Das zweite und dritte Modul absolvierten die Schülerinnen und Schüler dann im Anschluss in Stillarbeit in jeweils fünf Minuten. 3. Sammlung und Ausblick (10 – 15 min): Die letzte Aktivität in der Lektion, die wieder im Klassenverbund stattfand, führte die von den Schülerinnen und Schülern in den Notizen und Partnerarbeit erarbeiteten Lösungen in einer dreispaltigen Tabelle an der Tafel zusammen. Die Lehrperson sammelte in den drei Spalten (begründete) Lösungen zu den Fragen, a. was gute, kritische Lesestrategien sind, b. warum sie es sind und c. wie man sie bei der anstehenden Testung am Folgetag anwenden kann. Die Befunde zu der eben beschriebenen Maßnahme im Vergleich zu nicht derlei geförderten Schülerinnen und Schülern sprechen für die induktive Vorgehensweise (Braasch et al., 2013;
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Brante & Strømsø, in press). Erstens verwendeten die geförderten jungen Erwachsenen im Vergleich mit den nicht-geförderten in einer Transferaufgabe in schriftlichen Texten über ein geografisches Phänomen mehr wissenschaftliche Konzepte. Diese Aufgabe basierte auf sechs zu lesenden, unterschiedlich nützlichen Dokumenten aus dem Internet. Zweitens konnten sie nach dem Schreiben die sechs Dokumente nur anhand der Titel und Quelleninformation besser hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit für die Aufgabenstellung des zuvor geschriebenen Textes in eine Reihenfolge bringen. Drittens konnten sie in Ergänzung zur Reihungsaufgabe auch besser mit den Quellenmerkmalen (AutorIn, Erscheinungsort und -datum sowie Dokumentenart) argumentieren, also jenen Quellenmerkmalen, auf die die Intervention abzielte. Die Effekte zur Einschätzung der Internetdokumente waren insgesamt größer als jene zur Verwendung wissenschaftlicher Konzepte in der Schreibaufgabe. 5.2.2.4 Beispiel 8: Hinweise zur Beurteilung und Reihung von Websites umsetzen
Innerhalb eines Experiments mit einer Laufzeit von einer Stunde lasen Studierende, die einer Experimentbedingung namens SEEK (Source, Evidence, Explanation, Knowledge – Quelle, Belege, Erklärung, Wissen; Wiley et al., 2009*, s. a. Graesser et al., 2007*) zugewiesen worden waren, sechs Websites am Bildschirm. Dafür erhielten sie diverse Hinweise, nämlich zum einen eine umfangreiche allgemeine Erklärung mit Kriterien für die Quellenbeurteilung samt Denkblättern (im Original als Arbeitsblatt bezeichnet). Zum anderen absolvierten sie eine komplexe Aufgabe, in welcher sie die gelesenen Internetdokumente in Bezug auf deren Zuverlässigkeit reihten und dazu Feedback für eine abschließende Reflexion erhielten.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Der erste Teil mit der allgemeinen Erklärung beinhaltete eine umfassende, im Folgenden nahezu komplett wiedergegebene Anleitung samt einem Denkblatt für jede der sechs Websites, welches die Studierenden bearbeiteten und ausfüllten: Menschen konsultieren häufig Quellen, die sie im Internet finden, um an Informationen zu gelangen. Wie Sie wissen, ergibt eine Suche im Internet mehrere Seiten, die man betrachten könnte. Diese Studie behandelt, wie man entscheidet, welche Seiten man nutzt. Welche Seiten man verwendet, hängt davon ab, was man tun möchte. In dieser Studie möchten wir, dass Sie entscheiden, welche Websites dafür am besten geeignet sind zu entscheiden, ob die Atkins-Low-Carb-Diät eine gesunde oder schädliche Diät ist. Wir haben sechs Websites gesammelt, die das Ergebnis einer Google-Suche waren, die wir mit „Low-Carb-Diäten“ durchgeführt haben. Wir möchten, dass Sie jede lesen, um zu entscheiden, welche Websites für diese Aufgabe nützlich sind und Ihnen zu verstehen hilft, ob eine Diät mit wenig Kohlenhydraten gesund oder schädlich ist. Sich für zu verwendende Seiten zu entscheiden, hängt von der Beurteilung ab, wie zuverlässig oder vertrauenswürdig sie sind. Es gibt diverse Dinge, die man bei der Nützlichkeit einer Seite berücksichtigen sollte: Wer ist der Autor? Wie zuverlässig ist die Information? Wie gut erklärt die Seite die Information? Unten stehen einige Ideen, die dabei helfen, diese Fragen zu beantworten. Wer ist der Autor / die Autorin? ❶ Können Sie herausfinden, wer der Autor / die Autorin ist? Ist die Person, die Informationen liefert, jemand, der zu dem Thema Wissen hat? ❷
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Sie können dies anhand verschiedener Hinweise herausfinden. Ein Hinweis sind die Informationen, die über den Autor / die Autorin vorhanden sind, welche Ausbildung die Person hat, was ihr gegenwärtiger Beruf ist. Manchmal kann man das an der Institution erkennen, der die Website oder die Autorin / der Autor zugehört (z. B. Nationales Gesundheitsinstitut, Fitness-Center-Gesellschaft). Die Zugehörigkeit ist manchmal in einem Logo oder einem Copyright-Hinweis auf der Website angezeigt. Schließlich lässt Sie die URL (Webadresse) wissen, ob diese Seite eine profitorientierte Gesellschaft ist (.com), eine Bildungsinstitution (.edu), eine von der Regierung unterstützte Site (.gov) oder eine (Non-Profit-) Organisation (.org oder .net). Was ist deren Motivation? ❸ Etwas über den Autor / die Autorin zu wissen ist wichtig, weil Autorinnen und Autoren häufig spezifische Programme haben, die sie stärken wollen. Häufig wollen Websites den Leserinnen und Lesern Waren und Dienstleistungen verkaufen oder Spenden von ihnen erhalten. Um das zu erreichen, liefern sie nur den Teil der Informationen, der ihre Verkaufsziele unterstützt. Oder sie verwenden auf der Website Bilder, die emotionale Reaktionen hervorrufen. Einige Seiten haben politische Programme. Wenn Sie die Informationen auf der Seite lesen, nutzen Sie die Informationen über die Autorin / den Autor und die Seite, um die Motivation, mögliche Verzerrungen und Absichten der Autorin / des Autors bzw. der Anbieter der Seite zu rekonstruieren. Sie können die Motivation des Autors / der Autorin auch dadurch bestimmen, indem Sie über das angestrebte Publikum der Seite nachdenken. Wie zuverlässig ist die Information? Basiert die Information auf wissenschaftlichen Belegen? ❹ Informationen, die durch einen wissenschaftlichen Prozess gewonnen wurden, können als akkurater behandelt werden als
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
persönliche Meinungen, Überzeugungen und Anekdoten. Gibt es wissenschaftliche Belege für Behauptungen? Werden wissenschaftliche Zeitschriften mit Peer-Review zitiert? Wirken diese Informationen von informierten Wissenschaftlerinnen / Wissenschaftlern als vermutlich gut beurteilt? Werden ähnliche Informationen in zuverlässigen Quellen wiederholt? ❺ Wenn verschiedene Websites oder Autoren / Autorinnen dieselbe Information wiederholen, ist sie vermutlich akkurater, als wenn die Seiten oder die Autorinnen / Autoren sich widersprechen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Websites mit den übereinstimmenden Informationen Institutionen zugehören, die vertrauenswürdig erscheinen. Wenn eine Information auf einer Seite anderen Seiten widerspricht, die Sie für vertrauenswürdig halten, dann liegt es nahe, dass die neue Information nicht zuverlässig sein könnte. Berücksichtigen Sie außerdem, ob die Darstellung komplett ist oder ob Informationen fehlen, die andere zuverlässige Quellen erwähnen. Wie gut erklärt die Seite die Informationen? Können Sie anhand der berichteten Informationen verstehen, wie der Prozess funktioniert? ❻ Für viele wissenschaftliche Informationen ist bei nützlichen Websites ein weiteres wichtiges Kriterium, wie gut die Seite Dinge erklärt. Passt die Erklärung zu Ihren wissenschaftlichen Vorkenntnissen oder anderen zuverlässigen Websites? ❼ Gerade wenn Websites vertrauenswürdig wirkenden Institutionen zugehören, sollten Sie prüfen, ob jede Interpretation wissenschaftlicher Belege so passt, dass sich eine kohärente Erklärung eines wissenschaftlichen Prozesses oder Phänomens generieren lässt.
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
In diesem Paket gibt es ein Denkblatt zu jeder Seite mit diesen sieben Fragen über die Zuverlässigkeit. Bitte lesen Sie die erste Seite (Atkins’ Ernährung: Startseite) und füllen Sie Ihre Antworten auf die Fragen im ersten Denkblatt aus. […] (Quelle: Wiley et al., 2009, S. 1098 f.*, Hervorh. im Orig. mit sprachlichen Anpassungen)
Die sieben durchnummerierten Fragen (❶ – ❼) aus dem Text weiter oben waren Gegenstand eines weiteren Denkblatts, welches die Studierenden wie erwähnt parallel zum Lesen ausfüllten. Als sie damit fertig waren, sollten sie die sechs Websites in eine Reihenfolge hinsichtlich ihrer eingeschätzten Zuverlässigkeit bringen und ihre Urteile begründen. Danach erhielten sie als Feedback einen Vergleich der eigenen Reihung mit einer von zehn (hypothetischen) Experten (s. Tabelle 28). Um den Vergleich zu intensivieren, lenkten im Anschluss vier Fragen (unter Tabelle 28) gezielt die Aufmerksamkeit. Die Fragen bezogen sich sichtbar auf die Reihung der Urteile von Expertinnen und Experten und fokussierten die Nuancen bei den Urteilen über die Belastbarkeit einzelner Quellen im gesamten Set aller sechs Internet-Dokumente. Der Urteilsvergleich nebst Hinweisen gestaltete sich wie folgt: Hier ist wieder Ihre Reihung und wie in einer Befragung 10 Experten diese Seiten gereiht haben. Betrachten Sie bewusst die Unterschiede zwischen Ihrer und deren Reihenfolge und denken Sie darüber nach, warum sie die Seiten unterschiedlich beurteilt haben.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Expertenreihung
Ihre Reihung
Website
5
1
Atkins’ Ernährung: Startseite Lernen Sie mehr darüber, warum Atkins funktioniert. Klicken Sie hier. … lesen Sie diesen Artikel. Dr. Atkins’ Gewicht: Die Wahrheit. Am Tag, an dem er hinfiel, wog Dr. Atkins 195 Pfund … http.//www.atkins.com/ – 3k – Feb 28, 2004
2
2
BW Online | April 8, 2003 | Zählen Sie Kalorien, nicht Kohlenhydrate … populäre Diäten mit wenig Kohlenhydraten haben wieder einmal bewiesen, dass es so etwas nicht gibt … Atkins’ Diäten erzeugten eine riesige Industrie an Büchern, Diäthilfen, … www.businessweek.com/ techonology/ content /apr2003 /tc2003048_5670 _tc024.htm – 79k
4
3
Weightwatchers.com … keine und Low-Carb-Diäten … Atkins … machen Sie Kohlenhydrate zum Teil ihres gesunden Abnehmprogramms … www.weightwatchers.com/truthaboutcarbs.html – 86k
1
4
Wirksamkeit und Sicherheit von Diäten mit wenig Kohlenhydraten: ein systematischer Überblick … JAMA. 2003 Apr 9;289(14):1837 – 50. Wirksamkeit und Sicherheit von Diäten mit wenig Kohlenhydraten, welche die populäre Atkins… Bravata DM, Sanders L … http://jama.ama-assn.org/ cgi/ content /full /289 /14 /1837–42k
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5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren
Expertenreihung
Ihre Reihung
Website
6
5
Warum Sie die Aktins-Diät probieren sollten: mein persönlicher Erfolg … … Ich las Dr. Atkins’ Neue Diätrevolution and probierte seinen Ansatz … www.geocities.com/ tinayke/ atkinsdiet.html – 26k
3
6
Atkins-Diät Alert / Ein medizinisches Komitee für verantwortungsvollen … AtkinsdietAlert.org, für Ärzte und Laien mit Fragen und Bedenken zu stark-proteinhaltigen, Atkins-artigen Diäten inklusive Register, in dem Diätpatienten … www.atkinsdietalert.org/ – 12k – Feb 28, 2004
Tabelle 28: Überblick über die Feedback-Komponente in der SEEKFördermaßnahme (Quelle: Wiley et al., 2009, S. 1100*; je höher die Position einzelner Websites innerhalb der Reihung der sechs Websites war, als desto zuverlässiger wurden sie beurteilt)
Um Ihnen dabei zu helfen, darüber nachzudenken, beantworten Sie bitte die folgenden vier Fragen: 1. 2. 3. 4.
Warum haben die Experten die Seite mit der Werbung für am wenigsten vertrauenswürdig gehalten? Warum haben die Experten die JAMA-Seite als zuverlässigste beurteilt? Warum wurde Business Week als weniger zuverlässig beurteilt als JAMA, aber zuverlässiger als Atkins-Diät Alert? Warum wurde „Wahrheit über Kohlenhydrate“ von WeightWatchers.com als weniger zuverlässig gereiht als Business Week, aber zuverlässiger als Atkins.com?
(Quelle: Wiley et al., 2009, S. 1100*, mit sprachlichen Anpassungen)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Die Ergebnisse dieses Experiments sind deutlich: In einer Aufgabe, in welcher die Studierenden weitere Websites zu einem anderen Thema und Themengebiet lasen und einen eigenen Text herstellten, verwendeten Sie mehr Inhalte korrekt. Damit stellten sie einen vergleichsweise hohen Transfer her. Außerdem konnten sie bei der Überprüfung des Interventionserfolgs zuverlässige Websites besser reihen und ihre Urteile besser begründen. Prozessbezogene Daten, die über das Navigationsverhalten gewonnen wurden, zeigten außerdem, dass die SEEK-Studierenden im Vergleich zur Kontrollgruppe mehr belastbare Websites konsultierten. Die Kontrollgruppe hingegen ging weniger gezielt vor. Damit zeigte sich sowohl in produkt- als auch in produktbezogenen Variablen eine zum Teil deutliche Überlegenheit des SEEK-Förderansatzes.
5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben – wenn Lese- und Schreibstrategien interagieren Das materialgestützte Schreiben ist als Konzept bereits implizit Gegenstand gewesen, nämlich dort, wo es darum ging, auf der Basis des gelesenen Materials, also Texten und Dokumenten, eigene (Sach-)Texte zu verfassen (s. Teilkap. 3.2, 4.2.2.1). Die Begrifflichkeit materialgestütztes Schreiben ist im deutschsprachigen Raum hingegen – insbesondere im deutschdidaktischen Diskurs – noch relativ neu. Hinsichtlich der konkreten Fördermaßnahmen liegen im deutschsprachigen Raum entsprechend zurzeit noch wenige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vor, etwa in Form von ▶ Übersichtsarbeiten (Philipp, 2017b), ▶ Aufgabensammlungen für das Schulfeld (s. Feilke et al., 2016, und Ausgaben der „Praxis Deutsch“, H. 251 / 2015 [Abraham,
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
Baurmann & Feilke, 2015] sowie 262 / 2017 [Feilke & Tophinke, 2017]), ▶ ersten empirischen Befunden zum Vorgehen von Sekundarschuljugendlichen bei der Aufgabenbearbeitung (Schüler, 2017) und nicht zuletzt ▶ grundsätzlichen Diskussionen zu verschiedenen Teilthemen rund um das materialgestützte Schreiben (s. die Debattenbeiträge in den Heften 42 und 43 der Fachzeitschrift „Didaktik Deutsch“ aus dem Jahr 2017). International ist man schon daran, Förderansätze zu evaluieren. Vier dieser Förderansätze werden im Folgenden vorgestellt: 1. In einem ersten hier beschriebenen Exempel, dem Beispiel 9, wurde mithilfe von Argumentationsschemata Jugendlichen die Fähigkeit vermittelt, historische Dokumente kritisch zu analysieren, mit anderen Jugendlichen zu diskutieren und am Ende einen eigenen Text zu verfassen (Teilkap. 5.3.1). 2. Das nächste Beispiel 10 (5.3.2) ist dem Schreiben vergleichender Sachtexte gewidmet. Der Förderansatz stellt eine Tabelle ins Zentrum, in welcher gelesene Inhalte festgehalten und geordnet werden, um dann im Schreibprozess verarbeitet zu werden. 3. Wieder der Domäne Geschichte lässt sich das Beispiel 11 in Teilkapitel 5.3.3 zuordnen. In ihm lernten Jugendliche mithilfe eines Förderansatzes, wie sie Argumente synthetisieren können. 4. Mit Studierenden schließlich arbeitete ein Forschungsteam, dessen Fördermaßnahme als Beispiel 12 am Ende dieses Teilkapitels präsentiert wird (5.3.4). Hierin ging es um das Verfassen eines synthetisierenden Forschungsberichts. Mittels farbiger Zettel wurden dabei Inhalte aus Texten festgehalten und in einem nächsten Schritt zu Textbausteinen verarbeitet.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
5.3.1 Beispiel 9: Historische Primärtexte lesen, mittels Fragen analysieren, mit anderen darüber diskutieren und dann selbst eine Argumentation schreiben
Im Bereich des materialgestützten Schreibens ist eine Arbeitsgruppe rund um Susan de la Paz seit Jahren tätig und hat diverse sorgfältige Studien dazu in der Domäne Gesellschaftswissenschaften / Geschichte vorgelegt (z. B. De La Paz & Felton, 2010; De La Paz et al., 2014; Monte-Sano et al., 2014). In einer aktuellen Untersuchung mit Sechst- und Siebtklässlern wurde ein Förderansatz evaluiert, in welchem mittels Diskussionen das Schreiben eines eigenen argumentativen Textes vorbereitet wurde (Wissinger & De La Paz, 2016; De La Paz & Wissinger, 2017). Die Förderung erfolgte in drei Blöcken mit je einer Woche Länge und darin jeweils fünf Lektionen. Das Fördermaterial bestand aus einem Dokumentenset pro Woche. Das jeweilige Dokumentenset wurde zu einem von drei historischen Themen vorbereitet (a) Indianer-Umsiedlungsgesetz, b) Mexikanisch-Amerikanischer Krieg, c) Tonkin-Zwischenfall). Pro Dokumentenset gab es vier Dokumente, nämlich zwei historische Primärdokumente (z. B. eine Rede eines US-amerikanischen Präsidenten zum Umsiedlungsgesetz und eine Aussage von Missionaren aus der damaligen Zeit), einen Sekundärtext mit Hintergrundinformationen zur historischen Materie sowie eine Frage zum Thema (wie „Hatte die Regierung der USA das Recht, die Cherokee-Indianer von ihrem Land zu entfernen?“). Die Texte aus den Dokumentensets waren im Durchschnitt 210 Wörter lang. Der Ablauf jeder Woche war grundsätzlich ähnlich strukturiert. Die wöchentliche Förderung der Jugendlichen sah eine Erkundung der jeweils wochenaktuellen historischen Themen vor, bei der Lesen, Diskutieren und Schreiben interagierten und aufeinander aufbauten:
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
▶ In den ersten beiden Lektionen der Woche lieferten die Lehrpersonen Hintergrundwissen zu dem kontroversen historischen Thema der Woche, indem sie die wichtigsten historischen Personen, Hauptereignisse, Themen der Zeit und Fachwörter einführten. Außerdem bereiteten sie den Umgang mit den Primärquellen vor, der auf der Beantwortung von fünf Fragen (s. u.) basierte. ▶ In der dritten und vierten Lektion änderten sich der unterrichtliche Fokus und die Sozialform: Statt wie bislang im Gesamtklassenverbund arbeiteten die Jugendlichen in Kleingruppen (à sechs bis acht Personen), um zu diskutieren. ▶ In der letzten Lektion der Woche schrieben die Jugendlichen ihren eigenen Text, wobei ihnen in den ersten beiden Wochen ein Hilfsmittel zur Verfügung stand. Zentral für die Fördermaßnahme war der Umgang mit Argumenten, die sich aus den Inhalten der Dokumentensets rekonstruieren ließen. Entsprechend lernten die Jugendlichen zunächst zwei Argumentationsschemata (mithilfe der und an den Primärquellen) genauer kennen. Das erste Schema bezog sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Konsequenzen sich aus gegebenen Sachverhalten ergeben. Das zweite Schema betraf die Meinung von Expertinnen und Experten, deren Aussagen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Belastbarkeit durch das Stellen kritischer Fragen geprüft werden sollten. Für beide Schemata, die die Schülerinnen und Schüler dazu benötigten, aufgrund der multiplen gelesenen Texte später eine eigene Argumentation zu schreiben, wurden insgesamt fünf Fragen genutzt, welche die Lehrpersonen vor allem zu Beginn der Fördermaßnahmen grundsätzlich mithilfe des Modellierens, also des gezielten didaktisierten Demonstrierens der Anwendung, einführten und sich später auf sie stützten. Die Fragen zum Autoren als Experten / zur Autorin als Expertin waren diese:
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
1. Ist der Autor / die Autorin ein Experte / eine Expertin zum historischen Thema? 2. Ist er / sie eine zuverlässige Quelle? 3. Basiert das, was der Autor / die Autorin sagt, auf fundierten Belegen (z. B. fußen die Aussagen auf Zugängen aus erster oder zweiter Hand)? Zusätzlich zu den eben geschilderten ersten drei Fragen zur Autorin / zum Autor gab es zwei weitere, die sich mit den Konsequenzen befassten: 1. Was sind die guten bzw. schlechten Konsequenzen, diese Entscheidung bis zum Ende durchzuführen? 2. Was sind die guten bzw. schlechten Folgen von …? Diese fünf Fragen wurden für jedes einzelne Dokument in klassenweiten Diskussionen beantwortet, wobei die Antworten der Schülerinnen und Schüler an der Tafel gesammelt wurden und die Jugendlichen parallel Notizen für sich selbst verfassten. Mithilfe der Fragen wurden die Positionen der Autorinnen bzw. Autoren der Quellen und der sich daraus ergebenden Konsequenzen der Ereignisse sukzessive mit Blick auf die übergeordnete historische Fragestellung des Dokumentensets allmählich rekonstruiert. Auf diese Weise wurde zunächst das eine, dann das andere Dokument gelesen, diskutiert und auf- sowie vorbereitet. In den Gruppendiskussionen wurden dann die Dokumente jeweils einzeln durchgesprochen, um sie kognitiv tief zu durchdringen und die Inhalte angemessen zu repräsentieren. Mit diesen Vorbereitungen in den ersten vier Lektionen einer Woche schrieben die Schülerinnen und Schüler in der fünften Lektion einen eigenen analytischen argumentativen Text, der die Frage aus dem Dokumentenset beantworten sollte. Dazu gab es wie erwähnt übergangsweise eine Hilfestellung in Form des
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
Akronyms DARE nebst dessen zugehörigen Hinweisen, welches für die ersten beiden Schreibanlässe zur Verfügung stand: ▶ Develop a stance about the controversy – Entwickle einen Standpunkt zur Kontroverse; ▶ Add evidence from the documents to support your stance – Ergänze Belege aus den Dokumenten, um deinen Standpunkt zu unterstützen; ▶ Rebut arguments from the other-side – Entkräfte die Argumente der Gegenseite; ▶ End by restating your stance – Beende den Text mit einer Wiederholung deines Standpunkts. Beim Schreiben selbst hatten die Schülerinnen und Schüler Zugriff auf das komplette Dokumentenset, ihre Notizen und partiell auf die DARE-Hilfestellung. Das Schreiben des eigenen Textes wurde abgesehen von der DARE-Hilfestellung nicht mit einer eigenen Strategievermittlung in der Domäne Schreiben unterstützt. Die Ergebnisse der Interventionsstudie fallen insofern gemischt aus, als es nicht überall statistisch auffällige Vorteile zugunsten der Experimentalgruppe gab. Das könnte damit zu tun haben, dass zum einen zusätzlich zu der beschriebenen Fördermaßnahme eine weitere als Kontrollbedingung durchgeführt wurde, die eine große Ähnlichkeit hatte. Zum anderen wurde allgemein ein sehr strenges Studiendesign genutzt. Beides mag dafür verantwortlich sein, dass es am Ende vier Variablen waren, in denen sich eine Überlegenheit der mit den beiden Argumentationsschemata geförderten Gruppe niederschlug: erstens in einem Wissenstest zu den Inhalten der in der Interventionsphase gelesenen Texte, in der Fähigkeit, zweitens stichhaltige Belege in eigenen Texten anzuführen und drittens in diesen Texten auch andere, der eigenen Argumentation widersprechende Argumente zu verwenden. Viertens zeigten sich Vorsprünge auch in einem
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
schulischen Leistungstest auf der Basis multipler Texte, den die Schülerinnen und Schüler acht Wochen nach der Fördermaßnahme regulär im Geschichtsunterricht schrieben. 5.3.2 Beispiel 10: Themen in eigenen Texten miteinander vergleichen lernen10
In einer Studie mit Siebt- und Achtklässlern wurde den Jugendlichen in einer Sequenz von sechs Lektionen binnen drei Wochen beigebracht, wie sie vergleichende Texte schreiben können, in denen sie Informationen aus Ursprungstexten weiterverarbeiteten (Kirkpatrick & Klein, 2009). Dabei profitierten die Sekundarschuljugendlichen hinsichtlich der Textqualität, und das traf vor allem auf jene Jugendlichen zu, deren Schreibkompetenz zu Beginn der Studie als schwach galt. In der Studie ging es darum, dass die Jugendlichen anhand eines mnemotechnischen Akronyms (im Original: IAPN für „I Am Planning Now“/„Information, Aspect, Paragraph, Number“) die Arbeitsschritte erlernten, die bei einem Hilfsmittel – einer Tabelle mit verschiedenen Funktionen (s. Tabelle 29) – nötig waren. Dabei entsprachen die Anfangsbuchstaben des Akronyms den Wörtern in den Spalten.11
10
11
Der in diesem Teilkapitel beschriebene Förderansatz ist eine gekürzte und leicht bearbeitete Version der schon veröffentlichten Beschreibung aus Philipp, 2017b, S. 109 – 113. Mit diesem Vorgehen greift der Förderansatz das auf, was im Beispiel 4 in Teilkapitel 5.2.1.4 für die SOAR-Strategie bereits beschrieben wurde (s. dort insbesondere die Tabelle 27 auf S. 287 , die sich strukturell gut in die Logik der Tabelle 29 überführen lässt).
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben Number
Paragraph
Aspect
Information Text 1
Information Text 2
Tabelle 29: Exemplarische, unvollständige Blankotabelle zum Vorbereiten des materialgestützten Schreibens (Quelle: nach Kirkpatrick & Klein, 2009, S. 314, leichte Modifikationen in den beiden rechten Spalten zur Verdeutlichung der Herkunft der Informationen aus den beiden Bezugstexten)
Bei Tabelle 29 ist wichtig, dass sie bezogen auf das Lesen von rechts nach links ausgefüllt wurde, um dann im Schreibprozess von links nach rechts vorzugehen. Diese Logik ergibt sich daraus, dass durch das Lesen Informationen zunächst einmal außen rechts aufgenommen und danach durch transformierende Abstraktions- und Organisationsvorgänge in eine günstige Reihung überführt werden. Wie dies in einem authentischen Beispiel ausgesehen hat, zeigt Abbildung 20, in der es um einen Vergleich von Schwarz- und Eisbären ging.
Abbildung 20: Authentisches ausgefülltes Beispiel der Tabelle 29 zum Vergleich von Schwarz- und Eisbären (Auszug; Quelle: Kirkpatrick & Klein, 2009, S. 314)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Die Umsetzung der Förderung erfolgte in insgesamt sechs Lektionen mit folgendem Aufbau: 1. In der ersten Lektion führte die Lehrperson die Strategie allgemein ein. Sie beschrieb außerdem, welche Zwecke und Struktur vergleichende Sachtexte haben. Dabei verwies sie auf die Notwendigkeit, dass Schreiberinnen und Schreiber, welche solche Texte verfassen, viel planen sollten. Im Anschluss an diese Einführung lasen die Jugendlichen in Tandems hinsichtlich der Makrostruktur prototypisch gut bzw. weniger gut gelungene Beispiele von vergleichenden Sachtexten, deren Hauptteile mit den einzelnen verglichenen Themen sie beurteilten und bewerteten. In der gesamten Klasse wurde danach zusammengetragen und gesichert, zu welchen Urteilen die Tandems gelangt waren. Mit einer genaueren Lenkung auf die Themen, die in den Beispieltexten verglichen wurden, wurden die Jugendlichen auf Makropropositionen und deren strukturierende und für die Textqualität wichtige Funktion sensibilisiert. Die Jugendlichen sollten nämlich die Differenzen zwischen den Texten danach bestimmen, wie günstig die themenbezogenen Vergleiche erfolgten. Die erste Lektion endete mit der Einführung des Akronyms IAPN und der dazugehörigen Eselsbrücke; beides sollten sich die Jugendlichen einprägen, was im Nachgang immer wieder aufgegriffen wurde. 2. Die zweite Lektion begann damit, dass das Akronym und die Eselsbrücke aufgegriffen wurden. Danach modellierte die Lehrperson, wie sie – ausgehend von zwei Texten – die drei äußeren rechten Spalten der Tabelle 29 ausfüllte. Zunächst beobachtete die Klasse das Vorgehen, wurde allerdings zügig einbezogen, indem die Lehrperson auf einer Folie mit dem Ausfüllen fortfuhr und die Jugendlichen sie nun dabei unterstützten, indem sie ergänzten, welche Inhalte die Lehr-
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
person aufschreiben sollte. Im Anschluss daran waren die Jugendlichen selbst gefragt, die drei Spalten selbstständig auszufüllen. Die Lektion endete mit einem erneuten Überblick über Akronym und Eselsbrücke. 3. Genau mit diesem (Rück-)Blick auf das Akronym und die Eselsbrücke begann die dritte Lektion. Es folgte – analog zur ersten Lektion – ein Vergleich von zwei unterschiedlich gut geglückten vergleichenden Sachtexten. Im Anschluss daran modellierte die Lehrperson, wie sie die Absatz-Spalte in Tabelle 29 ausfüllte. Mit diesem Vorgehen vollzog sich der Schritt hin zur Planung des Schreibens, indem die gelesenen Inhalte nun den zukünftigen Absätzen zugeordnet wurden. Analog zur Lektion zuvor füllten die Jugendlichen die Spalte selbstständig aus, und die Lektion schloss mit einem Rückblick auf Akronym und Eselsbrücke. 4. In der vierten Lektion wurde die letzte Spalte, jene mit der Nummer, adressiert. Die Lektion begann damit, dass die Lehrperson nunmehr zum dritten Mal ihr Vorgehen modellierte, indem sie zeigte und erklärte, wie sie zur Nummerierung von einzelnen Absätzen gelangte. Die Jugendlichen vervollständigten dann selbstständig ihre eigene Nummerierung. Es folgte ein zweites Modellieren, bei dem die Lehrperson demonstrierte, wie sie anhand der Spaltennummerierungen, der übergeordneten Absatz-Themen, der Einzel-Themen sowie der Einzelinformationen aus den Originaltexten den Hauptteil ihres vergleichenden Textes schrieb. Die Jugendlichen taten es im Anschluss der Lehrperson selbstständig nach. Die Lektion endete mit einem erneuten Rückblick auf das Akronym und die Eselsbrücke. 5. Die fünfte Lektion widmete sich den einleitenden und abschließenden Absätzen, die bislang noch kein Thema waren. Dazu lasen und diskutierten die Jugendlichen verschiedene Varianten mehr oder minder gelungener Absätze. Danach
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
modellierte die Lehrperson das Vorgehen beim Schreiben eines einleitenden bzw. eines abschließenden Absatzes, wobei sie die Tabelle 29 als Ressource nutzten, um die Makrostruktur des Textes zu explizieren. Die Jugendlichen schrieben danach ihre eigenen Einleitungs- und Schlussabsätze. Damit entstand durch eine hochgradige Sequenzierung von Lektion zwei bis fünf ein eigener Text pro Schülerin und Schüler. 6. Dies griff die letzte, sechste Lektion auf, in der die Jugendlichen abschließend eigenständig einen eigenen vergleichenden Text im Sinne des materialgestützten Schreibens produzierten. Das Beispiel des eben geschilderten Förderansatzes zeigt, wie sich Lese- und Schreibprozesse mithilfe einer Tabelle, die als Denkblatt provisorische Inhalte aufnimmt, fördern lassen. Die Spalten „Information“ und „Aspect“ dienen im Sinne einer Organisationsstrategie dazu, Inhalte aus den beiden Bezugstexten zu systematisieren. Aus Sicht der Schreibstrategien handelt es sich hierbei um das Generieren von Inhalten. Die Spalten „Paragraph“ und „Number“ helfen dann dabei, mittels Zwischen- und Hilfsprodukten die Inhalte zu organisieren und in einen Schreibplan zu überführen, den man dann im Schreibprozess absolviert und zur metakognitiven Kontrolle dafür nutzen kann, zwischen Schreibplan und (entstehendem) Textprodukt zu vergleichen und ggf. zu revidieren. Die Ergebnisse der Interventionsstudie demonstrierten, dass die mittels IAPN-Strategie geförderten Jugendlichen sich in ihrer Schreibkompetenz, operationalisiert über die Textqualität bei vergleichenden Texten, verbesserten. Das traf insbesondere für jene Schülerinnen und Schüler zu, die vor der Förderung zur leistungsschwächeren Hälfte beim Schreiben zählten. Außerdem schlug sich die Förderung auch in Schreibplänen nieder, die in
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
der IAPN-Gruppe nach der Förderung sehr deutlich den Konventionen der Textstruktur folgten bzw. in ihrer Funktion als Zwischentexte diese Textstruktur vorbereiten sollen. Damit war – wie bei der inhaltlich ähnelnden SOAR-Strategie aus Beispiel 4 (s. Teilkap. 5.2.1.4) – ein Effekt nicht nur im Leistungsmaß, sondern auch in Hilfstexten, also in den Notizen festzustellen. 5.3.3 Beispiel 11: Argumentationen zu kontroversen Themen in kooperativen Schreibsettings synthetisieren lernen
Aus der Domäne Geschichte stammt eine Studie mit Neuntklässlern, welche in fünf Lektionen Nettoförderzeit lernten, kontroverse Themen aus Argumentationen in eigenen Texten als Synthese zusammenzufügen (González-Lamas, Cuevas & Mateos, 2016). Das Textmaterial bestand in den Lektionen aus drei bzw. zwei Dokumentensets mit jeweils zwei Texten mit einer Länge zwischen 560 und 590 Wörtern. Diese Texte enthielten sechs Pro-Argumente und zwei Gegenargumente einer Position, etwa zum Thema Todesstrafe. Getestet wurden in der Vergleichsstudie zwei einander ähnelnde und auch ähnliche effektive Fördermaßnahmen: ▶ Die erste Fördervariante fokussierte vor allem kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung und bestand aus drei Komponenten: 1) explizite Vermittlung von Wissen zu argumentativen Texten, 2) kooperatives Üben in Tandems und 3) formatives Feedback zu Schreibprodukten und -prozessen. ▶ Die zweite Fördervariante nahm noch folgende zwei Komponenten hinzu und ergänzte damit die kognitiven Prozesse um metakognitive Prozesse – vor allem der Selbstregulation: 4) das Modellieren des Vorgehens und 5) eine für diese Schreibaufgabe entwickelte Hilfestellung in Form von Hinweisen zum Vorgehen („Lese- und Schreib-Guide“).
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Die zweite Variante war also hinsichtlich der Förderelemente insofern verdichtet, als bei konstanter Förderdauer mehr Bestandteile für die Lese- und Schreibförderung genutzt wurden. Die drei bzw. fünf Komponenten waren im Einzelnen: 1. Explizite Vermittlung von Wissen zu argumentativen Texten. In der ersten der fünf Lektionen vermittelte die Lehrperson den Jugendlichen deklaratives Wissen über argumentative Texte zum einen und prozedurales Wissen über Texte, die andere argumentative Texte zusammenfassen, zum anderen. Damit standen sowohl die Merkmale des textuellen Ausgangsmaterials als auch der eigenen zu schreibenden Texte im Vordergrund. Zunächst zu den argumentativen Texten: Hier vermittelte die Lehrperson Wissen zu Eigenschaften der Textsorte wie a) typischen Merkmalen, b) Strukturen von Argumentationen, c) Arten von Argumentationen und d) typischen Fehlern beim Schreiben von Argumentationen. Darauf baute der Teil der Lektion auf, in dem es um die Synthese von Inhalten aus Texten ging, die sich inhaltlich widersprechen. Die Lehrperson vermittelte hier neben deklarativem vor allem prozedurales Wissen, das sich auf die Auswahl relevanter Informationen aus den Bezugstexten, dessen Elaboration mit eigenen Gedanken, die Integration von verschiedenen Argumenten aus einzelnen Texten sowie das Formulieren eines eigenen Resümees bezog. 2. Kooperatives Üben in Tandems. In diesem zeitlich umfassendsten Block verfassten die Jugendlichen zu zweit Texte. Die Gruppe des ersten Förderansatzes absolvierte vier, die des zweiten Förderansatzes drei Lektionen mit dem kooperativen Üben. Während die erste Gruppe auf der Basis der in der Prätestung verwendeten Bezugstexte Feedback zum ersten eigenen Text vor der eigentlichen Förderung erhielt und danach einen zweiten Text kooperativ verfasste, absol-
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
vierte die zweite Gruppe eine Lektion mit dem Modellieren. Damit unterschieden sich die beiden Gruppen zunächst vor allem in dem, was in der zweiten Lektion geschah. Die Lektionen drei bis fünf waren dann allerdings wieder vergleichbar. In den Lektionen drei und vier schrieben die Jugendlichen kooperativ eine Synthese zweier Bezugstexte auf der Basis von prozess- und produktbezogenem Feedback (s. u., Aufzählungspunkt 3). In der fünften Lektion verfassten sie im Tandem auf der Basis von produktbezogenen Rückmeldungen mit einem neuen Dokumentenset einen letzten synthetisierenden Text. 3. Schreibprozess- und -produktbezogenes formatives Feedback. Wie im Punkt zwei der Liste schon erwähnt gab es zwei Formen des formativen Feedbacks, wobei das produktbezogene Feedback häufiger zum Einsatz kam als das prozessbezogene. Das produktbezogene Feedback bezog sich immer auf den zuvor geschriebenen Text, stammte aus dem Forschungsteam und wurde den Jugendlichen gegeben, ehe diese ihren jeweils nächsten Text verfassten. Die produktbezogenen Rückmeldungen hatten zwei Bezugspunkte, nämlich sprachformale und inhaltliche, von denen die inhaltlichen wichtiger waren. Die Schülerinnen und Schüler erhielten Rückmeldungen zu fünf inhaltsbezogenen Kriterien: a. Selektion von Argumenten, b. Elaboration der Argumente mit eigenen Inhalten, c. kohärente Verknüpfung von Argumenten aus einem Text, d. kohärente, textübergreifende Verknüpfung von Argumenten und e. argumentative Struktur.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
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Diese fünf Kriterien wurden gleich stark in den handschriftlichen Rückmeldungen behandelt, allgemein formuliert und von einer aufmunternden Abschlussformulierung flankiert. Das prozessbezogene Feedback erhielt die erste Gruppe sowohl in der zweiten Lektion beim erneuten, allerdings dieses Mal kooperativen Schreiben einer Synthese von Argumenten als auch in den Lektionen drei und vier. Die zweite Gruppe bekam diese Rückmeldungen nur in der dritten und vierten Lektion. Während die Tandems zusammenarbeiteten, erhielten sie von der Lehrperson begleitende Rückmeldungen, und zwar mindestens zwei Mal pro Lektion. Dabei wurde wie schon beim produktbezogenen Feedback darauf geachtet, keine Lösungen vorzugeben, sondern durch Fragen und allgemeine Hinweise einen Lösungsweg zu eröffnen. Modellieren. Das Modellieren war neben dem weiter unten beschriebenen Lese- und Schreib-Guide etwas, das nur in der zweiten Gruppe zum Einsatz kam. Das Modellieren fand in Lektion zwei statt und bezog sich aus Zeitgründen nur auf einen Teil der kognitiven und metakognitiven Prozesse. Durch diese logistische Entscheidung entfiel beispielsweise das mit lautem Denken didaktisierte Schreiben, stattdessen fokussierte das Modellieren auf vier zeitliche Phasen, nämlich a) vor dem Lesen, b) während des Lesens, c) vor dem Schreiben und d) nach dem Schreiben. In diesen vier Phasen demonstrierte die Lehrperson die kognitiven und metakognitiven Prozesse vor den Jugendlichen. Das Modellieren erfolgte aber nicht für sich allein, sondern in ihm wurde auch der Lese- und Schreib-Guide sukzessive entwickelt. Beispielsweise fragte sich die Lehrperson vor dem Lesen: „Warum lese ich die Texte? Wenn ich weiß, wofür ich sie lese, ist es wahrscheinlicher, dass ich ein stärker strategisches
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
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Lesen absolviere.“ Sie schrieb daraufhin auf die Tafel als Stichwort auf, dass sie vor dem Lesen plant. Lese- und Schreib-Guide. Der Lese- und Schreib-Guide ist ein Hilfsmittel, das sich auf zwei Prozesse und drei Zeitpunkte dieser Prozesse bezog, nämlich vor und während der Lektüre der Bezugstexte und vor, während und nach dem Schreiben. Diese fünf zeitlich trennbaren Prozesse wurden als Kreise rund um ein Zentrum arrangiert, um zu vermeiden, dass die Schülerinnen und Schüler sie als lineare, nacheinander abzuarbeitende Stationen auffassen. Der Guide enthielt zur Nachvollziehbarkeit des allgemeinen Vorgehens Fragen, die auf die Aufgabenbearbeitung abzielten. In dem Kreis „während des Lesens“ stand zum Beispiel diese Frage: „Was sind die Argumente und Gegenargumente aus diesem Text, und womit werden sie unterstützt?“. Im Zirkel „Vor dem Schreiben“ fand sich beispielsweise diese Frage: „Habe ich daran gedacht, wie ich den Text aufbauen werde?“. Dieser Guide stand den Schülerinnen und Schülern für das Schreiben der beiden Synthesen im Laufe der Lektionen drei bis fünf zur Verfügung.
Wie es sich aus der Schilderung der beiden Förderansätze schon andeutet, wurden beide Fördermaßnahmen miteinander in ihrer Effektivität vergleichend untersucht. Im direkten Vergleich der beiden Fördermaßnahmen ergab sich eine Überlegenheit des zweiten Förderansatzes bei der Fähigkeit, die intertextuellen Bezüge zwischen Argumenten aus beiden Texten in einem eigenen Text herzustellen.
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
5.3.4 Beispiel 12: Farbbasiert zu Synthesen verschiedener Textinhalte (für eigene Forschungssynthesen) gelangen
In einer Studie mit Psychologie-Studierenden lernten die jungen Erwachsenen, wie sie einen Forschungsantrag (als notenrelevante Leistung in dem Kurs – stellvertretend für Forschungsüberblicke mit einer eigenen abgeleiteten Fragestellung) basierend auf Forschungsliteratur verfassen können (Darowski, Patson & Helder, 2016*). Ein Bestandteil dieses Kurses war ein Online-Tutorial, in welchem die Studierenden eine fünfschrittige Strategie kennenlernten, die vor allem das Anfertigen von strukturierten Notizen beinhaltete und fokussierte. Im Zentrum der Vermittlung dieser Strategie stand einzig und allein ein Tutorial, das in Form mehrerer, im Gesamt etwa zehn Minuten langen Einzelvideos auf einer Youtube-Playlist zugänglich ist (s. Abbildung 21 für einige Screenshots).12 Wichtig ist: Abgesehen von den Videos gab es keine weitere instruktionale Unterstützung. Das Video kam zum Einsatz, nachdem die Studierenden vorgängig 10 bis 20 potenziell verwendbare Texte recherchiert hatten – es ging also nicht mehr um das Finden von geeigneter Literatur, sondern deren finale Auswahl und das Bündeln der Inhalte aus diesen potenziell nutzbaren Dokumenten.
12
https://www.youtube.com/playlist?list=PLHIcqvtKwJAzkIDTvEtPqJ2_bSGbsROk
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
Abbildung 21: Überblick über Fünf-Schritte-Methode zum Schreiben von Synthesen wissenschaftlicher Texte für Psychologie-Studierende (Screenshots, basierend auf Darowski et al., 2016, S. 99*)
Die Strategie – in der Untersuchung „Fünf-Schritte-Methode“ genannt – basiert stark auf dem Einsatz von farbigen Kärtchen, sei es analog, sei es digital. Wie diese farbigen Kärtchen genutzt werden sollen, vertiefte die Sequenz der verschiedenen Videos. Die fünf Schritte waren im Einzelnen: 1. Wie aus dem ersten Screenshot in Abbildung 21 oben links hervorgeht, ging es im ersten Schritt („Gather Materials“ – Dokumente sammeln) darum, jedem gefundenen Bezugstext jeweils eine Farbe zuzuweisen und pro Text fünf bis zehn Blanko-Zettel vorzubereiten. Entscheidend ist der Gedanke,
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
für jeden einzelnen Bezugstext einen unverwechselbaren Zwischenspeicher für Inhalte herzustellen. 2. Im nächsten, dem zweiten Schritt („Identify Ideas“ – Inhalte identifizieren) sollten die Studierenden pro Blanko-Zettel einen einzelnen zentralen Inhalt aus dem nun genauer zu lesenden Dokument notieren. Diese Ideen sollten, das zeigt der Screenshot rechts oben in Abbildung 21, das eigene Anliegen unterstützen. Entscheidend ist, dass jeweils nur eine zentrale Idee pro Zettel notiert wird, sodass am Ende auf fünf bis zehn Blanko-Zetteln (oder je nach Ergiebigkeit des Dokuments: mehr) einzelne wichtige Inhalte als „Bausteine“ festgehalten worden sind. 3. Mit dieser Vorleistung ging es in den dritten Schritt („Group Ideas“ – Inhalte gruppieren), der für den Aufbau eines Intertextmodells (s. Teilkap. 2.2.1.1) und für einen provisorischen Schreibplan zentral ist. Nun folgt, nicht mehr nur anhand der einzelnen Dokumente und den daraus stammenden eindeutig zuordenbaren Zwischentexten Inhalte zu sammeln, sondern einen Sortierungsvorgang vorzunehmen. Im Screenshot in der Mitte links der Abbildung 21 wird dies deutlich, denn dort sind drei übergeordnete Kategorien (a) theoretische Argumente, b) ähnliche / abweichende Ergebnisse, c) ähnliche unabhängige Variablen (independent variables (abgekürzt IV in der Grafik)/abhängige Variablen (dependent variables; DV)) aufgeführt. Unter diese – oder andere – Kategorien ordnet man die farbigen Zettel mit den Ideen einzelner Texte so an, dass thematisch zusammenhängende Inhalte aus verschiedenen Bezugstexten gruppiert werden – ein ganz typischer Vorgang für das Planen von Texten. 4. Der vorletzte, vierte Schritt („Assess Groupings“ – Gruppierungen beurteilen) behandelte die Ausgewogenheit der Quellen für den eigenen Text. Je nach Sortierungsprinzip –
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5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben
dasjenige in der Mitte rechts in Abbildung 21 (Schlüsselelemente) weicht beispielsweise von demjenigen links davon ab – sollte man evaluieren, ob es genügend verschiedenfarbige Zettel und damit Belegstellen für eine ausgewogene Synthese gab. Dieser Schritt sollte, zumal wenn zu wenig Belege existierten, in eine weitere Recherche münden, um den Themenspeicher anzureichern, oder aber zum Streichen von einzelnen Inhalten führen. 5. Erst im fünften Schritt („Write“ – Schreiben) verfasste man dann auf der Basis recherchierter und geordneter Ideen eigene Textteile. Der Ausdruck „Textteile“ ist dabei Programm: Ziel war, einzelne Absätze zu schreiben, die zum einen fremde Inhalte beinhalten („Describe & Cite Ideas“ im Screenshot unten links in Abbildung 21), zum anderen aber auch eigene Ergänzungen dezidiert zuließen („Add Your Voice“). Auf diese Weise entstanden Textbausteine für den eigenen Text, in diesem Fall die Synthese von anderen Texten. Die Unterteilung des Vorgehens in fünf Schritte, die am Ende in Abbildung 21 noch einmal im Screenshot unten rechts zusammengefasst sind, zeigt deutlich, wie die sequenzielle Inhaltsaufbereitung und -organisation allmählich überführt wird in das Verfassen eines eigenen Textes. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass am Ende – eher beiläufig – auch sprachliche Realisierungsformen zur Markierung fremder und eigener Gedanken, aber auch für andere sprachliche Handlungen in Texten Thema waren. Dies macht diesen Förderansatz deutlich anschlussfähig an die gegenwärtige deutschsprachige Diskussion zu Textprozeduren (Bachmann & Feilke, 2014). Die mit dem Online-Tutorial geförderten Studierenden schrieben – das zeigen die empirischen Befunde – in ihren Texten weniger Absätze als ihre Peers ohne Förderung, zitierten aber
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
mehr Literatur in ihren Texten; die Texte wurden gleichsam „dichter“. Außerdem schätzten sie in Fragen dazu selbst ein, stärker synthetisiert zu haben. Insofern zeigen sich sowohl in den Leistungsmaßen als auch in subjektiven Einschätzungen der geförderten Personen positive Effekte.
5.4 Fokus 4: Der entlastende Einsatz von Apps bei der Anwendung von Lese- und Schreibstrategien Bei der Förderung des Leseverstehens im (rekursiven und von kognitiven Provisorien gekennzeichneten) Umgang mit multiplen (digitalen) Texten und Dokumenten und dem materialgestützten Schreiben liegt der Einsatz von unterstützender Anwendungssoftware (Apps) besonders nahe. Tatsächlich sind jedoch erst in wenigen Studien eigene Apps hergestellt, verwendet und evaluiert worden, um die spezifischen Belange des Lesens (und Schreibens) im Umgang mit multiplen Texten gezielt aufzugreifen. Drei dieser Apps – allesamt hinsichtlich ihrer Wirksamkeit für das Lesen in gewissem Maß überprüft – werden im Folgenden skizziert: 1. „Sourcer’s Apprentice“ (Britt et al., 2000; Britt & Aglinskas, 2002 – s. Teilkap. 5.4.1), 2. „Met.a.ware“ (Stadtler & Bromme, 2007*, 2008* – 5.4.2) und 3. „Escribo“ (Proske, Narciss & McNamara, 2012* – 5.4.3). Sämtliche Apps enthalten entweder dezidiert metakognitive Hinweise oder aber vergleichen Varianten von Versionen mit diesen Hilfestellungen mit solchen Varianten ohne derartige Hinweise. Außerdem wurden alle drei Apps im Zusammenhang mit konfligierenden Texten / Dokumenten verwendet. Dennoch gab es markante Differenzen in Form von Schwerpunkten:
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5.4 Fokus 4: Einsatz von Apps
1. „Sourcer’s Apprentice“ etwa orientiert sich besonders stark am Aufbau eines Dokumentenmodells, weil insbesondere ein komplexes Intertextmodell systematisch angelegt und entwickelt wird. 2. „Met.a.ware“ fokussiert stark auf das Intertextmodell und die eigene Verstehensüberwachung beim Bearbeiten verschiedener Websites. 3. „Escribo“ schließlich legte großen Wert auf eine entschleunigte und portionierte Gestaltung des Gesamtprozesses der Aufgabenbearbeitung. Trotz verschiedener Fokussierungen der Apps eint sie aus einem theoretischen Standpunkt, dass die Apps als Objekte bzw. Hilfsmittel innerhalb des physischen Kontextes fungieren sollen. Die Verortung Teilkap. Apps Funktion der Apps besteht darin, bei dem Aufbau eines Dokumentenmodells behilflich zu sein (s. Abbildung 22). Physischer und sozialer Kontext
Ressourcen und mentale Repräsentationen der lesenden Person
(externe Ressourcen)
(interne Ressourcen)
Aufgabe und aufgabenstellende Person/Instanz
Vorhandene Kontextschemata
Strategiewissen
Selbstregulatorische Fähigkeiten
Lesefähig-, keiten; Wortschatz; Domänenwissen
Ort und Zeit Publikum Materialien Objekte und Hilfsmittel Andere Personen Unterstützung und Hindernisse
Merkmalsextraktion
Mustererkennung, Aufruf
Kontextmodell der lesenden Person
Aktivierung
Ziele formieren; Planen
Aufgabenmodell der lesenden Person
Kontrol- Aktiviele; Beurrung; teilung Ermögbzgl. lichung; „Feeling Aneigof Knowl- nung edge“
Dokumentenmodell
Abbildung 22: Verortung der Entlastung durch Apps innerhalb des RESOLVModells auf der Basis empirischer Befunde
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
5.4.1 Beispiel 13: Sourcer’s Apprentice – ein virtuelles Bücherregal mit Mehrwert
Die App „Sourcer’s Apprentice“ dient dazu, innerhalb eines bibliotheksartigen Settings monothematische Fragen zu beantworten, ehe man einen eigenen Text über die gelesenen Bezugstexte schreibt (Britt & Aglinskas, 2002). Die App wurde vor allem in der Domäne Geschichte, also bei historischen, und hier: kontroversen Themen eingesetzt und ist auf der Bedieneroberfläche als Buchregal gestaltet, wobei jedes der sieben „Bücher“ für ein Dokument steht und mit eigenen Notizen ergänzt werden kann. Die App wurde mit Schülerinnen und Schülern der elften Jahrgangsstufe in einem Set von mehreren Studien evaluiert. Die „Bücher“ in der App „Sourcer’s Apprentice“ waren sortiert: von jenem mit den allgemeinsten Informationen hin zu demjenigen mit den spezifischsten, detailliertesten Informationen, wobei es sowohl sorgfältig ausgesuchte Sekundär- als auch Primärtexte gab. Jedes der Bücher enthielt vier separate, einzeln anwählbare Register- bzw. Karteikarten mit Informationen a) zum Titel, b) zum Autor (mögliche Motive, Hintergrund), c) zum Dokument (Art, Veröffentlichungsdatum etc.) und d) über das Buch (Klappentext; s. Abbildung 23).
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5.4 Fokus 4: Einsatz von Apps
Abbildung 23: Überblick über Metadaten zu einzelnen Dokumenten am Beispiel autorbezogener Informationen sowie Maske zum Einfüllen der Informationen – Metadaten und Inhalte – zu einzelnen Dokumenten („Büchern“) in der App „Sourcer’s Apprentice“ (Quelle des Screenshots: Britt & Aglinskas, 2002, S. 500)
Beim Lesen als erster Phase der Aufgabenbearbeitung bestand der Auftrag für die Schülerinnen und Schüler darin, jedes Dokument zu lesen und zu verstehen, was es zur Darstellung einer historischen Kontroverse beiträgt. Hierfür füllten die Schülerinnen und Schüler für jedes Dokument in einer digitalen Karteikarte mit einer Maske verschiedene Informationen ein (s. unterer Teil in Abbildung 23). Diese Informationen beinhalteten zum einen Metadaten zu den Dokumenten, zum anderen aber auch zu den Inhalten. Per direkter Eingabe oder aber per Copy-and-PasteVerfahren fügten die Schülerinnen und Schüler diverse Daten ein und erhielten hinsichtlich der dokumentbezogenen Metadaten
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
bei richtigen Einträgen Punkte bzw. wurden ihnen bei falschen Einträgen Punkte abgezogen (s. den Score oben rechts in der Abbildung 23). Als Hilfestellungen fungierten eigens erstellte Hinweise, die man solange erhielt, bis die richtige Antwort in der Maske eingetragen war. Für die inhaltlichen Einträge zu den Dokumenten und eigene Kommentare gab es solche gamifizierten Elemente nicht. Hatten die Schülerinnen und Schüler den Eindruck gewonnen, lektürebasiert und mithilfe der digitalen Notizen eine qualifizierte Antwort zu dem strittigen historischen Vorfall gefunden zu haben, durchschritten sie eine letzte Sammlung von Fragen, ehe sie einen eigenen Text verfassten. In dieser letzten Phase des Schreibens eines eigenen Textes standen nur noch die eigenen Notizen zur Verfügung. Damit sequenzierte „Sourcer’s Apprentice“ den Leseprozess sehr stark, half (nicht zuletzt auch durch die Auswahl der Dokumente) dabei, zielgerichtete und korrekte Notizen anzufertigen, überprüfte partiell das Verständnis und ließ erst dann die Schülerinnen und Schüler die leitende Frage schriftlich beantworten. Die Effekte des Einsatzes der App „Sourcer’s Apprentice“ sprechen für sich. Die mit der App geförderten Schülerinnen und Schüler waren besser als nicht-geförderte Peers dazu in der Lage, Merkmale der Quellen in Tests korrekt zu identifizieren. Die geförderten Jugendlichen verwendeten zudem beim Schreiben über Texte mehr Informationen und Quellen in eigenen Texten, und ihre Texte wurden zu guter Letzt als besser eingeschätzt. 5.4.2 Beispiel 14: Met.a.ware – Texte aufbereiten und beurteilen
Die App „Met.a.ware“ wurde in zwei 40-minütigen Experimenten eingesetzt, in denen es um das Thema Cholesterin ging (Stadtler & Bromme, 2007*, 2008*). Zu diesem Thema wurden
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5.4 Fokus 4: Einsatz von Apps
15 Websites vorbereitet, die verschiedene und inhaltlich zum Teil divergierende Informationen enthielten. Diese Websites stammten sowohl von wissenschaftlichen Informationsquellen als auch von kommerziellen Anbietern. Die erwachsenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Experiments erhielten als Laien eines medizinischen Fachgebiets einen Arbeitsauftrag, für dessen Bearbeitung sie eine Maske nutzten (s. Abbildung 24). Diese Maske enthielt im oberen Teil sechs Reiter, in denen es um die 1) Funktionen des Cholesterins, 2) Gründe für einen hohen Cholesterinspiegel, 3) Behandlungen eines hohen Cholesterinspiegels, 4) Risikofaktoren für die Entwicklung von Herzkreislauferkrankungen, 5) Folgen eines hohen Cholesterinspiegels und 6) Schwellenwerte ging.
Abbildung 24: Screenshot der App „Met.a.ware“ in der Version mit metakognitiven Hinweisen zur Beurteilung der Internet-Dokumente (unten) und zur Einschätzung des eigenen Verständnisses (rechts) (Quelle: Stadtler & Bromme, 2008, S. 723*)
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
Unter den Reitern zur Navigation der sechs inhaltlichen Kategorien befand sich ein Eingabefeld, in welches die Versuchspersonen Informationen aus den Websites per Copy-and-Paste einfügen konnten. Diese Eingabefelder wurden automatisch um weitere Blankofelder ergänzt, wie man in Abbildung 24 in der Mitte erkennen kann, dort ist der Reiter mit den Funktionen des Cholesterins samt einem ersten Eintrag geöffnet. Direkt darunter findet sich weiterer Platz in den Blankofeldern für ergänzende Einträge. Doch nicht nur Informationen zum Thema Cholesterin sammelten die erwachsenen Versuchspersonen, sie bewerteten sie auch. Dazu dienten jeweils drei Hinweise unten bzw. rechts in der Maske. Diese Gruppen von Hinweisen bezogen sich auf jeden neuen Eintrag, den die Studierenden vornahmen: ▶ Unten in der Abbildung 24 sind Einschätzungen zur Expertise des Verfassers / der Verfasserin zu sehen (rangierend von schwach bis exzellent) sowie jene zum wahrgenommenen kommerziellen Interesse und der Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit (jeweils von schwach bis hoch). ▶ Rechts dargestellt sind drei Hinweise zum Verständnis der jeweiligen Thematik (a) Verstehensüberwachung der soeben hinzugefügten Informationen, b) Einschätzung des Wissens in der jeweils aktuellen inhaltlichen Kategorie und c) dem wahrgenommenen eigenen Informationsbedarf). Die Hinweise bezogen sich demnach auf die Quelleneinschätzung und den eigenen Verstehensprozess, und sämtliche Einschätzungen wurden gespeichert und waren den Probandinnen und Probanden jederzeit zugänglich. Wie zu Beginn dieses Teilkapitels erwähnt wurde, ist die App „Met.a.ware“ in zwei Untersuchungen mit Studierenden überprüft worden, die sich primär in den Kontrollbedingungen und zum Teil den eingesetzten Instrumenten zur Bestimmung des Fördererfolgs voneinander unterschieden. In der ersten Studie
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5.4 Fokus 4: Einsatz von Apps
wurden vier Gruppen gebildet: a) eine Kontrollgruppe ohne Hinweise, b) eine Gruppe mit Hinweisen zur Einschätzung des Verfassers, c) eine Gruppe mit Hinweisen zur Verstehensüberwachung und d) eine Gruppe mit beiden Hinweisarten (s. die Abbildung 24 für das Interface dieser vierten Gruppe; Stadtler & Bromme, 2007*). Hinzu kamen in der zweiten Studie noch zwei weitere Kontrollgruppen (Stadtler & Bromme, 2008*). Die wichtigsten Effekte im Vergleich der Hinweis-Gruppen mit Kontrollgruppen waren: ▶ Studierende mit Hinweisen zur Expertise der Autorin / des Autors konnten besser glaubwürdige Quellen einschätzen und hatten ein höheres Wissen über die Quellen von Informationen erworben. ▶ Studierende mit Hinweisen zur Einschätzung des eigenen Verständnisses lernten mehr Fakten aus den gelesenen Texten. ▶ In der Kombination von beiden Hinweisarten zeigte sich eine Überlegenheit zum einen im Wissen über die Quellen und zum anderen in der korrekten Wiedergabe von Informationen aus ihrer jeweiligen Quelle. Alles in allem unterstreichen die beiden Studien mit „Met.a.ware“, dass sich positive Effekte vor allem auf den Umgang mit quellenbezogenen Informationen bereits nach kurzer Zeit erzielen lassen. 5.4.3 Beispiel 15: Escribo – Schreibprozesse portionieren und entlasten
Die App „Escribo“ dient vor allem dazu, über eine Benutzeroberfläche die Aufgabenbearbeitung zu erleichtern (Proske et al., 2012*). Hierfür absolvieren die Nutzerinnen und Nutzer einen übergeordneten Schreibauftrag, der mit spezifischen Hinweisen als Unterstützungsleistung versehen ist:
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
a) b) c) d)
Benennung einer wissenschaftlichen Position, unterstützende Evidenz, gegenteilige Evidenz und eigene Position / Konklusion.
Dieser übergeordnete Schreibauftrag mit einzelnen Aufgaben ist ganz oben in Abbildung 25 zu finden. Darunter finden sich fünf Reiter mit Teilaufgaben und Untermenüs (Schreibaktivitäten bei den Teilaufgaben) sowie spezifischen Hinweisen (s. u., Tabelle 30).
Abbildung 25: Screenshot der App „Escribo“ in der Version mit metakognitiven Hinweisen bei der Unteraufgabe „Sammeln“ („Collection“) mitsamt von den Autorinnen für ihre Publikation eigens hinzugefügten Informationen (in weiß hinterlegten Rechtecken) (Quelle: Proske et al., 2012, S. 142*)
Wie schon erwähnt strukturiert und sequenziert „Escribo“ über seinen Aufbau den Lese- und Schreibprozess. Konkret wird der
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5.4 Fokus 4: Einsatz von Apps
umfassende Prozess der Aufgabenbearbeitung in fünf Teilaufgaben zergliedert, welche wiederum mithilfe von anwählbaren Untermenüs mehrere Aktivitäten notwendig machen (s. Tabelle 30). Diese aus schreibdidaktischer Sicht wichtige Portionierung und Entschleunigung des Gesamtprozesses (Philipp, 2017b) lässt sich an zwei Beispielen recht gut verdeutlichen: 1. Beispiel 1: In der Teilaufgabe „Sammeln“, die anhand des ersten Textes in der Studie („Verdrängte Erinnerungen – ein gefährlicher Glaube?“) den Gegenstand der Abbildung 25 bildet, sollten die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer zum einen relevante Passagen hervorheben und zum anderen diese Textstellen zusammenfassen. Hierfür gab es spezifische Anweisungen (dargestellt in den vier Schritten in der Mitte des Screenshots). Die vier Schritte (samt noch weiterer untergeordneter Teilschritte im Schritt 3) dienten der Klärung des Aufbaus des Textes, der Unterscheidung und Markierung verschiedener Informationen sowie der Unterscheidung in Beispiele, Argumente und Thesen. Damit wurde der Inhalt des jeweiligen Textes aufbereitet, ehe weitere Teilaufgaben folgten. 2. Beispiel 2 betrifft das Revidieren als fünfte Teilaufgabe. Auch hier gab es eine Sequenzierung insofern, als der Prozess der Textüberprüfung und -überarbeitung einer klaren Abfolge von Schritten entsprach. Zunächst ging es um die Struktur und Reihenfolge der Argumentation, danach um die Verständlichkeit und erst am Ende um die tatsächliche Modifikation des Textes. Durch diese Aufteilung entstanden bearbeitbare Arbeitspakete.
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Orientierung
Orientierung
▶ Schreibauftrag analysieren ▶ Vorwissen aktivieren
Sammlung
Text 1 (Pro)
▶ Relevante Passagen hervorheben ▶ Relevante Passagen zusammenfassen
Text 2 (Contra)
▶ Relevante Passagen hervorheben ▶ Relevante Passagen zusammenfassen
Analyse
▶ Informationen aus den Texten strukturieren ▶ Eine eigene Position entwickeln ▶ Begriffe klären und definieren
Argumentieren
▶ These für den Text formulieren ▶ Argumentationslinie bestimmen
Skizzieren
▶ Überschriften formulieren ▶ Argumente aufeinander abstimmen
Schreiben
Transformieren
▶ Ersten Entwurf verfassen
Revidieren
Revidieren 1
▶ Perspektive der lesenden Person einnehmen ▶ Eigenen Text lesen ▶ Struktur und Ablauf der Argumentation überprüfen
Revidieren 2
▶ Eigenen Text lesen ▶ Textverständlichkeit überprüfen
Revidieren 3
▶ Eigenen Text lesen ▶ Text redigieren ▶ Produkt: finaler Text
Planen
Tabelle 30: Untergliederung des Lese- und Schreibprozesses in „Escribo“ über Menü-Reiter, Untermenüs und die dort spezifisch geforderten Aktivitäten (Quelle: nach Proske et al., 2012, S. 143*)
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Untermenüs
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Teilaufgabe
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5.5 Zusammenfassung
In der Untersuchung wurden zwei Varianten des Schreibens („Escribo“ und eine Variante, bei der die Studierenden am Computer ohne die „Escribo“-Umgebung mit ihren Teilaufgaben und entsprechenden Menüs schrieben) mittels eines am Computer zu schreibenden Textes verglichen – und zwar schon bereits innerhalb der reinen Übungsphase. Dadurch ist ein Vergleich zwischen Prozess- und Produktmerkmalen möglich. Zunächst zu den Prozessdaten: Hier zeigte sich, dass die Studierenden in der „Escribo“-Gruppe längere Zeit mit dem Planen und weniger Zeit mit dem reinen Schreiben verbrachten. Bei den Produktdaten ergaben sich eine übergeordnet bessere Gesamtverständlichkeit der Texte und ein geringer Gesamtumfang der Texte – beides ein Indikator für konzise Textprodukte. Nach der eigentlichen Förderung wurde ein anderes Test-Design verwendet, nämlich ohne die Unterstützungsangebote der „Escribo“-Umgebung. Dennoch ergab sich ein ähnliches Befundmuster zugunsten der „Escribo“Gruppe – ein insgesamt sehr ermutigendes Signal.
5.5 Zusammenfassung In diesem letzten Kapitel illustrierten zahlreiche empirische Beispiele eindrucksvoll, wie sich die Fähigkeit fördern lässt, mit multiplen Texten und Dokumenten versiert umzugehen. Da hierfür vor allem Lesestrategien und je nach Fokus der zu erwerbenden Fähigkeiten zum Teil auch Schreibstrategien nötig sind, stand die Förderung von Lese- nebst Schreibstrategien im Zentrum. Für die größere Übersichtlichkeit in der Darstellung erfolgte eine Zuordnung der jeweiligen einzelnen Förderansätze zu vier mehr oder minder trennscharfen Foki. Die ersten drei Foki setzten bei der Strategievermittlung an. Innerhalb dieser Foki standen bei zwei die Lesestrategien alleinig im Zentrum, und im dritten Fokus kamen Schreibstrategien hinzu. Der vierte Fokus beinhaltete vor allem die Möglichkeiten, mithilfe von Apps
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5 Förderung des Verstehens und der Nutzung multipler Texte
die gewünschten Leistungen technisch zu unterstützen, anzuleiten und damit letztlich zu erleichtern. Fokus 1 zielt auf das Intertextmodell, indem Lernende die Fähigkeit erwerben, die Struktur der Inhalte aus den einzelnen Texten systematisch zu erarbeiten. Kernstück der verschiedenen Fördermaßnahmen ist die Visualisierung wichtiger Inhalte mithilfe von Graphic Organizers. Dadurch lassen sich Inhalte in ihrer Verbindung untereinander festhalten und buchstäblich vor Augen führen, es geht also um die grafische Strukturierung von Inhalten. Fokus 2 geht ebenfalls auf das Intertextmodell ein, setzt hier aber einen anderen Schwerpunkt. Die Fördermaßnahmen lenken primär die Aufmerksamkeit gezielt auf außerhalb der eigentlichen Texte befindliche Informationen, um dadurch die Glaubwürdigkeit und Belastbarkeit von Textinhalten und Positionen zu prüfen. Damit priorisieren die Fördermaßnahmen aus Fokus 2 die Beurteilung von Informationen als grundsätzlich andere Gruppe von Strategien des konstruktiv-responsiven Lesens. Fokus 3 erweitert die Perspektive, indem es um die ertragreiche Förderung des Schreibens über multiple Texte und Dokumente geht. Die für die Inhaltsorganisation und -transformation nötigen Lesestrategien haben eine dem Schreiben dienende Rolle. Sie fungieren nämlich als Planungsstrategien und werden dazu genutzt, in Form strukturierter Notizen den eigenen Text vorzubereiten. Diesen Schreibplan arbeiten die Personen ab und können ihn zudem flexibel im gesamten Prozess der Aufgabenbearbeitung einsetzen. Fokus 4 beinhaltet verschiedene Varianten der technischen Unterstützung mit Apps. Typisch ist, dass das Vorgehen bei der Aufgabenbearbeitung mithilfe der Apps hochgradig strukturiert wird. Dadurch entstehen portionierte Arbeitspakete, die vor der Überlastung durch hochkomplexe Aufträge schützen können. Insofern kommt den Fördermaßnahmen des vierten Fokus’ eine flankierende oder interimistische Funktion zu, Lese- und Schreib-
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5.5 Zusammenfassung
strategien anzuwenden. Die Fördermaßnahmen aus den Foki 1 bis 3 setzen hingegen bei diesen kognitiven Problemlösewerkzeugen und der Vermittlung dieser selbstregulatorischen Fähigkeiten an. Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen zur Förderthematik Die Forschungsarbeiten zur effektiven Förderung des Umgangs mit multiplen Texten und Dokumenten nehmen gerade erst Fahrt auf. Diese Empfehlungen helfen für einen ersten, orientierenden Zugang: ▶ Barzilai, S., Zohar, A. R. & Mor-Hagani, S. (in press). Promoting Integration of Multiple Texts: A Review of Instructional Approaches and Practices. Educational Psychology Review. (Ein aktueller Forschungsüberblick, der sich der Frage widmet, wie sich insbesondere Intertextmodelle gezielt aufbauen lassen. Besonders hervorzuheben sind die vielen Analysen zu Elementen der effektiven Leseförderung, welchen den Artikel zu einer wertvollen Fundgrube machen.) ▶ Brante, E. W. & Strømsø, H. I. (in press). Sourcing in Text Comprehension: A Review of Interventions Targeting Sourcing Skills. Educational Psychology Review. (Dieser Überblicksbeitrag ist in gleich mehrerer Hinsicht vorbildlich und besonders in seiner Systematik und Sorgfalt eine uneingeschränkt zu empfehlende Arbeit. Er widmet sich der Frage, wie metatextuelle Merkmale der Quelle für das Verstehen multipler Texte gezielt genutzt werden können.) ▶ Walraven, A., Brand-Gruwel, S. & Boshuizen, H. P. A. (2008). Information-Problem Solving: A Review of Problems Students Encounter and Instructional Solutions. Computers in Human Behavior, 24 (3), 623 – 648. (Dieser Beitrag geht systematisch auf die Probleme verschiedener Gruppen im Umgang mit Texten aus dem Internet ein und schätzt den Ertrag von Fördermaßnahmen für spezifische Probleme der Lernenden ab.)
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Sprachwissenschaft Schlüsselkompetenzen Die Fähigkeit, Informationen aus mehreren unterschiedlichen Texten oder Medien zu verarbeiten, ist für den Bildungserfolg zentral. Bislang wird der versierte Umgang mit mehreren Texten in der (Förder-)Literatur beim Thema Lesekompetenz aber noch kaum behandelt. Dieser Band bietet daher erstmals einen Überblick über Anforderungen, Prozesse und Einflussfaktoren des kompetenten Lesens multipler Texte. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes ist die gezielte Förderung dieses Leseverstehens in Schule und Hochschule. In Verbindung mit Downloadmaterialien bietet das Buch Inhalte für Lehrveranstaltungen und das Selbststudium zu einer wichtigen und in ihrer Bedeutung zunehmenden Thematik. Es richtet sich an Vertreter verschiedener Fachrichtungen und fokussiert neben dem Schulfeld auch die Hochschule.
Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-4987-8
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